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Lebendiges Erbe

Beiträge zur abendländischen Liturgie- und Frömmigkeitsgeschichte

0818
2010
978-3-7720-5380-1
978-3-7720-8380-8
A. Francke Verlag 
Andreas Heinz

Der Sammelband bietet 19 Einzelstudien, die wichtige Werde- und Wendezeiten der abendländischen Liturgie- und Frömmigkeitsgeschichte in den Blick nehmen. Sie reichen von der Spätantike (Konstantin) bis zur Schwelle des Mittelalters (Martin, Gregor der Große), befassen sich mit zentralen mittelalterlichen und neuzeitlichen geistlichen Bewegungen (Zisterzienser, Devotio moderna, barocke Eucharistieverehrung), greifen aber auch brisante Gegenwartsfragen auf, die zeigen, dass Liturgie und Leben, Gottesdienst und Gesellschaft nicht unverbunden nebeneinander stehen. Liturgie hat immer auch eine "politische" Dimension. Das ist unverkennbar bei Themen wie "Waffensegen" und Gebet für die Feinde, Friedensgebet und Judenfürbitte, wird aber auch deutlich bei der zeitweise nationalistisch aufgeladenen Michaelsverehrung der Deutschen. Auch Aspekte der jüngsten Liturgiereform werden erörtert.

ANDREAS HEINZ Lebendiges Erbe Beiträge zur abendländischen Liturgie- und Frömmigkeitsgeschichte A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN UND BASEL Lebendiges Erbe PIETAS LITURGICA · STUDIA Interdisziplinäre Beiträge zur Liturgiewissenschaft begründet von Hansjakob Becker herausgegeben von Ansgar Franz Die Reihe »Pietas Liturgica« erscheint in Zusammenarbeit mit »KULTUR - LITURGIE - SPIRITUALITÄT e.V.« Interdisziplinäre Vereinigung zur wissenschaftlichen Erforschung und Erschließung des christlichen Gottesdienstes ANDREAS HEINZ Lebendiges Erbe Beiträge zur abendländischen Liturgie- und Frömmigkeitsgeschichte Titelabbildung: Hella De Santarossa, Marienfenster, Katholische Kirche St. Florian, München-Riem Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2010 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: Informationsdesign D. Fratzke, Kirchentellinsfurt Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 1862-2704 ISBN 978-3-7720-8380-8 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A LITURGIE IM WERDEN 1 Die Bedeutung der Zeit Konstantins des Großen (306-337) für die Liturgie der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2 Bischof Martin von Tours (370/ 371-397) und die Liturgie seiner Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 3 Papst Gregor der Große (590-604) und die römische Liturgie. . . . . . 57 B MESSFRÖMMIGKEIT UND EUCHARISTIEVEREHRUNG 4 Eucharistische Frömmigkeit in einem mittelalterlichen Frauenkloster. Das Zeugnis eines Gebetbuchs (um 1300) aus der ehemaligen Zisterzienserinnenabtei St. Thomas (Bistum Trier) . . . . . 73 5 Priesterliche Messfrömmigkeit im benediktinischen Reformmönchtum des 15. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 6 Die Sonne des Sakramentes. Ein Zugang zur Eucharistiefrömmigkeit Friedrich Spees SJ (†1635) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 C LITURGIE UND GESELLSCHAFT 7 Das Gebet für die Feinde in der abendländischen Liturgie . . . . . . . . . 141 8 Das Bild der Kaiserin Helena in der Liturgie des lateinischen Westens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 9 Zeittypische Züge in der Frömmigkeit der seligen Yolanda von Vianden (1231-1283) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 10 Der Dienst der Glocke im Licht des mittelalterlichen Ritus der Glockenweihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 11 „Waffensegen“ und Friedensgebet. Zur politischen Dimension der Liturgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 12 Antijudaismus in der römischen Liturgie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 13 Der heilige Erzengel Michael - Schutzpatron der Deutschen? Geschichte - Kult - Liturgie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Inhalt 6 D LITURGIEREFORM IM UMKREIS DES VATIKANUM II 14 Liturgiereform vor dem Konzil. Die Bedeutung Pius’ XII. (1939-1958) für die gottesdienstliche Erneuerung . . . . . . . . . . . . . . . . 281 15 Liturgiewissenschaftliche Forschung und liturgisches Leben der Pfarreien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 16 Der Tag, den der Herr gemacht hat. Gedanken zur Spiritualität des Sonntags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 17 Das Friedensgebet in der römischen Messe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 18 „Gott liebt einen fröhlichen Geber“. Der Gedanke der „Diakonia“ in der Messliturgie des Laurentiusfestes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 19 Ars celebrandi. Überlegungen zur Kunst, die Liturgie der Kirche zu feiern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 Schriftstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 Orte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Abkürzungen DLI Deutsches Liturgisches Institut e. V. Trier GORM Grundordnung des Römischen Messbuchs. Vorabpublikation zum Deutschen Messbuch (3. Auflage). Hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Bonn 2007 (Arbeitshilfen 215) IGMR Institutio Generalis Missalis Romani 2002 Den übrigen Abkürzungen liegt das Abkürzungsverzeichnis der 3. Auflage des Lexikons für Theologie und Kirche. Freiburg u. a. 1993, zugrunde. Vorwort Fast ein halbes Jahrhundert ist seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) vergangen. Der große spirituelle Aufbruch, den es eigentlich einleiten wollte, ist - zumindest im deutschsprachigen Raum - weitgehend ausgeblieben. Die Liturgiereform hat viele äußere Veränderungen gebracht. Aber hat sie auch erreicht, was ihr eigentliches Ziel war und weiterhin bleibt, nämlich „das christliche Leben unter den Gläubigen mehr und mehr (zu) vertiefen“ (SC 1)? Dass die Zahlen und die Mittel geschrumpft sind, belegen die Statistiken. Entscheidender ist die Frage nach der Qualität des Christseins der Christen. Diese Qualität und Intensität hängt letztlich nicht von finanziellen Ressourcen und staatlicher Reputation ab; ihre eigentliche Kraftquelle ist die geistlich fruchtbare Mit-Feier der Liturgie der Kirche (vgl. SC 10). Entscheidend für das Leben und Überleben der Kirche in allem Auf und Ab ihrer Geschichte war - und ist noch immer - der ununterbrochene Strom des gefeierten Glaubens, „der in der Liebe wirksam ist.“ (Gal 5,6). Um diesen Strom des geistlichen Lebens geht es in den Beiträgen dieses Sammelbandes. Die Einzelstudien beleuchten wichtige Werde- und Wendezeiten der abendländischen Liturgiegeschichte, angefangen von der Spätantike (Konstantin) bis zur Schwelle des Mittelalters (Martin, Gregor der Große); in den Blick kommen die Höhepunkte mittelalterlicher und neuzeitlicher Frömmigkeitsbewegungen (Zisterzienser, Devotio moderna, barocke Eucharistieverehrung), aber auch brisante Gegenwartsfragen, die zeigen, dass Liturgie und Leben, Gottesdienst und Gesellschaft, nicht unverbunden nebeneinander stehen: Liturgie hat immer auch eine „politische“ Dimension. Das ist unverkennbar bei Themen wie „Waffensegen“ und Gebet für die Feinde, Friedensgebet und Judenfürbitte, wird aber auch deutlich bei der Analyse des traditionellen Ritus der Glockenweihe und bei der zeitweise nationalistisch aufgeladenen Michaelsverehrung der Deutschen. Der Strom, der seinen Quellgrund im Pascha Christi hat, strömt noch immer. Er führt mit sich den geistigen und geistlichen Reichtum der Jahrhunderte. Das ist kein totes Treibgut, sondern lebendiges Erbe aus den Quellen des Heils. Das Zweite Vatikanische Konzil hat dieses Erbe nicht über Bord werfen wollen. Papst Benedikt XVI. wird nicht müde zu betonen, dass nur eine Hermeneutik der Kontinuität den Intentionen des Konzils gerecht wird. Auf dieser Linie befassen sich die letzten Aufsätze dieser Sammlung mit der Liturgiereform im Umkreis des Zweiten Vatikanums, vor allem mit einigen geistlichen Aspekten, etwa der Spiritualität der Sonntagsfeier und der Verankerung der christlichen Caritas in der Liturgie der Kirche. Schon vor einigen Jahren hat der bekannte Laacher Liturgiewissenschaftler P. Angelus A. Häußling OSB angeregt und mich ermutigt, eine Auswahl meiner frömmigkeitsgeschichtlichen Studien gesammelt herauszugeben. Diese Innenseite der Liturgiegeschichte sei bisher in unserem Sprachgebiet wenig aufgegriffen Vorwort 8 worden. Dabei sei „die Frage, wie der katholische Christ heute fromm sein kann und soll“, doch wahrhaftig von größter Wichtigkeit. „Die Frage kann aber nur im Zusammenhang der Geschichte der Frömmigkeit angegangen werden.“ Dass deren Kenntnis vieles klärt, hat vor allem der Altmeister der deutschsprachigen Liturgiewissenschaft, P. Josef Andreas Jungmann SJ (†1975), gezeigt. Die in diesem Band zusammengetragenen liturgie- und frömmigkeitsgeschichtlichen Studien sind während der letzten Jahrzehnte in in- und ausländischen Fachzeitschriften und in zum Teil schwer erreichbaren Sammelwerken erschienen; der Aufsatz über den Kult des Erzengels Michael, der bisher nur in französischer Sprache vorlag, wird hier erstmals in seiner deutschen Originalfassung abgedruckt. Vor dem Nachdruck wurden alle Beiträge durchgesehen und im Bedarfsfall leicht überarbeitet. Wichtige zwischenzeitlich erschienene Literatur wurde in den Anmerkungen in eckigen Klammern hinzugefügt. Nachdem ein Sammelband mit Beiträgen zur regionalen Gottesdienst- und Frömmigkeitsgeschichte des (Erz-) Bistums Trier und Luxemburgs zwischen Tridentinum und Zweitem Vatikanum bereits 2008 erschienen ist, der ein Verzeichnis aller einschlägigen regionalen Veröffentlichungen enthält, beschränkt sich die Auswahlbibliographie am Ende dieses Bandes darauf, liturgie- und frömmigkeitsgeschichtliche Studien von eher überregionaler Bedeutung aufzulisten. Dass dieses Buch erscheinen konnte, habe ich vielen zu danken. Meinem Mainzer Kollegen, Prof. Dr. Ansgar Franz, danke ich für die Aufnahme des Bandes in die Reihe „Pietas Liturgica. Studia“, den Verlagen für die freundlich erteilte Nachdruckerlaubnis und dem Francke Verlag in Tübingen für die kompetente Betreuung des Projekts und seine ansprechende Realisierung. Vor allem aber bin ich zwei Mitarbeiterinnen zu großem Dank verpflichtet, Frau Stephanie Eimer, Sachbearbeiterin im Sekretariat der Theologischen Fakultät Trier, und Frau Ingrid M. Embach, Sekretärin der Wissenschaftlichen Abteilung des Deutschen Liturgischen Instituts. Sie haben alle Beiträge für den Nachdruck neu erfasst; Frau Embach hat zudem die Register erstellt. Trier, am 18. August 2010, dem Gedenktag der hl. Kaiserin Helena Andreas Heinz A Liturgie im Werden 1 Die Bedeutung der Zeit Konstantins des Großen (306-337) für die Liturgie der Kirche Die bekannte Rede von der „konstantinischen Wende“ ist ein Schlagwort. Wie jedes Schlagwort will es höchst komplexe und vielschichtige Veränderungen und Entwicklungsprozesse vereinfachend auf einen Nenner bringen. Einen zäsurartigen Neubeginn hat es aber gewiss mit Konstantins Machtübernahme nicht gegeben. Doch wird man die konstantinische Ära aus der Sicht der Liturgiewissenschaft nicht nur als eine Zeit der Konsolidierung, sondern gewiss auch und vor allem als eine Epoche neuer Aufbrüche, des Ausbaus und der Entfaltung charakterisieren können. Seit dem Ereignis von York im Sommer 306, als der junge Konstantin nach dem Tod seines Vaters handstreichartig dessen Platz okkupierte und über Nacht zum Caesar des Westens avancierte, haben sich, zunächst im Westen des Römischen Reiches, die Rahmenbedingungen für das kirchliche Leben entscheidend verbessert. Zwar gab es unter Diokletian (284-305), anders als im Osten des Imperiums, in Gallien keine blutigen Christenverfolgungen. So ist beispielsweise keiner von den in vorkonstantinischer Zeit in Trier amtierenden Bischöfen als Märtyrer gestorben. Der Kirchenschriftsteller Laktanz, der um 312 als Erzieher des ältesten Konstantinsohnes Crispus aus dem Reichsosten an den Hof nach Trier berufen wurde, berichtet in seinem Werk „Über die Todesarten der Verfolger“ durchaus glaubhaft, Constantius Chlorus, der Vater Konstantins, habe in der Verfolgungszeit lediglich hingenommen, dass „die Versammlungshäuser“ - das heißt die Mauern, die sich wiederherstellen ließen - zerstört wurden, „den wahren Tempel Gottes aber, der in den Menschen ist“, habe er unversehrt gelassen. 1 Von Konstantin sagt unser Gewährsmann, er habe nach seinem Regie- [Erstveröffentlichung: Die Bedeutung der Zeit Konstantins (306-337) für die Liturgie der Kirche, in: M. Fiedrowicz, G. Krieger, W. Weber (Hg.), Konstantin der Große. Der Kaiser und die Christen. Die Christen und der Kaiser, Trier 2006, 139-182, 3. Aufl. 2007. Es handelt sich um die Druckfassung eines Vortrags im Rahmen des im Herbst 2006 in der Katholischen Akademie Trier veranstalteten Wissenschaftlichen Kolloquiums zum „Konstantin-Jahr“.] 1 Lact., mort. 15,7 (CSEL 27, S. 189): Nam Constantinus, ne dissentire a maiorum praeceptis videretur, conventicula, id est parietes, qui restitui poterant, dirui passus est, verum autem dei templum, quod est in hominibus, incolume servavit. Zu Laktanz in Trier vgl. K. Kremer, Laktanz. Erzieher von Konstantins Sohn Crispus zu Trier, in: Kurtrierisches Jahrbuch 25 (1985) 35-59; vgl. auch die Einleitung von J. Moreau zu seiner Ausgabe von De mortibus persecutorum (SC 19); eine Erstinformation bietet K.-H. Schwarte, Art. Laktanz, in: Lexikon der antiken christlichen Literatur, hg. von S. Döpp, W. Geerlings, Freiburg-Basel-Wien 2 1999, 387f. Liturgie im Werden 10 rungsantritt nichts Eiligeres zu tun gehabt, als die Christen wieder ihrem Kult und ihrem Gott zurückzugeben. 2 1. Günstige neue Rahmenbedingungen Bei dieser Aussage über eine sofortige Wiederherstellung des christlichen Gottesdienstes muss man freilich in Rechnung stellen, dass unser Autor geneigt ist, in seiner polemischen Abrechnung mit den Verfolgern von gestern die christenfreundliche Haltung der neuen aufsteigenden konstantinischen Dynastie ins hellste Licht zu rücken. Das gilt noch mehr für unseren wichtigsten Zeitzeugen der Ära Konstantins des Großen (306-337), Bischof Eusebius von Caesarea in Palästina (†339). In seiner Vita Constantini schreibt er, bereits zu Lebzeiten von Konstantins Vater, als im Osten des Reiches Christen noch als Märtyrer starben, sei in der westlichen Kaiserresidenz Trier christlicher Gottesdienst sogar im Palast selbst geduldet worden. Constantius Chlorus habe, so Eusebius, seine Familie und seine Dienerschaft „dem einzigen und höchsten Herrscher“ geweiht. Unter dem Hofpersonal habe es „Diener Gottes“ gegeben, „die fortwährend Gottesdienst für den Kaiser feierten.“ 3 In der Terminologie des Eusebius sind „Diener Gottes“ nicht irgendwelche Kultdiener, sondern eindeutig Bischöfe oder Priester der Kirche. Der Wahrheitsgehalt dieser Mitteilung wird von der kritischen Geschichtswissenschaft skeptisch beurteilt. Mit dem Trierer Althistoriker Heinz Heinen wird man wohl annehmen müssen, dass der herrscherfromme Konstantin-Biograph hier idealisierend die Zustände seiner Zeit am Kaiserhof in Konstantinopel in die Trierer Anfangszeit der konstantinischen Dynastie zurückprojiziert hat. 4 Doch das, was der Spaten der Archäologen im Bereich des Trierer Domes und der angrenzenden Liebfrauenbasilika in den letzten Jahrzehnten zu Tage gefördert hat 5 , wirft auch neues Licht auf das zitierte Eusebius-Zeugnis. Fest steht jedenfalls, dass die Annahme eines vorkonstantinischen Gottesdienstraumes in nächster Nähe zur Trierer Kaiserresidenz nicht mehr als fromme Legende abgetan werden kann. Gesichert ist für das zweite Jahrzehnt des 4. Jahrhunderts, das heißt in der Amtszeit des Trierer Bischofs Agricius, der durch seine Unterschrift unter die Akten des 2 Vgl. Lact., mort. 24,9 (CSEL 27, S. 201): Suscepto imperio Constantinus Augustus nihil egit prius quam Christianos cultui ac deo suo reddere. Haec fuit prima eius sanctio sanctae religionis restitutae. Zurückhaltend dazu H. Heinen, der eine sofort mit dem Jahr 306 beginnende Restitution für eher unwahrscheinlich hält; vgl. Ders., Frühchristliches Trier. Von den Anfängen bis zur Völkerwanderung, Trier 1996, 82-84. 3 Vgl. Eus., Vita Constantini; Des Eusebius Pamphili vier Bücher über das Leben des Kaisers Konstantin und des Kaisers Konstantin Rede an die Versammlung der Heiligen, aus dem Griechischen übersetzt von J. M. Pfättisch (BKV 2 12), Kempten-München 1913, 18. 4 Vgl. Heinen, Trier (wie Anm. 2), 85. 5 Vgl. dazu die einschlägigen Veröffentlichungen des derzeitigen Direktors des Trierer Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseums, der die Ausgrabungen geleitet hat: W. Weber, Die Anfänge des Trierer Domes, in: TThZ 98 (1989) 147-155; Ders., Archäologische Zeugnisse aus der Spätantike und dem frühen Mittelalter zur Geschichte der Kirche im Bistum Trier (3.-10. Jahrhundert), in: H. Heinen, H. H. Anton, W. Weber (Hg.), Im Umbruch der Kulturen. Spätantike und Frühmittelalter. Geschichte des Bistums Trier 1, Trier 2003, 407-541. Die Bedeutung der Zeit Konstantins des Großen (306-337) 11 Konzils von Arles im Jahre 314 historisch klar einzuordnen ist, eine schon recht ansehnliche, dreischiffige, apsisgeostete Basilika in dem betreffenden Areal vor der heutigen Liebfrauenkirche. 6 Dieses Kirchengebäude lag in unmittelbarer Nähe des damaligen administrativen Zentrums der Haupt- und Residenzstadt Galliens. Der Grabungsbefund zeigt, dass sich diese Basilika aus der frühen Zeit der konstantinischen Ära wohl aus einer vorkonstantinischen Hauskirche entwickelt hat. Im Zuge der auch für Trier anzunehmenden christenfeindlichen Maßnahmen unter Diokletian könnte diese zerstört worden sein. Die an ihrer Stelle unter Konstantin errichtete „Agricius-Basilika“ wäre dann eine eindrucksvolle Demonstration der konstantinischen Restitutionspolitik am prominenten Ort seiner ersten Residenzstadt. Der Bau der ersten Trierer Bischofskirche fällt dann ungefähr zusammen mit dem von Konstantin nach seinem Sieg an der Milvischen Brücke am 28. Oktober 312 veranlassten Bau der viel größeren Lateranbasilika, der Bischofskirche Roms. In Trier entstand gegen Ende der konstantinischen Ära neben der erwähnten „Agricius-Basilika“ ein noch weiträumigerer Kirchenkomplex von wahrhaft imperialen Ausmaßen. 7 Konstantins erste Residenz behauptete nach seinem Tod (337) weiterhin ihren Rang als Kaiserstadt, insofern in Trier der älteste, für den Westen des Reiches zuständige Kaisersohn, Konstantin II. (†340), residierte. 8 Die Kaiserresidenz an der Mosel blieb so einbezogen in das großangelegte konstantinische Kirchenbauprogramm. Es ließ repräsentative christliche Kultgebäude an markanten Orten entstehen, in Rom und Jerusalem vor allem, aber auch in Alexandrien, Aquileia und Trier. In Trier sah Athanasius von Alexandrien während seines ersten Exils in den Jahren 335-337 die Mauern der gewaltigen Trierer Kirchenanlage emporwachsen. 9 Es liegt auf der Hand, dass die Restitution und Wiederherstellung der christlichen Kultgebäude und die Förderung des Baus von großen und reich ausgestatteten Gotteshäusern durch die konstantinische Dynastie Auswirkungen hatten auf die in diesen Räumen gefeierte Liturgie, die sich nun frei entfalten konnte. Wie sah diese Liturgie näherhin aus? Was war das für ein „Kult“, dem - um mit Laktanz zu reden - Konstantin die Christen zurückgeben wollte? Und wie hat die Kirche unter den neuen, für sie günstigen Rahmenbedingungen ihr liturgisches Leben entwickelt und entfaltet? In diesem Fragenhorizont lassen sich mehrere Schwerpunkte ausmachen, die hier nicht alle aufgegriffen werden können. Ich beschränke mich auf drei liturgiehistorisch besonders gewichtige: 1. die Sonntagsfeier, 2. die Osterfeier und 3. das 6 Weber, Anfänge (wie Anm. 5, 153f.) beschreibt sie als „dreischiffigen Bau mit rechteckigem Chorraum und kleiner Apsis. Zwei Stützreihen mit jeweils fünf Säulen teilen das 14 m breite Mittelschiff und die ca. 7 m breiten Seitenschiffe.“ Vgl. dazu auch Heinen, Trier (wie Anm. 2), 98-117. 7 Vgl. Weber, Zeugnisse (wie Anm. 5), 428-435. 8 Vgl. Heinen, Trier (wie Anm. 2), 77-79. 9 Heinen hält die Beobachtung des Dombaus durch Athanasius während dessen erstem (335-337) oder zweitem Aufenthalt in Trier (343) für möglich. Aufgrund des archäologischen Befundes kommt jedoch am ehesten die Zeit des Exils, also Ostern 336 oder 337, in Frage; vgl. Weber, Zeugnisse (wie Anm. 5), 429 Anm. 81. Liturgie im Werden 12 Geburtsfest Christi am 25. Dezember in seiner Korrelation mit Epiphanie am 6. Januar. Abschließend soll kurz die in jüngster Zeit wieder lebhaft diskutierte Frage der Gebetsrichtung angesprochen werden. 10 In konstantinischer Zeit dürfte die Ostung allgemeine Regel und Norm geworden sein. 2. Der Sonntag in konstantinischer Zeit Der Sonntag als der allwöchentlich wiederkehrende Tag der Eucharistiefeier der an diesem oder jenem Ort lebenden Christen ist selbstverständlich keine Erfindung der konstantinischen Ära. Der liturgische Kern der christlichen Sonntagsfeier ist ein Erbe der apostolischen Zeit. 11 Das Zweite Vatikanische Konzil steht auf liturgiehistorisch festem Fundament, wenn es in dem großartigen Sonntagsartikel seiner Liturgiekonstitution (SC 106) feststellt: „Aus apostolischer Überlieferung, die ihren Ursprung auf den Auferstehungstag Christi zurückführt, feiert die Kirche Christi das Pascha-Mysterium jeweils am achten Tage, der deshalb mit Recht Tag des Herrn oder Herrentag (dies dominica) genannt wird.“ Der Name für den Gottesdiensttag der Christen: a) Herrentag oder Sonn-Tag Das Konzil bezeichnet den privilegierten christlichen Gottesdiensttag hier mit dem neuen Namen, den die Christen des Anfangs erfunden haben. Im Bewusstsein seines christozentrischen Eigencharakters nannten sie den Tag nach dem Sabbat der von ihnen übernommenen jüdischen Sieben-Tage-Woche „Herrentag“. Schon die Offenbarung des Johannes bezeugt uns die griechische Namensform: kuriakØ ≤m°ra (Offb 1, 10). Sie dürfte die ursprüngliche sein. Der namengebende „Herr“ dieses neuen christlichen Sonntagsnamens ist Christus, der auferstandene und zum Vater erhöhte Kyrios. 12 In der griechischsprachigen Osthälfte des Römischen Reiches hat sich dieser Name auf Dauer durchgesetzt, im lateinischen Westen immerhin in den romanischen Nachfolgesprachen des Lateinischen. Wir werden sehen, dass die Sonntagsgesetzgebung Konstantins auch die keineswegs nebensächliche Frage des Namens für diesen durch das Osterereignis herausgehobenen Tag berührte und nicht unbedingt im christlichen Sinn beeinflusste. Dies dominica - „Herrentag“ ist der Sonntag für die Christen vor allem, weil er der Tag des Herrenmahles ist. 13 Denn daran kann es keinen Zweifel geben: Der Kern der christlichen Sonntagsfeier besteht nicht, in Anlehnung an das jüdische Sabbatgebot, in der Arbeitsruhe, die es tatsächlich bis in die konstantinische Zeit 10 A. Gerhards, (Erneuerung von innen, in: HerKorr Spezial, Freiburg 2005, 30-34) hat in seinen Überlegungen zur Liturgiereform 40 Jahre nach dem Zweiten Vatikanum darauf hingewiesen. 11 Vgl. den Überblick über die Sonntagsfeier in der Antike mit weiterführenden Literaturangaben bei Hj. Auf der Maur, Feiern im Rhythmus der Zeit I. Herrenfeste in Woche und Jahr (GdK 5), Regensburg 1983, 35-49. 12 Vgl. A. Heinz, Der Tag, den der Herr gemacht hat. Gedanken zur Spiritualität des Sonntags, in: ThGl 68 (1978) 40-61, bes. 40-48. Nachdruck in diesem Band. 13 Vgl. 1 Kor 11,17-34; Heinz, Tag (wie Anm. 12), 48-51. Die Bedeutung der Zeit Konstantins des Großen (306-337) 13 nicht gab, sondern in der Feier der Sonntagseucharistie. Der bereits zitierte Sonntagsartikel des Zweiten Vatikanums trifft deshalb ins Schwarze, wenn er als überzeitlich gültigen Imperativ der christlichen Sonntagsbegehung herausstellt: „An diesem Tag müssen die Christgläubigen zusammenkommen, um das Wort Gottes zu hören, an der Eucharistiefeier teilzunehmen und so des Leidens, der Auferstehung und der Herrlichkeit des Herrn Jesus zu gedenken und Gott dankzusagen, der sie ‚wiedergeboren hat zu lebendiger Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten‘ (1 Petr 1,3).“ (SC 106). Wir haben in dieser Sache aus vorkonstantinischer Zeit das klare Zeugnis Justins des Märtyrers (†165). Im 67. Kapitel seiner um die Mitte des zweiten Jahrhunderts verfassten 1. Apologie klärt er seine heidnischen Adressaten über die Gottesdienstpraxis der Christen auf. Er schreibt: „An dem so genannten Sonn-Tag ( ≤ toË ≤l¤ou legom°nh ≤m°ra ) findet eine Zusammenkunft am gleichen Ort all jener statt, die in den Städten oder auf dem Land wohnen.“ 14 In dieser Vollversammlung, so erfahren wir weiter, werden Lesungen aus den Schriften der Apostel und Propheten vorgetragen. Der Gottesdienstleiter, konkret ist es der Ortsbischof oder ein Presbyter, hält danach eine Ansprache. Dann stehen alle zum gemeinsamen Gebet in verschiedenen Anliegen und für unterschiedliche Personen auf. Die solchermaßen erlebte Gebetsgemeinschaft wird durch den Friedenskuss, den alle untereinander tauschen, besiegelt. Anschließend werden Brot, Wein und Wasser herbeigebracht. Der Vorsteher spricht mit eigenen Worten über die bereitgestellten Gaben ein großes Dankgebet, das die ganze Versammlung mit ihrem „Amen“ bekräftigt. Dann wird „das, worüber Dank gesagt wurde“, den Anwesenden ausgeteilt und den abwesenden Gemeindemitgliedern durch Diakone überbracht. Justin nennt an anderer Stelle die durch das Gebet des Bischofs oder Priesters geheiligten Gaben von Brot und Wein „Eucharistie“. Er betont, dass sie Leib und Blut „des Fleisch gewordenen Jesus“ sind, deren Genuss nur den getauften und an der Lehre Christi festhaltenden Gläubigen erlaubt ist. 15 Justin vergisst nicht, eigens die soziale Komponente des christlichen Sonntagsgottesdienstes zu erwähnen: Wer dazu in der Lage ist, hinterlegt etwas beim Gemeindevorsteher, damit den Not Leidenden geholfen werden kann. 16 Hier treffen wir auf die von den heidnischen Zeitgenossen viel bewunderte christliche Caritas, die liturgisch verwurzelt ist und in dem römischen Märtyrer-Diakon Laurentius (†258) ihre strahlende Verkörperung gefunden hat. 17 Auf den ersten Blick überrascht, dass in diesem Dokument ein christlicher Autor den wöchentlichen Gottesdiensttag der Christen nicht mit seinem christlichen 14 Justin., 1 Apol. 67,3; eigene Übersetzung; vgl. die Kommentierung der Justin-Stelle bei H. B. Meyer, Eucharistie. Geschichte. Theologie, Pastoral (GdK 4), Regensburg 1989, 100-104; J. A. Jungmann, Missarum Sollemnia, 2 Bde., Wien 5 1968, Bd. 1, 29-33. 15 Justin., 1. Apol. 65 und 66. 16 Vgl. ebd., 67. 17 Laurentius war römischer Diakon unter Papst Sixtus II. (257-258); vgl. unseren Beitrag über Laurentius in diesem Band. Zum konstantinischen Kirchenbauprogramm gehörte auch die Errichtung der Memorialbasilika San Lorenzo fuori le mura an der Via Tiburtina. In der Basilika Konstantins führte eine Treppe hinunter zum in situ belassenen Märtyrergrab; vgl. A. Weiland, Art. Laurentius, in: LThK 6 (Freiburg 3 1997), 588f. Liturgie im Werden 14 Namen nennt. Mit merkwürdiger Umständlichkeit spricht Justin von dem „so genannten Tag der Sonne“. 18 Die Erklärung ist einfach: Justins Apologie richtet sich an einen heidnischen Adressatenkreis, der mit dem Ausdruck „Herrentag“ nichts hätte anfangen können. Aber auch der Name „Sonn-Tag“ war offenbar in diesen Kreisen um diese Zeit noch nicht allgemein rezipiert. Dieser Name klang, wie Martin Wallraff in seiner Monographie über „Sonnenverehrung und Christentum in der Spätantike“ nachgewiesen hat, auch für heidnische Ohren damals noch neu und ungewohnt. An anderer Stelle hält es Justin nämlich für nötig zu erklären, dass mit diesem „Sonn-Tag“ der Tag nach dem seinem Publikum offenbar vertrauteren Saturntag gemeint ist. 19 Der Saturntag, unserem Samstag entsprechend, hatte sich unter dem Einfluss der jüdischen Sabbatfeier auch in heidnischen Kreisen als eine Art Wochenfeiertag im Kontext der sich allmählich im Imperium Romanum etablierenden Sieben-Tage-Woche herausgebildet. Die Sieben-Tage wurden im paganen Milieu jedoch nach den Planeten unseres Sonnensystems benannt, zu denen nach damaliger Vorstellung auch Sonne und Mond gehörten. In dieser heidnischen Planetenwoche 20 , die sich im zweiten Jahrhundert herausbildete und im Laufe des dritten allgemein durchsetzte, gab das lichtstärkste Gestirn, die Sonne, dem ersten Tag seinen Namen, der Mond dem zweiten; die folgenden Tage trugen ebenfalls Planetennamen, die in den romanischen Sprachen bis heute weiterleben. In der Spätantike war diese Planetenwoche aufs Engste mit dem paganen Astralkult verknüpft. Die Christen standen ihr deshalb - wegen dieser polytheistischen Kontamination - höchst reserviert gegenüber. Doch entdeckten sie gewiss zu ihrer Freude eine erstaunliche Übereinstimmung: In dem neuen Sieben-Tage-Zyklus war ihr Gottesdiensttag, der „Herrentag“, dabei, sich auch bei den Heiden als der erste Tag der Woche und - aufgrund der sich intensivierenden Sonnenverehrung - als ein besonderer Tag zu etablieren. Das bot missionsstrategische Anknüpfungspunkte. So versäumt es Justin nicht, seine heidnischen Leser darauf hinzuweisen, dass der „Sonnen-Tag“ auch für die Christen der erste Tag ist, allerdings nicht wegen der Dignität des Sonnengestirns und Sonnengottes. Für sie ist er der erste als Anfangstag der Schöpfung und - so Justin wörtlich -, „weil Jesus, unser Erlöser, an diesem Tag von den Toten auferstanden ist.“ 21 Martin Wallraff hat darauf aufmerksam gemacht, dass die in konstantinischer Zeit allgegenwärtige „Sol-Christologie“ 22 als Interpretationsmodell für eine christ- 18 Vgl. zu den folgenden Ausführungen besonders M. Wallraff, Christus Versus Sol. Sonnenverehrung und Christentum in der Spätantike, Münster 2001, 89-96. 19 Vgl. Justin., 1 Apol. 67; vgl. Wallraff, Sol (wie Anm. 18), 90. 20 Vgl. F. J. Dölger, Sol salutis. Gebet und Gesang im christlichen Altertum (LQF 4/ 5), Münster 3 1972; Wallraff, Sol (wie Anm. 18), 90-96 und die dort diskutierte ältere Literatur. Der als Erzieher Gratians um 365 nach Trier berufene, hochgebildete, zum Christentum konvertierte Rhetor Ausonius besingt die klassischen Planetennamen der Woche in einem Gedicht De nominibus septem dierum; vgl. Aus. 5,1 (MGH. AA 5,2,9 Schenkel). Es beginnt und schließt mit dem Sonntag als dem achten Tag, wobei der christliche Sonntagsname aber unerwähnt bleibt; es ist am Anfang und Ende nur von Sol die Rede. 21 Justin., 1. Apol. 67. 22 Vgl. dazu Wallraff, Sol (wie Anm. 18), 41-59; dort auch die Einzelbelege zu den folgenden Ausführungen. Die Bedeutung der Zeit Konstantins des Großen (306-337) 15 liche Deutung des von Hause aus heidnischen Namens „Sonn-Tag“ bei Justin noch fehlt. Ansätze dazu finden sich dann aber schon bei Tertullian (†220), Klemens von Alexandrien (um 220) und vor allem Origenes († um 253), doch eher sparsam und zurückhaltend. Denn eine vorschnelle Deutung der „göttlichen Sonne“ auf Christus, den die Christen als das wahre „Licht der Welt“ (Joh 8,12) bekannten und den sie beim Propheten Maleachi (Mal 3,20) als die aufgehende „Sonne der Gerechtigkeit“ vorausgesagt fanden, war insofern gefährlich, als eine solche Gleichsetzung nicht klar zu trennen gewesen wäre von dem paganen Astralkult, der seine Götter in den übrigen Wochentagsnamen wiedererkannte. Trotzdem drang der neue Name „Sonn-Tag“ mit der faktischen Etablierung der Planetenwoche im Laufe des 3. Jahrhunderts auch in den christlichen Sprachgebrauch ein, besonders im lateinischen Westen. Grabinschriften belegen dies, allerdings nur in Einzelfällen. 23 Zusammenfassend lässt sich feststellen: An der Schwelle der konstantinischen Ära ist der Sonntag für die Christen ihr allwöchentlicher Gottesdiensttag. In ihren Kreisen heißt der Tag „Herrentag“. An ihm kommen sie zusammen, um aus ihren heiligen Schriften zu lesen und Eucharistie zu feiern. Diese Sonntagsversammlung ist für sie lebens- und überlebenswichtig, weshalb sie auch in Zeiten der Verfolgung trotz staatlicher Sanktionen durchgehalten wird. Nicht alle Gemeindemitglieder werden allerdings den Heldenmut der nordafrikanischen „Sonntagsmärtyrer“ von Abitinae besessen haben. Trotz akuter Gefahr für Leib und Leben waren diese der Sonntagseucharistie nicht fern geblieben und sie waren dafür in den Tod gegangen. 24 Dass wir aber auch in der Märtyrerzeit keine Idealverhältnisse voraussetzen dürfen, beweist ein Beschluss der Provinzialsynode von Elvira in Südspanien aus dem Anfang des 4. Jahrhunderts. 25 Dort wurde sinngemäß bestimmt: Ein in der Stadt lebender Gläubiger, der an drei aufeinander folgenden Sonntagen nicht zur Kirche kommt, ist zu maßregeln; er soll eine gewisse Zeit lang (pauco tempore) vom Eucharistieempfang ausgeschlossen werden. b) Konstantins Sonntagsgesetzgebung Als diese Synode tagte, war der Sonntag noch ein gewöhnlicher Arbeitstag. Zwar war im Zuge der sich zunehmend ausbreitenden, seit der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts auch von höchster Warte als Staatskult geförderten Sonnenverehrung „der nach der Sonne benannte Tag“ dabei, nach und nach auch in heidnischen Bevölkerungskreisen Feiertagscharakter anzunehmen. Doch die entsprechende bis heute geltende amtliche Regelung erfolgte erst in konstantinischer Zeit. Am 3. Juli 321 erließ Kaiser Konstantin sein Sonntagsdekret, dessen Wortlaut uns glücklicherweise überliefert ist. Es besagt: Alle Richter, die Stadtbewohner und Gewerbetreibende sollen am „verehrungswürdigen Sonn-Tag“ (venerabili die 23 Vgl. ebd., S. 95f. 24 Im Verhör gaben sie zu Protokoll, dass Christen ohne die Sonntagseucharistie nicht leben könnten; vgl. Passio SS. Dativi, Saturnini, Presbyteri et aliorum, in: A.-G. Martimort u. a. (Hg.), Handbuch der Liturgiewissenschaft, 2 Bde., Freiburg 1963/ 1965, Bd. 2, 215. 25 Gewöhnlich wird die Synode in das Jahr 306 datiert; vgl. can. 21 (Mansi, Bd. 2, S. 9); vgl. Auf der Maur, Zeit (wie Anm. 11), 41. Liturgie im Werden 16 solis) die Arbeit ruhen lassen. Die Landbevölkerung bleibt aber frei, ihrer Arbeit nachzugehen, besonders zur Zeit der Aussaat und wenn die Witterung dazu rät. 26 Es handelt sich also nicht um eine totale, aber doch weitgehende Sonntagsruhe. Sie betrifft alle Staatsgeschäfte sowie Handel und Gewerbe, lässt aber der witterungsabhängigen Landwirtschaft einen Freiraum. Vielfach hat man diese Maßnahme Konstantins als bewusste und gewollte Privilegierung der christlichen Sonntagsfeier verstanden. Doch das Dekret hatte keineswegs nur die Christen im Blick. Der christliche Sonntagsname kommt darin nicht vor, noch wird das erwähnt, was für die Christen das Wichtigste am Sonntag ist: der Gottesdienst. Nicht von der dies dominica spricht der Kaiser, sondern vieldeutig vom venerabilis dies solis, der durch Arbeitsenthaltung geehrt werden soll. Den Christen war dieser Erlass gleichwohl willkommen, da er bessere Rahmenbedingungen für die Feier der Sonntagseucharistie schuf. Diese konnte nun aus der frühen Morgenstunde in den hellen Tag verlegt werden. Als klassische „Zeit der Messe“ setzte sich in der Folgezeit die dann auch symbolisch gedeutete hora tertia durch, also etwa 9.00 Uhr unserer Zeitrechnung. 27 Die von der staatlichen Autorität verfügte Arbeitsruhe wurde in diesem Sinn von der Kirche als ein Entgegenkommen gegenüber ihrer Sonntagstradition durchaus begrüßt. Sie wurde aber nicht als wesentlicher Bestandteil der christlichen Sonntagsfeier - etwa im Rückgriff auf das biblische Sabbatgebot - besonders urgiert. Solche Tendenzen beobachten wir - sieht man von einem singulären Versuch in einem Spätwerk des Eusebius ab 28 - erst gegen Ende des 4. Jahrhunderts. Nicht weniger als die Christen konnten andere religiöse Strömungen in diesem Dekret Konstantins eine wohlwollende Geste ihnen gegenüber erblicken. Den Anhängern des Mithraskults, in dem die Verehrung der „göttlichen Sonne“ eine besondere Rolle spielte, musste die Privilegierung des Sonn-Tages höchst willkommen sein. Vor allem aber ist Konstantins Erlass in Verbindung mit dem Kult des Sol invictus zu sehen. „Seit Aurelian war dieser Kult zur staatstragenden Kraft aufgestiegen und stand in enger Verbindung zum Kaiserkult. Doch der Kult wurde nicht nur offiziell und von oben gefördert, sondern er war auch enorm populär und erfreute sich besonders im Heer großer Beliebtheit. Die Auszeichnung des Sonn-Tages musste dieser Tradition Auftrieb verschaffen - und daher die Stellung des Kaisers stärken.“ 29 Letzteres dürfte Konstantin vor allem im Sinn gehabt haben. Er betrachtete seit seiner Lichtvision im Jahre 310 den Sol invictus als persönlichen Schutzgott. 30 So kam sein bewusst offen und vieldeutig formuliertes Sonntagsdekret den verschiedenen großen religiösen Bewegungen der Zeit entgegen, die sich auf ihre Weise darin eingeschlossen und mitgemeint fühlen 26 Vgl. Eus., Vita Constantini 4,23; der Wortlaut in deutscher Übersetzung und mit Kommentar bei Wallraff, Sol (wie Anm. 18), 96-102. 27 Vgl. Jungmann, Missarum (wie Anm. 14), Bd. 1, 323-325. 28 In seinem Psalmenkommentar bietet Eusebius zu Psalm 92/ 91 eine ausführliche Sabbattheologie; dort taucht der Gedanke der Übertragung des Ruhegebots vom Sabbat auf den Sonntag auf; vgl. Wallraff, Sol (wie Anm. 18), 100f. 29 Ebd., 97. 30 Vgl. ebd., 127-131. Die Bedeutung der Zeit Konstantins des Großen (306-337) 17 konnten. Wallraff sieht die Genialität dieses knappen und nüchternen Dekrets in seinem „integrativen Potential“ 31 ; in dieser Hinsicht ist es typisch für die gesamte Religionspolitik Konstantins. Wie sah das christliche Echo auf diese kaiserliche Maßnahme aus? Es versteht sich von selbst, dass Christen und Juden es gut fanden, dass die biblisch begründete Sieben-Tage-Woche in Gestalt der Planetenwoche nun offiziell im ganzen Imperium Romanum verbindlich geworden war. Auch die Auszeichnung des christlichen Gottesdiensttages als Wochenfeiertag war - wie bereits erwähnt - eine willkommene Regelung. Doch selbst einem kaiserfrommen Kirchenmann wie Bischof Eusebius entging nicht die Zwiespältigkeit, ja Gefährlichkeit der konstantinischen Sonntagsgesetzgebung. Sie war nämlich dazu angetan, dem paganen Sonnenkult kräftigen Auftrieb zu geben. Diese Gefahr ist noch greifbarer in den Ausführungsbestimmungen des Sonntagsdekrets. So berichtet Eusebius, der Kaiser habe angeordnet, dass die Soldaten am arbeitsfreien Sonntag zu einem Sonntagsgebet unter freiem Himmel anzutreten hatten. 32 Auf Kommando sprachen sie eine Gebetsformel gemeinsam im Chor. Den Text hat nach Eusebius Konstantin selbst verfasst. Er lautet: „Dich allein erkennen wir als Gott, dich bekennen wir als König, dich rufen wir an als Helfer, von dir erflehen wir den Sieg, durch dich überwinden wir unsere Feinde, dir sind wir dankbar für die Gaben der Vergangenheit, auf dich hoffen wir auch für die Zukunft, zu dir kommen wir alle und bitten dich: Erhalte unseren Kaiser Konstantin und seine gottgeliebten Söhne heil und siegreich in einem langen Leben.“ 33 Auch in diesem Fall begegnet uns ein Text von vager Offenheit und Vieldeutigkeit. Sein integratives Potential ist so weit gespannt, dass christliche Soldaten das monotheistisch formulierte Sonntagsgebet mitsprechen konnten. Doch bedenkt man den „Sitz im Leben“, liegt ein solares Verständnis näher als ein christliches. Unter offenem Himmel, nach Osten, der aufsteigenden Sonne zugewandt, am „verehrungswürdigen Tag der Sonne“, erflehen Konstantins Truppen den Sieg über die Feinde des Reiches von einem Gott, der als Geber aller Gaben und als Schutzgott der konstantinischen Dynastie angerufen wird. Das lässt eher an den Sol invictus denken als an Jesus Christus. Insofern ist es verständlich, dass Eusebius sichtlich bemüht ist, in seiner Schilderung des Sachverhalts, die von Konstantin favorisierte Benennung des hervorgehobenen Tages, nämlich Dies Solis - „Sonn-Tag“, zu marginalisieren und ins Christliche umzubiegen. Für ihn ist dieser Tag „der Tag des Herrn und Erlösers“, der lediglich „zufällig“ auch als „Tag des Lichtes und 31 Vgl. ebd., 98. 32 Vgl. Eus., Vita Constantini 4,19. 33 Ebd., 4, 20; die Übersetzung (Pfättisch, 157) wurde von uns leicht überarbeitet; vgl. auch Wallraff, Sol (wie Anm. 18), 98f. Liturgie im Werden 18 Tag der Sonne“ bezeichnet werde. 34 Auch Konstantins Sonntagsgebet konnte sich Eusebius nicht von christlichen Soldaten gesprochen vorstellen. Es dürfte wohl auf das Konto der eusebianischen Interpretation der konstantinischen Sonntagsgesetzgebung gehen, wenn Eusebius in seiner Vita Constantini berichtet, die christlichen Soldaten seien zum Besuch der Sonntagseucharistie abkommandiert worden 35 ; das kaiserliche Sonntagsgebet wäre dann nur Sache der Nichtchristen im Heer gewesen. Der Kaiser hatte den „ehrwürdigen Sonnen-Tag“ zum Wochenfeiertag erklärt. Die Kirche, als deren Interpreten wir Eusebius in dieser Sache ansehen dürfen, tat so, als habe Konstantin den Sonntag zum allgemeinen Gebets- und Gottesdiensttag gemacht. Dabei wird der Gottesdienst in der kaiserlichen Verordnung gar nicht erwähnt. Doch er war und bleibt das Herzstück der christlichen Sonntagsfeier. Deshalb stellt Eusebius, bevor er vom vorgeschriebenen Sonntagsgebet der Soldaten spricht, den Kaiser selbst als Muster und Vorbild christlicher Sonntagsfrömmigkeit heraus: Im Kaiserpalast in Konstantinopel hatte er - so informiert uns Eusebius 36 - einen Gebets- und Gottesdienstraum, „eine Art Kirche“, einrichten lassen. Konstantin gab allen Palastbewohnern und Bediensteten ein Beispiel, indem er sich dorthin zur Schriftlesung und Betrachtung zurückzog; er war selbst zugegen, wenn das Palastpersonal dort gemeinsam betete. Der Sonntag hatte, so umschreibt Eusebius die entsprechende konstantinische Verordnung, fortan als „der dem Gebet geweihte Tag“ zu gelten. Diakone und andere ehrenwerte Männer wachten im Kaiserpalast über den sakralen Charakter des Tages, an dem der Kaiser sich selbst seinen Untergebenen als „Lehrer der Frömmigkeit“ zeigte und sie anstiftete, auch ihrerseits am Sonntag ihr Gebete zu verrichten. Das sollten nach seinem Willen nach und nach alle Bürger des römischen Reiches tun. Für die kaiserlichen Truppen erging ein entsprechender Befehl. 37 Wann das erwähnte Sonntagsgebet der Soldaten angeordnet wurde, wissen wir nicht; sicher erst nach 321, vermutlich erst nach dem Sieg über Licinius (324). 3. Der Ostertermin und die Entfaltung der Osterfeier An der Schwelle der konstantinischen Zeit gab es für die Christen nur ein einziges Jahresfest, das von allen und überall gefeiert wurde. Dieses Fest hatte bei ihnen wie bei ihren jüdischen Zeitgenossen den biblischen Namen „Pascha“. Die Christen feierten es auch am jüdischen Festtermin, oder doch in seiner unmittelbaren Nähe. Dieser Termin ist nach Ex 25,1-14 der 14. Tag des ersten Monats im neuen Jahr, das der jüdische Mondkalender im Frühling beginnen ließ. 38 34 Vgl. Eus., Vita Constantini 4,18. 35 Vgl. ebd. 36 Vgl. ebd., 4,17.18. 37 Vgl. oben Anm. 32. 38 Zur frühchristlichen Paschafeier und ihrem jüdischen Wurzelgrund vgl. den Überblick mit weiterführenden Literaturangaben bei Auf der Maur, Zeit (wie Anm. 11), 56-70; vgl. ferner W. Huber, Passa und Ostern. Untersuchungen zur Osterfeier der alten Kirche, Berlin 1969; K. Gerlach, The Antenecene Pascha, Leuven 1998. Die Bedeutung der Zeit Konstantins des Großen (306-337) 19 Das Fest begann gegen Abend des 14. Nisan mit der Schlachtung des Pascha- Lammes. Im Zentrum des Festes stand - und steht noch immer - ein rituell reich ausgestaltetes nächtliches Mahl. Der Festtermin ist also die Nacht vom 14. auf den 15. Nisan, die, weil sie in der Mitte des mit dem Neumond beginnenden Monats liegt, immer eine Vollmondnacht ist. Es schließen sich die sieben Tage der ungesäuerten Brote (Mazzot) an (Ex 12,15-20). Die jüdische Pascha-Feier kannte zur Zeit Jesu und der Apostel zudem bereits eine 50-tägige Nachfeier. Sie fand nach sieben Mal sieben Tagen mit dem „Wochenfest“ (Ex 34,22) am 50. Tag ihren krönenden Abschluss. 39 a) Verschiedene Termine der christlichen Pascha-Feier Wir haben im Neuen Testament Anzeichen dafür, dass diese jüdischen Festtermine auch für die Christen von Anfang an Bezugsgrößen waren und blieben. Man darf etwa an die nächtliche Befreiung des Petrus aus dem Kerker denken, von der die Apostelgeschichte sagt, sie sei in den „Tagen der Ungesäuerten Brote“ geschehen (Apg 12,1-17). Diese waren somit auch für die Christen Anlass für eine nächtliche Gebetsversammlung, liturgisch gesprochen eine Vigilfeier. Auch das Pfingstereignis der Geistsendung setzt eine christliche Gebetsversammlung am fünfzigsten Tag der jüdischen Pascha-Feier voraus (Apg 2,1). Die Mehrheit der Forscher nimmt denn auch an, dass die christliche Pascha-Feier bis in die apostolische Zeit zurückreicht. Denn es ist eigentlich nicht vorstellbar, dass jedes Mal, wenn das jüdische Pascha-Fest anbrach, die Christen nicht an das gedacht hätten, was an einem solchen jüdischen Pascha-Fest mit Jesus von Nazareth geschehen war. Dieses Gedenken war gewiss nicht bloß eine subjektive Erinnerung, sondern ein gemeinsames kultisches Gedenken. Seinen wesentlichen Inhalt bringt Paulus schon ins Wort, wenn er im Blick auf die Schlachtung der Osterlämmer im Vorhof des damals noch unzerstörten Jerusalemer Tempels im 1. Korintherbrief (1 Kor 5,7) schreibt: „Als unser Paschalamm ist Christus geopfert worden.“ Der vierte Evangelist sieht ebenfalls das Vorausbild des geschlachteten Pascha-Lammes in jenem Augenblick erfüllt, als der Soldat die Seite Christi durchbohrte (vgl. Joh 19,34). Nach ihm geschah das genau zu dem Zeitpunkt, als im Vorhof des Tempels die Pascha-Lämmer geopfert wurden. Auch die Abendmahlsberichte und die Passions- und Osterberichte des Neuen Testaments scheinen ihren „Sitz im Leben“ in der christlichen Pascha-Feier der apostolischen Zeit zu haben. Es dürfte am Anfang wohl auch so gewesen sein, dass sich die ja in ihrer Mehrzahl aus dem Judentum gekommenen Christen exakt an den jüdischen Festtermin gehalten haben. Auch für sie war die Nacht vom 14. auf den 15. Nisan weiterhin die große Nacht des Wachens für den Herrn. Bei ihrer liturgischen Nachtwache wurden allerdings die Pascha-Ereignisse des Alten Testaments im Licht ihrer Erfüllung gesehen: Was Gesetz und Propheten in Worten und Zeichen vorausgesagt und angedeutet hatten, war durch die Passion, den Tod und die Auferstehung Jesu verwirklicht worden; erst das Pascha Christi hat die tatsächliche und ewige 39 Vgl. Auf der Maur, Zeit (wie Anm. 11), 81. Liturgie im Werden 20 Erlösung bewirkt (vgl. Hebr 9,12). Die ältesten Osterhomilien aus der 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts - zu denken ist vor allem an Melito von Sardes 40 - sind Paradebeispiele dieser christlichen Um- und Neuinterpretation von Ex 12-14. Die Osterlamm-Typologie und ihr Anti-Typos, die Passion Christi, spielen in ihnen eine zentrale Rolle. Mit dem Namen „Pascha“ konnten griechischsprachige Christen zudem leicht das Verb p-sxein , was „leiden“ bedeutet, assoziieren. An Eindruck gewinnt dieses Bild vom geopferten Lamm, das in der Passion Christi seine Erfüllung fand, zusätzlich durch die Tatsache, dass die Kirchen Kleinasiens, wo diese Osterhomilien gehalten wurden, damals nachweislich Ostern am jüdischen Termin gefeiert haben. Ihr Ostern war immer noch die Nacht vom 14. auf den 15. Nisan. In dieser quartodezimanischen Observanz, wie die Forschung diese Tradition nennt, gab es so etwas wie einen Ostersonntag nicht. Ostern konnte - wie das jüdische Pesach - auf jeden beliebigen Wochentag fallen. 41 Daneben bestand in der frühen Kirche aber noch eine andere Tradition der Osterfeier. Sie dürfte ebenfalls bis in die apostolische Zeit zurückreichen. Ihr sollte die Zukunft gehören. Seit dem von Konstantin nach Nizäa einberufenen ersten Ökumenischen Konzil (325) hat sie sich endgültig und allgemein durchgesetzt. Es ist die dominikale Observanz. Sie legt Wert darauf, dass die Christen das Pascha- Fest nicht mit den Juden zusammen, sondern jenseits des Frühlingsäquinoktiums am Sonntag nach dem 14. Nisan begehen. Es dürfte die heidenchristlich geprägte Kirche von Antiochien in Syrien gewesen sein, in der dieser Brauch zuerst aufkam. Es drückt sich in ihm die christliche Neubewertung und hohe Wertschätzung des Sonntags aus. Wenn allwöchentlich am Sonntag, dem Auferstehungstag, in der Gemeindeeucharistie des Herrn und seines Erlösungswerks gedacht wurde, dann sollte dieses Gedächtnis alljährlich am Pascha-Sonntag in besonderer Weise begangen werden. Dieser Sonntag nach der jüdischen Pesach-Feier musste im Bewusstsein der Christen zu einem Sonntag mit besonderem Relief werden. Er war gleichsam der Jahrgedächtnistag des Pascha Christi, besonders seiner Auferstehung. Ostern wird also in dieser dominikalen Observanz grundsätzlich immer an einem Sonntag, und zwar am Sonntag nach dem 14. Nisan, gefeiert. Die Nähe zum jüdischen Termin bleibt erhalten, doch der christliche Eigencharakter des Festes wird durch das den Christen eigentümliche Ostersonntagsdatum stärker betont. Die Tatsache, dass die Mehrzahl der Christen auf diese Weise in bewusster Distanzierung zum jüdischen Termin ihr Pascha-Fest feierte, ist ein wichtiges Element der Identitätsfindung der jungen Kirche in Abgrenzung zum Judentum. 40 Vgl. die kommentierte deutsche Übersetzung von J. Blank, Melito von Sardes: Vom Pascha. Die älteste christliche Osterpredigt (Sophia 3), Freiburg 1963; Gerlach, Pascha (wie Anm. 38), 61-78. 41 Vgl. die eingehende Untersuchung von A. Strobel, Ursprung und Geschichte des frühchristlichen Osterkalenders, Berlin 1977; ferner Auf der Maur, Zeit (wie Anm. 11), 66f.; Gerlach, Pascha (wie Anm. 38), 319-387. Die Bedeutung der Zeit Konstantins des Großen (306-337) 21 b) Der „Osterfeststreit“ des 2. Jahrhunderts Diese Feierpraxis wurde früh in zwei führenden christlichen Zentren rezipiert: in Rom und in Alexandrien. Dagegen blieben die traditionsreichen Kirchen im Westen Kleinasiens bei ihrer quartodezimanischen Observanz. Die Kirchengeschichte weiß vom „Osterfeststreit“ in der 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts. 42 Es waren wahrscheinlich die speziellen Verhältnisse der multikulturellen Haupt- und Weltstadt Rom, die den dortigen Bischof damals veranlassten, in der Frage des Ostertermins auf Einheitlichkeit zu drängen. In seiner Hauptstadtgemeinde gab es nämlich Christen aus allen Provinzen des Imperiums, gewiss auch solche aus Kleinasien. Diese scheinen auch in Rom an ihrer heimischen Osterobservanz festgehalten zu haben, so dass sie mit den Juden schon Pascha feierten, während die ortsansässigen Christen in Erwartung ihres Ostersonntags noch fasteten. Führende Bischöfe aus den kleinasiatischen Metropolen Ephesus und Smyrna reisten damals nach Rom. Sie konnten sich mit ihrem römischen Amtskollegen nicht auf einen einheitlichen Ostertermin einigen. Es gab aber auch kein Schisma. Man verständigte sich dahingehend, dass die einzelnen Ortskirchen ihre eigene Tradition beibehalten sollten. Das war eine irenische Lösung im Geist des späteren weisen Grundsatzes von Papst Gregor I. (590-604): In una fide nil officit consuetudo diversa, was so viel heißt wie: „Wenn nur der Glaube derselbe ist, dann schaden unterschiedliche Gottesdienstgewohnheiten nichts.“ 43 c) Die Frage des Ostertermins auf dem Konzil von Arles (314) Bei Regierungsantritt Kaiser Konstantins war das Anliegen eines einheitlichen Ostertermins für die ganze katholische Kirche noch immer unerfüllt. Zwar waren im Laufe des 3. Jahrhunderts die Kirchen Kleinasiens zur dominikalen Observanz übergegangen. Abgesehen von einigen Rand- und Splittergruppen im Osten spielte der 14. Nisan selbst als christlicher Ostertermin keine Rolle mehr. Aber weil es keine verbindliche Regelung für alle gab, folgten die einzelnen Ortskirchen ihren eigenen Berechnungen. Das führte nicht selten zu unterschiedlichen Osterterminen in den verschiedenen Regionen. Deshalb verwundert es nicht, dass die Frage eines einheitlichen Osterdatums nicht erst auf dem ersten Ökumenischen Konzil in Nizäa (325) besprochen wurde; sie stand schon auf der Tagesordnung des Konzils von Arles (314). 44 Vergegenwärtigen wir uns zunächst den zeitgeschichtlichen Rahmen. Vorausgegangen war das Toleranzedikt des Galerius von 311. Dann 313 das so genannte Edikt von Mailand. Die katholische Kirche war fortan eine legale Religionsgemeinschaft im Römischen Reich. Dieser neue Freiraum begünstigte die Austauschbeziehungen zwischen den einzelnen Ortskirchen. Unterschiede wurden 42 Vgl. W. A. Bienert, Art. Osterfeststreit, in: LThK 7 (Freiburg 3 1998), 1171-1173. 43 Vgl. dazu A. Heinz, Gregor der Große und die römische Liturgie, in: LJ 54 (2004) 69-84, bes. 82-84. Nachdruck in diesem Band. 44 Vgl. Concilia Galliae (CCL 148), S. 3-24; eine gute Übersicht über die Konzilsbeschlüsse und eine Skizze des zeitgeschichtlichen Kontextes bietet Heinen, Trier (wie Anm. 2), 63-75. Liturgie im Werden 22 bewusster wahrgenommen und stärker als störend empfunden. Der Kaiser hatte ein Interesse an einer in Lehre und Disziplin geeinten Kirche. Nach dem Sieg Konstantins über seinen Gegenspieler Maxentius an der Milvischen Brücke im Oktober 312 fielen mit dem Herrschaftsbereich des Besiegten, Italien und Nordafrika, auch die ungelösten Probleme dieser Gebiete dem neuen Herrscher zu. In Afrika war in der Kirche von Karthago eine Spaltung entstanden. Weil die um 309 erfolgte Wahl und Weihe des neuen Bischofs Caecilianus in ihrer Legitimität umstritten war (im Hintergrund stand das Problem der lapsi), hatte eine regionale Bischofsversammlung einen Gegenbischof gekürt, zunächst Maiorinus, dann Donatus. Das war der Anfang des donatistischen Schismas, das bis ins 6. Jahrhundert fortdauern sollte. 45 Konstantin versuchte den Konflikt schon 313 auf einer Synode in Rom bereinigen zu lassen, was aber nicht gelang. Daraufhin berief der Kaiser zum 1. August 314 eine neue Bischofsversammlung nach Arles ein. Es war kein Ökumenisches Konzil, aber doch eine repräsentative Versammlung des Episkopats der westlichen Reichshälfte. Wie die römische Synode entschied auch das Konzil von Arles gegen die Donatisten, die sich dieser Entscheidung aber nicht beugten. Das Konzil von Arles befasste sich außer mit der Donatistenfrage auch mit „ureigenen Angelegenheiten“ disziplinärer Art. Die dort versammelten 33 Bischöfe teilten nach Abschluss ihrer Beratungen die gefassten Beschlüsse dem nicht anwesenden Bischof von Rom, Papst Silvester I. (314-335), mit. Bemerkenswerterweise steht in der Reihe der Canones an erster Stelle der Beschluss über den Ostertermin. Er lautet: „Was die Beobachtung des Pascha-Festes des Herrn betrifft, (wurde beschlossen), dass es an ein und demselben Tag und zu ein und derselben Zeit auf der ganzen Welt von uns beobachtet werde, und dass der Gewohnheit entsprechend du es seist, der die (Oster-)Briefe an alle richtet.“ 46 Die in Arles versammelten Bischöfe aus dem lateinischen Westen kannten als eigene Praxis nur die Osterfeier am Sonntag, und zwar am Sonntag nach dem 14. Nisan, jenseits des Frühlingsäquinoktiums. So hielt es auch die römische Kirche. Wenn die Konzilsväter trotzdem eine einheitliche Regelung für „die ganze katholische Welt“ verlangten, dürften sie wohl weniger an die Restgruppen von Quartodezimanern im fernen Osten gedacht haben, als an Abweichungen im Westen. Die eigenen Berechnungen des Ostertermins führten nicht immer zu dem gleichen Ergebnis. Die Folge war eine Pascha-Feier der einzelnen Ortskirchen an unterschiedlichen Ostersonntagen. Um eine einheitliche Feierpraxis zu garantieren, bekräftigte deshalb das Konzil eine im lateinischen Westen schon bestehende, aber wohl noch nicht konsequent praktizierte Gewohnheit: In Zukunft sollte es Sache des Bischofs von Rom sein, rechtzeitig durch einen Brief allen anderen Bischöfen den korrekten Ostertermin des jeweiligen Jahres mitzuteilen. Dass diese Aufgabe dem Bischof von Rom zuerkannt wurde, bestätigte und stärkte dessen Autorität. Doch darf diese Weisungsbefugnis in der Frage des Ostertermins nicht vorschnell als Beweis für einen universellen Jurisdiktionsprimat 45 Vgl. B. Kriegbaum, Art. Donatismus, in: LThK 3 (Freiburg 3 1995), 332-334. 46 Nach der Übersetzung von Heinen, Trier (wie Anm. 2), 67. Die Bedeutung der Zeit Konstantins des Großen (306-337) 23 des Papstes in Anspruch genommen werden. Wenn in Arles von einer Regelung für die „ganze Welt“ geredet wurde, dachten die Teilnehmer dieses westlichen Regionalkonzils tatsächlich nur an ihr Territorium, den lateinischen Westen. Auch ist zu beachten, dass die Durchführung dieser Grundsatzentscheidung nicht störungsfrei funktionierte. Jedenfalls haben wir noch Ende des 4. Jahrhunderts Belege dafür, dass selbst große Ortskirchen wie Rom und Mailand in manchen Jahren Ostern nicht am gleichen Sonntag gefeiert haben. 47 d) Die gesamtkirchliche Regelung des Konzils von Nizäa (325) Für die gesamte Reichskirche wurde die Frage des korrekten und einheitlichen Ostertermins auf dem ersten Ökumenischen Konzil erneut aufgegriffen. 48 Konstantin hatte es, nachdem er im Jahre 324 Licinius besiegt hatte und damit auch Alleinherrscher über den Osten des Imperiums geworden war, zum 20. Mai 325 nach Nizäa einberufen. Dem Kaiser ging es vor allem um eine Einigung im Streit mit den Anhängern des Arius. Die ökumenische Bischofsversammlung sollte sich auf ein einheitliches Christus-Bekenntnis einigen. Doch neben dem christologischen Hauptthema wurden auch Fragen der Kirchendisziplin verhandelt und entschieden. Was den Ostertermin betrifft, schweigen die auf uns gekommenen Canones zwar darüber. 49 Dass das Konzil sich aber auch mit dieser Frage befasst und eine Regelung getroffen hat, erfahren wir aus erster Hand, nämlich aus dem Brief, den die in Nizäa versammelten Bischöfe an ihre Mitbrüder in Ägypten gerichtet haben, um sie über die wichtigsten Konzilsbeschlüsse zu informieren. 50 Des Weiteren berichtet Eusebius in seiner Vita Constantini ausführlich über die Einigung in der Frage des Ostertermins und informiert uns über das diesbezügliche Schreiben Konstantins an alle Kirchen des Reiches. 51 Im Schreiben der Konzilsväter an ihre ägyptischen Amtsbrüder betrifft der letzte Punkt die Osterfeier. Dazu heißt es: „Als gute Botschaft teilen wir euch auch die Übereinstimmung über das heilige Pascha mit: Dank eurer Gebete kam es auch in diesem Punkt zu einer glücklichen Lösung. Alle Brüder im Osten, die es bisher mit den Juden gefeiert haben, werden von jetzt an in Übereinstimmung mit den Römern, mit euch und mit uns allen, die seit den ältesten Zeiten mit euch daran festhalten, das Pascha feiern.“ 52 Wie ist diese knappe Mitteilung zu verstehen? Klar ist: Es soll in Zukunft ein einheitliches Osterdatum für alle geben. Im Brief des Kaisers heißt es dazu, es sei beschlossen worden, dass „alle dasselbe überall an einem Tag feierten“. 53 Klar ist ferner: Das Konzil hat die römische und alexandrinische Praxis der dominikalen 47 Vgl. Gerlach, Pascha (wie Anm. 38), 302. 48 Vgl. ebd., 247-317; Dekrete der Ökumenischen Konzilien, hg. von G. Alberigo u. a., Paderborn 1973, 1-4 (Einführung mit Lit.), 5-19 (Dekrete); Ph. Harnoncourt, Der Kalender, in: Ders., Hj. Auf der Maur, Feiern im Rhythmus der Zeit II/ 1, Regensburg 1994, 9-63, hier 33f. 49 Vgl. Dekrete (wie Anm. 48), 6-16. 50 Text ebd., 16-19. 51 Vgl. Eus., Vita Constantini 3,5.14.18-20. 52 Dekrete (wie Anm. 48), 19. 53 Eus., Vita Constantini 3,18 (Pfättisch, 107). Liturgie im Werden 24 Osterfeier bestätigt und - das ist das Entscheidende - die ihr zugrundeliegende Berechnungsmethode. In Konstantins Brief werden als Repräsentanten dieser Observanz nicht nur die beiden führenden Zentren, Rom und Alexandrien, namentlich genannt, sondern alle Regionen einzeln aufgezählt, die bis dahin schon übereinstimmend die vom Konzil für die Zukunft allgemein verbindlich gemachte Regelung beobachtet haben: An erster Stelle die Urbs Roma, dann ganz Italien, Afrika, Ägypten, Spanien, Gallien, Britannien, Libyen, Griechenland, Kleinasien und Kilikien. Das ist mit weitem Abstand die Mehrheit der Ortskirchen, der sich die Minderheit billigerweise anschließen sollte. Das ausschlaggebende Argument für das Einlenken der Minderheit waren aber nicht die Mehrheitsverhältnisse. Wenn auch die Regionen des Ostens, die bis dahin offenbar eine abweichende Berechnung des Ostersonntagstermins praktiziert hatten, es vorzogen, mit ihren Schwesterkirchen im Norden, Westen und Süden zusammen Ostern zu feiern, war der entscheidende Grund für ihre Kompromissbereitschaft die dezidierte Absicht, nicht länger „mit den Juden“ das Pascha Christi zu feiern. In Nizäa wollte keine Kirche sich dem Vorwurf aussetzen, in diesem Punkt „mit den Juden“ übereinzustimmen. 54 Wer „die Brüder im Osten“ waren, die bis dahin „mit den Juden“ Ostern gefeiert hatten, ist schon angedeutet worden. Quartodezimanische Splittergruppen außerhalb der Großkirche können damit nicht gemeint sein. Sie hätten die Konzilsväter nicht ihre „Brüder“ genannt. Die in Nizäa versammelten Väter, auch die Bischöfe Syriens und Mesopotamiens, sowie aus den östlichen Grenzgebieten des Reiches, feierten tatsächlich zu diesem Zeitpunkt „das heilige Pascha“ am Sonntag. Die syrische Metropole Antiochien dürfte sogar, wie bereits erwähnt, der Ausgangspunkt der dominikalen Observanz gewesen sein. Trotzdem sind die „Abweichler“ in den östlichen Gegenden des Imperiums zu suchen, im Verwaltungsgebiet Oriens, kirchlich gesprochen im Patriarchat von Antiochien. Denn dieses Gebiet fehlt in der Aufzählung Konstantins, gehörte also nicht zur Mehrheit der Kirchen, die mit Rom und Alexandrien und dem Rest der katholischen Welt in der Frage des Ostertermins übereinstimmten. Wieso aber haben die Kirchen Syriens und Mesopotamiens bis dahin Ostern „mit den Juden“ gefeiert? Sie waren, wie bereits klargestellt wurde, keine Quartodezimaner. Das „mit den Juden“ feiern, hatte etwas zu tun mit der Art, wie sie das Datum des Pascha-Sonntags berechneten. Für ihre Pascha-Kalkulation war offenbar die allein maßgebliche Bezugsgröße der jüdische Termin des 14. Nisan. Sie feierten Ostern am Sonntag nach dem jüdischen Pesach-Termin, ohne Berücksichtigung des Frühlingsäquinoktiums. In der alexandrinischen und römischen Berechnung kam dagegen zum rein lunaren Berechnungselement die Beachtung der solaren Komponente dazu: Ostern war der Sonntag nach der ersten Vollmondnacht jenseits des Frühlingsäquinoktiums. 55 Das war im römischen Julianischen Kalender auf den 25. März terminiert. Die astronomisch geschulten Ägypter wussten, dass der tatsächliche Eckpunkt im Sonnenjahr etwas früher lag, nämlich am 54 Vgl. Dekrete (wie Anm. 48), 19. 55 Vgl. Harnoncourt, Kalender (wie Anm. 48), 33. Die Bedeutung der Zeit Konstantins des Großen (306-337) 25 21. März. Somit war der frühest mögliche Ostertermin nach dieser Berechnungsmethode der 22. März. In Antiochien konnte der Ostersonntag dagegen schon davor liegen. Im Konzilsjahr 325 beispielsweise fiel die erste Vollmondnacht im Monat Nisan auf Montag, den 15. März. Der Ostersonntag war deshalb für „die Brüder im Osten“, die nur auf diesen jüdischen Termin achteten, in jenem Jahr schon der 21. März. 56 Rom dagegen beging Ostern erst am Sonntag nach der ersten Vollmondnacht jenseits des Frühlingsäquinoktiums, das heißt im halben April. Den Antiochenern war die Einbeziehung der solaren Komponente in die Pascha-Berechnung wegen ihrer Kontamination durch den paganen Sonnenkult an sich suspekt. Sie konnten aber schließlich dafür gewonnen werden, weil in christlichen Kreisen sich mittlerweile weithin die Überzeugung durchgesetzt hatte, dass die westliche Berechnungsart den biblischen Passionsberichten entsprach, die Juden dagegen mit ihrer Pascha-Kalkulation falsch lagen. Auch der Konstantin-Brief hebt hervor, dass das Konzil sich auf die „richtigere“ Ordnung geeinigt hat, „wie die Berechnung sie offenbar verlangt“. 57 Vor allem aber betont Konstantin den allgemeinen Willen, sich von den Juden deutlich abzusetzen. Sie werden charakterisiert als Leute, die ihre Hände mit Blut befleckt haben. Mit „dem verhassten Volk der Juden“, die „den Mord unseres Herrn“ auf sich geladen haben, wie Eusebius Konstantin sagen lässt, sollten Christen nichts gemein haben. 58 In diesem Klima eines massiven Anti-Judaismus, den die Antiochener teilten, wollten sie auf keinen Fall länger „mit den Juden“, das heißt in direkter Abhängigkeit von deren Pascha- Berechnung, ihr Pascha begehen. Eusebius, der diplomatische Drahtzieher der Einigung von Nizäa, bemerkt dazu in seinem Traktat „Über das Pascha-Fest“: „Sie (die Orientalen) setzten sich von den Mördern des Herrn ab, um den Gleichgesinnten (im Glauben) zugesellt zu werden, denn die Natur zieht Gleiches zu Gleichem.“ 59 Die Einigung von Nizäa war grundsätzlicher Natur. Um eine tatsächlich einheitliche Praxis zu gewährleisten, wurde dem Bischof der ägyptischen Metropole Alexandrien, wo die besten Astronomen saßen, aufgetragen, jedes Jahr rechtzeitig den wichtigsten Ortskirchen in Ost und West das korrekte Osterdatum des jeweiligen Jahres mitzuteilen. Hier haben die großartigen alexandrinischen Osterbriefe 60 ihren „Sitz im Leben“, die eine der wichtigsten Quellen der patristischen Ostertheologie sind. Nicht immer erreichten sie rechtzeitig ihre Adressaten. Manche Ortskirchen stellten weiterhin auf der Grundlage der nizänischen Einigung ihre eigenen Berechnungen an, Rom bis in die Zeit Leos des Großen (440-461). e) Auf dem Weg zu einer entfalteten Osterfeier Es kann hier nur angedeutet werden, dass im neuen Freiraum der konstantinischen Ära auch die Feiergestalt des ältesten und damals noch einzigen christlichen 56 Vgl. Gerlach, Pascha (wie Anm. 38), 315. 57 Eus., Vita Constantini 3,19 (Pfättisch, 109). 58 Vgl. ebd., 3,18 (Pfättisch, 107). 59 Eus., pasch. 8; nach der deutschen Übersetzung von Strobel, Ursprung (wie Anm. 41), 24. 60 Vgl. Harnoncourt, Kalender (wie Anm. 48), 33; Ch. Kannengießer, Art. Osterfestbriefe, in: LThK 7 (Freiburg 3 1998), 1170. Liturgie im Werden 26 Jahresfestes sich reicher entfalten konnte. Wir haben diesbezüglich mit regional unterschiedlichen Entwicklungen zu rechnen. Im Laufe des vierten Jahrhunderts hat sich aber in allen Ortskirchen die ursprünglich eine Pascha-Nacht, in der konzentriert in einer zweiphasigen Ganznachtfeier das Gedächtnis sowohl des Leidens und Sterbens als auch der Auferstehung und Erhöhung Christi begangen wurde, ausgedehnt zu einer Dreitagefeier. 61 Augustin nennt sie „das Triduum des Gekreuzigten, Begrabenen und Auferstandenen“. 62 Wie dieser Entfaltungsprozess im Einzelnen verlaufen ist, lässt sich wegen fehlender Quellen nicht mehr rekonstruieren. Vieles spricht dafür, dass die entscheidenden Impulse dazu aus Jerusalem kamen. Dort begegnet uns in den 80er-Jahren des 4. Jahrhunderts im Augenzeugenbericht der aquitanischen Pilgerin Egeria die Osterfeier in ihrer voll entfalteten Gestalt mit der vorgelagerten Fastenzeit, einer liturgisch durchgeformten Karwoche und einer fünfzigtägigen Nachfeier, die mit dem Himmelfahrts- und Geistsendungsgedächtnis an Pfingsten schließt. 63 Von grundsätzlicher und überörtlicher Bedeutung ist das hinter der entfalteten Jerusalemer Pascha-Feier stehende Baugesetz, dass nämlich die liturgischen Feiern zur richtigen Zeit und am richtigen Ort die jeweiligen Einzelereignisse des Pascha- Christi kommemorieren sollen. Das Passionsgedächtnis wird dementsprechend auf den Karfreitag vorgezogen, während die Osternacht nun stärker und eindeutiger von der Auferstehungsfreude geprägt ist. Freilich darf das, was Egeria als Jerusalemer Praxis gegen Ende des 4. Jahrhunderts bezeugt 64 , nicht unbesehen verallgemeinert werden. Erst recht darf diese schon voll entfaltete Osterfeier nicht in die konstantinische Zeit zurückprojiziert werden. Aber wir dürften nicht fehl gehen, wenn wir die Anfänge dieser Entwicklung hin zu einer historisierenden, auf mehrere Feiern aufgeteilten Begehung des Pascha Christi dort suchen, wo sich diese Ereignisse zugetragen haben. Der anzunehmende Terminus post quem dieser Entwicklung fällt noch in die konstantinische Ära: Es ist die im Jahre 335 mit großem Aufwand begangene Einweihung der Grabeskirche in Jerusalem. 65 Sie war das wichtigste Projekt im Rahmen des großangelegten konstantinischen Kirchenbauprogramms, zu dem im Heiligen Land auch die von Helena anlässlich ihres Palästina-Besuchs gestiftete Basilika über der Geburtsgrotte in Betlehem und die Eleona-Kirche am Ölberg gehörten. 66 61 Vgl. Auf der Maur, Zeit (wie Anm. 11), 70-83; M. Klöckener, Art. Conversi ad Dominum, in: AugL 1 (Basel 1986/ 1996), 1280-1282. 62 Aug., ep. 55, 14, 24 (CSEL 34,2, S. 195): Sacratissimum triduum crucifixi, sepulti, suscitati; vgl. B. Studer, Zum Triduum Sacrum bei Augustinus von Hippo, in: J. Scicolone OSB (Hg.), La celebrazione del Triduo Pasquale. Anamnesis e Mimnesis, Rom 1990, 273-286. 63 Vgl. Egeria, Peregr. 30-43 (FC 20, 89-102 Einführung; 256-293 lat./ dt. Text). 64 Wahrscheinlich hat Egeria die Jerusalemer Osterfeier im Jahre 383 miterlebt. 65 Sie hat wohl am 13. September 335 stattgefunden; vgl. Eus., Vita Constantini 4,40.43-46; Egeria berichtet von dem alljährlich hochfeierlich begangenen Anniversar der Weihe; vgl. Egeria, Peregr. 48f. (FC 20, 304-307; dazu die Kommentierung ebd., 102-104). Den ältesten Bericht über eine Kirchweihe, die von Tyrus im Jahre 315, verdanken wir ebenfalls Eusebius: h. e. 10,3 (Schwartz, 370). 66 Vgl. Eus., Vita Constantini 3,41-43 (Pfättisch, 120-122). Die Bedeutung der Zeit Konstantins des Großen (306-337) 27 f) Konstantin und die Feier der Osternacht Jerusalemer Quellen sind es auch, die uns zeigen, dass im Zuge dieser Entfaltung der Pascha-Feier zwei Elemente stärker in den Vordergrund treten und die Gestalt der Osternacht prägen: die Feier der Initiationssakramente und das Luzernar, eine Lichtliturgie. Beides hat Eusebius wohl schon im Blick, wenn er in seiner Vita Constantini berichtet, Konstantin selbst habe die Pascha-Nacht als Vigilnacht im Gebet durchwacht und - so wörtlich - „die göttlichen Geheimnisse“ - mitgefeiert. 67 Hier will Eusebius unverkennbar rühmend herausstellen, dass der Kaiser selbst vorgelebt hat, wie gute Christen die Pascha-Nacht begehen sollten. Am Wahrheitsgehalt dieses Herrscherlobs dürfen wir zweifeln. Immerhin ist zu bedenken, dass Konstantin kein einziges Osterfest als Getaufter erlebt hat, nicht einmal als Katechumene. Erst als ihn eine lebensgefährliche Krankheit befallen hatte und auch Heilbäder und der Besuch am Grab des Märtyrerpriesters Lucianus in Helenopolis in Bithynien keine Besserung brachten, ließ er in diesem Märtyrerheiligtum an sich die Katechumenatsriten vollziehen. 68 Eusebius bemerkt an anderer Stelle, der Kaiser habe vor diesem seinem Aufbruch nach Bithynien in Konstantinopel noch „die ersten Übungen des Osterfestes“ gemacht; er habe den „Tag des Erlösers“ heiter und freudig verbracht und auch allen anderen das Fest zu einem Freudentag gestaltet. 69 Es bleibt unklar, was man sich unter den von Konstantin an jenem letzten Osterfest seines Lebens vollzogenen „ersten Übungen des Osterfestes“ vorzustellen hat. Ob wir an eine Präsenz des Kaisers bei den Schriftlesungen zu Beginn der nächtlichen Vigilfeier denken dürfen? Oder war es eher eine private Andacht in den „innersten und geheimsten Gemächern seines Palastes“? 70 Auf jeden Fall war für ihn als Nichtgetauften eine wirkliche Mitfeier der „göttlichen Geheimnisse“ der Pascha-Nacht, nämlich von Taufe und Eucharistie, nicht möglich. Die Taufe empfing Konstantin bekanntlich erst sieben Wochen später auf dem Sterbebett im Kaiserpalast von Nikomedien. Eusebius streicht bei der Schilderung dieses Ereignisses wirkungsvoll heraus, dass es auf dem Gipfel der fünfzigtägigen Osterfeier war, als der Kaiser die Taufe erbat und empfing, und dass es um die Mittagszeit des Pfingstfestes geschah, dem Gedenktag der Himmelfahrt Christi und der Geistsendung, dass die Seele des Kaisers zu ihrem Gott aufstieg. 71 Die Christen konnten so den Heimgang des Kaisers mit der Himmelfahrt ihres Herrn assoziieren; den Verehrern der Sonne musste es bedeutungsvoll erscheinen, dass der sonnengleiche Kaiser zu seinem Gott, der in ihren Augen der Sol Invictus war, gerade in dem Augenblick aufstieg, 67 Vgl. ebd., 4,22 (Pfättisch, 158). 68 Vgl. ebd., 4,61 (Pfättisch, 181f.). 69 Vgl. ebd., 4,60 (Pfättisch, 181). 70 Vgl. ebd., 4,22 (Pfättisch, 158). 71 Vgl. ebd., 4,64 (Pfättisch, 183f.); zur Entwicklung der Pfingstfeier, die zunächst das Himmelfahrtsgedächtnis einschloss, vgl. Auf der Maur, Zeit (wie Anm. 11), 80-83. Noch Egeria erlebt um 380 die Feier in Jerusalem als Gedächtnis des Pfingstereignisses (Apg 2) und der Himmelfahrt Christi an zwei verschiedenen Feierorten (Zion und Ölberg); vgl. Egeria, Peregr. 43 (FC 20, 287-293; dazu der Kommentar, 100-102). Zur solaren Deutung von Konstantins Tod vgl. Wallraff, Sol (wie Anm. 18), 135f. Liturgie im Werden 28 als die Sonne am Himmel am höchsten stand und am hellsten und weitesten über die Erde hin strahlte. Doch kommen wir auf die Frage nach der Feiergestalt von Ostern zurück. In welcher Weise hat Konstantin das Osterfest für die Allgemeinheit zu einem „Freudentag“ gestaltet? Eusebius von Caesarea spricht in diesem Zusammenhang von einer Illumination der Osternacht. „Die heilige Vigil verwandelte er in Tageslicht, indem er durch dazu bestellte Männer in der ganzen Nacht Wachssäulen von gewaltiger Höhe anzünden ließ; es waren dies Feuerfackeln, die jede Stelle erhellten, so dass die geheimnisvolle Vigil heller wurde als der strahlende Tag.“ 72 Nichts spricht dafür, dass Eusebius hier Konstantin die Einführung einer Lichtfeier in die Liturgie der Osternacht zuschreiben möchte. Wir haben in dieser konstantinischen Anordnung auch nicht die Wurzeln des Osterfeuers zu suchen. Vielmehr spricht alles dafür, dass ein bei einem Nachtgottesdienst ohnehin notwendigerweise vorhandenes liturgisches Element, nämlich die Beleuchtung des Gottesdienstraumes durch Öllampen und Wachssäulen, in der Ostervigil, die nach einem Wort Augustins die „Mutter aller Vigilien“ 73 ist, besonders glanzvoll und aufwendig ausfiel. Den im Inneren der Feierräume verborgenen Glanz der Osternacht, hat Konstantin - so dürfen wir die Mitteilung von Eusebius verstehen - in die Öffentlichkeit ausstrahlen lassen. Er hat an allen Ecken und Enden Konstantinopels hoch aufragende Fackeln aufstellen lassen; sie machten die Pascha-Nacht taghell und illuminierten die ganze Stadt. Der Brauch dürfte nach dem Vorbild der Hauptstadt auch in anderen Städten nachgeahmt worden sein. Vielleicht spielt der Kappadokier Gregor, Bischof von Nazianz (329-374), darauf an, wenn er in einer Predigt die Osternacht als die „strahlende Nacht“ preist, „in der wir in einem Lichtmeer die Erlösung feiern, in der wir, mitgestorben mit dem Licht, das für uns starb, mit ihm bei seiner Auferstehung mit auferstehen“ zum „Fest aller Feste, zum Feiertag aller Feiertage, der alle (anderen) … so sehr überstrahlt wie die Sonne die Sterne (überstrahlt).“ 74 4. Weihnachten und Epiphanie - neue Kirchenfeste aus konstantinischer Zeit Weihnachten ist, obwohl das Fest in den letzten Jahrzehnten in den Sog einer gnadenlosen Kommerzialisierung geraten ist, ein Fest, das wie kein anderes „auch heute noch christliche und nichtchristliche Herzen bezaubert“. 75 Es wirkt auf viele schockierend, wenn ihnen gesagt wird: Drei Jahrhunderte lang haben die Christen von einem Weihnachtsfest nichts gewusst. Erst in konstantinischer Zeit hat die Kirche begonnen, das Fest der Geburt ihres Herrn am 25. Dezember zu feiern. Der Versuch einiger anglophoner Liturgiehistoriker, die Entstehung von Weihnachten 72 Eus., Vita Constantini 4,22 (Pfättisch, 158); vgl. Wallraff, Sol (wie Anm. 18), 113. 73 Aug., serm. 219 (PL 38, 1088): Mater omnium vigiliarum. 74 Or. 18,28 (PG 35, 1017 D); or. 45,2 (PG 36, 624 C); unsere deutsche Übersetzung folgt mit geringen Abweichungen Wallraff, Sol (wie Anm. 18), 114f. 75 Vgl. H. Rahner, Die Weihnachtssonne, in: Griechische Mythen in christlicher Deutung, Darmstadt 1966, 121-140, hier 134. Die Bedeutung der Zeit Konstantins des Großen (306-337) 29 vor dem Ausbruch des donatistischen Schismas in Nordafrika (312) anzusetzen 76 , hat keinen Anklang gefunden. Es bleibt dabei, dass der erste sichere Beleg für die Feier des Geburtsfestes Christi octavo Kalendas Ianuarii aus Rom stammt. Wir besitzen ihn in der bekannten Notiz des römischen Chronographen aus dem Jahre 354. 77 Der Jahreskalender dieses Dokuments vermerkt die damaligen paganen staatlichen Feiertage; er enthält parallel dazu aber auch eine Liste der Begräbnistage der römischen Bischöfe und eine weitere mit den Depositionstagen römischer Märtyrer, die in der Regel auch die Tage ihrer Hinrichtung waren. Die lateinische Liturgiesprache spricht insofern vom Gedenktag eines Märtyrers als von seinem Natale. Denn der Sterbetag eines Blutzeugen war sein Geburtstag für den Himmel. a) Weihnachten: Ursprung in Rom vor 336 In unserem Zusammenhang der Frage nach den ersten Anfängen des Geburtsfestes Christi ist es nun von größtem Interesse, dass an der Spitze der Märtyrergedenktage im Chronographen von 354 das Natale Christi verzeichnet ist. Der Eintrag lautet: VIII kal. Ian. natus Christus in Betleem Iudeae (25. Dezember. Geboren ist Christus in Betlehem in Judäa). 78 Der Charakter der Quelle schließt die Vermutung aus, es handle sich hierbei um eine bloße historische Notiz. Der Kontext der liturgisch begangenen römischen Märtyrergedenktage lässt nur den Schluss zu, dass hier der Geburtstag Christi ebenfalls als alljährlich von der römischen Kirche liturgisch begangener Gedenktag vermerkt ist. Eine nähere Untersuchung der Bischofsliste des erwähnten Chronographen, deren Abfassung aufgrund verschiedener Indizien in das Jahr 336 zurückdatiert werden kann, zeigt, dass auch sie - wie die Märtyrerliste - nach dem 25. Dezember beginnt. Sie setzt also das Geburtsfest Christi voraus und zwar als Ausgangspunkt des liturgischen Jahres. Weihnachten als Jahresanfang hat sich in den späteren römischen Liturgiebüchern bis um die Wende des ersten Jahrtausends behauptet. Der berühmte Codex Egberti der Trierer Stadtbibliothek aus dem späten 10. Jahrhundert lässt seine Perikopenreihe noch mit der Vigil von Weihnachten beginnen. 79 Die erste sichere Bezeugung von Christi Geburtsfest fällt somit in das Jahr 336, also noch in die Zeit Kaiser Konstantins (†22. Mai 337). Es ist nicht nur der aus der Stadt Rom stammende früheste Beleg, der Rom als Entstehungsort des Weihnachtsfestes wahrscheinlich macht, sondern auch das Festdatum. Es handelt sich nämlich beim 25. Dezember um den Tag der Wintersonnenwende nach dem Julianischen Kalender. Entsprechend diesem originär römischen Kalender wurde im römisch-lateinischen Milieu der 25. Dezember, auch wenn die astronomische Wirklichkeit im 4. Jahrhundert nicht mehr damit übereinstimmte, als der kürzeste Tag des Jahres betrachtet. Er hatte den besonderen Namen bruma, eine archaische 76 Vgl. bes. Th. J. Talley, The Origins of the Liturgical Year, New York 1986, 85-112. 77 Vgl. Wallraff, Sol (wie Anm. 18), 175-182. Zum gegenwärtigen Stand der Forschung vgl. S. K. Roll, Toward the Origins of Christmas, Kampen 1995; eine Erstinformation bietet Auf der Maur, Zeit (wie Anm. 11), 165-168 (Lit.). 78 Zit. n. Wallraff, Sol (wie Anm. 18), 179. 79 Vgl. F. Ronig u. a. (Hg.), Egbert - Erzbischof von Trier 977-993 (Trierer Zeitschrift. Beiheft 18), 2 Bde., Trier 1993, Bd. 2, 23f. Liturgie im Werden 30 Wortbildung aus brevissima dies. 80 Ab diesem kürzesten Tag in der Tiefe des Winterdunkels begann das Licht wieder zu wachsen; die Sonne begann mit zunehmender Kraft wieder ihren Lauf durch das neue Jahr. Es kann kein ernsthafter Zweifel daran bestehen, dass der Termin des Geburtsfestes Christi etwas mit dem Stand der Sonne zu tun hat. Historisches Wissen steht nicht dahinter. Das Neue Testament verrät uns weder Jahr noch Tag des Ereignisses von Betlehem. Als im Laufe des 3. Jahrhunderts ein Interesse an dieser Frage aufbrach und diesbezüglich Berechnungen angestellt wurden, führen diese nicht zum 25. Dezember, sondern zu einem Datum im Frühling, vorzugsweise zum 28. März, der als der Tag der Sonnenschöpfung galt. 81 Auch bei diesen Spekulationen spielte also die Sonne eine wichtige Rolle. Die Sonne war seit der zweiten Hälfte des 3. und dann besonders im 4. Jahrhundert im ganzen Imperium Romanum eine allgegenwärtige religiöse Bezugsgröße. 82 b) Christi Geburt am Tag der Wintersonnenwende Die Kirche hat offensichtlich - das ist der liturgiehistorische Befund - drei Jahrhunderte lang ohne ein spezielles Fest der Geburt Christi gelebt. Deshalb stellt sich die Frage: Wieso entsteht in konstantinischer Zeit in Rom dieses neue Fest am 25. Dezember? Die Sententia communis erklärt die Entstehung von Weihnachten als Reaktion der Kirche auf ein paganes Sonnengeburtsfest am gleichen Termin. Wenn die Heiden das Fest Natalis Solis Invicti, den Geburtstag der unbesiegten göttlichen Sonne feierten, feierten die Christen das Geburtsfest Christi. Denn für sie war Christus „das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet“ (Joh 1,9), „das Licht der Welt“ (Joh 8,12), der Oriens ex alto - „das aufstrahlende Licht aus der Höhe“ (Lk 1,78) oder die heilbringende „Sonne der Gerechtigkeit“, die der Prophet Maleachi vorausgesagt hatte (vgl. Mal 3,20). In seiner Bonner Habilitationsschrift hat Martin Wallraff jedoch kürzlich zu Recht davor gewarnt, ein solches heidnisches Sonnenfest als dem christlichen Fest zeitlich vorausgehende Bezugsgröße allzu selbstverständlich vorauszusetzen. 83 Tatsächlich stammen die ältesten sicheren Belege für heidnische Festlichkeiten am 25. Dezember nämlich erst aus der Mitte des 4. Jahrhunderts. Kronzeuge ist der bereits angeführte römische Chronograph von 354, der in der Liste seiner paganen Gedenktage am 8. Tag vor den Kalenden des Januar den Eintrag hat: Natalis Invicti circenses missus XXX. Also: „Geburt des Unbesiegten, gefeiert durch 30 Zirkusrennen.“ 84 Die knappe Kalendernotiz meint zweifelsfrei den „Geburtstag der unbesiegten Sonne“. Er ist durch besondere Veranstaltungen im Hippodrom ausgezeichnet. Auch Kaiser Julian (360-363) spricht wenig später in seiner „Rede an König Helios“ von den Kampfspielen, den ÜHlia , an dem Fest, das „dem unbesiegten He- 80 Vgl. Wallraff, Sol (wie Anm. 18), 178f. 81 Vgl. Auf der Maur, Zeit (wie Anm. 11), 166f. 82 Vgl. Wallraff, Sol (wie Anm. 18); Dölger, Sol salutis (wie Anm. 20). 83 Vgl. Wallraff, Sol (wie Anm. 18), 175f. 84 Ebd., 175. Die Bedeutung der Zeit Konstantins des Großen (306-337) 31 lios“, also dem Sol Invictus, geweiht ist. 85 Christliche Autoren, die in ihren Weihnachtspredigten die paganen Festlichkeiten am 25. Dezember erwähnen, lassen uns über das Alter dieses Helios-Festes und seinen kultischen Charakter einigermaßen im Unklaren. Die in der Forschung weithin etablierte Annahme, dass der große Förderer des im Orient beheimateten Sonnenkults in Rom, Kaiser Aurelian (270-275), die Sol-Invictus-Feier eingeführt habe, hat gewiss viel für sich. Sie wird gewöhnlich mit der Dedikation des von Aurelian in Rom erbauten Sol-Tempels im Jahre 274 in Zusammenhang gebracht. 86 Die klaren Beweise dafür fehlen aber. Deshalb hält Wallraff es nicht für ausgeschlossen, dass nicht nur die Anfänge des Geburtsfestes Christi am 25. Dezember, sondern auch die des als Staatsfeiertag am gleichen Termin begangenen paganen Sonnenfestes erst unter Konstantin anzusetzen sind. 87 Wir hätten es demnach eher mit einer sehr gut in das damalige Milieu der generellen Solarisierung der religiösen Kultur passenden Parallelentwicklung zu tun als mit einer gewollten christlichen Umdeutung einer schon etablierten heidnischen Feierpraxis. Aurelians Reichskult des Sol Invictus hatte die Christen noch „außen vor“ gelassen. Der Sonnenkult der konstantinischen Ära nahm sie irgendwie „mit ins Boot“. Der evangelische Kirchenhistoriker Hans Lietzmann hat im Blick auf Weihnachten bemerkt, dieses Fest sei „das liturgische Dankgebet der Kirche für den Sieg Konstantins an der Milvischen Brücke“. 88 Zwei christliche Schriftsteller, Zeitgenossen des Ereignisses, berichten von einer Sonnenvision des Kaisers vor dieser Entscheidungsschlacht am 28. Oktober 312. 89 Sowohl Laktanz als auch Eusebius deuten sie christlich. Nach Eusebius sah Konstantin ein Lichtkreuz mit einer siegverheißenden Umschrift über der Sonne zur Mittagszeit. Ein heidnischer Panegyriker bezeugt aber schon eine Lichtvision im Jahre 310. Die kritische Forschung tendiert neuerdings eindeutig dahin, nur eine Sonnenvision anzunehmen, und zwar jene des Jahres 310. 90 Wie immer die Sache selbst zu erklären ist, Konstantin selbst brachte seine Lichtvision zunächst mit dem Sol Invictus in Verbindung. Nicht von ungefähr beginnen 310 die Münzprägungen, die Sol als Begleiter des Kaisers darstellen. 91 Auf dem nach dem Sieg von 312 in Rom errichteten Konstantin-Bogen ist nur recht vage von dem zum Sieg führenden instinctus divinitatis - „dem Antrieb der Gottheit“ die Rede, wobei offen bleibt, wer denn diese 85 Vgl. ebd. 86 Vgl. Roll, Christmas (wie Anm. 77), 113; Talley, Year (wie Anm. 76), 88. Dazu zurückhaltend Wallraff, Sol (wie Anm. 18), 176, Anm. 12. 87 Vgl. Wallraff, Sol (wie Anm. 18), 176f. 88 Vgl. H. Lietzmann, Geschichte der alten Kirche, 4 Bde., Berlin 1932-1944, hier Bd. 3, 329 (Nachdruck Berlin 1999); Roll, Christmas (wie Anm. 77), 116. 89 Lact., mort. 44,5. Das Werk entstand wahrscheinlich um 313/ 314. In dieser Zeit dürfte Laktanz sich am Kaiserhof in Trier aufgehalten haben; vgl. oben Anm. 3; Eus., Vita Constantini 1,28f. (Pfättisch, 25f.). 90 Vgl. P. Weiß, Die Vision Constantins, in: Colloquium aus Anlass des 80. Geburtstages von Alfred Heuß, hg. von J. Bleicken, Kallmütz 1993, 143-169; Wallraff, Sol (wie Anm. 18), 127, Anm. 7. 91 Vgl. Th. Grünewald, Constantinus Maximus Augustus. Herrschaftspropaganda in der zeitgenössischen Überlieferung, Stuttgart 1990, 52-57. Liturgie im Werden 32 Gottheit war. Die Ikonographie des Monuments selbst legt eine solare Deutung auf jeden Fall näher als eine christliche. 92 c) Ein Christus-Bekenntnisfest gegen den Arianismus Andererseits ist unbestreitbar, dass die zeitgenössischen Christen die Sonnenvision Konstantins und seinen Sieg an der Milvischen Brücke mit Christus, ihrem Gott des Lichtes, in Verbindung gebracht haben. Wo der Kaiser und die staatliche Administration bewusst vieldeutig von einer höchsten divinitas (Gottheit) sprachen, identifizierten die Christen diese mit dem göttlichen Christus. Dessen ungeschmälerte Göttlichkeit wurde wenig später jedoch in Frage gestellt, als der alexandrinische Presbyter Arius († um 336) mit einer verkehrten Christologie auf den Plan trat. 93 Sie ordnete Christus dem Vater unter und sprach ihm die göttliche Natur ab. Die christologische Irrlehre des Arianismus hat die Kirche das ganze 4. Jahrhundert hindurch in Atem gehalten. Sobald Konstantin nach dem Sieg über Licinius (324) auch Herrscher über die östliche Reichshälfte geworden war, wurde er mit diesem Streit konfrontiert. Zu seiner Beilegung ließ er das erste Ökumenische Konzil zusammentreten. Es ist bemerkenswert, dass das Konzil von Nizäa in seinem Glaubensbekenntnis, das bis heute in Ost und West die wichtigste liturgische Glaubensbekenntnisformel geblieben ist, den orthodoxen Glauben über die wahre Gottheit Christi in lichtsymbolischer Sprache ausdrückt. Demnach ist Jesus Christus „Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott“. 94 In der Gottheit ist der Sohn dem Vater wesensgleich. Die Lichtherrlichkeit des Vaters eignet in gleicher Weise dem Sohn. Es darf vermutet werden, dass die Sol-Christologie hier im Hintergrund steht. 95 Sie fand ihre biblischen Anknüpfungspunkte in dem Christusprädikat énatolØ §j Ïcouw (Lk 1,78) sowie in den Prophetenworten des Sacharja (Sach 6,12) und Maleachi (Mal 3,20). Ihre Vordenker waren Klemens von Alexandrien (†um 220) und vor allem Origenes (†um 253). Origenes kommentiert beispielsweise die „Sonnenverse“ des Psalms „Die Himmel rühmen“ (Ps19/ 18, 5b-7). 96 In ihnen wird die aus ihrem von Gott bereiteten Zelt aufgehende Sonne mit einem Bräutigam verglichen, der aus seinem Brautgemach hervortritt, um wie ein strahlender Held seine Bahn zu durcheilen. Origenes sieht darin das Geheimnis der Menschwerdung Christi beschrieben. Wir dürfen vermuten, dass dieser Psalm mit seinem christologisch verstandenen Sonnenbild schon im 4. Jahrhundert einen Platz in der Weihnachtsliturgie bekommen hat. Unverkennbar greift Ambrosius von Mailand (†397) in seinem Hymnus Veni redemptor gentium - „Komm, du Heiland aller Welt“ auf die „Sonnenverse“ dieses seiner Gemeinde aus der Liturgie vertrauten Psalms zurück, die er weihnachtlich- 92 Vgl. Wallraff, Sol (wie Anm. 18), 129f. 93 Vgl. R. Williams, Art. Arius, Arianismus, in: LThK 1 (Freiburg 3 1993), 981-989. 94 Vgl. Dekrete (wie Anm. 48), 5. 95 Vgl. Wallraff, Sol (wie Anm. 18), 41-59. 96 Vgl. Or., hom. in Lev. 12,2. Die Bedeutung der Zeit Konstantins des Großen (306-337) 33 inkarnatorisch deutet. 97 Besonders in der 5. Strophe dieses durch und durch antiarianischen Bekenntnisliedes steckt verschlüsselt die Anspielung auf das Weihnachtsereignis. Der Schweizer Hymnologe Markus Jenny hat sie frei, aber ihre Kernaussage gut treffend, übersetzt: „Wie die Sonne sich erhebt und den Weg als Held durcheilt, so erschien er in der Welt, wesenhaft ganz Gott und Mensch.“ 98 Das ist die Proklamation des nizänischen Christusbekenntnisses. In der Einführung des Weihnachtsfestes hat dieses Bekenntnis seinen liturgischen Ort und Ausdruck gefunden. Auch wenn man nicht einfach, wie der bekannte Liturgiehistoriker Anton Baumstark es getan hat, Weihnachten als das „Fest des homoousios“ bezeichnen kann 99 , so passt seine Entstehung doch bestens in den nizänischen Kontext. Die älteste Schicht der römischen Weihnachtsliturgie hat keine Augen für das Krippenkind. Sie feiert in Frontstellung zum Arianismus in immer neuen Ansätzen die verborgene Machtfülle und göttliche Wesenstiefe des Mensch gewordenen Logos, durch den alles geworden ist und der selber Gott ist (vgl. Joh 1,1-18). 100 Dazu greift sie mit Vorliebe auf die Licht- und Sonnensymbolik zurück. „Wo immer wir in den liturgischen Texten der Weihnacht nachschlagen“, sagt Hugo Rahner, „überall funkelt es uns entgegen von dem christlichen Mysterium der Sonne.“ 101 „Die Wiege des Weihnachtsfestes am 25. Dezember steht unzweifelhaft in Rom …“. 102 Wann aber genau hat die römische Kirche angefangen, an dem Tag, an dem aus dem Schoß des tiefsten Winterdunkels die Sonne gleichsam neu geboren wird, den Aufgang der „Sonne der Gerechtigkeit“(Mal 3,20) und das Kommen des „wahren Lichtes“ (Joh 1,9) zu feiern? Den Boden bereitet hat die christlich gedeutete Sonnenvision Konstantins, auch seine Sonntagsgesetzgebung. Sie privilegierte den venerabilis dies solis, den „verehrungswürdigen Tag der Sonne“, was die Christen gewiss inspirierte, ihren Herrn, nämlich Christus, nach dem sie den Tag benannten, fortan noch stärker mit solaren Attributen zu umgeben. In der dann bald einsetzenden Auseinandersetzung mit dem Arianismus schien die Licht- und Sonnenmetapher sehr geeignet, um die Göttlichkeit Christi und seine Wesensgleichheit mit dem Vater hervorzuheben. Besonders der letztgenannte Faktor scheint für die Einführung des Geburtsfestes Christi von entscheidender Bedeutung gewesen zu sein. Wir hätten also nicht in einem populären heidnischen Sonnengeburtsfest zur Zeit der Wintersonnenwende den primären Grund zu sehen, weshalb die Kirche gleichsam als apologetische Gegenmaßnahme Weihnachten „erfand“. Das pagane Fest Natalis Solis Invicti dürfte vielmehr lediglich einen willkommenen terminli- 97 Die in der heutigen Fassung gewöhnlich weggelassene Eingangsstrophe Intende, qui regis Israel besteht aus den Anfangsversen von Psalm 80/ 79; Text und Kommentar vgl. J. Fontaine, Ambroise de Milan. Hymnes, Paris 1992, 272-301, bes. 288-292. 98 Im deutschen katholischen Einheitsgesangbuch „Gotteslob“ (1975) Nr. 108ö. 99 Vgl. A. Baumstark, Liturgie comparée (ed. B. Botte), Chevetogne 3 1953, 179; Roll, Christmas (wie Anm. 77), 165-211. 100 Vgl. A. Heinz, Weihnachtsfrömmigkeit in der römischen Liturgie und im deutschen Kirchenlied, in: LJ 30 (1980) 215-229, hier 217f. 101 Vgl. Rahner, Weihnachtssonne (wie Anm. 75), 140. 102 Vgl. Lietzmann, Geschichte (wie Anm. 88), 323. Liturgie im Werden 34 chen Anknüpfungspunkt geboten haben, um eine liturgische Antwort auf eine innerkirchliche Kontroverse zu geben. Es hängt gewiss mit der das ganze 4. Jahrhundert andauernden arianischen Krise zusammen, dass das neue Fest verhältnismäßig schnell und allgemein rezipiert wurde. 103 Das überrascht besonders, wenn man nach Osten schaut, wo etwa Johannes Chrysostomus (349-407) für die 80er Jahre die Einführung des aus Rom kommenden neuen Festes in seiner Heimatkirche Antiochien bezeugt. 104 Überraschend ist das deshalb, weil es um diese Zeit im Osten bereits ein Geburtsfest Christi gab, Epiphanie am 6. Januar. Als Fazit können wir festhalten: Höchstwahrscheinlich hat die römische Kirche bald nach dem Konzil von Nizäa (325) begonnen, das Weihnachtsfest am 25. Dezember zu feiern. Spätestens im Jahre 336 war das Fest in Rom eingeführt. Der Ort der zentralen Eucharistiefeier des Tages war wohl von Anfang an der gleiche, den die Weihnachtspredigten Papst Leos des Großen für die Mitte des 5. Jahrhunderts (440-461) und die späteren römischen Sakramentare bezeugen: die konstantinische Basilika St. Peter im Vatikan. 105 Mit dem Bau dieses fünfschiffigen Gotteshauses wurde um 320 begonnen. 106 Die liturgische Indienstnahme erfolgte noch zu Lebzeiten Konstantins. Wenn wir wüssten, wann das exakt geschah, hätten wir wohl auch einen ziemlich sicheren Terminus post quem für die erste Feier des Weihnachtsfestes in Rom. Im Augenblick lässt sich nicht mehr sagen, als dass die römische Kirche an einem 25. Dezember zwischen 325 und 335 begonnen hat, die Geburt Christi liturgisch zu feiern. d) Rezeption des östlichen Epiphaniefestes im lateinischen Westen Der Osten feierte die Geburt Christi zusammen mit anderen Epiphanie-Ereignissen, vor allem der Taufe Jesu, zunächst nur am 6. Januar. Das Fest ist mit ziemlicher Sicherheit in Ägypten aufgekommen. 107 Schon Klemens von Alexandrien (†215) berichtet von einem in Gnostikerkreisen begangenen Fest der Taufe Jesu an diesem Termin. Bei der Entstehung des Epiphaniefestes scheinen auch heidnische, in Ägypten beheimatete Kultpraktiken wie das Geburtsfest des Gottes Aion aus der Jungfrau Kore und die Verehrung des Nilwassers eingeflossen zu sein. Seit wann die Großkirche Ägyptens das in den griechischen Quellen des 4. Jahrhunderts §pif-neia, tå f«ta oder yeof-neia genannte Fest zu feiern begonnen hat, lässt sich nicht genau feststellen. Eine Anspielung auf seine Feier enthält erstmals der 1. Osterbrief von Bischof Athanasius von Alexandrien aus dem Jahre 329. 108 Von dem heidnischen Schriftsteller Ammianus Marcellinus erfahren wir, dass Kaiser Julian 361 in der Bischofsstadt Vienne im Rhonetal das Epiphaniefest mitgefeiert 103 Vgl. Auf der Maur, Zeit (wie Anm. 11), 167. 104 Vgl. Wallraff, Sol (wie Anm. 18), 180-182. 105 Vgl. J. Deshusses, Le Sacramentaire Grégorien. Ses principales formes d’après les plus anciens manuscrits, 2 Bde., Fribourg 1979, Bd. 1, 103. 106 Vgl. D. Dombrowski, Art. Sankt Peter in Rom, in: LThK 9 (Freiburg 3 2000), 40-43. 107 Vgl. Auf der Maur, Zeit (wie Anm. 11), 155-159; F. Nikolasch, Zum Ursprung des Epiphaniefestes, in: EL 82 (1968) 393-429. 108 Vgl. R.-G. Coquin, Les origines de l’Epiphanie eu Egypte, in: Noël, Epiphanie, retour du Christ, Paris 1967, 139-170, hier 152-154; Roll, Christmas (wie Anm. 77), 159. Die Bedeutung der Zeit Konstantins des Großen (306-337) 35 hat. 109 Seine Feier war also zu diesem Zeitpunkt schon in gallischen Ortskirchen üblich. Denn Vienne war gewiss kein Einzelfall und der Kirche von Vienne kommt bei der Rezeption des orientalischen Epiphaniefestes wohl auch keine Pionierrolle zu. Die Linien des Austauschs liefen in dieser Sache nicht über Rom. In Gallien und Norditalien hat die Epiphaniefeier eine längere und tiefer verwurzelte Tradition als in Rom, wo erst die Homilien Leos des Großen (440-461) sie sicher bezeugen. Wo aber könnte das Fest in Gallien zuerst gefeiert worden sein? Man darf ernsthaft an Trier denken. Die Stadt an der Mosel war in konstantinischer Zeit und darüber hinaus das administrative Zentrum für Gallien. Als Kaiserresidenz stand Trier in intensivem Austausch mit dem Osten des Reiches. Insbesondere ist in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass der ranghöchste Bischof der ägyptischen Kirche, Athanasius von Alexandrien, von Kaiser Konstantin in den arianischen Wirren nach Trier verbannt worden ist. 110 Athanasius war in den Jahren 336 und 337 am 6. Januar in Trier. Es ist eigentlich kaum vorstellbar, dass der Bischof von Alexandrien das Herrenfest, das seine ägyptische Heimatkirche an diesem Tag feierte, in seinem Exil liturgisch völlig ignoriert hätte. Athanasius selbst könnte also der entscheidende Vermittler gewesen sein; als Ort der ersten Übernahme im lateinischen Westen käme am ehesten die damalige gallische Metropole Trier in Frage. 111 Dem Trierer Beispiel wären dann nach und nach andere gallische Ortskirchen gefolgt. Auch für Epiphanie gilt, was über Weihnachten gesagt wurde: Die komplexe Motivwelt des Festes bot der Großkirche günstige Anknüpfungspunkte im antiarianischen Abwehrkampf. So demonstrierte etwa die in Gallien im 4. Jahrhundert sehr häufig auf Sarkophagen anzutreffende Darstellung der Anbetung der Magier (Mt 2,11) die Göttlichkeit des Kindes, das auf dem Schoß Marias thront. Die Taufe Jesu im Jordan ist die Stunde, in der die Stimme vom Himmel ihn als den Sohn Gottes proklamiert (Mt 3,17). Das Weinwunder in Kana (Joh 2,1-12) ist Zeichen seiner verborgenen göttlichen Machtfülle. Was den Osten angeht, dürfte die Rezeption von Epiphanie ebenfalls schon gegen Ende der konstantinischen Zeit begonnen haben. Die ausdrücklichen Bezeugungen seiner Begehung, die wir ab den 70er-Jahren aus Kappadokien, Antiochien, Zypern und Jerusalem haben, lassen auf eine schon fest eingebürgerte Feierpraxis schließen. 112 Auf direktem Weg aus dem Osten dürfte auch Mailand und Norditalien die Epiphaniefeier übernommen haben. Dort ist sie, wie in Spanien, um 380 fest etabliert. 113 Ambrosius hat die Festliturgie mit seinem bis heute gesungenen Hymnus Inluminans Altissimus bereichert. 114 109 Vgl. Auf der Maur, Zeit (wie Anm. 11), 156. 110 Vgl. Heinen, Trier (wie Anm. 2), 119-133. 111 So etwa Lietzmann, Geschichte (wie Anm. 88), 32f.; Roll, Christmas (wie Anm. 77), 159, Anm. 233; Heinen, Trier (wie Anm. 2), 125, Anm. 1. 112 Vgl. Auf der Maur, Zeit (wie Anm. 11), 156f.; Wallraff, Sol (wie Anm. 18), 191-194. 113 In Spanien führte das Konzil von Saragossa (380) eine dreiwöchige Vorbereitungszeit vor Epiphanie ein; vgl. Auf der Maur, Zeit (wie Anm. 11), 180. 114 Vgl. Fontaine, Ambroise (wie Anm. 97), 344-347 (Text); 348-359 (Kommentar). Liturgie im Werden 36 5. In den konstantinischen Basiliken: Gebet der Gemeinde nach Osten Eingangs war die Rede von der liturgieprägenden Kraft der in konstantinischer Zeit neu errichteten zahlreichen christlichen Kultgebäude. Das gilt vor allem für die auf Staatskosten errichteten Großbauten, allen voran die weiträumige Anlage am Golgotafelsen in Jerusalem 115 , die 335 in Anwesenheit einer großen Zahl von Bischöfen und mit Lobreden auf den Kaiser hochfeierlich eingeweiht wurde. 116 Namentlich für die Entfaltung der Kar- und Osterliturgie im Laufe des 4. Jahrhunderts kamen die entscheidenden Impulse aus dem Pietätszentrum Jerusalem. 117 Aber auch in den Provinzstädten konnte die Kirche mit staatlicher Unterstützung und Förderung rechnen, wenn sie nach der Anweisung des Kaisers daran ging, „die Bethäuser höher zu bauen und die Kirchen Gottes breiter und länger zu machen“. 118 Eusebius teilt uns mit der stolzen Vorbemerkung, dass dies der erste Brief sei, den der Kaiser an ihn persönlich gerichtet habe, den Wortlaut des entsprechenden Schreibens mit. Es wurde gleichlautend an alle Bischöfe der Provinzhauptstädte in der östlichen Reichshälfte versandt. Darin wird der jeweilige bischöfliche Adressat angehalten, die ihm unterstehenden Kirchenmänner zu ermahnen, „dass man auf ihren (d. h. der Kirchen) Bau alle Sorgfalt verwende und die bestehenden entweder wieder herstelle oder größer mache oder aber, wo die Not es erfordert, ganz neue baue.“ 119 Die Provinzbehörden seien angewiesen, die dafür notwendigen Mittel bereitzustellen. Im Einzelnen berichtet Eusebius von prächtigen, vom Kaiser selbst in Auftrag gegebenen Kirchenbauten in Konstantinopel, Nikomedia, Antiochien und Helenopolis sowie von Memorialbasiliken in Palästina. 120 a) Apsis- und eingangsgeostete Basiliken Diese Basiliken waren in der Regel so angelegt, dass die Gläubigen beim Gebet nach Osten blickten, in die Richtung der aufgehenden Sonne. Die syrische Didaskalie aus dem 3. Jahrhundert formuliert die Orientierung des christlichen Gemeindegebets bereits als allgemein gültige Norm. 121 Vorsteher und Volk beten in östliche Richtung. Als Begründung wird auf den Psalm 68/ 67,33f. verwiesen. In der Septuaginta-Fassung ist dort davon die Rede, dass der göttliche Herr am Himmel dahinfährt, nach Osten hin. Den Christen ist der Osten, wo die Sonne aufgeht, der Ort ihres erhöhten Herrn, der von dort auch wiederkommen wird (vgl. Mt 24,27.30). Dieser Ordnung christlichen Betens trug der Kirchenbau Rechnung, indem er die Längsachse einer Basilika in Ost-West-Richtung verlaufen ließ. Die 115 Vgl. Eus., Vita Constantini 3,25. 116 Vgl. ebd., 4,43. 47; vgl. oben Anm. 65. 117 Vgl. Auf der Maur, Zeit (wie Anm. 11), 78f. 118 Eus., Vita Constantini 2,45. Eusebius berichtet ferner von „mehreren Bethäusern“ und „herrlichen Kirchen zu Ehren der Märtyrer“, die der Kaiser in der neuen Hauptstadt errichten ließ; vgl. ebd., 3,48. 119 Ebd., 2,46. 120 Vgl. ebd., 3,41. 43. 51-53. 58; 4,58-60. 121 Vgl. dazu und zu den folgenden Ausführungen Wallraff, Sol (wie Anm. 18), 69-88, hier 69. Die Bedeutung der Zeit Konstantins des Großen (306-337) 37 wenigen Ausnahmen von der Regel erklären sich durch besondere topographische Gegebenheiten. Normalerweise liegt die Apsis im Osten und der Eingang im Westen. Doch auffälligerweise weichen gerade die ältesten und repräsentativsten konstantinischen Monumentalbauten in Rom von dieser Regel ab: Die Lateran- und die Petersbasilika haben die Apsis im Westen und die Eingangsportale im Osten. 122 Diese Disposition begegnet uns auch in Jerusalem, was Eusebius ausdrücklich vermerkt: „Drei Tore“, so schreibt er, „die nach Sonnenaufgang hin sehr gut verteilt waren, nahmen die hereinströmenden Scharen auf.“ 123 Martin Wallraff hat gezeigt, dass auch bei dieser Art der Anlage, die im Osten keine Verbreitung fand, im Westen aber noch vereinzelt im 5. Jahrhundert realisiert wurde, das Prinzip der Ostung intendiert war. Nach ihm soll man in diesen Fällen nicht von „gewesteten“ Basiliken sprechen, sondern zutreffender von einer „Fassaden- oder Eingangs-Ostung“. 124 Wie hat man sich dann aber die Haltung von Klerus und Volk bei den liturgischen Feiern vorzustellen? In den apsisgeosteten Basiliken saßen der Bischof und seine Mitliturgen während des Wortgottesdienstes in der Apsis der Gemeinde zugewandt, beim Gebet, vor allem beim Eucharistiegebet, standen sie dagegen gleichgerichtet mit dem Volk an dessen Spitze und schauten nach Osten. Wie aber hat man sich die Gebetshaltung zu denken, wenn die Portale der Basilika sich nach Osten hin öffneten? Der Klerus in der Apsis schaute in diesem Fall durchgehend nach Osten. Wichtig wäre es nun zu wissen, wo der Altar stand. Doch aus konstantinischer Zeit fehlen für die eingangsgeosteten Basiliken archäologische Belege. Wahrscheinlich wurde an einem transportablen Holzaltar zelebriert, den man sich, wie manche sehr frühen festen Altarkonstruktionen aus Nordafrika zeigen 125 , weit ins Mittelschiff vorgezogen denken darf. Eine Versus-populum-Zelebration im modernen Sinn hat man im 4. Jahrhundert jedenfalls nicht angestrebt. Wenn Augustinus seine Gläubigen in der eingangsgeosteten Bischofskirche von Hippo Regio nach dem Wortgottesdienst aufgefordert hat, „dem Herrn zugewandt“ zu beten (conversi ad dominum) 126 , lud er sie ein, sich nach Osten zu wenden. So merkwürdig uns das vor unserem Erfahrungshintergrund vorkommen mag, Martin Wallraff hält es nach sorgfältiger Prüfung aller Indizien „nicht nur (für) denkbar, sondern sogar (für) wahrscheinlich, dass die Gemeinde bei der Eucharistiefeier gemeinsam mit dem Bischof und den Presbytern nach Osten in Richtung auf den Eingang blickte.“ 127 Dabei darf man sich die Portale geöffnet vorstellen; das religiöse Empfinden der Antike bevorzugte das Gebet zum offenen Himmel hin. Bei der Apsisostung entspricht dieser Intention die Durchfensterung. Auch 122 Vgl. ebd., 71f. 123 Eus., Vita Constantini 3,37. 124 Vgl. Wallraff, Sol (wie Anm. 18), 72. 125 Vgl. ebd., 73; U. M. Lang, Conversi ad Dominum. Zu Geschichte und Theologie der christlichen Gebetsrichtung, Einsiedeln-Freiburg 3 2005, 83f. 126 Vgl. M. Klöckener, Art. Conversi ad Dominum, in: AugL, Bd. 1 (Basel 1986-1996), 1280- 1282. 127 Wallraff, Sol (wie Anm. 18), 74; vgl. auch Lang, Conversi (wie Anm. 125). Liturgie im Werden 38 hat man dabei offenbar auf den Sonneneinfall durch das oder die Ostfenster geachtet. Severos von Antiochien bemerkt (†538), die Baumeister seiner Zeit hätten die Kirchen so geostet, dass die Sonnenstrahlen im Ostermonat Nisan genau durch das Ostfenster einfielen. 128 Zusammenfassend bemerkt Martin Wallraff: „Die für das christliche Gebet grundlegende Ostausrichtung fand zunächst ihren natürlichen architektonischen Niederschlag in der Eingangsostung des neuen Bautyps der christlichen Basilika. Erst allmählich stellte sich die umgekehrte Ausrichtung als die für die liturgische Verwendung günstigere heraus (vor allem seit feste Altäre im Bereich der Apsis üblich wurden). Es ist aber wichtig festzuhalten, dass der eine wie der andere Typus als geostet zu gelten hat, mit anderen Worten: Die Sitte der Ostung des christlichen Gemeindegebetes ist auch dadurch als grundlegend ausgewiesen, dass sie durchgängig den monumentalen Kirchenbau bestimmt hat.“ 129 Schlussbemerkungen Die neue Freiheit des kirchlichen Lebens seit Konstantins Regierungsantritt im Westen des Imperiums (306) und seit seiner Alleinherrschaft auch im Osten (324) hatte grundlegende liturgische Konsequenzen. Ihr sichtbarster Ausdruck sind die zahlreichen neuen oder wiederhergestellten christlichen Kultbauten. Ungestört konnte sich darin nun eine reichere Liturgie entfalten. Vieles war noch im Fluss und suchte seine Form. Noch gab es keine den Verlauf der Feiern und den Wortlaut der Gebete normierenden Liturgiebücher. Das einzige liturgische Buch der konstantinischen Zeit war die Heilige Schrift. Konstantin selbst sorgte dafür, dass die neuen Kirchen der Hauptstadt mit prächtigen Exemplaren ausgestattet wurden. 130 Auch die Innenraumgestaltung der Gotteshäuser war noch nicht festgelegt. Altar und Märtyrergrab hatten noch nicht zusammengefunden. Die zweipolige Grundstruktur des Kirchenjahres beginnt sich nunmehr deutlich herauszubilden. Neben dem Wochenrhythmus mit dem Sonntag als Gottesdiensttag und die Pascha-Feier als das bis dahin einzige christliche Jahresfest tritt als zweiter Schwerpunkt Weihnachten und Epiphanie. Auch die nun würdig gefassten Märtyrergräber sind nicht bloß Stätten privaten Gebetes, sondern werden zunehmend auch Orte liturgischer Feiern. Vieles, was die Quellen aus der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts bereits in voll entfalteter Gestalt zeigen, hatte in konstantinischer Zeit seinen Anfang. 128 Vgl. Wallraff, Sol (wie Anm. 18), 77f. 129 Ebd., 76. 130 Vgl. Eus., Vita Constantini 4,36-37. 2 Bischof Martin von Tours (370/ 71-397) und die Liturgie seiner Zeit Vorbemerkungen Die Liturgie der Zeit Martins von Tours (†397) gibt es selbstverständlich nicht. Das gottesdienstliche Leben im letzten Drittel des 4. Jahrhunderts war von einer großen Vielgestaltigkeit. Selbst so etwas wie eine gesamtgallische Liturgie, etwa der Typ der späteren gallikanischen oder altgallischen Liturgie 1 , zeichnet sich noch nicht ab. Es ist vieles noch im Fluß. Erst allmählich beginnen sich im Einflussbereich der Metropolen des Römischen Reiches Regionalliturgien und Liturgiefamilien 2 herauszubilden, etwa im syrisch-palästinensischen Bereich um Antiochien, um das Pietäts- und Wallfahrtszentrum Jerusalem, und um Edessa, die aramäischsprachige Metropole im Norden Mesopotamiens. Im Westen sind Karthago für Nordafrika, Rom für Mittelitalien, Mailand und Aquileia für Norditalien wichtige liturgieprägende Zentren. In Gallien fehlt ein Zentrum von vergleichbarem Gewicht. Trier, im 4. Jahrhundert zeitweilig Kaiserresidenz und Sitz der Prätorianerpräfektur Galliens, von wo aus der ganze Westen des Imperiums vom Rhein bis nach Britannien und Hispanien, einschließlich des Westteils Nordafrikas, verwaltet wurde 3 , hat sich trotz hervorragender Bischöfe wie Maximinus (ca. 330-347) 4 und Paulinus (347-358) 5 , die in den arianischen Wirren fest an der Seite des hl. Athanasius von Alexandrien (328-373) standen 6 , nicht zu einem maßgeblichen kirchlichen Vorort entwickeln [Erstveröffentlichung: Bischof Martin von Tours (370/ 371-397) und die Liturgie seiner Zeit, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 18 (1999) 61-76. Es handelt sich um einen Vortrag, den der Verfasser gehalten hat im Rahmen der von der Akademie und dem Geschichtsverein der Diözese Rottenburg-Stuttgart in Weingarten im September 1997 veranstalteten Studientagung über Martin von Tours.] 1 Als Erstinformation vgl. A. Heinz, Art. Abendländische Liturgien, 4. Altgallische Liturgie, in: LThK 6 (Freiburg 3 1997), 984 (Lit.); A. Angenendt, Das Frühmittelalter, Stuttgart 1990, 86-97; H. B. Meyer, Eucharistie (GdK 4), Regensburg 1989, 154-157 (Lit.). [M. Smyth, La liturgie oubliée. La prière eucharistique eu Gaule antique et dans l’Occident non romain. Préface par M. Metzger, Paris 2003.] 2 Vgl. den in Art. Liturgien des LThK 6 (Freiburg 3 1993-2001), 972-984 (J. Feulner, A. Heinz) gebotenen Überblick mit weiterführenden Literaturangaben. 3 Vgl. H. Heinen, Trier und das Trevererland in römischer Zeit (2000 Jahre Trier, Bd. 1), Trier 1985, 211-365; Ders., Frühchristliches Trier. Von den Anfängen bis zur Völkerwanderung, Trier 1996. 4 Vgl. Heinen, Frühchristliches Trier (wie Anm. 3), 119-141. 5 Vgl. ebd., 149-168. 6 Von Kaiser Konstantin dem Großen wurde Athanasius nach Trier verbannt. Der Zwangsaufenthalt in der Bischofsstadt an der Mosel hat wahrscheinlich vom frühen Frühjahr 336 bis zum Sommer 337 (Juni/ Juli) gedauert. Athanasius kam noch ein zweites Mal, vor der Synode von Serdica (343), in die Kaiser- und Bischofsresidenz im römischen Gallien; vgl. ebd., 332f. 418. Liturgie im Werden 40 können. Von daher haben wir es in Gallien mit einer besonders ausgeprägten liturgischen Vielfalt zu tun. Noch in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts musste das Konzil von Vannes darauf drängen, dass wenigstens innerhalb einer Provinz, im Falle Tours also innerhalb der Lugdunensis tertia, Übereinstimmung beim Gottesdienst und im Psalmengesang angestrebt werden sollte 7 . Was Martins Bistum angeht, waren die Voraussetzungen dafür günstig. Der Diözesanklerus kam wohl mehrheitlich aus Marmoutier, hatte also in der von Martin geleiteten Asketenkolonie vor den Toren Tours seine spirituelle Formung erhalten. 8 Von daher wäre es äußerst aufschlussreich zu wissen, wie denn die Liturgie aussah, zu der sich die Martins-Schüler dort versammelten. Doch die Martins-Schriften des Sulpicius Severus 9 , unsere einzige Quelle, verraten uns darüber so gut wie nichts. Jacques Fontaine, der Kommentator der Vita Martini in den „Sources Chrétiennes“, klagt zu recht: „Die Liturgie von Martins Asketen ist äußerst unklar. Man ahnt in etwa, daß es Zeiten für Gemeinschaftsgebet gab, auch Nachtwachen, Begrüßungsrituale für Gäste nach ägyptischem Vorbild“. 10 Man ahnt! Hier stoßen wir auf die Hauptschwierigkeit, die jeden Liturgiewissenschaftler zögern lässt, unser Thema anzupacken. Die Quellenlage ist ausgesprochen entmutigend. Für die Mailänder Kirche kann man es wagen, das gottesdienstliche Leben im ausgehenden 4. Jahrhundert zu rekonstruieren. Die Schriften des Ambrosius bieten dafür eine wenn auch nicht allseits befriedigende Quellenbasis. Auf sie gestützt hat Josef Schmitz mit Erfolg seine Dissertation „Gottesdienst im altchristlichen Mailand“ schreiben können 11 . Die Schriften des Augustinus sind eine sprudelnde Quelle für die Gottesdienstpraxis Nordafrikas und anderer Ortskirchen seiner 7 Das fragliche Konzil fand zwischen 461 und 490 statt; es bestimmte hinsichtlich der liturgischen Einheit innerhalb derselben Provinz: intra provinciam nostram sacrorum ordo et psallendi una sit consuetudo. Zitiert nach H. Leclercq, Art. Tours, in: DACL 15/ 2, 1953, 2570-2677, hier 2585. 8 Vgl. K. S. Frank, Art. Marmoutier, in: LThK 6 (Freiburg 3 1997), 1408f.; Fontaine, Vie (wie Anm. 9) I, 148-170; II, 661-690; III, 1046-1095. 9 Die Schriften des Sulpicius Severus († nach 406) sind praktisch unsere einzige Quelle über den Mönchsbischof und Gottesmann Martin von Tours. Die maßgebliche Edition der Vita s. Martini und der Martin betreffenden drei Briefe mit umfassendem Kommentar besorgte Jacques Fontaine, Sulpice Sévère, Vie de saint Martin, 3 Bde. (SC 133-135), Paris 1967-1969. Die Ausgabe von C. Halm, Sulpicii Severi libri qui supersunt (CSEL 1), Wien 1866, enthält außer der Vita (109-137) und den drei Briefen (Ep. ad Eusebium, 138-141; Ep. ad Aurelium diaconum, 142-145; Ep. Bussulae parenti, 146-151) auch die drei Dialoge (152-216) und die Weltchronik, die in ihren letzten zeitgenössischen Kapiteln einige zusätzliche Informationen über Martin enthält (c. 47-51: 100-105). Die Martinsschriften übersetzte ins Deutsche der Beuroner Mönch Pius Bihlmeyer OSB, Die Schriften des Sulpicius Severus über den hl. Martin, Bischof von Tours (BKV 10), Kempten-München 1914. 10 Fontaine, Vie (wie Anm. 9) I, 153: „La liturgie des ascétères martiniens n’est pas plus claire. C’est à peine si l’on divine des temps de prière commune, des vigiles nocturnes, des rites d’accueil et d’hospitalité imités d’Egypte.“ 11 J. Schmitz, Gottesdienst im altchristlichen Mailand. Eine liturgiewissenschaftliche Untersuchung über Initiation und Meßfeier während des Jahres zur Zeit des Bischofs Ambrosius (†397), Köln-Bonn 1975. Bischof Martin von Tours (370/ 71-397) und die Liturgie seiner Zeit 41 Zeit. 12 Aber in dem bereits erwähnten imponierenden dreibändigen, französischen Kommentarwerk zu den Martinsschriften des Sulpicius sucht man vergeblich nach einem Kapitel oder auch nur nach einem kleinen Abschnitt über Martin von Tours als Liturgen. Dabei ist Gottesdienst und Predigt doch wahrhaftig eine erstrangige Aufgabe eines Bischofs. Am liturgischen Dienst des Bischofs von Tours zeigt sich Sulpicius jedoch gänzlich desinteressiert. Diese Lücke können zeitgenössische gallische Quellen nicht kompensieren. Die Textzeugen der altgallischen Liturgie sind bekanntlich wesentlich jüngeren Datums. Nur im Vergleich mit der gleichzeitigen Gottesdienstpraxis anderer Regionen und unter vorsichtiger Auswertung der späteren Zeugnisse aus dem gallischen Raum gewinnen die spärlichen Hinweise in den Martins-Schriften dann doch an Farbe. Das Bild, das ich damit zu zeichnen versuche, wird aber notgedrungen viele weiße Flecken aufweisen. Ich konzentriere mich auf zwei Schwerpunkte: Taufe und Eucharistie. Hinzu kommt ein dritter Punkt: der Umgang mit dem Krankenöl. Denn in den Martins-Schriften finden wir die frühesten Belege für die Praxis der Krankensalbung im Abendland überhaupt. 1. Die christliche Initiation Im Blick auf Martins eigenen Weg zur Taufe gewinnen wir Einblicke in die Taufpraxis seiner Zeit. Er ist nicht als Kind getauft worden. Nicht als ob Kleinkinder im 4. Jahrhundert nicht hätten getauft werden dürfen. 13 Aber die Kindertaufe prägte noch nicht das Bild der christlichen Initiation. In Martins Fall war eine Säuglingstaufe von vorne herein nicht zu erwarten, da er in eine heidnische Familie hineingeboren wurde. 14 Sein Vater, römischer Offizier, hielt bis an sein Lebensende den Göttern Roms die Treue. Wohl aber wurde Martin schon als Kind Katechumene. Wenn Sulpicius Severus uns korrekt informiert, geschah das im Alter von zehn Jahren. 15 Ob die angeblichen frühen frommen Aspirationen des Knaben ihn der Kirche zugeführt haben, mag dahingestellt bleiben. Auf jeden Fall lag ein solcher Schritt, sich schon in jungen Jahren der Kirche als Katechumene zu verbinden, im Zuge der Zeit. Wir befinden uns in der konstantinischen Ära. 16 Das lange inkriminierte Christentum ist mittlerweile nicht nur legalisiert, sondern auf dem Weg, zur privilegierten Staatsreligion aufzusteigen. Wer mit der Zeit gehen wollte, suchte den Anschluss an die Kirche. Es musste nicht gleich die Taufe sein. Die bloß oberflächlich 12 Vgl. F. van der Meer, Augustinus der Seelsorger. Leben und Wirken eines Kirchenvaters, Köln 1958; W. Roetzer, Des heiligen Augustinus Schriften als liturgiehistorische Quelle, München 1930. [M. Klöckener, Augustins Kriterien zu Einheit und Vielfalt in der Liturgie nach seinen Briefen 54 und 55, in: LJ 41 (1991) 24-39.] 13 Vgl. J. Jeremias, Die Kindertaufe in den ersten vier Jahrhunderten, Göttingen 1958. 14 Vita s. Martini, c. 2, 1. 15 Ebd., c. 2, 3; vgl. dazu Fontaine, Vie (wie Anm. 9), II, 444-446. 16 Zur Praxis der christlichen Initiation im Westen in der Zeit vom Konzil von Nizäa (325) bis zum 5. Jahrhundert vgl. den Überblick bei: B. Kleinheyer, Sakramentliche Feiern I. Die Feiern der Eingliederung in die Kirche (GdK 7,1), Regensburg 1989, 57-77. Liturgie im Werden 42 Interessierten, und das war wohl die Mehrzahl, begnügten sich mit der Aufnahme in den Katechumenat. Man genoss als Katechumene den gesellschaftlichen Bonus, irgendwie zur Kirche zu gehören, ohne gleichzeitig die Konsequenzen des Christseins tragen zu müssen. Es waren alljährlich nur relativ wenige Katechumenen, die den Entschluss fassten, ihren Namen in die an Epiphanie aufgelegten Taufregister einzutragen (nomen dare hieß die Einschreibungszeremonie) und dann als ernsthafte Bewerber, als competentes, während der Quadragesima den sechswöchigen Weg der intensiven Taufvorbereitung zu gehen, um schließlich in der Osternacht die Initiationssakramente Taufe, Firmsalbung und Erstkommunion zu empfangen. Getauftsein bedeutete schließlich, zu den Ernstmachern des Christentums zu gehören. Die Erwachseneninitiation hatte in der alten Kirche durchaus etwas von einer Ordensprofess an sich; für die Kompetentenzeit ist der Vergleich mit dem Noviziat nicht ganz abwegig. Geschah Martins Aufnahme unter die Katechumenen in Pavia, wo der Vater damals zufällig stationiert war, in liturgischer Form? 17 Davon müssen wir ausgehen. Von dem 354 geborenen Augustinus wissen wir, daß es in seiner nordafrikanischen Heimat als Katechumenatseröffnungsritus eine doppelte Zeichenhandlung gab: die Bezeichnung der Stirn mit dem Kreuz (signatio) und die Salzgabe. In den Confessiones schreibt Augustinus: „Schon gleich nach meiner Geburt war ich bezeichnet worden mit dem Zeichen seines Kreuzes und ich war gewürzt worden mit seinem Salz“ (Conf. 1,11,17). Als Augustinus später für den Diakon Deogratias in Karthago, der sich mit dem Glaubensunterricht für die Taufbewerber schwer tat, das Büchlein De catechizandis rudibus verfaßte, es ist so etwas wie „die älteste Handreichung […] zum Taufgespräch“ 18 , erklärte er diese Katechumenatsriten: Das Kreuz Christi auf der Stirn ist wie das auf den Türpfosten geschriebene Besitzzeichen des Hausherrn; das Salz, das vor Fäulnis schützt, soll den Katechumenen vor den verderblichen Einflüssen des Bösen bewahren. 19 In Mailand begegnet uns zur Zeit des Ambrosius nur die Bezeichnung mit dem Kreuz auf der Stirn als Aufnahmeritus. 20 Wenn wir unseren Gewährsmann Sulpicius Severus fragen: Wie hat Bischof Martin Heiden zu Katechumenen gemacht? lautet die Antwort: Indem er ihnen die Hand auflegte! 21 Schon das Konzil von Arles (314) bezeugt diese Katechumenatseröffnungsgebärde als gängige Praxis der gallischen Kirche. 22 Im Laufe des 5. Jahrhunderts hat sich - wohl unter römischem Einfluss - die Handauflegung dann aber auch in Gallien weiterentwickelt zur Bezeichnung der Stirn mit dem Kreuz. 23 17 Vgl. wie Anm. 15. 18 R. Zerfass, Die Last des Taufgesprächs. Nach Augustinus Büchlein „De catechizandis rudibus“, in: Zeichen des Glaubens. Studien zur Taufe und Firmung (FS Balthasar Fischer), hg. v. Hj. Auf der Maur u. B. Kleinheyer, Zürich 1972, 219-232, hier 219. 19 Vgl. Kleinheyer, Feiern der Eingliederung (wie Anm. 16), 67; A. Stenzel S. J., Die Taufe. Eine genetische Erklärung der Taufliturgie, Innsbruck 1958, 171-175. 20 Vgl. Schmitz, Gottesdienst (wie Anm. 11), 38f. 21 Vita s. Martini, c. 13, 9 und Dialog 11,4,8 (CSEL 1,123 und 185); vgl. Stenzel, Taufe (wie Anm. 19), 193-197. 22 C. 6 (Mansi 2, 471). 23 Vgl. Stenzel, Taufe (wie Anm. 19), 194f. Bischof Martin von Tours (370/ 71-397) und die Liturgie seiner Zeit 43 Der Ritus ad catechumenum faciendum hatte in einer innergallischen Diözese im letzten Drittel des 4. Jahrhunderts durchaus noch einen „Sitz im Leben“. „Bevor Martin gekommen war“, so Sulpicius Severus, „hatten in diesen Gegenden nur wenige, fast niemand, das Christentum angenommen“. 24 Der Bischof von Tours brauchte nur die Stadt zu verlassen, um auf Schritt und Tritt heidnischen Kultpraktiken zu begegnen. Dem über Land ziehenden Martin begegnet zum Beispiel ein heidnischer Leichenzug. 25 Aus der Ferne hält Martin die Prozession spontan für einen jener volksfrommen Flurumgänge, bei denen die Bauern ihre mit weißen Tüchern bekleideten Götterstatuen durch die Felder und Weingärten trugen. Ein Jahrhundert später wird ein gallischer Bischof, Mamertus von Vienne, diese ungemein populären heidnischen Flurprozessionen verchristlichen. Im spätantiken Gallien haben unsere Bittprozessionen vor Christi Himmelfahrt ihre Wurzeln. 26 Zu Martins Zeiten hingen die pagani noch an ihren Tempeln. Sie widersetzten sich, bisweilen mit Schwert und Winzermesser, wenn der Bischof seinerseits mit brachialer Gewalt sich anschickte, ihre Götterbilder zu zertrümmern, an ihre Kultstätten Feuer zu legen oder einen heiligen Baum zu fällen. 27 Mit der Zerstörung der heidnischen Kultstätten war es nicht getan. Solche spektakulären Aktionen erwiesen sich aber insofern als höchst effizient, als sie die Einsicht bestärkten: Martins Gott ist der größte. Das Argument vom stärkeren Gott machte Eindruck. Und wenn die Kraft dieses Gottes sogar imstande war, seinen Mann so zu erfüllen, dass er einen Toten lebendig machen konnte, wie Martin es inmitten einer zusammengelaufenen Schar von heidnischen Landleuten auf dem Weg nach Chartres getan hatte 28 , bedurfte es keiner langen Predigt mehr. „Das Freudengeschrei der Menge hallte bis zum Himmel“, lesen wir bei Sulpicius Severus, „und sie bekannte: ‹Christus ist Gott! ›“. 29 Der Gott des Martinus hieß Jesus Christus. Dieses antiarianisch zugespitzte Christusbekenntnis genügte, um Christ zu werden. Als die Menge stürmisch verlangte, Martin solle sie zu Christen machen, tat er das auch auf der Stelle - nicht, indem er sie taufte, sondern indem er an ihnen den in Gallien charakteristischen Katechumenatseröffnungsritus vollzog: Er legte ihnen einzeln die Hand auf. 30 Das geschah auf freiem Feld. An sich ein unpassender Ort. Normalerweise vollzog sich die Aufnahme in den Katechumenat in der zuständigen Bischofskirche. Martin rechtfertigt sich gegenüber möglichen Einwänden. Er verweist auf die Bluttaufe der Märtyrer: Sie geschieht gewöhnlich unter freiem Himmel. 31 Es wäre verkehrt, aus dieser Parallelisierung von Märtyrertaufe und Aufnahme in den Katechumenat zu schließen, beides sei als mehr oder weniger gleichwertig 24 Vita s. Martini, c. 13, 9. 25 Ebd., c. 12. 26 Vgl. A. Heinz, Art. Bittprozession, in: LThK 2 (Freiburg 3 1994), 512-514. 27 Vita s. Martini, c. 15. Zu Martins Missionstätigkeit und -methoden vgl. Fontaine, Vie (wie Anm. 9), II, 713-817. 28 Dialogus II,4. 29 Ebd.; Bihlmeyer, Schriften (wie Anm. 9), 109. 30 Vgl. ebd. 31 Vgl. ebd. Liturgie im Werden 44 betrachtet worden. In der Tat stellt sich die Frage, wie denn der weitere Weg des Christwerdens solcher nach einer rudimentären Erstverkündigung spontan aufgenommenen Katechumenen ausgesehen hat. Blieben sie Katechumenen oder wurden sie über kurz oder lang getauft? Wo geschah das? In der Bischofskirche von Tours oder in den Taufkirchen auf dem Land, die Martin an zerstörten heidnischen Kultorten zu errichten pflegte? Nach Gregor von Tours hat Martin sechs solcher Landkirchen errichten lassen, sein Nachfolger Brictius weitere fünf. 32 Mit der Aufnahme in den Katechumenat gab man sich jedenfalls nicht zufrieden. Denn man machte sich Sorgen um das Schicksal von Katechumenen, die ungetauft starben. In dieser Hinsicht ist die Erzählung von Martins erster Totenerweckung aufschlußreich. Sie ereignete sich nämlich an einem Katechumenen. 33 Es war Martins erster Gefährte in Ligugé bei Poitiers. Ein Fieber hatte ihn befallen, und der Tod war so unerwartet schnell eingetreten, dass keine Zeit mehr geblieben war, den Sterbenden zu taufen. Doch inständiges Gebet gab dem Gottesmann Martin die Kraft, den Toten wieder in das irdische Leben zurückzuholen, und zwar vor allem, damit er getauft werden konnte. Der aus dem Jenseits Zurückgekehrte wusste nämlich nichts Gutes über das Schicksal eines ungetauften Katechumenen vor dem Richterstuhl Gottes zu berichten. Nur Martins Gebet hatte ihn im letzten Moment vor dem ihm schon zugewiesenen „Ort der Finsternis“ gerettet. Damit ist das pastorale Problem des Taufaufschubs angesprochen. In der Zeit des gut funktionierenden altkirchlichen Katechumenats, im 3. Jahrhundert, begann die nähere Taufvorbereitung nach zwei bis drei Jahren Katechumenat. Im 4. Jahrhundert hatten die meisten es nicht so eilig mit der Taufe. Nicht wenige warteten, bis es ans Sterben ging. 34 Martin selbst hatte seine Taufe nicht endlos vor sich hergeschoben. Er war achtzehn 35 , als er in den Taufbrunnen stieg, wahrscheinlich in Amiens. Bald nach der Mantelteilung ist aus dem catechumenus ein fidelis (Gläubiger) geworden. Bei anderen prominenten Kirchenmännern seiner Zeit hat es länger gedauert: Ambrosius, von christlichen Eltern in Trier geboren, wird erst nach seiner unverhofften Wahl zum Bischof von Mailand acht Tage vor seiner Bischofsweihe am 7. Dezember 374 getauft. 36 Augustinus, den Ambrosius in der Osternacht des Jahres 387 in Mailand tauft, ist 33 Jahre alt. 37 Die Reihe ließe sich leicht fortsetzen. 32 Angenendt, Frühmittelalter (wie Anm. 1), 96f. 33 Vita s. Martini, c. 7. 34 Vgl. zum Problem des Taufaufschubs: Kleinheyer, Feiern der Eingliederung (wie Anm. 16), 64f. 35 Vgl. Vita s. Martini, c. 2-3; dazu den Kommentar von Fontaine, Vie (wie Anm. 9), II, 430-508. 36 Vgl. C. Pasini, Ambrogio di Milano. Azione e pensiero di un vescovo, Mailand 1996, 17, mit Literaturhinweisen. Zu dem Problem der raschen Aufeinanderfolge von Taufe (am 30. November 374) und Bischofsweihe (am 7. Dezember) vgl. B. Fischer, Hat Ambrosius von Mailand in der Woche zwischen seiner Taufe und seiner Bischofskonsekration andere Weihen empfangen? , in: Kyriakon. FS Johannes Quasten II, Münster 1970, 527-531. Zur Bedeutung der Taufe für Ambrosius vgl. jetzt auch H. Heinen, Der heilige Ambrosius, Bischof von Mailand. Die Umprägung eines Römers durch das frühe Christentum, in: TThZ 106 (1997) 241-258. 37 Vgl. Augustinus, Confessiones 9, 6. Possidii, Vita Augustini, c. 1, 6. Es war die Nacht vom 24. auf den 25. April 387. Bischof Martin von Tours (370/ 71-397) und die Liturgie seiner Zeit 45 Gerne wüssten wir, wie in Tours die nähere Taufvorbereitung organisiert war und vor allem wie Martin selbst an Ostern die Initiationsfeier geleitet hat. Doch das einzige, was Sulpicius Severus uns über Martins Osterfeier verrät, ist, daß Martin gewohnt war, an Ostern einen Fisch zu essen. 38 Nichts von Ostern als dem großen Tauffest! Dabei dürfen wir davon ausgehen, dass in den gallischen Bischofsstädten jener Zeit die Atmosphäre des Festes noch stark vom Ereignis der Erwachsenentaufe geprägt war. Ambrosius nahm Gallien nicht aus, als er in einer seiner Homilien auf „den Pascha-Tag“ bemerkte: an diesem Tag werden „auf der ganzen Erde die Geheimnisse der Taufe vollzogen“. 39 In diesem Zusammenhang sollten wir den alten Rhetorikprofessor des Sulpicius Severus als Zeugen hören, Decimus Magnus Ausonius. 40 In Bordeaux hat Sulpicius als sein Schüler ihm zu Füßen gesessen. Ausonius gilt als der berühmteste spätantike Dichter Galliens. 365 schlug seine Glücksstunde. Man rief ihn als Erzieher des damals gerade 6jährigen Gratian von seiner burdigalensischen Lehrkanzel nach Trier an den Kaiserhof. Dort machte er eine steile politische Karriere. Aber die hohen Staatsgeschäfte ließen ihm noch Zeit und Muße genug, Gedichte zu schreiben. So entstanden in Trier zwischen 367 und 375 unter anderem seine Osterverse, die Versus Paschales 41 . Kein christlicher Osterhymnus; eher das Loblied eines Hofdichters auf die herrschende Dynastie der Valentiniane (Valentinian I., dessen Bruder Valens und Valentinians Sohn Gratian), wobei das Osterfest lediglich den Anknüpfungspunkt bildet. Interessant, was Ausonius beim Stichwort Ostern zuerst einfällt. Es ist die Erwachsenentaufe! Seine Osterverse beginnen: „Die heiligen Feiern des Heilbringers Christus kehren wieder, und die frommen Mysten halten, wie sie gelobten, ihr Fasten“. 42 Die Mystae kommen ihm in den Sinn, also die in die christlichen Mysterien einzuweihenden Taufkandidaten. Der feierliche Ostername, sancta salutiferi Christi solemnia, unterstreicht, welchen überragenden und alles überstrahlenden Rang das große Jahresfest der Erlösung damals noch hatte. Die Konkurrenz der anderen Herrenfeste gab es noch nicht. Ob Gallien zu Martins Zeiten schon das aus Rom gekommene Weihnachtsfest mitgefeiert hat, 38 Dialogus IV,10: CSEL 1,207. 39 Ambrosius, Exhortatio virginitatis 7, 42 (PL 16, 348); vgl. Ders., De spiritu sancto 1, Prol. 17 (CSEL 79, 23). Zu Ostern als dem privilegierten Tauftermin der Alten Kirche vgl. A. Verheul, Art. Dooptijden: LitWo 606f. 40 Über die Hohe Schule der Rhetorik in Bordeaux im 4. Jahrhundert vgl. R. Étienne, Histoire de Bordeaux, Bd. 1, Bordeaux 1962, 235f.; Ders., En passant par l’Aquitaine … Recueil d’articles de Robert Étienne, Bordeaux 1995, 411-589 (Ausoniana). Ausonius wurde um 310 in Burdigala/ Bordeaux geboren, war etwa 30 Jahre lang Rhetorikprofessor in seiner Heimatstadt, ab 367 am Kaiserhof in Trier als Erzieher des Kaisersohnes Gratian, 377 praefectus praetono Galliarum, 379 Konsul. Vgl. Heinen, Frühchristliches Trier (wie Anm. 6), 178-202; dort weitere Literaturhinweise. Zur Prägung des Sulpicius Severus durch dieses Milieu vgl. Fontaine, Vie (wie Anm. 9), II, 54f. 41 Am leichtesten zugänglich im lateinischen Original und in deutscher Übersetzung bei Heinen, Frühchristliches Trier (wie Anm. 6), 181-183. 42 Sancta salutiferi redeunt sollemnia Christi et devota pii celehrant ieiunia mystae. Liturgie im Werden 46 ist zweifelhaft. 43 Wohl aber war dort das östliche Weihnachtsfest, Epiphanie, bekannt 44 . Das Konzil von Saragossa (380) ordnete schon eine Rüstzeit vor dem Fest an, wahrscheinlich im Hinblick auf Epiphanie als dem nach Ostern wichtigsten Tauftermin. 45 Ausonius verrät uns nicht, wie lange das Fasten vor Ostern dauerte. Wahrscheinlich die 40 Tage der Quadragesima, die Ende des 4. Jahrhunderts schon eine gesamtkirchliche Einrichtung ist. 46 Die aquitanische Heilig-Land-Pilgerin Egeria kennt sie als heimischen Brauch. 47 Wir erfahren leider im Ostergedicht des Ausonius keine weiteren Einzelheiten über die Taufvorbereitung der mystae. Es gab gewiss Katechesen und Skrutinien und häufige Exorzismen. Anzunehmen ist auch die von Ambrosius für Mailand bezeugte, am Sonntag vor Ostern gefeierte traditio symboli, die vom Bischof kommentierte Mitteilung des von den Kompetenten auswendig zu lernenden Glaubensbekenntnisses. 48 Liebend gern wüßten wir, wie die dreistufige sakramentale Initiation in einer spätantiken Bischofsstadt Galliens gefeiert worden ist. Die fehlenden Quellen lassen uns ohne Antwort. Gewiss hat es etwas mit der Kernhandlung der Tauffeier zu tun, wenn Ausonius in das Zentrum seiner Osterverse das Glaubensbekenntnis stellt, trinitarisch gegliedert und in nizänischer Terminologie. 49 Das ist wie eine Anamnese des dreigliedrigen Taufbekenntnisses, das die Initianden, entkleidet und knietief im Taufwasser stehend, im Frage- und Antwort-Stil ablegten, wobei nach jedem Credo das Taufwasser über sie floss. 50 43 Vgl. B. Botte, Les origines de Noël et de l’Epiphanie. Étude historique, Louvain 1932; Angenendt, Frühmittelalter (wie Anm. 1), 89f. Erst Gregor von Tours (Historia Francorum 10,31) nennt in dem von ihm überlieferten, wohl auf Bischof Perpetuus von Tours (461-491) zurückgehenden Festkalender Weihnachten (Natale Domini). 44 Durch den heidnischen Schriftsteller Amminianus Marcellinus (Rerum gestarum 21,2,5) ist die Feier von Epiphanie für das Jahr 361 in Vienne bezeugt; vgl. Hj. Auf der Maur, Feiern im Rhythmus der Zeit I. Herrenfeste in Woche und Jahr (GdK 5), Regensburg 1983, 156. Die Vermutung ist nicht von der Hand zu weisen, dass Athanasius, der Bischof von Alexandrien, während seines Trierer Exils (335-337) der gallischen Kirche, die damals in Ägypten schon fest eingebürgerte Epiphaniefeier am 6. Januar vermittelt hat. Trier, die gallische Kaiserresidenz, wäre demnach Ursprungsort der Verbreitung der Feier im Westen; so H. Lietzmann, Geschichte der alten Kirche, Bd. 3, Berlin 2 1953, 324f.; vgl. Heinen, Frühchristliches Trier (wie Anm. 6), 125, Anm. 1. [A. Heinz, Die Bedeutung der Zeit Konstantins (306-337) für die Liturgie der Kirche, in: M. Fiedrowicz, G. Krieger, W. Weber (Hg.), Konstantin der Große. Der Kaiser und die Christen. Die Christen und der Kaiser, Trier 3 2007, 139-182, hier 173f.] 45 Vgl. Auf der Maur, Feiern (wie Anm. 44), 180f. 46 Vgl. ebd., 143-147; Stenzel, Taufe (wie Anm. 29), 153f.; Schmitz, Gottesdienst (wie Anm. 11), 42f. 47 Vgl. Egeria, Itinerarium - Reisebericht mit Auszügen aus Petrus Diaconus, De locis sanctis - Die heiligen Stätten. Übersetzt und eingeleitet von G. Röwekamp (Fontes Christiani 20), Freiburg u. a. 1995, 87-89. 48 Vgl. Schmitz, Gottesdienst (wie Anm. 11), 69-76. Über das Christwerden in Nordafrika vgl. die lebendige Schilderung von van der Meer, Augustinus (wie Anm. 12), 371-400. 49 Vgl. Heinen, Frühchristliches Trier (wie Anm. 3), 182f. 185. 50 Zur Taufpraxis der Zeit vgl. zusammenfassend Kleinheyer, Feiern der Eingliederung (wie Anm. 16), 70-77. Bischof Martin von Tours (370/ 71-397) und die Liturgie seiner Zeit 47 Wenn die Getauften dann aus der Piscina herausgestiegen waren (das Taufbecken, das Martin neben der Trierer Bischofskirche gesehen haben muss, war beispielsweise 8 m lang und breit) 51 , wurden sie mit heiligem Öl gesalbt. Bei der postbaptismalen Salbung goss der Bischof reichlich Myron über das Haupt der Neuchristen. So hielt es jedenfalls Ambrosius in Mailand. 52 So dürfte es auch Martin in Tours und die Presbyter in den Vicus-Kirchen gehalten haben. Das Konzil von Orange (441) verlangte nämlich, die Chrismation müsse sofort nach der Taufe vollzogen werden, auch wenn der Spender kein Bischof war. 53 Diese Salbung galt in Gallien als Firmsalbung. Die typische römische Praxis, die dem Bischof die spätere Firmsalbung reserviert, hat sich in Gallien erst in karolingischer Zeit durchgesetzt. 54 Zwischen der Hauptsalbung und der Bekleidung mit dem weißen Taufkleid kannte Gallien den Ritus der Fußwaschung; für Mailand bezeugt ihn Ambrosius. 55 Ohne Frage wurde den Neophyten, auch den Kindern, in der Eucharistiefeier der Osternacht die Eucharistie gereicht. 56 Nach Augustinus empfangen alle, „die das Rote Meer durchquert haben, das Manna“, auch der Säugling, parvulus, erhält Anteil am Leib und Blut Christi, damit er des (ewigen) Lebens teilhaft werden kann. 57 2. Die Eucharistie Was Sulpicius in seinen Martins-Schriften über die Messe sagt, ist für die Gestalt der Feier ohne jeden Informationswert. Nur an zwei Stellen in der ganzen Martinstrilogie sehen wir Martin als Bischof am Altar stehen 58 , und auch dort spricht 51 Bei Martins Trier-Aufenthalt(en) 385/ 386 erhob sich im Bereich des heutigen Domes und der unmittelbar anschließenden Liebfrauenbasilika ein Kirchenkomplex von imperialen Ausmaßen, als dessen letzter Teil der „Quadratbau“ (Kernteil des heutigen Domes) unter Kaiser Gratian (†383) vollendet worden war; vgl. W. Weber, Die Anfänge des Trierer Domes, in: TThZ 98 (1989) 147-155. Ders., Der „Quadratbau“ des Trierer Domes und sein polygonaler Einbau - eine „Herrenmemoria“, in: Der Heilige Rock zu Trier, hg. v. E. Aretz u. a., Trier 1995, 915-940. Zur Taufanlage der Trierer Bischofskirche vgl. A. Thomas, Taufort und Taufspendung in der Bischofskirche zu Trier, in: Zeichen des Glaubens (wie Anm. 18), 335-357, hier 342. Die Ausmaße der zwischen zwei Basiliken gelegenen Piscina sind nach der Neugestaltung des Domfreihofes anlässlich der Christuswallfahrt 1996 durch in das Pflaster eingelegte weiße Marmorplatten nunmehr gut zu erkennen. [Kritisch zur Deutung als Taufanlage: S. Ristow, Frühes Christentum im Rheinland. Zeugnisse der archäologischen und historischen Quellen an Rhein, Maas und Mosel, Münster 2007, 197.] 52 Vgl. Schmitz, Gottesdienst (wie Anm. 11), 160-167. 53 Vgl. Kleinheyer, Feiern der Eingliederung (wie Anm. 19), 203f. 54 A. Heinz, Die Feier der Firmung nach römischer Tradition. Etappen in der Geschichte eines abendländischen Sonderweges, in: LJ 39 (1989) 67-88; A. Angenendt, Bonifatius und das Sacramentum initiationis. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Firmung, in: RQ 72 (1977) 133-183. 55 Vgl. Schmitz, Gottesdienst (wie Anm. 11), 167-179; Kleinheyer, Feiern der Eingliederung (wie Anm. 19), 74-76. 56 Vgl. Kleinheyer, Feiern der Eingliederung (wie Anm. 19), 237-242. 57 Opus imperfectum contra Julianum 2,30: CSEL 85,1,184; Vgl. Kleinheyer, Feiern der Eingliederung (wie Anm. 19), 76f. 58 Vgl. Dialogus II,2; Dialogus III,10: CSEL 1,181f.; 208; Bihlmeyer, Schriften (wie Anm. 9), 105. 136. Liturgie im Werden 48 Sulpicius nur deshalb von Martins liturgischem Dienst, weil sich dabei Wunderbares zugetragen haben soll. Im Blick auf die Gesamtsituation im ausgehenden 4. Jahrhundert wird man folgendes sagen können: An den Sonntagen und den damals noch sehr seltenen Festtagen feierte der Bischof von Tours die Gemeindemesse in der Stadtkirche. Wahrscheinlich begann die Feier, wie es im 5. Jahrhundert ausdrücklich bezeugt ist, um die dritte Stunde 59 , je nach dem Sonnenstand zwischen acht und neun Uhr. Die Kleriker erwarteten den Bischof in einem Annexraum der Basilika, im secretarium. Vor dem Gottesdienst pflegten die Bischöfe dort Audienz zu gewähren. Auf ihrem Bischofsstuhl sitzend und von der Geistlichkeit umgeben, empfingen sie Bittsteller, Ratsuchende, auch zerstrittene Parteien, die den Bischof als Schiedsrichter anriefen. Von Sulpicius erfahren wir, dass Martin diese geschäftige Sprechstunde unmittelbar vor dem Gottesdienst nicht mochte. 60 Er überließ den Publikumsverkehr seinen Klerikern. Ihm war die stille Sammlung wichtig. Deshalb hatte er die Gewohnheit, allein in einem anderen Nebenraum der Kirche zu verweilen, bis es Zeit war, den Gottesdienst zu beginnen. 61 Anders als seine standesbewussten Amtskollegen, die im Vorraum der Kirche auf einem thronartigen Sessel sich niederließen, benutzte der Mönchsbischof Martin als Sitzgelegenheit einen dreibeinigen Hocker, wie ihn üblicherweise Knechte und Mägde gebrauchten. 62 Wenn das Volk versammelt war, benachrichtigte der Erzdiakon den Bischof. 63 Der Archidiakon hatte gewiss nicht nur diese organisatorische Aufgabe. Er wird auch bei der anschließenden liturgischen Feier als rechte Hand des Bischofs mitgewirkt haben. Wahrscheinlich wirkten beim bischöflichen Gottesdienst in der Regel mehrere Diakone mit. Im Bericht über die Bischofsweihe Martins am 4. Juli 370/ 71 spricht Sulpicius von den diensttuenden ministri, also von mehreren Diakonen. 64 Er erwähnt auch den Dienst eines Lektors. 65 Im Übrigen kommen in den Martins- Schriften des Sulpicius Severus nur noch die Exorzisten vor. Martin selbst war von Bischof Hilarius von Poitiers zum Exorzisten geweiht worden. 66 Ihre Tätigkeit dürfen wir im Umkreis der Taufvorbereitung vermuten. In Tours war wie in anderen Bischofsstädten eine Gruppe von Klerikern an der Bischofskirche angestellt. Sie wohnten in unmittelbarer Nähe der Kirche. Eine Vita communis mit dem Bischof gab es aber, anders als bei Augustinus im nordafrikanischen Hippo Regius, in Tours nicht, da Martin bald nach seiner Bischofsweihe sich in der Einsamkeit von Marmoutier niederließ. 59 Vgl. J. A. Jungmann S. J., Missarum Sollemnia, 2 Bde., Wien 5 1962, Bd. 1, 323-325. 60 Vgl. Vita s. Martini, c. 10; vgl. Fontaine, Vie (wie Anm. 9), II, 665f. Zur entsprechenden Praxis in Nordafrika vgl. van der Meer (wie Anm. 12), 218. 406. 61 Vgl. Dialogus II,1: CSEL 1,180; Bihlmeyer, Schriften (wie Anm. 9), 103. 62 Vgl. ebd. 63 Dialogus II,1: CSEL 1,181: Dein paulo post archidiaconus ingressus admonet pro consuetudine, exspectare in ecclesia populum, illum [sc. Martinum] ad agenda sollemnia debere procedere. 64 Vgl. Vita s. Martini, c. 9; vgl. Fontaine, Vie (wie Anm. 9), II, 652-661. 65 Vgl. ebd. 66 Vgl. Vita s. Martini, c. 6; Fontaine, Vie (wie Anm. 9), II, 548-552. Bischof Martin von Tours (370/ 71-397) und die Liturgie seiner Zeit 49 Müssen wir uns den Bischof, wenn er die Eucharistie feierte, von konzelebrierenden Priestern umgeben vorstellen? Wir wissen es nicht. Die Mitwirkung von Presbytern ist auf jeden Fall bei der feierlichen Initiation anzunehmen. Im Verlauf der Eingliederungsliturgie fielen den Presbytern herkömmlicherweise bestimmte Aufgaben zu. Nur einmal erwähnt Sulpicius ausdrücklich die Anwesenheit von presbyteri bei einer von Martin zelebrierten Festmesse. 67 Aus der flüchtigen Bemerkung geht allerdings nicht hervor, ob die Priester tatsächlich konzelebrierten oder ob sie lediglich dem Gottesdienst beiwohnten, wozu sie verpflichtet waren. Eine Konzelebration mehrerer Bischöfe war bei Bischofswahlen und Synoden üblich. 68 Für Martin selbst wurde die Praxis der Konzelebration zu einer ihn belastenden Gewissensfrage anlässlich seines Besuchs in der kaiserlichen Residenzstadt Trier im Jahre 386. Kurz zuvor war das Bluturteil gegen Priszillian und vier seiner Anhänger, darunter eine Frau, ergangen und in Trier vollstreckt worden. Es drohte nach dieser erstmaligen, verhängnisvollen Hinrichtung Andersgläubiger eine blutige Verfolgungswelle gegen die Priszillianer und alle, die man dafür hielt, loszubrechen. Martin wollte das durch seine Intervention bei Kaiser Maximus verhindern. 69 Er bedrängte den Kaiser, „dass keine Beamten mit der Befugnis über Leben und Tod nach Spanien geschickt werden sollten“. 70 Mit dieser toleranten Haltung setzte Martin sich demonstrativ von der Mehrheit seiner bischöflichen Amtsbrüder ab, die bei Hof die Polizeimaßnahmen angestiftet hatten. Mit diesen Bischöfen wollte Martin keine communio. Da zu dieser Gruppe auch der Trierer Ortsbischof Britto gehörte, gab es zwischen Martin und ihm keine Gottesdienstgemeinschaft. Diese Haltung Martins drohte zu einem öffentlichen Skandal zu eskalieren, als Bischof Britto starb und sein Nachfolger Felix geweiht werden sollte. Wenn der vom Volk verehrte Martin ostentativ der Ordinationsliturgie fernbleiben würde, musste das wie eine Ohrfeige für die hinter dem Bluturteil gegen die Priszillianer stehenden Hofbischöfe wirken. Martin ließ sich nur höchst widerwillig zur Konzelebration bewegen, nachdem der Kaiser ihm zuvor zugesichert hatte, die Verfolgungsaktion würde rückgängig gemacht. Als man nach dem Gottesdienst von Martin verlangte, er solle die wiederaufgenommene communio durch seine Unterschrift bekräftigen, weigerte er sich und reiste überstürzt und von Selbstvorwürfen gequält ab. Von da an, also während der restlichen elf Bischofsjahre, nahm er an keiner Bischofsversammlung mehr teil. 71 67 Vgl. Dialogus II,2: CSEL 1,182 ([…] et unus de presbyteris […]). 68 So etwa anlässlich der Wahl und Weihe des Bischofs Felix in Trier, bei der Martin widerwillig mit den an der Verurteilung der Priszillianer beteiligten Bischöfe konzelebrierte; Dialogus III,13: CSEL 1,211. - Vgl. dazu die deutsche Übersetzung und den Kommentar bei Heinen, Frühchristliches Trier (wie Anm. 3), 212-216. - Vgl. auch das Beispiel von Martins Bischofsweihe, die entsprechend den kanonischen Regeln von den anwesenden Bischöfen der betreffenden Provinz konzelebriert wurde; vgl. Vita s. Martini, c. 9; Fontaine, Vie (wie Anm. 9), 641-655. 69 Vgl. dazu zusammenfassend und mit Hinweisen auf die reiche Literatur zum Prozess gegen die Priszillianer: Heinen, Frühchristliches Trier (wie Anm. 3), 205-216. 70 Vgl. Dialogus III, 11,9: CSEL 1,209; vgl. Heinen, Frühchristliches Trier (wie Anm. 3), 214f. 71 Vgl. Heinen, Frühchristliches Trier (wie Anm. 3), 214f. Liturgie im Werden 50 Kommen wir nach dieser Trierer Konzelebration von kirchenpolitischer Brisanz zurück zur Frage nach der Gestalt der Eucharistiefeier in Gallien im angehenden 4. Jahrhundert. Gab es besondere liturgische Gewänder und Gefäße? Als das Volk von Tours den Mönch Martin zum Bischof verlangte, waren die zu Wahl und Weihe versammelten Nachbarbischöfe über die äußere Erscheinung des ihnen aufgedrängten Kandidaten entsetzt. Ein unansehnliches Gewand und ungepflegtes Haar waren kein angemessenes „Outfit“ für ein Mitglied des Reichsepiskopats. 72 Doch Martin blieb dabei. Wenn er in seinem schwarzen Umwurf, den er über einer rauhen Tunika trug, auf dem holprigen Steinpflaster einer römischen Landstraße unterwegs war, erkannte auch der geschulte Blick von kaiserlichen Beamten nicht sofort, dass da ein Bischof des Weges kam. 73 Einmal verprügelten ihn ehrbare Staatsdiener auf offener Straße, weil die Pferde ihres mehrspännigen Reisewagens bei Martins Anblick scheuten und es dadurch zu einem lästigen Aufenthalt gekommen war. Die hinzugeeilten Mönche packten den zusammengeschlagenen Bischof auf einen Esel. So ein Esel diente Martin gewöhnlich als Last- und Reittier, während seine bischöflichen Amtsbrüder hoch zu Ross reisten. Die Bemerkungen über Martins Kleidung lassen uns fragen, ob er so auch am Altar stand. Eigentliche liturgische Gewänder gab es damals noch nicht. Ambrosius stand in den Basiliken Mailands in bürgerlicher Festtagstracht am Altar. 74 So zeigt ihn das bekannte Mosaikportrait des 5. Jahrhunderts in der Kapelle San Vittore in Ciel d’Oro. In Gallien trug man über der knöchellangen Tunika einen Umwurf, einen Amphibalus. Dieses Obergewand mag eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Mantelalbe gehabt haben. Wenn wir Sulpicius Severus trauen dürfen, trug Martin beim Gottesdienst den gleichen schwarzen Umhang, den er als Straßenkleidung benutzte. 75 Der Platz des Bischofs in seiner Bischofskirche ist die Kathedra. In den spätantiken Basiliken befindet sie sich in der erhöhten Apsis. Augustinus pflegte auf der Kathedra sitzend zu predigen. 76 Falls es in Martins Bischofskirche eine Kathedra gab, hat er sie nicht benutzt. Bei Sulpicius lesen wir, Martin habe sich während des Gottesdienstes grundsätzlich nicht gesetzt. 77 Über das liturgische Mobiliar, insbesondere den Altar und die benutzten Kultgefäße, lässt sich kaum etwas sagen. Die Tatsache, dass besondere liturgische Gefäße benutzt wurden, ist aber nicht zu bezweifeln. Schon das Konzil von Arles (314) setzt ihren Gebrauch voraus, wenn es in c. 14 bestimmt, Kleriker, die nachweislich in der Verfolgungszeit die „Herrengefäße“ oder die heiligen Schriften ausgeliefert hätten, seien aus ihren Ämtern zu entfernen. 78 72 Vgl. Vita s. Martini, c. 9; Fontaine, Vie (wie Anm. 9), II, 649-652. 73 Vgl. Dialogus II,3: CSEL 1,183. 74 Vgl. Schmitz, Gottesdienst (wie Anm. 11), 259. 75 Vgl. Dialogus II,2: CSEL 1,181; Bihlmeyer, Schriften (wie Anm. 9), 104, Anm. 2. 76 Vgl. van der Meer, Augustinus (wie Anm. 12), 409. 77 Vgl. Dialogus II,1: CSEL l,180f.: […] nam in ecclesia nemo umquam illum sedere conspexit […]. 78 Die Konzilsakten bei Ch. Munier, Concilia Galliae a. 314 - a. 506, Turnhout 1963, 3-24; vgl. Heinen, Frühchristliches Trier (wie Anm. 3), 73. Bischof Martin von Tours (370/ 71-397) und die Liturgie seiner Zeit 51 Wie sah der Verlauf der Feier aus? Die Feier begann wohl in Gallien nicht anders, als wir es von Augustinus für Nordafrika 79 kennen. Der Bischof tritt ein und grüßt die Gemeinde mit einem geprägten Grußwort, etwa: Dominus sit semper vobiscum! Es wird still, der Lektor besteigt den Ambo und beginnt, die erste Lesung vorzutragen. In Mailand bestand der Wortgottesdienst in der Regel aus drei biblischen Lesungen. Ambrosius sagt: „Zuerst wird der Prophet gelesen, dann der Apostel und schließlich das Evangelium“. 80 Auf die Verkündigung des Evangeliums folgte die Predigt. Nicht ganz klar ist die Funktion des Psalms. Wurde er, wie heute, zwischen der ersten und zweiten Lesung gesungen, oder konnte der Psalm auch als alttestamentliche Lesung dienen? In Gallien dürfen wir ähnlich wie in Mailand mit einer dreistufigen Leseordnung rechnen. Was den Psalm angeht, weist eine Bemerkung des Sulpicius eher in die Richtung einer Psalmlesung. Als in Martins Weihegottesdienst nämlich der eingeteilte Lektor wegen des Gedränges nicht rechtzeitig am Ambo sein konnte, nahm jemand von den Umstehenden das Psalterium und las den erstbesten Psalm vor, auf den sein Blick fiel. Diese Psalmlesung heißt bei Sulpicius lectio prophetica, und diese Lesung war die erste im Wortgottesdienst jener Eucharistiefeier. 81 Der Vortrag eines Psalms galt also in diesem Fall als alttestamentliche Lesung. Die willkürliche Auswahl der Perikope war ein durch das Ausbleiben des bestellten Lektors bedingter Notbehelf. Normalerweise wusste der Lektor, was er zu lesen hatte. Die Kirche von Tours kannte im ausgehenden 4. Jahrhundert eine gewiss noch flexible Leseordnung. Wie Ambrosius werden sich aber auch seine Bischofskollegen in Gallien die Freiheit genommen haben, für besondere Anlässe passende Schriftlesungen frei auszuwählen. 82 Verstanden die Gläubigen, was gelesen wurde? In Tours wie in den anderen Provinzstädten war die galloromanische Gemeinde offenbar in der Lage, die lateinische Liturgie verstehend mitzufeiern. Denn Sulpicius Severus berichtet von spontanen Reaktionen der Gemeinde während des Wortgottesdienstes. Beifallsrufe hallten durch die Basilika als das Volk in Martins Weiheliturgie den 3. Vers des 8. Psalms hörte. 83 Darin heißt es, Gott habe seine Widersacher zum Schweigen gebracht. In der altlateinischen Übersetzung stand in diesem Vers der Ausdruck defensor; das aber war zufällig der Name jenes Bischofs, der sich am heftigsten der Wahl Martins widersetzt hatte. Die Gläubigen verstanden den Psalmvers und deuteten ihn anlassbezogen als Votum des Himmels gegen Bischof Defensor; ihn hatte Gott zum Schweigen gebracht und die vox populi als vox Dei bestätigt. Über weitere Stücke des Wortgottesdienstes, etwa das Allgemeine Gebet, können wir nur spekulieren. 79 Vgl. van der Meer, Augustinus (wie Anm. 12), 406-420, hier 406f. Für Gallien vgl. die Zusammenfassung über den (vermutlichen) Verlauf der Eucharistiefeier bei: Angenendt, Frühmittelalter (wie Anm. 3), 90-92. 80 Ambrosius, In psalm. 118,17,10: CSEL 62,382; vgl. Schmitz, Gottesdienst (wie Anm. 11), 317-343. 81 Vgl. Vita s. Martini, c. 9; Fontaine, Vie (wie Anm. 9), II, 654-661. 82 Vgl. Schmitz, Gottesdienst (wie Anm. 11), 327. 83 Wie oben Anm. 81. Liturgie im Werden 52 Noch weniger als über die Wortliturgie erfahren wir über die Eucharistiefeier im engeren Sinn. Wir hören nichts von einer Gabenprozession, wissen also nicht, ob die Gläubigen selbst Gaben zum Altar brachten oder ob sie solche bereits vor Beginn der Feier in einem Annexraum der Kirche abgegeben hatten, wie spätere Quellen es als gallische Praxis bezeugen. In diesem Fall hätten Kleriker das Brot und den mit Wasser gemischten Wein herbeigebracht und auf dem Altar bereitgestellt, worauf der Bischof herantrat, um das Eucharistiegebet zu sprechen. In welcher Weise die Gläubigen daran beteiligt waren, lässt sich nicht ausmachen. An den zwei einzigen Stellen, an denen Sulpicius uns einen flüchtigen Blick auf Martins Dienst am Altar tun lässt gewinnt man den Eindruck, die Gläubigen verfolgten kontemplativ das heilige Tun des Bischofs. Mitgeteilt werden visuelle Eindrücke. Wir hören zum einen von dem Gesicht eines hohen römischen Staatsbeamten, des Arborius, eines Neffen des Ausonius; er behauptete gesehen zu haben, wie die rechte Hand Martins, während er das Opfer darbrachte (Martini sacrificium offerentis), gleichsam mit kostbaren, purpurn leuchtenden Perlen umgeben war. 84 Auch das andere mitgeteilte „Messwunder“ lässt eher an einen schauenden Mitvollzug denken: Während Bischof Martin an einem Hochfest nach festlichem Brauch den Altar segnete, sahen fünf auserwählte Personen einen vom Haupt des Bischofs aufsteigenden Feuerball. 85 Sulpicius deutet die Lichterscheinung nicht. Sie wird aber offenbar empfunden als eine himmlische Bestätigung, dass das heilige Tun des Bischofs am Altar in der Höhe wohlwollende Annahme findet. An welcher Stelle der Eucharistiefeier zeigte sich die aufsteigende Feuerkugel? Der Übersetzer der Martinsvita in der Bibliothek der Kirchenväter, der Beuroner Benediktiner Pius Bihlmeyer, gibt die entsprechende Angabe cum iam altarium, sicut est sollemne, benediceret folgendermaßen wieder: „Während er (Martin), wie es Brauch ist, den Altar beräucherte(! ), sahen wir über seinem Haupte eine Feuerkugel leuchten […]“. 86 Diese Übersetzung kann schon deshalb nicht richtig sein, weil im ausgehenden 4. Jahrhundert kein gallischer Bischof Weihrauch benutzte. Ausonius empfindet das Abbrennen von Weihrauch noch als typisch heidnische, dem christlichen Gottesdienst unangemessene Praxis. 87 Die Westkirche hat erst in fränkischer Zeit begonnen, Weihrauch in der Liturgie zu verwenden. Uninformiert bleiben wir auch hinsichtlich der Form und Häufigkeit des Eucharistieempfangs. In den Martinsschriften des Sulpicius wird die Kommunion nirgends erwähnt. Das lässt auf eine eher geringe Bedeutung schließen. Auch Ambrosius hatte bei der Erklärung der Brotbitte des Vaterunsers Grund, seine Gemeinde zu fragen: „Wenn es tägliches Brot ist, warum empfängst du es nur einmal im Jahr, wie die Griechen im Osten zu tun pflegen? “ 88 In Gallien wird das Kommunizieren ähnlich selten gewesen sein. Im 6. Jahrhundert gab es nach dem 84 Dialogus III,10: CSEL 1,208; Bihlmeyer, Schriften (wie Anm. 9), 136. 85 Vgl. Dialogus II,2: CSEL l,181f., 85; Bihlmeyer, Schriften (wie Anm. 9), 105. 86 Bihlmeyer, Schriften (wie Anm. 9), 105. 87 Vgl. Heinen, Frühchristliches Trier (wie Anm. 3), 192f. 88 De sacramentis 5,4,25; zitiert nach Schmitz, Gottesdienst (wie Anm. 11), 424. Bischof Martin von Tours (370/ 71-397) und die Liturgie seiner Zeit 53 Zeugnis des Caesarius von Arles praktisch nur drei Kommuniontermine der Gemeinde: Weihnachten, Ostern und Pfingsten. 89 Auffälligerweise erwähnt die erbauliche Schilderung von Martins Tod keine Spendung der Wegzehrung. 90 Das ist um so auffälliger, als das erste Ökumenische Konzil (Nizäa 325) in seinem 13. Kanon von der „allernotwendigsten“ Wegzehrung spricht, die man niemand vorenthalten dürfe. 91 Man war bestrebt, einem Sterbenden unmittelbar vor dem Verscheiden, die Eucharistie zu reichen als Unterpfand christlicher Lebens- und Auferstehungshoffnung (vgl. Joh 6,54). Bischof Ambrosius, der bekanntlich im gleichen Jahr starb wie Bischof Martin von Tours, starb nicht, ohne vorher kommuniziert zu haben. 92 Der Bischof von Vercelli, einer der Freunde, die bei dem Sterbenden wachten, brachte ihm den Leib Christi: quo adcepto […] emisit spiritum, bonum viaticum ferrens […]. 93 Den Bischof von Tours sehen wir in seiner Todeskrankheit auf einem rauhen Bußgewand und auf Asche gebettet daliegen. 94 Die ihn umstehenden Kleriker in der Sakristei von Cande erbauten sich an seinem unablässigen Gebet und dem unverwandt zum Himmel gerichteten Blick. Aber keiner brachte dem sterbenden Bischof das Viaticum! Wenn es doch geschehen sein sollte, hielt Sulpicius es nicht für erwähnenswert. 3. Der Gebrauch des Krankenöls Im Zusammenhang von Krankheit und Sterben stellt sich die Frage nach der Krankensalbung. Sie ist von ihrem biblischen Ursprung her kein Sterbesakrament. Ihre Deutung als „Letzte Ölung“ ist eine sehr einseitige Auffassung der mittelalterlichen Scholastik. Die Orientalen haben diese Verkehrung des Krankensakraments zu einer Todesweihe bei den Lateinern zu Recht schon immer kritisiert. Der Alten Kirche war diese Sicht fremd. Insofern braucht es uns nicht zu überraschen, dass weder Ambrosius von Mailand noch Martin von Tours auf dem Sterbebett die Krankensalbung empfangen haben. Aber der Gebrauch des Krankenöls hatte im 4. Jahrhundert durchaus seinen Sitz im Leben. Diesbezüglich sind gerade die Martinsschriften eine kostbare Quelle. 95 Die Traditio Apostolica, eine Kirchenordnung aus dem 3. Jahrhundert, die erstmals das Krankenöl erwähnt, lässt den Bischof am Ende des Eucharistischen 89 Vgl. Angenendt, Frühmittelalter (wie Anm. 3), 92. 90 Vgl. Epistula tertia (Bassulae parenti): CSEL 1, 146-151; Bihlmeyer, Schriften (wie Anm. 9), 64-69. 91 Vgl. Conciliorum Oecumenicorum Decreta. Bd. 1: Konzilien des ersten Jahrtausends. Im Auftrag der Görresgesellschaft ins Deutsche übertragen und herausgegeben unter Mitarbeit von G. Sunnus u. J. Uphus von J. Wohlmuth, Paderborn u. a. 1998, 12. 92 Vgl. Paulini, Vita Ambrosii, c. 47,3. 93 Ebd. 94 Vgl. wie Anm. 90. 95 Wir verzichten in diesem Abschnitt weitgehend auf Einzelbelege; sie werden in meinem speziell dieses Thema in den Blick nehmenden Aufsatz geboten: A. Heinz, Die Krankensalbung im spätantiken Gallien. Das Zeugnis der Martinsschriften des Sulpicius Severus (um 400), in: TThZ 106 (1997) 271-287. Liturgie im Werden 54 Hochgebets das von den Gläubigen in den Gottesdienst mitgebrachte Olivenöl segnen. In dem kurzen Weihegebet betet der Bischof, dass das geweihte Öl diejenigen stärkt, die davon kosten, und gesund macht, die es, auf welche Weise auch immer, gebrauchen. Das aus dem Gottesdienst nach Hause mitgenommene heilige Öl konnte dann im Krankheitsfall von den Gläubigen selbst gebraucht werden. 96 Genauso erfahren wir es von Sulpicius Severus als gallische Praxis. Er erzählt beispielsweise von der Frau des als äußerst grausam geschilderten Comes Avitianus. Sie sandte dem Bischof Martin durch ihren Sklaven Öl zum Gebrauch im Krankheitsfalle, „damit er es, wie es üblich ist, segne“. 97 Wie sich das von Martin gesegnete Krankenöl in der Flasche wunderbar vermehrte, braucht uns hier nicht weiter zu beschäftigen. Interessant ist, was wir über die Aufbewahrung des Krankenöls in einem gallorömischen Haus erfahren: Die Hausmutter stellt die Flasche auf ein hohes Fenstersims. Sie deckt das gesegnete Öl mit einem Leinentüchlein, einer Art Velum, ab. Dort war das Öl jederzeit griffbereit, wenn es im Krankheitsfall gebraucht wurde. Mit dem Krankenöl salbte man nicht nur die kranken und schmerzenden Körperstellen; das Öl scheint auch nach Art einer Medizin eingenommen worden zu sein. Es vermittelte so außen und innen die Heilkraft, die durch die Weihe, vor allem wenn ein Gottesmann sie vorgenommen hatte, im Öl gleichsam gespeichert war. Der Gebrauch des vom Bischof geweihten Krankenöls durch Laien schloss nicht aus, dass auch der Bischof oder ein Priester die Salbung vollzog, zumal, wenn er im Ruf stand, ein charismatischer Heiler zu sein. Zwei solcher Fälle erzählt Sulpicius von Martin. Die Orte des Geschehens: Chartres 98 und Trier 99 . Wir erfahren, dass Martin, nachdem er sich im Gebet gestärkt und auf diese Weise gleichsam die ihm einwohnende göttliche virtus erweckt hat, zunächst das Öl weiht. Das auswendig gesprochene Gebet bestand offenbar aus einem Exorzismus und einer Segensbitte. In Chartres erfährt ein stummes Mädchen Martins Sakraltherapie. In ihrem Fall gießt der Bischof das geweihte Öl dem Mädchen in den Mund, salbt dann damit seine Zunge, worauf es sprechen kann. In Trier appliziert Martin das Krankenöl einem gelähmten Mädchen. Auch hier gibt der Bischof das heilige Öl zunächst der Kranken in den Mund, worauf ihre Zunge gelöst wird. Dann salbt er Glied um Glied, und in jeden gesalbten Körperteil kehrt daraufhin das Leben zurück. Einen solchen Gebrauch des Krankenöls setzt auch das älteste uns bekannte römische Ölweihegebet des altgelasianischen Sakramentars voraus, das wohl noch 96 Traditio Apostolica, c. 5; vgl. R. Kaczynski, Feier der Krankensalbung, in: Sakramentliche Feiern I/ 2 (GdK 7,2), Regensburg 1992, 260f. 97 Dialogus III,3: CSEL 1,200; Bihlmeyer, Schriften (wie Anm. 9), 127f.; vgl. Heinz, Krankensalbung (wie Anm. 95), 277f. 98 Vgl. Dialogus III,2: CSEL l,199f.; Bihlmeyer, Schriften (wie Anm. 9), 126f.; vgl. Fontaine, Vie (wie Anm. 9), II, 830-832. 99 Vgl. Vita s. Martini, c. 16: CSEL l,125f.; Fontaine, Vie (wie Anm. 9), I, 286-289 (Text und französische Übersetzung); ebd., II, 808-832 (Kommentar); Heinz, Krankensalbung (wie Anm. 95), 275f. Bischof Martin von Tours (370/ 71-397) und die Liturgie seiner Zeit 55 dem 4. Jahrhundert angehört. 100 Es erbittet Schutz und Heilung nicht nur denen, die sich mit dem geweihten Öl salben oder salben lassen, sondern auch allen, die „davon kosten“ (gustare), es also nach Art einer Medizin einnehmen. Auch die Salbung durch Laien war nicht nur gallischer, sondern auch ursprünglicher römischer Brauch. Das beweist der Brief Papst Innozenz I. an Bischof Decentius von Gubbio aus dem Jahre 416. 101 Für Gallien bezeugt Caesarius von Arles (†542) das Weiterleben der Laienspendung 102 , die erst in karolingischer Zeit unterbunden wird. 4. Schlussbemerkungen Martin hat seit seiner Bischofsweihe am ersten Julisonntag des Jahres 370/ 371 mit der Stadtgemeinde Tours Eucharistie gefeiert. Er hat in den 27 Jahren seines Episkopats an jedem Osterfest der Tauffeier vorgestanden, die Neuchristen gesalbt und ihnen zum ersten Mal das eucharistische Brot und den Kelch gereicht. Er hat Diakone und Priester geweiht und Exorzisten und Lektoren beauftragt. Dass wir von diesen Diensten des ersten Liturgen der Ortskirche von Tours so wenig erfahren, liegt daran, dass wir Martin nur mit den Augen des Sulpicius Severus sehen. Der aber hatte vor allem im Sinn, seinen Zeitgenossen und der Nachwelt den von ihm hochverehrten Mönchsbischof Martin als einen abendländischen Antonius zu schildern, der als dämonenbesiegender und wunderwirkender Gottesmann selbst noch den großen ägyptischen Wüstenvater übertraf. Die reguläre bischöfliche Tätigkeit seines Helden, auch den liturgischen Vorsteherdienst, betrachtete Sulpicius eher als hinderlich für die volle Entfaltung der göttlichen virtus im Gottesmann Martin: Vor seiner Bischofsweihe hat Martin zwei Tote erweckt, danach gelang ihm das nur noch ein Mal. 103 Offenkundig begegnen wir in den Martinsschriften einer Spiritualität, die nicht eigentlich aus liturgischen Quellen lebt. Insofern sind die charismatischen Anachoreten-Kolonien des frühen gallischen Mönchtums weit entfernt von der pietas liturgica eines hl. Benedikt, der bekanntlich seinen Mönchen in die Regel geschrieben hat, dass nichts dem Gottesdienst vorgezogen werden dürfe. 104 Bei allem Bedauern, dass Sulpicius Severus keine Augen hat für Martins liturgischen Dienst, sind wir ihm dankbar, dass er in den wenigen beiläufigen Bemerkungen zur Liturgie seiner Zeit eine für Martins Person und Gottesverständnis doch wohl charakteristische Dimension hat durchblicken lassen. Es ist dies die überzeitliche gültige Wahrheit, dass Gottesdienst und Menschendienst untrennbar zusammengehören: Der Katechumene Martin ist der Taufe würdig, weil er sich des für ihn bestimmten Armen erbarmt. Und als Bischof ist Martin überzeugt, dass man mit Bischöfen, die andersdenkende Mitchristen jagen (die Priszillianerkontroverse), keine Gottesdienstgemeinschaft pflegen soll, so als wäre der Umgang 100 Vgl. Kaczynski, Feier (wie Anm. 96), 263f. 101 Vgl. ebd., 268-270; Heinz, Krankensalbung (wie Anm. 95), 285f. DH 216. 102 Vgl. Kaczynski, Feier (wie Anm. 96), 270; Heinz, Krankensalbung (wie Anm. 95), 284f. 103 Vgl. Dialogus II,4: CSEL l,184f.; Bihlmeyer, Schriften (wie Anm. 9), 108. 104 Regula Benedicti 43,3. Liturgie im Werden 56 mit den Mitmenschen für den Umgang mit Gott unerheblich. Signifikant ist auch Martins menschenfreundlicher und heilsamer Gebrauch des Krankenöls! Schließlich gibt es da noch jene weniger bekannte Bettler-Episode 105 : Bischof Martin sieht auf dem Weg zum Gottesdienst vor der Kirche einen frierenden Bettler. Er trägt dem ihn begleitenden Archidiakon auf, dem Mann umgehend eine Tunika zu kaufen. Anschließend sammelt Martin sich wie üblich für die Feier des Gottesdienstes. Als der Archidiakon die Sakristei betritt, um ihm zu sagen, es sei Zeit, zu beginnen, will Martin zuerst wissen, ob der Bettler seine Tunika bekommen habe. Wenn Martin an den Altar ging, nahm er die Sorgen der Menschen mit. Das ist Bischof Martin von Tours, wie wir ihn lieben. 105 Dialogus II,1: CSEL l,180f.; Bihlmeyer, Schriften (wie Anm. 9), 103f. 3 Papst Gregor der Große (590-604) und die römische Liturgie Das jüngste literarische Portrait von Papst Gregor dem Großen (590-604) ist erst wenige Monate alt. Ernst Dassmann, der emeritierte Professor für Alte Kirchengeschichte und Patrologie an der Universität Bonn, hat Leben und Werk dieses letzten der vier großen lateinischen Kirchenlehrer eindrucksvoll gewürdigt. 1 Aber unter den insgesamt 11 Kapiteln dieses meisterhaft gezeichneten Lebensbildes gibt es auffälligerweise keines über „Gregor den Großen und die römische Liturgie“. Eine sehr zurückhaltende Antwort bekommen wir in dieser Sache auch, wenn wir die renommierte „Theologische Realenzyklopädie“ befragen. Robert Austin Markus stellt gegen Ende seines ausgezeichneten Artikels fest: „In zwei Bereichen ist Gregor eine stärkere Nachwirkung zugeschrieben worden, als die Quellen es rechtfertigen: 1. In Bezug auf die Gestaltung der westlichen Liturgie (…). 2. In Bezug auf die Geschichte des Mönchtums (…).“ 2 War Gregor der Große also gar nicht der große Organisator der römischen Liturgie an der Schwelle des Mittelalters, als den ihn eine säkulare Tradition verehrt hat? Diese Tradition ist in breiten Kreisen noch sehr lebendig. So hat beispielsweise der Schriftsteller Martin Mosebach ein die Ergebnisse der Liturgiereform nach dem Zweiten Vatikanum (1962-1965) pauschal kritisierendes Buch veröffentlicht [Erstveröffentlichung: Papst Gregor der Große und die römische Liturgie. Zum Gregorius-Gedenkjahr 1400 Jahre nach seinem Tod (†604), in: LJ 54 (2004) 69-84. Leicht bearbeitete deutsche Fassung des in italienischer Sprache am 24. Oktober 2003 in der Vecchia aula del Sinodo des Apostolischen Palastes im Vatikan gehaltenen Vortrags im Rahmen des von der Accademia Nazionale dei Lincei (Rom) und dem Pontificio Comitato di scienze storiche gemeinsam ausgerichteten Internationalen Kongresses über Papst Gregor den Großen. Italienische Fassung: Gregorio Magno e la liturgia romana, in: Convegno internazionale Gregorio Magno nel XIV centenario della morte (Roma, 22-25 ottobre 2003). Atti Convegni dei Lincei 209, Roma 2004, 281-290.] 1 Vgl. E. Dassmann, Der Große-Papst Gregorius, in: Roma Patristica. FS für Erwin Gatz, hg. von der Erzbruderschaft zur Schmerzhaften Gottesmutter, dem Deutschen Priesterkolleg beim Campo Santo Teutonico und der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft mit Beiträgen von Ernst Dassmann, Hans Feichtinger, Michael Fiedrowicz, Stefan Heid und Stefan Samulowitz, Regensburg 2003, 223-284. Der folgende Beitrag ist die deutsche Fassung des Vortrags „Gregorio Magno e la liturgia romana“, den der Verfasser am 24. Oktober 2003 in der Vecchia Aula del Sinodo des Apostolischen Palastes im Vatikan gehalten hat. Es geschah dies im Rahmen des von der Academia Nazionale dei Lincei (Rom) und dem Pontificio Camitato di scienze storiche gemeinsam ausgerichteten internationalen Kongresses „Gregorio Magno nel XIV centenario della morte“ (22.-25. Oktober 2003). Papst Johannes Paul II. richtete eine am 22. Oktober unterzeichnete Botschaft an die Teilnehmenden; vgl. Osservatore Romano 26.10.2003; deutsche Übersetzung in der deutschen Ausgabe des Osservatore Romano vom 07.11.2003, S. 7. [Die Kongressakten (Atti dei Convegni Lincei 209) sind 2004 in Rom erschienen.] 2 R. A. Markus, Art. Gregor I., in: TRE 14 (Berlin-New York 1985) 135-145, hier 142. Liturgie im Werden 58 mit dem Titel: „Häresie der Formlosigkeit“. 3 Er verlangt darin die Wiederzulassung der „alten Messe“, die er allen Ernstes mit der „Messe Gregors des Großen“ gleichsetzt. 4 Das Beispiel zeigt, wie sehr Gregor der Große in weiten Kreisen noch immer als „der Vater“ der traditionellen römischen Liturgie betrachtet wird, besonders ihres Gesangs, der nach ihm der „Gregorianische Choral“ heißt. Die mittelalterliche Tradition weiß von weiteren liturgieschöpferischen Maßnahmen Gregors. Die „Legenda aurea“ erwähnt nicht nur, dass Papst Gregor der Große, was gut verbürgt ist, Bittprozessionen angeordnet hat, um ein Ende der damals in Rom grassierenden Pestepidemie zu erflehen. Sie behauptet auch, bei dieser Gelegenheit sei unter persönlicher Mitwirkung des Papstes die Marienantiphon „Regina coeli“ geboren worden. 5 Da vermischen sich offenbar Dichtung und Wahrheit. Wir stehen vor einem Berg ungeklärter Fragen, wenn wir uns daran machen, die authentischen Spuren freizulegen, die dieser Papst in der römischen Liturgie hinterlassen hat. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, auf alle Probleme einzugehen. Ganz beiseite lassen wir von vorneherein alles, was eindeutig in den Bereich der Legende gehört, etwa die gerade angesprochene Komplettierung des angeblich von Engeln über der Marienikone „Salus populi romani“ gesungenen „Regina coeli“ durch Gregor selbst, oder die frömmigkeits- und kunstgeschichtlich ungemein einflussreiche Tradition der „Gregorius-Messe“; ihr Ursprung wird bekanntlich in Santa Croce in Gerusalemme in Rom vor der dort verehrten „Imago pietatis“ lokalisiert. 6 Unberücksichtigt bleibt ferner die Einrichtung der sogenannten „Gregorianischen Messen“, also die fromme Gewohnheit, eine Reihe von 30 Messen ohne Unterbrechung an 30 aufeinanderfolgenden Tagen für das Seelenheil eines Verstorbenen zu zelebrieren oder zelebrieren zu lassen. 7 Unter Berufung auf die bekannte Geschichte von Gregors erfolgreichem Messtricernar für einen in seinen Sünden verstorbenen Mönch (Dial. 4,55) schrieb die Volksfrömmigkeit den „Gregorianischen Messen“ eine unfehlbare Wirkung zu. Die jüngste Reform der Altar- und Kirchweihe hat das früher hochgeschätzte „Gregorius-Wasser“ abgeschafft. 8 Ausklammern können wir auch die angebliche Bedeutung Gregors als eines „namhaften Hymnendichters“. 9 3 M. Mosebach, Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind, Wien 3 2003; vgl. dazu A. Odenthal, Gottesdienst wider den Zeitgeist? Die Diskussion um die Reform der Messe geht weiter, in: Herderkorrespondenz 57 (2003) 452-456; Ders., „Häresie der Formlosigkeit“ durch ein „Konzil der Buchhalter“? , in: LJ 53 (2003) 242-257. 4 Vgl. Odenthal, Gottesdienst (wie Anm. 3), 453. 5 Vgl. R. Benz, Die Legenda aurea aus dem Lateinischen übersetzt, Heidelberg 9 1979, 219-235 (Gregorius), hier 224; vgl. dazu A. Heinz, Die marianischen Schlußantiphonen im Stundengebet, in: M. Klöckener und H. Rennings (Hg.), Lebendiges Stundengebet, Freiburg-Basel-Wien 1989, 342-367, hier 351. 6 Vgl. U. Westfehling, Die Messe Gregors des Großen, Köln 1982; A. Thomas, Art. Gregoriusmesse, in: LThK 4 (Freiburg 3 1995), 1037f. 7 Vgl. A. Heinz, Art. Gregorianische Messen, in: LThK 4 (Freiburg 3 1995), 1030. 8 Vgl. M. Kunzler, Art. Gregoriuswasser, in: LThK 4 (Freiburg 3 1995), 1038. 9 C. Blume S. J., Unsere liturgischen Lieder. Das Hymnar der altchristlichen Kirche, Regensburg 1932, 52; vgl. ferner ebd., 57-62. Papst Gregor der Große (590-604) und die römische Liturgie 59 Im Autorenregister der erneuerten Stundenliturgie findet man Gregors Namen nicht mehr. 10 Ein äußerst ergiebiges Thema wäre Gregors Bedeutung für die Volksfrömmigkeit. Seine Schriften, vor allem die „Dialogi“, haben die Jenseitsvorstellungen und das Totengebet nachhaltig beeinflusst, den Wunderglauben und die Dämonenfurcht gesteigert. 11 Die Petrusverehrung und der Reliquienkult 12 haben durch Papst Gregor kräftige Impulse erfahren, wobei er aber bekanntlich streng an der römischen Tradition festhielt, nach der Körperreliquien nicht zerteilt und weitergegeben werden durften. Für Ersatz sorgten die von ihm selbst in großer Zahl versandten „Petrusschlüssel“, die als besonders kräftig galten, wenn sie etwas Staub von den Ketten des Apostels enthielten. Die von Papst Gregor autorisierten Dedikationen von Altären und Kirchen sahen immer die Beisetzung von Reliquien vor (in der Regel Berührungsreliquien), obwohl erst das Nicaenum II. (787) dies vorschrieb. Bei unserer Suche nach den authentischen Spuren Gregors des Großen in der römischen Liturgie richten wir den Blick zunächst auf den Ordo Missae. In einem zweiten Schritt fragen wir nach dem gregorianischen Anteil an dem Sakramentar, das „Gregorianum“ heißt und dessen Textbestand den Kern des späteren „Missale Romanum“ ausmacht. Des Weiteren gehen wir kurz auf die Frage ein, worin Gregors Verdienst um den Gesang der römischen Liturgie besteht. Jenseits dieser Detailfragen werden wir abschließend den Blick auf die bemerkenswerte Grundeinstellung dieses Papstes zur liturgischen Praxis der katholischen Kirche überhaupt richten. 1. Gregors Eingriffe in den Ordo Missae Wer sich mit Gregor dem Großen befasst, bewegt sich auf sicherem Boden, wenn er sich auf ihn selbst berufen kann. Bekanntlich ist die mit Abstand wichtigste Quelle für seinen Pontifikat die Sammlung seiner über 800 erhaltenen Briefe. 13 Darin werden allerdings Fragen der Liturgie nur vereinzelt und eher am Rande berührt. Es zeigt sich hier der gleiche Befund, wie er uns in seiner erfolgreichsten Schrift, der „Regula pastoralis“, begegnet. In diesem Handbuch für die Seelsorger sagt Gregor sehr viel über die Predigt und über den Umgang mit den Menschen, aber erstaunlicherweise kein Wort über die Feier der Liturgie. 14 10 Vgl. A. Lentini, Te decet hymnus. L’innario della „Liturgia horarum“, Vatikan 1984, 322f. Mit Vorbehalt (dubie tribuitur Gregorio M.) wird die Autorschaft Gregors höchstens beim sonntäglichen Vesper- und Laudeshymnus der Fastenzeit erwogen (Audi benigne Conditor und Ex more docti mystico); vgl. Consilium ad exequendam Constitutionem de Sacra liturgia, Hymni instaurandi Breviarii Romani, Vatikan 1968, 83f. 11 Vgl. A. Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997, 670f.; 695-698. 12 Vgl. J. H. McCulloch, The cult of relics in the Letters and Dialogues of pope Gregory the Great, in: Traditio 32 (1976) 145-185; zur Petrusverehrung vgl. Dassmann, Gregorius (wie Anm. 1), 264-270. 13 Vgl. D. Norberg (Hg.), S. Gregorii Magni registrum epistularum. Libri I-VII, 2 Bde. (CChL 140/ 140 A), Turnholti 1982. 14 Vgl. Angenendt, Religiosität (wie Anm. 11), 444. Liturgie im Werden 60 Für unsere Frage nach eventuellen Eingriffen in den Ordo Missae ist ein Brief des Papstes an Bischof Johannes von Syrakus aus dem Jahre 598 die wichtigste Quelle. 15 Papst Gregor I. befasst sich darin mit Gerüchten, die ihm Neuerungen in der römischen Liturgie nach byzantinischem Vorbild vorwerfen. Sie wurden in Sizilien verbreitet, einer Region, die mit der Kirche von Rom in besonders intensiven Austauschbeziehungen stand. Gregor bittet den Bischof von Syrakus und die anderen Mit-Bischöfe auf der Insel, solchen Gerüchten entgegenzutreten. Die Gegenargumente liefert er selbst. Ein von ihm aufgegriffener Kritikpunkt betrifft das „Kyrie eleison“, ein griechisches Element in der lateinischen Liturgie. Aus der Antwort Gregors - nur sie kennen wir - geht nicht klar hervor, worin die ihm vorgeworfene Änderung genau bestanden hat. 16 Grundsätzlich wird man bei Papst Gregor trotz seiner unbedingten Loyalität zum Kaiser in Byzanz und dessen Exarchen in Ravenna keinerlei byzantisierende Neigungen ausmachen können. Gregor war durch und durch Römer, nicht nur von Geburt, sondern aus Überzeugung. Mit diesem starken römischen Selbstbewusstsein mag es zusammenhängen, dass er in den sieben Jahren, die er als Apokrisiar des Bischofs von Rom am Kaiserhof in Konstantinopel tätig war, gewiss die griechische Liturgie kennengelernt, aber kein Griechisch gelernt hat. Der Vorwurf bezüglich des Kyrie in der Messe besagte mit Sicherheit nicht, Gregor habe die Kyrie-Rufe überhaupt erst in Rom eingeführt. Es muss sich um ihre Vortragsweise gehandelt haben. Gregor stellt eine Änderung nicht in Abrede, betont aber die Unterschiede zur griechischen Praxis: 17 Dort kennt man nur den immer gleichbleibenden Ruf „Kyrie eleison“, in Rom singt man auch „Christe eleison“. Zudem antworten bei den Griechen Klerus und Volk zusammen, während es römische Art ist, den Ruf jeweils erst von den Klerikern vorsingen und dann vom ganzen Volk wiederholen zu lassen. Zusätzlich bemerkt Gregor, in den „gewöhnlichen Messen“ (in cotidianis autem missis) würde man Einiges weglassen, was sonst üblich sei, um etwas länger bei diesen Bittrufen zu verweilen. Jungmann hat dazu bemerkt 18 : Das, was in den gewöhnlichen Messfeiern entfällt, sind die Intentionen der Litanei. Die Anliegen werden nicht, wie etwa in der großen Ektenie zu Beginn der Chrysostomus-Liturgie laut genannt, sondern allein der Bittruf wird mehrmals wiederholt. In der Folgezeit hat sich die Gewohnheit durchgesetzt, je drei Mal drei Rufe im Wechsel zwischen Kyrie - und Christe eleison zu singen. In dem erwähnten Brief wird ein weiterer Eingriff nicht moniert, der aber gut verbürgt ist: Auf der römischen Synode von 595 ordnete Papst Gregor an: Die Gesänge zwischen Lesung und Evangelium sollen in Zukunft nicht mehr von einem Diakon, sondern von niederen Klerikern vorgetragen werden. Damit wollte er 15 Vgl. Registrum ep. IX, 26 (ed. Norberg 586f.). 16 Vgl. ebd.: „Kyrieleison autem nos neque diximus neque dicimus, sicut a Graecis dicitur, quia in Graecis omnes simul dicunt, apud nos autem a clericis dicitur, a populo respondetur et totidem uocibus etiam Christeeleison dicitur, quod apud Graecos nullomodo dicitur. In cotidianis autem missis alia quae dici solent tacemus, tantummodo Kyrieleison et Christeeleison dicimus, ut in his deprecationis uocibus paulo diutius occupemur.“ 17 Vgl. ebd. 18 Vgl. J. A. Jungmann, Missarum Sollemnia, 2 Bde., Wien 5 1962, I, 436-446. Papst Gregor der Große (590-604) und die römische Liturgie 61 die Unsitte abstellen, dass bei der Wahl der römischen Diakone vor allem auf ihre schöne Stimme geachtet wurde, wo doch andere Qualitäten für ihren caritativen und administrativen Dienst ungleich wichtiger waren. 19 Ein Element des Wortgottesdienstes der Messe spielt aber auch in den auf Sizilien kursierenden Vorwürfen eine Rolle. Als Neuerung nach griechischem Vorbild wird Gregor angekreidet, dass er den Gesang des Halleluja über die Osterzeit hinaus ausgedehnt habe. Bekanntlich singen die Orientalen das Halleluja das ganze Jahr über, sogar in der Fastenzeit. Im lateinischen Westen gab und gibt es dagegen nicht nur den generellen Verzicht auf das Halleluja in der Quadragesima. Außerhalb der Osterzeit erklang es damals in Rom nur an den Sonntagen. Gregor erinnert seine sizilianischen Kritiker zunächst daran, dass Rom lange vor seiner Zeit, nämlich nach seiner Meinung unter Papst Damasus (366-384), den Brauch des Halleluja-Gesangs aus Jerusalem übernommen habe. Er selbst habe seinen Gebrauch nicht ausgedehnt, sondern vielmehr eingeschränkt. Was Gregor damit meint, hat der flämische Liturgiehistoriker Camillus Callenwaert überzeugend geklärt. 20 Gregors Eingriff bestand in der Hauptsache darin, dass er das Halleluja-Fasten schon nach dem Sonntag Septuagesima beginnen ließ; im Offizium dieses ersten Sonntags der Vorfastenzeit wurde das Halleluja feierlich bis zu seiner „Auferstehung“ in der Ostervigil verabschiedet. Ein weiterer Vorwurf betrifft die liturgische Kleidung der Subdiakone: „Quia subdiaconos spoliatos procedere fecistis.“ Gregor habe den Subdiakonen ihre besondere Obertunika genommen und lasse sie nur in der weißen Untertunika bei der Liturgie mitwirken. So hielten es in der Tat die Byzantiner. Doch betont Papst Gregor, dass es ihm nicht darum zu tun war, die Griechen nachzuahmen, sondern dass er damit nur den ursprünglichen römischen Brauch wiederhergestellt habe. Von größerem Gewicht ist der letzte Punkt der Kritik, weil er Gregor eine Änderung im sensiblen Umfeld des mittlerweile als sakrosankt geltenden Kanons anlastet: „Quia orationem Dominicam mox post canonem dici statuistis.“ Das heißt: Gregor hat das bis dahin in Rom unmittelbar vor der Kommunion gebetete Vaterunser vorgezogen und ihm seinen bis heute beibehaltenen Platz unmittelbar nach dem Eucharistischen Hochgebet gegeben. 21 Die antiochenisch-byzantinische Praxis könnte hier tatsächlich beispielgebend gewirkt haben. Dort ist nämlich das Herrengebet eng mit der Anaphora verbunden, während es in den lateinischen Liturgien erst nach der Brotbrechung gesprochen und so stärker als Tischgebet zum Herrenmahl erfahren wurde. Gregor betont auch in diesem Fall den Unterschied zur griechischen Praxis: Dort betet das ganze Volk das Herrengebet, die römische Liturgie reserviert es dem Priester. Erst nach dem Zweiten Vatikanum ist auch in der römischen Messe das Vaterunser als Ganzes ein von der Gemeinde aktiv mitvollzogenes Gebet geworden. 19 Vgl. ebd., I, 552f. 20 Vgl. C. Callewaert, L’œuvre liturgique de s. Grégoire. La Septuagésime et l’Alléluia, in: RHE 33 (1937) 306-326. Nachdruck: Sacris erudiri. Fragmenta liturgica collecta a monachis s. Petri de Altenburgo in Steenbrugge ne pereant, Steenbrugge 1940, 635-653, bes. 642-653. 21 Vgl. Jungmann, Missarum Sollemnia (wie Anm. 18), II, 344-347. Liturgie im Werden 62 Die enge Verbindung von Kanon und Herrengebet begründet Gregor zudem nicht mit dem Vorbild der Griechen, sondern mit einem Konvenienzargument. Wie es genau zu verstehen ist, war lange umstritten. 22 Sinngemäß lässt es sich folgendermaßen zusammenfassen: 23 Gregor nimmt an, dass die Apostel ursprünglich nur mit der „Oratio oblationis“, also mit dem Eucharistiegebet, konsekriert haben; alles andere ist spätere Zutat. Wenn aber ein zusätzliches Gebet über Leib und Blut des Herrn, während diese auf dem Altar bereitliegen, gesprochen wird, dann erscheint es ihm sehr unpassend, ein Gebet, das ein Gelehrter verfasst hat (… precem, quam scholasticus composuerat …), zu beten, aber das Gebet, das der Herr selbst gelehrt hat, nicht zu sprechen. Durch den unmittelbaren Anschluss an das Konsekrationsgebet wird also der einzigartige Rang des Herrengebets unterstrichen. Es bekommt an dieser Stelle aber auch, wie Jungmann dargelegt hat, 24 eine gewisse Klammerfunktion. In seinen drei ersten Bitten rekapituliert das Vaterunser zentrale Hauptmotive der „Prex eucharistica“ (die Preisung des Namens Gottes, die Bitte um das Kommen seines Reiches, das Gedächtnis an die Erfüllung des Willens des Vaters im Opfer Christi), in den vier letzten Bitten schlägt es die Brücke zum Kommunionempfang (die Brotbitte, die Bitte um Vergebung und um Rettung vom Bösen). Der Canon Romanus, das Hochgebet I des jetzigen Römischen Messbuchs, hatte gegen Ende des 6. Jahrhunderts im Wesentlichen seine bis heute maßgebliche Gestalt erreicht. Eine gewisse Flexibilität gab es noch im Bereich der Hanc-igitur-Formel, wo der Priester die wechselnden Namen und Anliegen der Offerenten nannte. Der Liber pontificalis sagt, dass Gregor an dieser Stelle die für die Zukunft maßgebliche Standardformulierung geschaffen habe. 25 Wenn der Text nach der Bitte um Annahme des Opfers von Klerus und Volk in dieser gregorianischen Formulierung um „den Frieden in unseren Tagen“ bittet (diesque nostros in tua pace disponas), darf man gewiss annehmen, dass ein zeitgeschichtlicher Erfahrungshintergrund dahinter steht: Die ständigen Kriegs- und Raubzüge der Langobarden, die Byzanz nicht verhindert hat und vor denen Gregor seine Herde trotz kluger diplomatischer Initiativen nicht bewahren konnte. 26 Auch die Bitte um Errettung vor dem ewigen Verderben (ab aeterna damnatione nos eripi) ist ein echt gregorianisches Motiv. War dieser Papst doch zutiefst überzeugt, dass der Niedergang Roms das nahe Ende der Welt ankündigte und das Endgericht drohend bevorstand. 27 Zu den zuletzt in den Römischen Kanon eingefügten Stücken gehört das Totengedächtnis (Memento) und die Selbstempfehlung des Priesters und seiner As- 22 Vgl. Th. Michels O. S. B., Prex, quam scholasticus composuerat, in: JLW 6 (1926) 223-225; O. Casel, Neue Beiträge zur Epiklesefrage, in: JLW 4 (1924) 169-178, hier 176. 23 Vgl. Jungmann, Missarum Sollemnia (wie Anm. 18), II, 345f. 24 Vgl. ebd., 346f. 25 Vgl. Liber pont. I, 312; vgl. Jungmann, Missarum Sollemnia (wie Anm. 18), II, 226-232. 26 Vgl. Dassmann, Gregorius (wie Anm. 1), 248-255. 27 Vgl. C. Dagens, La fin des temps et l’Eglise selon saint Grégoire le Grand, in: RSR 58 (1970) 273-288; S. Frank, Actio und Contemplatio bei Gregor dem Großen, in: TThZ 78 (1969) 283-295, hier 284. Papst Gregor der Große (590-604) und die römische Liturgie 63 sistenz im anschließenden „Nobis quoque peccatoribus“. Diesem letzten Gebet soll Gregor der Große die fortan gültige Form gegeben haben. Jungmann 28 erkennt seine ordnende Hand in der symmetrisch zur Heiligenreihe des Communicantes gebauten Namenreihe von dort je zwölf und hier je sieben männlichen und weiblichen Heiligen. Insbesondere die Einfügung der beiden sizilianischen Märtyrinnen Agatha und Luzia ist Gregors Initiative zu verdanken. Hier kommt wieder ein persönlicher Erfahrungshintergrund ins Spiel: die großen Landbesitzungen seiner Familie und der römischen Kirche auf Sizilien. Erinnern wir uns auch, dass Gregor die der hl. Agatha geweihte Nationalkirche der arianischen Goten in Rom, Sant’Agata dei Goti, für den katholischen Kult geweiht hat. Für das hochfeierliche Ereignis stellte er selbst das Messformular zusammen. Das Römische Messbuch hat es am Gedenktag der Heiligen (5. Februar) bis zur jüngsten Messreform pietätvoll festgehalten. 29 Im Embolismus des Vaterunsers ist von jeher aufgefallen, dass als himmlische Fürsprecher neben Maria und den Aposteln Roms, Petrus und Paulus, auch der hl. Andreas genannt wurde. 30 Weil Gregor sein Elternhaus am Clivus Scauri zu einem Andreas-Kloster umgewandelt hat und wegen seiner besonderen Beziehung zu Konstantinopel, das den Petrus-Bruder und „erstberufenen“ Apostel als Gründer seiner Kirche hoch verehrt, hat man lange geglaubt, Gregor habe den Namen des Apostels Andreas dort eingefügt. Dagegen spricht aber, dass eine solche Maßnahme, die den Vorwurf der Nachahmung byzantinischer Gewohnheiten hätte stützen können, in der Kritik aus Sizilien nicht erwähnt wird. Außerdem ist schon vor der Zeit Gregors in Rom eine ausgeprägte Andreas-Verehrung festzustellen. Die Hinzufügung könnte aber auch erst, da sie in der ältesten irischen Überlieferung des Römischen Kanontextes fehlt, im siebten Jahrhundert erfolgt sein, als der griechische Einfluss unter den orientalischen Päpsten jenes Jahrhunderts auch in der römischen Liturgie unverkennbare Spuren hinterlassen hat. 31 2. Wie gregorianisch ist das „Sacramentarium Gregorianum“? Bedeutsamer als die geringfügigen Änderungen am Ordo Missae ist Gregors Beitrag zum Textbestand des Römischen Messbuchs. Das Sakramentar, das Papst Hadrian I. (772-795) auf Bitten Karls des Großen (†814) nach Aachen gesandt hat und nach dem fortan im ganzen Frankenreich die Eucharistie auf römische Art und Weise gefeiert werden sollte, war in den Augen der Zeitgenossen das 28 Vgl. Jungmann, Missarum Sollemnia (wie Anm. 18), II, 309-322, bes. 317f. 29 Vgl. G. Verbecke, S. Grégoire et la messe de S. Agathe, in: EL 51 (1938) 67-76. [Zur Verehrung der sizilianischen Heiligen Agatha und Luzia vgl. jetzt auch A. Heinz, Agata, Lucia ed Euplo nella tradizione liturgica medíevale, in: T. Sardella/ G. Zito (Hg.), Euplo e Lucia 304 - 2004. Agiografia e tradizioni cultuali in Sicilia (Quaderni di synaxis 18), Catania 2006, 165-177.] 30 Vgl. J. Beran, Hat Gregor der Große dem Embolismus der römischen Liturgie den Namen des hl. Andreas beigefügt? , in: EL 55 (1941) 81-87; die Neufassung des Embolismus im nach dem Vatikanum II reformierten Römischen Messbuch (1970) hat alle Heiligennamen beseitigt. 31 Vgl. Jungmann, Missarum Sollemnia (wie Anm. 16), II, 353f. Liturgie im Werden 64 Sakramentar, das der von ihnen hochverehrte Papst Gregor zusammengestellt hatte. Als erster spricht Egbert von York (732-766) von einem von Gregor dem Großen zusammengestellten Antiphonar und Missale. 32 Seit dem ausgehenden achten Jahrhundert galt es im Frankenreich als sicher, dass das Sakramentar, das „Gregorianum“ hieß, auch tatsächlich ein Werk Papst Gregors war. Als Johannes Diaconus gegen Ende des neunten Jahrhunderts seine Vita sancti Gregorii schrieb, war die von ihm ebenfalls bezeugte Tradition sowohl in England als auch auf dem Kontinent fest etabliert. 33 Freilich erkannte ein kritischer Geist wie Walafried Strabo (†849) schon klar, dass das „Sacramentarium Gregorianum“ spätere Zusätze enthielt. 34 Unmöglich hat Gregor selbst die darin enthaltenen Orationen für seinen eigenen Gedenktag am 12. März eingefügt. 35 Das Gleiche gilt für die Messtexte zum Weihegedächtnis von Sancta Maria ad martyres am 13. Mai. Das Pantheon wurde erst von Gregors zweitem Nachfolger, Papst Bonifatius IV. (608-615), geweiht. 36 Es ist an dieser Stelle nicht nötig, alle Argumente zu referieren, die kompetente Forscher, allen voran Henry Ashworth, zusammengetragen haben, 37 um zweifelsfrei zu beweisen, dass die säkulare Tradition nicht zutrifft. Das „Sacramentarium Gregorianum“ ist, auch wenn man die evidenten späteren Hinzufügungen ausklammert, nicht das Werk Gregors des Großen. Nimmt man alle Indizien zusammen, geschah die Zusammenstellung gegen Ende des Pontifikats von Papst Honorius I. (625-638). Diese wohlgeordnete Sammlung von euchologischen Texten für die Feier der Stationsmessen, die der Papst selbst oder seine Vertreter in den Basiliken Roms zelebrierten, erhielt nachträglich den Namen Papst Gregors. Einige Formulare, wie beispielsweise die Messen der im Laufe des siebten Jahrhunderts rezipierten Marienfeste, kamen natürlich später noch hinzu. Papst Gregor II. (715-731) vervollständigte das Sakramentar durch die Hinzufügung der Messen für die bis dahin vakanten Donnerstage der Fastenzeit. 38 32 Dialogus ecclesiasticae institutionis 16, De primo …, De secundo ieiunio (ed. Haddan and Stubbs, Councils and Ecclesiastical Documents relating to Great Britain 3 [Oxford 1871] 411, 412); vgl. H. Ashworth O. S. B., The liturgical prayers of St. Gregory the Great, in: Traditio 15 (1959) 107-161, hier 109-114. 33 Vgl. De vita sancti Gregorii 2,17: PL 75,94. 34 Vgl. De ecclesiasticarum rerum exordiis et incrementis 22: PL 114, 946 BC. 35 Vgl. C. Coebergh, La messe de Saint Grégoire dans le sacramentaire d’Hadrian, in: Sacris erudiri 12 (1961) 372-404. 36 Vgl. Ashworth, Prayers (wie Anm. 32), 116; Ders. Gregorian Elements in some early Gallican service books, in: Traditio 13 (1957) 431-443. 37 Vgl. außer den in Anm. 32 und 36 genannten Artikeln: Ders., Did St. Gregory the Great compose a sacramentary? , in: Studia patistica 2 (1957) 3-16; Gregorian elements in the Gelasian sacramentary, in: EL 67 (1953) 9-23. 38 Vgl. dazu außer den Untersuchungen von Ashworth (Anm. 37) J. Deshusses, Le sacramentaire grégorien pré-Hadrianique, in: RBen 80 (1970) 213-237; Ders., Le sacramentaire Grégorien. Ses principales formes d’après les plus anciens manuscripts, 2 Bde. (Spicilegium Friburgense 16 und 24), Fribourg 2 1979, I, 50-61. Zum römischen Messlektionar und Messantiphonar zur Zeit Gregors des Großen vgl. A. Chavasse, Les plus anciens types du lectionaire et de l’antiphonaire romains de la messe, in: RBen 62 (1952) 3-94. Papst Gregor der Große (590-604) und die römische Liturgie 65 Lässt sich ein gregorianischer Kern identifizieren? Wie umfangreich ist der authentische gregorianische Textanteil? Das „Gregorianum-Hadrianum“ enthält unter seinen insgesamt 927 Gebeten 245 vorher nicht nachweisbare Texte. 399 War Papst Gregor ihr Verfasser? Ein minutiöser Vergleich mit den Schriften, die unzweifelhaft von Gregor stammen, führt zu folgendem Ergebnis: Etwa 80 Gebete, also etwas mehr als 10% des gesamten Textbestandes, wurden tatsächlich von Gregor selbst redigiert. Darunter sind wahre Glanzstücke wie beispielsweise die Kollekte der Messe in der Heiligen Nacht „Deus, qui hanc sacratissimam noctem ueri luminis fecisti illustratione clarescere …“ und die großartige Kollekte an Epiphanie sowie die Weihnachtspräfation und das Tagesgebet am Stephanustag. Gregor war mit Sicherheit der Schöpfer der Tagesgebete der durch die Liturgiereform nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil im Missale Pauls VI. (1970) abgeschafften drei Vorfastensonntage 40 und verschiedener prägnanter Orationen von Stationsmessen der Quadragesima und der Osterfeier, unter ihnen das bis heute zu unterschiedlichen Anlässen gesprochene Gebet „Actiones nostras, quaesumus domine, et aspirando praeueni et aiuuando prosequere …“. 41 Gregorianisch sind erwartungsgemäß einige Texte der Liturgie des Bitttages (Litania maior) am 25. April. 42 Das Tagesgebet von Christi Himmelfahrt trägt Gregors Handschrift; auch der Präfation des Festes dürfte er ihre heutige Form gegeben haben. 43 Die frühere schöne Kollekte der Pfingstmesse „Deus, qui (…) corda fidelium sancti spiritus illustratione docuisti …“ 44 ist ebenfalls über ihren liturgischen „Sitz im Leben“ hinaus zu einem beliebten Gelegenheitsgebet geworden. Die klassische Kollekte von den heiligen Engeln für das Weihegebet der Michaelsbasilika an der Via Salaria (29. September) verdanken wir Gregor dem Großen. 45 Auch im Sanctorale sind an vielen Stellen die Spuren Papst Gregors wiederzuerkennen. 3. Der „Gregorianische Gesang“ der römischen Liturgie Das Zweite Vatikanische Konzil hat in seiner Liturgiekonstitution den „der römischen Liturgie eigenen Gesang“ als „Gregorianischen Gesang“ bezeichnet und gewünscht, dass ihm auch in Zukunft „der erste Platz“ zukommen soll (vgl. SC 116). Zur Zeit des Konzils hatte die Ansicht, dass Gregor dem Großen persönlich ein „herausragendes und entscheidendes Verdienst“ 46 um den liturgischen Gesang, der 39 Vgl. zum Folgenden bes. Ashworth, Prayers, (wie Anm. 32). 40 Vgl. dazu auch Callewaert, L’œuvre (wie Anm. 18), bes. 636-642. 41 GrH 198 (ed. Deshusses [wie Anm. 38], 141). 42 GrH 467-469. 473 (ed. Deshusses [wie Anm. 38], 211-213); zum „Sitz im Leben“ vgl. O. Chadwick, Gregory of Tours and Gregory the Great, in: JThS 49 (1948) 38-49. 43 GrH 497.499 (ed. Deshusses [wie Anm. 38], 220). 44 GrH 526 (ed. Deshusses [wie Anm. 38], 227). 45 GrH 726 (ed. Deshusses [wie Anm. 38], 280). 46 „S. Gregorius [habuit] in constituendo et edendo cantu romano partem quandam praecipuam et decisivam.“ So C. Callewaert, De origine cantus Gregoriani, in: Sacris erudiri (wie Anm. 20), 673-685, hier 679. Liturgie im Werden 66 seinen Namen trägt, zukommt, noch namhafte Verteidiger. Besonders die überzeugende Neuinterpretation der Quellen durch Stephen Joseph Van Dijk haben aber diese auch schon vorher angezweifelte Tradition endgültig verabschiedet. 47 Bekanntlich ist es erst die späte Gregorius-Vita von Johannes Diaconus (ca. 873-875), auf die sich die entsprechende Tradition stützt. Dort heißt es, Gregor habe eine „schola cantorum“ eingerichtet und dotiert; für ihre Mitglieder habe er zwei Unterkünfte bauen lassen, eine bei St. Peter, die andere an der Lateranbasilika. Die von unserem Gewährsmann nicht mitgeteilte Intention Gregors bei der Einrichtung dieser „Sängerschule“ (schola cantorum) war, wie Van Dijk überzeugend herausgearbeitet hat, rein pastoraler Natur. Es ging Gregor nicht um eine Perfektionierung des Kirchengesangs als solchen, erst recht nicht um die Ausprägung einer bestimmten Vortragsart. Das vorrangige Anliegen dieses Seelsorgers auf den Stuhl Petri war es, in seiner Bischofsstadt Rom durch diese Initiative das gottesdienstliche Leben zu fördern und zu verbessern. Als der Papst an beiden Seiten der Stadt eine schola cantorum platzierte, wollte er sicherstellen, dass der gewöhnliche Gottesdienst in den verschiedenen Stadtvierteln durch die Sänger dieser Schola kompetent mitgestaltet würde. Gregors schola cantorum war keine elitäre Sängergruppe nur für die hochfeierlichen päpstlichen Stationsgottesdienste. Sie hatte dem normalen liturgischen Leben in den Basiliken seiner Bischofsstadt zu dienen und den dort heimischen, einfachen und volksnahen Liturgiegesang zu pflegen. Dafür, dass Gregor das traditionelle Repertoire oder die Singweise in auffälliger Weise verändert hätte, finden sich in den Quellen keine Belege. Eine wirkliche Neuerung auf diesem Sektor erfolgte erst einige Jahrzehnte nach Gregors Tod unter Papst Vitalianus (657-672). Es ist dies die Zeit des stärksten byzantinischen Einflusses in Rom. Die päpstliche Liturgie macht damals Anleihen beim kaiserlichen Hofzeremoniell und erfährt eine bis dahin unbekannte Solemnisierung, eine Entwicklung, die zu Gregors bescheidener Art ganz und gar nicht passt. Papst Vitalianus gründete an St. Johann im Lateran eine eigene päpstliche schola cantorum, deren Aufgabe es war, den Gesang in den repräsentativen päpstlichen Gottesdiensten mit höchster Kunstfertigkeit auszuführen. Diese „cantores Vitaliani“ pflegten einen neuen, nach byzantinischem Vorbild höchst anspruchsvollen Gesangsstil und schauten etwas überheblich auf ihre „biederen“ städtischen Kollegen der gregorianischen schola cantorum herab, die bei ihrer „altrömischen“ Art blieben. Vor allem die Sänger an St. Peter fühlten sich als die Hüter des ursprünglichen römischen Liturgiegesangs. Wir müssen also im nachgregorianischen Rom zwei sich auseinanderentwickelnde liturgische Traditionen unterscheiden: die stadtrömische, die sich nament- 47 Vgl. S. J. P. Van Dijk O. F. M., Gregory the Great founder of the Urban Schola cantorum, in: EL 77 (1963) 335-356; A. Haug, Art. Gregorianischer Gesang, in: LThK 4 (Freiburg 3 1995), 1033-1037; 1033 charakterisiert die angebliche Autorschaft Gregors als: „… eine legendarische Urheberschaft“, die erst um 800 greifbar wird. W. M. Gessel (Art. Gregor I., in: LThK 4 [Freiburg 3 1995], 1010-1013) stellt fest (1012): „Die Zuschreibung eines Musiktraktats, des Gregorianischen Gesangs (Choral) und von Hymnen des Stundengebets sind spätere Rückprojektionen.“ Papst Gregor der Große (590-604) und die römische Liturgie 67 lich in St. Peter und den übrigen Basiliken behauptete, und die päpstliche, die sich als die glanzvollere des Romanus Pontifex immer stärker in den Vordergrund schob, bis sie im 13. Jahrhundert die letzten Reste der basilikalen Liturgie ganz verdrängte. Von dieser hochfeierlichen Papstliturgie ließen sich die Rom-Pilger aus dem fränkischen Norden beeindrucken. Und als die karolingischen Herrscher das liturgische Leben im Frankenreich nach Maßgabe der römischen Liturgie vereinheitlichen wollten, haben sich ihre Sachverständigen nicht an der Volksliturgie der römischen Basiliken orientiert. Im großen zeremoniellen Apparat der Papstliturgie glaubten die Franken, die authentische römische Liturgie vor sich zu haben. Der Kunstgesang der „Vitaliani“ am Lateran war für sie der „cantus romanus“. Diese „neue“ päpstliche Liturgie war unter Gregor II. (715-731) kodifiziert worden. Die Kopien der römischen Gesangbücher, die anschließend in den fränkischen Norden gelangten, wurden dort fälschlich Gregor dem Großen zugeschrieben. Die Gründung einer schola cantorum, die die zeitgenössischen Chronisten nicht einmal für erwähnenswert hielten und die in der Tat eine pastorale Maßnahme von bloß lokaler Bedeutung war, wurde im Kontext der karolingischen Liturgiereform zu einer Unternehmung von internationaler Tragweite hochstilisiert; Gregor galt fortan fälschlich als der Urheber des der römischen, das heißt der päpstlichen Liturgie eigenen Liturgiegesangs. In Rom beriefen sich im Gegenzug die Hüter des alt-römischen Gesangs nun ebenfalls auf die Autorität Gregors und reklamierten ihn als dessen maßgeblichen Förderer und schöpferischen Neuorganisator. Von beiden Seiten wurde unserem Papst in dieser Sache viel mehr zugeschrieben, als die Quellen hergeben. Deren unvoreingenommene Interpretation führt schließlich zu der ernüchternden Feststellung von Stephen J. P. Van Dijk. Diese lautet: Es gibt keine wirkliche Verbindung zwischen Gregor dem Großen und dem Gregorianischen Gesang. 48 4. Die katholische Kirche: Im Glauben eins und vielgestaltig in ihren Liturgien Unsere Suche nach authentischen Spuren Gregors des Großen in der römischen Liturgie hat ein eher mageres Ergebnis erbracht. Wenn die römische Liturgie unter seinem Namen in den folgenden Jahrhunderten faktisch zur Einheitsliturgie des lateinischen Westens geworden ist (mit den bekannten Ausnahmen des Ambrosianischen Ritus und des letzten Restes, der von der einst glanzvollen altspanischen Liturgie in Toledo überlebt hat), so lag das völlig außerhalb seiner Intention. Gregor verfolgte bei seinen moderaten Eingriffen in das gottesdienstliche Leben keine liturgiestrategischen, sondern pastorale Ziele. Die Einrichtung der großen Bittprozession, die als „litania maior“ im Römischen Messbuch bis zur Liturgiereform des Zweiten Vatikanums erhalten geblieben ist, war durch eine lokale Katastrophe veranlasst und ursprünglich eine rein römische Angelegenheit. Andere Bischöfe trafen in vergleichbaren Umständen ähnliche Maßnahmen. So hatte gut 48 Vgl. S. J. P. Van Dijk O. F. M., Gregory (wie Anm. 47), 356. Liturgie im Werden 68 ein Jahrhundert vor Papst Gregor I. Bischof Mamertus von Vienne (um 470) für sein Bistum die Bitttage vor Christi Himmelfahrt angeordnet. 49 Gregor dem Großen wäre es nie in den Sinn gekommen, die römische Liturgie zur Richtschnur für das gottesdienstliche Leben anderer Kirchen zu machen. Der Papst respektierte nicht nur ohne jede Einschränkung, und zwar keineswegs nur aus diplomatischen Gründen, sondern aus seinem Kirchenverständnis 50 heraus, die Eigenverantwortung der orientalischen Patriarchen von Konstantinopel, Alexandrien und Antiochien für das liturgische Leben ihrer Jurisdiktionsbezirke. Er machte diesbezüglich auch den bischöflich geleiteten Ortskirchen im Patriarchat des Westens keine Vorschriften. Die Kirchen Galliens feierten die Liturgie nach dem altgallischen Ritus. 51 Der Metropolit von Arles, der so etwas wie ein Groß- Erzbischof für Gallien war und als päpstlicher Vikar fungierte, erhielt zwar von Gregor das Pallium übersandt; gelegentlich empfing er auch freundliche Aufforderungen, in bestimmten disziplinären und kirchenpolitischen Angelegenheiten tätig zu werden, etwa im Kampf gegen die Simonie oder zur Unterstützung der von Rom nach England reisenden Missionare. Aber was den Gottesdienst angeht, mischte der Papst sich nicht ein. Wie aber war es in England? 52 Steht nicht schon bei Egbert von York (732-766), dass Augustinus, der, von Gregor gesandt, mit einer Gruppe von Mönchen aus dem römischen Andreas-Kloster zu den Angelsachsen kam, auch „gregorianische“ Liturgiebücher im Gepäck hatte? Die Kirche von England scheint also von Anfang an römische Liturgie gefeiert zu haben. Die liturgiegeschichtliche Forschung sieht das heute anders. Sie geht davon aus, dass das gottesdienstliche Leben in England zu Augustins Zeit eher dem gallischen Brauch auf dem Festland ähnelte als dem römischen Ritus. Erst gegen Ende des siebten Jahrhunderts hat sich die römische Art in Britannien durchgesetzt. Gregors liturgische Instruktionen werden den gleichen toleranten Geist geatmet haben wie seine bekannte Anweisung, dass die heidnischen Kultgebäude nicht zerstört werden sollten, sondern durch Lustration und Dedikation für die Feier des christlichen Gottesdienstes in Gebrauch zu nehmen seien. 53 Auf dieser Linie wird er seinen Missionaren geraten haben, die vorgefundenen liturgischen Gewohnheiten zu tolerieren oder aus anderen liturgischen Traditionen das auszuwählen, was der englischen Art am besten entsprach. 54 Gregor blieb seinem Grundsatz 49 Gregorius Tur., Historia Francorum II, 34; vgl. A. Heinz, Art. Bittprozessionen I. Liturgisch, in: LThK 2 (Freiburg 3 1994), 512f. 50 Vgl. M. Fiedrowicz, Das Kirchenverständnis Gregors des Großen, Freiburg i. Br. 1995; Ders., Gregor der Große ein Verkünder der Kirche, in: J. Arnold u. a. (Hg.), Väter der Kirche. Ekklesiales Denken von den Anfängen bis in die Neuzeit (FS Hermann Josef Sieben SJ), Paderborn u. a. 2004, 521-531. 51 Zu dieser zur Zeit Gregors des Großen verbreitetsten lateinischen Liturgie vgl. M. Smyth, La liturgie oubliée. La prière eucharistique en Gaule antique et dans l’Occident non romain, Paris 2003. 52 Vgl. zu den folgenden Ausführungen Ashworth, Prayers (wie Anm. 32), 111-114. 53 Vgl. Registrum ep. XI, 56 (ed. Norberg 961-962). 54 So explizit Gregor in seiner Antwort an Bischof Augustinus von Canterbury; vgl. Registrum ep. XI 56 a: MGH Epist. II, 334: „Sed mihi placet, sive in Romana, sive in Galliarum, seu in Papst Gregor der Große (590-604) und die römische Liturgie 69 treu, den er schon zu Anfang seines Pontifikats in einem Brief an Bischof Leander von Sevilla (†600) prägnant formuliert hatte: „In una fide nil officit sanctae ecclesiae consuetudo diuersa.“ 55 Das bedeutet: Wenn der Glaube nur derselbe ist, dann schadet eine unterschiedliche liturgische Praxis nicht! Diese goldene Regel hat ihren „Sitz im Leben“ im Kontext der Taufliturgie. Gregor befasste sich mit der Taufe ausführlich in einem Brief an die Bischöfe der iberischen Halbinsel. 56 Von dort hatte ihn die Anfrage erreicht, wie zu verfahren sei, wenn Nestorianer katholisch werden wollten. Sind sie zu taufen oder genügt die öffentliche Ablegung des katholischen Glaubensbekenntnisses? Die Antwort hängt, wie Gregor erläutert, von der Art der Taufe ab. Konvertiten, die „im Namen der Dreifaltigkeit“ (in nomine trinitatis) getauft wurden, sind durch eine rituelle Handlung oder durch die „professio fidei - das Glaubensbekenntnis“ in die katholische Gemeinschaft aufzunehmen. Wer aber die Taufe in einer Gruppe empfangen hat, die den Glauben an den dreifaltigen Gott ablehnt, muss ordnungsgemäß getauft werden, da er keine gültige Taufe empfangen hat. Was den Ritus betrifft, mit dem Arianer, Monophysiten oder Nestorianer, die als getauft galten, aufgenommen werden sollen, erinnert Gregor daran, dass die liturgische Praxis diesbezüglich ganz unterschiedlich ist: Der Westen bevorzugt die Handauflegung, der Osten vollzieht eine Salbung mit Myron, andere Kirchen fordern eine Absage und das Bekenntnis zum katholischen Glauben. Diesbezüglich drängte Gregor bezeichnenderweise nicht auf Vereinheitlichung: Die spanischen Bischöfe sollten nach dem Eigenbrauch ihrer jeweiligen Ortskirche verfahren (seruatis eis propriis ordinibus). Eine solche liturgische Eigentradition respektierte Gregor auch im Kernbereich der Taufliturgie. Damit sind wir wieder beim „Sitz im Leben“ seines Grundsatzes einer legitimen liturgischen Pluralität bei Wahrung der Einheit im Glauben. Bischof Leander von Sevilla, Gregors Freund seit ihrer gemeinsamen Zeit in Konstantinopel und einer der großen Väter des mozarabischen Ritus, konnte Anfang des Jahres 591 dem Papst die erfreuliche Mitteilung machen: der Westgotenkönig Rekkared ist vom Arianismus zum Katholizismus konvertiert. In diesem Zusammenhang erbittet Leander einen Rat hinsichtlich der Taufpraxis seiner Kirche: Die Arianer haben durch dreimaliges Untertauchen getauft, bei den Katholiken war nur ein einmaliges Untertauchen üblich. Wie soll man es in Zukunft halten? 57 Gregor sagt zunächst, wie die römische Kirche es hält: In Rom tauft man durch eine „trina mersio - ein dreimaliges Untertauchen“. So wird das Mitsterben und qualibet Ecclesia, aliquid invenisti quod plus omnipotenti Deo possit placere, sollicite eligas et in Anglorum Ecclesia, quae adhuc ad fidem nova est institutione preaecipua, quae de multis Ecclesiis colligere potuisti, infundas … Ex singulis quibusque Ecclesiis quae recta sunt elige et haec quasi in fasciculo collecta apud Anglorum mentes in consuetudinem dispone.“; zur umstrittenen Echtheit vgl. P. Meyvaert, Les ‚Responsiones’ de S. Grégoire le Grand à s. Augustin de Cantebéry, in: RHE 54 (1959) 879-894. E. J. Lengeling hat an diese Stelle in seinem Kommentar zu SC 37 erinnert: Ders., Die Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die heilige Liturgie (Lebendiger Gottesdienst 5/ 6), Münster 1964, 88. 55 Registrum ep. I. 41 (ed. Norberg, 47f.). 56 Vgl. ebd., XI, 52 (ed. Norberg 952-956). 57 Vgl. oben Anm. 55. Liturgie im Werden 70 Mitauferstehen mit Christus symbolisiert: Drei Tage lag er im Grab; am dritten Tag ist er auferstanden. Die Dreizahl ist auch ein Hinweis auf die drei Personen in der einen Gottheit. Doch auch die einmalige Tauchung hat nach Gregor ihre theologische Bedeutung, insofern sie die Einzigkeit Gottes betont. Soll die spanische Kirche in Zukunft dem römischen Vorbild folgen? Dazu rät Gregor nicht. Es geht ihm nicht um die Verbreitung römischer Liturgiebräuche. Er argumentiert pastoral. Gregor teilt Bischof Leanders Überlegung, dass es wohl besser sei, in Spanien fortan durch eine einmalige „mersio“ zu taufen. Auf diese Weise sollte eine mögliche Verwechslung mit der arianischen Taufe ausgeschlossen und der Eindruck vermieden werden, die arianische Praxis habe über die katholische gesiegt. Ein letztes Beispiel soll Gregors tolerante Grundeinstellung auf diesem Sektor illustrieren. Es ist eine typisch römische „consuetudo“, dass die Firmspendung dem Bischof vorbehalten bleibt. 58 Im Osten und zur Zeit Gregors auch nahezu im ganzen lateinischen Westen war es, sofern die Initiationsfeier nicht vom Bischof selbst geleitet wurde, Sache des taufenden Priesters, sofort im Anschluss an die Taufe die Firmung zu spenden. Im Metropolitanbezirk des Bischofs von Rom aber galt die Regel: Die Priester auf dem Land taufen zwar die Kinder und spenden ihnen auch die Taufkommunion, die Firmung aber bleibt dem Bischof reserviert und wird aufgeschoben, bis dieser sie bei der nächsten Visitation nachholt. Für Gregors Haltung hinsichtlich der römischen Firmpraxis ist seine Korrespondenz mit Bischof Januarius von Cagliari auf Sardinien aufschlussreich. 59 Sardinien hatte wegen der räumlichen Nähe und des Landbesitzes der römischen Kirche auf der Insel enge Beziehungen zu Rom. Das erklärt, weshalb Gregor sich häufiger als üblich in Fragen des dortigen kirchlichen Lebens einmischte. In dem erwähnten Brief macht er den Bischof von Cagliari auf zwei Dinge aufmerksam: 1. Die sardischen Bischöfe sollten sorgfältiger auf die Unwiederholbarkeit der Firmung achten: Die Getauften dürften nicht zwei Mal mit Chrisam gesalbt werden. 2. Allein die Bischöfe, nicht die Priester, sollten die Firmsalbung vollziehen. Der sardische Episkopat war nun aber nicht bereit, in diesem Punkt seine Eigentradition ohne Weiteres dem römischen Brauch anzupassen. Es spricht für die oft gerühmte pastorale Weisheit Papst Gregors des Großen, dass er nicht insistierte. In einem abermaligen Brief an Bischof Januarius teilte er diesem mit, dass es bei der Firmung durch den taufenden Priester bleiben könne, wenn der Bischof nicht anwesend sei. 60 Erst in der Zeit der karolingischen Reform setzte sich die besondere römische Firmpraxis im ganzen Westen durch. 5. Schluss Seit der ersten Jahrtausendwende gab es viele einflussreiche Kirchenmänner, die den Traum von der römischen Liturgie als einer Einheitsliturgie für die ganze katholische Weltkirche geträumt haben. 61 Sie können sich aber keineswegs auf 58 Vgl. A. Heinz, Die Feier der Firmung nach römischer Tradition, in: LJ 39 (1989) 67-88. 59 Vgl. Registrum ep. IV, 9 (ed. Norberg 225-227). 60 Vgl. Registrum ep. IV, 26 (ed. Norberg 244-246). 61 Vgl. Balth. Fischer, Der Traum von einer Welt-Einheitsliturgie, in: LJ 27 (1977) 129-135. Papst Gregor der Große (590-604) und die römische Liturgie 71 Papst Gregor den Großen berufen. Dagegen hat das Zweite Vatikanische Konzil ihn ganz auf seiner Seite, wenn es erklärt, dass in der katholischen Weltkirche allen rechtlich anerkannten Riten „gleiches Recht und gleiche Ehre“ gebühren (vgl. SC 4). Obwohl Gregor vom Vorrang der römischen Kirche überzeugt war und keinen Zweifel aufkommen ließ, dass auch die Kirche von Konstantinopel, der Residenzstadt des Kaisers, diesen Vorrang des Apostolischen Stuhles in Rom respektieren muss, leitete er daraus keinerlei liturgischen Hegemonieanspruch ab. Er war auch nicht der Meinung, die römische Mutterkirche habe stets die anderen Ortskirchen zu belehren. In jenem eingangs angeführten Brief an Bischof Johannes von Syrakus, in dem Gregor die Gerüchte zurückweist, er habe die römische Liturgie byzantinisiert, sagt der Papst am Ende wörtlich: „Wenn es in jener Kirche (der Kirche von Konstantinopel) oder in einer anderen etwas Gutes gibt, so bin ich (…) bereit, sie darin nachzuahmen. Denn töricht ist derjenige, der sich dadurch für den ersten hält, dass er es verschmäht, gute Dinge, die er (bei anderen) sieht, selbst zu lernen.“ 62 Papst Johannes Paul II. (1978-2005) hat anlässlich des 25. Jahrestages der Verabschiedung der Liturgiekonstitution die „Inkulturation“ der erneuerten römischen Liturgie als eine zentrale Zukunftsaufgabe der Kirche bezeichnet. 63 Die römische Kirche wäre gut beraten, wenn sie sich bei ihren Bemühungen, den römischen Ritus der kulturellen Eigenart und der Überlieferung der verschiedenen Völker anzupassen (vgl. SC 37-40), nicht von einer zweifelhaften Einheits-Mystik bestimmen ließe. Sie sollte vielmehr den weisen Grundsatz Papst Gregors beherzigen: „In una fide nil officit sanctae ecclesiae consuetudo diuersa - Ist der Glaube derselbe, schadet unterschiedlicher (liturgischer) Brauch der heiligen Kirche nicht.“ 62 Registrum ep. IX, 26 (ed. Norberg 586-587): „Si quid boni uel ipsa [sc. ecclesia Constantinopolitana] uel altera ecclesia habet, ego et minores meos, quos ab illicitis prohibeo, in bono imitari paratus sum. Stultus est enim qui in eo se primum existimat, ut bona quae uiderit discere contemnat.“ 63 Vgl. Apostolisches Schreiben „Vicesimus quintus annus“, in: AAS 81 (1989) 897-918, hier Nr. 16. B Messfrömmigkeit und Eucharistieverehrung 4 Eucharistische Frömmigkeit in einem mittelalterlichen Frauenkloster. Das Zeugnis eines Gebetbuchs (um 1300) aus der ehemaligen Zisterzienserinnenabtei St. Thomas (Bistum Trier) Dem 13. Jahrhundert kommt in der Geschichte der eucharistischen Frömmigkeit eine zentrale Bedeutung zu. Ein tiefgreifender Wandel vollzieht sich. Nicht mehr so sehr das Empfangen der heiligen Speise, sondern das Anschauen des Herrenleibes prägt fortan die eucharistische Frömmigkeit. Der Kommunionempfang ist um diese Zeit so sehr zurückgegangen, dass das Vierte Laterankonzil 1215 die Vorschrift erlassen musste, wenigstens einmal im Jahr, und zwar zu Ostern, müsse jeder zum Vernunftgebrauch gekommene Gläubige die Eucharistie empfangen. Dagegen blüht nun die Anbetungsfrömmigkeit auf. Es ist die Zeit, in der „das Verlangen, die Hostie zu schauen“, 1 neue Formen des eucharistischen Kultes hervorbringt. Um 1200 kommt in Paris der Brauch auf, bei der Wandlung die konsekrierte Hostie hochzuheben und den Blicken der Gläubigen darzubieten. 1246 feiert man in Lüttich zum ersten Mal das Fronleichnamsfest. Von dieser neuen Art der Eucharistieverehrung blieb der Konvent der Zisterzienserinnen von St. Thomas an der Kyll nicht unberührt. Zwar scheint das Fronleichnamsfest im nahen Trier erst nach 1315 eingeführt worden zu sein. 2 Die erste Fronleichnamsprozession zog sogar erst im Jahre 1341 durch die Straßen der Bischofsstadt. 3 Doch wissen wir andererseits, dass es gerade die Frauenklöster im [Erstveröffentlichung: Eucharistische Frömmigkeit bei den Zisterzienserinnen von St. Thomas nach dem Zeugnis einer um 1300 entstandenen Gebetbuchhandschrift, in: St. Thomas an der Kyll. Zeit und Geist. Hg. vom Bischöflichen Priesterhaus St. Thomas, St. Thomas (Trier) 1980, 89-108. Leicht überarbeiteter Beitrag in der Festschrift anlässlich des 800-jährigen Grundungsjubiläums des ehemaligen Frauenklosters.] 1 So der Titel der noch immer grundlegenden Untersuchung von E. Dumoutet, Le désir de voir l’Hostie et les origines de la dévotion au Saint-Sacrement, Paris 1926. Zu den folgenden Ausführungen vgl. besonders M. C. Hontoir OCR, La dévotion au Saint-Sacrement chez les premiers Cisterciens (XII e -XIII e siècle), in: Studia Eucharistica, Antwerpen 1946, 132-156. 2 Vgl. A. Kurzeja, Der älteste Liber Ordinarius der Trierer Domkirche (LQF 52), Münster 1970, 28f. 3 Vgl. J. J. Blattau, Statuta synodalia, ordinationes et mandata archidioecesis Trevirensis, 9 Bde., Treviris 1844-1859, I (1844), 184-188. [Dazu jetzt A. Heinz, Balduin von Luxemburg - Erzbischof von Trier, in: Balduin aus dem Hause Luxemburg. Erzbischof und Kurfürst von Trier. Hg. von den Bistümern Luxemburg und Trier. Redaktion V. Wagner und B. Schmitt, Luxemburg 2009, 11-85, hier 47-51.] Messfrömmigkeit und Eucharistieverehrung 74 alten Erzbistum Trier waren, die das neue eucharistische Hochfest schon früher annahmen. Die selige Gertrud von Altenberg bei Wetzlar (heute Bistum Limburg) - sie war die jüngste Tochter der hl. Elisabeth von Thüringen - veranlasste als Meisterin des dortigen Prämonstratenserinnenstiftes schon 1270 die Feier des Fronleichnamsfestes in ihrem Konvent. 4 Vor Altenberg dürfte bereits das junge Dominikanerinnenkloster im luxemburgischen Marienthal das Fronleichnamsfest gefeiert haben. Aus der Amtszeit der zweiten Priorin, der seligen Yolanda von Vianden (1258-1283), ist uns nämlich eine liturgische Handschrift erhalten, die Gesänge aus dem Stundengebet des Fronleichnamsfestes enthält und damit verbürgt, dass Fronleichnam mit Sicherheit vor 1283 in diesem Frauenkloster gefeiert wurde. 5 Diese Beobachtung ist deshalb in unserem Zusammenhang von Bedeutung, weil es nachweislich Verbindungen zwischen St. Thomas an derKyll und Marienthal gab. Die Grafentochter aus Vianden, Yolanda, sollte, wäre es nach dem Wunsch ihrer Familie gegangen, in St. Thomas bei den „grauen Schwestern“ (Zisterzienserinnen) eintreten. Dort nämlich war eine Verwandte Yolandas - sie selbst nennt sie ihre „Muhme“ - um die Mitte des 13. Jahrhunderts Äbtissin. 6 Angesichts der räumlichen Nähe der Zisterzienserinnenabtei im Kylltal zum Lütticher Raum, wo das neue eucharistische Hochfest entstanden ist, und angesichts der Austauschbeziehungen mit dem luxemburgischen Marienthal, wo das Fest bereits vor 1283 bezeugt ist, überrascht es nicht, dass die Zisterzienserinnen von St. Thomas relativ früh das neue Sakramentsfest in ihrem Konvent gefeiert haben, lange bevor Fronleichnam 1338 durch Erzbischof Balduin von Luxemburg (1308-1354) allgemein als Trierer Bistumsfest eingeführt worden ist. Die Feier in St. Thomas bezeugt ein auf uns gekommenes Zisterzienserinnengebetbuch aus der Zeit um 1300. 7 In dem darin enthaltenen Verzeichnis der Kirchenfeste findet sich auch das Fronleichnamsfest verzeichnet: „de corpore christi“ (fol. 187 v ). Aus dem Kylltalkloster stammt damit die früheste bisher bekannte Bezeugung der Fronleichnamsfeier im engeren Trierer Raum. Texte aus der Fronleichnamsmesse, etwa die Sequenz „Lauda Sion“, oder Stücke aus dem Festoffizium, begegnen allerdings 4 Vgl. L. Drehman, Art. Gertrud von Altenberg, in: LThK 4 (Freiburg 2 1960), 760. 5 Vgl. C. Lambot, L’Office de la Fête-Dieu. Aperçus nouveaux sur ses origines, in: RBen 54 (1942) 61-123, hier 68f. 6 Vgl. Das „Yolanda“-Epos. Bruder Hermanns Dichtung im Urtext mit einer metrischen Übersetzung und einer historisch-literarischen Einführung von P. Gregoire, Luxemburg 1979, 246f. [Vgl. jetzt auch: A. Heinz, Das Yolanda-Epos (um 1290) als frömmigkeitsgeschichtliches Zeugnis, in: T. Berger - A. Gerhards (Hg.), Liturgie und Frauenfrage (Pietas Liturgica 7), St. Ottilien 1990, 155-180; Ders., Zeittypische Züge in der Frömmigkeit Yolandas von Vianden (1231-1283); Nachdruck in diesem Band. 7 Hs. 1149/ 451 der Stadtbibliothek Trier aus der Zeit um 1300; zu ihrer Charakterisierung vgl. W. Jungandreas, Ein moselfränkisches Zisterzienserinnengebetbuch im Trierer Raum um 1300: AMRhKG 9 (1957) 195-213; A. Heinz, Die Zisterzienser und die Anfänge des Rosenkranzes, in: ACi 33 (1977) 262-309, hier 266-271. Die von W. Jungandreas gebotene Zuweisung der einzelnen Teile an insgesamt 17 verschiedene Hände halten wir in manchen Punkten für korrekturbedürftig. Die Hs. dürfte erst nachträglich aus verschiedenen Einzelstücken zusammengefügt worden sein, was man z. B. aus dem mehrmaligen Vorkommen der gleichen Texte schließen darf. Eucharistische Frömmigkeit in einem mittelalterlichen Frauenkloster 75 noch an keiner Stelle der in Rede stehenden Handschrift. Auch die neue Welle der Anbetungs- und Schaufrömmigkeit hat in den eucharistischen Texten unserer Gebetbuchhandschrift noch kaum Eingang gefunden. Die Eucharistiefrömmigkeit der Zisterzienserinnen im Kylltal ist um diese Zeit noch in erster Linie Mess- und Kommunionfrömmigkeit. Die eucharistischen Texte im Rahmen der Gesamthandschrift Gebete zum Themenkreis „Eucharistie“ begegnen uns in unserem Zisterzienserinnengebetbuch aus St. Thomas in zwei geschlossenen Textblöcken, die von ihrem Inhalt her als Kommunionandachten charakterisiert werden können. Die erste Gruppe eucharistischer Texte findet sich in dem großen, von ein und derselben Hand geschriebenen Mittelteil der Hs. (fol. 86 r -96 r ), wohl mit Bedacht eingeordnet zwischen Gebeten zum Thema Inkarnation und Passion. Die Eucharistie verbindet ja beide Aspekte des in Christus verwirklichten Erlösungsmysteriums. In ihr setzt sich die Herablassung des Gottessohnes fort, zugleich vergegenwärtigt sie aber auch den am Kreuz geopferten und am Ostermorgen auferstandenen Herrn. Die zweite, zum großen Teil aus denselben Elementen zusammengestellte Kommunionandacht unserer Hs. findet sich fol. 176 r -181 v . Auch dieser Teil ist von einer Hand geschrieben, die später wieder auf fol. 209 v begegnet, wo isoliert vom Kontext das Elevationsgebet „Salve sancta caro dei - Sei gegrüßt, heiliger Gottesleib“ auftaucht. Als Nachtrag, wiederum von einer anderen Hand, finden wir gegen Ende des Gebetbuchs (fol. 234 r -234 v ) noch einmal einige eucharistische Texte, die aber lediglich Stücke aus den beiden erwähnten Kommunionandachten wiederholen. Gebete zur Erhebung der Eucharistie nach der Wandlung Es wurde bereits erwähnt, dass um die Wende zum 13. Jahrhundert ein neuer Ritus in der Messfeier aufkam: die Elevation. Der Priester kommt dem Verlangen des Volkes entgegen und zeigt unmittelbar nach dem Aussprechen der Abendmahlsworte über das Brot die konsekrierte Hostie hocherhoben den Gläubigen. Diese Erhebung des Sakraments wurde vom mittelalterlichen Menschen als der Höhepunkt der Messe schlechthin empfunden. Der Augenblick, in dem man den Herrenleib schauen durfte, war die Stelle der Messe, an der das Volk „am innigsten gebetet, am glühendsten seinen Glauben zum Ausdruck gebracht hat“. 8 Man sprach Begrüßungs- und Anbetungsgebete in der Stille; nicht selten wurde im Augenblick der Elevation ein Sakramentshymnus angestimmt; mancherorts sprachen die Pries- 8 P. Browe, Die Elevation in der Messe, in: JLW 9 (1929) 20-66. Zum Ritus allgemein vgl. K. L. Quirin, Die Elevation zur heiligen Wandlung in der Römischen Messe. Ihre Entwicklung und Geschichte bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, Mainz 1952 (Diss. maschinenschr.); A. L. Mayer, Die heilbringende Schau in Sitte und Kult, in: Heilige Überlieferung. Festschrift I. Herwegen, Münster 1938, 234-262. Zum Weiterleben der Elevationsfrömmigkeit im westtrierischen Raum vgl. A. Heinz, Die sonn- und feiertägliche Pfarrmesse im Landkapitel Bitburg-Kyllburg der alten Erzdiözese Trier (TThSt 34), Trier 1978, 342-352. Messfrömmigkeit und Eucharistieverehrung 76 ter selbst den Gläubigen unmittelbar nach der Wandlung Gebete vor. Ein typisches Beispiel für diese Gattung der Elevationsgebete enthält unsere Hs. in Gestalt des Reimgebets „Salve sancta caro dei - Sei gegrüßt, heiliger Gottesleib“. 9 In spätmittelalterlichen französischen Stundenbüchern gehört der Text zu den beliebtesten Privatgebeten beim Erheben der Gestalten. In der gleichen Verwendung begegnen wir dem Text auf deutschem Boden in einer um die Wende zum 15. Jahrhundert entstandenen Gebetssammlung aus dem Bodenseekloster Reichenau. 10 Unsere Hs. (fol. 209 v ) bietet die folgende Fassung: „Salue sancta caro dei per quam salui fiunt rei. Seruos tuos redemesti dum in cruce pependisti. Unda que de te manauit a peccato nos saluauit Sancta caro et me munda sanguis et benigna unda munda nos ab omni sorde et ab infernali morte. Tu qui es salutis ortus da mihi tuum corpus in exitu mortis. Libera me deus fortis a leone rugiente a dracone furiente et da mihi sedem iustorum qui uiuis et regnas (in secula seculorum).“ (Sei gegrüßt, heiliger Gottesleib, durch den die Schuldigen Heil erlangen. Du hast deine Diener erlöst, als du am Kreuz gehangen hast. Der Quell, der ausging von dir, hat uns von der Sünde geheilt. Heiliger Leib, reinige auch mich. Blut und gnädige Flut, reinige uns von allem Schmutz und vor dem Höllentod. Du, der du des Heiles Ursprung bist, gib mir deinen Leib in meiner Todesstunde. Rette mich, starker Gott, vor dem Rachen des Löwen, vor der Wut des Drachen und gib mir den Platz der Gerechten, der du lebst und herrschst in alle Ewigkeit.) Das Gebet bleibt nicht bloß beim Gedanken der Realpräsenz stehen. Angesichts des eucharistischen Brotes erinnert sich die Beterin an das erlösende Kreuzesleiden, an den heilbringenden Strom von Blut und Wasser aus der Seitenwunde, woran sich die Bitte knüpft, in ihrer Todesstunde möge Christus, der Heilbringer, ihr seinen Leib reichen, sie vor dem „brüllenden Löwen“ (vgl. 1 Petr 5,8) retten und ihr einen Platz unter den Gerechten geben. Die „Kommunionandacht“ im Mittelteil unserer Hs. wird eröffnet mit einem ebenfalls zur Erhebung des Herrenleibes zu sprechenden Gebet („Ad corpus domini oracio“ fol. 86 r -87 r ). Es beginnt mit einer Begrüßung („Ave redemptor mundi - Sei gegrüßt. Erlöser der Welt“), die sich aber nicht - wie es bei einer jüngeren Schicht von Elevationsgebeten in der Regel geschieht - unmittelbar den beiden Gestalten zuwendet, sondern die Person des Erlösers anspricht. Wenn der Priester den Herrenleib erhebend, das Opfer Christi vor die Augen des Vaters stellt, empfiehlt sich die Beterin mit ihren Anliegen in die Darbringung des Erlösungsopfers. 9 Text bei F. J. Mone, Lateinische Hymnen des Mittelalters, 3 Bde., Freiburg i. Br. 1853-1855, I, Nr. 215; vgl. auch AHMA 41, 197. 10 Vgl. A. Wilmart, La tradition litteraire et textuelle de l’Adoro te devote, in: Auteurs spirituels et textes devots du moyen-âge latin, Paris 1971 (Nachdruck der Ausgabe von 1932), 361-414, hier 367. Eucharistische Frömmigkeit in einem mittelalterlichen Frauenkloster 77 Das Gebet lässt die typischen Bitten erkennen, die immer wieder in den Elevationsgebeten ausgesprochen werden, wobei allerdings die Tatsache bemerkenswert ist, dass die Intentionsreihe mündet in einen feierlichen Lobpreis. Hier weiß man noch etwas davon, dass das Beten im Herzen der Messe im letzten Danksagung, Eucharistia, sein muss an Gott, den Schöpfer, den Retter und Lebenspender: 11 „Sei gegrüßt, Erlöser der Welt. Du hast dich gewürdigt, für uns diesen menschlichen Leib aus der unbefleckten Jungfrau anzunehmen, und es war dein Wille, dieses heilige Blut aus deiner heiligen Seite fließen zu lassen, als du am Kreuz hingst, unser Heil und unsere Rettung! Wahrer Leib Christi, ich rufe zu dir, ich bete dich an und lobe dich aus allen meinen Kräften und mit meinem ganzen Gemüte. Dir empfehle ich meinen Leib und meine Seele, mein ganzes Leben und mein Lebensende, auch deine Diener und Dienerinnen, alle meine Angehörigen, Verwandten, Nachbarn und Wohltäter. Schütze uns, Herr, durch die Kraft dieses heiligen Sakramentes deines Leibes und Blutes vor allen Bedrängnissen, Nöten und Versuchungen, vor der Macht des Teufels, vor einem unvorhergesehenen Tod. Behüte uns auch vor den Strafen der Hölle. Gib uns, deinen Dienern, ein umkehrbereites Herz und ein reines Gewissen, klare Erkenntnis und ein aufrichtiges Bekenntnis, eine Frist zu wahrer Buße und Besserung des Lebens, die Vergebung aller Sünden. Lass uns an unserem Sterbetag 11 Stadtbibliothek Trier, Hs. 1149/ 451, fol. 86 r -87 v : „Aue redemptor mundi, qui pro nobis dignatus es hanc carnem de immaculata uirgine sumere et hunc sanctum sanguinem de sanctissimo latere effundere uoluisti, dum penderes in cruce, salus nostra, redemptio nostra. Uerum Corpus xpi te peto, te adoro, te laudo ex omnibus uiribus meis et ex tota mente mea, tibique corpus et animam meam commendo et om/ 86 v / nem uitam, finemque uite mee et famulos et famulas tuas et omnes parentes et cognatos et proximos et benefactores meos. Protege nos, domine, per uirtutem huius sacramenti ab omnibus tribulacionibus et angustiis et temptacionibus, a potestate diaboli, a subitanea et improuisa morte, a penis inferni defende, tuorum emendacionem, consciencie puritatem, bonam memoriam, confessionem puram, spacium vere penitencie et emendacionem uite,/ 87/ remissionem omnium peccatorum nobis concede et in die exitus nostri perceptionem huius sanctissimi corporis et sanguinis tui digne percipere; fidelibusque defunctis indulgenciam concede, quatenus te miserante ad eternam beatitudinem ualeamus peruenire. Amen. Gloria tibi patri, qui me creasti. Gloria tibi filio, qui me recreasti. Gloria tibi spiritui sancto, qui me uiuificasti. Sicut erat etc.“ Messfrömmigkeit und Eucharistieverehrung 78 deinen allerheiligsten Leib und dein allerheiligstes Blut würdig empfangen. Den verstorbenen Gläubigen gewähre Verzeihung, auf dass wir alle durch dein Erbarmen zur ewigen Seligkeit gelangen. Amen. Ehre sei dir, Vater, der du mich erschaffen hast; Ehre sei dir, Sohn, der du mich neu geschaffen hast; Ehre sei dir, Heiliger Geist, der du mich lebendig gemacht hast. Wie im Anfang, so auch jetzt und alle Zeit und in Ewigkeit. Amen.“ Der üblichen Art der Elevationsgebete entspricht stärker der im Anschluss an dieses Gebet gebotene Alternativtext. Er gehört zu den verbreitetsten Grußworten im Augenblick der Erhebung des „Fronleichnams“. Man sprach das Gebet auch häufig unmittelbar vor dem Kommunionempfang. 12 Unsere Hs. bietet die folgende Variante: „Sei gegrüßt, hochheiliger Leib Christi, du bist für mich auf ewig die höchste Wonne und süß über alles. Sei gegrüßt, lebenspendende Speise der Engel und Menschen. Sei gegrüßt, Nahrung für das ewige Heil. Sei gegrüßt, heiliges Blut Christi. Sei gegrüßt, Preis für die Erlösung der Welt. Sei gegrüßt: du Nachlass der Sünden. Sei gegrüßt: du ewiges Heil. Sei gegrüßt: du immerwährendes Leben. Amen.“ Diese Begrüßungen des Sakramentes haben ihren „Sitz im Leben“ bei der Erhebung der Eucharistie nach der Konsekration. An sie schließt sich im Rahmen unserer Kommunionvorbereitungsandacht ein längeres Gebet an, das sich bei näherem Zusehen als eine Zusammenfassung der Hauptgedanken des Kanons zu erkennen gibt. Die Beterin schließt sich also nach der Wandlung dem stillen Gebet des Priesters an. Wie im Hochgebet richtet sich das Nachwandlungsgebet an den Vater, dem die Beterin das Opfer des Sohnes vorstellt als stellvertretendes Lob- und Sühnopfer für das eigene Ungenügen. Die Gemeinschaft der Heiligen kommt in den Blick. Bei den Bitten wird neben den persönlichen Anliegen auch für die Kirche, den Frieden und alle Verstorbenen gebetet. Das Gebet klingt aus in einem feierlichen Lobpreis, der die Wendungen des Gloria aufgreift und ein volkstümliches Gegenstück zur Schlussdoxologie des Hochgebets darstellt: 13 12 Vgl. A. Wilmart, Pour les prières de dévotion, in: Auteurs (wie Anm. 10), 13-25, hier 20. In unserer Hs. ist das Gebet zur Elevation (fol. 87 r ) und zur Kommunion (fol. 90 r ) vorgesehen. Der lateinische Text lautet (fol. 87 r -87 v ): „Ave sacratissima christi caro mihi in perpetuum summa suauitas et summa dulcedo. Aue uitalis angelorum et hominum refectio. aue salutis eterne refectio. Ave sacer sanguis xpi. aue redemptio mundi. aue remissio peccatorum. aue salus eterna. aue uita perhennis. amen.“ 13 Stadtbibliothek Trier, Hs. 1149/ 451, fol. 89 r : „Tibi laus, tibi gloria, tibi gratiarum actio, o domine uirtutum, o rex eterne glorie, o angele magni consilii, o unica spes salutis nostre, o creator et redemptor mundi, o uerus deus et uita eterna, pro istis et pro uniuersis beneficiis tuis benedicant te omnes angeli et sancti tui laudabilem et gloriosum in secula. Benedicant te celi et terra, Eucharistische Frömmigkeit in einem mittelalterlichen Frauenkloster 79 „Dir sei Lob, dir sei Ruhm, dir Danksagung, Herr der Mächte, König der ewigen Herrlichkeit, Bote des großen Ratschlusses und einzige Hoffnung unseres Heils, Schöpfer und Erlöser der Welt, wahrer Gott und ewiges Leben! Für diese und alle deine Wohltaten sollen dich alle deine Engel und Heiligen loben, dich, den Lobwürdigen und Ruhmreichen in Ewigkeit. Es sollen dich loben Himmel und Erde, die Meere und was in ihnen lebt. Denn du allein bist der Heilige, du allein der Herr, du allein der Höchste: Jesus Christus mit dem Heiligen Geist in der Herrlichkeit Gottes, des Vaters. Amen.“ Dieser Lobpreis gewinnt noch an Eindruckskraft, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Beterin diese Worte sprach, während der Priester am Ende des Kanons zum zweiten Mal, bei der sogenannten kleinen Elevation, Hostie und Kelch emporhob. Diese Erhebung gestaltete sich zu einem zweiten Zeigeritus, zu einer kleinen Elevation, aus. Im Blick hatte die Beterin die über dem Kelch erhobene Hostie. Ihr Lobpreis ist deshalb - anders als die Schlussdoxologie des Kanons - nicht an den Vater gerichtet, sondern an Christus. Gebete im Umkreis des Kommunionempfangs Der Kommunionempfang war während des 13. Jahrhunderts selbst in Klöstern eine große Seltenheit. Der Reformorden der Zisterzienser gehört zu den Gemeinschaften, die hierin eine Gegenbewegung einleiteten. Schon im 12. Jahrhundert gilt die Regel, die Schwestern des Ordens sollten im Jahr wenigstens sieben Mal kommunizieren, es sei denn, dem zuständigen Visitator erschiene eine noch häufigere Kommunionspendung angebracht. 14 Wie oft die Nonnen von St. Thomas zum Tisch des Herrn gingen, wissen wir nicht. Doch ist immerhin zu bedenken, dass zu der Zeit, als unser Gebetbuch geschrieben wurde, die Zisterzienserinnen Mechtild († um 1298) und Gertrud die Große († um 1302) in Helfta bei Eisleben zu einem möglichst häufigen Empfang der Kommunion ermunterten. In ihrem Kloster wurde an allen Sonn- und Feiertagen den kommunionwilligen Schwestern die Eucharistie gereich 15 Von der seligen Elisabeth von Schönau (†1164) ist bekannt, dass sie an allen höheren Feiertagen kommunizierte. 16 Hildegard von Bingen (†1179) mare et omnia que in eis sunt. Quoniam tu solus sanctus, tu solus dominus, tu solus altissimus ihesu xpe cum sancto spiritu in gloria dei patris. amen.“ 14 Vgl. P. Browe, Die häufige Kommunion im Mittelalter, Münster 1938, 91; Hontoir, Dévotion (wie Anm. 1), 144-148. 15 Vgl. Hontoir, Dévotion (wie Anm. 1), 146f. 16 Vgl. Browe, Kommunion (wie Anm. 14), 90f. Messfrömmigkeit und Eucharistieverehrung 80 empfing gewöhnlich einmal im Monat die Kommunion. 17 Angesichts dieser letzten Beispiele aus Frauenklöstern im alten Erzbistum Trier und der gerade bei den deutschen Zisterzienserinnen gepflegten Kommunionfrömmigkeit möchten wir annehmen, dass die Schwestern von St. Thomas häufiger als siebenmal im Jahr zur Kommunion gingen. An keiner Stelle unseres Gebetbuchs wird in diesem Punkt eine restriktive Tendenz spürbar. Unter den Rosenkranzklauseln unserer Hs. findet sich sogar die folgende: „Beim Abendmahl uns täglich als Speise für unseren Lebensweg gereicht.“ 18 Es wäre freilich zu gewagt, daraus auf die Praxis eines täglichen Kommunionempfangs zu schließen, was völlig aus dem Rahmen damaliger Kommuniongewohnheiten fallen würde. Ein wöchentliches Kommunizieren ist aber denkbar. Wir können davon ausgehen, dass die Zisterzienserinnen von St. Thomas um 1300 noch unter beiden Gestalten kommunizierten. Den Kommuniongebeten unserer Hs. geht nämlich eine Rubrik voraus, die angibt, welches Gebet vor dem Empfang des Herrenleibes („Antequam sumas corpus domini“) und welches vor dem Empfang des Blutes Christi („Ad sumendum sanguinem domini“) zu sprechen ist. Den Schwestern wurde noch der Kelch gereicht. 19 Was die von den Kommunikantinnen gesprochenen Gebete betrifft, so entsprechen sie weitgehend den Texten, die auch der zelebrierende Priester im Umkreis der Kommunion still zu rezitieren pflegte. 20 Zunächst sind es Worte der Begrüßung und der Verehrung, die die Schwestern beim Hinzutreten auf den Lippen haben. Sie wiederholen das schon zur Elevation gesprochene (fol. 90) „Ave sanctissima caro Christi, mihi summa suavitas et summa dulcedo! Aue uitalis angelorum et hominum refectio. Aue salutis eterne uera reparatio. - Sei gegrüßt, hochheiliger Leib Christi, du bist für mich auf ewig die höchste Wonne und süß über alles. Sei gegrüßt, lebenspendende Speise der Engel und Menschen. Sei gegrüßt, wahre Wiederherstellung des ewigens Heils.“ Unmittelbar vor dem Empfang spricht man das an dieser Stelle seit dem beginnenden 11. Jahrhundert als stilles Priestergebet bezeugte Psalmwort Ps 115,3f.: „Was soll ich dem Herrn vergelten für alles, was er mir getan? Den Kelch des Heiles will ich ergreifen und anrufen den Namen des Herrn! “ Vor dem Empfang der Hostie wird das Zitat entsprechend abgewandelt. An Stelle von „calicem salutaris accipiam“ heißt es „Panem coelestem accipiam - das Himmelsbrot will ich empfangen“. Wie beim Hinzutreten zum Empfang der Brotsgestalt, spricht man auch beim Hinzutreten zum Kelch Grußworte, die dem Heiligen Blut gelten: „Aue sacer sanguis Christi. Aue redemptio mundi. Aue salus 17 Vgl. ebd. 18 35. Clausula; vgl. Heinz, Zisterzienser (wie Anm. 7) . 19 Zwar sollte nach Ausweis der Zisterzienserstatuten (Statuta II, 477) vom Jahre 1261 an die Kommunion unter beiden Gestalten nur mehr den Altardienern gespendet werden. Doch dürfte diese Regelung nicht zu einer sofortigen Änderung der Praxis in allen Klöstern geführt haben. Die Kommunionandachten unserer Hs. sehen eindeutig Gebete zum Empfang des Kelches vor und bieten diese mit Femininumformen, woraus auf ihre Verwendung durch die Zisterziensernonnen geschlossen werden darf. Zur Frage der Kelchkommunion bei den Zisterziensern vgl. Hontoir, Dévotion (wie Anm. 1), 148f. 20 Vgl. zum Folgenden J. A. Jungmann, Missarum Sollemnia, 2 Bde., Wien 5 1962, II, 455ff. Eucharistische Frömmigkeit in einem mittelalterlichen Frauenkloster 81 eterna. Aue uita perhennis - Sei gegrüßt, heiliger Leib Christi. Sei gegrüßt, Erlösung der Welt. Sei gegrüßt, ewiges Heil. Sei gegrüßt, immerwährendes Leben“. Sofort nach dem Empfang der Hostie spricht die Kommunikantin ein Gebet, das die Grundgedanken und teilweise auch Formulierungen der seit dem 9. Jahrhundert in der Messe gebräuchlichen Spendeformel aufnimmt. Die in unserer Hs. begegnende Variante lautet: 21 „Der Genuss deines Leibes, Herr Jesus Christus, den ich Unwürdige im Vertrauen auf deine Barmherzigkeit gewagt habe, zu empfangen, gereiche mir nicht, darum bitte ich, gütigster Gott, zur Verdammnis, sondern um deiner Güte willen zum Schutz für Leib und Seele. Amen.“ Ein ähnliches Gebet sah das römische Messbuch bis zur jüngsten Liturgiereform als Stillgebet des Priesters nach dem Kommunionempfang vor. Auch das von den Schwestern in St. Thomas unmittelbar nach der Kelchkommunion gesprochene Gebet gehört nachweislich seit dem 11. Jahrhundert zu den Texten, die mittelalterliche Messbuchhandschriften dem Zelebranten zum stillen Beten im Umkreis der Kommunion anbieten. Es ist ein Wort aus den Märtyrerakten der heiligen Agnes 22 und wohl auch deshalb von den Klosterfrauen besonders bevorzugt worden. Auch das Gebetbuch der seligen Elisabeth von Schönau (†1164) sieht den Text für den Augenblick des Kommunionempfangs vor („In hora percipiendi“): 23 „Schau, gütigster Jesus, wonach ich verlangt habe, das schaue ich nun, was ich erhofft habe, das besitze ich nun; ich bin jenem im Himmel verbunden, den ich in meinen Erdentagen angerufen habe. So möge auch ich dir dort im Himmel verbunden sein, darum bitte ich, da ich deinen Leib und dein Blut voll Freude, als Unwürdige zwar, hier auf Erden empfange. Amen.“ Für die Danksagung bedienten sich die Schwestern ebenfalls „liturgischer“ Texte. Sie sprachen den Lobgesang des Zacharias, das Benedictus (Lk 1,68-79), und den besonders passenden Lobgesang des Simeon, das Nunc dimittis (Lk 2,29-32). Die an zweiter Stelle stehende Kommunionandacht unserer Hs. sieht neben dem Nunc dimittis (Nun lässt du, Herr, deinen Knecht) den Gesang der drei Jünglinge (Dan 3,57-88) für die Danksagung vor. An die biblischen Cantica schließen sich mehrere Gebete an, die uns in klösterlichen Kommunionandachten und unter den Kommuniongebeten mittelalterlicher Sakramentare seit dem 11. Jahrhundert häufig begegnen. Unser Zisterzienserinnengebetbuch bringt zunächst ein Gebet, das uns zuerst in einem Sakramentar aus 21 Hs. 1149/ 451 (wie Anm. 13), fol. 90 v : „Perceptio corporis sacratissimi tui, domine ihu xpe, quam ego indigna de tua confisa clemencia sumere presumpsi, non proueniat michi obsecro piissime deus ad condempnacionem, sed pro tua pietate prosit michi ad tutamentum anime et corporis. Amen.“ 22 Vgl. Jungmann, Missarum Sollemnia (wie Anm. 20), II, 437; Wilmart, Prières (wie Anm. 12), 20f., Anm. 2. 23 Vgl. F. W. E. Roth, Das Gebetbuch der heiligen Elisabeth von Schönau nach der Originalhandschrift des XII. Jahrhunderts, Augsburg 1886, 54. Messfrömmigkeit und Eucharistieverehrung 82 Echternach aus der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts als stilles Priestergebet nach dem Kommunionempfang bezeugt ist. 24 In Übersetzung lautet es: „Herr, Jesus Christus, Sohn des lebendigen Gottes, deinen für uns gekreuzigten Leib haben wir genossen, und dein für uns vergossenes Blut haben wir getrunken. Dein Leib gereiche uns zum Heil und dein Blut zur Vergebung der Sünden. Amen.“ Noch älter ist die dann folgende Oration, die bis in die jüngste Vergangenheit als stilles Gebet des Priesters nach der Kommunion in der römischen Messe weitergelebt hat. Der Text ist als Postcommunio schon im 7. Jahrhundert nachzuweisen. Er gehört zu den Kommuniongebeten, die das Messbuch des Zisterzienserordens, wie es im 13. Jahrhundert in Gebrauch war, als Stillgebet nach der Kommunion vorsah: 25 „Dein Leib, o Herr, den wir empfangen, und das Blut, das wir getrunken haben, mögen in meinem Innern bleiben. Gib, allmächtiger Gott, dass kein Sündenmakel zurückbleibe, wo deinem reinen Sakrament eine Wohnung bereitet worden ist. Amen.“ Zu beachten ist, dass die Gebete unserer Hs. noch die ältere Pluralfassung aufweisen. Die Beterin sieht sich noch als Glied im Kreis derer, die mit ihr von der gleichen Speise genossen und aus dem gleichen Kelch getrunken haben. Einen stärker persönlichen Charakter trägt dagegen das folgende, in Ich-Form gehaltene Bittgebet, das bemerkenswerterweise vor allem um Freude am Lob Gottes und um Gefallen an seinen Weisungen betet. Aber auch hier schließt die Beterin ihre Mitschwestern mit ein: 26 „Herr Jesus Christus, ich bitte dich um dieses Sakramentes willen, das wir empfangen haben, und um der Verdienste der heiligen Maria und aller Heiligen willen, dass ich vor allem anderen Freude daran finde, dich mit meinem Mund zu loben. Und dein Wille und die Beobachtung deiner Gebote seien stets in meinem Sinn bis zum Ende. Lass uns keinen Geschmack finden an der Welt und ihrer Begierde. Amen.“ Die folgenden liturgischen Formeln im Stil einer römischen Oration bitten um Bewahrung vor Anfechtungen und Sünde sowie um die Gnade, mit der Wegzehrung gestärkt, einmal in die Freude des Himmels hinübergehen zu dürfen. Diesen letzten Gedanken greift noch einmal das dann folgende Stoßgebet auf (fol. 179 v ): 24 Vgl. Jungmann, Missarum Sollemnia (wie Anm. 20), II, 500. 25 Vgl. ebd., 498, Anm. 9. 26 Hs. 1149/ 451 (wie Anm. 13), fol. 91 v -92 r : „Domine Jesu Christe deprecor te per hec sacramenta que sumpsimus et per merita sancte marie et omnium sanctorum, ut in omnibus et super omnia dulcescat in ore meo laus tua et uoluntas tua et obseruatio mandatorum tuorum permaneat mecum usque in finem et amarescat in omnibus nobis mundus et concupiscentia eius. Amen.“ Eucharistische Frömmigkeit in einem mittelalterlichen Frauenkloster 83 „Ultimus sapor cibi sit mihi in hora exitus mei panis et sanguis ihesu christi domini nostri. (Die letzte Speise, die ich genieße, sei in meiner Todesstunde der Leib [wörtlich: das Brot] und das Blut unseres Herrn Jesus Christus. Amen.) Das anschließende Dankgebet „Gratias tibi ago“ ist wieder eines aus der Gruppe der stillen Priestergebete im Kommunionkreis der Messe. Die von den Zisterzienserinnen von St. Thomas um 1300 gebrauchte Textfassung ähnelt noch sehr dem Wortlaut des Gebets in einem Missale des Vogesenklosters Remiremont aus dem 12. Jahrhundert, in dem J. A. Jungmann die ursprünglichste Form erkennen möchte: 27 „Ich sage dir Dank, mein Herr und mein Gott, der du mich Sünderin hast speisen wollen mit dem Leib und dem Blut unseres Herrn. So bitte ich denn, diese heilige Kommunion gereiche mir nicht zum Gericht noch zur Strafe der Verdammnis, sondern sei mir Wehr und Schild, um die Anschläge des Bösen von meinem Leib und meinem Herzen abzuwehren. Lass mich Sünderin vielmehr zu jenem Gastmahl gelangen, wo der wahre Friede herrscht und die ewige Freude. Amen.“ Nach einer Bitte um Reinigung von aller Schuld und Bewahrung im Guten spricht die Kommunikantin noch einmal Grußworte an das Sakrament, um dann mit dem folgenden, schönen Gebet ihre Andacht zu beschließen: 28 „Allmächtiger, höchster Gott, der du bist, der du warst und der du sein wirst, über alles Gelobter in Ewigkeit! Es war dein Wille, mich wertloses Würmchen aus dem Schmutz dieser Welt herauszuziehen und dem Kreis deiner dir ergebenen Dienerinnen zuzugesellen. Gib mir ein Herz, das dich fürchtet, ein Gemüt, das dich erfasst, einen Geist, der beständig auf dich bedacht ist. Lass mich deinen Vorschriften und Geboten 27 Vgl. Jungmann, Missarum Sollemnia (wie Anm. 20), II, 501. 28 Hs. 1149/ 451 (wie Anm. 13), fol. 94 r -95 r : „Omnipotens excelse deus, qui es et qui eras et eris, ante omnia benedictus in secula, quique me vilem uermiculum de inquinamentis huius mundi eripuisti et collegio famularum tuarum tibi famulantium associare dignatus es, da cor quod timeat, sensum qui te intelligat, mentem que iugiter meditetur in te et fac me adherere preceptis et mandatis tuis in omnibus et statutis sancte regule, quam professa sum, ita ut fiam unus Spiritus tecum; presta mihi per sanctam deitatem tuam frequenter morari in orto uirtutum tibi placentium, maxime inuiolabilis humilitatis; dona mihi dulcedinem tuam in isto corruptibili corpusculo cum omni deuotione animi seruire tibi, ut merear per hanc erumpnosam uitam uidere te absque iudicio cum filio tuo et spiritu sancto, qui excluso fine uiuit et regnat tecum per omnia secula seculorum. Amen.“ Messfrömmigkeit und Eucharistieverehrung 84 in allem gehorsam sein, auch den Anweisungen der heiligen Ordensregel, auf die ich mich verpflichtet habe, damit ich so eines Sinnes werde mit dir. Gewähre mir, um deiner heiligen Gottheit willen, oft zu weilen im Garten der Tugenden, an denen du Gefallen hast; vor allem lass mich die Demut unversehrt bewahren. Lass mich die Seligkeit erfahren, dir in diesem vergänglichen Leib mit ganzer Hingabe des Herzens zu dienen, damit ich durch die Mühen dieses Lebens würdig werde, ohne gerichtet zu werden, dich zu schauen mit deinem Sohn und dem Heiligen Geist, der mit dir ohne Ende lebt und herrscht in alle Ewigkeit. Amen.“ Herr, ich bin nicht würdig … Unter den Gebeten der eben vorgestellten Kommunionandacht im Zentralteil unserer Hs. fehlt auffallenderweise das Wort des Hauptmanns: „Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach …“ (vgl. Mt 8,8). Überhaupt stellt man fest, dass das Eingeständnis der eigenen Unwürdigkeit, dass Formen des Schuldbekenntnisses und Vergebungsbitten, wie sie im Vorraum des Kommunionempfangs zu erwarten gewesen wären, nicht auftauchen. Dieser Umstand dürfte darin seine Erklärung finden, dass die Beterin Gebete dieser Art schon bei der entfernteren Vorbereitung auf den Kommuniongang gesprochen hatte. Unser Gebetbuch bietet nämlich unmittelbar vor den eucharistischen Gebeten eine Gruppe von Texten an, die man gattungsmäßig als Apologien kennzeichnen kann. Es handelt sich um drei umfangreiche Formulare (fol. 79 r ), von denen die ersten beiden mit „Confessio - Bekenntnis“ überschrieben sind. Dabei entspricht das mittlere am eindeutigsten dem Gebetstyp Apologie, insofern es das Eingeständnis der eigenen Sündhaftigkeit ausweitet zu einem langen, detaillierten Sündenregister. Es scheint uns sicher, dass diese Gebetsgruppe als entferntere Kommunionvorbereitung verstanden werden muss. Die Schwestern dürften die „Confessiones“ an Kommuniontagen in der Messe vor der Wandlung aus ihren Gebetbüchern gelesen haben. Sie werden dabei nicht bloß ein ihnen zusagendes Gebet aus dieser Trias ausgewählt haben, sondern alle drei Texte hintereinander gesprochen haben, denn bei näherem Zusehen erkennt man deren inneren Zusammenhang. So spricht das erste Gebet vom letzten Grund, der den Sünder zuversichtlich um Vergebung seiner Schuld bitten lässt: vom Erbarmen Gottes und dem Sühnetod Christi. Erst nach diesem lobenden Bekenntnis der Güte Gottes bekennt die Beterin ihr Versagen, um dann im dritten Gebet um Vergebung zu bitten. Von bemerkenswerter theologischer Tiefe und geistlicher Kraft ist die „Confessio“ des Erbarmens Gottes. Wir lassen sie ungekürzt in Übersetzung folgen (fol. 79 r -81 r ): Eucharistische Frömmigkeit in einem mittelalterlichen Frauenkloster 85 „Confessio bona - Ein gutes Bekenntnisgebet Ich armselige Sünderin, im Bewusstsein vieler Verfehlungen, bitte aus tiefstem Herzen und dem Innersten meines Gemüts inständig dich, den Vater des Erbarmens und den Gott allen Trostes, du wollest dich über mich Sünderin erbarmen. Ich bin ja deine Dienerin, die du aus deiner übergroßen Liebe hast reinwaschen wollen von den Sünden im Blut deines geliebten Sohnes, unsers Herrn Jesus Christus. O unaussprechliche Güte und Liebe: Um mich zu schonen und mich aus der Macht der Finsternis zu retten, hast du den eigenen Sohn nicht verschont, deinen Einzigen. Um mir ein Leben voll Annehmlichkeit, voll Sicherheit, voll Schönheit, voll Liebe, voll Freude und in ewigem Frieden zu schenken, hast du deinen eingeborenen Sohn dahingegeben in Bitternis und Härte, in Bedrängnis; du hast ihn ausgeliefert, dem Hass aller, dem Leiden - zum Schmerzensmann ist er geworden - und dem allerschändlichsten Tod. O guter Jesus, du allein bist der Höchste, und bist doch zum Geringsten geworden! Dein Gesicht hast du nicht abgewandt von denen, die dich verhöhnten und bespuckten. Kehre dein Angesicht nicht ab von mir, sondern wende mir dein Antlitz zu, das die Engel zu schauen verlangen. Lass über mich leuchten das Licht deines Angesichts, dessen Anblick die ganze Erde herbeisehnt. Sag meiner Seele: Dein Heil bin ich! Lehre meine Seele, dich zu erkennen, nach dir sich zu sehnen, dem Quell des Lebens. Lass mich, Herr, aus ganzem Herzen, mit all meiner Sehnsucht und mit verlangendem Gemüt mich ausstrecken nach dir, in dir, Gütiger und Milder, Ruhe finden. Gib, dass mein Geist von Grund auf und alles, was in mir ist, nach dir verlangt, der du die wahre Glückseligkeit selber bist. Schreibe deine Wunden, Herr, hinein in mein Herz, dass ich an ihnen deinen Schmerz erkenne und deine Liebe betrachte; lass die Erinnerung an sie stets gegenwärtig bleiben Messfrömmigkeit und Eucharistieverehrung 86 in der stillen Verborgenheit meines Herzens, damit ich Mitleid empfinde, wie du es verdienst, damit es aufbricht, immer von neuem mich rührt und die Liebe zu deiner an unserer Statt sich selbstlos schenkenden Liebe in mir sich entzündet, bis ich, von dir geführt, ankomme bei dir, dem Ersehnten, in dem die Fülle alles Guten enthalten ist, wo aller Schmerz flieht, alle Trauer schwindet, wo die Liebe zunimmt und jene unsagbare Freude kein Ende hat, die du mir, deiner Dienerin, gewähren mögest, der du mit dem Vater und dem Heiligen Geist lebst und herrschst, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“ Der letzte Teil dieser „Confessio“ begegnet uns an anderer Stelle unserer Hs. auch als eigenständiges Gebet: 29 „Herr, Jesus Christus, deine fünf Wunden seien in meinen fünf Sinnen, dass ich an ihnen deinen Schmerz erkenne …“. In dieser Form kannte die heilige Gertrud von Helfta den Text. Sie hatte das ihr sehr ans Herz gewachsene Gebet, wie sie selbst schreibt, in einem „alten Gebetbuch“ gefunden. 30 Über seine Herkunft lässt sich nichts Sicheres ausmachen, doch gehörte das Gebet offenbar zu den gegen Ende des 13. Jahrhunderts gerade in deutschen Zisterzienserinnenklöstern sehr beliebten Privatgebeten. Von hohem Rang ist auch das letzte Formular der „apologetischen“ Dreiergruppe. In einer an der Schrift geschulten und an biblischen Bildern reichen Sprache spricht sich mit ergreifender Innigkeit tiefe Gläubigkeit aus. Wenigstens auszugsweise soll dieser qualitätsvolle Text in deutscher Übersetzung folgen (fol. 83 r -85 v ): „Herr, allmächtiger Gott. Du hast gesagt: Ich will nicht den Tod des Sünders, sondern, dass er sich bekehrt und lebt. Ich bitte: Erbarme dich. Vergib, reinige und lösche aus durch dieses Eingeständnis meiner Schuld alle Sünden (…). Du kennst ja meine Armseligkeit; du weißt um meine Unbeständigkeit; 29 Hs. 1149/ 451 (wie Anm. 13), fol. 80 r : „Scribe domine ihesu christe quinque uulnera tua in quinque sensibus meis, ut in illis legam tuum dolorem et tuum amorem, ut illorum memoria semper apud secretum cordis mei permaneat et dolor passionis tue semper in me renouetur et amor uere caritatis tue in me augeatur et accendatur, usque dum te duce perueniam ad te desideratum et thesauro omnium desideriorum repletum, ubi omnis dolor aufugiet et omnis tristitia exterminabitur et omnis inenarrabilis leticia continuabitur, quam tu domine mihi famule tue propter multitudinem misericordie tue conferre digneris. amen.“ Unserer Übersetzung liegt die etwas abweichende Fassung auf fol. 80 unserer Hs. zugrunde. 30 Vgl. Gertrud von Helfta, Heros II, 4: SC 139. 242. Eucharistische Frömmigkeit in einem mittelalterlichen Frauenkloster 87 und was auch immer ich dir Gutes versprochen und gelobt habe, immer wieder habe ich mein Wort gebrochen. Wenn ich nun abermals zu dir mich flüchte und zu deiner übergroßen und unerschöpflichen Güte meine Zuflucht nehme, dann weise mich, so bitte ich, nicht ab. Denn es war ja dein Wille, mich nach deinem Bild zu schaffen, durch das kostbare Blut deines Sohnes zu erlösen und mich abzuwaschen im Wasser der heiligen Taufe. Nimm die zu dir sich Flüchtende wieder auf; lass die Heimkehrende wieder wohnen bei dir; höre sie, die zu dir ruft. Denn wenn du verwirfst und zurückweist, wo ist dann deine Milde, wo bleiben dann deine Erbarmungen, die von Ewigkeit sind? Wo sind dann die Erweise deiner Barmherzigkeit, die du den Christen, die auf dich vertrauen, versprochen hast? (…) Wenn du mich im Stich lässt, zu wem soll ich gehen? Wessen Hilfe soll ich suchen? Wenn ich auch gesündigt habe, so habe ich dich doch nicht ganz verlassen, fremde Götter habe ich nicht angebetet, sondern dich habe ich als den Herrn, Schöpfer und Ursprung immer bekannt. Deshalb, Herr, wende dich mir wieder zu; nimm die Entflohene wieder auf; lass die Gefallene wieder bei dir sein; reiche der, die am Boden liegt, deine Hand bei Tag und bei Nacht. Sprich: Steh auf, deine Sünden sind dir vergeben, gehe hin und sündige von jetzt an nicht mehr! “ Die zweite, wohl jüngere Kommunionandacht unserer Hs. hat das Sündenbekenntnis und die Vergebungsbitten stärker in die Kommunionvorbereitungsgebete hineingenommen. Sie lässt die Kommunikantin als erstes Vorbereitungsgebet vor dem Kommuniongang („Antequam sumas corpus Christi leges hanc oracionem“) das bekannte, unter dem Namen des heiligen Ambrosius überlieferte Gebet „Ad mensam dulcissimi convivii“ (fol. 175 r -175 v ) sprechen, das im römischen Messbuch als Vorbereitungsgebet des Priesters vor der Feier der Messe vorgesehen ist. 31 Der Text ist jedoch kürzer und weicht an manchen Stellen beträchtlich von der im heutigen Missale gebotenen Fassung ab. In diesem Gebet nehmen die Gedanken an die eigene Schuld und Unwürdigkeit breiten Raum ein. Die daran anschließen- 31 Vgl. Missale Romanum (…) auctoritate Pauli PP. VI promulgatum. Ed. typica, Rom 1971, 903f.; zur Geschichte des Textes vgl. die Untersuchung von A. Wilmart, L’Oratio sancti Ambrosii du Missel Romain, in: Auteurs (wie Anm. 10), 101-125. Messfrömmigkeit und Eucharistieverehrung 88 de Begrüßung des Sakraments betont ebenfalls besonders den Sühnecharakter des geopferten Herrenleibs: 32 „Sei gegrüßt, heilbringendes Opferlamm, für mich und das ganze Menschengeschlecht am Kreuzesstamm dargebracht. Sei gegrüßt, ehrwürdiges und kostbares Blut, Strom, der aus der Seite meines gekreuzigten Herrn fließt und abwäscht die Schuld jeder alten und neuen Befleckung.“ Wie der Priester beim Hinaufsteigen zum Altar um Befreiung von aller Schuld betet, tut es die Kommunikantin mit ähnlichen Worten vor dem Hinzutreten (fol. 176 v ): „Aufer (…) a me iniquitates, offensas, ut purificato corpore et spiritu merear degustare sancta sanctorum … (Nimm von mir die Sünden und Verfehlungen, auf dass ich mit reinem Leib und reiner Seele das Allerheiligste genießen darf)“. Auch das darauffolgende Gebet „Consciencia quidem trepida“ spricht in prägnanten Formulierungen von dem Schuldbewusstsein, das die Beterin zurückhält, und von der Liebe Gottes, die sie anzieht („… impedit carnis fragilitas quam tanti misterii delectat caritas“). Das Gebet klingt aus in einem erweiterten Agnus Dei 33 , wobei die Bitte um Versöhnung und Frieden sinnvollerweise im Hinblick auf die Teilnahme am geschwisterlichen Mahl besonders akzentuiert wird. Hier können wir eine Querverbindung zwischen dem persönlichen Gebet der Schwestern und der Feier der Messe ausmachen. In der Regel läuft nämlich das Geschehen am Altar und die private Kommunionvorbereitung in verschiedenen Geleisen nebeneinander. Wenn man dies auch aus heutiger Perspektive bedauerlich findet, so muss man doch andererseits einräumen, dass die Kommuniongebete, die unser Gebetbuch den Schwestern anbietet, fern aller Sentimentalität, in einer herzhaften, biblischen Sprache immer wieder zur Mitte des gefeierten Pascha- Mysteriums durchstoßen. In der älteren Kommunionandacht der Hs. zeigen diese Gebete zudem noch eine nahe Verwandtschaft zu den liturgischen Texten mit ihrer Verhaltenheit und objektiven Gemessenheit. Diese Texte hat die zweite Kommunionandacht unverändert als ihr Kernstück übernommen. Doch hat man diese Gebete offenbar schon als ergänzungsbedürftig empfunden. Die stärker subjektiv geprägte Frömmigkeit der Gotik macht sich in den wortreicheren und affektvolleren Zusatztexten der zweiten Kommunionandacht unserer Hs. unverkennbar bemerkbar. Als Beispiel für diese jüngere Art zu beten mag das folgende Vorbereitungsgebet stehen (fol. 177 v -178 r ): 32 Hs. 1149/ 451 (wie Anm. 13), fol. 177 r : „Salue salutaris uictima pro me et humano genere in patibulo crucis oblata. Salue nobilis et preciosissime sanguis, unda de latere crucifixe (! ) domini mei profluens et tocius ueteris ac noue macule culpas abluens.“ Vgl. auch Jungmann, Missarum Sollemnia (wie Anm. 20), II, 270, Anm. 100. 33 Hs. 1149/ 451 (wie Anm. 13), fol. 177 v : „Agne dei, qui tollis peccata mundi, qui pro nostra salute et pro nostra redemptione fuisti immolatus et crucifixus pro nobis, miserere mei. Agne dei … immolatus, da mihi sanitatem et pacem inter omnes feminas et inimicos meos. Dextera domini protegat me, famulam tuam. Domine ihesu christe, bone rex pacifice, pax tua quam dedisti tuis sanctis apostolis sit inter me et omnes inimicos meos.“ Eucharistische Frömmigkeit in einem mittelalterlichen Frauenkloster 89 „Herr Jesus Christus, niemals verlöschendes Licht, der du uns Sündern so große Gnade geschenkt hast, dass wir gespeist werden mit deinem reinsten Leib und getränkt werden mit deinem kostbarsten Blut, erhöre mich, deine unwürdige Dienerin, die zu dir ruft. Gib, dass ich heute deinen ersehnten Leib zu empfangen verdiene, nach deinem Willen und wie ich seiner bedarf, damit er mir heute eine heilbringende Nahrung werde und der Sehnsucht meiner Seele ein Trost. Öffne dir mein Herz, damit du dort eintrittst, wie du eingetreten bist in das Herz von Maria Magdalena, als sie deine Füße mit ihren Tränen wusch und so abwusch die Befleckung ihres Herzens und ihres Leibes. Simeon hat lange verlangt, dich zu schauen. Als er dich auf seinen Arm nahm und dich erkannte, sprach er: Nun lässt du, Herr, deinen Knecht nach deinem Wort in Frieden scheiden. Wie er dich aufgenommen hat in seine Arme, so nehme dich, unseren Heiland, auch meine Seele und mein Leib auf, mit aller Ehrfurcht, damit du mir die Gunst gewährst, dich am Tag meines Scheidens mit solcher Andacht zu empfangen, dass du auch mich in jenen Frieden, in den du ihn hast scheiden lassen, gütig aufnimmst. Um dies alles bitte ich inständig. Wie er dich umfangen hat, den wahren Gott und lange ersehnten Herrn, so freut sich über dich, unser Heil, mein Herz, das in deiner Abwesenheit krank war vor Liebe. Lass auch an mir deine gütigste Verheißung sich erfüllen, die du vor deinem Leiden deinen Jüngern gegeben hast, als du sprachst: Ich lasse euch nicht als Waise zurück; ich werde zu euch kommen, und euer Herz wird sich freuen. So komm denn heute, Quell der Güte, und schenke meiner kranken Seele dein Fleisch und dein kostbares Blut. Denn nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. Du lässt mich dann nicht allein zurück, wenn du mir deinen Leib reichst zur Speise, der gekreuzigt worden ist für uns, du wirst mich dann wiedersehen, wenn du mich tränkst aus dem Quell des kostbaren Blutes, das vergossen worden ist als Heilmittel für meine Seele und meinen Leib. Es sei mir, darum bitte ich, in Gegenwart und Zukunft die Ursache des ewigen Heiles. Amen.“ Messfrömmigkeit und Eucharistieverehrung 90 Nach einigen Stoßgebeten und einer neuerlichen Vergebungsbitte folgt als letztes Vorbereitungsgebet unmittelbar vor dem Hinzutreten (fol. 178 r -178 v ): „Ich wende mich, Herr, an deine väterliche Güte und Liebe. Mögest du dich an jenes Gebet erinnern, das du vor deinem Leiden zum Vater gebetet hast: Ich habe sie unversehrt bewahrt; ich bete für sie, ich heilige mich selbst, damit auch sie geheiligt seien in Wahrheit. Dieses dein Gebet soll heute Wirklichkeit werden in mir und in uns allen, die wir dich nun empfangen werden. Mögen wir alle glücklich bei dir Aufnahme finden. Komm, Herr, komm du, gegen den ich Armselige gefehlt habe: Komm und vergiss meine Sünden. Komm zu ihr, für die du dein kostbares Blut vergossen hast. Komm, liebster Herr, und gib mir die Speise für das ewige Heil. Komm, makellose Opfergabe, und mach mich frei vom ewigen Tod. Komm und besuche dein Haus, das deinem Namen geweiht ist. Schau, auch ich komme zu dir, den ich mit der ganzen Sehnsucht meines Herzens ersehne, auf den ich mit aller Aufmerksamkeit meines Geistes blicke, den ich mit meinem ganzen Gemüt umfange, dessen Leib und Blut ich empfange. Komm, um bei mir zu bleiben und auf ewig mich nicht mehr loszulassen.“ Das Sakrament als Schutz gegen Unheil Das Interesse des mittelalterlichen Christen galt nicht mehr so sehr dem Vollzug des Herrenmahls, sondern dem „vollzogenen“, real gegenwärtigen Sakrament. Die Eucharistie war ihm hauptsächlich eine segensvermittelnde und unheilabwehrende heilige Gabe. Wenn diese Heilsgabe erhoben wurde oder auf dem Altar lag, hielt man den günstigen Zeitpunkt für gekommen, um wegen dieses kostbarsten „Heiltums“ den Segen des Himmels zu erbitten. Vor allem empfahl man sich und die einem nahestehenden Menschen in Gottes Schutz. Diese volkstümliche Sakramentsfrömmigkeit macht sich in unserem Gebetbuch nur am Rande bemerkbar. Ganz ausgeprägt tritt sie uns entgegen in einem Gebet „Pro amicis - Für Freunde“, das man offenbar nach der Wandlung zu sprechen pflegte (fol. 182 r -182 v ). Es handelt sich um ein Segens- und Befehlungsgebet, das den Schutz Gottes gegen alle möglichen Gefahren für die Beterin und namentlich zu nennende, ihr verbundene Personen erbittet. Man erhofft sich eine besondere Wirksamkeit des Gebetes, weil es „in Gegenwart des allerheiligsten Leibes und Blutes“ gesprochen wird. Charakteristisch für das Genus solcher Schutzgebete ist die Vielzahl der Namen, mit denen die Beterin Gott anruft. Allein schon das Aussprechen der hohen Namen Gottes soll dem Bösen Schrecken Eucharistische Frömmigkeit in einem mittelalterlichen Frauenkloster 91 einjagen und seine Angriffe abwehren, besonders aber soll dies die Eucharistie tun: 34 „Um deines unaussprechlichen Namens willen, der da lautet allmächtiger Gott, Alpha und Omega, Anfang und Ende, Sabaoth, Adonai, Emmanuel; das heißt: Gott mit uns! Weg, Wahrheit, Leben, Heil, Sieg und unsere Auferstehung, vor allem aber wegen der Anrufung des lebenspendenden Sakramentes deines Leibes und Blutes, das ich zu unserer Hilfe rufe (…) mögest du mich, deinen Diener N. (…) beschützen, verteidigen und befreien …“. Solche vom Wesentlichen der Eucharistieverehrung eher wegführenden Frömmigkeitsformen sind indes - nach Ausweis unserer Quelle - bei den Zisterzienserinnen von St. Thomas Randphänomene. Über die Art der bei ihnen gelebten eucharistischen Spiritualität gibt ein kleines Stoßgebet zutreffender Aufschluss. Eine spätere Hand hat es am Anfang der zweiten Kommunionandacht an einer freigebliebenen Stelle eingeschoben. Es ist durchglüht von echt zisterziensischer Christusminne, wie sie in den Kommunionandachten unseres Gebetbuches an mehr als einer Stelle spürbar geworden ist (fol. 174 v ): „Domine mi, imploro te, ut regnes in me, diligam te; protege me, Jesu magne; dei agne, dignare me, laudare te; deus vere, nostri miserere. (Mein Herr, ich flehe zu dir: Herrsche du in mir, gib mir Liebe zu dir. Beschütze mich, mächtiger Jesus, Gotteslamm, mach mich würdig, dich zu loben. Wahrer Gott, erbarme dich unser! ) Zusammenfasssung Die heilige Eucharistie ist eine so zentrale Wirklichkeit im Leben der Kirche, dass es undenkbar wäre, wenn eine religiöse Erneuerungsbewegung, wie sie im jungen Zisterzienserorden Gestalt gewonnen hat, sie nur am Rande beachtet hätte. Tatsächlich wenden sich gerade die frühen Zisterzienserschriftsteller mit einem durch die vorauf gegangenen Kontroversen um die Eucharistielehre des Berengar von Tours (†1088) geschärften Blick dem „Sakrament des Altares“ zu. Die in Zisterzienserkreisen entstehenden eucharistischen Gebete und Dichtungen zeugen von einer glühenden Andacht zum Sakrament des Leibes und Blutes Christi. Diese zisterziensische Eucharistiefrömmigkeit steht nicht außerhalb der volksfrommen 34 Hs. 1149/ 451 (wie Anm. 13), fol. 183 r : „Per ineffabile nomen tuum, quod est omnipotens deus, alpha et o, principium et finis, sabaoth, adonay, emanuel, quod est nobiscum deus, uia, ueritas, uita, salus et uictoria, resurrectio nostra, precipue quia per inuocacionem uiuifici sacramenti corporis et sanguinis tui, quod in nostrum inuoco auxilium, me N. (…) tuearis, defendas ac liberes …“ Messfrömmigkeit und Eucharistieverehrung 92 Sakramentsverehrung ihrer Zeit, die sich seit der Wende zum 13. Jahrhundert artikuliert im Drang nach der Schau des Herrenleibes und in einem fast abergläubischen Vertrauen auf den bloßen Besitz des eucharistischen Heiltums. Spuren dieser Schaufrömmigkeit und dieser apotropäischen Sicht der Eucharistie konnten wir auch - wenn auch nur als Randphänomene - in manchen Texten unseres Zisterzienserinnengebetbuchs entdecken. Doch der Schwerpunkt des eucharistischen Gebetsguts liegt anderswo. Die grundsätzliche Gesundheit der uns in der Hs. aus St. Thomas entgegentretenden Eucharistiefrömmigkeit zeigt sich vor allem darin, dass sie ihre Mitte findet im Empfang der eucharistischen Speise. Die eucharistischen Texte bieten sich dar als Kommunionandachten, die auf die Begegnung mit dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn vorbereiten sollen. Was die Häufigkeit des Kommunizierens betrifft, gingen die Zisterzienser darin allen anderen religiösen Gemeinschaften ihrer Zeit beispielhaft voran. Nirgendwo wurde häufiger die Kommunion gereicht als in ihren Klöstern. Wir wissen von frommen Beginen, die vor allem deshalb zu den Zisterzienserinnen drängten, weil sie dort häufiger die Kommunion empfangen durften. In diesem Drang zum Tisch des Herrn zeigt sich etwas von der durch den heiligen Bernhard (†1153) der jungen Gemeinschaft vermittelten Christusbegeisterung, die nach der innigsten, in diesem Leben möglichen Vereinigung mit dem Geliebten sich sehnt. Jesu Versprechen, die Seinen nicht als Waisen zurückzulassen, sieht man vor allem in der Eucharistie erfüllt, in der er immer wieder, wie es ein Kommuniongebet unserer Hs. ausspricht, kommt, um sie wiederzusehen. Es ist die Sprache der Mystik, wenn die Beterin bekennt, ihre Seele sei krank vor Sehnsucht nach der Vereinigung mit dem himmlischen Bräutigam. Das ganze Glück der in der Kommunion dann gewährten Vereinigung klingt auf, wenn die Kommunikantin nach dem Empfang spricht: „Wonach ich verlangt habe, das schaue ich nun; was ich ersehnt habe, das besitze ich nun! “ Derjenige, den man bei der Erhebung der Brotsgestalt anbetend grüßt und den man vor der Kommunion bittet, „in das Haus einzutreten, das ihm geweiht ist“, ist im Erleben der Zisterzienserinnen der erhöhte Christuskönig. Die Erwähnung der Wunden des Gekreuzigten und die Erinnerung an das vergossene Blut des Erlösers, wie sie immer wieder in den Kommuniongebeten unserer Hs. begegnen, sind letztlich nicht Ausdruck einer „Mitleidsfrömmigkeit“, sondern wollen die Liebe wecken zu dem, der mit seiner Liebe bis zum Äußersten gegangen ist und der nun mit seinem Opfer fürbittend vor dem Thron des Vaters steht. Die in der Kommunion gewährte Vereinigung mit dem himmlischen „König der ewigen Herrlichkeit“ bleibt nicht ohne Wirkung bei denen, die ihn aufnehmen. Vor allem soll die Kommunion bewirken, dass die Kommunikantin „eines Sinnes wird mit ihm und Freude empfindet an der Befolgung seiner Weisungen“. Prägnant spricht dieses Anliegen das zuletzt zitierte Stoßgebet aus: „Domine mi, imploro te, ut regnes in me - Mein Herr, ich flehe zu dir: Herrsche du in mir! “ Um dieser Christusherrschaft willen wird um Befreiung von Sünde und Schuld gebetet; von seiner Liebe soll nichts die Beterin trennen. Das Erlebnis der Vereinigung mit dem himmlischen Bräutigam beim Empfang des Sakraments lässt die Kommunikantin vorausblicken auf die verheißene völlige Vereinigung im Jenseits, „wo die Liebe Eucharistische Frömmigkeit in einem mittelalterlichen Frauenkloster 93 wächst“ und keine Trennung mehr droht. Mit der Eucharistie als Wegzehrung gestärkt, hofft sie einst eintreten zu dürfen in den „himmlischen Saal“ und Tischgenossin zu sein beim Hochzeitsmahl des ewigen Lebens. Auch die eschatologische Dimension der Eucharistie kommt so mit erfreulicher Deutlichkeit in den Blick. Bei aller Christusinnigkeit und aller Sorge um das persönliche Heil in der ersehnten, unverlierbaren Vereinigung mit dem himmlischen Bräutigam zeichnet sich die Kommunionfrömmigkeit der Zisterzienserinnen von St. Thomas doch auch dadurch aus, dass sie sich noch ein Gespür bewahrt hat für die horizontale Dimension des Eucharistieempfangs. Ein Indiz dafür ist schon die Wir-Form mancher Kommuniongebete. Bisweilen schließt die Beterin ausdrücklich ihre Mitschwestern in ihre Kommunionbitte ein, etwa wenn sie vor dem Hinzutreten spricht: „Mögen wir alle glücklich bei dir Aufnahme finden! “ Im Vorfeld der Kommunion steht die Bitte um Frieden „mit allen Frauen“ der Kommunität und um Versöhnung mit den Feinden. Man weiß also noch darum, dass die Vereinigung mit dem Haupt Hand in Hand gehen muss mit dem Geist der Eintracht und Liebe gegenüber den Mit-Gliedern an dem einen Leib Christi, mit denen man die Hoffnung und Berufung teilt, am Ende „zu jenem Gastmahl zu gelangen, wo der wahre Friede herrscht und die ewige Freude“. 5 Priesterliche Messfrömmigkeit im benediktinischen Reformmönchtum des 15. Jahrhunderts Reformbewegungen haben im Lauf einer fast eineinhalbtausendjährigen Geschichte dafür gesorgt, dass der alte Stamm des benediktinischen Mönchtums immer wieder frisch aufgeblüht ist. Auch das Spätmittelalter hatte seine monastischen Reformbewegungen. Eine ihrer für den deutschen Sprachraum besonders bedeutsamen organisierte sich im Klosterverband der Bursfelder Kongregation. Zu den geistigen Vätern dieses Reformzweiges gehört Johannes Rode, von 1421 bis 1439 Abt von St. Matthias vor den Toren seiner Heimatstadt Trier. 1 Rode war ursprünglich Kartäuser. Nach Studien in Paris und Heidelberg und einer kurzen Tätigkeit als Offizial des Trierer Erzbischofs Werner von Falkenstein (1388-1418) sowie als Stiftsdechant von St. Simeon in Trier trat er als Dreißigjähriger 1416 in die Trierer Kartause St. Alban ein, die zu dieser Zeit eine geistliche Blüte erlebte und vor allem durch ihre Marien- und Herz-Jesu-Frömmigkeit einen „stillen, aber nachhaltigen Einfluss“ (P. Becker) ausübte. 2 Als der Trierer Erzbischof Otto von Ziegenhain (1418-1430) daran ging, eine Reform seines Bistums in die Wege zu leiten und dabei auch eine Erneuerung des Ordenslebens anstrebte, fand er in der Trierer Kartause den Mann, den er mit päpstlicher Dispens 1421 an die Spitze des reformbedürftigen Konvents von St. Matthias stellte. Der Prior der Kartause (seit 1419 bekleidete Rode dieses Amt) wechselte in das ganz in der Nähe gelegene Benediktinerkloster, das er rasch zu neuer Blüte führen konnte. Der Erzbischof hatte indes weiterreichende Pläne mit dem ehemaligen Kartäuserprior: „In Rode hatte Otto von Ziegenhain den Mann gefunden, dem er nun die Erneuerung der [Erstveröffentlichung: Opus et meditatio simul peragantur. Priesterliche Messfrömmigkeit im benediktinischen Reformmönchtum des 15. Jahrhunderts, in: Itinera Domini. Gesammelte Aufsätze aus Liturgie und Mönchtum Emmanuel v. Severus OSB zur Vollendung des 80. Lebensjahres am 24. August 1988 dargeboten (Beiträge zur Geschichte des alten Mönchtums und des Benediktimerordens. Supplementband 5), Münster 1988, 319-340.] 1 Vgl. V. Redlich, Johann Rode von St. Matthias bei Trier, Münster 1923 (BGAM 11); P. Becker, Das monastische Reformprogramm des Johannes Rode, Abtes von St. Matthias in Trier, Münster 1970 (BGAM 30) (im Folgenden: Becker, Reformprogramm); Ders., Johannes Rode (†1439), in: Rheinische Lebensbilder 7, Köln 1977, 25-42; Ders., Die Abtei St. Eucharius-St. Matthias und Nikolaus von Kues, in: Kurtrierisches Jahrbuch 18 (1978) 31-51. 2 Zu den Mitbrüdern Rodes in der Trierer Kartause gehörten u. a. Adolf von Essen und Dominikus von Preußen, die „Väter“ des Leben-Jesu-Rosenkranzes; vgl. K. J. Klinkhammer, Adolf von Essen und seine Werke: Der Rosenkranz in der geschichtlichen Situation seiner Entstehung und in seinem bleibenden Anliegen, Frankfurt a. M. 1972 (FTS 13); R. Scherschel, Der Rosenkranz - das Jesusgebet des Westens, Freiburg i. Br. u. a. 1979 (FThSt 118); A. Heinz, Eine spätmittelalterliche Exempelsammlung zur Propagierung des Trierer Kartäuser-Rosenkranzes, in: TThZ 92 (1983) 306-318. Priesterliche Messfrömmigkeit im benediktinischen Reformmönchtum 95 Benediktinerklöster des ganzen Bistums überlassen konnte.“ 3 Der Zuständigkeitsbereich des Mattheiser Reformabtes sollte sich nach dem Tod des Erzbischofs noch weiter ausdehnen. 1434 bestellte ihn das Konzil von Basel zum Generalvikar der Benediktiner- und Benediktinerinnenklöster in den Metropolitanbezirken Köln und Trier. In der Folgezeit kamen Visitationsaufgaben in Bistümern der Kirchenprovinz Mainz hinzu. Von Rode geformte Mönche aus dem Mattheiser Mutterkloster gingen als Äbte in andere Abteien. Johannes Dederoth, der Abt von Clus und Erneuerer von Bursfelde, der 1434 ratsuchend nach Trier kam, erhielt vier Mönche und eine Abschrift der Consuetudines, in denen der Mattheiser Abt sein Reformprogramm niedergelegt hatte. Wie Petrus Becker OSB, der Editor und Kommentator des Rodeschen Regelwerkes, gezeigt hat, gehörten die Reformkonstitutionen von St. Matthias (und St. Maximin) in Trier zu den Quellen der einflussreichen Bursfelder Reformstatuten. 4 Insbesondere lassen die Ausführungen über das Konventamt im Bursfelder Liber ordinarius 5 viel „Verwandschaft“ erkennen mit den von der Messfeier der Mönche handelnden Kapiteln 25-29 der Mattheiser bzw. Maximiner Gewohnheiten. 6 Wer mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil der Überzeugung ist, dass die Liturgie, näherhin die Eucharistiefeier, die Quelle ist, aus der die Kirche immer wieder neu ihre Kraft schöpft (vgl. SC 10), wird gerade jenen vier von der Messe handelnden Kapiteln in Rodes Regelwerk besondere Aufmerksamkeit schenken. Wir dürfen hoffen, darin Einblicke zu erhalten in die Messfrömmigkeit, aus der heraus die Träger jener spätmittelalterlichen benediktinischen Reformbewegung lebten und wirkten. Wer sich in der Frömmigkeitsgeschichte des Benediktinerordens auskennt, wird sich an das negative Urteil erinnern, das Stephan Hilpisch OSB in einem Aufsatz über die monastische Spiritualität an den Quellen der Bursfelder Reformbewegung und in Sonderheit über die von Johannes Rode vertretene und geförderte Frömmigkeit gefällt hat. 7 Man könne es zwar - so Hilpisch - Johannes Rode nicht verargen, dass er die Schätze der Kartäuserfrömmigkeit dem Benediktinertum habe zuführen wollen. Doch sei dies kein Vorteil für die benediktinische Zukunft gewesen, da dabei die Eigenart des Monastischen verkannt worden sei. „Der Geist Bursfelds unterschied sich wenig von dem der Devotio moderna.“ 8 Hilpischs Vorwurf geht dahin, dass diese spätmittelalterliche Frömmigkeit ihre Quellen nicht 3 Becker, Reformprogramm (wie Anm. 1), 7; vgl. Ders., Dokumente zur Klosterreform des Trierer Erzbischofs Otto von Ziegenhain (1418-1430), in: RBen 84 (1974) 126-166. 4 Vgl. Becker, Reformprogramm (wie Anm. 1), 183-186. 5 Vgl. P. Volk, Die erste Fassung des Bursfelder Liber ordinarius, in: P. Volk, Fünfhundert Jahre Bursfelder Kongregation. Eine Jubiläumsgabe, Münster 1950, 126-183. 6 So Becker, Reformprogramm (wie Anm. 1), 185f. 7 Vgl. St. Hilpisch, Chorgebet und Frömmigkeit im Spätmittelalter, in: Heilige Überlieferung. Ausschnitte aus der Geschichte des Mönchtums und des heiligen Kultes … Ildefons Herwegen … dargeboten … gesammelt von O. Casel, Münster 1938 (BGAM, Suppl. 1) 263-284, bes. 274-281. 8 St. Hilpisch, Die Einführung der Bursfelder Reform in Maria Laach, in: SMGB 44 (1926) 105; vgl. Becker, Reformprogramm (wie Anm. 1), 134. Messfrömmigkeit und Eucharistieverehrung 96 mehr in der Liturgie selbst fand; sie lebte angeblich nicht aus der „Primärquelle“ des gefeierten Kultmysteriums. Sie suchte und fand ihre Nahrung anderswo: in der Leben-Jesu-Betrachtung, die ihren bleibenden volksfrommen Ausdruck in Rosenkranz und Kreuzweg gefunden hat. Weit entfernt vom Geist der Liturgie und eines echten Benediktinertums, habe der Mattheiser Abt seine Mönche angeleitet, während des Chorgebets Ereignisse der Passion Christi zu betrachten. Beispielsweise: „Geht der Mönch zur Prim, so begleitet er Jesus, der zu Pilatus geführt wird, und betrachtet während der Prim die Verurteilung des Herrn zum Tode.“ 9 So werde in allen Horen ein Abschnitt aus der Leidensgeschichte betrachtet, was zur Folge habe, dass das „Officium divinum“ nicht mehr als ein „äußeres Gerippe“ sei, 10 bloß noch als Rahmen diene für die allgegenwärtige Leben-Jesu-Betrachtung. Nach Hilpisch soll diese für die Geistigkeit der „Devotio moderna“ charakteristische Betrachtungsfrömmigkeit erst nach dem Tridentinum, in der Zeit der katholischen Reform, auch in den Raum der Messe eingedrungen sein. Sie habe dazu geführt, dass der zelebrierende Priester „zur Sicherung und Erhöhung seiner Andacht während der einzelnen Teile der Messe bestimmte Anmutungen und Affekte erwecken sollte“, 11 insbesondere im Umkreis der Konsekration. Erste Ansätze für eine solche - in seinen Augen abwegige - Messfrömmigkeit musste Hilpisch freilich auch schon bei Repräsentanten der Bursfelder Reformbewegung erkennen. 12 Doch glaubte er, Johannes Rode selbst sei vor solchen „Irrwegen“ noch bewahrt geblieben. 13 1. Die Quellen Seit dem Erscheinen von Hilpischs Aufsatz hat sich die Quellenlage bedeutend verbessert. In dem von Kassius Hallinger OSB herausgegebenen Corpus Consuetudinum monasticarum liegt seit 1968 das zwischen 1432 und 1435 entstandene 9 Hilpisch, Chorgebet (wie Anm. 7), 280. 10 Vgl. ebd., 279. 11 Ebd., 281. 12 Vgl. ebd., 282. Hilpisch verweist auf die Exhortatio de quotidiana exercitatione monachi des Abtes von Johannesberg im Rheingau, Conrad von Rodenberg (†1486), die P. Volk 1950 im Jubiläumsband „Fünfhundert Jahre Bursfelder Kongregation“ (wie Anm. 5), 193-251 veröffentlicht hat (im Folgenden: Volk, Exhortatio); der die Messe betreffende Passus ebd., 229f. 13 Hilpisch hat nicht genügend beachtet, dass der spätere Abt von Johannesberg seine geistige Formung in St. Matthias in Trier empfangen hat, wo Rodes Konstitutionen bei seinem Eintritt galten und das geistige Erbe des 1439 verstorbenen Reformabtes noch unvergessen war. Volk selbst spricht davon, dass Conrad von Rodenberg „durch die Schule des bekannten Trierer Reformators Johannes Rode in die Gedanken und Ziele der Reform eingeführt“ worden sei; vgl. Volk, Exhortatio (wie Anm. 12), 193. Als Autor der von Abt Conrad in seiner „Exhortatio“ überlieferten Gebete beim Anlegen der Messparamente nennt dieser ausdrücklich Abt Johannes Rode. Dieser muss wohl auch, wie ein Vergleich mit den entsprechenden Abschnitten in den Rodeschen Consuetudines zeigt, zumindest als Inspirator der folgenden Abschnitte über das Verhalten des Priesters während der Messfeier angenommen werden. Der einstige Trierer Mönch Conrad von Rodenberg tradiert u. E. im Wesentlichen Gedankengut des Trierer Reformabtes. Priesterliche Messfrömmigkeit im benediktinischen Reformmönchtum 97 Regelwerk des Mattheiser Reformabtes in einer von Petrus Becker OSB vorbildlich kommentierten kritischen Ausgabe vor. 14 Für die Frage nach der Messfrömmigkeit, zu der Johannes Rode seine Mönche anleiten wollte, wird man vor allem den 4. Teil der Reformkonstitutionen, De missa (Kap. 21-29), insbesondere die alles andere an Ausführlichkeit übertreffenden Darlegungen über den Kanon und Kommunionteil der Messe (Kap. 27-29), beachten müssen. Wie P. Becker gezeigt hat, ist Rode in den liturgischen Teilen seiner „Consuetudines“ von unterschiedlichen, bisher nicht restlos identifizierten Quellen abhängig. 15 Er hat sie durchaus selbständig zu einem neuen Ganzen geformt, das gerade in der Art, wie er aus dem Traditionsgut auswählt und wie er aus Eigenem ergänzt, charakteristische Züge der Messfrömmigkeit seiner Zeit offenbart. Unter dem monastisch-geistlichen Schrifttum des Abtes von St. Matthias findet sich eine eigenständige Praeparatio ad missam, die P. Volk in der von Conrad von Rodenberg überlieferten Form 1950 publiziert hat. 16 St. Hilpisch war die Schrift nur aus einer ihm von P. Volk zur Verfügung gestellten Abschrift bekannt. 17 Der ursprüngliche Umfang des Opusculums ist ungewiss. Höchstwahrscheinlich tradiert Conrad von Rodenberg auch in den übrigen die Messe betreffenden Teilen seiner Exhortatio spirituelles Eigengut Rodes, 18 sodass wir auch diese Quelle zu beachten haben werden. Weitere Erkenntnisse könnten die liturgischen Bücher liefern, die während der Amtszeit des Johanes Rode in der Abtei St. Matthias bei der Messfeier in Gebrauch waren. Doch ist uns für die Messliturgie aus jenen Jahrzehnten „eigentlich gar nichts“ (P. Becker) erhalten. Erst aus der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts, als St. Matthias schon zur Bursfelder Kongregation gehörte (Beitritt 1458), besitzen wir dort benützte Missalien. Besonderes Interesse darf ein kleinformatiges, handgeschriebenes Messbuch beanspruchen, dessen Entstehung der Handschriftenkatalog der Stadtbibliothek Trier in das Ende des 15. Jahrhunderts datiert. 19 Dieses mit Sicherheit aus St. Matthias stammende und für den dortigen Klostergebrauch bestimmte Messbuch ist auf jeden Fall erst nach 1459/ 60, vielleicht aber auch erst nach dem ersten Druck des Bursfelder Einheitsmissales (1481), geschrieben worden, da die in Rede stehende Missalehandschrift im Kanon- und Kommunionteil der Ordnung des Bursfelder Missales folgt, die dem Schreiber somit bekannt gewesen sein muss. Erhalten ist ferner ein in St. Matthias benutztes Exemplar der zweiten, von Abt Johannes Trithemius OSB (1462-1516) betreuten Druckausgabe des Bursfelder Missale ordinis sancti Benedicti (Speyer 1498), das hinsichtlich der 14 Consuetudines et observantiae monasteriorum sancti Matthiae et sancti Maximini Trevirensium ab Johanne Rode Abbate conscriptae, Siegburg 1968 (CCMon 5); dazu der Kommentar: Becker, Reformprogramm (wie Anm. 1). 15 Vgl. Becker, Reformprogramm (wie Anm. 1), 94-98. 16 Vgl. oben Anm. 12; zur Verfasserschaft Rodes und zur Charakteristik der Schrift vgl. Becker, Reformprogramm (wie Anm. 1), 47-50. 17 Vgl. Hilpisch, Chorgebet (wie Anm. 7), 280 Anm. 82. 18 Vgl. oben Anm. 13. 19 Vgl. M. Keuffer, Die Handschriften der Stadtbibliothek zu Trier. 4: Liturgische Handschriften, Trier 1897, 15. P. Becker hat das „Missale Sanmatthianum“ (Hs. 374/ 1037) bei seiner Edition des Rodeschen Regelwerkes vergleichend herangezogen. Messfrömmigkeit und Eucharistieverehrung 98 Messordnung keine - und auch sonst nur ganz geringfügige - Änderungen zur Erstausgabe aufweist. 20 2. Der Grundsatz: Opus et meditatio simul peragantur Die Kapitel über die „private“ Messfeier der Priestermönche beginnen im Rodeschen Regelwerk mit den Anweisungen für das Anlegen der liturgischen Gewänder. 21 Es fällt auf, dass der Mattheiser Abt eine Doppelreihe von Texten angibt, die das Tun des Zelebranten vor dem Gang zum Altar umgeben. Beim Anlegen der einzelnen Teile der Messparamente spricht der Mönch zunächst jeweils das im Messbuch vorgegebene traditionelle, kurze Begleitgebet. Es lautet etwa zum Anlegen der Albe: „Umgib mich, Herr, mit der Rüstung des Glaubens, auf dass ich, vor den Pfeilen des Bösen errettet, die Gerechtigkeit und die Unschuld zu bewahren vermag.“ 22 Diesem Text des „Vorbereitungsoffiziums“ tritt ein zusätzlicher - das ist ungewohnt - „Meditationsimpuls“ an die Seite. In unserem Fall soll der Priester beim Anlegen der Albe still im Herzen beten: „O liebster Jesu, das also ist das Gewand, in dem du, von Herodes (zu Pilatus) zurückgeschickt, viele Schmähungen und Widerwärtigkeiten ertragen hast. Lehre mich, so bitte ich, beständig Schmähungen und Widerwärtigkeiten zu ersehnen, gerne hinzunehmen und geduldig zu ertragen. Amen.“ 23 Nicht in jedem Fall ist die Betrachtungsanleitung zu einem Gebet geformt. Manchmal nennt die Zelebrationsordnung lediglich den Gegenstand der wortlosen Meditation. So soll der Priester beim Anlegen des Zingulums erwägen, „wie Christus, gebunden, gleich einem Übeltäter, von einem Ort zum anderen geführt wird“. 24 Die Bekleidung mit den liturgischen Gewändern wird - das zeigen schon die wenigen angeführten Beispiele - zum Anlass genommen, Ereignisse aus der Leidensgeschichte Jesu fromm zu erwägen. Eine affektive Jesusfrömmigkeit sucht ihren Ausdruck schon an der Schwelle der Eucharistiefeier. Sie macht sich, wie wir sehen werden, nicht nur im Vorhof der Messe bemerkbar, sondern zeigt sich auch und gerade auf den Höhepunkten der Feier. Grundsätzlich, so sagt es Johannes Rode selbst, sollen die objektive liturgische Handlung und die persönliche Betrachtung Hand in Hand gehen. 25 Sein Anliegen ist es, dem Priestermönch zu 20 Stadtbibliothek Trier, Inc. 1002. Zur Bursfelder Missalereform vgl. P. Volk, Die Bursfelder Missalien, in: Liturgica 3, Montserrat 1966 (Scripta et documenta 17) 185-196. Zusammenfassend auch A. Rosenthal OSB, Martyrologium und Festkalender der Bursfelder Kongregation, Münster 1984 (BGAM 35), 10-14. 21 Die Consuetudines Rodes werden im Folgenden als CR nach der Edition von P. Becker (s. Anm. 14) zitiert; hier CR Nr. 63. 22 Als Quelle der Begleitgebete hat Becker den Liber ordinarius des Lütticher St. Jakobsklosters nachgewiesen; vgl. P. Volk, Der Liber ordinarius des Lütticher St. Jakobs-Klosters, Münster 1923 (BGAM 10), 101. 23 Der lateinische Text: CR Nr. 63; der von Conrad von Rodenberg tradierte Wortlaut weicht nur geringfügig vom Text der CR ab; vgl. Volk, Exhortatio (wie Anm. 12), 228. 24 Ebd. 25 Vgl. CR Nr. 63: „… continue opus et meditatio simul peragantur“. Priesterliche Messfrömmigkeit im benediktinischen Reformmönchtum 99 helfen, das liturgische Geschehen durch die begleitende Meditation zu verinnerlichen und ihn so das ihm aufgetragene Opus Dei, den Gottes-Dienst, andächtig (devote) vollziehen zu lassen. Die Gefahr, dass eine solche affektive Betrachtungsfrömmigkeit sich zu ausufernd im Raum der Messe breitmachen und den Gang der actio liturgica aufhalten oder ganz überlagern könnte, hat Rode nicht übersehen. Er warnt deshalb den Mönch, sich während der Messe zu ausgedehnten Betrachtungen hinzugeben. Dem Messdiener und sonstigen Messteilnehmern dürfe er mit seinen ungebührlich in die Länge gezogenen Meditationen nicht lästig werden. 26 Rode unterstreicht, dass die äußere Handlung kontinuierlich ihren Fortgang nehmen muss, doch stets unterfangen und umgeben von der gleichzeitig geübten Betrachtung, der „meditatio“. Diese kann sich naturgemäß dort stärker entfalten, wo der Messritus selbst dem persönlichen Gebet des Priesters Freiraum gewährte: im Bereich der Vorbereitungsriten, beim Memento der Lebenden und Verstorbenen innerhalb des Kanons und im Umkreis des Kommunionempfangs. Besondere Aufmerksamkeit verdienen ferner die Konsekration und die mit ihr verbundene Elevation, die, von der mittelalterlichen Messfrömmigkeit als Gipfel der Messe erlebt, auch in der Zelebrationsanweisung des Mattheiser Reformabtes eine auffallend ausführliche Behandlung erfahren. 3. Meditationsimpulse beim Anlegen der Paramente Wie bereits angedeutet, begleitet der Priestermönch das Anlegen der liturgischen Gewänder in der Sakristei nicht bloß mit den traditionellen Begleitworten; ihnen beigegeben sind Meditationsimpulse. Die zu meditierenden Ereignisse aus der Leidensgeschichte stehen als unverbundene Meditationsbilder nebeneinander; sie sind zudem nicht konsequent in der Reihenfolge des historischen Geschehens geordnet. So ist etwa beim Anlegen des Schultertuchs Betrachtungsgegenstand die Verspottung Jesu durch die Wächter des Hohenpriesters, die Jesus schlugen, nachdem sie zuvor mit einem Tuch sein Gesicht verhüllt hatten (vgl. Mt 26,67; Mk 14,65; Lk 22,63f.). Mit diesem Passionsereignis verbindet sich die inhaltlich verwandte, aber zeitlich getrennte Verspottungsszene der Dornenkrönung (Mt 27,29; Mk 15,17; Joh 19,2). 27 Beim Anlegen der Albe erwägt der Zelebrant, wie sein Herr von Herodes mit einem Prunkgewand zum Spott bekleidet wurde (vgl. Lk 23,11), eine Begebenheit, die der Dornenkrönung zeitlich vorausgeht. Bindet sich der Mönch das Zingulum um, erinnert es ihn daran, dass Christus in seiner Passion gebunden bald hierhin, bald dorthin geführt wurde (vgl. Mt 27,2; Mk 15,1). Im Regelwerk des Mattheiser Reformabtes bleibt die Passionsmeditation beim Anlegen der Messgewänder maßvoll auf die drei genannten Motive beschränkt. Nur die Begleitgebete zu Humerale, Albe und Zingulum sind durch Medita- 26 Vgl. ebd.: „In his adeo succincta sit meditatio, ut taedio non afficiat ministrum seu adstantes …“. 27 Das Motiv der Dornenkrönung, das sich infolge der Anlegeweise des Humerale über dem Kopf als Betrachtungsgegenstand nahelegte, fehlt noch in Rodes „Meditationes habendae circa induitionem sacrarum vestium“; vgl. unten bei Anm. 28. Messfrömmigkeit und Eucharistieverehrung 100 tionsanregungen erweitert. Beim Anlegen der übrigen Paramente begnügt sich der Priester damit, die allgemein üblichen, im Messbuch stehenden Begleitgebete zu sprechen. P. Becker hat in seinem Kommentar zu Rodes Regelwerk bereits darauf hingewiesen, dass die Meditationsanregungen im Rahmen der Sakristeigebete auf eine Vorlage zurückgehen. Es handelt sich um ein kleines Werk mit dem Titel Meditationes habendae circa induitionem sacrarum vestium, das der St. Mattheiser Abt „tempore concilii Basiliensis circa annos domini 1433“ verfasst und seinen Mönchen mitgeteilt hat (suis tradidit). 28 Das Opusculum bietet neben einer einleitenden, „weit ausgreifenden Betrachtung über die Reinigung des Herzens vor dem Empfang der Eucharistie, ausgehend von dem Bericht über die Fußwaschung und den Abschiedsreden des Herrn“ (P. Becker) eine vollständige „Praeparatio ante missam“. Was der St. Mattheiser Reformabt in den Consuetudines nur in reduzierter Form beibehalten hat, ist hier voll entfaltet: Zu jedem Teil der Messkleidung steht neben dem herkömmlichen Begleitgebet eine Meditationsanregung. „Orationes“ und „Meditationes“ sind also konsequent parallelisiert, wie es die folgende Gegenüberstellung zeigt. Um das formale Prinzip und den Gehalt von Rodes „Praeparatio ante missam“ zu veranschaulichen, scheint uns der Text der bisher unveröffentlichten Variante B wegen seiner Ausführlichkeit am besten geeignet. 29 Von der einleitenden Betrachtung ist der uns interessierende Abschnitt klar erkennbar abgesetzt durch eine Zwischenüberschrift: Orationes et meditationes ante accessum altaris etiam exercitia corporalia facienda (Gebete und Betrachtungen vor dem Gang zum Altar sowie zu verrichtende körperliche Übungen). Die Vorbereitung für den Gang zum Altar beginnt mit dem von einem Gebet begleiteten Ablegen des Obergewandes. Während der folgenden Händewaschung spricht der Mönch die Oration „Lagire sensibus nostris“, ein in dieser Funktion im Spätmittelalter sehr häufig bezeugter Text. 30 Ehe der Zelebrant dann zum Anlegen der liturgischen Gewänder übergeht, hält er inne und, indem er vor den für ihn ausgelegten Paramenten niederkniet, spricht er: „Ich beuge meine Knie vor dem Vater meines Herrn Jesus Christus, von dem jede Vaterschaft im Himmel und auf Erden ihren Namen hat, durch denselben Christus (unsern Herrn).“ 31 Auf dem Boden kniend, betet er sodann ein Vaterunser, ein Gegrüßest seist du, Maria und nach dem Oremus (Lasset uns beten) das folgende Christusgebet: 28 Vgl. Becker, Reformprogramm (wie Anm. 1), 47-50; in der von Abt Conrad von Rodenberg tradierten Form hat P. Volk (s. Anm. 12) die Schrift Rodes ediert. 29 Sammelhandschrift des 15. Jahrhunderts aus der Abtei St. Matthias: Bibliothek des Priesterseminars Trier Hs. 109 fol. 85 r -88 v . 30 Zu den Formeln „Exue me, domine, veterem hominem“ und „Lagire“ vgl. J. A. Jungmann, Missarum Sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe. 5. Aufl., Wien 1962, 1, 361f. Rode dürfte hier dem liturgischen Brauch der Trierer Kirche folgen; vgl. A. Heinz, Der Ordo Missae im „Reisemissale“ des Trierer Erzbischofs Balduin von Luxemburg (1308-1354), in: FS Franz Ronig, Trier 1989, 217-233. Die auf Balduin zurückgehende Ordnung wurde in den vortridentinischen Drucken des Trierer Messbuches beibehalten. 31 Vgl. Eph 3,14 in der Vulgata-Fassung. Priesterliche Messfrömmigkeit im benediktinischen Reformmönchtum 101 „Herr Jesus Christus, Sohn des lebendigen Gottes, du hast gewollt, dass das Sakrament deines Leibes und Blutes durch die Hände der Priester zur Zeit der Messe bereitet wird. Gib mir die Gnade, diese Messe so gläubig und andächtig (devote) zu feiern, dass ich gewürdigt werde, die Süße deiner liebsten Gegenwart in meinem Herzen zu erfahren und zu bewahren, der du als Gott lebst und herrschst von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“ 32 Langsam und bedächtig soll der Priester sich danach erheben. Währenddessen betet er mit diesen oder ähnlichen Worten: „O liebster Herr, ich bitte dich inständig, du mögest jetzt durch die allmächtige, süße und gütige Liebe deines Herzens mein Herz bereiten, auf dass es dich würdig bei sich aufnehmen kann, dass du in Zukunft in mir wirken und all das vollbringen kannst, was du von Ewigkeit her vorausbestimmt hast, dass es mit mir geschehen soll, nach jedem Wohlgefallen deines göttlichen Willens, zu deinem Lob und zu deiner Verherrlichung und zum Heil meiner Seele. Amen.“ 33 Nun beginnt das von Gebet und Meditation begleitete Anlegen der Paramente. Die den einzelnen Stücken der Gewandung zugeordneten Texte sind in den folgenden Kolumnen nebeneinandergestellt. 34 Orationes Ad humerale (Zum Schultertuch): Conscinde, domine, saccum meum et circumda me letitia salutari per christum (dominum nostrum). (Zerreiße, Herr, mein Bettelkleid und bekleide mich mit der Freude des Heils durch Christus, unsern Herrn.) Meditationes In memoriam velaminis faciei tuae, domine, velamen istud, capiti meo superpono humiliter te deprecans, quatenus tu velare digneris peccata mea ut non appareant in die retributionis et judicii. Amen. (Zum Gedächtnis der Verhüllung deines Antlitzes, Herr, lege ich dieses Tuch auf mein Haupt und bitte dich demütig, du wollest gnädig meine Sünden bedecken, dass sie nicht am Tag der Vergeltung und des Gerichtes sichtbar werden. 32 Hs. 109 (wie Anm. 29), fol. 87 r : „Domine Jhesu Christe, fili dei vivi, qui per manus sacerdotum corporis et sanguinis tui sacramentum in hora missae confici voluisti, da mihi hanc missam ita fideliter et devote celebrare ut dulcissimae praesentiae tuae suavitatem in corde meo sentire mererar et tenere, qui vivis et regnas deus per omnia saecula saeculorum. Amen.“ 33 Ebd.: „O amantissime domine, obsecro quatenus tu nunc cum omnipotenti, dulci et benigno amore cordis tui digneris praeparare cor meum, ut te digne in idem recipere merear et iam ulterius in me operari et perficere omne illud, quod tu ab aeterno mecum fieri praedestinasti secundum omne beneplacitum divinae voluntatis tuae ad tuam laudem et gloriam et animae meae salutem. Amen.“ Die CR, die den Text des Gebets nicht enthalten, scheinen seine Rezitation trotzdem vorauszusetzen; vgl. Becker, Reformprogramm (wie Anm. 1), 49. 34 Hs. 109 (wie Anm. 29), fol. 87 r -88 r . Die geringfügig abweichende, von Conrad von Rodenberg tradierte Form bei Volk, Exhortatio (wie Anm. 12), 228f. Messfrömmigkeit und Eucharistieverehrung 102 Ad albam (Zur Albe): Circumda me, domine, fidei armis, ut ab iniquitatum sagittis erutus, valeam justitiam et innocentiam observare per christum dominum nostrum. (Umgib mich, Herr, mit den Waffen des Glaubens, damit ich, gerettet vor den Pfeilen der Bosheit, imstande bin, gerecht und lauter zu leben durch Christus, unsern Herrn.) Ad cingulum (Zum Zingulum): Praecinge me, domine, virtute et pone immaculatam viam meam. Praecinge, domine, lumbos mentis meae et circumscinde in me vitia mentis et corporis per christum (dominum nostrum). (Umgürte mich, Herr, mit Tugend und lass mich makellos meinen Weg gehen. Umgürte, Herr, die Lenden meines Geistes und töte in mir die Laster der Seele und des Leibes, durch Christus unsern Herrn.) (Ad manipulum - Zum Manipel: ) Investione huius manipuli te deprecor, domine, quatenus exemplo priorum patrum ita operer in temporali conversatione ut non amittam aeternam per christum dominum nostrum. Amen. (Beim Anlegen dieses Manipels bitte ich dich, Herr, dass ich nach dem Beispiel der alten Väter so in meinem zeitlichen Leben arbeite, dass ich das ewige nicht verliere, durch Christus, unsern Herrn.) (Ad stolam - Zur Stola: ) Ad stolam humiliter eam deosculando dic: Sacerdotes tui induantur justitiam et sancti tui exultent. Dirumpe domine vincula peccatorum meorum, ut, jugo tuae servitutis innixus, valeam tibi cum timore et O dulcisime domine jhesu christe, qui in alba veste ab herode illudi et fatuus reputari voluisti, fac me, quaeso, injurias et opprobria jugiter, desiderare, gaudere et suscipere et patienter tolerare. Amen. (O süßester Herr Jesus Christus, der du von Herodes mit einem weißen Gewand verhöhnt und für einen Gaukler gehalten werden wolltest, lass mich, darum bitte ich, Ungerechtigkeiten und Schmähungen ersehnen, mich darüber freuen, sie annehmen und geduldig ertragen. Amen.) De captione, vinculatione et ductione domini de loco ad locum dolorose et (? ) nimis. ([Betrachtung] über die Gefangennahme, Fesselung und Abführung des Herrn von einem Ort zum anderen unter Schmerzen und sehr großer (? .) Meditatio de cathena, quae in collo dominico in eius captione fertur imposita, petens ut jugum servitutis suae, cui collum submisisti, leve tibi efficiat et ad finem usque tibi perseverare concedat. Priesterliche Messfrömmigkeit im benediktinischen Reformmönchtum 103 reverentia semper famulari per christum (dominum nostrum). (Wenn du die Stola demütig küsst, sprich: Deine Priester sollen sich in Gerechtigkeit kleiden und deine Heiligen jubeln. Zerreiße, Herr, die Fesseln meiner Sünden, auf dass ich, unter das Joch deines Dienstes gebeugt, dir mit Furcht und Andacht immer zu dienen vermag, durch Christus, unsern Herrn.) (Ad casulam - Zur Kasel: ) Sicque eandem induendo dic ad casulam: Indue me, domine, sacerdotali justitia, ut induci merear in aeterna tabernacula per christum dominum nostrum. Amen. (Wenn du die Kasel anlegst, sprich dabei: Bekleide mich, Herr, mit priesterlicher Rechtschaffenheit, auf dass ich würdig werde, in die ewigen Wohnungen geführt zu werden, durch Christus, unsern Herrn.) (Betrachtung über die Kette, die dem Herrn bei seiner Gefangennahme um den Hals gelegt worden sein soll, verbunden mit der Bitte, dass er das Joch seines Dienstes, dem du deinen Nacken gebeugt hast, dir leicht mache und dass er dir gewähre, bis zum Ende auszuharren.) Antequem induas casulam, capite manibus et casulae inserto, taliter vel consimiliter dic mente vel voce: Respice nunc, o piissime domine, de sanctuario tuo super me misero peccatore et praesta mihi auxilium gratiae tuae, ut hanc missam cum debita devotione peragere possim et singula proferrenda proferre attente, sincere, integraliter et affectualiter. Tu ipse, quaeso, sis regulator et ponderator omnium per me proferendorum, nec respicias peccata mea sed intercessionem dulcissime matris tuae sancti quoque N., cuius hodie festivitas vel memoria peragitur. Et tu, o piissima mater et sancte N., mihi assistere dignemini, ut vestro benigno auxilio perficere valeam hoc, quod intendo. Amen. (Bevor du die Kasel anlegst, wenn der Kopf mit Hilfe der Hände ins Messgewand eingefügt ist, sprich auf folgende oder ähnliche Weise in Gedanken oder mit Worten: Mildester Herr, schau jetzt von deinem Heiligtum auf mich armseligen Sünder herab und gewähre mir den Beistand deiner Gnade, damit ich diese Messe mit der gebührenden Andacht feiern kann und jedes einzelne Wort, was zu sprechen ist, aufmerksam, aufrichtig, unverkürzt und mit innerer Anteilnahme spreche. Du selbst, darum bitte ich, mögest der Leiter und Prüfer aller Messfrömmigkeit und Eucharistieverehrung 104 meiner Worte sein, auch mögest du nicht meiner Sünden gedenken, sondern auf die Fürsprache deiner liebsten Mutter und des Heiligen, dessen Fest oder Gedenktag heute begangen wird, hören. Und du, mildeste Mutter, und heiliger N., steht mir gnädig bei, damit ich mit eurer gütigen Hilfe vollbringen kann, was ich vorhabe. Amen.) Die Reihe der „Orationes“ entspricht, worauf der Herausgeber von Rodes Regelwerk bereits hingewiesen hat, der Vorgabe des Liber ordinarius des Lütticher St. Jakobs-Klosters (LOL). Der auf den ersten Blick verwunderliche Rückgriff auf Lütticher liturgischen Brauch findet seine einleuchtende Erklärung, wenn man bedenkt, dass aus dem Lütticher Konvent 1419 vier Mönche auf Bitten des Trierer Erzbischofs nach St. Matthias kamen, die das dort reformbedürftige monastische Leben erneuern helfen sollten. Sie brachten „ihre Lebensnorm, den LOL, mit, der für die Consuetudines Rodes eine der wichtigsten Quellen werden sollte.“ 35 Der im LOL geregelte, von Rode übernommene Gebetskomplex der „Praeparatio ante missam“ 36 weist zudem eine große Nähe zur lokalen trierischen Tradition auf 37 , sodass die Rezeption des Lütticher Vorbildes nicht als Bruch mit den liturgischen Gepflogenheiten der Ortskirche empfunden wurde. Eigengut des Mattheiser Abtes sind die Texte der zweiten Kolumne. Nach der glaubhaften Angabe des Mattheiser Mönchs und späteren Abtes von Johannisberg im Rheingau, Conrad von Rodenberg (†1486), hat Johannes Rode die Meditationes habendae circa induitionem sacrarum vestium zu der Zeit verfasst, als er zusammen mit dem späteren Kardinal Nikolaus Cusanus (1401-1464) als Prokurator des zum Erzbischof von Trier erwählten, vom Heiligen Stuhl aber nicht bestätigten Ulrich von Manderscheid auf dem Baseler Konzil weilte. 38 Ohne unserer abschließenden Wertung der uns hier entgegentretenden priesterlichen Messfrömmigkeit vorgreifen zu wollen, sei bereits jetzt vermerkt: Die Meditationsanleitung Rodes bewegt sich nicht in den Spuren der mittelalterlichen Allegorese. Auch geht es offenbar nicht darum, eine kontinuierliche Betrachtung der Passionsereignisse in historischer Abfolge mit der Messliturgie zu verbinden. Einzelne Teile der liturgischen Kleidung wecken lediglich sich anbietende Assoziationen an einzelne Geschehnisse der Leidensgeschichte. Ihr Gedächtnis soll den Priester einstimmen in seinen bevorstehenden Dienst, als Werkzeug Christi in seinem Geist, nach „seinem Herzen“ sozusagen, das Kreuzesopfer sakramental zu vergegenwärtigen. 35 Becker, Reformprogramm (wie Anm. 1), 13. 36 Vgl. oben Anm. 22. 37 Vgl. außer der in Anm. 30 genannten Literatur den anonymen Aufsatz: Die allgemeinen Gebräuche bei der hl. Messe in der Trierischen Kirche, in: Mitteilungen aus dem Gebiete der kirchlichen Archäologie und Geschichte der Diözese Trier, Trier 1856, hier 42-44. 38 Vgl. Becker, Reformprogramm (wie Anm. 1), 21-31. 47f. Priesterliche Messfrömmigkeit im benediktinischen Reformmönchtum 105 4. Die Gestaltung des Memento Der Wortlaut des Kanons galt als unantastbar. Im Spätmittelalter wäre es keinem Vertreter des benediktinischen Reformmönchtums in den Sinn gekommen, am Eucharistiegebet auch nur die geringste Änderung vorzunehmen. Dabei werden gerade die von der Jesus-Frömmigkeit der „Devotio moderna“ beeinflussten „Führer“ jener Zeit den aus einer so andersartigen geistigen Welt kommenden römischen Kanon als ausgesprochen spröde und kühl empfunden haben. Aber der Kanon stand nicht zur Disposition. Dem Zelebranten wurde ans Herz gelegt, die sakrosankten Worte des Hochgebets mit besonderer Aufmerksamkeit (attentius) zu sprechen. 39 Der in der Tradition Rodes stehende Abt von Johannisberg, Conrad von Rodenberg, führt zudem zwei Überlegungen an, die den Priester bewegen sollen, den Kanon mit „Herz“ (cordialiter) zu beten. 40 Zum einen solle der Zelebrant die Anfangsworte bedenken. Die Anrede „clementissime pater“ stelle ihm Gott als den unendlich Barmherzigen vor Augen, dessen Liebe unbegreiflich sei. Diese abgrundtiefe Barmherzigkeit und grenzenlose Liebe werde niemandem etwas abschlagen, der sich als reuiger und demütiger Bittsteller, voll Vertrauen, Gott nahe. So sind also die ersten Worte des Kanons (nach der Anschauung der Zeit begann das Eucharistiegebet erst mit dem Te igitur) dazu angetan, den Priester in jene vertrauensvolle und andächtige Gemütshaltung zu versetzen, die ihn das ganze Hochgebet „magna (…) confidentia et devotione interna - mit großem Vertrauen und innerer Andacht“ sprechen lässt. Noch ein Zweites macht den Text des Kanons wert und teuer. Der Zelebrant dürfe gewiss sein - so Conrad von Rodenberg -, Gott erhöre ein Gebet umso bereitwilliger, wenn es in einer Form vorgetragen werde, die er selbst „inspiriert“ hat. 41 Das vorgegebene „liturgische“ Gebet gilt demnach als gottgefälliger im Vergleich zum persönlichen, selbstformulierten Gebet. Eine höchst bemerkenswerte Wertung! So ganz blind für den „Geist der Liturgie“, wie die überstrenge Kritik Hilpischs glauben machen wollte, war die Spiritualität im Quellgebiet der Bursfelder Reformbewegung wohl doch nicht. Hier wie anderswo wird vielmehr das ernste Bemühen spürbar, dem Mönch zu helfen, das vorgegebene Text- und Ritengefüge der Messe von innen her, aus einer lebendigen Christusverbundenheit und tiefen Gottesliebe heraus, lebendig zu vollziehen. Ließ die liturgische Ordnung allerdings selbst Raum für das persönliche Gebet, drängte dieses mit ungestümer Vehemenz zum Ausdruck. Im Bereich des Eucharistiegebets boten das Memento vivorum (Gedächtnis der Lebenden) und das Memento mortuorum (Gedächtnis der Verstorbenen) solche willkommenen Freiräume. An beiden Stellen war ursprünglich nur an eine kurze Gebetsstille gedacht. Ohne lange zu verweilen, sollte der Priester diejenigen in das Erbarmen Gottes empfehlen, für die er an diesem Tag in besonderer Weise das Opfer Christi darbrachte. Das zweimalige kurze Memento erfährt nun aber in den CR eine ungewöhnlich 39 Vgl. Volk, Exhortatio (wie Anm. 12), 230. 40 Vgl. ebd. 41 Dieser Gedanke erinnert an Cyprians Wort (De dominica oratione 3: CSEL 3,268): „Amica et familiaris oratio est, Deum de suo rogare.“ Messfrömmigkeit und Eucharistieverehrung 106 breite Behandlung. Der Mattheiser Reformabt gibt den Priestermönchen eine detaillierte Anleitung, wie sie den vorgesehenen Gebetsfreiraum sinnvoll ausfüllen sollten: 42 In das Gedenken Gottes empfiehlt der Zelebrant zunächst sich selbst, dann seine Klosterfamilie: den Abt, die anwesenden und abwesenden Mönche, das Klostergebäude mit allen Bewohnern und Angestellten beiderlei Geschlechts, ferner alle reformierten und verbrüderten Klöster seines Ordens. Die an zweiter Stelle zu berücksichtigende Menschengruppe ist die leibliche Familie des Mönchs: Eltern, Geschwister, Verwandte. Sein Gebetsgedenken erstreckt sich ferner auf die Gruppe der Wohltäter allgemein und speziell jener, von deren Almosen der Mönch lebt und die deshalb seinem Gebet besonders empfohlen sind. Der Kreis weitet sich; die ganze Kirche - so betet der Mönch - soll Gott von allen Widerwärtigkeiten und Irrtümern befreien und zu einer anmutigen Braut ohne Falten und Makel machen; in Sonderheit wird der trierischen Ortskirche gedacht, ihres Oberhirten, der Geistlichen und Laien. Bemerkenswert ist die Fürbitte für die Feinde. 43 Der Priester gedenkt ferner aller angefochtenen, gefangenen und bedrängten Menschen sowie derer, die Böses im Sinn haben. Er betet um die Reinheit der Luft und das Gedeihen der Feldfrüchte; er vergisst nicht die aktuellen Nöte und empfiehlt schließlich alle lebenden Christgläubigen in die Barmherzigkeit Gottes. Das Gedächtnis der Verstorbenen erstreckt sich in ähnlicher Weise auf die genannten Personengruppen. Besonders erwähnt werden die Verstorbenen, deren Jahrgedächtnis oder Gedenktag an dem betreffenden Datum einfällt. Ein Memento gilt auch denen, derer sonst niemand im Gebet gedenkt. Das breit entfaltete Memento brachte Johannes Rode als persönlich geübte Zelebrationspraxis aus der Trierer Kartause St. Alban mit. Höchstwahrscheinlich gehörte er dort einer von seinem Mitbruder Dominikus von Preußen (†1461) ins Leben gerufenen geheimen Priesterverbrüderung an, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, täglich im Memento der Messe Gott in besonderer Weise für eine Seele im Fegfeuer, einen zu bekehrenden Sünder, einen versuchten und niedergeschlagenen Christen und für ein Kind der kommenden, den Glauben weitertragenden Generation zu bitten. 44 Von diesem selbst gegenüber Nichtmitgliedern im eigenen Konvent geheimgehaltenen Sonderbrauch erwähnt die Messordnung der CR erwartungsgemäß nichts. Doch zeigt dieses Beispiel aus der geistlichen Umwelt Rodes einmal mehr, wie sehr die spätmittelalterliche Messfrömmigkeit nach solchen Zonen persönlichen Betens verlangte und wie sie die dafür vorgesehenen Freiräume nicht nur bereitwillig nutzte, sondern über Gebühr ausdehnte. Zudem hat der Verlust des Allgemeinen Gebets am Ende des Wortgottesdienstes faktisch 42 Vgl. CR Nr. 69 und 72; ähnlich die von Conrad von Rodenberg tradierte „forma procedendi in memoriis“; vgl. Volk, Exhortatio (wie Anm. 12), 230f. 43 Zu dieser in Vergangenheit und Gegenwart oft vergessenen Fürbitte vgl. A. Heinz, Das Gebet für die Feinde in der abendländischen Liturgie, in: LJ 32 (1982) 201-218. Nachdruck in diesem Band. 44 Die die Zelebrationspraxis dieser Vereinigung schildernde, bisher unveröffentlichte Schrift des Dominikus von Preußen „De fructuosa celebratione Missae“ ist in einer Abschrift des 15. Jahrhunderts erhalten: Hist. Archiv der Stadt Köln Hs. GBf 129, fol. 17 v -30 r ; eine kurze Inhaltsangabe bei Klinkhammer, Adolf von Essen (wie Anm. 2), 12f. Priesterliche Messfrömmigkeit im benediktinischen Reformmönchtum 107 dazu geführt, dass typische Intentionen des Fürbittgebets nun im Eucharistiegebet untergebracht werden. 5. Die Elevation Es kann keinen Augenblick zweifelhaft sein, wo die mittelalterliche Messfrömmigkeit ihre Mitte fand: Der Höhepunkt der Messe war die Elevation, wenn der Priester nach den Einsetzungsworten die konsekrierte Hostie und den Kelch mit dem Blut Christi zeigend emporhob. 45 Niemand wird sich deshalb über die Sorgfalt wundern, mit der Johannes Rode diesen Teil des Kanons in seinen Consuetudines behandelt. 46 Mit aller nur erdenklichen Andacht (devotione) und Aufmerksamkeit muss der Priester die Konsekrationsworte aussprechen. Dabei beugt er sich, beide Arme auf die Mensa stützend, tief über den Altar. Mit größter Ehrfurcht und Andacht (devotione) erhebt er darauf das Sakrament, das er unverwandt anschaut, bis er es wieder auf dem Corporale niedergelegt hat. Bei der Elevation, die er so hoch ausführen muss, dass die Hostie gut von allen Anwesenden hinter ihm betrachtet werden kann, hat der Priester die Hände unten zusammenzuhalten, damit nicht etwa irgendeine Verunehrung des Sakraments unterläuft. Noch ist es nicht die erst seit dem Tridentinum allgemein üblich gewordene Kniebeuge, sondern die tiefe Verneigung, wodurch der Zelebrant den Leib des Herrn verehrt, ehe er zur Kelchkonsekration übergeht. Hat er nach den Kelchworten den Kelch in ähnlicher Weise wie vorher die Brotgestalt erhoben, verehrt er das Blut Christi ebenfalls durch eine tiefe Verbeugung und fährt dann im Text des Kanons fort. An dieser Beschreibung von Wandlung und Elevation fällt auf, dass Rodes Regelwerk nichts von stillen Priestergebeten in diesem Kernbereich des Hochgebets weiß. Sollte ausgerechnet hier das stille Herzensgebet des Zelebranten ausgeschlossen bleiben? Man wundert sich darüber um so mehr, als es seit dem 13. Jahrhundert üblich geworden war, das erhobene Sakrament etwa mit einer Hymnenstrophe, einer Antiphon oder auch einem volkssprachlichen Lied zu begrüßen. Manche Ordensliturgien sahen einen solchen Elevationsgesang ausdrücklich vor. Mittelalterliche Prediger brachten ihren Zuhörern passende Gebete bei, die sie sprechen sollten, wenn der Priester ihnen den „Fronleichnam“ im Schein der „Wandelkerze“ und unter dem Geläut der Wandlungsglocke zeigte. 47 Sollte dem Priester selbst versagt geblieben sein, was er dem Volk empfahl zu tun? Rode hatte gute Gründe, 45 Vgl. z. B. P. Browe, Die Elevation in der Messe, in: JLW 9 (1929) 20-66; H. B. Meyer, Die Elevation im deutschen Mittelalter und bei Luther, in: ZKTh 85 (1963) 162-217. Den derzeitigen Forschungsstand fasst zusammen O. Nussbaum, Die Aufbewahrung der Eucharistie, Bonn 1979 (Theophaneia 29) 125-139; vgl. auch mein Referat auf der Jahrestagung des Vereins der Förderer und Freunde des Abt-Herwegen-Instituts der Abtei Maria Laach 1981: Schwerpunktverlagerung in der Messfrömmigkeit, in: HlD 36 (1982) 69-79. 46 CR Nr. 70. 47 Zu den Aufgaben des Ministranten zählt Johannes Rode auch diese: „… cum campana (…) ter elevationem sacramenti significare“. Außerdem hatte er die besonderen „Wandlungskerzen“ anzuzünden und nach der Elevation sofort wieder zu löschen; vgl. CR Nr. 52; in der Beschreibung der Abtsmesse ist zusätzlich das Niederknien von Diakon und Subdiakon während der Elevation erwähnt (CR Nr. 60). Messfrömmigkeit und Eucharistieverehrung 108 in seinen Consuetudines für die reformierten stadttrierischen Benediktinerabteien die liturgische Ordnung zu beachten, die im Umkreis der Konsekration keine persönlichen Priestergebete kannte. Die Praxis aber dürfte anders ausgesehen haben. Abt Conrad von Rodenberg hat in seine von Rode abhängigen Messbetrachtungen den Mustertext für ein stilles Gebet des Zelebranten im Augenblick der Elevation aufgenommen. Demnach solle der Priester mit diesen oder ähnlichen Worten im Herzen (mentaliter) beten, wenn er den Leib Christi erhob: 48 „O milder, gütigster Vater, schau in diesem Augenblick von deinem Heiligtum her und sieh dieses heiligste Opfer, das ich dir darbringe für unsere Sünden. Habe Erbarmen mit der Fülle unserer Vergehen. Es ist ja die Stimme des Blutes unseres Bruders Jesus Christus, die vom Kreuz her zu dir ruft. Nimm ihn hin für die Erlösung und die Versöhnung aller, deren Heil wir ersehnen, für das Heil der Lebenden und die Seelenruhe der Verstorbenen. Amen.“ Auch zur Kelchelevation sprach der Priester ein diesmal das Blut des Erlösers direkt anredendes Gebetswort: 49 „O wunderbares, unschuldiges und kostbares Blut, erbarme dich über uns arme Sünder mit der Liebe jenes Liebesstroms, in dem du für uns aus den seligsten Wunden geflossen bist. Amen.“ Unsere Vermutung, dass es zu den Zelebrationsgepflogenheiten der Benediktiner von St. Matthias gehörte, Gebete dieser Art im Umkreis der Wandlung zu sprechen, bestätigt ein Blick in das eingangs erwähnte in St. Matthias benützte handgeschriebene Missale. Wir finden darin neben Vorbereitungsgebeten vor der Messfeier eine Sammlung von Elevations- und Kommuniongebeten. Die Reihe der Auswahltexte eröffnet je ein Gebet zur Elevation der Hostie und des Kelches. Überraschenderweise zeigt sich eine teilweise wörtliche Übereinstimmung mit dem oben angeführten Doppelgebet, wie die folgende Gegenüberstellung zeigt: 50 Text nach Conrad von Rodenberg O alme et benignissime pater, respice nunc de sanctuario tuo et intuere hanc sacratissimam hostiam, quam tibi ymmolo pro peccatis nostris et esto placabilis super multitudine malitae nostrae. En vox sanguinis fratris nostri Jhesu Christi clamat ad te de cruce, suscipe eum pro redemptione et indulgentia omnium, pro quibus desideramus, vivorum et defunctorum salute et requie. Amen. Missale Sanmatthianum 50 Alme et benignissime pater. Ecce immolo tibi hoc eternum tui paterni cordis verbum, in carne nostra. Aspice vulnera et pretiosum sanguinem eius, et suscipe eum hodie pro laude, et gratudine omnium beneficiorum, quae a te vnquam accepimus. Ecce frater noster clamat ad te (dominus noster ihs christus) de cruce. Suscipe eum pro remissione et indulgencia omnium peccatorum, que vnquam commisimus. Suscipe eum pro recommendacione omnium defectuum 48 Die lateinische Originalfassung bei Volk, Exhortatio (wie Anm. 12), 231. 49 Ebd. 50 Vgl. oben Anm. 19; hier Hs. 374/ 1037 fol. 6 r . Priesterliche Messfrömmigkeit im benediktinischen Reformmönchtum 109 O ammirabilis, innocens et pretiose sanguis, miserere nobis miseris peccatoribus amore illius caritativae effusionis, qua pro nobis de beatissimis vulneribus effuxisti. Amen. et miseriorum, quibus subiacemus. Suscipe eum in emendationem totius miserabilis vite nostre, et liberacionem vniversalis matris ecclesiae. Et singulariter pro omnibus, pro quibus desideramus viuorum et defunctorum salute. O Ammirabilis Innocens preciosissime sanguis, miserere nobis peccatoribus Amore illius charitatiuae effusionis, qua pro nobis de beatissimis vulneribus effluisti. Amen. Die Übernahme dieser wohl auf Rode zurückgehenden Texte in ein Klostermissale zeigt, dass die Gebetsanregungen, die der Mattheiser Abt seinem Konvent einst gegeben hatte, dort auch Jahrzehnte später noch die Messfrömmigkeit der Mönche prägten und nährten. Wie es die den Gebeten jeweils vorangehende Rubrik deutlich sagt, sprach der zelebrierende Priester diese Gebete still für sich während der Erhebung der Hostie beziehungsweise des Kelches. Es lag nicht in der Absicht Rodes, seine Texte verbindlich zu machen. Freibleibende Gebetshilfen sollten sie sein. Manche Zelebranten werden ihre Andacht lieber in den Worten eines der verbreiteten mittelalterlichen Elevationsgebete oder Sakramentshymnen ausgedrückt haben, zumal wenn diese Texte sich durch päpstliche Ablassverleihungen selbst empfahlen. Unsere Missalehandschrift bietet in diesem Sinn als weitere mögliche priesterliche Elevationsgebete das „Anima Christi - Seele Christi, heilige mich“ und das seit dem 13. Jahrhundert in dieser Funktion häufig bezeugte Grußgebet „Ave principium nostre creationis - Sei gegrüßt, Ursprung unserer Schöpfung“ an. 51 Es fehlt auch nicht das verbreitete eucharistische Reimgebet „Ave caro Christi cara - Sei gegrüßt, werter Leib Christi“. 52 Weniger bekannt ist der folgende Text „post elevationem“: 53 51 Vgl. J. A. Jungmann, Missarum Sollemnia (wie Anm. 30), 2, 255-271. Zum Anima Christi vgl. Balth. Fischer, Pone me iuxta te - Setze mich zu dir. Ein verloren gegangenes Motiv aus dem ursprünglichen Text des Anima Christi, in: TThZ 94 (1985) 188-196. Bemerkenswert ist, dass unser Missale aus dem ausgehenden 15. Jahrhundert bereits den im gleichen Jahrhundert erstmals in einer Handschrift der Erfurter Kartause bezeugten Zusatz „Inter vulnera tua abscondi (! ) me“ kennt, aber auch das im späteren Textus receptus weggefallene „Et pone me juxta te“ bewahrt hat. Der Schlussteil der in unserer Quelle bezeugten Fassung lautet: „Et pone me juxta te, ut cum angelis et electis tuis laudem te, et videam te, Jhesum Christum, dominum meum in saecula saeculorum. Amen.“ Das „Ave principium“ fügt an die bekannten Begrüßungen Bitten an; nach dem 6. Stichus „Ave salus nostrae salvationis“ fährt der Text fort: „qui hic immolaris pro nobis et sacrificaris./ Juva, dies nostros in tua pace dispone/ Et nos in electorum tuorum grege numerari“. Die Ablassverleihung für das Anima Christi zur Zeit der Elevation (3000 Tage im Falle schwerer und 1000 Tage im Falle lässlicher Sünden) schreibt unsere Quelle mit vielen anderen Johannes XXII. (1316-1334) zu. 52 Ph. Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des 17. Jahrhunderts, Leipzig 1864. Nachdr. Hildesheim 1964, 1, 188. 53 Stadtbibliothek Trier, Hs. 374/ 1037 (wie Anm. 19), fol. 7 r . Messfrömmigkeit und Eucharistieverehrung 110 „Ave sanctissima caro domini nostri Jesu Christi, quae in crucis patibulo immolata fuisti pro redemptione mundi. O pie Jesu, o bone Jesu, o dulcissime Jesu Christe, miserere mei peccatoris. Et sicut modo te vidi in forma panis, ita merear te videre in specie tuae deitatis, et cum veneris ad judicium extremum cum electis tuis, gaudens et securus merear interesse.“ (Sei gegrüßt, heiligster Leib unseres Herrn Jesus Christus, der du am Stamm des Kreuzes für die Rettung der Welt geopfert wurdest. O milder Jesus, o guter Jesus, o süßester Jesus, hab Erbarmen mit mir Sünder. Und so wie ich dich jetzt in der Brotsgestalt sehe, so möge ich gewürdigt werden, dich in deiner Gottheit zu sehen. Und wenn du mit deinen Erwählten zum Jüngsten Gericht kommst, möge auch ich froh und sicher dabei sein dürfen.) Ein weiteres, angeblich von Papst Innozenz VI. (1352-1362) mit 2000 Tagen Ablass ausgezeichnetes Elevationsgebet enthält eine Anamnese des ganzen in Christus gewirkten Heilswerks (Gedächtnis der Geburt aus der Jungfrau, Öffnung der Seite am Kreuz, Auferstehung und Himmelfahrt und Erwartung der Wiederkunft), woran sich die Bitte um Sündenvergebung und Bewahrung vor zukünftiger Gefährdung anschließt. 54 Den Abschluss der Reihe bilden zwei auch in der Volkssprache bekannte und in vielen Gebetbuchhandschriften des 15. Jahrhunderts überlieferte Gebete, deren Herkunft im Dunkeln liegt. Möglicherweise stehen orientalische (syrische) Muster im Hintergrund. Im ersten Text beeindrucken die lapidaren Antithesen: 55 „Beim heiligen Mahl des Herrn, zur Abendstunde, ist der Ernährer der ganzen Welt selbst Speise geworden seinen Jüngern. Welche Herrschaft hat damals gedient! Welche Freude wurde damals getrübt! Welche Weisheit wurde damals verhöhnt! Welche Unschuld wurde damals beschämt! Welcher Schatz wurde damals verkauft! Welche Zuflucht wurde damals mit Kummer überhäuft! Das Heil der ganzen Welt war aus Furcht vor dem nahen Tod mit Blutschweiß ganz überronnen! “ 54 Vgl. ebd. 55 Ebd.: „In sacra cena domini hora vesperarum / totius mundi cibator factus est cibus suis discipulis. / Quis dominatio tunc famulabatur. / Quem gaudium tunc constristabatur. / Quis sapientia tunc decipiebatur. / Quis innocentia tunc verebatur. / Quis Thesaurus tunc vendebatur. / Quem refugium tunc curis replebatur. / Totius mundi salus ob timorem mortis instantis / sudore sanguineo tunc perfundebatur.“ - Ein gewisser Papst Urban soll den Betern des Gebets 25 Jahre Ablass und ebensoviele „Carenen“ verliehen haben. Priesterliche Messfrömmigkeit im benediktinischen Reformmönchtum 111 Christus, den Mann der Schmerzen, stellte sich der Priester vor Augen, wenn er nach der Wandlung angesichts der vor ihm liegenden konsekrierten Hostie betete: 56 „O Menschheit bloß, O Marter groß, O Wunden tief, O Kraft des Bluts, O bittrer Tod, O göttliche Milde unseres Herrn Jesus Christus. Hilf uns zur ewigen Seligkeit. Amen.“ 6. Stille Priestergebete im Umkreis der Kommunion Der Kommunionempfang ist neben dem Akzess derjenige Teil der Messe, der im Spätmittelalter dem Zelebranten relativ große Freiheit zur individuellen Gestaltung ließ. Der Mattheiser Reformabt gibt in seinen Consuetudines Anregungen, wie dieser Freiraum ausgefüllt werden soll. 57 Er lässt den Mönch nach dem Agnus Dei zunächst in gebeugter Haltung das Gebet „Domine Jesu Christe, fili dei vivi - Herr Jesus Christus, Sohn des lebendigen Gottes“ aus dem Messbuch sprechen. Der Sumptio geht ferner eine „Meditatio“ voraus, für die Rode einen Mustertext freibleibend anbietet. Während der Zelebrant die Patene mit der darauf liegenden Hostie zwischen den Fingern hält, betet er: 58 „Ersehnter meines Herzens, liebster Jesus, König des Himmels und der Erde, hocherhabener Schöpfer aller Dinge, für dein gebenedeites Herabkommen in die Hände deines nichtswürdigen Geschöpfes, für deine unsagbare Menschwerdung im Schoß der Jungfrau, für deine glückselige Geburt in der Welt, für deinen umsichtigen Umgang mit den Sündern, für dein bitterhartes Leiden, für dein kostbares Sterben, für deine siegreiche Auferstehung, für deine glorreiche Himmelfahrt sowie für deine liebreiche Barmherzigkeit, mit der du mich unnützen Sünder, der dich bis zu dieser Stunde immer wieder beleidigt hat, erwartet, ertragen und gnädig erhalten hast, auch für alle geistlichen und zeitlichen Wohltaten, die du mir unwürdigem Sünder hast zukommen lassen, möge dich an meiner Statt loben, verherrlichen und benedeien jedes deiner Geschöpfe, das dir im Himmel und auf Erden lieb und wohlgefällig ist. Aus Herzensgrund soll jedes von ihnen sprechen: Lobpreis und Herrlichkeit, Weisheit und Dank, Ehre, Macht und Stärke sei dir, meinem allschönsten Schöpfer und höchsten Wohltäter durch alle Ewigkeit. Amen.“ 56 Ebd., fol. 7 v : „O nuda humanitas / O magnum martyrium, / O profunda vulnera, / O virtus sanguinis, / O mortis acerbitas, / O divina dulcedo / domini nostri Jhesu Christi. / Adjuva nos ad aeternam felicitatem. / Amen.“ 57 Vgl. CR Nr. 74. 58 Die lateinische Originalfassung des Gebets „O desiderate cordis mei“ in CR Nr. 75. Eine Variante überliefert Conrad von Rodenberg; vgl. Volk, Exhortatio (wie Anm. 12), 232. Messfrömmigkeit und Eucharistieverehrung 112 Ehe der Priester kommunizierte, wiederholte er dreimal das Wort des Hauptmanns (Domine non sum dignus … - Herr, ich bin nicht würdig; vgl. Lk 7,6f.). Nach dem Empfang begrüßte der Kommunikant den göttlichen Gast mit Strophen aus dem Eucharistiehymnus „Ave vivens hostia“ des Johannes Peckham OFM (†1292): 59 „O Iesu dulcissime, cibus salutaris, qui sic nobis intime tribui dignaris, mala mea deprime fletibus amaris et affectus imprime, quibus delectaris! O Iesu, vivens hostia, place maiestatem, sacramenti gratia confer sanitatem, pauperis substantia da aeternitatem et tui praesentia fove caritatem! Vanitatem spernere fac me, consolator, hostem dona vincere, Christe propugnator, et quod doces credere, Christe reparator, per te tandem cernere da, remunerator. Amen.“ (O du liebster Jesu mein, Speise unsers Heiles, willst ganz fest und inniglich, uns verbunden bleiben. Lösche meine Sünden aus. Bittre Tränen fließen. Präge mir Gefühle ein, die dir wohl gefallen. Jesus, Opferlamm, das lebt, du versöhnst den Vater! Durch des Sakramentes Kraft schaffe Heil den Kranken, gib den Armen dieses Brot, dass sie ewig leben; deine Gegenwart bestärkt unsre Nächstenliebe. Lass die Eitelkeit mich flieh’n, du mein bester Tröster; lass besiegen mich den Feind, großer Feldherr, Christus; lass mich glauben, was du lehrst, Heiland und Erlöser; endlich durch dich selig schau’n, was du uns versprochen.) Während dieser oder ähnlicher Verse und Gebetsgedanken trank der Priester das Blut Christi aus dem Kelch. Danach betete er die Nachkommuniongebete „Corpus Domini nostri Jesu Christi … - Der Leib unseres Herrn Jesus Christus …“ und „Quod ore sumpsimus … - Was wir mit dem Munde empfangen haben …“, die sich auch im Kommunionteil des Bursfelder Messbuchs und des davon abhängigen, bereits mehrfach erwähnten Missales aus St. Matthias finden. Auch Rodes Anweisung, nach der Ablutio die Antiphon „O sacrum convivium - O heilges Gastmahl“ zu sprechen, wurde im Reformmissale der Bursfelder Kongregation rezipiert, wo zudem - wie es wohl auch dem Mattheiser Abt vorgeschwebt hatte - der Antiphon die üblichen Versikel (Panem de caelo …) und die Sakramentsoration (Deus, qui nobis sub sacramento …) beigegeben sind. 59 CR Nr. 75. Es handelt sich um die Strophen 13 bis 15 des genannten Hymnus; vgl. AHMA 31, 111-114. Priesterliche Messfrömmigkeit im benediktinischen Reformmönchtum 113 Der Bursfelder Messordo sieht im Umkreis des Kommunionempfangs ebenfalls das stille Gebet von Hymnenstrophen vor. Doch ist es nicht der von Johannes Rode vorgeschlagene Sakramentshymnus des englischen Franziskaners und Erzbischofs von Canterbury, John Peckham, sondern der bekanntere Text des „Jesu, nostra redemptio - Jesus, du Ursprung unsers Heils“, den die Bursfelder Missalien (ähnlich wie andere spätmittelalterliche Ordens- und Diözesanmissalien) als priesterliches Stillgebet nach der Kommunion bevorzugen. 60 7. Schlussbemerkungen Wir werden abschließend die Frage nicht umgehen können, ob die uns hier begegnende Messfrömmigkeit mehr als ein frömmigkeitshistorisches Interesse für sich beanspruchen darf. Dabei ist eines von vornherein klar: Eine andere als eine liturgische Messfrömmigkeit kann es spätestens seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil nicht mehr geben. Nun hat man gerade der Messfrömmigkeit Rodes und seiner Zeit vorgeworfen, sie habe sich „ganz von der Liturgie entfernt“, ihre Betrachtungsanleitungen hätten „keinerlei Beziehung mehr mit den liturgischen Funktionen noch dem Gebet der Liturgie“. 61 Trifft dies wirklich zu? Immerhin ist zu beachten, dass die vorgegebene liturgische Ordnung uneingeschränkt respektiert wird, selbst in Bereichen, in denen damals flexible Gestaltung möglich und üblich war, etwa bei den Begleitgebeten zum Anlegen der Paramente. Zu dem beibehaltenen Text- und Ritengefüge des Ordo Missae traten Ergänzungen, „Meditationes“. Man wird ihnen nicht von vornherein den Vorwurf machen dürfen, sie führten den Priester von dem ihm aufgetragenen Opus Dei fort auf ein Nebengeleise, wo er während der Messliturgie, aber ohne Verbindung zu dem gefeierten Mysterium, seine persönliche Betrachtungsfrömmigkeit gepflegt hätte. Was an stillen Gebeten dem Zelebranten empfohlen wurde, hatte offensichtlich den Sinn, ihn zu befähigen, seinem Weiheauftrag zu entsprechen: Bedenke, was du tust! „Meditativ“ sollte er seinen liturgischen Dienst vollziehen. War es etwa verkehrt, dem Priester als Gegenstand der „Meditatio“ vor dem Gang zum Altar Ereignisse aus der Leidensgeschichte vorzuschlagen, die einst dem Gang Christi zur Stätte seines Erlösungsopfers vorausgegangen waren? Bei einer solchen Passionsbetrachtung ging es zudem keineswegs um bloße Erinnerung an den leidenden Jesus von einst, sondern um die Weckung und Intensivierung der dem Priester eigentümlichen, besonderen Christusverbundenheit. Der Blick auf den Herrn in seiner Passion sollte dem Zelebranten helfen, „so gesinnt zu sein wie Christus Jesus“ (vgl. Phil 2,5). Christusförmig geworden, sollte sich der Priester bereitwillig zur Verfügung stellen, damit „durch die Hände des Priesters“ „der Sohn des lebendigen Gottes“ das Sakrament seines Leibes und Blutes wirken konnte. Die Betrachtung sieht also nicht nur den Schmerzensmann, sondern weiß um Christus 60 Zum Komplex der stillen Priestergebete nach der Kommunion vgl. Jungmann, Missarum Sollemnia (wie Anm. 30), 2, 496-504. Den Hymnus „Jesu nostra redemptio“ (AHMA 2, 49) und die Sakramentsoration empfiehlt auch das Missale Trevirense von 1608 (1610) als stilles Priestergebet nach der Ablutio (S. 264). 61 Hilpisch, Chorgebet (wie Anm. 7), 274. Messfrömmigkeit und Eucharistieverehrung 114 in seiner Präexistenz, um seine sakramentale Nähe im Gottesdienst und um sein Fortwirken im Leben der Gläubigen. 62 Selbst die trinitarisch-heilsökonomische Dimension des Christusereignisses ist nicht ganz in Vergessenheit geraten. Am Anfang der Vorbereitungsgebete kniet der Priester nieder vor „Gott, dem Vater unseres Herrn Jesus Christus“ (Eph 3,14). Bemerkenswerterweise richtet sich das erste der oben vorgestellten Elevationsgebete an Gott, den Vater, dem der Priester sein menschgewordenes Wort vor Augen stellt und den er bittet, das Blut seines Sohnes als Lob-, Dank und Sühneopfer anzunehmen. Als liturgischen Fremdkörper wird man einen solchen Text nicht bezeichnen können. Von ihm gilt, was J. A. Jungmann den mittelalterlichen Elevationsgebeten und -gesängen generell bescheinigt hat: „Man muss gestehen, dass diese Gesänge im Allgemeinen wahrhaft edle Formen aufweisen, Formen, die sich auch theologisch gut ins Gefüge der Messliturgie einordnen. Die Unterbrechung, die schon durch das Erheben und Zeigen der Gestalten im Gange der ganz auf Gott hin gerichteten Gebets- und Opferbewegung eintritt, ist durch diese Begrüßungshymnen sinnvoll gestaltet und ausgebaut worden …“. 63 Man wird ehrlicherweise zugeben müssen, dass Ausfälle und Defizite in der römischen Messliturgie Ergänzungen geradezu herausforderten. Sie waren keineswegs alle unliturgisch. Die vergleichende Liturgiewissenschaft und die jüngste Reform der römischen Messe bestätigen vielmehr die Legitimität mancher Versuche und Ansätze in der spätmittelalterlichen Messfrömmigkeit. Die nach dem Zweiten Vatikanum neu eingeführte an Christus gerichtete Akklamation nach der Wandlung z. B. hat nicht nur Vorbilder in orientalischen Liturgien, sondern kann auch an die Elevationsgebete des Westens anknüpfen. Das wiederhergestellte Allgemeine Gebet hat den Anliegen, die in den Ektenien der Chrysostomusliturgie immer ihren Platz behalten hatten, im Westen aber ortlos geworden waren und infolgedessen von manchen Priestern im Memento des Kanons berücksichtigt worden waren, wieder ihren ursprünglichen Platz am Ende der Liturgie des Wortes gegeben. Im Umkreis der Kommunion lässt die nachvatikanische Messordnung Gestaltungsfreiheit für die individuelle und gemeinschaftliche Danksagung. Von der Art, wie das benediktinische Reformmönchtum des 15. Jahrhunderts den Kommunionempfang gestaltete, wird man nicht sagen können, sie sei unliturgisch gewesen. Ihre betonte Christozentrik war gesund. Eine sentimentale Jesus-Frömmigkeit wurde vermieden. Die von uns vorgestellten Beispiele von Kommuniongebeten lassen erkennen, dass der ganze Christus mit seinem Heilswerk in den Blick kam, wie es etwa Rodes Gebet „O desiderate cordis mei“ eindrucksvoll zeigt. Auch der vom Bursfelder Missale empfohlene Hymnus „Jesu nostra redemptio“ bedenkt das ganze Pascha-Mysterium. Bei aller Bereitschaft, die positiven Aspekte der Messfrömmigkeit, wie sie uns im Schrifttum des Mattheiser Reformabts entgegentritt, anzuerkennen, darf man die Augen vor zeitbedingten Engführungen nicht verschließen. Ein besonders 62 Dies betont auch P. Becker, der hinsichtlich der monastischen Spiritualität des Johannes Rode zu dem Schluss kommt, man müsse „Hilpischs Urteil über Rodes ‚Betrachtungsfrömmigkeit‘ mildern“: Becker, Reformprogramm (wie Anm. 1), 141. 63 Jungmann, Missarum Sollemnia (wie Anm. 30), 2, 269. Priesterliche Messfrömmigkeit im benediktinischen Reformmönchtum 115 bedauerlicher Schwachpunkt ist der extreme Individualismus. Die Sorge um das eigene Heil, um die persönliche Würdigkeit, um die subjektive Betroffenheit bei der Feier der Liturgie bestimmen überstark das stille Priestergebet vor und in der Messe. So bewundernswert die leidenschaftliche Suche nach einer existentiellen Christusbeziehung auch ist, sie leidet unter einer mangelnden Einbettung in den lebendigen Organismus der vom Pneuma durchwirkten Kirche. An der Stelle, wo unverhofft der Gedanke auftaucht, der Priester handle am Altar in der Rolle der Sponsa (der Braut), wird ihm Christus gegenübergestellt als Sponsus animae, als Seelenbräutigam. 64 Immerhin bleibt anzuerkennen, dass der Zelebrant in seinen stillen Gebeten nicht nur persönliche Anliegen kennt, sondern - etwa im Memento - auch „um die Tröstung“ Gottes für die „Mutter Kirche“ überall auf der Welt bittet und, im Blick auf die Universalität des Opfers Christi, alle erlösungsbedürftigen Menschen in dieses Opfer hineinempfiehlt. Das zentrale Anliegen der Messfrömmigkeit im „Quellgebiet“ der Bursfelder Kongregation scheint uns gültig zusammengefasst in der Maxime des Mattheiser Reformabts: „Opus et meditatio simul peragantur (Handlung und Betrachtung sollen gleichzeitig vollzogen werden.“ 65 Insofern damit der von innerer Aufmerksamkeit, persönlicher Betroffenheit und Hingabe des Herzens begleitete Vollzug der liturgischen Handlung gemeint ist, behält der Grundsatz überzeitlichen Wert. Auch der heilige Ernst, mit dem sich nach der Anleitung des Johannes Rode der Priestermönch für seinen liturgischen Dienst rüstet, imponiert. Wer als „Aushilfspriester“ Gelegenheit hat, in verschiedenen Pfarreien Erfahrungen zu sammeln, weiß, dass es um das, was man Sakristeidisziplin nennt, häufig nicht zum Besten bestellt ist. Ob nicht auch in diesem Bereich die „sanctorum Patrum norma“ (SC 50) wieder neu bedacht werden müsste 66 , zum Wohl der Messfrömmigkeit des Priesters und der mit ihm feiernden Gemeinde? 64 Vgl. Volk, Exhortatio (wie Anm. 12), 230. 65 Vgl. oben Anm. 25. 66 Die im Anhang des erneuerten Missale Romanum angebotenen persönlichen Priestergebete vor und nach der Messe wurden nicht in das Deutsche Messbuch (1975) aufgenommen. Leider wurde danach versäumt, das berechtigte Anliegen in anderer Weise aufzugreifen und Hilfen für die Gestaltung eines die Ministranten und sonstige Dienste einbeziehenden „Rüstgebetes“ anzubieten. 6 Die Sonne des Sakramentes. Ein Zugang zur Eucharistiefrömmigkeit Friedrich Spees (†1635) Es dürfte wohl mehr als ein Zufall sein, wenn Friedrich Spee sein lyrisches und aszetisches Hauptwerk jeweils mit eucharistischen Texten ausklingen lässt. Die „Trutznachtigall“ (TrN) beschließt - gleichsam als „Krönung des geistlichen Lustwäldchens“ 1 - das der Fronleichnamssequenz Lauda Sion nachempfundene dogmatische Lehrgedicht Am heiligen Fronleichnams-Fest, von dem hochwürdigen Sacrament des Altars (TrN 51). Die letzten Kapitel (31-35) im dritten Teil des „Güldenen Tugendbuchs“ (GTb) haben ebenfalls die heilige Eucharistie zum Gegenstand; sie enthalten Kommunionandachten, schöne Weiß andächtiglich zu Communiciren. 2 Man würde die theologischen Qualitäten des Jesuitenprofessors Spee verkennen, sähe man darin nicht eine wohlüberlegte Disposition. Das zentrale Glaubensgeheimnis der Eucharistie fasst nämlich gleichsam das ganze Heilswerk Gottes zusammen; die Eucharistie birgt das Heyl der Welt 3 schlechthin, die Person des [Erstveröffentlichung: Die Sonne des Sakramentes. Ein Zugang zu Friedrich Spees Eucharistiefrömmigkeit, in: Friedrich Spee im Licht der Wissenschaften. Hg. von A. Arens (QAMRhKG 49), Mainz 1984, 217-241.] 1 E. Rosenfeld, Neue Studien zur Lyrik von Friedrich von Spee, Milano-Varese 1963, 181. Mit der theologischen Interpretation des Fronleichnamsgesangs als „Lobgesang auf das Corpus mysticum, das alle Gläubigen unter dem Zeichen des Altarsakramentes zu vereinigen weiß“, wie sie die bekannte Spee-Forscherin an dieser Stelle (181f.) vorträgt, können wir uns allerdings nicht ganz einverstanden erklären. Es ist gerade die ekklesiale Dimension, die in Spees individualistischer Eucharistiefrömmigkeit weitgehend ausfällt. Die von E. Rosenfeld als Preisung der Katholizität der Kirche gedeutete 15. Strophe spricht in Wirklichkeit nicht von der Kirche als dem über den Erdkreis ausgebreiteten Leib Christi, sondern von der substanziellen Gegenwart des erhöhten Herrn überall, wo die Eucharistie dargebracht, aufbewahrt und ausgeteilt wird. 2 F. Spee, Güldenes Tugend-Buch, hg. von Th. G. M. van Oorschot (Friedrich Spee, Sämtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe in drei Bänden, hg. von E. Rosenfeld), München 1968. Die in Text und Anmerkungen in Verbindung mit der Abkürzung GTb auftauchenden Zahlen beziehen sich auf die Seitenzahlen dieses Bandes. 3 Die Formulierung findet sich in einem anonymen, schon von Josef Gotzen wohl zutreffend Spee zugeschriebenen Sakramentslied: Das Heyl der Welt Herr Iesus Christ In Hostia warhafftig ist, Im Sacrament das höchste Gut Verborgen ligt mit fleisch vnd blut. Vgl. W. Bäumker, Das katholische deutsche Kirchenlied in seinen Singweisen, 4 Bde., Freiburg 1883-1911; Bd. IV hg. von J. Gotzen (Nachdruck Hildesheim 1962), Bd. I, Nr. 406. Eine dem Original sehr nahe, lediglich sprachlich leicht angepasste Fassung: „Gotteslob“ (1975), Nr. 547. Zur wahrscheinlichen Autorenschaft Spees vgl. J. Gotzen, Neues über Friedrich von Spee und das deutsche Kirchenlied, in: Musica sacra 58 (1928) 356-360, hier 359. Die Sonne des Sakramentes 117 Erlösers, in dem der die ganze Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einbeziehende Heilsplan des Vaters verwirklicht worden ist und sich vollenden wird. Von der Eucharistie her entfaltet der erhöhte Herr als der ewige Gute Hirt zwischen seiner Himmelfahrt und Parusie seine Wirksamkeit hinein in die Kirche und, seine Herde im Sakrament besuchend und stärkend, führt er sie durch die Zeit heim in das Reich des Vaters. Die Art und Weise, wie wir im Folgenden unser Thema eingrenzen werden, bedarf einer erklärenden Vorbemerkung. Es gilt heute als allgemein akzeptierter Grundsatz: Von der Eucharistie reden, heißt in erster Linie von der Messfeier reden. 4 Für Spee und die Eucharistiefrömmigkeit seiner Zeit trifft das nicht zu. Bezeichnenderweise handeln die eucharistischen Schlussstücke des GTb und der TrN nicht von der Eucharistie als Feier, sondern vom „Altarsakrament“ des Fronleichnamsfestes, was bei einem Katholiken unwillkürlich die Vorstellung von der Hostie in der Monstranz hervorruft, und vom Kommunionempfang, der aber nicht als Vollteilnahme an der gemeinschaftlichen Feier des Herrenmahles begriffen wird, sondern - sei es in der Form der geistlichen oder der wirklichen Kommunion - als ein ausgesprochen individueller Heilsvorgang zwischen der Einzelseele und ihrem „Heiland“. Zwar geschieht in Spees Kommunionandachten die Vorbereitung auf einen andächtigen Empfang des Sakramentes im Rahmen der Messe. Doch bedeutet diese Gleichzeitigkeit von Messe und Kommunionvorbereitung keineswegs, wie man vom heutigen Standpunkt einer liturgisch geformten Sakramentsfrömmigkeit her annehmen möchte, dass die geistliche Einstimmung auf den Kommunionempfang organisch mit dem Gang der Eucharistiefeier verknüpft wäre. Beides läuft - von wenigen flüchtigen Berührungspunkten abgesehen - durchaus auf getrennten Geleisen nebeneinander: dort das dem Zelebranten obliegende Tun am Altar, hier das stille Beten und einsame Betrachten des einzelnen Gläubigen, der sich auf seine ihm zusagende Art auf das Kommunizieren vorbereitet. Nur dieser Sachverhalt kann es rechtfertigen, im Folgenden Spees Eucharistiefrömmigkeit getrennt von seiner Messfrömmigkeit zu behandeln. In einer höchst bedenklichen Engführung erscheint die Messe nämlich bei Spee eigentlich bloß als Gelegenheit, die wirkliche und bleibende Gegenwart Christi im Sakrament „herzustellen“ und damit die Darbringung des Kreuzesopfers, die Anbetung und die Kommunion zu ermöglichen. So lässt sich das durch die vom geweihten Priester im Herzen der Messe ausgesprochene Konsekrationsformel bereitete Sakrament vom Gang der Feier ablösen und als in sich ruhende, kostbare Heilsgabe, als das „höchste Gut“ isoliert betrachten. Bisher hat Spees Eucharistiefrömmigkeit noch keine angemessene Darstellung gefunden. Was Friedrich Zoepfl vor mehreren Jahrzehnten in einem Zeitschriftenaufsatz auf knappem Raum dazu bemerkt hat, geht über erste Andeutungen nicht hinaus. 5 4 Das mit „De sacrosancto eucharistiae mysterio“ überschriebene zweite Kapitel in der Liturgiekonstitution des Vatikanum II handelt z. B. ausschließlich von der Eucharistiefeier. 5 Fr. Zoepfl, Die Frömmigkeit Friedrichs von Spee, in: ZfAM 20 (1947) 36-53, hier 40f. Messfrömmigkeit und Eucharistieverehrung 118 Eine ungedruckte Trierer Staatsexamensarbeit aus dem Jahre 1975, 6 deren wesentliche Ergebnisse Balthasar Fischer 7 in einem Aufsatz einem größeren Leserkreis zugänglich gemacht hat, hat sich mit Spees Anleitung zur andächtigen Beywohnung der Messe beschäftigt. Naturgemäß kommen in dieser Erörterung der Spee’schen Messfrömmigkeit auch charakteristische Aspekte seines Eucharistieverständnisses überhaupt ans Licht. Angesichts des weitgehenden Ausfalls einschlägiger Vorarbeiten können und wollen die folgenden Ausführungen nicht mehr als ein erster Versuch sein. Sie werden sich, was nahe liegt, vor allem auf die Kommunionandachten des GTb stützen, aber auch einschlägige Äußerungen in den übrigen Teilen dieses Werkes sowie in der TrN und in den von Spee verfassten Kirchenliedern beachten. Zugrunde legen wir einen Text, der das Mittelstück der fünf Kommunionandachten bildet. Es handelt sich um den ersten Betrachtungspunkt der dritten schönen Weiß andächtiglich zu Communiciren, ein Schlüsseltext, wie uns scheint, von dem aus sich ein Zugang zu den wesentlichen Dimensionen von Spees Eucharistieverständnis eröffnen wird. Das Sonnengleichnis der 3. Kommunionandacht im GTb (III, Kap. 33,1) In der hier herausgegriffenen Kommunionvorbereitungsübung (GTb 517-521) wird dem Kommunikanten geraten, sich nacheinander die strahlende Sonne, die hell lodernden Flammen eines Feuers, einen anmutig fließenden Brunnen, ein weites Meer, einen milden, auf ausgetrocknetes Erdreich fallenden Regen und schließlich einen funkelnden Kristall vorzustellen. Dann solle er bei sich denken, „dass heylig hochwürdigh sacrament“ sei eine solche Sonne, sei Feuer, milder Regen, ein Brunnen, ein weites Meer und ein kostbarer Edelstein. Die Betrachtung beschließt jeweils ein glühendes, an die „allerheiligste Hostia“ gerichtetes Gebet, worin der Beter innig erfleht, was er in seinem Herzen ersehnt. An die Spitze dieser Bildreihe hat Spee das Motiv vom Sakrament als der alles überstrahlenden Sonne gestellt (GTb 517f.): 1. Mit zugethanen augen, bilde dir in deinen gedancken für, du sehest ein sehr schöne, hell scheinende Sonn, vnd beschawe wie sie ihre gantz güldine stralen weit vnd breit vber den gantzen Erdkreiß außgiesse, also dass alle welt, menschen, vnd vieh, berg, vnd thall, flecken, vnd Stätt, Meer, vnd Erde vberall beschienen werden. 2. Wan du disem Spectacul ein wenig zugeschawet (ein Vatter Vnser lang, oder zwey; wie dan auch in den folgenden punckten geschehen soll) So gedencke, dass heylig hochwürdigh Sacrament sey eben eine solche Sonn, die aller menschen hertzen mit dem liecht der gnaden zubescheinen fertig sey, wan man nur sich nicht vor ihren straalen verbergen will. 6 M. Feilen, Friedrich Spee von Langenfeld (1581-1635). Anleitung zur Mitfeier der Eucharistie im Güldenen Tugendbuch (1649), Trier 1975, 189 S. (maschinenschriftlich in der Bibliothek des Trierer Priesterseminars). 7 Balth. Fischer, Friedrich Spees Anleitung zu „andächtiger Beywohnung“ der Messe (Güldenes Tugendbuch III, Kap. 29), in: A. Arens (Hg.), Friedrich Spee im Licht der Wissenschaften, Mainz 1984, 205-216. Die Sonne des Sakramentes 119 3. Vnd wan du dises auch ein wenig bedacht hast, so seufftze von grund deines hertzens, zu disem liecht, vnd sprech wie folget, mit dem mund, oder mit dem hertzen. O du allerheyligste Hostia! du außerwelte schöne güldine Sonn! Siehe da, ich armes erdwürmlein komme zu dir; erleuchte nun die finsternuß meiner Seelen, vnd mit deinen heissen Straalen zünde in mir an einen brinnenden feuroffen deiner Liebe, auff das ich in wahrer Göttlicher begird gantz brenne, vnd weder tag noch nacht mehr ruhen könne für vnauffhörlichem verlangen. etc. Bevor wir uns dem Inhalt des vorstehenden Textes zuwenden, sei eine Bemerkung zu seinem formalen Aufbau vorausgeschickt. Die Methodik dieser Sakramentsandacht verrät deutlich den im GTb allgegenwärtigen Einfluss des ignatianischen Exerzitienbüchleins. 8 Nach Ignatius von Loyola (†1556) beginnt eine Betrachtungsübung jeweils damit, dass der Exerzitant „den Schauplatz zurüstet“, das heißt: Er stellt sich möglichst konkret und lebendig eine Begebenheit oder ein Bild vor. Dann überträgt er das sinnenhafte Bild auf die entsprechende geistliche Wirklichkeit. Die Übung schließt mit einem innigen Gebet. 9 Spee folgt hier exakt diesem ignatianischen Dreischritt: 1. das forbilden des Sonnengestirns; 2. die Anwendung der natürlichen Erscheinung auf die Glaubenswirklichkeit des Altarsakraments; 3. der Abschluss in Form eines von Grund des Herzens kommenden Gebets. Die Bedeutung des Sonnengestirns im Werk Spees In der deutschen Barockdichtung kommt dem Sonnenmotiv eine zentrale Bedeutung zu. Spee bildet da keine Ausnahme. Er stellt sich in die lange Reihe der geistlichen Schriftsteller aller Zeiten, die dem Vorbild der Bibel gefolgt sind und die wohlgeordneten Himmelsleuchten, allen voran die strahlende Sonne, als Zeichen der göttlichen Welt verstanden haben. Auch für Spee kündet die gelbe Schaar der wolgezündeten Sterne, die klaren Kugeln von Sonne und Mond (GTb 287; TrN 9-12) von der Allmacht des Schöpfers, der sie durch sein wirkmächtiges Wort aus dem Nichts springen ließ und fortan in Runden strassen laufen ließ (GTb 287; TrN 24,23-24). 10 Gott ist es, der den Feuerball der Sonne „mit Licht füllt“ (GTb 302) und ihn ohne Unterlass in seiner Leuchtkraft erhält (TrN 31,96-100): 8 Den großen Einfluss der ignatianischen „Geistlichen Übungen“ auf das GTb betont im Nachwort zur kritischen Edition nachdrücklich Th. van Oorschot, Spee, Sämtliche Schriften (wie Anm. 2), 702. George Richard Dimler konnte zeigen, wie Spee die Vorstellung von Licht und Sonne mit Vorliebe dort einführt, wo es um das geht, was Ignatius „die Zurüstung des Schauplatzes“ nennt; vgl. G. R. Dimler, Imagery in Friedrich von Spee’s Trutznachtigall: Function, Structure, Style. Diss. University of California, Los Angeles 1970, 18f. 9 Besonders eindrucksvoll ist diese Methode in der die zweite Exerzitienwoche eröffnenden Betrachtung über den Ruf des Königs entwickelt; vgl. Ignatius von Loyola, Die Exerzitien, übertragen von H. U. von Balthasar, Einsiedeln 4 1959, 31f. 10 Zum Motiv „Gotteslob der Schöpfung“ vgl. C. N. Wolfe, The Concept of Nature in Five Religious Poets of the Seventeeth Century: Spee, Vaughan, Silesius, Herbert and Gryphius, Diss. Indiana University 1967, 25f.; ferner Rosenfeld, Neue Studien (wie Anm. 1), 135-149; dort (141-143) auch Spees poetische Fassung des 148. Psalms (TrN 24). Messfrömmigkeit und Eucharistieverehrung 120 Ohn ihn kein halbes augenblick Dort oben wird verbleiben Ein füncklein einer Linsen dick von deiner gelben Scheiben. Unter dem Licht der Sonne, aus der uns der wert und liebe Gott (TrN 26,5) jeden Tag wieder neu mit schönem Schein gar freundlich überschwimmet (TrN 26,22), fühlt sich der fromme Betrachter zu dem staunenden Ausruf gedrängt: Wie klar muss er den leuchten selb/ Wie wunder, wunder glitzen? (TrN 27,13-14). So erzählen die Lichter am Himmel, allen voran das strahlendste unter ihnen, durch ihr freundiges (GTb 286) Leuchten 11 vom Lichtglanz des milden, freundlichen Gottes und singen, auf ihren Lichtbahnen nach exakt vorgegebener Ordnung sich bewegend, ihrem Bildner und Erhalter, der ein bronn und meer ist aller Schönheit und alles Guten (GTb 512), ein glänzendes Lob. Über den herkömmlichen Gedanken hinaus, der in der Sonne ein Gleichnis und Abbild der Lichtherrlichkeit Gottes sieht, verdient es hinsichtlich der Anwendung der Sonnensymbolik auf die Eucharistie festgehalten zu werden, dass Spee nach antiken, in der Renaissancedichtung wieder aufgelebten Mustern das Sonnengestirn personifiziert. 12 In der dem Dichter unter allen Stunden des Tages besonders teuren Rosen-stundt des Sonnenaufgangs 13 sieht er Phöbus die Rosse des Lichtwagens richten für eine neue Fahrt durch den Tag. Mit einer von flinken Pferden gezogenen, über Land fliegenden Postkutsche vergleicht Spee den goldenen, von Ost nach West eilenden Lichtwagen (TrN 22,11-12). Königlich hat sich die Sonne für die hohe Fahrt durch den Tag geschmückt mit einer Strahlenkrone und einer glänzenden Halskrause; den mit feurigen Lichtpfeilen prall gefüllten Köcher trägt sie an ihrer Seite. Sobald sie ihre besten Rosse auf marmorglatten meilen (GTb 234) in Trab setzt, entbinden die von der warmen Ostseite her wehenden Lüfte ihr die gelben haar und spreiten sie weit um ihr Haupt hin aus (TrN 32,38-40). Wenn sie dann gegen Mittag ihre volle Pracht entfaltet, ist es, als ob sie lauter feurig keil zu Erde schießen würde. Ihre Lichtgarben ergießen sich über Berg und Tal, die süssen straalen ihrer Liebkosung (GTb 183) umfangen jede Blume. So blüht in ihrem Lichtschoß der Paradiesgarten der Natur 14 und wird durch 11 Zu diesem, wohl Baruch 3,34f. entnommenen Motiv vgl. M. Gentner, Das Verhältnis von Theologie und Ästhetik in Spees „Trutznachtigall“, Diss., Tübingen 1965, 79f. 12 Vgl. Dimler, Imagery (wie Anm. 8), 54f.; vgl. M. C. Day, Spee, Fleming and Gryphius: Three German Baroque Poets, Diss. University of North Carolina, Chapel Hill 1970, 198. Gerhard H. Lemke macht allerdings zu Recht darauf aufmerksam, dass das „sympathetische Verhalten der Himmelskörper“, wie es in der Literatur des 17. Jahrhunderts besonders häufig begegnet, schon in der Bibel vorgebildet ist, etwa in Gen 37,9; Jos 10,12; Hab 3,11; Jes 38,8; Ri 5,20; vgl. G. H. Lemke, Sonne, Mond und Sterne in der deutschen Literatur seit dem Mittelalter. Ein Bildkomplex im Spannungsfeld gesellschaftlichen Wandels (Kanadische Studien zur deutschen Sprache und Literatur 23), Bern-Frankfurt-Las Vegas 1981, 118f. 13 Zu diesem Motiv vgl. Day, Spee (wie Anm. 12), 199f. 14 In den Augen Spees ist die Natur vor allem „natura amabilis“, eine heile Welt schönster Ordnung und heiterer Schönheit. Sie kündet ungebrochen von der Schönheit des Schöpfers, nicht von der Herrschaft des Bösen. Wenn bei Spee das der Barockliteratur so vertraute Die Sonne des Sakramentes 121 sie im reinen, lichten Licht (GTb 233) des schönen und weißen Tages (GTb 233) zu einer einzigen aus Licht, Farben und mannigfachen Formen zusammenklingenden Symphonie jubelnden Gotteslobs. Im Sommer gelingt es der Sonne am besten, die ganze Natur zum Lobpreis des freundlichen Gottes anzustiften und zu vereinen, weshalb unserm Dichter diese Jahreszeit auch vor allen anderen die liebste ist. Demgegenüber ist es das grimmige Geschäft des Winters (für Spee ist der Winter Repräsentant des Bösen und der Sünde), das von der Sonne erweckte und angeführte Gotteslob der Schöpfung nach Kräften zu unterbinden. Er lässt die anmutig durch Wiese und Wald sich schlängelnden Bächlein zu Eis erstarren, das farbenfrohe Blühen und Grünen verbleicht im lebentötenden Frost, das Lied der Nachtigall erstirbt in der klirrenden Kälte. Selbst der Sonne sind im Winter sozusagen die Hände gebunden. Denn ihre sonst hellglänzende Scheibe ist gleichsam mit Eis beschlagen und gibt nur mehr matten Schein (TrN 22,13-14). Besonders einprägsam erfasst Spee die durch die Winterkälte sozusagen lahmgelegte Aktivität der Sonne in dem originellen Bild vom zugefrorenen Sonnenbrunnen. Schöpfrad und Eimer am Lichtbrunnen der Sonne sind im Winter festgefroren, so dass sie nicht mehr, wie sie es vom Frühjahr bis zum Herbst tut, den besten schein aus ihrer güldenen Tiefe schöpfen und über die Erde hin ausgießen kann (TrN 22,15-20). 15 Die theologische Verwendung des Sonnenmotivs Im zweiten Schritt unserer Kommunionandacht ist es dem Kommunikanten aufgegeben, das Bild von der sehr schönen, hell scheinenden Sonn (GTb 517) auf die Eucharistie zu übertragen. Der volle Aussagegehalt dieser eucharistischen Sonnensymbolik wird sich aber nur dann in seiner ganzen, von Spee mitgemeinten Tiefe erschließen, wenn man beachtet, dass das Bild von der Sonne im Schrifttum Spees im theologischen Sinn eine vielfältige Verwendung erfährt, also nicht bloß auf die Wirklichkeit des Altarsakramentes übertragen wird. Das Gleichnis von der Sonne des Sakramentes führt den Beter hinein in die geheimnisvolle Tiefe des dreifaltigen Gottes selbst. Denn der von der konsekrierten Hostie herkommende Gnadenschein entspringt letztlich im Innersten der Dreifaltigkeit. In Anlehnung an die Formulierungen des Credo der Messe beschreibt Spee in seinem gar hohen Lobgesang vom Geheimnis der Trinität (TrN 29) die Filiatio, das Zueinander des Thema des „contemptus mundi“ auftaucht, was höchst selten geschieht, dann bezieht sich die Weltverachtung auf die Eitelkeit der Menschenwelt, die mit ihrer weltlichen Pracht „von seiden seilen/ Vnns macht gar sanffte strick“ (TrN 14,59-60), nicht aber auf die zum Gotteslob anstiftende Welt der Natur. Zu diesem „paradiesischen“ Naturverständnis Spees vgl. vor allem die Ausführungen von Wolfe, Concept of Nature (wie Anm. 10), 23-39. Auch Day, Spee (wie Anm. 12), 64, stellt fest, dass bei dem Verfasser der Cautio criminalis und Zeitgenossen des Dreißigjährigen Krieges die Themen Unordnung und Leid der Welt in seiner Dichtung auffälligerweise weitgehend ausgeblendet bleiben. 15 M. Gentners Auflösung dieses Bildes (Gentner, Verhältnis [wie Anm. 11], 101) scheint uns nicht ganz zutreffend zu sein. Messfrömmigkeit und Eucharistieverehrung 122 ursprungslosen Vaters und des aus ihm von Ewigkeit her gezeugten Sohnes mit Hilfe der Sonnensymbolik (TrN 29,53-56): 16 O Sohn, du deines Vaters Glanz, O Licht, vom Licht gezündet, Des Vaters Wesen und Substanz, Unendlich, unergründet. Vom schönen Vatergott ist Christus der schöne Sohn und das klare Licht. Er ist die Sonn von seiner Sonnen, der Schein von seinem Schein, der Strahl von seinen Strahlen. Das Licht, das vom Vater her aufstrahlt, scheint im Sohn wider, ein beständiger Strom von Wonne und liebendem Zueinander verbindet beide. Spee begreift diesen güldenen Fluss, von beiden gleich ergossen, diesen gülden Strahl und gülden Schuß, von beiden fürgeschossen (TrN 29,241ff.) als die dritte göttliche Person: den Heiligen Geist, die persongewordene Liebe. Christus, die Weihnachtssonne Der Lichtglanz des dreifaltigen Gottes, das Feuer der innergöttlichen Liebe, diese aus dem Herzen Gottes selbst entströmende Herrlichkeit ist in der Christnacht, als die zweite Person der Dreifaltigkeit als Mensch geboren wurde, im Dunkel dieser Menschenwelt aufgestrahlt. Von jeher haben Liturgie und Frömmigkeit das Mysterium der Inkarnation mit Hilfe der Sonnensymbolik auszudrücken versucht. 17 Es kam nicht von ungefähr, dass die Kirche das Fest der Geburt Christi auf den Tag der Wintersonnenwende festgesetzt hat. Wenn das Winterdunkel auf seinem tiefsten Punkt angelangt ist, zeigt es sich, dass die Finsternis das Licht nicht bezwingen kann; wie neugeboren tritt die Sonne mit täglich wachsender Kraft wieder ihren Lauf durch das Jahr an. An dem Tag, an dem einst das heidnische Altertum den Geburtstag des Sol invictus feierte, begeht die Kirche die Geburt dessen, den sie als die Sonne der Gerechtigkeit (Mal 3,20) bekennt, und der ihr ein neues Gnadenjahr heraufführen wird. 16 Vgl. Dimler, Imagery (wie Anm. 8), 22. 60f.; vgl. auch TrN 42,48. Das auf die Trinität angewandte Sonnengleichnis thematisiert das Spee’sche Katechismuslied „Von der Hoch heyligen Dreyfaltigkeit“; vgl. den Text bei M. Härting, Friedrich Spee. Die anonymen geistlichen Lieder vor 1623, Berlin 1979, 67f., bes. die 3. Strophe: Gott Vatter du die Sonne bist Dein Sohn: Glanz von der Sonnen ist. Gleich wie die Hitz der heylig Geist / Den man der Welt ein Tröster heist. Das Motiv findet sich schon voll entwickelt bei Tertullian (Adversus Praxean c. 8). Der patristische Quellentext (nach B. Altaner die „klarste vornizänische Darlegung der kirchlichen Trinitätslehre“) ist Spee durch die zeitgenössische theologische Literatur vermittelt worden; vgl. Th. van Oorschot, Sämtliche Schriften (wie Anm. 2), 702f. 17 H. Rahner stellte im Hinblick auf die römische Weihnachtsliturgie einmal zutreffend fest: „Wo immer wir in den liturgischen Texten der Weihnacht nachschlagen, überall funkelt es uns entgegen von dem christlichen Mysterium der Sonne.“ H. Rahner, Die Weihnachtssonne, in: Griechische Mythen in christlicher Deutung, Darmstadt 1966, 121-140. Die Sonne des Sakramentes 123 Spee fand dieses Motiv von Christus als der Weihnachtssonne in der geistlichen Tradition vor. Aber auch in diesem Punkt gilt, was der kompetente Spee-Kenner Theodorus Gerardus Maria van Oorschot vom Schrifttum unseres Autors allgemein festgestellt hat: „Nicht was Spee (…) brachte, war neu, sondern wie er es brachte. Neu war nicht der Inhalt, sondern die Darstellungsweise …“ 18 Für Spee ist das neugeborene Christuskind, das Maria auf Heu und auf Stroh bettet, das güldenschöne Kind, weil in ihm der gülden Strahl der Lichtherrlichkeit Gottes selbst verborgen leuchtet. 19 Kein Mensch könnte diesen blendenden Glanz ertragen, wenn er nicht verdeckt und versteckt wäre in unserm Fleisch und Blut. 20 Der Menschenleib breitet sich wie ein Umhang um den göttlichen Lichtkern des Kindes in der Krippe. Die Mutter hat dem göttlichen Sohn diesen Umhang gewoben, damit er das Allerheiligste verhülle wie einst der Vorhang des Tempels die Herrlichkeit Jahwes verhüllte. 21 Den Spuren der Tradition folgend, fasst Spee die jungfräuliche Geburt Jesu in das Bild vom Sonnenstrahl, der durch das Glas dringt, ohne dieses im Geringsten zu verletzen. 22 Maria ist also, wie sie einer der ältesten Mariengrüße nennt 23 , Gebärerin des Lichts. Sobald sie ihr Kind zur Welt gebracht hat, sind Scharen von Engeln zur Stelle, die den Himmelskönig hegen und pflegen. Wenn sie das gülden Kind der Mutter in die Arme legen, ist das, als ob sie ihr die Sonne in den Schoß legten. 24 18 Th. van Oorschot, Sämtliche Schriften (wie Anm. 2), 707. 19 TrN 33,9f. 121f.: „Auf, auf dann, anzubeten das gülden schönes Kind …“; TrN 34,6: „Wie güldengelb an Haaren …“. 20 Die Wendung findet sich in der 2. Strophe des Spee-Liedes „Zu Bethlehem geboren“ („Gotteslob“ [1975], Nr. 140); Bäumker, Das katholische deutsche Kirchenlied (wie Anm. 3); J. Gotzen, „Zu Bethlehem geboren“, in: Musica sacra 69 (1949) 258-262. 21 Das Motiv vom „Vmbhang“ wird entfaltet in dem anonymen Christtagslied „Figur von der Menschwerdung“/ Ex 26; vgl. Härting, Friedrich Spee (wie Anm. 16), 165f.; die letzte Strophe fasst zusammen: O Leib! o Vmbhang! gülden gantz! Viel schöner als der Sonnen glantz Sehr schön du schöner Vmbhang bist Ach seh ich was darunder ist. 22 Vgl. Härting, Friedrich Spee (wie Anm. 16), 195. Das Bild ist entfaltet in der vorreformatorischen Weihnachtscantio „Dies est laetitiae“; vgl. A. Heinz, „Es ist eyn dach der frolicheit“, in: TThZ 88 (1979) 306-323, hier 321. 23 Die auf ein griechisches Vorbild zurückgehende, sogenannte Fünf-Gaude-Oration grüßt Maria u. a.: „Gaude, que genuisti eterni luminis claritatem“; vgl. G. G. Meersseman OP, Der Hymnos Akathistos im Abendland, 2 Bde. (Spicilegium Friburgense 2/ 3), Freiburg/ Schweiz 1958/ 60, I, 17f.; II, 33-38. 190f. 24 Vgl. Härting, Friedrich Spee (wie Anm. 16), 194: So bald das Kind geboren war Viel Engel seiner pflegten. In Schoß den Sohn / die Sonne klar / Der einen Mutter legten. Die Spee’schen Kirchenlieder halten eine Fülle von Belegen für das Motiv „Christus - die Weihnachtssonne“ bereit. In Spees bekanntem Adventslied „O Heyland reiß die Himmel auff“ wird die Geburt des Erlösers im Bild des Sonnenaufgangs herbeigesehnt (5. Strophe): „O Sonn geh auff: ohn deinen Schein Im Finsterniß wir alle sein.“ Vgl. Härting, Friedrich Spee (wie Anm. 16), 162. Das dem eucharistischen Lied „Das Heyl der Welt“ (wie Anm. 3) Messfrömmigkeit und Eucharistieverehrung 124 Bei aller Anlehnung an die Tradition gibt Spee der weihnachtlichen Sonnensymbolik eine eigene Prägung. Während die Liturgie mit Hilfe der Bildrede von Christus als Weihnachtssonne vor allem die Transzendenz und göttliche Erhabenheit des Kindes in der Krippe hervorheben möchte 25 - ein Gedanke, der freilich auch bei Spee nicht fehlt - empfindet unser Dichter den unter der armseligen Erscheinung des Krippenkindes verborgenen Lichtglanz eher als eine affektive Wirklichkeit. Das von dem güldenen Christkind herkommende Licht ist ihm vor allem die stille Glut der göttlichen Liebe; der im Innern der Dreifaltigkeit flutende Lichtstrom des liebenden Zueinanders der göttlichen Personen ist im menschgewordenen Gottessohn herübergeströmt in die Winterkälte der Menschenwelt. 26 Wie die Mystiker des Mittelalters kann Spee nicht genug staunen über diese nicht aufzuhaltende Menschenliebe des Sohnes Gottes, … den die Liebe Viel zu stark am Herzen brann! Sie vom Himmel ihn vertriebe, Nackend er zur Erde rann, Er zum Menschen unverdrossen Sprang von seinem gülden Saal. 27 So ist der schöne Sohn des Königs (GTb 132) aus dem Lichtsaal des Himmels in die Wüste der Menschenwelt gelaufen, um als Guter Hirt den Sünder heimzubringen zum Vater, wobei er gerne in Kauf nahm, dass er sich dabei sein Sonnenklares angesicht (GTb 132) verletzte. Aber schon an der armseligen Krippe sieht der Dichter entsprechende, mit den gleichen Worten beginnende Weihnachtslied singt in seiner 5. Strophe (Härting, 179): O Sonn! in einer Wolcken schon / In Fleisch vnd Blut O Gottes Sohn! Auch E. Rosenfeld, die in der Frage der Autorschaft vorsichtiger urteilt als Gotzen, erkennt in diesem Lied „Spee’sche Spuren“; vgl. Rosenfeld, Neue Studien (wie Anm. 1), 29. Das gleiche Motiv in weiteren Liedern; vgl. Härting, Friedrich Spee (wie Anm. 16), 225-228. 232. 236. 249. Die kosmische Symbolik des Zusammenfallens von Wintersonnenwende und Christi Geburt entfaltet ein weihnachtliches Katechismuslied; vgl. Härting, Friedrich Spee (wie Anm. 16), 186f. 25 Vgl. den in Anm. 17 angeführten Aufsatz von H. Rahner; auch A. Heinz, Weihnachtsfrömmigkeit in der Römischen Liturgie und im deutschen Kirchenlied, in: LJ 30 (1980) 215-229, hier 217-220. 26 Rosenfeld, Neue Studien (wie Anm. 1), 161, hebt diesen zentralen Gedanken der Spee’schen Weihnachtsfrömmigkeit treffend hervor, wenn sie schreibt: „Im kalten Frost geboren, brennt dem Kindlein ein heißes Feuer der Liebe in der Brust, durch das es, so klein und hilflos wie es scheint, doch bald die fröstelnden Hirten ‚mit süssem hertzen brand‘ erwärmen wird.“ 27 TrN 42,17-22. Spee hat die „verblendete“ Liebe des in den irregegangenen Menschen - fast möchte man sagen - vernarrten Gottessohnes übersteigert dargestellt in der Ringerzählung (TrN 43; GTb III, Kap. 18), nach der Vorlage eines von ihm bei dem Dominikaner Georg Muntzius gefundenen Kettengesprächs; vgl. M. Lüthi, Eine Ringerzählung (clock-tale) bei Friedrich von Spee, in: Fabula 4 (1961) 209-230; etwas erweitert in Lüthis Buch: Volksmärchen und Volkssage, Bern-München 1961, 118-144; zu ihrer Interpretation vgl. Gentner, Das Verhältnis von Theologie und Ästhetik (wie Anm. 11), 5-40; Day, Spee (wie Anm. 12), 115-123; Th. van Oorschot, Spee, Sämtliche Schriften (wie Anm. 2), 696-698. Die Sonne des Sakramentes 125 den Tag anbrechen, an dem dieser freundliche Königssohn seinen Hirtenstab über die ganze Welt ausstrecken wird, wie die majestätische Sonne ihre Lichtstrahlen über den ganzen Erdkreis aussendet: Er, er wird sein Stecken Den Sonnenstrahlen gleich Ganz überall erstrecken, In alle Land und Reich. 28 Die Christussonne in Tod und Auferstehung Vor dem Triumph des Ostermorgens steht die Nacht des Karfreitags, als „die Wasser der Trübsal“ versuchten, das Feuer der Liebe auszulöschen (Hl 8,6f.). Auf die liebende Entäußerung des menschgewordenen Gottes, der die Menschen suchet ohne Maßen sehr (TrN 42,25f.), hatte der Mensch übel geantwortet. Im Aufblick zum Antlitz des Schmerzensmannes betet Spee: Sey gegrüsset o holdseliges Angesicht meines Herrn Jesu Christi … du heitre Sonn; wie siehe ich dich um meinetwillen so gar verblichen? so vbel zerschlagen, so gantz mitt blut und spaichel verronen? (GTb 523). Aus diesem Angesicht, dem wahren Spiegel der Dreifaltigkeit, ist in der Passion alle Klarheit geschwunden (TrN 42,74f.). Im „Gesang über das Ecce Homo nach der Geißelung und Krönung Christi“ (TrN 42) klagt Spee: O wie vor so reine Fackel O wie reiner Augenbrand Ist nun worden voller Makel Voller Speichel, voller Schand. Aber gerade zur Zeit des Leidens brennt im Herzen des Erlösers die allersüsseste, liebreiche flammen (GTb525) seiner unbegreiflichen Menschenliebe, die ihn einst vom Himmel zur Erde zu kommen gedrängt hatte, am stärksten. In einem der Gedichte des sogenannten Sponsa-Zyklus 29 lässt der Dichter die Gespons Jesu auf dem Kreuzweg ihrem Geliebten begegnen. Sobald sie ihn anblickt, erkennt sie in seinen Augen den von innen, aus seinem vor Liebe glühenden Herzen, hervorleuchtenden Glanz. Wie die Erde von den Feuerpfeilen der Sonne in der Mittagshitze getroffen wird, so fühlt sich die Seele in diesem Augenblick getroffen und verwundet von den Feuerpfeilen der Liebe aus den auf ihr ruhenden Augen des geliebten Bräutigams (TrN 19,17-24): Er gleich auf mich tut zielen Mit reinem Augenblitz; Auf mich mit Haufen fielen Die Strahlen voller Hitz. Die Pfeil da kamen loffen 28 TrN 33,61-65; vgl. Rosenfeld, Neue Studien (wie Anm. 1), 161f. 29 Vgl. Rosenfeld, Neue Studien (wie Anm. 1), 123-134. Messfrömmigkeit und Eucharistieverehrung 126 Von seinen Äuglein teur, So mir das Herz getroffen Mit bittersüßem Feur. Vom Kreuz herab beteuert es der Erlöser selbst, dass in ihm die liebe kräfftig brinnt (GTb 425) und er fordert die Menschen auf (GTb 426): Meine liebe, meine flammen, mein begirden vngeheur, Messet nur an diesem stammen, Diesem Creutz, vnd Marter theur. So wird das Kreuz Christi selbst in der Nacht des Karfreitags zur hellen Leuchte. 30 Denn als die Sonne am Himmel vor Scham über die Herzenshärte der Menschen sich verbarg und voll Unwillen ihre Laden zuschlug (GTb 393), um mitleidsvoll ein gnädiges Dunkel über das ihr unerträgliche Todesleiden ihres Herrn zu breiten, in dieser frostigen Stunde der Finsternis, als die natürliche Sonne ihren Schein nicht mehr geben wollte, leuchtete das Kreuz des Erlösers auf als eine viel schönere Sonn (GTb 406; vgl. ebd. 402). Zwar war der Glanz in seinen menschenfreundlichen Augen, als er sterbend das Haupt senkte, erloschen, aber das Feuer der Liebe in ihm war nicht zu löschen. Ach wie brennet er von Liebe! Bleibet stets gezündet an. 31 Der Gnadenschein seiner unbesiegten Menschenliebe strömt nach Christi Tod, als der Soldat sein Herz aufgetan hat, ungehindert und unaufhaltsam von der Höhe des Kreuzes aus den Brunnen der fünf Wunden. 32 30 Vgl. GTb 402. Das Kernstück der 4. Kommunionandacht im GTb bildet ein Gebet zum Gekreuzigten, in dem die „fürnehmsten glideren“ Jesu einzeln begrüßt werden (GTb 522-526). Im Gebet zu den Augen werden diese angeredet als „pfeilkocher der Liebe“; aus ihnen dringen „die zarte flammen, pfeil vnd stralen“, die das Herz der gottliebenden Seele durchdringen und mit „hönigsüsser lieb“ verwunden (vgl. GTb 523). 31 TrN 42,29-30. In der 4. Kommunionandacht des GTb spricht Spee von der geöffneten Seite des Gekreuzigten als von dem „angezündten fewroffen der recht brinnenden liebe“, aus dem herausschlagen „allersüsseste, liebreiche flammen“ (GTb 525). 32 Eine die Wunden Christi über alles liebende „andechtige Seel“ lässt Spee sprechen (GTb 406): „Mein Gott, du hast den menschen wol das Firmament geben, aber gib mir deine Wunden, sie glantzen noch vil mehr. Mein Gott, du hast den menschen geben Sonn, Mond vnd Sternen; aber gibe mir deine Wunden; sie leuchten noch vill mehr.“ Das in Spees Passionsbetrachtungen allgegenwärtige Motiv vom Heilbrunnen der Wunden Christi steht im Mittelpunkt der 3. Betrachtung unserer Kommunionandacht (GTb 519). Die Wunden des Erlösers sind „klare brünlein“ (GTb 522); „heiße Brünnlein ohne Zahl“ (TrN 42,16), auch „rote Bächlein“ (TrN 42,8) nennt sie Spee. Im 18. Kapitel des 3. Buchs im GTb wird der in Jerusalem einziehende Herr vorgestellt als ein „gastfreyer König“, der sich daranmacht, einen Brunnen mit „Funff röhren“ zu bauen, aus denen roter Wein „zur labung aller krancken“ fließt (GTb 399). TrN 46 („Eine christliche Seel singet von dem Kreuz und Wunden Christi“) verbindet das Licht- und das Brunnenmotiv; vgl. etwa TrN 46,49-54: Aus der Seiten Lan sich leiten Die Sonne des Sakramentes 127 Schon die Väter hatten - die biblischen Ansätze für eine solche Symbolik aufgreifend (Mt 27,45 par.) - Tod und Auferstehung Jesu in Verbindung gesetzt zum Niedergang und Aufgang der Sonne. Am eindrucksvollsten entfaltet Spee dieses Bild in jener gleichsam die Synthese des ganzen „asketischen Lustwäldchens“ 33 darstellenden Ekloge der TrN, wo er die beiden unter einer Eiche lagernden Hirten Damon und Halton den Sonnenuntergang erleben lässt (TrN 49). Während Damon strophenweise die abendliche Natur besingt, deutet Halton jeweils in einer „Nachstrophe“ das Naturgeschehen geistlich, indem er es in Beziehung setzt zum Geschehen auf Golgota. So bittet Damon die schon tief im Westen stehende schöne Sonn, ihren Lichtwagen anzuhalten und die Rosse noch etwas verschnaufen zu lassen; er möchte sich noch einige Augenblicke länger des Lichtes freuen. Halton, in der Rolle der am Fuß des Kreuzes niedergesunkenen Sponsa, bedrängt Jesus, sein wahres Licht und Fackel (TrN 49,113), im Tod noch nicht zu versinken (TrN 49,99-104): O Jesu, nit verscheide, Nit noch tu dein Äuglein zu, Nit noch weiche, nit verfahre, Nit noch wöllest untergahn. Uns noch deine Strahlen spare, Nur noch wenig bleibe stahn! Doch wie Mond und Sterne schließlich ihre Sonn zu Bett legen und das matt und müde Licht in den Schlaf singen, so betten am Abend des Karfreitags die Getreuen Christus ins Grab, und die Mutter singt ihrer Sonne ein klagendes und doch schon von leiser Auferstehungshoffnung erhelltes Schlummerlied. Als Mensch ist Christus zwar im Tod versunken, als Gottes Sohn aber war er unsterblich. Um diese Glaubenswahrheit vom toten Leben (GTb 526) menschlicher Vorstellungskraft näherzubringen, bedient sich unser Dichter, wenn auch nur andeutungsweise, eines antiken Sonnenmythos. Die Alten stellten sich vor, dass der feurige Sonnenball, wenn er sich bei seiner hitzigen Fahrt durch den Tag sozusagen heiß gelaufen hatte, am Abend in die Fluten des Meeres eintaucht, um seine übermäßige Glut im Wasser abzukühlen. Nach nächtlicher Wanderung durch das Schattenreich unter der Erde steigt Phöbus am anderen Morgen, im Osten, aus der Meerestiefe in strahlendem Glanz wieder auf. 34 So geht die Sonne zwar unter, aber ihr Feuer bleibt angezündet. Überträgt man das Bild auf den Erlösertod Christi, so Rote Strahlen wie Korall, Aus der Seiten Lan sich leiten Weiß Wässer wie Krystall. Ein ähnliches Ineinander der Bilder in TrN 49,35-40: Von den „Wunden heiß“, in der Passion „entzündet“, leuchtet der den Sündern Heil verkündende „Sommerschein“. 33 Rosenfeld, Neue Studien (wie Anm. 1), 175; eine Interpretation dieser „vollkommensten Duett-Ekloge“ ebd., 175-179. 34 Vgl. dazu vor allem Dölgers Ausführungen über die patristische Deutung des Pascha Christi als Wanderung der Christussonne durch das Totenreich: Fr. Jos. Dölger, Sol salutis. Gebet und Gesang im christlichen Altertum (LQF 16/ 17), Münster ³1972, 336-364. Messfrömmigkeit und Eucharistieverehrung 128 sagt es: Die Glut der göttlichen Liebe, die im Herzen des zum Menschen gekommenen Gottessohnes bei seiner Wanderung über die Erde so stark gebrannt hat, ist am Abend seines Lebens, in seiner Passion, übermächtig geworden, bis er, von den Flammen der Liebe überwunden, sich selbst ablöschte im kalten Tod. 35 Die in das Reich des Todes hinabgestiegene Christussonne zerbricht der Hölle Pforten, die der bleiche Tod gebauet hat; als Guter Hirt öffnet er Scheur und Stall des Totenreichs und führt die bis dahin vom Teufel gefangen gehaltenen Schafe seiner Herde ins Licht (TrN 49,181-184). Erwartungsgemäß taucht das Sonnengleichnis wieder auf, wenn von der Auferstehung Christi die Rede geht. Jung und Alt bedrängt Spee, den clarificirten Leib Christi Jesu zu betrachten, durch den nun die Lichtfülle des Göttlichen ungehindert hervorbricht. Des schönen Leibs Gestalt leuchtet so hübsch und fein wie tausendmal der Sonnenschein. 36 Am Ostertag ist der verherrlichte Leib des Auferstandenen durch die Grabplatte gedrungen und durch verschlossene Türen hin- und hergegangen wie die Sonn mit ihren straalen durch das glaß ohne einige deselben versehrung herdurch gehet (GTb 89). Während Phöbus am Ostermorgen noch schlaftrunken sich die Augen reibt, 37 läuft der Auferstandene schon seine Bahn und, der Sonne vorauseilend, machet (er) selber seinen Tag (TrN 59,98). Ob es der Abendhymnus Christe, qui lux es et dies war, der Spee zu dieser großartigen Formulierung im Auferstehungsgesang der Eklogen inspiriert hat? 38 Der Tag, den die Sonne des Auferstandenen erhellt, kennt zum Unterschied von dem durch die natürliche Sonne erleuchteten Tag keinen Abend und keine Nacht mehr. Denn von der Christussonne gilt (TrN 50,105-108): 35 Die Formulierung findet sich in der Anrede des Gekreuzigten an die Menschen im Schlussteil des Kettengesprächs (s. Anm. 27); vgl. GTb 425; vgl. auch den verwandten Ausdruck in der 4. Kommunionandacht, wo es vom toten „Fronleichnam“ Christi heißt: „du abgelöschtes liecht, du todes leben“ (GTb 525f.). 36 Vgl. das wenigstens in einigen Diözesananhängen des „Gotteslob“ ([1975], etwa Trier Nr. 829) berücksichtigte Spee-Lied „Ist das der Leib Herr Jesu Christ“, das E. Rosenfeld, die im allgemeinen die Qualität der frühen Speeschen Kirchenlieder sehr kritisch beurteilt, ein „schönes“ Osterlied nennt, von „beachtlicher Eindringlichkeit“; vgl. Rosenfeld, Neue Studien (wie Anm. 1), 30; vgl. Bäumker, Das katholische deutsche Kirchenlied (wie Anm. 3), I, 561, Nr. 279. 37 Das große österliche Magdalenengedicht (TrN 11) beginnt Spee mit dem „Poetenwitz“ (E. Rosenfeld): Die Sonn samt ihren Rossen Spät österlich bezecht, Wollt früh kaum wachen recht. Ob wir in diesem heiteren Auftakt ein Echo des in der katholischen Osterpredigt des 16. und 17. Jahrhunderts besonders beliebten Risus-paschalis-Brauches heraushören dürfen? 38 Der in das römisch-tridentinische Brevier zwar nicht aufgenommene Hymnus war in nachtridentinischer Zeit in der Studienliturgie mancher Orden (z. B. der Zisterzienser) erhalten geblieben; deutsche Fassungen wurden im 16. und 17. Jahrhundert durch katholische und evangelische Gesangbuchdrucke verbreitet; vgl. Bäumker, Das katholische deutsche Kirchenlied (wie Anm. 3), I, 11. 132. Die Sonne des Sakramentes 129 Er erleuchtet auch die Nachten, Heißt die Sternen dannen gahn, Lösets ab von ihren Wachten, Setzet ander Lichter an. Diese andern, Tag und Nacht leuchtenden Lichter sind die verklärten Wundmale des zur Rechten des Vaters erhöhten Erlösers. 39 Von ihnen strömt nun ununterbrochen der Gnadenschein des Heils hervor und ergießt sich wie das Licht der Gestirne über die ganze Erde (TrN 50,109-113): 40 Seine groß und kleine Wunden Er im Himmel setzet ein; Sie da werfen Glanz hinunden, Leuchten mit ganz rotem Schein. Die Sonne der Eucharistie Am hellsten und stärksten leuchtet dieser überirdische Schein, wo immer das Sakrament der Eucharistie gegenwärtig gesetzt wird. Denn die konsekrierte Hostie birgt verhüllt das Heil der Welt, den Heilbringer in Person, mit Fleisch und Blut. 41 Weil Christus selbst in der Hostia real gegenwärtig ist, scheint von dort her über allen, die sich ihm nähern, die Gnadensonne. Dort leuchtet die Weihnachtssonne, dort brennt noch immer der Herzbrand der Menschenliebe dessen, der die Seinen bis zur Vollendung geliebt hat, von dort scheint die Ostersonne, die die Nebel der Traurigkeit und Sünde vertreibt. 42 In denen aber, die die Fenster und Türen ihres Herzens öffnen, entzündet diese Sonne die Flamme der Gegenliebe. Im Zentrum der Spee’schen Eucharistiefrömmigkeit steht die blendend weiße Hostienscheibe, die der Priester in der Mitte der Messe zeigend emporhebt, oder die im goldenen Strahlenkranz der Monstranz gefasste, hoch über dem Altar thronende Hostia. Fast zärtlich nennt Spee das helle Hostienbrot den Weizenschnee (TrN 51,25); der eucharistische Leib des Herrn ist ihm der Leichnam schwanenweiß (TrN 51,63). Vor allem aber sehen seine Augen im Aufblick zur Eucharistie 39 Vgl. Anm. 32. 40 Speziell das Sternbild des Kleinen Bären gemahnte den frommen Betrachter an die fünf Wunden des verklärten Erlösers; vgl. Rosenfeld, Neue Studien (wie Anm. 1), 181. 41 Vgl. Anm. 3. 42 Wie die Frühlingssonne mit ihren Lichtpfeilen „den weichen Schnee verwund“ und seine Starre in dem „sanfften“ erlösenden Weinen der Schneeschmelze zerfließen lässt (TrN 11,9-16), so löst sich unter den Feuerpfeilen der Liebe, die von der Christussonne herkommen, die Herzenskälte derer, „die kalt sind wie der Winter und auf denen das gefrorene Eis der Sünde liegt“ (GTb 388). Als Nebel vertreibende Ostersonne lässt Spee den Auferstandenen seiner Mutter erschienen sein; vgl. das auch von Rosenfeld als Spee-Lied anerkannte „Laßt uns erfreuen herzlich sehr“; vgl. Bäumker, Das katholische deutsche Kirchenlied (wie Anm. 3), I, 361, Nr. 280; E. Rosenfeld, Friedrich Spee von Langenfeld. Eine Stimme in der Wüste (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker N. F. 2), Berlin 1958, 179f.; J. Gotzen, Die Marienlieder Friedrichs von Spee, in: Musica sacra 70 (1950) 133-136. Das österliche Marienlied hat erfreulicherweise Aufnahme gefunden in den Stammteil des „Gotteslob“ ([1975], Nr. 585). Messfrömmigkeit und Eucharistieverehrung 130 Sonnenglanz (TrN 51,111), 43 der von seiner Leuchtkraft nichts einbüßt, gleichgültig ob er viele bescheint oder bloß einer einzelnen anbetend vor ihr knieenden Seele leuchtet. Überall blitzt dieser Glanz auf, aller Ort und End, wo jenes Brot erhoben, in vielmal tausend Kirchen dann, auf mehr und mehr Altären. 44 Der Sonnenglanz der Hostie kommt freilich nicht von ihrem blendend weißen Äußeren; er bricht hervor aus ihrer bodenlosen Tiefe (vgl. TrN 51,75). Denn hinter der Hülle des Brotes, dessen äußere Gestalt vom Wesen abgespalt und somit nur mehr bloße Schal und Rinden (TrN 51,72) ist, lebt als eigentliche Wirklichkeit, versteckt und vermummt (TrN 51,77), der verklärte Gottessohn selbst in seiner überströmenden Lichtherrlichkeit. Das in der Eucharistiefrömmigkeit der nachtridentinischen Epoche so beherrschende Motiv der wirklichen und bleibenden Gegenwart Christi im Sakrament des Altares bestimmt also maßgeblich das Verhältnis unseres Dichters zur Eucharistie. 45 43 G. R. Dimler hat diese eucharistische Lichtsymbolik in seiner Dissertation über die Bildwelt in Spees TrN nicht übersehen (s. Anm. 8,21f. 23). Seine Interpretation einiger von ihm als besonders beweiskräftig herangezogenen Zeilen aus dem Fronleichnamsgesang (TrN 51,105-109) ist jedoch verfehlt. Spee erläutert an dieser Stelle die Glaubenslehre, dass der Leib Christi ungeteilt in jeder Partikel bleibt, auch wenn das Hostienbrot in Brosamen zerkleinert würde: Wan schon in zarte brosamlein Der brodt-schein wird zergrümmlet; Von Christi Leib doch sag ich nein: Er drumb nit wird gestümlet. Dimler sieht hier eine Anspielung auf die „fractio panis“ in der Messe; er siedelt diesen Ritus fälschlich im Kanon an; Spee beschreibe diese Priesterhandlung unter Verwendung „of an unusual light-image“. Tatsächlich meint Brot-schein hier nicht, dass ein Glanz von der gebrochenen Hostie ausginge, sondern, dass es sich bei dem, was da gebrochen wird, nur um scheinbares Brot, um die Brotsgestalt handelt. Was Spee sagen will, findet man in der Fronleichnamssequenz in den Worten ausgedrückt: „Nulla rei fit scissura: signi tantum fit fractura …“; er selbst sagt es in Prosa in der 7. Frage des 7. Kap. im 1. Teil des GTb (GTb 67). 44 Dass die in diesen Zeilen des Fronleichnamsgesangs (TrN 51,115-118) verwandte „universale“ Redeweise nicht, wie E. Rosenfeld annimmt, die Katholizität des Corpus Christi mysticum meint, wurde bereits angemerkt; vgl. Anm. 1. 45 Spees Fronleichnamsgesang (TrN 51) lässt sich, wie Joachim-Friedrich Ritter richtig bemerkt, charakterisieren als eine gereimte „Darstellung der Tridentinischen Abendmahlslehre“: J. F. Ritter, Friedrich von Spee 1591-1635. Ein Edelmann, Mahner und Dichter, Trier 1977, 129. Wolfe, Concept of Nature (wie Anm. 10), 32 beurteilt die dichterische Qualität dieses in Verse gesetzten „Transsubstantiationstraktats“ sehr kritisch, während Rosenfeld, Neue Studien (wie Anm. 1), 181f. das Gedicht nicht nur wegen seines Inhalts, sondern auch der Form nach als „Krönung“ und „apotheotischen Schlußgesang“ der TrN preist. In schlichterem Gewand vermitteln die Spee’schen Katechismuslieder in dogmatischer Prägnanz die tridentinische Eucharistielehre, wobei in antiprotestantischer Frontstellung nachdrücklichst Transsubstantiation und Realpräsenz betont werden; vgl. etwa die folgenden Strophen aus dem Sakramentslied „O Christ hie merck“; Text bei Härting, Friedrich Spee (wie Anm. 16), 72-74: In der Monstrantz Kein Brod ist da Ist Christus gantz Noch bey noch na Kein Brot Substantz. In Hostia. Vom Brot allein Was darin ist Gestalt und Schein Herr Jesu Christ Vor Augen sein. Du selber bist. Die Sonne des Sakramentes 131 Wenn der Priester bei der Wandlung die Konsekrationsworte spricht, hält der himmlische König Einzug; wenn der Zelebrant die konsekrierte Hostie bei der Elevation erhebt, geht die Gnadensonne Gottes über den Gläubigen auf. Ein höfisches Bild kommt einem unwillkürlich in den Sinn. Wie ein Fürst des Barockzeitalters in prächtigem Thronsaal Audienz gewährt, um seinen Untertanen Gelegenheit zu bieten, ihm ihre Aufwartung zu machen und vor ihm ihre Bitten auszubreiten, 46 so hat die Majestät des Gottessohnes in der Mitte der Messe ihren Thron aufgeschlagen auf dem Altar. Auch außerhalb der Messfeier schenkt er im Thronsaal des Gotteshauses seine Gegenwart durch seine Anwesenheit in dem seit dem Tridentinum bezeichnenderweise immer häufiger auf dem Hauptaltar errichteten Tabernakel 47 oder in der über dem Altar ausgestellten, von anbetenden Engeln und dem Hofstaat der Heiligen umgebenen Strahlenmonstranz. Unter den Augen des im Sakrament gegenwärtigen himmlischen Königs vollzieht sich das wohlabgemessene Zeremoniell einer hochfeierlichen Liturgie. Den ganzen prächtigen, alle Sinne ansprechenden Apparat eines barocken Hochamtes begreift Spee als Aufwartung und Huldigung an die göttliche Majestät. Er liebt den hohen Gottesdienst mit großem Pomp vnd Pracht (GTb 289). Was für eine lust wird sein, schwärmt er an einer Stelle des GTb (461), eine herrliche hohe meß zu hören, da man mit allerhand instrumenten, orgel, tromelen, posaunen, hörner, pfeiffen, seitenspil vnd stimmen musiciret? auch mit allerhand stattlichen Ceremonien, paramenten, rauchwerk, lichteren, dieneren, gantz majestätich alles verrichtet? Gegen eine pompöse Orchestermesse vor ausgesetztem Allerheiligsten hätte Spee nicht das Geringste einzuwenden gehabt. Noch großartiger konnte sich das Sakramentslob entfalten bei den von den Jesuiten in der Zeit der Gegenreformation so nachdrücklich geförderten, großangelegten eucharistischen Schauprozessionen, vornehmlich bei Gelegenheit der 46 Die gesellschaftlichen Verhältnisse im 17. Jahrhundert, die Muster des Zeremoniells an den Höfen der absolutistischen Monarchen, blieben nicht ohne Wirkung auf das Gottesbild der Barockdichtung. Vgl. dazu Lemke, Sonne, Mond und Sterne (wie Anm. 12), 120f. Spee bezeichnet an einer Stelle des GTb (377) die Gläubigen geradezu als „höfflinge“, die als die „hoff farb oder Liberey“ ihres Gebieters die Fahne der Feindesliebe hochhalten sollen. Den Gepflogenheiten bei fürstlichen Audienzen entspricht es, wenn Spee den Kommunikanten rät, „auff ein kleines zettlein“ ihre „gebrech vnd anliegen“ (GTb 511) zu schreiben und diese „Bittschrift“ zur Kommunionbank mitzunehmen, sie gleichsam dem Christuskönig zu präsentieren. Diese Vorstellung wird bei einem Jesuitenautor zusätzlich begünstigt durch die in der Gesellschaft Jesu übliche Form der Ordensprofess; vgl. I. Zeiger, Professio super hostiam. Ursprung und Sinngehalt der Profession in der Gesellschaft Jesu, in: Archivum Historicum Societatis Jesu 9 (1940) 172-188; Fischer, Friedrich Spees Anleitung (wie Anm. 7), Anm. 17. 47 Von großem Einfluss für die rasche Verbreitung dieser Art der Aufbewahrung der Eucharistie war die Haltung des angesehenen Mailänder Kardinals Karl Borromäus, der auf dem 1. Mailänder Provinzialkonzil 1565 eine entsprechende, nachdrückliche, später öfter wiederholte Empfehlung gegeben hatte; vgl. O. Nussbaum, Die Aufbewahrung der Eucharistie (Theophaneia 29), Bonn 1979, 435; zur Geschichte des Altartabernakels vgl. ebd., 427-454. Die Aufbewahrung der Eucharistie auf dem Hauptaltar harmonisierte bestens mit der für die Barockzeit typischen Auffassung vom Kirchenraum als Thronsaal Gottes; vgl. E. Sauser, Symbolik des katholischen Kirchengebäudes, in: J. A. Jungmann, Symbolik der katholischen Kirche, Stuttgart 1960, 55-95, hier 68f. Messfrömmigkeit und Eucharistieverehrung 132 Fronleichnamsfeier. 48 Spee gesteht, dass ihm all sein Geblüt übergeht, wenn er eine schöne, herrliche procession sieht, wenn beim Umgang mit dem Allerheiligsten die Böller mit erschröcklich knall abgelassen werden, wenn die Orgeln gar prächtig brausen, die mächtigen großen Glocken zusammen brummen (GTb 289), kurz, Stadt und Dorf alles aufbieten, um den in der Monstranz durch die Straßen ziehenden göttlichen Herrn gebührend zu ehren. Es ist nur recht und billig, wenn zu dieser Gottestracht die Wege mit lindgestreutem Blätterfall, mit trunknem Blumenregen (TrN 51,51-52) bedeckt sind, wenn Blütenkränze und Girlanden den Prozessionsweg säumen und die Musik in den festlichsten Tönen das Manna zart (TrN 51,157) lobt und erhebt. Wenn es um die Ehre des Sakramentes geht, kann Spee sogar, was sonst nicht seine Art ist, einen antiprotestantischen Ton anschlagen, wie er es etwa in der drittletzten Strophe seines dogmatischen Lehrgedichts am heiligen Fronleichnams-Fest (TrN 51,137-144) tut. 49 Da ermuntert er in seinem Tantum ergo die Katholiken: Ei da dann, laßt uns dies Gericht In Demut hoch verehren Und nieder Hals und Angesicht Zur Erden tief beschweren; Und laßt das Heilthum und Monstrantz - Weil Ketzer es verhöhnen - Mit manchem schönen Blumenkranz Nach alter Andacht krönen. Das Sakrament als Quelle höchsten Gotteslobs Es gibt wohl nichts, was Spee tiefer ins Herz geschrieben war, als der Gedanke, dass der menschenfreundliche, schöne Gott gelobt werden muss. Doch genauso tief ist er davon überzeugt, dass alles menschliche Gotteslob, selbst die prächtigsten hohen Messen und die aufwendigsten Schauprozessionen nie imstande sein werden, der unendlichen Lobwürdigkeit Gottes genug zu tun. Ein ganzes Kapitel hindurch spricht Spee von der nichtigkeit alles vnseres Gottes-dienst vnd Gotteslob (GTb III, Kap. 26). Wenn es dann auch dem Letzten klar geworden ist, dass es immer nur billige Pflicht und Schuldigkeit des sich seinem göttlichen Herrn mit allem Sein und Haben verdankenden Menschen ist, der Majestät Gottes nach bestem Vermögen Lob und Dank darzubringen, und dass dieses Menschenlob doch nie dem unendlichen Gott angemessen sein kann, lenkt er den Blick auf den wunderbarlichen Fund (GTb 483), auf die unvergleichliche Gabe, durch die dem unendlich guten Gott ein unendliches Lob zuteil wird. Dieses opffer vber alle opffer, dieser Gottesdienst vber alle gottes-dienst ist der wahre lebendige Leib vnd blut vnseres Heilands Jesu Christi (GTb 474). Die heilige Eucharistie, die Gott selbst 48 Eine mustergültige Darstellung liegt vor über die großangelegte Fronleichnamsprozession der Jesuiten in Erfurt: J. Meisner, Nachreformatorische katholische Frömmigkeitsformen in Erfurt (Erfurter Theologische Studien 26), Leipzig 1971, 123-148. 49 Day, Spee (wie Anm. 12), 260 macht darauf aufmerksam, dass dies die einzige Stelle in der TrN ist, an der Spee den Ausdruck „Ketzer“ für Andersgläubige verwendet. Die Sonne des Sakramentes 133 den Menschen in die Hände gelegt hat, damit sie von diesen Menschenhänden ihm als seiner Herrlichkeit angemessenes Lobopfer dargebracht werden, sie ist jene eigentliche, warhafftige, vnfählbare weiß Gott dem Allmechtigen ein vnendliches lob vnd frevd zu verschaffen (GTb 474). Heutiges, liturgisch geschultes Eucharistieverständnis ist unwillkürlich geneigt, Spees Aussage über die Eucharistie als die Quelle höchsten Gotteslobs zu verstehen von der Eucharistiefeier. Tatsächlich kümmert sich die Messfrömmigkeit Spees aber nicht um den Gang der Feier; 50 vor allem hat sie keine Augen für den Lob- und Dankcharakter des Eucharistischen Hochgebets. Wenn unser Autor vom Lobopfer der Messe spricht, sieht er im Grunde genommen nur einen Punkt; sein Blick ist fixiert auf den Augenblick der Konsekration. Ohne das Vor- und Nachher der Handlung zu beachten, gilt sein Interesse ausschließlich der Wandlung, wenn der zelebrierende Priester das Sakrament hervorbringt. In einer kaum erträglichen, für protestantische Ohren höchst anstößigen Massivität rühmt Spee die gewalt vnd gleichsam allmacht des katholischen Priesters. Er kann durch das Aussprechen der Wandlungsworte den lebendigen Christum wahrhaftig herfürbringen, darstellen und verursachen (GTb 476). 51 Dadurch aber, dass der Priester bei der 50 Vgl. hierzu den Beitrag von Balth. Fischer (wie Anm. 7). 51 Noch unerträglicher ist es, wenn Spee in diesem Zusammenhang von einer Schöpfertätigkeit des Priesters spricht, wie er es im GTb (III. Kap. 27) tut, wenn er sagt, dass der Priester, obwohl ein „irdischer mensch“, den Sohn Gottes „herfürbringen und schaffen kann“ (GTb 477). „Sacerdos est creator sui creatoris“, konnte man in katholischen Messtraktaten jener Zeit lesen, wie sich der Calvin-Schüler Caspar Olevian zu Recht entrüstet, dessen Trierer Reformationsversuch bei Spees erstem Aufenthalt in der Bischofsstadt an der Mosel (1610-12) durchaus noch in Erinnerung war; vgl. zur Kritik Olevians am gegenreformatorischen Priesterbild die diesbezüglichen Bemerkungen in seinem Römerbrief-Kommentar: C. Olevianus, Notae in Epist. Pauli ad Rom., Genf 1579, 33. [Zu dieser Schrift Olevians vgl. A. Heinz, Die Föderaltheologie des Caspar Olevian, Wuppertal 2006. Die Jesuiten hatten zur alljährlichen Erinnerung an den gescheiterten Trierer Reformationsversuch von 1559 eine Dankprozession eingerichtet, die schon in den Jahren von Spees Trier-Aufenthalt bestand; vgl. A. Heinz, Die alljährliche Prozession der Stadt Trier zum Dank für den gescheiterten Reformationsversuch Caspar Olevians, in: Caspar Olevian und der Reformationsversuch in Trier vor 450 Jahren. 1559-2009. Hg. vom Evangelischen Kirchenkreis Trier in Verbindung mit Gunther Franz und der Caspar-Olevian-Gesellschaft Trier, Trier 2009, 161-186.] Viel diskreter ist in diesem Punkt die Ausdrucksweise des Catechismus Romanus (1566), der bedauerlicherweise nicht in dem Maße die Volkskatechese der nachtridentinischen Ära bestimmt hat, wie es auf Grund der hohen Qualität dieser „umfassendsten lehramtlichen Darstellung der gesamten Heilslehre“ wünschenswert gewesen wäre; vgl. H. Jedin, Art. Catechismus Romanus, in: LThK 2 (Freiburg 2 1958), 977f. Dort wird mit Nachdruck auf das hohepriesterliche Wirken des erhöhten Herrn verwiesen; „Christi Domini virtute et potestate“ geschehe die Wandlung; vgl. Catechismus Romanus p. 2 c. 4 quaestio 53; ebd. quaestio 62. Wenn wir mit Fr. Zoepfl (wie Anm. 5) annehmen können, dass Spees Theologie in weitem Maß „canisianische Katechismustheologie“ ist, so muss man es ihm ankreiden, dass er in der Frage der Wandlungsvollmacht hinter den weit maßvolleren und theologischeren Formulierungen der canisianischen Katechismen leider zurückgeblieben ist. Canisius legt den Finger auf die Wahrheit, dass die Wandlung geschieht „omnipotenti Christi virtute“; vgl. Fr. Streicher SJ, S. Petri Canisii Catechismi Latini et Germanici (Soc. Jesu selecti Scriptores I/ 2), Romae-Monachi Bav. 1938, 31. 61. 125. 147. 252. Die pneumatische Dimension des Geschehens kommt freilich auch bei Canisius nicht in den Blick. Messfrömmigkeit und Eucharistieverehrung 134 Wandlung Christus im Sakrament gegenwärtig setzt, bewirkt er auch die höchste Verherrlichung Gottes. Denn wo immer Christus ist, ist er gegenwärtig mit seinem Heilswerk, durch das er den Vater verherrlicht und das Heil der Menschen wirkt. So ist das Sakrament, weil es Ort der wirklichen und bleibenden Christuspräsenz ist, unweigerlich Quelle des höchsten Gotteslobs, sinthemalen solches von ihm vnfählbarlich daherbricht, wie das liecht von den flammen, oder die Stralen von der Sonnen (GTb 476). 52 Wie die Sonne in der Natur mit ihrem Lichtglanz den Schöpfer verherrlicht, so verherrlicht die Sonne des Sakramentes, der menschgeworde, gekreuzigte und auferstandene Gottessohn, den himmlischen Vater. Am liebsten möchte Spee bis in die äußersten Winkel der Erde auf möglichst vielen Altären diese Sonne des Gotteslobs aufgehen sehen. Deshalb redet er den Priestern ins Gewissen, die zur damaligen Zeit noch keineswegs übliche tägliche Zelebration zu pflegen. Wer an einem Tag die Darbringung des Messopfers unterlässt, beraubt Gott einer unendlichen Ehre (GTb 478). Im Blick auf die eigene Berufung bricht Spee in den begeisterten Ruf aus: Gebenedeit sey die stund, in der du mich unwürdigen großen Sünder zum Priesterlichen ampt beruffen hast, damit ich dir also täglich alle meine lebzeit ein unendlich großes lob aufftragen könne! ! ! (GTb 477). Die Laien ermuntert Spee, die Priester immer wieder anzustiften, dieses Opfer zu verrichten (GTb 483); ja, es wäre ihm am liebsten, wenn er aus dem staub der erden fromme Priester machen (GTb 482) könnte, damit doch je vnd allweg noch öffter vnd öffter dem allerhöchsten, glorwürdigsten Gott seine gebürende ehr, lob, vnd preiß gegeben wurde (GTb 482). Wegen der Konsekrationsvollmacht bedarf es notwendigerweise des Priesters, damit dieses Gotteslob zustande kommt. Aber das bedeutet für Spee nicht, dass die Laien, die der Messe beywohnen, sich völlig passiv verhielten. Sie sind vielmehr aufgefordert mitzuhelfen, Gott die Ehre zu geben. 53 Mit dem Gedanken vom Mitdarbringen des eucharistischen Lob-Opfers durch die Gläubigen steht 52 Es ist nicht die Liturgie der Messe, aus der Spee diese von ihm so nachdrücklich ins Licht gestellte Erkenntnis von der doxologischen Natur der Eucharistie gewinnt, sondern es sind dogmatische Überlegungen. Wenn auch das Tridentinum selbst in seinem Dekret über die Messe (Sess. XXII c. 2: DH 1743) aus verständlichen Gründen den Hauptakzent auf den von den Reformatoren bestrittenen Sühnecharakter des Messopfers gelegt hatte, so war der Gedanke der Messe als Lobopfer doch in der nachtridentinischen Theologie zu Lebzeiten Spees durchaus präsent. Der Catechismus Romanus spricht bereits in der Erklärung des Namens „Eucharistie“ (p. 2, capt. 4, quaestio 3) davon, dass Eucharistie Danksagung bedeute, weil die Kirche durch das eucharistische Opfer Gott für seine Wohltaten ein unendliches Lob darbringe. Die Eucharistie habe vor allem die Bedeutung, dass wir durch den Sohn, an dem der Vater sein Wohlgefallen hat, Gott Dank sagen für seine ungezählten, uns gewährten Wohltaten (ebd. quaest. 54). Die eher auf die Messe als Lobopfer hinweisende alttestamentliche Prophezeiung Mal 1,11 wird zitiert, allerdings auch vor der Einseitigkeit gewarnt, die Messe nur als Lob- und nicht auch als Versöhnungsopfer zu verstehen (ebd. quaest. 69; quaest. 63). Auch die canisianischen Katechismen übersehen nicht, dass das eucharistische Opfer zunächst dargebracht wird „in iugem passionis dominicae memoriam et gratiarum actionem“; vgl. Streicher, Catechismi (wie Anm. 51), 32. 126. 53 Spee betont, die Aussage des Tridentinums aufgreifend (Sess. XXII, c. 2: DH 1743), „dass in diesem opfer nicht allein der Priester, vnd wir arme elendige schnöde vnwürdige Creaturen“ (womit offenbar alle Messteilnehmer gemeint sind) die Darbringung des Opfers vollziehen, Die Sonne des Sakramentes 135 Spee in einer bisweilen zwar verdunkelten, nie aber ganz abgerissenen Tradition katholischer Messfrömmigkeit. Gerade die Jesuitenkatechismen 54 und die nachtridentinischen Messerklärungen des Barock 55 haben mit überraschender Klarheit die richtige Erkenntnis, dass die Gläubigen zusammen mit dem Priester das Opfer Christi vor die Augen des Vaters bringen, herausgestellt. Martin von Cochem (†1712) kleidete den Gedanken in ein einprägsames Bild: Wenn der Priester nach der Konsekration die Eucharistie erhebt, dann stützen die vielen Hände der Gläubigen seine Arme und stellen so gemeinsam mit ihm den für alle Menschenschuld sich opfernde Gottessohn vor die Augen des Vaters. 56 sondern der Hohepriester Christus selbst, der sich dazu eines menschlichen Priesters und der Gläubigen bedient (vgl. GTb 475); wenig später spricht Spee davon, dass auch die Laien „das opfer thun“ (GTb 479); dazu vgl. Fischer, Friedrich Spees Anleitung (wie Anm. 7), 215. - Der Hauptgrund, weshalb ein Laie der Messe „beywohnen“ soll, besteht nach Spee darin, dass er das Opfer „opfferen helffen“ soll, um so Gott die gebührende Ehre zu geben (vgl. GTb 481). Auch der Laie hat Grund zu danken, dass Gott „vns menschen einen solchen wunderbarlichen fund“ (die Eucharistie) gegeben, damit wir ihm „ein solches Opfer fürtragen können“ (GTb 483). Vor der Messe soll jeder Messteilnehmer die gute Meinung erwecken, mitzuhelfen, Gott eine unendliche Ehre zu erzeigen (GTb 485); Spee lässt in dem zu diesem Zweck vorgeschlagenen Vorbereitungsgebet (GTb 485) den Darbringungsgedanken deutlich anklingen: „Nun siehe doch an deinen blütigen gecreutzigten Sohn: … Da nime ihn an vnd sey vns gnädig …“. 54 Vgl. etwa die Anleitung zur Mitfeier der heiligen Messe im Kurtrierischen Katechismus von 1589, der unter maßgeblicher Mitarbeit der Jesuiten zustandekam und während der Trierer Noviziatszeit Spees als Lehrbuch wohl auch von den Jesuitenkatecheten benutzt wurde. Auf die Frage, was man in der Messe von der Elevation bis zum Agnus Dei tun solle, lässt der Katechismus antworten: In dieser Zeit „opffere ich Gott dem Vater / dieses Opffer mit dem Priester / vnd bedencke erstlich etwas auß dem Leyden Christi / als von seiner Creutzigung / Blutvergissung vnd von seinem Todt / welche allda in Gedächtnuß geführet werden. Darnach opffere ich auff das Leyden und den Todt Christi für mich / und alle die jenigen / für welche ich zu betten schuldig bin. Ich bitt aber Gott den Vatter / daß er diesen Todt seines geliebten Sohnes / zur vergebung aller meiner Sünden annehmen / vnd mir umb dessen willen gnad geben / wol und recht zu leben / in allen Tugenden auffzuwachsen / vnd alle meine ding / zu ehren seines göttlichen Namens und meinem eigenen heyl glücklich werden wölle …“; Catechismus und Praxis, Trier 1589, 47f. Zur Entstehungsgeschichte des Kurtrierischen Katechismus vgl. Fr. Otterbein, Verdienste des Trierer Erzbischofs Johannes von Schöneberg (1581-1599) um den katechetischen Unterricht, in: Pastor bonus 6 (1894) 369-377. 423-426; W. Glade, Der Katechismuskommentar des Trierer Universitätsprofessors Macherentinus und seine Vorgeschichte, in: Verführung zur Geschichte. Festschrift zum 500. Jahrestag der Eröffnung der Universität in Trier 1473-1973, hg. von G. Droege, W. Frühwald, Ferd. Pauly, Trier 1973, 187-197, bes. 190-193. 55 Es genügt, auf die einflussreiche, bis in die Gegenwart ungezählte Male nachgedruckte Messerklärung des Kapuziners Martin von Cochem hinzuweisen: Medulla Missae Germanica. Das ist Meß-Erklärung ueber Hoenig sueß …, Cöllen 1718, 457f. (Kap. 29,23); vgl. B. Frei, Die Mitfeier des Volkes bei der Messe nach der Meßerklärung Martins von Cochem, Trier 1968 (maschinenschriftl. in der Bibliothek des Trierer Priesterseminars); vgl. auch Fischer, Friedrich Spees Anleitung (wie Anm. 7), Anm. 27. 56 Vgl. M. von Cochem, Medulla (wie Anm. 55), Kap. 25,15. Die Liturgiekonstitution des Vatikanum II (SC 48) hat diese in der Messfrömmigkeit der Neuzeit weitgehend in Vergessenheit geratene Erkenntnis wieder mit aller wünschenswerten Klarheit ausgesprochen. Messfrömmigkeit und Eucharistieverehrung 136 Das Sakrament als Gnadensonne Nach „oben“ hin, Gott, dem Vater gegenüber, ist das Altarsakrament Quelle höchsten Lobes; nach „unten“, zum Menschen hin, ist es Quelle allen Segens. Wo immer einer gläubig in den Bannkreis des Sakramentes tritt, umfangen ihn die Strahlen des Heils und Feuerpfeile der göttlichen Liebe treffen sein Herz. Wie im Lichtschoß der natürlichen Sonne weit und breit alles lebt und blüht, so entströmen der Sonne des Sakramentes die lebenspendenden Energien im Reich der Gnade. Die vom Gedanken der Realpräsenz beherrschte Eucharistiefrömmigkeit der nachtridentinischen Ära ist häufig der nahe liegenden Gefahr erlegen, die Eucharistie statisch und dinglich, bloß als kräftiges, segenspendendes Heiltum aufzufassen. Spee begreift das Sakrament jedoch als eine höchst dynamische und personale Wirklichkeit. Gerade der Vergleich mit der Sonne zeigt das. Man erinnere sich etwa an das suggestive Bild vom Schöpfeimer am Sonnenbrunnen. 57 Auf das Sakrament übertragen weckt es die Vorstellung von einem Gott, der nicht müde wird, aus seinem Reichtum mit unerhörter Freigebigkeit nach allen Seiten sein Heil auszuteilen. Man muss sich ferner vergegenwärtigen, wie stark in Spees Lyrik das Sonnengestirn personifiziert wird, die Sonne gleichsam ein menschliches Gesicht und ein mitfühlendes Herz hat. Wenn es deshalb von der konsekrierten Hostie heißt, man solle sich vorstellen, sie sei eine Sonne, dann möchte Spee, dass der Beter im Aufblick zur weißen Hostienscheibe ein lebendiges Antlitz aufleuchten sieht und gleichsam das liebende Herz des Guten Hirten von dorther schlagen hört. Ein Jesuitenkatechismus, den Spee möglicherweise während seiner Trierer Noviziatszeit (1610-1612) in Händen hatte, 58 fordert ganz im Sinn der Spee’schen Sakramentsfrömmigkeit die Gläubigen auf, bei der Elevation das Stoßgebet zu sprechen: „Herr, Himmlischer Vater / sihe in das Glorwirdig Angesicht Christi deines Geliebten / und erbarm dich mein“. 59 So erfüllt sich im Augenkontakt mit dem Sakrament die Bitte des 67. Psalms, die Spee paraphrasierend in die Verse gekleidet hat (GTb 52): Lass glantzen mir dein angesicht, Lass mir dein augen scheinen: Die stralen von mir wende nicht, So bleib ich fast auff beinen. Noch deutlicher tritt die dynamische und personale Dimension in Spees Eucharistieverständnis zutage, wenn man auf jene Stellen achtet, an denen der Dichter die Tätigkeit der Sonne nach Art antiker Poeten beschreibt: Phöbus schießt von seinem Lichtwagen feurige Flammenpfeile zur Erde. Spee deutet die hitzigen Pfeile als Boten der Liebe. Im Innersten des dreifaltigen Gottes symbolisieren die 57 Vgl. Anm. 15 und die dazugehörigen Ausführungen im Text. 58 Vgl. Anm. 54. 59 Catechismus und Praxis (wie Anm. 54), 195. Das Gebet wird dort Franz von Assisi zugeschrieben. Die Sonne des Sakramentes 137 fürgeschossen Strahlenpfeile die Liebe der göttlichen Personen zueinander, nach außen, zum Menschen hin, sind sie Symbole der wohlwollenden Liebe des menschenfreundlichen Gottes. Am häufigsten begegnet uns diese Metapher im Zusammenhang mit dem Sponsa-Motiv, immer dann, wenn es um das innige Verhältnis zwischen dem die Seele suchenden Jesus und der nach liebender Vereinigung mit ihrem Bräutigam verlangenden Seelenbraut geht. 60 Auf dem Kreuzweg fühlt sich die Sponsa von den Pfeilen der Liebe getroffen, als Jesus sie anblickt. 61 Nicht anders ergeht es der frommen Seele, die in den Schein des Sakramentes tritt. Aus dem vor Liebe brennenden Herzen und den verklärten Wunden des im Sakrament gegenwärtigen Seelenbräutigams treffen sie die Feuerpfeile seiner göttlichen Liebe. Sie fühlt sich vmbzinglet und vmb vnd bezogen mit lauter gnad (GTb 47), so dass ihr Herz zur Gegenliebe sich entzündet (GTb 225): Er brennet mich so süssiglich, Mit zarten pfeil vnd straalen; Mein hertz er zündet inniglich Es ligt in heissen kolen. Der Herzbrand, den eine gottliebende Seele unter dem Strahl der Gnadensonne empfindet, ist unbändiges Verlangen nach der vollkommenen Unio mit dem Geliebten. Diese Vereinigung zwischen Jesus und der Seele kann sich in dieser Zeit schon verwirklichen in der geistlichen oder wirklichen Kommunion. Nur diese Unio mystica ist es, welche die übersteigerten Liebeswünsche erflehen, wie sie Spee in der 3. Kommunionandacht einer frommen Seele in den Mund legt. Die auserwählte, schöne, güldene Sonne des Sakramentes soll einen brennenden Feuerofen der Gottesliebe in der Seele entzünden, sodass sie Tag und Nacht vor Begierde gantz brenne und vor unaufhörlichem Verlangen (GTb 518). Die Seele sehnt den Augenblick herbei, in dem sie ganz in die Flammen der göttlichen Liebe geworfen wird, in dem sie eintaucht in den göttlichen Abgrund, aus dem sie nie mehr aufsteigen möchte (ebd. 518f.). Die auf Erden immer nur zeitweilige Vereinigung will Ewigkeit. An ungezählten Stellen des GTb hat Spee diese Sehnsucht nach inniger, ewig währender Vereinigung in Versen hinausgesungen und in gefühlvollen Herzensgebeten ausgedrückt. Immer wieder leitet er jede mit ihm empfindende Seele an, den lang erwarteten Tag der Hochzeit (GTb 208) und der endgültigen Vereinigung mit dem Bräutigam inständig herbeizuflehen (GTb 208). 60 Spee ergänzt das biblische Sponsa-Motiv, wie er es dem Hohen Lied entnommen hatte, durch das der antiken Mythologie entlehnte Bild von dem seine Liebespfeile abschießenden Cupido, das er auf Christus überträgt; vgl. Gentner, Das Verhältnis von Theologie und Ästhetik (wie Anm. 11), 24. Beide Motive sind verbunden in der Titelzeichnung der Straßburger Handschrift der TrN: Die Sponsa mit dem Liebespfeil im Herzen blickt zu ihrem Geliebten auf, der im Baum gekreuzigt hängt; vgl. die Abbildung der Titelzeichnung bei Rosenfeld, Neue Studien (wie Anm. 1), 192f.; eine ausführliche Deutung gibt E. Jacobsen, Die Metamorphose der Liebe und Friedrich Spees Trutznachtigall (Studien zum Fortleben der Antike I), Copenhagen 1954, 58-62; vgl. auch Gentner, Das Verhältnis von Theologie und Ästhetik (wie Anm. 11), 126. 61 Vgl. TrN 19,17-24. Messfrömmigkeit und Eucharistieverehrung 138 Komm, o mein Jesu, komm, komm, Dass ich sein angesicht beschawe: Kom, kom, das ich deiner in ewigkeit geniesse. O mein allerliebster breutigam meiner seelen, O mein klares liecht meiner augen, O mein frewd vnd glori, O meine schöne, o meine wollust, o meine herrlichkeit, O mein pracht vnd macht, o meine seeligkeit, O mein Gott vnd alles! Wie kan ich deiner so lang entrathen? Wie kan ich immer rästen, vnd ruhen, Biss ich dich umfange? In ewigkeit bleiben müssest! In der Tradition der Elevationsfrömmigkeit Es kann an dieser Stelle nicht im Einzelnen untersucht werden, ob und in welchem Ausmaß mittelalterliche Sakramentsmystik, soweit Spee sie durch die zeitgenössische geistliche Literatur kennenlernen konnte, 62 ihn beeinflusst hat. Die teilweise verblüffende gedankliche Nähe zu den eucharistischen Stücken im Werk der Zisterzienserin Gertrud von Helfta (†1302) ist jedenfalls auffällig. Bei ihr findet sich auch schon das Bild vom Sakrament als der Gnadensonne. 63 Die Art, wie sie ihre bei der geistlichen Kommunion gemachten Erfahrungen schildert, hat drei Jahrhunderte später im Werk Spees mannigfaltige Parallelen. Denn auch sie fühlt angesichts der Eucharistie den Blick der göttlichen Liebe gleich „Sonnenstrahlen“ auf ihre Seele gerichtet; auch sie spricht davon, dass das vom Sakrament herkommende Gnadenlicht „die Seele glänzend weiß macht und von allen Flecken reinigt“, dass die Seele unter den Feuerflammen der göttlichen Sonne zerschmilzt wie Wachs und dass der Blick der Liebe in der Seele geistliches Leben weckt und wachsen lässt „wie die Sonne auf der Erde verschiedene Arten von Früchten hervorbringt“. 64 Wenn ein solcher Gleichklang der Bilder und Empfindungen auch keine Abhängigkeit in strengem Sinne beweisen kann, so zeigen diese Parallelen doch eines sonnenklar: Spees Eucharistiefrömmigkeit steht ganz in der Tradition der im hohen Mittelalter aufgekommenen, vom Pathos der Realpräsenz bestimmten, typisch abendländischen Elevationsfrömmigkeit, 65 und sie teilt deren Nachteile und Vorzüge. 62 Nach Th. van Oorschot, Spee, Sämtliche Schriften (wie Anm. 2), 705, ist es nicht die Art Spees, aus Primärquellen zu schöpfen; das geistliche Erbe der Vergangenheit wird ihm durch die theologische und aszetische Literatur seiner Zeit vermittelt. 63 Wer im Augenblick der Elevation zum Sakrament aufschaut, dem ergeht es wie einem, „der aus der Finsternis ins Sonnenlicht tritt, (und) plötzlich ganz erleuchtet wird“. Vgl. Gertrud die Große (v. Helfta), Gesandter der göttlichen Liebe, übersetzt von J. Weissbrodt, Freiburg 12 1954, 162. Ähnlich vergleicht der große Volksprediger des Mittelalters, Berthold von Regensburg (†1272), die Wirkung der Eucharistie mit der Leuchtkraft der Sonne, vgl. K. Boeckl, Die Eucharistie-Lehre der deutschen Mystiker des Mittelalters, Freiburg 1924, 30f. 64 Vgl. ebd., 210f. 65 Vgl. dazu meinen Aufsatz: Schwerpunktverlagerung in der Meßfrömmigkeit. Von der Elevationszur Kommunionfrömmigkeit, in: HlD 36 (1982) 69-71. Die Sonne des Sakramentes 139 Für den heutigen Beobachter springen die Nachteile der traditionellen Eucharistiefrömmigkeit überdeutlich ins Auge: Die ungesunde Isolierung des Sakramentes von der Eucharistiefeier, die weitgehende Verkennung der ekklesialen Dimension der Eucharistie, der Rückzug in eine weltvergessene Innerlichkeit, in der nur noch die Einzelseele und ihr Heiland Platz haben. Von daher wird der häufig erhobene Vorwurf verständlich, dass diese Art von Eucharistiefrömmigkeit die Horizontale ganz vergessen habe und von der gemeinschaftsstiftenden und weltverändernden Kraft der Eucharistie nichts mehr wisse. Dass dies nicht so sein muss und in der Vergangenheit auch tatsächlich sehr oft nicht so gewesen ist, 66 dafür liefert gerade Friedrich Spee einen überzeugenden Beweis. Man wird die zarte Innigkeit und weiche Jesusminne, die in einem allerdings heute kaum noch erträglichen barocken Sprachgewand aus Spees eucharistischen Texten sprechen, nicht als religiöse Sentimentalität abtun, wenn man bedenkt, dass dies die Frömmigkeit eines Mannes war, der den Mut hatte, die Cautio criminalis zu schreiben, und der sich die Todeskrankheit geholt hat bei der Pflege schwer verwundeter Soldaten. Spee’s Mess- und Sakramentsfrömmigkeit hat ihn nicht blind werden lassen für den Unstand der Welt. Sie hat ihm im Gegenteil eine Menschenliebe ins Herz gegeben, die jederzeit bereit war zuzupacken, wo immer Not und Leid es verlangten. Bemerkenswerterweise hat Spee im 3. Teil des GTb exakt zwischen das 29. Kapitel mit der Anleitung zum andächtigen beywohnen der Messe und die Kommunionandachten der Kapitel 31-35 das erstaunliche Kapitel 30 gesetzt mit dem Titel: Schönes Register etlicher unterschiedlichen guten werck, in deren ubung sich die fromme seelen zu ergetzen haben. In den darin enthaltenen, nicht weniger als 144 Vorschlägen für mögliche, ganz konkrete Werke der Caritas zeigt sich, „dass dieser wie ein Romantiker der Frömmigkeit wirkende Mann ein (…) Realist der Nächstenliebe ist“. 67 Aus seiner auf den ersten Blick so introvertiert anmutenden Jesusminne ist Friedrich Spee die bisweilen übermenschliche Kraft zu einer hingebungsvollen, selbstvergessenen Menschenliebe zugeflossen. Das konnte geschehen, weil seine Eucharistiefrömmigkeit - trotz aller Mängel, die ihr anhaften - den Blick auf das Wesentliche gerichtet hält. In der Sonne des Sakramentes sieht er die Größe der Erlösungstat Christi aufleuchten. Im Sakrament scheint die unüberbietbare Menschenfreundlichkeit Gottes auf. Dort bricht der Glanz dessen hervor, der aus der Lichtherrlichkeit des Vaters, von seiner maßlosen Menschenliebe gedrängt, als Weihnachtssonne in der Finsternis der Welt aufgestrahlt ist. Dort leuchten die verklärten Wundmale des Guten Hirten, der sein Leben hingegeben hat für seine 66 Was man in neuerer Zeit gelegentlich etwas abwertend als Tabernakelfrömmigkeit bezeichnet, hat sich, wie die Frömmigkeitsgeschichte zeigt, sehr oft als Triebfeder für ein Leben aufopfernden Dienstes an leidenden Menschen erwiesen. Die Tatsache ist des Nachdenkens wert, dass die zahlreichen Kongregationen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts mit sozialer Zielsetzung gegründet worden sind, in ihren Statuten der eucharistischen Anbetung einen auffallend breiten Raum einräumen. Gleiches geschieht in der Schwesterngemeinschaft von Mutter Teresa. 67 Balth. Fischer, Friedrich Spee von Langenfeld SJ (1591-1635). Ein Zugang zu seiner Persönlichkeit, in: TThZ 85 (1976) 97-109, hier 108. Messfrömmigkeit und Eucharistieverehrung 140 Schafe. Wer sich in diese Liebe des im Sakrament gegenwärtigen Gottessohnes versenkt, wird von ihr angesteckt. Er wird angestiftet, es ihm gleich zu tun. Er wird sich gedrängt fühlen, entsprechend dem Apostelwort: Die Liebe Christi drängt uns (2 Kor 5,14) sich auch selbst einzusetzen für seine Mitmenschen, besonders für jene, die in den Dunkelheiten ihres Lebens kein Licht mehr sehen. C Liturgie und Gesellschaft 7 Das Gebet für die Feinde in der abendländischen Liturgie Am 18. Oktober 1981 wurde der russische Germanist Lew Kopelew in der Paulskirche zu Frankfurt mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Der von den kommunistischen Machthabern aus seiner Heimat verbannte Schriftsteller sagte im Schlussteil seiner vielbeachteten Dankrede: „Aus allem, was ich erlebt und erfahren habe, wuchs die Überzeugung, dass die Bergpredigt der höchste, der reinste Gipfel ist, den der menschliche Geist zu erreichen vermag! “ Kopelew dachte dabei vor allem an „die Friedensbotschaft der Bergpredigt, die Liebe selbst zu den hassenden Feinden verkündet“, an die in seinen Augen „eindeutigen“ Worte: „Liebet eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen“ (Mt 5,44). 1 Wo immer dieses Jesuswort 2 aufklingt muss der Liturgiker aus ihm die Anfrage heraushören, wie es denn die Kirche mit dem ihr so nachdrücklich vom Herrn der Kirche aufgegebenen Gebet für die Feinde gehalten hat. Immerhin sind die Feinde und Verfolger die einzige Menschengruppe, für die Jesus nach dem Zeugnis des Neuen Testaments ausdrücklich zu beten gemahnt hat. Hat diese Weisung Christi ein Echo im gottesdienstlichen Leben der Christen gefunden, oder muss man vielleicht eingestehen, dass die Christenheit ein Kernstück der Bergpredigt rasch und gründlich vergessen hat? Aus Gründen der Überschaubarkeit richten wir die Anfrage nach dem Gebet für die Feinde ausschließlich an die Liturgien des Abendlandes. Wegen der vielfäl- [Erstveröffentlichung: Das Gebet für die Feinde in der abendländischen Liturgie, in: LJ 32 (1982) 201-218. Es handelt sich um die Druckfassung der Trierer Antrittsvorlesung vom 1. Februar 1982 anlässlich der Übernahme des Lehrstuhls für Liturgiewissenschaft an der Theologischen Fakultät Trier. Niederländische Fassung: Het gebed voor de vijanden in de liturgie van het Westen, in: Tijdschrift voor Liturgie 66 (1982) 249-266.] 1 Frankfurter Allgemeine Zeitung, Ausgabe vom 19. Oktober 1981. 2 Die Authentizität des Jesuswortes von der Friedensliebe wird von keinem Vertreter der zeitgenössischen Exegese ernstlich in Frage gestellt. Innerhalb des Neuen Testamentes selbst hat das Gebot der Feindesliebe und der sich aus ihm ergebende Auftrag, für die Feinde zu beten, ein vielfältiges Echo gefunden. Der Überlieferungsstrom, wie er sich in der synoptischen (Mt 5,38-48; Lk 6,27-36) und in der paränetischen Tradition (vgl. Röm 12,14. 17-20; 1 Thess 5,15; 1 Petr 3,9; 1 Kor 4,12) niedergeschlagen hat, geht mit seinen interpretierenden, paraphrasierenden und aktualisierenden Varianten im Kern auf den historischen Jesus zurück; vgl. J. Piper, Love your enimies! Jesus’ love command in the synoptic Gospels and the early christian paraenesis. (Society for New Testament Studies. Monograph series.), Cambridge 1979. Liturgie und Gesellschaft 142 tigen Austauschbeziehungen zwischen Ost- und Westkirche wird jedoch hier und da ein Blick hinüber zu den orientalischen Liturgien sich als notwendig erweisen. 1. In der Märtyrerzeit: ein um das Heil des Feindes besorgtes Gebet Der betont pazifistische Grundzug des frühen Christentums ist bekannt. 3 Die Kirche der ersten Jahrhunderte verbot ihren Mitgliedern nicht nur den Eintritt in den Militärdienst, sie sah es auch am liebsten, wenn die Soldaten unter ihren Taufbewerbern vor der Taufe den Dienst mit der Waffe quittierten. Erst recht lehnte sie ein aggressives Gebet gegen äußere Feinde ab. Im Schlusskapitel seiner Abhandlung über das Gebet sagt Tertullian in stolzem Bewusstsein um die Andersartigkeit christlichen Betens, früher habe das Gebet Plagen über die Feinde herabgefleht, und er fährt wörtlich fort: „Jetzt aber sorgt sich das Gebet um die Feinde, es fleht um Gnade für die Verfolger.“ 4 In unmittelbarem Zusammenhang mit dieser Äußerung stößt man auf eine Aufzählung von Gebetsintensionen, in denen der belgische Liturgiewissenschaftler Paul De Clerck in seiner Monographie über das Allgemeine Gebet in den lateinischen Liturgien des Altertums aus guten Gründen das Spiegelbild des liturgischen Fürbittgebets wiederzuerkennen glaubt, wie es um die Wende zum 3. Jahrhundert in Nordafrika in Übung war. 5 Er kommt zu dem Schluss, dass die Oratio universalis der nordafrikanischen Kirche damals in einer besonderen Fürbitte der Feinde des Kreuzes Christi gedachte. 6 3 Hierzu immer noch grundlegend A. von Harnack, Militia Christi. Die christliche Religion und der Soldatenstand in den ersten drei Jahrhunderten, Tübingen 1905 (Nachdruck Darmstadt 1963). 4 Tertullian, de Oratione c. 29,2 (CCL 1,274): Sed et retro oratio plagas irrogabat, fundebat hostium exercitus, imbrium utilia prohibebat. Nunc vero oratio iustitiae omnem iram Dei avertit, pro inimicis excubat, pro persequentibus supplicat. Die Übersetzung von K. A. Kellner (BKV 7,272), der pro inimicis excubat wiedergibt: (das Gebet) „wach gegen die Feinde“, verdreht den Sinn des Gemeinten ins gerade Gegenteil. Tertullian will zweifellos sagen, der Christ stehe wachend und betend auf dem Posten, selbst für seine Feinde, um deren Heil er besorgt ist. So auch De Clerck, Prière universelle (wie Anm. 5): (la prière) monte la garde pour les ennemies (18, Anm. 12). 5 Vgl. P. De Clerck, La „Prière universelle“ dans les liturgies latines anciennes (LQF 62), Münster 1977, 17f. Schon F. Probst (Liturgie der drei ersten christlichen Jahrhunderte, Tübingen 1870, 195) war der Überzeugung, „dass seiner (d. h. Tertullians) Aufzählung der Gebetsobjekte und Gebetswirkungen das liturgische Gebet zugrunde liegt“. 6 Bei der Erklärung der dritten Vaterunser-Bitte erinnert Cyprian an den Auftrag Jesu, für die Feinde zu beten; vgl. De dominica oratione 17; ed. M. Reveillaud, Saint Cyprien. L’oraison dominicale, Paris 1964, 184. Das Gebet für die Feinde erwähnt an der Wende zum 4. Jahrhundert Arnobius, Adv. nationes 4,36 (CSEL 4,171); vgl. De Clerck, Prière universelle (wie Anm. 5), 37. Dass dabei auch an öffentliches und gemeinschaftliches Gebet für die Feinde zu denken ist, ergibt sich etwa aus einer Äußerung Cyprians in dem um 251 von ihm verfassten Brief an Cornelius (Ep. 59,18,3; ed. L. Bayard, Saint Cyprien. Correspondance, 2 Bde., Paris 2 1961/ 62, II, 188): „Wir beten und flehen zu Gott, den sie (d. h. die Verfolger) nicht aufhören herauszufordern und zum Zorn zu reizen, auf dass er den Hass aus ihren Herzen nehme, damit sie, nachdem sie ihre Wut besänftigt haben, zur Vernunft kommen, dass ihr vom Dunkel der Schuld verfinstertes Innere das Licht der Umkehr erblickt, und dass sie mehr danach verlangen, dass der Bischof für sie bittet und fleht, als danach, sogar das Blut eines Priesters zu vergießen.“ Das Gebet für die Feinde in der abendländischen Liturgie 143 Justin der Märtyrer, der für Rom schon ein halbes Jahrhundert früher die Praxis des Allgemeinen Gebets bezeugt, verrät uns zwar nicht, für wen die Gläubigen im Einzelnen beteten, wenn sie nach der Homilie der Sonntagseucharistie zum großen Fürbittgebet aufstanden. 7 Aber in seinem Werk „Dialog mit dem Juden Tryphon“ betont er ausdrücklich, die Christen schlössen in ihr Fürbittgebet nicht nur die Juden ein, sondern all jene, die sich ihnen - den Christen - als Feinde entgegenstellten. 8 Liturgische Texte, die uns entsprechende Gebetsgewohnheiten belegen könnten, sind aus vorkonstantinischer Zeit allerdings nicht auf uns gekommen. Als indirektes Zeugnis für die gottesdienstliche Gebetspraxis der Verfolgungszeit dürfen wir aber die Märtyrerakten heranziehen. In dem, was diese Quellen uns über das Gebet einzelner Blutzeugen mitteilen, hat - um mit Karl Baus zu reden - „die Frömmigkeit einer ganzen Epoche ihren fraglos gültigen Ausdruck gefunden“. 9 Wir dürfen davon ausgehen, dass der einzelne Christ in der Gefängniszelle, vor dem Richter oder auf dem Weg zur Hinrichtung nicht anders gebetet hat, als er es im Kreis seiner Mitchristen daheim oder beim Gemeindegottesdienst zu tun gewohnt war. Das Gebet der Märtyrer zeigt nun aber eindrucksvoll, dass wohl zu keiner Zeit der Kirchengeschichte die Christen für die Weisung der Bergpredigt „Liebet eure Feinde; betet für eure Verfolger“ sensibler waren und ihr gewissenhafter nachgekommen sind, als gerade zur Zeit der Verfolgungen im Römischen Reich. Wie es der Bericht über den Zeugentod der Märtyrer von Lyon eigens hervorhebt, hat mancher Blutzeuge die Vergebungsbitte des Erzmärtyrers Stephanus für seine Feinde (Apg 7,60) beim Gang in den Tod nachgesprochen 10 oder das Wort des Meisters wiederholt: „Vater, verzeih ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23,34). Liturgischen Gebetsstil hört man heraus, wenn der persische Märtyrerbischof Simon vor der Hinrichtung betet: „Herr Jesus, der du für deine Kreuziger betetest und lehrtest, für unsere Feinde zu beten … Rechne es den Verfolgern deines Volkes und den Mördern unseres Leibes nicht als Sünde an, sondern gib ihnen, Herr, dass sie sich bekehren zu der Erkenntnis deiner Gottheit und Herrschaft.“ 11 7 Vgl. Justin, Apol. I, 67,3-5 (ed. Pantigny 142); vgl. De Clerck, Prière universelle (wie Anm. 5), 9. 8 Justin, Dial. I, 35,8 (ed. Archambault I 160f.); diesen und weitere Texte auch bei De Clerck, Prière universelle (wie Anm. 5), 10f. 9 K. Baus, Das Gebet der Märtyrer, in: TThZ 62 (1953) 19-32, hier 22. 10 Vgl. Eusebius, Hist. eccl. 5,2,5 (ed. Schwartz 183); Baus, Gebet der Märtyrer (wie Anm. 9), 24. 11 Martyrium des Simon 48 (BKV 2 22,56 Braun); vgl. Baus, Gebet der Märtyrer (wie Anm. 9), 28. Beispiele für solches zutiefst christliches Märtyrergebet wird man aus allen Verfolgungszeiten bis in die Gegenwart beibringen können. Aus der englischen Katholikenverfolgung besitzen wir in der von John Mush verfassten Lebensbeschreibung der 1586 hingerichteten Metzgersfrau Margaret Clitherow ein entsprechendes Zeugnis: Then they willed her to pray for the Queen’s majesty. The martyr began in this order. First, in the hearing of them all, she prayed for the Catholic Church, then for the Pope’s Holiness, Cardinals, and other Fathers which have charge of souls, and then for all Christian princes. At which words the tormentors interrupted her, and willed her not to put her Liturgie und Gesellschaft 144 Nicht Gottes Zorngericht, sondern das Heilsgut der Einsicht und der Umkehr hat die Märtyrerkirche ihren Feinden und Verfolgern erfleht. Das älteste uns bekannte orientalische Fürbittformular - es handelt sich um das gegen Ende des 4. Jahrhunderts in Syrien aufgezeichnete Allgemeine Gebet der Apostolischen Konstitutionen, das, wie manche seiner Formulierungen verraten, schon in der Verfolgungszeit im Gebrauch war, atmet noch ganz diesen weiten Geist. 12 Es gedenkt nicht nur der Verfolgten, sondern auch der Verfolger. Da heißt es: „Lasset uns beten für die Feinde und für diejenigen, die uns hassen, für alle, die uns um des Namens des Herrn willen verfolgen, auf dass der Herr ihre Wut mäßige und den Zorn, den sie gegen uns hegen, von ihnen nehme.“ 13 Zu der Zeit, als diese Bitte für die Feinde im christlichen Osten aufgezeichnet wurde, muss es auch im lateinischen Westen noch verbreitet ein gottesdienstliches Fürbittgebet für die Feinde gegeben haben. Denn Augustinus findet gerade in dieser Gebetspraxis der Kirche eines seiner gewichtigsten Argumente in der Auseinandersetzung mit dem Pelagianismus. „Wann gab es je eine Zeit“, fragt Augustinus, „in welcher in der Kirche nicht für die Ungläubigen und Feinde der Kirche gebetet worden wäre, auf dass sie zum Glauben kämen.“ 14 Das Gebet für die Feinde ist nach Augustinus ein eindeutiger Beweis für den Glauben der Kirche, dass schon der erste Schritt zur Umkehr nicht menschlicher Willenskraft, sondern Gottes Gnade zu verdanken ist, die erbeten sein will: „Ipsa igitur oratio clarissima est gratiae testificato.“ 15 Majesty among that company; yet the martyr proceeded in this order, „and especially for Elizabeth, Queen of England, that God turn her to the Catholic faith, and that after this mortal life she may receive the blessed joys of heaven. For I wish as much good“, quoth she, „to her majesty’s soul as to mine own“. Abgedruckt in: The other face. Catholic life under Elizabeth I. Collected and edited by Phil. Caraman, London 1960, 251. Bekannter ist das Beispiel des hl. Thomas Morus (†1532), der auf den Urteilsspruch seiner Richter antwortete, er werde von Herzen dafür beten, diejenigen im Himmel wiederzusehen, die auf Erden seine Hinrichtung betrieben hätten und auch dafür, dass der Allmächtige Seine Majestät, den König, behüte und beschütze und ihm einen guten Ratgeber schicke; dieses und weitere Zeugnisse nachgewiesen bei A. Deville, Art. Ennemiers (amour): DSp IV/ 1 (Paris 1960) 757-762. Vgl. die Texte, die u. a. die Fürbitten Pro amicis und Pro inimicis enthalten, in: Thomas More’s Prayer Book. Ed. L. L. Martz - R. S. Sylvester, New Haven-London 1969. 12 Apostolische Konstitutionen 8,6-10 (ed. Funk 478-492). Das Formular auch bei S. Bäumer - R. Biron, Histoire du Bréviaire, 2 Bde., Paris 1905, II, 434f. 13 Ebd. 435: Pro inimicis et odio habentibus nos oremus; pro persequentibus nos propter nomen Domini oremus, ut Dominus mitigato eorum furore dissipet iram adversus nos concitatam. R. Kyrie eleison. 14 Augustinus, De dono perseverantiae 6 (PL 45, 1002): Quando enim non oratum est in Ecclesia pro infidelibus atque inimicis eius ut crederent? Vgl. die Analyse der einschlägigen Augustinus-Texte bei De Clerck, Prière universelle (wie Anm. 5), 57-60. Das „liturgische Argument“ bei Augustin hat K. Federer klar herausgearbeitet; vgl. K. Federer, Liturgie und Glaube, Fribourg 1950, 19-41; auch De Clerck, Prière universelle (wie Anm. 5), 41f. 15 Augustinus, Ep. 177,4 (CSEL 44,673); vgl. De Clerck, Prière universelle (wie Anm. 5), 42. Das Gebet für die Feinde in der abendländischen Liturgie 145 Prosper von Aquitanien greift dieses „liturgische Argument“ in der Auseinandersetzung mit den semi-pelagianischen Tendenzen des südgallischen Mönchtums auf und gießt es in die klassisch gewordene Formel: Legem credendi lex statuat supplicandi. 16 Das Axiom, das also aus dem Kontext „Gebet für die Feinde“ stammt, besagt sinngemäß: Wenn die Kirche für die Feinde betet, zeigt das ihren Glauben, dass diese ohne die Gnade Gottes nicht bekehrt werden können. Ganz auf den Spuren Augustins hält er der Gegenseite vor: „Überall fleht die Kirche zu Gott, nicht bloß für die Heiligen und die schon in Christus Wiedergeborenen, sondern auch für alle Ungläubigen und die Feinde des Kreuzes Christi, für die Götzendiener und alle, die Christus in seinen Gliedern verfolgen (…). Was anders erbittet sie ihnen, als dass sie, nachdem sie ihre Irrtümer überwunden haben, sich zu Gott bekehren, den Glauben annehmen, die Liebe empfangen und, vom Dunkel ihrer Unwissenheit befreit, zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen.“ 17 2. „Defensives“ und „aggressives“ Beten gegen die Feinde Das positive, auf das Heil des Feindes bedachte Gebet, in dem wir eine Mitgift der Märtyrerzeit sehen dürfen, war nun aber um diese Zeit des beginnenden fünften Jahrhunderts schon dabei, sich tiefgreifend zu wandeln. Aus einem Gebet, das sich - nach den Worten Tertullians - „um die Feinde sorgt“, wird allmählich nun doch wieder ein Gebet, das über die Feinde Plagen herabruft. Man wird nicht fehlgehen, wenn man den Hauptgrund für diesen auffälligen Wandel im inzwischen grundlegend veränderten Verhältnis von Kirche und Staat im römischen Imperium vermutet. Schon die meisten Väter des dritten Jahrhunderts waren der Meinung, Gott habe dem Imperium Romanum eine providentielle Rolle für die Ausbreitung des Christentums zugedacht. 18 Seit dem Sieg Konstantins (306-337) setzte sich 16 Capitula 8 (PL 51, 209); abgedruckt bei De Clerck, Prière universelle (wie Anm. 5), 89. Zur Interpretation des Adagiums vgl. H. Schmidt, Introductio in liturgiam occidentalem, Romae 1960, 130-139; ferner die neuere, aus der Feder eines protestantischen Systematikers stammende Untersuchung über Ursprung und Bedeutung des Axioms: G. Wainwright, Doxology. The Praise of God in Worship, Doctrine and Life, London 1980, 218-250. 17 De vocatione omnium gentium I, 12 (PL 51,664f.). Der Text auch abgedruckt bei De Clerck, Prière universelle (wie Anm. 5), 90: Supplicat ergo ubique ecclesia Deo, non solum pro sanctis et in Christo iam regeneratis, sed etiam pro omnibus infidelibus et inimicis crucis Christi: pro omnibus idolorum cultoribus, pro omnibus qui Christum in membris pisius persequuntur; … Quid autem pro ipsis petit nisi ut, relictis erroribus suis, vonvertantur ad Deum, accipiant fidem, accipiant charitatem et, de ignorantiae tenebris liberati, ad agnitionem veniant veritatis. 18 Vgl. zur wachsenden Annäherung zwischen Kirche und heidnischem Staat bereits vor der „Konstantinischen Wende“ die Ausführungen von K. Baus, in: HKG I (Freiburg 1962) 358-360. Das liturgische Gebet für die Wohlfahrt des Imperiums und seiner Herrscher, ein Stück urchristlichen Erbes (vgl. 1 Tim 2,1f.), ist auch in Verfolgungszeiten nie verstummt; vgl. L. Biehl, Das liturgische Gebet für Kaiser und Reich, Paderborn 1937, 30-35. In keinem der zehn ältesten auf uns gekommenen Fürbittformulare aus den lateinischen Liturgien fehlt die Bitte für Kaiser (und Könige); vgl. De Clerck, Prière universelle (wie Anm. 5), 299f. Liturgie und Gesellschaft 146 die Überzeugung durch, nur unter dem Schutzschild der Pax Romana könne die Kirche optimal ihre Heilssendung erfüllen. Als 379 unter Theodosius (379-395) das Christentum gar zur privilegierten Staatsreligion aufstieg, verschmolz die Sache Roms mit der Sache Gottes und seiner Kirche vollends. Das brachte es mit sich, dass der äußere Feind nun weniger mit den Augen des Glaubens als der mögliche, zu gewinnende Mitchrist von morgen gesehen wurde, sondern eher durch die Brille der Staatsraison als der auszuschaltende Gegner. Die Gebete der Kirche beginnen, die Feinde des römischen Namens unbekümmert gleichzusetzen mit den Feinden Gottes. 19 Diese vor dem Hintergrund der universalen Heilssendung der Kirche höchst gefährliche Gleichsetzung hat sich bereits niedergeschlagen in einem der ehrwürdigsten Texte der abendländischen Liturgie, den Großen Fürbitten des Karfreitags. Auch wenn die Wurzeln dieses Formulars in die vorkonstantinische Zeit zurückreichen, 20 ihre uns vertraute Gestalt haben die Orationes solemnes, wie die jüngsten Forschungen zeigen 21 , erst gegen Ende des vierten Jahrhunderts erhalten. Die zu diesem Zeitpunkt anzunehmende gründliche Überarbeitung des römischen Allgemeinen Gebets hat nicht zuletzt zu Veränderungen in dem uns hier beschäftigenden Sektor des Gebets für die Feinde geführt. Zwar ist die altchristliche Bitte um Bekehrung der Ungläubigen in den Karfreitagsfürbitten erhalten geblieben. Aber der Feinde gedenkt man jetzt bloß noch im Rahmen der Fürbitte für „den allerchristlichsten Kaiser“. 22 Ihm wird Kriegsglück über die Feinde erfleht. Aus- 19 Vgl. Baumstark, Friede und Krieg (wie Anm. 23), 264. Die Identifizierung von Römertum und Christenstand findet sich etwa in der Oration Nr. 218 des Leonianums (wie Anm. 26), wo es in völliger Parallelisierung heißt: „… hostes Romani nominis et inimicos catholicae professionis expugna.“ Die Gleichsetzung auch in den Formeln Nr. 553, 604, 660; weitere Belege bei Stuiber, Libelli Sacramentorum (wie Anm. 26), 44f. Für das Weiterleben und die Aktualisierung dieser Anschauung im Mittelalter vgl. G. Tellenbach, Römischer und christlicher Reichsgedanke in der Liturgie des frühen Mittelalters. (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse Jg. 1934/ 35, 1. Abt.), Heidelberg 1934. 20 Dazu jetzt die den augenblicklichen Stand der Forschung bestens zusammenfassende Darstellung von De Clerck, Prière universelle (wie Anm. 5), 125-144. Nach ihm sind die Gebetseinladungen im Wesentlichen zwischen 250 und 320 anzusetzen; vgl. ebd., 142f.; ferner A. Baumstark, Nachhall der Verfolgungszeit. Beiträge zur Geschichte des christlichen Altertums, in: Festgabe A. Erhard, Bonn-Leipzig 1922, 53-72. 21 Vgl. De Clerck, Prière universelle (wie Anm. 5), 132-142. Neben einer Revision der herkömmlichen Intentionsangaben, die nach dem Ende der Verfolgungszeit einer Anpassung an die neue Situation bedurften, brachte die Umformung als auffallendste Veränderung die Hinzufügung der Orationen. 22 Die älteste, auf uns gekommene Fassung der Karfreitagsfürbitten liegt uns in dem um 700 anzusetzenden Missale Gallicanum Vetus vor (ed. Mohlberg 27-29). Die kritisch gesicherte, ursprüngliche Textgestalt der Fürbitte für den (die) Kaiser hat (nach De Clerck, Prière universelle [wie Anm. 5], 127f.) folgenden Wortlaut: Oremus et pro christianissimis imperatoribus nostris ut deus et dominus noster subditas illis faciat omnes barbaras nationes ad nostram perpetuam pacem. OREMUS. Omnipotens sempterne Deus, in cuius manu sunt omnium temporum potestates et omnia iurs regnorum, respice propitius ad Romanum benignus imperium, ut gentes quae in sua feritate confidunt potentiae tuae dextera comprimantur, per … Schon der Superlativ christianissimus ist nur Das Gebet für die Feinde in der abendländischen Liturgie 147 gehend von der stillschweigenden Voraussetzung eines besonderen göttlichen Wohlwollens für das Imperium Romanum bittet die Kollekte, Gott möge die auf ihre wilde Kraft vertrauenden Feinde des Reiches mit seiner machtvollen Rechten zermalmen: „gentes … potentiae tuae dextera comprimantur“. Demütigung der Feinde erwartet man; von ihrer Bekehrung und ihrem Heil ist nicht mehr die Rede. Hierin darf man das allerdings abgeschwächte abendländische Echo hören auf das markige Kriegs- und Siegesgebet, wie es der byzantinische Osten inzwischen für „den christusliebenden Kaiser“ und sein Heer zu verrichten begonnen hatte. 23 Der König der Könige und Herr der Herren wird darin angefleht, Waffe und Wehr zu ergreifen: „Unterwirf ihm, o Gott“, fleht die Fürbitte, „jeden Feind und Gegner, komme er von innen oder von außen“. 24 Ein so wohlwollender und nach dem Sieg Konstantins verständlich, passt aber am besten zum geistigen Klima der Regierungszeit des Theodosius nach 379. Die damalige politische Situation - Theodosius war Mitaugustus - würde auch einleuchtend den Plural imperatoribus nostris erklären; vgl. ebd., 140f. Nach Baumstark, Friede und Krieg (wie Anm. 23), zeigt die „kriegerischimperialistische“ Kaiser-Fürbitte „sofort in die Augen springende Berührungen mit dem Kriegs- und Siegesgebet des griechischen Ostens“ (S. 266). Römersieg gelte als Unterpfand des Weltfriedens. Zum Stellenwert der Fürbitte im Mittelalter vgl. Biehl, Gebet für Kaiser und Reich (wie Anm. 18), 85-88. Die im Karfreitagsformular des Tridentinischen Messbuchs beibehaltene, inzwischen anachronistisch gewordene Fürbitte für den Kaiser ist anlässlich der Reform der Karwochenliturgie von 1955 abgeändert worden zu einer Fürbitte für die Regierenden. 23 Vgl. A. Baumstark, Friede und Krieg in altkirchlicher Liturgie, in: Hochland 13 (1915) 257-270, hier 263f. Zur weiteren Entwicklung des Kriegsgebets im byzantinischen Mittelalter vgl. A. Heisenberg, Kriegsgottesdienst in Byzanz, in: Aufsätze zur Kultur- und Sprachgeschichte vornehmlich des Orients. Ernst Kuhn zum 70. Geburtstage am 6. Februar 1916 gewidmet von Freunden und Schülern, Breslau 1916, 244-267. 24 In der griechischen Markus-Anaphora hat die entsprechende Bitte folgenden Wortlaut: Rex regum, et Domine dominantium, regnum servi tui orthodoxi et Christum amantis regis nostri, quem super terram regnare justum censuisti, in pace, et fortitudine, et iustita, conservato. Subiicito ei, Deus. omnem hostem et adversarium, tam nostratum quam externum. Apprehende arma et scutum, et exurge in adiutorium ei, effunde frameam et conclude adversus eos, qui persequuntur eum, obumbra super caput eius in die belli …; vgl. den dort auch im griechischen Original gebotenen Text bei A. Hänggi - I. Pahl, Prex Eucharistica (Spicilegium Friburgense 12), Fribourg 1968, 106f. Zur Deutung: H. Engberding, Das anaphorische Fürbittgebet der griechischen Markusliturgie, in: OCP 30 (1964) 398-446. An anderer Stelle der gleichen Anaphora (Hänggi - Pahl, 111) stößt man auf folgendes Gebet gegen die Feinde der Kirche: Inimicos Ecclesiae tuae, Domine, ut semper, ita etiam nunc humilia. Patefac eorum superbiam. Demonstra eis cito eorum imbecilitatem. Insidias eorum, praestigias eorum et versuitas, quibus nos adoriuntur, infectas et irritas efficito. Exurge, Domine, et dissipentur inimici tui, et fugiant retrorsum omnes qui oderunt sanctum nomen tuum. Ähnliche Wendungen begegnen in der griechischen Jakobus-Anaphora (Hänggi - Pahl, 253, 255) sowie in deren armenischer und syrischer Version (ebd., 345. 273). Einen Hinweis verdient in unserem Zusammenhang die Bitte für König und Heer in der großen Ektenie der Chrysostomus-Liturgie: „Für unsern König, den ganzen Hof und sein Heer laßt uns zum Herrn beten. Auf daß er mit ihm kämpfe und ihm jeden Feind und Gegner unter die Füße lege, laßt uns zum Herrn beten.“ Die byzantinische Basilius-Anaphora enthält neben der Bitte um Unterwerfung der Feinde des Reiches, Liturgie und Gesellschaft 148 kompetenter Kenner der östlichen Liturgien wie Anton Baumstark hat das byzantinische Kriegsgebet nicht nur in „höchstem Grade patriotisch“, sondern geradezu „imperialistisch“ genannt. 25 Staatskirchliche Mentalität, wie sie sich in den Liturgien der byzantinischen Einflusssphäre unbedenklich ihren Ausdruck schuf, lebte auch im lateinischen Westen weiter, auch wenn hier der jämmerliche Zustand des bald in Trümmer sinkenden Imperiums den triumphalistischen Tonfall merklich dämpfte. Gleich die ältesten liturgischen Formelsammlungen des Abendlandes, die frühmittelalterlichen Sakramentare, erweisen sich als höchst aufschlussreich für unsere Frage nach dem Gebet für die Feinde. Diese Quellen stammen nämlich aus einer Zeit, als sich die Römische Kirche fast ununterbrochen von äußeren Feinden bedroht sah. Besonders die älteste dieser Sammlungen römischen Gebetsguts, das sogenannte Sacramentarium Leonianum, hallt wider vom Kriegslärm der Völkerwanderungszeit. 26 Wie reden die Gebete des Leonianums von den Feinden? Vor allem betet man, vor ihrem Wüten verschont zu bleiben. Gott, der Schutzherr seines Volkes, soll die Feinde abwehren und die Angreifer vertreiben, damit seine Gläubigen soweit wir sehen, als einziges unter den Eucharistiegebeten der byzantinischen Kirche im breit ausgebauten Fürbittteil ein unauffälliges Memento zugunsten der Feinde: Memento, Deus, et eorum, qui ndigent magna tua misericordia. Et eorum, qui nos diligunt, et oderunt (Hänggi - Pahl, 341). Unsere Beobachtung von einer besonderen Sensibilität der Märtyrerkirche für das Anliegen eines positiven Gebets für die Feinde findet im Sektor der orientalischen Eucharistiegebete eine wohl nicht zufällige Bestätigung. Die jenseits der Reichsgrenze lebende, häufig grausam verfolgte ostsyrische Kirche Persiens betet in der nach Nestorius benannten Anaphora auffallend anders für die Feinde als die Byzantiner. Nach dem Gebetsgedanken für die Verfolgten, Leidenden und Kranken heißt es in den Interzessionen des erwähnten Hochgebets (Hänggi - Pahl, 393): Deprecamur quoque misericordiam tuam, Domine, pro omnibus inimicis nostris, et illis, qui oderunt nos; et pro omnibus, qui cogitant adversus nos mala: non in iudicium neque in vindictam, Domine, Deus fortis, sed ad miserationes et salutem, atque ad remissionem peccatorum, quia vis ut omnes homines vivant et vonvertantur ad agnitionem veritatis. Tu enim praecepisti nobis per Filium tuum dilectum, Dominum nostrum Iesum Christum, ut oraremus pro inimicis nostris et pro ilis qui oderunt nos et pro ilis qui nobis imperant violenter et iniuste. Auch Baumstark, Friede und Krieg (wie Anm. 23), 265, ist aufgefallen, dass bei den syrischen Christen außerhalb der byzantinischen Machtsphäre das Kriegsgebet abgewandelt erscheine „zum reinen Abwehrgebet, zum Flehen um Bewahrung vor den Schrecken des Krieges“. 25 Baumstark, Friede und Krieg (wie Anm. 23), 264. 26 Den römischen Charakter dieser Libelli-Sammlung hat Alfred Stuiber überzeugend nachgewiesen; vgl. A. Stuiber, Libelli Sacramentorum Romani. Untersuchungen zur Entstehung des sog. Sacramentarium Leonianum (Theophaneia 6), Bonn 1950. Nach dem derzeitigen Aufbewahrungsort der Hs. wird die Quelle in der neueren Forschung meistens als Sacramentarium Veronense bezeichnet. Kritische Ausgabe: L. C. Mohlberg, Sacramentarium Veronense (Rer. eccl. documenta. Ser. maj. Fontes 1), Rom 1956. Zum zeitgeschichtlichen Kontext der Entstehung des Veronense vgl. neben den einschlägigen Passagen bei Stuiber und Biehl, Das liturgische Gebet (wie Anm. 18), 134f. auch O. Huf S. J., Krijgs-Gebeden en Oorlogs-Missen (Liturgische Studiën II), Bussum 1917, 1-5. Das Gebet für die Feinde in der abendländischen Liturgie 149 innerhalb der befriedeten und gesicherten Grenzen der römischen Herrschaft ihr Heil wirken können. 27 Ein defensiver Grundzug dominiert. Aber unüberhörbar klingen in nicht wenigen Texten ausgesprochen aggressive Töne an. 28 Die feindlichen Waffen sollen in Stücke gehen 29 ; die Feinde seines Volkes soll Gott nicht nur in die Flucht jagen, sondern sie geradezu vernichten. „Contere, quaesumus, Domine, hostes populi tui - Vernichte, Herr, die Feinde deines Volkes“, beginnt eine Oration. 30 „Hostbus nostris compressis - Nachdem unsere Feinde niedergeworfen sind“, heißt es an anderer Stelle, „möge Rom in Sicherheit wieder Gottesdienst feiern können“. 31 Und als der arianische Katholikenhasser Geiserich in den Pfingsttagen des Jahres 455 Rom plünderte, betete der römische Bischof im Schlussgebet der Pfingstmesse: „Erhöre, Herr, unsere Bitten gegen die Feinde des katholischen Bekenntnisses.“ 32 Die Weichen für ein Gebet gegen die Feinde der Kirche sind damit deutlich gestellt. In auffallendem Unterschied zur Gebetspraxis der Märtyrerzeit wird man ein eigentliches Gebet für die Feinde in dem Sinn, dass auch der Gegner noch in Gottes Heilswillen hineinempfohlen wird, im ganzen Leonianum schwerlich finden. Die Kriegsgebete des Leonianums sind in dem durchgeformten altgelasianischen Sakramentar weiterentwickelt und zusammengestellt in den sogenannten fünf gelasianischen Kriegsmessen. 33 Es ist nicht mehr der frische missionarische Geist universaler Heilssorge, der aus ihren Gebeten spricht, sondern eine staatserhaltende Mentalität, die die Sache Roms mit der Sache des Christentums gleichsetzt. Aus dem Gebetsbestand dieser Formulare wird die mittelalterliche Kirche ihre Votivmessen gegen die Slawen, Ungarn, Hussiten und Türken zusammenstellen. Manches davon hat im Tridentinischen Messbuch bis an die Schwelle der jüngsten Liturgiereform weitergelebt. 34 Die im Vergleich zum Osten anders gelagerten politischen Verhältnisse im Abendland haben Rom allerdings vor der Enge eines in sich geschlossenen Nationalkirchentums nach byzantinischem Muster bewahrt. Wo aber im Westen Chris- 27 Vgl. die Zusammenstellung der auf Kriegsnot sich beziehenden Formeln bei Stuiber, Libelli Sacramentorum (wie Anm. 26), 54. Ein gutes Beispiel für diese „defensive“ Gebetsweise findet sich etwa in folgender Kollekte (Nr. 444): Protector noster aspice, deus, et ab hostium nos defende formidine, ut omni perturbatione submota liberis tibi mentis seruiamus: per … Weitere Textbeispiele: Nr. 210, 214, 626, 716, 852, 862, 918, 1251. 28 Vgl. z. B. ebd., Nr. 218, 617, 621, 660, 927, 977, 1311. 29 Ebd., Nr. 965. 30 Ebd., Nr. 462 31 Ebd., Nr. 1132; auch 1033. 32 Ebd., Nr. 218; vgl. Stuiber, Libelli Sacramentorum (wie Anm. 26), 55f. 33 L. C. Mohlberg - L. Eizenhöfer - P. Siffrin, Liber sacramentorum romanae aeclesiae ordinis anni circuli (Rer. eccl. documenta, Ser. maj. Fontes 4), Rom 1960, 214-217; abgedruckt bei Biehl, Das liturgische Gebet (wie Anm. 18), 162-164. 34 Vgl. Huf, Krijgs-Gebeden (wie Anm. 26), 52-68; Biehl, Das liturgische Gebet (wie Anm. 18), 139f.; A. Franz, Die Messe im deutschen Mittelalter, Freiburg 1902, 205-211 (Nachdruck Darmstadt 1963). [Vgl. ferner jetzt: A. Heinz, Das Gebet für die Nicht-Glaubenden in der Liturgie der abendländischen Kirche, in: Christlicher Glaube und säkulares Denken. FS zum 50. Jahrestag der Wiedererrichtung der Theologischen Fakultät Trier 1950-2000 (TThSt 65), hg. von der Theologischen Fakultät Trier, Trier 2000, 269-290.] Liturgie und Gesellschaft 150 tentum und Volkstum verschmolzen, wie etwa in der westgotischen Nationalkirche Spaniens, prägte letztlich nicht das Neue Testament, sondern die Staatsraison das Feindbild. Die altspanische Liturgie hat ein eigenes Ritual entwickelt für die Aussendung des Königs zur Bekämpfung seiner Feinde. 35 Der bei dieser Gelegenheit angestimmte mozarabische Kriegshymnus „In profectione exercitus - Beim Auszug des Heeres“ bewegt sich bezeichnenderweise ganz in einer alttestamentlichen Bild- und Motivwelt. 36 Die zahlreichen Strophen beschwören die Triumphe Israels über seine Gegner und jene blutigen Kriegsläufe, von denen Origines gesagt hat, sie hätten im christlichen Gottesdienst nur dann noch eine Daseinberechtigung, wenn man sie nicht von der Bekämpfung äußerer Feinde begreife, sondern vom geistlichen Kampf gegen den Bösen. 37 3. Das Weiterleben der positiven Fürbitte in Preces und Kanzelfürbitten Es wäre nun allerdings ein Fehlschluss, würde man annehmen, der in den ersten christlichen Jahrhunderten so kräftig fließende Strom eines Gebets, „das sich um die Feinde sorgt“, sei in der Liturgie der Folgezeit ganz versiegt. Tatsächlich ist der Strom durch weniger auffällige Kanäle weitergeströmt, vornehmlich im Gebetsbrauch der Mönche. Schon die für das abendländische Mönchtum wegweisende Regula Benedicti weiß um die Gebetspflicht für die Feinde. Im umfangreichen Kapitel 4, das voll ist von Einzelanweisungen, wie man sich in guten Werken üben könne, trägt Benedikt dem Mönch auf, „in der Liebe Christi für die Feinde zu beten“. 38 Allerdings lässt sich der Benediktregel nicht entnehmen, ob und in 35 M. Férotin, Le Liber ordinum en usage dans l’église wisigothique et mozarabe d’Espagne du V e au XI e siècle (Monumenta ecclesiae liturgica 5), Paris 1904, 149-155; vgl. Baumstark, Friede und Krieg (wie Anm. 23), 269f.; Ders., Vom geschichtlichen Werden der Liturgie (Ecclesia orans 10), Freiburg 1923, 85; A. L. Mayer, Altchristliche Liturgie und Germanentum, in: JLW 5 (1925) 80-96, hier 90f. 36 C. Blume, Hymnodia Gotica. Die Mozarabischen Hymnen des altspanischen Ritus, in: AHMA 27, 269-271. Der Rückgriff auf alttestamentliche Paradigmen charakterisiert auch die aus altgallischem Textmaterial komponierte Missa pro rege in die belli contra paganos im gelasianischen Sakramentar von Angoulême 1918, 167f.; abgedruckt bei Biehl, Das liturgische Gebet (wie Anm. 18), 164f. 37 Origines, Hom. in Jesu Nave 15 (ed. Lommatsch II, 130): „Wären die im Alten Testament erzählten schrecklichen Kriege nicht geistlich zu deuten, so hätten die Apostel niemals die jüdischen Geschichtsbücher den Jüngern Christi, der gekommen ist Frieden zu lehren, zur Lesung in den Kirchen übergeben.“ Zitiert nach v. Harnack, Militia Christi (wie Anm. 3), 27. Charakteristisch für die pazifistische Einstellung des Origines, der Christenstand und Waffendienst für grundsätzlich unvereinbar hielt, ist die folgende Äußerung in seinem Werk Contra Celsum 5, 33: „Wir (d. h. die Christen) sind gekommen, den Ermahnungen Jesu gehorsam, zu zerbrechen die Schwerter, mit denen wir unsere Meinungen verfochten und unsere Gegner angriffen, und wir verwandeln in Pflugscharen die Speere, deren wir uns früher im Kampfe bedient haben. Denn wir ziehen nicht mehr das Schwert gegen ein Volk, und wir lernen nicht mehr zu kriegen, nachdem wir Kinder des Friedens geworden sind durch Jesus, der unser Führer an Stelle der heimischen geworden ist“. Zit. n. v. Harnack, Militia Christi (wie Anm. 3), 70. 38 Reg. Ben. 4,72; vgl. auch im gleichen Kapitel (4,31) die aus der Regula magistri übernommene Weisung: Inimicos diligere (ed. A. de Vogüé - J. Neufville, in: SC 181, 458, Das Gebet für die Feinde in der abendländischen Liturgie 151 welcher Form der Feinde im liturgischen Gebet gedacht wurde. Die um 600 aufgezeichnete Mönchsregel Kolumbans bezeugt dagegen ausdrücklich, dass die Fürbittlitanei, mit der in den Klöstern der irisch-keltischen Tradition die kleinen Horen des monastischen Offiziums schlossen, auch eine Aufforderung zum Gebet für die Feinde enthielt. 39 Auf den Ruf hin: „Lasset uns beten für die Feinde! “ kleideten die Mönche ihr Gebet in die Worte des Meisters und des ersten christlichen Blutzeugen: „Herr Jesus Christus, rechne ihnen diese Sünde nicht an, denn sie wissen nicht, was sie tun“. Die irisch-gallikanischen Preces fanden Eingang in die Offiziumsordnung zahlreicher Kathedral- und Stiftskirchen. Auch die mittelalterliche Trierer Diözesanliturgie war Mitbewahrerin dieser Gebetstradition. Erst die stark romanisierte Neuausgabe des Trierer Bistumsbreviers aus dem Jahre 1748 gab die eigenen Offiziums-Fürbitten bedauerlicherweise auf zugunsten der weniger glücklichen Preces des Tridentinischen Breviers. 40 Damit hatte Trier die bis dahin bewahrte Fürbitte für die Feinde im Stundengebet verloren. Es gehört zu den bedauerlichen Fehlentwicklungen der abendländischen Liturgiegeschichte, dass Rom verhältnismäßig früh die Anliegenlitanei des Volkes in der Eucharistiefeier aufgegeben hat. Gottlob hat die fränkische Kirche, als sie in karolingischer Zeit die Römische Liturgie übernahm, sich mit diesem unbefriedigenden Zustand nicht abgefunden. In Anknüpfung an eigenen, altgallischen Brauch kam es nördlich der Alpen zu einer Neubelebung des Allgemeinen Gebets wenigstens in der sonntäglichen Pfarrmesse. 41 Die Gebetsempfehlungen, wie sie der Priester nach der Sonntagspredigt in der Volkssprache vortrug, konnten auch der Fürbitte für die Feinde wieder einen Ort im Gemeindegottesdienst geben. Auf Grund der reichen Dokumentation, die der französische Forscher Jean Baptist Molin über die Praxis der mittelalterlichen Kanzelfürbitten vorgelegt hat 42 , zeigt sich, dass dies tatsächlich 462). Eines der beeindruckendsten Zeugnisse für diese auf der Höhe des Neuen Testamentes gebliebene Gebetspraxis des Mönchtums ist zweifellos die allerdings dem hier ausgeklammerten Bereich persönlicher Frömmigkeit angehörende Oratio pro inimicis Anselms von Canterbury (†1109): Oratio 19 (ed. F. S. Schmitt III, 73-75). 39 Vgl. C. S. M. Walker, Sancti Columbani opera, Dublin 1957, 130; De Clerck, Prière universelle (wie Anm. 5), 269-273; Balth. Fischer, Litania ad Laudes et Vesperas, in: LJ 1 (1951) 55-74, hier 57. 73f. 40 Vgl. A. Kurzeja, Der älteste Liber Ordinarius der Trierer Domkirche (LQF 52), Münster 1970, 383-387. Ebd., 558f. der Text der trierischen Preces maiores pro omni gradu ecclesiae. Das Trierer Diözesangesangbuch in seiner Auflage von 1955 hat die traditionsreichen Fürbitten in einer muttersprachlichen Fassung in den Volksandachten wieder aufleben lassen; vgl. den geringfügig bearbeiteten Text auch im Trierer Anhang zum „Gotteslob“ (1975) Nr. 942 und 943. 41 Das früheste Zeugnis für die mittelalterliche Praxis der sonntäglichen Kanzelfürbitten bei Regino von Prüm (†915), De syn. causis I, c. 191-192 (ed. Wasserschleben 98f.); das Regino’sche „Formular“ ist u. a. abgedruckt bei J.-B. Molin, L’oratio communis fidelium au Moyen-Âge en occident du X e au XV e siècle, in: Miscellanea Liturgica in Onore di Sua Eminenza il Card. Giac. Lercaro, 2 Bde., Rom-Paris-Tournai-New York 1966, II, 313-468, hier 330-333. [W. Müller-Geib, Das Allgemeine Gebet der sonn- und feiertäglichen Pfarrmesse im deutschen Sprachgebiet von der Karolingischen Reform bis zu den Reformversuchen der Aufklärung (Münsteraner Theologische Abhandlungen 14), Altenberge 1992.] 42 Vgl. die in der voraufgehenden Anm. nachgewiesene Arbeit. Liturgie und Gesellschaft 152 der Fall war. Die Vorlage für das Allgmeeine Gebet, wie sie sich beispielsweise in einem polnischen Predigthandbuch aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts findet, lässt den Prediger unter anderem die Gemeinde auffordern zu beten „pro inimicis suis - für ihre Feinde“. 43 Ein in Süddeutschland zu lokalisierendes Fürbittformular des 12. Jahrhunderts enthält die Intentionsangabe: „Ihr sollt auch beten für eure Feinde, dass sie mein Herr zum Guten bekehre.“ 44 Nicht dem Wortlaut, wohl aber der Sache nach findet sich die Fürbitte für die Feinde ferner in einem Formular, das im 14. Jahrhundert in einer fränkischen Kartause kopiert wurde. 45 Nachdem der Priester die Sonntagsgemeinde hatte beten lassen für alle Menschen, „die einander mit Treue und Wahrhaftigkeit begegnen“, forderte er auf, auch zu beten für die, die das Gegenteil davon tun, nämlich für „die Diebe, die Räuber, Ehebrecher, Mörder, Wucherer und die Verächter der Kirche“. Für sie alle solle man beten, heißt es treuherzig in unserem Formular, „dass sie Gott entweder bekehre oder von der Welt nehme, damit die arme Christenheit vor ihnen Ruhe habe“. Selbst wenn man die Lückenhaftigkeit des uns bekannten Quellenmaterials in Rechnung stellt, kommt man doch um die Feststellung nicht herum, dass die Fürbitte für die Feinde im sonntäglichen Kanzelgebet offenbar höchst selten auftauchte. Angesicht dieses weitgehenden Ausfalls spricht es für den Neugestalter des Allgemeinen Gebets im deutschen Sprachraum, den Jesuiten Petrus Canisius (†1597), dass er in das von ihm redigierte Formular die Fürbitte für die Feinde aufgenommen hat. Mitten im wahrhaftig nicht irenisch gestimmten Reformzeitalter hat Canisius in seinem kraftvollen Gebet „in allen Nöten der Christenheit“ das Volk zu beten gelehrt: „Wir bitten dich auch, o Herr, wie du willst, dass wir bitten sollen: für unsere Freunde und Feinde …“. 46 43 Molin, L’oratio communis (wie Anm. 41), 399. Ein weiteres, wohl aus Posen stammendes polnisches Formular (Molin 450) schließt in das Totengedenken der Kanzelfürbitten auch die verstorbenen Feinde ein: … pro animabus amicorum, inimicorum et benefactorum … 44 Abgedruckt bei R. Cruel, Die deutsche Predigt im Mittelalter, Detmold 1879 (Nachdruck Darmstadt 1966), 227. Molin, der das Formular aus dem genannten Werk von Cruel als Nr. 12 seiner Sammlung nachdruckt, hat rätselhafterweise die Fürbitte für die Feinde unterdrückt. 45 Vgl. E. von Steinmeyer, Die kleinen althochdeutschen Sprachdenkmäler, Berlin 1916, 349. Auch hier ist Molin, der das Formular als Nr. 20 seiner Sammlung abdruckt, bei der französischen Wiedergabe unkorrekt, insofern er den Schluss der Fürbitte: „daz si got bekere oder von der werlt neme, daz diu arme cristenheit vor in geraste“ sinnverändernd abkürzt zu „qu’il vous en protège - daß er (Gott) euch vor ihnen beschütze“. 46 Der Text findet sich erstmals im Gebetsanhang des 1556 in Dillingen gedruckten kleinsten Katechismus des Petrus Canisius unter der Überschrift „Ain gemain gebet für allerlay anliegen der christenhait täglich zu sprechen“, vgl. S. Petri Canisii Catechismi Latini et Germanici (Soc. Jesu selecti scriptore I/ 2: ed. F. Streicher SJ), Romae-Monachii Bav. 1936, 224f. Mit einem Empfehlungsschreiben sandte Canisius selbst den Text am 6. August 1560 seinen Ordensmitbrüdern in Köln, wobei er hervorhob, dass er selbst das Gebet auf der Domkanzel von Augsburg dem Volk nach der Predigt vorzubeten pflege, was allgemein großen Anklang fände; vgl. P. F. Saft SJ, Das „Allgemeine Gebet“ des heiligen Petrus Canisius im Wandel der Zeiten, in: ZAM 13 (1938) 215-223; A. Heinz, Die „Oratio fidelium“ im deutschen Sprachraum zwischen Tridentinum und Vatikanum II, in: LJ 30 (1980) 7-25, hier 9. Der gehaltvolle Text ist erfreulicherweie auch in das „Gotteslob“ (1975; Nr. 790,2) aufgenommen worden. Das Gebet für die Feinde in der abendländischen Liturgie 153 Aus dem Gottesdienst ist das canisianische Allgemeine Gebet und mit ihm die Fürbitte für die Feinde herübergewandert ins häusliche Abendgebet. 47 Hier - nämlich im häuslichen Abendgebet der Familien - lässt sich an vielfältigen Beispielen ein Widerhall des alten liturgischen Gebets für die Feinde feststellen. Balthasar Fischer hat zum Beispiel im Kontext solcher Übernahmen ein entsprechendes Zeugnis aus Spanien bekannt gemacht. Demnach spricht man in Hochkastilien beim abendlichen Familiengebet eine Fürbitte „für die, die uns wohl, und die, die uns übel wollen“. 48 Der 1977 für die winzige germanische Sprachinsel nördlich von Verona, die sogenannte Terra Cimbra, neu aufgelegte Katechismus druckt ein Fürbittgebet ab, das die Bewohner dieser abgelegenen Bergdörfer noch heute allabendlich in ihrem archaischen deutschen Dialekt beten. Es schließt mit den Worten: „Wir bitten … für unsere guten Mitmenschen und für die, die uns feind sind, für alle Menschenbrüder, seien sie nah oder fern. Segne sie alle und führe sie auf dem Weg zum Himmel.“ 49 Häuslicher Gebetsbrauch mag auch nachklingen, 47 Neben den canisianischen Katechismen und Gebetbüchern hat vor allem das weitverbreitete „Himmlisch Palmgärtlein“ („Caeleste Palmetum“) des rheinischen Jesuiten Wilhelm Nakatenus dem Canisius-Text einen festen Platz im häuslichen Gebet verschafft; vgl. K. Küppers, Das Himmlisch Palm-Gärtlein des Wilhelm Nakatenus SJ (1617-1682). Untersuchungen zu Ausgaben, Inhalt und Verbreitung eines katholischen Gebetbuchs der Barockzeit (Studien zur Pastoralliturgie 4), Regensburg 1981, 192f. In Westeifeler Familien war das Allgemeine Gebet des Petrus Canisius noch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vielfach Bestandteil des gemeinsam im Familienkreis verrichteten Abendgebetes. 48 Balth. Fischer, Liturgie und Volksfrömmigkeit, in: LJ 17 (1967) 129-143, hier 141. 49 A. Heinz, Oratio fidelium in regione Cimbrica, in: ELit 94 (1980) 200f. Die literarische Quelle für dieses Volksgebet dürfte der im Herrschaftsgebiet Napoleons eingeführte einheitliche französische „Reichskatechismus“ gewesen sein. Er enthält eine vorbildliche Anleitung für das private oder häusliche Abendgebet, das mit Fürbitten schließt: „Großer Gott, wir bitten dich inständigst für unsern heiligen Vater, den Papst, für unsern Bischof, für unsern Kaiser, für alle, die uns beherrschen und leiten, für unsere Eltern, für unsere Freunde und Feinde und überhaupt für alle unsere Brüder, die abwesend sind; segne sie, und führe sie auf den Weg des ewigen Heils.“ Hier zitiert nach der 1812 in Metz gedruckten deutschen Ausgabe (S. 17f.). Die Fürbitte für die Feinde findet sich auch im Abendgebet des noch im vorigen Jahrhundert im Westen des deutschen Sprachgebiets weit verbreiteten „Elsässischen Missionsbüchleins“; vgl. Heinz, Oratio fidelium (wie Anm. 46), 24. Weitere Beispiele aus einem für den Gebrauch in einem Kartäuserkloster bestimmten Gebetbuch des ausgehenden 16. Jahrhunderts ebd., 22. 23. Weniger dem streng liturgischen als dem Bereich volksfrommer Devotion zuzurechnen sind die von ihrer Qualität her beachtlichen Fürbittgebete der 1260 in Perugia entstandenen und vornehmlich vom 14. bis 16. Jahrhundert blühenden italienischen Geißler-Bruderschaften (Movimento dei Disciplinati bzw. Flagellanti); vgl. G. Landotti, La preghiera dei fedeli in lingua italiana del secolo XIII al secolo XX: ELit 91 (1977) 97-131. Die Fürbittformulare ihrer Gebetbücher enthalten ganz im Geist von Franz von Assisi erstaunlich häufig die Bitte um das Heil der Feinde; Beispiele in dem von Landotti veröffentlichten Textmaterial S. 121 und 123. Als ein Stück persönlicher Messfrömmigkeit des zelebrierenden Priesters wird man es werten, wenn dieser im Rahmen des stillen Memento vivorum bzw. mortuorum im Hochgebet der Feinde betend gedenkt. Anleitungen für das Auffüllen dieses Gebetsgedenkens finden sich vereinzelt in Missale-Hss.; so noch in dem allerdings nie zum Druck gelangten Entwurf einer Neuauflage des Missale Trevirense aus den 60er-Jahren des 18. Jahrhunderts (Bistumsarchiv Trier, Abt. 95, Liturgie und Gesellschaft 154 wenn Kardinal Newman in dem von ihm verfassten Abendgebet beten lässt „für alle, die uns Gutes tun, und alle, die uns Böses wünschen, für Feinde und Neider, Verleumder und Verfolger …“. 50 4. Neubesinnung nach der Reformation und dem Vatikanum II Zum Gesamtbild der abendländischen Liturgie gehören auch die reformatorischen Gottesdienstordnungen. Was das Gebet für die Feinde betrifft, lässt sich im Vergleich zur spätmittelalterlichen katholischen Praxis zunächst kein auffälliger Unterschied feststellen. Die lateinischen Gesänge „Da pacem, Domine“ und „Media vita“ mit den angeschlossenen Orationen, wie sie als Kriegsgebet gegen die Hussiten und die Türken in katholischen Kirchen nach der Wandlung, nach dem Paternoster oder dem Agnus Dei angestimmt wurden 51 , erklangen, von Luther ins Deutsche übersetzt, genauso im evangelischen Gottesdienst, allerdings mit einem gewichtigen Unterschied: In bedrückender Regelmäßigkeit wird dort neben den Türken der Papst als Feind der Christenheit apostrophiert. 52 Bei näherem Zusehen zeigt sich jedoch ein differenzierteres Bild. Es stellt sich nämlich heraus, dass die generelle Neubesinnung auf das Neue Testament auf evangelischer Seite auch den Blick geschärft hat für die Botschaft der Bergpredigt von der Feindesliebe. Das blieb nicht ohne Auswirkungen auf das Gemeindegebet. Sie zeigen sich u. a. darin, dass im evangelischen Raum dem weitergepflegten All- Nr. 416, 83): Memento Domine Vivorum, mei, parentum, cognatorum … omnium peccantium inimicorumque meorum, atque conversionis omnium haereticoum et infidelium. Et omnium, pro quibus scis et vis me debere orare. Zu dieser Hs. vgl. A. Heinz, Pläne zu einer Reform der Trierer Diözesanliturgie unter Erzbischof Clemens Wenzeslaus (1768-1802), in: AMRhKG 29 (1977) 143-174, bes. 149. 163. [Nachdruck in: A. Heinz, Liturgie und Frömmigkeit. Beiträge zur Gottesdienst- und Frömmigkeitsgeschichte des (Erz-)Bistums Trier und Luxemburgs zwischen Tridentinum und Vatikanum II, Trier 2008, 133-166.] Für die Aufnahme der Fürbitte für die Feinde in das Memento des Kanons trat auch der böhmische Aufklärungsliturgiker Ant. Adalbert Hnogek (Christ- Katholische Liturgik, 5 Bde., Prag 1835-1842) ein. 50 Abgedruckt in „Gotteslob“ (1975) Nr. 18,6. 51 Vgl. Franz, Die Messe im deutschen Mittelalter (wie Anm. 34), 205-211; J. A. Jungmann, Missarum Sollemnia, 2 Bde., Wien 5 1962, II, 361-363. 421. 52 Das „Da pacem domine“ hatte Luther 1529 verdeutscht („Verleih uns Frieden gnädiglich“), in jenem Jahr also, als Karl V. den Reichstag zu Speyer ausgerufen hatte, der der Sache der Reformation bedrohlich werden konnte. 1529 stürmten die Türken aber auch gegen Wien, sodass der am Ende des evangelischen Gottesdienstes damals fast regelmäßig angestimmte Gesang leicht als Kampfgesang gegen Papst und Türken aufgefasst werden konnte; vgl. A. Wittenberg, „Allmächtiger Herr der Heere …“. Krieg und Frieden im Kirchenlied des 20. Jahrhunderts, in: JLH 23 (1979) 53-94 (Literatur). Das als Bestandteil des spätmittelalterlichen Kriegsgebets beliebte „Media vita“ war schon vor Luther in einer deutschen Fassung verbreitet; erstmals nachweisbar in einer Salzburger Hs. aus dem Jahre 1456; vgl. W. Lipphardt, Die älteste Quelle des deutschen „Media vita“, in: JLH 11 (1966) 161f. Zum Weiterleben der vorreformatorischen Kanzelfürbitten im evangelischen Gottesdienst vgl. O. Dietz, Das Allgemeine Kirchengebet, in: Leiturgia II (Kassel 1955) 443-446. Das Gebet für die Feinde in der abendländischen Liturgie 155 gemeinen Gebet nach der Predigt die vordem fast regelmäßig fehlende Fürbitte für die Feinde häufig hinzugefügt wurde. So halten es beispielsweise die auf Johannes Bugenhagen zurückgehenden Kirchenordnungen Norddeutschlands und Dänemarks. 53 Ein in Süddeutschland weitverbreitetes lutherisches Formular ließ den Prediger von der Kanzel herab sprechen: „Allmächtiger, ewiger Gott, der du uns befohlen hast, dass wir unsere Feinde liebhaben sollen, denen, die uns beleidigen, Gutes tun und für unsere Verfolger bitten: wir schreien ernstlich zu Dir, dass du alle unsere Feinde wollest in Gnade heimsuchen, ihnen wahre Reue ihrer Sünden verleihen, auch uns und der ganzen Christenheit ein freundliches, gottesfürchtiges, einhelliges Gemüt und Herz geben, durch unsern Herrn Jesum Christum.“ 54 Ganz in der gesunden Tradition dieser reformatorischen Neuorientierung an der Botschaft der Bergpredigt hat die derzeit gültige evangelisch-lutherische Abendmahlsagende die Fürbitte für die Feinde im Normaltext des Allgemeinen Gebets berücksichtigt 55 - was man leider, wie wir noch sehen werden, von den Fürbittformularen des erneuerten Römischen Messbuchs nicht sagen kann. Als ein Stück liturgischen Erbes aus katholischer Zeit ist im evangelischen Gottesdienst der Fürbitt-Teil der Allerheiligenlitanei erhalten geblieben. Die darin enthaltene Fürbitte „ut inimicos sanctae ecclesiae humiliare digneris - Dass du die Feinde der heiligen Kirche demütigen wollest“ hat nun aber bei der Übernahme eine höchst sympathische Korrektur im Sinne größerer Nähe zum Geist der Bergpredigt erfahren. Martin Luther selbst war es, der in seiner „Deutschen Litanei“ die katholische Fassung ersetzt hat durch die Bitte „(Du wollest) unsern Feinden, Verfolgern und Lästerern vergeben und sie bekehren“. 56 Das anglikanische Book of Common Prayer ist dem Beispiel des deutschen Reformators gefolgt und lässt an der entsprechenden Stelle beten: „Möge es dir gefallen, Herr, zu vergeben unsern Feinden, Verfolgern und Verleumdern und ihre Herzen zur Umkehr zu bewegen“. 57 Im Bereich der römischen Liturgie bot sich nach vier Jahrhunderten weitgehender Erstarrung mit der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils endlich die Chance, längst überfällig gewordene Korrekturmaßnahmen in Angriff zu nehmen. Gottlob hat es in dem uns hier beschäftigenden Teilbereich solche Korrekturmaßnahmen gegeben. So stellt man mit Erleichterung fest, dass die Reste der gelasianischen Kriegsmessen, wie sie im Tridentinischen Messbuch stehen geblieben waren, nicht mehr auftauchen. Fallen gelassen hat man auch die von aggressiven Passagen durchsetzten Votivmessen „Contra persecutores ecclesiae - 53 Vgl. Dietz, Das Allgemeine Kirchengebet (wie Anm. 52), 444; J. H. Bergsma, Die Reform der Meßliturgie durch Johannes Bugenhagen (1485-1558), Kevelaer-Hildesheim 1964. 54 Abgedruckt in: W. Löhe, Gesammelte Werke, hg. von K. Ganzert, Neuendettelsau 1953, VII, 218f. 55 Vgl. Dietz, Das Allgemeine Kirchengebet (wie Anm. 52), 450. 56 Abgedruckt in: W. Löhe, Gesammelte Werke (wie Anm. 54), 176-179, hier 179. 57 Book of Common Prayer. The Litany: That is may please thee to firgive our enemies, persecutors, and slanderers, and to turn their hearts. Allerdings enthält die Litanei im Kontext der Fürbitten für die staatliche Obrigkeit auch die Bitte um Sieg über alle äußeren Feinde: giving her (d. h. der Königin) the victory over all her enemies. Liturgie und Gesellschaft 156 Gegen die Verfolger der Kirche“ und „Contra persecutores et male agentes - Gegen Verfolger und Übeltäter“. Überhaupt wird man im erneuerten Römischen Messbuch keine Gebete mehr finden, die gegen irgend jemanden gerichtet sind, auch nicht gegen die Feinde der Kirche. Die frühere Bitte der Allerheiligenlitanei, die die Demütigung der Feinde der Kirche erflehte, ist, wie dies die Reformatoren des 16. Jahrhunderts schon getan hatten, nun auch auf katholischer Seite neu gefasst worden. Sie lautet jetzt: „Gib den Feinden der Kirche Einsicht und Umkehr“. 58 Erwartungsgemäß trifft man auf die Fürbitte für die Feinde verschiedentlich in den zahlreichen, neu geschaffenen Formularen für die wiedereingeführten täglichen Vesperfürbitten. 59 Dass aber eine entsprechende Gebetsaufforderung in keinem der insgesamt 11 Mustertexte vorkommt, die das Missale Pauls VI. (1970) für das Allgemeine Gebet in der Eucharistiefeier anbietet, ist mehr als ein Schönheitsfehler. Die bewusste Ausrichtung am Geist der Bergpredigt bei der jüngsten Reform des Missales lässt sich mit aller wünschenswerten Klarheit aufzeigen an einigen höchst aufschlussreichen Änderungen, die am Messformular eines Heiligengedenktages vorgenommen wurden. Es handelt sich um die Messe am Gedenktag des hl. Papstes Pius’ V. (1566-1572). Pius V. ist nicht nur der Papst der Tridentinischen Liturgie, sondern auch der Papst des Sieges über die Türken in der Seeschlacht von Lepanto am 7. Oktober 1571. Das Tagesgebet am Gedenktag des 1712 heilig gesprochenen Papstes, wie es bis zuletzt (Ausgabe 1962) im Messbuch stand, dankte Gott in bedenklich triumphalistischem Tonfall, dass er diesen Papst erwählt habe, „die Feinde seiner Kirche niederzuwerfen - ad conterendos ecclesiae tuae hostes“. 60 Entschieden zurückhaltender sagt die Neufassung der Oration im Missale Pauls VI., Gott habe dem Papst „Eifer gegeben, den Glauben zu schützen - ad tuendam fidem“. Eine ähnliche Umformung hat man bezüglich des Messformulars am Gedenktag des hl. Johannes von Capestrano (1456) vorgenommen. 61 Der Franziskanerheilige ist als großer Prediger gegen die Türken in die Geschichte eingegangen. 58 „Gotteslob“ (1975) 762,7. 59 Vgl. Stundenbuch für die katholischen Bistümer des deutschen Sprachgebietes. Authentische Ausgabe für den liturgischen Gebrauch, 3 Bde., 1978: I, 84. 157; II, 39. 47. 100. 108; III, 554. 678. Angesichts der Gewichtigkeit dieses Gebetsauftrages vom Neuen Testament her und bei der Fülle der Fürbittformulare in der erneuerten Liturgia Horarum überrascht das relativ seltene Vorkommen der Fürbitte für die Feinde, zumal die nachgewiesenen Stellen auch nur sinngemäß eine solche Bitte enthalten. Größere Ausdrücklichkeit wäre wünschenswert gewesen. In den Preces zur Auswahl des deutschen Stundenbuchs ist die Fürbitte für die Feinde leider eine fehlende Fürbitte. In den Kontext der nachkonziliaren Korrekturmaßnahmen im Bereich des Stundengebets gehört die Eliminierung der Fluchpsalmen (Pss 48, 83, 109) und die Streichung von Fluchstellen in etwa 20 weiteren Psalmen; vgl. Balth. Fischer, Neue Hilfen zum christlichen Psalmenbeten, in: LJ 23 (1973) 97-111, hier 110f. 60 Im Sanctorale des vorkonziliaren Missale Romanum am 5. Mai, jetzt am 30. April; vgl. Huf, Krijgs-Gebeden (wie Anm. 26), 41f. 61 Seit 1890 im Missale Romanum unter dem Datum des 28. März; im Missale Romanum Pauls VI. Gedenktag am 23. Oktober. Zum vorkonziliaren Formular vgl. Huf, Krijgs- Gebeden (wie Anm. 26), 38-41. Das Gebet für die Feinde in der abendländischen Liturgie 157 Die vorkonziliaren Messtexte lobten an seinem Gedenktag Gott, dass er durch die Predigt des hl. Johannes den Gläubigen über die Feinde des Kreuzes den Triumph geschenkt habe. Im erneuerten Missale Romanum heißt es lediglich, Gott habe durch den hl. Johannes Kapistran seinen Gläubigen in schwerer Zeit Mut zugesprochen. Und wenn vordem um Niederwerfung aller Feinde gebetet wurde, so erbittet das jetzige Tagesgebet Schutz und Frieden für die Kirche. Höher zu bewerten als die bisher geschilderten Korrekturmaßnahmen ist aber wohl die Tatsache, dass das Missale Pauls VI. ein völlig neues Messformular den herkömmlichen Votivmessen hinzugefügt hat. Es handelt sich um die Orationsgruppe, die in der lateinischen Modellausgabe überschrieben ist: „Pro affligentibus nos“ und im Deutschen Messbuch den Titel trägt: „Für die, die uns Böses tun.“ 62 Hier hat die erneuerte römische Liturgie endlich Texte bereitgestellt, die die unverfälscht reine Luft der Bergpredigt atmen. Das Schlussgebet dieser Votivmesse lautet: „Allmächtiger Gott, durch diese Feier des Opfers Christi, das uns den Frieden gebracht hat, schenke uns die Gesinnung des Friedens allen Menschen gegenüber, und auch jene, die uns feind sind, lass bei dir Gnade finden, und gib ihnen die Bereitschaft, mit uns in Frieden zu leben.“ 63 Pastorale Schlussbemerkung Der Name und das Schicksal des zu Anfang zitierten russischen Schriftstellers Lew Kopelew bringen uns schlagartig die Unheilsituation unserer in feindliche Machtblöcke zerfallenen Welt zum Bewusstsein. In weiten Teilen dieser Welt gebärden sich die staatlichen Machthaber zudem als Feinde des Menschen und seiner legitimen Freiheitsrechte. Diejenigen schließlich, die Christus in seinen Gliedern verfolgen, sind Zeitgenossen von uns, und sie sind im 20. Jahrhundert der rechten und linken Diktaturen zahlreicher als zu irgendeiner anderen Zeit der Kirchengeschichte. Wie unser liturgiegeschichtlicher Durchblick gezeigt hat, ist der Auftrag Jesu, für Feinde und Verfolger zu beten, nicht immer mit wachen Ohren gehört 62 Missale Romanum ex decreto sacrosancti oecumenici Concilii Vaticani II instauratum, auctoritate Pauli PP. VI promulgatum. Editio typica, Rom 1961, 827. Die deutsche Version im: Messbuch für die Bistümer des deutschen Sprachgebietes. Authentische Ausgabe für den liturgischen Gebrauch, 1975, 1087. Im Abschnitt „Orationes diversae“ enthielt auch das vorkonziliare Missale Romanum ein Votivmessformular „Pro inimicis“ (117), das zwar auch Verzeihung und den Geist der Versöhnung erflehte, in der Hauptsache aber den eigenen Schutz vor feindlichen Anschlägen betonte. 63 Missale Romanum (wie Anm. 62), 827: Per haec pacis nostrae mysteria, da nos, Deus, cum omnibus esse pacificos, et eos qui nobis adversantur, tibi gratos efficere, nobisque placatos. Per Christum. Die oben im Text gegebene deutsche Übersetzung weicht bewusst an einigen Stellen von derjenigen des Deutschen Messbuchs ab. Vor allem die Wendung „tibi gratos efficere“ scheint uns in der offiziellen deutschen Fassung nicht angemessen eingedeutscht worden zu sein. Liturgie und Gesellschaft 158 worden. Gewinnt aber nicht gerade in der heutigen Lage dieses Kernstück der Bergpredigt neue Aktualität? Müsste nicht in unseren Gottesdiensten neben der Fürbitte für die Verfolgten, häufiger als das gemeinhin der Fall ist, die Fürbitte für die Verfolger stehen? Ein Gebet, das sich um die Feinde sorgt und den Gegnern des Kreuzes Christi Einsicht und Umkehr erfleht, wäre ein wichtiges Stück jenes Heils- und Friedensdienstes, den die Christenheit berufen ist, der Menschheit zu leisten und den sie ihr gerade in unseren Tagen nicht schuldig bleiben darf. 8 Das Bild der Kaiserin Helena in der Liturgie des lateinischen Westens 1. Einführende Vorbemerkungen Am 14. April 2007 wurde unter dem Aufbewahrungsort des „Heiligen Rockes“ im Dom zu Trier vom damaligen Trierer Bischof Reinhard Marx die orientalische Athanasius-Kapelle eingeweiht. Sie erinnert an das Trierer Exil des berühmten Bischofs der ägyptischen Metropole und prominentesten Kämpfers für das nizänische Christusbekenntnis. Das Verhältnis zwischen dem heiligen Athanasius 1 und Kaiser Konstantin (306-337), der 335 den Bischof von Alexandrien nach Trier verbannt hatte, war nicht spannungsfrei. Insofern verdient es schon einen besonderen Hinweis, dass auf der Ikonostase der Trierer Athanasiuskapelle Konstantin und Helena als Heilige dargestellt sind, und zwar so, wie sie uns begegnen in ungezählten Kirchen Griechenlands, Russlands oder der anderen orthodoxen Länder: Der Kaiser und seine Mutter, Seite an Seite, auf Goldgrund in prächtigen Gewändern, frontal dem Betrachter zugewandt. Beide fassen jeweils mit einer Hand das Siegeszeichen des christlichen Glaubens und bieten das Heilige Kreuz den Gläubigen zur Verehrung dar. Die Kirchen des byzantinischen Ritus haben in ihrem liturgischen Kalender ein Fest, das Mutter und Sohn in gemeinsamer Feier ehrt. Am 21. Mai gedenkt es - so der Festtitel - „der heiligen, ruhmreichen, großen, von Gott gekrönten und den Aposteln gleichen Herrscher Konstantin und Helena“. 2 Das Festdatum ist der Vortag von Konstantins Tauf- und Sterbetag. Der 22. Mai war im Jahre 337 der Pfingstsonntag. Wenn man weiß, dass die Kirche damals an Pfingsten nicht nur der Sendung des Heiligen Geistes gedachte, sondern auch die Himmelfahrt Christi feierte (ein eigenes Himmelfahrtsfest gab es noch nicht), 3 dann liest man [Erstveröffentlichung: Das Bild der Kaiserin Helena in der Liturgie des lateinischen Westens, in: AMRhKG 60 (2008) 55-74. Es handelt sich um die Druckfassung eines Vortrags im Rahmen der Jahrestagung 2007 der Gesellschaft für mittelrheinische Kirchengeschichte in der Katholischen Akademie Trier.] 1 Vgl. K. Metzler, Art. Athanasius, in: Lexikon der antiken christlichen Literatur, hg. von S. Döpp und W. Geerlings unter Mitarbeit von Peter Bruns, Georg Röwekamp und Matthias Skeb OSB, Freiburg-Basel-Wien 2 1999, 58-63; zum Trier-Aufenthalt von Athanasius vgl. H. Heinen, Frühchristliches Trier. Von den Anfängen bis zur Völkerwanderung, Trier 1996, 119-133; Ders., Überfüllte Kirchen. Bischof Athanasius über den Kirchenbau in Alexandrien, Trier und Aquileia, in: TThZ 111 (2002) 194-211. 2 Vgl. N. Nilles S. J., Kalendarium manuale utriusque ecclesiae orientalis et occidentalis, 2 Bde., Innsbruck 1896/ 97, I, 163f. 3 Vgl. Hj. Auf der Maur, Feiern im Rhythmus der Zeit I (Gottesdienst der Kirche. Handbuch der Liturgiewissenschaft 5), Regensburg 1983, 80f. Liturgie und Gesellschaft 160 mit neuen Augen die Schilderung vom Sterben Konstantins, wie Bischof Eusebius von Caesarea sie uns hinterlassen hat. 4 Eusebius insinuiert eine Parallele zwischen der Himmelfahrt Christi und der Aufnahme des Kaisers „zu seinem Gott“; Konstantins Sterbetag erscheint als sein Geburtstag für den Himmel. 5 Die Ostkirche konnte in dieser hagiographisch aufbereiteten Darstellung ein hinreichend sicheres Fundament erblicken, um dem zwar erst im Angesicht des Todes getauften, aber um die Sache des Christentums hoch verdienten Kaiser liturgische Verehrung zuteil werden zu lassen. Der Westen hat diesen Schritt nie getan. Auch Konstantins Mutter Helena ist nie in den liturgischen Kalender der Römischen Kirche aufgenommen worden. Und das, obwohl Helena in Rom beigesetzt wurde 6 und obwohl sie dort als Stifterin einer der späteren sieben Hauptkirchen der Stadt, von Santa Croce in Gerusalemme, unvergessen war. 7 Helenas liturgische Verehrung ist im Abendland ein mittelalterliches und neuzeitliches Phänomen. Der Kult blieb zudem regional begrenzt. Das früheste bisher bekannt gewordene Kultzeugnis ist Helenas Name im Kalender Willibrords, des 739 in Echternach verstorbenen angelsächsischen Friesenmissionars. 8 Es handelt sich um einen Nachtrag, der aber noch vor die Mitte des 8. Jahrhunderts zu datieren ist. 9 Ein Beweis für eine liturgische Begehung des Helena-Tages in Echternach ist das allerdings nicht. Die späteren liturgischen Handschriften aus Echternach, etwa das Echternacher Sakramentar aus dem Ende des 9. Jahrhunderts, lassen Helena unerwähnt. 10 In Trier hören wir erstmals 952 in St. Maximin von Helena-Reliquien. 11 1075 weihte Erzbischof Udo im heutigen Trierer Stadtteil Euren die dortige Pfarrkirche der heiligen Helena. 12 Im Dom bekam 4 Vgl. Eusebius, Vita Constantini (VC) 4,64. 5 Vgl. A. Heinz, Die Bedeutung der Zeit Konstantins (306-337) für die Liturgie der Kirche, in: Konstantin der Große. Der Kaiser und die Christen. Die Christen und der Kaiser, hg. von M. Fiedrowicz, G. Krieger, W. Weber, Trier 3 2007, 139-182, hier 163f. Nachdruck in diesem Band. 6 Das Todesdatum Helenas ist umstritten. Namhafte Forscher nehmen das Jahr 328 oder 329 an. Zur Beisetzung der Mutter Konstantins in Rom, wie Eusebius sie schildert (VC 3,47), vgl. H. Heinen, Helena, Konstantin und die Überlieferung der Kreuzauffindung im 4. Jahrhundert, in: E. Aretz u. a. (Hg.), Der Heilige Rock zu Trier. Studien zur Geschichte und Verehrung der Tunika Christi, Trier 1995, 83-117, hier 106-108. 7 Vgl. R. Klein, Art. Helena II (Kaiserin), in: RAC 14, Stuttgart 1987, 367. 8 Vgl. H. A. Wilson (Hg.), The Calendar of St. Willibrord (HBS 40), London 1916, Tafel VIII. 9 Der Nachtrag erscheint unter dem 11. August und ist noch vor 750 erfolgt; vgl. dazu E. Ewig, Trier im Merowingerreich. Civitas, Stadt, Bistum, Trier 1954, 158-160. 10 Das August-Blatt des Kalendariums erwähnt Helena nicht; es fehlen auch entsprechende Messtexte im Corpus des Sakramentars; vgl. Y. Hen (Hg.), The Sacramentary of Echternach (Paris, Bibliothèque Nationale, MS. lat. 9433). (HBS 110), London 1997, 68. 11 Damals wurden Helena-Reliquien in einem Altar von St. Maximin beigesetzt; vgl. Notae dedicationum s. Maximini. MGH SS 15, 975f. Die Vermutung liegt nahe, dass die Reliquien von Hautvillers (Reims) nach Trier gelangten. 12 Vgl. H. V. Sauerland, Trierer Geschichtsquellen des XI. Jahrhunderts, Trier 1889, 74f. Sauerland irrt allerdings, wenn er dieses Patrozinium als frühestes Zeugnis des Helena-Kultes in Trier ansieht; vgl. A. Kurzeja, Der älteste Liber Ordinarius der Trierer Domkirche. London, Brit. Mus., Harley 2958, Anfang 14. Jh. (LQF 52), Münster 1970, 23 Anm. 62, 196f. Das Bild der Kaiserin Helena in der Liturgie des lateinischen Westens 161 die Mutter Konstantins einen besonderen Verehrungsort, als 1196 ihr zu Ehren ein Altar geweiht wurde in der Krypta unter dem neu errichteten Ostchor. 13 Adalbert Kurzeja vermutet, dass diese Altarweihe der Anlass für die Einführung des Helena-Festes in die Domliturgie war. 14 Der älteste Liber Ordinarius des Trierer Doms aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts kennt es als feste Einrichtung. 15 Messe und Offizium feierte der Domklerus am 18. August in der Helena-Krypta. 16 Der Ordinarius des Trierer Erzbischofs Balduin von Luxemburg (1308-1354) von 1345, der erklärtermaßen Richtschnur für die Liturgie in der ganzen Erzdiözese sein wollte, 17 dehnte das Fest auf das ganze Bistum aus. Wir erfahren dort auch Näheres über die Feier im Dom. Erwähnung verdient besonders die Prozession vor dem Tagesamt, in der außer dem Petrusstab auch das Reliquiar mit dem Kreuzesnagel 18 mitgetragen wurde. Diese „Heiltümer“ lagen anschließend während der Messfeier auf dem Helena-Altar zur Erinnerung daran, wie der Ordinarius Balduini sagt, dass Helena selbst sie „für diesen Ort bestimmt hat, an dem sie vordem geboren war …“. 19 Die Ereignisse des Jahres 1512, als der „Heilige Rock“ erstmals erhoben und öffentlich gezeigt wurde, 20 gaben der Verehrung Helenas neue Impulse. Die damals von dem späteren Trierer Weihbischof Johannes Enen (1517-1519) gedichtete Sequenz vom Heiligen Rock beglückwünscht die Trierer, weil sie durch Helena diese kostbare Reliquie erhalten haben. 21 Die um die erste Jahrtausendwende greifbaren Anfänge der trierischen Helena- Verehrung hängen zweifellos mit den damals urgierten Primatsansprüchen der Trierer Erzbischöfe zusammen. 22 Sie dürften mit ausgelöst worden sein durch die 13 Vgl. J. Zink, Die Baugeschichte des Trierer Domes von den Anfängen im 4. Jahrhundert bis zur letzten Restaurierung, in: F. J. Ronig (Redaktion), Der Trierer Dom, Neuss 1980, 17-111, hier 48 und Anm. 314 (97). 14 Vgl. Kurzeja, Ordinarius (wie Anm. 12), 197. 15 Vgl. ebd., 539. 16 Vgl. ebd., 289f. 17 Vgl. ebd., 40f. und 74. Zur Bedeutung des Ordinarius Balduini als Grundordnung der Trierer Diözesanliturgie vgl. A. Heinz, Der Prolog im Liber Ordinarius des Trierer Erzbischofs Balduin von Luxemburg (1308-1354). Text - Übersetzung - Kommentar, in: Kurtrierisches Jahrbuch 48 (2008) 249-267. 18 Erzbischof Egbert (977-933) hatte es anfertigen lassen; Beschreibung und Literaturangaben: F. J. Ronig (Hg.), Egbert. Erzbischof von Trier 977-993. Gedenkschrift der Diözese Trier zum 1000. Todestag (Trierer Zeitschrift für Geschichte und Kunst des Trierer Landes und seiner Nachbargebiete. Beiheft 18), 2 Bde., Bd. 1, 39f.; zur Funktion der Reliquie in der Domliturgie vgl. Kurzeja, Ordinarius (wie Anm. 12), Reg. „Nagel, Hl.“. 19 Vgl. Stadtbibliothek Trier Hs. 173/ 66, 236: „… et ponuntur sanctuaria super altare ibidum (sc. s. Helenae) usque ad finem misse in memoriam, quod ipsa illa ad ista destinauit loca, ubi et prius extitit nata, unde in suo fundo totum canitur.“ 20 Vgl. W. Seibrich, Die Heilig-Rock-Ausstellungen und Heilig-Rock-Wallfahrten von 1512 bis 1765, in: Aretz, Der Heilige Rock (wie Anm. 6), 175-217; A. Heinz, Die älteste Messe zur Verehrung des Heiligen Rockes im Dom zu Trier (1512), in: Ebd., 485-513. [Vgl. jetzt den Nachdruck in: Ders., Liturgie und Frömmigkeit. Beiträge zur Gottesdienst- und Frömmigkeitsgeschichte des (Erz-)Bistums Trier und Luxemburgs zwischen Tridentinum und Vatikanum II, Trier 2008, 13-45.] 21 Vgl. Heinz, Messe (wie Anm. 20), 500-508. 22 Vgl. Kurzeja, Ordinarius (wie Anm. 12), 207f. Liturgie und Gesellschaft 162 um 840 unter dubiosen Umständen erfolgte Translation von Helena-Reliquien aus Rom ins Frankenreich, und zwar in die südlich von Reims gelegene Abtei Hautvillers. 23 Aus diesem Anlass schrieb ein Mönch dieses Klosters namens Altman die Vita Helenas. 24 Darin heißt es, Helena sei in Trier geboren, ihr habe fast die ganze Stadt gehört und aus ihrem dortigen Palast sei die Bischofskirche Triers entstanden. Die unter diesen Vorzeichen im Raum Reims etablierte Kult-Propaganda konnte auf Dauer nicht ohne Echo in der benachbarten Kirchenprovinz Trier bleiben und führte dort auch zu liturgischen Konsequenzen. Zu diesem Kultraum um Reims und Trier kommt noch eine wichtige rheinische Komponente. Auch das Erzbistum Köln besitzt eine lange Tradition der Helena- Verehrung. Sie hat ihre Schwerpunkte in den einstigen Stiftskirchen Bonn St. Cassius und Florentius, Köln St. Gereon und Xanten St. Viktor, die sämtlich - nicht anders als die Abtei St. Maximin in Trier - beanspruchten, von Konstantin und Helena gegründet worden zu sein. 25 Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts behauptete sich das Fest der hl. Helena im Kölner Diözesankalender. 1933 wurde es daraus entfernt. 26 Damit ist das Kultgebiet weiter geschrumpft. Neuerdings berücksichtigen nur mehr Trier und Limburg Helena in ihrem jeweiligen Diözesankalender, 27 Limburg wegen der bedeutenden Kreuzreliquie in seinem Domschatz. 28 Die Quellen, aus denen wir im Folgenden das von der Liturgie vermittelte Helena-Bild zu rekonstruieren versuchen, stammen fast ausnahmslos aus dem eben skizzierten Kultraum. In den Analecta hymnica Medii Aevi 29 sind sie in 23 Vgl. Klein, Helena (wie Anm. 7), 372f.; J. Dietz, St. Helena in der rheinischen Überlieferung, in: E. Ennen und G. Wiegelmann (Hg.), Festschrift Matthias Zender. Studien zu Volkskultur, Sprache und Landesgeschichte, 2 Bde., Bonn 1972, Bd. 1, 356-383. 24 Der in den ActaSS (Aug. 3), 580-599 veröffentlichte Text der Vita wurde anlässlich des „Konstantin-Jahres“ neu ediert und erstmals ins Deutsche übersetzt: P. Dräger, Almann von Hautvillers Lebensbeschreibung oder eher Predigt von der heiligen Helena, Trier 2007. Eine kritische Würdigung der Vita bei Sauerland, Geschichtsquellen (wie Anm. 12), 158-160; vgl. jetzt auch den Beitrag von M. Embach in diesem Band; ferner Ders., Trierer Literaturgeschichte. Das Mittelalter (Geschichte und Kultur des Trierer Landes 8), Trier 2007, 308-320. 25 Vgl. Dietz, St. Helena (wie Anm. 23), 366-369; zur Helena-Verehrung im Erzbistum Köln vgl. H.-J. Kracht und J. Torsy (Hg.), Reliquiarium Coloniense (Studien zur Kölner Kirchengeschichte 34), Siegburg 2003, 277-279; F. J. Peters, Beiträge zur Geschichte der Kölnischen Messliturgie. Untersuchungen über die gedruckten Missalien des Erzbistums Köln (Colonia Sacra 2), Köln 1951, 62. 26 Vgl. J. Torsy, Die Eigenkalender des deutschen und niederländischen Sprachgebietes mit besonderer Berücksichtigung der Erzdiözese Köln (Studien zur Kölner Kirchengeschichte 14), Siegburg 1977, 114f. 27 Vgl. Die Neuordnung der Eigenkalender für das deutsche Sprachgebiet. (Nachkonziliare Dokumentation 29), hg. von den Liturgischen Instituten in Salzburg, Trier und Zürich, Trier 1975, 105 (Limburg), 119 (Trier). 28 Vgl. K. Schatz SJ, Geschichte des Bistums Limburg (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 48), Mainz 1981, 83f. 29 Hg. von G. Dreves und C. Blume, 55 Bde., Leipzig 1886-1922 (Nachdruck Frankfurt a. M. 1961); Register, hg. von M. Lütolf, 2 Bde., Bern und München 1972. Hier mit der Abkürzung AHMA und der jeweiligen Band- und Seitenzahl zitiert. Die Helena-Texte finden sich in AHMA 4, 150; 5, 189; 9, 68f.; 16, 144-146; 17, 111. 113-116; 19, 150-152; 23, 190; 28, 299; 29, 149f.; 33, 88; 34, 199f.; 42, 216; 43, 166-168; 55, 182-184. Das Bild der Kaiserin Helena in der Liturgie des lateinischen Westens 163 ausreichender Breite dokumentiert, vornehmlich aus Handschriften des 15. Jahrhunderts. Besonders gründlich wurden die Texte der Trierer Diözesanliturgie ausgewertet. Dort wird der Mutter Konstantins nicht nur an ihrem Fest (18. August) gedacht, sondern auch am Gedenktag des Heiligen Rockes und am Matthiasfest. 2. Helenas Herkunft Ein heutiger Personalausweis nennt außer dem Vor- und Familiennamen als erste Identitätsmerkmale den Ort und das Datum der Geburt seines Inhabers. Von Helena kennen wir beides nicht. Die Überlieferung bringt drei Möglichkeiten ins Spiel: Zunächst Drepanum in Bithynien, von Konstantin in Helenopolis umbenannt. 30 Diese „orientalische Lösung“ bleibt, obwohl sie die wahrscheinlichste ist, in der lateinischen Liturgie überraschenderweise ganz außer Betracht. Diese lässt Konstantins Mutter im Westen geboren sein, entweder in Trier oder in Britannien. Die einflussreiche Legenda aurea aus dem späten 13. Jahrhundert sagt: „Doch findet man auch geschrieben, dass sie von Trier sei gewesen.“ 31 Der erste, der dies geschrieben hat, war der fränkische Mönch Altmann. 32 Nach ihm war Helena eine gebürtige Triererin, von Adel und sehr reich. Woher er das wusste, wissen wir nicht. Die Trierer Dom- und Diözesanliturgie hat diese Tradition aber rezipiert und ununterbrochen tradiert. Die hagiographische Lesung im Offizium des Helena-Festes tat das allerdings in der Neuzeit nur noch mit vorsichtiger Zurückhaltung. So heißt es im Trierer Diözesanbrevier von 1748 33 zwar noch, Helena sei eine gebürtige Triererin gewesen (a Trevirensibus fuisse indigena). Doch das wird nur mehr als Annahme geäußert (creditur). Man beruft sich dafür auf die „Überlieferung der Vorfahren“ (ex pia maiorum traditione) und das Silvesterdiplom, eine Fälschung des neunten Jahrhunderts. 34 Erst als das Trierer Proprium unter Bischof Michael Felix Korum (1881-1921) erstmals in Rom zur Approbation vorgelegt wurde, 35 hat man auch die Helena-Lesung einer kritischen Relecture unterzogen. 30 Vgl. Klein, Helena (wie Anm. 7), 355f.; Heinen, Trier (wie Anm. 1), 97. 31 Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine aus dem Lateinischen übersetzt von R. Benz, Heidelberg 8 1975, 354. 32 Vgl. oben Anm. 24. Zur angeblichen Herkunft Helenas aus Trier in der mittelalterlichen Trierer Tradition vgl. Embach, Literaturgeschichte (wie Anm. 24), 309f., 318. 33 Vgl. Breviarium Trevirense Jussu Reverendissimi, Emimentissimi et Celsissimi Principis ac Domini D. Francisci Georgii Archi-Episcopi Trevirensis (…) recognitum et emendatum. Pars aestivalis. Francofurti et Treveris 1748, 633-637, hier 634. Zu dieser letzten vierbändigen Ausgabe des Trierer Bistumsbreviers vgl. A. Heinz, Die gedruckten liturgischen Bücher der Trierischen Kirche. Ein beschreibendes Verzeichnis mit einer Einführung in die Geschichte der Liturgie im Trierer Land (Veröffentlichungen des Bistumsarchivs Trier 32), Trier 1997, 141-145. 34 Vgl. Heinen, Trier (wie Anm. 1), 87f. Dort der lateinische Text nach der Edition von Sauerland (wie Anm. 12) und eine deutsche Übersetzung. 35 Vgl. A. Heinz, Im Banne der römischen Einheitsliturgie. Die Romanisierung der Trierer Bistumsliturgie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Römische Quartalsschrift 79 (1984) 37-92, hier 48-50. [Nachdruck in: Ders., Liturgie und Frömmigkeit (wie Anm. 20), 243-281.] Liturgie und Gesellschaft 164 Jetzt wurde nur mehr gesagt, Helena habe lange in Trier gelebt 36 , was auch seriöse Historiker für durchaus wahrscheinlich halten. 37 Da die Ansicht, Helena stamme aus Trier, erstmals in Altmanns Helena-Vita auftaucht, 38 überrascht es nicht, dass sie uns mehrfach in liturgischen Texten aus dem Raum Reims begegnet. In einem spätmittelalterlichen Reimoffizium heißt es etwa, die beiden belgischen Provinzen könnten sich auf je eigene Weise Helenas rühmen: Die „Belgica prima“ habe sie geboren; die „Belgica secunda“ besitze ihre Reliquien. 39 Auch in Köln begegnen wir dieser Tradition. In einer Helena-Sequenz aus dem Stift St. Gereon wird Trier als Geburtsstadt Helenas beglückwünscht: „Du also, die du sie hervorgebracht hast, die du ihre Mutter bist und Christi Braut, heiliges Trier, freue dich! “ 40 Eine in einer Salzburger Handschrift des 15. Jahrhunderts überlieferte Sequenz vertritt dagegen die Auffassung, Helena stamme aus Britannien. 41 Sie reproduziert 36 Vgl. Officia propria Dioecesis Treverensis a Sacra Rituum Congregatione revisa et approbata die 12 Julii 1916. 4 Faszikel. Pars aestiva, Regensburg und Rom 1917, 65: „Augustam Treverorum quam diu incoluit, magnificis monumentis et donis exornavit.“ Zu dieser Propriumsausgabe vgl. Heinz, Bücher (wie Anm. 33), 160-165; P.Th. Ott, Neues Proprium. Hat es die Verehrung der Heiligen im Bistum Trier beeinträchtigt? , in: Pastor bonus 2 (1916/ 17) 272-274. 37 Vgl. Heinen, Trier (wie Anm. 1), 101-103. 38 Vgl. ebd., 99f. 39 AHMA 17, 116: „Nata in prima Belgica, De hac gaudet secunda …“. Der Grund der Freude wird in dem vorausgehenden Responsorium genannt (vgl. ebd., 17, 115): „Hujus sanctae reliquiae, Romae quondom locatae, Per sacerdotem auxie, Quendam sunt asportatae. Junctae Remensi patriae, Virtutibus probatae Et signis exaltatae.“ Ein Vesperhymnus beglückwünscht ebenfalls die „Belgier“ (Belgici), dass sie Helenas Reliquien erhalten haben (AHMA 16, 144): „De hac laetantur coelia Deo reddentes gratias. Atque dotantur Belgici Hujus nacti reliquias.“ 40 AHMA 55, 182: „Ergo quae hanc genuisti, Mater eius, sponsa Christi, Sancta gaude Treveris.“ 41 AHMA 55, 183: „Haec regina ter beata Britanorum regis nata Fuit olim unica.“ Erwähnung verdient, dass diese Sequenz auch den Trier-Bezug Helenas thematisiert (Reliquienschenkungen). Er ist einer der ganz seltenen liturgischen Texte, wenn nicht gar der einzige, der ausdrücklich erwähnt, dass Trier das Haupt der hl. Helena besitzt und dass sie es war, die den Leib des Apostels Matthias nach Trier gelangen ließ. Die einschlägige 15. Strophe lautet (AHMA 55, 183): „Urbs beata Treverina Caput tuum cum Matthia Tenet quem advexeras.“ Das Bild der Kaiserin Helena in der Liturgie des lateinischen Westens 165 die diesbezüglichen Mitteilungen der Legenda aurea. 42 Danach war Helena die einzige Tochter des Britenkönigs Clohel, der im Kampf gegen die Römer gefallen war. Die verwaiste Königstochter wuchs zu einem bildhübschen, anmutigen Mädchen heran. Damit sie im heiratsfähigen Alter nicht erkannt und dann möglicherweise entführt oder entehrt würde - so unsere Sequenz -, habe Helenas Dienerin sie versteckt, unerkannt in Werkstätten arbeiten und in ärmlichen Kleidern umhergehen lassen. Doch dann habe sie der „Kaiser“ Constantius gefunden, zu seiner Frau gemacht und mit ihr Konstantin gezeugt. Mit dieser Geschichte ließ sich dann auch irgendwie die auch dem Mittelalter bekannte Aussage des Kirchenvaters Ambrosius (†397) harmonisieren. Nach ihm war Helena von niedriger Herkunft; eine „stabularia - eine Schankwirtin“. Doch aus dem Staub erhob Christus sie zur Würde einer Kaiserin: „e stercore relevavit ad regnum“. 43 Damit ist die Frage nach der sozialen Herkunft Helenas aufgeworfen. Dass die Mutter des Kaisers von ganz unten kam, war für die konstantinische Dynastie zu ihrer Zeit ein echtes Problem. 44 Was sagt die Liturgie dazu? Ein Hymnus, den man im Kloster von Hautvillers gesungen hat, ist einer der wenigen liturgischen Texte, der die ambrosianische Tradition aufgreift. Doch das geschieht nur andeutungsweise und gleich in verklärendem Licht: „Stabularia fuisti, pia et laudabilis. Imperatrix (post) exstitisti, Deo peramabilis, dum vixisti seculo. - Herbergswirtin warst du, fromm und lobenswert. Kaiserin wurdest du, Gott überaus liebenswert, solange du lebtest auf Erden.“ 45 Das bereits erwähnte Reimoffizium meditiert die Aussagen von Ambrosius ausführlicher. 46 Ambrosius nannte Helena „glücklich“ aus dreifachem Grund. Helena war erstens eine „glückliche Stallmagd“, weil sie eifrig nach der Krippe des Herrn gesucht hat. Eine Anspielung auf Helenas Stiftung der Basilika über der Geburtsgrotte in Betlehem. Sie war zweitens eine glückliche Herbergswirtin, insofern sie auf jenen Wirt im Gleichnis vom barmherzigen Samariter geschaut hat, der sich um den unter die Räuber gefallenen Verwundeten gekümmert hat. Eine Anspielung auf Helenas Mildtätigkeit. Schließlich kommt dem Kirchenvater im Blick auf die niedere Herkunft Helenas das Wort des Apostels Paulus in den Sinn: Der Apostel hat alles für Unrat gehalten, um Christus zu gewinnen (vgl. Phil 3,8). So habe die „beata stabularia“ Helena, sagt Ambrosius sinngemäß, nichts darauf gegeben, dass man sie für eine Frau aus dem Schmutz gehalten habe; es sei ihr nur darum gegangen, Christus zu gewinnen. Eine Anspielung auf die Kreuzauffindung, die Ambrosius bekanntlich als erster Helena zuschreibt. 47 42 Vgl. Benz, Legenda (wie Anm. 31), 354. Die Legenda aurea handelt von Helena in ihren Ausführungen zum Text „Kreuzauffindung“ (3. Mai), nicht an dem von ihr unbeachtet gelassenen üblichen westlichen Festdatum, dem 18. August; vgl. ebd., 351-358. 43 Vgl. Ambrosius, De obitu Theodosii 42; dazu H. Heinen, Konstantins Mutter Helena: de stercore ad regnum, in: Trierer Zeitschrift für Geschichte und Kunst des Trierer Landes und seiner Nachbargebiete 61 (1998) 227-240. 44 Vgl. Klein, Helena (wie Anm. 7), 359f. 45 AHMA 34, 199. 46 Vgl. AHMA 17, 114-117. 47 Vgl. zu der hier von der liturgischen Poesie verarbeiteten Passage aus der Trauerrede des Mailänder Bischofs auf Kaiser Theodosius Heinen, Helena (wie Anm. 43), 236f. Liturgie und Gesellschaft 166 Wenn nach Aussagen über Helenas Herkunft in der Liturgie gefragt wird, lässt sich generell sagen: Dieses Kapitel wird weitgehend ausgeblendet; die verborgenen Jahre Helenas bleiben im Dunkeln. Die Liturgie folgt darin den christlichen Autoren der Antike. Die Staatsraison verlangte damals eisernes Schweigen über die tatsächlich niedere Herkunft der hohen Frau im Kaiserpalast. Wenn überhaupt etwas über die Jahre vor Helenas Aufstieg gesagt wird, dann folgt die Liturgie Altmann, der behauptet, sie sei von edler Herkunft und sehr reich gewesen, oder sie übernimmt die Legende von der verwaisten Königstochter, die das Wohlgefallen des himmlischen Königs gefunden hat. 48 Ein Punkt verdient in diesem Zusammenhang eine nähere Betrachtung. Was sagt die Liturgie über die religiöse Herkunft Helenas? War die Mutter Konstantins vielleicht von Hause aus Jüdin? Die Forschung sagt: Das ist eine bloße Vermutung. Die antijüdische Gesetzgebung Konstantins und der massive Antijudaismus in offiziellen Äußerungen des Kaisers sprechen eher dagegen. Der gegenüber seiner Mutter stets äußerst rücksichtsvolle Sohn hätte deren religiöse Heimat keinesfalls so scharf attackiert, wenn Helena tatsächlich Jüdin gewesen wäre. 49 Wir kennen die Quelle dieser Tradition. Es sind die im späten 5. Jahrhundert entstandenen „Actus Silvestri“. 50 Ihr Hauptthema ist die angebliche Taufe Konstantins durch Papst Silvester I. (314-335) nach dem Sieg an der Milvischen Brücke am 28. Oktober 312. Auch Helena soll in diesem Zusammenhang getauft worden sein. Als Heidin oder als Jüdin? Die legendären Silvesterakten erzählen von einem Orient-Aufenthalt Helenas mit zwei ihrer Enkel und davon, dass sie dort unter den Einfluss jüdischer Gelehrter geraten und selbst Jüdin geworden sei. Auf ihr Betreiben hin habe Konstantin nach seinem Sieg über Maxentius in Rom eine Religionsdisputation veranstaltet. Papst Silvester sei daraus als Sieger hervorgegangen. Helena habe sich daraufhin von ihm unterrichten und dann auch taufen lassen. In einer Strophe der sehr verbreiteten Sequenz „In honorem summi regis“, 51 die auch in der Trierer Bistumsliturgie ihren Platz hatte, heißt es, die Mutter des „göttlichen Konstantin“ habe die heidnischen Tempel gemieden, da sie den religiösen Bräuchen des Judentums ergeben gewesen sei (se dans Judaismi ritibus legalibus). 48 AHMA 16, 146: „Terreni regis filia Regi coelesti placuit.“ 49 Vgl. Klein, Helena (wie Anm. 7), 357; der Antijudaismus Konstantins zeigt sich unter anderem in der nizänischen Abgrenzung des christlichen Pascha-Termins von der jüdischen Praxis; vgl. Heinz, Liturgie (wie Anm. 5), 159-161. 50 Vgl. R. J. Loenertz, „Actus Sylvestri“. Genèse d’une légende, in: Revue de l’histoire ecclésiastique 70 (1975) 426-439. Zur Entstehung und Rezeption der folgenreichen Schrift (Konstantinische Schenkung) noch immer sehr aufschlussreich: A. L. Frothingham jr., L’Omilia di Giacomo di Sarûg sul battesimo di Costantino imperatore, publicata, tradotta ed annotata, in: Atti della R. Accademia dei Lincei. Memorie della classe di scienze morali, storiche e filologiche, Vol. VIII, Rom 1883, 167-242. Die liturgische Dichtung bezog ihre Anregung und ihr Material aus der Silvester-Legende der Legenda aurea; vgl. Benz, Legenda (wie Anm. 31), 83-92. 51 AHMA 9, 169. Das Bild der Kaiserin Helena in der Liturgie des lateinischen Westens 167 Eine andere Sequenz bemerkt kurz, die „heiligste Herrscherin“ sei zuerst dem jüdischern Glauben gefolgt, dann aber sei sie in Christus getauft worden: „Judaismo primo data, post in Christo baptizata, Augusta sanctissima.“ 52 Über Helenas religiöse Herkunft verraten uns die antiken Quellen nichts. Man muss sogar fragen: War die Mutter Konstantins überhaupt getauft? Der Trierer Althistoriker Heinz Heinen bemerkt dazu: „Wir besitzen keinen einzigen Hinweis im ernstzunehmenden Teil der Überlieferung, dass Helena sich hätte taufen lassen.“ 53 Wie immer die Frage nach der Taufe Helenas zu beantworten sein wird, Bischof Eusebius zweifelte jedenfalls nicht daran, dass die Mutter des Kaisers im Himmel einen Platz gefunden hat. Er schreibt nämlich: „Mit Recht scheint daher die dreimal selige Kaiserin allen, die verständig urteilen, nicht eigentlich gestorben zu sein, sondern in Wahrheit nur das irdische Leben mit dem himmlischen vertauscht zu haben. Es ward ihre Seele aufgenommen zu ihrem Erlöser und verwandelt in die unvergängliche Wesenheit der Engel.“ 54 Auf Erden aber verdiene sie es, so Eusebius weiter, dass ihr Andenken für alle Zeit in Ehren gehalten werde, und zwar wegen ihrer „gottgefälligen Werke“ und ihres „außerordentlichen und wunderbaren Sohnes“ Konstantin. 3. Mutter des Kaisers und Herrin der Welt Die Tatsache, dass Helena die Mutter Konstantins war, ist auffälligerweise der einzige Grund, den das Römische Martyrologium in seiner nachtridentinischen Fassung anführt für ihre Aufnahme in dieses amtliche Heiligenverzeichnis der römisch-katholischen Kirche. Helenas Name steht dort am 18. August, wo der Mönch Usuard von St. Germain ihn im 9. Jahrhundert in seinem einflussreichen Martyrologium erstmals verzeichnet hatte. Das Elogium war bisher eher ein Loblied auf Konstantin als auf Helena. In der Übersetzung der Benediktiner von Beuron lautet es: „Zu Rom, an der Levikanischen Straße, die heilige Helena, die Mutter des gottesfürchtigen Kaisers Konstantin des Großen, der als erster den übrigen Machthabern als Schützer und Förderer der Kirche mit gutem Beispiel voranging.“ 55 Anders in der revidierten Neuausgabe des Martyrologiums von 2001. Jetzt wird tatsächlich Helena gelobt. Von der „Mutter Kaiser Konstantins“ heißt es nun im Anschluss an Eusebius: „Sie war in einzigartiger Weise bestrebt, den Bedürftigen zu helfen und fromm, mitten unter dem Volk, die Kirchen zu besuchen. Auch pilgerte sie nach Jerusalem, um die Orte der Geburt, des Leidens 52 AHMA 55, 183. 53 Heinen, Helena (wie Anm. 6), 107. 54 VC 3, 47; vgl. den ganzen „Helena-Exkurs“ der Vita Constantini (3, 41-47) in deutscher Übersetzung bei Heinen, Helena (wie Anm. 6), 115-117; vgl. auch dessen Kommentierung ebd., 101-114. 55 Das Römische Martyrologium. Neu übersetzt von Mönchen der Erzabtei Beuron, Regensburg 2 1935, 203. Liturgie und Gesellschaft 168 und der Auferstehung Christi ausfindig zu machen und sie ehrte die Krippe und das Kreuz des Herrn durch ehrwürdige Basiliken.“ 56 Es überrascht nicht, dass die liturgischen Texte die einzigartige Nähe Helenas zu ihrem kaiserlichen Sohn Konstantin gebührend hervorheben. Die Sequenz „In honorem summi regis“ nennt in einer reizvollen Gegenüberstellung Helena „Treverigena“, die Trier-Geborene, und Konstantin „Helenigena“, den von Helena Geborenen. 57 Im Trierer Dom wurde eine Fassung dieser Sequenz gesungen, die diese enge Mutter-Sohn-Beziehung mit folgenden Worten preist: „Felix hec felicem natum lumen orbis et ornatum Constantinum genuit. Glücklich ist sie, die hervorbrachte Konstantin, den glücklichen Spross, der den Erdkreis erleuchtet und ziert.“ 58 58 Der Sieg Konstantins über Lucinius im Jahre 324, der ihn zum Alleinherrscher des Imperiums aufsteigen ließ, machte seine Mutter geradezu zur „mater orbis - zur Mutter der Welt“. Die liturgischen Texte nennen sie „Herrin des Erdkreises“ (domina orbis) und „Mutter des Reiches“ (mater imperii). 59 Neben dem am häufigsten vorkommenden Titel „regina - Königin“ begegnen auch als Synonyme „imperatrix - Kaiserin“ 60 oder der ihr von Konstantin verliehene Hoheitstitel „Augusta“. 61 4. Die starke Frau an der Seite des Kaisers Die Liturgie präsentiert Helena als eine starke und politische Frau. Wenn man in der Messe an ihrem Fest die Lesung aus dem Buch der Sprüche (Prov 31,10-31) las, stellten sich manche Bezüge zu Helena ein, schon bei den ersten Worten: „Mulierem fortem, quis inveniet? - Eine starke Frau, wer wird sie finden? “ Helena war diese starke Frau. Äußerst passend erschien auch die Wendung: „An Großes legt sie ihre Hand. - Manum suam misit ad fortia.“ Was war das Große, an das Helena Hand gelegt hat? Helenas Großtat schlechthin war ihre erfolgreiche Suche nach dem Kreuz Christi. Sie ist die „Inventrix 56 Martyrologium Romanum ex decreto Sacrosancti Oecumenici Concilii Vaticani II instauratum. Auctoritate Ioannis Pauli PP. II promulgatum, Vatikan 2001, 437: „Romae via Labicana, sanctae Helenae, matris Constantini imperatoris, quae singulariter studuit egenos iuvare et pie mixta turbis ecclesias adire atque, Hierosolymam perigrinata, ut Christi Nativitatis, Passionis et Resurrectionis loca investigaret, praesepe crucemque Domini venerandis basilicis honoravit.“ 57 Vgl. AHMA 9, 169. 58 So in dem großformatigen handgeschriebenen und illuminierten Graduale Trevirense aus dem Trierer Dom (1512/ 1515) im Bistumsarchiv Trier 95, 4636, fol. 158 v -160 r ; zur Hs. vgl. A. Heinz, Die Aspersionsprozession am Kirchweihfest des Trierer Domes, in: Libri pretiosi. Mitteilungen der Bibliophilen Gesellschaft Trier e. V. 10 (2007) 64-73 (FS Franz Ronig). 59 AHMA 17, 115; 19, 151 (mater orbis). 60 Ebd., 16, 146. 61 AHMA 55, 183. Zu dieser Titelverleihung an Helena und Fausta, die Gemahlin Konstantins (VC 3,47), vgl. Klein, Helena (wie Anm. 7), 357. Das Bild der Kaiserin Helena in der Liturgie des lateinischen Westens 169 Sanctae Crucis“. 62 Ein Responsorium im Kölner Brevier von 1780 setzt das angeführte Schriftzitat in eine direkte Beziehung zu dieser großen Tat Helenas: „Mulier fortis manum misit ad fortia: Hierosolymam perrexit, Lignum Dominicum diligenter requisivit, feliciter invenit. - Die starke Frau legte an Großes die Hand. Nach Jerusalem reiste sie. Eifrig suchte sie das Kreuz des Herrn, glücklich fand sie es.“ 63 Generell interessiert sich die Liturgie besonders für Helenas Beteiligung an den religionspolitischen Maßnahmen ihres Sohnes zugunsten der Christen. Eifrig habe Helena, so heißt es lobend in einer Sequenz, dafür gesorgt, dass der Glaube ungehindert verbreitet und gefestigt werden konnte und der Unglaube der Heiden verstummte. 64 In Trier wird man dabei an die angeblich von Helena veranlasste Rechristianisierung der Stadt gedacht haben, als sie zu diesem Zweck durch Papst Silvester aus Antiochien Bischof Agritius nach Trier senden ließ. 65 Die liturgischen Texte sehen die Mutter Konstantins auch auf der Seite der Kirche im Kampf gegen die Arianer. 66 Sie schreiben ihr zudem missionarische Aktivitäten in großem Stil zu. Die schon mehrfach zitierte Sequenz „Ad honorem summi regis“ behauptet, 67 Helena habe nach den Armeniern auch die Inder und die Iberer, in anderen Texten heißt es wohl richtig, die „Hiberni“, also die Iren, in die Gemeinschaft der Kirche eingefügt. 68 Armenier, Inder und Iren sind Völkerschaften am äußersten Rand des Imperium Romanum. Bei ihnen allen hat das Christentum früh Fuß gefasst. Doch weiß die Kirchengeschichte nichts von einer aktiven Rolle der Mutter Konstantins bei der Evangelisierung dieser Völker. Die Liturgie scheint hier einer Legendenbildung gefolgt zu sein. Sie dürfte ihren Ursprung im Motiv der Kreuzauffindung haben. Dadurch, dass Helena das Kreuz Christi fand, 62 AHMA 5, 188f.; 9, 168 (Haec inventrix sanctae crucis); 16, S. 146 (Crucis inventrix quaerula). 63 Breviarium Coloniense Jussu Reverendissimi et Eminentissimi Principis ac Domini D. Maximiliani Friderici D. G. Archiepiscopi Coloniensis (…), 4 Bde., Coloniae Agrippinae 1780, Pars aestivalis, 18. Augusti (In festo S. Helenae Imperatricis), 602-606, hier 605. 64 So die 7. Strophe der Sequenz „Ad honorem summi regis“: „Unde fides est in tuto Jacet, tacet ore muto Gentium perfidia.“ 65 Vgl. die Doppelvita der hl. Helena und des hl. Agritius (1050/ 1072), in: ActaSS Jan. Bd. 1, Paris u. a. 1867, 772-781; Sauerland, Geschichtsquellen (wie Anm. 12), 173-212 (mit Edition); Embach, Literaturgeschichte (wie Anm. 24), 312-318. 66 Vgl. AHMA 9, 169: „Pallet fraus tunc Arriana Sed et Christi crescit plana Fides in fidelibus.“ 67 Die betreffende 12. Strophe lautet (AHMA 55, 182): „Indis quidam et Iberis Post Armenos iunxit veris Fidei cultoribus.“ Vgl. auch AHMA 9, 169: „Indos, Armenos, Ibere, Teque fert ad sacra vere Fidei consortia.“ 68 Vgl. AHMA 33, 88: „Indos vertit et Hibernos Quos fideles fecit vernos Sicque genti truci horum Fidem dedit praedictorum.“ Liturgie und Gesellschaft 170 erhöhte und weltweit zu Ehren brachte, hat sie in diesem Siegeszeichen dem neuen Glauben den Weg gebahnt bis an die Enden der Erde. 69 5. Stifterin von Kirchen Das Bild der starken Frau wird ergänzt durch die in der Konstantin-Vita des Eusebius gut bezeugte Tatsache, dass Helena Kirchen stiftete und Gotteshäuser ausschmücken ließ. 70 Die kritische Geschichtswissenschaft sieht in Helena die Gründerin der Basilika über der Geburtsgrotte in Betlehem und der Kirche über der Grotte unter dem Gipfel des Ölbergs, wo Jesus seine Jünger unterwiesen haben soll. Konstantin hat den Bau dieser Kirchen gefördert und sie prächtig ausschmücken lassen, auch um das Andenken seiner Mutter an den Orten ihrer Munifizenz zu ehren. Ob Helena darüber hinaus an der Durchführung des kaiserlichen Kirchenbauprogramms an anderen Orten beteiligt war, braucht uns hier im Einzelnen nicht zu beschäftigen. Eigens erwähnt zu werden verdient aber die in der Trierer Bistumsliturgie bis heute hoch gehaltene Tradition von Helena als der Gründerin der Trierer Bischofskirche. 71 Dass die Anfänge der Trierer Bischofskirche in der Tat bis in die konstantinische Zeit zurückreichen, haben die Grabungen der Archäologen bewiesen. 72 Ob ein Bezug zu Helena besteht, lässt die Wissenschaft aber offen. Die Liturgie hatte daran keinen Zweifel. Zwar spricht die historische Lesung im Trierer Helena- Offizium in ihrer letzten Fassung vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil nur mehr vage davon, dass Helena, in Erinnerung an ihre Jahre in Trier, die Stadt mit großartigen Monumenten und Geschenken bedacht habe. 73 Im Offizium der Domkirchweihe (1. Mai) kam ausdrücklicher die „ununterbrochene und alte Überlieferung“ zur Sprache, dass der Dom vorher der Palast Helenas gewesen sei. 74 Die nach dem Konzil neu gestalteten Trierer Eigentexte haben den Helena- Bezug, weil er historisch nicht erwiesen ist, in beiden Offizien getilgt. Lediglich am Gedenktag des Heiligen Rockes ist weiterhin von der „alten Überlieferung“ die Rede, dass die Kaiserin Helena das „ungenähte Gewand Christi“ der Trierer Kirche habe zukommen lassen. 75 69 Ein Hymnus bringt diesen Gedanken treffend ins Wort (AHMA 19, 151): „Per te patent clara signa salutis Sacrato populis fonte renatis.“ 70 Vgl. Klein, Helena (wie Anm. 7), 365-367. 71 Vgl. Eigenfeiern (wie Anm. 75), 145. 72 Vgl. W. Weber, „… dass man auf ihren Bau alle Sorgfalt verwende.“ Die Trierer Kirchenanlage und das konstantinische Kirchenbauprogramm, in: Fiedrowicz, Konstantin (wie Anm. 5), 69-96; Heinen, Athanasius (wie Anm. 1), 202-207. 73 Vgl. Officia Propria Dioecesis Trevirensis. Tomus alter, Regensburg 1962, 17-25 (S. Helenae. Imperatricis, Viduae, II classis), hier 20. 74 Vgl. ebd., Tomus prior, Regensburg 1962. 75 Vgl. Die Feier des Stundengebets für die katholischen Bistümer des deutschen Sprachgebietes. Eigenfeiern des Bistums Trier, hg. im Auftrag des Bischofs von Trier, Trier 1981, 84f. Auch der historische Vorspann zum Offizium des Matthias-Festes erwähnt die „Legende“, wonach die Kaiserin Helena durch Agritius der Trierer Kirche die Reliquien des Apostels Matthias habe zukommen lassen; vgl. ebd., 54f. Das Bild der Kaiserin Helena in der Liturgie des lateinischen Westens 171 Ein in der Trierer und Kölner Bistumsliturgie einst vorhandener Hymnus widmet eine Strophe Helena als der großen Stifterin von Kirchen. Sie habe sich, so heißt es dort, um die Grabstätten der Märtyrer verdient gemacht und neu erbaute Kirchen kunstvoll ausgestattet. 76 Wenn dieser Hymnus im Trierer Dom, in Köln St. Gereon, in der Bonner Stiftskirche St. Kassius und Florentius oder in Xanten St. Viktor gesungen wurde, dachten die zum Gottesdienst Versammelten weniger an die Kirchenstiftungen Helenas im Heiligen Land; sie sahen vielmehr in Helena die Gründerin und Wohltäterin ihrer je eigenen Kirche. Wir können hier nicht näher auf die entsprechenden Traditionen eingehen. Doch die Liturgie bringt an diesen rheinischen Verehrungsstätten Helenas ihren dortigen Kult mit ihrer lokalen Stiftertätigkeit in Verbindung. Eine Sequenz, die in Xanten gesungen wurde, spricht davon, was die Kaiserin speziell in Xanten getan hat: Sie sorgte dafür, dass die Gebeine der Thebäischen Märtyrer erhoben und ehrenvoll beigesetzt wurden. 77 Auch in anderen Texten wird Helenas Einsatz für den Kult der Thebäer erwähnt. Die historische Lesung des vorkonziliaren Trierer Helena-Offiziums hob lobend hervor, dass Helena „entlang des Rheins für Gott und zu Ehren der Märtyrer mehrere berühmte Kirchen gebaut hat.“ 78 6. Wohltäterin der Armen In der Konstantin-Vita des Eusebius lesen wir, dass die betagte Mutter des Kaisers auf ihrer Reise durch den Osten des Reiches „von Stadt zu Stadt ganzen Gemeinden und auch einzelnen, die sich an sie wandten, unzählige Wohltaten“ gespendet habe. Sie habe viel verschenkt, fährt Eusebius fort, „an nackte und hilflose Arme, denen sie teils Geldbeträge, teils reichlich das zur Bedeckung ihres Leibes Notwendige zukommen ließ.“ 79 Wenn Eusebius Helena jemals persönlich begegnet ist, dann war es während ihrer Orient-Reise. Die christliche Tradition hat sie gewiss zu einseitig als Pilgerfahrt zu den heiligen Stätten im Heiligen Land gesehen. In Wirklichkeit war sie wohl vor allem eine überlegt geplante diplomatische Staatsunternehmung zur Sympathiewerbung für Konstantin, dessen Herrschaft in den östlichen Provinzen nach dem Sieg über Licinius noch jung und ungefestigt war. Eusebius könnte Augenzeuge der Mildtätigkeit der Kaiserin gewesen sein. Bisher trat dieser heute besonders ansprechende Zug im Charakterbild Helenas in der Liturgie wenig in Erscheinung. Das ist anders in den nach dem Zweiten Vatikanum neu bearbeiteten Trierer Stundengebetstexten. Dort ist die einschlägige Passage aus der Konstantin-Vita des Eusebius als nicht-biblische Lesung der Lesehore ausgewählt. 80 Sie macht auf den caritativen Aspekt im Wirken der Kaiserin aufmerksam, der - wie angedeutet - in der traditionellen Liturgie nur eine 76 Vgl. AHMA 4, 150. 77 Vgl. AHMA 33, 88. 78 Vgl. Officia Propria (wie Anm. 36), 65: „Plures etiam per Rheni litora Deo martyrumque honori illustres aedificavit ecclesias.“ 79 VC 3, 45; vgl. Heinen, Helena (wie Anm. 6), 116f. 80 Vgl. Eigenfeiern (wie Anm. 75), 147f. Liturgie und Gesellschaft 172 schwache Resonanz fand. Die 10 Doppelstrophen der viel gesungenen Sequenz „In honorem summi regis“ deuten ihn kurz in einer Zeile an. Dort heißt es, Helena sei wie eine Mutter für die Bedürftigen da gewesen (Vacat mater hec egenis). 81 Ein Laudes-Hymnus hebt hervor, dass sie, gleichsam schon im Himmel wandelnd, ihre weltliche Herrschermacht gering geachtet, 82 den Notleidenden gedient habe und denen zur Mutter geworden sei, die sie um ihre Hilfe anflehten. 83 7. Inventrix Sanctae Crucis Die Großtat Helenas schlechthin ist die Auffindung und Erhöhung des Heiligen Kreuzes. 84 Mit dem Kreuz im Arm und den Nägeln der Kreuzigung in der Rechten steht die Mutter Konstantins im Trierer Dom am Aufgang zur Heilig-Rock- Kapelle. Die Liturgie in Ost und West feiert die Mutter Konstantins überschwänglich als diejenige, die in Jerusalem das Kreuz Christi suchte, fand, erhob und in aller Welt bekannt machte. Weil sie diesen einzigartigen Schatz suchte und fand, hat man als Evangelium in der Messe am Helena-Fest gewöhnlich das Gleichnis vom verborgenen Schatz im Acker gelesen (Mt 13,44-52). Die Frage, was Helena veranlasste, nach dem Kreuz Christi in Jerusalem zu suchen, wird in der Liturgie unterschiedlich beantwortet. Manche Texte verweisen - ähnlich wie die Legenda aurea - auf eine Kreuzesvision Konstantins, entweder vor einer Schlacht an der Donaugrenze oder vor dem Kampf gegen Maxentius an der Milvischen Brücke, und sie sprechen dann von einem anschließend vom Kaiser selbst erteilten Suchauftrag an seine Mutter. 85 Andere Texte führen Helenas Entschluss - auf der Linie von Ambrosius und Rufinus - auf eine göttliche Inspiration zurück, wodurch ihr bewusst wurde, dass sie ausersehen und gewürdigt worden war, das Kreuz des Erlösers ans Licht zu bringen. 86 Gelobt wird der fromme Eifer, mit dem Helena ans Werk ging. 87 Weite Wege nahm sie auf sich. 88 In Jerusalem stellte sie Nachforschungen an. Während Rufinus lediglich erwähnt, Helena habe 81 AHMA 9, 169; vgl. auch 17, 115 („Per hanc tristes sunt jucundi …“). 82 Vgl. AHMA 16, 146. 83 Vgl. AHMA 19, 151: „… egenis subditur, materque fit clientium.“ 84 Vgl. dazu Klein, Helena (wie Anm. 7), 367-372; J. W. Drijvers, Helena Augusta. The Mother of Constantine the Great and the Legend of Her Finding of the True Cross, Leiden u. a. 1992; Heinen, Helena (wie Anm. 6); Ders., Der Sieg des Kreuzes. Von der Kreuzesvision Konstantins zur Entdeckung des Kreuzes, in: TThZ 116 (2007) 221-237; St. Heid, Der Ursprung der Helenalegende im Pilgerbetrieb Jerusalems, in: JAC 32 (1989) 41-71; Ders., Die gute Absicht im Schweigen Eusebs über die Kreuzauffindung, in: RQ 96 (2001) 37-56. 85 Vgl. Benz, Legenda (wie Anm. 31), 351-353; AHMA 5, 188: „Constantinus, vir Domini Matri transmittit Helenae Fide pollens altissimi, Ut crucem Christi quaereret.“ 86 Vgl. AHMA 4, 150. 87 Vgl. AHMA 9, 168. 88 Vgl. AHMA 16, 145. Das Bild der Kaiserin Helena in der Liturgie des lateinischen Westens 173 sich bei den Bewohnern Jerusalems nach dem Ort der Kreuzigung erkundigt, folgt die Liturgie in dieser Sache meistens der antijüdisch aufgeladenen Judas-Cyriakus- Legende. 89 In komprimierter Form finden wir sie in einem in Quellen des 15. Jahrhunderts mehrfach bezeugten Helena-Offizium. 90 Dort heißt es, die Juden hätten listigerweise das Kreuz versteckt gehalten und Helena täuschen wollen. 91 Unser Offizium sagt weiter: Helena konnte durch Bitten den Unglauben der Juden (Judaeorum perfidia) nicht brechen. So wurde sie zur rigorosen Vollstreckerin der gebührenden Strafe. Diese Bestrafung gleicht verdächtig dem, was den Juden im Mittelalter bei Pogromen angetan wurde. Helena soll nämlich angeordnet haben, die Juden den Flammen zu übergeben. Sie habe sie fesseln und vor ihren Augen auspeitschen lassen. Auf diese Weise sei es ihr gelungen, wie unser Text sich ausdrückt, das versteckte „Banner des Herrn“ aufzudecken. 92 Durch Helenas Drohungen in Angst und Schrecken versetzt, so führt die „Historia“ weiter aus, hätten die Juden einen gewissen Judas vorgeschickt, der den Ort, wo das Kreuz versteckt lag, verraten sollte. Dieser habe sich an den Ort der Kreuzigung begeben und dort gebetet, dass Gott ihm die richtige Stelle offenbare. Als dann ein Wohlgeruch aufgestiegen sei, habe Judas einen Spaten ergriffen und eigenhändig 20 Schritt tief gegraben. Drei Kreuze habe er gefunden, aber nicht gewusst, welches davon das wahre Kreuz sei. Es fügte sich, dass man eben einen jungen Mann tot auf der Bahre vorbeitrug. Man legte ihm eines der Kreuze auf und sogleich erhob er sich. Auf dem Kalvarienberg wurde daraufhin eine berühmte Kirche gebaut. Judas wurde getauft und erhielt den neuen christlichen Namen Cyriakus beziehungsweise Quiriacus. Einige offenbar bewusst in dem hier referierten Offiziumstext ausgelassene grausame Details ergänzt ein Helena-Reimoffizium. Dort heißt es, Helena habe Judas in eine ausgetrocknete Zisterne werfen lassen, um ihn zum Sprechen zu 89 Vgl. dazu Drijvers, Helena Augusta (wie Anm. 84), 165-180; Heid, Ursprung (wie Anm. 84), 67-69; Ders., Zur frühen Protonike- und Kyriakoslegende, in: AnBoll 109 (1991) 73-108; S. Burgehammar, How the Holy Cross was found. From Event to Medieval Legend, Stockholm 1991, 145-302 (mit der Edition der Kreuzauffindung). 90 AHMA 17, 111-114. 91 Vgl. ebd., 112. 92 Vgl. ebd.: „Inimicos (sc. Judaeos) inflammari Jussit in circuitu Atque vinctos flagellari in ejus intuitu. Notum fecit salutare Et occultum revelare Vexillum dominicum.“ Eine der Ostersequenz „Victimae paschali laudes“ nachgebildete Helena-Sequenz enthält ebenfalls eine antijüdische Spitze in dem Vers: „Credendum est magis Helenae veraci quam Judaeroum turbae fallaci.“ AHMA 42, 216. Liturgie und Gesellschaft 174 bringen. Dort hielt dieser es „sechs Tage ohne Speise“ aus. Am siebten Tag gab er auf und versprach, sein Wissen preiszugeben. 93 Die Fortsetzung bringt der Laudes-Hymnus des erwähnten Offiziums. Er berichtet vom anschließenden Gang Helenas zum Kalvarienberg. Dort betet die Kaiserin. Der Ort erbebt und Wohlgeruch steigt empor. Auch hier heißt es, das wahre Kreuz sei unter den drei Kreuzen durch eine wunderbare Totenerweckung erkannt worden. 94 Nach Ambrosius war es dagegen die Inschrift am mittleren Kreuz, die dieses als die „vera crux“ auswies. Rufinus hält im Gegensatz dazu die nicht eindeutig zuzuordnende Kreuzesinschrift nicht für beweiskräftig. Nach ihm erwies das wahre Kreuz seine Kraft durch die plötzliche Heilung einer schwer kranken Frau, die nacheinander mit allen drei Kreuzen in Berührung gebracht worden war. Die Judas-Cyriakus-Legende greift diese Tradition auf, verstärkt sie aber, indem sie als Beweiswunder in Anlehnung an die Auferweckung des Jünglings von Nain (Lk 7,11-17) eine Totenerweckung erzählt. Es fehlen uns noch einige Mosaiksteine in der Judas-Cyriakus-Überlieferung. Doch auch sie lassen sich in verschiedenen poetischen Stücken der Tagzeitenliturgie am Helena-Tag aufspüren. So weiß ein Hymnus davon zu berichten, dass der getaufte Judas Bischof von Jerusalem geworden sei. 95 Ihm wird die Auffindung der Kreuzesnägel zugeschrieben. 96 Wie schon Ambrosius wissen auch einige Offiziumsgesänge zu berichten, dass Helena je einen Kreuzesnagel in das Zaumzeug von Konstantins Pferd und in das Diadem des Kaisers habe einarbeiten lassen. 97 Ambrosius deutete diese merkwürdige Verwendung der Kreuzesnägel nicht im vordergründigen Sinn als Unheil abwehrende und Sieg verheißende Schutzzeichen. Als solche werden Helena und Konstantin sie durchaus betrachtet haben. Der Bischof von Mailand deutet ihre Verwendung geistlich. Mit Heinz Heinen kann man sagen: „Der Kreuzesnagel der Pferdetrense wird zum Symbol der Zügelung kaiserlicher Gewalt im Sinne des Christentums.“ 98 Der Kreuzesnagel im Diadem auf dem Haupt des Kaisers ist ein Zeichen dafür, dass die römischen Kaiser, die einst Verfolger waren, sich nun selbst unter das Kreuz stellen und zu Verkündern Christi geworden sind. Das von Helena aufgefundene Kreuz wird von Ambrosius gefeiert als das Siegeszeichen des wahren Glaubens über alle Feinde Christi: Juden, Arianer und andere Häretiker, die die Göttlichkeit des Erlösers anzweifeln. Es geht, so stellt der 93 Vgl. AHMA 16, 145; 43, 166f. 94 Die liturgische Dichtung schöpfte alle diese Daten aus der Judas-Cyriakus-Überlieferung, wie die Legenda aurea sie erzählte; vgl. Benz, Legenda (wie Anm. 31), 354-357. 95 Vgl. AHMA 5, 189; 43, 167. 96 Im Auftrag und in Gegenwart Helenas, von der es in einer Sequenz heißt (AHMA 42, 216): „De clavis dolens regina Requiritque Cyriacum, Sed dum orasset Dominum, Claves reperit illico.“ 97 Vgl. AHMA 43, 168. 98 Heinen, Helena (wie Anm. 6), 93; Ders., Sieg des Kreuzes (wie Anm. 84), 228f. Das Bild der Kaiserin Helena in der Liturgie des lateinischen Westens 175 Bischof von Mailand nachdrücklich heraus, nicht um das Holz, die Reliquie des Kreuzes, sondern um den Ruhm dessen, der am Kreuz erhöht wurde. 99 Auch in der Liturgie geht es nicht um das materielle Kreuzesholz, sondern um das Kreuz als österliches Symbol des Erlösungsmysteriums. Darin sieht die Kirche den Hauptgrund, weshalb sie Helena auf Erden feiert und der Himmel sie ehrt. Sie hat das Kreuz erhoben und dieses Zeichen der Erlösung aller Welt vor Augen gestellt. So wird sie zur prominenten Verkünderin des erlösenden Leidens und der Verherrlichung Christi. 100 In dem nach dem Zweiten Vatikanum neu geschaffenen trierischen Tagesgebet heißt es: „… von der Liebe Christi bewegt, hat die heilige Kaiserin Helena die Botschaft vom siegreichen Kreuzestod des Erlösers in unserem Land verbreitet.“ 101 Wie dieses Gebet ist die Liturgie ihres Festes generell von der Überzeugung geprägt, dass Helenas Eifer für das Kreuz Christi aus einer inneren Christusverbundenheit kam und dass die Auffinderin des Heiligen Kreuzes auch selbst ein Leben in der Nachfolge des Gekreuzigten geführt hat. Die kritische Geschichtswissenschaft mag da ihre Zweifel haben oder sich diskret in Schweigen hüllen. Die liturgischen Texte sprechen dagegen immer wieder davon, dass Helena nicht nur äußerlich den irdischen Spuren des Erlösers folgte, sondern auch in ihrer Gesinnung und in ihrem Verhalten. So kann sie die Gläubigen einladen, ihrem Beispiel zu folgen. Weil die Kreuzauffinderin auch zu einer Nachfolgerin des Gekreuzigten geworden ist, wird ihr Todestag zum Tag ihrer Aufnahme in den Himmel. Am 18. August, also drei Tage nach Mariä Himmelfahrt, sang man in einer Laudes- Antiphon von Helena: „assumpta est in gloria“. 102 Wie die christliche Frömmigkeit Maria, von Engeln geleitet, zur Höhe emporschweben sieht, evoziert die Liturgie auch am Helena-Tag dieses Bild einer von Engelscharen umgebenen, zum höchsten Himmel aufsteigenden Königin, die der König der Könige selbst krönt. 103 Helena steht als Braut Christi (sponsa Christi) zur Rechten des Königs in golddurchwirktem Gewand (vgl. Ps 44/ 45,10). Sie hat das irdische Reich gegen das himmlische eingetauscht. 104 8. Schlusswort Von jeher war der Trierer Dom der prominenteste Ort der Verehrung der Kaiserin Helena. Der Glanz, mit dem einst ihr Fest dort begangen wurde, ist verblasst, die Vielfalt der erzählfreudigen Gesänge verstummt. Aber der Gedenktag der heiligen 99 Vgl. Ambrosius, De obitu Theodosii 41-51, besonders 47f.; dazu die Ausführungen von Heinen, Helena (wie Anm. 6), 88-94; Ders., Sieg des Kreuzes (wie Anm. 84), in der nach dem Zweiten Vatikanum erneuerten Stundenliturgie des Helenatages ist die Passage über die Kreuzauffindung in der Trauerrede auf Kaiser Theodosius als 2. Lesung der Lesehore vorgesehen; vgl. Eigenfeiern des Bistums Trier (wie Anm. 75), 145-147. 100 Vgl. AHMA 16, 145; die Belege ließen sich häufen. 101 Eigenfeiern (wie Anm. 75), 149. 102 AHMA 5, 189. 103 Vgl. ebd., 188. 104 Vgl. AHMA 9, 168f. Liturgie und Gesellschaft 176 Helena ist bis heute im Trierer Diözesankalender erhalten geblieben. 105 Das 2007 in Trier begangene Konstantin-Jahr war Anlass, dem Helena-Tag in der Domliturgie wieder mehr Relief zu geben. 106 Vergessen ist Helena in Trier nämlich keineswegs. Ein originelles akustisches Signal erinnert alljährlich an die Mutter Konstantins. Am 18. August - und nur an diesem einen Tag im Jahr - erklingt vom Dom her das Geläut der Helena-Glocke, drei Mal zu ungewöhnlicher Zeit: morgens um 7.00 Uhr, dann nachmittags um 17.00 Uhr und schließlich abends um 19.00 Uhr. 107 Das legendäre Bild, das die frühere aus mittelalterlichen Quellen schöpfende Liturgie von der Mutter Konstantins gezeichnet hat, gehört unwiederbringlich der Vergangenheit an. Aber diese starke Frau an der Seite des ersten christlichen Kaisers bleibt verehrungswürdig als eine große Gottesverehrerin auf den Spuren Christi und als die Heilige, die den Christen das Kreuz zeigt und ihnen die Frucht der Erlösung erbittet. 105 Vgl. oben Anm. 27. 106 Bischof Reinhard Marx zelebrierte am Helenatag, dem 18. August 2007, ein festliches Pontifikalamt im Dom zu Trier. Auf seinen Antrag hin hat die Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung zugestimmt, dass künftig am 18. August das Gedächtnis Helenas im Trierer Dom als gebotener Gedenktag (Memoria obligatoria) begangen wird, im Bistum weiterhin als nicht gebotener Gedenktag (Memoria non obligatoria); vgl. KAA Trier 151 (2007) 418, Nr. 268. 107 Vgl. A. Heinz, Heilige im Saarland, Saarbrücken 2 1991, 34-41 (Helena), hier 40. 9 Zeittypische Züge in der Frömmigkeit der seligen Yolanda von Vianden (1231-1283) Ein bisher kaum beachtetes Zeugnis mittelalterlicher Frauenfrömmigkeit ist das moselfränkische „Yolanda-Epos“ aus dem späten 13. Jahrhundert. 1 Es war nicht die Absicht seines Verfassers, das Frömmigkeitsleben seiner Zeit zu dokumentieren. Doch das zentrale Thema des Werkes, die allen Hindernissen zum Trotz beharrlich durchgehaltene und schließlich bei den Dominikanerinnen im luxemburgischen Marienthal glücklich ans Ziel gelangte geistliche Berufung der Grafentochter Yolanda von Vianden, erlaubt erwartungsgemäß auch Einblicke in die typischen Formen der Frömmigkeit der Zeit, des Raumes und des Milieus, in denen die erbauliche Dichtung von Bruder Hermann 2 ihren Sitz im Leben hat. Hier soll zunächst etwas zum Gottesbild und zur Christusfrömmigkeit Yolandas gesagt werden; dann werden wir einige Anmerkungen zu den von ihr bevorzugten Heiligen, speziell zu ihrer Marienverehrung, machen und schließlich nach der kirchlichen Dimension in Yolandas Spiritualität fragen. 1. Das Gottesbild Gott näherkommen ist das Leitmotiv der Mystik. Yolanda von Vianden teilte diese Sehnsucht vieler Frauen ihrer Zeit. 3 Das letzte Ziel dieses Verlangens ist der [Erstveröffentlichung: Zeittypische Züge in der Frömmigkeit der seligen Yolanda von Vianden (1231-1283), in: Man mohte schriven wal ein buch. Ergebnisse des Yolanda-Kolloquiums 26.- 27. November 1999 in Luxemburg, Vianden und Ansemburg. Hg. Institut Grand-Ducal. Section de Linguistique, d’Ethnologie et d’Onomastique sous la dierection de G. Berg, Luxembourg 2001, 125-138. Überarbeiteter Vortrag bei dem erwähnten internationalen Wissenschaftlichen Kolloquium in Luxemburg.] 1 Da die erst im November 1999 wieder aufgefundene Handschrift für Forschungszwecke noch nicht zugänglich ist, stützen sich die folgenden Ausführungen auf die beiden neuesten Textausgaben: Bruder Hermann, Yolanda von Vianden. Moselfränkischer Text aus dem späten 13. Jahrhundert übersetzt und kommentiert von G. Newton und F. Lösel (Beiträge zur luxemburgischen Sprach- und Volkskunde. 21. Sonderforschungsreihe Language and Culture in Medieval Luxembourg Bd. 1), Luxemburg 1999; P. Grégoire, Das „Yolanda“-Epos. Bruder Hermanns Dichtung im Urtext mit einer metrischen Übersetzung und einer historischliterarhistorischen Einführung, Luxemburg 1979. 2 Der Verfasser gehörte dem Dominikanerorden an und wirkte als Hausgeistlicher unter dem Priorat von Yolanda (1258-1283) im Dominikanerinnenkloster Marienthal. Üblicherweise wird er mit dem Trierer Dominikaner Hermann aus dem Grafengeschlecht derer von Veldenz (Mittelmosel) identifiziert; vgl. W. Jungandreas, Art. Bruder Hermann I., in: VerfLex 3 (1947) 1049-1051; Grégoire, Yolanda (wie Anm. 1), 37-44; Newton/ Lösel, Yolanda von Vianden (wie Anm. 1), 17f.; 23-26. 3 Vgl. H. Grundmann, Religiöse Bewegungen im Mittelalter, Darmstadt 2 1961, bes. 170-196; speziell mit Blick auf die Yolanda-Dichtung vgl. M. Backes, Jolande von Vianden (1231-1283) und die religiöse Frauenbewegung ihrer Zeit, Trier 1997 (Magisterarbeit masch.); Cath. Hollerich, Fiktion und Realität in Bruder Hermanns „Iolande von Vianden“, in: Hémecht 51 (1999) 5-71, hier 7-15. Liturgie und Gesellschaft 178 eine Gott, der nach christlichem Glauben ein Gott in drei Personen ist. Yolanda wandte sich bei der Mitfeier der Liturgie immer wieder an diesen dreifaltigen Gott. Sie beschloss jeden Psalm der Tagzeiten mit der trinitarischen Doxologie, dem Gloria patri. Im Erzbistum Trier hat man mit großer Wahrscheinlichkeit zu Yolandas Lebzeiten auch schon das Dreifaltigkeitsfest am Sonntag nach Pfingsten gefeiert. Zwar hat erst Papst Johannes XXII. (1316-1334) im Jahre 1334 das in Lüttich entstandene Fest in der gesamten lateinischen Kirche eingeführt. 4 Doch das Trinitätsfest war in Trier schon im 11. Jahrhundert bekannt. 5 Darüber hinaus sangen die Priester damals vielerorts an allen Sonntagen zwischen Pfingsten und dem 1. Advent anstelle der jeweiligen Sonntagsmesse die vom Volk hochgeschätzte Votivmesse „De sancta trinitate“ (Von der heiligen Dreifaltigkeit); die gewöhnliche Sonntagspräfation war die Dreifaltigkeitspräfation. Diese durchaus trinitarische Dimension der mittelalterlichen Frömmigkeit wird auch Yolandas religiöses Leben mitbestimmt haben. In der Yolanda-Dichtung tritt sie allerdings nicht hervor. Nur an einer Stelle nennt Bruder Hermann ausdrücklich den dreifaltigen Gott. Es geschieht dies in einem besonders bedeutsamen Zusammenhang, bei der Schilderung von Yolandas Einkleidung als Dominikanerin: Nach dem glücklichen Ausgang des harten und lange erfolglos scheinenden Kampfes um ihre Berufung und an der Schwelle eines fünfunddreißigjährigen Klosterlebens lädt der Dichter seine Zuhörer ein, Gott „in seiner hohen Trinität“ zu loben, weil er „so große Wunder“ an Yolanda getan hat (VV. 5842-5845). Der Anklang an den dritten Vers des Magnificats (Lk 1,46-55) ist nicht zu überhören. Dort wird „der Mächtige“ gelobt, weil er „Großes“ an Maria getan hat (Lk 1,49). Von Gott, dem einen und dreifaltigen, spricht der Dichter sonst nur noch am Anfang des Epos, 6 und zwar ebenfalls in einer Art, die an das Magnificat erinnert. 4 Vgl. A. Klaus OFM, Ursprung und Verbreitung der Dreifaltigkeitsmesse, Werl 1938, 108-129, bes. 127f.; P. Browe, Zur Geschichte des Dreifaltigkeitsfestes, in: ALW 1 (1950) 65-81. Ein großer Förderer des Festes war Erzbischof Thomas Becket (†1170); vgl. St. Langenbahn, Thomas von Canterbury und der Dreifaltigkeitssonntag, in: LJ 32 (1982) 124-128. In Lüttich ist das Fest bereits unter Bischof Stephan, der das Festoffizium geschaffen hat, gegen Ende des 9. Jahrunderts gefeiert worden; vgl. die Entkräftung der diesbezüglichen Zweifel von Browe durch: A. Kurzeja OSB, Der älteste Liber Ordinarius der Trierer Domkirche. London, Brit. Mus., Harley 2958, Anfang 14. Jh. (LQF 52), Münster 1970, 159f., Anm. 586. 5 Vgl. Kurzeja, Trierer Domkirche (wie Anm. 4), 160, Anm. 588. Zu dem auch im Erzbistum Trier bis in die nachtridentinische Zeit fortlebenden Brauch, die Dreifaltigkeitsmesse als Sonntagsmesse das Jahr über zu singen, vgl. A. Heinz, Trinitarische und österliche Aspekte der Sonntagsfrömmigkeit des Mittelalters. Zeugnisse aus Liturgie und volksfrommem Beten, in: A. M. Altermatt und Th. A. Schnitker (Hg.), Der Sonntag. Anspruch - Wirklichkeit - Gestalt (FS Jakob Baumgartner), Freiburg/ Schweiz - Würzburg 1986, 82-98, bes. 83-87. 6 Die Anfangszeilen (VV. 1-12) nennen Gott zwar nicht beim Namen, meinen aber zweifellos mit der angeredeten „wahren süßen Liebe (minne)“ die personale göttliche Liebe, den Heiligen Geist, den der Dichter bittet, mit seinem „Feuer“ (vgl. Apg 2,3) ihn zu entzünden und ihm bei seinem Vorhaben hilfreich beizustehen. Es handelt sich um eine Form der nach dem liturgischen Brauch der Zeit allen wichtigen Handlungen vorausgehenden „Invocatio Sancti Spiritus“, die am Ende der Einleitung nochmals in der Rede von der „Gnadengabe Gottes“ (V. 27) artikuliert wird. Außer den im Folgenden genannten Schriftbezügen klingt in Zeittypische Züge in der Frömmigkeit der seligen Yolanda von Vianden 179 Das biblische Leitmotiv, das der Priesterdichter dort anführt, dass nämlich Gott das Schwache in der Welt erwählt, um das Starke in die Schranken zu weisen (VV. 137-139), hat er näherhin dem ersten Korintherbrief entnommen (vgl. 1 Kor 1,27-29). Ein biblischer Gedanke ist auch die generelle Aussage, dass Gott den Guten Gutes gewährt (vgl. V. 117). Sie leitet über zur Schilderung der kostbaren Gottesgabe, die dem „guten“ Grafenpaar von Vianden (V. 118: „dy vrôiwe gut, der werde man“) zuteil wurde: Gott schenkte den beiden als jüngste Tochter ein „liebenswürdiges, gutes, züchtiges, reines, gütiges, engelschönes und überaus anmutiges Kind“ (VV. 132-135): Yolanda. Von Yolanda rühmt der Dichter, sie habe von frühester Kindheit an ihr Begehren auf Gott gerichtet und sich mit höchster Hingabe göttlichen Dingen zugewandt (VV. 158-162; 197-202). Nur in diesen wenigen, eher formelhaften Wendungen kommt der eine und dreifaltige Gott zur Sprache. Yolandas Frömmigkeit war also nicht trinitarisch akzentuiert. Der Gott ihres Herzens ist Christus. 2. Die Christusfrömmigkeit Yolandas Yolandas Frömmigkeit ist, nach allem, was wir darüber erfahren, entschieden christozentrisch. 7 Jesus Christus ist ihr ein und alles. Ihn hat sie sich von Kindesbeinen an als den Bräutigam ihres Herzens erwählt. Mit ewiger Liebe will sie ihm anhangen. Denn selbst der Tod kann ihr diesen göttlichen Schatz nicht entreißen. Auf dem Höhepunkt der höchst dramatisch geschilderten Eintrittsfeier Yolandas in Marienthal lässt der Dichter seine Heldin das Responsorium „Regnum mundi“ 8 aus der Professliturgie anstimmen. In diesem Gesang findet die Christusminne Yolandas ihren idealtypischen Ausdruck. Die „Gottesbraut“ im Sinne von Christusbraut legt in dieser geprägten, doch mit der ganzen Glut ihres Herzens erfüllten sakralen Formel gleichsam ihr Eheversprechen ab. Sie bekennt vor ihrer Mutter, den Dienstleuten und dem Konvent von Marienthal, dass alles, was die Welt ihr zu bieten vermag, ihr nichts bedeutet, weil ihr Herz allein Jesus Christus gehört und für immer gehören wird. Ihm, dem Himmelskönig, vertraut sie sich VV. 475-479 ein Bibelzitat an (Weish 11,20); vgl. Newton/ Lösel, Yolanda von Vianden (wie Anm. 1), 24. Bei seinem „Frauenlob“ am Ende der Dichtung (VV. 5924-5939) bezieht sich Bruder Hermann in V. 5936 auf Joh 2,4. 7 Vgl. A. Heinz, Das Yolanda-Epos (um 1290) als frömmigkeitsgeschichtliches Zeugnis, in: T. Berger - A. Gerhards (Hg.) Liturgie und Frauenfrage. Ein Beitrag zur Frauenforschung aus liturgiewissenschaftlicher Sicht (Pietas Liturgica 7), St. Ottilien 1990, 155-180; Nachdruck unter dem gleichen Titel, in: Hémecht 43 (1991) 209-231, hier bes. 219-224. Im Folgenden wird auf den Nachdruck in der Zeitschrift „Hémecht“ verwiesen. 8 Die lateinische Fassung lautet: Regnum mundi et omnem ornatum saeculi contempsi propter amorem Domini nostri Jesu Christi Quem vidi, quem amavi, quem credidi, quem dilexi. V. Eructavit cor meum verbum bonum, dico ego opera mea regi. V. Quem vidi …; vgl. Heinz, Zeugnis (wie Anm. 7), 218f. Die volkssprachliche Fassung von Bruder Hermann bleibt nahe am liturgischen Wortlaut: VV. 5825-5834. Liturgie und Gesellschaft 180 vorbehaltlos an, weil sie ihn von jeher geliebt hat und liebt „ze aller stunt“ (vgl. VV. 5825-5834). Die Christusverbundenheit Yolandas bleibt aber bei aller Tiefe und Beständigkeit von einer wohltuenden Nüchternheit. Mystische Erlebnisse, wie sie etwa von manchen süddeutschen Dominikanerinnen berichtet werden 9 , erfahren wir von ihr nicht. Sie sah das Jesuskind nicht in der bei der Wandlung erhobenen Hostie. Sie hat nicht in Visionen erlebt, wie ihr himmlischer Bräutigam sich selbst seiner Braut in der von ihm dargereichten Hostie mitteilte. Außergewöhnliche geistliche Erfahrungen rühmt ihr Biograph nicht an ihr. Wohl aber stellt er Yolanda als äußerst gewissenhafte, in jeder Hinsicht vorbildliche Ordensfrau heraus, die „mit Wachen, Fasten, Beten“ und in selbstgewählter Armut dem Freund ihrer Seele nachzufolgen suchte, entsprechend der Losung der Armutsbewegung ihrer Zeit: Arm dem armen Christus folgen! 10 Braut Christi ist das christologische Leitmotiv der Yolanda-Vita. 11 Dahinter treten andere Aspekte der Christusfrömmigkeit deutlich zurück, auch jene Züge, die als charakteristisch für die Zeit der Gotik gelten. Die Gotik sah mit neuen Augen Christus in seiner Menschlichkeit. Man wurde staunend inne, wie menschlich nah Gott den Menschen gekommen war. Er hatte sich so sehr herabgelassen, dass er auch in Leiden und Tod Gefährte seiner Menschenbrüder und -schwestern sein wollte. Als letzten Beweggrund dieser Kenose erkannte die Mystik die maßlose Menschenliebe Gottes. Ein Christusgebet, das aus der Zeit Yolandas stammt und bei den Zisterzienserinnen in St. Thomas an der Kyll um 1300 aufgezeichnet wurde, beginnt mit den Worten: „Herr, ich erinnere dich an die Liebe, die meiner gedachte, die dich vom Himmel zur Erde brachte.“ 12 Die weiteren „Erinnerungen“ gedenken der Liebe Christi, die ihn drängte, den Menschen zugute die Passion zu ertragen. Die Krippenfrömmigkeit und die Passionsfrömmigkeit blühten in der Gotik auf. Franz von Assisi (†1226) inszenierte bekanntlich in der Christnacht 1223 in einem Wäldchen bei Greccio das erste Krippenspiel. 13 Ein englischer Zisterzienser des 12. Jahrhunderts, Abt Aelred von 9 Vgl. H. Wilms OP, Das Beten der Mystikerinnen dargestellt nach den Chroniken der Dominikanerinnenklöster zu Adelhausen, Dießenhofen, Engeltal, Kirchberg, Ötenbach, Töß, Unterlinden und Weiler. Zweite, verbesserte und erweiterte Auflage, Freiburg i. Br. 1923; Ders., Das Tugendstreben der Mystikerinnen dargestellt nach alten Chroniken der deutschen Dominikanerinnen und nach den Aufzeichnungen begnadigter Nonnen des Mittelalters, Vechta 1927; über Yolanda vgl. ebd., 139f. 10 Vgl. Heinz, Zeugnis (wie Anm. 7), 225-228; ferner die in Anm. 3 genannten Arbeiten von M. Backes und Cath. Hollerich. 11 Vgl. Heinz, Zeugnis (wie Anm. 7), 214-219. 221. 12 Zitiert nach A. Heinz, Gebete aus St. Thomas. Geistliche Texte aus einer mittelalterlichen Zisterzienserinnenabtei des Trierer Landes. Zweite, verbesserte Auflage, Trier 1992, 103; Original mittelhochdeutsch; vgl. W. Jungandreas, Ein moselfränkisches Zisterzienserinnengebetbuch im Trierer Raum um 1300, in: AMRhKG 9 (1957) 195-213, hier 212. 13 Vgl. Th. von Celano, Erste Lebensbeschreibung, in: E. Grau (Hg.), Thomas von Celano. Leben und Wunder des heiligen Franziskus (FQS 5), Werl 5 1994; hier 1 Cel 84-87; vgl. die deutsche Übersetzung bei Th. Maas-Ewerd, „Schon leuchtet deine Krippe auf“. Die Feier der Geburt Jesu Christi und der weihnachtliche Festkreis in Liturgie und Brauchtum, St. Ottilien 2000, 171-173. Zeittypische Züge in der Frömmigkeit der seligen Yolanda von Vianden 181 Rievaulx (1110-1167), empfahl bezeichnenderweise einer Nonne als einzigen Bildschmuck ihrer Zelle eine Darstellung des leidenden Christus mit Maria und Johannes unter dem Kreuz. 14 Wenn wir nach dem Zeittypischen in Yolandas Christusfrömmigkeit fragen, finden wir, was das Inkarnationsmotiv betrifft, nur wenige Andeutungen. Das Motiv klingt leise an in Yolandas Gebet vor dem Hausaltar auf Burg Vianden (VV. 3969-3986): Niedergeschlagen wegen des Unverständnisses ihrer Familie gegenüber ihrer Berufung hat sie sich in ihre Kammer zurückgezogen und ist vor dem Wandaltar niedergekniet. Das Bild, zu dem sie aufblickte, dürfte kein anderes gewesen sein als jene Darstellung, die der erwähnte Zisterzienserabt einer Reklusin empfohlen hatte: der Gekreuzigte und Maria und Johannes als Compatientes, als „Mitleidende“, unter dem Kreuz. 15 Yolandas Gebet beginnt mit dem Gedanken an die Menschwerdung. Sie sagt sinngemäß: Gott-Vater, du hast dein eigenes Abbild den Menschen mitgeteilt und unsere Todesverfallenheit geheilt durch die Wunden deines Sohnes! 16 Bei der Formulierung „dînes selves bilde“ (V. 3970) steht zweifellos eine Bibelstelle im Hintergrund. Sie hat ihren liturgischen Ort in der Weihnachtsliturgie. Am Anfang des Hebräerbriefes (Hebr 1,3) - der Text ist bis heute die Epistel der dritten Weihnachtsmesse - wird Christus als das Abbild Gottes (des Vaters) bezeichnet. Diese Stelle ist, wenn ich recht sehe, die einzige, wo das Weihnachtsmysterium, dazu noch auffällig knapp, im „Yolanda-Epos“ zur Sprache kommt. Es stimmt zwar, dass Weihnachten neben Ostern (V. 4589: ôsterzit) und Allerheiligen (V. 5132) das einzige Kirchenfest ist, das in der ganzen Yolanda-Vita überhaupt erwähnt wird. Der Dichter nennt das Fest sowohl „wînahten“ (V. 5636) als auch mit dem schönen Namen, der bis heute in der moselfränkischen Umgangssprache weiterlebt: „Christedage“ (V. 5730; luxemburgisch: Chrëschdag). Aber vom Festinhalt ist an beiden Stellen nicht die Rede. Den Christtag erwähnt der Dichter lediglich als Ausgangspunkt der Zwölftagefrist 17 , an deren Ende der Drei- 14 Vgl. A. Wilmart, Prières de Compassion, in: Ders., Auteurs spirituels et textes dévots du moyen-âge latin, Paris 1971 (Nachdruck der Ausgabe 1932) 507. 15 Das Motiv findet in den Texten der etwa aus der Zeit Yolandas stammenden Gebetbuchhandschrift aus St. Thomas an der Kyll (vgl. oben Anm. 12) besondere Aufmerksamkeit; vgl. Heinz, Gebete (wie Anm. 12), 158-161. 16 Die von P. Grégoire (261) und Newton/ Lösel (123) vorgeschlagenen Übersetzungen treffen die theologische Aussage nur ungenau; die von mir in meinem in Anm. 7 angeführten Aufsatz versuchte Übertragung (220) verfehlt, wie ich jetzt sehe, den Sinn. Yolandas Gebet ist nicht „durchgehend ein Christusgebet“. Der erste Teil richtet sich vielmehr an Gott-Vater (VV. 3969-3974). Dieser wird daran erinnert, dass er das Abbild seiner selbst, also nach Hebr 1,2f. seinen eigenen Sohn, in der Inkarnation den Menschen hat zuteil werden lassen und durch die Passion seines Sohnes deren Todesverfallenheit aufgehoben (geheilet) hat. Diese anamnetische Anaklese bringt prägnant die beiden Schwerpunkte des durch Christus vollzogenen Heilswerkes ins Wort. Die Erwähnung des Sohnes (V. 3973: bit dines sunes wunden) führt dann aber bezeichnenderweise sofort zu einem Adressatenwechsel. Der Angeredete ist schon in der nächsten Zeile (V. 3974) Christus. 17 Der liturgische Festname „Epiphania Domini - Erscheinung des Herrn“ oder der volkstümliche Name „Dreikönigstag“ taucht nicht auf. Das Fest am 6. Januar nennt unser Dichter „den zwolften dach, als uns einsteit dy hogezît dy name Christes dage lit“ (V. 5728-5730). Als Liturgie und Gesellschaft 182 königstag liegt, der als Tag des Eintritts Yolandas in Marienthal einen herausragenden biografischen Stellenwert besitzt. Mit aller gebotenen Vorsicht darf man vielleicht noch an einer anderen Stelle einen weihnachtlichen Klang hören. Es war ja um Weihnachten, als nach dem frühen Tod des Erbgrafen Friedrich von Vianden am 10. November 1247 die Eltern Yolandas sich endlich durchrangen, der Berufung ihrer Tochter nicht länger im Wege zu stehen. Die Kammerfrau Heilewîf brachte Yolanda als erste die frohe Nachricht, dass sie nunmehr in Marienthal eintreten dürfe. Yolanda reagierte mit einem Freudenruf: „Gelovet sîs du, Jhesu Crist“ (V. 5508). Dieser Ruf ist wortwörtlich die Anfangszeile eines der ältesten deutschen Weihnachtslieder: „Gelobet seist du, Jesu Christ, der du Mensch geboren bist! “ Das Lied könnte durchaus schon im 13. Jahrhundert gesungen worden sein, auch wenn die älteste Quelle, ein Gebetbuch aus dem ehemaligen Zisterzienserinnenkloster Medingen bei Lüneburg, erst aus dem frühen 14. Jahrhundert stammt. 18 Sollte der Dichter als Antwort auf das „Weihnachtsgeschenk“ der elterlichen Zustimmung Yolanda die Anfangsworte eines Weihnachtsliedes in den Mund gelegt haben? Ein reizvoller, aber leider nicht zu beweisender Gedanke. Viel deutlicher sind die Spuren der Passionsfrömmigkeit in der Yolanda-Vita auszumachen. In Yolandas Gebet vor dem Hausaltar ist von den Wunden Christi die Rede. Die Bitte um seinen Beistand in ihrer „ängstlichen Not“ und ihrem „Kummer“ erwächst aus dem Gedächtnis an seine Todesnot (VV. 3974-3978). Am deutlichsten erkennen wir Yolandas Andacht zum leidenden Christus in ihrem Gespräch mit der Schwester des Kölner Erzbischofs, der nach Beginenart lebenden Gräfin von Hengebach. Diese war die einzige Frau in Yolandas Familienkreis, die von Anfang an ein gewisses Verständnis für ihre Berufung zeigte. Zu ihr spricht Yolanda von der sie berührenden Liebestat ihres Geliebten. Sie zählt die Ereignisse seiner Passion auf: wie er sich fangen und binden ließ, wie er misshandelt wurde und sein Blut vergoss, wie er das Leid der unter dem Kreuz stehenden Mutter ertrug, um sein Rettungswerk zu vollenden (VV. 3191-3207). Christus, der seiner Sendung treu blieb, ist für Yolanda ermutigendes Vorbild, allen Widerständen zum Trotz ihrer eigenen Berufung treu zu bleiben. In der leidvollen Auseinan- Abschlusstag der mit Weihnachten beginnenden Zwölfer hatte der Tag im Volksglauben einen besonderen Stellenwert. Die Volksfrömmigkeit prägte das Herrenfest um zum Tag der hl. Drei Könige, vor allem seit der Translation der angeblichen Drei-Königs-Reliquien von Mailand nach Köln im Jahre 1164. Der Adel fühlte sich den „Königen“ besonders verbunden; vgl. M. Zender, Räume und Schichten mittelalterlicher Heiligenverehrung in ihrer Bedeutung für die Volkskunde. Die Heiligen des mittleren Maaslandes und der Rheinlande in Kultgeschichte und Kultverbreitung. Zweite, erweiterte Auflage, Köln 1973, 202-208; N. Kyll, Dreikönigstag im Volksbrauch des Trierer Landes, in: Kurtrierisches Jahrbuch 12 (1972) 22-37. 18 Vgl. P. Nordhues - A. Wagner (Hg.), Redaktionsbericht zum Einheitsgesangbuch „Gotteslob“, Paderborn - Stuttgart 1988, 582f. Der früheste bisher bekannte Beleg findet sich in einer Medinger Hs. „vor 1340“ in Kopenhagen (Kgl. Bibl. G.K.S. 3451); vgl. W. Lipphardt, Deutsche Kirchenlieder in einem niedersächsischen Zisterzienserinnenkloster des Mittelalters, in: W. Blankenburg u. a. (Hg.), Kerygma und Melos (FS Christhard Mahrenholz), Kassel u. a. 1970, 310-318; Ders., Zwei neu aufgefundene Nonnengebetbücher aus der Lüneburger Heide als Quelle niederdeutscher Kirchenlieder des Mittelalters, in: JLH 14 (1969) 123-129. Zeittypische Züge in der Frömmigkeit der seligen Yolanda von Vianden 183 dersetzung mit ihrer Verwandtschaft, vor allem mit der eigenen Mutter, sucht und findet sie Trost im Gedanken an „die Pein und auch die Schmerzen, die Gott, (d. h. Christus) in seinem Herzen zur Zeit seiner Passion empfand.“ (VV. 2135-2137). Michèle Backes hat in ihrer Magisterarbeit über die religiöse Frauenbewegung zur Zeit Yolandas die Vermutung geäußert, der Dichter habe die Verspottung der Viandener Grafentochter durch die Dienstleute am Hof des Grafen von Luxemburg (VV. 2688-2707) bewusst in Anlehnung an die Verhöhnung des dornengekrönten Christus gestaltet. 19 In diesem Fall würde Yolanda eindrucksvoll als Gefährtin Christi in seiner Passion dem leidenden Erlöser an die Seite gestellt. Eine solche gewagte Parallelisierung dürfte meines Erachtens, trotz gewisser Anklänge an die biblische Verspottungsszene, tatsächlich nicht intendiert gewesen sein. Es gibt doch unübersehbare Unterschiede. So ist der Mantel Yolandas, an dem ein Knappe zerrt, kein ihr von den Spöttern umgeworfener Pupurmantel, sondern der schwarze Mantel des dominikanischen Ordenshabits. Der Kranz des Grafen, den ihr ein Knappe von hinten her auf den Kopf setzt und den Yolanda resolut ins offene Feuer wirft, ist doch wohl nicht als Anspielung auf die Dornenkrone gedacht. Es handelte sich in keinem Fall um die Grafenkrone. Es dürfte ein Laub- oder Blütenkranz gewesen sein. Ein solcher gehörte damals zur Festgarderobe einer Dame (hier hat der Name „Rosenkranz“ seinen Sitz im Leben), 20 wurde aber bei einem sommerlichen Festmahl auch von männlichen Tischgenossen aufgesetzt. 21 3. Die Heiligen in Yolandas Frömmigkeit Das Aufblühen der Heiligenverehrung gehört zu den typischen Zügen der vom Geist der Gotik geprägten Frömmigkeit. Erinnern wir uns, dass das 13. Jahrhundert das große Heiligenbuch des Mittelalters hervorgebracht hat: die „Legenda aurea“ des Dominikaners Jakobus de Voragine. Die Heiligen begannen, wie der Liturgiehistoriker Anton L. Mayer es treffend ausgedrückt hat, „in ungezählter Schar aus den Krypten und den Mensen aufzusteigen“; ihre „Bilder, von Meisterhand geschnitzt, (begannen) jetzt die Retabeln der gotischen Altäre zu füllen“ und ihre Feste erwarben sich im Offizium und in den Privatandachten immer größeren Raum. 22 Doch für Yolandas Frömmigkeit gilt dasselbe, was der Dominikanergelehrte Hieronymus Wilms über die frühen oberdeutschen Mystikerinnen diesbezüglich festgestellt hat. „Wenn wir von der Muttergottesverehrung absehen, bleibt der Heiligenverehrung in dem Gebetsleben der Schwestern ein fast verschwindend kleiner Platz. Nur wenige werden erwähnt und diese noch dazu selten und nicht immer in der Eigenschaft als Fürbitter.“ 23 19 Backes, Frauenbewegung (wie Anm. 3), 86. 20 Vgl. A. Heinz, Art. Rosenkranz, in: LThK 8 (Freiburg 3 1999), 1302-1305, bes. 1302. 21 Vgl. E. Vavra, Art. Kranz, in: LMA 5 (München-Zürich 1991) 1475. 22 A. L. Mayer, Die Liturgie in der europäischen Geistesgeschichte. Gesammelte Aufsätze. Hg. und eingeleitet von E. von Severus OSB, Darmstadt 1971, hier: Die Liturgie und der Geist der Gotik, 68-97. 88. 23 Wilms, Beten (wie Anm. 9), 102. Liturgie und Gesellschaft 184 Außer Maria werden in der Yolanda-Vita nur zwei Heilige erwähnt: Agnes und Katharina, die heilige Agnes einmal (V. 4255) und die heilige Katharina an zwei Stellen (VV. 2140 und 4257). Dabei ist es noch so, dass bei der zweiten Erwähnung, wo Agnes und Katharina zusammen genannt werden (VV. 4254-4263), nicht Yolanda an diese heiligen Frauen denkt. Vielmehr ist es der Dichter, dem sie in den Sinn kommen. Er vergleicht Yolandas Streit mit dem Kampf, den die heilige Agnes und die heilige Katharina in ihrem jeweiligen Martyrium zu bestehen hatten. Was das Mittelalter über den Kampf der beiden Blutzeuginnen zu erzählen wusste, können wir der „Legenda aurea“ entnehmen: Katharina 24 war von königlicher Herkunft. Als sie in Alexandria vor ihrem Richter stand, war sie erst 18 Jahre alt, etwa so alt wie Yolanda bei ihrem Klostereintritt. Neben Katharinas Gelehrsamkeit im Streit mit den heidnischen Philosophen wird das junge Mädchen vor allem gelobt, weil es seine Jungfräulichkeit bis in den Tod unversehrt bewahrte. Agnes 25 , ebenfalls von adeliger Abstammung, war 13 Jahre alt, als ein reicher Mann aus einer einflussreichen heidnischen Familie sie zur Frau begehrte. Agnes wehrte sich, denn sie hatte sich Christus zum Bräutigam erwählt; ihn zog sie jedem irdischen Bräutigam vor. Allem guten Zureden und aller gewaltsamen Zudringlichkeit widersetzte sie sich; sie verteidigte tapfer ihre Jungfräulichkeit um Christi willen. Ein Schwert durchbohrte schließlich dem standhaften Mädchen die Kehle. Bruder Hermann sah Parallelen zwischen dem Kampf der adeligen Jungfrauen Agnes und Katharina und dem Schicksal der wie diese blutjungen, aus adeligem Geschlecht stammenden Yolanda von Vianden. Ihm schien Yolandas Kampf sogar noch schwerer gewesen zu sein. Die Bewährungsprobe der beiden Blutzeuginnen dauerte nur kurz; ihr Kampf war an einem Tag überstanden. Yolanda musste dagegen viele Jahre lang kämpfen. Außerdem: Der Kampf der beiden heiligen Jungfrauen war eine Auseinandersetzung mit klaren Fronten. Sie kämpften gegen das Böse und die Gewalt ihrer Feinde. Yolanda wurde dagegen von den eigenen Verwandten in diesen Kampf verwickelt; sie musste mit blutendem Herzen sogar gegen die Mutter, die sie getragen hatte, kämpfen. Bei der ersten Erwähnung Katharinas (VV. 2139-2146) ist es Yolanda selbst, die an die etwa gleichaltrige heilige Katharina denkt. Sie kommt ihr in den Sinn, als die Mutter sie schlägt, an den Haaren packt und mit brachialer Gewalt den Nonnen von Marienthal entreißt. In dieser handgreiflichen Auseinandersetzung tröstet und stärkt Yolanda sich durch den Gedanken an die Schicksalsgemeinschaft mit der Heiligen. Wohlgemerkt: Yolanda betet nicht zur heiligen Katharina. Sie erfährt sie als solidarische Leidensgenossin. Als Fürsprecherin tritt St. Katharina nicht in Erscheinung. Die Hervorhebung der hl. Katharina passt gut in das dominikanische Milieu unserer Dichtung. Katharina wird von den Dominikanern als Ordenspatronin verehrt. Katharina war auch die namengebende Patronin der ältesten Domini- 24 Vgl. R. Benz (Hg.), Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine, Heidelberg 9 1979, 917-927. 25 Vgl. ebd., 132-137. Zeittypische Züge in der Frömmigkeit der seligen Yolanda von Vianden 185 kanerinnenniederlassung im alten Erzbistum Trier, des um 1221 von Straßburg aus gegründeten Klosters St. Katharinen in Trier. 26 Die Trierer Synode von 1227 schrieb das Katharinenfest am 25. November für die ganze Kirchenprovinz Trier vor. 27 Im Kalender des Trierer Erzbischofs Balduin von Luxemburg aus dem Jahre 1338 zählt das Fest zu den gebotenen Feiertagen. 28 4. Marienverehrung bei Yolanda von Vianden Zu Yolandas Lebzeiten wuchsen in Trier die Mauern der gotischen Liebfrauenkirche empor. Die damals neuen Orden, besonders die Zisterzienser, gingen mit ihrer Marienminne beispielgebend voran. 29 Die Bettelorden partizipierten an der hingebungsvollen Mariendevotion ihrer Zeit. Im Dominikanerorden wurde der Brauch, jeden Tag mit dem „Salve Regina“ (Sei gegrüßt, o Königin) zu beschließen, 1250 Gesetz. 30 Besonders in den Frauenkonventen war das abendliche „Salve“ ein emotionaler Höhepunkt. 31 Wir haben keinen Grund daran zu zweifeln, dass Yolanda in Marienthal jeden Abend mit ihren Mitschwestern das „Salve Regina“ sang. Ausdruck fand die Marienfrömmigkeit der Zeit auch in der häufigen Feier der „Missa de Beata“, der Votivmesse zu Ehren der Gottesmutter. 32 Als Yolanda zum ersten Mal mit ihrer Mutter nach Marienthal kam und sich dort ohne deren Wissen und Willen einkleiden ließ, ging sie sogleich mit den Nonnen in den Chor. Die Messe wurde gefeiert. Welche Messe sang der Konvent? Die Messe Unserer Lieben Frau! (V. 2377). Der Dichter teilt seinen Lesern darüber hinaus den in seinen Augen wunderbaren Umstand mit, dass Yolanda, obwohl sie mit den Gesängen der Klosterliturgie noch nicht vertraut war, spontan mitgesungen habe (VV. 2378- 26 Vgl. J. Marx, Geschichte des Erzstifts Trier II/ 2, Trier 1862, 458-460. 27 Vgl. J. J. Blattau, Statuta Synodalia, ordinationes et mandata archidioecesis Trevirensis, 9 Bde., hier Bd. 1 (Trier 1844), 20. Der Zeitpunkt der Synode ist umstritten; sie dürfte tatsächlich erst gegen Ende des 13. Jahrhunderts stattgefunden haben. 28 Vgl. Kurzeja, Trierer Domkirche (wie Anm. 4), 210. [A. Heinz, Balduin von Luxemburg - Erzbischof von Trier, in: Balduin aus dem Hause Luxemburg. Erzbischof und Kurfürst von Trier, hg. von den Bistümern Luxemburg und Trier. Redaktion V. Wagner und B. Schmitt, Luxemburg 2009, 11-85, hier 61f.] 29 Ein etwa mit Yolanda zeitgleiches Zeugnis aus der Region ist das Zisterzienserinnengebetbuch aus St. Thomas an der Kyll; vgl. A. Heinz, Zeugnisse zisterziensischer Marienfrömmigkeit in einer Gebetbuchhandschrift aus St. Thomas (um 1300), in: St. Thomas an der Kyll. Geist und Zeit. Beiträge zu der Geschichte der ehemaligen Zisterzienserinnenabtei. Hg. vom Bischöflichen Priesterhaus St. Thomas, Trier 1980, 109-156. 30 Beschluss des Generalkapitels von Limoges 1250; vgl. A. Heinz, Die marianischen Schlußantiphonen im Stundengebet, in: M. Klöckener - H. Rennings (Hg.), Lebendiges Stundengebet (FS Lucas Brinkhoff OFM), Freiburg-Basel-Wien 1969, 342-367, hier 344. 31 Vgl. Wilms, Beten (wie Anm. 9), 27. 32 Vgl. St. Beissel, Geschichte der Verehrung Marias in Deutschland während des Mittelalters, Darmstadt 1972, 271f.; 317f. Eine aus der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts stammende Beschreibung der dominikanischen Konventmesse hat bezeichnenderweise als Mustertexte des Propriums die Missa de Beata „Salve sancta parens“ gewählt; vgl. W. Legg (Hg.), Tracts on the mass (HBS 27), London 1904, 73-96, hier 75. Liturgie und Gesellschaft 186 2384). Wahrscheinlich hatte sie die Gesänge der Marienmesse doch im Ohr, denn diese waren zweifellos auch in der Burgkapelle von Vianden sehr häufig zu hören. Neben diesen spärlichen Hinweisen auf liturgische Formen der Marienfrömmigkeit finden wir in unserer Dichtung erwartungsgemäß auch Spuren privater Marienverehrung. Sie sind allerdings nicht sehr zahlreich. Insgesamt wird Maria acht Mal genannt. 33 Die „Mutter Gottes“ erscheint immer in engster Verbindung mit ihrem Sohn. Bruder Hermann spricht geradezu formelhaft von „Gott und seiner Mutter“. 34 Nach der Feststellung des Konzils von Ephesus (431) darf Maria, weil sie den Sohn Gottes geboren hat, zutreffend „Mutter Gottes“ genannt werden. 35 Um nicht den falschen Eindruck zu erwecken, Maria sei Mutter der Trinität, achten Theologie und Liturgie allerdings auf eine präzise Ausdrucksweise. Sie sprechen von Maria als der Mutter des Sohnes (! ) Gottes, der zweiten Person der Dreifaltigkeit. Die missverständliche Redeweise von „Gott und seiner Mutter“ war allerdings im 13. Jahrhundert weit verbreitet. 36 Yolanda sieht „Gott und seine Mutter“, also Christus und Maria, immer zusammen. Yolandas Lebensweihe gilt, wie sie dem Dominikanerprior Walter von Meisenburg gleich in der ersten vertraulichen Aussprache anvertraut, „Gott und seiner Mutter“ (VV. 593-596); ihnen gehört ihr Herz; ihre Dienerin will sie sein (VV. 929-935). Auch in dem entscheidenden Gespräch der jungen Grafentochter mit dem großen „Lesemeister“, dem Theologen Albert dem Großen (†1280), auf Burg Schönecken in der Eifel, 37 fasst Yolanda die Antwort auf ihre Berufung in die Worte: „Ich habe Leib und Leben Gott und der lieben Mutter sein aus freiem Willen in St. Mariental übergeben! “ (VV. 3286-3291). Die gleiche Dedikationsformel kehrt wieder in der bewegenden Opferszene, die sich in der Burgkapelle von Vianden am Vorabend des Dreikönigsfestes 1248 abgespielt hat: Nach Überwindung aller äußeren und inneren Widerstände nehmen Graf Heinrich I. von Vianden und seine Gemahlin Margarete von Courtenay ihre Tochter bei der Hand und führen sie vor den Altar. Sie bringen das Kostbarste und Liebste, was sie haben, zum Opfer. Sie schenken ihr Kind „dem herre“ und seiner „werden muder“ (VV. 5680-5681). Dass die Weihegabe bei Anbruch des Epiphaniefestes übergeben wurde, weckt natürlich die Assoziation zum Festinhalt. 38 Analog zu der Gabendarbringung der „heiligen drei Könige“ (vgl. Mt 2,11) ereignete sich in der Burgkapelle von Vianden abermals eine königliche Huldigung an den Herrn und seine Mutter. Yolanda ist dabei die Dreikönigsgabe der hohen Offerenten. Die Empfänger sind, wie in der Magierperikope, Christus und seine 33 VV. 595. 935. 1041. 1987. 3204. 3289. 5682f. 5936. 34 Vgl. ebd. 35 DH 251. 36 Die Gesta Treverorum (vgl. unten Anm. 41) berichten z. B. von dem Trierer Erzbischof Arnold II., er habe nach der Erorberung der Burg Thurand „dem Herrgott und der heiligen Jungfrau, seiner Mutter“, gedankt; vgl. Zenz, Taten 3 (vgl. unten Anm. 41), 64. 37 Vgl. A. Steffen, Zum Aufenthalt des hl. Albertus Magnus auf der Viandener Grafenburg Schoenecken, in: Ons Hémecht 38 (1932) 1-11. [A. Heinz, Albert der Große und Jolanda von Vianden auf Burg Schönecken. Die denkwürdige Begegnung eines Heiligen mit einer Seligen, in: Heimatkalender des Kreises Bitburg-Prüm 1993, 183-188.] 38 Vgl. oben Anm. 17. Zeittypische Züge in der Frömmigkeit der seligen Yolanda von Vianden 187 Mutter. Bruder Hermann, der diese Dedikation meisterhaft inszeniert hat, legt dem Grafenpaar ein Gebet in den Mund, das diese für die Marienfrömmigkeit der Yolanda-Dichtung charakteristische Zusammenschau der Mutter und des Sohnes bestens illustriert (VV. 5671-5682). Es beginnt mit der Anrede: „Got, herre, vader milde“. Der Angeredete ist aber nicht Gott-Vater, sondern Christus. Zu seinem Altar bringen Graf und Gräfin ihr überaus wertvolles Opfer: die eigene geliebte Tochter. Ihr Gebet schließt mit der Bitte, diese Opfergabe möge dem „Herrn“ und seiner „lieben Mutter“ wohlgefällig sein. 39 Überschwängliches Marienlob wird man im „Yolanda-Epos“ vergeblich suchen. Maria wird, theologisch korrekt, nicht isoliert gesehen, sondern als Mutter Gottes in engster Verbundenheit mit ihrem göttlichen Sohn. Neben dem Himmelskönig thront sie als Himmelskönigin. Yolanda erinnert sich aber auch der Verbundenheit beider in der Passion. Sie denkt an die Compassio (Mitleiden) der Mutter, die betrübt unter dem Kreuz des Sohnes stand. Wir finden hier ein frühes Zeugnis für die im Spätmittelalter so volkstümlich gewordene Verehrung der Schmerzen Mariens. 40 Doch festzuhalten bleibt, dass dieses biblische Motiv (Joh 19,25-27) im „Yolanda-Epos“ nicht marianisch, sondern christologisch akzentuiert erscheint: Yolanda macht sich daran klar, wie groß die Menschenliebe Christi war, der sich selbst durch das ihm zu Herzen gehende Mitleid seiner Mutter nicht davon abhalten ließ, „den Tod für uns zu erleiden“ (VV. 3204-3207). 5. Kirche und Sakramente Insofern die Kirche das Wort Gottes verkündigt und die Sakramente feiert, kann nach katholischem Selbstverständnis niemand an der Kirche vorbei sein Christsein leben. Wie kirchlich ist Yolandas Frömmigkeit? Die Frage gewinnt an Brisanz, wenn man sich die ausgeprägte Aversion gegen die Institution Kirche in den schwärmerischen Reformbewegungen des 12. und 13. Jahrhunderts vor Augen hält. In den Gesta Treverorum 41 berichtet der Chronist aus der Amtszeit des Trierer Erzbischofs Theoderich von Wied (1212-1242), einem Zeitgenossen Yolandas von Vianden, in Trier habe es drei geheime Ketzergemeinden gegeben. 42 Als Kennzeichen derartiger Gruppen hebt er die intensive Beschäftigung mit der ins Deutsche übersetzten Bibel hervor, die damit auch Laien 39 Die Ausdrucksweise des Priesterdichters Hermann erinnert an dieser Stelle an ein Offertorialgebet des damaligen Messritus, das er möglicherweise im Sinn hatte. Nach Trierer Bistumsbrauch betete der Priester beim Niederstellen des Kelches auf das Corporale: Acceptum sit domino deo sacrificium istud altari suo suprapositum. Vgl. A. Heinz, Der Ordo Missae im „Reisemissale“ des Trierer Erzbischofs Balduin von Luxemburg (1308-1354), in: H.-W. Storck u. a. (Hg.), Ars et Ecclesia (FS Franz J. Ronig), Trier 1989, 217-233, hier 225. 40 Vgl. A. Wilmart, Prières de Compassion, in: Ders., Auteurs spirituels et textes dévots du moyen-âge latin, Paris 1971 (Nachdruck der Ausgabe 1932), 505-536; A. Franz, Die Messe im deutschen Mittelalter, Freiburg i. Br. 1902 (Nachdruck Darmstadt 1963), 162-168. 41 Wir verweisen auf die Edition der Quelle in den Monumenta Germaniae Historica, Scriptorum, Bd. 24, Hannover 1879 (MG SS 24) und die (gekürzte) deutsche Übersetzung von E. Zenz, Die Taten der Trierer, Bd. 3 (Trier 1959) und Bd. 4 (Trier 1960). 42 Gesta Trev., c. 104: MG SS 24, 400f.; Zenz, Taten 3 (wie Anm. 41), 53f. Liturgie und Gesellschaft 188 direkt zugänglich wurde. Er erwähnt ferner ihren Anti-Sakramentalismus: Manche Sektierer wiederholten die von der Kirche gespendete Taufe, die sie offenbar als wirkungslos ansahen. Andere glaubten nicht an die wirkliche Gegenwart Christi in der Eucharistie. Wieder andere waren überzeugt, dass die Sakramente nur von reinen Priestern gültig gefeiert werden könnten. Andere leugneten die Notwendigkeit der Priesterweihe; nach ihnen konnten Männer und Frauen unterschiedslos Abendmahl feiern. Firmung und Krankensalbung galten als überflüssig. Die Feste und Fasttage waren ihnen gleichgültig. Die Fürbitte der Kirche für die Verstorbenen erschien ihnen nutzlos. Hier wurde die hierarchisch verfasste Kirche als solche radikal in Frage gestellt. Es lag nicht zuletzt an den damaligen desolaten kirchlichen Zuständen, dass solche extremen Anschauungen überhaupt aufkommen konnten. Die Trierer Erzbischöfe, die während Yolandas Klosterjahren amtierten, Arnold II. von Isenburg (1242-1259) und Heinrich II. von Finstingen (1260-1286), betätigten sich vornehmlich als politisierende und kriegerische Territorialherren. 43 Von einer geistlichen Tätigkeit als Bischöfe der Trierer Ortskirche ist von ihnen wenig bekannt. Der auf Burg Malberg bei Kyllburg geborene Heinrich von Finstingen 44 war zudem über Jahre hin wegen Amtsanmaßung und Verschleuderung von Kirchengütern von Papst Urban IV. (1261-1264) exkommuniziert und von dessen Nachfolger Klemens IV. (1265-1268) im Jahre 1267 als Erzbischof von Trier für abgesetzt erklärt worden. Die Trierer Abteien St. Matthias und St. Marien prozessierten an der Kurie gegen ihn. In den Gesta Treverorum wird er als Feind der Orden charakterisiert. In St. Matthias hatte Heinrich von Finstingen 1267 einen seiner Parteigänger, den Maximiner Mönch Wilhelm von Meisenburg, eigenmächtig als Abt eingesetzt. Die Inbesitznahme der Abtei besorgte mit brachialer Gewalt ein Vetter des illegalen Abtes, der adelige Herr Walter von Meisenburg. Als die wehrlosen Mattheiser Mönche sich in den Chor der Klosterkirche flüchteten und protestierend die Antiphon „Media vita in morte sumus“ (Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen) anstimmten, wurden sie von den Eindringlingen aus dem Gewölbe mit Steinen beworfen. 45 Der illegale Abt begann sein Regiment mit einem Festgelage, zu dem seine Schwester, die Äbtissin des Trierer Frauenklosters Oeren-St. Irminen, 46 samt dem ganzen Konvent der schwarzen Nonnen zum Tanzen erschien. Der Papst exkommunizierte den Pseudo-Abt. Als dieser sich nicht mehr halten konnte, ließ er die Reliquien und Pretiosen der Abtei auf die Meisenburger Burgen im Luxemburgischen verbringen, hauptsächlich auf Burg Falkenstein an der Our. 43 Vgl. G. Kentenich, Geschichte der Stadt Trier, Trier 1915 (Nachdruck Trier 1979), 157-164. 195-198; F. Pauly, Aus der Geschichte des Bistums Trier. Zweiter Teil: Die Bischöfe bis zum Ende des Mittelalters (Veröffentlichungen des Bistumsarchivs Trier 18), Trier 1969, 96-103. 44 MG SS 24, 414-488; Zenz, Taten 4 (wie Anm. 41), 13-84; vgl. M. Pundt, Die Schöffenoligarchie unter Heinrich von Finstingen und Boemund von Warsberg, in: H. H. Anton, A. Haverkamp (Hg.), Trier im Mittelalter (2000 Jahre Trier, Bd. 2), Trier 1996, 282-286. 45 Vgl. Zenz, Taten 4 (wie Anm. 41), 36f. 46 Vgl. ebd., 38. Zeittypische Züge in der Frömmigkeit der seligen Yolanda von Vianden 189 Graf Heinrich V., der Blonde, von Luxemburg (1247-1281), erhielt vom Papst den heiklen Auftrag, dem rechtmäßigen Abt von St. Matthias wieder zu seinem Amt zu verhelfen und die Herausgabe der Mattheiser Reliquienschätze zu erzwingen. 47 Die Trierer Ortskirche und ihre Repräsentanten werden in der Yolanda-Dichtung mit Stillschweigen übergangen. Einzig in der Person des Kölner Erzbischofs Konrad von Hochstaden (1238-1261) lässt der Dichter einen Vertreter der „Amtskirche“ auftreten. 48 Doch das geschieht nur, weil dieser Kirchenfürst wegen seiner verwandtschaftlichen Beziehungen zum Viandener Grafenhaus mit Yolandas Fall unmittelbar befasst wurde. Er erscheint zudem in wenig vorteilhaftem Licht. 49 Was ist mit dem Papst? In der Yolanda-Vita wird der Papst nur an einer einzigen Stelle erwähnt. Es ist der Dominikanertheologe Albertus Magnus (†1280), der im Gespräch mit Yolanda auf Burg Schönecken den Papst ins Spiel bringt (vgl. VV. 3310-3314). Aber nicht einmal sein Name wird genannt, obwohl es sich um Innozenz IV. (1243-1254) gehandelt haben muss, also jenen Papst, der das Kloster Marienthal dem Dominikanerorden inkorporiert hat. Bezeichnenderweise erscheint das Papsttum bloß als anonyme Appelations- und Dispenzinstanz. Die Antwort Yolandas auf Alberts Angebot, ihr rasch römische Dispens von ihrem Gelübde zu besorgen, beantwortete diese in einer Weise, die eine kritische Distanz zum päpstlichen Dispenswesen erkennen lässt. Yolanda betonte, dass auch der Papst ihre Gewissensentscheidung respektieren müsse und dass seine Lösegewalt nicht so weit gehe, sie gegen ihren Willen von einem Gott gegebenen Versprechen lossprechen zu können (VV. 3321-3329). Auch die unterste institutionelle Ebene von Kirche, die Pfarrei, bleibt ausgeblendet. Dabei war der mittelalterliche Christ fest eingebunden in das gottesdienstliche und sakramentale Leben seiner Territorialpfarrei. Es galt der Pfarrzwang. Nur in der eigenen Pfarrkirche konnte man die Sonntagsmesse mitfeiern. Alle Sakramente musste man vom eigenen Pfarrer erbitten. Insbesondere galt das für die Osterbeichte und -kommunion. 50 Doch selbst bei der Schilderung von Yolandas Osterbeichte und -kommunion (VV. 4589-4694) tritt der Pfarrklerus nicht in Erscheinung. Als Seelsorger begegnen uns ausschließlich Angehörige der Bettelorden, Franziskaner und vor allem Dominikaner. Während die Dominikaner in unserer Dichtung eindeutig die Sympathieträger sind, werden die Franziskaner als Parteigänger der Familienpolitik vorgeführt. 51 Wegen ihrer Auflehnung gegen die Eltern 47 Vgl. ebd., 62f. 48 Konrad von Hochstaden, der als Erzbischof von Köln (1238-1261) am 15. August 1248 den Grundstein zum Bau des heutigen Kölner Doms gelegt hat, war Yolandas Vetter; vgl. zu Yolandas familiären Verbindungen zu hohen weltlichen und geistlichen Würdenträgern Grégoire, Yolanda (wie Anm. 1), 81-92; Heinz, Zeugnis (wie Anm. 7), 210-212. 49 Vgl. Hollerich, Fiktion (wie Anm. 3), 49-52. 50 Vgl. zur mittelalterlichen Praxis etwa Franz, Die Messe (wie Anm. 40), 15-17; Ed. Hegel, Pfarrseelsorge im deutschen Spätmittelalter: TThZ 57 (1948) 207-220; zum lange nachwirkenden Pfarrbann im Trierischen vgl. A. Heinz, Die sonn- und feiertägliche Pfarrmesse im Landkapitel Bitburg-Kyllburg der alten Erzdiözese Trier (TThSt 34), Trier 1978, 31-67. 51 Vgl. Hollerich, Fiktion (wie Anm. 3), 43-47. Liturgie und Gesellschaft 190 verweigert beispielsweise ein Franziskaner Yolanda die Lossprechung (V. 4652. 4674f.) Der spektakuläre Fall der Yolanda verweigerten Absolution in ihrer Osterbeichte und der trotzdem danach empfangenen Osterkommunion ist die einzige Stelle ihrer langen, bewegten Lebensgeschichte, an der vom Sakramentenempfang Yolandas überhaupt die Rede ist. Es handelte sich näherhin um Yolandas österliche Pflichtkommunion, wie sie das Vierte Laterankonzil 1215 vorgeschrieben hatte. 52 Die Intention dabei war, angesichts der damals äußerst geringen Kommunionhäufigkeit wenigstens ein Minimum sicherzustellen: Jeder Christ musste fortan wenigstens ein Mal im Jahr kommunizieren, und zwar an Ostern. Yolanda ging, diesem Kirchengebot entsprechend, nach Erreichen des Unterscheidungsalters an jedem Osterfest „zu Gottes Tisch“ (V. 4599). Kommunizierte sie auch noch an anderen Tagen? Wir wissen es nicht. Nach damaligem Trierer Bistumsbrauch waren Weihnachten und Pfingsten weitere allgemeine Kommuniontage. An diesen Festen wurde höchstwahrscheinlich auch in der Burgkapelle von Vianden die Kommunion ausgeteilt. 53 Keinesfalls aber dürfen wir annehmen, dass Yolanda beim Besuch der Messe, den ihr Biograph gelegentlich erwähnt, auch jedes Mal kommuniziert hätte. Die Eucharistiefrömmigkeit bestand zu Yolandas Zeit vor allem in dem, was man „le désir de voir l’hostie“ genannt hat. 54 Wenn der Priester bei der Wandlung die Hostie hoch erhob (diese Gebärde war zu Beginn des 13. Jahrhunderts in Paris aufgekommen), drängte es die Messbesucher, den Fronleichnam anzuschauen und anzubeten. Davon erwartete man sich den reichsten Segen. Der optische Kontakt, die „heilbringende Schau“ (I. Herwegen), wurde zum Kommunionersatz. Das Fronleichnamsfest ist ein Kind dieser mittelalterlichen Eucharistiefrömmigkeit. Als Priorin hat Yolanda bald nach 1264 55 das im nahen Lüttich 1246 zuerst gefeierte Sakramentsfest in Marienthal eingeführt, lange bevor Fronleichnam im Dom zu Trier gefeiert wurde und 1338 unter Balduin von Luxemburg zum Bistumsfest aufstieg. 56 Der wirkliche Kommunionempfang blieb auch in den Klöstern selten. Die Dominikanerinnen in Marienthal werden nur an den höchsten Festen kommu- 52 DH 812; vgl. P. Browe, Die Pflichtkommunion im Mittelalter, Münster 1940. 53 So die Trierer Synode von 1310 unter Balduin von Luxemburg; vgl. Blattau, Statuta Synodalia (wie Anm. 27), 1, 111; vgl. Heinz, Pfarrmesse (Anm. 50), 371f. 54 Vgl. die diesen Titel tragende einschlägige Untersuchung von E. Dumoutet, Le désir de voir l’Hostie et les origines de la dévotion au Saint-Sacrement, Paris 1926. Den heutigen Stand der Forschung fasst zusammen: O. Nußbaum, Die Aufbewahrung der Eucharistie (Theophaneia 29), Bonn 1979, 125-139. Zur Bedeutung der Elevation in der Messfrömmigkeit der Dominikanerinnen vgl. Wilms, Beten (wie Anm. 9), 120-123. 55 In jenem Jahr schrieb Papst Urban IV., vordem Archidiakon in Lüttich, die Feier des neuen Festes in der ganzen lateinischen Kirche vor; vgl. A. Heinz, Art. Fronleichnam, in: LThK 4 (Freiburg 3 1995), 172-174. Ein im Auftrag der Marienthaler Priorin Yolanda 1269 geschriebener, heute in der Königlichen Bibliothek in Brüssel aufbewahrter Codex enthält bereits die Texte des römischen Fronleichnamsoffiziums; vgl. Heinz, Zeugnis (wie Anm. 7), 223, Anm. 34. 56 Vgl. Kurzeja, Trierer Domkirche (wie Anm. 5), 287f. Zeittypische Züge in der Frömmigkeit der seligen Yolanda von Vianden 191 niziert haben. 57 Was Yolanda dieses seltene Ereignis bedeutete, lässt der Dichter bei der Schilderung ihrer Osterkommunion durchblicken. Diese war für Yolanda wahrhaftig mehr als eine Pflichtübung. Die Kommunion erlebte sie als beseligende Vereinigung mit ihrem himmlischen Bräutigam (vgl. VV. 4688-4694). Yolandas Kommunion-Erlebnis wird vom Dichter ihrer Vita geschildert als innige Begegnung der Einzelseele mit ihrem Gott. Die Braut Christi erfährt das Glück der Vereinigung mit ihrem göttlichen Bräutigam. Dass das Kommunizieren auch Vernetzung mit den anderen Gliedern des Leibes Christi bedeutet, Vernetzung im Raum der Kirche, kommt dagegen nicht in den Blick. Die Kirche als Institution, als korporative Wirklichkeit und als Heilsgemeinschaft ist in der Yolanda-Vita kein Thema. Auch das Kirchenjahr und die liturgischen Selbstvollzüge der Kirche spielen keine erkennbare Rolle. Im Zentrum steht die Geschichte einer Seele mit ihrem Gott, die Gewissensentscheidung einer jungen, selbstbewussten Frau gegen korporative Zwänge und herkömmliche Einbindungen. Das Individuelle hat Vorrang vor dem Ekklesialen. Der Liturgiehistoriker Anton L. Mayer hat diesbezüglich von der „Verpersönlichung des Gebetslebens“ 58 gesprochen. Yolanda ist in diesem Sinn zweifellos eine zeittypische Gestalt; in ihrer Zeit war sie so etwas wie eine moderne Heilige. 57 Im Vergleich zu den „schwarzen“ und „grauen Nonnen“, Benediktinerinnen und Zisterzienserinnen, pflegten die Dominikanerinnen relativ häufig zu kommunizieren, aber kaum öfter als ein Mal im Monat; vgl. P. Browe, Die häufige Kommunion im Mittelalter, Münster 1938, 92f. 58 Mayer, Liturgie (wie Anm. 22), 85. 10 Der Dienst der Glocke im Licht des mittelalterlichen Ritus der Glockenweihe Keine Glocke erklingt vom Kirchturm, die nicht für ihren Dienst geweiht worden ist. Für ihre Indienstnahme haben sich im Frühmittelalter im spanisch-gallischen Raum unterschiedliche liturgische Ordnungen herausgebildet. Die Zukunft sollte jenem Ritus gehören, der im Frankenreich erstmals in Sakramentarhandschriften des ausgehenden achten Jahrhunderts auftaucht und spätestens um die Jahrtausendwende auch in Rom rezipiert wurde. Mit erstaunlicher Konsistenz hat sich diese „fränkische“ Form der Glockenweihe bis zur Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) im Wesentlichen unverändert behaupten können. 1 Erst 1984 trat in der römischen Kirche ein neuer „Ordo benedictionis campanae“ in Kraft, der mit dem mittelalterlichen Vorgängerritus so gut wie nichts mehr gemeinsam hat. 2 [Erstveröffentlichung: Die Bedeutung der Glocke im Licht des mittelalterlichen Ritus der Glockenweihe, in: Information, Kommunikation und Selbstdarstellung in mittelalterlichen Gemeinden. Hg. von A. Haverkamp (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 40), München 1998, 41-69. Erweiterte Fassung der im Rahmen eines von Professor Dr. Alfred Haverkamp geleiteten Kolloquiums des Historischen Kollegs München (10.-13. Juli 1995) gehaltenen Gastvorlesung.] 1 Pontificale Romanum Summorum Pontificum jussu editum a Benedicto XIV. et Leone XIII. Pont. Max. recognitum et castigatum. Pars I et II, Ratisbonae, Neo Eboraci et Cincinatii 1888, II, 191-205 (De benedictione signi vel campanae). Die römische Neuausgabe des Pontifikale von 1961/ 62 brachte hinsichtlich der überkommenen Feiergestalt nur unwesentliche Kürzungen (vgl. Pars II, 85-59: Ordo ad campanam consecrandam). Vgl. dazu H. Otte, Glockenkunde, Leipzig 2 1884, 16-27; V. Thalhofer, Handbuch der katholischen Liturgik, 2 Bde., Freiburg 1912, II, 502-505; L. Eisenhofer, Handbuch der katholischen Liturgik, 2 Bde., Freiburg 1932/ 33, II, 471-475; S. Benz, Art. Glockenweihe, in: LThK 4 (Freiburg 2 1960), 966. 2 Rituale Romanum ex decreto Sacrosancti Oecumenici Concilii Vaticani II instauratum auctoritate Ioannis Pauli II promulgatum. De Benedictionibus. Editio typica, Typis polyglottis Vaticanis 1984, Nr. 1032-1051, 395-402 (Ordo benedictionis campanae). Zum Verlauf der Feier vgl. auch Caeremoniale Episcoporum ex decreto Sacrosancti Oecumenici Concilii Vaticani II instauratum auctoritate Joannis Pauli II promulgatum. Editio typica, Typis polyglottis Vaticanis 1984, Nr. 1023-1032. Für das deutsche Sprachgebiet hatten die zuständigen Bischöfe schon 1978 einen vorläufigen reformierten Ritus der Glockenweihe eingeführt; das Formular in: Benediktionale. Studienausgabe für die katholischen Bistümer des deutschen Sprachgebietes, Freiburg i. Br. 1978, Nr. 31, S. 160-166. Vgl. dazu G. Fuchs, Läuten als Liturgie. Zum neuen Ritus der Glockenweihe, in: HlD 40 (1986) 98-105; Ders., Geweihte Glocken, in: A. Heinz, H. Rennings (Hg.), Heute segnen. Werkbuch zum Benediktionale, Freiburg-Basel-Wien 1987, 367-373; Ders., Art. Glockenweihe, in: LThK 4 (Freiburg 3 1995), 750f. Der Dienst der Glocke im Licht des mittelalterlichen Ritus 193 Die im fränkischen Norden beheimatete „Benedictio signi vel campane“ 3 besaß im Hoch- und Spätmittelalter in der lateinischen Kirche faktisch Alleingültigkeit, sodass von ihr vereinfachend als „dem mittelalterlichen Ritus der Glockenweihe“ gesprochen werden kann. Doch darf nicht außer Acht bleiben, dass es daneben ein wahrscheinlich älteres, mozarabisches Formular gab. Ihm soll zunächst unsere Aufmerksamkeit gelten. 1. Der mozarabische Ritus der Glockenweihe 1.1 Generelle Vorbemerkungen Als „mozarabisch“ oder „altspanisch“ bezeichnet man jene in lateinischer Sprache gefeierte Liturgie, die einmal die Eigenliturgie der westgotischen Kirche in Spanien war. 4 Ursprünglich arianisch, bekannte sich diese Landeskirche seit dem Reichskonzil von Toledo im Jahre 589 zum Katholizismus. Ihrer liturgischen Eigenständigkeit tat dies keinen Abbruch. Der altspanische Ritus erlebte im siebten Jahrhundert seine Blütezeit. Auch als die Araber 711 die Iberische Halbinsel besetzten, blieb das gottesdienstliche Leben dort weitgehend intakt. Die Mozaraber, d. h. die unter arabischer Herrschaft lebenden Christen Spaniens, bewahrten ihre kirchlichen Strukturen. Sie waren in drei Kirchenprovinzen und 29 Bistümern organisiert. 5 Abgesehen von einigen vorübergehenden lokalen Verfolgungen blieb ihre religiöse Praxis unter der toleranten islamischen Herrschaft ungestört. Paradoxerweise kam das Ende der mozarabischen Sonderliturgie ausgerechnet mit der Reconquista im 11. Jahrhundert. 1085 fiel Toledo. In den befreiten, nunmehr wieder unter katholischer Herrschaft stehenden Gebieten wurde die altspanische Liturgie konsequent durch die römische Einheitsliturgie abgelöst. Darauf hatte besonders Papst Gregor VII. (1073-1085) gedrängt. 6 Ganz auf der Linie seines nachdrücklich verfochtenen Primatsanspruchs betrachtete er die Liturgie Roms gleichsam als katholische Welteinheitsliturgie, der abweichende regionale Gewohnheiten weichen mussten. Es waren nur mehr wenige Kirchen in Toledo, in denen der alt- 3 Seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert hat sich als Titel des Formulars durchgesetzt: De benedictione signi seu (vel) campanae; vgl. Pontificale Guillielmi Durandi XXII: M. Andrieu, Le Pontifical Romain au Moyen-Age. Tome III. Le Pontifical de Guillaume Durand (Studi e Testi 88), Città del Vaticano 1940, 533-537. Die unglückliche Titeländerung der Pontificaleausgabe von 1961/ 62, die von einer „Consecratio“ der Glocke sprach, hat die Reform nach dem Vatikanum II. wieder rückgängig gemacht. 4 Vgl. F. Cabrol, Art. Mozarabe (La Liturgie), in: DACL 12/ 1 (Paris 1935), 390-491; M. Dietz, Gebetsklänge aus Altspanien. Illationen (Präfationen) des altspanisch-westgotisch-mozarabischen Ritus mit geschichtlicher und liturgischer Einführung, Bonn 1947; J. Pinell, Mozarabische Liturgie, in: Liturgisch Woordenboek, hg. von L. Brinkhoff OFM u. a., Roermond 1958-1968, 1796-1825 (Literatur). 5 Vgl. J. Vincke, Art. Spanien, in: LThK 9 (Freiburg 2 1964), 938-946, hier 939; A. Angenendt, Das Frühmittelalter, Stuttgart u. a. 1990, 162-167. 6 Vgl. J. F. Recio Rivera, Gregorio VII y la liturgia mozárabe, in: Revista Española de Teologia 2 (1942) 3-33; L. Brou, Bulletin de liturgie mozarabe, in: HispSac 2 (1949) 459-484, hier 466-469; P.-M. Gy OP, L’unification liturgique et la liturgie de la Curie Romaine, in: RSPhTh 59 (1975) 601-604. Liturgie und Gesellschaft 194 spanische Ritus sich bis ins ausgehende Mittelalter halten konnte. Den Bemühungen des großen Erzbischofs von Toledo, Kardinal Francisco Ximénes de Cisneros (1438-1517), 7 ist es zu danken, dass die altspanische Liturgie dem Romanisierungsdruck nicht restlos erlag. Er veranlasste um 1500 den erstmaligen Druck des mozarabischen Messbuchs und Offiziums. Außerdem stiftete er eine Priestergemeinschaft, die verpflichtet wurde, den altspanischen Ritus in der mozarabischen Kapelle der Kathedrale von Toledo für alle Zukunft zu feiern. Mehr als ein Winkeldasein war der mozarabischen Liturgie in den folgenden Jahrhunderten nicht vergönnt. 8 1.2 Der Ort der Glockenweihe in den mozarabischen Liturgiebüchern In der mozarabischen Tradition ist der sogenannte Liber Ordinum (LO) 9 das liturgische Buch für die Feier von Segnungen und Weihen. Er existiert in einer zweifachen Variante: Der LO minor ist eine in erster Linie für den Gebrauch des Priesters bestimmte Sammlung einer Auswahl von solchen Formularen, die häufiger in den Gemeindekirchen gebraucht wurden. Der LO maior ist dagegen auf Vollständigkeit bedacht und bietet in Sonderheit auch jene Texte, die bei bischöflichen Amtshandlungen, wie etwa den Ordinationen, benötigt wurden. Nach der römischen Terminologie könnte man den LO als eine Kombination aus Rituale und Pontifikale bezeichnen. Im Druck erschien der LO erstmals 1904. Als der älteste und vollständigste Textzeuge der bischöflichen Variante des LO gilt der Codex 4 aus dem Archiv der Abtei von Silos. 10 Er lässt sich in das Jahr 1052 datieren. 11 Das darin tradierte Formelmaterial ist aber wesentlich älter. Es handelt sich um Textgut aus der Blütezeit der altspanischen Liturgie. Wenige Jahrzehnte vor der maurischen Invasion hatte Bischof Julian von Toledo (680-690) den großartigen Textreichtum der westgotischen Eigenliturgie neu geordnet, hier und da auch ergänzt und in normativen Liturgiebüchern erfasst. 12 Während der islamischen Herrschaft wurde dieser Schatz mit besonderer Sorgfalt und Treue bewahrt. Die Forschung hat keine Bedenken, die Texte des LO, sofern im Einzelfall nicht das Gegenteil bewiesen ist, in die Zeit vor der arabischen Herrschaft zu datieren. Das würde bedeuten, dass auch das im LO enthaltene Formular zur Weihe einer Kirchenglocke im ausgehenden siebten Jahrhundert schon vorhanden war. Nach Dom Marius Férotin OSB besitzen wir in ihm „vielleicht“ die älteste 7 Vgl. J. Vincke, Art. Ximenes de Cisneros, in: LThK 10 (Freiburg 2 1965), 1285-1287. 8 Erst die Aussage des Vatikanum II., dass in der katholischen Kirche alle rechtlich anerkannten Riten „gleiches Recht und gleiche Ehre“ (Liturgiekonstitution, Art. 4) genießen, hat auch der altspanischen Liturgie eine neue Überlebenschance gegeben. Außer in Toledo kann der Ritus neuerdings auch an anderen Orten und bei bestimmten Anlässen benutzt werden; vgl. M. Ramos, Revisión „ex integro“ de la Liturgia Hispano-Mozarabe, in: EL 99 (1985) 507-516; J. Aldazábal, El „nuevo“ Ordo Missae de la liturgia hispánica, in: Phase 26 (1986) 83-91. 9 Vgl. die Ausgabe von Dom M. Férotin, Le Liber Ordinum en usage dans l’Eglise wisigothique et mozarabe d’Espagne du cinquième au onzième siècle (Monumenta Ecclesiae Liturgica 5), Paris 1904. 10 Kritische Ausgabe von J. Janini, Liber Ordinum Episcopal „Cod. Silos Arch. Monástico, 4“ (Studia Silensia XV), Abadia de Silos (Burgos) 1991. 11 Vgl. ebd., 23. 12 Vgl. ebd., 44-47. Der Dienst der Glocke im Licht des mittelalterlichen Ritus 195 Form der Glockenweihe überhaupt. 13 Als solche lässt sie Henri Leclercq OSB ohne Einschränkungen gelten. 14 Der „Exorcismus ad consecrandum signum basilicae“ steht im Kontext von insgesamt neun inhaltlich verwandten Segensgebeten, die dazu dienen, Votivgaben und Ausstattungsstücke einer Kirche zu weihen: Altargefäße, liturgische Gewänder, Tücher, eine Patene, einen Kelch und was immer zum Schmuck der Kirche und zum gottesdienstlichen Gebrauch gespendet wird. 15 Als Mittelstück dieser Reihe folgt darauf das schon durch seine ungewöhnliche Länge hervortretende Gebet zur Glockenweihe. 16 Es schließen sich zwei Texte zur Weihe eines Taufbrunnens an, dann eine Benedictio crucis (Segnung des Kreuzes) und endlich ein Gebet zur Weihe einer Krone, womit jene meist sehr kostbaren Kronen gemeint sind, die von Königen oder anderen vermögenden Personen gestiftet wurden und als Altarschmuck über der Mensa oder dem Altarkreuz an goldenen Ketten aufgehängt waren. 17 1.3 Das Formular Unser Ordo weist eine klare Zweiteilung auf. Auf den Exorzismus folgt die Benedictio. Dieser Aufbau erwächst aus der Vorstellung: Der zu weihende Gegenstand muss zunächst dem Machtbereich des Widersachers Gottes entzogen werden. Erst dann kann die Glocke durch das Segenswort des Bischofs (Priesters) Gott selbst beziehungsweise seinem Dienst übereignet werden. Ur- und Vorbild dieser Zweipoligkeit ist das Taufritual, das bereits in den frühesten uns bekannten Formen aus dem Anfang des dritten Jahrhunderts einen Exorzismus der Taufkandidaten und des Taufwassers der Taufe selbst voranstellt: Ehe ein Mensch durch das Bad der Taufe Gott übereignet und Christus geweiht werden kann, müssen alle widergöttlichen Mächte von ihm weichen. 18 1.3.1 Der Exorzismus Analog zu den apotropäischen Katechumenatsriten der Tauffeier beginnt auch die Glockenweihe mit einer „Austreibung“. 19 Der Offiziant beschwört den Widersa- 13 Vgl. Férotin, Le LO (wie Anm. 9), 159, Anm. 1. 14 Vgl. H. Leclercq, Art. Cloche, clochette, in: DACL 3/ 2 (Paris 1914), 1954-1977, hier 1969; S. Benz, der das in den Junggelasiana bezeugte Formular als die „älteste Form“ der Glockenweihe bezeichnet (wie Anm. 1), ist zu korrigieren. 15 Janini, Liber Ordinum (wie Anm. 10), LI-LVIIII, Nr. 293-305; Férotin, Le LO (wie Anm. 9), 156-166. 16 Janini, Liber Ordinum (wie Anm. 10), LVI, Nr. 299-300 (Exorcismus ad consecrandum signum uasilice); Férotin, Le LO (wie Anm. 9), 159-161. 17 Vgl. Férotin, Le LO (wie Anm. 9), 165, Anm. 2. 18 Vgl. A. Stenzel S. J., Die Taufe. Eine genetische Erklärung der Taufliturgie, Innsbruck 1958, 67f.; B. Kleinheyer, Sakramentliche Feiern I. Die Feiern der Eingliederung in die Kirche (GdK 71), Regensburg 1989, 42-54. 19 Das Deutewort zur präbaptismalen Salbung lautet in der Taufordnung der Traditio Apostolica (um 215): „Omnis spiritus abscedat a te“; vgl. Kleinheyer, Sakramentliche Feiern (wie Anm. 18), 44. Im exorzistischen Teil der mozarabischen Glockenweihe gebietet der Bischof Liturgie und Gesellschaft 196 cher Gottes, den er direkt mit despektierlichen Titeln anredet: „Ich beschwöre dich (adjuro te), ganz und gar nichtswürdiger und unreiner Geist …“. Im „unüberwindlichen Namen der göttlichen Majestät“ ergeht der Befehl an den Bösen, sich, von der Macht Christi besiegt, davonzumachen. Der böse Geist wird daran erinnert, dass es allein der Schöpfergott war, der „diesem Metall … Klang und Kraft verliehen hat“. Da Satan an der Schöpfung nicht beteiligt war, kann er auch keinerlei Besitzrechte an irgendeinem Geschöpf geltend machen. Der Exorzismus schließt mit dem Wunsch, die Glocke möge, von allen Einflüssen des Bösen gereinigt, der Ehre Gottes dienen. Man hat sich vorzustellen, dass der Bischof oder Priester den Exorzismus nach Westen gewandt gesprochen hat, wie dies etwa der LO ausdrücklich bei der Salz- und Wasserweihe vorschreibt. 20 Elmar Bartsch hat in seiner Monographie „Die Sachbeschwörungen der römischen Liturgie“ darauf aufmerksam gemacht, 21 dass es altgallischer und mozarabischer Art entspricht, bei der Lustration von Sachen Satan direkt anzureden. Die römische Tradition pflegt dagegen die Sachen zu beschwören. Deshalb geht Bartsch davon aus, dass unser Text aus dem Wurzelboden der nicht-römischen Liturgien Galliens kommt, wobei orientalischer Einfluss nicht auszuschließen ist. 22 1.3.2 Die Benedictio Nicht nur vom Umfang her, sondern auch sachlich gewichtiger als der exorzistische Teil ist die dann folgende Benedictio. 23 1.3.2.1 Der Text: „Allmächtiger Herr Gott, der du Mose, deinem Diener, geboten hast, Signalposaunen anfertigen zu lassen, durch die, wenn sie mit bestimmtem und unterschiedlichem Ton erklangen, das ganze Volk Israel erkennen sollte, wo es an den Festtagen frohgestimmt zusammenströmen, wann es auf der Wanderung ins gelobte Land den begonnenen Weg fortsetzen (Priester) dem unreinen Geist mit dem gleichen Ausdruck: „abscedas! “. Vgl. den Text in der Ausgabe von Janini, Liber Ordinum (wie Anm. 10), Nr. 299, S. 152. Eine deutsche Übersetzung des Exorzismus bei E. Bartsch, Die Sachbeschwörungen der römischen Liturgie. Eine liturgiegeschichtliche und liturgietheologische Studie (LQF 46), Münster 1967, 136 und 327f. Allgemein zur altspanischen Taufliturgie vgl. J. Krinke, Der spanische Taufritus im frühen Mittelalter, in: Gesammelte Aufsätze zur Kulturgeschichte Spaniens, hg. von J. Vincke (Spanische Forschungen der Görresgesellschaft, 1. Reihe, Bd. 9), Münster 1954, 33-116. 20 Vgl. Janini, Liber Ordinum (wie Anm. 10), Nr. 5, S. 71.: „Quum uenerit Sacerdos ut salem exorcidiet (! ), facit hanc crucem † super ipsum salem et dicit nunc exorcismum contra occidentem.“ So auch beim Exorzismus über das Wasser (ebd.), Nr. 8, S. 72, bei den Taufexorzismen (ebd.), Nr. 41, S. 81 und der Beschwörung eines Besessenen (ebd.), Nr. 126, S. 104. 21 Vgl. Bartsch, Sachbeschwörungen (wie Anm. 19), 336. 22 Vgl. ebd., 13. 23 Der lateinische Text bei Janini, Liber Ordinum (wie Anm. 10), Nr. 300, S. 152f.; Férotin, Le LO (wie Anm. 9), 160f. Hier eigene Übersetzung. Der Dienst der Glocke im Licht des mittelalterlichen Ritus 197 oder gegen die Angriffe verlorener Heidenvölker bewaffnet antreten sollte. Durch all das hast du im Voraus hingewiesen auf das, was jetzt vollkommener in der katholischen Kirche, ‚unter der Gnade‘, 24 vollbracht wird. Blicke denn in deiner gewohnten Güte gnädig herab und segne dieses Gefäß (vas), das aus unterschiedlichen Metallen gegossen wurde, wie du jene Posaunen gesegnet hast, hinter denen herziehend dein (Volk) Israel zu dem Erbteil geführt wurde, das deine göttliche Verheißung ihm zugesagt hatte. Mögen sie (die Glocken) die Reinheit (des Klangs) besitzen, welche die am Gewand des Hohenpriesters Aaron befestigten Glöckchen hatten, auf dass beim Klang der Glocken, die wir dir weihen, das Tor deines Hauses weit aufgetan werde und die Schar deiner Gläubigen sich versammle, um dich zu loben und zu bitten. Und wenn sie erklingen, möge deine Macht in denen, die sie hören, bewirken, dass die Furcht vor dir des Herzens Tiefe durchdringt. Durch das Zeichen des heiligen Kreuzes sei der Mensch gegen die Anschläge des Teufels immer siegreich und behütet und der Geist eile, getragen von der Kraft der Hoffnung, froh dem Empfang des versprochenen Erbes im Himmel entgegen. Man erinnere sich (beim Glockenklang) deiner Weisung, man denke an die Beobachtung deiner Gebote; und damit die Gläubigen nicht abirren von deinen Befehlen, sei ihnen dieser Klang stets ein Zeichen. Wenn die Glocken läuten, mögen Müdigkeit und Trägheit fliehen; weichen mögen die Flammen böser Begierden; besänftigt lege sich der Zorn und schwinden mögen alle Laster, auf dass die Priester und die Diener (des Heiligtums) sowie alle Glieder der Kirche, gereinigt an Herz und Leib, zur Zeit des Gebetes mit reumütigem Sinn die Knie beugen, um Vergebung zu erwirken und die Verzeihung zu erhalten, die sie erflehten. Der Schall dieser Glocke jage, Herr, 24 Das Gebet setzt hier in Anlehnung an Joh 1,17 die Zeit der Geltung des mosaischen Gesetzes ab von der Zeit „der Gnade“, die mit dem Kommen Jesu Christi beginnt. Liturgie und Gesellschaft 198 Juden und Treulosen (perfidi) einen kräftigen Schrecken ein, damit sie von ihrer Bosheit los- und wieder zu sich kommen. Den Leidenden und Niedergeschlagenen gereiche der Glockenklang zum Trost und zu der ersehnten Aufrichtung. Du, der du als ein Zeichen den Regenbogen am Wolkenhimmel ausgespannt und versprochen hast, nie wieder durch die Wasser einer Sintflut die Menschheit zu vernichten, sieh gnädig an, was wir dir darbringen, und wende nicht ab deine barmherzige Güte. So möge denn, wenn diese Glocken durch ihr Geläut dir dienen, dank deiner zuvorkommenden Barmherzigkeit deine Milde bewirken, dass das gläubige Volk entgehe jeder Plage und Züchtigung, die wir Sünder an sich verdienten, und allen Widrigkeiten und dass es sich freue über den Empfang deiner Gnadengaben. Amen.“ 1.3.2.2 Kommentierung Der Gegenstand der Weihe wird „signum“ genannt. Die Signalfunktion des zu weihenden Objekts wird so hervorgehoben. An sich könnte „signum“ auch ein hölzernes Schlagbrett nach Art des ostkirchlichen Semantrons meinen. Das Weihegebet setzt jedoch ein Instrument aus Metall voraus; es spricht näherhin vom „uas concretum generibus metallorum“. 25 Es handelt sich also um einen hohlen Klangkörper, der aus unterschiedlichen Metallen gegossen wurde. „Signum“ bezeichnet demnach eindeutig eine Kirchenglocke. Dieser Befund stimmt mit dem im sechsten und siebten Jahrhundert allgemein verbreiteten Sprachgebrauch im benachbarten Gallien überein. 26 Das Weihegebet weist gemäß den Baugesetzen der jüdisch-christlichen Gebetstradition eine anamnetisch-epikletische Struktur auf: Nach der kurzen Anaklese „Omnipotens Dominus Deus - Allmächtiger Herr Gott“ wird Gott an sein Heilshandeln in der Vergangenheit erinnert (Anamnese). In diesem Fall gilt das Gedächtnis speziell dem gottgewollten segensreichen Gebrauch von Signalinstrumenten zur Zeit der Wüstenwanderung des altbundlichen Gottesvolkes. Die im Hintergrund stehende Schriftstelle ist Num 10,2-10: Auf Gottes Weisung hin ließ Mose zwei aus Silber getriebene Trompeten anfertigen. Ihre differenzierten Signale hatten verschiedene Bedeutungen. Sie erfüllten nach Gottes Anordnung die Funktionen, die das Weihegebet namentlich nennt: Ankündigung von Festen und Feiern (Num 10,10), Aufruf zur Versammlung (10,7), Appell zum Aufbruch (10,2ff.), Alarmsignal bei feindlichem Angriff (10,9). Die gottgewollte Verwendung von Signalinstrumenten im Alten Bund deutet unser Text im Sinn des Hebräerbriefes 25 Vgl. Janini, Liber Ordinum (wie Anm. 10), Nr. 300, S. 152. Der Westgotenkönig Cindasvinthe schenkte im Jahre 646 dem Kloster Complutum ein „signum fusile eneum bone modulationis, demulcens auditum“; vgl. Férotin, Le LO (wie Anm. 9), 159, Anm. 1. 26 Vgl. M. Trumpf-Lyritzaki, Art. Glocke, in: RAC XI (Stuttgart 1981), 189; Leclercq, Art. Cloche (wie Anm. 14), 1960f. Der Dienst der Glocke im Licht des mittelalterlichen Ritus 199 (Hebr 7,1-8,13) als Vorausverweis auf einen entsprechenden besseren Gebrauch zur Zeit der Gnade „in der katholischen Kirche“. Nachdem der göttlichen Anordnung zum Gebrauch von Signalinstrumenten dankbar gedacht worden ist, schließt sich organisch die Bitte (Epiklese) an: Wie Gott die Trompeten Israels gesegnet hat, so soll er auch das Signum seiner Kirche, die Glocke, segnen. Der Bittteil des Segensgebetes entfaltet dann im Einzelnen die erhofften Wirkungen des göttlichen Segens. Der erste Dienst, zu dem die Glocke geweiht wird, besteht darin, dass sie durch ihren Klang gleichsam das Tor des Gotteshauses weit öffnet (domus tue pandatur ingressus) und die Gläubigen zum Gotteslob und zum Bittgebet versammelt. In diesem Zusammenhang erinnert das Weihegebet an die goldenen Glöckchen am Gewandsaum Aarons. Ihr Ton war zu hören, wenn der Hohepriester „in das Heiligtum vor den Herrn“ hintrat … (vgl. Ex 28,33f.; 39,25f.). 27 So soll Gott durch den reinen Klang der Glocke in seinen Gläubigen den Geist der Gottesfurcht (vgl. Jes 11,2) wecken, wenn sie sich anschicken, vor ihn hinzutreten. Auch die folgenden Bitten gelten nicht der Glocke als solcher, sondern der durch den Dienst der Glocke versammelten Gemeinde: dem Klerus und den übrigen Gliedern der Kirche. Sie werden beim Glockenklang an ihre Christenwürde erinnert. Denn das im Zentrum des Weihegebetes betont herausgestellte Kreuzzeichen (sancte crucis signaculum) ist zweifellos eine Anspielung auf die Signatio des Taufrituals: Das jedem Christenmenschen (homo) am Anfang seines Christseins eingeprägte Zeichen Christi soll ihn „rundum“ (totus) vor den Anschlägen des Bösen schützen, sodass er zuversichtlich dem Ziel seiner Hoffnung entgegengehen kann. Das Glockengeläut soll an die Weisungen Gottes erinnern und mahnen, daran festzuhalten. Die Glocke drängt die Gläubigen dazu, alles Verkehrte abzulegen und „zur Zeit des Gebetes“ umkehrbereit das Geschenk der Vergebung von Gott zu erwarten. Man darf in diesen Motiven ebenfalls einen Rückbezug auf die Taufe erkennen, die ja die Getauften auf die Beobachtung der Gebote Gottes verpflichtet hat. Der Glockenklang wird glücklich als Tauferinnerungszeichen gedeutet, das die Gläubigen immer neu auf ihre Christenwürde und Christenpflicht aufmerksam macht. Der gottgewollte Dienst der Glocke reicht indes über die sich jeweils versammelnde Gottesdienstgemeinde hinaus. Wer wegen Krankheit nicht an der Versammlung teilnehmen kann, soll durch den Glockenklang vom Gotteshaus her Trost und Aufrichtung erfahren. Anders aber tönt die Glocke denen im Ohr, die bewusst außerhalb der kirchlichen Gemeinschaft bleiben. Als solche nennt das Gebet namentlich „die Juden“; ferner die nicht eindeutig zu identifizierenden „perfidi“ (Abtrünnige, Treulose). Damit könnten häretische oder schismatische christliche Gruppen gemeint sein 27 Auf ihre apotropäische Bedeutung hat F. J. Dölger hingewiesen: Die Glöckchen am Gewand des jüdischen Hohenpriesters, in: Antike und Christentum 4 (1934) 240 Taf. Schon die Apologeten des 2. Jahrhunderts bieten allegorische Deutungen an. Nach ihnen weisen die Glöckchen am Gewand Aarons auf die Verkündigung des Evangeliums hin; für Justin versinnbilden die 12 Glocken die 12 Apostel, deren Stimme die ganze Welt erfüllt (Dial. 42,1); vgl. Trumpf- Lyritzaki, Art. Glocke (wie Anm. 26), 180. Liturgie und Gesellschaft 200 (etwa Arianer, Donatisten). 28 Vielleicht meint der Ausdruck „perfidi“ aber ebenfalls die Juden, die in den Karfreitagsfürbitten der römischen Liturgie vorwurfsvoll „perfidi Judaei“ genannt wurden. 29 Ihnen soll der Glockenklang einen heilsamen Schrecken einjagen, sie zur Einsicht bringen und zur Umkehr drängen. Der Schlussteil des Weihegebets führt überraschenderweise das Motiv des Regenbogens ein. Dieser ist ein optisches Signal, das Gott, sooft „sein Zeichen“ (signum tuum) in den Wolken erscheint, an seine Selbstverpflichtung erinnert, die Menschheit nie mehr durch eine Flutkatastrophe zu vernichten (vgl. Gen 9,12-17). Auch die Glocke ist ein Signal in den Wolken, ein akustisches Zeichen am Himmel. Jedes Mal, wenn sie mit ihrem Klang die Wolken durchdringt, appelliert sie an die Güte Gottes. Der barmherzige Gott möge, so lautet die Schlussbitte des Weihegebetes - dadurch bewegt - sein Volk nicht strafen, sondern segnen. 30 1.4 Der Gebrauch von Kirchenglocken im mozarabischen Liturgiebereich Wir wissen wenig über den Gebrauch der auf diese Weise geweihten Kirchenglocken. Fest steht, dass in den Klöstern Spaniens die Glocke den Konvent zu den gemeinsam gefeierten Horen der Tagzeitenliturgie und den übrigen Gottesdiensten zusammenrief. 31 Diese Signalfunktion erfüllten Glocken auch in den Stadt- und 28 Der LO enthält liturgische Ordnungen für deren Aufnahme in die katholische Kirche, namentlich zur Rekonziliation eines Gläubigen, „qui in eresi arriana babtizatus fuerit“ (XXX- VII), zur Handauflegung über einem Häretiker (XXXVIII) und ein Formular mit dem Titel: Reconciliatio donatiste (XXXIIII); vgl. Janini, Liber Ordinum (wie Anm. 10), Nr. 182-186, S. 122-125. 29 Generell zu den Großen Fürbitten des Karfreitags: P. De Clerck, La prière universelle dans les liturgies latines anciennes (LQF 62), Münster 1977, bes. 125-144; speziell zur Fürbitte für die Juden, die im römisch-tridentinischen Messbuch eingeleitet wurde mit der Aufforderung „Oremus et pro perfidis Judaeis …“ vgl. W. Sanders, Die Karfreitagsfürbitte für die Juden vom Missale Pius’ V. bis zum Missale Pauls VI., in: LJ 24 (1974) 240-248. Der LO enthält ein Gebet „super conuertente Judeo“ (XL), das polemische Töne vermeidet und das Alte Testament erstaunlich positiv sieht; vgl. Janini, Liber Ordinum (wie Anm. 10), Nr. 187, S. 125f. Die starke Präsenz von Juden in Spanien erklärt ihre namentliche Nennung in unserem Glockenweihegebet. Nach 600 verstärkte sich der Druck zur Konversion bis hin zu verordneten Zwangstaufen; vgl. Angenendt, Das Frühmittelalter (wie Anm. 5), 165. 30 Anders als in dem noch vorzustellenden fränkisch-römischen Ritual der Glockenweihe wird in unserem Text die Unheil abwendende Kraft nicht der geweihten Glocke als solcher zuerkannt, sondern unmittelbar von Gott erbeten, an dessen Tür die Sünder als Bittsteller gleichsam „mit der Glocke läuten“. 31 Namentlich für die Gottesdienste der Kartage, an denen Abweichungen von der normalen Läuteordnung zu beachten sind, spricht der LO vom Glockenzeichen zu den Tagzeiten: zur Matutin am Karfreitag und Karsamstag: „signum non monitur (! )“; wohl aber läutet es zur Non an beiden Tagen („hora nona signum sonat“); vgl. Janini, Liber Ordinum (wie Anm. 10), Nr. 385, 395, 406, 423. Zu den Sterbegebeten werden alle Konventsmitglieder zur Zelle des sterbenden Mönchs „dato signo“ gerufen; vgl. ebd., Nr. 188. Nach der um die Mitte des siebten Jahrhunderts entstandenen Regel des heiligen Fructuosus wurden die Mönche durch ein Glockenzeichen aus dem Schlaf geweckt („signum moueatur“) und zu den Gebetszeiten gerufen (Regula c. 2: Pl 87, 1100); vgl. Férotin, Le LO (wie Anm. 9), 159, Anm. 1; vgl. auch die bereits erwähnte, 656 erfolgte Schenkung einer Glocke an ein Kloster (s. o. Anm. 25). Der Dienst der Glocke im Licht des mittelalterlichen Ritus 201 Landgemeinden. 32 Aus einer Rubrik des LO, die vorschreibt, die Glocken sollten zusammenläuten (sonantibus signis), wenn ein verstorbener Mönch vor seiner Beerdigung aus dem Wohntrakt des Klosters zur Kirche überführt wird, 33 geht hervor, dass wenigstens in den Klöstern in der Regel mehrere Glocken vorhanden waren. Mit dem Vorhandensein eines Geläuts rechnet auch unser Weihegebet, das mehrfach auf den Zusammenklang mehrerer Glocken anspielt. 34 Im funeralen Kontext dienten Glocken offenbar nicht nur als Versammlungssignal; das Zusammenläuten zu Beginn der Begräbnisliturgie darf wohl auch als ehrendes Trauergeläut gedeutet werden. Die Informations- und Kommunikationsfunktion der Glocke tritt deutlich hervor, wenn der LO verlangt, der Tod eines Bischofs müsse den Gläubigen umgehend durch ein Glockenzeichen mitgeteilt werden. Auch wenn der Bischof nachts gestorben sei, müsse die Glocke der Hauptkirche, womit die Kathedrale gemeint ist, unverzüglich „öffentlich - publice“ läuten. 35 Sogleich müssten alle Kirchen im Umkreis von zwei Meilen dieses Signal aufnehmen und auch ihrerseits durch ein Glockenzeichen den Tod des Bischofs bekannt machen. 36 Durch ein solches von der Kathedrale ausgehendes Totengeläut, durch den Dienst der Glocke also, stellt sich die bischöflich geleitete Ortskirche in solchen Augenblicken eindrucksvoll als die eine Kirche Christi in der jeweiligen Stadt und ihrem Einzugsbereich dar. 2. Die fränkisch-römische Glockenweihe 2.1 Die ältesten Textzeugen Offenbar völlig unabhängig von der altspanischen Form der Glockenweihe bildete sich im gallisch-fränkischen Raum ein Ritual „ad signum ecclesiae benedicendum“ heraus, das in den Junggelasiana des ausgehenden achten Jahrhunderts erstmals nachweisbar ist. 37 Dieser Sakramentartyp (Gelasianum mixtum, auch Sakramen- 32 Das Weihegebet hat nicht nur klösterliche Verhältnisse im Auge, sondern spricht vom Dienst der Glocke im Hinblick auf eine Territorialgemeinde, die Priester und sonstige Mitglieder des Klerus („sacerdotes et ministri“) umfasst, aber auch die übrigen Glieder der Kirche einschließt („omnis Ecclesiae membra“). Die vom Glockenklang erhoffte Wirkung auf „Juden und Abtrünnige“ setzt voraus, dass die Glocken in Städten und Ortschaften läuten, wo - anders als im Kloster - die Katholiken mit Andersgläubigen täglich zusammenlebten. Die segensreichen Wirkungen des Glockengeläuts sollen dem ganzen gläubigen Volk („fidelis populus“) zugute kommen. 33 LO XLI: Janini, Liber Ordinum (wie Anm. 10), Nr. 195: „adductum ante fores aecclesie sonantibus signis …“. 34 Vgl. etwa die Wendungen: „his sonantibus, que tibi dedicamus …“; „… quibusque tinnientibus …“; „… signorum istorum sonitus …“; „… cum ista tibi in suo seruierint tinnitu …“; vgl. Janini, Liber Ordinum (wie Anm. 10), Nr. 300. 35 LO XLIII: „Hora quisque ille espiscopus mortuus fuerit siue per diem siue per noctem, statim signum publice in ecclesia seniore sonabit. Simulque per omnes ecclesias que possunt infra duo millia esse, signum smiliter sonaturum est“; Janini, Liber Ordinum (wie Anm. 10), Nr. 256. 36 Vgl. ebd. 37 Vgl. A. Dumas OSB und J. Deshusses OSB (Hg.), Liber Sacramentorum Gellonensis (CC-SL 159 A), Turnholti 1981, Nr. 2440-2446; P. Saint-Roch (Hg.), Liber Sacramentorum Engolismensis (CC-SL 159 C), Turnholti 1987, Nr. 2042-2049; O. Heiming OSB (Hg.), Liber Sacramentorum Augustodunensis (CC-SL 159 B), Turnholti 1984, Nr. 1481-1484. Liturgie und Gesellschaft 202 tar Pippins genannt) ist ein für die Übergangsphase der fränkischen Kirche von der altgallischen zur römischen Liturgie charakteristisches Liturgiebuch, in dem authentisch römisches Formelgut, mit Texten aus gallischer Tradition vermischt, tradiert wird. 38 Der vermutlich in der burgundischen Abtei Flavigny um 760 entstandene Archetyp dieses Mischsakramentars ist uns nicht erhalten. Sein ältester auf uns gekommener Vertreter ist der Liber Sacramentorum Gellonensis, in den letzten Jahrzehnten des achten Jahrhunderts wohl in Sainte Croix in Meaux geschrieben. 39 Diese Sakramentarhandschrift ist zugleich der früheste Textzeuge für unseren Ordo zur Weihe einer Kirchenglocke. Die Glockenweihe findet sich erwartungsgemäß im Kontext der Dedikationsliturgie. 40 Sie ist, ähnlich wie im mozarabischen LO, eine von jenen Benediktionen, durch die Ausstattungsstücke einer neuen Kirche für den heiligen Dienst bestimmt werden. Die Glockenweihe tritt uns als reich entfaltetes Text- und Ritengefüge entgegen. Nicht bloß eine einzige, meist kurze Oration, wie es bei den anderen vergleichbaren Segnungen von zum Teil ranghöheren Sakralgeräten (Messkelch, Patene) üblich ist, 41 sondern drei lange Segensgebete spricht der Bischof über die Glocke. Ausgedehnter Psalmengesang begleitet umständliche Zeichenhandlungen. Um einige zusätzliche Eingangsstücke erweitert, 42 ist dieser frühmittelalterliche Ritus in das einflussreiche, um die Mitte des zehnten Jahrhunderts in Mainz zusammengestellte Pontificale Romano-Germanicum eingegangen 43 und über dieses in das Pontifikale der Römischen Kurie 44 gelangt, das ihm im zweiten Jahrtausend rasch Allgemeingültigkeit verschafft hat. Unser Ordo „ad signum ecclesiae benedicendum“ lässt folgenden Aufbau erkennen: 38 Vgl. Ch. Coebergh OSB und R. Dubois, Art. Jonge gelasiana, in: Liturgisch Woordenboek (wie Anm. 4), 1169-1173. 39 Vgl. Dubois, Art. Gellone, in: Liturgisch Woordenboek (wie Anm. 4), 818f.; Angenendt, Das Frühmittelalter (wie Anm. 5), 328f. 40 Dumas/ Deshusses, Gellonensis (wie Anm. 37), Nr. 2415-2430; Saint-Roch, Engolismensis (ebd.), Nr. 2020-2026; Heiming, Augustodunensis (ebd.), Nr. 1450-1469. 41 Vgl. etwa das Sakramentar von Angoulême: Saint-Roche, Engolismensis (wie Anm. 37), Nr. 2033-2052. 42 Vorausging spätestens seit dem 10. Jahrhundert eine Gruppe von sechs „Vergebungspsalmen“ (Psalmi veniales), bestehend aus Pss 51, 54, 57, 67, 70, 86, zu denen später noch Ps 130 hinzukam, sodass die Reihe von den Bußpsalmen „Miserere“ (51) und „De profundis“ (130) eröffnet beziehungsweise beschlossen wurde. Wie die Charakterisierung der Psalmodie als „um Vergebung bittende Psalmen - Psalmi veniales“ im deutsch-römischen Pontifikale (vgl. die folgenden Anm.) unmissverständlich erkennen lässt, ist dieser Eröffnungsteil als Bußritus zu verstehen. Es ist abwegig, in jedem der ausgewählten Psalmen nach einem auf die Glocke bezugnehmenden Motiv zu suchen; vgl. etwa Eisenhofer, Handbuch der katholischen Liturgik, Freiburg 1932/ 33 (wie Anm. 1), II, 472f.; W. Reindell, Die Glocken der Kirche, in: Leiturgia IV, Kassel 1961, 858-887, hier 867f. Ausschlaggebend für die Auswahl war die Bitte um Gottes Erbarmen und Vergebung, mit der jeder dieser Psalmen beginnt. Die Rezitation der „Psalmi veniales“ diente der Reinigung und Bereitung für die folgende liturgische Feier. 43 C. Vogel, R. Elze, Le Pontifical Romano-Germanique du dixième siècle. Le Texte (Studi e Testi 226), Città del Vaticano 1963, LI, 185-190. 44 M. Andrieu, Le Pontifical Romain au Moyen-Age, 4 Bde., (Studi e Testi 86, 87, 88, 89), Città del Vaticano 1938-1941, I, 293-295; II, 441-443; III, 533-536. Der Dienst der Glocke im Licht des mittelalterlichen Ritus 203 a) Bereitung von Weihwasser; b) Waschung der Glocke mit dem geweihten Wasser unter dem Gesang von Psalmen; c) Weihegebet und Chrisamsalbung; d) Beweihräucherung der Glocke unter dem Gesang von Ps 76 (77),17-21; e) Schlussoration. 2.1.1 Die Wasserweihe Es ist anzunehmen, dass die Bereitung des Weihwassers zu Beginn der Feier nicht bloß durch das relativ kurze, auf die Lustration der Glocke bezugnehmende spezielle Segensgebet erfolgte, das in den ältesten Textzeugen an der Spitze unseres Formulars steht. 45 Die hinzugefügte Rubrik, die Waschung der Glocke habe zu geschehen „de aqua benedicta cum oleo et sal (! )“, 46 setzt voraus, dass dem Wasser zuvor Salz und Öl beigemischt wurden. Dies geschah nicht formlos. Was das Salz betrifft, war es alter römischer Brauch, dem geweihten oder zu weihenden Wasser Salz beizumischen, über das zuvor ein Exorzismus und ein Segensgebet gesprochen worden waren. 47 Der Segnung des Wassers ging ferner ein exorcismus aquae voraus, wie es bereits das römische Wasserweihegebet des Altgelasianums bezeugt. 48 Die in karolingischer Zeit im Frankenreich verbreitete Form der Wasserweihe bestand aus dem exorcismus und der benedictio salis, dem exorcismus und der benedictio aquae, der Beimischung des geweihten Salzes zum geweihten Wasser und einem abschließenden, dem Salz und dem Wasser gleichermaßen geltenden Segensgebet. 49 Auch bei der Bereitung von Weihwasser für die Waschung einer Glocke wird das Salz wohl in der üblichen Weise geweiht worden sein, ehe es dem Wasser beigegeben wurde. 50 45 Vgl. Dumas/ Deshusses, Gellonensis (wie Anm. 37), Nr. 2440; Saint-Roch, Engolismensis (ebd.), Nr. 2042; Heiming, Augustodunensis (ebd.), Nr. 1481. 46 Dumas/ Deshusses, Gellonensis (wie Anm. 37), Nr. 2441. 47 Vgl. A. Franz, Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter, 2 Bde., Freiburg i. Br. 1909 (Nachdruck: Graz 1960), I, 126-153, bes. 128f. 48 Vgl. ebd., 127f. 49 Vgl. ebd., 145-147; J. Deshusses, Le Sacramentaire Grégorien I (Spicilegium Friburgense 16), Fribourg 2 1979, Nr. 1451-1455. 50 Unser Ritus sieht in der vom Pontifikale Romano-Germanicum rezipierten Gestalt einen solchen Exorzismus und eine Benedictio des dem Wasser beizumischenden Salzes vor; vgl. Vogel, Elze, Pontificale Romano-Germanicum (wie Anm. 43), 185f. Der Normaltext ist in beiden Fällen im Hinblick auf die Verwendung des Salzes bei der Glockenweihe leicht abgewandelt. Der Exorzismus bittet darum, dass das Salz fähig werde „ad evacuandum et expellendum ab hoc ecclesiae signo inimicum omnemque virtutem putredinis eius …“. Das Segensgebet äußert die Erwartung, dass das gesegnete Salz „expellat ab hoc ecclesiae signo et ab omni loco ubi fuerit tua invocatione aspersum quicquid potest esse pestiferum, exhibeat plenum salutis effectum, deterreat omnia praestigia inimici et omnia monstrorum genera longius faciat effugari, gravedines omnes fantasiasque compescat et per signum crucis filii tui domini nostri Jesu Christi tutelam fidelissimam desiderantibus praestet“. Die Einschübe wurden bei der Übernahme des Ritus in das Pontifikale der römischen Kurie fallen gelassen und fortan der Exorzismus und die Segnung des Salzes zur Glockenweihe mit dem üblichen Text vollzogen. Liturgie und Gesellschaft 204 Die Beimischung von Öl gehörte dagegen nicht zur Normalform der Wasserweihe. Sie war aber bei der Taufwasserweihe der Osternacht bis in die jüngste Vergangenheit vorgeschrieben, insofern am Ende des Weihegebets zunächst Katechumenenöl, dann Chrisam und schließlich beide Öle zusammen in das Taufwasser gegossen und mit ihm vermischt wurden. 51 Beachtung verdient auch der in karolingischer Zeit vereinzelt bezeugte Brauch, dem beim Krankenbesuch benutzten Weihwasser heiliges Öl beizumischen, und zwar Krankenbeziehungsweise Katechumenenöl. 52 Eine klare Differenzierung des „oleum sanctum“ oder „oleum exorcitatum“ in Katechumenenöl und Krankenöl kannte das Frühmittelalter noch nicht. Als sich eine solche in der Hochscholastik durchsetzte, führte dies im Ritus der Glockenweihe zu der abwegigen Vorschrift, die Glocke mit Krankenöl zu signieren, 53 während die Wirkung des Katechumenenöls eigentlich intendiert war. Denn wenn dem Lustrationswasser „oleum sanctum“ beigegeben wurde, sollte zweifellos die exorzistische und apotropäische Kraft des Weihwassers gesteigert werden. Hier ist an die primäre Verwendung des Katechumenenöls bei der Taufe zu erinnern. Im mittelalterlichen Taufritus wurde das Katechumenenöl nach der Absage an Satan den Taufkandidaten auf der Brust und zwischen den Schultern appliziert. Die so Gesalbten sollten zum Kampf gegen jeden Angriff des bösen Feindes gestärkt werden. 54 Genau diese Wirkung erhoffte man sich auch von dem heiligen Öl, das bei der Lustration einer Glocke gebraucht wurde: Unter das Weihwasser gemischt oder gesondert aufgetragen, sollte es der Glocke seine unheilabwehrende Kraft mitteilen. 51 Vgl. Kleinheyer, Sakramentliche Feiern I (wie Anm. 18), 118. 52 Entsprechendes verlangt ein Capitulare des Bischofs Theodulf von Orleans (†821); vgl. Franz, Benediktionen (wie Anm. 47), I, 97, 132f. 53 Das Pontificale Romano-Germanicum spricht von „oleum sanctum“, das aber nicht dem Wasser beigemischt wird. Vielmehr bezeichnet der Konsekrator damit die Glocke in Kreuzesform („cum oleo sancto cruces in eo faciendo“); vgl. Vogel, Elze, Pontificale Romano-Germanicum (wie Anm. 43), 188, Nr. 9. Die Unsicherheit, ob das heilige Öl dem Wasser beigemischt oder separat in Kreuzesform der Glocke appliziert werden sollte, lässt auch das Pontifikale der römischen Kurie im 12. und 13. Jahrhundert noch erkennen. Zunächst hat man in Rom auf das spezielle Gebet zur Weihe des zur Lustration der Glocke zu verwendenden Wassers (vgl. unten Anm. 56) ein Segensgebet über Salz und Öl eingeschoben. Diese Sakramentalien sollten der damit behandelten Glocke die Kraft geben, Dämonen zu vertreiben, die Kinder Gottes zusammenzurufen und Gewitter und Hagelschlag abzuwenden. Das so gesegnete Salz und Öl wurde dem Weihwasser, mit dem die Glocke gewaschen wurde, beigemischt; vgl. Andrieu, Le Pontifical Romain (wie Anm. 44), I, 293f. Die Textzeugen des 13. Jahrhunderts kennen die Oration nicht mehr, sondern verlangen eine Signatio der mit Weihwasser gewaschenen Glocke an ihrer Außenseite: „de aqua benedicta cum oleo sancto crucem faciendo“; vgl. ebd., II, 442. Die Unklarheit hinsichtlich der Verwendung des heiligen Öls hat erst das Pontifikale des Durandus beseitigt, indem es bestimmt: „Ea igitur (sc. campana) lota et tersa, fit in ea exterius crux cum oleo sancto et dicitur: Oremus. Deus qui per sanctum Moysen …“; vgl. ebd., III, 535. Die nachtridentinischen Ausgaben des Pontificale Romanum (wie Anm. 1) präzisieren: „… facit ab extra supra Campanam de Oleo sancto infirmorum (! ) signum crucis.“ 54 Vgl. Kleinheyer, Sakramentliche Feiern I (wie Anm. 18), 132f. Der Dienst der Glocke im Licht des mittelalterlichen Ritus 205 Näheres über die Art der Beimischung des heiligen Öls erfahren wir nicht. Das Eingießen erfolgte, nachdem das Segensgebet über das Wasser gesprochen worden war, wohl ohne Begleitworte. Die Weihe des Wassers selbst geschah mit einer speziellen Formel, die dem aktuellen Verwendungszweck des Weihwassers angepasst war. Eine solche Adaptation des normalen Wortlauts der benedictio aquae ist nicht singulär. Eine besonders aufwendige Spezialform der Wasserweihe begegnet uns in der Dedikationsliturgie. 55 In unserem Fall spricht das Sondergut des Segensgebets von den zukünftigen Aufgaben der Glocke und bittet darum, dass sie diese dank der herabgeflehten Kraft des Heiligen Geistes wirkungsvoll erfüllen kann. 56 2.1.2 Die Waschung der Glocke Mit dem geweihten Wasser wusch der Vorsteher der Feier (Bischof, Priester) die Glocke außen und innen. Andere Kleriker werden ihm dabei behilflich gewesen sein. Möglicherweise hat der Offiziant auch nur die Reinigungszeremonie begonnen, die dann von seinen Helfern fortgesetzt wurde. 57 Psalmengesang begleitete den Vorgang. Sinnvollerweise sang man das „kleine Hallel“, also jene die sechs letzten Psalmen des Psalters umfassende Gruppe, in der jeder Psalm auf seine Weise zum Lob Gottes auffordert. 58 Auch die Glocke wird ja in erster Linie geweiht, damit sie die Gläubigen zum Gotteslob einlädt und versammelt. 2.1.3 Weihegebet und Chrisamsalbung Die erste Oration im Kernbereich des Weiheritus „Deus qui per moysen“ 59 lässt die für jüdisch-christliches Beten charakteristische Zweiteilung erkennen: Der anamnetische erste Teil des Weihegebets gedenkt des gottgewollten Dienstes von Signalinstrumenten im altbundlichen Gottesvolk. Erinnert wird namentlich an das Blasen von silbernen Trompeten durch die Leviten zur Zeit des Opfers und an die Trompetensignale, die Israel zum Kampf gegen seine Feinde riefen. Daran schließt sich die Bitte an, dass der Heilige Geist über die Glocke kommen möge (Epiklese), damit sie ihre zukünftigen Funktionen erfüllen könne. Es wird noch zu erläutern sein, welche Wirkungen man im Einzelnen vom Geläut der geweihten Glocke erwartete. 55 Vgl. Franz, Die kirchlichen Benediktionen (wie Anm. 47), I, 54-61; Eisenhofer, Handbuch der katholischen Liturgik (wie Anm. 1), II, 451-468. 56 Vgl. oben Anm. 45. Von dem zur Lustration der Glocke bereiteten Wasser werden hauptsächlich apotropäische Wirkungen erwartet: die Abwehr feindlicher Mächte, teuflischer Trugbilder, schadenbringender Gewitter, von Stürmen und Hagelschlag. Als positive Wirkung wird die Einladung der Christen zum Gotteslob genannt, dessen Beschreibung die Formulierungen des anschließend gesungenen Ps 150 vorwegnimmt; vgl. unten Anm. 58. 57 So sehen es die nachtridentinischen Pontifikaleausgaben bis zur Editio typica von 1961/ 62 vor. Diese ersetzte die Waschung durch eine Aspersion: „… Pontifex, mitram in capite tenens, aspergit campanam, nihil dicens, illam circumeundo.“ Vgl. oben Anm. 1. 58 Ps 145: Lauda anima mea Dominum; Ps 146: Laudate Dominum; Ps 147: Lauda Jerusalem Dominum; Ps 148: Laudate Dominum de coelis; Ps 149: Cantate Domino canticum novum; Ps 150: Laudate Dominum in sanctis eius. 59 Dumas, Deshusses, Liber Sacramentorum Gellonensis (wie Anm. 37), Nr. 2442. Liturgie und Gesellschaft 206 Das Abtrocknen der Glocke mit einem Leinentuch bereitet die anschließende konsekratorische Bezeichnung mit dem Chrisam vor. Die Chrisamsalbung ist vom Gesang des 28. (29.) Psalms begleitet. Er preist die Macht Gottes im Gewitter. Der dritte Vers erscheint durch seine Verwendung als Rahmenvers (Antiphon) besonders betont: „Vox domini super aquas … - Die Stimme des Herrn erschallt über den Wassern. Der Herr der Herrlichkeit donnert, der Herr über gewaltigen Wassern.“ 60 Es wird noch zu klären sein, weshalb ausgerechnet ein Psalm, der die sich in Donner, Blitz und Sturm manifestierende Allmacht und Erhabenheit Gottes feiert, in der Glockenweihe einen so exponierten Platz bekommen hat. Was die Bezeichnung der Glocke mit Chrisam betrifft, gilt allgemein: Die Verwendung von Chrisam bei Sachbenediktionen ist sekundär. Der ursprüngliche „Sitz im Leben“ der Chrisamsalbung ist die Initiationsliturgie. Bis ins dritte Jahrhundert lässt sich der Brauch zurückverfolgen, die Neugetauften mit heiligem Öl zu salben. 61 Die postbaptismale Salbung erfolgt nach dem Taufbad. Sie wird mit dem ranghöchsten unter den heiligen Ölen, dem Chrisam, auf dem Scheitel vollzogen, ursprünglich am ganzen Körper, wie es in manchen orientalischen Riten noch Brauch ist. 62 Die Salbung hat konsekratorische Bedeutung: Personen oder Sachen, die mit Chrisam gesalbt werden, sind auf Dauer Gott und seinem Dienst geweiht. In Anlehnung an die entsprechende Zeichenhandlung der Taufliturgie kennt der mittelalterliche Ritus der Glockenweihe nach der Waschung der Glocke ihre Bezeichnung mit Chrisamkreuzen an mehreren Stellen. 63 Der Bischof (Priester) 60 Ebd., Nr. 2443. Der Psalm 28 (29) wurde ursprünglich ohne die beiden ersten zum Lob und zur Anbetung Gottes auffordernden Verse gesungen. Dadurch war der Gesang noch stärker von dem Ausdruck „Vox Domini“ geprägt, der betont am Anfang fast aller folgenden Verse steht (VV. 3, 4, 5, 7, 9). 61 Vgl. Kleinheyer, Sakramentliche Feiern I (wie Anm. 18), 52f. 62 Vgl. ebd., 77-95. 63 Dumas, Deshusses, Liber Sacramentorum Gellonensis (wie Anm. 37), Nr. 2443. Ursprünglich geschah diese Salbung nach der Waschung außen und innen mit Chrisam. Erst das Pontifikale des Durandus (†1296) kennt die für die Folgezeit maßgeblich gewordene Differenzierung: Salbung auf der Außenseite mit „oleum sanctum“, Salbung im Inneren mit Chrisam. Auch in diesem Fall ist das „oleum sanctum“ wie bei der ersten Verwendung von heiligem Öl (vgl. oben Anm. 53) später sinnwidrig als Krankenöl („oleum infirmorum“) gedeutet worden. Bis zur letzten vorkonziliaren Editio typica des Römischen Pontifikales zeichnete der Bischof „de oleo sancto infirmorum septem cruces exterius super Campanam …“; vgl. oben Anm. 1. Der Ordo in der Pontifikaleausgabe von 1961/ 62 hat die Salbung vereinfacht und kennt nur mehr eine Bezeichnung in Kreuzesform mit Chrisam auf der Außenseite (vgl. ebd., 87). Begleitworte zur Chrisamsalbung tauchen erstmals im Pontifikale der römischen Kurie im 13. Jahrhundert auf; vgl. Andrieu, Le Pontifical Romain (wie Anm. 44), II, 442. Erhalten blieb bis in die Editio typica von 1961/ 62 die Formel aus dem Pontifikale des Durandus (†1296); vgl. ebd., III, 535. Die letzte vorkonziliare Ausgabe hat allerdings den mit der Chrismation verbundenen Friedensgruß (Pax tibi) fallen gelassen. Die bei jeder der sieben Salbungen zu wiederholende Formel lautete: „Sanctificetur et consecretur, Domine, signum istud, in nomine Patris et Filii + et Spiritus Sancti, in honorem sancti N.“. Der neue römische Glockenweiheritus von 1984 kennt keine Salbungen der Glocke mehr. Das deutsche Benediktionale von 1978 hat eine Chrisamsalbung dagegen noch als fakultatives Element beibehalten: nach dem Segensgebet im Anschluss an die Besprengung mit Weihwasser und die Beweihräucherung können die Glocken „an vier Stellen mit Chrisam gesalbt werden“; vgl. oben Anm. 2. Der Dienst der Glocke im Licht des mittelalterlichen Ritus 207 salbte die Außenseite des Glockenmantels sieben Mal in Kreuzesform. Das Gleiche geschah an der Innenseite an vier Stellen. Wie die exakteren Rubriken jüngerer Textzeugen erkennen lassen, waren die Chrisamkreuze am unteren inneren Rand in gleichem Abstand voneinander anzubringen, 64 sodass alle vier Himmelsrichtungen bezeichnet wurden. Auch die Siebenzahl der Salbungen in Kreuzesform auf der Außenseite intentierte offenbar eine „Irradiation“ des Christuszeichens nach allen Seiten. Auf der Glocke prangte „das Banner des heiligen Kreuzes“ (sancte crucis vexillum), das Siegeszeichen Christi, vor dem die feindlichen Mächte die Flucht ergreifen sollten. 65 Auf diesen Ton ist denn auch die anschließende Oration „Omnipotens sempiterne Deus, qui ante archam foederis“ 66 gestimmt. Das Gebet erinnert in seinem anamnetischen Auftakt an den Schall der Posaunen, der die Mauern Jerichos, hinter denen sich die Feinde des Volkes Gottes verschanzt hatten, einstürzen ließ. 67 Dementsprechend, so lautet die Bitte, soll der Klang der Glocke die Angriffe des bösen Feindes vereiteln. Diese sah man namentlich in den unheilvollen Begleiterscheinungen eines Gewitters am Werk: in Blitz, Hagel und Sturm, auf geistiger Ebene in den Versuchungen, durch die der Böse es darauf abgesehen hat, die durch die Glocke zusammengerufenen Gläubigen den Feiern des Glaubens abspenstig zu machen. In beiden Fällen soll sich Gott als der Stärkere erweisen. Zum Beweis, dass er dies vermag, erinnert die Oration an zwei alttestamentliche Rettungstaten, die eindrucksvoll zeigen, wie Gott den Naturkräften gebieten kann: das Zurückweichen des Meeres, als Israel aus Ägypten auszog, und das Innehalten des Jordanflusses, als das Volk in das gelobte Land einzog. 68 2.1.4 Beweihräucherung der Glocke Im Frühmittelalter hatte die Kirche ihre anfängliche Reserve gegen die kultische Verwendung von Weihrauch längst überwunden. Wie einst dem Kaiser wurde nun dem Papst zur Ehrenbezeigung Weihrauch vorangetragen, wenn er zum Gottesdienst in eine der römischen Basiliken einzog. 69 Für die gallischen Kirchen bezeugt Gregor von Tours (†594) die Verwendung von Weihrauch bei Prozessionen. 70 Als Zeichen der Verehrung fand die Darbringung von Weihrauch früh Eingang 64 Die entsprechende Rubrik lautet in den vorkonziliaren Pontifikaledrucken (vgl. oben Anm. 1): „… deintus cum Chrismate quatuor (cruces) pari distantia …“; in der letzten vorkonziliaren Ausgabe von 1961/ 62 sind die vier Chrisamkreuze auf der Außenseite „par distantia“ zu zeichnen, wobei jeweils die Konsekrationsformel (vgl. oben Anm. 63) wiederholt wird. 65 Dumas, Deshusses, Liber Sacramentorum Gellonensis (wie Anm. 37), Nr. 2442. 66 Ebd., Nr. 2444. 67 Vgl. Jos 6. 68 Das Gebet entnimmt beide Motive unmittelbar dem 113. (Vulgata) beziehungsweise 114. und 115. (1. Vers) Psalm, den es zitiert (Ps 113,5 und 7 sowie Ps 113*,1). 69 Vgl. H. B. Meyer SJ, Eucharistie. Geschichte, Theologie, Pastoral (GdK 4), Regensburg 1989, 196f. Allgemein zur Verwendung von Weihrauch im christlichen Gottesdienst: R. Berger u. a., Gestalt des Gottesdienstes (GdK 3), Regensburg 2 1990, 278-281. 70 Vgl. Franz, Benediktionen (wie Anm. 47), I, 422f. Liturgie und Gesellschaft 208 in den christlichen Märtyrerkult. 71 Beim christlichen Begräbnis verwendete man in Anlehnung an entsprechende spätantike pagane Bräuche schon im Altertum Weihrauch als apotropäisches Mittel. 72 Wenn Weihrauchwolken beim Offertorium der Messe und auf dem Höhepunkt des täglichen Morgen- und Abendlobs, beim Benedictus der Laudes und dem Magnificat der Vesper, vom Altar aus aufsteigen, symbolisieren sie das emporgesandte Gotteslob der Gemeinde (vgl. Ps 141/ 140,2; Mal 1,11) und die zu Gott aufsteigenden Gebete „der Heiligen“ (Offb 5,8; 8,3f.). Keines der genannten Motive vermag indes einleuchtend die Art zu erklären, wie Weihrauch bei der mittelalterlichen Glockenweihe verwendet wurde. Der Offiziant umschritt nicht bloß inzensierend die Glocke. Vielmehr wurde das Weihrauchgefäß, nachdem man Gewürzkräuter, Myrrhe und Weihrauch auf die glühenden Kohlen gegeben hatte, unter die etwas hochgezogene Glocke gestellt. 73 Die aufsteigenden Weihrauchwolken sollten eine Zeit lang das Innere der Glocke erfüllen und sie an der Außenseite umhüllen. Es kam offenbar darauf an, der Glocke die Kraft des Weihrauchs mitzuteilen, sie gleichsam damit zu imprägnieren. Es müsse dafür gesorgt werden, so die einschlägige Rubrik, dass die Glocke den Rauch in sich sammle (ut totum illum fumum colligat) 74 . Fragt man nach dem Grund für diese eigentümliche Art der thurificatio, wird man die exorzistische Wirkung beachten müssen, die man dem Weihrauch zuschrieb. Sie prägte besonders die Verwendung von Weihrauch bei den Räucherungen um Epiphanie. 75 Wenn zwischen Weihnachten und Dreikönig, in den Rauchnächten zur Zeit der Wintersonnenwende, die Räucherpfanne durch Haus und Hof getragen wurde, sollten die aufsteigenden Weihrauchwolken Unheil bringende Dämonen vertreiben. Die Gebete, mit denen der dazu verwendete Weihrauch gesegnet wurde, bringen die erhofften apotropäischen Wirkungen deutlich ins Wort. 76 Dass der Weihrauch gegen Dämonen wirksam sei, glaubte man auch der Bibel entnehmen zu können. Hatte nicht Tobias auf Befehl eines Engels durch Räucherwerk den todbringenden Dämon vertrieben? (Tob 6,17; 8,2f.). Während der Weihrauch die Glocke einhüllte, erklangen Verse aus dem 76. (77.) Psalm. Gesungen wurde bezeichnenderweise nur der letzte Abschnitt (VV. 17-21). 77 Er preist die Macht Gottes, die sich im Exodus-Ereignis gezeigt hat. 71 Vgl. R. Rutherford, The Death of a Christian. The Rite of Funerals, New York 1980, 159; V. Kwame Owusu SVD, The Roman Funeral Liturgy. History, celebration and theology, Nettetal 1993, 128. 72 Kwame Owusu, The Roman Funeral Liturgy (wie Anm. 81), 128, 138f., 151f. 73 Dumas, Deshusses, Liber Sacramentorum Gellonensis (wie Anm. 37), Nr. 2445. 74 Ebd. 75 Vgl. Franz, Benediktionen (wie Anm. 47), I, 423; Art. Rauchnächte, in: H. Bächtold-Stäubli (Hg.), Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens VII (Berlin, Leipzig 1936), 529-532 (Nachdruck Berlin, New York 1987). 76 Vgl. Franz, Benediktionen (wie Anm. 47), I, 430-434. 77 Dumas, Deshusses, Liber Sacramentorum Gellonensis (wie Anm. 37), Nr. 2445. Erst der revidierte Ritus in der Pontifikaleausgabe 1961/ 62 hat die traditionelle Psalmodie ersetzt durch den Lobpsalm 150, der gesungen wird, während der Bischof die Glocke inzensierend umschreitet; vgl. oben Anm. 1. Der Dienst der Glocke im Licht des mittelalterlichen Ritus 209 Damals hatte Gott den Wassermassen geboten und sein Volk durch Wolkendunkel und zwischen zuckenden Blitzen (vgl. Ex 14,19-22) seinen Weg sicher gehen lassen. In Erinnerung daran fragt der Psalmist: „Quis Deus magnus sicut deus noster - Wo ist ein Gott, so groß wie unser Gott? “ Dieser Vers 14 unseres Psalms diente als Kehrvers (Antiphon), gab also das Leitmotiv der Psalmodie an. Die dazwischentretenden Psalmenverse 17-21 schildern, ohne erkennbaren Bezug zu ihrem biblischen Sitz im Leben, die gewaltige Naturerscheinung des Gewitters: schwere Wolken, aus denen der Regen stürzt, das Dröhnen des Donners, Blitze, die „den Erdkreis erhellen“, und Sturm, der das Meer aufwühlt und die Erde beben lässt. In diesen Naturerscheinungen erwies und erweist sich Gott als der souveräne Gebieter. Es wiederholen sich also hier die gleichen Motive, die uns schon in der Psalmodie der Chrisamsalbung begegnet sind. 78 In beiden Fällen ist die Erklärung die gleiche. Die religiösen Anschauungen des Frühmittelalters sahen in den Erscheinungen eines Gewitters Geister der Luft, „aereae potestates“, 79 am Werk, die es darauf angelegt hatten, den Menschen Schaden zuzufügen. Ihnen kann der stärkere Gott Einhalt gebieten. Seinen Gläubigen gibt er wirkmächtige Mittel an die Hand, durch die sie die widergöttlichen Mächte abwehren können. Es ist nicht zu übersehen, dass die Zeichenhandlungen und Gebete der mittelalterlichen Glockenweihe beabsichtigen, die Glocke zu einem Instrument der Dämonenabwehr zu machen. 80 Von daher erklärt es sich, dass die Glocke den Weihrauchduft, den die Dämonen verabscheuen, in sich aufnehmen sollte. Und deshalb wurde während dieses Vorgangs die Allmacht Gottes über die Schadensmächte des Gewitters, als deren Verursacher „die bösen Geister des himmlischen Bereichs“ (vgl. Eph 6,12) galten, beschworen. 2.1.5 An Christus gerichtetes Schlussgebet Das letzte Gebet der Feier richtet sich an den „Omnipotens dominator Christus“. 81 Es gedenkt seines Machtworts, durch das er einst dem Sturm auf dem See Einhalt gebot (vgl. Mt 8,26). Daran knüpft sich die Bitte, Christus möge auch heute den Seinen in Nöten beistehen und mit „der Kraft (wörtlich: rore = mit dem Tau) des Heiligen Geistes“ die Glocke „durchdringen“, damit vor ihrem Klang der Feind jeder Zeit fliehe. Andererseits soll die Glocke das christliche Volk zu gläubigem Vertrauen (ad fidem) ermutigen. Die weiteren Bitten variieren das Doppelanliegen: Abwehr feindlicher Mächte und Verheißung göttlichen Schutzes. Der Schall der Glocke, der durch die Wolken dringt, schreckt nicht nur die „Schar der Gegner“, 78 Siehe oben Anm. 60. 79 Dumas, Deshusses, Liber Sacramentorum Gellonensis (wie Anm. 37), Nr. 2442: „… prosternat haereas potestates dextere tuae virtutis (! ) …“. Die Vorstellung, dass der Luftraum über der Erde Tummelplatz widergöttlicher Mächte sei, stützt sich namentlich auf Eph 6,12, wo von „spiritualia nequitiae in caelestibus“ die Rede ist; vgl. Franz, Benediktionen (wie Anm. 47), II, 19-37. 80 Vgl. Franz, Benediktionen (wie Anm. 47), II, 42f.; Otte, Glockenkunde (wie Anm. 1), 44-47. 81 Dumas, Deshusses, Liber Sacramentorum Gellonensis (wie Anm. 37), Nr. 2446. Liturgie und Gesellschaft 210 sondern ruft zugleich die Engel Gottes herbei, die über den versammelten Gläubigen wachen und sie und ihre Feldfrüchte vor Schaden bewahren. 82 2.2 Die Hauptfunktionen der geweihten Glocke Was schon bei der Analyse des mozarabischen Rituals der Glockenweihe angemerkt wurde, gilt auch hier: Die Glockenweihe weist eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Taufritual auf. Der gegen Ende des zehnten Jahrhunderts sich herausbildende Brauch, der Glocke bei ihrer Weihe einen Namen zu geben 83 und die noch jüngere, in den Liturgiebüchern allerdings nicht beachtete Sitte, Glockenpaten zu benennen, 84 haben die Taufanalogie noch verstärkt. Von „Glockentaufe“ hat man jedenfalls schon in karolingischer Zeit gesprochen. Ein im Jahre 789 erlassenes Capitulare Karls des Großen (†814) verbietet die „Glockentaufe“ „ut cloccas non baptizent …“. 85 Damit hat der Frankenkönig freilich nicht die kirchliche Glockenweihe unterbinden wollen. 86 Die in seinem Reich hergestellten und benutzten Sakramentare tradierten die hier beschriebene Ordnung unangefochten. Das Verbot hatte, wie der Kontext erkennen lässt, abergläubischen Wetterzauber im Visier. Es richtete sich gegen Praktiken der unerleuchteten Volksfrömmigkeit. Offenbar gab es eine damals verbreitete Unsitte, Handglocken zu „taufen“, d. h. sie mit Weihwasser zu waschen oder zu übergießen „propter grandinem“, um sie als Schutzmittel gegen Hagel kräftiger zu machen. 87 Damit ist die grundsätzliche Frage nach der Intention der Glockenweihe aufgeworfen. Wozu sollte das „Signum ecclesiae“ mit göttlichem Segen ausgerüstet werden? Welche Funktionen weist der Ritus der geweihten Glocke zu? Vieles ist dazu bei der Vorstellung der Wort- und Zeichenelemente unseres Ordo schon gesagt worden. Zwei Aufgaben treten deutlich hervor: die invitatori- 82 Vgl. ebd. Mit den „frugis (! ) credentium“, die durch den beständigen Schutz Gottes und seiner Engel heil erhalten bleiben sollen, sind nicht etwa „die Früchte des Geistes“ gemeint, sondern die Früchte der Felder, die durch Unwetter keinen Schaden nehmen sollen, während die Gläubigen zum Gottesdienst versammelt sind. 83 Vgl. Otte, Glockenkunde (wie Anm. 1), 19-23. In das Pontifikale der römischen Kurie findet die Namengebung im 13. Jahrhundert Eingang; Vgl. Andrieu, Le Pontifical Romain (wie Anm. 44), 442. Glocken werden fortan geweiht: „… in honore(m) sancte Marie matris Christi vel sancti Ill. …“. Das Pontifikale des Durandus (†1296) tilgt die beispielhafte Nennung Marias und lässt hinsichtlich der Namenwahl völlige Freiheit. 84 Vgl. Otte, Glockenkunde (wie Anm. 1), 23f. 85 MGH. Cap. I, 64: „Ut cloccas non baptizent nec cortas per perticas appendant propter grandinem“; vgl. dazu A. Perkmann, Art. Glocke, in: Bächtold-Stäubli, Handwörterbuch (wie Anm. 75), III (Berlin, Leipzig 1927), 868-876 (Nachdruck Berlin, New York 1987); Otte, Glockenkunde (wie Anm. 1), 16f.; Franz, Benediktionen (wie Anm. 47), II, 40f.; Eisenhofer, Handbuch der katholischen Liturgik (wie Anm. 1), II, 471. 86 Otte, Glockenkunde (wie Anm. 1), der in seiner von antikatholischer Polemik durchsetzten Kommentierung bedauert, dass „der evangelische Sinn Kaiser Karls des Großen nicht durchgedrungen zu sein scheint“(ebd., 17), räumt selbst ein, dass das generelle Verbot der entsprechenden kirchlichen Handlung nicht intendiert gewesen sein kann (ebd., 16). 87 Dazu Franz, Benediktionen (wie Anm. 1), II, 41 Anm. 1, zutreffend: „Der Zusammenhang fordert die Annahme eines populären Brauches.“ Der Dienst der Glocke im Licht des mittelalterlichen Ritus 211 sche und die apotropäische; eine dritte kündigt sich entfernt an: der Glockenklang als Gebetsimpuls. 2.2.1 Signal für die gottesdienstlichen Versammlungen Die Glocke ist zunächst invitatorisches Versammlungssignal. Der „Hohlkörper - vasculum“ sei hergestellt worden, heißt es zu Beginn der Segensoration über das Lustrationswasser, „ad invitandos filios ecclesiae - um die Kinder der Kirche einzuladen“. Wenn Christen die Glocke hören, soll frommer Eifer sie „ad piae matris gremium - zum Schoß der gütigen Mutter“, d. h. der Kirche, eilen lassen. 88 Konkret ist damit die Einladung zum Besuch des Kirchengebäudes gemeint, der sichtbaren Darstellung des Tempels Gottes aus unsichtbaren Steinen. Dort fügt sich der einzelne Gläubige ein in die Versammlung der Ekklesia am Ort. In der Versammlung der Heiligen, womit im biblischen Sinn alle Getauften gemeint sind, singt er Gott das neue Lied. Dieser Gottesdienst soll so festlich sein, dass die Engel des Himmels sich eingeladen fühlen, daran teilzunehmen. Durch den Dienst der Glocken wird also Kirche erfahrbar als die Gemeinschaft der Christen am Ort, die sich in Communio wissen mit den Engeln und Heiligen. Mit dem vom Glockenklang angestifteten gemeinschaftlichen Gotteslob wird gleichsam der Anfang gemacht, wenn während der Waschung der Glocke die Lobpsalmen, die am Ende des Psalters stehen (Pss 145/ 146-150), gesungen werden. Sie beginnen sämtlich mit einem Aufruf zum Gotteslob: Lauda, Laudate, Cantate Domino canticum novum! Von der Versammlungsfunktion der Glocke sprechen die weiteren Orationen des Rituals auffälligerweise nur nebenbei, etwa wenn gesagt wird, der Glockenklang lade die Gläubigen ein, sich den ewigen Lohn zu verdienen, 89 oder wenn darum gebetet wird, dass die durch die geweihte Glocke versammelte Kirche (ecclesiae conventus) vor den Anschlägen des Bösen sicher und von einer Schar wachsamer Engel behütet sein soll. 90 Auf die Aufgabe der Glocke, zum Gottesdienst und zum Hören des Wortes Gottes einzuladen, weist auch die allerdings erst im 13. Jahrhundert dem frühmittelalterlichen Ritus hinzugefügte Evangeliumslesung hin: Lk 10,38-42: Maria im Haus von Betanien, die das Wort Jesu aufmerksam hört. 91 2.2.1.1 Allegorische Deutungen Den invitatorischen Dienst der Glocken sieht unser Ritual vorgebildet in den silbernen Posaunen der Leviten, die das altbundliche Gottesvolk zum Gebet aufforderten. Hier macht sich das lebhafte Interesse des Frühmittelalters an den 88 Dumas, Deshusses, Liber Sacramentorum Gellonensis (wie Anm. 37), Nr. 2440. 89 So dürfte der verkürzende Ausdruck „fidelis (! ) inuitentur ad premium“ (Dumas, Deshusses, Liber Sacramentorum Gellonensis [wie Anm. 37], Nr. 2442) zu verstehen sein. 90 Vgl. ebd., Nr. 2446. 91 Die als Tagesevangelium an „Mariä Himmelfahrt“ (15. August) im Mittelalter bestens bekannte Perikope begegnet erstmals im Pontifikale des Durandus (†1296) am Ende der Glockenweihe, wo sie sich fortan bis zur letzten vorkonziliaren Editio typica (1961/ 62), die sie ersatzlos ausschied, behaupten konnte. Liturgie und Gesellschaft 212 kultischen Vorschriften des Alten Testaments bemerkbar, worauf besonders Raimund Kottje aufmerksam gemacht hat. 92 Amalar von Metz († um 850), der Vater der im Mittelalter allgegenwärtigen allegorischen Liturgieerklärung, hat diesen alttestamentlichen Bezug weiter ausgesponnen. 93 Nach ihm symbolisieren die Glocken die Boten Gottes, die an seiner Statt rufen. Der Hohlraum der Glocke weist auf den weit geöffneten Mund des Predigers hin, der Klöppel symbolisiert seine Zunge. Die signa ecclesiae reichen weiter als die Posaunen des Alten Testaments, weil Gott nun nicht mehr bloß in Judäa, sondern in der ganzen Welt bekannt wird. Auch sind die ehernen Glocken dauerhafter als die alttestamentlichen Signalinstrumente, wodurch die ewige Geltung der Botschaft Christi versinnbildet werden soll. Der Glockenklang bezeichnet ferner das Evangelium, dessen Kunde bis zu den Enden der Erde (vgl. Ps 19,5) dringt. Wenn an den Feiertagen häufiger und voller geläutet wird, sehen die mittelalterlichen Liturgieerklärer darin einen Hinweis, dass Gott in Gnadenzeiten seine Botschaft eindringlicher ergehen lässt und zahlreichere Boten schickt. 94 2.2.1.2 Glockenersatz in den Kartagen In diesem Zusammenhang verdient der bis heute fortlebende Brauch des Verstummens der Glocken in den Kartagen Beachtung. Von Gründonnerstag bis zur Ostervigil schweigen die Glocken. 95 Die mittelalterliche Allegorese sieht darin einen Hinweis darauf, dass auch die zwölf Apostel zur Zeit der Passion und Grabesruhe Christi verwirrt verstummten. 96 Dass dann Holzklappern den Dienst der Glocken übernehmen, erklärt Amalar zunächst liturgiehistorisch zutreffend als einen Rückgriff auf die ältere, von der griechischen Kirche treuer bewahrte Art, die Christen durch Schlagbretter (semantron) zum Gottesdienst zu versammeln. 97 Amalar hält übrigens auch in Rom den Gebrauch von Glocken für eine rezente Neuerung; erst Papst Stephan II. (752-757) habe begonnen, durch Glocken aus Erz und nicht mehr durch Holz-Signale die Gläubigen zur Feier der Stundenliturgie rufen zu lassen. 98 Wichtiger als die historische ist Amalar aber die symbolische Bedeutung: In den Kartagen weist das dumpf klingende Holzgeräusch hin auf die Humiliatio 92 R. Kottje, Studien zum Einfluß des Alten Testaments auf Recht und Liturgie des frühen Mittelalters (6.-8. Jahrhundert), Bonn 2 1970. 93 Amalar, Liber officialis, III, c. 1,2-9, ed. J. M. Hanssens (Studi e Testi 139), Città del Vaticano 1948, 258-260; vgl. J. Sauer, Symbolik des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung in der Auffassung des Mittelalters, Freiburg i. Br. 2 1924, 146-149. [Zu Amalar jetzt: D. Diósi, Amalarius Fortunatus in der Trierer Tradition. Eine quellenkritische Untersuchung der trierischen Zeugnisse über einen Liturgiker der Karolingerzeit (LQF 94), Münster 2006.] 94 Vgl. G. Durandus, Rationale divonorum officiorum I, c. 4,12, ed. J. Dura, Neapel 1859, 34. 95 Das nachvatikanische Römische Messbuch bestimmt, dass die Glocken zum Gloria der Abendmahlsmesse am Gründonnerstag läuten, dann bis zur Osternacht schweigen, falls nicht die zuständige Bischofskonferenz oder der Ortsbischof anders entscheidet; vgl. Missale Romanum … Auctoritate Pauli PP. VI promulgatum. Editio typica, Typis polyglottis Vaticanis 1971, 243. 96 Vgl. Durandus, Rationale divinorum officiorum V, c. 72,3-5. 97 Liber Officialis, IV, c. 21,7, ed. Hanssens, (wie Anm. 93), 470. 98 Ep. Amalariia ad Hilduinum, 19, ed. Hanssens (Studi e Testi 138), Città del Vaticano 1948, 344. Der Dienst der Glocke im Licht des mittelalterlichen Ritus 213 (Verdemütigung) des bis ins Grab erniedrigten Christus. 99 Wilhelm Durand (†1296) inventarisiert im Zusammenhang seiner Ausführungen zu Sonderbräuchen des Gründonnerstags weitere Deutungen. 100 Verhängnisvoll hat sich die unterschwellig antisemitische, bis in die Volkskatechismen der Neuzeit mitgeschleppte Erklärung ausgewirkt, die besagt: Das Geräusch der Klappern erinnert an das Geschrei und Treiben der Juden bei der Passion Jesu. 101 2.2.1.3 Anmerkungen zur Läuteordnung Wann und wie leisteten die Glocken ihren invitatorischen Dienst? Es ist dies die Frage nach den noch weitgehend unerforschten Läuteordnungen. Trotz zu erwartender regionaler und lokaler Varianten lassen sich gewisse überörtliche Konstanten ausmachen. Namentlich verlangte die tägliche Gottesdienstsequenz des monastischen Offiziums den Dienst der signa ecclesiae. Sobald das „signum“ ertönt, lassen die Mönche, so bestimmt es die Benediktregel, alles stehen und liegen und eilen zum „Opus Dei“ (Gottesdienst), dem nichts vorgezogen werden darf. 102 Der von der Benediktregel festgelegte Lebens- und Gebetsrhythmus der klösterlichen Gemeinschaften kennt außer den mitternächtlichen Vigilien sieben Gebetszeiten zwischen Sonnenauf- und -untergang. Die Glocke erklang in der Morgendämmerung (incipiente luce) zum Morgenlob (laudes matutinae), dann etwa eine Stunde später zur Prim, wonach der Arbeitstag begann, im halben Vormittag zur Terz, die gleichzeitig (außer an Fasttagen) die privilegierte Zeit der Messe war, auf dem Höhepunkt des Tages zur Sext, zur Non am frühen und zur Vesper am späten Nachmittag sowie in der Abenddämmerung zur Komplet. „Wieweit die klösterliche Zeitordnung auf ihre Umwelt prägend gewirkt hat, ist“ - so bemerkt Gerhard Dohrn-van Rossum - „schwer zu sagen.“ 103 Zweifellos aber galt das den Tag gliedernde Gottesdienstprogramm der Mönche auch als nachahmenswerte Norm für die Bischofs- und Pfarrkirchen. Regino von Prüm (†916) lässt beispielsweise den die Landpfarreien visitierenden Bischof prüfen, ob der Pfarrer die tägliche Läuteordnung beobachtet: Er muss zur Prim, Terz und Non „certo tempore“ ein Glockenzeichen geben und die passende Hore in der Kirche singen. 104 Ein Glockenzeichen ist auch zur Matutin und zur Vesper anzu- 99 Liber Officialis, IV, c. 21,8 (wie Anm. 93). 100 Durandus, Rationale divinorum officiorum V, c. 72,4. 101 Vgl. ebd.: „… per signum tabulae terrorem accipimus. Tabula ergo percutitur, quia magnus timor Apostolis a Jedaeis incutiebatur.“ 102 Regula Benedicti c. 43,1-3; B. Steidle OSB (Hg.), 136f.; zum täglichen Gottesdienstprogramm vgl. bes. Regula Benedicti c. 16 (ebd., 100f.). 103 G. Dohrn-van Rossum, Geschichte der Stunde: Uhren und moderne Zeitordnung, München u. a. 1992, 43. 104 Die 29. Frage über die Amtsführung des Pfarrers lautet: „Si primam, tertiam, sextam, nonam certo tempore signo ecclesiae denunciet et cursum debitum decantet? F. W. H. Wasserschleben (Hg.), Regiononis Abbatis Prumiensis Libri duo de synodalibus causis et disciplinis ecclesiasticis, Lipsiae 1840, 21. Gleich die 2. Frage der bischöflichen Überprüfung gilt der Beschaffenheit der Kirchenglocken: „Quo metallo sint signa ipsius ecclesiae? “, ed. F. W. H. Wasserschleben, 19. Liturgie und Gesellschaft 214 nehmen, da Regino darauf drängt, dass wenigstens an Sonn- und Feiertagen die Gläubigen sich zu diesen Haupthoren in der Pfarrkirche einfinden. 105 Die Glocken versammeln also zur Zeit der verpflichtenden Hauptgottesdienste die Pfarrleute aus den Dörfern und Gehöften in ihrer „Mutterkirche“. Sie erfüllen dadurch, gerade auf dem Land, eine in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzende, über das Liturgische hinausreichende gemeindebildende Funktion. Auch im Hochmittelalter läuteten die Glocken nicht nur zu Messe. 1238 bestätigte und urgierte eine Trierer Synode das Glockenzeichen zu den kanonischen Tagzeiten als in den Pfarrkirchen beizubehaltenden Brauch: „In parochialibus ecclesiis pulsentur (et cantentur) horae canonicae.“ 106 Von Bischof Wilhelm Durand d. Ä. (†1296) erfahren wir, wie in Anlehnung an die kanonischen Horen den ganzen Tag über durch differenzierte Glockenzeichen die Zeit angezeigt wurde: 107 Zur Prim gab es ein einmaliges Läuten, zur Terz läutete es dreimal, wodurch die Ansage der zweiten, dritten und vierten Stunde zusammengefasst wurde, zur Sext ebenfalls dreimal für drei Stunden zusammen, so auch zur Non. Zur Vesper, die gewöhnlich zur Nonzeit antizipiert wurde, läutete es „multipliciter“, in der Nacht, zu den Metten, gewöhnlich dreimal, zunächst mit einer Schelle, dann ein zweites und drittes Läuten in der Regel mit verschiedenen Glocken oder in signifikanter Art mit einer Glocke. Wird dreimal geläutet, erklärt unser Gewährsmann, erfolgt das erste Glockenzeichen „ad invocandum - als Aufruf“, das zweite „ad congregandum - zum Sich-Versammeln“, das dritte „ad inchoandum - zum Anfangen“. Je nach dem Fest- oder Bußcharakter der Zeit oder des Tages variiert die Anzahl der Glocken. In der Vorfasten- und Fastenzeit ist das simpulsari, also das Läuten mit einer Glocke, die Regel; nur zur Messe und Vesper dürfen auch dann zwei Glocken erklingen. Sonn- und Festtage sind dagegen immer durch volleres Geläut ausgezeichnet, weil - so Durand 108 im Anschluss an Amalar 109 - zur Zeit der Gnade die Prediger zahlreicher auftreten, um die Säumigen aufzuwecken. Das dritte Glockenzeichen erfolgt üblicherweise in Form der Compulsatio, des Zusammenläutens aller Glocken; beim Ausläuten, der Depulsatio, beginnt der Gottesdienst. Großklöster und Kathedralen mit einer reichen Glockenausstattung entwickelten eine die gestufte Feierlichkeit der Tage und Gottesdienste noch differenzierter anzeigende Läuteordnung. So bestimmen etwa die Consuetudines Fructuarienses- Sanblasianae (Fructuaria in Piemont/ St. Blasien im Schwarzwald), 110 dass der Sakristan zur Christmette zunächst ein Vaterunser lang mit einer scilla, einem 105 Vgl. ebd., 215 (Liber II, quaestio 69). 106 Cap. 30; J. J. Blattau, Statuta Synodalia, ordinationes et mandata Archidioecesis Trevirensis, 9 Bde., Trier 1844-1859, I, 40. Die Gemeinde bildende Funktion des Glockenzeichens wird deutlich, wenn anschließend betont wird, auf das Glockenzeichen hin müssten an Sonn- und Feiertagen die Menschen „de villis circa iacentibus et capellis attinentibus“ zur Messe in der Pfarrkirche (matrix ecclesia) zusammenkommen. 107 Vgl. G. Durandus, Rationale (wie Anm. 94), I, c. 4,9. 108 Vgl. ebd., 12. 109 Vgl. oben Anm. 94. 110 Vgl. L. G. Spätling OFM, P. Dinter (Hg.), Consuetudines Fructuarienses-Sanblasianae (CCM XII/ 1), Siegburg 1985, 126f. Der Dienst der Glocke im Licht des mittelalterlichen Ritus 215 Glöckchen, läutet, dann eine zweite scilla erklingen lässt, anschließend mit Intervallen die signa minora (kleinere Glocken) läutet, dann die signa maiora (größere Glocken). Wenn der Abt den Gottesdienst beginnt, läuten alle Glocken zusammen. Eine 1501 in Venedig gedruckte Ausgabe des Römischen Messbuchs enthält als Anhang eine ganzjährige Läuteordnung, die zeigt, wie sorgfältig abgestuft die Glocken zur Gottesdienstankündigung eingesetzt wurden. 111 Vorausgesetzt ist eine Grundausstattung mit drei Glocken. An den Hochfesten wurden die üblichen drei Glockenzeichen alle in Form des Zusammenläutens gegeben. An einfachen Festen läutet zuerst die größere Glocke, dann die mittlere und schließlich die mittlere und kleine zusammen. An den gewöhnlichen Tagen rechnet die Ordnung nur mit einem zweimaligen Glockenzeichen, das erste mit der großen, das zweite mit der kleinen Glocke. In dieser Weise werden die Hauptgottesdienste Matutin, die Messe zur Terzzeit und die Vesper angekündigt; zur Komplet läutet regelmäßig zuerst die große, dann die kleine Glocke. 2.2.2 Die apotropäische Funktion der Glocke Aus heutiger Perspektive wirkt es äußerst befremdlich, wie stark der mittelalterliche Ritus die apotropäische Aufgabe der Glocke hervorhob. Es ist eine aus der Religionsgeschichte bekannte Anschauung, dass tönendes Erz und klingende Schellen unheilbringende Dämonen vertreiben. 112 Nun ist aber gerade das Frühmittelalter in massiver Weise von Teufels- und Dämonenvorstellungen beherrscht. Menschen wie Dinge denkt man sich ununterbrochen den Machenschaften böser Geister ausgesetzt. Der „Fürst dieser Welt“ ist allgegenwärtig und sein Wirken ist für den Menschen derart bedrohlich, dass gar nicht häufig und entschieden genug die Waffen des stärkeren Gottes gegen ihn und sein Heer aufgeboten werden können. 113 Es musste der frühmittelalterlichen Kirche daran gelegen sein, die abergläubische Vorstellung zu überwinden, die dem tönenden Erz als solchem dämonenabwehrende Kraft zuschrieb. Durch die Glockenweihe war klarzustellen: Nicht der eherne Klang an sich erschrickt und vertreibt die bösen Geister; sie erschrecken und fliehen vor der Stimme ihres göttlichen Herrn, die sie im Klang der geweihten Glocke erkennen und fürchten. Jede Oration unseres Ordo bittet in immer neuen Worten und Wendungen darum, dass die Glocke mächtig und kräftig werde, den bösen Feind zu vertreiben und seine Anschläge abzuwehren. Man denkt sich die Schadensmächte vor allem im Raum zwischen Erde und Himmel am Werk; die „Geister der Luft“ (vgl. Eph 6,12) werden als Anstifter von Gewittern, Stürmen, Wirbelwinden, von Blitz- und Hagelschlag gefürchtet. Sie lenken auch die „böse Luft“, welche die Pest und sonstige Krankheiten bringt. Hier soll die Glocke, deren Klang durch die Wolken dringt, als mächtige, unheilabwehrende Waffe Abhilfe schaffen. Die erhoffte apotropäische Wirkung stützt sich auf die der Glocke applizierten Sakramentalien: Weihwasser, Bezeichnung mit heiligem Öl, Thurifikation. Insbe- 111 Vgl. J. W. Legg (Hg.), Tracts on the Mass (HBS 27), London 1904, 175-178. 112 Vgl. Angenendt, Das Frühmittelalter (wie Anm. 5), 185f. 113 Vgl. oben Anm. 60. Liturgie und Gesellschaft 216 sondere aber ist es die Vorstellung von der Glocke als „vox domini - Stimme des Herrn“, die Eindruck macht. Der eigentlichen Weihehandlung geht der Gesang des 28. (29.) Psalms voraus, in dem der Ausdruck „vox domini“ nicht weniger als sieben Mal, deutlich akzentuiert, vorkommt. 114 Der Psalm preist die Macht der Stimme des Herrn: Sie spaltet die Zedern des Libanon, sendet Feuerpfeile aus und wirbelt Eichen empor. Exakt sieben Mal, sooft der Ausdruck „vox domini“ im Psalm vorkommt, zeichnet der Bischof ein Kreuz mit Chrisam auf die Außenseite der Glocke und weiht sie so zur wirkmächtigen Stimme des Herrn, dem die bösen Geister gehorchen. Fortan fliehen die Dämonen den Klang dieser Stimme und erschrecken vor dem der Glocke aufgeprägten Christuszeichen, dem „sanctae crucis vexillum“, das - wie das Beispiel der in Canino in der Provinz Viterbo gefundenen Glocke aus dem achten Jahrhundert zeigt 115 - schon früh auch als Relief auf dem äußeren Glockenmantel angebracht wurde. Die Gläubigen erwarten von der zur Stimme des Herrn konsekrierten Glocke alle jene erstaunlichen Wirkungen, die das Neue Testament vom Machtwort Christi berichtet. Dieses Machtwort hatte die Dämonen in die Schranken gewiesen. 116 Es hatte auch dem Sturm und den Wellen geboten, woran das Schlussgebet unseres Ordo erinnert. 117 Die volkskundliche Forschung hat eine Fülle von Belegen zusammengetragen, die eindrucksvoll zeigen, wie wichtig dieser apotropäische Dienst der Glocke den Menschen im Mittelalter war und bis weit in die Neuzeit geblieben ist. 118 Die Glockeninschriften 119 sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache. Auch dem Schadenszauber der Wetterhexen glaubte man mit den geweihten Glocken beikommen zu können. Hexenprozessprotokolle berichten, wie die Hexen durch den Klang der geweihten Glocken sich bei ihrem Schadenszauber gestört fühlten. Und wenn sie beim Heimflug vom Hexentanzplatz nicht vor dem Morgenläuten zu Hause waren, fielen sie beim ersten Glockenschlag buchstäblich aus allen Wolken. 120 Erst die staatlichen und kirchlichen Verbote der Aufklärungszeit haben das mit abergläubischen Erwartungen belastete „Mailäuten“ gegen Gewitter- und Hagelschaden zu unterdrücken vermocht, wobei massiver Volkswiderstand zu überwinden war. 121 114 Vgl. Eisenhofer, Handbuch der katholischen Liturgik (wie Anm. 1), II, 474. 115 Vgl. Leclercq, Art. Cloche (wie Anm. 14), 1965. 116 Vgl. etwa Mk 1,23-27.34; 5,1-20; 9,25-29. 117 Dumas, Deshusses, Liber Sacramentorum Gellonensis (wie Anm. 37), Nr. 2446; vgl. Mt 8,26. 118 Vgl. etwa Otte, Glockenkunde (wie Anm. 1), 44-47; A. Perkmann, Art. Läuten, in: Bächtold- Stäubli, Handwörterbuch (wie Anm. 75) V (Berlin, Leipzig 1935), 938-949, bes. 939; N. Kyll, Die Glocke im Wetterglauben und Wetterbrauch des Trierer Landes, in: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 9 (1958) 130-179. 119 Vgl. Otte, Glockenkunde (wie Anm. 1), 121-129; W. Walter, Glockenkunde, Regensburg, Rom 1913, 199-444. 120 Beispiele bringt P. Binsfeld, Tractat von Bekanntnuß der Zauberer und Hexen. Ob und wieviel denselben zu glauben, Trier 1590, fol. 75; Ders., Tractatus de Confessionibus maleficorum et sagarum, Augustae Trevirorum 2 1591, 343-346. 121 Vgl. Kyll, Die Glocke im Wetterglauben (wie Anm. 118); Ders., Die Hagelfeier im alten Erzbistum Trier und seinen Randgebieten, in: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 13/ 14 (1962/ 63) 113-171; A. Hennen, Walpurgisnacht und Maibräuche im Trierer Land, in: G. Franz, F. Irsigler (Hg.), Hexenglaube und Hexenprozesse im Raum Rhein-Mosel-Saar, Trier Der Dienst der Glocke im Licht des mittelalterlichen Ritus 217 Die apotropäische Dimension des Glockendienstes war auch intendiert, wenn die Sterbeglocke läutete und wenn Geläut den Leichenzug zur Kirche und von dort zum Friedhof begleitete. Zwar rief dann die Glocke in erster Linie zur Gebetshilfe auf. Damit die Gläubigen wussten, für wen aus ihrer Gemeinde sie beten sollten, schlug für einen sterbenden Mann die Glocke dreimal vor dem dreimaligen Zusammenläuten an, bei einer Frau zweimal, bei einem Kleriker wurde das Anschlagen und Zusammenläuten entsprechend der Anzahl der empfangenen Weihen wiederholt. 122 Über diese Mitteilungs- und Gebetseinladungsfunktion hinaus leistete die Glocke aber auch allein schon durch ihr Geläut einen geistlichen Dienst im Umkreis des Todes: In den kritischen, für die Ewigkeit entscheidenden Momenten zwischen Todeskampf und Begräbnis sollte sie die bösen Geister fernhalten, die darauf aus waren, die scheidende Seele in ihre Gewalt zu bringen. Nicht nur bei der Begräbnisprozession, sondern bei allen Prozessionen sollten die Glocken läuten, damit, wie der einflussreiche Liturgieerklärer Durandus erklärt, „die Dämonen, von Furcht ergriffen, sich davonmachen“ und der Herr sein Volk mit Frieden segnet (vgl. Ps 29,11). 123 2.2.3 Das Glockenzeichen als Gebetsimpuls Im Ritus selbst tritt eine Funktion, die im Hoch- und Spätmittelalter zunehmend an Bedeutung gewann, noch nicht hervor: das Glockenzeichen als Andachts- und Gebetsimpuls. Wenn die Weiheliturgie vom Dienst der Glocke „devotionis augmentum“ (Mehrung der Andacht) und „invitatio ad fidem“ (Aufmunterung zum Glauben) erwartet, 124 dann nur insofern, als die Glocke die Gläubigen zum Gottesdienst versammelt. Dort, in gemeinsamer Feier, wird die Frömmigkeit vertieft und der Glaube gestärkt. Dagegen wurde im Zeitalter der Gotik, als das Individuelle stärker hervortrat, 125 der Glockenklang mehr und mehr als persönlicher Gebets- und Andachtsimpuls erfahren. Diese Entwicklung lässt sich am Beispiel des an der Wende zum 13. Jahrhundert erstmals aufkommenden Glockenzeichens „ad elevationem (zur Erhebung der Hostie“ verfolgen. 126 Im Zuge der vom Dogma der Realpräsenz bestimmten und vom Schauverlangen genährten Eucharistiefrömmigkeit des Hochmittelalters bildete sich um 1200 ein neuartiger Ritus in der Messe heraus: die elevatio sacramenti. Sie wird in der Messfrömmigkeit der folgenden Jahrhunderte als der 1995, 151-165, bes. 159f.; K. Küppers, Marienfrömmigkeit zwischen Barock und Industriezeitalter, St. Ottilien 1987, 51-80 (Maigebet). [Vgl. ferner: A. Heinz, Vom Wettersegen im Mai zur Marien-Maiandacht, in: Ders., Liturgie und Frömmigkeit. Beiträge zur Gottesdienst- und Frömmigkeitsgeschichte des (Erz-)Bistums Trier und Luxemburgs zwischen Tridentinum und Vatikanum II, Trier 2008, 225-242.] 122 Vgl. G. Durandus, Rationale (wie Anm. 94), I, c. 4,13. 123 Ebd., 14: „… in processionibus pulsantur, ut daemones timentes fugiant …“. 124 Dumas, Deshusses, Liber Sacramentorum Gellonensis (wie Anm. 37), Nr. 2440. 2446. 125 Vgl. A. Mayer, Die Liturgie in der europäischen Geistesgeschichte. Gesammelte Aufsätze, Darmstadt 1971, 18-47. 126 Vgl. Meyer SJ, Eucharistie (wie Anm. 69), 232f. (Literatur); J. A. Jungmann, Missarum Sollemnia, 2 Bde., Wien 5 1962, II, 256-264. Liturgie und Gesellschaft 218 Höhepunkt der Feier schlechthin erlebt: Nach dem Aussprechen der Abendmahlsworte zeigt der Priester dem Volk die konsekrierte Hostie, damit alle den „Fronleichnam“ schauen und verehren können. Die Erhebung des Sakraments hat man durch ein Schellenzeichen solemnisiert. Bald mehren sich die Zeugnisse, dass man „ad elevationem“ auch die Turmglocke anzieht, allerdings nicht, wie es heute geschieht, im Augenblick der Wandlung, sondern schon geraume Zeit davor, beim Sanctus oder gar schon beim Evangelium. 127 Warum so früh? Damit, so die ursprüngliche Begründung, die in der Nähe der Kirche sich aufhaltenden Gläubigen in das Gotteshaus kommen können, um im Augenblick der Elevation den Herrenleib anzuschauen. Davon hat man sich allen nur erdenklichen Segen versprochen. Im Zuge der weiteren Entwicklung ist das nach und nach mit der Elevation verbundene Glockenzeichen nicht mehr invitatorisch gemeint gewesen, sondern als Proklamation des Wandlungswunders an die Abwesenden und als Aufforderung zu einer intentionalen Teilnahme aus der Ferne verstanden worden. 128 Die Glocke versammelte im Augenblick der Wandlung die ganze Kirche am Ort zu einer Gemeinschaft im Geist und zu einem gemeinsamen Akt der Anbetung. Das traditionelle Glockenzeichen zur Komplet in der Abenddämmerung erfährt im Hochmittelalter eine devotionale Neuinterpretation. In der Normandie ergeht 1061 eine von der kirchlichen und weltlichen Obrigkeit gemeinsam erlassene Verfügung, beim abendlichen Glockenzeichen ein Gebet zu sprechen, die Haustür zu schließen und die Straßen und Gassen nicht länger zu frequentieren. 129 Das abendliche Glockenzeichen hatte also - gewiss nicht nur in der Normandie - auch eine kommunale Ordnungsfunktion. Als Ignitegium (couvre-feu), als Signal zum Abdecken des offenen Herdfeuers, markierte er das Ende des Arbeitstages und die beginnende Nachtruhe. In Paris läutete die Abendglocke zum Ignitegium ab 1356 aus sicherheitspolitischen Gründen für die ganze Stadt nur mehr vom Turm der Kathedrale Notre Dame, und zwar schon um 19.00 Uhr. 130 Um die Mitte des 14. Jahrhunderts hat man dieses Glockenzeichen in der Abenddämmerung mit Sicherheit schon als Ave-Maria-Läuten empfunden. Es waren die Franziskaner Mittelitaliens, die etwa seit der Mitte des 13. Jahrhunderts begannen, die Gläubigen anzuleiten, beim Glockenzeichen zur Komplet Maria mit dem Englischen Gruß zu grüßen. 131 Die Abenddämmerung soll angeblich die Stunde gewesen sein, zu welcher der Engel ihr die Botschaft brachte. Der Brauch 127 Ein Glockenzeichen zum Evangelium, „ut existentes in vicino laici ad elevationem dominici corporis et sanguinis invitentur …“, verlangte noch die Trierer Provinzialsynode von 1549; vgl. Mansi 32, 1447; J. J. Blattau, Statuta Synodalia (wie Anm. 106), II, 174; vgl. A. Heinz, Die sonn- und feiertägliche Pfarrmesse im Landkapitel Bitburg-Kyllburg der alten Erzdiözese Trier (TThSt 34), Trier 1978, 343-345. 128 Vgl. Heinz, Pfarrmesse (wie Anm. 127), 345. Es ist bemerkenswert, dass das Läuten zur Elevation mit der Turmglocke ursprünglich nur für die Pfarrmesse vorgesehen war; so noch das Trierer Rituale von 1688 (S. 425); vgl. ebd., 345, Anm. 1719. 129 Vgl. Th. Esser, Ave-Läuten und der „Engel des Herrn“ in ihrer geschichtlichen Entwicklung, in: HJ 23 (1902) 22-51. 247-269. 775-825, hier 27. 130 Vgl. ebd., 36. 131 Vgl. ebd., 30-35; A. Heinz, Art. Angelus, in: LThK 1 (Freiburg 3 1993), 653f. Der Dienst der Glocke im Licht des mittelalterlichen Ritus 219 verbreitete sich rasch in ganz Europa, als der in Avignon residierende Papst Johannes XXII. (1316-1334) ihn durch Ablassverleihungen förderte und 1327 in Rom einführte. Bei den entsprechenden päpstlichen Gewährungen ist bemerkenswert, dass der empfohlene Mariengruß in der Abendstunde an ein charakteristisches Glockenzeichen gebunden wird: In Rom wurde für jeden Stadtteil eine Kirche bestimmt, die bei Einbruch der Dunkelheit zum Ave-Maria läuten sollte. 132 Bischöfe förderten ihrerseits den Brauch in ihren Sprengeln. 1331 wurde beispielsweise das abendliche Ave-Läuten „de vespere circa crepusculum“ in allen Pfarrkirchen des Bistums Breslau angeordnet. 133 In manchen italienischen Städten übernahm die Stadtglocke das Ave-Läuten, etwa in Pavia, wo, unabhängig vom Komplet- Glöckchen der Konvente, die Campana del Comune als Ave-Glocke diente. 134 Das lässt erkennen, dass die Stadt diesem Glockenzeichen auch und in erster Linie ordnungspolitische Bedeutung beimaß. Ähnliches gilt für das jüngere Gebetsläuten am Morgen. Als der Bischof von Parma zu Weihnachten 1317 ein tägliches Glockenzeichen in der Morgendämmerung anordnete als Aufforderung zu einem Gebet für den Frieden und die Freiheit der Stadt, gab der Magistrat diesem Geläut eine zusätzliche Ordnungsfunktion: Es markierte fortan den Arbeitsbeginn in den Handwerksbetrieben und Geschäften. 135 Während sich dieses Morgenläuten auch andernorts mit unterschiedlichen Gebetsintentionen im Laufe des 14. Jahrhunderts einbürgerte, etablierte sich das mittägliche Gebetsläuten erst wesentlich später. Es lässt sich als Passionsgedächtnisläuten, zunächst nur am Freitag, zuerst in Böhmen, nachweisen. 136 Papst Callixtus III. (1455-1458) versuchte es 1456 mit mäßigem Erfolg als Aufforderung zum Gebet um Abwendung der Türkengefahr zu einem täglichen Gebet zu machen. Die sofortige Einführung in Bologna und die 1457 durch den späteren Kardinal Nikolaus Cusanus (†1464) erfolgte Rezeption im Bistum Brixen müssen als eher seltene Ausnahmen gelten. 137 Erst den volkskatechetischen Bemühungen der katholischen Reform nach dem Tridentinum (1545-1563) gelang es im Laufe des 17. Jahrhunderts, das dreimalige Angelus-Läuten in der katholischen Volksfrömmigkeit fest zu verankern und die „Betglocke“ zu einem den Lebens- und Arbeitsrhythmus der Landbevölkerung nachhaltig prägenden Faktor zu machen. 138 3. Schlussbemerkung Die katholische Kirche hat sich im Zuge der Liturgiereform des II. Vatikanischen Konzils (1962-1965) von ihrem mittelalterlichen, von archaischer Basisreligiosität geprägten Ritus der Glockenweihe verabschiedet. Der Brauch einer liturgischen Indienstnahme als solcher wird aber beibehalten. Als Grund dafür verweist der 132 Vgl. Esser, Ave-Läuten (wie Anm. 129), 40-43. 133 Vgl. ebd., 45. 134 Vgl. ebd., 36f., Anm. 4. 135 Vgl. Esser, Ave-Läuten (wie Anm. 129), 247. 136 Vgl. ebd., 258f. 137 Vgl. ebd., 261-263. 138 Vgl. A. Heinz, Der Engel des Herrn, in: HlD 33 (1979) 51-58. Liturgie und Gesellschaft 220 Ritualeband „De Benedictionibus“ von 1984 139 auf die Bedeutung der Glocke für das christliche Gemeindeleben. Die Glocke rufe das Volk Gottes zu den gottesdienstlichen Versammlungen und teile den Gläubigen die wichtigsten Ereignisse aus dem Leben der Gemeinde am Ort mit. Über diese Kommunikations- und Informationsfunktion hinaus kommt der Glocke auch zu, „gewissermaßen die Gestimmtheit des Volkes Gottes nach außen darzustellen: 140 Freude und Trauer, Dank und Bitte und die Zusammengehörigkeit der Vielen in Christus. Die in der Vergangenheit stark hervorgetretene apotropäische Dimension der Glockenweihe und des Glockendienstes ist spurlos aus dem erneuerten Ritus verschwunden. Die heutige Form der „Glockenweihe“ in der römisch-katholischen Kirche kennt von den drei traditionellen Aufgaben, die der Glockenspruch in Friedrich Schillers „Lied der Glocke“ prägnant benennt: „Vivos voco, mortuos plango, fulgura frango - Die Lebenden rufe ich, die Toten beklage ich, die Gewalt der Blitze breche ich! “ nur mehr die beiden ersten Dienste. 139 Vgl. De Benedictionibus (wie Anm. 2), Nr. 1032f., S. 395. 140 Ebd.: „… campanarum vox sensus populi Dei quodammodo exprimit …“. 11 „Waffensegen“ und Friedensgebet. Zur politischen Dimension der Liturgie Das Jahr 1989 ist als das Jahr der sanften Revolutionen in die Geschichte eingegangen. Der Begriff hört sich wie die Quadratur des Kreises an, wenn man bedenkt, wieviel Blut in den Revolutionen der Vergangenheit geflossen ist. Aber in der DDR und in den anderen vordem sozialistischen Ländern Mitteleuropas ist das geschehen, was der frühere tschechoslowakische Staatspräsident Václav Havel ein Wunder zu nennen gewagt hat: 1 eine radikale gesellschaftliche Umwandlung ohne Gewalt. Nicht blutige Fahnen, sondern brennende Kerzen sind zum Erkennungszeichen dieser Revolution geworden. Mit brennenden Kerzen umgaben sie die Zentralen der Macht; und mit brennenden Kerzen ehrten sie die Opfer eines menschenverachtenden Unrechtssystems. Auch wenn man die Wende im Osten nicht vorschnell kirchlich vereinnahmen darf - diese atemberaubenden Veränderungen haben gezeigt, dass vom christlichen Glauben immer noch weltverändernde Kräfte ausgehen und dass vom christlichen Gottesdienst verwandelnde Impulse kommen, mit anderen Worten: Liturgie hat eine politische Dimension und muss sie nach ihrem Selbstverständnis auch haben. Zum Bild der gewaltlosen Revolution des Jahres 1989 gehört ganz unmittelbar ein gottesdienstliches Phänomen: das Friedensgebet! Seine Initiatoren haben berichtet, wie es schon Jahre hindurch in verschiedenen Städten der DDR von oft verschwindend kleinen Gruppen evangelischer und katholischer Christen gepflegt wurde in geduldiger Hoffnung auf das Unmögliche und ohne zu ahnen, dass es einmal eine solche gesellschaftsverändernde Kraft entfalten würde. 2 Die Ereignisse im Oktober 1989 ließen die Teilnehmerzahlen dann sprunghaft ansteigen. In Erfurt konnten vier große Kirchen und in Leipzig sämtliche sieben Innenstadtkirchen die an den Montagabenden zum Friedensgebet sich Sammelnden nicht mehr fassen. Wenn die nach dem Friedensgebet sich formierenden Demonstrationen so gewaltfrei verliefen, dann gewiss auch, weil im Geist der Bergpredigt jedes Mal [Erstveröffentlichung: „Waffensegen“ und Friedensgebet. Zur politischen Dimension der Liturgie, in: TThZ 99 (1990) 193-216. Es handelt sich um die geringfügig überarbeitete Fassung einer Öffentlichen Vorlesung, die der Verfasser im Rahmen des Vortragswerks der Theologischen Fakultät Trier am 18. Juni 1990 in der Promotionsaula des Priesterseminars Trier gehalten hat.] 1 Vgl. V. Havels Ansprache auf dem Prager Flughafen bei der Begrüßung Papst Johannes Pauls II. am 22. April 1990, veröffentlicht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Ausgabe vom 23.04.1990, 3. 2 Vgl. P. Köst, F. Domaschke, A. Kunert, Vor Gott um Frieden ringen. Aspekte des Erfurter Friedensgebets, in: Geist und Leben 63 (1990) 11-123; Brennpunkt Leipzig, in: „Tag des Herrn“ (Leipzig), Ausgabe vom 25.03.1990; der Bericht wurde nachgedruckt in: Priesterjahrheft 1990, hg. vom Generalvorstand des Bonifatiuswerkes, Paderborn 1990, 23f. Liturgie und Gesellschaft 222 ausdrücklich in den Fürbitten oder mit den Worten des sogenannten „Franziskusgebets“ 3 um Friedfertigkeit gebetet wurde. 4 Diese jüngste Erfahrung der friedenstiftenden Wirkung christlichen Betens scheint mir eine günstige Ausgangsposition zu sein, um einen schwerwiegenden Vorwurf aufzugreifen, den Kirchenkritiker immer wieder erhoben haben. Er lautet: Die Kirche hat keineswegs immer nur um den Frieden gebetet; sie hat sich sogar dazu hergegeben, Waffen zu segnen. I. Der Waffensegen im Pontificale Romanum In einem der offiziellen liturgischen Bücher der römisch-katholischen Kirche gab es bis zur jüngsten Liturgiereform ein Formular mit dem kompromittierenden Titel: Benedictio armorum - Waffensegen. 5 Es stand im Pontificale Romanum, also jenem Buch, das die dem Bischof vorbehaltenen Riten enthält. Das Formular war eingerahmt von vergleichbaren Stücken: Voraus gingen Gebete zur Segnung und Übergabe des Kreuzes an diejenigen, die zur Verteidigung des christlichen Glaubens oder zur Rückgewinnung des Heiligen Landes auszogen. 6 Es folgten Texte zur Schwertleihe 7 und andere zur Überreichung einer Kriegsfahne. 8 Dieses archaisch anmutende Umfeld lässt schon vermuten, dass das Benediktionsformular sich nicht zur Segnung von modernen Vernichtungswaffen eignete. Es hatte seinen Sitz im Leben in der längst untergegangenen mittelalterlichen Welt christlichen Rittertums. 9 Die Oration des „Waffensegens“ rechnete mit einer dem Schwert 3 Das dem heiligen Franz von Assisi oft zugeschriebene überkonfessionelle Gebet „Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens …“ (vgl. „Gotteslob“ [1975] 29,6) ist in Wirklichkeit erst in den Jahren kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Frankreich entstanden. Die anonyme französische Urfassung lässt sich erstmals auf einem zwischen 1912 und 1914 im Distrikt Reims verbreiteten franziskanischen Andachtsbild für die Mitglieder des „Dritten Ordens“ nachweisen. Ihnen wurde geraten, die „Prières pour la paix“ täglich zu beten und ihren Gehalt zum Programm der eigenen Lebensführung zu machen. In deutscher Sprache taucht das Gebet erst unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg auf; es wurde zunächst durch ein vom evangelischen „Mädchen-Bibel-Kreis“ in Leipzig 1945 herausgegebenes Faltblatt verbreitet und fand Ende der 40er-Jahre nach und nach Aufnahme in evangelische Gebetbücher. Seinem Inhalt nach wurzelt das sogenannte Franziskusgebet in der Spiritualität mittelalterlicher normannischer Benediktinerklöster. A. Wilmar hat in diesem Zusammenhang besonders auf das Schrifttum des Abtes Johannes von Fécamp (990-1078) hingewiesen. Zur Rezeptionsgeschichte des heute wohl verbreitetsten ökumenischen Friedensgebets vgl. die gründliche Untersuchung von F. Schulz, Das sogenannte Franziskusgebet, in: JLH 13 (1968) 39-53. 4 Zur Verwendung des „Franziskusgebet“ im Rahmen der in der DDR veranstalteten Friedensgebete vgl. etwa den Bericht aus Erfurt (Anm. 2). 5 Pontificale Romanum … a Benedicto XIV. et Leone XIII. Pont. max. recognitum et castigatum. Editio typica, Ratisbonae, Neo Eboraci et Cincinnati 1888, 208: De benedictione armorum. 6 Vgl. ebd., 206f.: De benedictione et impositione crucis proficiscentibus in subsidium et defensionem fidei christianae seu recuperationem Terrae Sanctae. 7 Vgl. ebd., 209: De benedictione ensis. 8 Vgl. ebd., 210: De benedictione et traditione vexilli bellici. 9 Die Feier der Schwertleihe (s. Anm. 7) sieht einen einzelnen Ritter vor dem Bischof knien, der ihn und das von einem Diener gehaltene Schwert segnet, wobei die Segensbitte ganz auf einen „Waffensegen“ und Friedensgebet 223 vergleichbaren Einzelwaffe. Das Gebet knüpfte die Segensbitte an die Bedingung, dass der Träger die Waffe nur defensiv, zur Verteidigung der gerechten Ordnung, gebrauchte und erbat ihm für diesen Fall Gottes Schutz. Die zusätzlich angebotene Auswahloration war zwar auf einen etwas kriegerischeren Ton gestimmt. Sie weckte die Hoffnung, dass die gesegneten Waffen genauso erfolgreich sein würden wie der Stein in der Hirtenschleuder Davids im Kampf gegen Goliath. Im Übrigen aber ging auch dieses Segensgebet von einem rein defensiven Gebrauch der Waffe aus; der Träger durfte sie nur benutzen, wenn es galt, die Rechte der Kirche oder schutzlose Witwen und Waisen zu verteidigen. 10 Diese Texte ahnen noch nichts von der geballten Vernichtungskraft moderner Waffenarsenale. Sie gehören zu jenen Stücken toten Traditionsguts, das die liturgischen Bücher unbeirrt über Jahrhunderte hinweg konserviert haben, obwohl es längst jeden Lebensbezug verloren hatte, ähnlich wie bis 1955 die römische Karfreitagsliturgie die Fürbitte für den römischen Kaiser festgehalten hat, obwohl es einen solchen seit 1806 nicht mehr gab. 11 Zum Segnen neuzeitlicher Waffen waren die traditionellen Texte nicht zu gebrauchen, und sie sind dafür auch nicht missbraucht worden. Was Arnold Vogt in seiner 1984 erschienenen militärgeschichtlichen Studie „Religion im Militär“ für die Zeit des Ersten Weltkriegs feststellt, dass nämlich „im strengsten liturgischen Sinne … eine Segnung der Waffen von katholischen Seelsorgern nicht vorgenommen“ wurde, 12 wird man - bis zum Beweis des defensiven Ton gestimmt ist. Der Begleitspruch zum Anlegen des Schwertes mahnt den Ritter, das Schwert nur zur Verteidigung zu gebrauchen; auch soll die Waffe mögliche Angreifer und Feinde des Kreuzes Christi abschrecken; mit dem geweihten Schwert dürfe kein Mensch unrechtmäßigerweise verletzt werden. Die ältesten Texte zur „Schwertleihe“ reichen zurück bis in das beginnende 11. Jahrhundert. Sie lassen sich erstmals in einer für den Freisinger Bischof Egilbert (1006-1039) angefertigten liturgischen Handschrift nachweisen; zum Ritual und zur Textwelt der Ritterweihe vgl. A. Franz, Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter, 2 Bde., Freiburg i. Br. 1909 (Nachdruck: Graz 1960), hier II, 289-300. 10 Pont. Rom. (s. Anm. 5): „… et concede famulo tuo N. eadem (i. e. arma) gestare cupienti, ut ad munimen ac defensionem sanctae matris Ecclesiae, pupillorum, et viduarum, contra visibilium et invisibilium hostium impugnationem, ipsis libere et victoriose utatur. Per Christum Dominum nostrum.“ 11 Zum Fortleben der Karfreitagsfürbitte für den Römischen Kaiser vgl. L. Biehl, Das Liturgische Gebet für Kaiser und Reich (Görres-Gesellschaft. Veröffentlichungen der Sektion für Rechts- und Staatswissenschaft 75), Paderborn 1937, 91-93. Über die Anfänge des „Kaisergebets“ am Karfreitag vgl. P. De Clerk, La prière universelle dans les liturgies latines anciennes (LQF 62), Münster 1977, 125-144. Vgl. ferner den anonym erschienenen Aufsatz in der Jesuitenzeitschrift „La civiltà cattolica“ 67 (1916) 37-53: Le preghiere liturgiche per il Romano Impero e per i principi con particolare riguardo ai tempi di guerra. 12 A. Vogt, Religion im Militär. Seelsorge zwischen Kriegsverherrlichung und Humanität, Frankfurt a. M.-Bern-New York 1984, 577. Feldgeistliche haben freilich Soldaten gesegnet, wobei sie selbst und die Empfänger des Segens schwerlich immer die intendierte Segnung von Personen und die dem Anschein nach mitgemeinte Segnung von Waffen auseinandergehalten haben. Die Grenzen waren im Einzelfall fließend. So begeisterte sich etwa der spätere Regensburger Bischof Michael Buchberger (1874-1961), der während des Ersten Weltkrieges im Münchener Ordinariat das Referat für Feldseelsorge leitete, im Blick auf die Feier einer „Truppenaussegnung“ mit dem Allerheiligsten für das Gedicht „Waffenweihe“ von H. Herbert, das einen Pfarrer schildert, der mit der Monstranz in den Kreis der angetretenen Soldaten Liturgie und Gesellschaft 224 Gegenteils - generell behaupten dürfen. Die Liturgiebücher boten jedenfalls keine Handhabe dazu. II. „Waffensegen“ im weiteren Sinn Mit dieser Feststellung ist die heikle Frage freilich noch nicht vom Tisch. Waffensegen wird in der Regel in einem weiteren, äquivalenten Sinn verstanden. Wer diesen Vorwurf erhebt, meint damit jedes liturgische Handeln, wodurch die Kirche sich allem Anschein nach kriegsfördernd engagiert hat. Hat die Kirche in Kriegs- und Krisenzeiten tatsächlich in diesem weiteren Sinn Gottes Segen über Waffen herabgebetet? Dem Problem des so verstandenen „Waffensegens“ quer durch alle Epochen der Liturgiegeschichte nachzugehen, wäre ein mehr als abendfüllendes Unternehmen. Man müsste in diesem Fall die seit dem vierten Jahrhundert stark militärisch akzentuierte Fürbitte für den römischen Kaiser in den Großen Fürbitten des Karfreitags und im Exsultet der Osternacht kritisch beleuchten. 13 Der byzantinische Osten hat sie zu einem markigen Kriegsgebet ausgebaut, das der Liturgiehistoriker Anton Baumstark nicht „nur patriotisch, sondern im höchsten Grad imperialistisch“ genannt hat. 14 Es wäre nach der Bedeutung der Patrocinia Sanctorum, also von Heiligenreliquien, zu fragen, wie sie die Franken auf ihren Kriegszügen mitzuführen pflegten. tritt, „und segnet mit heißem flehenden Wort die knienden Krieger, die Waffen dort“. Vgl. M. Buchberger, Die bayerische Feldseelsorge im Weltkriege, München-Kempten 1916, 14f.; s. auch A. Vogt, a. a. O., 576f. In Bamberg geleiteten bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs Pfarrer im Ornat die an die Front abgehenden Soldaten zum Bahnhof und segneten die Abfahrenden „und in das Hurra und das ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ schwenkten die Kirchenfahnen“. Zitiert nach H. Missala, „Gott mit uns“. Die deutsche katholische Kriegspredigt 1914-1918, München 1968, 13, Anm. 1, nach einem Bericht in der „Kölnischen Volkszeitung“ vom 18.09.1914. Auf evangelischer Seite ist zumindest ein Fall des dort offenbar bereitwillig und regelmäßig praktizierten Soldaten- und Waffensegens literarisch greifbar. Der protestantische „Feldoberpfarrer des Ostens“, Dr. O. Strauß, berichtet mit selbstbewusstem Stolz im Rückblick auf den Ersten Weltkrieg: Von der Mobilmachung an habe ich aus meiner großen Heimatgarnison kaum einen Trupp ins Feld ziehen lassen, ob Tausende auf einmal, ob nur sechs, acht einzelne Leute, ob spät am Abend, traten die Ausrückenden zusammen. Ein kurzes Bibelwort, meist der 91. Psalm, ein gemeinsames Vaterunser, drei kurze Fragen, dreimal ein lautes, kräftiges ‚ja, wir wollen‘, dann wurde das Seitengewehr gezogen, hoch über dem Haupt emporgehoben und die Krieger mit ihrer Waffe zum Siegen oder zum Sterben durch den Segen des dreieinigen Gottes geweiht.“ Zitiert nach A. Wittenberg, Militär-Gesangbuch und Militär- Seelsorge in Vergangenheit und Gegenwart, in: JLH 18 (1973/ 74) 97-162, hier 152f. 13 Vgl. Biehl, Das liturgische Gebet (wie Anm. 11), 84f.; De Clerck, La prière universelle (wie Anm. 11), 127f. 14 A. Baumstark, Friede und Krieg in altkirchlicher Liturgie, in: Hochland 13 (1915) 257-270, hier 264; vgl. ferner A. Heisenberg, Kriegsgottesdienst in Byzanz, in: Aufsätze zur Kultur- und Sprachgeschichte vornehmlich des Orients. Ernst Kuhn zum 70. Geburtstage am 6. Februar 1916 gewidmet von Freunden und Schülern, Breslau 1916, 244-267; Belege aus ostkirchlichen Eucharistischen Hochgebeten auch in meinem Aufsatz: Das Gebet für die Feinde in der abendländischen Liturgie, in: LJ 32 (1982) 201-218, hier 207f. Nachdruck in diesem Band. „Waffensegen“ und Friedensgebet 225 Als schutz- und segenstiftendes Heiltum im Kampf galt in merowingischer Zeit vor allem die Cappa Sancti Martini, der Martinsmantel. 15 Wir haben es mit einer Art Waffensegen zu tun, wenn man - wie es uns aus dem hochmittelalterlichen England berichtet wird - die konsekrierte Hostie allen sichtbar auf einem geschmückten Standartenwagen ins Kampfgetümmel mitnahm. 16 Einen besonders zwiespältigen Eindruck hinterlässt die Kriegsliturgie, die die westgotische Nationalkirche Spaniens ausgebildet hat. 17 In der Apostelkirche von Toledo rief der Bischof über den König und seine Armee in Wehr und Waffen jedes Mal Gottes Segen herab, sooft sie zu einem Feldzug ausrückten. Die aus blutiger Schlacht Heimkehrenden wurden liturgisch empfangen. Es ist uns heute schwer begreiflich, wie ein renommierter Liturgiewissenschaftler zu Beginn des Ersten Weltkriegs im Blick auf dieses Ritual schwärmen konnte, die Kirche habe hier verständnisvoll germanischem Wesen in ihrer Liturgie Raum gegeben. 18 Wieder ein eigenes Problem ist die liturgische Begleitung der Kreuzzüge, der Ketzer- und Türkenkriege. 19 III. Zwei Schwerpunkte der Untersuchung Da sich dies alles im engen Rahmen nicht abhandeln lässt, möchte ich zwei Schwerpunkte in der Neuzeit setzen. Es sollen zwei Epochen herausgegriffen und näher beleuchtet werden, an die im Jahr der sanften Revolution vielfache Ge- 15 Vgl. A. M. Koeniger, Die Militärseelsorge der Karolingerzeit. Ihr Recht und ihre Praxis (Veröff. aus dem Kirchenhistorischen Seminar München IV. Reihe Nr. 7), München 1918, 19f. 44f. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet Martin von Tours (†397) zum siegverheißenden Kriegspatron wurde, da er doch nach dem Zeugnis seines Bewunderes und Biographen - entsprechend der Tradition der vorkonstantinischen Kirche - überzeugt war, dass Christsein und Waffendienst sich nicht vertragen. Nachdem Martin als junger Offizier die Taufe empfangen hatte, quittierte er bald danach den Militärdienst; vgl. Sulpicius Severus, Vita Martini 3-4; in deutscher Übersetzung ist die einschlägige Passage abgedruckt bei: Th. Gerhards (Hg.), Pazifismus und Kriegsdienstverweigerung in der frühen Kirche, Uetergen 4 1986, 28f. 16 Vor der „Standartenschlacht“ von Northallerton (1138) rief in Abwesenheit des Königs der Erzbischof von York das englische Heer zusammen. Er ließ einen „Fahnenwagen“ herrichten, auf dem sich die heilige Eucharistie und die Fahnen des heiligen Petrus von York, des heiligen Johannes von Beverley und des heiligen Wilfried von Rippon befanden. Christus und seine Heiligen sollten mit den Kriegern ziehen und ihnen Schutz und Sieg erwirken; vgl. C. Erdmann, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens, Stuttgart 1935, 2 1955, 50. 17 Eine kurze Beschreibung bei Franz, Die kirchlichen Benediktionen (wie Anm. 9), 300f. Die Texte selbst bei: M. Férotin, Le Liber Ordinum en usage dans l’église wisigothique et mozarabe d’Espagne du V e au XI e siècle (Mon. eccl. liturgica 5), Paris 1904, 149-155; vgl. dazu auch A. Baumstark, Vom geschichtlichen Werden der Liturgie (Ecclesia orans 10), Freiburg 1923, 85; A. L. Mayer, Altchristliche Liturgie und Germanentum, in: JLW 5 (1925) 80-96, hier 90f. 18 Vgl. Baumstark, Friede und Krieg (wie Anm. 14), 270. 19 Für die Zeit der Hussiten- und Türkenkriege hat A. Franz vielsagende Zeugnisse zusammengestellt; vgl. A. Franz, Die Messe im deutschen Mittelalter, Freiburg i. Br. 1902 (Nachdruck: Darmstadt 1963), 208-211. 758-761. [Vgl. jetzt ferner: A. Heinz, Das Gebet für die Nicht- Glaubenden in der Liturgie der abendländischen Kirche, in: Christlicher Glaube und säkulares Denken. FS zum 50. Jahrestag der Wiedererrichtung der Theologischen Fakultät Trier 1950-2000 (TThSt 63), hg. von der Theologischen Fakultät Trier, Trier 2000, 269-290.] Liturgie und Gesellschaft 226 denkveranstaltungen erinnert haben: die Französische Revolution vor 200 Jahren und die auf sie folgende Zeit der Herrschaft Napoleons, und der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vor 50 Jahren mit dem Überfall deutscher Truppen auf Polen am 1. September 1939. 1. Die napoleonische Zeit Dass die Kirche die schon bald gegen sie selbst gerichteten Waffen der Revolutionäre des Jahres 1789 gesegnet hätte, ist von vornherein auszuschließen. Doch die Entwicklung der folgenden Jahre brachte einen Mann an die Macht, der bald ganz Europa mit dem Lärm seiner Waffen erfüllen sollte: Napoleon Bonaparte. Im Blick auf die napoleonische Ära stellt sich die Frage nach einem möglichen „Waffensegen“ mit aller Schärfe. a) Äquivalenter Waffensegen Es gab in der Neuzeit wohl keinen anderen Machthaber, der nachdrücklicher die Gebete der Kirche für seine kriegerischen Unternehmen begehrt hätte und dem sie bereitwilliger gewährt worden wären als Napoleon. Die katholische Kirche im Herrschafts- und Einflussbereich des Ersten Konsuls und seit 1804 ersten Kaisers der Franzosen hat jeden seiner Waffengänge mit Bitt- und Segensgebeten begleitet und für jeden nach blutigen Schlachten errungenen Sieg ein feierliches Te Deum angestimmt. „Die feierlichen Gebete“ - so beschreibt beispielsweise der Trierer Bischof Charles Mannay (1802-1816) 20 in seinem Hirtenwort vom 21. Oktober 1806 21 vor der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt den Zweck der von ihm angeordneten besonderen Gebete - (sie) „sollen gehalten werden, um den ferneren Segen des Himmels über seine (nämlich Napoleons) Waffen zu erbitten“ 22 . 20 Charles Mannay war gebürtiger Franzose. Auf Vorschlag seines ehemaligen Schülers, des Ministers Charles-Maurice de Talleyrand, nominierte ihn Napoleon nach dem Konkordatsschluss von 1801 zum Bischof von Trier (12.07.1802). Der ernannte Bischof war vordem (seit 1778) Generalvikar im Erzbistum Reims gewesen und hatte sich während des Kirchenkampfes im Exil (England und Schottland) aufgehalten. Wegen seiner reibungslosen Zusammenarbeit mit dem napoleonischen Staat erhielt er zahlreiche staatliche Ehrungen. Als Vertrauensmann Napoleons gehörte er den Abordnungen an, die mit dem in Savona bzw. später in Fontainebleau festgehaltenen Papst Pius VII. (1800-1823) über eine für Frankreich günstige Interpretation der Konkordatsbestimmungen hinsichtlich der Bischofsernennungen verhandelten. In dem auf den Umfang des Saardépartements reduzierten Bistum Trier erwarb sich der landfremde Bischof durch seine pastoralen Bemühungen (Pfarrorganisation, Visitationen, Wiedereröffnung des Priesterseminars) und seine erfolgreichen Verhandlungen zur teilweisen Rückerstattung konfiszierten Kirchenvermögens bleibende Verdienste. Nach der Einrichtung der preußischen Verwaltung im linksrheinischen Gebiet verzichtete Ch. Mannay am 08.04.1816 auf das Bistum Trier. Er starb 1824 als Erzbischof von Rennes; vgl. A. Thomas, Art. Mannay, Charles, in: Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785/ 1803 bis 1945. Ein biographisches Lexikon, hg. von E. Gatz, Berlin 1983, 473-475. 21 J. J. Blattau. Statuta synodalia, ordinationes et mandata archidioecesis Trevirensis, 9 Bde., Trier 1844-1859, hier VII, 288-293: „Verordnung des Herrn Bischofs von Trier, welche feierliche Gebete vorschreibt, um über die siegreichen Waffen Sr. Kaiserlichen Königlichen Majestät ferneren Segen des Himmels zu erflehen.“ 22 Ebd., 292. „Waffensegen“ und Friedensgebet 227 Nachdem dann Napoleons Truppen Preußen und Sachsen vernichtend geschlagen hatten, rief der Trierer Bischof auf „zur Danksagung für das Glück, welches Gott den Waffen seiner Majestät gewährt hat und namentlich für den glänzenden Sieg von Jena …“. 23 Um die aus heutiger Pespektive höchst irritierende Willfährigkeit zu einer solchen, regelmäßig vor jedem Waffengang gewährten liturgischen Schützenhilfe zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, was der Aufstieg des kleinen korsischen Korporals zum Alleinherrscher für die Kirche Frankreichs bedeutet hatte. 24 Der Schock der Revolution von 1789 saß tief. Das Ende der Feudalherrschaft hatte die vielfach privilegierte katholische Staatskirche über Nacht bettelarm gemacht; ihre Bischöfe waren zum großen Teil emigriert. Die Klöster waren aufgelöst, die Ordensleute versprengt. Eine von Rom nicht anerkannte staatshörige Parallelkirche mit einem im Eilverfahren illegal geweihten Episkopat war entstanden; viele den Loyalitätseid auf die republikanische Verfassung verweigernde romtreue Geistliche waren eingekerkert. An drei blutigen Septembertagen wurden 1792 in den Pariser Gefängnissen 300 Priester ermordet (darunter der in Trier ausgebildete, vom letzten Trierer Erzbischof geweihte, von Pius XI. 1926 seliggesprochene Pariser Kaplan Franz Josef Pey 25 ). Vom Sommer 1793 bis zum Sommer 1994 war eine Welle der Dechristianisierung über das Land gegangen. Die meisten Kirchen waren geschlossen und ihrer liturgischen Ausstattung beraubt. Unter den Schlägen der Jakobinerherrschaft schien selbst der Felsen Petri zu zerbrechen: Der 81-jährige, todkranke Papst Pius VI. (1775-1799) war nach Frankreich verschleppt worden; er starb dort als Gefangener. In diesem lichtlosen Dunkel ging Napoleon wie eine Hoffnungssonne auf. Nachdem ihm der Staatsstreich vom 9. November 1799 die Macht dazu gegeben hatte, trat er in Verhandlungen mit dem neuen Papst Pius VII. (1800-1823) ein. Sie führten zu dem mühsam errungenen, den Frieden zwischen Staat und Kirche wiederherstellenden Konkordat vom Dezember 1801. Über Napoleons Motive beim Konkordatsschluss sind sich die Historiker weitgehend einig: Sein Anliegen war es nicht, Frankreich zu rechristianisieren, sondern „das, was an Religion noch da war, zu seinem Vorteil zu nutzen“. 26 23 Ebd., 330. Das Hirtenwort vom 8. November 1806 trägt die Überschrift: „Verordnung des Herrn Bischofs von Trier, welche zur feierlichen Danksagung für das Glück, das Gott den Waffen Seiner Kaiserlichen Königlichen Majestät gewährt hat, namentlich für den bei Jena erfochtenen glänzenden Sieg ein Te Deum vorschreibt.“ Wie üblich hatte auch dieses Mal Napoleon die Bischöfe um die liturgische Siegesfeier ersucht. In dem am 15. Oktober 1806 in Weimar unterzeichneten Brief des Kaisers heißt es (ebd., 331): „Au reçu de la présente (lettre), veuillez donc réunir nos peuples dans les temples, chanter un Te Deum et ordonner des prières pour remercier Dieu de la prospérité qu’il a accordée à nos armes.“ 24 Zu den folgenden Ausführungen vgl. die kirchengeschichtlichen Handbücher und die dort verzeichnete Literatur. 25 Vgl. Balth. Fischer, Der selige Märtyrer Franz Joseph Pey, Theologiestudent in Trier 1779- 1784, Trier 2 1959. 26 Zitiert nach R. Aubert, Die katholische Kirche und die Revolution, in: HKG, hg. von H. Jedin (Freiburg-Basel-Wien 1971), Bd. VI, 82. Liturgie und Gesellschaft 228 Die Kirche Frankreichs sah dagegen fortan in Napoleon den Retter der Religion. Die Bischöfe wurden nicht müde, den Gläubigen Napoleon als den Helden vorzustellen, den Gott selbst, wie der Trierer Bischof Mannay sich in seinem Hirtenwort anlässlich der Erhebung Napoleons zum Kaiser ausdrückte, „zum Werkzeug seiner Güte gegen sein Volk bestimmt“ 27 hat. Diesem „Mann seiner Rechten“ 28 , von dem sich die Kirche rehabilitiert sah, war sie bereit, großzügig in Kriegs- und Friedenszeiten Gebetshilfe zu leisten. Das Konkordat selbst enthielt die Verpflichtung zu einem allsonntäglichen Gebet für den französischen Staat. 29 Im Zuge des Aufstiegs Napoleons galt dieses systemstützende Fürbittgebet bald nur noch seiner Person. Zweimal sang der Priester vor dem Schlusssegen des Sonntagshochamts: „Domine, salvum fac imperatorem nostrum Napoleonem - Herr, gib Heil unserem Kaiser Napoleon.“ In der anschließenden Oration erflehte er dem Kaiser der Franzosen Gottes Segen und eine kraftvolle Regierung. 30 Systemstützend wirkte auch die liturgisch abwegige, allein politisch motivierte Einrichtung zweier neuer Hochfeste. Das in Frankreich von jeher besonders hervorgehobene Fest der Aufnahme Mariens in den Himmel am 15. August wurde zum alljährlichen Danktag für die Wiederherstellung der Religion in Frankreich durch den gottgesandten „Erretter des Vaterlandes“ erklärt. 31 Man sah es als Fügung Gottes an, dass Napoleon an einem 15. August geboren war, dass er an einem 15. August zum Ersten Konsul gewählt worden war und dass Papst Pius VII. am Fest Mariä Himmelfahrt in Rom den Abschluss des Konkordats offiziell mitgeteilt 27 Blattau, Statuta synodalia (wie Anm. 21), VII, 217-225, hier 217. 28 So wird Napoleon z. B. im Hirtenbrief des Trierer Bischofs vom 8. November 1806 nach der Schlacht bei Jena genannt, vgl. Blattau, Statuta synodalia (wie Anm. 21), VII, 330. 29 Vgl. Biehl, Das liturgische Gebet (wie Anm. 11), 67. Im Bistum Trier wies das Generalvikariat am 6. Juni 1802 die Pfarrer an, in Zukunft an allen Sonn- und Feiertagen am Ende der Pfarrmesse das Gebet für die französische Republik zu verrichten; vgl. den Text der Verordnung bei Blattau, Statuta synodalia (wie Anm. 21), VII, 137f. Zur Praxis vgl. A. Heinz, Die sonn- und feiertägliche Pfarrmesse im Landkapitel Bitburg-Kyllburg der alten Erzdiözese Trier (TThSt 34), Trier 1978, 430f. 30 Eine erste Anpassung der Fürbitte für den französischen Staat war nach der Wahl Napoleons zum Kaiser (1804) erfolgt; der zunächst noch beibehaltene Ruf „Domine, salvam fac rempublicam“ wurde 1806 ersetzt durch die Wiederholung der Kaiserfürbitte; vgl. die entsprechenden Verordnungen bei Blattau, Statuta synodalia (wie Anm. 21), VII, 220. 271. 31 Die Umdeutung des marianischen Hochfestes erfolgte bereits 1803; vgl. das betreffende Hirtenwort von Bischof Ch. Mannay vom 30. Juli 1803 (Blattau, Statuta synodalia [wie Anm. 21], VII, 180-187). Sie wirkte sich in der Liturgie in der Weise aus, dass außer dem üblichen Gebet für den Staat im Anschluss an die Pfarrmesse die Antiphon „Sub tuum praesidium“ gesungen wurde, an die sich Fürbitten für Napoleon in Form von Versikeln anschlossen (ebd., VII, 186). Die darauffolgende Oration weist keine besondere militärische Akzentuierung auf, insofern sie lediglich für Napoleon und das ganze Volk Glück, ruhige Zeiten und das ewige Leben erfleht. Die Sondergebete am Ende der Vesper, die nach dem Gesang des „Te Deum“ vor ausgesetztem Allerheiligsten verrichtet werden sollten, klangen dagegen kriegerischer: Ps 47 wurde gesungen, in dem es u. a. heißt (ebd., VII, 187): „Er unterwirft uns Völker und zwingt Nationen unter unsere Füße.“ Die Schlussoration betete: „Deus, in te sperantium salus et tibi servientium fortitudo, suscipe propitius preces nostras, et da famulo tuo Napoleoni impertori nostro, et exercitibus eius, regimen tuae sapientiae, ut haustis pio de fonte consiliis et tibi placeant, et de omnibus suis adversariis victores effici merantur. Per Dominum.“ „Waffensegen“ und Friedensgebet 229 hatte. Die napoleonische Ausrichtung des Festes erfuhr 1806 noch eine Steigerung, als Rom dem Drängen des Kaisers nachgab und mit dem marianischen Hochfest das Fest des heiligen Napoleon verband, eines bis dahin liturgisch überhaupt nicht beachteten, unbekannten ägyptischen Märtyrers, der nun, als Namenspatron Napoleons, zu höchsten Ehren kam. 32 Wenn in den Zusatzorationen der Festmesse fortan der Name Napoleon am Altar erklang, 33 musste sich die Gemeinde unweigerlich an ihren nunmehr mit sakralem Glanz umstrahlten Kaiser erinnert fühlen. Ihn sollte an seinem Geburts- und Namenstag auch die Predigt feiern. 34 Das zweite sogenannte Napoleonsfest fand alljährlich, ohne Rücksicht auf den Advent, am 1. Sonntag im Dezember statt. Es galt als Jahrgedächtnis der Krönung Napoleons und als Dankfest für seinen glänzenden Sieg bei Austerlitz. „Denn“, so schrieb der Trierer Bischof Mannay in seinem Hirtenbrief zur Einführung der neuen, von der Staatsraison diktierten Feste: „der Tag von Austerlitz steigert den Ruhm von Napoleons Waffen aufs höchste und nimmt seinen Feinden ihre letzte Hoffnung“; dieser Tag habe für immer das Glück Frankreichs befestigt. 35 Dem stärker militärisch bestimmten Charakter des Festes entsprach die liturgische Ausstattung. 36 Die Predigt sollte Patriotismus und Kampfbereitschaft im Dienst des von Gott erwählten Herrschers wecken und stärken. 37 Die Oration nach dem Te Deum erflehte Napoleon und seinen namentlich genannten Truppen den Sieg über alle seine Feinde. 38 Die allsonntäglich oder alljährlich wiederkehrenden, systemstabilisierenden liturgischen Feiern erfuhren in Kriegszeiten eine Steigerung, die man nur als Waffensegen charakterisieren kann. Die zu Gebeten um Kriegsglück für Napoleons Armeen aufrufenden bischöflichen Kanzelworte gebrauchen selbst ungeschützt diesen Ausdruck. So ordnete Bischof Charles Mannay, als Napoleon 1803 zur Invasion Englands rüstete, Fürbittgebete im Bistum Trier an, „um den Segen des Himmels für die Waffen der Republik zu erflehen“. 39 Das Gebet sollte „himmlischen Segen“ auf die kriegerische Unternehmung „herabziehen“. 40 Die für die Dauer des Krieges vorgeschriebene Oration Pro tempore belli betete in ihrem 32 Vgl. den Text der entsprechenden Verordnungen bei Blattau, Statuta synodalia (wie Anm. 21), VII, 273-283. 33 Vgl. die bischöfliche Anweisung vom 24. Mai 1806 hinsichtlich der Liturgie des Doppelfestes: Blattau, Statuta synodalia (wie Anm. 21), VII, 276f. In den vor ausgesetztem Allerheiligsten zu singenden Fürbittversen werden die folgenden Psalmworte auf Napoleon angewandt: „Gloria et honore coronasti eum, Domine, et constituisti eum super opera manuum tuarum … Fiat manus tua super virum dexterae tuae. Et super filium hominis, quem confirmasti tibi.“ 34 Vgl. die entsprechende bischöfliche Instruktion zum Inhalt der Predigt am 15. August: Blattau, Statuta synodalia (wie Anm. 21), VII, 279-283. 35 Vgl. ebd., 274. 36 Vgl. ebd., 277f. So findet sich unter den Versikeln der folgende: „Esto nobis, Domine, turris fortitudinis a facie inimici.“ 37 Vgl. ebd., 281f. 38 Der Text der „Napoleons-Oration“ s. oben Anm. 31. 39 Bischöfliche Verordnung „zur Haltung öffentlicher Gebete für das Waffenglück der Republik“ vom 20. Juni 1803: Blattau, Statuta synodalia (wie Anm. 21), VII, 173-177, hier 176. 40 Vgl. ebd., 175. Liturgie und Gesellschaft 230 damaligen Wortlaut mit einseitiger Parteinahme um die Zurückschlagung des als Aggressor gebranntmarkten Gegners und um Niederwerfung der als Barbaren beschriebenen Feinde. 41 War der Sieg erkämpft, galt es, den „Gott der Kriegsheere“ zu loben, weil er wieder einmal - wie die bischöflichen Kanzelworte mit geringfügigen Abwandlungen nach jeder gewonnenen Schlacht den Gläubigen begeistert darlegten, „des Kaisers Waffen … mit den glänzendsten Fortschritten gesegnet“ 42 hatte. Das Kernstück dieser Danksagungsliturgie für den angeblich vom Himmel gewährten Waffensegen bildete regelmäßig der ambrosianische Lobgesang. Aus seinem ursprünglichen Kontext im Stundengebet hatte sich das Te Deum schon in karolingischer Zeit herausgelöst. Es fand zunehmend als Herrscherakklamation Verwendung und wurde in der Zeit des Absolutismus geradezu zum Inbegriff einer systemstabilisierenden Staatsmusik. 43 Im vorrevolutionären Frankreich gab es Vertonungen mit der eingeschobenen Akklamation „Vive le Roi! - Es lebe der König! “. 44 Von daher ist es verständlich, dass das mit dem Ancien Régime eng verquickte Te Deum zur Zeit der Revolutionsherrschaft zunächst verstummte. An seine Stelle trat die Marseillaise. 45 Doch mit Napoleon kam auch das Te Deum wieder. Wie nie zuvor wurde nun der altchristliche Hymnus, der die Souveränität Gottes preist, politisch vereinnahmt zur Verherrlichung dessen, der angeblich das „Werkzeug“ von Gottes „Huld“ auf Erden war. 46 Wie bedenklich diese politische Verzweckung des Te Deum gerade in den Fällen war, in denen es zur Verklärung militärischer Erfolge verlangt und gewährt wurde, ist wachen Geistern schon damals nicht entgangen. Um die Mitte des 41 Vgl. ebd., 176. Die der gleichnamigen Votivmesse des Missale Romanum entnommene Oration entstammt der ersten der sogenannten fünf gelasianischen Kriegsmessen; vgl. die Texte bei Biehl, Das liturgische Gebet (wie Anm. 11), 162-164, hier 162. Sie bezeichnet die Kriegsgegner als „impugnatores“ der Gläubigen und wünscht, dass die „feritas - Wildheit“ der Feinde gebrochen werde. Das Gebet setzt die Erfahrung von Überfällen plündernder und mordender Vandalen während der Völkerwanderungszeit voraus. Die am letzten Junibzw. ersten Julisonntag 1803 zu verrichtenden Kriegsgebete sahen außer der genannten Oration auch die folgende, ebenfalls den gelasianischen Kriegsmessen entnommene, vor: „Hostium nostrorum, quaesumus Domine, elide superbiam, et eorum contumaciam dexterae tuae virtute prosterne. Per Dominum.“ Vorausging das Gebet des 46. Psalms mit dem Leitmotiv „Dominus virtutum nobiscum - Der Herr der Heere ist mit uns“! Die bischöflichen Kanzelworte der napoleonischen Zeit übersetzen den entsprechenden Psalmvers martialisch: „Der Gott der Armeen ist mit uns, der Gott Jakobs ist unsere Stütze! “ So etwa Bischof Ch. Mannay in seinem Hirtenbrief vom 19.12.1805 nach der Schlacht bei Austerlitz: Blattau, Statuta synodalia (wie Anm. 21), VII, 262-265, hier 261. 42 So Bischof Ch. Mannay in seinem Hirtenbrief vom 28. Oktober 1805: Blattau, Statuta synodalia (wie Anm. 21), VII, 256. 43 Vgl. S. Žak, Das Tedeum als Huldigungsgesang, in: HJ 102 (1982) 1-32. 44 Vgl. ebd., 30. 45 Zur vorübergehenden Verdrängung des „Te Deum“ durch die Hymne der Revolution vgl. A. Gerhards, Te Deum laudamus - Die Marsellaise der Kirche? , in: LJ 40 (1990) 65-79. 46 Außer den alljährlich wiederkehrenden Anlässen zum Gesang eines feierlichen „Te Deum“ mit sakramentalem Segen lassen sich im Bistum Trier während der napoleonischen Zeit mehr als zwanzig eigens angesetzte liturgische Siegesfeiern mit dem „Te Deum“ vor ausgesetztem Allerheiligsten nachweisen. „Waffensegen“ und Friedensgebet 231 18. Jahrhunderts schrieb der Verfasser des Artikels Te Deum in Zedlers „Großem vollständigen Universal-Lexicon“ (1744): „Es dünckt mich in meiner Einfalt, es könne Gott kein verdrießlicher Geplärr in seine Ohren fallen, denn das Te Deum laudamus, welches man in den Kirchen und in den Tempeln …, darein man kurz zuvor die Feuer-Ballen geworffen, anstimmet und singet und die heiligen Propheten, Apostel und Märtyrer zusammt Gott den Herrn anspricht, dass sie sich freuen sollen, weil etliche Tausend getauffte Christen in grausamer Furie und Grimmigkeit niedergehauen und erschossen, und gleicherley Glaubens-Genossen zu Todte geschlagen worden.“ 47 Die liturgische Verklärung von Napoleons Waffenglück geriet spätestens in dem Augenblick ins Zwielicht, als sein Stern zu sinken begann. Im Dom zu Trier wurde als letzter Sieg Napoleons sein Erfolg in der Schlacht von Dresden in den letzten Augusttagen 1813 mit einem Te Deum gefeiert, weil „die Siege … unter den Mauern von Dresden“ - so der Bischof von Trier - „unverkennbare Beweise des göttlichen Schutzes“ waren. 48 Kurz nachdem die preußischen Truppen den Rhein überschritten hatten, verstummte das Gebet für den Franzosenkaiser. 49 In den rheinischen Domen und Pfarrkirchen rief man nun mit den gleichen liturgischen Texten Gottes Segen auf die Waffen der verbündeten Monarchen herab und lobte Gott für deren Siege. Am dritten Februarsonntag des Jahres 1814 hörten die Gläubigen von der Kanzel eine Einladung zum Gesang des Te Deum, in der es hieß: „Die Allmacht des Herrn der Heerscharen hat in einer Reihe glorreicher Schlachten die gerechten Waffen der hohen verbündeten Monarchen gesegnet … und in dem jüngsten großen Sieg am ersten dieses Monats (gemeint ist der Sieg Blüchers bei La Rothière) ihr erhabenes Werk vollendet.“ 50 Die Gottesdienste waren nun erfüllt vom patriotischen Überschwang der Freiheitskämpfer, 51 die Gott ganz auf 47 Zitiert nach Žak, Das Tedeum (wie Anm. 43), 2. 48 Blattau, Statuta synodalia (wie Anm. 21), 471. 49 Im Bistum Trier sandte Generalvikar Cordel am 19. Januar 1814 folgendes Rundschreiben an die Pfarrer (Blattau, Statuta synodalia [wie Anm. 21], VII, 494): „Auf höheren Befehl soll das bisher übliche Gebet für den Kaiser Napoleon unterbleiben.“ 50 Ebd., 494f. Die von den Alliierten redigierte „Anordnung eines allgemeinen Dank- und Siegesfestes“ vom 7. Februar 1814 war auf Ersuchen des Generalgouverneurs am Mittelrhein, Justus Gruner, von allen Kanzeln des Bistums Trier zu verlesen. Die Dankgottesdienste mit „Te Deum“ sollten in Koblenz und Worms am 13. Februar stattfinden, in den übrigen Städten und Dörfern am Sonntag nach Empfang der am 8. Februar in Umlauf gebrachten Verordnung. 51 Anfang März 1814 wurde in der Sonntagsmesse eine flammende „Aufforderung an die Männer und Jünglinge des Mittelrheins zum freiwilligen Kampfe für das alte gemeinsame deutsche Vaterland“ verlesen, in der Frankreich als „das Reich des Frevels“ bezeichnet wurde. Die Zeit der französischen Herrschaft erscheint in den schwärzesten Farben: „Aus dem Marke Eures Landes, aus dem Schweiße Eurer Arbeiten, von dem Blute Eurer Söhne nährten sich diese Vampyre“. Kanzelwort des Generalgouverneurs Justus Gruner am 26. Februar 1814: Blattau, Statuta synodalia (wie Anm. 21), VII, 497-499. Das allsonntägliche Gebet für die verbündeten Monarchen nach Art der Sonntags-Fürbitte für Napoleon wurde im Bistum Trier am 31. März 1814 angeordnet; vgl. ebd., VII, 499f. Die katholische Kirche im Rheinland versagte sich nicht, als der neue protestantische Landesherr, König Friedrich Wilhelm III. von Preußen, verlangte, die Jahrgedächtnisse der drei wichtigsten alliierten Kriegserfolge alljährlich gottesdienstlich zu feiern: am Sonntag nach dem 18. Oktober die Völkerschlacht bei Leipzig, am Sonntag nach dem 31. März die Einnahme von Paris und am Sonntag nach dem 18. Juni die Schlacht bei Liturgie und Gesellschaft 232 ihrer Seite sahen, wie es selbstsicher die Inschrift auf dem Völkerschlachtdenkmal bei Leipzig zum Ausdruck bringt: Gott mit uns! b) Das Friedensgebet In einer Zeit, die kaum ein Land Europas vor den Unmenschlichkeiten verschonte, die Kriege immer mit sich bringen, sollte man annehmen, dass die kirchliche Obrigkeit das Gebet um den Frieden zumindest genauso nachdrücklich empfohlen hätte, wie sie für Napoleons Waffenglück beten ließ. Die universale Heilssorge der Kirche konnte doch nicht blind sein für die Leiden, die Napoleons Eroberungskriege über andere Völker, auch über katholische Mitchristen, brachten. Als Antwort genügt nicht, darauf hinzuweisen, dass die römische Kirche in jeder Messfeier für den Völkerfrieden betet. Sie tut es noch immer mit den Worten, die Papst Gregor der Große (590-604) nach dem Kriegslärm der Völkerwanderungszeit dem Hanc igitur des Römischen Kanons und wohl auch dem Nachgebet zum Vaterunser eingefügt hat: „Da propitius pacem in diebus nostris! - Gib Frieden in unseren Tagen! “ 52 In den vielen Kriegen der napoleonischen Ära musste doch wohl mehr geschehen. Doch der Friede erscheint überraschenderweise nicht als bevorzugte Gebetsintention. Zwar gehen die Bischofsworte nicht so weit, den Krieg als solchen zu begrüßen. Auch der angebliche Friedenswille Napoleons wird mehrfach hervorgehoben. 53 Es wird die Vision einer neuen Friedensordnung für Europa entworfen, die angeblich das Ziel aller Kriege des Kaisers sein soll. 54 Dabei gilt es aber als ausgemachte Sache, dass dieser Friede eine Pax gallica sein wird, eine Befriedung zu den Bedingungen des militärisch Stärkeren. Belle-Alliance in Belgien. An diesen vaterländischen Gedenktagen war in den Kirchen eine waffengeschmückte Tumba aufzubauen, als Predigttext wurde der Aufruf des Judas Makkabäus zum todesmutigen Kampf (1 Mak 9,10) empfohlen, der Gedenkgottesdienst sollte jeweils mit dem „Te Deum“ und dem Gebet für den preußischen König schließen; ebd., VII, 521f. 52 Zum Einschub dieser Friedensbitte vgl. J. A. Jungmann, Missarum Sollemnia, 2 Bde., Wien 5 1962, II, 231f. 353. Zum Friedensmotiv im Ordo Missae vgl. auch A. Heinz, Das Friedensgebet in der römischen Messe, in: H. Feilzer, A. Heinz, W. Lentzen-Deis (Hg.), Der menschenfreundliche Gott. A. Thome zum 75. Geburtstag, Trier 1990, 165-183. Nachdruck in diesem Band. 53 Der Hirtenbrief Bischof Mannay’s vor Napoleons Englandexpedition vom 26. Juni 1803 kennzeichnet den Gegner als Störenfried und Napoleon als denjenigen, „der nichts unversucht gelassen, die Geißel des Krieges, die uns bedrohte, abzuwenden“; vgl. Blattau, Statuta synodalia (wie Anm. 21), VII, 173-177, hier 174. Zu Beginn der Kampfhandlungen des Jahres 1805 bezeichnet ein bischöfliches Kanzelwort Napoleon als „Friedensstifter des Vaterlandes“ (ebd., 253), das „Feldgeschrei“ seiner Truppen laute: „Friede, Friede“ (ebd., 254). Fast jedes Bischofswort bei Ausbruch neuer Kampfhandlungen und aus Anlass einer siegreich bestandenen Schlacht nährt die Legende vom friedliebenden, nur auf das Wohl seines Volkes bedachten Herrschers. 54 Das Ziel einer neuen Friedensordnung für Europa wird vor allem betont in den Hirtenworten, die liturgische Siegesfeiern anordnen anlässlich von Napoleons Erfolgen über die österreichische Armee. In diesen Fällen standen katholische Glaubensbrüder den Soldaten des Franzosenkaisers gegenüber, weshalb es nicht leicht einsichtig zu machen war, dass Gott auch für deren blutige Bekämpfung mit einem „Te Deum“ gedankt werden sollte; vgl. die Kanzelworte nach den Siegen bei Tann, Eckmühl und Regensburg (April 1809), der Besetzung von Wien (Mai 1809), der Schlacht bei Enzersdorf und Wagram (Juli 1809) und dem Friedensschluss mit Österreich (November 1809); vgl. Blattau, Statuta synodalia (wie Anm. 21), VII, 380-397. „Waffensegen“ und Friedensgebet 233 Die Überprüfung der einschlägigen bischöflichen Anweisungen erbringt ein verblüffendes Ergebnis: Ein besonderes Friedensgebet in Gestalt der Oratio imperata Pro pace (Vorgeschriebenes Gebet für den Frieden) wird nicht etwa angeordnet, wenn ein Krieg droht oder schon ausgebrochen ist. Die Oration um den Frieden ist in der Regel erst Bestandteil der Danksagungsliturgie nach einer gewonnenen Schlacht oder nach einem erreichten Sieg. 55 Sie bittet also nicht um Verhütung oder Beendigung eines Krieges, sondern um den friedlichen Erhalt des erreichten Kriegszieles. Nachdem die Kraft des Gegners gebrochen ist, sagt das Gebet, soll Gott seinen Dienern friedliche Zeiten schenken. 56 Diesem Befund scheint zu widersprechen, das gelegentlich während einer kriegerischen Unternehmung die Antiphon Da pacem, domine, die Luther im Kirchenlied „Verleih uns Frieden gnädiglich“ verdeutscht hat, angeordnet wird. 57 Doch die dahinterstehende Intention offenbart weniger der pazifistisch klingende Auftakt des Gesangs als der zweite Teil: Er fordert Gott auf, für die Seinen zu kämpfen. 58 Dass der Gesang tatsächlich eher Kriegsbegleitung als Friedensbitte sein soll, bestätigen die ihm nachgeschickten Zusatzgebete: Die Antiphon wird auffallenderweise nicht, wie es liturgischer Gepflogenheit entspricht, mit der Kollekte Pro pace (Für den Frieden) beschlossen, sondern auf sie folgt Ps 20 (19), der dem König Kriegsglück über seine Feinde verheißt und die Oration für Kaiser Napoleon und den Sieg seiner Heere. 59 Dass das Friedensgebet erst laut wird, wenn die Waffen schon gesprochen haben, hat letztlich theologische Ursachen. Schuld daran ist ein Gottesbild, das sich den Herrn der Geschichte nach Art eines absolutistischen Monarchen vorstellt, der nach Gutdünken über seine Untertanen disponiert. Krieg und Frieden haben nach dieser Vorstellung einen festen Platz in der göttlichen Weltlenkung. Es wird so getan, als ob Gott selbst in seiner unerforschlichen Vorsehung Krieg und Frieden der Menschheit zuteilte, Eroberer erweckte und ihre Waffen segnete. Bischof Charles Mannay schreibt beispielsweise in seinem Hirtenbrief vor der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt: „… derjenige, der auf der Weltkugel sitzet, vor welchem 55 Vgl. etwa die bischöflichen Kanzelworte zu den liturgischen Siegesfeiern nach der Schlacht bei Austerlitz (1805), nach der Eroberung Madrids (1808), anlässlich der verschiedenen Siege über die österreichische Armee und der Einnahme Wiens (1809), nach dem Sieg von Dresden (1813), in: Blattau, Statuta synodalia (wie Anm. 21), VII, 259. 265. 378. 382. 385. 390. 472. 56 In der Oration aus der Votivmesse „Pro pace“ des nachtridentinischen Missale Romanum wird um den Frieden gebetet, „den die Welt nicht geben kann“ (vgl. Joh 14,27), damit „et corda nostra mandatis tuis dedita, et, hostium sublata fomidine, tempora sint, tua protectione tranquilla. Per Dominum“. 57 Vgl. Blattau, Statuta synodalia (wie Anm. 21), VII, 255 (18.09.1805). 293 (21.10.1806). 58 Auf die Friedensbitte des seit dem 9. Jahrhundert nachweisbaren Gesangs „Da pacem domine in diebus nostris“ folgt die Begründung: „quia non est alius qui pugnet pro nobis nisi tu Deus noster.“ Auch die deutsche Fassung (vgl. „Gotteslob“ [1975] 310ö) lässt an den Frieden als an das Ergebnis eines mit Gottes Hilfe erfolgreich abgeschlossenen Waffengangs denken. Die kriegsbegleitende Funktion des Gesangs offenbart noch deutlicher eine seit der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts in katholischen und evangelischen Gesangbüchern nachweisbare Variante; vgl. W. Bäumker, Das katholische deutsche Kirchenlied in seinen Singweisen, 4 Bde., Freiburg i. Br. 1886-1911 (Nachdruck Hildesheim 1962), II, Nr. 317, S. 296. 59 Vgl. Blattau, Statuta synodalia (wie Anm. 21), VII, 255. 293. Liturgie und Gesellschaft 234 die Völker wie ein Tropfen Wasser sind … (lässt) ihre Kriegsheere nach seinem Wohlgefallen ausrücken und zurückkehren: Der Krieg ist das Werkzeug seiner Gerechtigkeit und seiner Rache; der Friede ist ein Geschenk seiner Güte und seiner Erbarmnisse.“ 60 Wenn also Krieg sein soll, wenn Gott selbst sein „Werkzeug“, Napoleon, zum Kriegsdienst ruft, würde ein Friedensgebet zur Unzeit die Pläne der Vorsehung nur stören. Man ist erschrocken, wie hier nicht gesehen wird, dass beides - Krieg und Frieden - von Menschen gemacht wird. Der fromme evangelische Dichter Matthias Claudius (1740-1815) hat das klarer gesehen als die meisten Kirchenmänner seiner Zeit: „’s ist Krieg …’s ist leider Krieg - und ich begehre, nicht schuld daran zu sein! “ 61 Man wird einräumen müssen, dass die für Kriegs- und Krisenzeiten vorgesehenen liturgischen Gebete diese Gottesvorstellung begünstigt haben: Sie betonten zu einseitig die souveräne göttliche Weltlenkung und vergaßen darüber die causae secundae: 62 die Freiheit des Menschen, der Gottes Friedensgedanken auch zuwider handeln kann. Noch ein zweiter, schwerwiegender Mangel hat sich gezeigt: Das Kriegs- und Friedensgebet in napoleonischer Zeit bediente sich unbesehen der traditionellen Gebetsformeln. Diese aber kommen aus einem völlig anderen historischen Kontext. 63 Orationen, die ein römischer Bischof des fünften Jahrhunderts unter dem unmittelbaren Eindruck des Terrors plündernder Vandalen am Altar von St. Peter gebetet hat, lassen sich nicht unangepasst auf die Situation moderner Kriege übertragen und genauso beten, wenn auf der Gegenseite Christen stehen. 2. Die Zeit des Nationalsozialismus a) Äquivalenter Waffensegen Es ist von vornherein nicht anzunehmen, dass die katholische Kirche die kriegerischen Unternehmungen des Diktators, der im 20. Jahrhundert im Ungeist eines übersteigerten Nationalismus Europa neu ordnen wollte und den die nationalsozialistische Propaganda verführerisch ebenfalls als Werkzeug der Vorsehung auszugeben sich bemühte, im eigentlichen Sinn gesegnet hätte. Trotzdem sind Phänomene wie die folgenden festzuhalten, die sich gewiss anderwärts genauso belegen ließen, wie sie im Bistum Trier nachzuweisen sind. 60 Ebd., 289. 61 Kriegslied: M. Claudius, Sämtliche Werke, hg. von H. Geiger, Berlin-Darmstadt-Wien 1961, 239. 62 Vgl. z. B. die Kollekten der Votivmessen „in Kriegszeiten“ und „um Frieden“ im nachtridentinischen Messbuch. In der „Missa tempore belli“ schreibt das Tagesgebet Gott die Beendigung von Kriegen und die Niederwerfung von Feinden zu. Ähnliche Vorstellungen von einer Erstverantwortlichkeit Gottes erweckt das den Ps 77 (76), 15f. zitierende Graduale. Die Rede von Gott als dem „regnorum omnium regumque dominator“ (Postcommunio) lässt ihn als Alleinherrscher erscheinen, der die Mächtigen als Werkzeuge seiner Weltlenkung einsetzt. 63 Das im nachtridentinischen Messbuch tradierte einschlägige Formelgut hat seinen Sitz im Leben in der vom Kriegslärm erfüllten Völkerwanderungszeit; vgl. A. Stuiber, Libelli Sacramentorum Romani. Untersuchungen zur Entstehung des sogenannten Sacramentorium Leonianum (Theophaneia 6), Bonn 1950; Biehl, Das liturgische Gebet (wie Anm. 11), 134f.; s. auch O. Huf S. J., Krigs-Gebeden en Ocrlogs-Missen (Liturgische Studien II), Bussum 1917, 1-5. „Waffensegen“ und Friedensgebet 235 Nach dem „Blitzsieg“ der deutschen Wehrmacht über Frankreich im Jahre 1940 ordnete der Trierer Bischof Franz Rudolf Bornewasser, dem man wahrhaftig keine Sympathien für den nationalsozialistischen Staat wird unterstellen können, in der ganzen Diözese ein besonderes Glockengeläut und die Feier eines Dankamtes an, an dessen Ende vor ausgesetztem Allerheiligsten das Te Deum gesungen und der sakramentale Segen erteilt werden sollte. 64 Nicht wenige werden diese liturgische Siegesfeier aufgefasst haben als nachträglichen kirchlichen Segen für die im Westen so erfolgreichen deutschen Waffen und für diejenigen, die diesen Waffengang initiiert hatten. 65 Der in bedenklich deutsch-nationalem Ton gehaltene Hirtenbrief des Trierer Bischofs zum Ereignis deutete das Te Deum zwar als Danksagung für die rasche Beendigung des Krieges gegen Frankreich. 66 Die Konsequenzen des im Wald von 64 Vgl. Kirchlicher Amtsanzeiger Trier 1940, Nr. 215. 65 Das angedeutete Missverständnis lag um so näher, als nach der Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde über alle Sender des „Großdeutschen Rundfunks“ der Choral „Nun danket alle Gott mit Herzen, Mund und Händen“ ausgestrahlt wurde sowie ein Aufruf des Führers zu hören war, in dem es u. a. hieß: „In Demut danken wir dem Herrgott! “ Hitler selbst verlangte ein siebentägiges Glockengeläut zur Danksagung für „den größten Sieg aller Zeiten“. Der „Choral von Leuthen“, dem erst das „Gotteslob“ ([1975] Nr. 266ö) volles Heimatrecht in den katholischen Kirchen gegeben hat, war als familiäres Tischgebet um 1630 von dem sächsischen evangelischen Pfarrer Martin Rinckart verfasst worden, wurde aber, seitdem er als Danklied nach dem Sieg Friedrich II. über die Österreicher in der Schlacht bei Leuthen (1757) angestimmt worden war, zum Inbegriff eines lutherischen Dankchorals nach siegreich beendeten Waffengängen; vgl. H. Preuss, Das Kirchenlied in den geschichtlichen Stunden der deutschen Nation (Welt des Gesangbuchs Heft 15), Leipzig und Hamburg 1937, 18f. Der „Choral von Leuthen“ wurde z. B. gesungen nach der Schlacht von Waterloo (1815) und von Tannenberg (1914) sowie nach dem Sieg über Frankreich im Krieg 1870/ 71; vgl. A. Brüssau, Martin Rinckart (1586-1649) und sein Lied „Nun danket alle Gott“, Leipzig und Hamburg 1936, 68f. Generalsuperintendent D. Geunrich schwärmte in einem am 11. Januar 1917 in Magdeburg gehaltenen Vortrag: „So legt sich an allen Höhepunkten gemeinsamen Erlebens der evangelische Choral den deutschen Soldaten auf die Lippen: wie ‚Eine feste Burg‘ namentlich noch jenes andere in manchem Krieg bewährte alte Kirchenlied, der Choral von Leuthen, den nicht zu vergessen, wenn sie herauskämen, der Kaiser (Wilhelm II.) die Kadetten mahnte: ‚Nun danket alle Gott‘. So manches Mal des Abends auf dem Schlachtfelde beim Biwakfeuer nach siegreicher Beendigung des heißen Tageswerks oder beim Einzug in die eroberten Städte (wie z. B. in Warschau) ist es aus inbrünstigem Herzen machtvoll erschollen.“ D. Geunrich, Krieg und Kriegslied, Magdeburg 1917, 28. 66 So ausdrücklich Generalvikar Heinrich von Meurers in seinem Begleitschreiben zum Hirtenbrief an die Pfarrer der Städte Trier und Koblenz: „Es ist am Feste Peter und Paul in allen heiligen Messen zu verkündigen, dass das Amt am Sonntag, dem 30.6., als Dankamt für die Beendigung des Krieges mit Frankreich mit Te Deum gehalten wird“; vgl. Chronik des Bistums Trier, Bd. 1: Bistumsarchiv Trier (= BATr), Abt. 105, Nr. 2653, Anlage 42a. Im Hirtenbrief des Bischofs (s. Anm. 64) hieß es weniger eindeutig: „Nach einem kurzen gewaltigen Ringen, nach fast übermenschlichen Leistungen unserer Wehrmacht stehen wir am Ende des Kampfes, wie ihn die Weltgeschichte noch nicht erlebt hat. Dem tapferen Heere und seiner Führung gilt des deutschen Volkes innigster Dank. Ihm schützen sie Herd und Heimat. Deshalb verordne ich, dass am Sonntag nach Empfang dieses Bischofswortes das Hochamt als Dankamt gefeiert wird“. Ausdrücklich erklärte der Bischof jedoch das besondere Glockengeläut als Dank für die Erhörung der Gebete um baldigen Frieden. Liturgie und Gesellschaft 236 Compiègne diktierten Friedens für die Menschen des okkupierten Landes und der widerrechtlich überfallenen Benelux-Staaten blieben dabei aber völlig unbedacht, erst recht die Tatsache, dass es weithin Brüder und Schwestern im katholischen Glauben waren, denen hier großes Unrecht geschah. Das Te Deum am Sonntag nach Peter und Paul 1940 blieb gottlob das einzige liturgische Dankgebet für die eine Zeit lang noch siegenden deutschen Truppen. Doch es gab weniger auffällige gottesdienstliche Formen der Kriegsbegleitung. Aufschlussreich sind diesbezüglich die Militärgesangbücher. 67 Im Dritten Reich war das 1935 von Heeresoberpfarrer Franz Justus Rarkowski herausgegebene „Katholische Militär-Gebet- und Gesangbuch“ maßgeblich; 68 bei Kriegsbeginn wurde es ergänzt durch das vom katholischen Feldbischof der Wehrmacht genehmigte „Katholische Feldgesangbuch“. 69 Dieses kleinformatige Büchlein trugen die Landser in der Brusttasche ihrer feldgrauen Uniform an allen Fronten des Zweiten Weltkrieges. Wer darin einen regelrechten Waffensegen suchen würde, suchte vergebens. Doch an vielen Stellen scheint das durch, was man einen verschleierten Waffensegen nennen könnte. In Kriegszeiten verrichtet, musste etwa das „Gebet für Führer, Volk und Wehrmacht“ wie ein Waffensegen wirken. Darin heißt es: „Segne die deutsche Wehrmacht … Segne besonders unseren Führer und obersten Befehlshaber in allen Aufgaben, die ihm gestellt sind.“ 70 Manche höchst bedenkliche Texte enthält der Liedteil. Gleich das zweite Lied sieht Gott segnend und schützend mit Deutschlands Heeren ziehen: „Allmächtiger 67 K. Küppers hat in seiner Gesangbuchbibliographie die Gattung „Militärgesangbücher“ unberücksichtigt gelassen mit dem Hinweis auf eine zu erwartende, dann aber nicht abgeschlossene einschlägige Münchener Dissertation von Peter Schawohl; vgl. K. Küppers, Diözesan-Gesang- und Gebetbücher des deutschen Sprachgebiets im 19. und 20. Jahrhundert (LQF 69), Münster 1987, 2, Anm. 1. 68 Wehrverlag Josef Becker Berlin 1935. Auf Bitten des Verlegers ließ der Trierer Generalvikar Heinrich von Meurers einen empfehlenden Hinweis auf das „Militär-Gebet- und Gesangbuch“ von Rarkowski im Kirchlichen Amtsanzeiger des Bistums Trier veröffentlichen (KAA Trier 80, 1936, Nr. 276). Er war aber nicht bereit - wie dies etwa im Erzbistum München-Freising geschah -, das Buch durch die zuständigen Pfarrämter den Soldaten kostenlos zukommen zu lassen; vgl. die Korrespondenz in BATr, B III 14,1, Bd. 12, 42. 51-53. Für den Hinweis auf diesen Vorgang danke ich Herrn Archivdirektor Dr. Martin Persch (Trier). Rarkowski wurde aufgrund Art. 27 des Reichskonkordats am 07.01.1938 von Papst Pius XI. zum Feldbischof der Wehrmacht ernannt und empfing am 20.02. durch den päpstlichen Nuntius Cesare Orsenigo in Berlin die Bischofsweihe. Er war die umstrittenste Persönlichkeit im deutschen Episkopat des Dritten Reiches und im Kreis seiner Mitbischöfe völlig isoliert. Seine streckenweise mit den Parteiparolen der Nationalsozialisten sich deckenden Hirtenbriefe wurden vielfach den Soldaten gar nicht mitgeteilt. Rarkowskis Hirtenwort „Zu dem großen Entscheidungskampf im Osten“ (1941) musste auf Anordnung der Besatzungsbehörden nach dem Krieg aus öffentlichen Bibliotheken ausgesondert werden; vgl. Liste der auszusondernden Literatur, Erster Nachtrag nach dem Stand vom 1. Januar 1947, Berlin 1947, 119. Zur Biographie vgl. H.-J. Brandt, Art. Rarkowski, in: Die Bischöfe (wie Anm. 20), 549f. 69 Verlag E. S. Mittler und Sohn, Berlin SW 68. Feldbischof war Fr. J. Rarkowski (s. Anm. 68). 70 Ebd., 20. Das Gebet stand auch in der evangelischen Ausgabe des Feldgesangbuchs; vgl. Wittenberg, Militär-Gesangbuch (wie Anm. 12), 109f. „Waffensegen“ und Friedensgebet 237 Herr der Heere, zieh du mit unsrer Schar.“ 71 Kurzerhand erklärt die Schlussstrophe den Krieg, den die deutschen Soldaten führen, zu Gottes eigener Sache: „Es gilt ja deine Ehre, es ist gerechter Krieg. Herr, zieh mit unsrem Heere und führe uns zum Sieg! “ 72 Ungeschützt setzt ein anderes Lied ein mit der Bitte: „Herr segne unsre Waffen und lass uns nimmer ruhn“ …; und es endet mit den Worten: „Herr, segne unser Ringen und deine Kriegerschar! “ 73 Zum ersten Mal erscheint Ernst Moritz Arndt’s säbelrasselndes „Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte“ 74 in einem katholischen Militärgesangbuch. Die darin enthaltene Vorstellung, dass Gott selbst die Waffen „dem Mann in seine Rechte“ gibt, musste in Hitlers Eroberungskriegen geradezu blasphemisch klingen. Das deutsche Te Deum - „Großer Gott, wir loben dich“ - erscheint kriegsmäßig umgerüstet. 75 Eine drastische Kürzung hat den christlichen Verkündigungsgehalt des Liedes völlig eliminiert. Nur die erste und dritte Strophe blieben erhalten. Aus dem zu jüdisch klingenden „Heilig Herr, Gott Zebaoth“ wurde nun „Heilig, Herr der Kriegesheere“. Zwei neu hinzugefügte Strophen formten das Lied zu einem nationalistischen Vaterlandsgebet um: „Strecke segnend deine Hand über unser Vaterland … Losungswort sei allzugleich: Treu zu Führer, Volk und Reich! “ Im Sinne der Parole „Gott mit uns“ setzte das Schlusslied der Sammlung noch einmal einen kräftigen Akzent. Das Lied „Wir treten zum Beten“ sieht Gott, den „Lenker der Schlachten“, dem deutschen Soldaten „im Streite zur Seite“ und bestärkt ihn in der Gewissheit, dass nach Gottes Plan „das Reich siegreich“ sein soll. 76 Die genannten Texte sind ökumenisch; sie finden sich genauso in der evangelischen Variante des Feldgesangbuchs. Rein katholisch ist dagegen der Versuch, die Vorstellung des Waffensegens in bekannte Marienlieder hineinzutragen. Zwar gibt es einen alten, vor allem in der Zeit der Kreuzzüge und Türkenkriege zu beobachtenden Strang einer kriegerischen Marienverehrung. Sie sieht Maria als Schutzwehr des christlichen Heeres und Siegbringerin. Auch das aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges kommende Lied „Maria, breit den Mantel aus“ klingt in seiner Urfassung sehr martialisch. 77 71 Ebd., 74. 72 Ebd., 137. Wittenberg spricht „von gefährlichen Verirrungen der geistlichen Kriegslyrik“ im Hinblick auf den Text dieses von Paul Blau verfassten protestantischen „Kriegsgebets“. 73 Vgl. Katholisches Feldgesangbuch (s. Anm. 69), 78f. Das von einem unbekannten Verfasser stammende Lied findet sich auch im evangelischen „Feldgesangbuch für Heer und Luftwaffe“ 1939 und im „Gesangbuch für die Kriegsmarine“ 1940; vgl. Wittenberg, Militär-Gesangbuch (wie Anm. 12), 138. 158. 74 Katholisches Feldgesangbuch (s. Anm. 69), 88f. 75 Ebd., 77f.; vgl. dazu auch Gerhards, Te Deum laudamus (wie Anm. 45). 76 Vgl. Katholisches Feldgesangbuch (s. Anm. 69), 95. Das Altniederländische Dankgebet hat in den protestantischen Militärgesangbüchern seit 1885 eine ununterbrochene Tradition; Rarkowski nahm es 1935 in sein „Katholisches Militär-Gebet- und Gesangbuch“ auf (s. Anm. 68); zur evangelischen Tradition vgl. Wittenberg, Militärgesangbuch (wie Anm. 12); dort auch die verschiedenen Textvarianten (S. 161f.). 77 Die in der 3. Strophe der „Gotteslob“-Fassung ([1975] Nr. 595) enthaltene Bitte: „… komm uns zu Hilf in allem Streit, verjag’ die Feind all von uns weit“ bezog sich ursprünglich auf äußere Feinde im Kriegsgetümmel. Liturgie und Gesellschaft 238 Die Bearbeiter des Feldgesangbuchs gaben sich nicht damit zufrieden, aus dem Schatz traditioneller Mariengebete und -lieder für die Kriegszeit Passendes auszuwählen. Sie manipulierten darüber hinaus einzelne Marienlieder in der Weise, dass sie vernehmlicher Mariens Segen speziell der deutschen Armee verhießen. So wurde aus dem Bornhofener Wallfahrtslied des Spätromantikers Guido Görres „Geleite durch die Wellen das Schifflein treu und mild“ im Feldgesangbuch der Wehrmacht. „Geleite unsre Heere, o Mutter, treu und mild.“ 78 Die übrigen Strophen, insbesondere die nachdenklich stimmende Friedensstrophe: „Erbitt von Gott uns Frieden … versöhne, was im Streit“, ließ man fallen zugunsten einer neuen, den Kampfgeist stärkenden Strophe: „Beschirme unsre Krieger, du mächtigste der Frau’n, führ bald sie heim als Sieger in ihrer Heimat Au’n.“ Wie waren solche, jedenfalls in den Augen eines heutigen Beobachters, höchst kompromittierenden Segens- und Siegesbitten zu rechtfertigen? Sie erklären sich letztlich aus einem die wahren Verantwortlichkeiten verschleiernden Gottesbild. Das zeigt etwa die Analyse einer „Rekrutenandacht“, deren Texte 1936 vom erzbischöflichen Ordinariat Köln approbiert wurden. 79 Das Gottesdienstmodell geht von der stillschweigenden Voraussetzung aus, die uns schon in den Bischofsworten aus den napoleonischen Kriegen aufgefallen ist, dass nämlich Kriegshandwerk und Waffendienst gleichsam notwendige Stücke der göttlichen Weltlenkung seien. So lässt unsere Andacht die angehenden Soldaten nicht nur Gott danken, dass er sie „als Söhne eines großen Volkes“ hat geboren werden lassen und dass sie Zeugen sein durften, wie Gottes Walten Deutschland „zu neuem Aufstieg“ geführt hat, sondern auch dafür, dass sie angeblich von Gott berufen sind, nun - gleich dem Bauer mit dem Pflug und dem Arbeiter mit dem Hammer - ihrerseits mit der Waffe in der Hand die Größe der Nation auf Dauer zu sichern. In völliger Verkennung der wirklichen Verantwortlichkeiten wird der Eindruck erweckt, Gott selbst habe jene Stunde heraufgeführt, in der - wie es pathetisch heißt - „des Mannes Pflicht an uns erging, uns zu bereiten, das Schwert zu führen“. Dann heißt es wörtlich: „Du rufst uns zu der Fahne des Volkes, zur Wacht und zur Wehr, zum Waffendienst! “ 80 So wird aus dem Waffendienst Gottesdienst. Dies um so mehr, als im Hauptgebet der Feier die deutsche Staatsführung erscheint als „ein glanzvolles Abbild … deiner (d. h. Gottes) machtvoll gerechten und gütig weisen Führung der Welt“. 81 Unter diesen Voraussetzungen bleibt den einrückenden Rekruten dann nur noch zu geloben: „Wir aber wollen dir, o Herr, dienendes Werkzeug sein und die Waffen ergreifen, wie du es gebietest.“ 82 Der Schlusssegen gilt denjenigen, die Gott angeblich 78 Vgl. Katholisches Feldgesangbuch (wie Anm. 69), 76f. Zur Entstehung des 1843 erstmals in der Sammlung „Marienlieder zur Feier der Maiandacht“ erschienenen Liedes vgl. A. Heinz, Marienlieder des 19. Jahrhunderts und ihre Liturgiefähigkeit, in: TThZ 97 (1988) 106-134. 79 Andacht für Rekruten vor ihrem Eintritt in das Heer, o. O. (Recklinghausen), o. J. (um 1936). Am Ende der letzten (12.) Seite ist als Datum der Erteilung des Imprimaturs durch die zuständige Stelle des Erzbistums Köln der 13. August 1936 angegeben. Das von mir benutzte Exemplar befindet sich im Besitz der Bibliothek des Trierer Priesterseminars (G 4211). 80 Ebd., 3. 81 Ebd., 6. Das Versprechen spricht der Priester vor, die Rekruten beantworten es mit „Amen“. 82 Ebd., 6. „Waffensegen“ und Friedensgebet 239 selbst auserwählt hat, „des Volkes Soldaten zu werden“ und die nun hinausziehen, „ihren Dienst zu verrichten für das Vaterland“. 83 Man wird den Verfassern dieses Gottesdienstmodells zugute halten können, dass sie in erster Linie die Absicht verfolgten, den jungen Christen zu helfen, ihren Wehrdienst christlich durchzustehen. Aber der Zweck konnte auch hier die Mittel nicht heiligen. b) Friedensgebet Wenn wir nach dem Friedensgebet in jener von Anfang an auf Krieg angelegten Periode der jüngeren deutschen Geschichte fragen, können wir feststellen: Die Kirche hat dieses Mal mit dem Friedensgebet nicht gewartet, bis die Waffen gesprochen hatten. Als in den letzten Septembertagen 1938 die Kriegsgefahr sich zuspitzte, ließ beispielsweise der Trierer Bischof Franz Rudolf Bornewasser vor der entscheidenden Münchner Konferenz ein dreitägiges Friedensgebet im Bistum Trier durchführen. Die Oratio pro pace wurde zur Collecta imperata erklärt. 84 Der Bischof gab auch unverzüglich die Mahnung Papst Pius’ XI. (1922-1939) an die Gläubigen weiter, den Rosenkranz im Oktober 1938 „um Erhaltung des Friedens“ zu beten. 85 Es ließen sich zahlreiche weitere Zeugnisse anführen. Das vielfältige Friedensgebet in den Kriegsjahren hat sich dann noch einmal gesteigert, als der Krieg mit seinen Schrecken an allen Fronten nach Deutschland selbst kam. 86 Der entscheidende Durchbruch kam aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Angesichts von Millionen Toten und der Trümmerwüsten zerbombter Städte musste es jedem einleuchten, dass es ein Zurück zu den alten nationalistischen Irrwegen nicht mehr geben durfte. Noch bevor am 7. Mai 1945 Generaloberst Jodl in Reims die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht unterzeichnet hatte, unterschrieben 40 französische Bischöfe der Résistance einen Aufruf für einen Gebetskreuzzug für den Frieden; es war die „Geburtsurkunde“ der Pax-Christi-Bewegung. 87 Wenige Monate später, am 7. und 8. August, fielen die ersten Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Der Schrecken dieser neuen Waffe durchkreuzte von nun an jeden Versuch, den Krieg als geeignetes Mittel zur Wiederherstellung verletzter Rechte zu betrachten. Friedensarbeit wurde zu einer Überlebensaufgabe. Den Krieg aber brandmarkten die Päpste der Nachkriegszeit unmissverständlich als „Verbrechen gegen Gott und gegen den Menschen“. 88 Insbesondere ist 83 Ebd., 11. 84 Vgl. Alb. Heintz (Hg.), Erzbischof Bornewasser. Worte an seine Priester, Trier 1961, 64. 85 Vgl. ebd., 65. 86 Vgl. etwa das Rundschreiben des Trierer Bischofs vom 28. September 1944 an alle Priester des Bistums: ebd., 71-73. 87 Vgl. H. Pfister, Art. Pax-Christi-Bewegung, in: LThK 8 (Freiburg 2 1963), 239f. 88 Diese Kennzeichnung findet sich wörtlich in der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanums „Gaudium et Spes“, Art. 80. Das Konzil beruft sich dabei auf entsprechende Aussagen in der Enzyklika „Pacem in terris“ von Papst Johannes XXIII. (AAS 55 [1963] 286-291), Ansprachen Pius XII. vom 30. September 1954 (AAS 46 [1954] 589) und vom 24. Dezember 1954 (47 [1955] 15ff.) sowie auf die Ansprache Papst Pauls VI. vor den Vereinten Nationen am 4. Oktober 1965 (AAS 57 [1965] 877-885). Liturgie und Gesellschaft 240 in diesem Zusammenhang an das mutige Wort zu erinnern, mit dem das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) in seiner Pastoralkonstitution den Krieg geächtet hat. 89 Das Konzil hat aber auch die Notwendigkeit des Friedensgebets mit einer bis dahin nicht gekannten Eindringlichkeit betont. „Inständig muss man zu Gott beten“, heißt es in Artikel 82 von „Gaudium et Spes“, „dass er den politisch Verantwortlichen Kraft gibt …, kraftvoll den Aufbau des Friedens immer neu zu beginnen und tapfer durchzuhalten. Dies verlangt heute sicher von ihnen, dass sie mit Geist und Herz über die Grenzen ihrer eigenen Nation hinausschauen, dass sie auf nationale Egoismen und den Ehrgeiz, andere Nationen zu beherrschen, verzichten, dass sie eine tiefe Ehrfurcht empfinden für die ganze Menschheit, die sich so mühsam schon hinbewegt zu einer größeren Einheit.“ Was im fünften Kapitel dieses konziliaren Grundsatzdokuments über Krieg und Frieden in der Welt von heute gesagt wird, konnte nicht ohne Konsequenzen bei der Reform der liturgischen Bücher bleiben. Die nachvatikanische Liturgiereform hat denn auch nicht bloß die antiquierte Benedictio armorum (Segnung der Waffen) mit den verwandten Stücken aus dem Pontificale Romanum gestrichen. Sie hat auch die fünf sogenannten Gelasianischen Kriegsmessen, aus denen das Kriegs- und Friedensgebet der Vergangenheit vornehmlich geschöpft hatte, aus dem Römischen Messbuch entfernt. Das neugeschaffene Formular der Votivmesse Pro pace (Für den Frieden) weist schon durch seinen neuen Doppeltitel „um Frieden und Gerechtigkeit“ auf die unabdingbare Voraussetzung jeden dauerhaften Friedens hin. Die neuen Texte betonen zudem mit der gebotenen Deutlichkeit die Verantwortung des Menschen für eine gerechte Friedensordnung. Das Tagesgebet dieser Messe lautet: „Gott, dein Sohn hat jene selig gepriesen und deine Kinder genannt, die sich für den Frieden einsetzen. Gib uns die Bereitschaft, unermüdlich für eine gerechte Ordnung zu wirken, die allein einen echten und dauerhaften Frieden sichern kann.“ 90 Auch die Gebete für Staat und Gesellschaft haben ein neues Gesicht bekommen. 91 Sie erinnern die Regierenden an ihre Verantwortung vor Gott, gegenüber den Menschen ihres Landes und gegenüber der ganzen Völkerfamilie. Es wird nicht länger übersehen, dass Krieg und Frieden zuerst Menschenwerk sind. Menschen sind schuld am Krieg; und in der Verantwortlichkeit des Menschen steht es, einen Frieden zu bauen, der sich nicht dem Diktat des militärisch Stärkeren verdankt, sondern auf einem gerechten Interessenausgleich beruht. Um eine solche Friedensordnung lässt sich mit dem neuen Messbuch gut beten, nicht aber um Waffenglück. 89 Vgl. Gaudium et Spes, Art. 80-92. 90 Eigene Übersetzung der Collecta in der Votivmesse „Pro pace et justitia servanda“ in der lateinischen Editio typica des nachvatikanischen Römischen Messbuchs: Typis Polyglottis Vaticanis 1970, 802; die offizielle deutsche Fassung im Messbuch für die Bistümer des deutschen Sprachgebietes, Einsiedeln u. a. 1975, 1057. 91 Vgl. die Votivmessen „Pro rebus publicis“ im lateinischen Messbuch bzw. „Für Staat und Gesellschaft“ in der Ausgabe für das deutsche Sprachgebiet. „Waffensegen“ und Friedensgebet 241 IV. Schluss Wir dürfen gegenwärtig erleben, wie vielfältige Anstrengungen unternommen werden, die militärische durch eine politische Friedenssicherung in Europa abzulösen. Vielleicht erhält unser in seiner Geschichte von Kriegen so oft zerrissener Kontinent heute tatsächlich zum ersten Mal die reale Chance, einer Kultur der Gewaltlosigkeit den Weg zu bahnen. Ein solcher Prozess verdient wahrhaftig das Engagement und das Gebet der Christen. Dass ihr Friedensgebet etwas verändern kann, hat das Hoffnungszeichen der sanften Revolution des Jahres 1989 gezeigt. 12 Antijudaismus in der römischen Liturgie? Einführende Problemanzeige „Die Betrachtung der Stellung der Juden in der Liturgie gibt keinen Anlass zum Rühmen.“ 1 Das sagt einer, der weiß, wovon er spricht. John Hennig (1911-1986) 2 war zwar kein Liturgiewissenschaftler im akademischen Sinn. Aber der zum Katholizismus konvertierte evangelische Theologe hatte sich autodidaktisch zu einem hervorragenden Kenner der römischen Liturgie gebildet. Im Schicksalsjahr 1933 heiratete er Kläre Meyer, eine aus liberaler Familie stammende Jüdin. Wie durch ein Wunder entging die Familie 1939 buchstäblich in letzter Minute dem Zugriff der Gestapo. Aus dem Exil in Irland kehrte John Hennig ins Nachkriegsdeutschland zurück. Er wohnte zuletzt in Basel, wo er am 11. Dezember 1986 starb. Angelus A. Häußling, der Laacher Liturgiewissenschaftler, bemerkt in seiner Würdigung von Hennigs Beitrag zur Liturgiewissenschaft, dieser habe stets mit „existentieller Betroffenheit“ geforscht. 3 Das gilt in besonderer Weise für den Bereich, für den Hennig als einer der ersten überhaupt die professionellen Fachvertreter sensibilisiert hat, das Thema „Liturgie und Judentum“. Nicht weniger als 12 umfangreiche Literaturberichte hat er dazu im „Archiv für Liturgiewissenschaft“ veröffentlicht. 4 Hinzu kommt eine Reihe aufrüttelnder und bahnbrechender Aufsätze „Zur Stellung der Juden in der Liturgie“. 5 In ihnen ist viel antijüdisches Beweismaterial zusammengetragen, nicht um es populistisch auszuschlachten, sondern um notwendige Fragen zu stellen und längst überfällige Reformen anzumahnen. Hennig tat es als respektvoller Kenner beider Traditionen, der jüdischen seiner Frau und der römischkatholischen seiner seelischen Wahlheimat, unaufgeregt aber klar und bestimmt. [Erstveröffentlichung: Antijudaismus in der römischen Liturgie? , in: R. Bohlen (Hg.), Begegnungen mit dem Judentum (Schriften des Emil-Franck-Instituts 9), Trier 2007, 93-123, 2. durchgesehene Auflage 2007. Es handelt sich um die Druckfassung der Vorlesung, die der Verfasser im Rahmen der vom Emil-Franck-Institut veranstalteten Vorlesungsreihe „Begegnung mit dem Judentum“ im Wintersemester 2006/ 2007 an der Universität Trier gehalten hat.] 1 J. Hennig, Zur Stellung der Juden in der Liturgie, in: LJ 10 (1960) 129-140, hier 140. Nachdruck: J. Hennig, Liturgie gestern und heute, 2 Bde., Maria Laach 1989, II 891-902; vgl. die Relecture dieses Aufsatzes bei: D. Kranemann, Israelitica dignitas? Studien zur Israeltheologie Eucharistischer Hochgebete (Münsteraner theologische Abhandlungen 66), Altenberge 2001, 17-23. 2 Vgl. A. Häußling OSB, John Hennigs Beitrag zur Liturgiewissenschaft, in: Hennig, Liturgie (wie Anm. 1), I, 3-10. 3 Vgl. ebd., 5f. 4 Vgl. ebd., 9; Hennigs Literaturberichte erschienen ab 1969 regelmäßig unter der Rubrik „Liturgie und Judentum“; vgl. ALW 11 (1969) bis 20/ 21 (1978/ 79); 24 (1982); 26 (1984) und 28 (1986). 5 Vgl. oben Anm. 1; die insgesamt 28 Aufsätze zu dieser Thematik sind zusammengestellt und nachgedruckt in: Hennig, Liturgie (wie Anm. 1), 751-1027. Antijudaismus in der römischen Liturgie? 243 Nach Auskunft des „Lexikons für Theologie und Kirche“ bezeichnet der Begriff „Antijudaismus“ „… eine grundsätzlich unfreundliche Gesinnung und Haltung gegen Juden“. 6 Würde man sämtliche christliche Liturgien auf diesen Tatbestand hin überprüfen, würde sich wahrscheinlich bei allen ein entsprechender Anfangsverdacht bestätigen. Vor allem die orientalischen Liturgien schlagen in ihren Kargottesdiensten harte Töne an. Eine Stichprobe hat gezeigt, wie etwa der westsyrische Ritus in der „Woche der Leiden“ das ganze Arsenal antijüdischer Klischeevorstellungen auffährt. 7 Da wird den Juden nicht nur die Kollektivschuld am Tod Jesu angelastet. Israel wird als von Gott verworfen, ja verflucht, dargestellt. Das altbundliche Gottesvolk erscheint aller seiner Privilegien beraubt. Gott hat sich von ihm abgewandt und nach Gottes Plan ist es nun die Kirche, die Israels einstige Vorzugsstellung einnimmt und es beerbt hat. Hier ist in der Tat in bedrückender Weise der Tatbestand des „Antijudaismus“ erfüllt. Gilt das auch für die römische Liturgie? Einzig auf die römische Liturgie wollen wir uns bei unserer Anfrage beschränken, allein schon aus zeitökonomischen Gründen. Aber auch deshalb, weil der römische Ritus die am weitesten verbreitete christliche Liturgie ist. Sie gilt zudem im europäisch-atlantischen Kulturraum als die Erstverantwortliche für einen aus liturgischen Quellen gespeisten Antijudaismus, jedenfalls in ihrer vorkonziliaren Gestalt. Die Liturgiereform des Zweiten Vatikanums (1962-1965) hat nämlich gottlob, wie wir noch sehen werden, gerade in dem uns hier beschäftigenden Bereich grundlegende Änderungen gebracht. Die oft verkannte Präsenz des Alten Testaments in der römischen Liturgie Bevor wir das Dossier mit Beispielen eines liturgischen Antijudaismus aufschlagen, ist es gut, sich einen Sachverhalt klar zu machen, den viele Katholiken überhaupt nicht wahrnehmen. Es ist die Tatsache, „in welch unwahrscheinlich großem, gar nicht recht gewürdigten Ausmaß das Alte Testament in der Liturgie gegenwärtig ist, und durchaus nicht als eine vergangene und überwundene Größe, sondern als gültiger Maßstab der Gegenwart.“ 8 Das gilt vor allem für die Tagzeitenliturgie. „Rund die Hälfte des Stundengebets ist jüdische Literatur.“ 9 Bemerkenswert ist unter anderem die Präsenz alttestamentlicher Namen und Motive in biographisch bedeutsamen Ritualen an den Lebenswenden. So wurden etwa im römischen Brautsegen die Frauen der Patriarchen und Stammmütter Israels, Sara, Rebekka und Rahel, den christlichen Ehefrauen als nachahmenswerte Vorbilder vorge- 6 Vgl. G. Dautzenberg, Antijudaismus, Antisemitismus I, in: LThK 1 (Freiburg 3 1993), 748- 755, hier 748. 7 Vgl. A. Heinz, Antijudaismus in der christlichen Liturgie? Das Beispiel der Syrischen Kirchen in der „Großen Woche“, in: M. Tamcke (Hg.), Syriaca II. Beiträge zum 3. deutschen Syrologen-Symposium in Vierzehnheiligen 2002 (Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte 33), Münster 2004, 307-325. 8 Häußling, Beitrag (wie Anm. 2), 9. 9 Hennig, Stellung (wie Anm. 1), 139. Liturgie und Gesellschaft 244 stellt. 10 In der Initiationsliturgie wurde in den Gebeten über die erwachsenen Taufbewerber wiederholt der „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“ angerufen, jener Gott, „der Mose auf dem Berg Sinai erschienen ist und die Söhne Israels aus Ägypten herausgeführt hat.“ 11 So wie er damals Israel seinen Engel zum Geleit 10 Der ursprünglich nur der Braut geltende Segen wurde nach dem Römischen Messbuch 1570 zwischen Vaterunser und Embolismus der Messe anlässlich der Trauung erteilt. Die einschlägige Passage des Segensgebetes lautet: „… fidelis et casta nubat in Christo, imitatrixque sanctarum permaneat feminarum: sit amabilis viro suo, ut Rachel: sapiens, ut Rebecca: longaeva et fidelis, ut Sara …“. Das deutsche Einheitsrituale von 1950 sah erstmals eine deutsche Fassung für den liturgischen Gebrauch vor. Während die dort ebenfalls abgedruckte lateinische Fassung des Messbuches die erwähnte Passage unverändert enthält, sind in der deutschen Übersetzung die alttestamentlichen Frauennamen getilgt, so dass es dort nur heißt: „Sie (die Braut) folge allezeit dem Vorbild der heiligen Frauen, liebenswert ihrem Gatten, weise und treu bis ins hohe Alter.“ Vgl. Collectio rituum ad instar appendicis Ritualis Romani pro omnibus Germaniae dioecesibus a Sancta Sede approbata, Regensburg 1950, 97-99, hier 99. Die Liturgiekommission der „Fuldaer Bischofskonferenz“ erarbeitete die „Collectio rituum“ in den Kriegsjahren 1940-1944. Sie war der Meinung, das deutsche Einheitsrituale könne die damalige, von der Nazi-Propaganda angeheizte antisemitische Stimmung nicht ignorieren. Man hatte sich deshalb, wie der Bischof von Passau bei der Vorstellung des Entwurfs vor dem bayerischen Episkopat im Frühjahr 1944 sich ausdrückte, „um die Verschleierung mancher störender Judaismen“ bemüht. So hatte man, wie in dem angeführten Beispiel des Brautsegens, auch in Psalmen und anderen Gebeten alttestamentlich-jüdische Namen getilgt oder umschreibend wiedergegeben. Rom erhob Einspruch, als Kardinal Bertram (Breslau), der damalige Vorsitzende der Bischofskonferenz, Pius XII. von der angeblichen Notwendigkeit überzeugen wollte, man müsse der in Deutschland herrschenden antisemitischen Stimmung in der Liturgie Rechnung tragen; deutschen Brautleuten gefiele es nicht länger, an die Liebenswürdigkeit Rachels, die Weisheit Rebekkas und die Treue Saras erinnert zu werden. Wenigstens ein Mitglied des deutschen Episkopats protestierte energisch gegen diesen Passus im Bericht Kardinal Bertrams: der Freiburger Erzbischof Conrad Gröber (1932-1948). Er verwahrte sich dagegen, „heilige Namen aus dem Alten Testament mit Rücksicht auf die gegenwärtige Zeit zu tilgen“. Weiter wörtlich: „Wir haben doch nicht im Sinne, in der heiligen Liturgie unbegreiflicherweise nachzuahmen, was andere zur Zeit den jüdischen Namensträgern in der Wirklichkeit zufügen. Gerade jetzt sollte man charakterlich das Gegenteil erwarten.“ Zit. nach Th. Maas-Ewerd, Die Krise der Liturgischen Bewegung in Deutschland und Österreich (StPLi Bd. 5), Regensburg 1980, 658; zum Vorgang insgesamt vgl. ebd., 491f.; A. Heinz, Heinrich von Meurers (1888-1953). Ein Leben im Dienst der liturgischen Erneuerung, in: LJ 43 (1983) 94-108, hier 103-105. Vor der erst nach dem Krieg erfolgten römischen Approbation der „Collectio rituum“ wurden die entsprechenden „Verschleierungen“ wieder rückgängig gemacht. Im Fall des Brautsegens ist das jedoch unterblieben und von der Ritenkongregation wohl übersehen worden. Zur Präsenz alttestamentlicher Namen generell vgl. J. Hennig, Alttestamentliche Personennamen in den liturgischen Büchern nach dem Konzil von Trient, in: ALW 17/ 18 (1976) 59-75; Nachdruck: Hennig, Liturgie (wie Anm. 1), II, 961-977. 11 Vgl. Rituale Romanum, Tit. II cap. 4,17: Deus Abraham, Deus Isaac, Deus Jacob, Deus, qui Moysi famulo tuo in monte Sinai apparuisti, et filios Israel de terra Aegypti eduxisti, deputans eis Angelum pietatis tuae, qui custodiret eos die ac nocte: te quaesumus, Domine, ut mittere digneris sanctum Angelum tuum de caelis, qui similiter custodiat et hunc famulum tuum N. et perducat eum ad gratiam Baptismi tui. Per. So auch in der Erstausgabe von 1614; vgl. M. Sodi, J. J. Flores Arcas (Hg.), Rituale Romanum. Editio Princeps (1614). Edizione anastatica, Introduzione e Appendice, Vatikan 2004, 35-38. Antijudaismus in der römischen Liturgie? 245 gesandt hat, soll er heute durch seinen Engel die Katechumenen auf ihrem Weg zur Taufe begleiten. 12 Alttestamentliche Rettungsparadigmen hatten von jeher in der Sterbeliturgie ihren Platz, in der sogenannten „Commendatio animae (Befehlung der Seele)“. 13 Da wird einem Christen am Rand des Todes erbeten, dass derjenige ihn retten möge, der Henoch und Elija vor dem Tod, Noach aus der Flut, Abraham, Job, Isaak, Lot, Mose, Daniel, die drei jungen Männer im Feuerofen, Susanna und König David aus den ihnen jeweils drohenden Gefahren gerettet hat. Bis in seine jüngste Ausgabe verzeichnet das Römische Martyrologium die Namen alttestamentlicher Heiliger 14 , wenn auch im Vergleich zu manchen mittelalterlichen Verzeichnissen nur mehr in sehr reduzierter Zahl. Aber Abraham und Mose, auch sein Priesterbruder Aaron, König David und die Makkabäer werden genannt, auch Propheten wie Elija, Jesaja und Jeremia haben ihren Gedenktag. Aufs Ganze gesehen kommt aber das Jüdische in der Liturgie weit häufiger in unfreundlichen als in den dünn gesäten freundlichen Äußerungen vor. Und an diesen wenigen freundlichen Stellen vermeidet es die lateinische Liturgie in der Regel, von „den Juden - Iudaei“ zu sprechen 15 , denen der Geruch der Christusfeindschaft anhaftet. Gute Juden heißen eher „Israeliten“, so wie Jesus Natanael, der später mit dem Apostel Bartholomäus identifiziert wurde, gelobt hat als „verus Israelita - als echter Israelit und Mann ohne Falschheit“ (Joh 1,47); oder aber die Liturgie spricht von „Hebräern“. Am Palmsonntag zum Beispiel werden die Christen eingeladen, nicht etwa die Judenkinder nachzuahmen, sondern die „pueri Hebraeorum - die Kinder der Hebräer“, die Christus einst mit Hosanna-Rufen empfingen. 16 Wenn in der Osternacht allen Menschen die Würde erbeten wird, dem auserwählten Volk zugezählt zu werden, dann wird diese Würde nicht „ju- 12 Vgl. ebd. 13 Vgl. Rituale Romanum, Tit. VI cap. 7,4; Sodi, Ed. Princeps (wie Anm. 11), 96f.; G. J. Maurer, Paradigmengebete in der Sterbeliturgie, in: LJ 18 (1968) 120-124. Das Paradigmengebet ist in einer gekürzten Fassung auch in dem nach dem Vatikanum II erneuerten Krankenrituale erhalten geblieben; vgl. Ordo unctionis infirmorum eorumque pastoralis curae, Vatikan 1972, Nr. 148, 61f.; Die Feier der Krankensakramente, hg. im Auftrag der Bischofskonferenzen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz sowie der (Erz-)Bischöfe von Bozen-Brixen, Lüttich, Luxemburg und Straßburg, Solothurn u. a. 1994, 171f. 14 Vgl. Martyrologium Romanum. Editio typica, Romae 2001; dazu das dieser revidierten Neuausgabe gewidmete Heft 1 der Zeitschrift EL 116 (2002); ferner R. Fusco, Martyrologium Romanum. La nuova editio typica, in: RivLi 88 (2001) 837-844; A. Heinz, Das neue Martyrologium, in: LJ 52 (2002) 1f.; Zur Situation vor der Reform des Zweiten Vatikanums vgl. J. Hennig, Alttestamentliche Personen in den liturgischen Büchern nach dem Konzil von Trient, in: ALW 17/ 18 (1976) 59-75; Nachdruck in: Hennig, Liturgie (wie Anm. 1), 961-977. 15 Vgl. Hennig, Stellung (wie Anm. 1), 136. 16 Vgl. Missale Romanum ex decreto sacrosancti oecumenici Concilii Vaticani II instauratum auctoritate Pauli PP. VI promulgatum Ioannis Pauli PP. II cura recognitum. Editio typica tertia, Typis Vaticanis 2002, 277: Pueri Hebraeorum portantes ramos olivarum, obviaverunt Domino clamantes et dicentes: Hosanna in excelsis. In dem ebenfalls weiterhin zu den Gesängen der Palmprozession gehörenden Hymnus „Gloria, laus et honor“ des Theodulf von Orléans (†827) ist in der 4. Strophe in diesem positiven Sinn von der „Plebs hebraica“ die Rede (vgl. ebd., 279): Plebs hebraica tibi cum palmis obvia venit; cum prece, voto, hymnis, adsumus ecce tibi. Liturgie und Gesellschaft 246 daica dignitas“, sondern „israelitica dignitas“ genannt. 17 Die Christen reklamieren sie für sich. Es liegt den meisten von ihnen ganz fern, diesen Adel auch und zuerst auf dem Antlitz der „perfidi Iudaei“ zu erkennen, für die man am Tag zuvor in den großen Fürbitten des Karfreitags gebetet hat. Antijüdische Elemente in der Karfreitagsliturgie Damit ist die liturgische Feier angesprochen, in der sich von jeher das spannungsgeladene Verhältnis zwischen Juden und Christen zugespitzt und im Innersten der Kirche seinen signifikantesten Ausdruck gefunden hat. Es sind hauptsächlich zwei Elemente im Hauptgottesdienst des Karfreitags, die im Verdacht stehen, Antijudaismus zu generieren oder schon vorhandene antijüdische Stimmungen zu forcieren: die Fürbitte für die Juden und die Improperien, die „Heilandsklagen“, bittere Vorwürfe des leidenden Christus an sein hartherziges und undankbares Volk. Unsere Frage stellen wir deshalb gezielt an die Karfreitagsliturgie. Antijüdisches außerhalb der Karfreitagsliturgie Wir lassen deshalb anderes, weniger auffälliges, gleichwohl belastendes Material beiseite. Dazu gehören etwa manche mit „den Juden“ hart ins Gericht gehende Vätertexte im Brevier. Die aus der patristischen Literatur ausgewählten antijüdischen Lesungen der Matutin (Lesehore) erhalten als liturgische Texte und Pflichtlektüre aller zum Vollzug des Stundengebets gehaltenen Kleriker und Ordensleute eine einzigartige Publizität von fataler Wirkung. 18 Hennig nennt als Beispiel eine Augustinuslesung aus dem Kirchweihoffizium. Sie kreist um das Wortspiel „Judas verkaufte und Judaeus (der Jude) kaufte“. Der Text war dazu angetan, jüdische Geldgeschäfte generell in Verruf zu bringen. 19 Die historische Lesung am Fest des seligen Bernardino von Feltre (†1494) sprach ungeschützt vom „unverschämten Wucher der Juden“. 20 In manchen Lesungen an Märtyrertagen wurden undifferenziert Juden als böswillige Anstifter und übereifrige Kollaborateure bei der Verfolgung von Christen dargestellt. 21 Die mittelalterlichen Ritualmordgeschichten fanden zwar keine Aufnahme in das römische Brevier, aber auf regionaler und lokaler Ebene konnten sie sehr wohl auf dem Weg über die Liturgie antijüdische Gefühle wecken und stabilisieren. Weit über den mittelrheinischen Raum hinaus bekannt geworden ist zum Beispiel die 17 Vgl. Missale Romanum (wie Anm. 16), 358: Deus, cuius antiqua miracula etiam nostris temporibus coruscere sentimus, dum, quod uni populo a persecutione Pharaonis liberando dexterae tuae potentia contulisti, id in salutem omnium gentium per aquam regenerationis operaris, praesta, ut in Abrahae filios et in Israeliticam dignitatem totius mundi transeat plenitudo. Per.; vgl. Hennig, Stellung (wie Anm. 1), 136. 18 Vgl. J. Hennig, Haeretica pravitas, in: LJ 13 (1963) 9-21, hier 16; Nachdruck: Hennig, Liturgie (wie Anm. 1), 767-779; Hennig, Stellung (wie Anm. 1), 135. 19 Vgl. Hennig, Stellung (wie Anm. 1), 135. 20 Ebd., 130. 21 Vgl. 138. Antijudaismus in der römischen Liturgie? 247 fiktive Geschichte vom seligen Werner von Oberwesel oder von Bacharach. 22 Sein Kult blühte seit dem 13. Jahrhundert am Ort seines angeblichen Martyriums. Die Trierer Diözesanliturgie hat den Gedenktag Werners erst erstaunlich spät, im 18. Jahrhundert, berücksichtigt. 23 Bis zu seiner Entfernung zur Zeit des Zweiten Vatikanums (1963) 24 las der Trierer Bistumsklerus dann aber Jahr für Jahr am 18. April im Brevier eine, wie man heute weiß, erdichtete Mordgeschichte von beispielloser Grausamkeit. 25 Danach hatten die Juden den 14-jährigen, eben aus der Gründonnerstagsmesse gekommenen Werner in ihre Gewalt gebracht, ihn mit dem Kopf nach unten aufgehängt und dann zu Tode gefoltert, um aus ihm die heilige Hostie herauszupressen (ut sacram hostiam extorquerent). Diesen Mord hätten sie - so die Brevierlesung - aus ihrem angeborenen Christenhass heraus begangen (pro nativo in Christicolas odio). Es liegt auf der Hand, dass Geschichten dieser Art, durch ihre liturgische Verwendung scheinbar beglaubigt und mit sakraler Autorität umgeben, sich höchst nachteilig ausgewirkt haben auf die Haltung von katholischen Christen gegenüber Juden. Die Karfreitagsfürbitte für die Juden Von ungleich größerer Breitenwirkung als derartige antijüdische Lokalkulte war die weltweit gefeierte römische Karfreitagsliturgie. 26 Die darin vorkommende Fürbitte für die Juden wurde von vielen als Anklage gegen die Juden wahrgenommen. Sie bildete insofern de facto Jahrhunderte hindurch einen fruchtaren Nährboden für den christlichen Antijudaismus. 27 Vergegenwärtigen wir uns zunächst Ort und Gestalt dieses umstrittenen Bausteins der Karfreitagsliturgie. Die Einladung zum Gebet für die Juden ergeht im Rahmen der großen Fürbitten am Ende des Wortgottesdienstes. Voraufgegangen ist die Johannespassion. Sie ist derjenige unter den biblischen Passionsberichten, 22 Vgl. Th. Wetzstein, Werner von Oberwesel, in: LThK 10 (Freiburg 3 2001), 1102f.; Ders., Vom Volksheiligen zum Fürstenheiligen. Die Wiederherstellung des Werner-Kults im 15. Jahrhundert, in: AMRhKG 51 (1999) 11-68. 23 Erstbezeugung eines Offiziums kurz nach 1726, der Messe 1761; vgl. E. Iserloh, Werner von Oberwesel. Zur Tilgung seines Festes im Trierer Kalender, in: TThZ 72 (1963) 270-285, hier 271, Anm. 46. 24 Vgl. ebd. 25 Vgl. Officia propria dioecesis Treverensis a Sacra Rituum Congregatione revisa et approbata die 12 Julii 1916, Pars verna, Ratisbonae et Romae 1917, 53*-55*; zur judenfeindlichen Wirkung des Kults vgl. G. Mentgen, Die Ritualmordaffäre um den „Großen Werner“ von Oberwesel und ihre Folgen, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 21 (1995) 159-198. 26 Vgl. zur Genese und heutigen Gestalt M. Klöckener, Die „Feier vom Leiden und Sterben Jesu Christi“ am Karfreitag. Gewordene Liturgie vor dem Anspruch der Gegenwart, in: LJ 41 (1991) 210-251. 27 Vgl. U. Altermatt, Katholizismus und Antisemitismus. Mentalitäten, Kontinuitäten, Ambivalenzen. Zur Kulturgeschichte der Schweiz 1918-1945, Frauenfeld u. a. 1999, 26f.; Ders., Karfreitag und Antisemitismus. Paneldiskussion, in: 2. Internationales Theodor-Herzl-Symposion Wien 22.-24. September 1997. Wiener Rathaus. Der Bericht, hg. v. Magistrat der Stadt Wien, Wien 1997, 55-86. Liturgie und Gesellschaft 248 der am stärksten antijüdisch akzentuiert ist. 28 Während der Evangelist den Römer Pontius Pilatus nachsichtig entlastet, erscheinen „die Juden“ als die unerbittlichen Feinde Christi, als Anstifter seiner Kreuzigung und letztlich auch als Täter der Untat. So jedenfalls wurde es in der patristischen Lesung des Karfreitagsoffiziums erklärt. In der Matutin war eine Augustinusstelle zu lesen. 29 Der Kirchenvater weist dort den Einwand der Juden zurück, sie, die Juden, hätten Christus ja gar nicht getötet. Augustinus antwortet darauf: „… er (Pilatus) gab zwar den Befehl, ihn zu kreuzigen, und hat ihn so gleichsam selbst gekreuzigt; aber auch ihr, ihr Juden, habt ihn getötet. Womit habt ihr ihn getötet? Mit dem Schwert eurer Zunge! “ 30 Vor dieser Lesung stand ein Gesang, der als Bestandteil der Trauermetten tiefe Spuren in der Volksfrömmigkeit hinterlassen hat; in manchen Gegenden lebt der Text bis heute als Freitagsgebet weiter. 31 Es ist das Responsorium „Tenebrae“: „Tenebrae factae sunt - Es ist finster geworden, als die Juden (den Herrn) Jesus kreuzigten …“. 32 Die Priester hatten dieses Responsorium und die Augustinus- Auslegung zu Psalm 63 in ihrem Brevier gelesen, ehe sie die Karfreitagspredigt hielten. Da konnten leicht antijüdische Gefühle beim Prediger und bei seinen Zuhörern wach werden. Wenn dann anschließend in den Großen Fürbitten die Gebetsaufforderung erging: „Oremus et pro perfidis Iudaeis - Lasst uns auch beten für die treulosen Juden! “ 33 , weckte das nicht unbedingt Sympathien. Viel nachteiliger als der unfreundlich klingende, durch die lateinische Sprache aber eher verschleierte Wortlaut der Juden-Fürbitte wirkte sich die damit verbundene rituelle Besonderheit aus: die ausgelassene Kniebeuge. Während bei allen anderen Bitten nach der Gebetseinladung des Priesters der Diakon mit dem Ruf „Flectamus genua (Beuget die Knie)“ die Gemeinde zum Niederknien aufforderte, unterblieben auffälligerweise Ruf und Kniebeuge an dieser Stelle. Volksmessbücher, Katechismen, Gebet- und Erbauungsbücher lieferten eine antijüdische 28 Vgl. F. Hahn, Die „Juden“ im Johannesevangelium, in: Kontinuität und Einheit (FS Franz Mußner), Freiburg i. Br. 1981, 430-438; Ders., Die Verwurzelung des Christentums im Judentum, Neukirchen-Vluyn 1996, 119-129 (Nachdruck); F. Vouga, Antijudaismus im Johannesevangelium? , in: ThGl 83 (1993) 81-89; R. Pesch, Antisemitismus in der Bibel? Das Johannesevangelium auf dem Prüfstand, Augsburg 2005. 29 Vgl. Lectio sexta der 2. Nokturn: Augustinus, Enarrationes in psalmos, ps 63 ad vers. 2, CC Series latina 39, 810. 30 Ebd.: „Sed ille dixit in eum sententiam, et jussit eum crucifigi, et quasi ipse occidit: et vos, o Judaei, occidistis. Unde occidistis? Gladio linguae.“ 31 Vgl. A. Heinz, „Der Engel des Herrn“, Erlösungsgedächtnis als Volksgebet, in: HlD 33 (1979) 51-58, hier 53f.; Ders., Angelus, in: LThK 1 (Freiburg 3 1993), 653f. Im Spätmittelalter ist seine Verwendung als Elevationsgesang in am Freitag gefeierten Messen bezeugt; vgl. H. B. Meyer, Luther und die Messe, Paderborn 1965, 272. Stiftungen institutionalisierten das Tenebrae-Singen am Freitag(-mittag) an vielen Kirchen; vgl. G. Schreiber, Die Wochentage im Erlebnis der Ostkirche und des christlichen Abendlandes, Köln-Opladen 1959, 172; zu heutigen Formen vgl. Balth. Fischer, Freitagsfrömmigkeit, in: Gd 14 (1980) 9-11. 32 Tenebrae factae sunt, dum crucifixissent Jesum Judaei; et circa horam nonam exclamavit Jesus voce magna: Deus meus, ut quid me dereliquisti? Et inclinato capite, emisit spiritum. Vgl. J. Pascher, Das Liturgische Jahr, München 1963, 145. 33 Vgl. W. Sanders, Die Karfreitagsfürbitte für die Juden vom Missale Pius’ V. zum Missale Pauls VI., in: LJ 24 (1974) 240-248. Antijudaismus in der römischen Liturgie? 249 Begründung dafür. 34 Sie lässt sich erstmals bei dem großen Liturgieerklärer der Karolingerzeit nachweisen, bei Amalar von Metz, der um 810 Bischof von Trier war. 35 Seine Deutung ging ein in die liturgischen Bücher der Folgezeit. Das Pontifikale der Römischen Kurie aus dem 12. Jahrhundert formulierte sie normativ für die folgenden Jahrhunderte. Es heißt dort: „Wenn für die Juden gebetet wird, darf das Knie nicht gebeugt werden. Und zwar darum, weil die Juden an diesem Tag zur Verhöhnung des Herrn das Knie gebeugt haben. Da die Kirche ihre Untat verabscheut, beugt sie beim Gebet für sie (die Juden) die Knie nicht.“ 36 Das antijüdische Potential der Ausnahme-Behandlung der Fürbitte für die „perfidi Judaei“ soll wahrhaftig hier nicht schön geredet werden. Doch muss man sich andererseits aber auch vor einer vorschnellen Diffamierung hüten. Bei den Orationes Solemnes haben wir es mit liturgischem Urgestein zu tun. 37 Die Gebetseinladungen reichen im Wesentlichen zurück bis in die vorkonstantinische Zeit. Zudem wissen wir, dass dieses Formular noch um die Mitte des 5. Jahrhunderts in Rom als Normalformular des Allgemeinen Gebets in der Sonntagsmesse diente. 38 Als dann wenig später in der römischen Messe die Fürbitten außer Gebrauch kamen, blieb dieses ehrwürdige Fürbittgebet an einer prominenten Stelle 34 In dem am weitesten verbreiteten deutschsprachigen Volksmessbuch von Anselm Schott OSB konnte man bis in die Ausgaben der 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts lesen: „Hier unterläßt der Diakon die Aufforderung zur Kniebeuge, um nicht das Andenken an die Schmach zu erneuern, mit welcher die Juden durch Kniebeugungen um diese Stunde den Heiland verhöhnten.“ Zit. n. Sanders, Karfreitagsfürbitte (wie Anm. 33), 241. Ähnlich in den sehr einflussreichen liturgischen Hausbüchern von Rippel und Goffine; vgl. G. Rippel, Die Schönheit der katholischen Kirche dargestellt in ihren äußeren Gebräuchen in und außer dem Gottesdienste (…). Dreißigste vermehrte Auflage mit einer Vorrede und einem Nachtrag von P. Ignatius Stützle OSB, Mainz 1927, 48f.; Chr. Kleyboldt, Des ehrwürdigen Leonhard Goffine katholisches Unterrichts- und Erbauungsbuch (…), Mainz 4 1866, 328. 35 Vgl. Amalarius, Liber officialis I c. 13,17: Amalarii episcopi opera liturgica omnia edita a J. M. Hanssens SJ, 3 Bde. (Studi e Testi 138-140), II, Città del Vaticano 1948, 98. Zu Amalars Leben und Werk vgl. W. Steck, Der Liturgiker Amalarius - eine quellenkritische Untersuchung zu Leben und Werk eines Theologen der Karolingerzeit (MThSt. H 35), St. Ottilien 2000; D. Diósi, Amalarius Fortunatus in der Trierer Tradition. Eine quellenkritische Untersuchung der trierischen Zeugnisse über einen Liturgiker der Karolingerzeit (LQF 94), Münster 2006. 36 M. Andrieu, Le Pontifical Romain au moyen-âge. Tome I: Le Pontifical Romain du XII e siècle (Studie et Testi 86), Città del Vaticano 1938 (Nachdruck 1961), 235: Sciendum autem quod, quando oratio datur pro Judaeis, non debent flecti genua. Nam quia Judaei die hac dominum irridendo genua flectebant, Ecclesia, illorum perhorrescens facinus, non flectit genua in orando pro ipsis. 37 Vgl. P. De Clerck, La „prière universelle“ dans les liturgies latines anciennes. Témoignages patristiques et textes liturgiques (LQF 62), Münster 1977, 125-144. 38 Vgl. M. Cappuyns, Les „orationes sollemnes“ du vendredi saint, in: Questions liturgiques et pastorales 23 (1938) 18-31; De Clerck, Prière (wie Anm. 37), 142; als „locus theologicus“ spielten die Orationes Solemnes eine wichtige Rolle in der Auseinandersetzung mit pelagianischen Tendenzen im südgallischen Mönchtum. Posper von Aquitanien hat im Rückgriff auf dieses Formular sein Axiom „Lex orandi - lex credendi“ formuliert; vgl. A. Heinz, Das Gebet für die Feinde in der abendländischen Liturgie, in: LJ 32 (1982) 201-218, hier 205; De Clerck, Prière (wie Anm. 37), 89f.; zur Interpretation des Adagiums vgl. G. Wainwright, Doxologie. The Praise of God in Worship. Doctrine and Life, London 1980, 218-250. Liturgie und Gesellschaft 250 des Kirchenjahres erhalten, und zwar im Hauptgottesdienst des Karfreitags. 39 Ein klassisches Beispiel für das Baumstark’sche Gesetz von der Erhaltung des Alten in liturgisch hochwertiger Zeit. 40 In der hohen Zeit des Ostertriduums lädt die Kirche noch immer mit nahezu den gleichen Worten ihre Gläubigen zum fürbittenden Gebet ein, wie sie es schon in der Märtyrerzeit getan hat. Die Gebetspraxis der Märtyrerzeit - das hat der Kirchenhistoriker Karl Baus eindrucksvoll herausgearbeitet 41 - ist wie keine spätere Epoche der Frömmigkeitsgeschichte charakterisiert durch eine besondere Hellhörigkeit für die Weisung Jesu in der Bergpredigt: „Liebet eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen! “ (Mt 5,44). In stolzem Selbstbewusstsein der Andersartigkeit christlichen Betens sagt Tertullian in seiner Abhandlung „De oratione - Über das Gebet“, früher habe das Gebet Plagen über die Feinde herabgefleht; „jetzt aber“, so Tertullian wörtlich, „sorgt sich das Gebet um die Feinde; es fleht um Gnade für die Verfolger.“ 42 Nicht Gottes Strafgericht, sondern das Heilsgut der besseren Einsicht und der Umkehr erbitten die Christen ihren Feinden und Verfolgern. Aus diesem frühchristlichen Gebetsethos wurde auch die Fürbitte für die Juden geboren. 43 Von Justin dem Märtyrer (†165) wissen wir, dass die Christen seiner Zeit die Juden nicht nur als „Gottesmörder“ betrachteten, wie es schon Bischof Meliton von Sardes in der ältesten uns erhaltenen Osterpredigt tut 44 , und als Leute, die „den Gerechten gekreuzigt haben, durch dessen Striemen die geheilt werden, die durch ihn zum Vater kommen“. 45 In ihnen sahen sie auch die Anstifter und Drahtzieher der Christenverfolgungen ihrer Zeit. 46 Angesichts dieses klar umrissenen Feindbildes überrascht es dann schon, dass derselbe Justin beteuert, die Christen beteten für die Juden. 47 Den Beweis liefert unsere Karfreitagsfürbitte. 39 Vgl. J. A. Jungmann, Missarum Sollemnia, 2 Bde., Wien 5 1962, I, 615f.; Klöckener, Karfreitag (wie Anm. 26), 221f. 40 Vgl. A. Baumstark, Das Gesetz der Erhaltung des Alten in liturgisch hochwertiger Zeit, in: JLW 7 (1927) 1-23. Außer am Karfreitag haben wir im Frühmittelalter noch Zeugnisse für ihren Gebrauch auch am Mittwoch der Karwoche. 41 Vgl. K. Baus, Das Gebet der Märtyrer, in: TThZ 62 (1953) 19-32. 42 Tertullian, De oratione c. 29,2 (CCC 1,274): Sed e retro plagas irrogabat, fundebat hostium exercitus, imbrium utilia prohibebat. Nunc vero oratio iustitiae omnem iram Dei avertit, pro inimicis excubat, pro persecutoribus supplicat. Vgl. Heinz, Feinde (wie Anm. 38), 202; De Clerck, Prière (wie Anm. 37), 18. 43 Vgl. De Clerck, Prière (wie Anm. 37), 10f. 44 Vgl. Meliton von Sardes. Vom Passa. Die älteste christliche Osterpredigt (Sophia 3), übersetzt, eingeleitet und kommentiert von J. Blank, Freiburg i. Br. 1963, 127f.; dazu der Kommentar ebd., 77-86. Zum liturgischen „Sitz im Leben“ von Melitons „Peri Pascha“ vgl. die Untersuchung des anglikanischen Priesters A. Stewart-Sykes, The Lamb’s High Feast. Melito, Peri Pascha and the Quartodeciman Paschal Liturgy at Sardis (Supplements to Vigiliae Christianae 42), Leiden u. a. 1998. 45 Justinus, Dialog mit dem Juden Tryphon. Aus dem Griechischen übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Philipp Haeuser (BKV 33), Kempten, München 1917, 25 (Dial. 17,1). 46 Vgl. ebd., 25f. 47 Vgl. ebd., 218 (Dial. 133,6): „Christus habt ihr getötet und kennt trotzdem keine Reue. Aber auch uns, die wir durch Christus an Gott, den Vater des Weltalls, glauben, mordet ihr in eurem Hasse, so oft ihr die Macht dazu erhaltet. Immer und immer wieder verflucht ihr Christus selbst und seine Anhänger, obwohl wir alle für euch und die ganze Menschheit überhaupt Antijudaismus in der römischen Liturgie? 251 Das verdient, festgehalten zu werden. Von den christlichen Liturgien in Ost und West ist es nämlich tatsächlich einzig und allein die römische, die fürbittend der Juden gedenkt. 48 Was sie ihnen erbittet, ist nach Justin eine Änderung ihrer Einstellung. Auch sie sollen zum Glauben an Christus finden und gerettet werden, „wenn er bei seinem abermaligen Kommen in Herrlichkeit erscheint.“ 49 Dahinter steht die optimistische Vision des Apostels Paulus von der endzeitlichen Rettung ganz Israels (Röm 9-11). Bei der Formulierung der Fürbitte für die Juden hat die römische Kirche zudem auf ein paulinisches Bild zurückgegriffen. Im zweiten Korintherbrief schreibt Paulus sinngemäß (vgl. 2 Kor 3,15f): Jedes Mal, wenn Mose den Juden vorgelesen wird, liegt eine Hülle, ein „velamen“, auf ihren Herzen. Deshalb die Bitte der Kirche, „dass unser Gott und Herr die Hülle von ihren Herzen hinweg nehme, damit auch sie Christus Jesus, unseren Herrn, anerkennen.“ 50 Als anstößig in der traditionellen Juden-Fürbitte wurde vor allem die Charakterisierung der Juden als „perfidi“ empfunden, was durchweg mit „treulos“ übersetzt wurde. 51 In der Tat äußerst verletzend für jeden Juden, dessen ganzer Stolz die Treue zum Bund und zur Tora ist. Hat die Kirche wirklich diejenigen verächtlich machen wollen, für die sie ihre Gläubigen zu beten auffordert? Das würde dem oben skizzierten Geist des frühchristlichen Betens eklatant widersprechen. Die philologisch-theologischen Arbeiten von Erik Peterson und anderen, deren Ergebnissen auch John Hennig zustimmt 52 , haben nun aber gezeigt, dass „perfidus“ ursprünglich keine pejorative Bedeutung hatte. Das Adjektiv bezeichnete von Hause aus einfach den objektiven Sachverhalt der „Glaubensabgewandtheit“ der Juden, wie John Hennig sich ausdrückt. 53 Es muss deshalb eher beten gemäß der Lehre, welche uns unser Christus und Herr gegeben hat, der uns aufforderte, für die Feinde zu beten, diejenigen zu lieben, welche uns hassen, und diejenigen zu segnen, welche uns verfluchen.“ Vgl. Mt 5,44; Lk 6,27. In den auch an anderer Stelle erhobenen Vorwurf, die Juden würden die Christen in ihren Synagogen verfluchen, vermutet man eine Anspielung auf die 12. Beraha der Tefilla; vgl. die deutsche Übersetzung bei J. J. Petuchowski, Beten im Judentum, Stuttgart 1976, 105-111, hier 108; dazu auch I. Elbogen, Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung, Frankfurt 3 1931 (2. Nachdruck, Hildesheim u. a. 1995), 36-39. 48 Vgl. De Clerck, Prière (wie Anm. 37), 131. Bei der 10. Bitte der gallikanischen Version der so genannten Deprecatio Gelasii, eines spätantiken Formulars des Allgemeinen Gebets, handelt es sich nicht um eine Fürbitte für die Juden. Vielmehr betet man für Menschen, die von Juden und Häretikern in die Irre geführt wurden: Pro iudaica falsitate (…) aut haeretica pravitate deceptis vel gentili superstitione perfusis veritatis dominum deprecamur. Ebd., 170-173, hier 171. 49 Justinus, Dialog (wie Anm. 45), ferner ebd., 175 (Dial. 108,3). 50 So der Wortlaut der Gebetseinladung der Karfreitagsfürbitte für die Juden bis 1965: Oremus et pro Judaeis: ut Deus et Dominus noster auferat velamen de cordibus eorum: ut et ipsi agnoscant Jesum Christum, Dominum nostrum. Vgl. Sanders, Karfreitagsfürbitte (wie Anm. 33), 244; zum Heilsgut der „agnitio veritatis“ vgl. Hennig, Pravitas (wie Anm. 18), 12f., 18-20. 51 Vgl. Sanders, Karfreitagsfürbitte (wie Anm. 33), 241f.; Hennig, Pravitas (wie Anm. 18), 10-13. 52 Vgl. E. Peterson, „Perfidia Iudaica“, in: EL 50 (1936) 296-311; Hennig, Stellung (wie Anm. 1), 131f.; vgl. zusammenfassend und kritisch Kranemann, Israelitica dignitas (wie Anm. 1), 77-84. 53 Vgl. Hennig, Pravitas (wie Anm. 18), 10. Liturgie und Gesellschaft 252 mit „ungläubig“ übersetzt werden, und zwar in dem Sinn, dass die Juden nicht nach Christenart an Jesus als den Messias glauben. Dieser Glaube ist das Heilsgut, das die Kirche ihnen erbittet. Unser Formular hat gegen Ende des vierten Jahrhunderts eine Überarbeitung erfahren. 54 Sie hat die Fürbitte für die Juden in unguter Art verändert. Die damals hinzugefügte Oration 55 redete nicht nur von der „Judaica perfidia“. Ein antijüdischer Misston kam vor allem dadurch in das Gebet, dass dort gesagt wurde, Gott schließe „sogar“ die Juden nicht von seiner Barmherzigkeit aus: Deus, qui etiam judaicam perfidiam a tua misericordia non repellis … 56 Dahinter steht zweifellos eine veränderte, das heißt abwertende Einstellung den Juden gegenüber in dem mittlerweile zur Staatsreligion avancierten Christentum. Die etablierte römische Reichskirche blickte nun auf die Juden herab, sie beschnitt ihre Rechte und grenzte sie gesellschaftlich aus. Schon auf dem Konzil von Nizäa (325) machte sich eine massive antijüdische Stimmung breit. Die dort erreichte Übereinkunft hinsichtlich eines einheitlichen Osterdatums verdankt sich vor allem der dezidierten Absicht, das christliche Pascha terminlich klar von der jüdischen Pesah-Feier abzugrenzen. 57 Kaiser Konstantin selbst schrieb in seinem diesbezüglichen Rundbrief an alle Kirchen des Reiches, die Juden hätten Blut an den Händen; mit „dem verhassten Volk der Juden“, die „den Mord unseres Herrn“ auf sich geladen hätten, sollten Christen nichts gemein haben. 58 In ihrer antijüdisch aufgeladenen spätantiken Fassung hat das Mittelalter die Karfreitagsfürbitte für die Juden übernommen. Ihr antijüdisches Potential kam aber erst wirklich zur Wirkung, als es auf fränkischem Boden durch die unterlassene Kniebeuge sichtbar gemacht wurde. Die Neuerung ist erstmals in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts greifbar. 59 John Hennig vermutet als Grund für ihr Aufkommen ökonomisch begründete Animositäten gegen die Juden. 60 789 hatte die Synode von Aachen Christen das Geldverleihen auf Zins verboten. Gleichzeitig erlaubten die weltlichen Autoritäten aber den Juden derartige Geschäfte. Die von diesen als Sicherheitsleistung verlangten Zinsen galten vielen als wucherisch, was die Juden generell in Misskredit brachte. 54 Vgl. De Clerck, Prière (wie Anm. 37), 142-144. 55 Vgl. den Text der Oration ebd., 129. Er blieb unverändert bis 1960; vgl. Sanders, Karfreitagsfürbitten (wie Anm. 33), 244f. 56 Das bekannteste deutsche Volksmessbuch, der „Schott“, übersetzte das lateinische „etiam“ noch 1956 mit „sogar“. Erst die von Johannes XXIII. 1959 verfügte Tilgung der Ausdrücke „perfidis“ und „judaicam perfidiam“ führte zu der passenderen Übersetzung durch „auch“; vgl. Sanders, Karfreitagsfürbitte (wie Anm. 33), 243f. 57 Vgl. A. Heinz, Die Bedeutung der Zeit Konstantins (306-337) für die Liturgie der Kirche, in: M. Fiedrowicz, G. Krieger, W. Weber (Hg.), Konstantin der Große. Der Kaiser und die Christen. Die Christen und der Kaiser, Trier 2006, 139-182, hier 158-161. Nachdruck in diesem Band. 58 Eusebius, Vita Constantini 3,18; Des Eusebius Pamphili vier Bücher über das Leben des Kaisers Konstantin und des Kaisers Konstantins Rede an die Versammlung der Heiligen, aus dem Griechischen übersetzt von J. M. Pfättisch (BKV 9,1), Kempten, München 1913, 107. 59 Vgl. De Clerck, Prière (wie Anm. 37), 144. G. Römer, Die Liturgie des Karfreitags, in: ZKTh 77 (1955) 39-93, 69f. Ältester Zeuge ist der Ordo Romanus XXIV; vgl. M. Andrieu, Les Ordines romani du haut moyen âge (Spicilegium sacrum lovaniense, Études et documents 11, 23, 24, 28, 29), 5 Bde., Löwen 1931-1961, hier III, 288; 292. 60 Vgl. Hennig, Stellung (wie Anm. 1), 129. Antijudaismus in der römischen Liturgie? 253 Wir haben in dieser Änderung aber gewiss auch ein Beispiel zu sehen für die allgemeine Tendenz zur Dramatisierung der Liturgie im germanischen Norden. Sie wirkt sich besonders aus bei den Kar- und Ostergottesdiensten. Der Gehalt der liturgischen Feiern, der wegen der lateinischen Liturgiesprache den Laien weitgehend verschlossen blieb, sollte dem Volk durch non-verbale Gestaltungselemente nahe gebracht und erschlossen werden. Nicht mehr das Gehörte, sondern das, was die Leute sahen, Riten, Gebärden, Formen und Farben, werden nun zunehmend Gegenstand der Liturgieerklärung. Amalar von Metz geht mit seiner allegorischen Deutungsmethode auf diesem Weg voran. 61 Er ist es auch, der - wie bereits erwähnt 62 - als erster die zu seiner Zeit sich allmählich einbürgernde Neuerung der unterlassenen Kniebeuge erklärt, tendenziell antijüdisch zwar, aber, was ihm persönlich gewiss wichtiger war, als moralische Mahnung an die Gottesdienstgemeinde. Die Juden hätten, so Amalar, in böser Absicht, um Christus zu verhöhnen, unaufrichtig die Kniebeuge vollzogen; wenn bei der Fürbitte für sie die Kniebeuge unterbleibe, solle das den Christen eine Mahnung sein, „dass wir heuchlerisches Tun meiden müssen.“ 63 Es erübrigt sich, an Einzelbeispielen zu beweisen, wie belastend sich dieses Element der Karfreitagsliturgie auf die jüdisch-christlichen Beziehungen ausgewirkt hat. Betroffen fragt man sich: Gab es in all den Jahrhunderten denn nie einen Versuch, daran etwas zu ändern? Immerhin meldete sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts ein philologisch gebildeter Humanist, Johannes Reuchlin, in der Sache zu Wort. 64 Er räumte ein, dass die Juden „sich mit Recht darüber beschweren, dass die christliche Kirche sie alljährlich am Karfreitag treulose Juden nennt, das heißt solche, die weder Treu noch Glauben haben.“ 65 Doch die Reformation brachte in diesem Punkt keine Wende zum Besseren. Der evangelische Karfreitagsgottesdienst ließ die Orationes Solemnes ganz fallen und damit auch die Fürbitte für die Juden. Das Tridentinische Messbuch schrieb dagegen die mittelalterliche Regelung für die nächsten 400 Jahre fest. 66 61 Vgl. A. Häußling OSB, Christliche Identität aus der Liturgie. Theologische und historische Studien zum Gottesdienst der Kirche (LQF 79), hg. v. M. Klöckener, B. Kranemann und M. B. Merz, Münster 1997, 142-150, 143f.; R. Meßner, Zur Hermeneutik allegorischer Liturgieerklärungen in Ost und West, in: ZKTh 115 (1993) 284-319, 415-434; ferner die in Anm. 35 genannte Literatur. 62 Vgl. oben Anm. 35. 63 Ebd.: Per omnes orationes genu flexionem facimus, ut per hunc habitum corporis mentis humilitatem ostendamus, excepto quando oramus pro perfidis Iudaeis. Illi enim genu flectebant; opus bonum male operabantur, quia illudendo hoc faciebant; nos, ad demonstrationem quod fugere debeamus opera quae simulando fiunt, vitamus genu flexionem in oratione pro Iudaeis. 64 Vgl. Kranemann, Israelitica dignitas (wie Anm. 1), 78 Anm. 66; zur Person vgl. St. Rhein, Reuchlin, Johannes, in: LThK 8 (Freiburg 3 1999), 1134f. 65 Zit. n. Kranemann, Israelitica dignitas (wie Anm. 1), 78 Anm. 66; Rechtschreibung hier modernisiert. 66 Wortlaut und Rubrik (Et non respondetur AMEN. Nec dicitur FLECTAMUS GENUA) der Judenfürbitte in der ersten gedruckten Ausgabe des Missale Romanum von 1474 wurden unverändert in die nachtridentinische Ausgabe von Papst Pius V. (1570) übernommen. Änderungen erfolgten erst ab 1948; vgl. Missalis Romani editio princeps Mediolani anno 1474 prelis mandata. Reimpressio vaticani exemplaris introductione aliisque elementis aucta curantibus Anthony Ward S. M. et Cuthbert Johnson OSB, Rom 1996, 144f. Liturgie und Gesellschaft 254 Im Rahmen einer Tagung der Münchener Katholischen Akademie zum Thema „Katholizismus und Judentum“ hat der Münsterer Historiker Hubert Wolf über einen Vorstoß zur Änderung der Karfreitagsfürbitte für die Juden berichtet, der bis jetzt so gut wie unbekannt geblieben ist. 67 Erst die Teilöffnung der Vatikanischen Archive im Februar 2003 ermöglichte eine Rekonstruktion der diesbezüglichen Initiative der „Amici Israel“, einer 1926 gegründeten Priestervereinigung. Die „Freunde Israels“ hatten in ihren Reihen fast 20 Kardinäle, nahezu 300 Bischöfe und mehr als 3000 Priester. 68 Auch der Münchener Kardinal Michael Faulhaber (†1952) gehörte dazu. 69 Die „Amici Israel“ übergaben im Januar 1928 Papst Pius XI. (1922-1939) eine Petition. Darin ersuchten sie den Apostolischen Stuhl, in der Juden-Fürbitte die Ausdrücke „perfidi“ und „perfidia“ zu streichen, „weil ihnen etwas Verhasstes anhafte“ 70 ; ferner sollte die Kniebeuge auch bei dieser Bitte vollzogen werden. Die Ritenkongregation stimmte zu. Der von ihr mit der Angelegenheit befasste Gutachter - es war der damalige Abt des römischen Benediktinerkonvents von St. Paul vor den Mauern und spätere berühmte Mailänder Kardinal Ildefons Schuster (1880-1954) 71 - bemerkte in seinem Votum, es gehe im Grunde darum, „einen späten und abergläubischen (superstizioso) Brauch abzuschaffen.“ 72 Schuster war ein anerkannter Liturgiehistoriker. Sein positives Gutachten in der Juden-Frage hatte indes nicht nur keinen Erfolg, es trug ihm im Gegenteil eine vom Papst persönlich veranlasste, scharfe Rüge des Heiligen Offiziums ein. Pius XI. sah in der vorgeschlagenen Änderung einen Angriff auf die „universelle liturgische Tradition“ 73 der Kirche. Per Dekret verwarf er nicht nur den Antrag der „Amici Israel“, sondern verfügte die sofortige Auflösung der Vereinigung. 74 Um dem vorausgesehenen Vorwurf des Antisemitismus zu begegnen, wurde in dem Auflösungsdekret freilich gleichzeitig mit Nachdruck betont, die Kirche lehne jede Art von Antisemitismus ab. Ohne Zweifel ein verkehrtes Signal aus Rom in einer Zeit, als sich an allen Ecken und Enden antisemitische Tendenzen breit machten und judenfeindliche Umtriebe zunahmen. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges (1939-1945) begann, eher unter Druck von außen und dem Eindruck der Gräuel der Naziherrschaft, ein Ringen um die Neugestaltung der Karfreitagsfürbitte. 1948 verlangte Rom, dass es fortan 67 Vgl. H. Wolf, Liturgischer Antisemitismus? Die Karfreitagsfürbitte für die Juden und die Römische Kurie (1928-1975), in: F. Schuller, G. Veltri, H. Wolf (Hg.), Katholizismus und Judentum. Gemeinsamkeiten und Verwerfungen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Regensburg 2005, 253-268. Eine ausführlichere Fassung wurde zuvor bereits veröffentlicht: H. Wolf, Die „Amici Israel“ und ihr Antrag auf eine Reform der Karfreitagsfürbitte für die Juden (1929), in: HZ 279 (2004) 611-658. 68 Vgl. ebd., 254. 69 Vgl. ebd., zu Faulhabers Haltung vgl. auch R. Voderholzer, Ein „Freund Israels“ - Neues Licht auf Faulhabers Adventspredigten 1933, in: KlBl 84 (2004) 54-57. 70 Zit. n. Wolf, Antisemitismus (wie Anm. 67), 256. 71 Vgl. K. Birnbacher, Schuster, Ildefons, in: LThK 9 (Freiburg 2 1964), 306; Kardinal Schuster wurde 1996 selig gesprochen. 72 Zit. n. Wolf, Antisemitismus (wie Anm. 67), 257. 73 Vgl. ebd., 263. 74 Vgl. ebd., 264. Antijudaismus in der römischen Liturgie? 255 in den Übersetzungen nicht mehr „treulose“, sondern „ungläubige Juden“ heißen solle. 75 Die Reform der Karwochenliturgie unter Pius XII. (1939-1958) im Jahre 1955 brachte dann hinsichtlich der Kniebeuge die Gleichstellung mit den anderen Bitten. 76 Hinzugefügt wurde aber damals die zu Recht kritisierte unbedachte Überschrift: „Pro conversione Iudaeorum (Für die Bekehrung der Juden)“, als ob man in der gleichen Weise von „der Bekehrung der Juden“ wie von derjenigen der Atheisten reden könnte. 77 Der Wortlaut der Fürbitte blieb im Übrigen unverändert. Dazu konnte man noch 1957 in einem einschlägigen Sachbuch lesen, die Reform habe „weise“ darauf verzichtet, dem „während der letzten Jahre von seiten der Juden hervorgerufenen auffälligen Rumoren auf Beseitigung des Wortes perfidia (…) stattzugeben.“ 78 Das „happy end“ dieser langen und leidvollen Geschichte begann wenig später mit Papst Johannes XXIII. (1959-1963). Wir wollen es uns für den Schlussteil aufsparen. Die Improperien zur Kreuzverehrung Zuvor gilt es, ein anderes als antijüdisch verdächtigtes Element der Karfreitagsliturgie zu hinterfragen: die „Improperia“. 79 Der Gesang ist Bestandteil der Kreuzverehrung nach dem Wortgottesdienst. Er wird angestimmt, nachdem das Bild des Gekreuzigten im Angesicht der Gemeinde enthüllt worden ist. 80 Dann hört die Gemeinde den Gekreuzigten bitter darüber klagen, dass sein Volk die ihm von seinem Erlöser erwiesenen Wohltaten diesem so übel vergolten hat. Die „Heilandsklagen“ werden gesungen, während der Priester, die Ministranten und das Volk das vor dem Altar nieder gelegte Kreuz kniefällig verehren. Nach jeder Strophe ist auf Griechisch und auf Lateinisch der Ruf zu hören: „Heiliger Gott, heiliger Starker, Heiliger Unsterblicher, erbarme dich unser! “ Die Anzahl der Strophen variiert. Das Tridentinische Messbuch bietet insgesamt 12. 81 Den drei Trishagion-Strophen folgen 9 weitere, im Lateinischen jeweils mit „Ego“ beginnende Klagen des Erlö- 75 Vgl. die Erklärung „In bina illa“ vom 10. Juni 1948, in: AAS 40 (1948) 342; dazu Sanders, Karfreitagsfürbitte (wie Anm. 33), 242; Kranemann, Israelitica dignitas (wie Anm. 1), 77f. 76 Vgl. Sanders, Karfreitagsfürbitte (wie Anm. 33), 243. 77 Vgl. ebd., 243f.; Kranemann, Israelitica dignitas (wie Anm. 1), 79f. 78 Zit. n. Hennig, Pravitas (wie Anm. 18), 9. 79 Den Text der Improperien im Römischen Messbuch und eine Erstinformation bietet A. Gerhards, Theologische und soziokulturelle Bedingungen religiöser Konflikte mit dem Judentum. Beispiele aus der katholischen Liturgie und ihrer Wirkungsgeschichte, in: Ders., St. Wahle (Hg.), Kontinuität und Unterbrechung. Gottesdienst und Gebet im Judentum und Christentum, Paderborn 2005, 269-285, hier 272-276. 80 Zur Feiergestalt der Kreuzverehrung vgl. Klöckener, Karfreitag (wie Anm. 26), 222-224, 227f., 242-244. 81 So auch das erneuerte Missale Romanum Pauls VI. von 1970; vgl. die Editio typica tertia, Vatikan 2002, 325-327. Deutsche Fassung, in: Die Feier der heiligen Messe. Meßbuch. Für die Bistümer des deutschen Sprachgebietes (…), Einsiedeln u. a. 1975, [56]-[58]; Kirchenliedfassung, in: Gotteslob. Katholisches Gebet- und Gesangbuch. Ausgabe Bistum Trier, Trier 1975, Nr. 206. Liturgie und Gesellschaft 256 sers. Den drei Themen der älteren Trishagion-Verse: Gottes Schutz beim Exodus, seine Begleitung während der Wüstenwanderung und die Erhöhung des Volkes im Land der Verheißung entsprechen je drei Strophen der jüngeren Schicht der Improperien im eigentlichen Sinn. 82 Den kommemorierten Wohltaten des Erlösers werden in harten Antithesen jeweils die Grausamkeiten der Passion gegenübergestellt. Christus klagt vom Kreuz herab: „Popule meus, quid feci tibi? (Mein Volk, mein Volk, was tat ich dir? )“ Die Kirchenliedfassung übersetzt: „O du mein Volk, was tat ich dir? Betrübt ich dich? Antworte mir! Ägyptens Joch entriss ich dich, du legst des Kreuzes Joch auf mich! “ 83 Die zweite Klage erinnert an Gottes Schutz bei der 40-jährigen Wüstenwanderung, an die Speisung mit Manna und den Einzug ins verheißene Land. Für all das hat das undankbare Volk seinem Erlöser das Kreuz bereitet. Schließlich in der dritten Strophe die Segnung des Volkes im Land; wie einen herrlichen Weinberg hat sein Retter es eingepflanzt. Doch dieses Volk ist ihm bitter geworden. Mit Essig hat es seinen Erlöser getränkt und mit einer Lanze seine Seite durchbohrt. Wer ist dieses Volk? In allen 12 Strophen werden Wohltaten Gottes genannt, deren Empfänger das Volk Israel war. Wenn der Wohltäter darüber klagt, wie bitterböse ihm sein Volk diese Wohltaten vergolten hat, liegt es nahe, an das jüdische Volk zu denken. Wir hatten schon gesehen, dass die Vorstellung von der Kollektivschuld „der Juden“ an dem, was Jesus von Nazareth angetan worden ist, seit der frühen Väterzeit in Christenkreisen allgemein verbreitet war. Schon Justin hat im Dialog mit dem Juden Tryphon diesem prophezeit: Der Tag wird kommen, „an welchem alle aus euren Stämmen, die unseren Christus durchbohrt haben, klagen werden, wie die Schrift vorausgesagt hat …“. 84 Im Hintergrund steht Sacharja 12,10. Und unter Berufung auf Offb 1,7 sagt Justin seinem jüdischen Gesprächspartner voraus: Wenn Christus wiederkommt, wird „euer Volk ihn sehen und in ihm den erkennen, den sie durchbohrt haben …“. 85 Dass der Lanzenstoß die Tat eines römischen Soldaten war, wird hier und später immer wieder verdrängt. Reiner Kaczynski, der emeritierte Münchener Liturgiewissenschaftler, hat in einem Beitrag der Zeitschrift „Gottesdienst“ sehr bestimmt betont, die Improperien seien nicht judenfeindlich. 86 Zwar seien die jeweils zu Anfang einer jeden Strophe genannten Wohltaten - historisch gesehen - dem Volk Israel erwiesen worden, doch die dann in der zweiten Zeile angeklagten Peiniger Jesu seien „in den 82 Vgl. M. Poorthuis, The Improperia and Judaism, in: QuLi 72 (1991) 1-24; J. Drumbl, Die Improperien in der lateinischen Liturgie, in: ALW 15 (1973) 68-100; W. Schütz, „Was habe ich dir getan, mein Volk? “ Die Wurzeln der Karfreitagsimproperien in der alten Kirche, in: JLH 13 (1968) 1-38; A. Baumstark, Der Orient und die Gesänge der Adoratio Crucis, in: JLW 2 (1922) 1-17. 83 Gotteslob (wie Anm. 81), Nr. 206; zur Quelle vgl. Redaktionsbericht zum Einheitsgesangbuch „Gotteslob“, hg. v. Weihbischof P. Nordhues, Paderborn, und Bischof A. Wagner, Rom, Paderborn, Stuttgart 1988, 620. 84 Justinus, Dialog (wie Anm. 45), 191 (Dial. 118,1); vgl. ebd., 46 (Dial. 32,1). 85 Ebd., 22 (Dial. 14,8). 86 R. Kaczynski, „O du mein Volk …“. Die Improperien der Karfreitagsliturgie sind nicht judenfeindlich, in: Gd 15 (1981) 36-38. Antijudaismus in der römischen Liturgie? 257 meisten Fällen die römischen Soldaten“ gewesen. 87 Das stimmt zwar; doch haben das auch die Gottesdienstteilnehmer so wahrgenommen? Gewichtiger ist dann schon Kaczynskis Hauptargument: die liturgische Funktion der Improperien. In Spanien gab es, wie die Forschung herausgefunden hat, bis ins 11. Jahrhundert den Brauch, am Karfreitag vor dem Kreuz die Büßer zu rekonziliieren. 88 Wenn in dieser Situation die „Heilandsklagen“ gesungen wurden, dienten die einst Israel erwiesenen Wohltaten offensichtlich als Bild und Gleichnis für die Wohltaten, die diese Büßer von ihrem Retter empfangen hatten. Die den Wohltaten entgegengestellte Erinnerung daran, was die Peiniger Jesus antaten, diente dazu, den Büßern und mit ihnen der ganzen Gemeinde bewusst zu machen, dass sie selbst jenes undankbare Volk sind, das seinem Wohltäter die empfangenen Wohltaten übel vergolten und sein Leiden und Sterben mit verursacht hat. Wie schon der Verfasser des Hebräerbriefs klagt (vgl. Hebr 6,6), sind es die Christen, die durch ihren Abfall und ihre Untreue „jetzt den Sohn Gottes noch einmal ans Kreuz schlagen und ihn zum Gespött machen“. Die Vorwürfe richten sich also nicht gegen die abwesenden Juden von damals und erst recht nicht gegen die von heute. Der Adressat der Klagen ist das Volk der Christen, namentlich die aktuell vor dem Kreuz versammelte Gemeinde. Das Volk, das so teuer mit Christi Blut erkauft wurde, soll im Blick auf seinen Erlöser betroffen seine eigene Untreue und Undankbarkeit erkennen und bereuen. Es ist die Christengemeinde, die angesichts der eigenen Schuld den heiligen, starken und unsterblichen Gott um Erbarmen bittet. Paul Gerhard hat es in seinem Lied „O Haupt voll Blut und Wunden“ (1656) auf den Punkt gebracht. 89 Da gibt es keine Schuldzuweisung an „die Juden“. Der Christ bekennt: „Ich, ich hab es verschuldet, was du getragen hast! “ 90 Kaczynski erinnert zu Recht daran, dass es die Art der Liturgie ist, „nach dem Prinzip der Typologie“ die alttestamentlichen Heilstaten als Bilder zu verwenden, um der Gottesdienstgemeinde die ihr erwiesenen, aktuellen Heilserweise Gottes zu vergegenwärtigen. 91 Jedenfalls haben die Verantwortlichen auch nach „Nostra Aetate“ in den Improperien keine antijüdische Tendenz diagnostiziert und deshalb auch keinen Grund gesehen, sie zu eliminieren. Auch das Einheitsgesangbuch der deutschsprachigen Katholiken, das „Gotteslob“, hat die Improperien in Form eines Kirchenliedes beibehalten (GL 1975, Nr. 206). Die Altkatholische Kirche hat in ihrer erneuerten Karfreitagsliturgie zwar die Fürbitte für die Juden gestrichen, an den Improperien aber festgehalten. 92 John Hennig war gegen ihre Entfernung, 87 Vgl. ebd., 38. 88 Vgl. Drumbl, Improperien (wie Anm. 82), 93-95; Kaczynski, Improperien (wie Anm. 86), 36. 89 Gotteslob (wie Anm. 81), Nr. 179ö; Evangelisches Gesangbuch, Nr. 85 (ö); vgl. dazu den Kommentar von E. Axmacher, in: Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch. Im Auftrag der EKD hg. von Gerhad Hahn und Jürgen Henkys, Heft 10, Göttingen 2004, 40-49. 90 4. Strophe der „Gotteslob“-Fassung. 91 Vgl. Kaczynski, Improperien (wie Anm. 86), 36. 92 Vgl. Die Feier der Eucharistie im Katholischen Bistum der Alt-Katholiken in Deutschland. Für den gottesdienstlichen Gebrauch erarbeitet durch die liturgische Kommission und hg. durch Bischof und Synodalvertretung, München 1995, 44-56, hier 54. Übernommen wurde die 7-strophige Liedfassung im „Gotteslob“, Nr. 206; vgl. oben Anm. 83. Liturgie und Gesellschaft 258 da nach seiner Meinung eine solche Maßnahme die antijüdische Fehldeutung nachträglich bestätigt hätte. 93 Für ihn war klar, dass die Heilandsklagen das ganze, seiner Berufung immer wieder untreu werdende Volk Gottes meinen, die Juden und die „Neujuden“, wie er die Christen gelegentlich nennt. Es stimmt, dass das Genus der Improperien auf alttestamentliche Vorbilder zurückgeht. Bei den Propheten klagt der Retter Israels mehr als einmal mit bitteren Vorwürfen über sein undankbares Volk. 94 Doch dieses literarische Muster ist in christlichem Milieu sehr früh zu antijüdischer Munition umgeschmiedet worden. Meliton von Sardes hat das in seiner Predigt vom Pascha schon getan 95 ; verstärkt hat danach die byzantinische und syrische Liturgie die alttestamentlich-jüdische Improperientradition umgemünzt und zu antijüdischen Ausfällen benutzt. Davon mögen die lateinischen Fassungen, die seit dem 9. Jahrhundert in Italien nachweisbar sind, zunächst frei gewesen sein. 96 Doch haben die Improperien entgegen ihrer eigentlichen Intention und liturgischen Funktion tatsächlich oft judenfeindlich gewirkt. Dazu hat der Kontext, in dem sie stehen, nicht unwesentlich beigetragen. 97 Dieser ist bestimmt durch die Johannespassion und die vielfach als antijüdisch empfundene Juden-Fürbitte. Passionspredigten und Passionsspiele haben ihr antijüdisches Potential oft erst freigesetzt und verstärkt. 98 Es gibt deshalb Stimmen, die meinen, „nach Auschwitz“ dürften Christen die Improperien nicht mehr singen. 99 Dem nach wie vor drohenden antijüdischen Missverständnis wäre auch durch eine vorausgehende Belehrung der Gemeinde nicht wirksam genug entgegenzuwirken. Diese Stimmen verlangen deshalb, „dieses historisch vorbelastete Gesangsstück der Karfreitagsliturgie von jeglichen antijüdischen Assoziationsmöglichkeiten zu befreien.“ 100 Gefordert wird eine völlige Neufassung des Textes oder sein Ersatz durch einen anderen Gesang. Die 93 Vgl. J. Hennig, Liturgiereform und Alter Bund. Jahresgabe des Vereins der Förderer des Abt- Herwegen-Institutes, Maria Laach 1976. Nachdruck: Ders., Liturgie (wie Anm. 1), 930-941, hier 931. 94 Vgl. Micha 6,3f.; Jes 5,1-7; dazu: Poorthuis, Improperia (wie Anm. 82), 5-11; Gerhards, Römische Liturgie (wie Anm. 97), 79-82. 95 Vgl. ebd., 13-15; auch oben Anm. 44. 96 Vgl. Drumbl, Improperien (wie Anm. 82), 93. 97 Vgl. A. Gerhards, Römische Liturgie in Auseinandersetzung mit dem Judentum, in: Verantwortung vor der Geschichte. Besinnung auf die jüdischen Wurzeln des Christentums, hg. v. G. Höver, Bonn 1999, 73-91, bes. 84; Ders., Improperia, in: RAC Bd. 17, 1198-1212, hier 1210f.; St. Wahle macht auf eine judenfeindliche Deutung in manchen diözesanen Liturgiebüchern aufmerksam; Stephan Wahle, O liebes folgk, sage mir an: was han ich dir zu leide getan. Auf der Spurensuche einer Wirkungsgeschichte der Improperien in spätmittelalterlichen Passionsspielen, in: Gerhards, Wahle (Hg.), Kontinuität (wie Anm. 79), 175 Anm. 7; Kranemann, Israelitica dignitas (wie Anm. 1), 38. 98 Vgl. St. Wahle, O liebes folgk, sage mir an: was han ich dir zu leide getan. Auf der Spurensuche einer Wirkungsgeschichte der Improperien in spätmittelalterlichen Passionsspielen, in: Gerhards, Wahle (Hg.), Kontinuität (wie Anm. 79), 173-212 (Lit.). 99 Mit diesem Hinweis beginnt R. Kaczynski sein Plädoyer für die Beibehaltung der Improperien; vgl. oben Anm. 86. 100 Kranemann, Israelitica dignitas (wie Anm. 1), 38. Antijudaismus in der römischen Liturgie? 259 Befürworter einer solchen Radikallösung dürfen sich dafür sogar auf das geltende Liturgierecht berufen. Das erneuerte Römische Messbuch druckt die Improperien zwar in ihrer traditionellen Gestalt als ersten Gesang zur Kreuzverehrung ab, sagt aber in einer Rubrik: Sie können durch andere passende Gesänge oder Lieder ersetzt werden. 101 Diese Kann-Vorschrift sollte nun aber nicht dazu führen, dass die vielen ergreifenden Kompositionen des „Popule meus“ mit dem Hinweis auf mögliche antijüdische Missverständnisse via facti ganz aus der Karfreitagsliturgie verschwinden. Eine solche totale Eliminierung wäre ein bedauerlicher spiritueller und kultureller Verlust. Grundlegende Reformen im Kontext des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) Wir kommen zum Schlusskapitel. Es enthält Erfreuliches. Rom hatte zwar bei der großen Reform der Karwochenliturgie, die 1956 erstmals wirksam wurde, noch einmal eine Änderung des Wortlauts der Fürbitte für die Juden abgelehnt. Es dauerte dann aber gottlob nur mehr drei Jahre, bis die längst überfällige Reform auch in diesem Punkt kam. Gleich im ersten Jahr seines Pontifikats, zwei Tage vor dem Karfreitag 1959, bestimmte Johannes XXIII. (1958-1963) für die Stadt Rom und damit auch für den päpstlichen Gottesdienst: In der Gebetseinladung für die Juden entfällt in Zukunft das anstößige „perfidi“; in der Oration wird „Judaicam perfidiam“ ersetzt durch „Judaeos“. 102 Der Papst sanktionierte damit exakt den 1928 noch vom Vatikan verworfenen Vorschlag der „Amici Israel“. 103 Die neue Regelung galt ab 1960 weltweit. 104 Sie schloss weitere, weniger auffällige Änderungen ein. Im Erwachsenentaufritus war bis dahin einem zum Christentum konvertierenden Juden befohlen worden, seiner religiösen Herkunft abzuschwören und sie als verabscheuenswürdig von sich zu weisen. 105 An der entsprechenden Stelle bediente sich der Priester ebenfalls des prekären Ausdrucks „Judaica perfidia“. Er wurde noch verstärkt durch die Wendung „hebraica superstitio“, die den jüdischen Glauben geradezu als „Aberglauben“ abqualifizierte. 106 Johannes XXIII. verfügte die ersatzlose Streichung. Gleiches gilt für einen Satz in dem unter Pius XI. eingeführten Weihegebet der Menschheit an das Heiligste Herz Jesu. 107 Außer am Christkönigsfest wurde es mancherorts an jedem ersten Freitag im Monat gebetet. Es enthielt eine Anspie- 101 Vgl. Missale Romanum 2002 (wie Anm. 81), 324, Nr. 20; Meßbuch (wie Anm. 81), [55], Nr. 18. 102 Vgl. Sanders, Karfreitagsfürbitte (wie Anm. 33), 244; Hennig, Pravitas (wie Anm. 18), 9f.; Kranemann, Israelitica dignitas (wie Anm. 1), 80f. 103 Vgl. Wolf, Antisemitismus (wie Anm. 67), 265f. 104 Vgl. Sanders, Karfreitagsfürbitte (wie Anm. 33), 244; J. Oesterreicher, Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, in: LThK Erg. Bd. II (Freiburg 2 1967), 406-478, 407f. mit Anm. 4. 105 Vgl. Rituale Romanum, Regensburg 1925, Tit. II cap. 4, 26; in der Editio Princeps von 1614 (wie Anm. 11), 24 (32). Ebenso im Pontificale Romanum 1596. 106 Ebd.: Horresce Judaicam perfidiam, respue Hebraicam superstitionem; vgl. Hennig, Pravitas (wie Anm. 18), 9-11; Kranemann, Israelitica dignitas (wie Anm. 1), 80 Anm. 75. 107 Vgl. Kranemann, Israelitica dignitas (wie Anm. 1), 80 Anm. 75. Liturgie und Gesellschaft 260 lung an den von Christen oft als Selbstverfluchung der Juden missverstandenen schaurigen Ruf: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder! “ (Mt 27,25). Er hat nur zu oft herhalten müssen als Rechtfertigung für das Leid, das Juden angetan wurde. Doch „das Bundesblut des Neuen Bundes wurde nicht vergossen, um Rache zu üben, sondern um Sünden zu vergeben (vgl. Mt 26,28).“ 108 Als diese Reformen wirksam wurden, hatte Papst Johannes XXIII. schon das Konzil angekündigt. Es brachte eine radikale Neuorientierung in den Beziehungen zwischen Christen und Juden. Die Konzilserklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nicht-christlichen Religionen „Nostra Aetate“ wurde zwar erst in der Schlussphase des Zweiten Vatikanums, am 28. Oktober 1965, verkündet. 109 Aber schon ein Jahr zuvor lag der Text in seinen Grundzügen fest. Papst Paul VI. (1963-1978) verfügte daraufhin kurz vor dem Karfreitag 1965 eine Neufassung der Juden-Fürbitte. 110 Das negativ besetzte Bild von der Hülle über den Herzen der Juden wurde darin ersetzt durch die Bitte, Gott möge sein Angesicht über sie leuchten lassen. Die Oration 111 sprach von den Verheißungen Gottes an Abraham und seine Nachkommen und erbat dem Volk, das Gott sich „in alter Zeit zu eigen genommen“ hatte (populus acquisitionis antiquae), die Fülle des Heils. Der Wortlaut wurde dann abermals revidiert, als das erneuerte Messbuch 1970 erschien. 112 Die Überschrift lautet nun schlicht: „Pro Iudaeis - Für die Juden“. Bemerkenswert ist ferner, dass die Fürbitte vom Rand in die Mitte des Formulars gerückt ist. Statt an achter Stelle steht sie jetzt an sechster, und zwar zwischen der Bitte um die Einheit der Christen und der Fürbitte für diejenigen, die nicht an Christus glauben. Dadurch wird klar, dass die Juden der Kirche enger verbunden sind als die Angehörigen anderer monotheistischer Religionen. Jeder antijüdischer Miss- und Unterton ist verschwunden. In Hochachtung spricht die Kirche von Israel als dem Volk, zu dem Gott zuerst gesprochen hat, und von der Verheißung, die Abraham und seinen Kindern zuteil wurde. Erbeten wird Gottes ersterwähltem Eigentumsvolk die Treue zum Bund Gottes und die Liebe zu seinem Namen; Israel möge zu dem Ziel gelangen, zu dem Gottes Ratschluss es führen will, und die Fülle der Erlösung erlangen. 113 Dazu könnte auch ein Jude sein „Amen“ sprechen. 108 W. Trilling, Das Evangelium nach Matthäus. 2. Teil, Düsseldorf 1965, 323. 109 Acta Apostolicae Sedis 58 (1966) 740-744; vgl. dazu die ausführliche Einführung von Oesterreicher, Erklärung (wie Anm. 104). 110 Vgl. Sanders, Karfreitagsfürbitte (wie Anm. 33), 245f. F. Kolbe, Die Reform der Karfreitagsfürbitten, in: LJ 15 (1965) 217-228. 111 Vgl. Sanders, Karfreitagsfürbitte (wie Anm. 33), 245; Kranemann, Israelitica dignitas (wie Anm. 1), 83-90. 112 Zur Reihenfolge der Bitten vgl. Hennig, Stellung (wie Anm. 1), 133; A. Gerhards, Universalität und Toleranz. Die Großen Fürbitten am Karfreitag als Maßstab christlichen Glaubens, Betens und Handelns, in: Gd 24 (1990) 41-43; die Kritik von Klöckener, Karfreitag (wie Anm. 26), 241, scheint zu wenig den Eigencharakter der Karfreitagsfürbitten zu beachten. 113 Vgl. Missale Romanum (wie Anm. 81), 358, Nr. 26; im Deutschen Meßbuch 1975 lautet der Text: „P.: Lasset uns auch beten für die Juden, zu denen Gott, unser Herr, zuerst gesprochen hat. Er bewahre sie in der Treue zu seinem Bund und in der Liebe zu seinem Namen, damit sie das Ziel erreichen, zu dem sein Ratschluss sie führen will. Antijudaismus in der römischen Liturgie? 261 Es gibt gewiss auch nach den jüngsten Reformen noch immer Schwachstellen in dem hier untersuchten Problemfeld. Dazu gehört vor allem die Bundespassage im Vierten Hochgebet, die nicht klar genug die Besonderheit des Sinai-Bundes und die Sonderstellung Israels hervorhebt. 114 Das neue Messlektionar ist hinsichtlich seines Umgangs mit dem Alten Testament gewiss noch verbesserungsbedürftig. 115 Es werden gelegentlich Wünsche geäußert bezüglich der Textauswahl, der Perikopierung und der inhaltlichen Zuordnung zum Evangelium des jeweiligen Tages. Doch zunächst einmal ist anzuerkennen, dass der Teil der Bibel, der Christen und Juden gemeinsam ist, im Zuge der Liturgiereform kräftig aufgewertet wurde. Während in der vorkonziliaren Perikopenordnung an Sonn- und Feiertagen das Alte Testament praktisch überhaupt nicht vorkam, wird im neuen dreistufigen Drei-Jahres-Zyklus gewöhnlich als erste eine alttestamentliche Lesung gelesen. 116 Doch auch der erneuerten römischen Liturgie werfen manche noch immer eine zu ausgeprägte „Israelvergessenheit“ vor. Kritisiert werden einzelne Texte im Hymnar. Es kann zum Beispiel nicht dabei bleiben, dass die deutsche Übersetzung der Tantum-ergo-Strophe im Fronleichnamshymnus „Pange lingua“ den Alten Bund einfach für abgetan und beendet erklärt. 117 Im Bereich der Gesänge hat aber das kritische Aufräumen schon begonnen. So ist etwa das ungemein volkstümliche Responsorium „Tenebrae“, das „die Juden“ ohne wenn und aber als die Kreuziger Jesu bezeichnete, aus dem Karfreitagsoffizium verschwunden, samt der Augustinus-Lesung, die als Rechtfertigung dieses Vorwurfs verstanden wurde. Ich komme zum Schluss. Antijudaismus in der römischen Liturgie? hieß unsere Frage. Aus dem Fragezeichen müssen wir im Blick auf die vorkonziliare römische Liturgie ehrlicherweise ein Ausrufungszeichen machen. Papst Johannes Paul II. (1978-2005) hat im Heiligen Jahr 2000 in seinem großen Schuldbekenntnis auch um Verzeihung gebeten für die Sünden der Katholiken „gegen das Volk des (D.: Beuget die Knie! - D.: Erhebet euch! ) P.: Allmächtiger, ewiger Gott, du hast Abraham und seinen Kindern deine Verheißung gegeben. Erhöre das Gebet deiner Kirche für das Volk, das du als erstes zu deinem Eigentum erwählt hast: Gib, dass es zur Fülle der Erlösung gelangt. Darum bitten wir durch Christus, unseren Herrn.“ 114 Vgl. Kranemann, Israelitica dignitas (wie Anm. 1), 139-152 (Lit.). Zugunsten der jetzigen Fassung (in ihrem lateinischen Wortlaut) sprechen sich jedoch aus der Alttestamentler R. Mosis, Zur Wiedergabe des 4. Hochgebets im deutschen Meßbuch, in: TThZ 108 (1999) 325-333, und der Liturgiewissenschaftler H. Brakmann, Foedera pluries hominibus. Anmerkungen zur Revision des Eucharistischen Hochgebets IV, in: LJ 50 (2000) 211-234. 115 Vgl. zum Stand der diesbezüglichen innerkirchlichen Diskussion Kranemann, Israelitica dignitas (wie Anm. 1), 23-48; N. Lohfink, Altes Testament und Liturgie. Unsere Schwierigkeiten und unsere Chancen, in: LJ 47 (1997) 3-22, bes. 16-21. 116 Ausgenommen ist die österliche Festzeit (Pentekoste), in der nach ältester Überlieferung bei der Eucharistiefeier nur aus dem Neuen Testament gelesen wird. An die Stelle der üblichen ersten Lesung aus dem Alten Testament tritt dann eine Perikope aus der Apostelgeschichte. Zur neuen Leseordnung allgemein vgl. E. Nübold, Entstehung und Bewertung der neuen Perikopenordnung des Römischen Ritus für die Messfeier an Sonn- und Feiertagen, Paderborn 1986. 117 Vgl. Gotteslob (wie Anm. 81), Nr. 544,5; auch Hymnus der 2. Fronleichnamsvesper im Stundenbuch. „… et antiquum documentum novo cedat ritui“ wird übersetzt: „Das Gesetz der Furcht muss weichen, da der neue Bund begann.“ Liturgie und Gesellschaft 262 Bundes“ und der Leiden gedacht, „die dem Volk Israel in der Geschichte auferlegt wurden.“ 118 Er wird dabei wohl auch die Liturgie im Blick gehabt haben. Vor allem die Karfreitagsliturgie hat in der Vergangenheit - daran gibt es keinen Zweifel - unter Christen antijüdische Gefühle genährt. Gegenüber der erneuerten römischen Liturgie lässt sich aber der Vorwurf des Antijudaismus nicht länger aufrecht erhalten. Die katholische Kirche hat zur Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) eine angesichts der Last der Geschichte erstaunlich mutige Neubestimmung ihres Verhältnisses zum jüdischen Volk vorgenommen. Im Konzilsdekret „Nostra Aetate“ wird dem Judentum nicht länger die religiöse Existenzberechtigung abgesprochen. 119 Im Rückgriff auf die Israel-Theologie des Apostels Paulus in Röm 9-11 wird es dem verborgenen Ratschluss Gottes anheim gestellt, wie die Rettung „ganz Israels“ geschehen wird (vgl. Röm 11,13-32). Die Christen werden vor Selbstüberhebung gewarnt und an die bleibende Berufung und Begnadung Israels erinnert. „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich“ (Röm 11,18). Es war deshalb nur konsequent, wenn die Liturgiereform bemüht war, jeden offenen oder unterschwelligen Antijudaismus aus dem katholischen Gottesdienst zu beseitigen. Andererseits bekommen die schon immer in der römischen Liturgie an hervorragender Stelle vorhandenen, wenn auch nicht sehr zahlreichen Israel-freundlichen Aussagen im ökumenisch aufgehellten Klima nach dem Zweiten Vatikanum nun ein stärkeres Relief und neuen Glanz. In der Ostervigil bekennt die Kirche ihre Verbundenheit und ihre Weggemeinschaft mit Israel, wenn sie im Exsultet die Pascha-Nacht besingt als die Nacht, „die unsere Väter, die Söhne Israels, aus Ägypten befreit und auf trockenem Pfad durch die Fluten des Roten Meeres geführt hat.“ 120 Im gleichen Gottesdienst wird nach der Exodus-Lesung (Ex 14,15-15,1) allen Menschen die Gnade erbeten, Kinder Abrahams werden zu dürfen und der Mitgliedschaft im auserwählten Volk gewürdigt zu werden. 121 Die Bitte der Kirche geht im ranghöchsten ihrer Gottesdienste, das ist die Vigilia Paschalis, dahin, dass allen durch die Taufe die „israelitica dignitas“ zuteil werde. Auch die „Neujuden“, wie John Hennig sagen würde, sollen mit der „Würde Israels“ geadelt werden. Christen sollten nie vergessen, welche Gnade und Ehre es ist, dass sie dem edlen Ölbaum des ersterwählten Volkes aufgepfropft und eingepflanzt wurden (vgl. Röm 11,13-24). 118 Inständiges Gebet und besinnliche Stille, in: Osservatore Romano (Deutsche Ausgabe, Nr. 11) vom 17. März 2000, 6; Wolf, Antisemitismus (wie Anm. 67), 266. 119 Einschlägig ist Nr. 4 des erwähnten Konzilsdekrets (vgl. oben Anm. 109). Auf dieser Linie auch: Über das Verhältnis der Kirche zum Judentum. Erklärung der deutschen Bischöfe vom 28. April 1980 (Die Deutschen Bischöfe 26), Bonn 1980. Zur Bedeutung des Konzilsdekrets vgl. R. Bohlen, Wende und Neubeginn. Die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils zu den Juden „Nostra aetate“ Nr. 4, in: Schuller, Veltri, Wolf (Hg.), Judentum (wie Anm. 67), 297-308. Das Heft 4 des Jahrgangs 2006 der Zeitschrift Gregorianum befasst sich in mehreren Aufsätzen schwerpunktmäßig mit „Nostra aetate“ aus heutiger Perspektive. 120 Meßbuch 1975 (wie Anm. 81), [72]; kritisch zur derzeitigen deutschen Fassung des Exsultet äußert sich N. Lohfink, Die deutsche Übersetzung des Exsultet. Kritische Analyse und Neuentwurf, in: LJ 49 (1999) 39-76. 121 Der Text der Oration oben Anm. 17. 13 Der heilige Erzengel Michael - Schutzpatron der Deutschen? Geschichte - Kult - Liturgie Die Deutsche Bischofskonferenz lädt jedes Jahr Repräsentanten des öffentlichen Lebens zu einem Empfang in ihre Vertretung in der deutschen Hauptstadt ein. Das gesellschaftliche Ereignis, an dem selbst der Bundespräsident gelegentlich teilnimmt, findet regelmäßig am oder um den 29. September statt. Im Veranstaltungskalender der deutschen Hauptstadt ist es unter dem Namen „Sankt Michaels- Empfang“ bekannt. 1 Termin und Name sind kein Zufall. Der Michaelstag wurde zweifellos deshalb ausgewählt, weil der Erzengel Michael als der Schutzpatron des deutschen Volkes betrachtet wird. Wir werden an anderer Stelle der folgenden Ausführungen die Frage zu stellen haben, seit wann es diese Vorstellung gibt und wie sie sich in den verschiedenen Epochen der deutschen Geschichte Ausdruck verschafft hat. Halten wir hier zunächst fest: Dem eingangs erwähnten gesellschaftlichen Ereignis liegt ein liturgisches Faktum zugrunde: das Fest des hl. Erzengels Michael, das am 29. September im Kalender steht. Die liturgische Verehrung des Erzengels ist nicht nur in diesem speziellen Fall, sondern durchgängig das Fundament der verschiedenen Ausdrucksformen des Michaelskults. Das gilt auch für die „germanische Welt“. Eine bestimmte kulturgeschichtliche Forschungsrichtung in Deutschland, die inzwischen überholt ist, aber im Volk noch nachwirkt, stellte mit Nachdruck die angeblich germanischen Wurzeln der Michaelsverehrung bei den germanischen Völkern heraus. Diese hätten ihren Kriegsgott Wodan oder Odin im Erzengel Michael wiedererkannt und in der Lichtgestalt des himmlischen Heerführers weiterverehrt. Tatsächlich kam der Michaelskult zu ihnen aber nicht aus dem germanischen Norden oder Osten, sondern aus dem romanischen Süden und Westen. Er ist in erster Linie kirchlich vermittelt und liturgisch verwurzelt. [Erstveröffentlichung: Saint Michel dans le „monde germanique“. Histoire - Culte - Liturgie, in: Culto e santuari di san Michele nell’Europa medievale. Atti del Congresso Internazionale di studi (Bari - Monte Sant’Angelo, 5-8 aprile 2006, a cura di P. Bouet, G. Otranto, A. Vauchez, Bari 2007, 39-55. Es handelt sich um den Vortrag, den der Verfasser auf dem erwähnten Internationalen Kongress an der Universität Bari in französischer Sprache gehalten hat. Die etwas erweiterte deutsche Fassung wird in diesem Band erstmals publiziert.] 1 Das „Kommissariat der Deutschen Bischöfe“ in Berlin hat in einem Brief vom 15. März 2006 dem Verfasser dieses Beitrags mitgeteilt: „Der St.-Michaels-Empfang des Kommissariats hat eine längere Tradition; er wurde Anfang der 60er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts eingeführt, als das Kommissariat seinen Sitz noch in Bonn hatte. Nach der Übersiedlung des Kommissariats nach Berlin infolge des Umzugs von Bundestag und Bundesregierung wird diese Tradition nun in der neuen Bundeshauptstadt fortgesetzt. Die Bezeichnung ist gewählt worden, da St. Michael Patron des deutschen Volkes ist“. Die deutsche Ausgabe des „Osservatore Romano“ hat auf den Vortrag von Kardinal Karl Lehmann (Mainz) hingewiesen, den er 2005 zu diesem Anlass in Berlin gehalten hat: OR (dt.) 14.10.2005, 3. Liturgie und Gesellschaft 264 Der Erzengel Michael in der Liturgie Es ist bekannt, dass die ältesten Kultorte der christlichen Michaelsverehrung in Kleinasien liegen, in Phrygien und Pisidien vor allem. 2 In der Umgebung von Konstantinopel gab es sodann das bis in die Zeit Kaiser Konstantins I. (306-337) zurückreichende „Michaelion“, zu dem am 9. Juni, dem Fest des Heiligtums, das Volk in Scharen pilgerte. Der Erzengel wurde im byzantinischen Osten als himmlischer Krankenheiler exzessiv verehrt. Die Synode von Laodizäa (360/ 380) musste gegen die Auswüchse der volksfrommen Engelverehrung einschreiten. Trotz ihres Verbots wurden weiterhin Michaelskapellen gebaut. Im Westen sprach sich Augustinus (†430) grundsätzlich dagegen aus, zu Ehren von Engeln Kirchen zu bauen. Trotzdem geschah das spätestens seit dem 5. Jahrhundert auch in Rom. 3 Damit sind wir an den Quellen der römischen Michaelsverehrung. Sie muss uns auch im Zusammenhang unseres Themas beschäftigen. Denn der „germanischen Welt“ wurde die Verehrung des Erzengels in den Formen der römischen Liturgie übermittelt. In der ältesten uns bekannten Sammlung von liturgischen Texten römischer Provenienz, im sogenannten Sacramentarium Veronense, stoßen wir auf eine Gruppe von Formularen, die anlässlich der Weihe einer „basilica angeli (Engelsbasilika)“ an der Via Salaria entstanden sind. 4 Mit dem „Engel“ ist Michael gemeint. In einigen Gebeten wird er genannt, etwa wenn es in einer Präfation heißt: Dieses Gebäude für die Feier der Mysterien wird Gott geweiht „zu Ehren des heiligen Erzengels Michael“ (in honorem beati archangeli Michael). Die uns hier interessierenden Texte zur Dedikation einer Michaelsbasilika an der Via Salaria, sechs Meilen nördlich von Rom, werden in das Ende des 5. Jahrhunderts datiert. 5 Das ist die Zeit, in der das berühmteste abendländische Michaelsheiligtum auf dem Monte Gargano in Apulien entstanden ist. Ehe wir darauf zurückkommen, wollen wir unser liturgisches Dossier vervollständigen. Die ältesten römischen Sakramentare, das nach Papst Gelasius I. (492-496) benannte Gelasianum Vetus 6 und das Gregor dem Großen (590-604) zugeschriebene 2 J. P. Rohland, Der Erzengel Michael. Arzt und Feldherr. Zwei Aspekte des vor- und frühbyzantinischen Michaelskultes, Leiden 1977; V. Saxer, Jalons pour servir à l’histoire du culte de l’archange saint Michel en Orient jusqu’à l’iconoclasme, in: I. Vazquez Janeiro (Hg.), Noscere Sancta. Miscellanea in memoria di Agostino Amore, Rom 1985, 357-426; H. Leclercq, Michel (culte de saint), in: F. Cabrol und H. Leclercq (Hg.), DACL, XI,1, Paris 1933, 903-907; J. Michel, Engel VII (Michael), in: Th. Klauser (Hg.), RAC, V, Stuttgart 1962, 243-251. 3 J. Michl, Engelkult, in: Klauser, RAC (wie Anm. 2), 199-200; C. A. Bouman, Engelen, in: LitWo 1, 671-680, 677. 4 4 L. C. Mohlberg OSB (Hg.), Sacramentarium Veronense (Rerum Ecclesiasticarum Documenta, Fontes 1), ed. a cura di L. Eizenhöfer, Rom 3 1978, 106-108, Nr. 844-859; vgl. B. Neunheuser, Die Engel im Zeugnis der Liturgie, in: ALW 6 (1959) 4-27. 5 Mohlberg, Veronense (wie Anm. 4), LXXVIII. 6 L. C. Mohlberg, P. Siffrin, L. Eizenhöfer (Hg.), Liber Sacramentorum Romanae Aecclesiae ordinis anni circuli (Rerum Ecclesiaticarum Documenta, Series maior, Fontes 4), Rom 1960, 159-160, Nr. 1032-1035. Der heilige Erzengel Michael - Schutzpatron der Deutschen? 265 Sacramentarium Gregorianum 7 enthalten beide unter dem Datum des 29. September Texte, die ursprünglich für die Weihe und das Jahrgedächtnis einer Michaelsbasilika in Rom geschaffen wurden. Es ist nicht klar, ob es sich um die bereits erwähnte Basilika an der Via Salaria handelt oder ob die Texte mit San Michele in Sassia in Verbindung zu bringen sind, eine Michaelsbasilika innerhalb der Stadtmauern Roms, die Papst Symmachus (498-514) nach einer Renovierung neu geweiht hat. 8 Die römischen Liturgiebücher, die seit dem 7. Jahrhundert in Gallien eindringen und die seit der Mitte des 8. Jahrhunderts von den karolingischen Königen und Kaisern zur Norm der Liturgie im ganzen Frankenreich gemacht werden, vermitteln diese Texte den germanischen Völkern. Die fränkischen Handschriften überschreiben die entsprechende Gruppe von Gebeten nach römischem Vorbild mit Tertio Kalendas Octobris dedicatio basilicae sancti Michaelis archangeli (Am 29. September Weihe der Basilika des heiligen Erzengels Michael). 9 Doch im fränkischen Norden trat von Anfang an der historische Anlass der Entstehung dieser Texte, ihr ursprünglicher „Sitz im Leben“, zurück. Dagegen trat die Gestalt des Erzengels um so stärker hervor. Der 29. September wurde sein Fest. Kaiser Karl der Große (†814) ließ im Rahmen seiner kirchlichen Reformbemühungen im Jahre 813 in den verschiedenen Regionen seines Reiches Teilsynoden veranstalten, für die deutschsprachigen Kirchenprovinzen in Mainz. Ein Beschluss dieser Synoden betraf das Michaelsfest. Es sollte in Zukunft im ganzen Reich als gebotener Feiertag begangen werden. 10 Diese Aufwertung des Michaelstages bedeutet aber nicht, dass der Erzengel zum Schutzpatron des Reiches erwählt worden wäre. Trotzdem ist diese Privilegierung ein deutliches Zeichen für die besondere Verehrung, die Karl der Große selbst dem Erzengel entgegenbrachte. Sein wichtigster theologischer Ratgeber, der Angelsachse Alkuin (†804), dürfte ihn darin bestärkt haben. Er gehörte - wie sein Landsmann Bonifatius und alle irischen und angelsächsischen Kirchenmänner auf dem Kontinent - zu den Pionieren der Michaelsverehrung. Alkuin hat einen Michaelshymnus verfasst, den er dem Kaiser gewidmet hat. Allerdings hat er keinen Eingang in die Liturgie gefunden. 11 Der älteste Michaels-Hymnus im römischen Offizium, der heute noch am 29. September gesungen wird, wurde lange Rhabanus Maurus zugeschrieben, einem Schüler 7 J. Deshusses (Hg.), Le Sacramentaire Grégorien (Spicigelium Friburgense 12), 2 Bde., Freiburg 2 1979, Band 1, 280-281, Nr. 726-728; vgl. A. Heinz, Gregorio Magno e la liturgia romana, in: Gregorio Magno nel XIV centenario della morte. (Rom, 22.-25. Oktober 2003), Atti dei Convegni Lincei 209, Rom 2004, 281-290. Nachdruck in diesem Band. 8 Vgl. M. Righetti, L’anno liturgico nella stori, nella messa, nell’ufficio, in: M. Righetti (Hg.), Manuale di Storia Liturgica, II, Mailand 3 1969, 438-440; H. Kellner, Heortologie oder die geschichtliche Entwicklung des Kirchenjahres und der Heiligenfeste, Freiburg i. Br. 1911, 243-246. 9 Vgl. A. Dumas (Hg.), Liber Sacramentorum Gellonensis, Turnhout 1981 (CC Ser. lat. 59), 198-199, Nr. 1518-1527. 10 MGH Concilia aevi Carolini, II/ 1, 270 e 299; vgl. W. Hartmann, Die Synoden der Karolingerzeit im Frankenreich und in Italien, Paderborn 1989, 128-130; M. Müller, St. Michael. Der Deutschen Schutzpatron? Zur Verehrung des Erzengels in Geschichte und Gegenwart, Langwaden 2003, 27-29. 11 MGH Poetae latini aevi Carolini I, 348. Liturgie und Gesellschaft 266 Alkuins aus dem fränkischen Adel und zuletzt Erzbischof von Mainz (847-856). Der Hymnus ist zwar im Norden entstanden, aber wohl erst im 10. Jahrhundert. 12 Er feiert Michael als den Führer des himmlischen Heeres und den Besieger Satans. Durch Michaels Wächterdienst soll Christus auch weiterhin von seinen Gläubigen alle Nachstellungen des Feindes abwenden und sie schließlich ins Paradies gelangen lassen. Hier klingt der Gedanke vom Seelengeleit an. Das Offertorium der Messe für die Verstorbenen sang Jahrhunderte lang vom Bannerträger Michael, der die Seelen in das „heilige Licht“ führt (signifer sanctus Michael repraesentet eas in lucem sanctam). 13 Der Michaelstag blieb gebotener Feiertag bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts. Erst die Feiertagsreduktionen der Aufklärungszeit nahmen ihm diese Auszeichnung. 14 Für die Landbevölkerung blieb er weiterhin ein wichtiger Termin im Jahreslauf. In manchen Gegenden wurde bis zum Michaelstag der Wettersegen gespendet: Der Priester sang von Ostern bis zum Michaelstag am Ende der Sonntagsmesse den Johannesprolog zum Schutz der Feldfrüchte. Am ersten Sonntag nach dem Michaelstag wird nach wie vor an vielen Orten das Erntedankfest gefeiert. 15 Seit dem 11. Jahrhundert tritt neben das Michaelsfest im Herbst hier und da ein zweites Fest im Frühling. Sein Termin war der 8. Mai. Es begegnet uns schon im 12. Jahrhundert im Kalender der Lateranbasilika. 16 Allgemein wurde es aber erst durch das Tridentinische Brevier (1568) und Messbuch (1570). Wie der Festtitel „In apparitione S. Michaelis Archangeli“ zu erkennen gab, wurde die Erscheinung des heiligen Michael kommemoriert, die Bischof Laurentius von Siponto um 590 gehabt haben soll und die zur Entstehung des Mutterheiligtums des abendländischen Michaelskults in der Grotte auf dem Monte Gargano geführt hat. 17 Die 12 Concilium ad exsequendam Constitutionem de Sacra Liturgia (Hg.), Hymni instaurati Breviarii Romani, Vatikanstadt 1968, 246; AH 50, 207 und 197. 13 Vgl. B. M. Serpilli, L’offertorio della Messa dei defunti, Rom 1964; J. Bärsch, Allerseelen (LQF 90), Münster 2004, 235f. 14 Vgl. L. Freiherr von Pastor, Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters, Bd. XVI/ 1, Freiburg i. Br. 1931, 229f.; J. Steiner, Liturgiereform in der Aufklärungszeit, Freiburg-Basel-Wien 1976, 33-39. 15 Vgl. J. A. Jungmann, Missarum Sollemnia, 2 Bde., Wien 5 1962, II, 555; A. Heinz, Die sonn- und feiertägliche Pfarrmesse (TThSt 34), Trier 1978, 449-457. Die deutschen Bischöfe und der Bischof von Luxemburg haben beschlossen (1972), dass das Erntedankfest am ersten Sonntag im Oktober gefeiert werden soll, d. h. nach dem Fest des hl. Michael; vgl. Ph. Harnoncourt, Die Neuordnung der Eigenkalender für das deutsche Sprachgebiet (NAKO 29), Trier 1975, 82-86. 16 L. Fischer (Hg.), Bernardi Card. et Lateranensis ecclesiae Prioris Ordo Officiorum Ecclesiae Lateranensis, München 1916, 136; vgl. Righetti, Manuale (wie Anm. 8), 438f. 17 Liber de apparitione s. Michaelis in monte Gargano, in: MGH Scriptores rerum Langobardicarum et Italicarum saec. VI-IX (Hg. G. Waitz), Hannover 1878, 541-543; vgl. G. Otranto, Il „Liber de apparitione“ e il culto di San Michele sul Gargano nella documentazione liturgica altomedievale, in: Vetera Christianorum 18 (1981) 423-442. Zur Person von Bischof Laurent vgl. A. Campione, Storia e santità nelle due Vitae di Lorenzo vescovo di Siponto, in: Vetera Christianorum 29, 1992, 169-213; L. di Siponto, un vescovo del VI secolo tra agiografia e storia, in: Vetera Christianorum 41 / 2004) 61-82; W. von Rintelen, Kultgeographische Studien in der Italia byzantina. Untersuchungen über die Kulte des Erzengels Michael und der Madonna di Constantinopoli in Süditalien, Meisenheim am Glan 1968, 3-55. Der heilige Erzengel Michael - Schutzpatron der Deutschen? 267 Reform des Codex Rubricarum von 1960 hat dieses jüngere Michaelsfest, das auch in seinen liturgischen Texten eine Dublette des 29. September war, gestrichen. Ein besonderes Relief hatte dieses Fest in der „germanischen Welt“ nicht. Das gilt auch für die übrigen namentlichen Erwähnungen, die der Erzengel in der römischen Liturgie im Laufe des Mittelalters erfahren hat. Der germanische Raum partizipiert diesbezüglich an der allgemeinen Entwicklung, ohne sie erkennbar zu forcieren. So wird Michael meistens zusammen mit den beiden anderen Erzengeln Gabriel und Rafael am Anfang der Allerheiligenlitanei angerufen. Sein Name erklang, wenn die Akklamationen zu Ehren des Kaisers, die Laudes regiae, angestimmt wurden, ob in St. Peter in Rom oder in der Pfalzkapelle in Aachen. 18 Mit der Funktion des Erzengels als Seelenwäger beim Jüngsten Gericht mag es zusammenhängen, dass Michael seit dem 13. Jahrhundert hier und da im Allgemeinen Sündenbekenntnis (Confiteor) genannt wird. 19 Der Brauch ist zuerst in Italien bezeugt und wurde 1314 durch eine Regionalsynode in Ravenna anerkannt. Vor seiner allgemeinen Verbreitung durch die tridentinischen Liturgiebücher war er in der „germanischen Welt“ kaum bekannt. Schließlich wurde die Fürsprache des Erzengels Michael angerufen beim Einlegen des Weihrauchs vor der Inzensierung der Opfergaben in der Messfeier. 20 Ursprünglich wurde an dieser Stelle Gabriel genannt, und zwar wegen Lk 1,19 (der Erzengel Gabriel erschien Zacharias neben dem Rauchopferaltar des Tempels). Da aber das Offertorium in der Messe des Michaelsfestes am 29. September die Stelle der Offenbarung des Johannes, die von einem Engel spricht, der mit einem goldenen Rauchfass neben dem himmlischen Altar steht (Offb 8,3f.), auf Michael bezog, verdrängte Michael im Laufe des Spätmittelalters zunehmend seinen Engelsbruder. Diese Entwicklung wurde wiederum durch das Tridentinische Messbuch sanktioniert. Die Liturgiereform nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) hat diese beiden Anrufungen Michaels abgeschafft. Gefallen ist auch das kämpferische Gebet zum Erzengel, der Satan und alle bösen Geister in die Hölle gestürzt hat, das Papst Leo XIII. (1878-1903) im Kampf gegen Laizismus und Freimaurer Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt und als Pflichtgebet am Ende jeder stillen Messe vorgeschrieben hatte. 21 Zudem ist seit 1969 der 29. September kein exklusives Michaelsfest mehr, sondern ein Sammelfest aller drei Erzengel. Es gab im deutschen Sprachgebiet keinen Widerstand gegen diese Maßnahmen. Als die Bischöfe der deutschsprachigen Länder an Allerheiligen 1971 den neu erarbeiteten, ersten gemeinsamen Heiligenkalender für ihre Territorien in Rom zur Bestätigung einreichten, beantragten sie keine Sonderregelung für den Michaelstag. 22 Es erhob sich in Deutschland keine Stimme, die etwa für Michael den Titel „Engel der Deutschen“ oder „Patron des deutschen Volkes“ reklamiert hätte. Eine Generation früher sah das noch anders aus. 18 Vgl. B. Opfermann, Die liturgischen Herrscherakklamationen im Sacrum Imperium des Mittelalters, Weimar 1953, 46f. 19 Vgl. Jungmann, Missarum (wie Anm. 15), I, 290-292. 20 Jungmann, Missarum (wie Anm. 15), II, 89 Nr. 11. 21 Ebd., 568. 22 Vgl. Harnoncourt, Eigenkalender (wie Anm. 15), 72-77. Liturgie und Gesellschaft 268 Ehe wir dieses bewegte Kapitel der Rolle des Erzengels in der Geschichte der Deutschen aufschlagen, wollen wir die bisherigen Überlegungen resümieren. Was die liturgische Michaelsverehrung betrifft, ist die germanische Welt rezeptiv. Sie übernimmt das im Grunde sehr nüchterne römische Textmaterial. Es bleibt mehr oder weniger im Rahmen der biblischen Aussagen. Die Kirchweihe (dedicatio basilicae angeli) als sein ursprünglicher „Sitz im Leben“ legt es nahe, Michael als Anführer der himmlischen Liturgie zu sehen, mit der die im Gotteshaus gefeierte irdische Liturgie korrespondiert. Die Gargano-Tradition lässt Michael sogar selbst sein Heiligtum weihen. Der vor Gott stehende Erzengel wird sodann als Fürsprecher angerufen. Weil er den Widersacher Gottes besiegt und gestürzt hat, soll er in der Kraft des Allmächtigen die Familie Gottes gegen den bösen Feind verteidigen. Michael und seine Engel sollen sich als Schutzengel der Gläubigen auf ihren Erdenwegen erweisen. Auch der Gedanke, dass die Engel, allen voran Michael, die Seelen ins Paradies geleiten sollen, hat sein Fundament im Neuen Testament (vgl. Lk 16,22). Die mittelalterliche Liturgie des Michaelsfestes weiß nichts von einer besonderen Beziehung des Erzengels zu einem bestimmten Volk, höchstens in dem Sinn, dass Michael Patron des ganzen christlichen Volkes ist, wie er nach dem Danielbuch (Dan 10,13. 21; 12,1) schon im Alten Testament „der Fürst“ des Gottesvolkes war. Auch die im Norden der römischen Liturgie zugewachsenen Ausschmückungen und Bereicherungen sehen Michael nicht in einer privilegierten Beziehung zu den germanischen Stämmen oder gar als „Engel der Deutschen“. Gleichwohl hat diese Vorstellung, die seit dem 19. Jahrhundert von nationalen Kräften kultiviert und verbreitet wurde und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch die deutsche katholische Jugend begeisterte, tiefreichende Wurzeln in der deutschen Geschichte. St. Michael in der Geschichte der Deutschen Das erste germanische Volk, das eine ausgeprägte Michaelsverehrung entwickelt hat, waren die Langobarden. Eine legendäre Überlieferung erzählt, der Erzengel sei ihrem König Alboin auf einem Berg bei Ljubljana erschienen und habe ihm befohlen, sein Volk nach Italien zu führen. 23 Die Langobarden eroberten Norditalien und waren in der Zeit Papst Gregors des Großen (590-604) der Schrecken Roms. Etwa um die Mitte des 7. Jahrhunderts, als die vorher arianische Oberschicht zum Katholizismus konvertiert, kommen die Langobarden in Kontakt mit dem Michaelskult auf dem Monte Gargano. Die Lichtgestalt des starken Erzengels, der die himmlischen Heere anführt und den Drachen besiegt, imponiert den langobardischen Kämpfern. Ob dabei tatsächlich, wie manche Autoren glauben machen wollen, die Erinnerung an deren Kriegsgott Wodan eine Rolle gespielt hat, ist eher unwahrscheinlich. Jedenfalls wurde Michael der himmlische Patron der Langobarden. Sie weihten ihm Kirchen und Klöster, prägten Münzen mit seinem Bild und trugen das Zeichen des Erzengels in ihren Schlachten voran. Als Papst Hadrian I. 23 Vgl. A. Graf von Keyserlingk, Monte Gargano. Europas ältestes Michaelsheiligtum, Stuttgart 1987, 43; Müller, Schutzpatron (wie Anm. 10), 19f.; Leclercq, Michel (wie Anm. 2), 905. Der heilige Erzengel Michael - Schutzpatron der Deutschen? 269 (772-795), der sich gegen die Langobarden anders nicht zu wehren wusste, den Frankenkönig Karl zur Hilfe rief, zog dieser umgehend nach Italien. Er belagerte Pavia, die Hauptstadt des Langobardenreiches, entmachtete das Herrscherhaus und setzte sich selbst die eiserne Krone der Langobardenkönige auf; ihr Reich wurde dem Frankenreich einverleibt. 24 Dadurch erhielt auch die Michaelsverehrung bei den Franken neue Impulse. Es geht jedoch entschieden zu weit, wenn man Michael als Patron des karolingischen Reiches bezeichnen würde. Das war und blieb der heilige Martin. Es war eher die biblische Vorstellung vom Engel, der die bösen Mächte besiegt, die dazu führte, dass Karl der Große in der von ihm nach antiken Vorbildern erbauten Pfalzkapelle in Aachen auf der Westempore einen Michaelsaltar errichten ließ. 25 Hier und anderswo inspirierten die Höhenheiligtümer des Monte Gargano und des Mont-Saint-Michel in der Normandie die Anlage in der Höhe; und es war die Überzeugung, dass die Gegend des Sonnenuntergangs der Aufenthaltsort der Dämonen sei, welche die Aufstellung nach Westen verlangte. Auch die Weihe einer Michaelskirche auf dem Friedhof des Klosters Fulda im Jahre 822 durch einen führenden Mann der karolingischen Reform, Rhabanus Maurus, erklärt sich aus der dem Erzengel überall zugeschriebenen Funktion als Seelengeleiter zum Paradies und als Seelenwäger beim Gericht am letzten Tag. Es sind zwei kriegerische Ereignisse, die das immer wieder behauptete besondere Patronat des Erzengels über das deutsche Volk begründen. Sie fallen in die Zeit der Kämpfe gegen die heidnischen Ungarn im 10. Jahrhundert. 26 Dieses Reitervolk aus den Steppen Asiens schien unbesiegbar zu sein. König Heinrich I. (919-936) gelang es nur durch enorme Tributzahlungen, sein ostfränkisches Reich einige Jahre lang vor den gefürchteten Einfällen der Ungarn zu bewahren. Er nutzte den Frieden, um den Krieg vorzubereiten. 933 fielen die Ungarn erneut in Thüringen ein. Es kam zum entscheidenden Kampf in Riade an der Unstrut. Dem christlichen Heer wurde ein Feldzeichen mit dem Bild des heiligen Michael vorangetragen. Man muss nicht annehmen, die Franken hätten sich dadurch an den Kriegsgott ihrer heidnischen Vorfahren erinnern lassen. Der starke Engel, der über den höllischen Drachen gesiegt hatte, war ihnen Ansporn genug, einen Feind niederzuringen, der in ihren Augen Satan und sein Heer verkörperte. Heinrich I. siegte. Doch die Gefahr war nicht gebannt. Unter seinem Sohn Otto I. (936-973) kamen die Ungarn wieder. 954 durchzogen sie die Stammesgebiete der Bayern, Schwaben, Alemannen und Lothringer; sie hinterließen eine breite Spur der Verwüstung. Über Frankreich und Italien kehrten sie in die ungarische Tiefebene zurück. Von dort kam die Plage im folgenden Jahr erneut über das Reich. Als die Ungarn die Stadt Augsburg belagerten, wagte König Otto I. am Laurentiusfest 955 den Angriff. Der König führte die Heilige Lanze mit; es wurde ihm ein Feldzeichen mit dem Bild des heiligen Michael vorangetragen. Das christliche Heer 24 Vgl. A. Angenendt, Das Frühmittelalter, Stuttgart 1990, 292. 25 Vgl. H. K. Schulze, Vom Reich der Franken zum Lande der Deutschen: Merowinger und Karolinger, Berlin 1987, 201ff.; Müller, Schutzpatron (wie Anm. 10), 39-42. 26 Vgl. Müller, Schutzpatron (wie Anm. 10), 31-33; R. Holtzmann, Geschichte der sächsischen Kaiserzeit (900-1024), Darmstadt 4 1961; H. Beumann, Die Ottonen, Stuttgart 2 1991. Liturgie und Gesellschaft 270 siegte. 27 Europa war fortan definitiv von dieser Gefahr erlöst. Die Ungarn ließen sich taufen und traten in die Gemeinschaft der christlichen Völker ein. Die beiden glänzenden Siege über die Ungarn wurden - wenn auch nicht exklusiv - dem Eingreifen Michaels zugeschrieben. Die Vorstellung eines besonderen Patronats des Erzengels über die deutschen Stämme hat sich in der Folgezeit aber nicht herausgebildet. Schon Otto II. (961-983), der Sohn des Siegers auf dem Lechfeld, ließ das Michaelsbild im Reichsbanner durch das des Adlers ersetzen. 28 Zwar lässt sich bei den sächsischen Kaisern eine besondere Michaelsverehrung ausmachen. Sie ist aber auf Dauer nicht wirklich geschichtsmächtig geworden. Es ist zweifelhaft, ob Kaiser Otto I., wie manche Historiker annehmen, im Rahmen seines Italienzuges (961-964), nach seiner Kaiserkrönung (962) in Rom, tatsächlich das Michaelsheiligtum auf dem Monte Gargano besucht hat. 29 Mit Sicherheit wissen wir nur von der Pilgerfahrt Kaiser Ottos III. (996-1002), dem Sohn Ottos II. und der byzantinischen Prinzessin Theophanou. 30 Er kam im März 999 als Büßer auf den Monte Gargano. Barfuss soll der 19-jährige Kaiser aus der Ebene bis zur Grotte hinaufgestiegen sein. Der heilige Romuald von Ravenna (†1027), der Gründer des Kamaldulenserordens, hatte dem Kaiser diese Bußwallfahrt auferlegt zur Sühne für die Grausamkeiten, die 998 bei der Einnahme Roms vorgekommen waren, als die kaiserlichen Truppen die Engelsburg eingenommen hatten und dabei selbst den Gegenpapst Johannes Philagathos schwer misshandelt hatten. Wir wissen nicht, welche Bitten der Kaiser dem Erzengel in der heiligen Grotte anvertraut hat. Er wird um den Schutz Michaels bei seinem Kampf gegen die Byzantiner in Süditalien angehalten haben, wo er seine Herrschaft durchsetzen und sichern wollte. Otto III. bewegte die Idee der „renovatio imperii Romanorum“ (Erneuerung des Römischen Reiches). Der Kaiser besuchte den Monte Sant’Angelo wenige Monate vor der Jahrtausendwende. Deshalb mögen auch Gedanken an das Ende der Welt und an seine eschatologische Aufgabe als Anführer der Christenheit ihn bewegt haben. In welchem Zustand würde er das christliche Volk dem wiederkommenden Herrn entgegenführen? Dann sollte Michael, „der große Engelfürst“, für das Volk Gottes eintreten (vgl. Dan 12,1). Die meisten Historiker halten den Bericht über den Besuch von Kaiser Heinrich II. (1002-1024) auf dem Monte Gargano für legendär. 31 Die Kirche hat Heinrich und seine Gemahlin Kunigunde aus dem Haus der Grafen von Luxemburg heiliggesprochen. Der Verdacht besteht, dass die Hagiographie den Besuch im Michaelsheiligum dem heiligen Kaiser nachträglich zugeschrieben hat. Die älteste 27 Vgl. Müller, Schutzpatron (wie Anm. 10), 32. 28 Vgl. B. Grote, Der deutsche Michel. Ein Beitrag zur publizistischen Bedeutung der Nationalfiguren, Dortmund 1967, 8; J. Petersohn (Hg.), Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter, Sigmaringen 1994, 202. 29 Vgl. Müller, Schutzpatron (wie Anm. 10), 16. 30 Vgl. U. Swinarski, Herrschen mit den Heiligen. Kirchenbesuche, Pilgerfahrten und Heiligenverehrung früh- und mittelalterlicher Herrscher (ca. 500-1200), Bern 1991, 64-71. 425; G. Otranto, Il pellegrinaggio micaelico dal Gargano all’Europa, in: R. Barcellona - T. Sardella (Hg.), Munera amicitiae. Studi di storia e cultura sulla Tarda Antichità offerti a S. Pricco, Soveria Mannelli 2003, 329-360. 344. 31 Vgl. Swinarski, Herrschen (wie Anm. 30), 533f. Der heilige Erzengel Michael - Schutzpatron der Deutschen? 271 Vita weiß nämlich nichts davon. Erst in einem „Additamentum“, wovon uns eine Niederschrift aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts erhalten ist, wird das Ereignis mit phantasievoller Ausschmückung erzählt. 32 Die besondere Michaelsverehrung des heiligen Kaisers ist bekannt. Sie hat unter anderem ihren Ausdruck gefunden in der von ihm unterstützten Gründung des Michaelsklosters im Norden der Bischofsstadt Bamberg. 33 Den Hochaltar der in Bamberg vom Kaiser errichteten Bischofskirche hat er zu Ehren der Muttergottes, des heiligen Michael und des heiligen Georg weihen lassen. 34 Sein Besuch auf dem Monte Gargano soll im Jahr 1022 stattgefunden haben. In diesem Jahr war Heinrich II. in der Tat in Apulien. Näherhin hat er die von seinen Truppen eroberte byzantinische Festung Troia besucht, die nur etwa 60 km vom Monte Gargano entfernt lag. Franz Kohlschein, der sich zuletzt gründlich mit der Frage befasst hat, ist deshalb überzeugt, dass Kaiser Heinrich II. auch zum Michaelsheiligtum gepilgert ist. 35 Dort verbrachte der Kaiser - wie das Additamentum zu seiner Vita berichtet - die Nacht in der Grotte. Er hatte eine Vision. Er sah Christus und Michael zusammen mit vielen anderen Engeln in einer himmlischen Liturgiefeier. Als der Erzengel dem Kaiser das Evangeliar zum Kuss reichte, berührte er ihn an der Hüfte. Seitdem hinkte der Kaiser. Die wohl von einem Unfall herrührende Behinderung des Kaisers dürfte historisch zutreffend sein. Sie war der Grund, dass er gelegentlich als „sanctus Henricus claudus“ bezeichnet wurde. Legendär ist freilich die Erklärung. Sie macht die Behinderung zu einem Zeichen göttlicher Auserwählung, den Kaiser infolgedessen zu einem Werkzeug des göttlichen Heilsplans, in Analogie zu Jakob, dem Stammvater Israels (Gen 32). Es scheint, als habe der Verfasser des Visionsberichts Heinrich durch dieses Stigma des Erzengels als zweiten Konstantin darstellen wollen, dem der Schutz Michaels im Kampf gegen Slawen und Byzantiner auf diese Weise zugesichert werden sollte. Noch einmal sah der Monte Gargano im Jahre 1137 einen Kaiser als Pilger in der Erscheinungsgrotte. Kaiser Lothar III. (1125-1137) hatte, gewiss im Vertrauen auf den Beistand des siegreichen Engels, absichtlich den 8. Mai gewählt, den Erscheinungstag Michaels, um das von den Normannen besetzte Kastell Sant’Angelo zu erobern, was ihm auch gelang. 36 Angesichts der häufigen Italienaufenthalte deutscher Kaiser haben ihre Besuche auf dem Monte Gargano ausgesprochenen Seltenheitswert. Auch das zeigt, dass die Vorstellung von Michael als dem „Engel der Deutschen“ nicht in das hohe Mittelalter zurückprojiziert werden darf. Historische Ereignisse, bei denen der Erzengel Michael sich in besonderer Weise als „der Engel der Deutschen“ gezeigt hätte, sind für das Spätmittelalter 32 Additamentum vitae Henrici, MGH SS IV, 818. 33 Vgl. S. Weinfurter, Heinrich II. (1002-1024). Herrscher am Ende der Zeiten, Regensburg 2 2002, 265f. 34 Ebd., 264. 35 F. Kohlschein, „Claudus Henricus“ - Der hincket Keyser Heinrich“. Kaiser Heinrich II. als Visionär im Michaelsheiligtum des Monte Gargano in Apulien. 138. Bericht des Historischen Vereins Bamberg, Bamberg 2002, 77-122. 36 Vgl. Swinarski, Herrschen (wie Anm. 30), 324-327. Liturgie und Gesellschaft 272 und die Neuzeit ebenfalls nicht zu melden. In Deutschland gibt es keine Jeanne d’Arc (1412-1431), die auf Eingebung Michaels und mit seiner Hilfe das Vaterland zum Sieg führte. Im Hundertjährigen Krieg gegen die Engländer war es für die Franzosen ein Signal der Hoffnung, dass der Mont-Saint-Michel vom Feind nie eingenommen wurde. Michael wurde zum Schutzpatron Frankreichs. 37 Nach der Niederlage gegen Deutschland im Krieg von 1870/ 71 stellten die französischen Katholiken bezeichnenderweise Michael, „den Engel Frankreichs“, auf die Spitze der Sühnekirche Sacré Cœur auf dem Montmartre in Paris. Um diese Zeit reklamierte aber auch Deutschland den streitbaren Engel für die eigene Sache. In national gesinnten protestantischen Kreisen setzte sich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die Vorstellung durch, Michael verkörpere die deutsche Wehrkraft und deutsche Größe. 38 In dem nach dem Sieg über Frankreich neu gegründeten deutschen Kaiserreich unter preußischer Führung mutierte der Erzengel zum Kriegsgott der Deutschen. In der nationalen Hochstimmung jener Jahre entstand der Plan, zur Erinnerung an die Befreiung Deutschlands von der Herrschaft Napoleons ein gewaltiges Nationaldenkmal zu errichten. 39 Aus dem Wettbewerb der Entwürfe ging ein „St. Michael“ betitelter Plan von Bruno Schmitz als Sieger hervor. 1913, am 100. Jahrestag der „Völkerschlacht“ bei Leipzig, wurde das Monument mit einer euphorisch-nationalen Massenveranstaltung in Gegenwart von Kaiser Wilhelm II. (1888-1918) eingeweiht. Das riesige Hauptrelief zeigt das Schlachtfeld von Leipzig, über das auf einem Siegeswagen Michael als Kriegsgott der Deutschen dahinfährt, unter ihm die gefallenen Soldaten und die zerstörten Dörfer und Städte und über seinem erhobenem Schwert die aufgehende Sonne der Freiheit. Diese säkularisierte Darstellung des Erzengels assoziierten viele mit dem germanischen Kriegsgott Wotan, was durchaus gewollt war. Der katholische Bevölkerungsteil stand dieser Umdeutung ablehnend gegenüber. Die Katholiken standen damals fast geschlossen im sogenannten Lager der „Ultramontanen“. Sie traten in großer Zahl dem „Michaelsverein“ bei, einer Art Bruderschaft zur Unterstützung des Papstes und zur Abwehr aller kirchenfeindlichen Mächte der Zeit. 40 Unter dem Patronat des Drachenbezwingers sollte der Papst durch Spenden, den „Peterspfennig“, unterstützt werden in seinem Anspruch auf den Kirchenstaat und in seinem Kampf gegen die laizistischen und liberalen Gegner der Kirche im neuen italienischen Nationalstaat. In Deutschland setzten sich die Katholiken im sogenannten Kulturkampf erfolgreich gegen die Übergriffe des liberalen protestantischen Staates zur Wehr. Doch die allgemeine nationale Hochstimmung jener Jahre erfasste schließlich auch den katholischen Bevölkerungsteil. Dort wurde nun auch die Vorstellung von Michael als dem „Engel der Deutschen“ rezipiert, allerdings in einer religiösen und kirchlich kompatiblen Form. 37 Vgl. Müller, Schutzpatron (wie Anm. 10), 324-327. 38 Müller, Schutzpatron (wie Anm. 10), 78-81. 39 Ebd., 79f. 40 Ebd., 73-78. Der heilige Erzengel Michael - Schutzpatron der Deutschen? 273 Im Nationalitätenkonflikt der Donaumonarchie wurde Michael eine Leitfigur der Deutsch-Österreicher. 41 Der österreichische Priesterdichter Ottokar Kernstock (1848-1928) dichtete ein martialisches Michaelslied. Dessen erste Strophe lautet: „St. Michel, der vor Gottes Thron hält mit den Engeln Wache, du bist der Deutschen Schutzpatron: Entscheide unsre Sache! Tu um dein Schwert, zäum auf dein Ross und zieh voran dem Heere. Es gilt die deutsche Ehre. Sankt Michel, salva nos! “ 42 Im Ersten Weltkrieg tritt das Michaelsmotiv erstaunlicherweise kaum besonders hervor. Einen zwielichtigen Eindruck hinterlässt allerdings ein 1917 erschienenes repräsentatives Kriegsbuch mit dem Titel „St. Michael“. 43 Unter den Autoren des Sammelwerks waren auch die Kardinäle von Köln, München und Wien. Nationalistische Misstöne sind in den durchweg moderaten Beiträgen kaum auszumachen. Doch das Titelbild des Prachtbandes vereinnahmt den Erzengel politisch für die deutsche und österreichische Sache. Es zeigt Michael dekoriert mit Eisernen Kreuzen und dem Reichsadler. Sein Schwert zwingt den feindlichen Drachen unter seinen Fuß. Im letzten Kriegsjahr beschwor dieses Michaelsbild unmissverständlich den deutschen Sieg über die Feinde des Reiches. Im Zweiten Weltkrieg erwies sich der jüdisch-christliche Erzengel Michael für die nationalsozialistische Propaganda als völlig ungeeignet. Dies um so mehr, als Michael im Kirchenkampf des Dritten Reiches mehr und mehr zur identitätsstiftenden Leitfigur des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus geworden war. In Kreisen der katholischen Jugend erlebte die Michaelsverehrung nämlich damals eine nie da gewesene Hoch- und Blütezeit. Davon soll später ausführlicher die Rede sein. Zuvor gilt es, einige Beobachtungen zum Michelskult in der „germanischen Welt“ nachzutragen. Einige Beobachtungen zum Michaelskult 1835 erschien erstmals das einflussreiche Buch von Jacob Grimm (1785-1863) mit dem Titel „Deutsche Mythologie“. 44 Es setzte eine These in die Welt, die im Volk noch immer weit verbreitet ist. Sie lautet: Der Michaelskult geht in den deutschen 41 Die Lieder und Gedichte zur Verehrung des Heiligen Michael von dem österreichischen Priester Ottokar Kernstock (1848-1928) sind in dieser Hinsicht aufschlussreich; vgl. Müller, Schutzpatron (wie Anm. 10), 84-86. 42 Vgl. ebd. 43 J. Leicht (Hg.), Sankt Michael. Ein Buch aus eherner Kriegszeit zur Erinnerung, Erbauung und Tröstung für die Katholiken deutscher Zunge, Würzburg 1917. 44 J. Grimm, Deutsche Mythologie, Göttingen 1835; vgl. K. Meisen, St. Michael in der volkstümlichen Verehrung des Abendlandes, Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 1962/ 63, 195-255, 198ff.; Müller, Schutzpatron (wie Anm. 10), 24-27. Liturgie und Gesellschaft 274 Regionen auf den Kult des germanischen Kriegs- und Totengotts Wotan zurück, den die Ostgermanen Odin nannten. Wenn dem so wäre, müsste es in den betreffenden Gebieten besonders viele Michaelskirchen geben. Die Patroziniumsforschung stützt diese Vermutung 45 aber nicht. In den germanischen Missionsgebieten sind Maria, Petrus, Johannes der Täufer und der fränkische Nationalheilige Martin die bevorzugten Patrone; Michael kommt nicht in signifikanter Häufigkeit vor. Dieser Befund ist um so auffälliger, als die irischen und angelsächsischen Missionare, die Pioniere der Germanenmission, eine ausgeprägte Michaelsverehrung mitbrachten. Es waren zum Beispiel irische Mönche, die das älteste deutsche Kloster zu Ehren des heiligen Michael, das der elsässische Graf Adalbert, ein Bruder der heiligen Odilia, auf der Rheininsel Honau nördlich von Straßburg 720 gründete, besiedelten. 46 Der Angelsachse Bonifatius (†754) hat in Ohrdruf in Thüringen eine Michaelskirche geweiht, nachdem er dort eine Erscheinung des Erzengels gehabt haben soll. Dem „Apostel der Deutschen“ wird noch die Weihe zweier weiterer Michaelskirchen zugeschrieben. 47 Alkuin, der einflussreiche Theologe am Hof Karls des Großen, war der große Vermittler der insularen Frömmigkeit im Frankenreich. Eine kürzlich erschienene Dissertation befasst sich mit dem von ihm zusammengestellten Gebetbuch für Kaiser Karl den Großen, das eine „Schlüsselfunktion“ in der Geschichte der mittelalterlichen libelli precum einnimmt. 48 Es gibt darin ein eigenes Michaelsgebet, das den Erzengel „Helfer des Volkes Gottes“ nennt und seine Fürsprache beim „höchsten Richter“ erbittet. 49 Auch wenn Rhabanus Maurus, ein Schüler Alkuins, nicht mehr als Verfasser der Michaelshymnen des traditionellen Offiziums angenommen wird, so kommen diese Dichtungen doch aus dem Milieu der karolingischen Reform. Die neueren Veröffentlichungen distanzieren sich durchweg entschieden von der früheren Leichtgläubigkeit, die überall da, wo eine Michaelskapelle auf einem Berg steht, eine ehemalige Kultstätte Wotans vermutete. Nur in wenigen Einzelfällen lässt sich eine solche Kultkontinuität tatsächlich nachweisen. Etwa in Bonn, wo die mittelalterliche Burg auf dem „Godesberg“ am Standort einer Michaelskapelle errichtet wurde, die ihrerseits eine Wodanskultstätte substituiert haben dürfte. 50 In 45 Vgl. G. Zimmermann, Patrozinienwahl und Frömmigkeitswandel im Mittelalter dargestellt an Beispielen aus dem alten Bistum Würzburg, Würzburger Diözesangeschichtsblätter 1958, 24-126. 1959, 5-124. 46 Vgl. I. Eberl, Das Iren-Kloster Honau und seine Regel, in: H. Löwe (Hg.), Die Iren und Europa im frühen Mittelalter, Stuttgart 1982, 219-238; Meisen, Michael (wie Anm. 44), 221; Müller, Schutzpatron (wie Anm. 10), 23. 47 Vgl. Meisen, Michael (wie Anm. 44), 222; J. W. Schneider, Michael und seine Verehrung im Abendland, Dornach 1981, 56f.; Müller, Schutzpatron (wie Anm. 10), 23. 48 S. Waldhoff, Alcuins Gebetbuch für Karl den Großen. Seine Rekonstruktion und seine Stellung in der frühmittelalterlichen Geschichte der libelli precum (LAF 89), Münster 2003. 49 Ebd., 384: „De sancto Mikaele oratio. Sancte Michahel, archangele domini nostri iesu christi, qui uenisti in adiutorium populi dei, subueni michi aput altissimum iudicem, ut michi misero donet remissionem omnium peccatorum meorum propter magnam misericordiam suam“. 50 Vgl. C. Rademacher, Wodan - St. Michael - Der deutsche Michel, Köln 1934, 9ff.; J. Arnstadt, Südgermanische Religion seit der Völkerwanderungszeit, Stuttgart 1991, 116. Am 10. Oktober 2002 (von 21: 00 bis 22: 00 Uhr) hat Radio Stuttgart (SWR 2, Studio Karlsruhe) eine gut recherchierte und dokumentierte Rundfunksendung über die angeblichen „St. Michaels-Berge“ in Der heilige Erzengel Michael - Schutzpatron der Deutschen? 275 dem Ort „Gudesberg“ in Hessen ersetzte die dortige Michaelskirche eine germanische Kultstätte auf dem nahe gelegenen Berg. 51 In Heidelberg ist das ehemalige Michaelskloster, das im 9. Jahrhundert (863) auf einer Erhebung in der Stadt gegründet wurde, allem Anschein nach über den Resten eines Merkurtempels gebaut worden. 52 Generell aber gilt, dass die Michael geweihten Höhenheiligtümer - in Deutschland nicht anders als anderswo - das Vorbild des Monte Gargano und des Mont-Saint-Michel nachahmten. Jedem Kunsthistoriker ist bekannt, dass seit der karolingischen Zeit häufig Altäre auf Emporen oder Turmkapellen auf der Westseite der Kirchengebäude dem Erzengel Michael geweiht wurden. Das gilt auch für die nördlichen und westlichen Toranlagen von Klöstern, Burgen und Städten. Den Befund finden wir außer in der Pfalzkapelle in Aachen auch in den großen karolingischen Abteien wie Centula, Corvey, St. Gallen, ferner im Dom zu Halberstadt 53 und im antiken nördlichen Stadttor von Trier, der sogenannten Porta Nigra, 54 um nur einige Beispiele zu nennen. Die Intention ist klar: Der siegreiche Engel über Satan und sein Heer soll sich noch immer als der mächtige Verteidiger gegen alle Angriffe „der bösen Geister des himmlischen Bereichs“ (Eph 6,12) zeigen. Ihren bevorzugten Aufenthaltsort hat der mittelalterliche Mensch in der Himmelsrichtung der untergehenden Sonne angenommen. Es spricht manches dafür, dass diese karolingischen Vorbilder dazu geführt haben, dass im 9. Jahrhundert auf der Spitze des Hadrians-Mausoleums in Rom, das fortan Engelsburg hieß, eine Michaelskapelle erbaut wurde. 55 Wenn dagegen Michaelskirchen auf Friedhöfen errichtet werden, wie es etwa 822 im Kloster Fulda geschah, steht dahinter der Gedanke des Seelengeleits und der Fürsprache des Erzengels beim höchsten Richter. Beide Anschauungen hatten in der Liturgie eine solide Basis. Die germanische Mythologie muss man zu ihrer Erklärung nicht bemühen. Kein deutscher Historiker teilt heute noch die romantische Vorstellung, Karl der Große habe Michael zum Patron seines Reiches erwählt und auf der Synode von Mainz 813 sein Fest zum „Nationalfeiertag“ erhoben. Auch Kaiser Otto I. hat das nach seinem Sieg über die Ungarn nicht getan. Ursula Swinanski hat gezeigt, dass für die Ottonen der Kult des heiligen Laurentius und Mauritius bedeutsamer war als die Verehrung Michaels. 56 In den beiden großen Michaelsheiligtümern in Apulien und in der Normandie sind die Pilger aus den deutschsprachigen Deutschland ausgestrahlt, die am 2. Oktober 2004 erneut übertragen wurde. Man ist generell sehr vorsichtig geworden, wenn es um die Frage der Substitution eines älteren heidnischen Heiligtums durch den Michaelskult geht. Oft ist die Existenz eines solchen Vorgängerheiligtums nicht erwiesen. 51 Vgl. E. Jung, Germanische Götter und Helden in christlicher Zeit, München 1922, 193. 52 Vgl. Meisen, Michael (wie Anm. 44), 22; Arnstadt, Religion (wie Anm. 50), 116. 53 Vgl. Müller, Schutzpatron (wie Anm.10), 28f. 39-41. 54 Vgl. F.-J. Heyen, Das Stift St. Simeon in Trier. Germania Sacra. N. F. 9. Das Erzbistum Trier 9, Berlin-New York 2002. 55 Vgl. F. Gandolfo, Luoghi dei santi e luoghi dei demoni. Il ruolo dei templi nel medio evo, in: Santi e demoni nell’alto medioevo occidentale (secoli V-XI). Settimane di studio del Centro Italiano di Studi sull’Alto Medioevo XXXVI, Spoleto 1989, II, 883-916, hier 905-909. 56 Swinarski, Herrschen (wie Anm. 30), 105f., 281-290. Liturgie und Gesellschaft 276 Gegenden nicht überproportional vertreten. Aus dem Rahmen fällt höchstens das Phänomen der Kinderwallfahrten zum Mont-Saint-Michel um die Mitte des 15. Jahrhunderts. 57 Eine große Aufwertung erfuhr der Michaelskult in Deutschland nach dem Konzil von Trient (1545-1563). Der Protestantismus lehnt bekanntlich die Engelwie die Heiligenverehrung ab. Der Michaelskult war Martin Luther (†1546) besonders suspekt wegen der damit verbundenen Wallfahrten zum Monte Gargano, zum Mont-Saint-Michel und zu deutschen Michaelsheiligtümern, auch wegen der so genannten „Michaelsbriefe“, die in den Häusern als Schutz vor dem Einfluss böser Mächte aufbewahrt wurden. 58 Die katholische Reform reagierte mit einer Intensivierung des Engel- und Heiligenkults. Insbesondere wurde Michael, der den Drachen besiegt hatte, geradezu zur Personifizierung des Kampfes der katholischen Kirche gegen die protestantische „Ketzerei“. Es sind vor allem die Jesuiten, die in diesem Sinn den Michaelskult gefördert haben. 59 Es wäre jetzt von der Michaelsverehrung des ersten deutschen Jesuiten, des heiligen Petrus Canisius (1521-1597), manches zu sagen. Er ist an einem 8. Mai, dem Fest der Erscheinung des Erzengels, geboren und an diesem Fest auch in den Jesuitenorden eingetreten. Der „Zweite Apostel Deutschlands“ hat sich in seinem Werk der Re-Katholisierung als Mitarbeiter Michaels gefühlt, den er in seinem geistlichen Testament den „Engel Deutschlands“ nennt. 60 In diesem Klima der Abgrenzung zum Protestantismus hat auch das bekannteste deutsche Michaelslied seinen „Sitz im Leben“. 61 Es steht als einziges im ersten gemeinsamen Gesangbuch der deutschsprachigen Katholiken, dem „Gotteslob“ (1975). Sein Dichter, der rhei- 57 I. Hans-Collas, Les pèlerinages d’enfants vers le Mont-Saint-Michel au XV e siècle: analyse des chroniques allemandes, in: V. Juhel (Hg.), Chemins et pèlerins. Rencontres historiques d’Ardevon organisées au prieuré Notre-Dame d’Ardevon par l’association „Les Chemins du Mont-Saint-Michel“, 27. septembre 2002, 151-188 (bilbiographie); Müller, Schutzpatron (wie Anm. 10), 48-51. 58 Vgl. Martin Luthers Predigt zum Fest des heiligen Michael am 29. September 1530: M. Luther, Werke, Weimarer Ausgabe 32, 111-121; L. Kretzenbacher, Die Seelenwaage. Zur religiösen Idee vom Jenseitsgericht auf der Schicksalswaage in Hochreligion, Bildkunst und Volksglaube, Klagenfurt 1958, 85f. 59 Vgl. Müller, Schutzpatron (wie Anm. 10), 59-63. 60 J. Brodrick, Petrus Canisius, 2 Bde., Wien 1950, I, 177. 61 Es handelt sich um den in allen deutschsprachigen Ländern verbreiteten einzigen Gesang zu Ehren des hl. Michael, der im offiziellen Gebet- und Gesangbuch der deutschen, österreichischen und schweizerischen Diözesen, des Erzbistums Luxemburg und der Diözese Bozen- Brixen enthalten ist; vgl. Gotteslob. Katholisches Gebet- und Gesangbuch, Stuttgart 1975, 507, Nr. 606 „Unüberwindlich starker Held. St. Michael“. Der lateinische Text, zur gleichen Zeit wie der deutsche entstanden, wird heute nicht mehr gesungen: 1. O heros invincibilis, dux Michael, Adesto nostris praeliis: Ora pro nobis, pugna pro nobis, Dux Michael: 2. Tu noster dux militiae Defensor es ecclesiae. 3. Coelestes omnes spiritus Pars tui sunt exercitus Der heilige Erzengel Michael - Schutzpatron der Deutschen? 277 nische Jesuit Friedrich Spee (1591-1635) 62 bittet in der lateinischen Fassung des Liedes „O heros invincilbilis, dux Michael“ den Erzengel, er möge der „Beschützer Deutschlands“ sein (protector sis Germaniae). Damit wollte Spee genau so wenig wie Canisius Michael zum Patron der deutschen Nation proklamieren. Vielmehr sollte der siegreiche Erzengel die katholischen Reihen gegen die Protestanten anführen und sich als kraftvoller Verteidiger Deutschlands gegen den Irrglauben erweisen. Eine nie da gewesene Blüte erlebte die Verehrung des heiligen Michael in der Zeit der katholischen Jugendbewegung nach dem Ersten Weltkrieg (1914-1918) bis in das erste Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg (1939-1945). Ein Schlüsselbegriff ist in diesem Kontext die Idee vom „Reich“. 63 Nach dem verlorenen Krieg träumten viele Deutsche von einem deutschen Reich in alter Macht und Größe. Die nationalsozialistische Ideologie dachte an ein Reich der Vorherrschaft des deutschen Herrenmenschen, der sein eigener Gott und sein eigener Erlöser ist. In Kreisen der katholischen Jugend sehnte man sich nach einem starken Deutschland, das sich als Vorkämpfer der Sache Gottes bewähren sollte. Das mittelalterliche Heilige Römische Reich deutscher Nation wurde in verklärendem Licht gesehen. Es galt als die Epoche, in der die deutschen Herrscher die Christenheit angeführt und gegen innere und äußere Feinde verteidigten. Dabei war Michael der besondere Engel der Deutschen. 4. Per terras atque maria Sunt nota tua proelia. 5. Per te, o heros belliger Prostatus iacet Lucifer. 6. O magne Heros gloriae Protector sis Germaniae. 7. Ad arma, ad arma angelos Ad arma voca subditos. 8. Eiectis procul hostibus Fer opem desperantibus. 9. Afflicate pridem patriae Optatam pacem reddite. 10. A fame, peste libera, A servitute vindica. 11. O Michael, Archangele, Hac voce oro supplice. 62 Vgl. K. Keller, Das St. Michaelslied von Friedrich Spee und der „Deutsche Michel“. Ist das Michaelslied ein deutsch-nationales Kampflied? , Spee-Jahrbuch 1 (1994) 87-98; Ders., Friedrich Spee von Langenfeld (1591-1635). Leben und Werk des Seelsorgers und Dichters, Geldern 1990. 63 Vgl. Müller, Schutzpatron (wie Anm. 10), 89-104. Es gibt in dieser Zeit eine bemerkenswerte Anzahl von Publikationen über den Erzengel und seine Bedeutung für das deutsche Volk; vgl. A. M. Renner, Der Erzengel Michael in der Geistes- und Kunstgeschichte, Saarbrücken 1927; R. Creutz, Sankt Michael der Erzengel. Seine Verehrung in Geschichte, Legende und Kunst, Köln 1927; Ders., Der St. Michaelsberg in der Eifel, Schönau 1928; C. Rademacher, Wodan (wie Anm. 50); J. Bernhart, Der Engel des deutschen Volkes, München 1934; G. Schreiber, St. Michael und die Madonna. Geschwisterheilige in Frömmigkeit, Liturgie und Kunst, in: ZAM 17 (1942) 17-32. Liturgie und Gesellschaft 278 Weil die katholische Jugend ein Deutschland wollte, das Vorkämpfer christlicher Werte sein sollte, engagierte sie sich zunächst in der nationalen Bewegung und erwählte Michael zu ihrem Patron. Sie nannte ihre Zeitschrift „Michael“. 64 Spees Michaelslied erlebte eine Renaissance und neue Michaelslieder kamen dazu. Als dann aber das wahre Gesicht des Nationalsozialismus sich zeigte, wurde Michael, dessen Name bedeutet „Wer ist wie Gott“, zur Leitfigur des Widerstandes gegen die neuheidnischen und totalitären Tendenzen des Nazi-Regimes. Als dieses die katholischen Jugendorganisationen verbot, empfanden sich deren Mitglieder erst recht als die verschworene Schar des Erzengels, der von der Mehrheit seines Volkes verlassen worden war. Manche haben es als providentielle Fügung empfunden, dass Deutschland am 8. Mai 1945 kapituliert hat, am Fest der Erscheinung des Erzengels Michael. Während die einen darin ein Zeichen sahen, dass der „Engel der Deutschen“ nun endgültig sein Volk verlassen habe, verstanden es andere als Signal der Hoffnung: Die Mächte des Bösen sind besiegt, Michael erscheint und bringt seinem Volk Frieden und Freiheit. Diese positive Interpretation hat der zum Katholizismus konvertierte jüdische Philosoph Alfons Rosenberg in seinem faszinierenden Buch „Michael und der Drache“ (1956) eindrücklich zu vermitteln versucht. 65 Für ihn ist es auch kein Zufall, dass die Invasion der Alliierten in der Normandie erfolgte, unweit des alten Michaelsheiligtums. So stand der letzte Kampf gegen die Macht des Bösen gleichsam unter dem persönlichen Schutz des Erzengels. Rosenberg traf die Hoffnungen vieler junger Katholiken nach dem Ende des Krieges, wenn er der Michaelsverehrung der Deutschen nun eine europäische Dimension gab: Kaiser Karl der Große habe Michael als den Engel des Reiches anerkannt. So sei die geistige Einheit zwischen Deutschland und Frankreich für alle Zukunft in Michael begründet worden. Darum könne es nur eine Lösung „für die Wiederherstellung des (christlichen) Abendlandes“ geben: „Seine beiden Kernländer, beide aus Michaels Wirken hervorgegangen, müssen sich trotz ihrer Erbfeindschaft wieder miteinander befreunden und verbinden als Kernbestand eines neuen Reiches. Ein solcher Neubeginn der abendländischen Ökumene wäre von größter Bedeutung, nicht nur für Europa, sondern für die ganze Menschheit.“ 66 Diese Worte wurden in einer Zeit geschrieben, als christliche Politiker die Fundamente des vereinigten Europas legten: Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi, Robert Schuman. Doch schon damals waren es nur mehr wenige, die bereit waren, mit Alfons Rosenberg darin das friedenstiftende Wirken des Erzengels in der gegenwärtigen europäischen Geschichte zu erkennen. Zwar spricht heute eine 64 Vgl. Müller, Schutzpatron (wie Anm. 10), 97f.; die Wochenzeitschrift erschien am 17. September 1932 zum ersten Mal. Die Druckauflage stieg ununterbrochen von 30 000 bis 330 000 Exemplare im Januar 1936, als die Nationalsozialisten den „Michael“ endgültig verboten, nicht nur wegen des Inhaltes, sondern auch, weil sie nicht akzeptieren und riskieren wollten, dass die Zeitung der Nationalsozailistischen Partei, „Völkischer Beobachter“, weniger Abonnenten hatte als die der katholischen Jugend. 65 A. Rosenberg, Michael und der Drache. Urgestalten von Licht und Finsternis mit einem Geleitwort von Ida Friederike Görres, Olten-Freiburg im Breisgau 1956; vgl. Müller, Schutzpatron (wie Anm. 10), 104-109. 66 Rosenberg, Michael und der Drache (wie Anm. 65), 278. Der heilige Erzengel Michael - Schutzpatron der Deutschen? 279 unwissenschaftliche esoterische Angelologie weite Bevölkerungskreise an. Doch die Verehrung des heiligen Michael ist in Deutschland faktisch bedeutungslos geworden. 67 Die wenigsten Katholiken wissen noch, weshalb die Deutsche Bischofskonferenz ausgerechnet am Michaelstag in Berlin zu ihrem Jahresempfang einlädt. 67 Das Buch von M. Müller, Sankt Michael. Der Deutschen Schutzpatron? , das 2003 erschienen ist und im Verlauf unserer Ausführungen mehrfach erwähnt wurde, ist die letzte Veröffentlichung, die sich mit dem Michaelskult in Deutschland befasst. Es wurde kein Bestseller. Neuerdings pflegen traditionalistische Kreise im deutschen Katholizismus wieder stärker die Michaelsverehrung im Sinne des Gebets Leos XIII.; vgl. Anm. 21. Die Katholische Akademie in München veranstaltete am 28. September 2007 ein Forum über den Erzengel Michael, den Patron der vor 50 Jahren geweihten Hauskapelle der Akademie. Die drei bei dieser Gelegenheit gehaltenen Referate wurden in der Zeitschrift der Akademie veröffentlicht; vgl.: Zur Debatte, Themen der Katholischen Akademie in Bayern 37 (2007) 6-13. D Liturgiereform im Umkreis des Vatikanum II 14 Liturgiereform vor dem Konzil. Die Bedeutung Pius XII. (1939-1958) für die gottesdienstliche Erneuerung Unsere Generation ist Zeuge der umfassendsten Liturgiereform geworden, die die Kirche in ihrer nunmehr fast 2000-jährigen Geschichte erlebt hat. Zu Recht gilt das Zweite Vatikanische Konzil bei Freunden und Kritikern der Reform als der entscheidende Auslöser des tiefgreifenden Um- und Neubaus, der sich innerhalb von kurzen zwei Jahrzehnten im gottesdienstlichen Leben der römisch-katholischen Kirche vollzogen hat. Die Reformimpulse sind hauptsächlich niedergelegt in der Liturgiekonstitution, dem zuerst beratenen, am 4. Dezember 1963 mit überwältigender Mehrheit (es gab nur vier Gegenstimmen) vom Weltepiskopat angenommenen, von Papst Paul VI. (1963-1978) bestätigten und „zusammen mit den Vätern“ in Kraft gesetzten Konzilsdokument. 1 Unter dem Eindruck des durch das Konzil eingeleiteten und „dank der beachtlichen und selbstlosen Arbeit einer großen Zahl von Experten und Hirten in allen Teilen der Welt“ 2 innerhalb weniger Jahre geschaffenen imponierenden Reformwerks ist weithin aus dem Bewusstsein geschwunden, dass entscheidende Weichenstellungen schon im Vorfeld des Konzils erfolgt sind. Die Liturgiekonstitution konnte, wie Emil Josef Lengeling es ausgedrückt hat, reichlich ernten, was „in den letzten Jahrzehnten unter dem Anhauch des Heiligen Geistes herangereift war“. 3 Vorausgegangen war die Liturgische Bewegung, waren erste, wichtige Reformschritte. Im Kernbereich allen christlichen Gottesdienstes, bei der Jahresfeier des Pascha-Mysteriums von Tod und Auferstehung Christi, war das Entscheiden- [Erstveröffentlichung: Liturgiereform vor dem Konzil. Die Bedeutung Pius’ XII. (1939-1958) für die gottesdienstliche Erneurung, in: LJ 49 (1999) 3-38. Es handelt sich um die geringfügig überarbeitete Fassung des Vortrags, den der Verfasser im Rahmen einer Tagung über Papst Pius XII. an der Katholischen Akademie Schwerte gehalten hat; vgl. A. Heinz, P.-G. Müller, E. J. Nagel, Pius XII. Theologische Linien seines Pontifikates. Hg. von J. Horstmann (Akademie-Vorträge 36), Schwerte 1991, 33-74.] 1 Von den vielen Ausgaben seien nur genannt J. A. Jungmanns kommentierte Ausgabe im Erg. Bd. I des LThK (Freiburg 2 1966) und der Kommentar von E. J. Lengeling in Heft 5/ 6 der Reihe „Lebendiger Gottesdienst“, hg. von H. Rennings, Münster 1964. 2 Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben „Vicesimus quintus annus“ zum 25. Jahrestag der Konzilskonstitution „Sacrosanctum Concilium“ über die heilige Liturgie vom 4. Dezember 1963, Nr. 4; vgl. H. Rennings, Fünfundzwanzig Jahre. Apostolisches Schreiben zur Liturgiereform, in: Gd 23 (1989) 81-83. Die deutsche Übersetzung in der Reihe: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 89, Bonn 2 1989. 3 Lengeling, Kommentar (wie Anm. 1), 37. Liturgiereform im Umkreis des Vatikanum II 282 de schon im Pontifikat Pius’ XII. geschehen. Die bedeutende Liturgie-Enzyklika dieses Papstes, „Mediator Dei“, vom 20. November 1947 hatte theologisch den Boden bereits bestens bereitet für eine umfassende gottesdienstliche Erneuerung im Geist der authentischen Anliegen der Liturgischen Bewegung. 4 Wie sehr die Konzilsväter sich bewusst waren fortzuführen, was der Vorgänger Johannes’ XXIII. (1958-1963) begonnen hatte, belegt eine vielsagende Zahl: Die Liturgiekonstitution beruft sich nicht weniger als zweiundsiebzigmal auf Äußerungen Pius’ XII. 5 In dem zum 25. Jahrestag der Verabschiedung der Liturgiekonstitution erschienenen Apostolischen Schreiben „Vicesimus quintus annus“ vergaß Johannes Paul II. (1978-2005) nicht, an die bereits von Pius XII. im Vorgriff auf eine geplante umfassendere Liturgiereform getroffenen Entscheidungen zu erinnern. Namentlich werden genannt: Die Neuübersetzung des Psalteriums, um den zum Vollzug des Stundengebets Verpflichteten das Verständnis der Psalmen zu erleichtern, die Milderung des eucharistischen Nüchternheitsgebots, um den Kommunionempfang der Gläubigen zu fördern, der Gebrauch der Volkssprache bei den vom Rituale geordneten liturgischen Feiern und nicht zuletzt die Reform der Ostervigil und der Karwoche. 6 In den folgenden Ausführungen sollen drei Schwerpunkte dieser pianischen Liturgiereform näher in Augenschein genommen werden; zunächst ihr „Glanzstück“: die Wiedergewinnung der Osternacht (1951) und die Erneuerung der ganzen Karwochenliturgie (1955); dann: die zwar noch vorsichtige, aber doch schon deutlich sich abzeichnende Öffnung zu mehr Volkssprachlichkeit im Gottesdienst der lateinischen Kirche; und schließlich: „Mediator Dei“, die „Magna Charta der liturgischen Erneuerung“, wie der Mailänder Erzbischof Montini und spätere Konzilspapst Paul VI. dieses päpstliche Lehrschreiben in seinem vielbeachteten Hirtenbrief „Erziehung zur Liturgie“ zur Fastenzeit 1958 genannt hat. 7 1. Die Erneuerung der Kar- und Osternachtliturgie Der Klosterneuburger Chorherr Pius Parsch (†1954), einer der verdienstvollsten Pioniere der liturgischen Erneuerung im deutschen Sprachgebiet, wagte bereits 1927 die Prognose: „… es wird sicher kommen, daß wieder eine wahre Osternachtfeier am Abend des Karsamstags wie in alter Zeit gehalten wird. Der Samstag wird der stillste Tag des Kirchenjahres sein, der Ruhetag des Herrn … Abends, bei einbrechender Dämmerung, werden sich die Kirchen füllen. Dann wird der Klerus vor das Tor ziehen, aus dem Stein Feuer schlagen …: Das Lumen Christi erschallt, 4 Vgl. Th. Maas-Ewerd, Mediator Dei - vor 50 Jahren ein Signal. Die Liturgie-Enzyklika Papst Pius’ XII. vom 20. November 1947, in: LJ 47 (1997) 129-150. [Joseph Kardinal Ratzinger, 40 Jahre Konstitution über die heilige Liturgie. Rückblick und Vorblick, in: LJ 53 (2003) 209-221.] 5 Vgl. Lengeling, Kommentar (wie Anm. 1), 43f.; zum Vergleich: nur siebenmal beruft sich die Liturgiekonstitution (= SC) auf Äußerungen Pius’ X., bloß achtmal auf Pius’ XI. 6 Johannes Paul II., „Vicesimus quintus annus“ (wie Anm. 2), Nr. 3. 7 Deutsche Übersetzung, in: LJ 8 (1958) 166-178, hier 168. Liturgiereform vor dem Konzil 283 da wird die Kirche immer heller, dann (…) brennen Hunderte von Lichtern in der Kirche“. 8 1.1 Das „Leipziger Experiment“ 1932-1936 Immer zahlreicher und immer dringlicher wurden in den folgenden Jahren die Stimmen, die vor jedem Osterfest von neuem mahnten und baten: „Gebt uns Ostern wieder! “ 9 Die vielen, vor allem jungen Katholiken, die im Geist der Liturgischen Bewegung gelernt hatten, die Liturgie der Kirche mitzuerleben, litten unter dem kümmerlichen, unansehnlichen Rest, der von dem höchsten und einst glanzvollsten aller christlichen Gottesdienste übriggeblieben war. Was sachgerecht nur in der Osternacht seinen Ort hat, wurde einen ganzen Tag zu früh, am Morgen des Karsamstags 10 , in meist gähnend leeren Kirchen vollzogen. Manche ertrugen diesen Unstand nicht länger. Hier und da griffen einzelne Priester zur illegalen Selbsthilfe. Als 1930 eine Priestergemeinschaft vom Oratorium des heiligen Philipp Neri die Liebfrauen-Pfarrei in Leipzig-Lindenau übernahm, war es den dortigen Seelsorgern von der ersten Stunde an darum zu tun, „den Gottesdienst mit der Gemeinde richtig und sinnvoll zu vollziehen und ihn so zu gestalten, daß die Gemeinde sich darin in ihrer Art und Möglichkeit beteiligen und darin das finden konnte, was sie zum Leben brauchte.“ 11 Dieses Bemühen führte dazu, dass in dieser Pilotpfarrei 12 bereits im folgenden Jahr, also bereits Ostern 1932, der Versuch unternommen wurde, „auf eigene 8 P. Parsch, Ostern und unser Volk! , in: BiLi 1926/ 27, 193-196, hier 193; vgl. Th. Maas-Ewerd, Pius Parsch und die Erneuerung der Osterfeier, in: N. Höslinger, Th. Maas-Ewerd (Hg.), Mit sanfter Zähigkeit. Pius Parsch und die biblisch-liturgische Erneuerung, Klosterneuburg 1979, 215-239, hier 216f.; N. Höslinger, Mit Courage und Konsequenz. Der Beitrag von Pius Parsch und des Wiener Kreises zur Liturgischen Bewegung, in: LJ 43 (1993) 48-61. [Pius Parsch, Volksliturgie. Ihr Sinn und Umfang (Pius-Parsch-Studien 1). Hg. von A. Redtenbacher, Würzburg 2004, 454-465; Ders., Das Jahr des Heiles. Neu eingeleitet von H. Buchinger (Pius-Parsch-Studien 7), Würzburg 2008, 215-219] 9 Pius Parsch griff diesen „spontanen Aufschrei der erwachten katholischen Jugend“ aus deren Wochenzeitung „Junge Front“ (III/ 12) in seiner Zeitschrift „Bibel und Liturgie“ auf (1934/ 35, 311f.); vgl. Maas-Ewerd, Osterfeier (wie Anm. 8), 224. 10 Zur Genese dieser Fehlentwicklung vgl. J. A. Jungmann, Die Vorverlegung der Ostervigil seit dem christlichen Altertum, in: LJ 1 (1951) 48-54. [R. Amiet, La Veillée Pascale dans l’église latine. Le rite romain, Paris 1999.] 11 Th. Maas-Ewerd, Die Krise der Liturgischen Bewegung in Deutschland und Österreich. Zu den Auseinandersetzungen um die „liturgische Frage“ in den Jahren 1939 bis 1944 (Studien zur Pastoralliturgie 3), Regensburg 1980, 97, 670; vgl. Th. Gunkel, Pastoralliturgische Erfahrungen einer Leipziger Pfarrgemeinde zwischen 1932 und 1952, in: LJ 3 (1953) 29-40. Theo Gunkel war einer der Mitbegründer des Leipziger Oratoriums; vgl. A. Poschmann, Theo Gunkel - der Gemeindepfarrer des Leipziger Oratoriums, in: LJ 43 (1993) 109-120. [A. Poschmann, Das Leipziger Oratorium. Liturgie als Mitte einer lebendigen Gemeinde (EThSt 81), Leipzig 2001.] 12 Johannes Wagner, der langjährige Leiter des Liturgischen Instituts in Trier würdigte das Leipziger Oratorium als eine „bedeutende Herdstelle der Pastoralliturgie in Deutschland“; vgl. J. Wagner, Liturgisches Referat - Liturgische Kommission - Liturgisches Institut, in: LJ 1 (1951) 8-14, hier 9. Liturgiereform im Umkreis des Vatikanum II 284 Verantwortung“ die Ostervigil am frühen Ostermorgen zu halten. Der zuständige Meißener Bischof Petrus Legge (1882-1951) scheint das von den Gläubigen begeistert aufgenommene Experiment (man zählte 700-800 Teilnehmer und 600- 700 Kommunikanten) stillschweigend toleriert zu haben. Als jedoch für den von den Nationalsozialisten inhaftierten Diözesanbischof sein Berliner Amtsbruder Konrad von Preysing (1880-1950) die Verwaltung des Bistums übernahm, musste der kühne Vorstoß 1936 abgebrochen werden. 13 Der Vorgang zeigt, wie auch der deutsche Episkopat in dieser Frage unterschiedlicher Meinung war. 1.2 Das Anliegen auf der Fuldaer Bischofskonferenz (1940) In ihrer Gesamtheit sahen sich die deutschen und österreichischen Bischöfe anlässlich der Fuldaer Bischofskonferenz im August 1940 mit dem Anliegen konfrontiert. Eine von fast 300 Personen aus dem Raum Augsburg-München unterzeichnete Petition erbat vom Episkopat geeignete Schritte zugunsten einer „Neugestaltung der liturgischen Feier der Oster- und Pfingstvigil“. 14 Das Konferenzprotokoll enthält zu diesem Tagesordnungspunkt eine Stellungnahme, die lediglich den Standpunkt Kardinal Bertrams (1859-1945), des damaligen Vorsitzenden, referiert. Der Breslauer Erzbischof erkannte zwar die Berechtigung des Wunsches an, „in der wahren Osternacht diese Feier zu vollziehen“, hielt aber aus pastoralen Gründen (Überlastung der Seelsorger durch die vielen Osterbeichten und die anstrengenden Gottesdienste der Karwoche; Beanspruchung der Frauen durch häusliche Vorbereitungsarbeiten) in Pfarrkirchen den abendlichen oder nächtlichen Ansatz für inopportun. Man könne Rom höchstens bitten, den Ortsbischöfen zu erlauben, in Kathedral-, Kloster- und Stiftskirchen eine Verlegung der Ostervigil in die Osternacht zu gestatten. 15 Eine Eingabe des Episkopats in Rom erfolgte jedoch nicht. Die in Fulda versammelten deutschen und österreichischen Bischöfe fassten aber auf der gleichen Sitzung einen Beschluss, der auch dem Anliegen der Wiederherstellung der Ostervigil zugute kommen sollte. Angesichts der damals zwischen Gegnern und Befürwortern der Liturgischen Bewegung ausgebrochenen heftigen Kontroverse entschloss sich der Episkopat, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Die Konferenz bestellte zwei Bischöfe zu Referenten in liturgischen 13 Vgl. J. Gülden, Ein Meißener Beitrag zur Restaurierung der Ostervigilfeier, in: H. Fries, U. Valeske (Hg.), Versöhnung. Gestalten - Zeiten - Modelle (FS Manfred Hörhammer), Frankfurt/ Main 1975, 169-180; Gunkel, Pastoraltheologische Erfahrungen (wie Anm. 11), bes. 35. Zu dem Leipziger Experiment auch Maas-Ewerd, Osterfeier (wie Anm. 8), 227f. In der Sache war Bischof Konrad Graf von Preysing durchaus mit den Leipziger Oratorianern der gleichen Meinung, glaubte aber, kein Abweichen von der geltenden Norm dulden zu dürfen; vgl. Maas-Ewerd, Die Krise (wie Anm. 11), 252. 14 Initiatoren der auf dem 6. Juni 1940 datierten Eingabe waren Helene Prinzessin von Isenburg, München, Dr. Michael Höck, München, Fritz Dorn, Augsburg; die weiteren 290 Unterschriften stammten überwiegend von Laien. Der Wortlaut der Petition ist abgedruckt bei Maas- Ewerd, Die Krise (wie Anm. 11), 524, Anm. 20; zum Vorgang Ders., Osterfeier (wie Anm. 8), bes. 229f. 15 Vgl. Maas-Ewerd, Die Krise (wie Anm. 11), 524f.; Ders., Osterfeier (wie Anm. 8), 229f. Liturgiereform vor dem Konzil 285 Fragen: den für die Jugendpastoral zuständigen Mainzer Bischof Albert Stohr (1890-1961) 16 und den Benediktiner Simon Konrad Landersdorfer (1880-1971), Bischof von Passau. 17 Diese beriefen ihrerseits ein Beratergremium aus namhaften Vertretern der Liturgiewissenschaft und Männern der Praxis, unter ihnen Romano Guardini, und den Innsbrucker Jesuitenprofessor Josef Andreas Jungmann. 18 Die so entstandene Liturgische Kommission der Fuldaer Bischofskonferenz betrachtete es von der ersten Stunde an als eine ihrer vordringlichsten Aufgaben, sich für die Wiederherstellung der Ostervigil, ja die Erneuerung der ganzen Karwochenliturgie einzusetzen. 19 1.3 Ein an den Papst herangetragener Wunsch An Papst Pius XII. wurde das Desiderat nach Wiederherstellung der Osternachtfeier direkt herangetragen durch eine vertrauliche Denkschrift der beiden Liturgiebischöfe Simon Konrad Landesdorfer OSB und Albert Stohr. Sie war ausgelöst worden durch die maßlosen Angriffe von Gegnern der Liturgischen Bewegung. Insbesondere hatte das ohne Imprimatur 1941 gedruckte, von seinem Verfasser, dem Trierer Diözesanpriester August Doerner, mit missionarischem Eifer unter 16 Vgl. die biographische Skizze: A. Brück, Art. Stohr, Albert, in: E. Gatz (Hg.), Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785/ 1803 bis 1945. Ein biographisches Lexikon, Berlin 1983, 741-743. 17 Vgl. A. Leidl, Art. Landersdorfer, Simon Konrad, in: Gatz, Die Bischöfe (wie Anm. 16), 429-431. 18 Vgl. dazu bes. den in Anm. 12 genannten Aufsatz von J. Wagner; ferner Maas-Ewerd, Die Krise (wie Anm. 11), 171-196; Ders., Unter „Schutz und Führung“ der Bischöfe. Zur Entstehung der Liturgischen Kommission im Jahre 1940 und zu ihrem Wirken bis 1947, in: LJ 40 (1990) 129-163. Neben den Genannten gehörten dem Gremium an: Th. Bogler OSB als Vertreter der Abtei Maria Laach; Dr. Heinrich Kahlefeld als Vertreter des Oratoriums in Leipzig; Prof. Pius Parsch, Chorherr in Klosterneuburg bei Wien; Generalvikar Dr. Heinrich von Meurers aus Trier und Pfarrer Carl Meier aus der Erzdiözese Freiburg. 1942 wurde auf Betreiben Kardinal Innitzers der Leiter des Wiener Seelsorgeamtes, Dr. Karl Rudolf, als Vertreter der österreichischen Seelsorgsämter zusätzlich in die Kommission berufen. Als Sekretäre der beiden bischöflichen Referenten wirkten mit Prälat Ludwig Wolker (für Bischof A. Stohr) und Abt Dr. Thomas Graf OSB (für Bischof Landesdorfer OSB); vgl. Maas-Ewerd, Die Krise (wie Anm. 11), 186f. Als engster Mitarbeiter von Generalvikar Heinrich von Meurers war Johannes Wagner von der ersten Stunde an mit den Aufgaben der Liturgischen Kommission befasst; vornehmlich war er beteiligt an den Generalvikar von Meurers anvertrauten Vorarbeiten zum deutschen Einheitsrituale; vgl. A. Heinz, Liturgiereform ohne Rom, in: H. Hammans, H. J. Reudenbach, H. Sonnemans (Hg.), Geist und Kirche (Gedenkschrift H. Schauf), Paderborn 1990, 115-163; Ders., Heinrich von Meurers (1888-1953). Ein Leben im Dienst der liturgischen Erneuerung, in: LJ 43 (1993) 94-108. [Beide Aufsätze auch in: A. Heinz, Liturgie und Frömmigkeit. Beiträge zur Gottesdienst- und Frömmigkeitsgeschichte des (Erz-)Bistums Trier und Luxemburgs), Trier 2008, 311-326 und 327-372.] 19 Ein bei der ersten Besprechung über Fragen des „Liturgischen Referates“ am 24. Oktober 1940 in der niederbayerischen Benediktiner-Abtei Schweiklberg bei Vilshofen beratener und beschlossener Aufgabenkatalog nennt als vordringlich anzugehende Fragen u. a.: Die Palmprozession, die Passion, die Trauermetten, die Karfreitagsfeier sowie Zeit und Gestaltung der Ostervigil; vgl. Maas-Ewerd, Die Krise (wie Anm. 11), 185. Liturgiereform im Umkreis des Vatikanum II 286 den Bischöfen, ja bis nach Rom, verbreitete Pamphlet „Sentire cum Ecclesia“ 20 , das der frühere Salzburger Liturgiewissenschaftler Franz Nikolasch als „einen Extremfall an Gehässigkeit und Bösartigkeit gegenüber der Liturgischen Bewegung“ 21 qualifiziert hat, Öl ins Feuer gegossen. Ein höchst ungünstiges Klima für die Arbeit der Liturgischen Kommission war entstanden. Die bischöflichen Referenten glaubten einen drohenden Rückschlag nur noch dadurch verhindern zu können, dass sie den Papst selbst um ein wohlwollendes Wort zugunsten der Anliegen der Liturgischen Bewegung angingen. So kam es zur Denkschrift vom 2. Juni 1942. 22 Sie informierte den hohen Adressaten zunächst über den Sinn und die Arbeitsweise der neugebildeten Liturgischen Kommission der Fuldaer Bischofskonferenz und bat dann um Zustimmung zu den bereits in Angriff genommenen Reformprojekten: Schaffung eines einheitlichen, weitgehend volkssprachlichen Teilrituales für alle deutschen Diözesen und Ausarbeitung von verbindlichen Regeln für die Volksbeteiligung bei der Messfeier. Dann aber wiesen die Bischöfe den Papst auch auf die Ostervigil hin. Der Wunsch nach einer Wiederherstellung sei - so die Bischöfe von Mainz und Pas- 20 A. Doerner, Sentire cum Ecclesia! Ein dringender Aufruf und Weckruf an Priester, Mönchen- Gladbach 1941. Zu Charakter und Inhalt dieses „Dokuments reaktionären Starrsins“ (Maas- Ewerd) sowie zur Person des Verfassers vgl. Maas-Ewerd, Die Krise (wie Anm. 11), 197-242. Doerner war nach seiner Priesterweihe am 23. März 1901 zunächst Kaplan im saarländischen Teil des Bistums Trier, von 1906-1918 Pfarrer in der Hochwaldpfarrei Reinsfeld (Krs. Trier- Saarburg). Auf Anregung und mit Genehmigung des damaligen Trierer Bischofs Michael Felix Korum (1840-1921) gründete Doerner am 8. Dezember 1913 das „Apostolat der Priester- und Ordensberufe“ zur Weckung und Förderung geistlicher Berufe. 1918 vom Bischof für die Aufgaben des „Apostolats“ freigestellt, gründete Doerner 1919 die Zeitschrift „Quatemberbote für das katholische Volk“ und richtete 1920 auf der „Rosenburg“ bei Bonn eine Schule ein, die ältere Schüler für die Prima des Gymnasiums vorbereiten sollte, damit sie auf diesem Weg zum Theologiestudium kommen konnten. Anstelle der 1939 von den nationalsozialistischen Machthabern konfiszierten „Rosenburg“ konnte 1945 in Burg Lantershofen (bei Bad Neuenahr) eine „Vorbereitungsschule“ eröffnet werden. Seit 1972 ist auf Burg Lantershofen eine vom „Apostolat der Priester und Ordensberufe“ getragene, sich gut entwickelnde Ausbildungsstätte entstanden, das „Studienhaus St. Lambert“, das unverheiratete Männer ohne Abitur für den hauptamtlichen Diakonat, de facto aber in der Regel auch auf die Priesterweihe vorbereitet; vgl. G. Adriányi, Apostolat der Priester- und Ordensberufe. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Katholizismus im 20. Jahrhundert, Köln-Wien 1979. 21 F. Nikolasch, August Doerners „Sentire cum Ecclesia“ und die Liturgische Bewegung, in: E. Weinzierl (Hg.), Der Modernismus. Beiträge zu seiner Erforschung, Graz-Wien-Köln 1974, 303-327, hier 324. Wohlwollender urteilt Adriányi; vgl. Adriányi, Apostolat (wie Anm. 20), 95-114; die in Form eines umfangreichen Anhangs von Adriányi publizierten Dokumente (290-438) illustrieren das zwiespältige Echo, das Doerners Buch auslöste. In Rom erfolgte die Verbreitung des Buches über Doerners Gewährsmann, Pater Peter Krämer OSC. Über 50 Exemplare gelangten als Diplomatengepäck im November 1941 in die Ewige Stadt, vgl. Adriányi (wie Anm. 20), 106. Das von Kardinal-Staatssekretär Maglione unterzeichnete, im Namen des Papstes dem Verfasser am 3. Dezember 1941 zugesandte Dankschreiben für das Pius XII. dedizierte Exemplar nimmt zum Inhalt des Buches keine Stellung und kann insofern nicht als „Imprimatur von höchster Stelle“ gewertet werden. Der Text des Schreibens der „Segreteria di Stato“ bei Adriányi, Apostolat (wie Anm. 20), 342. 22 Der Text bei Maas-Ewerd, Die Krise (wie Anm. 11), 527-532; zu Anlass, Anliegen und Inhalt vgl. ebd., 244-253. Liturgiereform vor dem Konzil 287 sau - lebhafter geworden, seit Pius XII. 1940 „unter dem Druck der Kriegsnotwendigkeit“ das eucharistische Nüchternheitsgebot erleichtert 23 und Abendmessen gestattet hatte. 24 Außerdem hatte Rom rechtzeitig vor Weihnachten 1940 erstmals erlaubt, die Christmette schon am Heiligen Abend zu feiern. 25 Nach diesen allgemein begrüßten Gewährungen, so die Denkschrift der beiden Bischöfe, sei „in weiten Kreisen der liturgisch interessierten katholischen Welt wieder die Hoffnung aufgelebt, daß die liturgische Feier des Karsamstags wieder dorthin verlegt werde, wo sie sinngemäß hingehört …“. Die Enttäuschung über die Zurückhaltung der deutschen Bischöfe in dieser Sache sei sehr groß. 26 Die mangelnde Unterstützung durch den Episkopat mag der Grund gewesen sein, dass die Denkschrift - ganz auf der Linie von Kardinal Bertram - äußerst vorsichtig nur anregte, die Verlegung der Ostervigil möge wenigstens in Dom- und Klosterkirchen, sowie einigen weiteren, „die einen zahlreichen Klerus aufweisen“, gestattet werden. Bischof Landersdorfer von Passau hatte vor, dem Papst bei dieser Gelegenheit schon weitergehende Reformvorschläge zu unterbreiten (Ansatz der Abendmahlsmesse des Gründonnerstags am Abend, Zulassung der Gläubigen zur Karfreitagskommunion und Verlegung der Ostervigil in die Osternacht ohne Einschränkung). Doch sein Mainzer Amtsbruder zögerte, diese Wünsche mitzutragen. 27 Pius XII. antwortete am 25. Juli 1942 äußerst wohlwollend. 28 Er versprach weitherziges Entgegenkommen, vermied aber jede direkte Antwort auf die vorgebrachten Reformwünsche. Insbesondere ging der Papst mit keinem Wort auf die Osternacht-Frage ein. Doch konnte es die Bittsteller durchaus hoffnungsvoll stimmen, dass der Papst abschließend den Bischöfen Landersdorfer und Stohr versicherte: die aufgeworfenen Fragen würden „von den zuständigen Organen des Heiligen Stuhles mit aller Gründlichkeit durchberaten und es werden Euch sobald wie möglich klar umschriebene Weisungen zugeleitet werden“. 29 23 Vgl. A. Bugnini, De ieiunio eucharistico, in: EL 58/ 60 (1944/ 46) II, 64-69, hier 65f. Eine generelle Neuordnung erfolgte durch die Apostolische Konstitution „Christus Dominus“ vom 6.1.1953 (AAS 45. 1953, 15-24); das Motu proprio „Sacram Communionem“ vom 19.3.1957 (AAS 49, 1957, 117f.) vereinfachte die Gesetzgebung; vgl. Über die eucharistische Nüchternheit, in: LJ 7 (1957) 246-249. Papst Paul VI. gestattet am 12. November 1964 die jetzt gültige Reduktion der eucharistischen Nüchternheit auf nur mehr eine Stunde vor dem Kommunionempfang; vgl. AAS 57 (1965) 186; so auch CIC 1983 (c. 919). 24 Die entsprechende Erlaubnis erfolgte durch Reskript der Sakramentenkongregation vom 16.9.1941 und wurde erweitert durch Reskript des gleichen Dikasteriums vom 15. Juli 1942; vgl. Maas-Ewerd, Die Krise (wie Anm. 11), 252 Anm. 60. Die in Anm. 23 genannten päpstlichen Verlautbarungen gestatteten die Feier von Abendmessen zunächst an bestimmten Tagen, dann ab 1957, allgemein; vgl. G. van Oost OSB, Art. Avondmis, in: LitWo, hg. von L. Brinkhoff OFM. u. a., Roermond en Maaseik 1958, 204-206; Th. Schnitzler, Ein Laie für die Abendmesse. Ein Kapitelchen Kirchengeschichte 1940-1964: HlD 25 (1971) 146-149; F. Kohlschein, Art. AbendmesseI, in: LThK 1 (Freiburg 3 1993), 40. 25 AAS 32 (1940) 529f. 26 Vgl. Maas-Ewerd, Die Krise (wie Anm. 11), 531f. 27 Vgl. ebd. 28 Den Text des Papstbriefes hat Th. Maas-Ewerd (Die Krise [wie Anm. 11], 533-535) erstmals veröffentlicht; vgl. auch dessen Kommentierung ebd., 253-259. 29 Ebd., 535. Liturgiereform im Umkreis des Vatikanum II 288 1.4 Rom gegen jedes Vorgehen via facti Die Angelegenheit wurde zu diesem Zeitpunkt von einer aus Kardinälen der Ritenkongregation und der Kongregation für Außerordentliche Kirchliche Angelegenheiten zusammengesetzten Kommission, die generell die Vorgänge um die Liturgische Bewegung in Deutschland prüfen sollte, beraten. Die von Pius XII. bestätigten Weisungen dieser gemischten Kardinalskommission, die der Nuntius, Cesare Orsenigo (1873-1946), Kardinal Bertram zur Weiterleitung an alle Mitglieder der Fuldaer Bischofskonferenz am 11. Januar 1943 zustellte, waren schärfer und härter ausgefallen, als nach dem wohlwollenden Brief des Papstes zu erwarten war. 30 Von ernster Besorgnis war die Rede wegen „Irrwegen und Entstellungen“ unter den Anhängern der Liturgischen Bewegung; besonders erregte die „Einführung gewisser liturgischer Neuerungen via facti …“ Anstoß. Ein solches eigenmächtiges Vorgehen untergrabe die kirchliche Disziplin. Manche Neuheiten bedeuteten sogar eine Gefahr für die Integrität des Glaubens. Andererseits erkannte die Kardinalskommission aber durchaus „das Gute, das die Liturgische Bewegung enthält“, an. Von den Bischöfen erwartete Rom ein entschiedenes Einschreiten gegen „bedauerliche Abirrungen“, aber auch Förderungen der gesunden Ziele der Bewegung. Ganz im Sinn des Papstbriefes vom 25. Juli 1942 signalisierte das römische Schreiben Kompromissbereitschaft im Bereich des Rituales. Konkret bedeutete dies, dass Rom einer ausgedehnteren Verwendung der deutschen Sprache bei der Feier der Sakramente und Sakramentalien zugestimmt hätte, falls der „gesamte deutsche Episkopat“ ein entsprechendes Privileg beantragt hätte. Die Frage der Ostervigil blieb unerwähnt. Doch dürfte die Warnung vor eigenmächtigem Vorgehen auch Experimente auf diesem Sektor im Auge gehabt haben. 1.5 Das Trierer Experiment: Osterfeier am Ostermorgen Theodor Maas-Ewerd, dem wir eine minutiöse Chronik der Krise der Liturgischen Bewegung in den Jahren 1939-1944 verdanken, hat geglaubt, den in der römischen Antwort versteckt enthaltenen Vorwurf, Förderer der Liturgischen Bewegung stellten durch unerlaubte Experimente die zuständigen höheren kirchlichen Instanzen vor vollendete Tatsachen 31 , als „in keiner Weise gerechtfertigt“ zurückweisen zu müssen. 32 Tatsächlich wussten die Kardinäle, wovon sie sprachen. Zwar hatten die Leipziger Oratorianer 1936 schweren Herzens ihr Experiment einer Osternachtfeier in der Frühe des Ostermorgens abbrechen müssen. 33 Pius Parsch, der mit seiner Personalgemeinde St. Gertrud in Klosterneuburg bei Wien seit 1929 Jahr für Jahr die Ostervigil zur verbotenen Zeit feierte, verhüllte sein Tun - nach eigenen Worten - sorgfältig „mit dem Schleier der Nacht“. 34 Doch ein 30 Der Text des römischen Schreibens samt den einleitenden und abschließenden Zusätzen von Kardinal Bertram, wie es am 15. Januar von Breslau aus an alle Bischöfe „Großdeutschlands“ versandt wurde, ist publiziert bei Maas-Ewerd, Die Krise (wie Anm. 11), 536-539. 31 Vgl. ebd., 538. 32 Vgl. ebd., 288f. 33 Vgl. oben Anm. 11. 34 Vgl. Maas-Ewerd, Osterfeier (wie Anm. 8), 220. Liturgiereform vor dem Konzil 289 qualifizierter Fall von Vorgehen via facti ist der liturgiegeschichtlichen Forschung bisher unbekannt geblieben. Er dürfte seinerzeit aber in Rom bekannt geworden sein und für erhebliche Verstimmung gesorgt haben. In Trier hatte es ein Vorpreschen in dieser Sache gegeben. An Ostern 1941 hatte die Innenstadtpfarrei Liebfrauen-St. Laurentius in der unmittelbar neben dem Dom gelegenen Liebfrauenbasilika die Ostervigil erstmals in der Frühe des Ostermorgens gefeiert. 35 Das für die Teilnehmer eigens gedruckte Textheft 36 lässt erkennen, dass die Feier durchgehend, mit Ausnahme der als Deutsches Hochamt 37 gehaltenen Ostermesse, in deutscher Sprache stattfand. 38 Außerdem waren bereits Anpassungen an die Bedürfnisse der Gemeinde vorgenommen worden, die offiziell erst ein Jahrzehnt später gestattet wurden. So hatte man etwa die zwölf Prophetien auf bloß vier Lesungen gekürzt. 39 35 Ein hektographiertes Exemplar der „Gottesdienstordnung der Liebfrauenkirche“ für die Kar- und Osterwoche 1941, für das der damalige Pfarrer Nikolaus Jonas verantwortlich zeichnet, fand sich im ersten Band der von Generalvikar Heinrich von Meurers geführten „Chronik des Bistums Trier“ (BATr Abt. 105, Nr. 2653, 193b). Die Ankündigung der Osternachtfeier lautet: „Ostersonntag: 5 Uhr deutsche Auferstehungsfeier. Kurz vorher Feuerweihe. Dann Lichtweihe, Taufwasserweihe. Beginn der hl. Messe gegen 6.30. Wir laden alle Gläubigen herzlich dazu ein. Es werden eigens Texte ausgegeben.“ [A. Heinz, Volksliturgische Kargottesdienste und deutsche Ostervigil am Ostermorgen. Ein umstrittener Reformversuch in Trier 10 Jahre vor der Wiederherstellung der Osternacht durch Papst Pius XII., in: Ders., Liturgie und Frömmigkeit (wie Anm. 18), 395-427.] 36 Vierseitig bedrucktes, in der Paulinus-Druckerei Trier hergestelltes Faltblatt; ein Exemplar als Anlage zur Bistumschronik (wie Anm. 35), in: BATr Abt. 105, Nr. 2653, 193c. 37 Das Textheft verweist auf die deutschen Gesänge des Kyrie (Herr, erbarme dich), des Gloria (Ehre sei Gott in der Höhe), des Sanctus (Dreimal heilig) der in der Pfarrei eingeführten „Gemeindesingmesse“. Nach der Lesung wurde das „Osteralleluja“ mit deutschen Psalmversen im Wechsel zwischen Vorsänger und Gemeinde gesungen, nach der Kommunion die erste Ostervesper in deutscher Sprache und als Schlusslied „Christ ist erstanden“. Zur Form des „Deutschen Hochamts“ allgemein: J. Wagner, Die Gestaltung des deutschen Hochamts, in: F. X. Arnold, Balth. Fischer, Die Messe in der Glaubensverkündigung, Freiburg i. Br. 1950, 321-328; Balth. Fischer, Das „Deutsche Hochamt“, in: LJ 3 (1953) 41-53; E. J. Lengeling, Das Deutsche Hochamt und der Heilige Stuhl, in: LJ 9 (1959) 220-243; zusammenfassend über die Bemühungen der Liturgischen Bewegung um deutschen Volksgesang während der Messfeier: Ph. Harnoncourt, Gesamtkirchliche und teilkirchliche Liturgie. Studien zum liturgischen Heiligenkalender und zum Gesang im Gottesdienst unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Sprachgebiets (Untersuchungen zur praktischen Theologie 3), Freiburg i. Br. 1974, 358-366. 38 Das Gemeindeheft (wie Anm. 36) bietet die Wechselrufe zum Exsultet und zur Taufwasserweihe in deutscher Sprache: „Pr.: Der Herr sei mit euch! Gemeinde: Und auch mit dir! Pr.: Erhebet eure Herzen! Gem.: Wir haben sie beim Herrn. Pr.: Lasset uns danken dem Herrn, unserem Gott. Gem.: So ist es würdig und recht.“ Das Exsultet und das Taufwasserweihegebet wurden deutsch gesungen, ebenso der Tractus „Sicut cervus“ („Wie der Hirsch verlangt nach frischem Quell“) sowie die Allerheiligenlitanei. 39 Vorgetragen wurden: „Die Erschaffung der Welt“ (Gen 1,1-31; 2,1-2 = 1. Prophetie); „Der Zug durch das Rote Meer“ (Ex 14,24-31; 15,1 = 4. Prophetie); „Das Totenfeld“ (Ez 37,1-14 = 7. Prophetie); „Die drei Jünglinge im Feuerofen“ (Dan 3,1-24 = 12. Prophetie). Auch die durch das Dekret „De solemni vigilia Paschali instauranda“ vom 9. Februar 1951 wiederhergestellte Ostervigil sah die Beschränkung auf vier Lesungen vor, wobei jedoch teilweise eine andere Auswahl getroffen wurde: Is 4,1-6 (= 8. Prophetie) als 3. Lesung und Deut 31,22-30 (= 11. Prophetie) als 4. Lesung. Besonders die 3. Lesung wurde als weniger passend empfun- Liturgiereform im Umkreis des Vatikanum II 290 Die Vorbereitung dieser aufsehenerregenden und im trierischen Klerus höchst umstrittenen Osternachtfeier lag hauptsächlich in den Händen von Johannes Wagner, dem engsten Mitarbeiter des Trierer Generalvikars Heinrich von Meurers. 40 Das Experiment fand unter den Augen des Bischofs statt (der Bischofshof liegt unmittelbar neben der Liebfrauenbasilika); der Generalvikar deckte es. In der von ihm geführten Bistumschronik bemerkte Generalvikar Heinrich von Meurers zu dem gewagten Schritt: In Kreisen älterer Geistlicher sei der Versuch zwar zum Teil scharf abgelehnt worden. Es sei auch dies wohl der erste derartige Vorstoß im Bistum Trier gewesen. „Ich hoffe aber“, so der Chronist wörtlich, „daß es ein guter Anfang ist und daß die Sache sich durchsetzen wird. Die Feier soll sehr schön verlaufen sein.“ 41 Der dies schrieb war nach den beiden Liturgiebischöfen Landersdorfer und Stohr das ranghöchste Mitglied der Liturgiekommission der Fuldaer Bischofskonferenz. So wird nicht allein das eigenmächtige Vorgehen des Pfarrers, sondern mehr noch die Duldung des Experiments durch den Generalvikar und die aktive Mithilfe seines Sekretärs Verärgerung und Argwohn in Rom hervorgerufen haben. Obwohl Rom über den Nuntius die deutschen Bischöfe in der Folgezeit mehrfach aufforderte, eigenmächtige Neuerungen jedweder Art zu unterbinden 42 und Kardinal Bertram dies auch im Namen seiner Amtsbrüder zusagte 43 , fuhr die Trierer den und in ersten Reaktionen auf die erneuerte Osternachtfeier fast allgemein ihr Ersatz durch Ez 37,1-14 angeregt; vgl. J. Wagner, In sanctissima nocte paschali, in: LJ 2 (1952) 140-158, hier 154. Die ebenfalls als schwer erschließbar empfundene 4. Lesung sollte, so regte J. Wagner an, durch eine neutestamentliche ersetzt werden, „sei es eine Brief- oder eine Evangelienperikope“ (ebd.). Die nachvatikanische Reform hat diese Anregung verwirklicht: Als letzte Lesung wird Röm 6,3-11 gelesen. 40 Vgl. oben Anm. 18. [A. Heinz, Johannes Wagner zum Gedenken mit der Bibliographie seiner Schriften, in: LJ 50 (2000) 1-19.] 41 BATr Abt. 105, Nr. 2653, 193. 42 Am 10. Juni 1943 ließ Kardinal-Staatssekretär Maglione durch den päpstlichen Nuntius Kardinal Bertram und über diesen den Mitgliedern der Fuldaer Bischofskonferenz mitteilen: „Der Heilige Stuhl hat mit besonderer Genugtuung davon Kenntnis genommen, daß Eure Eminenz in dem an den Episkopat Deutschlands gerichteten Rundschreiben vom 15. Januar d.Js. in deutlicher Weise vor der eigenmächtigen Einführung von liturgischen Neuerungen gewarnt haben. Das eigenmächtige Vorgehen auf liturgischem Gebiete ist ja in der Tat ausdrücklich durch die Canones 1257 und 1261 des Codex Jur. Can. ausgeschlossen.“ Des weiteren erhebt das Schreiben des Staatssekretärs Einspruch dagegen, „daß immer noch derartige Neuerungen weiter geübt, in letzter Zeit auch noch andere eingeführt werden“; es werde dem Klerus sogar die Einführung von Neuerungen zur Pflicht gemacht, insofern nicht vom Apostolischen Stuhl approbierte Diözesanritualien vorgeschrieben würden; vgl. Maas-Ewerd, Die Krise (wie Anm. 11), 676, 678f. Eigenmächtigkeiten im Bereich des Rituale monierte auch ein Brief des Nuntius an Bischof Stohr vom 23. März 1943; vgl. ebd., Anm. 5; vgl. auch meine in Anm. 18 angeführten Aufsätze. 43 In einer am 14. September 1943 an Kardinal Maglione gerichteten Eingabe hatte der Breslauer Erzbischof, allerdings ohne vorherige Konsultation der übrigen Diözesanbischöfe, mitgeteilt: „Omnium Ordinariorum mens et voluntas est, ut non tolerentur in liturgia, in ritibus, in usu linguae, in tempore ritualium actionum, in usu librorum praescriptorum vel admissorum a Sancta Sede mutationes ex arbitratu proprio sacerdotum provenientes. Ideo prohibuimus liturgicas actiones tempore matutino in Sancta Hebdomada agendas transferri in horas vespertinas; prohibuimus …“; Maas-Ewerd, Die Krise (wie Anm. 11), 689. Kardinal Bertram hatte Liturgiereform vor dem Konzil 291 Pfarrgemeinde Liebfrauen fort, die Ostervigil in deutscher Sprache, in der Morgenfrühe des Ostertages, zu feiern, bis sie es von 1951 an auch legal tun durfte. 44 Die Verantwortlichen für den Trierer Vorstoß von 1941 dürften sich von den gleichen Überlegungen haben leiten lassen, die Pius Parsch ein Jahr zuvor in einem Artikel seiner Zeitschrift „Bibel und Liturgie“ geäußert hatte. 45 Ausgehend von der Feststellung, dass die Bischöfe in der Frage der Verlegung der Osternacht sich unterschiedlich verhielten („Es gibt Bischöfe, welche, ohne gefragt werden zu wollen, die Sache geschehen lassen. Andere wieder verbieten es.“), erinnert der Verfasser daran, dass die unbefriedigende Praxis der vorverlegten Ostervigil sich „ohne Gesetz, durch bloße Gewohnheit“ herausgebildet habe. „So könnte man durch die Gewohnheit wieder den entgegengesetzten Weg zurückkehren.“ Mancher Seelsorger wird da eine stille Aufforderung herausgehört haben, sich an diesem Umkehrprozess zu beteiligen und selbst zur Herausbildung einer sachgerechteren Gewohnheit beizutragen. Wer daraufhin via facti vorging, konnte sich als Pionier einer gesünderen Praxis von morgen verstehen. In diesem Sinne wird man auch den Kommentar des Trierer Generalvikars zu dem Experiment der Trierer Innenstadtpfarrei Liebfrauen-St. Laurentius deuten dürfen. 46 Heinrich von Meurers hoffte, dass aus dem Einzelfall ohne viel Aufhebens eine Gewohnheit werden würde. 1.6 Kardinal Bertrams Bericht vom 11. Januar 1943 Rückblickend wird man jedoch sagen müssen: Eigenmächtiges Vorgehen dieser Art wirkte sich - entgegen den sicher ehrenhaften Absichten der Initiatoren - eher störend als fördernd auf die angestrebten liturgischen Reformen aus. Als auf die Dauer erfolgreicher sollte sich der Weg einer vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen dem Episkopat und den zuständigen römischen Stellen erweisen. Kardinal Bertram ging diesen Weg. Er machte sich in seinem Antwortschreiben auf das römische Reskript vom 11. Januar 1943 47 zum Interpreten der Wünsche vieler. Im damit Rom gegenüber versichert, auch die Verlegung der Ostervigil sei von den deutschen Bischöfen verboten worden, eine durch die Tatsachen nicht völlig gedeckte Behauptung. 44 So die am 1. Juni 1989 dem Verfasser gegebene telefonische Auskunft von Domkapitular Prälat Nikolaus Jonas, dem ehemaligen Pfarrer von Trier-Liebfrauen und St. Laurentius; vgl. die biographischen Daten in: Handbuch des Bistums Trier III, hg. und verlegt vom Bischöflichen Generalvikariat, Trier 221991, 486. [A. Heinz, 200 Jahre Pfarrgottesdienst in Liebfrauen-St. Laurentius, in: 200 Jahre Pfarrei Liebfrauen in Trier, hg. von H. Brubach und M. Persch, Trier 2003, 87-119.] 45 Wie sie die Karwoche hielten, in: BiLi 1939/ 40, 70-76, hier 76. 46 Vgl. oben. Anm. 41. 47 De „Actione Liturgica“ in Dioecesibus Germaniae. Bericht des Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz an Papst Pius XII. vom 10. April 1943; Text bei Maas-Ewerd, Die Krise (wie Anm. 11), 634-646, hier 644f.; dazu dessen Kommentierung ebd., 434-443, bes. 441f. Kardinal Bertram nimmt an dieser Stelle seines Berichtes offensichtlich eine Anregung des Mainzer Bischofs Albert Stohr auf, der in seiner umfangreichen Antwort auf das Rundschreiben des Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz vom 15. Januar 1943 geschrieben hatte: „Seit langem geht das Sehnen vieler bester Christen dahin, daß die Osternacht wieder in alter Form der Christenheit geschenkt werden möge … Heute sind es verschwindend wenige, die Liturgiereform im Umkreis des Vatikanum II 292 achten Punkt seines Berichtes über die Liturgische Bewegung in den deutschen Diözesen kommt der Breslauer Erzbischof auf die Liturgie der „Heiligen Woche“ zu sprechen. Mit großer Freude, so versichert er dem Papst, sei das Indult vom 1. Dezember 1940, die Christmette schon am Heiligen Abend feiern zu dürfen, von den Gläubigen aufgenommen worden. Diese Gewährung habe in mehreren Diözesen den Wunsch ausgelöst, auch die Abendmahlsmesse am Gründonnerstag und die Karsamstagsliturgie sollten in die Abendstunden verlegt werden dürfen. Beim morgendlichen Ansatz sei eine Volksbeteiligung kaum zu erreichen. Freilich, so betont der Kardinal abschließend, überließen die deutschen Bischöfe es ganz dem weisen Urteil des Papstes darüber zu befinden, ob eine solche Verlegung opportun sei. 1.7 Rom ergreift die Initiative Es gibt Anzeichen dafür, dass der Papst bereits zu diesem Zeitpunkt daran dachte, die von seinem Vorgänger Pius X. (1903-1914) eingeleitete, aber unvollendet gebliebene Liturgiereform 48 wieder aufzunehmen. 49 Im Auftrag des Papstes hatte das päpstliche Bibelinstitut unter seinem Rektor, dem späteren Kardinal Augustin Bea, im Januar 1941 mit der Arbeit an einer leichter verständlichen, dem Urtext daran teilnehmen können. Die Parallele mit der mitternächtlichen Feier an Weihnachten legt sich ohne weiteres nahe. Die Feier könnte entweder am Karsamstagabend oder am frühen Ostermorgen stattfinden und dann die wenig stilvollen ‚Auferstehungsfeiern‘ ersetzen.“ Bezüglich der Verlegung der Gründonnerstagsmesse hatte Bischof Stohr bemerkt: „Die während des Krieges vom Heiligen Stuhl freigebig gewährten Abendmessen haben gerade bezüglich des Gründonnerstags das Verlangen geweckt, zu abendlicher Stunde das heilige Opfer feiern zu dürfen, zumal die Einsetzung der hl. Eucharistie und das Ölbergleiden des Herrn sich in abendlicher Stunde vollzog. Es wäre auch hier zu hoffen, daß auf diese Weise eine stärkere Beteiligung des Volkes sich erreichen ließe.“ Text zitiert nach Maas-Ewerd, Die Krise (wie Anm. 11), 589, 590. Erzbischof Conrad Gröber sprach sich demgegenüber entschieden gegen eine Verlegung der Gründonnerstagsmesse und der Karsamstagsliturgie in die Abendstunden aus. Seine Ablehnung begründete er in einem Schreiben an den Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz vom 21. April 1943 mit dem Hinweis auf die Belastung des Klerus durch das Beichthören und „Bination und Festpredigt“ am Ostertag. Abschließend fragt Gröber ironisch: „Soll vielleicht die Verlegung ein bischöflicher Dank an die Leipziger Oratorianer sein, an diese wackeren liturgischen Recken und Ritter, die mit dem ‚guten Beispiel‘ vorangegangen sind und von ihrem trefflichen Bischof in Reih und Glied gerufen werden mußten? “ Zitiert nach Maas-Ewerd, Die Krise (wie Anm. 11), 659. Zu dem Leipziger Experiment vgl. oben Abschnitt 1.1. 48 Vgl. R. Aubert, Eucharistische Dekrete und liturgische Erneuerung, in: H. Jedin (Hg.), Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. VI/ 2, Freiburg-Basel-Wien 1973, 416-426. 49 Ein Konzept „allgemeiner Richtlinien“ für eine Reform der Liturgie mit dem Datum des Lichtmesstages (2. Februar) 1942 fand sich im Nachlass des Konsultors der Ritenkongregation, P. Pius Alfonzo OSB, Liturgieprofessor an der päpstlichen Hochschule Propaganda Fide. Annibale Bugnini, der spätere Sekretär der Gottesdienstkongregation, wertete diesen für die Beratungen der „Mittwochskommission“ der Ritenkongregation gefertigten Entwurf als Beleg dafür, dass Pius XII. schon zu diesem Zeitpunkt an die Wiederaufnhame der unvollendet gebliebenen Reform Pius’ X. dachte; vgl. A. Bugnini, Die Liturgiereform 1948-1975. Zeugnis und Testament. Deutsche Ausgabe, hg. v. J. Wagner unter Mitarbeit von F. Raas, Freiburg-Basel-Wien 1988, 27. Liturgiereform vor dem Konzil 293 entsprechenden lateinischen Psalmenübersetzung begonnen. Sie wurde 1945 für den liturgischen Gebrauch eingeführt. 50 Dass dies nur das Teilstück einer umfassenderen Reform sein sollte, zeigte sich, als der Papst am 10. Mai des folgenden Jahres den Präfekten der Ritenkongregation, Kardinal Salotti, beauftragte, die Möglichkeiten einer generellen Liturgiereform zu prüfen. 51 Das war die Geburtsstunde der nach dem Erscheinen der Liturgie-Enzyklika „Mediator Dei“ am 22. Juni 1948 offiziell errichteten sogenannten „Pius-Kommission“. 52 Sie erarbeitete ein umfassendes Reformkonzept, das als „Memoria sulla Riforma liturgica“ zum internen Gebrauch gedruckt, den nachfolgenden Reformschritten zugrunde lag. 53 Über die Existenz dieser Arbeitsgruppe wurde absolutes Stillschweigen gewahrt. So waren selbst nicht eingeweihte Mitglieder der Ritenkongregation überrascht, als mit Dekret vom 9. Februar 1951 Pius XII. endlich gewährte, was noch einmal der Erste Deutsche Liturgische Kongress in Frankfurt/ M. wenige Monate zuvor stürmisch erbeten hatte: Der deutsche Episkopat möge den Heiligen Vater ersuchen, „daß die Liturgie des Karsamstags vom Morgen auf den Abend verlegt wird“. 54 50 Das Motu Proprio „In cotidianis precibus“ vom 25. März 1945, in: AAS 37 (1945) 65-67 gab den Gebrauch des „Psalterium Pianum“ für das Stundengebet frei. Die Arbeit des Bibelinstituts war im August 1944 abgeschlossen worden. Pius XII. hatte bereits kurz nach seiner Wahl (1939) den Entschluss gefasst, eine neue Psalmenübersetzung anfertigen zu lassen, „damit der Klerus die Schönheiten des täglichen liturgischen Gebetes besser verstehe und auskoste“; Domenico Kardinal Tardini, Pius XII. als Oberhirte, Priester und Mensch, Freiburg-Basel-Wien 31963, 65; ferner A. Bea, Die neue lateinische Psalmenübersetzung. Ihr Werden und ihr Geist, Freiburg i. Br. 1948; A. Allgeier, Die neue Psalmenübersetzung, Freiburg 1949; M. J. Berberich, Psalterium novum. Brevierhilfe, Stuttgart 1949. Im deutschen Sprachgebiet war der Wunsch nach einer Revision des lateinischen Psalmentextes seitens der Bischöfe seit 1943 mehrfach an den Heiligen Stuhl herangetragen worden; vgl. Maas-Ewerd, Die Krise (wie Anm. 11), 403. 416. 422. 441. 466. 585f. 619. 643. 654. 672. 51 Vgl. Bugnini (wie Anm. 49), 27, Anm. 5; J. Wagner, Liturgiereform - Irrweg oder Notwendigkeit? Wie es zur Meßreform kam, in: P. Stockmeier (Hg.), Konflikt in der Kirche. Droht eine Kirchenspaltung? (Schriften der Kath. Akademie in Bayern 78), Düsseldorf 1977, 28-46, hier 29. 52 Die Bezeichnung benutzt Bugnini (wie Anm. 49), 27-30; zur personellen Zusammensetzung vgl. Th. Maas-Ewerd, Ein kühner Schritt auf dem Weg zur Liturgiereform, in: HlD 42 (1988) 129-144, hier 135, Anm. 22. 53 Die Ausarbeitung der Denkschrift lag in den Händen des österreichischen Redemptoristen P. Josef Löw (1893-1962), dem damaligen Vizerelator der Historischen Sektion der Ritenkongregation; vgl. den Nachruf mit einem Verzeichnis von J. Löws Publikationen, in: EL 77 (1963) 39-45. 54 J. Wagner, D. Zähringer (Hg.), Eucharistiefeier am Sonntag. Reden und Verhandlungen des Ersten Deutschen Liturgischen Kongresses (20.-22. Juni 1950 in Frankfurt/ Main), Trier 3 1953, 224; J. Wagner, In sacratissima nocte paschali, in: LJ 2 (1952) 140-158, hier 140; vgl. ferner den Kurzbericht „Liturgische Arbeit“, in: LJ 1 (1951) 162. Als Präsident des Kongresses hatte der Trierer Generalvikar von Meurers diese Resolution eingebracht und von den Teilnehmern durch Akklamation beschließen lassen: vgl. J. Wagner, Heinrich von Meurers zum Gedächtnis, in: LJ 3 (1953) 5-9, hier 8. Der Gedanke an die Wiederherstellung der Osternachtliturgie lässt sich bei Heinrich von Meurers schon erstaunlich früh, während seiner Innsbrucker Studienzeit vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, nachweisen, vgl. A. Heinz, Heinrich von Meurers. Ein Leben im Dienst der liturgischen Erneuerung, in: TThZ 97 (1988) 298-312, hier 309. Liturgiereform im Umkreis des Vatikanum II 294 1.8 Pius XII. - Erneuerer der Liturgie der Heiligen Woche Wenige Monate später erbat auch der französische Episkopat beim Heiligen Stuhl die Verlegung der Karsamstagsliturgie. 55 In Rom war die Bitte schon erhört, noch ehe sie vorgebracht worden war. Da niemand etwas von den dort in der „Pius- Kommission“ geleisteten Vorarbeiten wusste, überraschte die Schnelligkeit der Gewährung. Mehr noch überraschte, dass die Neuordnung nicht nur der Ostervigil ihren richtigen zeitlichen Ansatz wiedergab 56 , sondern auch das traditionelle Text- und Ritengefüge nach pastoralen Gesichtspunkten kritisch überprüft, gekürzt oder auch mit Neuem angereichert hatte. 57 Man denke etwa nur an ein pastoral so bedeutsames Element wie die Erneuerung des Taufversprechens durch die Gesamtgemeinde. 58 Pius Parsch kommentierte: „Vor Ostern 1951 wurden wir durch das Dekret … überrascht, das uns nicht bloß gestattet, die Zeremonien des Karsamstags in der Nacht zu feiern, sondern einen zum Teil ganz neuen Ritus vorlegt. Eines der dringendsten Anliegen der liturgischen Erneuerung ist damit erfüllt. Unsere große Überraschung ist auch diese, daß der neue Ritus der Volksliturgie weitgehendst entgegenkommt und sogar eine eigene Tauferneuerungsfeier in der Landessprache vorsieht.“ 59 Dass die Neuordnung „ad experimentum“ zunächst nur für ein Jahr gelten sollte, und die Erprobungsphase nach der begeisterten Zustimmung aus allen Teilen der katholischen Welt 60 dann auf drei Jahre befristet verlängert wurde, 55 Vgl. J. Wagner, In sanctissima nocte paschali, in: LJ 2 (1952) 140-158, hier 140. 56 Das Dekret nennt als Zeit für den Beginn der Eucharistiefeier der Ostervigil „circa vel post mediam noctem - um oder nach Mitternacht“, räumt aber dem Ortsbischof das Recht ein, die Vorverlegung um einige Stunden zu gestatten. Auf jeden Fall aber darf die Feier erst nach Einbruch der Dunkelheit beginnen. In ersten Stellungnahmen wurde mehrfach angeregt, die Ritenkongregation möge auch den Ansatz in der Frühe des Ostermorgens erlauben; vgl. Balth. Fischer, Osternachtfeier am frühen Ostermorgen. Ein Desideratum zur wiederhergestellten Osterliturgie, in: TThZ 62 (1953) 203-211; S. K. Landersdorfer OSB, Die Erneuerung der Osternacht und die Große Woche, in: LJ 3 (1953) 217-224, hier 220f.; Wagner, In sanctissima (wie Anm. 55), 145. 57 Dazu Balth. Fischer, Die Wiederherstellung der Ostervigil, in: TThZ 60 (1951) 65-69; Wagner, In sanctissima (wie Anm. 55). 58 Zu dieser und anderen Formen des Taufgedächtnisses vgl. Balth. Fischer, Formen gemeinschaftlicher Tauferinnerung im Abendland, in: LJ 9 (1959) 87-94; A. Heinz, Gottesdienstliche Formen des Taufgedächtnisses: Gottes Volk. Bibel und Liturgie in der Gemeinde, Lesejahr C, Heft 5, hg. von H. Ritt, Stuttgart 1989, 113-123. 59 P. Parsch, Volksliturgie. Ihr Sinn und Umfang, Wien 2 1952, 644f. [Neuausgabe 2004 (wie Anm. 8).]; vgl. Maas-Ewerd, Die Osterfeier (wie Anm. 8), 133f. 60 Vgl. etwa die Ausführungen des Bischofs von Passau, Landersdorfer, Erneuerung (wie Anm. 56); vgl. dazu: Th. Maas-Ewerd, Stellungnahme zu einem weltweit „schwebenden Experiment“ in der Römischen Liturgie vor dem Konzil. Der Bericht des Passauer Bischofs Dr. Dr. Simon Konrad Landersdorfer OSB vom 24. Mai 1954 über die Feier der Liturgie der Osternacht in den Jahren 1951-1954, in: Klerusblatt 77 (1997) 53-59. Berichte aus der Schweiz und den Niederlanden, in: LJ 3 (1953) 225-233. Der spätere Sekretär der Gottesdienstkongregation, Erzbischof Annibale Bugnini, spricht in seinen Memoiren (wie Anm. 49) gar von „einem Freudentaumel in der ganzen Kirche“, den die Reform von 1951 hervorgerufen habe (ebd., 30). Liturgiereform vor dem Konzil 295 darf nicht missverstanden werden, als habe man sich eine Tür für den Rückzug offenhalten wollen. Rom befolgte bei diesem vorsichtigen, auch bei den nachvatikanischen Reformen praktizierten Vorgehen erstmals ein pastoral sehr glückliches Verfahren. 61 So konnten Schwächen rechtzeitig erkannt und korrigiert und damit späteren, unnützen Klagen wirksam vorgebeugt werden. Auf ausdrücklichen Wunsch des Papstes begann die Historische Sektion der Ritenkongregation um die Mitte des Jahres 1952 die Reform der übrigen Gottesdienste der Karwoche zielstrebig vorzubereiten. 62 Am 16. November 1955 erschien das Dekret „Maxima redemptionis nostrae mysteria“, wodurch der Gottesdienst der Kirche auf dem Gipfel des liturgischen Jahres jene Gestalt zurückerhielt, die ohne nennenswerte Änderungen in das Gesamtwerk der Reform nach dem Zweiten Vatikanum eingehen konnte. 63 Was da nach jahrhundertelanger, eiszeitähnlicher Erstarrung im Innersten allen christlichen Gottesdienstes aufgebrochen war, wertete ein Mitglied der „Pius-Kommission“, der spätere Kardinal Antonelli, als die in der Geschichte der Liturgie „wichtigste Tat seit dem hl. Pius V.“ und als den entscheidenden Durchbruch zur Gesamtreform der Liturgie, die Pius XII. bereits plante. 64 , die dann aber erst „die sichtbarste Frucht“ (Johannes Paul II.) des Zweiten Vatikanischen Konzils werden sollte. Romano Guardini hob die spirituelle Bedeutung dieses Reformschritts im Herzen des Kirchenjahres zu recht hervor: Es sei eine „wahrhaft große Tat“ des Papstes gewesen, als er angeordnet habe, „die Osterfeier könne wieder … in der Nacht begangen werden. Dadurch öffnete sich dem religiösen Leben der Gläubigen eine nicht abzuschätzende Gelegenheit liturgischen Erfahrens und Tuns, dem Seelsorger aber eine große Möglichkeit lebendiger Einwirkung. Davon, ob diese 61 Ausdrückliche Zustimmung zu dieser Vorgehensweise kam nicht zuletzt aus dem deutschen Sprachraum, vgl. Wagner, In sanctissima (wie Anm. 55), 144, 149f. 62 Vgl. H. E. Jung, Die Vorarbeiten zu einer Liturgiereform unter Pius XII., in: LJ 26 (1976) 165-182. 224-240, hier 236f. 63 Das „Generaldekret der Ritenkongregation über die Erneuerung der Liturgie der Heiligen Woche“ und die Instruktion „Über die rechte Durchführung der neuen Ordnung der Heiligen Woche“, in: AAS 47 (1955) 838-447; eine deutsche Übersetzung in dem vom Liturgischen Institut Trier durch J. Wagner und Balth. Fischer hg. Werkbuch: Die Feier der Heiligen Woche, Trier 1956, 9-23; lateinisch-deutsche Ausgabe, in: LJ 5 (1955) 247-260. Die Intentionen der Reform erläuterte der an den Vorarbeiten maßgeblich beteiligte damalige Generalrelator der historischen Sektion der Ritenkongregation, P. Ferdinando Antonelli OFM in einem am 27. November 1955 im „Osservatore Romano“ veröffentlichten Kommentar; vgl. die deutsche Fassung, in: LJ 5 (1955) 199-203; vgl. ferner J. A. Jungmann SJ, Die Reform der Karwochen- und Osterliturgie in pastoraler Sicht: ebd., 204-213. Zusammenfassend über erste Erfahrungen mit der Neuordnung in Deutschland: F. Kolbe, Der Verlauf der Heiligen Woche nach dem Ordo Hebdomandae Sanctae instauratus in den deutschen Bistümern, in: LJ 6 (1956) 163-169; der ganze Vorgang ist gut dokumentiert bei H. Schmidt SJ, Hebdomada Sancta, 2 Bde., Rom- Freiburg-Barcelona 1956. 64 Vgl. Antonellis Referat auf dem Ersten Internationalen Pastoralliturgischen Kongress in Assisi, in: La Restaurazione Liturgica nell’ opera di Pio XII. Atti del Primo Congresso Internazionale di Liturgia pastorale, Assisi-Roma 18-22 Settembre 1956. Genova 1957, 167-197; deutsche Fassung in: J. Wagner (Hg.), Erneuerung der Liturgie aus dem Geiste der Seelsorge unter dem Pontifikat Papst Pius XII., Trier 1957, 231-255, hier 232. Liturgiereform im Umkreis des Vatikanum II 296 Möglichkeit mit richtigem Verständnis und wirklicher Hingabe ausgenützt wird, kann viel abhängen. Die Osterfeier rührt an die innersten Elemente des christlichen Daseins. In ihr kann der Gläubige sich immer aufs neue vergewissern, was er ist: von Gott Gerufener; vom Mensch gewordenen ewigen Sohne Erlöster; zu heiligem Leben Wiedergeborener; Glied der großen Gemeinschaft, die alle dem ausgesetzt ist, was ihr Meister erlitten hat, und dennoch in ihrem Kern, von keiner Feindschaft zerstört, wie Er (Joh 15,18ff.; Mt 16,18).“ 65 Man wird gut fünf Jahrzehnte nach der pianischen Reform der Karwochen- und Osterliturgie einräumen müssen, dass sich die hohen Hoffnungen der ersten Stunde nur zum Teil erfüllt haben. Was in der Karwoche 1956 weithin mit Begeisterung aufgegriffen wurde, hat in manchen Pfarreien im Laufe der Jahre viel an Glanz und Lebendigkeit verloren. Aufs Ganze gesehen ist es wohl noch nicht gelungen, die Österliche Dreitagefeier auch im Erleben der Gemeinden als höchsten Gottesdienst des Jahres zu verankern. 66 Die Jahresfeier des Pascha Christi, der Quelle allen Heils, bedarf erneuter Bemühungen. Denn in der Osterfeier vor allem muss aufleuchten, voraus die Christen leben, wo der Grund ihrer Zukunftshoffnung liegt und wo die Antwort auf die letzten Fragen des Menschen zu finden ist. 2. Die Öffnung zur Volkssprache als Liturgiesprache Der auffälligste Wandel im Erscheinungsbild der römischen Liturgie nach dem Zweiten Vatikanum hat sich auf dem Sektor der liturgischen Sprache vollzogen: Die Volkssprache ist uneingeschränkt Liturgiesprache geworden. Die Entwicklung erscheint heute irreversibel; eine Rückkehr zur lateinischen Kultsprache wird es nicht mehr geben. 67 Die innerkirchliche Kontroverse um diesen Vorgang ist zwar immer noch nicht ganz verstummt. Dabei wird von den Kritikern oft übersehen, dass auch in diesem Punkt zukunftsweisende Weichenstellungen bereits im Pontifikat Pius’ XII. erfolgten. Dabei haben wiederum die Vorgänge im deutschen Sprachgebiet die Entwicklung vorangetrieben. 65 R. Guardini, Papst Pius XII. und die Liturgie, in: LJ 6 (1956) 125-138, hier 153. 66 Diesbezügliche Defizite kamen auf dem 3. Internationalen Liturgischen Kongress in Rom 1988 zur Sprache; vgl. den Kurzbericht, in: Gd 22 (1988) 102. Die allmähliche Verkümmerung der Osternachtfeier zu einer „durch Exsultet und Taufversprechen verlängerten Vorabendmesse“ beklagte Kardinal Gottfried Danneels (Mecheln-Brüssel) in seiner Bilanz „25 Jahre nach der Liturgiekonstitution“; vgl. 25 Jahre Liturgiekonstitution. Festakademie des Liturgischen Instituts Trier, in: Klerusblatt 69 (1989) 13f. Zu den derzeitigen Bemühungen um eine verbesserte Feiergestalt vgl. M. Klöckener, Erneuerung der Osternacht. Die Revisionsvorschläge der Arbeitsgruppe „Kirchenjahr und Kalenderfragen“ der „Studienkommission für die Meßliturgie und das Meßbuch“, in: LJ 47 (1997) 190-201. 67 Das Apostolische Schreiben Papst Johannes Pauls II. „Vicesimus quintus annus“ vom 4. Dezember 1988 bestätigt die diesbezügliche nachkonziliare Entwicklung (Nr. 10), wobei die Erwähnung der Konzilsbestimmung, wonach „der Gebrauch der lateinischen Sprache in den lateinischen Riten erhalten bleiben soll (SC 36), wohl nur als Reverenzgebärde vor dem in diesem heiklen Punkt noch sehr vorsichtig operierenden Konzil zu werten ist“; vgl. oben Anm. 2. Liturgiereform vor dem Konzil 297 2.1 Das neu erwachte Kirchenbewusstsein Nach dem ersten Weltkrieg war die bis dahin eher aristokratisch und akademisch geprägte, kaum über die Mauern von Benediktinerabteien und kleinen Zirkeln von katholischen Intellektuellen hinausgedrungene Liturgische Bewegung in ihre pastorale Phase eingetreten. Vor allem in Kreisen der katholischen Jugend wurde nun das Wort Pius’ X. (1903-1914) von der tätigen Teilnahme der Gläubigen an den heiligen Mysterien und am öffentlichen und feierlichen Gebet der Kirche 68 , „das Samenwort der Liturgischen Bewegung“ 69 , begeistert aufgegriffen. Die Losung, die 1909 der Inspirator des damals in Europa führenden belgischen „mouvement liturgique“, Dom Lambert Beauduin 70 , aus der Benediktinerabtei Keizersberg in Löwen auf dem gesamtbelgischen Katholikentag in Mecheln ausgegeben hatte - die Liturgiehistoriker sprechen vom Mechelner Ereignis 71 -, die Losung nämlich von der notwendigen „Demokratisierung“ der Liturgie, zündete nun auch in Deutschland. Auch den einfachen Leuten, so der Appell des belgischen Benediktiners, dürften die spirituellen Reichtümer der Liturgie nicht länger vorenthalten werden. Die große Zeit der Volksmessbücher 72 und Laienbreviere 73 begann. Übersetzungen sollten helfen, die Schätze der Liturgie den Teilnehmenden zu erschließen. 68 Vgl. Motu proprio „Tra le sollecitudini“, in: AAS 36 (1903/ 04) 329-339; deutsche Fassung, in: Dokumente zur Kirchenmusik unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Sprachgebietes, hg. von H. B. Meyer SJ und R. Pacik, Regensburg 1981, 23-34, hier 25. Eine gute Zusammenfassung der Geschichte der Liturgischen Bewegung bietet E. Iserloh, in: Handbuch der Kirchengeschichte, hg. von H. Jedin und K. Repgen, Bd. VII (Freiburg-Basel-Wien 1979) 301-308; vgl. ferner A. Baumgartner, Die Auswirkungen der Liturgischen Bewegung auf Kirche und Katholizismus, in: Religiös-kulturelle Bewegungen im deutschen Katholizismus seit 1800, hg. von A. Rauscher, Paderborn 1986, 121-136; Th. Maas-Ewerd, Art. Liturgische Bewegung, in: Ch. Schütz (Hg.), Praktisches Lexikon der Spiritualität, Freiburg-Basel-Wien 1988, 800-806; Ders., Art. Liturgische Bewegung I. Katholische Kirche, in: LThK 6 (Freiburg 3 1997), 992f. 69 J. Wagner, Fünfzig Jahre Liturgische Bewegung, in: A. Kirchgässner (Hg.), Unser Gottesdienst, Freiburg-Basel-Wien 1960, XI. 70 L. Bouyer, Dom Lambert Beauduin. Un homme de l’Eglise, Tournai 1964; A. Hacquin, Dom L. B. et le renouveau liturgique, Gembloux 1969; Ders., in: RHE 80 (1988) 35-90. 415-440. 71 Vgl. etwa Balth. Fischer, Das „Mechelner Ereignis“ vom 23. September 1909. Ein Beitrag zur Geschichte der Liturgischen Bewegung, in: LJ 9 (1959) 203-219. 72 Vgl. hierzu die Bibliographie der deutschen Missale-Übersetzungen von A. A. Häußling OSB, Das Missale deutsch. Materialien zur Rezeptionsgeschichte der lateinischen Meßliturgie im deutschen Sprachgebiet bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Teil 1: Bibliographie der Übersetzungen in Handschriften und Drucken (LQF 66), Münster 1984. Das bekannteste deutschsprachige Volksmessbuch, von dem Beuroner Mönch Anselm Schott OSB 1884 erstmals bei Herder in Freiburg herausgebracht, erlebte allerdings erst seit den ausgehenden 20er-Jahren als „Volks-Schott“ eine über den Kreis der Gebildeten hinausgreifende, weitere Verbreitung. Das von vornherein auf Breitenwirkung angelegte „Volksmeßbuch“ des Laacher Benediktiners Urbanus Bomm OSB (1901-1982) erschien erstmals im August 1927; vgl. A. A. Häußling OSB, Einhundert Jahre „Schott“, in: Erbe und Auftrag 59 (1983) 342-352. 73 Bereits 1909 hatte L. Beauduin OSB gefordert (s. Anm. 71), neben den Texten der Messe auch die Sonntagsvesper dem Volk durch Übersetzungen nahezubringen. In der Zeit des nationalsozialistischen Kirchenkampfes entdeckte die katholische Jugend vor allem die Komplet, die Liturgiereform im Umkreis des Vatikanum II 298 Sie ermöglichten den Gläubigen das stille Mitbeten der Gebete der Kirche. Doch das bloß innere Mitgehen konnte auf die Dauer nicht befriedigen. Vor allem die Jugend verlangte nach mehr. Denn inzwischen war jener „Vorgang von ungeheurer Tragweite“ in Gang gekommen, den Romano Guardini mit seinem berühmten Wort „Die Kirche erwacht in der Seele“ treffend charakterisiert hat. 74 „Die Kirche ist es“, so Guardini, „die in der Liturgischen Bewegung mit Ehrfurcht und Freude neu entdeckt wurde. Nachdem lange Zeit hindurch das religiöse Leben vor allem im individuellen Bereich gesehen worden war, wurde man der Weite und des Reichtums inne, die sich im Mitvollzug des actus ecclesiae erschließen.“ 75 Hier legt der große „Wegbereiter und Wegbegleiter der Liturgischen Bewegung“ (Arno Schilson) die theologischen Wurzeln frei, aus denen das pastorale Bemühen um mehr Volkssprachlichkeit im Gottesdienst erwachsen ist. Wo man wieder gelernt hatte, sich als Glied am mystischen Leib der Kirche zu verstehen, musste der Wunsch erwachen, in lebendiger Altargemeinschaft die Liturgie der Kirche aktiv mitzutragen. In der Krypta von Maria Laach und auf der Jugendburg Rothenfels am Main wurden um 1920 die ersten Gemeinschaftsmessen 76 gefeiert. Ludwig Wolker, der Generalpräses des Jungmänner-Verbandes (1926-1939), notierte: „Die Meßfeier wurde zu einer Feier bewußter Gemeinschaft … Es waren nur wenige kleine Gemeinschaften zu Beginn, ganz von selbst wuchs daraus das Miteinandersprechen und -beten der Gebete der heiligen Messe …, die ‚Burg- Messe‘“. 77 Im ersten unerleuchteten Übereifer sprachen zunächst alle auch die Priestertexte mit Ausnahme des Kanons laut mit, bis sich das Prinzip der sachgerechten Rollenverteilung durchsetzte. Das wiedererwachte Bewusstsein, selbst Kirche zu sein, gab sich also nicht länger mit einer stummen Zuschauerrolle zufrieden. Junge Christen vor allem verlangten nach Gottesdienstformen, in denen sie die Zusammengehörigkeit von Priester und Volk, das Zusammenwirken aller im einen Leib Christi beim heiligen Dienst erfahren konnten. Es kam die Bet-Singmesse auf, das „Deutsche Hochamt“ 78 verbreitete sich mehr und mehr im ganzen Sprachgebiet. Diese volksnahen Formen einer intensiveren Gemeindebeteiligung an der Messfeier bedeuteten den bewussmit den deutschen Texten des Leipziger Oratoriums gefeiert, eine große Anziehungskraft ausübte; vgl. Th. Schnitzler, Was das Stundengebet bedeutet, Freiburg-Basel-Wien 1980, 185-187; Th. Maas-Ewerd, Zur Bedeutung der Komplet in der Jugendseelsorge der dreißiger Jahre, in: Klerusblatt 68 (1988) 317-324; A. Heinz, Die Komplet der Jugend in den vierziger Jahren. Ein Bericht aus Trier, in: E. Renhart, A. Schnider (Hg.), Sursum corda (FS Philipp Harnoncourt), Graz 1991, 185-194. 74 R. Guardini, Vom Erwachen der Kirche in der Seele, in: Hochland 19 (1922) 257-267. 75 Ders., Papst Pius XII. und die Liturgie, in: LJ 6 (1956) 125-138, hier 129. 76 Vgl. J. M. Giesen, Die Gemeinschaftsmesse. Zu ihrem Wesen, ihrer Einführung und ihrer Gestaltung, Regensburg 1949; Ph. Harnoncourt, Art. Gemeinschaftsmesse, in: LThK 4 (Freiburg 3 1995), 437f. 77 L. Wolker, Eine Generation findet zum Mysterium der heiligen Messe, in: KatBl 84 (1959) 169-174, hier 170; Ders., Das neue Erlebnis und die neue Verkündigung des Mysteriums in der Jugend, in: F. X. Arnold, Balth. Fischer (Hg.), Die Messe in der Glaubensverkündigung, Freiburg 1950, 269-282. 78 Zum „Deutschen Hochamt“ vgl. die in Anm. 37 genannte Literatur. Liturgiereform vor dem Konzil 299 ten Abschied vom Leitbild der Klerusliturgie. Doch das Zusammenwirken von Priester und Gemeinde konnte nur bruchstückhaft gelingen, weil die Barriere der lateinischen Liturgiesprache im Wege stand. 79 Der Respekt vor der gesamtkirchlichen Ordnung verhinderte jedoch - abgesehen von wenigen Einzelfällen - jedes Experimentieren mit einer Verdeutschung der Messe. 2.2 Eine pastorale Notwendigkeit Im Bereich der übrigen Sakramente und der Sakramentalien lagen die Dinge günstiger. Bei Taufe, Trauung, Begräbnis und manchen Segensfeiern hatte es im deutschen Sprachgebiet von jeher in gewissem Umfang den Gebrauch der Muttersprache gegeben. Diese Ansätze suchte die Liturgische Bewegung weiter zu entwickeln. In diese Richtung drängte auch die damalige politische Lage. Der nationalsozialistische Staat hatte der Kirche nach und nach alle Betätigungsfelder außerhalb der Kirchenmauern genommen. Ihr blieb nur noch ihr Innerstes, der Gottesdienst. Er musste den Gläubigen das geistliche Rüstzeug liefern, um dem Zugriff des allgegenwärtigen Staates und dem Sog seiner Propaganda widerstehen zu können. Johannes Wagner hat im Rückblick auf die damalige Situation zutreffend bemerkt: „Die Kirche in Deutschland hat in der Zeit des Dritten Reiches aus der Liturgiefeier ihre größte Widerstandskraft geschöpft.“ 80 Die geschichtliche Stunde schien gebieterisch zu verlangen, dass wenigstens die Feiern in den starken Zeiten des Lebens, anlässlich der Taufe, der Eheschließung und der Beerdigung, in der Volkssprache gefeiert wurden. Rom verschloss sich diesem pastoralen Anliegen nicht. Das beweist etwa das erste unter Pius XII. approbierte Rituale einer deutschen Diözese: Im März 1939 genehmigte die Ritenkongregation ein neubearbeitetes Rituale für das Bistum Ermland, das der Volkssprache bereits einen erstaunlich breiten Raum einräumte. 81 79 Auf dieses entscheidende Defizit aller damals möglichen Formen der Gemeinschaftsmesse machten die beiden „Liturgiebischöfe“ Simon K. Landersdorfer OSB und Albert Stohr Pius XII. in ihrer Denkschrift vom 2. Juni 1942 aufmerksam: „Das Nebeneinander von zwei Messen, der lateinischen des Priesters und einer deutschen, die das Volk zusammen mit Vorbeter, Lektor und Schola feiert, lediglich verbunden durch die responsa auf die acclamationes, ist und kann das Ideal nicht sein. Die Entwicklung scheint, soweit das am Gottesdienst interessierte Volk dieses Interesse nicht verliert, dahin zu drängen, daß die Gebete und Lesungen wenigstens der sog. Vormesse in einer dem Volke unmittelbar verständlichen Form zum Vortrag kommen.“ Zitiert nach Maas-Ewerd, Die Krise (wie Anm. 11), 530. 80 J. Wagner, Le Mouvement liturgique en Allemagne, in: MD 25 (1951) 75-82; zu diesem eminent wichtigen pastoralen Aspekt vgl. auch Th. Maas-Ewerd, Liturgie und Pfarrei, Paderborn 1969, 213-220. 81 Collectio Rituum in usum cleri Dioecesis Warmiensis … Jussu et Auctoritate Ill. ac Revmi Domini Maximiliani Kaller … edita. Ratisbonae MCMXXXIX. Das Approbationsdekret ist auf den 30. März 1939 datiert, das Vorwort unterzeichnete der Bischof an Pfingsten 1939 in Frauenburg. Alle Formulare, soweit sie volkssprachliche Texte enthalten, sind doppelt abgedruckt: lateinisch/ deutsch und lateinisch/ polnisch. Die Feier der Taufe sieht den Gebrauch der lateinischen Sprache nur bei den Exorzismen, bei den Begleitworten zur Salzspende und zu den Salbungen sowie bei den sakramentalen Worten vor. Auch bei der Feier der Krankenkommunion, der Krankensalbung, beim Versehgang, bei der Begleitung Sterbender sowie Liturgiereform im Umkreis des Vatikanum II 300 2.3 Diözesanritualien ohne römische Approbation Um die gleiche Zeit (1939) glaubten drei deutsche Bistümer, die Diözesen Aachen, Hildesheim und Trier, von sich aus der pastoralen Notlage und den um sich greifenden Eigenmächtigkeiten einzelner Priester, die sich ihre deutschen Privatritualien zusammenstellten, begegnen zu müssen. Ohne vorherige Rücksprache mit Rom genehmigte der jeweils zuständige Bischof neue Textbücher für die Feier der Taufe (mit Muttersegen), der Trauung und des Begräbnisses. Die Formulare waren bis auf geringfügige lateinische Reste durchgehend deutsch gehalten. 82 Rom betrachtete dieses Verfahren als illegal. Insbesondere erregten die Vorgänge in Trier Anstoß und provozierten das Eingreifen des päpstlichen Nuntius. Es tut sich hier ein hochinteressantes Kapitel aus den Anfangsjahren des Pontifikats Pius’ XII. auf, das eine wichtige Etappe auf dem nicht mehr aufzuhaltenden Weg zu einer volkssprachlichen Liturgie illustriert. Bischof Franz Rudolf Bornewasser von Trier (1922-1951) hatte 1935 den Professor für Dogmatik am dortigen Priesterseminar, Heinrich von Meurers (1888-1953), zu seinem Generalvikar berufen. 83 Schon in seinen Innsbrucker Studienjahren vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte sich dieser für die Anliegen der Liturgischen Bewegung begeistert. 84 Als Generalvikar suchte er sie nun nach Kräften in die Praxis umzusetzen. bei der Trauung ist der Volkssprache fast uneingeschränkt Raum gegeben. Das Ermländer Bistumsrituale dürfte, was das Ausmaß an Volkssprachlichkeit betrifft, die weitestgehende Station auf dem ständig fortschreitenden Weg zur Volkssprache hin markieren, wie er sich anhand der zwischen den beiden Weltkriegen approbierten deutschen und österreichischen Diözesanritualien verfolgen lässt: Gurk-Klagenfurt 1927, Mainz 1928, Köln 1929, Breslau 1929, Freiburg 1929, Linz 1929, Rituale der bayerischen Diözesen München, Augsburg, Eichstätt, Passau, Regensburg 1930, ferner Münster 1931, Osnabrück 1932, Paderborn 1932, Rottenburg 1932, Speyer 1932, Würzburg 1932, Wien 1935, Burgenland 1938, Seckau 1940. Während das Kölner Rituale 1929 kaum volkssprachliche Texte enthält, galten die Ritualien von Freiburg und Linz zu ihrer Zeit als besonders „fortschrittlich“ und wurden deshalb auch jenseits ihres offiziellen Geltungsbereichs verwendet; vgl. A. Stohr, Vom Werden und von der Bedeutung des neuen Deutschen Rituale, in: Mainzer Universitäts-Reden 15, hg. von L. Lenhart, Mainz 1950, 11-34, hier 12. 82 Zum Vorgang vgl. Stohr, Deutsche Rituale (wie Anm. 81), 13; ferner meinen in Anm. 18 genannten Aufsatz. Eine ähnliche diözesane Initiative erfolgte 1940 in Innsbruck-Feldkirch, 1941 in Danzig und 1943 in Fulda; vgl. für die bibliographischen Angaben bei M. Probst, Bibliographie der katholischen Ritualiendrucke des deutschen Sprachbereichs. Diözesane und private Ausgaben (LQF 74), Münster 1993; zur Sache: A. Heinz, Die Feier der Sakramente in der Sprache des Volkes. Zur Ritualereform vor dem Vatikanum II., in: TThZ 102 (1993) 258-270; Ders., Die gedruckten liturgischen Bücher der Trierischen Kirche. Ein beschreibendes Verzeichnis mit einer Einführung in die Geschichte der Liturgie im Trierer Land, Trier 1997, 52-55. 214-220. 83 Zur Person vgl. J. Wagner, Heinrich von Meurers zum Gedächtnis, in: LJ 3 (1953) 5-9; Balth. Fischer, Art. Meurers, in: New Cath. Enc. IX (1967) 762f.; A. Thomas, H. v. Meurers zum Gedächtnis, in: AMrhKG 6 (1954) 327f.; Ders., Art. Meurers, in: Gatz, Die Bischöfe (wie Anm. 16), 504f. Anlässlich des 100. Geburtstages erschien eine Würdigung von Th. Maas-Ewerd, Erinnerung an Heinrich von Meurers, in: LJ 38 (1988) 199-222; vgl. auch meinen in Anm. 54 nachgewiesenen Aufsatz. 84 Vgl. Heinz, Heinrich von Meurers (wie Anm. 54), 302-309. Liturgiereform vor dem Konzil 301 Ein wichtiges Stück seines pastoralliturgischen Programms bildete ein neues Diözesanrituale, für dessen Ausarbeitung der Generalvikar schon kurz nach seinem Amtsantritt eine Kommission einsetzte. 85 Die schließlich akzeptierten, durchgehend deutsch gehaltenen Entwürfe stammten im wesentlichen von seinem Sekretär Johannes Wagner, dem späteren ersten Leiter des deutschen Liturgischen Instituts in Trier und maßgeblichen Mitarbeiter bei der nachkonziliaren Gottesdienstreform. 86 Die verpflichtende Einführung des neuen trierischen Taufrituales erfolgte ohne Rückfrage in Rom wenige Wochen nach der Inthronisation Pius’ XII., im März 1939. 87 85 Vgl. Bistumschronik (wie Anm. 35), 1, 83. Der Arbeitsgruppe gehörten an: Subregens Dr. Johann Lenz (1888-1982), seit 1922 Professor für Apologetik und Religionsgeschichte am Trierer Priesterseminar, als Leiter; Definitor Wilhelm Franz Schröder (1873-1940), Pfarrer von Trier-St. Gervasius; Pfarrer Engelbert Engel (1887-1962) von Trier-Christkönig; Pfarrer Kl. Ludw. B. Henrich (1885-1957) von Lieser/ Mosel und Herm. Jos. Ries (1905-1969), Bibliothekar des Priesterseminars. Lenz fiel die Leitung der Kommissionsarbeit zu, weil er in seiner Eigenschaft als Subregens im Seminar auch liturgische Übungen mit den Priesteramtskandidaten hielt, verbunden mit einer wöchentlich einstündigen Vorlesung „Liturgie“; vgl. Balth. Fischer, Die Nachfolger Peter Conrads von 1805 bis zur Gegenwart, in: TThZ 93 (1984) 234-246, 242. 86 Vgl. Bistumschronik (wie Anm. 35), 1, 83. In dem auf den 4. März 1939 datierten Eintrag schreibt H. v. Meurers: „Der erste Entwurf [für Taufe, Ehe, Begräbnis] behielt ziemlich weitgehend den lateinischen Text bei und suchte durch vor den einzelnen Zeremonien und Gebeten eingeschaltete Zwischenerklärungen in deutscher Sprache den Gläubigen den Sinn der hl. Handlung zu erschließen. Nach manchen Besprechungen erschien es aber doch richtiger, die Zwischenerklärungen fallen zu lassen und den Ritus so zu gestalten, daß er sich selbst erklärt und dadurch zu einer sakramentalen Handlung wird. Nach diesen Gesichtspunkten wurde der Ritus vom Sekretär der Katholischen Aktion, Johannes Wagner, vollständig neu bearbeitet; auch die Übersetzung wurde von ihm hergestellt. Durch die Bearbeitung des Herrn Wagner entstand ein völlig neuer Ritus; derselbe wurde eingehend durchgearbeitet.“ Johannes Wagner, geb. 1908 in Brohl, Priester des Bistums Trier (1932), engster Mitarbeiter von Generalvikar Heinrich von Meurers in liturgischen Fragen, wurde 1945 Sekretär der Liturgiekommission der Fuldaer Bischofskonferenz, als solcher Mitbegründer des deutschen Liturgischen Instituts Trier (1947), das er nach dem Tod des ersten „Präsidenten“ (H. v. Meurers) über 20 Jahre lang leitete (1954-1975); vgl. Balth. Fischer, Johannes Wagner zum 80. Geburtstag, in: LJ 38 (1988) 1-3; A. Gerhards, Johannes Wagner zum 80. Geburtstag, in: Anzeiger für die Seelsorge 97 (1988) 78-80; Th. Maas-Ewerd, Zum 80. Geburtstag von Prälat Dr. Johannes Wagner, in: Klerusblatt 68 (1988) 20; H. Rennings, Johannes Wagner - zum 80. Geburtstag, in: Gd 22 (1988) 20f.; E. Nagel, Johannes Wagner - 90 Jahre, in: Gd 32 (1997) 10. [A. Heinz, Johannes Wagner [wie Anm. 40).] 87 H. v. Meurers notierte am 4. März 1939 in der Bistumschronik (wie Anm. 35), der Ritus sei nach ungebührlich langer Verzögerung beim Druck und Binden „endlich fertiggestellt worden“ und werde „zur Zeit den Pfarrämtern in je zwei Exemplaren zugesandt“. Der Approbationsvermerk des Bischofs ist auf Epiphanie 1939 datiert. Das verpflichtend eingeführte Teilrituale trägt den Titel: Ordo Baptismi parvulorum et Benedictio Mulieris post partum in usum Dioecesis Treverensis. Augustae Treverorum ex Typographia ad S. Paulinum MCMXXIX. Eine Vorbemerkung (S. 4) fordert den Priester auf, falls des Lateins unkundige Teilnehmer anwesend seien, immer die deutsche Fassung der zweisprachig abgedruckten Texte zu verwenden (semper solummodo utaris textu germanico). Lateinisch geblieben sind die Exorzismusgebete, die Begleitworte zur Salzspende und zu den Salbungen, sowie die Taufformel. Liturgiereform im Umkreis des Vatikanum II 302 Der ebenfalls unter Federführung von Johannes Wagner erstellte Entwurf eines Trierer Begräbnisritus zirkulierte im Sommer 1940 bei den um ihr Votum ersuchten Geistlichen Räten. 88 Es erregte einiges Aufsehen, als Bischof Franz Rudolf Bornewasser selbst bei der von ihm am 6. September 1940 geleiteten Begräbnisfeier für Freiherrn August von Schorlemer in Lieser an der Mosel die neuen deutschen Texte zum ersten Mal gebrauchte. 89 Der päpstliche Vertragsverleger Pustet in Regensburg übernahm den Druck dieses von Rom nicht approbierten Trierer Ritualefaszikels. Wegen technischer Schwierigkeiten konnten die ersten Exemplare erst Ende 1941 ausgeliefert werden. 90 Pius Parsch, von Generalvikar Heinrich von Meurers persönlich über das Projekt informiert, hatte bereits im Novemberheft 1940 seiner vielgelesenen Zeitschrift „Bibel und Liturgie“ über die in seinen Augen vorbildliche Trierer Initiative berichtet und sie „als für andere Diözesen beispielgebend“ herausgestellt. 91 Zu Beginn des Jahres 1942 wurden allen Pfarrämtern des Bistums Trier zwei Exemplare des neuen Begräbnisritus übersandt, der nach der Weisung des Bischofs von da an verbindlich sein sollte. 92 88 Vgl. Bistumschronik (wie Anm. 35), 1, 149. 89 Der Ortspfarrer war Mitglied der diözesanen Rituale-Kommission (wie Anm. 85). In der Bistumschronik (1, 163) notierte Generalvikar H. v. Meurers: „Freitag, 6. September 1940 nahm der Hochw. Herr Bischof persönlich das Begräbnis des verstorbenen Freiherrn August von Schorlemer in Lieser vor. Bei der Gelegenheit wurde der neue Begräbnisritus zum ersten Mal praktisch angewendet. Herr Köhn hatte vorher die deutschen Gesänge mit dem Kirchenchor Lieser durchgeprobt. Die Gesänge machten sich außerordentlich schön; der Hochw. Herr Bischof war mit dem Ritus sehr zufrieden. Auch die anwesenden Geistlichen folgten dem Ritus und hatten den einen Wunsch, daß sie ihn möglichst bald erhielten.“ 90 Vgl. Bistumschronik (wie Anm. 35), 1, 168. 195. Vor der Drucklegung waren die Gesangsteile (deutsche Gregorianik) durch einige Choralfachleute nochmals überprüft worden. Ihr zustimmendes Votum gaben P. Dominikus Johner OSB (Beuron), Abt. Ildefons Herwegen OSB, P. Urbanus Bomm OSB (Maria Laach) und Abt Basilius Ebel OSB (Trier-St. Matthias); weitere Gutachter waren der Trierer Domkapellmeister Klassen und Josef Körbes, Diözesanpräses der Cäcilienvereine. 91 Vgl. P. Parsch, Eine Diözese ordnet ihre Totenliturgie volksliturgisch, in: BiLi 15 (1940/ 41) 21-25. Die vorzeitige Veröffentlichung der Einleitung des neuen Trierer Begräbnisritus (ebd., 16) war ohne Wissen und Zustimmung des Trierer Generalvikars erfolgt; vgl. Maas-Ewerd, Die Krise (wie Anm. 11), 188 Anm. 157. [A. Heinz, Volksliturgische Reformen im Bistum Trier im Geist Pius Parschs während der Hoch- und Krisenzeit der Liturgischen Bewegung, in: W. Bachler, R. Pacik, A. Redtenbacher (Hg.), Pius Parsch in der liturgiewissenschaftlichen Rezeption (Pius-Parsch-Studien 3), Würzburg 2006, 57-81, hier 71-73.] 92 Vgl. Bistumschronik (wie Anm. 35), 1, 227. Das am 15. August 1941 von Bischof Franz Rudolf Bornewasser approbierte Buch trägt den Titel: Ordines sepeliendi adultos et parvulos in usum Dioecesis Treverensis cum appendice. Augustae Treverorum ex curia episcopali MCMXLI. Ad instar manuscripti. Eine Vorbemerkung zum Approbationsvermerk betont den provisorischen Charakter der Ausgabe; sie werde nur so lange verpflichtend vorgeschrieben bleiben, bis die Ritenkongregation ein neues Diözesanrituale approbiert haben würde. Hinsichtlich der Verwendung der Volkssprache betont ein „Praenotandum“, dass das Begräbnis bei Anwesenheit von Gläubigen, die kein Latein verstehen, immer in deutscher Sprache zu feiern sei, wobei es jedoch erlaubt bleiben sollte, die Psalmen „De profundis“ und „Miserere“, sowie die Responsorien „Subventite“ und „Antequam nascerer“, auch die Antiphon „In paradisum“ lateinisch zu singen. Liturgiereform vor dem Konzil 303 Der Zeitpunkt der Einführung hätte nicht ungünstiger gewählt werden können. Die innerkirchliche Kontroverse zwischen Gegnern und Befürwortern der Liturgischen Bewegung steuerte ihrem Höhepunkt entgegen. Mitten in dieser hochgespannten Lage gegenseitiger Verunglimpfungen und Verdächtigungen erregten eigenmächtige Initiativen dieser Art bei den römischen Stellen ernste Besorgnis. Der Ärger über den Trierer Fall muss besonders groß gewesen sein; stand doch als treibende Kraft hinter den ohne Rücksprache mit Rom zustandegekommenen Neuausgaben eines deutschen Tauf- und Begräbnisritus für das Bistum Trier der Generalvikar der Diözese, der zudem, nach den Bischöfen von Mainz und Passau, das ranghöchste Mitglied der Liturgiekommission der Fuldaer Bischofskonferenz war. 2.4 Die Bemühungen um ein deutsches Einheitsritual im Gegenwind Den Händen des Trierer Generalvikars hatte die Liturgische Kommission die Vorbereitung des geplanten gesamtdeutschen Einheitsrituales anvertraut. 93 Auch dieses wichtige Reformvorhaben konnte wegen der Vorgänge in Trier von den Gegnern der Liturgischen Bewegung als Zeugnis eines eigenwilligen Vorgehens beargwöhnt und als gegen Rom und die kirchliche Einheit gerichtet verleumdet werden. August Doerner hatte 1941 in seinem in 10.000 Exemplaren gedruckten und allen deutschen Bischöfen und kurialen Stellen in Rom zugesandten Buch „Sentire cum Ecclesia“ 94 einen Generalangriff gegen die von ihm so genannten Hyperliturgen gestartet. Unter den Gewissensfragen, die der Verfasser den Lesern seines Buches stellte, fand sich auch diese: „Wagst Du es vielleicht, eigenmächtig und gegen die ausdrücklichen Bestimmungen der Kirche, die heiligen Sakramente und Sakramentalien in deutscher Sprache zu spenden und Ritualien zu benützen, die nicht vom Apostolischen Stuhl genehmigt sind? “ 95 Damit waren nicht zuletzt die neuen Riten seiner Heimatdiözese inkriminiert. 96 Die Ritenkongregation reagierte in einer Weise, die Bischof Stohr ernstlich fürchten ließ, die ganze Arbeit der Liturgischen Kommission sei in Gefahr, Schiffbruch zu erleiden. In Ausführung eines römischen Auftrages forderte der päpstliche Nuntius Cesare Orsenigo mit Schreiben vom 11. Mai 1942 den Trierer Bischof Franz Rudolf Bornewasser förmlich auf, den erst kurz vorher im Bistum offiziell eingeführten deutschen Begräbnisritus zu widerrufen und aus dem Gebrauch zu ziehen. 97 93 Vgl. Maas-Ewerd, Die Krise (wie Anm. 11), 188f. 94 S. oben Anm. 20 und 21. 95 Doerner (wie Anm. 20), 372f.; vgl. Maas-Ewerd, Die Krise (wie Anm. 11), 212. 96 Doerner erwähnt in seinem umfangreichen Bericht an Nuntius Orsenigo über die Aufnahme und Beurteilung des Buches „Sentire cum ecclesia“ vom 12. Januar 1943 auch die Kritik mancher Priester des Bistums Trier an den vom Generalvikar des Bistums geförderten Verdeutschungen der Tauf- und Begräbnisliturgie. Zustimmend zitiert er die an ihn (Doerner) gerichtete Zuschrift eines Dechanten vom 4.12.1942, der schrieb: „Manche Dekanate mit fast lauter jüngeren Herren haben in ihren Kapiteln beschlossen, die Behörde zu bitten, die deutsche Sprache nicht überall einzuführen.“ Manche jüngere Herren machten die Neuerungen des Generalvikars nur mit, „um dadurch bessere und angesehenere Stellen zu bekommen“. Zitiert nach Adriányi, Apostolat (wie Anm. 20), 338. 97 Vgl. Maas-Ewerd, Die Krise (wie Anm. 11), 245. Liturgiereform im Umkreis des Vatikanum II 304 Der Bischof widersprach. Um der Sache willen erbat er dringend eine Revision dieses Befehls. „Ich nehme diesen Befehl zur Kenntnis“, schrieb Bischof Bornewasser dem Nuntius. „Es ist für den 76jährigen Bischof von Trier, der seine Kirche seit den Tagen seiner Jugend über alles liebt und im Kampfe für die Rechte und die Freiheit der Kirche ergraut ist, ein harter Befehl … Zur Verbreitung und Vertiefung des katholischen Glaubensgutes bleibt schließlich nur noch das gesprochene Wort.“ Deshalb sei es so wichtig, dass das Volk „die kostbaren Glaubenswerte, die in der Liturgie der Sakramente und der Sakramentalien enthalten sind, in der Volkssprache in sich aufnehmen kann“. Das katholische Volk wisse genau, wie von Partei und Regierung der Vernichtungskampf gegen „sein Heiligstes“ geführt werde, deshalb sehne es sich „nach den tiefen religiösen Werten der Liturgie, wie es dieselben in Sakrament und Sakramentale miterlebt, - wenn es sie versteht …“ 98 Der Bischof brachte seine schmerzliche Betroffenheit darüber zum Ausdruck, dass ihm in seelsorglichen Dingen seiner Diözese Befehle erteilt wurden, ohne dass er selbst sich vorher zur Sache äußern konnte. Rom lenkte ein. Stillschweigend tolerierte man die nicht-approbierten Diözesanagenden. Besonders das Aachener Rituale fand auch jenseits der Grenzen dieses Bistums weite Verbreitung. 99 Angesichts dieser dramatischen Zuspitzung auf dem Sektor des Rituales und in Anbetracht der reservierten bis ablehnenden Haltung, die Teile des deutschen Episkopats gegenüber den Aktivitäten der Liturgischen Bewegung einnahmen, wagten es die Liturgiereferenten der Fuldaer Bischofskonferenz nicht, auf der Vollversammlung der deutschen und österreichischen Bischöfe im August 1942 die zu diesem Zeitpunkt im wesentlichen bereits fertiggestellten Entwürfe des Tauf- und Trauungsritus für das geplante Einheitsrituale vorzulegen. Lediglich die von den Leipziger Oratorianern bearbeiteten „Richtlinien zur Gestaltung des pfarrlichen Gottesdienstes“ wurden eingebracht. Aber selbst gegenüber dieser ausgereiften Vorlage kam es nicht zu einem gemeinsamen positiven Votum. Den einzelnen Diözesen blieb es überlassen, ob sie diese Regeln für eine sachgerechte Volksbeteiligung an der Messfeier in Form der Gemeinschaftsmesse, der Bet- Singmesse, des Deutschen Hochamts oder des Volks-Choralamts publizieren und verbindlich machen wollten. 100 Die von Wohlwollen getragene Antwort Pius’ XII. auf die vertrauliche Denkschrift der Bischöfe Landersdorfer und Stohr ermutigte die Liturgische Kommission indes am Rituale weiterzuarbeiten. Dies umso mehr, als auch die mit manchen negativen Begleiterscheinungen der Liturgischen Bewegung hart ins Gericht gehende Stellungnahme der gemischten Kardinalskommission im Januar 1943 in der Ritualienfrage Entgegenkommen angekündigt hatte. Man werde „wohlwollend gewisse Privilegien … prüfen (z. B. bezüglich des Rituale), die in der Tat sich für das Wohl der Seelen vorteilhaft auswirken können“, falls der gesamte deutsche 98 Ebd., 246. 99 Vgl. Stohr, Deutsche Rituale (wie Anm. 81), 13f.; vgl. zu diesen Vorgängen auch die Erinnerungen von Johannes Wagner: J. Wagner, Mein Weg zur Liturgiereform 1936-1986. Erinnerungen, Freiburg-Basel-Wien 1993, 11-16. 100 Vgl. Maas-Ewerd, Die Krise (wie Anm. 11), 189f. 349f. Liturgiereform vor dem Konzil 305 Episkopat sie beantrage. 101 Diese Zusicherung kehrte in einem bedeutsamen Brief von Kardinal-Staatssekretär Maglione vom 24. Dezember 1943 an Kardinal Bertram wieder. 102 Es war also nicht die mangelnde Kompromissbereitschaft Roms, die das Erscheinen des 1944 druckfertig vorliegenden deutschen Einheitsrituales bis 1950 hinauszögerte. Pius XII. persönlich hätte einer früheren Approbation gerne zugestimmt. Im Rahmen einer anlässlich des Goldenen Priesterjubiläums des Papstes am 7. Dezember 1949 von der Theologischen Fakultät der Universität Mainz veranstalteten „Papst-Akademie“ sprach Bischof Albert Stohr über Werden und Bedeutung des kurz zuvor approbierten neuen deutschen Rituales. Wörtlich sagte der Mainzer Bischof, der wie kein anderer mit der dornigen Vorgeschichte vertraut war: „Wir sind uns alle bewußt, daß wir das neue Rituale zum großen Teil nur dem persönlichen Wohlwollen Pius’ XII. zu verdanken haben und daß wir unter einem anderen Pontifikat dieses Ziel kaum erreicht hätten.“ 103 2.5 Im Sog des Zeitgeistes? Dass das Ziel nicht früher erreicht wurde, lag am Widerstand in den eigenen Reihen. Zu dem von Rom erwarteten gemeinsamen Antrag der deutschen Bischöfe kam es nämlich nicht. Namentlich der bayerische Episkopat versagte seine Unterstützung. 104 Anstoß erregte nicht zuletzt die durchgehende Verwendung der deutschen Sprache im „Vorschlag des Liturgischen Referates für ein gemeinsames Manuale Rituum pro Germania“. Wie Erzbischof Gröber von Freiburg dachten auch andere Bischöfe. Er hatte in seinem „Memorandum der 17 Beunruhigungen“ vom 18. Januar 1943 „an den Hochwürdigsten Großdeutschen Episkopat“ die Tendenz zur zunehmenden Verdeutschung der Liturgie als antirömisch verdächtigt. Der Freiburger Erzbischof schrieb: „Wer wirklich weiß, daß die lateinische liturgische Sprache eines der heiligsten und stärksten Bänder ist, die uns Katholiken der ganzen Welt mit Rom und untereinander verknüpfen …, muß Versuche, die heilige Sprache mit der deutschen zu ersetzen, als eine Lockerung der seelischen Verbindung mit der Kirche und Rom selber aufs Schmerzlichste bedauern.“ 105 Bischof Landersdorfer verteidigte den in den Ritualeentwürfen vorgesehenen weitgehenden Gebrauch der Volkssprache vor seinen vom 12.-13. April 1944 in Eichstätt versammelten bayerischen Amtsbrüdern 106 mit dem Hinweis auf das „Drängen der Jugend nach möglichst viel Deutsch“ und auf das Bestreben der Kommission, „ein Gegengewicht zu schaffen gegen die jetzt in Schwung kommen- 101 Vgl. ebd., 538. 102 Abgedruckt ebd., 692-695, hier 693; vgl. auch Wagner, Mein Weg (wie Anm. 99), 7-11. 139-142. 103 Stohr, Deutsche Rituale (wie Anm. 81), 12. 104 Vgl. Maas-Ewerd, Die Krise (wie Anm. 11), 488-493, bes. 493. 105 Das Dokument im Wortlaut bei Maas-Ewerd, Die Krise (wie Anm. 11), 540-569, hier 568; vgl. dessen Kommentierung ebd., 263-285. 106 Dazu Th. Maas-Ewerd, Liturgische Bilanz in Eichstätt. Zur Reaktion der bayerischen Bischöfe auf eine Entscheidung Roms, in: A. Franz (Hg.), Glauben-Wissen-Handeln (FS Philipp Kaiser), Würzburg 1994, 339-362. Liturgiereform im Umkreis des Vatikanum II 306 den heidnisch-weltlichen Riten“ (gemeint sind nationalsozialistische Ersatzrituale). Man habe deshalb nach einer möglichst den Bedürfnissen der Zeit angepassten Gestaltung gesucht und dabei auch die „Verschleierung mancher störender Judaismen“ beabsichtigt. 107 Von der Beseitigung „störender Judaismen“ sprach der Passauer Bischof. Damit kommt ein gefährlicher Schwachpunkt der Entwürfe zum Einheitsrituale in den Blick, der zu Recht den entschiedenen Widerspruch Roms herausforderte. Eine Gefahr wird deutlich, der eine volkssprachliche Liturgie leichter erliegt als der lateinische Gottesdienst, die Gefahr, in den Sog des Zeitgeistes zu geraten. Mit unbeirrbarer Konsequenz widerstanden die römischen Stellen allen Versuchungen, unter dem Druck der nationalsozialistischen Rassenideologie in der Liturgie die alttestamentlichen und jüdischen Wurzeln des Christentums zu vertuschen. Was bereits in den von Rom nicht approbierten Diözesanritualien teilweise geschehen war, sahen auch die Entwürfe für das gesamtdeutsche Rituale vor: alttestamentliche Namen sollten aus den Gebeten verschwinden; so etwa Sara, Rachel und Rebekka aus dem Brautsegen. Wenn es bisher in dem das Begräbnis eröffnenden Psalm 130 (129) „De profundis“ geheißen hatte: „Mehr als die Wächter auf den Morgen / soll Israel harren auf den Herrn“ und „Er wird Israel erlösen“, vermied die neue Fassung peinlich den Ausdruck Israel und sprach verschleiernd „von seinem Volk“ und „Er selbst bringt Erlösung seinem Volk“. 108 Schon in seiner Antwort auf die Denkschrift der Bischöfe Landersdorfer und Stohr hatte Pius XII. davor gewarnt, „die über alle Erscheinungen und Strömungen hinweg immer gleichbleibenden Beziehungen zwischen dem Alten und Neuen Bund“ zu missachten. 109 Es befremdet in der Tat, dass ausgerechnet zu der Zeit, als die Juden aus den Dörfern und Städten Deutschlands in die Vernichtungslager verschwanden, die Bearbeiter des deutschen Rituales Jüdisches als für deutsche Ohren anstößig 110 aus der katholischen Liturgie entfernen wollten. 107 Vgl. Maas-Ewerd, Die Krise (wie Anm. 11), 492. Zu dieser Tendenz vgl. auch meinen Aufsatz: Heinrich von Meurers (1888-1953). Ein Leben im Dienst der liturgischen Erneuerung, in: LJ 43 (1993) 94-108, bes. 103-105. [Nachdruck in: A. Heinz, Liturgie und Frömmigkeit (wie Anm. 18), 311-326.] 108 Die Textänderung erscheint im Begräbnisformular des Aachener Diözesanrituales von 1939 und des Trierer von 1941, nicht aber in den fast gleichzeitig erschienenen Neubearbeitungen des Begräbnisritus der Diözesen Hildesheim (1939) und Innsbruck-Feldkirch (1940). Doch auch in den beiden letztgenannten Ausgaben macht sich die gleiche Tendenz, den Namen Israel zu vermeiden, bemerkbar, wenn etwa der Anfang des Lobgesangs des Zacharias (Lk 1,68) „Benedictus Dominus, Deus Israel“ im Begräbnisritus von Innsbruck-Feldkirch übersetzt wird (S. 59): „Gepriesen sei der Herr, der Gott der Erwählten! “, während es im Hildesheimer Rituale (S. 53) verkürzend heißt: „Gepriesen sei Gott, unser Herr! “ 109 Zitiert nach Maas-Ewerd, Die Krise (wie Anm. 11), 534. 110 Die „Liturgiebischöfe“ Landersdorfer und Stohr hatten in ihrer Eingabe an Papst Pius XII. vom 2. Juni 1942 die in Rede stehenden Änderungen damit begründet, „daß im Reiche schärfster Antisemitismus herrscht in Wort und Tat“. Wörtlich heißt es weiter (ebd., 529): „Viele gute Katholiken, auch Priester, tragen schwer am starken jüdischen Einschlag im Gebetsleben der Kirche. Die Dinge liegen nämlich so, daß schon gewisse alttestamentliche Namen wie Abraham, Isaak, Jakob, Israel, Sara usw. einen starken Widerwillen auslösen. Das führt dann dazu, daß mancher Priester z. B. im Brautsegen diese Namen einfach wegläßt oder die Gebete Liturgiereform vor dem Konzil 307 Dass der mit der nationalsozialistischen Bewegung sympathisierende damalige Rektor des deutschen Priesterkollegs S. Maria dell’Anima in Rom, Titularbischof Alois Hudal (1885-1963), nicht nur aus pastoralen, sondern auch aus deutschnationalen Überlegungen heraus den in deutscher Sprache gehaltenen Ritualeentwürfen hohes Lob spendete 111 , wird man aus heutiger Sicht nicht mehr so begeistert feiern, wie dies der Trierer Generalvikar Heinrich von Meurers seinerzeit getan hat. 112 Es verdient anerkennend hervorgehoben zu werden, dass ausgerechnet Erzbischof Gröber, der in der Anfangsphase dem nationalsozialistischen Regime ungebührlich weit entgegenzukommen bereit war, inzwischen freilich hell- und einsichtig geworden, mit aller gebotenen Standfestigkeit derartigen Tendenzen entgegentrat. In einem am 21. April 1943 an Kardinal Bertram als dem Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz gerichteten Schreiben verwahrte er sich dagegen, „heilige Namen aus dem Alten Testament ‚mit Rücksicht auf die gegenwärtige Zeit‘ zu tilgen“. Gröber wörtlich: „Wir haben doch nicht im Sinne, in der heiligen Liturgie unbegreiflicherweise nachzuahmen, was andere zur Zeit den jüdischen Namensträgern in der Wirklichkeit zufügen. Gerade jetzt sollte man charakterlich das Gegenteil erwarten.“ 113 2.6 Römische Approbation für doppelsprachige Ritualien Als nach dem Ausgang des Zweiten Weltkrieges die Bemühungen um die römische Approbation des deutschen Einheitsrituales wiederaufgenommen wurden, erfolgte eine neuerliche Textrevision durch den Kölner Liturgikprofessor Theodor Schnitzler und Johannes Wagner. Sie beseitigte gottlob alle unangebrachten Verbeugungen vor dem Zeitgeist der nationalsozialistischen Ära. 114 Kardinal Frings, dem es auf der Fuldaer Bischofskonferenz im Herbst 1948 gelang, auch die übrigen Bischöfe hinter sich zu bringen, beantragte in Rom die Approbation, die dank des in möglichst unverständlicher Weise murmelt, um nicht anzustoßen und die Sakramente und Segnungen der Kirche nicht odios zu machen. So haben wir auch geglaubt, diesen nun einmal gegebenen Umständen im Brautsegen und sonst gelegentlich Rechnung tragen zu müssen, ohne weitere Änderung des Textes, lediglich durch Auslassung, und wir wären glücklich versichert sein zu dürfen, daß diese Rücksichtnahme auf das Volksempfinden nicht als gegen den kirchlichen Sinn verstoßend empfunden wird“. 111 Vgl. Maas-Ewerd, Die Krise (wie Anm. 11), 235-240. Die Stellungnahme Hudals wurde ausgelöst durch das Buch Doerners (wie Anm. 20) und die darin enthaltenen Angriffe gegen den Gebrauch der deutschen Sprache im katholischen Gottesdienst. Den Brief Hudals an Doerner vom 16. Oktober 1942 hat G. Adriányi veröffentlicht (wie Anm. 20, S. 316-321); zum Vorgang ebd., 108-112. Im deutschen Episkopat nahm namentlich Erzbischof Gröber Anstoß an den allzu nationalen Tönen dieses Briefes; vgl. Maas-Ewerd, Die Krise (wie Anm. 11), 568. 112 Der Trierer Generalvikar ließ den Brief Bischof Hudals vervielfältigen und im Bistumsklerus sowie beim deutschen Episkopat verbreiten. In einem Dankesbrief an Hudal wertete er die Stellungnahme als „ein wertvolles und wichtiges Schreiben, das der Sache der liturgischen Arbeit große Dienste“ leiste; vgl. Maas-Ewerd, Die Krise (wie Anm. 11), 240. Zur Person A. Hudal, Römische Tagebücher, Graz-Stuttgart 1976. Zu seinen großdeutschen Ansichten vgl. A. Hudal, Die Grundlagen des Nationalsozialismus, Wien 1936. 113 Zitiert nach Maas-Ewerd (wie Anm. 11), 647-660, hier 658. 114 Allerdings nicht restlos: In V. 8 des Benedictus wurde „Israel“ durch „sein Volk“ übersetzt, in den Sterbegebeten „Abrahams Schoß“ durch „Himmelreich“ wiedergegeben. Liturgiereform im Umkreis des Vatikanum II 308 persönlichen Eingreifens des Papstes rasch und „im wesentlichen ohne Abstriche“ gewährt wurde. 115 So erhielt Deutschland 1950 in Gestalt der „Collectio Rituum pro omnibus Germaniae dioecesibus“ ein liturgisches Buch, das bereits 15 Jahre vor Beginn der konziliaren Reform die Feier der Sakramente und des Begräbnisses in deutscher Sprache ermöglichte. Dieses „Kind vieler Mühen“ (Johannes Wagner) blieb erfreulicherweise kein Einzelkind. Bereits am 28. November 1947 hatte die Ritenkongregation ein zweisprachiges Rituale für Frankreich gestattet. 116 Es ging allerdings in der Öffnung zur Volkssprache nicht so weit wie das deutsche. 1949 wurde Ähnliches Indien gewährt. 117 2.7 Die Volkssprache bei der Messfeier Sehr viel schwieriger als im Bereich des Rituale erwiesen sich die Vorstöße in Richtung auf mehr Volkssprachlichkeit bei der Messfeier. In Deutschland war die Freude groß, als Rom am 24. Dezember 1943 einem mehrfach vorgebrachten Wunsch entsprach und die Praxis des „Deutschen Hochamtes“ in allen damals zu Deutschland gehörenden Bistümern zu tolerieren bereit war. 118 Damit hatte eine volksnahe Form der Gemeindemesse, die durch den Gesang deutscher Messlieder die aktive Teilnahme der Gläubigen am lateinischen Amt wesentlich erleichterte, die kirchenamtliche Anerkennung gefunden. Der weitergehende Wunsch, es möge gestattet werden, Lesung und Evangelium der Messe in der Volkssprache vorzutragen, fand dagegen in Rom zunächst kein Gehör. Eine der vier Schlussresolutionen des Ersten Deutschen Liturgischen Kongresses 1950 in Frankfurt griff das Anliegen nochmals auf mit der Bitte, die deutschen Bischöfe möchten sich für seine Erfüllung beim Papst einsetzen. 119 Doch gestattete Rom seit 1950 lediglich einzelnen Ortskirchen, was in Deutschland ohnehin gewohnheitsrechtlich seit langem praktiziert wurde: Nach der latei- 115 Vgl. Stohr, Deutsche Rituale (wie Anm. 81), 16f.; Heinz, Heinrich von Meurers (wie Anm. 107), 105f. [Umstritten war besonders die „deutsche Gregorianik“; vgl. A. Heinz, Die volkssprachlichen Begräbnisgesänge im Supplementum des deutschen Einheitsrituales (Collectio Rituum 1950), in: Liturgie im Angesicht des Todes. Neuzeit II. Katholische Traditionen, hg. von H. Becker, D. Fugger, J. Pritzkat, K. Süss, Tübingen 2004, 1055-1079.] 116 Der Text des Indults, in: EL 62 (1948) 280-282; vgl. zur Frage der doppelsprachigen Ritualien das vielbeachtete Referat des Kardinals von Lyon, Pierre-Marie Gerlier, auf dem Ersten Interantionalen Pastoralliturgischen Kongress von Assisi (1956); deutsche Fassung bei Wagner, Erneuerung der Liturgie (wie Anm. 143), 83-99. 117 Vgl. Gerlier, Referat (wie Anm. 116), 90; H. Schmidt SJ, Introductio in Liturgiam Occidentalem, Rom-Freiburg-Barcelona 1960, 160f. 118 Die Anerkennung wurde ausgesprochen in einem Brief des päpstlichen Staatssekretärs, Kardinal Maglione, an Kardinal Bertram; der Text ist dokumentiert bei Maas-Ewerd, Die Krise (wie Anm. 11), 692-695, hier 694; vgl. auch Wagner, Mein Weg (wie Anm. 99), 9f.; zum Vorgang: E. J. Lengeling, Das Deutsche Hochamt und der Heilige Stuhl, in: LJ 9 (1959) 220-243. 119 Vgl. J. Wagner, D. Zähringer (Hg.), Eucharistiefeier am Sonntag. Reden und Verhandlungen des Ersten Deutschen Liturgischen Kongresses. Trier 1951, 225. Der deutsche Episkopat machte sich jedoch diese Bitte des Kongresses nicht zu eigen; vgl. ebd., das Nachwort der Herausgeber. Liturgiereform vor dem Konzil 309 nischen Lesung der Perikopen durften Lesung und Evangelium zusätzlich in der Vokssprache vom Altarraum aus vorgetragen werden. Auf Antrag von Kardinal Frings erkannte die Ritenkongregation durch Schreiben vom 11. Februar 1959 diese Praxis für Deutschland ausdrücklich an. 120 In diesem Jahr gelang es auch, exklusiv für die deutschen Bistümer das Privileg zu erwirken, die Lesungen in den Gottesdiensten der Karwoche unmittelbar in der Volkssprache vorzutragen. 121 Wenigstens in diesem einen Jahr 1959 - die Erlaubnis wurde in den folgenden Jahren leider nicht erneuert - war für die Dauer einer Woche die leidige Doppelung beim Vortrag der Lesungen durchbrochen. Doch lagen diese zukunftsweisenden Erlaubnisse schon jenseits des Pontifikats Pius’ XII. († 9. Oktober 1958). Obwohl gegen Ende seines Pontifikates, etwa durch die zu Weihnachten 1955 erschienene Enzyklika über die Kirchenmusik „Musicae sacrae disciplina“ 122 und die am 3. September 1958 veröffentlichte Instruktion der Ritenkongregation „Über die Kirchenmusik und die heilige Liturgie im Geiste der Enzykliken Papst Pius’ XII. ‚Musicae sacrae disciplina‘ und ‚Mediator Die‘“ 123 wieder sehr stark die Bedeutung des Latein als der Kultsprache der römischen Liturgie betont wurde, darf ein erstaunliches Faktum nicht übersehen werden. Es war Pius XII., der 1949, im Jahr der Gründung der Volksrepublik China, den chinesischen Katholiken erlaubte, die ganze Messe, mit Ausnahme des Kanons, in der Volkssprache zu feiern. 124 Bedauerlicherweise verhinderte die kurz darauf über die Kirche Chinas hereinbrechende Verfolgung, dass sich diese weitherzige Erlaubnis in der Seelsorgspraxis auswirken konnte. Dass bereits Pius XII. die Tür zu jener Entwicklung auftat, die dann im Zuge der nachkonziliaren Reform den Volkssprachen die uneingeschränkte Anerkennung als Liturgiesprachen gebracht hat, bestätigen nicht zuletzt die Dokumente des Zweiten Vatikanums. In dem für die Öffnung auf diesem Sektor grundlegenden Artikel 36 der Liturgiekonstitution zitieren die Väter „Mediator Dei“. Sie berufen sich auf die Aussage Pius’ XII.: „In nicht wenigen liturgischen Feiern kann die Verwendung der Volkssprache sehr nützlich sein.“ Daraus zog das Konzil die konsequente Schlussfolgerung: „Also soll es gestattet sein, ihr einen weiteren Raum zuzubilligen …“ 3. Die Liturgie-Enzyklika „Mediator Dei“ Es dürfte wohl keine Übertreibung sein, wenn man behauptet: „Mediator Dei“ ist die bedeutendste lehramtliche Äußerung zum Gottesdienst der Kirche in den 400 Jahren zwischen dem Konzil von Trient und dem Zweiten Vatikanum. Als die am 20. November 1947 veröffentlichte Enzyklika 125 in Deutschland mit einiger 120 Text des Reskripts vom 11. Februar 1959, in: LJ 9 (1959) 121. 121 Reskript vom 9. März 1959, in: LJ 9 (1959) 121. 122 AAS 48 (1956) 5-25. Deutsche Fassung bei Meyer und Pacik (wie Anm. 68), 57-79. 123 AAS 50 (1958) 630-663. Deutsche Fassung bei Meyer und Pacik (wie Anm. 68), 80-124. 124 Dekret des Hl. Offiziums vom 12. April 1949; vgl. Schmidt, Introductio (wie Anm. 117), 212; N. Kowalsky, Römische Entscheidungen über den Gebrauch der Landessprache bei der hl. Messe in den Missionen, in: NZM 9 (1953) 241-251. 125 AAS 39 (1947) 521-595. Die offizielle deutsche Fassung erschien bei Herder in Wien 1948; Auszüge bei Meyer und Pacik (wie Anm. 68), 46-56. Liturgiereform im Umkreis des Vatikanum II 310 Verzögerung bekannt wurde, war unter den Freunden und Förderern der Liturgischen Bewegung die Erleichterung groß. 126 Rom hatte gesprochen, und zwar im Sinne einer grundsätzlichen Anerkennung der Grundanliegen der Liturgischen Bewegung. Josef Andreas Jungmann wertete das Ereignis als „Markstein in der inneren Geschichte der katholischen Kirche“. 127 „Mediator Dei“ bedeutet nach ihm eine „säkulare Wende im Leben der Kirche.“ 128 Ihm schien die mehr als tausendjährige Trennung zwischen Volk und Altar, zwischen dem Beten des Priesters und der Andacht der Gemeinde, nunmehr grundsätzlich überwunden zu sein. Die lebendige und tätige Teilnahme der Gläubigen an den liturgischen Feiern, von der programmatisch bereits Pius X. gesprochen hatte, trat sozusagen auf jeder Seite des päpstlichen Lehrschreibens als Grundanliegen hervor. Was die Liturgische Bewegung von der ersten Stunde an vor allem anderen angestrebt hatte: die am Gottesdienst teilnehmenden Gläubigen zum Volk Gottes um den Altar werden zu lassen, ihr persönliches Beten mit dem Beten der Kirche zu verbinden, Gemeinschaft von der Mitte her wachsen und sich darstellen zu lassen, das wurde nun von höchster Warte als Anliegen der Kirche selbst anerkannt. 3.1 Klärung des Liturgiebegriffs Diese Anerkennung geschah nicht bloß aus pastoralen Überlegungen. Sie erwuchs aus einer vertieften theologischen Sicht der Liturgie. „Mediator Dei“ stellte klar: Liturgie ist nicht bloß frommes Zeremoniell, ein äußerer sinnenfälliger Apparat kirchlicher Kulthandlungen. 129 Zur Liturgie gehört wesentlich die Innenseite des Gottesdienstes. Die Aussagen der Enzyklika „Mystici Corporis“ aus dem Jahre 1943 fortführend, bestimmte Pius XII. Liturgie als „den gesamten öffentlichen Kult des mystischen Leibes Jesu Christi …, seines Hauptes nämlich und seiner Glieder“. Der verherrlichte Christus selbst ist handelnd gegenwärtig, wo immer die Kirche Gottesdienst feiert, insbesondere, wenn sie die Gedächtnisfeier seines Todes und seiner Auferstehung begeht. Dort führt er im Heiligen Geist sein Erlösungswerk durch die Zeit fort zum Heil der Welt und zur Verherrlichung des Vaters. Dabei lässt er das Gottesvolk des Neuen Bundes an seinem priesterlichen Dienst partizipieren. Das päpstliche Dokument stellte klar, dass es bei der Feier der Liturgie 126 Vgl. Th. Maas-Ewerd, Mediator Dei - vor 50 Jahren ein Signal, in: LJ 47 (1997) 129-150, hier 131f. 127 J. A. Jungmann, Die Enzyklika „Mediator Dei“ und die katholische liturgische Bewegung im deutschen Raum, in: ThLZ 75 (1950) 10-16, hier 10. Einen Überblick über die Reaktionen in den verschiedenen Ländern bietet B. C. (Capelle): Autour de l’Encyclique ‚Mediator‘, in: QLP 31 (1950) 12-17. 128 J. A. Jungmann, Unsere liturgische Erneuerung im Lichte des Rundschreibens ‚Mediator Die‘. Rückblick und Wegweisung, in: GuL 21 (1948) 249-259, hier 251. 129 Diesen zentralen Punkt hat vor allem J. M. Hanssens in seinem Kommentar hervorgehoben; vgl. Ders., La liturgia nell’ enciclica ‚Mediator Die‘, in: CivCatt 99 (1948) 1, 579-594; 2, 242-255; Ders., Annotationes in Litteras Encyclicas ‚Mediator Dei et hominum‘, in: PRMCL 37 (1948) 59-87. Liturgiereform vor dem Konzil 311 nicht darum geht, dass ein amtlich dazu bestellter Priester ein vorgeschriebenes Ritual vollzieht, sondern dass Christus selbst der Handelnde ist, dem der Priester gleichsam seine Hände und seine Stimme leiht; der erhöhte Herr selbst nimmt sein Volk hinein in seinen Heils- und Gottesdienst. Das Zweite Vatikanische Konzil drückte es, an „Mediator Dei“ anknüpfend, in Artikel 7 der Liturgiekonstitution so aus: „Jede liturgische Feier als Werk Christi, des Priesters, und seines Leibes, der die Kirche ist, ist in vorzüglichem Sinne heilige Handlung, deren Wirksamkeit kein anderes Tun der Kirche an Rang und Maß erreicht.“ In dieser Perspektive ist auch die erstaunliche Aussage der Konzilsväter keineswegs eine fromme Übertreibung: Die Liturgie als doxologische und heilsvermittelnde Synergie Christi und seiner Kirche ist in der Tat „der Gipfel, dem das Tun der Kirche zustrebt, und zugleich die Quelle, aus der all ihre Kraft strömt“ (SC 10). Der Papst selbst hatte durch „Mediator Dei“ anerkannt, dass es in der Liturgischen Bewegung nicht bloß um Äußerlichkeiten ging, wie manche ihrer Kritiker ihr immer wieder unterstellten. So war etwa noch in einem 1949 erschienenen kirchengeschichtlichen Handbuch der Satz zu lesen: „Während die ganze Welt in Flammen stand, berieten die [die Anhänger der Liturgischen Bewegung] eingehend, ob und wie diese oder jene Zeremonie zu ändern wäre.“ 130 Nach dem Erscheinen von „Mediator Dei“ hätte dieses gründliche Missverständnis der wahren Anliegen des „mouvement liturgique“ einem Historiker eigentlich nicht mehr unterlaufen dürfen. Auch das skeptische Wort des Münchener Benediktiners und späteren Abtes von St. Bonifaz in München, Hugo Lang (1892-1967), das er 1939 geäußert hatte, als die Krise der Liturgischen Bewegung in Deutschland sich anbahnte, hatte nun keine Berechtigung mehr, sein Ausspruch nämlich: „Die Liturgische Bewegung hat eine kurze Geschichte, eine bunte Gegenwart und eine ungewisse Zukunft.“ 131 Ihre Zukunft war nach dem Erscheinen von „Mediator Dei“ nicht länger ungewiss. 3.2 Lob und Tadel Zwar teilte der Papst nicht mit beiden Händen Lob an die Pioniere der Liturgischen Bewegung aus. Noch einmal kommen ausführlich die in früheren Stellungnahmen Roms oder in bischöflichen Interventionen (man denke etwa an das Memorandum des Freiburger Erzbischofs Conrad Gröber) bereits vorgebrachten Bedenken und Warnungen vor gewissen Einseitigkeiten, Eigenmächtigkeiten und Übersteigerungen der „liturgisch Bewegten“ (Gröber) zur Sprache. 132 Pius XII. nimmt zum Beispiel die eingelebten Formen volksfrommer Andachten in Schutz, die manche Enthusiasten der Liturgischen Bewegung als subjektiv und individu- 130 L. Herting, Geschichte der Katholischen Kirche, Berlin 1949, 381f. 131 H. Lang, Die liturgische Gesamtdurchdringung und -formung der katholischen Gemeinden. Das Fazit der Liturgischen Erneuerung, in: W. Meyer, P. Neyer (Hg.), Gestaltkräfte lebensnaher Seelsorge, Wegweisung durch die religiösen Ideen der Zeit für den Klerus deutscher Zunge, Freiburg i. Br. 1939, 239-264, hier 240; vgl. zur Person W. Mathäser, Aus dem literarischen Schaffen von Abt Hugo Lang OSB (1892-1967), St. Ottilien 1972; Maas-Ewerd, Die Krise (wie Anm. 11), 98. 132 Vgl. Maas-Ewerd, Mediator Dei (wie Anm. 126), 139-142. Liturgiereform im Umkreis des Vatikanum II 312 alistisch bekämpften zugunsten einer angeblich allein berechtigten objektiven, im Kult wurzelnden Frömmigkeit. Der Papst warnt vor liturgischem Archäologismus, der alles Alte schwärmerisch idealisiert und neuere Entwicklungen im Frömmigkeitsleben als dekadent abtun möchte (z. B. Ablehnung der Polyphonie in der Kirchenmusik, nur noch das romanische Triumphkreuz anstelle des gotischen Schmerzensmannes, Animosität gegenüber Einzelzelebration, nur mehr der zum Volk gewendete Altar). Pius Parsch 133 nahm Anstoß an so viel Tadel. Ihm stachen die Warnungen des Papstes „vor Überspitzungen und Übereifer“ so sehr in die Augen, dass er zu den wenigen aus den Reihen der Liturgischen Bewegung gehörte, die von „Mediator Dei“ enttäuscht waren. Er fürchtete, dass angesichts dieser päpstlichen Kritik die Gegner wieder ihr Haupt erhöben. Dabei hatte der Papst gleich im Eingang seines Rundschreibens klargestellt: „Es sollen jedoch die Trägen und Lässigen nicht meinen, wir wären mit ihnen zufrieden, weil wir die Irrenden tadeln und die allzu kühnen zügeln.“ Zutreffend erkannte Josef A. Jungmann dagegen: „… viel gewichtiger und von größerer Tragweite [als die Kritik an den Auswüchsen] sind jene Darlegungen, die Grundgedanken der Liturgischen Bewegung aufgreifen und … als Norm verkünden. Niemand wird den großen Zug verkennen, der die Ausführungen des Papstes beherrscht.“ 134 Zu dieser positiven Beurteilung kam auch Johannes Wagner: „Alles in allem kann man sagen: Trotz, nein gerade wegen ihrer vielen Zwar und Aber, ihrer Belehrungen, Warnungen und Weisungen ist die Enzyklika ‚Mediator Die‘ als Ganzes ein Lob der liturgischen Erneuerungsbewegung, eine Anerkennung ihrer großen Anliegen, um deren Verwirklichung sie sich seit über einem Menschenalter bemüht hat, und eine Bestätigung des Weges, den diese Bewegung gegangen ist.“ 135 Er bewertete „Mediator Dei“ hellsichtig als ein Signal, das die Entwicklung der liturgischen Erneuerungsarbeit, die Rom nun zu seiner Sache gemacht hatte, vorantreiben würde. 3.3 Positive Wirkungen In der Tat wirkte die Enzyklika stimulierend. Unter dem unmittelbaren Eindruck dieses Dokuments gründeten die Mitglieder der Liturgischen Kommission der Fuldaer Bischofskonferenz am 17. Dezember 1947 in Augsburg das überdiözesane deutsche Liturgische Institut, das, in Trier angesiedelt, bis 1953 von Generalvikar Heinrich von Meurers präsidiert und von Johannes Wagner (bis 1975) geleitet wurde. 136 Die Anfänge waren bescheiden. Doch ist besonders die von der ersten 133 Pius Parsch hat die Verärgerung über diese ausgedehnten Ermahnungen und Warnungen den Blick getrübt für die gewichtigeren positiven und ermutigenden Äußerungen des päpstlichen Dokuments; vgl. Th. Maas-Ewerd, Zur Reaktion Pius Parschs auf die Enzyklika „Mediator Dei“, in: Höslinger, Maas-Ewerd, Mit sanfter Zähigkeit (wie Anm. 8), 199-214. 134 Jungmann, Die Enzyklika (wie Anm. 127), 12. 135 Zitiert nach Maas-Ewerd, Enzyklika „Mediator Dei“ (wie Anm. 133), 205. 136 Das Deutsche Liturgische Institut feierte mit einem Symposium zum Thema „Heute Gott feiern“ vom 15.-17. Dezember 1997 in Trier sein 50-jähriges Bestehen; vgl. J. Meisner, Die Liturgiereform vor dem Konzil 313 Stunde an gesuchte, enge Zusammenarbeit mit dem bereits 1943 entstandenen „Centre de Pastorale Liturgique“ in Paris hervorzuheben, die für die liturgische Erneuerungsarbeit im Umfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils so bedeutsam werden sollte. 137 Vergleichbare zentrale Arbeitsstellen für gottesdienstliche Fragen entstanden 1947 in Italien und Belgien. In zahlreichen Diözesen kam es zur Gründung der vom Papst gewünschten diözesanen Liturgiekommission. 138 In Rom selbst ging die bereits 1946 zum Zweck der Weiterführung der unvollendet gebliebenen Liturgiereform Pius’ X. ins Leben gerufene sogenannte „Pius- Kommission“, von der Öffentlichkeit völlig unbemerkt, mit Elan und erstaunlicher Effizienz ans Werk. Eines ihrer Mitglieder, der damalige Schriftleiter der offiziösen römischen Liturgie-Zeitschrift „Ephemerides Liturgicae“ und spätere Sekretär der Gottesdienstkongregation, Annibale Bugnini, lancierte 1948 eine Umfrage unter 100 ausgewählten Fachleuten der Liturgiewissenschaft in aller Welt und erbat Vorschläge für die anstehende Reform des Breviers, aber auch Bemerkungen „zu den anderen liturgischen Büchern“. 139 Die Empfänger dieser vertraulichen römischen Anfrage - zu ihnen gehörte in Deutschland der Bonner Liturgiewissenschaftler Theodor Klauser (†1984) 140 - ahnten, dass nach „Mediator Dei“ nun bald mehr zu erwarten war. In Rom betrachtete man offenbar dieses päpstliche Lehrschreiben nicht als rückwärtsblickende Auseinandersetzung mit Irrtümern und Fehlentwicklungen innerhalb der Liturgischen Bewegung, sondern - wie es Erzbischof Montini, der spätere Papst Paul VI. in seinem viel beachteten, der „Erziehung zur Liturgie“ gewidmeten Hirtenbrief zur Fastenzeit 1958 ausdrückte - als „Magna Charta der liturgischen Erneuerung der Kirche“ 141 , also als sichere Basis und Ausgangspunkt für die nun einzuleitenden konkreten Reformschritte. Die Verantwortlichen in den Liturgischen Instituten von Paris und Trier deuteten deshalb die Zeichen der Zeit richtig, als sie von 1951 an internationale liturgiewissenschaftliche Studientreffen organisierten, die über mögliche zukünftige Reformen des Gottesdienstes berieten. Ohne dass jemand dies ahnen konnte, haben diese insgesamt acht Tagungen der umfasheilige Liturgie. Predigt beim Festgottesdienst anläßlich der 50-Jahr-Feier des Deutschen Liturgischen Instituts am 17.12.1997 in Trier, in: Gd 32 (1998) 9-11; 17-21. K. Lehmann, Die Kunst, Gottesdienste zu gestalten. Festvortrag anläßlich der 50-Jahr-Feier des Deutschen Liturgischen Instituts in Trier am 17.12.1997, in: Gd 32 (1998) 17-21. [A. Heinz, Das Liturgische Institut in Trier und seine Bedeutung für die Rezeption der Liturgiekonstitution in Deutschland, in: HlD 57 (2003) 234-243.] 137 Vgl. dazu S. Schmitt, Die internationalen liturgischen Studientreffen der Jahre 1951 bis 1960. Zur Vorgeschichte der Liturgiekonstitution (TThSt 53), Trier 1992; kritische Rez. von Th. Maas-Ewerd, in: LJ 43 (1993) 209-211. 138 Einen Überblick über die weltweite Auswirkung der Enzyklika bietet Th. Bogler (Hg.), Liturgische Erneuerung in aller Welt. Ein Sammelbericht, Maria Laach 1950. 139 Vgl. dazu außer Bugninis Memoiren (wie Anm. 49) bes. Maas-Ewerd, Ein kühner Schritt (wie Anm. 52). 140 Th. Klauser war von 1947-1952 Berater der Liturgiekommission der Fuldaer Bischofskonferenz; zu Person und Werk vgl. E. Dassmann, Theodor Klauser 1854-1984, in: JAC 27/ 28 (1984/ 85) 5-23; Balth. Fischer, In memoriam Theodor Klauser, in: Gd 18 (1984) 137f. 141 In deutscher Übersetzung veröffentlicht, in: LJ 8 (1958) 166-180, hier Nr. 8. Liturgiereform im Umkreis des Vatikanum II 314 senden Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils vorgearbeitet und ihre Durchführung innerhalb weniger Jahre erst möglich gemacht. 142 Eine erste Bilanz des nach „Mediator Dei“ bereits Erreichten wollte der Erste Internationale Pastoralliturgische Kongress ziehen, der im September 1956 in Assisi stattfand, hochkarätig besetzt und vom Präfekten der Ritenkongregation, Kardinal Cicognani, selbst präsidiert. Die Großveranstaltung stand unter dem Leitwort: La restaurazione liturgica nell’opera di Pio XII. 143 Der Papst empfing die Kongressteilnehmer in Rom und hielt eine vielbeachtete Ansprache. An jenem 22. September war aus dem Mund Papst Pius’ XII. das seitdem oft zitierte, vom Zweiten Vatikanischen Konzil zustimmend aufgegriffene (SC 43) Wort zu hören: „Die Liturgische Bewegung ist also gleichsam als ein Zeichen der göttlichen Vorsehung für die gegenwärtige Zeit aufgeleuchtet; sie war wie ein Hindurchgehen des Heiligen Geistes in seiner Kirche, um die Menschen den Geheimnissen des Glaubens und den Reichtümern der Gnade näherzubringen, welche aus der tätigen Teilnahme der Gläubigen am liturgischen Leben strömen.“ 144 Dieses Wort des Papstes, der selbst - anders als Paul VI. 145 - kein Mann der Liturgischen Bewegung war, zeigt, mit welcher Hellsichtigkeit Pius XII. die Bedeutung dieser großen kirchlichen und spirituellen Erneuerungsbewegung erkannt hatte. Ihm ist es auch zu danken, dass zu einer Zeit, als - nach einem Wort von Erzbischof Annibale Bugnini - es noch etwas Unerhörtes war, „auch nur eine Rubrik anzutasten oder von ‚Reform‘ zu reden“ 146 , erste wichtige Reformschritte gewagt wurden. Der Nachruf, den das „Liturgische Jahrbuch“ dem am 9. Oktober 1958 verstorbenen Papst gewidmet hat, würdigt die Bedeutung seines Pontifikats für die liturgische Erneuerung treffend mit den Worten: „Unter den Gesta Dei per Pium Papam XII wird zu allen Zeiten genannt werden, daß er das Werk der Erneuerung, das sein heiliger Vorgänger Pius X. begann, wieder aufgegriffen und mit Mut und Weitsicht ein Stück weitergeführt hat. Die Aufgabe war zu groß und zu umfassend, als daß es ihm bereits hätte vergönnt sein können, das Werk zu vollenden. Doch wird von allen Ehrentiteln, mit denen die Geschichte den heimgegangenen Papst schmücken wird, nicht der geringste sein: Hebdomadae Sanctae Instaurator - Erneuerer der Liturgie der Heiligen Woche.“ 147 142 S. oben Anm. 136. 143 Unter diesem Titel erschien die italienische Ausgabe der Kongressakten: Atti del Primo Congresso Internazionale di Liturgia Pastorale - Assisi-Roma 18-22 Settembre 1956, hg. vom Centro di Azione Liturgica, Genova 1957. Die vom Liturgischen Institut hg. deutsche Ausgabe besorgte J. Wagner: Erneuerung der Liturgie aus dem Geiste der Seelsorge unter dem Pontifikat Papst Pius’ XII., Trier 1957. 144 AAS 48 (1956) 711-725, hier 712; vgl. Atti (wie Anm. 142), 3f.; Wagner, Erneuerung der Liturgie (wie Anm. 143), 344. 145 Vgl. W. von Arx, Der Anteil Papst Pauls VI. an der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils (Fuldaer Hochschulschriften 2), St. Ottilien 1987; J. Wagner, Der Papst der Liturgiereform. Zum Heimgang von Papst Paul VI., in: Gd 12 (1978) 129-131. 146 Bugnini, Liturgiereform (wie Anm. 49), 31. 147 LJ 8 (1958) 193. 15 Liturgiewissenschaftliche Forschung und liturgisches Leben der Pfarreien Im Kosmos der theologischen Disziplinen an den katholischen Universitäten und Hochschulen ist die Liturgiewissenschaft die jüngste. Vor kurzem hat Pierre- Marie Gy OP, einer der maßgeblichen Mitgestalter der Liturgiereform des Zweiten Vatikanums und frühere Direktor des „Institut Supérieur de Liturgie“ in Paris, Kardinal Ratzinger in einer Rezension seines Buches „Der Geist der Liturgie“ 1 vorgehalten, der Präfekt der Glaubenskongregation sei im Grunde kein wirklicher Liturgiewissenschaftler. 2 Darauf hat Kardinal Ratzinger sinngemäß geantwortet: Auch Romano Guardini und die anderen großen Repräsentanten der Liturgischen Bewegung waren keine Professoren der Liturgiewissenschaft. Dieses Fach gab es damals in der akademischen Landschaft noch nicht. 3 Der Kardinal hat Recht. Zur Zeit des Konzils existierte im ganzen deutschen Sprachgebiet ein einziger Lehrstuhl für Liturgiewissenschaft: an der Theologischen Fakultät in Trier. 4 Erst das Zweite Vatikanum (1962-1965) hat die Liturgiewissenschaft an allen katholischen Fakultäten etabliert. 5 I. Die Genese der Liturgiewissenschaft im Kontext der Liturgischen Bewegung Aber lange davor gab es bereits eine intensive Forschung im Bereich der Liturgie. Sie ist aufs Engste verbunden mit der Liturgischen Bewegung, 6 die zur umfas- [Erstveröffentlichung: Liturgiewissenschaftliche Forschung und liturgisches Leben der Pfarreien, in: Comment faire de la théologie aujourd’hui? Continuité et renouveau. Hg. von O. H. Pesch und J.-M. van Cangh (Académie internationale des sciences religieuses), Bruxelles (Paris) 2003, 279- 290. Es handelt sich um ein Referat im Rahmen der vom 4. bis 8. September 2002 von der genannten Akademie durchgeführten Tagung im ökumenischen Kloster Bose/ Magnano bei Turin/ Italien.] 1 J. Kardinal Ratzinger, Der Geist der Liturgie. Eine Einführung, Freiburg-Basel-Wien 2000; französisch: L’esprit de la liturgie, Paris 2001. 2 Vgl. P.-M. Gy OP, Ist „Der Geist der Liturgie“ Kardinal Ratzingers dem Konzil treu? , in: LJ 52 (2002) 59-65, hier 64. Die französische Fassung der Rezension in: La Maison-Dieu, Nr. 229 (März 2002). 3 Vgl. J. Kardinal Ratzinger, „Der Geist der Liturgie“ oder: Die Treue zum Konzil, in: LJ 52 (2002) 111-115, hier 114. 4 Vgl. A. Heinz, Der erste Lehrstuhl für Liturgiewissenschaft an einer deutschen Theologischen Fakultät (Trier 1950), in: TThZ 108 (1999) 291-304. [Nachdruck in: A. Heinz, Liturgie und Frömmigkeit. Beiträge zur Gottesdienst- und Frömmigkeitsgeschichte des (Erz-)Bistums Trier und Luxemburgs zwischen Tridentinum und Vatikanum II, Trier 2008, 429-441.] 5 Vgl. Vatikanum II, Konstitution über die heilige Liturgie „Sacrosanctum Concilium“ (SC), Art. 16. Im deutschen Sprachgebiet gibt es heute (2002) 27 Lehrstühle für Liturgiewissenschaft. 6 Vgl. den Überblick von Th. Maas-Ewerd, Art. Liturgische Bewegung, in: LThK 6 (Freiburg 3 1997), 992f. (Lit.). Liturgiereform im Umkreis des Vatikanum II 316 senden Liturgiereform des letzten Konzils geführt hat. Ihre Wurzeln hat sie in dem nach der Französischen Revolution erneuerten benediktinischen Mönchtum Frankreichs. Die Abtei Solesmes (1833) war ihr erstes Zentrum und Abt Dom Prosper Guéranger (†1875) ihr Inspirator. Die Liebe zur Liturgie der Kirche und der Wunsch, ihre Geschichte zu erforschen hat Solesmes weitergegeben an seine direkten oder indirekten Gründungen: in Deutschland Beuron (1863) und Maria Laach (1892), in Belgien Maredsous (1872) und Mont-César oder Keizersberg in Löwen (1899). Die von diesen benediktinischen Zentren respräsentierte erste Phase der Liturgischen Bewegung war restaurativ. Sie schaute zurück. Ihr Ideal war die reine römische Liturgie, vom Klerus streng nach den Vorschriften der tridentinischen Bücher, in Latein und exklusiv mit Gregorianischem Choral gefeiert. Die Tempel dieser Liturgie waren nicht die Pfarrkirchen, sondern die Klöster. In der zweiten, pastoralen Phase war das anders. Sie beginnt mit dem, was man das Mechelner Ereignis 7 genannt hat. Auf dem gesamtbelgischen Katholikentag 1909 gab der charismatische Mönch Dom Lambert Beauduin (1873-1960) 8 die Devise aus: „Il faudrait démocratiser la liturgie! “ Er griff damit ein Wort von Papst Pius X. auf, das dieser in seinem Rundschreiben über die Kirchenmusik „Tra le sollecitudini“ vom 22.11.1903 zum ersten Mal gebraucht hat. Es wurde zum Leitmotiv der Liturgischen Erneuerung: Participatio actuosa fidelium! Die Gläubigen sollen nicht länger als stumme Zuschauer der Liturgie beiwohnen, sondern die Mysterien der Kirche bewusst und tätig mitfeiern. Der Papst ermunterte die Gläubigen auch zur sakramentalen Vollteilnahme an der Eucharistie durch seine Dekrete über die häufigere Kommunion und die rechtzeitige Erstkommunion der Kinder. 9 Jetzt rückte die Pfarrei in den Mittelpunkt des Interesses. Die von der Abtei Keizersberg seit 1911 herausgegebene liturgiewissenschaftliche Zeitschrift hieß programmatisch: „Questions liturgiques et paroissiales“. Von Belgien, das damals die Liturgische Bewegung in Europa anführte, sprang der Funke nach Deutschland über. Hier fiel der Samen auf guten Boden. Romano Guardini, der 1917 in der von Abt Ildefons Herwegen (1874-1946), Maria Laach, begründeten Reihe „Ecclesia Orans“ sein berühmtes kleines Buch „Vom Geist der Liturgie“ veröffentlichte, nannte den entscheidenden Grund: „Die Kirche erwacht in den Seelen! “ 10 „Die Kirche ist es“, so Guardini, „die in der Liturgischen Bewegung mit Ehrfurcht und Freude neu entdeckt wurde.“ 11 Wo die Gläubigen sich bewusst wurden, dass sie Glieder am mystischen Leib der Kirche waren, erwachte in ihnen der Wunsch, die Liturgie der Kirche zu verstehen und aktiv mitzufeiern. Es war zuerst die katholische Jugend, die nach Formen der „Konzelebration“ von Priester und Gemeinde suchte und diese Formen dann in die 7 Vgl. Balth. Fischer, Das „Mechelner Ereignis“ vom 23.9.1909, in: LJ 9 (1959) 203-219. 8 Vgl. A. Haquin, Dom Lambert Beauduin et le renouveau liturgique, Gembloux 1970. [J. Mortiau/ R. Loonbeek, Dom Lambert Beauduin. Visionnaire et précurseur (1873-1960). Un moine au coeur libre. Préface par E. Bianchi, Paris 2005.] 9 Vgl. A. Bugnini, Documenta Pontificia ad instaurationem liturgicam spectantia, Bd. I (1903- 1953), Rom 1953, Nr. 1-10, S. 1-51. 10 R. Guardini, Vom Erwachen der Kirche in der Seele, in: Hochland 19 (1922) 257-267. 11 R. Guardini, Pius XII. und die Liturgie, in: LJ 6 (1956) 125-138, hier 129. Liturgiewissenschaftliche Forschung und liturgisches Leben der Pfarreien 317 Pfarreien trug. Die Pfarrei wurde damals nicht bloß als eine soziologische Größe begriffen. Wie es ein Mönch aus Maria Laach, Athanasius Wintersig (1900-1942), in seinem Aufsatz „Pfarrei und Mysterium“ (1925) entfaltet hat, sah man in ihr theologisch ein Abbild der Ecclesia, eingeordnet in den mystischen Leib Christi der Bistums- und Weltkirche. 12 Karl Rahner wird später von der Pfarrei als „der primären Verwirklichung der Kirche als Ereignis“ sprechen. In der die Eucharistie und die Sakramente feiernden Gemeinde ist „der Gekreuzigte und Auferstandene heilspendend gegenwärtig“, hier wird „das Heil in sakramentaler Greifbarkeit anwesend“. 13 Die liturgisch interessierten Pfarrer wollten keine liturgischen Experimente. Sie wollten mit ihren Gläubigen die authentische Liturgie der Kirche feiern. Und die Experten ihrer Geschichte wollten, wie Odo Casel OSB (1886-1948) im ersten Band des von ihm zusammen mit Anton Baumstark und Romano Guardini herausgegebenen „Jahrbuchs für Liturgiewissenschaft“ (ab 1921) betonte, die Liturgie nicht reformieren, sondern „ehrfürchtig“ ihrer aus der Tiefe der Jahrhunderte kommenden Stimme lauschen, um „das reiche und tiefe Leben“, das in ihr strömt, zu erkennen und zu erschließen. 14 Das liturgische Leben der Pfarreien wurde in der Tat als Quelle des christlichen Lebens erfahren. Die Devise hieß damals: „Seelsorge vom Altar aus! “ Die Liturgie war vor allem in der Zeit der Unterdrückung durch den Nationalsozialismus eine Kraftquelle des Widerstandes. Damit sie ihre inspirierende Kraft noch wirkungsvoller entfalten konnte, wollte man sie mehr und mehr in der Volkssprache feiern. Die Forschungen im Bereich der Liturgie und die pastoralen Aktivitäten der Experten wollten in dieser zweiten Phase der Liturgischen Bewegung direkt oder indirekt dem liturgischen Leben der Pfarreien dienen. Man denke an das Volksliturgische Apostolat des Pioniers der Liturgischen Bewegung in Österreich, Pius Parsch (1884-1954) 15 , an die Pilot-Pfarrei der Oratorianer in Leipzig, von wo die deutsche Vesper und Komplet sich in ganz Deutschland verbreitete. 16 In Frankreich wurde 1943 das „Centre de Pastorale liturgique“ in Paris gegründet. 17 Die ersten Publikationen des 1947 in Trier gegründeten deutschen Liturgischen Instituts waren Hilfen für die Pfarreien, damit sie die 1951 wiederhergestellte Oster- 12 Vgl. A. Wintersig, Pfarrei und Mysterium, in: JLW 5 (1925) 136-143. Zum Autor und seinem Werk vgl. B. Jeggle-Merz, Erneuerung der Kirche aus dem Geist der Liturgie. Der Pastoralliturgiker Athanasius Wintersig/ Ludwig A. Winterswyl (LQF 84), Münster 1998. 13 Zitiert nach Th. Maas-Ewerd, Liturgie und Pfarrei. Einfluß der Liturgischen Bewegung auf Leben und Verständnis der Pfarrei im deutschen Sprachgebiet, Paderborn 1969, 303f. 14 Vgl. das Vorwort der Herausgeber, in: JLW 1 (1921) 2. 15 Zu Person und Werk vgl. N. Höslinger/ Th. Maas-Ewerd, Mit sanfter Zähigkeit. Pius Parsch und die biblisch-liturgische Erneuerung, Klosterneuburg 1979. [W. Bachler, R. Pacik, A. Redtenbacher (Hg.), Pius Parsch in der liturgiewissenschaftlichen Rezeption. Klosterneuburger Symposion 2004 (Pius-Parsch-Studien 3), Würzburg 2005.] 16 Vgl. A. Poschmann, Das Leipziger Oratorium. Liturgie als Mitte einer lebendigen Gemeinde (Erfurter Theologische Studien 81), Leipzig 2001. 17 Vgl. C. Bressolette, Les 40 ans de l’Institut Supérieur de Liturgie: 1956-1996, in: P. De Clerck (Hg.), La Liturgie lieu théologique, Paris 1999, 7-42, hier 12-14 (CNPL). Liturgiereform im Umkreis des Vatikanum II 318 vigil lebendig feiern konnten. 18 Die sieben internationalen Studientreffen, zu dem die Institute von Paris und Trier die Liturgiewissenschaftler aus ganz Europa im letzten Jahrzehnt vor dem Konzil zusammenführten 19 , diskutierten alle wichtigen Fragen einer möglichen kommenden Liturgiereform - niemand ahnte damals, dass sie tatsächlich schon bald kommen würde - nicht aus rein wissenschaftlichem Interesse. Das Ziel war pastoral. Man wollte die Liturgie der Kirche dem christlichen Volk in ihrer Ursprünglichkeit und Klarheit wiedergeben, damit die Gläubigen sie bewusster und lebendiger und mit geistlichem Gewinn mitfeiern könnten. II. Beiträge der liturgiewissenschaftlichen Forschung zur Erneuerung des liturgischen Lebens der Pfarreien auf der Grundlage der Liturgiekonstitution (SC) Es kam das Konzil. Sein erstes Thema war die Liturgie. Die Verantwortlichen waren überzeugt: In diesem Bereich sind die Dinge am besten vorbereitet. Die Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils, mit überwältigender Mehrheit (es gab nur 4 Gegenstimmen) am 4. Dezember 1963 verabschiedet, versteht sich - im Unterschied etwa zur dogmatischen Konstitution über die Kirche - als pastorales Dokument. Es gibt in der Tat kein anderes Dokument des Konzils, das unmittelbarer das Leben der Pfarreien berührt und verändert hat. Die sonntägliche Pfarrmesse ist zum Beispiel im Missale Romanum Pauls VI. die Grundform der Eucharistiefeier, nicht etwa die „Privatmesse“ eines Priesters, wie es im tridentinischen Messbuch der Fall war, oder das Konventamt eines Klosters oder das Pontifikalamt des Bischofs. Wenn nach den wichtigsten Beiträgen der Liturgiewissenschaft für das auf der Grundlage der Liturgiekonstitution erneuerte liturgische Leben der Pfarreien gefragt wird, möchte ich sechs Punkte besonders hervorheben: 1. Die Anerkennung des gemeinsamen Priestertums der Gläubigen und die Wiederherstellung ihrer liturgischen Funktion. Das Volk selbst antwortet dem Priester wieder. Die Gläubigen füllen die ihnen zustehende Rolle wieder aus. Die Plebs sancta ist kein stummes Publikum mehr, sondern Subjekt der liturgischen Feiern, Trägerin des Gottesdienstes der Kirche. Es geht nicht um einen äußeren Aktivismus, sondern um die Ausübung des gemeinsamen Priestertums aller Getauften und Gefirmten, etwa wenn die Gläubigen in den Fürbitten der Messe und Vesper priesterlich vor Gott eintreten in den Nöten von Kirche und Welt. Im eucharistischen Teil der Messe bringen sie, 18 Vgl. J. Wagner, Liturgisches Referat - Liturgische Kommission - Liturgisches Institut, in: LJ 1 (1951) 8-14. Eine der ersten Publikationen des Instituts war das Büchlein: Die Feier der Osternacht. Praktische Hinweise zur Gestaltung. Hg. vom Liturgischen Institut zu Trier, Trier 1951. 2 1952. 3 1953. Nach der Reform der Karwochenliturgie (1955) erschien das Werkbuch: Die Feier der Heiligen Woche, Trier 1956. Zum Kontext vgl. A. Heinz, Liturgiereform vor dem Konzil. Die Bedeutung Pius XII. (1939-1958) für die gottesdienstliche Erneuerung, in: LJ 49 (1999) 3-38. 19 Vgl. S. Schmitt, Die internationalen liturgischen Studientreffen 1951-1960. Zur Vorgeschichte der Liturgiekonstitution (TThSt 53), Trier 1992. Liturgiewissenschaftliche Forschung und liturgisches Leben der Pfarreien 319 wie das Konzil sagt, „die unbefleckte Opfergabe, nicht nur durch die Hände des Priesters, sondern auch gemeinsam mit ihm dar, und sollen dadurch lernen, sich selber darzubringen.“ (SC 48). 2. Die neue Wertschätzung für das Wort Gottes. Welch ein Gewinn ist der wiederhergestellte Wortgottesdienst der Messe, am Sonntag mit drei Lesungen, dem Antwortpsalm und dem Lektorendienst von Laien. Der Tisch des Wortes Gottes wurde reicher gedeckt (SC 51). Es gibt keine liturgische Feier mehr ohne wenigstens ein Minimum an Wort-Gottes-Verkündigung. Die Qualität der völlig neuen Leseordnung für die Messe wird auch von protestantischen Kirchen anerkannt und ist von einigen in adaptierter Form übernommen worden. 3. Die Erneuerung der Christlichen Initiation. Die Feier der Eingliederung Erwachsener in die Kirche, der neue „Ordo Initiationis Christianae Adultorum“, ist unter den erneuerten Feiern der Sakramente für die Zukunft der Kirche vielleicht die mit Abstand wichtigste. 20 Nach dem Muster des altkirchlichen Katechumenats sieht er ein Hineinführen und Hineinwachsen in das Leben der Kirche, das heißt konkret in das Leben einer Pfarrei, in Etappen vor. Am Ende des katechumenalen Wegs steht die Feier der Eingliederung (möglichst in der Osternacht), in der die erwachsenen Kandidaten oder Kinder im Schulalter getauft, gefirmt und zur vollen Teilnahme an der Eucharistie zugelassen werden. Dieses Modell respektiert die ursprüngliche und theologisch richtige Reihenfolge der drei Initiationssakramente. Bei der Taufe von Säuglingen gibt es dagegen weiterhin die Erstkommunion erst im Schulalter und die Firmung erst in der Adoleszenz. Mit den orthodoxen Kirchen hoffen die Liturgiker auf eine Korrektur. Kann man denen, die zur Eucharistie zugelassen werden, erst Jahre danach das zweite Initiationssakrament sinnvoll spenden: die Gabe des Heiligen Geistes? 4. Die Liturgiewissenschaftler sind in die Schule des christlichen Ostens gegangen. Der Osten hat ihnen geholfen, die pneumatische Dimension der liturgischen Feiern wiederzuentdecken: „Dies alles geschieht in der Kraft des Heiligen Geistes“ (SC 6). An vielen Stellen der erneuerten römischen Liturgie kann man die glücklichen Konsequenzen erkennen. Ich erinnere nur an die Epiklese in den neuen Eucharistiegebeten. Im Zentrum des erneuerten Firmritus hat Rom sogar die byzantinischen Worte der Myronsalbung übernommen. Die sakramentalen Worte der Firmung heißen jetzt: Accipe signaculum doni spiritus sancti (Sphragis doreas pneumatos hagiou). Die deutsche Fassung lautet: „N., sei besiegelt durch die Gabe Gottes, den Heiligen Geist.“ 5. Die Wiederentdeckung des ekklesialen Charakters der Tagzeitenliturgie. In der Vergangenheit waren die katholischen Christen überzeugt, dass das Officium divinum nur die Priester, die es in ihrem Brevier lasen, und die Klosterleute, die es im Chor rezitierten, etwas anginge. Auch hier hat der Kontakt mit dem christlichen Osten geholfen, den wesentlich ekklesialen Charakter der Stundenliturgie wieder neu zu erkennen. Im liturgischen Leben der Pfarreien soll 20 Vgl. A. Heinz, Les apports de la science liturgique au renouvellement de l’initiation chrétienne, in: P. De Clerck (Hg.), La Liturgie lieu théologique, Paris 1999, 45-66. Liturgiereform im Umkreis des Vatikanum II 320 nach dem Willen des Konzils wenigstens die sonn- und feiertägliche Vesper wieder einen Platz bekommen (SC 100). Jugendliche feiern im Advent und in der Fastenzeit gemeinsam das Morgen- oder Abendlob. Taizé-Gebet und Jugend-Vespern sind neue Formen des historischen „Kathedraloffiziums“. 6. Die Überwindung einer strikten Uniformität des liturgischen Lebens und Respekt vor den liturgischen Gewohnheiten der Ortskirchen und den Andachten der Volksfrömmigkeit (SC 13). Das Konzil hat ein von gegenseitigem Respekt getragenes Zusammenwirken Roms mit den Ortskirchen in der liturgischen Gesetzgebung gewünscht. Für die Zukunft der jungen Kirchen in Afrika und Asien ist es von besonderer Bedeutung, dass die Tür zu einer Inkulturation der römischen Liturgie geöffnet wurde. Das bekannteste Beispiel eines ersten Inkulturations-Versuchs ist die sogenannte afrikanische „Messe von Zaire“ (Kinshasa 1989). Die Experten der Liturgiewissenschaft haben in den Konzilsdokumenten und in den erneuerten liturgischen Büchern solide Fundamente gelegt. Ist ihre Arbeit nun getan? III. Bleibende Aufgaben der Liturgiewissenschaft unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen Das Konzil hat die Liturgiewissenschaft nicht nur für die heiße Phase der Reform gewollt, sondern auf Dauer. Ihre Hilfe ist nämlich für die Rezeption der Reform mindestens genau so wichtig wie für deren Vorbereitung. Das Zweite Vatikanum will, dass die „disciplina de sacra Liturgia“ Hauptfach an allen Theologischen Fakultäten ist (SC 16). Der zwiespältige Eindruck, den die Rezeption der Liturgiereform heute hinterlässt, ist der beste Beweis, wie notwendig eine dauernde kompetente Begleitung des liturgischen Lebens der Pfarreien ist. Die Pfarreien präsentieren sich nämlich vierzig Jahre nach dem Konzil nicht wie blühende Landschaften. Der erhoffte spirituelle Frühling ist nicht gekommen. Das gilt jedenfalls für die Mutterländer der Liturgischen Bewegung. In den jungen Kirchen ist die Situation gottlob entschieden hoffnungsvoller. Die Liturgiereform wurde Gemeinden angeboten, die vom Klima einer progressiven Säkularisierung geprägt sind. 21 Der Glaube verdunstet. Die Kirche stirbt in den Seelen! 1960, kurz vor dem Konzil, nahmen in Deutschland jeden Sonntag 12 Millionen Katholiken an der Sonntagsmesse teil, das waren über 50 %; 1995 waren es nur noch 5 Millionen, etwa 18 %. Im ältesten Bistum Deutschlands, der Diözese Trier, mit fast 2 Millionen Katholiken, beträgt der Rückgang seit dem Konzil ca. 70 %. Von den Kindern kommen nach ihrer Erstkommunion nur noch wenige. Sie wachsen also nicht mehr in den heilsamen Rhythmus der wöchentlichen und jährlichen Feier des Mysteriums Christi hinein. 21 Vgl. zum Folgenden: M. N. Ebertz, Einseitige und zweiseitige liturgische Handlungen - Gottes-Dienst in der entfalteten Moderne, in: B. Kranemann u. a. (Hg.), Heute Gott feiern. Liturgiefähigkeit des Menschen und Menschenfähigkeit der Liturgie, Freiburg i. Br. 1999, 14-38. Liturgiewissenschaftliche Forschung und liturgisches Leben der Pfarreien 321 In Deutschland ist - nach der Wiedervereinigung - ein Drittel der Bevölkerung nicht getauft. Der Anteil der Nicht-Getauften ist damit genau so hoch wie der der Katholiken und Protestanten, die ebenfalls jeweils etwa ein Drittel der Bevölkerung ausmachen. Im ehemals sozialistischen Ostdeutschland wird nur eines von zehn Kindern im ersten Jahr nach der Geburt getauft. Nach wie vor wird aber von vielen ein ritueller Service bei besonderen Ereignissen in der Familie erbeten. Der von der Kirche intendierte Sinn dieser liturgischen Feiern wird aber immer weniger realisiert, sondern im Sinn einer „Sakralisierung der familiären Identität“ erlebt. Ein Beispiel für das Auseinanderklaffen der Intention der Kirche und der Erwartung der Leute: Während die erneuerte Feier der Kindertaufe die gemeinsame Taufe mehrerer Kinder bevorzugt, um die ekklesiale Dimension des Ereignisses (Aufnahme in die Gemeinschaft der Kirche) zu unterstreichen, wünschen immer mehr Eltern die Einzeltaufe als spezielles Fest ihrer Familie anlässlich der Geburt ihres Kindes. Hier stoßen wir auf ein weiteres Charakteristikum der heutigen Mentalität, das der grundsätzlich ekklesialen Natur der Liturgie große Schwierigkeiten bereitet: der extreme Individualismus. Man konsumiert liturgische Angebote nach eigenen Vorlieben und Bedürfnissen, sozusagen à la carte. Die Liturgiereform hat darauf reagiert, indem sie Anpassungsmöglichkeiten der Grundordnung entsprechend dem Anlass und der Zusammensetzung der jeweiligen Feiergemeinde vorsieht. Das eklatante Defizit an Kirchenbewusstsein begünstigt aber eine ungesunde Beliebigkeit bis hin zu unerträglicher Banalität. Was ist die Aufgabe der Liturgiewissenschaft unter diesen ungünstigen Voraussetzungen? Vor allem scheint mir wichtig, dass die Liturgiker nicht der Versuchung nachgeben, die Liturgie wie ein Produkt zu betrachten, das der jeweils aktuellen Nachfrage des Marktes ständig angepasst werden muss. Es gehört zu den Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte, dass sich in manche Pfarreien und Gruppen eine „Workshop-Mentalität“ eingeschlichen hat. Man macht sich seine Liturgie. Manche Kritiker unterstellen den „Konstrukteuren“ der Liturgiereform, dass sie selbst ebenfalls verfahren wären, als seien sie die Herren der Liturgie. Aber die Liturgie gehört der Kirche. Sie steht nicht zur Disposition der Experten oder gar von Amateuren in Liturgiekreisen. Die Reform des liturgischen Kalenders 1969 konnte vielleicht diesen Eindruck erwecken und war deshalb kein guter Start in die Reform. Es gab Proteste bei vielen Gläubigen, weil die Experten wenig Sensibilität für die Tradition