Der menschliche Gott aus Levi und Juda
Die "Testamente der zwölf Patriarchen" als Quelle judenchristlicher Theologie
0818
2010
978-3-7720-5384-9
978-3-7720-8384-6
A. Francke Verlag
Philipp Kurowski
Die Arbeit erschließt die »Testamente der zwölf Patriarchen« als Quelle judenchristlicher Theologie des zweiten Jahrhunderts. Hier herrscht bislang ein Defizit an verwertbaren Quellen: Wird nochein Großteil der Schriften des Neuen Testamentes judenchristlichen Autoren zugeschrieben, so reißen die literarischen Zeugnisse jener Christen, die ihre Wurzeln im Judentum oder Proselytismus haben, danach jäh ab. Sie scheinen sich in eine Nische gesetzesobservanter, antipaulinischer Häretiker zurückgezogen zu haben, die von den ganzüberwiegend heidenchristlichen Kirchenvätern bekämpft werden. Das ist historisch wenig plausibel. Die Arbeit sucht in der reichhaltigen Interpolationsliteratur nach Spuren eines Judenchristentums, das sich sehr wohl in einer Kontinuität zum Alten Bund versteht, und macht so die Stimme eines nicht häretischen, aber auch nicht im heidenchristlichen Mainstream aufgegangenen Judenchristentums hörbar, das sein eigenes Anliegen, seine eigenen theologischen Themen und Positionen hat und so den Chorklang dieses Jahrhunderts bereichert.
<?page no="0"?> Philipp Kurowski Der menschliche Gott aus Levi und Juda Die »Testamente der zwölf Patriarchen« als Quelle judenchristlicher Theologie <?page no="1"?> Der menschliche Gott aus Levi und Juda <?page no="2"?> TANZ 52 Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter herausgegeben von Klaus Berger <?page no="3"?> Philipp Kurowski Der menschliche Gott aus Levi und Juda Die »Testamente der zwölf Patriarchen« als Quelle judenchristlicher Theologie <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2010 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISSN 0939-5199 ISBN 978-3-7720-8384-6 <?page no="5"?> Für Kathrin <?page no="7"?> 1 Inhaltsverzeichnis Vorwort zur Druckfassung ......................................................................................... 4 Vorwort ......................................................................................................................... 5 1 Methodologische Vorüberlegungen ............................................................. 7 1.1 Interpolation, Redaktion oder einfach Spekulation? .................................. 7 1.1.1 Textkritik.................................................................................................... 8 1.1.2 Literarkritik.............................................................................................. 12 1.1.3 Formgeschichte ....................................................................................... 14 1.1.4 Inhaltliche Argumente ........................................................................... 16 1.1.5 Zwischenergebnis: Ist die Interpolationstheorie gescheitert? ........... 19 1.2 Neuansatz: Doppelt-Synchrone Exegese.................................................... 19 1.3 Problem: Begriffsdefinition Judenchristentum ......................................... 21 1.3.1 Judenchristentum als Christenheit aus dem Judentum..................... 21 1.3.2 „Judenchristentum“ als jüdisches Christentum.................................. 26 1.3.3 Inhaltliche Neubestimmung.................................................................. 32 1.3.4 Konkretion: Paulus in den TestXII....................................................... 33 1.4 Konsequenzen für diese Arbeit ................................................................... 40 2 Gott als Mensch - Die ὡς ἄνθρωπος-Perikopen ...................................... 42 2.1 Struktur und Fundstellen ............................................................................. 42 2.1.1 Beispielexegese: TSim 6,5....................................................................... 42 2.1.2 Struktur typischer ὡς ἄνθρωπος-Perikopen ....................................... 46 2.2 Jüdische Tradition ......................................................................................... 47 2.2.1 Tag JHWHs - Amos 5, Joel 3 u. ö. ....................................................... 47 2.2.2 Gottes Bund: Sein Wohnen bei den Menschen (Ex 25,8) ................. 51 2.2.3 Gottes Begleitung auf dem Weg (Tobit 5-12) ..................................... 55 2.2.4 Gott zu Besuch - Genesis 18 ................................................................. 58 2.2.5 Entschiedener Widerspruch: Philos Quod deus sit immutabilis ..... 61 2.2.6 Eine lupenreine HAP außerhalb der TestXII? (Bar 3,38).................. 63 2.2.7 Zusammenfassung .................................................................................. 69 2.3 Christliche Interpretation............................................................................. 70 2.3.1 Die Inkarnation des Logos (Joh 1,14) .................................................. 70 2.3.2 Die Kenosis/ Tapeinosis des Gottgleichen (Phil 2,5-11) .................... 72 2.3.3 Der Besuch Gottes im Benedictus (Luk 1,68-79) ............................... 74 2.3.4 Ignatius von Antiochien, Melito von Sardes....................................... 76 2.3.5 Modalistischer Monarchianismus (Noet, Praxeas)............................ 79 2.4 Theologisches Fazit: Rettung durch Erscheinen und Mit-Leben. .......... 83 3 Die Levi-Juda Passagen................................................................................. 87 <?page no="8"?> 2 3.1 Struktur und Fundstellen ............................................................................. 87 3.1.1 TLev 18 und TJud 24 .............................................................................. 90 3.2 Jüdische Tradition ......................................................................................... 95 3.2.1 König aus Juda......................................................................................... 95 3.2.2 Priester aus Levi ...................................................................................... 97 3.2.3 Priesterkönig.......................................................................................... 100 3.2.4 Zusammenfassung ................................................................................ 104 3.3 Christliche Interpretation...........................................................................105 3.3.1 Christi Herkunft aus David und Geist ............................................... 105 3.3.2 Levitische Anklänge im Lukas Evangelium....................................... 107 3.3.3 Protoevangelium Jakobi....................................................................... 108 3.3.4 Priesterkönig nach Ordnung Melchisedeks ...................................... 110 3.3.5 Hippolyt: Stammverwandtschaft Jesu Christi mit Levi und Juda .. 113 3.4 Theologisches Fazit: Das Heil kommt von den Juden ...........................116 4 Unschuldspassagen .....................................................................................119 4.1 Struktur und Fundstellen ...........................................................................119 4.2 Jüdische Tradition .......................................................................................124 4.2.1 Im Kontext der TestXII........................................................................ 125 4.2.2 Kein unschuldiges Blut über das ganze Volk .................................... 127 4.2.3 Das Motiv des heiligen Restes und früherer Reinheit...................... 128 4.2.4 Fazit......................................................................................................... 131 4.3 Christliche Interpretation...........................................................................132 4.3.1 Kollektivschuld der Juden im NT? ..................................................... 132 4.3.2 Die guten Wurzeln - Römer 9-11 ...................................................... 135 4.3.3 Justin: Israels Hoffnung ist Buße ........................................................ 136 4.4 Theologisches Fazit: Hoffnung für Israel .................................................137 5 Theologischer Querschnitt: Leiden und Tod Jesu in den TestXII........139 5.1 Schuldfrage ...................................................................................................139 5.2 Patripassianismus ........................................................................................140 5.3 Tempelvorhang............................................................................................143 5.4 Josephstypologie ..........................................................................................145 5.5 Lamm-Metaphorik ......................................................................................148 5.6 Tod als Sieg über Beliar ..............................................................................152 5.7 Sterben für uns .............................................................................................153 5.8 Ergebnis: Polyphonie ohne Dissonanz .....................................................157 6 Exkurs in die Ethik ......................................................................................159 6.1 Ethik in der Eschatologie - der menschliche Gott..................................159 6.2 Joseph als Modell des guten Mannes ........................................................162 6.2.1 TJos ......................................................................................................... 164 6.2.2 Josephbezüge aus den anderen Testamenten.................................... 170 6.3 Das Doppelgebot der Liebe ........................................................................175 <?page no="9"?> 3 6.4 Fazit ...............................................................................................................176 7 Ertrag: Die TestXII als judenchristliche Schrift ......................................179 7.1 Zusammenfassung der Ergebnisse ............................................................179 7.1.1 Prolegomena.......................................................................................... 179 7.1.2 Hos Anthropos ...................................................................................... 180 7.1.3 Levi-Juda ................................................................................................ 180 7.1.4 Tod Jesu.................................................................................................. 181 7.1.5 Paränese ................................................................................................. 182 7.2 Theologisches Fazit .....................................................................................183 7.3 Polemischer Epilog......................................................................................185 Literaturverzeichnis .................................................................................................187 Textausgaben, Übersetzungen und Kommentare ...............................................187 Sekundärliteratur .....................................................................................................188 <?page no="10"?> 4 Vorwort zur Druckfassung Nun ist also auch das geschafft, nach einigen notwendigen Korrekturen und einigem Formatierungsaufwand ist die Druckfassung fertig. Hier ist noch einmal gesondert zu danken Frau Fischer und Frau Burger vom Narr Francke Attempto Verlag für die geduldige Betreuung dieses Vorhabens, genauso wie Prof. Berger für die Aufnahme in die Reihe. Ihm gebührt ebenso wie dem Coreferenten Prof. Strecker ein herzlicher Dank für die wertvollen Hinweise, Korrekturen und Ermutigungen nach Abschluss der Arbeit. Kiel, Trinitatis 2010, Philipp Kurowski <?page no="11"?> 5 Vorwort Am Anfang sieht alles ganz einfach aus. Die Testamente der zwölf Patriarchen sind eine interpolierte Schrift, bei der das Christentum als Textverderbnis ausgeschnitten und in den exegetischen Papierkorb geworfen wurde. Nun braucht man nur diesen Eimer ausleeren und die Schnipsel zusammenpuzzeln: Fertig ist ein kleiner, bunter Stein judenchristlicher Theologie im Mosaik frühchristlicher Theologiegeschichte. Doch der Plan hielt schon der methodologischen Reflexion nicht stand. Musste das Vorhaben aufgegeben werden? Oder kann man dieser interessanten und einzigartigen Stimme im früchchristlichen Chor auch ohne die problematischen literarkritischen Prämissen Gehör verschaffen? Diese Arbeit will das jedenfalls versuchen. Sie wird sich deshalb auf die Frage nach einer christlichen Theologie der TestXII konzentrieren und die exegetische Fleißarbeit anderer für sich in Anspruch nehmen müssen. Das mag für manche unbefriedigend wirken, gilt doch die Rekonstruktion einer eigenen verlässlichen Textbasis der TestXII für jeden Forscher beinahe als Initiationsritus zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Materie. Darüber blieb die theologische Auswertung speziell im christlichen Kontext jahrzehntelang ein Desiderat. Ob dem mit dieser Arbeit zumindest teilweise Abhilfe geschaffen werden kann, mag die kritische Leserschaft beurteilen. Dass dieses Werk über diverse inhaltliche, private und berufliche Krisen hinweg überhaupt fertiggestellt werden konnte, ist ein kleines Wunder, und so sind die obligatorischen Worte des Dankes mehr als nur eine Pflichtübung. Zu danken ist Prof. Dr. Berger, der diese Arbeit angeregt und mit seinem Sachverstand, seinen kritischen Fragen und seiner Loyalität stets gefordert und gefördert hat. Zu danken ist dem Land Baden-Württemberg, das meine Forschung aus Mitteln der Landesgraduiertenförderung zwei Jahre lang unterstützt hat. In den dürren Zeiten nach der Stipendienzeit waren es Mitglieder der Hosanna-Gemeinde Heidelberg, die mich finanziell unterstützten, auch ihnen möchte ich hier meinen herzlichsten Dank aussprechen. Nach der Vikariatspause ermöglichten mir meine Kollegen Fuchs und Sagawe unter den wachsamen Augen von Propst Dr. Kramer, dass ich neben meiner halben Stelle Zeit für die wissenschaftliche Arbeit fand. Dafür - wie für viele Gespräche, Ermutigungen und Anregungen - danke ich ihnen von Herzen. <?page no="12"?> 6 Wertvolle Hinweise und konstruktive Kritik erhielt ich in großem Umfang von Prof. de Jonge, Leiden und Prof. von Bendemann, Kiel, die sich beide die Mühe machten, diese Arbeit in einem noch sehr fragmentarischen Zustand durchzuarbeiten. Die mühsame Arbeit des Korrekturlesens wurde von meinem Vater Friedrich-Karl Kurowski und meiner Frau Kathrin übernommen. Die größten Opfer verlangt so eine Arbeit ohnehin von der eigenen Familie. Hätte meine Frau Kathrin diese Arbeit nicht zu „unserem“ Projekt gemacht, und ihre Gaben in Zeit- und Krisenmanagement eingebracht, wäre es wohl bei vielen interessanten Gedanken und Ideen geblieben. Nun hat dieses Kind (dreizehn Monate nach unserer Tochter Sofie) aber doch noch Hand und Fuß bekommen. Die Widmung ist also selbstverständliche Pflicht und Herzensanliegen gleichermaßen. Lensahn, Trinitatis 2008 Philipp Kurowski <?page no="13"?> 7 1 Methodologische Vorüberlegungen 1.1 Interpolation, Redaktion oder einfach Spekulation? Es gab zu den TestXII so etwas wie einen common sense in der Forschung: die Interpolationstheorie. Sie hatte durch die Arbeit von C HARLES 1 und S CHNAPP 2 vor allem in Deutschland 3 , im angelsächsischen Raum 4 und in Skandinavien 5 weitgehende Anerkennung gefunden. Dies schlägt sich noch heute vor allem in den viel verwendeten Sammelausgaben nieder 6 . Die Interpolationstheorie geht davon aus, dass es eine jüdische Grundschrift gab, die durch eine oder mehrere christliche Hände interpoliert wurde. Diese Interpolationen seien leicht zu erkennen und als Textverderbnisse auszuscheiden. Divergierende Positionen gab es im Wesentlichen nur über den Umfang und die genaue Abgrenzung der mutmaßlichen Interpolationen und entsprechend auch der daraus rekonstruierten Grundschrift 7 . Der entscheidende Gewinn dieses Ansatzes liegt darin, dass erstmals der genuin jüdische Charakter der Schrift wahrgenommen wurde und damit eine bis dahin verschüttete Quelle für das Judentum aus hellenistisch-römischer Zeit erschlossen werden konnte. Noch heute gelten die TestXII beispielsweise als der Kronzeuge dafür, dass es das „doppelte Liebesgebot“ als Kombination aus Dtn 6,5 und Lev 18,9, wie es Jesus gemäß Mk 12,30f formuliert haben soll, schon auf jüdischer Seite gab 8 , weil die ethisch-ermahnenden Passagen der TestXII in der Regel zur Grundschrift gerechnet werden 9 . An dieser jüdischen Grundschrift hängt also viel, vielleicht sogar zu viel, als dass man sie - so hypothetisch sie aufgrund der 1 Testaments, 1908 sowie Versions, 1908. 2 Testamente, 1884. 3 Vor allem vertreten durch B ECKER , Untersuchungen und seiner kommentierten Übersetzung in den JSHRZ. 4 Vertreten durch C HARLESWORTH , und K EE in den OTP. 5 Vertreten durch O TZEN , H ULTGAARD und zuletzt U LRICHSEN . 6 Namentlich OTP, JSHRZ und auch die dänische „Gammeltestamentlige Pseudepigrafer“ (Kopenhagen 1970). 7 Den neuesten Versuch dazu bietet U LRICHSEN , Grundschrift. 8 TestIss 5,2, 7,6f; Test Dan 5,3; Test Jos 11,1 Test Ben 3,3f. Vgl. dazu K. B ERGER , Gesetzesauslegung, S. 39 ff, 136ff, 160ff, 168ff und H.W. H OLLANDER , Joseph as an ethical Model S. 7-9; 100f und Anmerkungen dort zur weiteren Literatur. Anders neuerdings DE J ONGE , Pseudepigrapha, S. 158: „It does not help us to determine who first combined the two great commandements...“. 9 Auch B ECKER , der viele Tugend- und Lasterparänesen für in sich selbstständige Passagen hält, geht davon aus, dass „die Auslegung des Liebesgebots...den Grundstock charakteristisch prägt“ (Testamente 3,1, S. 25). <?page no="14"?> 8 vielen verschiedenen Rekonstruktionsversuche erscheinen mag - einfach aufgeben könnte. Aber genau diese Herausforderung blieb nicht aus. Die Gegenposition wird auch als Leidener oder Niederländische Schule bezeichnet und vertritt eine Redaktionshypothese. Namentlich scharen sich die Dissidenten um M. DE J ONGE 10 . Seine Behauptung: Es gibt gar keine jüdische Grundschrift. Die Testamente sind zwar unter Verwendung jüdischen Materials entstanden, aber ihre gegenwärtige Form verdanken sie einem christlichen Redaktor, der seine Spuren nicht nur an den Nahtstellen, sondern in allen die Testamente durchgängig prägenden Themen und Theologien hinterlassen hat. Neuerdings erhält die Position, jene Pseudepigraphen wie die TestXII, die ausschließlich christlich überliefert wurden, insgesamt als christliche Dokumente aufzufassen, immer mehr Befürworter. Namentlich R. A. K RAFT 11 und J. R. D AVILA 12 stehen für diese Position. Es gibt auch eine von P HILONENKO 13 favorisierte jüdisch-synchrone Lesart, die aber eher als Ausfluss einer Art Qumran-Euphorie zu bewerten ist und sich nicht durchsetzen konnte. Damit ist nun diese Arbeit herausgefordert, Stellung zu beziehen. Sind die TestXII eine Quelle für jüdische oder für christliche Theologie? Führen sie uns in die Zeit vor Jesu Wirken, oder in das dritte Jahrhundert nach Christus? Welche Argumente werden vorgebracht, um eine Interpolationstheorie oder eine Redaktionshypothese zu belegen? 1.1.1 Textkritik Die textkritischen Argumente standen am Anfang der Interpolationstheorie. Zuerst vorgetragen wurden sie von C ONYBEARE 14 . Er stellte fest, dass die armenische Textfassung deutlich weniger christliche Passagen als die griechischen Versionen enthielt. Diese Ansicht wurde von C HARLES 15 übernommen und auch von B OUSSET 16 weitergeführt. Die Methode war so einfach wie überzeugend: Die armenische Version war kürzer, und auch weniger christlich. Legte man die armenische und griechische Version übereinander, so schienen sich die Interpolationen wie von selbst hervor- 10 Am kompromisslosesten noch in seiner Dissertation Testaments, 1953. Zuletzt hat er die Forderung, die TestXII als christliche Quelle zu lesen, noch einmal bekräftigt in: ders, Pseudepigrapha, 2003. 11 R. A. K RAFT , Pseudepigrapha; Pseudepgrapha Revisited. 12 D AVILA , Provenance, begnügt sich damit, sich bzgl. der TestXII de Jonge anzuschließen, ohne den Fall selber zu untersuchen - S. 232. 13 Interpolations Chrétiennes, Paris 1960. 14 Authorship, S. 375-389. 15 C HARLES , Versions, S. XIVff, XLVIIIff; Testaments, S. XXIIff; LXIff. 16 B OUSSET , Testamente 1, S. 141-209. <?page no="15"?> 9 zuheben, und brauchten nur abgetragen zu werden. Hatte man im Armenier so etwas wie die jüdische Grundschrift gefunden? Diese Hypothese stellte sich schnell als Irrtum heraus. Heute muss festgestellt werden, dass die armenischen Versionen oft sekundäre Kürzungen der sperrigen Perikopen bieten 17 . Vor allem nach Burchards intensiven Untersuchungen 18 ist eine mechanische Bevorzugung der armenischen lectio brevior nicht mehr haltbar 19 . Auch J ERVELL 20 zeigt an einigen Einzelstellen, dass der Armenier nicht etwa einen unverderbten Grundtext liefert, sondern vielmehr den 'interpolierten' Text variiert und somit voraussetzt. Gänzlich frei von christlichen Inhalten ist die armenische Version ohnehin nicht. Damit ist der armenische Text nicht mehr die mehr oder weniger treue Wiedergabe eines noch weitgehend unverderbten ganz und gar jüdischen Archetypus der griechischen Tradition, sondern muss sich vom textkritischen Wert her eher in das Mittelfeld einordnen lassen 21 . Eine endgültige Bewertung ist derzeit noch nicht möglich, da immer noch Editionsarbeit zu leisten ist 22 . Stellen aber die fehlenden christlichen Passagen sekundäre Kürzungen eines vorher christlichen Textes dar, müssen dafür Gründe und Motive genannt werden. Nun sind Kürzungen im Rahmen der armenischen Übersetzung durchaus kein singuläres Phänomen. Auch andere Textpassagen wurden bis hin zu Exzerpten gekürzt, gerade wenn es um etwas freiere Übersetzungen und Inhaltswiedergaben ging (dies nahm tendenziell zum Ende der Schriften zu - gerade dort, wo sich eben auch die Zukunftsvisionen der Patriarchen finden). Die TestXII waren nicht kanonisch, also keine „heilige“ Schrift. Wer spätere Interpolationen für möglich hält, sollte auch Kürzungen nicht ausschließen. Dennoch ist auffällig, dass gerade in den christlichen Passagen die Kürzungen bevorzugt auftreten. Es kann vermutet werden, dass der Armenier die Testamente quasi „rejudaisieren“ wollte. Die Gründe wären durchaus plausibel: Die christlichen Passagen in den 17 H UNKIN , Testaments, M ESSEL , Ausscheidung M.E. S TONE , Versions und D E J ONGE , Testaments 1953, S. 31ff. 18 B URCHARD , Überlieferungen, passim. 19 „The textcritical rule lectio brevior potior does certainly not hold good for the Testaments, in any case not where divergencies of this kind are concerned.“ (M. DE J ONGE , Pseudepigrapha, S. 97). Neuerdings liefert B URCHARD in seiner Einführung zu Joseph und Aseneth noch einmal eine gute Zusammenfassung seiner Argumente: S. 41-46. 20 Jervell, Interpolator, S. 39f. 21 H OLLANDER / DE J ONGE , Commentary, sehen A verwandt mit einer weniger zuverlässigen Seitenlinie der Tradition, H ULTGAARD bewertet ihn noch besser - aber ebenfalls kaum als unabhängig. 22 Es sind noch keineswegs alle armenischen Handschriften in einer kritischen Edition zugänglich, ja es ist sogar möglich, dass noch weitere gefunden werden. <?page no="16"?> 10 griechischen Versionen der TestXII stören oft den Gedankenfluss. Sie stellen sich quer zum Kontext und wirken im Munde der Patriarchen stark anachronistisch. Ein Übersetzer könnte also den Text glätten und vor allem auch versuchen, die patriarchale Fiktion zu rekonstruieren, um die Glaubwürdigkeit seiner Schrift zu erhöhen. Ist dies der Fall, so arbeiteten die armenischen Übersetzer sachlich mit denselben Methoden wie die moderne Literarkritik, und es ist von daher kaum verwunderlich, dass zum Teil identische Ergebnisse erzielt werden. Nur darf die armenische Version dann nicht als zusätzliches textkritisches Argument für literarkritische Hypothesen ins Feld geführt werden. Der textkritische Wert der armenischen Versionen ist dennoch nicht auf Null gesunken, aber speziell im Bereich christlicher Passagen ist wegen ihrer Tendenz zur Rejudaisierung besondere Vorsicht geboten. Das Fehlen einer christlichen Passage ist nicht gegen die Tendenz und kaum die lectio difficilior. Keinesfalls ist ihnen mechanisch der Vorzug zu geben. Die Aufgabe der Theorie einer armenischen Version der „Grundschrift“ war jedoch nicht das Ende des textkritischen Versuchs, eine Methode zur Ausscheidung christlicher Interpolationen zu finden. Denn auch die griechischen Versionen hatten einen oft sehr unterschiedlichen Text, speziell in den christlichen Passagen. So wurden die Stemmata von C HARLES 23 , die zwar noch von einem semitischen Urtext ausgingen und eine heute nicht mehr haltbare Hochschätzung des Armeniers widerspiegeln, immer neu modifiziert und zur textkritischen Argumentation herangezogen. Bezüglich der christlichen Passagen setzte sich mehr und mehr ein Eklektizismus durch, der jede christlich anmutende Lesart automatisch als die jüngere klassifizierte, gleichgültig aus welcher Handschrift sie stammte 24 . Begründet wurde dies mit den sogenannten „inneren Kriterien“ der Textkritik 25 . Dies ist aus methodischer Sicht hochproblematisch, denn diese inneren Kriterien sind nicht wirklich definiert, und führten oft zu einer Vermischung von literarkritischen und textkritischen Argumenten. Streng textkritisch argumentiert, war die christliche Lesart meist die lectio difficilior, aber bevorzugt wurde die lectio brevior, obwohl - wie schon in der Diskussion um die armenische Version erwähnt - die Kürzung eines Textes genau so gut erklärt werden kann wie die Ergänzung - wenn nicht sogar noch besser. Schließlich, und das ist dann auch in der theologischen Würdigung problematisch, führte diese eklektische Heranziehung der Textkritik zu der Überzeugung, dass die christlichen Zuwächse über einen sehr weiten 23 C HARLES , Testaments, S. xxxv und l; sowie Versions, S. xxii und xxxix. 24 Damit ist der hermeneutische Zirkel geschlossen. 25 So zum Beispiel B ECKER , Testamente, S. 21. <?page no="17"?> 11 Zeitraum an den unterschiedlichsten Orten in den Text gelangt seien. Mal hatte der eine, mal der andere Textzeuge sie überliefert oder ausgelassen. Sie wurden zum Zufallsprodukt launischer Schreiber, übereifriger Mönche oder nachlässiger Kopisten. Man konnte sie daher nur als „Textverderbnisse“ „disqualifizieren“ 26 . Es verbot sich von selbst, hinter diesen disparaten Schnipseln eine weitergehende Idee oder gar Theologie zu vermuten. So blieb die theologische Auswertung der christlichen Passagen der TestXII ein Desiderat, dessen sich keiner so recht annehmen mochte 27 . Dieser völlig synthetischen Rekonstruktion einer jüdischen Grundschrift allein aus dem am wenigsten christlichen Bestand aller Überlieferungen erteilte die sogenannte Leidener Schule 28 eine klare Absage, indem sie einen ganz eigenen Entwurf der Textgeschichte vorlegte. Mit der unerhörten These M. de J ONGES in seiner Dissertation, die älteste Textgestalt der TestXII sei christlich, schafften sie einen Durchbruch. Befreit von der Vorgabe, die christlichen Interpolationen textgeschichtlich nachvollziehen bzw. ausscheiden zu müssen, konnten sie sich ganz auf genuin textkritische Methoden konzentrieren und kamen zu dem Ergebnis, dass gerade eine Handschrift 29 mit einem vergleichbar hohen Anteil an christlichen Passagen den textkritisch relativ höchsten Wert hat. Dabei machten aber auch die Leidener Forscher nicht den Fehler, diese Handschrift nun zur Grundschrift zu erheben oder mechanisch zu bevorzugen 30 , sondern legten eine neue Textedition 31 vor, die auf sorgfältigen Kollationen aller bekannten griechischen Textzeugen beruhte 32 . Sie ist zwar sicher auch nicht der Weisheit allerletzter Schluss, aber doch das relativ Beste, was nach derzeitiger Quellenlage herzustellen ist. Jede textkritische Begründung der Interpolationstheorie ist mit dieser Leidener editio maior also de facto vom Tisch. Zwar ist es immer noch zu früh, die textkritische Diskussion um die Patriarchentestamente für been- 26 Eine Formulierung die U LRICHSEN regelmäßig verwendet und die für sich spricht. 27 Der Apell von J ERVELL , Interpolator, passim, verhallte weitgehend ungehört. 28 H.-J. DE J ONGE , M. DE J ONGE , T H . K ORTEWEG . Studies on the Testaments of the Twelve Patriarchs. Text and Interpretation, ed M. de Jonge, SVTP 3, Leiden 1975. 29 University Library Cambridge, Ff.i.24, Folios 203a-206b, seit C HARLES mit dem Siglum b bezeichnet. In Erstedition von DE J ONGE 1970 in PVTG 1,1 herausgegeben. 30 Dies hatte man vermutet, als de Jonge in PVTG 1,1 eine Edition der Handschrift b vorlegte. 31 Testaments, ed DE J ONGE , PVTG I,2. 32 Natürlich ist auch diese Edition letztendlich ein „eklektischer“ Text. Aber die Kriterien sind frei von der Vorgabe, dass jegliche christliche Lesart automatisch als sekundär zu betrachten sei - und damit methodisch sauberer als alle vorhergehenden Versuche. <?page no="18"?> 12 det zu erklären 33 , denn von einem wissenschaftlichen Konsens, der dies erlaubte, sind wir noch meilenweit entfernt. Insbesondere B ECKER 34 und H ULTGÅRD 35 halten an alternativen Modellen fest. Sie orientieren sich stärker an C HARLES ' Familienzuordnung, konnten jedoch trotz zum Teil berechtigter Kritik an einzelnen Entscheidungen der Leidener Forscher keine eigene Textfassung vorlegen. Bei B ECKER kommt erschwerend hinzu, dass bei ihm eine methodische Trennung von Text- und Literarkritik praktisch nicht existiert 36 . Jedenfalls kann es als sicher gelten, dass es mit dem vorliegenden Material unmöglich ist, eine rein jüdische Grundschrift auf textkritischem Wege zu erstellen. Diese Tatsache, dass also eine ganz große Zahl der christlichen Passagen zur „oldest traceable stage of text“ gehört, sollte es erlauben, diese Perikopen einem frühen Stadium der Überlieferung zuzuschreiben und sie auf Gemeinsamkeiten in Form, Stil und auch Theologie hin zu untersuchen. Dieser Tatbestand ändert nichts an der Tatsache, dass auch christliche Passagen nachgetragen oder modifiziert wurden. Wir werden an einzelnen Stellen zeigen können, dass die Textzeugnisse zum Teil erheblich voneinander abweichen. Randbemerkungen, die eine Perikope als Weissagung über Jesus Christus markieren sollen, können genauso in den Text gelangen, wie allzu christliche Begriffe wieder entfernt werden können. Sofern man nicht das Ziel verfolgt, einen nicht-christlichen Grundtext zu rekonstruieren, kann Textkritik ganz nüchtern und ideologiefrei betrieben werden. Dies ist den Leidenern zumindest weit besser gelungen als den Interpolationstheoretikern zuvor. 1.1.2 Literarkritik Die erste rein literarkritische Ausscheidung von christlichen Interpolationen wurde 1884 von S CHNAPP 37 vorgenommen. Er hatte nur den Text von Sinker und war somit unabhängig von C HARLES ' textkritischen Emendationen, die ab 1908 die wissenschaftliche Bearbeitung der TestXII prägten. Bis heute haben seine Thesen Anhänger. So bezieht sich U LRICHSEN 38 ausdrücklich auf den S CHNAPP 'schen Entwurf. 33 Dazu fehlt es auch immer noch an einer abschließenden Bewertung der armenischen Quellen, die immer noch einer vollständigen, kritischen Edition harren, und die bislang auch nur punktuell Verwendung fanden. 34 B ECKER , Untersuchungen S. 7ff, und später auch Testamente, S. 17 ff. 35 H ULTGÅRD , Eschatologie II, S. 11ff. 36 B ECKER , Untersuchungen, S16ff, v. a. S. 27. 37 S CHNAPP , Testamente. 38 U LRICHSEN , Grundschrift, S. 27. <?page no="19"?> 13 Die literarkritischen Argumente für die Ausscheidung christlicher Interpolationen sind nach wie vor stark. Oft unterbrechen die christlichen Passagen den Zusammenhang, verändern den Sinn, erzeugen grammatikalische Fehler durch falsche Pronomina oder Tempora. Sie haben in der Regel einen kleinen Umfang und lassen sich mühelos aus dem Zusammenhang lösen, der sich ohne sie viel sinnvoller, flüssiger und konsistenter liest. Dies gilt zwar längst nicht so eindeutig für alle fraglichen Stellen, doch ergibt sich eine gewisse Kettenreaktion: Hat man erst einmal die Schrift als „interpoliert“ eingestuft, wird dann aktiv nach weiteren „Textverderbnissen“ gesucht, und sie werden gefunden. Nach inhaltlichen, gar nicht mehr formalen Kriterien werden Passagen, die sich eigentlich ganz harmonisch ins Textganze einfügen, zu Interpolationen erklärt - oft bleibt sogar eine klaffende Lücke zurück. Manchmal wird dann freimütig eingeräumt, dass die Überarbeitung des Textes hier besonders intensiv war, und die originale Lesart nicht mehr zu rekonstruieren sei. Fazit: Auch die Literarkritik versagt bei der Rekonstruktion einer jüdischen Grundschrift. Hinzu kommt, dass die Argumente der Literarkritik als solches heute skeptischer gesehen werden müssen. Denn was alles so streng formal klingt, erweist sich auf den zweiten Blick doch allzu oft als Geschmacksurteil des einzelnen Exegeten. Wer kann heute beurteilen, wann eine Textpassage „flüssig“ und „schlüssig“ ist? Erkenntnisse alt- und neutestamentlicher Textforschung haben ergeben, dass die antiken Maßstäbe für einen flüssigen und zusammenhängenden Text durchaus andere waren, und Tempus- oder Perspektivenwechsel teilweise sogar als Stilmittel eingesetzt wurden. Zufügungen oder redaktionelle Gliederungen können auch vom Autor selber stammen 39 . Der Autor will ein quasi-alttestamentliches Oeuvre schaffen, in dem die Patriarchen ihren Söhnen, dem Volk Israel Mahnung und Weisung für die Zukunft mitgeben. Als „Vorlage“ dient ihm vielleicht ein bestimmter Text, aber möglicherweise verwendet er nur jüdische und alttestamentliche Geschichten über die Patriarchen, also „Traditionen“, die ihm zur Verfügung stehen. In seinem Anliegen, dabei auch christliche Botschaft „unterzubringen“, bricht er regelmäßig etwas ungelenk aus seiner Fiktion aus und verkündigt Christus in kurzen Bemerkungen oder 39 Ich erinnere mich aus meiner Kindheit an die Gattung „christlicher Abenteuerroman“. Die Bücher lasen sich wie vergleichbare Werke von Enid Blyton - nur dass der Gang der Handlung immer wieder jäh durch erbauliche oder paränetische Passagen unterbrochen wurde. Sie ließen sich problemlos aus ihrem Kontext herauslösen, so dass meine Mutter sie beim Vorlesen einfach überspringen konnte. Die Lesbarkeit, die Spannung und der Handlungsablauf wurde dadurch deutlich verbessert. Nach literarkritischer Methodik ein glasklarer Fall von Interpolationsliteratur. Und doch waren die Bücher Werke nur eines Autors oder einer Autorin. <?page no="20"?> 14 längeren Abschnitten - um dann wieder zum eigentlichen Ansatz seines Textes zurückzukehren. Solche „interpolationsverdächtigen“ Mischungen aus langen jüdisch wirkenden Passagen im alttestamentlichen Stil mit wenigen christlichen Interpretamenten sind auch bei genuin christlicher patristischer Literatur über alttestamentliche Themen zu finden 40 . Nach dieser grundsätzlichen Kritik der Methode unterbleibt ein Blick auf die mittlerweile zur Unübersichtlichkeit angewachsene Auswahl an möglichen Grundschriften. Denn freilich ist man nicht beim Ausscheiden von offensichtlich christlichen Passagen geblieben, sondern hat auf der Suche nach Doubletten, Spannungen und Brüchen auch noch (etliche) jüdische Redaktionsschichten rekonstruiert, deren Entfernung am Ende dann wirklich einen einheitlichen handlichen Text zur Folge hatte 41 . Die Forschungsgeschichte hier im Einzelnen nachzuzeichnen kann auch deshalb unterbleiben, weil U LRICHSEN eine übersichtliche Zusammenfassung liefert 42 . Diesen oft phantasievollen Rekonstruktionen des letzten und vorletzten Jahrhunderts misst man in der exegetischen Diskussion um neu- und alttestamentliche Texte heute kaum noch Bedeutung zu, und es ist höchste Zeit, diese Erkenntnis auch in der Pseudepigraphenforschung zu beherzigen. 1.1.3 Formgeschichte Wie schon im vorangehenden Kapitel erwähnt, ist die Rekonstruktion einer Grundschrift oder schriftlichen Vorlage der heutigen TestXII wohl ganz im spekulativen Bereich anzusiedeln. Unbestreitbar ist aber, dass es „Stilvorlagen“ sowohl im jüdischen wie im christlichen Bereich gibt. Es ist E. v. N ORDHEIMS 43 Verdienst, die Gattung „Abschiedsreden“ benannt und beschrieben zu haben. Derlei Abschiedsreden finden sich innerbiblisch 44 wie auch außerbiblisch 45 . Merkmale dieser Gattung sind die Ankündigung 40 D AVILA , Provenance, S. 84 ff dekliniert das Ganze an zwei Homilien von Johannes Chrysostomos (Homilies in Genesis, ed Hill), einer Predigt Augustins (über Mi 6,6- 8 u. Ps 72, ed Hill et Lambot) und eines Kommentars von Ephraem dem Syrer, der sogar ganz ohne offensichtlich christliche Passagen auskommt (S. 95ff). 41 Kritiker der Literarkritik nennen das zu Recht einen home made text. 42 Grundschrift, S. 15-26. 43 N ORDHEIM , Lehre. 44 Als solche Abschiedsreden gelten alttestamentlich z.B. 1.Kön 2.1-12 und Gen 49f., neutestamentlich z.B. Joh 17 und Apg 20.17-38. Vgl. dazu den 2. Bd von N ORDHEIM Lehre S. 5-72. 45 Bei den von Nordheim im ersten Band verhandelten Schriften ist bei einigen die Testamentsgattung strittig. Dennoch ist sie für die meisten apokryphen und pseu- <?page no="21"?> 15 des nahen Todes, ein Rückblick auf die eigene Vergangenheit, paränetische Ermahnungen an die nachfolgenden Generationen und Weissagungen im Blick auf die Zukunft. Alles findet sich in den Patriarchentestamenten, inklusive der Rahmenhandlung, dass der Sterbende noch einmal alle seine Lieben um sich sammelt, und am Ende auch von ihnen zu Grabe getragen wird. Für uns besonders interessant sind die in Qumran gefundenen aramäischen Fragmente möglicher Abschiedsreden der „Levi Dynastie“ 46 . Auch wenn die Textfragmente nur unsichere Schlüsse zulassen, scheint es möglich, dass es Testamente von Levi, Amram und Qahat gegeben hat. Vor allem von Levi ist einiges an aramäischem Material erhalten 47 , größere Passagen sind auch in TLev wiederzufinden 48 . Indes hilft die Formgeschichte nicht bei der Ausscheidung möglicher Interpolationen. Da die Form selber weder spezifisch jüdisch noch spezifisch christlich zu nennen ist und auch in der Endform des vorliegenden Textes beibehalten und nicht durchbrochen wurde, ist hier keine Hilfe zu erwarten. Dennoch spielen formgeschichtliche Beobachtungen eine Rolle in der literarkritischen Diskussion. Die Rede ist von den sogenannten „Levi- Juda“-Passagen (LJ) und den „Sünde-Exil-Rückkehr“-Stücken (SER). De Jonge macht die Beobachtung, dass sie in den Zukunftsvisionen regelmäßig vorkommen und so eine (fast) allen Testamenten gemeinsame Form sind. Dies bringt ihn zu der Schlussfolgerung, es hier mit einem redaktionellen Element zu tun zu haben 49 . Da überdies die meisten SER und LJ- Passagen christliche Inhalte aufweisen, verwirft er die Interpolationstheorie zugunsten der Hypothese einer christlichen Redaktion jüdischen Materials. Diese Schlussfolgerung ist jedoch nicht zwingend. Vertreter der Interpolationstheorie machen geltend, dass beide Formen sehr wohl auch jüdisch depigraphen Testamente unstrittig. Die Abschiedsreden in Tob 4 und 14 sowie in 1.Makk 2,49-70 verhandelt er im zweiten Band. 46 Die in Qumran gefundenen Fragmente über „Testamente“ von Amram und Qahat sind nicht über das 'Dass' ihres Vorhandenseins hinaus besonders aussagekräftig, weil es ihnen an Umfang fehlt. Selbst ihr „Testaments“-Charakter kann bezweifelt werden. Vorsichtiger spricht man deshalb heute von aramäischem Levi-Material. 47 Einen sporadischen Überblick bieten H OLLANDER / DE J ONGE , Commentary, S. 17- 20. Eine vertiefte Diskussion findet sich in seinen Aufsätzen Testament Levi und Levi in Aramaic. 48 Eine merkwürdige Rolle spielt dabei das Manuskript e. Hier finden sich Abschnitte, die sonst nur in ArLev überliefert sind. Wie diese Stücke an den Schreiber von e gelangt sind ist völlig unklar, zumal die Textqualität von e sonst alles andere als überragend zu nennen ist. 49 Zuerst in seiner Dissertation von 1953, dann regelmäßig wiederholt, z.B. ausführlich in der Einführung zu seinem Kommentar mit H OLLANDER , S. 53-55. <?page no="22"?> 16 denkbar sind und gerade als Form selber nichts spezifisch Christliches aufweisen. Freilich haben sie als wesentliche Elemente der Zukunftsaussichten in den TestXII christliche Bearbeitungen besonders angezogen. Aber nicht alle LJ und SER Passagen sind christlich. Sie finden sich nicht in jedem Testament, und es sind auch christliche Elemente außerhalb dieser Formen vorhanden. Somit ist also nichts wirklich bewiesen, und die Hypothese de Jonges reiht sich in die Vielzahl anderer Entstehungsmodelle der TestXII ein, ohne dass sie die Mehrheit der Forscher hätte überzeugen können. 1.1.4 Inhaltliche Argumente Das eigentlich entscheidende Argument bleibt aber ein inhaltliches. Es sei doch erkennbar, dass Jüdisches und Christliches nebeneinander stehe. Jüdische Genealogie, Jüdisches Gesetz, ja sogar Opfervorschriften 50 finden sich in den TestXII genauso wie deutliche Hinweise auf Jesu Inkarnation 51 , seinen Tod 52 , ja sogar auf Paulus 53 . So wenig also sicher ermittelbar ist, wie Jüdisches und Christliches in den TestXII zusammengekommen ist - so scheint doch die Tatsache, dass beides irgendwie zusammengekommen sein muss, auf der Hand zu liegen. Wäre es möglich, die methodisch komplizierten exegetischen Entscheidungen über Grundschriften, Interpolations- oder Redaktionshypthesen einfach zu überspringen? Man könnte doch die Texte inhaltlich auseinanderhalten und so die „christlichen“ und die „jüdischen“ Testamente je für sich betrachten. Zwei Argumente machen gerade dies unmöglich. Erstens macht das spezifisch Jüdische oder das spezifisch Christliche nur einen Bruchteil des Gesamtwerkes aus. Es ist ja z. B. von den üppigen Paränesen gar nicht aussagbar, ob sie nun jüdisch oder christlich wären 54 . 50 Die Priestervisionen in TLev 4 und 8 kommen ohne Opferdienst aus, das ist immerhin bemerkenswert. Dagegen sind in TLev 9, das eine Nähe zu ArLev und Jub 31f aufweist, durchaus Opfervorschriften zu finden (vv. 7.11-14). Am beeindruckendsten ist aber die Tatsache, dass in der Athos Handschrift (MS e) nach TLev 18,2 sogar eine umfangreiche und minutiöse Opfervorschrift eingefügt wurde. Sie geht offensichtlich auf aramäische Quellen zurück (es gibt Parallelen zu aramäischem Levi Material aus der Geniza und Qumran, vgl. DE J ONGE , Commentary, S. 17-20 u. 457-469), dennoch ist sie zu christlicher Zeit in diese HS aus dem XI Jhdt. gelangt. 51 Siehe unten das zu den Hos-Anthropos-Perikopen Gesagte, Kapitel 2, S. 42ff. 52 Siehe unten, S. 139ff. 53 TBen 11. 54 C OLLINS , Athens, S. 162; H OLLANDER , Joseph passim und DE J ONGE , Jewish 1985 sind sich darin einig, dass die Ethik der Testamente kaum dezidiert jüdisch zu nennen ist, sondern (wie die christlich Ethik in den ersten Jahrhunderten auch) als allgemein hellenistisch bezeichnet werden kann. Siehe dazu unten S. 159ff. <?page no="23"?> 17 Ja nicht einmal das ganze Oeuvre der Patriarchentestamente ist als solches exklusiv jüdisch zu nennen: Auch die Christen beriefen sich auf Abraham und seine Nachkommen - und auf Josef im Besonderen 55 . Kann man da eine klare Distinktion treffen? Genauso wie man die TestXII als jüdische Schrift mit ein paar wenigen christlichen Interpolationen wahrnehmen kann, so ist es möglich, sie als christliche Schrift mit ein paar jüdischen Traditionsstücken aufzufassen. Letztendlich wird gerade auf der inhaltlichen Ebene das argumentative Patt der Interpolationstheorie gegenüber der Redaktionshypothese am deutlichsten 56 . Zweitens - und dies Argument wiegt womöglich noch schwerer - gibt es um die Entstehungszeit der TestXII weder „das Judentum“ noch „das Christentum“. Vieles von dem, was man als „jüdisch“ oder „christlich“ einordnet, ist anachronistische Rückprojektion erst später verfestigter Positionen 57 . Die TestXII sind keineswegs Repräsentanten eines jüdischen oder christlichen mainstreams. Sie stellen in beiden Kontexten bezüglich Form und Theologie eine Besonderheit dar. Kaum eine jüdische Schrift ist bekannt, die so explizit von der Hoffnung auf Erlösung der Heiden 58 spricht, die so deutlich die Betonung auf die Moral statt auf die Ritualgesetze 59 legt, ja in der sogar das Doppelgebot der Liebe begegnet 60 . Auch eine - wie auch immer rekonstruierte - jüdische „Grundschrift“ stellte innerhalb des Judentums eine Besonderheit dar, und daher darf darin Außergewöhnliches nicht überraschen. Genauso schwer zu finden ist eine christliche Schrift, die Jesus Christus dezidiert von Levi abstammen lässt 61 und zur Beschreibung seiner priesterköniglichen Würde ohne Melchisedek auskommt, die Gott direkt inkarnie- 55 Joseph als Typos für Jesus ist vielfach belegt, siehe dazu auch unten Kapitel 5.4, S.145. 56 Keiner wird bestreiten, dass die diversen produzierten „Grundschriften“ in sich inhaltlich stimmig sind - doch auch der End-Text macht in seiner Gesamtheit inhaltlich Sinn. 57 Man kann nicht von einem rein rabbinischen Judentum und einer rein heidenchristlich geprägten Kirche des Mittelalters auf antike Verhältnisse rückschließen. 58 Natürlich kann man alle Heilsaussagen zugunsten der Heiden, der Menschheit usw. komplett einem christlichen Interpolator zuweisen. In der Regel werden sie aber auch von den Vertretern der Interpolationstheorie ursprünglich gehalten - zumindest teilweise. 59 Auch hier gibt es im hellenistischen Judentum Beispiele, die in diese Richtung weisen. Doch selbst wenn P HILO in De specialibus legibus versucht, auch die Ritualgesetze ethisch auszulegen, so bleiben sie eben doch ein wesentliches Thema. Dass jüdische Identitätsmerkmale wie Sabbat, Beschneidung und Speisegebote kaum eine Rolle in den TestXII spielen, ist jedenfalls auffällig. 60 Wir finden es immerhin auch in Jub. Dennoch wird u.a. von de Jonge vermutet, es gehöre zur christlichen Redaktion der TestXII. 61 Siehe unten zu den Levi-Juda Passagen, S. 87ff. <?page no="24"?> 18 ren 62 und sogar leiden lässt, die sich um die Rettung Israels so viele Gedanken macht 63 , die die Schuld am Tod Jesu zu begrenzen sucht 64 , die insgesamt am Volksgedanken Israels festhält und nicht einfach durch die Kirche substituiert. Auch die rein christlichen „Interpolationen“ ohne ihren Kontext sind ausgesprochen bemerkenswert innerhalb der frühchristlichen Theologiegeschichte. Wir haben also weder eine klassische jüdische Schrift, die mit ein paar christlichen Elementen verdorben wurde, noch eine klassisch christliche Schrift, die mit ein paar jüdischen Versatzstücken aufgefüllt wurde. Sie ist in ihren Teilen wie in ihrer Gesamtheit ein durchaus originelles Werk, und es ist nicht unproblematisch, durch exegetische Kunstfertigkeit diese Kantigkeit einzuebnen und für ein durchschnittliches Judentum oder Christentum passend zu machen. Hinzu kommt, dass unser Bild vom Judentum hellenistischer Zeit wie für das frühe Christentum bruchstückhaft ist. Immer wieder kommt es zu Überraschungen. Durch Qumran, Nag Hammadi, Hirt des Hermas 65 und andere Schriftfunde sollten wir gewarnt sein: Unsere heutigen Maßstäbe einer dogmatisch konsistenten jüdischen oder christlichen Theologie werden den spätantiken Gegebenheiten einfach nicht gerecht. Vor diesem Hintergrund ist es schlechterdings unmöglich, einzelne Halbverse eines komplexen Kapitels wie Test Lev 18 der einen oder der anderen Seite zuzuschreiben. Es könnte genauso gut ganz und gar jüdisch, wie ganz und gar christlich sein. Denn wer hat eigentlich das Recht, die Grenzen zu setzen? Können, ja dürfen Wissenschaftler des 20./ 21. Jahrhunderts entscheiden, wie jüdisch Christentum, bzw. wie christlich Judentum sein darf? Jüdisches und Christliches in den TestXII auseinander zu dividieren, erspart dem Exegeten auch die Aufgabe, einen Mosaikstein jüdischchristlicher Theologiegeschichte in unser Bild einpassen zu müssen, der so gar nicht unseren gewohnten Farbschemata entspricht. Doch statt ihn einfach zu zerbröseln, sollte man vielleicht gerade diese Herausforderung einmal annehmen. 62 Zu den Hos-Anthropos-Perikopen siehe unten, S. 42ff. 63 Das bemerkte schon J ERVELL , Interpolator, passim. 64 Zu den „Unschuldspassagen“ siehe S. 119ff. 65 „Der Hirt des Hermas ist ein merkwürdiges Buch. Wäre es verloren gegangen, kein Mensch käme darauf, mit einer solchen Schrift im Frühchristentum der Stadt Rom um die erste Jahrhundertwende zu rechnen“ , B ROX , Hermas. S. 5. <?page no="25"?> 19 1.1.5 Zwischenergebnis: Ist die Interpolationstheorie gescheitert? Letztlich hat keine der gebotenen Methoden einen Beweis erbringen können, dass die TestXII einen langen, unkoordinierten und räumlich disparaten Interpolationsprozess durchlaufen haben. Die christlichen Passagen sind keine Textverderbnisse, die sich einfach ausscheiden lassen. Vielmehr ist wahrscheinlich, dass, wenn es eine Interpolation gab, sie im wesentlichen zu einem frühen Textstadium stattfand und den Text grundlegend neu interpretierte, wenn nicht redigierte. Da, wo sich die Redaktionshypothese von de Jonge und die Theorie einer Interpretation durch Interpolation von Jervell begegnen, scheint noch am ehesten die Wahrheit zu liegen. Doch muss eingeräumt werden, dass sich der Umfang und die Grenzen der christlichen Re-Interpretation an keiner Stelle zweifelsfrei definieren lassen, und damit die Suche nach einer jüdischen „Grundschrift“ nur hypothetisch, wenn nicht spekulativ sein kann 66 . Gleichwohl kann der sowohl jüdische als auch christliche Charakter einzelner Passagen nicht ignoriert werden. Der mögliche Beitrag der TestXII zur jüdischen wie christlichen Theologiegeschichte darf nicht wegen ungeklärter Provenienz einzelner Halbverse unter den Tisch fallen. Vielmehr muss eine Methode jenseits der text- und literarkritischen Schneidewerkzeuge gefunden werden, gerade das Ineinandergreifen von Jüdischem und Christlichem hermeneutisch fruchtbar zu machen. 1.2 Neuansatz: Doppelt-Synchrone Exegese Auch in der klassischen Exegese von AT und NT ist die synchrone Exegese ein Ausweg aus literarkritischen Aporien. Sie gründet sich auf die Annahme, der Text in seiner Letztgestalt sei eben nicht Produkt eines Zufalls oder das Werk eines stumpfsinnigen Redaktors, der quasi mechanisch die Seiten seiner Vorlagen vermischt habe, sondern eine sinnvolle Einheit mit theologischer Relevanz. Dies ist nun auch für die TestXII zu behaupten. Dabei sind zwei Dinge unbedingt festzuhalten: • Die TestXII sind in ihrer Endgestalt 67 eine christliche Schrift. Als solche müssen sie in die frühchristliche Theologiegeschichte eingeordnet werden. Dabei kann es gar nicht allein darum gehen, ein paar Schnipsel aus dem Papierkorb der Literarkritiker ins frühchristliche Poesiealbum zu 66 Das gilt mutatis mutandis freilich auch für die Redaktionshypothese de Jonges: Die Frage, was traditionelles und was redaktionelles Material ist, ist nur in wenigen Passagen zweifelsfrei zu klären. 67 Hierzu dient der Hinweis auf den textkritischen Befund, dass „the oldest tracable stage of text“ eben ein christlicher sei. <?page no="26"?> 20 kleben, sondern die Schrift als Ganzes muss als ein Zeugnis frühchristlichen Denkens über die Vätergeschichten, die Moral und die Verheißungen wahrgenommen werden. • Im Entstehungsprozess dieser christlichen Schrift werden in großem Umfang genuin jüdische Traditionen verarbeitet, große und kleine Stücke, Schriftliches wie Mündliches. Dies erfolgt absichtlich, so dass auch die dezidiert „jüdischen“ Passagen mit in die Gesamtinterpretation einzubeziehen sind. Der weite Raum, der „jüdischen“ Traditionen eingeräumt wird, ist ganz und gar im Sinne des christlichen Redaktors, Interpolators oder Autors. Zuletzt sei noch das Stichwort der Ethik genannt. Wie wohltuend sich doch die TestXII von ihrer hellenistischen Umgebung abheben in ihrer Predigt von Liebe, von Vergebung und Barmherzigkeit 68 . Und dies nicht als moralischer Zeigefinger, sondern im Werben um eine Nachahmung Gottes, der in Christus seine Liebe, Vergebung und Barmherzigkeit offenbart hat. In diesem Sinne werden also die jüdischen Abschnitte bei der Formulierung der christlichen Gesamtaussage zu berücksichtigen sein, genauso wie auch die christlichen Passagen im Rahmen ihrer jüdischen Tradition ernst genommen werden müssen. Dieses Verfahren, Jüdisches christlich und Christliches jüdisch zu lesen nenne ich Doppelt-Synchrones Lesen. Eine Suchrichtung ermittelt die jüdische Tradition, die nicht nur den Hintergrund oder Kontext einer Passage prägt, sondern auch ihre Aussageintention konkretisiert. Die andere Suchrichtung versucht zu klären, wie diese jüdischen Traditionen christlich interpretiert werden - und wie sich gerade diese Interpretation zu den Aussagen anderer christlicher Autoren der frühchristlichen Theologiegeschichte verhält. Ein solches Vorgehen ermöglicht auch eine Erweiterung des Horizontes dessen, was jüdisch und was christlich sein kann - und nicht nur sein darf. Denn solange wir nur das für jüdisch oder christlich anerkennen, was wir schon als jüdisch oder christlich vor-definieren, ist ein Erkenntnisgewinn a priori praktisch ausgeschlossen. Viele Zuordnungen der früheren Untersuchungen konnten sich zum Beispiel keine „judenchristliche“ Autorenschaft vorstellen, weil Paulus in TBen 11 gepriesen wird, und „Judenchristen“ ja per definitionem antipaulinisch eingestellt sein müssen. Aber ist das zutreffend? Wer oder was sind eigentlich Judenchristen? 68 Heute spielt dieser Barmherzigkeitsbegriff im Christlich-Islamischen Dialog eine Rolle: Das christliche Verständnis von Barmherzigkeit ist keine Bewegung von oben nach unten, im Sinne eines majestätischen Hulderweises, sondern von unten nach oben, aus der Tiefe, der Niedrigkeit, dem wortwörtlichen Mit-Leid. <?page no="27"?> 21 1.3 Problem: Begriffsdefinition Judenchristentum Diese Arbeit bewegt sich im interdisziplinären Grenzland zwischen der Kirchen- und Dogmengeschichte einerseits und der neutestamentlichen Exegese andererseits. Nun wird der Begriff „Judenchristentum“ von beiden Disziplinen tendenziell recht unterschiedlich gebraucht 69 , und es besteht eine erhebliche terminologische Unschärfe 70 . Daher ist es methodologisch geboten, möglichst klar darzulegen, wie in dieser Arbeit mit der Terminologie verfahren werden soll. Dabei muss man vergegenwärtigen, dass der Terminus als solcher relativ jung ist 71 und bis heute 72 eine Fremdbezeichnung 73 darstellt. 1.3.1 Judenchristentum als Christenheit aus dem Judentum Ein Judenchrist in der neutestamentlich-exegetischen Terminologie ist zunächst nichts anderes, als ein Jude, der zur christlichen Gemeinde gehört. Das Gegenstück ist der Heidenchrist 74 , der aus den griechischsprachigen Völkern stammt. Dies ist die ethnische Definition 75 , bzw. semantisch 69 Besonders prägnant ist dies in Nachschlagewerken zu erkennen, z.B. RGG, 4. Aufl., Art. Judenchristentum I und II. (Sp 601-606). Vgl. aber auch in neuester Zeit noch D AVILA , Provenance, wo er zunächst sehr treffend das neutestamentliche Judenchristentum schildert, um auf S. 41 in das zweite Jahrhundert und später zu springen und unter Judenchristen nur noch Ebionäische und Nazoräische Häresien versteht, genauso F RANKEMÖLLE , Frühjudentum S. 330f. C OLPE , Siegel, S. 163f benennt das Problem und spricht von einer „Neufassung von 'Judenchristentum' als dogmengeschichtlicher Begriff“. 70 Es ist kein Wunder, dass gerade ein Grenzgänger zwischen exegetischem und kirchenhistorischem Fach wie Carsten C OLPE , als erster sich systematisch mit der Problematik dieses Begriffs beschäftigt hat, C OLPE , Siegel, S. 38-58. Neu dazu B OYA- RIN , Differences, passim. 71 „Der Begriff als solcher taucht erst im 17. Jh. auf.“ - RGG 4 , Sp. 603. 72 Christen in Israel oder den USA, die aus dem Judentum kommen, und diese Wurzeln auch bewusst pflegen, nennen sich heute „messianische“ Juden, und sind in der Ökumene dem freikirchlich-evangelikalen bis pfingstlerischen Spektrum zuzuordnen. 73 Oder, wie C OLPE es nennt, ein Begriff der Metabzw. Wissenschaftssprache (Siegel, S. 39). 74 C OLPE , Siegel, S. 41 weist darauf hin, dass diese Bezeichnung problematisch ist, weil das deutsche Wort „Heiden“ kaum eine sinnvolle Wiedergabe der ntl. ἔθνη bzw. der hebräisch/ jüdischen gojim ist. Zu sehr sei es eigentlich für die Bennennung gerade nichtchristlicher „Heiden“ zuständig. Der Ausdruck „Heidenchrist“ sei insofern absurd. 75 G. S TRECKER in TRE 17; S. 310f. <?page no="28"?> 22 betrachtet die Kasuskomposition 76 . Als neutestamentliches Äquivalent gelten „οἱ ἐκ περιτομῆς“ 77 . Zu diesen Juden, die Christen geworden waren, zählt praktisch die gesamte „Urgemeinde“ jener Christen, die nachösterlich in Jerusalem 78 zusammenkam. Dazu zählen der Zwölferkreis 79 , aber auch die sogenannten „Hellenisten“ 80 , die zwar griechisch sprechende Juden, aber eben zumindest von ihrem Selbstverständnis 81 her unzweifelhaft Juden waren. Der Vorteil dieser Definition ist, dass sie Juden, die Christen geworden sind, nicht automatisch ihr Jude-Sein abspricht, auch wenn sie mit „orthodoxen 82 “ jüdischen Positionen nicht übereinstimmen. Denn theologisch können „ethnische“ Judenchristen durchaus in Opposition zu bestimmten 83 jüdischen Identitätsmerkmalen 84 stehen 85 . 76 C OLPE , Siegel, S. 39. 77 Apg 10,45; 11,2; Gal 2,12, Tit 1,10 u.ö. Es ist nicht unbedeutend, dass ntl. die Gruppenzugehörigkeit an der Beschneidung festgemacht wird. Beschneidung ist keine Aussage über ethnische Abstammung, in aller Regel aber auch kein Bekenntnisakt (sofern es sich nicht um eine Proselytenbeschneidung handelt). Ihr haftet dadurch etwas Ethnisches, ja sogar Kulturelles an. Das steht in gewisser Spannung zur religiös-ideologischen Aufladung, die sie durch Beschneidungsverbot und daraus resultierenden Verfolgungen in der seleukidischen Zeit erhalten hat. Die Beschneidung wird in der Reaktion darauf quasi als heilsnotwendig proklamiert. Dennoch wäre es nicht völlig verfehlt „οἱ ἐκ περιτομῆς“ als „die aus dem jüdischen Kulturkreis“ zu übersetzen. Zur ganzen Problematik der Beschneidung vgl. auch B LASCHKE , Beschneidung. 78 Jerusalem als erstes Zentrum der christlichen Gemeinden begegnet übereinstimmend in Apg und dem Corpus Paulinum. Gerade die Auferstehungsberichte aus Emmaus und Galiläa sollten uns davor bewahren, christliche Gemeinden außerhalb der Stadt auch für die früheste Zeit kategorisch auszuschließen. 79 Dies ist zumindest das lukanische Modell der Kontinuität zwischen Jüngern Jesu und Urgemeinde. Bei Paulus liest man von den Säulen der Gemeinde, Jakobus, Johannes und Petrus. 80 Dazu gehört der „Stephanuskreis“ oder auch die in der Liste der sieben Armenpfleger genannten Personen. Trotz ihrer Gemeinsamkeiten sollte man sich auch von dieser Gruppe keine allzu homogenen Vorstellungen machen. Schon die Bezeichnung „Kreis“ oder „Partei“ kann eine Geschlossenheit ausdrücken, die historisch so nicht gegeben sein muss. 81 So bezeichnet Stephanus in seiner Rede von Apg 7, die von Lukas als eine Art Programmschrift der Hellenisten konzipiert wurde, die zwölf Patriarchen mehrfach als „unsere Väter/ πατέρες ἡμῶν“ (vv 11; 12; 19). 82 Der Begriff hat sich in der Bezeichnung jüdischer Strömungen eingebürgert, auch wenn er genuin christlich ist, und der „jüdischen Glaubensweise“ (Buber) nicht ganz gerecht wird. 83 Es muss angemerkt werden, dass zumindest die Gewichtung der Identitätsmerkmale historisch kontingent ist - nicht immer war alles gleich wichtig. Äußere Faktoren wie z. B. blutige Verfolgungen mit Märtyrern können ein Merkmal innerhalb einer Gruppe erheblich aufwerten. <?page no="29"?> 23 Den „Hellenisten“ war zum Beispiel eine harsche Tempelkritik 86 eigen. Damit waren sie im Judentum keineswegs alleine, wie schon die Tempelskepsis innerhalb des AT 87 und zu neutestamentlicher Zeit die Schriften von Qumran 88 beweisen. Jedenfalls ist in dem Kampf um Symbole zur Zeit der Makkabäer auch der Tempel zu einem Symbol des Bundes geworden 89 . Zudem scheint sich in konzentrisch um das Heiligtum verdichtenden Tabuzonen ein und dieselbe Tempelkritik in unmittelbarer Nähe der Stätte 84 Den Begriff Identitätsmerkmale verwende ich als Synonym für das, was im angelsächsischen Sprachraum mit „identity marker“ bezeichnet wird. Ein Merkmal, das eben nicht nur nach innen die Identität einer Person oder Gruppe definiert, sondern auch nach außen markiert. Es ist meiner Beobachtung nach der Kern des Konflikts um die „Werke des Gesetzes“ bei Paulus, der den notwendig „äußerlichen“ Charakter dieser Werke vom „innerlichen“ Aspekt des Glaubens her kritisiert. Seine Gegner sahen damit die Identität und Integrität des Gottesvolkes in Frage gestellt. Wird dagegen allein der Glaube zum Identitätsmerkmal, ist es nicht verwunderlich, dass sich die Abgrenzungskonflikte dann um dessen äußere Gestalt in Form von Glaubensbekenntnissen und Konkordienformeln abspielen - wie es in der christlichen Kirche bis heute zu beobachten ist. 85 Das hat ebenfalls eine innerjüdische Vorgeschichte: Josephus berichtet von der Geschichte des Izates von Adiabene, dem unterschiedliche jüdische Lehrer auf die Frage nach der Notwendigkeit der Beschneidung für die Zugehörigkeit zum Judentum durchaus unterschiedliche Antworten gaben (Ant. XX,40-46). 86 Ein Reflex davon ist in der Rede des Stephanus (Apg 7,47-50) zu finden wie auch in der Tatsache, dass die Witwen der Hellenisten ganz offensichtlich von der Witwenversorgung (des Tempels? ) ausgeklammert waren (Apg 6,1-7). Vgl. darüber hinaus B ERGER , Theologiegeschichte, S. 142f. 87 Vgl. nur Jes 66.1ff, das in der Stephanusrede zitiert wird. Auch im sog. Tempelweihgebet Salomos 1.Kön 8,27/ 2.Chr 6,18 klingt ja die Frage an, ob ein von Menschen gebautes Haus Gott überhaupt fassen kann. Radikale israelitische Bewegungen wie die um Elia, die Rechabiter und andere, die eine Rückkehr zur Wüstenzeit propagierten, haben mit dem Stadtheiligtum kanaanäischen Stils in Jerusalem ohnehin nichts zu schaffen. Die israelitischen „Reichsheiligtümer“ werden scharf abgelehnt. D ÖPP , Deutung, 35ff sieht die Tempelkritik der Stephanusrede stärker im Kontext einer lukanischen Deutung der Tempelzerstörung als Konsequenz der Ablehnung von Gottes Propheten. Eine grundsätzliche Ablehnung des Tempels durch die Hellenisten sieht er trotz des o. g. Zitats nicht. Dadurch übersieht er eine weitere Parallele zwischen TLev und Lukas, denn mit dem Rekurs auf Jes 66,1 ist meines Erachtens das himmlische Heiligtum avisiert, das auch in TLev eine wichtige Rolle spielt. Vgl. D ÖPP , Deutung, S. 131ff. 88 Vor allem CD und 4QMMT zeigen deutliche Distanz zum Tempel und zur dortigen Priesterschaft. Vor diesem Hintergrund sind die TestXII erstaunlich tempelfreundlich eingestellt. Allerdings zeugt die „Tempelrolle“ auch von einer Hochschätzung dieses heiligen Ortes. 89 1. Makk 3,43.51.58f u.ö. <?page no="30"?> 24 weit blasphemischer angehört zu haben als in der Wüste 90 oder im ländlichen 91 Galiläa. Die Tempelkritik der Hellenisten war keine wirklich ländliche Opposition gegen das städtische Zentralheiligtum. Vielmehr nahm sie die Tempelkritik israelitisch-prophetischen Charakters auf und mischte sie mit dem hellenistisch-jüdischen Versuch, die Transzendenz 92 des εἷς θεός 93 zu betonen. In ihrer juden-christlichen Theologie wurde dann diese Kritik zugespitzt. Aus einem jüdisch hellenistischem Sowohl-als-auch 94 von konkreter und übertragener Bedeutung bestimmter Kristallisationspunkte jüdischer Identitätsfindung (wie z.B. Tempel) wurde ein mehr oder minder scharf differenziertes Entweder-Oder. So bezieht sich die Tempelkritik von Stephanus in Apg 7,48 nicht etwa darauf, dass am Tempel von Jerusalem die falschen Priester dienen oder die falsche Lehre gelehrt würde oder etwaige Unreinheit ihn kontaminiert hätte 95 - nein, maßgeblich ist die Tatsache, dass er mit Händen gemacht 96 sei, also etwas Geistig-Geistliches grob gegenständlich verdinglicht wird. Kommt es der ethnischen Definition nicht auf die Beibehaltung jüdischer Identitätsmerkmale an, so sind auch Apostel wie Barnabas und Paulus zu den Judenchristen der Urgemeinde zu zählen, auch wenn sie propagieren, den Griechen sei bei Zuwendung zum Christentum eben nicht die ganze Torah inklusive Beschneidung, Speise und Sabbatgebote aufzuerlegen 97 . 90 Zur Zivilisationskritik eifernder Gruppierungen im Judentum, vgl. auch unten, Kap 4.2.3, S. 128ff. Davon kann prinzipiell auch der Tempel betroffen sein. 91 Die Einordnung von Jesu Tempelweissagung in den sozialgeschichtlich relevanten Stadt-Land Konflikt leistet T HEISSEN , Tempelweissagung. 92 Die Programmschrift dazu dürfte P HILO Quod Deus sein - vgl. dazu auch unten, Kap 2.2.5, S. 61. 93 Vgl. Dtn 6,4 LXX. Für die Rezeption im hellenistischen Judentum finden sich zahlreiche Belege bei P HILO , z. B. spec leg 1,68; 4,159; fuga 71; conf 171; cher 83; LA 3,105; arith 44a col r.14 usw. Das wurde auch in das Glaubensbekenntnis der ersten Christen übernommen, vgl. 1.Kor 8,6; Röm 3,30; Eph 4,16 leicht ironisch: Jak 2,19. 94 Dieses Sowohl-als-auch prägt zum Beispiel P HILOS Schrift de specialibus legibus. Zwar werden die rituellen Vorschriften stark von ihrer symbolischen Bedeutung her erklärt, doch ihre praktische Ausführung deshalb nicht dispensiert. Dagegen scheinen die Hellenisten diese „Spezialgesetze“ als „Gebräuche“ (vgl. den Begriff der „ἔθη“ in Apg 6,14 u.ö.) verstanden zu haben, die mindestens als Adiaphora galten, womöglich dem wahren, geistigen Verständnis des Willens Gottes aber im Wege standen. 95 Vgl. den ganz anderen Schwerpunkt der Tempelkritik Jesu (Mt 12,12-16par), die nur die missbräuchliche Nutzung des Tempels fokussiert. 96 Apg 7,48; von Paulus: Apg 17,24. 97 So wird ihre Rolle in Gal 2,9 und Apg 15 beschrieben. <?page no="31"?> 25 Sie dennoch als Judenchristen zu bezeichnen wird ihnen vor allem deshalb gerecht, weil dies auch ihrem Selbstverständnis entspricht: Paulus selbst legt ja an mehreren Stellen 98 ausdrücklich wert auf seine jüdische Herkunft. Doch die ethnische Definition hat entscheidende Schwächen, denn das Judentum zur Zeit des frühen Christentums bestand eben nicht mehr allein aus geborenen Juden. Daneben gab es Proselyten, also ethnische Heiden, die sich ganz zum Judentum bekannten, Gottesfürchtige, also Sympathisanten, die sich zur jüdischen Gemeinde hielten und andere mehr oder minder stark an jüdischen Lehren oder Sitten interessierte Gruppen. Die diversen Differenzierungen, Abstufungen und Terminologien, die dabei diskutiert werden 99 , brauchen uns hier nicht weiter beschäftigen. Tatsache ist, dass sich Menschen aus den Heidenvölkern mit jüdischer Prägung unterschiedlichster Intensität dem Christentum zugewandt haben, wie die Apostelgeschichte schon in Kapitel 2,11 nahelegt. Auch die Darstellung der Missionswege der Apostel führten fast ausschließlich über Proselyten 100 , jüdische Sympathisanten 101 oder am Judentum interessierte Heiden 102 . Sollen sie, die ethnisch gar keine Juden sind, als Judenchristen gelten 103 , weil ihr Weg zum Christentum über das Judentum führt? Und was ist umgekehrt mit ethnischen Juden, die sich ganz (oder teilweise 104 ) dem Heidentum zuwandten 105 ? Würden sich diese zum Christentum bekehren, dann womöglich gerade deshalb, weil es eben nicht jüdisch war. Sie würden kaum „judenchristliche“ Positionen vertreten, sie könnten 98 Röm 9,3; 2. Kor 11,22; Gal 1,13f, Phil 3,5f. 99 Vgl. D AVILA , Provenance, S. 23ff, der eine von C OHEN (Boundary, S. 168-174) entwickelte 7-stufige Skala heidnischer Zuwendung zum Judentum in drei bis vier Gruppen einzuteilen versucht. 100 Prisca und Aquila werden als römische Juden vorgestellt. Freilich könnten sie auch Hellenisten sein (Apg 18,2). In Beröa bekehren sich in der Synagoge der Juden vornehme Griechen - also offensichtlich Proselyten (Apg 17,12). 101 Als „Gottesfürchtige“ werden Hauptmann Kornelius (Apg 10) und auch Lydia (Apg 16,14) geschildert. 102 Hier wäre auf jeden Fall der „Kämmerer aus Äthiopien“ zu nennen (Apg 8,26ff). 103 Von hellenistischem Judenchristentum lesen wir bei H AHN , Hoheitstitel, und H EN- GEL , Christologie. Allerdings wird stark der Eindruck erweckt, dass hellenistische Judenchristentum sei völlig im entstehenden Heidenchristentum aufgegangen, vgl. dazu auch G RILLMEIER , Jesus, S. 14, Anm. 28. 104 D AVILA , Provenance, S. 33f reflektiert über „syncretistic jews“. Allerdings kann er keine so feine Abstufung vornehmen wie bei den dem Judentum zugewandten Heiden - vor allem wegen des Mangels an schriftlichen Quellen. 105 Wenn dies in 1. Makk 12-16 u.ö. für Jerusalem galt, wie viel mehr muss das für Juden gelten, die in der Diaspora gelebt haben. <?page no="32"?> 26 sogar durch besonders leidenschaftliche Ablehnung des Judentums auffallen 106 , obwohl sie ethnische Judenchristen sind. Damit ist die vielleicht entscheidende Schwäche angesprochen: Gerade in der pseudepigraphen Literatur haben wir keine Auskunft über den Verfasser, wir haben nur seinen Text. Von daher sind wir gezwungen, Kriterien für Judenchristentum zu erheben, die allein an diesem Text auch nachweisbar sind. 1.3.2 „Judenchristentum“ als jüdisches Christentum Aufgrund der genannten Schwächen der ethnischen Definition hat man versucht, „Judenchristentum“ 107 theologisch zu definieren 108 , also als eine bestimmte theologischen Position in Fragen der Gültigkeit der Thora, namentlich der Ritualgesetze und anderer jüdischer Identitätsmerkmale. Nach dieser Definition ist derjenige ein „Judenchrist“, der die Gültigkeit der mosaischen Gesetze zumindest zu einem entscheidenden, identitätsstiftenden Teil ausdrücklich beibehalten will. Semantisch entspräche dieser Begriff dem Determinativkompositum 109 . Auch diese Definition leitet sich aus dem Neuen Testament ab. Die paulinische Praxis, die Heidenchristen von der Beschneidung, den Speisegeboten, ja sogar vom Festkalender zu dispensieren, führte zu Kritik bei jenen Teilen der judenchristlichen Gemeinde, die wenigstens ein Minimum an Thoraobservanz einforderten - was diese nach außen sichtbaren Zeichen des Judentums anging. Schließlich war dieser „kleine Unterschied“ zur heidnischen Umwelt in der Vergangenheit Grund für blutige Verfolgungen und entsprechend zahlreiche Martyrien gewesen 110 . 106 Das Phänomen eines jüdischen Antisemitismus' bleibt bis in die heutige Zeit ein vieldiskutiertes Problem. 107 Um sie von der ethnischen Definition abzusetzen, setze ich sie in Anführungsstriche. Darin folge ich auch C OLPE , Siegel, der „judenchristlich“ als Parteibezeichnung auch entsprechend markiert. 108 Um diese Gruppe hat sich vor allem S TRECKER verdient gemacht: In einem Anhang zu B AUER , Rechtgläubigkeit, S. 245-287 und seiner Monographie zum Judenchristentum in den Pseudoklementinen. Vgl. auch seinen Artikel in TRE 17; S. 310f. 109 So C OLPE , Siegel, S. 39f. 110 Vgl. die Makkabäerliteratur, aber auch J OSEPHUS ' Antiquitates und Bellum Judaicum. Hat der Kampf um Symbole erst das Blut der Märtyrer gekostet, ist ihre Aufgabe Verrat an den Blutzeugen des Glaubens oder der Gemeinschaft. Das Beharren der Judaisierer auf die jüdischen Identitätsmerkmale ist also alles andere als kleinlicher Pharisäismus. Man darf auch vermuten, dass es zur Zeit Hadrians so etwas wie ein Beschneidungsverbot gab (so u. a. D ÖPP , Deutung, S. 164, anders - aber nicht überzeugend - A BUSH , Circumcision, S. 86). Vieles deutet darauf hin, dass Beschneidung mit Kastration gleichgesetzt wurde (vgl. A BUSH , Circumcision, S. 76 u.ö.), und als Kapitalverbrechen („lex cornelia“) bestraft wurde (vgl. ein Hadrian- <?page no="33"?> 27 Diese Gruppe wurde dann von anderen Judenchristen (wie Paulus und seinen Schülern) als „Judaisierer 111 , Pharisäer 112 “ und ähnliches bezeichnet. Der Streit, der in zahlreichen Briefen des Paulus und auch in Berichten der Apostelgeschichte seinen Niederschlag findet, ist nach ethnischer Definition also ein innerjudenchristlicher Disput, doch wurden in der Auslegungsgeschichte die „Judaisierer“ als Partei mit „Judenchristen“ identifiziert. Es wurde vermutet, dass wohl nur palästinische Judenchristen solche Positionen vertreten haben sollten 113 . Zwar wird das ein oder andere Mal davon geredet, dass die judaisierenden Kräfte von Judäa bzw Jerusalem ausgingen 114 , aber das ist keineswegs für alle Fälle judaisierender Predigt sicher, ja nicht einmal wahrscheinlich. zu Recht wird darauf hingewiesen, dass Heidenchristen zu judaisierender Lehre nicht nur passiv überzeugt werden könnten, sondern sich auch aktiv an ihr beteiligen könnten 115 . Die Bezeichnung „Judenchristen“ für diese Partei ist also ziemlich unglücklich, doch fehlt eine Alternative 116 , die sich wissenschaftssprachlich durchsetzen konnte. Dass derselbe Begriff sich überhaupt für zwei verschiedene Gruppen halten konnte, hat damit zu tun, dass keiner weiß, was im weiteren Verlauf der Kirchengeschichte eigentlich aus diesem ethnischen Judenchristentum geworden ist. Es darf als sicher gelten, dass sein Jerusalemer Zweig die vier großen Katastrophen, nämlich die Vertreibung der Hellenisten, die Hin- Rescript, überliefert bei U LPIAN , Digesta, 48,8,4,2). Auch wenn die Frage nach dem Ursache-Wirkung-Zusammenhang von Beschneidungsverbot und Bar-Kochba- Aufstand noch ungeklärt ist, haben wir mit großer Wahrscheinlichkeit „Beschneidungs-Märtyrer“ noch in der Mitte des 2. Jahrhunderts. 111 Gal 2,13f - genau genommen motivieren die Gegner von Paulus die galatischen Heiden zum „ἰουδαίζειν”. 112 Act 15,5. 113 Dabei wurde selten nach den Motiven gefragt. Dass die Verfolgungssituation, die Stephanus und Jakobus und andere Judenchristen das Leben kostete, in dieser Stadt ein sehr nachvollziehbares Motiv war, auf die Gesetzesobservanz der judenchristlichen Gemeinde zu achten, wird kaum in den Blick genommen. 114 Apg 15,1; Gal 2,12. 115 Paulus hätte sich um seine heidenchristlichen Gemeinden in Thessaloniki, Galatien und Philippi nicht sorgen müssen, wären Heidenchristen gegen diese Lehre immun gewesen. Kommen sie aber als Hörer in Betracht - dann auch als Lehrer. Die Existenz heidenchristlicher Lehrer judaisierender Theologie machen auch Ign Phd 6,1 und J USTIN , Trypho 47f sowie die Adversus Joudaios Predigten von Johannes Chrysostomos deutlich (vgl. dazu D AVILA , Provenance, S. 45ff). 116 D AVILA (Provenance, S. 49) schlägt vor, sie in Folge Kimelmans deshalb „biblizisers“ zu nennen, weil sie ihre Position, Beschneidung und Kaschrut zu bewahren auch ganz ohne jüdische Vermittlung direkt aus der Bibel, dem Alten Testament bezogen haben könnten. Das ist ein Anachronismus ersten Ranges und wegen der Verwechselbarkeit mit modernen Biblizisten abzulehnen. <?page no="34"?> 28 richtung des Jakobus, die Zerstörung des Tempels und den Bar Kochba Aufstand letztlich nicht überlebte 117 . Jedenfalls fehlen von da an jegliche Quellen oder auch Informationen über jüdische Christen in dieser Region. Aber auch außerhalb des palästinischen Raumes sieht es kaum besser aus: Waren noch alle 118 Autoren des Neuen Testamentes Judenchristen, so fehlen anerkannte judenchristliche Quellen aus nachneutestamentlicher Zeit fast völlig 119 . Schon bei den Apostolischen Vätern wie Clemens, Ignatius oder Polykarp haben wir es mit Heidenchristen zu tun 120 . Sie übernehmen offenbar die Verantwortung, den christlichen Glauben nach innen wie außen darzustellen, auch und vor allem in Abgrenzung zu Irrlehren und Häresien - unter ihnen auch Ebionäer und Nazoräer. Um diese zusammenzufassen in ihren judaisierenden Tendenzen, wird der Begriff „Judenchristentum“, der ja keine konkrete Gruppe jüdischer Christen in der Kirche mehr bezeichnet, plötzlich mehr und mehr zu der Bezeichnung einer bestimmten theologischen Richtung oder sogar Partei 121 . In dieser theologischen Definition, wie sie vor allem von den kirchen- und dogmengeschichtlichen Forschern verwandt wird 122 , sind „Judenchristen“ Randgruppen des Christentums, die an der Observanz der Torah festhalten, und sich so gegen die paulinisch geprägte Mehrheit der Kirche stellen. Sie werden entsprechend von den Kirchenlehrern auch theologisch 117 Hinzu kommt, dass interner Streit zwischen „Hellenisten“ und „Judaisierern“ diese Gruppe zusätzlich geschwächt haben dürfte. 118 Als Ausnahme wird oft Lukas genannt, doch es spricht eigentlich alles dafür, ihn für einen „Hellenisten“ zu halten, also einen Judenchristen griechischer Sprache und Prägung. 119 B ERGER hält den Barnabasbrief noch für judenchristlich (Theologiegeschichte, S. 515). Immerhin könnten dessen Angriffe gegen das Judentum tatsächlich als radikalisierte Fortsetzung des innerjüdischen Konfliktes um Jesus Christus verstanden werden. Das ändert aber wenig am Gesamtbefund, in dem heidenchristliche Autoren dominieren. 120 Einzig Hegesipp gilt noch als Judenchrist im ethnischen Sinne. 121 Diese Auffassung B AUERS , Rechtgläubigkeit, S. 89-93, ist mittlerweile überholt, vgl. S TRECKER , ebd, im Anhang. Vielmehr handelt es sich nicht um eine geschlossene häretische Partei, sondern sehr vielschichtige regional verstreute, zeitlich über Jahrhunderte verteilte und theologisch facettenreiche Gruppierungen, die möglicherweise nicht einmal voneinander wussten, geschweige denn (nachweisbar! ) eine gemeinsame schriftliche Tradition über das alt- und neutestamentliche Schrifttum hinaus hätten. Allerdings muss das sehr sporadische Quellenzeugnis, dass uns erhalten geblieben ist, nicht notwendig das Bild einer disparaten Minderheit vermitteln. Es kann durchaus auch vermutet werden, dass „judenchristliche“ Theologie in bestimmten Bereichen des asiatischen Christentums zu den prägenden Kräften gehörte und erst mit dem Auftreten des Islam unterging - vgl. dazu C OLPE , Siegel, S. 165ff. 122 So z.B. auch in TRE, RAC u.ö. <?page no="35"?> 29 bekämpft 123 . Einzig Justin scheint ihnen gegenüber eine vermittelnde Position einnehmen zu wollen, sieht sich darin aber selbst in der Minderheit 124 . Nun könnte man vermuten, es gäbe eine direkte Linie zwischen frühem palästinischem ethnischen Judenchristentum und späterem theologischen „Judenchristentum“. Daran ist immerhin richtig, dass sich zum Beispiel die theologisch „judenchristlichen“ Pseudoclementinen in ihren „Kerygmata Petrou“ eben genau auf Petrus berufen und in seinem Namen gegen Paulus, den sie als Erzketzer Simon (Magus) anreden, polemisieren 125 . Falsch wird diese Vorstellung allerdings, wenn der Eindruck entstünde (oder gar erweckt würde 126 ), dass alle ethnischen Judenchristen früher oder später zu theologischen „Judenchristen“ geworden wären, oder aber ihre jüdische Identität so restlos aufgegeben hätten, dass sie eigentlich Heidenchristen geworden wären 127 . Dagegen sprechen gewichtige Argumente: • Paulus hätte sich Zeit seines Lebens entschieden dagegen verwahrt, ihm seine jüdische Identität abzuerkennen. Auch wenn er vieles, was an jüdischem Glauben und Handeln hinter ihm liegt, als Schaden erachtet 128 , so betrachtet er sein Christentum dennoch nicht als Verwerfung, sondern als Vollendung seines Judentums. • Theologisches „Judenchristentum“ ist nicht auf Palästina oder gar Jerusalem beschränkt. Paulus hätte viele seiner Briefe gar nicht geschrieben, hätte er nicht damit gerechnet, dass sich theologisches „Judenchristentum“ auch bei ethnischen Heiden in Thessaloniki, Philippi, Galatien, Rom und Korinth ausbreiten könnte, ja teilweise sogar schon ausgebreitet hat. Es ist keineswegs eine nur theoretische Möglichkeit, dass es auch 123 So ist das Bild des „Judenchristentums“ erheblich von der Darstellung seiner Widersacher geprägt. Von Ebionäern, Elkesaiten usw. wissen wir praktisch nur durch Irenäus, Origenes, Epiphanius und anderen antihäretischen Schriftstellern. Freilich bleibt nichts anderes übrig, als aus dem was über die klassischen antihäretischen Topoi hinausgeht, die historische Wirklichkeit so gut es geht zu rekonstruieren - aber ein Bewusstsein über die großen Lücken, die unsere Kenntnis hier hat, sollte dabei wachgehalten werden, vgl. dazu auch S TRECKERS Korrektur zu Bauers Position in Rechtgläubigkeit, S. 245-287. 124 Dialog mit Trypho, 47f. 125 H II 16-17; HXVII 13-19 (NTApo 5 II 1989, S. 484-486), allerdings implizit weit öfter, vgl. auch S TRECKER , Judenchristentum, S. 187-196. 126 Dies ist jedenfalls Gerd L ÜDEMANNS Interpretation in seinem Buch „Ketzer“ vorzuwerfen. Der Ansatz ist in vielerlei Hinsicht unerfreulich, bedient er doch die von H ENGEL , Christologie widerlegte Vorstellung H AHNS , Hoheitstitel, S. 11f, dass als „Urgemeinde“ nur eine aramäisch-judenchristliche gedacht werden könne. Richtig ist dagegen, dass auch die Urgemeinde schon ein Schmelztiegel verschiedenster Judenchristentümer genannt werden muss. 127 So z.B. S TEMBERGER in RAC Sp 229. 128 Phil 3,7f. <?page no="36"?> 30 Heidenchristen gab, die „judenchristliche“ Positionen eingenommen und auch gepredigt haben 129 . • Ein theologisch „judenchristlich“ dominiertes Jerusalem ist keineswegs der Urzustand des Christentums, dies ist erst von außen künstlich durch die gewaltsame Vertreibung der „Hellenisten“ erzeugt worden. Das Jerusalemer Urchristentum ist ursprünglich ein theologisch facettenreiches Judenchristentum ohne irgend eine erkennbare Hauptrichtung. Die Hellenisten aus der Urgemeinde herauszudefinieren ist wider jede historische Redlichkeit 130 - und machte sogar mit deren Gegnern gemeinsame Sache, was auch theologisch verantwortungslos wäre. • Paulus war mitnichten der einzige Judenchrist, der sich gegen „judenchristliche“ Positionen gestellt hat. Zu nennen wären auf jeden Fall noch die „Hellenisten“, die in Antiochia und anderen Städten schon vor ihm missioniert und so den Boden erst bereitet haben. Dazu zählen auch die Apostel Barnabas, Timotheus und andere jüdische Mitarbeiter des Paulus, und schlussendlich auch Petrus selbst 131 . Alles in allem ist also „judenchristlich“ als Beschreibung einer theologischen Fraktion oder gar Häresie des frühen Christentums mehr irreführend als förderlich, weil es Zusammenhänge konstruiert, die nicht wirklich vorhanden sind 132 . Vielfach wird versucht, Mischdefinitionen vorzunehmen, also als Judenchristen diejenigen zu definieren, die sowohl geborene Juden sind, als auch als Christen ihre jüdische Tradition in gewissem Umfang weiterhin pflegen und nicht verwerfen. Diese Definition ist zwar dem Allgemeinverständnis am nächsten, als solche aber einer Klarheit der Begrifflichkeit abträglich. Denn so wird das Missverständnis nur weiter zementiert, kein 129 Ganz im Gegenteil: Oft sind Konvertiten die leidenschaftlichsten Apologeten ihrer Sache. Ein Heidenchrist, der die Beschneidung und andere Ritualgesetze aus Überzeugung für sich angenommen hat, wird dies viel eher auch von seinen Mit- Heidenchristen fordern, als vielleicht ein Judenchrist, dem es nicht ohne Weiteres einfiele, von einem Heiden die Beschneidung und die Observanz der Kaschrut zu verlangen. Vgl. auch meine Anmerkung auf S. 27. 130 Vgl. H ENGEL , Christologie, passim. 131 Wenn die Angaben stimmen, dass er die Mission des Paulus ausdrücklich anerkannt hat und letztendlich auch selbst nicht im Bereich der „Beschneidung“ geblieben ist. Denn er wurde später in Antiochia aktiv (Gal 2,11), und einige Quellen bezeugen, dass er in Rom seine letzten Lebensjahre verbracht hat (1.Clem 5,3-7). 132 Und nur so funktioniert der Lüdemann'sche Zirkelschluss: Die Urchristen waren Judenchristen. Die Judenchristen wurden zur Zeit der Alten Kirche verketzert, also ist eigentlich die Alte Kirche häretisch, und die „Ketzer“ sind die wahren Urchristen. Eine saubere Terminologie hätte solchen historischen Nonsens verhindern können. <?page no="37"?> 31 Heidenchrist könne „Judenchrist“ sein, bzw. man könne als Judenchrist keine „heidenchristliche“ Theologie vertreten. Dieser Irrtum aber verhindert am Ende Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen, wie sie unseres Erachtens im Neuen Testament - und auch in den TestXII auf der Hand liegen. Die Flucht nach vorn tritt Daniélou an 133 . Er koppelt den Begriff vollends von der ethnischen Komponente ab und weist Elemente „judenchristlicher“ Theologie auch bei den griechischen Kirchenvätern nach. Seine Theorien über Zentren und Wege „judenchristlichen“ Denkens in der frühen Kirchengeschichte sind intensiv diskutiert worden 134 . In der neueren Diskussion wird die Frage noch einmal neu gestellt: Gleich eine ganze Reihe von Forschern bezweifelt eine scharfe Wegscheidung zwischen Judentum und Christentum schon in der Antike 135 . Die Kernfrage muss aber sein, ob er seine Definition des Judenchristentums nicht am Ende so weit spannt, dass eigentlich alles, was gegen die Tendenz pagan-hellenistischen Denkens an neuen, jüdisch-orientalischen Traditionen Eingang in den christlichen Glauben gefunden hat, als „Judenchristentum“ bezeichnet werden müsste 136 . Immerhin, verfolgt man bestimmte Motive „judenchristlicher“ Theologie, wie z.B. Elemente der Prophetenchristologie 137 , hat man den Vorteil, sich ganz an das halten zu können, was an Traditionen erkennbar und nachvollziehbar ist. Man umgeht die Notwendigkeit darüber zu spekulieren, ob ein anonymer christlicher Autor (oder Redaktor), wie der der TestXII, nun geborener Jude, konvertierter Proselyt oder mit jüdischen Traditionen vertrauter Heidenchrist gewesen sei. Doch gerade in der Auswahl der Elemente liegen wieder Probleme: Man kann zwar durchaus sagen, dass eine Prophetenchristologie auf dem Boden des Judentums gut denkbar ist und daher eine Variante „judenchristlicher“ Theologie sein kann 138 . Keineswegs jedoch vertritt jeder „Judenchrist“ eine Prophetenchristologie, noch ist automatisch jede Spielart davon notwendig „judenchristlich“. Auf der anderen Seite gibt diese Definition im Grunde den Sinn einer Definition auf, wenn sie praktisch keine Grenzen mehr zieht, und am Ende auch Martin Luther mit seiner Rückkehr zur veritas hebraica als Juden- 133 Théologie, passim. 134 Zur Diskussion vgl. vor allem die gesammelten Aufsätze in der ihm zugeeigneten FS „Judéo-Christianisme“, RSR 60 (1972), S. 7-323. 135 Vgl. die Aufsatzsammlung B ECKER , Ways, passim 136 Vgl. C OLPE , Siegel, S. 45f. 137 G RILLMEIER , Jesus, S. 23-40; C OLPE , Siegel, S. 15-37 u.ö. 138 So begegnet sie ausführlich in den „judenchristlichen“ Pseudoklementinen, vgl. G RILLMEIER , Jesus, S. 38-40; im Hebräerevangelium, Frgm 6 (B ERGER -N ORD S. 979 aus: Hieron, in Is 4 ad 11,2 - vgl. auch C OLPE , Siegel, S. 26). <?page no="38"?> 32 christ durchgehen könnte 139 . Dennoch ist das Anliegen Daniélous im höchsten Maße berechtigt, der eigenen Kirche ihre jüdisch-christlichen Wurzeln in Erinnerung zu rufen. Zu seiner Zeit war es ein Trend in der Religionsgeschichte, das Christentum aus allerlei obskuren antiken Mysterienkulten ableiten zu wollen, nur um die offen zu Tage liegenden Parallelen zum Judentum nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen. Dies bedurfte dringend einer Korrektur. 1.3.3 Inhaltliche Neubestimmung Als Vorschlag, Judenchristentum zu definieren, möchte ich eine invertierte Variante der Mischdefinition anbieten: Als Judenchrist ist derjenige Autor (oder Redaktor/ Interpolator) zu bezeichnen, dessen Weg zum Christentum über das Judentum geführt hat (als geborener frommer 140 Jude oder als Interessent, Gottesfürchtiger oder Proselyt) - ethnischer Aspekt, und der sein Christentum als Vollendung seines Judentums ansieht (im Sinne eines τέλος 141 ) - theologischer Aspekt. Der Vorteil einer solchen Definition ist, dass sie Grenzen setzt. Völlig „synkretistische“ Juden, die ihre jüdische Identität schon lange abgelegt haben, oder sogar leidenschaftlich ablehnen, fallen damit nicht mehr unter diese Bezeichnung, obwohl sie ethnisch Juden bleiben. Sie grenzt aber auch diejenigen aus, die sich für die jüdischen Schriften und Geschichten nur über den Umweg des Christentums interessieren. Sie nehmen zwar auch Bezug zu den jüdischen Traditionen, aber sie benutzen sie nur: Entweder als Steinbruch zur eigenen Selbstvergewisserung, oder als dunkle Negativfolie um das Eigene, Christliche um so strahlender darstellen zu können - oder relativ neutral als „der Juden Sachsenspiegel“, im Sinne eines pragmatisch durchaus brauchbaren Gesetzes, jedoch mit großer empfundener kultureller Distanz. Ein weiterer Vorteil dieser Definition ist, dass sie darauf verzichtet, Dinge zum Maßstab zu erheben, die heute nicht mehr ermittelbar sind. Der Autor einer pseudepigraphen Schrift bleibt anonym, seine Herkunft - jüdisch oder nicht - ist damit unbekannt. Schwerlich kann man den 139 Vgl. den Eintrag zu Nikolaus Lyranus EJ(D) Sp 1263f: Dieser Vorgänger Luthers in seinem Rückbezug auf den hebräischen Text wurde auch als Judenchrist bezeichnet. 140 Ich gebe zu, dass dieser Begriff einen gewissen Anachronismus darstellt. Es soll damit nur deutlich werden, dass zur jüdischen Geburt eine Kenntnis der religiösen Traditionen und ein Bemühen um ein entsprechendes Verhalten kommen müssen. Damit sind Apostaten und Synkretisten zunächst ausgeschlossen. 141 Der Begriff ist mehrdeutig. Ein Judenchrist kann also sein Jude-Sein als mehr oder minder beendet hinter sich liegend sehen (wie Paulus in Phil 3) oder in kontinuierlicheren Bahnen denken, und sein Christentum als das wahre, eigentliche und vollendete Judentum betrachten (wie Paulus in Röm 9-11). <?page no="39"?> 33 Stammbaum seiner Mutter bis zu Ruben, Sebulon, Levi, Juda oder Benjamin zurückverfolgen. Man muss sich an das halten, was man hat: das Textzeugnis, so wie es vor uns liegt. Es bleibt immer noch schwierig genug, einzelne Pseudepigraphen wie die TestXII, als Quelle des Judenchristentums zu erklären. Nach welchen Kriterien könnte dies geschehen? Ein Kriterium könnte Kenntnis von nicht-biblischem, jüdischem Material in größerem Umfang sein. Steht der Autor in einem jüdischen Traditionszusammenhang? Wie ist seine Sprache, die Art und Weise seiner Argumentation? Verwendet er typische Elemente hellenistisch-jüdischer Rhetorik und ist seine Sprache z. B. stark von der LXX beeinflusst? Zuletzt sind theologische Fragen zu stellen: Spielt das Verhältnis vom Volk Israel, den Juden zu der Kirche der Christen eine wichtige Rolle? Wird dabei von der üblichen Verus-Israel Rhetorik der Alten Kirche in markanten Punkten abgewichen? Werden eigene Gedanken zur Kontinuität vom Altem zum Neuen Bund formuliert? All dies sind Argumente, die eine judenchristliche Provenienz sehr wahrscheinlich machen. Für die TestXII trifft dies zu. Schon das ganze Oeuvre einer Schrift der zwölf Patriarchen zeigt den Gedanken einer Kontinuität vom Volk Israel zur christlichen Kirche. Die Verwendung jüdisch-aramäischen Materials in größerem Umfang kann nachgewiesen werden. Hinzu kommen größere Mengen jüdischen Traditionsgutes, jüdischer Stilelemente und sogar ein semitisierender Sprachgebrauch 142 . Und schließlich: Auch die theologischen Positionen, so wird zu zeigen sein, unterscheiden sich erkennbar von der heidenchristlich dominierten Großkirche und suchen den Anschluss an die jüdische Heilsgeschichte - ohne jedoch in eine selbstabgrenzende Polemik gegen die Kirche und ihre Lehre zu fallen. 1.3.4 Konkretion: Paulus in den TestXII Die Stellung zu Paulus scheint eine Schlüsselrolle zu spielen in der Frage, ob eine Schrift judenchristlich oder „judenchristlich“ einzuordnen ist. Teilen die TestXII die Ablehnung des Apostels durch „judenchristliche“ Schriften? Wenn nicht, wie verhalten sie sich zum Beispiel zu seinen - gerade in Briefen an heidenchristliche Gemeinden - scharf hervortretenden anti-jüdischen Invektiven? Wie stehen sie zu seiner Theologie? Letzteres kann nur skizzenartig wiedergegeben werden, weil die Theologie des Paulus ein ganzes Universum darstellt, dass Generationen von Theologen noch nicht durchmessen haben. 142 C HARLES hielt deshalb sogar einen hebräischen Urtext für wahrscheinlich. Von dieser Hypothese ist man jedoch bald abgerückt, die Beobachtung als solche ist aber richtig. <?page no="40"?> 34 1.3.4.1 Pauluszitate in den Testamenten? Immer wieder taucht die Frage auf, ob es literarische Bezugnahmen von Paulus auf die TestXII gibt, oder umgekehrt. Vor allem unter der Prämisse einer jüdischen Grundschrift hat man versucht, Paulus als Leser der TestXII darzustellen 143 . Vertreter einer christlichen Provenienz der TestXII waren dagegen bemüht, den TestXII Pauluskenntnisse nachzuweisen 144 . Indes, eine wörtliche Übereinstimmung von mindestens drei Worten, die für eine literarische Verwendung beweiskräftig wären, findet sich nur ein einziges Mal: 1.Thess 2,16 und TLev 6,11 entsprechen sich fast wörtlich: ἔφθασεν δὲ ἐπ’ αὐτοὺς ἡ ὀργὴ εἰς τέλος (1.Thess 2,16) Ἔφθασε δὲ ἡ ὀργὴ Κυρίου ἐπ’αὐτοὺς εἰς τέλος. (TLev 6,11) 145 . Hier ist schwerlich ein Zufall anzunehmen. Es werden, wie oben erwähnt, die Abhängigkeiten sowohl in der einen wie in der anderen Richtung vermutet, aber auch der Bezug auf eine gemeinsame Quelle wird diskutiert 146 . Ein Beweis in die eine oder andere Richtung ist kaum zu erbringen 147 . Liest man TLev hier jedoch als judenchristliches Dokument und fragt nach seiner Beziehung zu Paulus, dann kann man - auch mit der Unsicherheit bezüglich realer literarischer Bezüge - durchaus einen deutlich anderen theologischen Impetus wahrnehmen. Der endgültig entbrannte Zorn Gottes trifft inhaltlich in beiden Passagen genau gegenteilige Gruppen: Sind es bei Paulus diejenigen Juden, die die Christen verfolgen, so sind in TLev die heidnischen Sichemiten Adressaten des Gotteszorns, weil sie weit mehr als nur die Schuld der einen Vergewaltigung auf sich geladen haben. Ihnen werden diverse Schandtaten gegen Abraham und seine Herden zugeschrieben 148 . Der Vorwurf gipfelt schließlich in genereller Fremdenfeindlichkeit 149 . 143 So z.B. C HARLES Testaments Translated, S. lxxxv-xc; K ÄSEMANN , Römer u.a. 144 So z.B. DE J ONGE , Pseudepigrapha S. 161-177. 145 Wenn auch in variierender Wortstellung, je nach Version, vgl. H OLLANDER / DE J ONGE , Commentary, S. 147. 146 Diese Option wählt B AARDA , Shechem, S. 62. Sie bietet auch eine ausführlichere Diskussion der verschiedenen anderen Erklärungsmodelle, wie Interpolationen sowohl im 1. Thess als auch in TLev. Dass solche Hypothesen hier kritisch gesehen werden, ergibt sich aus der Diskussion oben. 147 L AMP , Paul, S. 416. 148 TLev 6,9. Ein Bezug zu Sichem ist nur über „Kanaan“ möglich, eine Verbindung die in TLev 7,1 hergestellt wird. Für den Vorwurf der Misshandlung von Abrahams Knecht finden sich in der übrigen frühjüdischen Literatur keine Belege. 149 „So verfuhren sie mit allen Fremden: Sie vergewaltigten ihre Frauen und trieben sie (die Fremden) fort.“ TLev 6.10. <?page no="41"?> 35 Neben den formalen Ähnlichkeiten im Argumentationsgang von 1.Thess 2,13-19 und TLev 6,1-11 150 , ist vor allem der Grund für Gottes endgültigen Zorn inhaltlich derselbe: die Misshandlung einer schutzbedürftigen Minderheit. Im Thess sind es die Christen, in TLev Abraham und die Seinen sowie andere Fremdlinge im Lande Sichems/ Kanaans. Sie gipfeln jeweils im mehr oder minder expliziten Vorwurf des Menschenhasses 151 . Wo in der Paränese Menschenliebe und Gottesliebe in eins fallen 152 , muss genereller Menschenhass 153 den endgültigen Zorn Gottes hervorrufen. Vor dem Hintergrund jüdischer Tradition gelesen, fügt sich TLev 6 mühelos in die Selbstwahrnehmung des Diasporajudentums als einer bedrohten Minderheit in der Fremde ein. Spannend dagegen ist die christliche Interpretation. Hier wäre zu fragen, ob sich die Christen so weit mit Abraham und den Patriarchen identifizieren, dass sie sich selbst ebenfalls als von der Ausrottung bedrohte Minderheit wahrnehmen und Gottes endgültigen Zorn über ihre Verfolger entbrannt sehen, die (wie in 1.Thess 2) auch Juden sein könnten 154 . Oder ist es womöglich so, dass diese Passage gerade vor einem aufkommenden christlichen Antisemitismus warnen soll? Gottes Zorn schützt Abraham und die zwölf Stämme Israels. Er ist gerade nicht gegen die Juden als Juden gerichtet, sondern grundsätzlich gegen alle, die schutzbedürftige Minderheiten brutal verfolgen. Diese zweite Interpretationsmöglichkeit wirkt vielleicht etwas weit hergeholt. Nimmt man die Ergebnisse dieser Untersuchung etwas vorweg, so kann man feststellen, dass sie sich nahtlos einfügt in eine Schrift, die eine pauschale Ver- 150 Vgl. dazu die Darstellung bei L AMP , Paul, S. 420-422. 151 In TLev 6,10 in Form des oben beschriebenen Vorwurfs der generellen Fremdenfeindlichkeit. In 1.Thess 2,15 wird den Juden vorgeworfen, sie seien „πᾶσιν ἀνθρώποις ἐναντίων”. 152 Bezüglich der TestXII vgl. unten, Kap 6.3, S. 175ff. Zu Paulus seien nur die einschlägigen Passagen aus 1.Kor 13; Röm 12; 13,8-10; Gal 5,13ff und speziell für den 1.Thess noch Kap. 4,9 genannt. Weitere Stellen ließen sich mühelos beibringen, vgl. zur Gesamtthematik S ÖDING , Liebesgebot, passim. 153 Nicht an dieser Stelle zu diskutieren wäre die Frage, ob der Übergang von dem berechtigten Vorwurf der Misshandlung einer Minderheit zum Urteil über den generellen Menschenhass gerechtfertigt ist. Dahinter steht m. E. aber nichts anderes als die sonst vielgerühmte theologische Feststellung, dass sich die Liebe zur Menschheit allein an deren schwächsten Gliedern erweisen kann, den Witwen und Waisen, den Flüchtlingen und Fremdlingen. Da liegt der Umkehrschluss nahe: Wer diese Liebe schuldig bleibt und stattdessen die schutzbedürftige Minderheit verfolgt, vergewaltigt, entrechtet und ermordet, mit dessen Liebe zum Menschengeschlecht insgesamt kann es dann auch nicht weit her sein. 154 Wir haben aber kaum Belege für eine jüdische Verfolgung christlicher Gemeinden über die unmittelbare Frühzeit hinaus. Nach den bisher gültigen Datierungshypothesen scheidet diese theoretische Möglichkeit praktisch aus. <?page no="42"?> 36 urteilung Israels ablehnt und großen Wert auf Mitleid, Barmherzigkeit, Vergebung und Nächstenliebe legt. Gehen die TestXII als „judenchristliche“ Schrift damit in die Opposition zu Paulus? Dafür gibt es keinerlei Beweise. Selbst wenn TLev 6 direkt auf 1.Thess 2 zurückzuführen ist, widersprechen sich beide Passagen sachlich nicht: Gottes Zorn schützt die bedrohte Minderheit, ob jüdisch oder christlich. TLev würde in diesem Falle nur vor einer verheerenden Missinterpretation von Paulus warnen, als setzte 1.Thess 2 alle diejenigen ins Recht, die Juden verfolgen, weil sie sich als Werkzeuge des Zornes Gottes verstehen. Auch Levi und Simeon werden im Segen Jakobs übergangen. Ihre Taten waren kein heiliger Krieg. Im Gegenteil: Als Werkzeug des Zornes Gottes läuft man Gefahr, am Ende selber verworfen zu sein. Ansonsten gibt es noch eine Menge semantischer Berührungen zwischen den TestXII und dem Corpus Paulinum, aber keine erkennbaren Zitate 155 . Diese semantischen Berührungen lassen sich jedoch nicht einfach durch eine literarische Abhängigkeit in der einen oder anderen Richtung erklären. Es wäre genauso gut möglich, dass sich Überschneidungen im Verfasser- und Adressaten-Milieu ergeben, die sich darin äußern, dass ganz ähnliche semantische Felder beackert werden 156 . Gerade wenn wir eine judenchristliche Verfasserschaft aus dem hellenistischen Bereich annehmen, befinden wir uns in einem Milieu, aus dem auch Paulus stammt. Auch die Adressaten der TestXII sind im hellenistischen Raum 157 wohnende Juden- und Heidenchristen, die sich Gedanken über das rechte christliche Leben machen und sich die Frage stellen, welchen Anteil Israel am endzeitlichen Heil haben wird. Das ist nicht weit entfernt von den Adressaten des Römerbriefes. 1.3.4.2 Paulus als Figur in TBen 11 Einiges spricht für den sekundären Charakter dieser Passage: Anachronismen tauchen auf, wie z. B. „die heiligen Bücher“ 158 . Israel wird so negativ 159 155 Eine umfangreichere Diskussion um die relevanten Passagen bietet DE J ONGE , Light, passim. 156 Gemeinsame Themen und Wortfelder finden sich nicht nur im Vergleich zu Paulus, sondern auch zu synoptischen wie johanneischen Schriften, zu Ignatius, Ireneäus, Hippolyt und Melito - genauso wie zu Philo, jüdischer Weisheits- und Märtyrerliteratur. Die Paulusfixierung der semantischen Untersuchungen sagt oftmals mehr über den Betrachter aus, als über das Objekt der Betrachtung. 157 Hier gemeint als Gegensatz zum palästinischen Raum. 158 TBen 11,4. Die Heiligen Bücher beziehen sich ganz offensichtlich auf die Apostelgeschichte und das Corpus Paulinum, in denen Worte und Taten Pauli überliefert werden. Sonst vermeiden die TestXII solche Anspielungen auf zukünftige Schriften und verweisen auf die Bücher Henochs oder die Tafeln des Himmels, in denen der <?page no="43"?> 37 dargestellt wie sonst nirgends in den Testamenten. Dennoch kann man diese Zeilen nicht ausklammern, wenn man das Verhältnis der Testamente zu Paulus bestimmen will. Denn selbst wenn es - was nicht auszuschließen ist - eine nachgetragene Interpretation 160 des Ganzen sein sollte, so ist sie doch die frühest greifbare, und sie ist durchaus in Kenntnis der ganzen Schrift verfasst und eingefügt worden. Auch hier synchron zu lesen und den Sinn im Ganzen zu suchen kann also durchaus gewinnbringend sein und soll zumindest versucht werden. Festzuhalten ist, das auch hier eine sehr originelle Interpretation von Gen 49,27 (LXX) in Blick auf Paulus vorliegt. Obwohl diese in der antiken christlichen Literatur durchaus geläufig war 161 , hat man normalerweise den „reißenden Wolf“ biographisch in die Zeit vor dem Damaskuserlebnis verortet und den Nahrungsgeber in die Zeit danach 162 . TBen 11 dagegen sieht das Berauben von Israel und die Versorgung der Heiden - juristisch gesprochen - in Tateinheit. Damit haben wir eine ganz andere Perspektive: Während die kirchlichen Autoren zentriert auf die christliche Gemeinde sind, der erst die Schäfchen gewaltsam weggerissen, und dann in großer Zahl hinzugefügt werden, so fokussiert TBen 11 genau das, was die Testamente schon vorher unentwegt beschäftigt hat: das Verhältnis zwischen Israel und der christlichen Gemeinde, die vorwiegend aus den Völkern heraus entstanden ist. Bei allen formalen Brüchen zum Kontext kommt man nicht umhin, eine inhaltliche Kontinuität gegen den christlichen mainstream des zweiten und dritten Jahrhunderts zu konstatieren 163 . Vorstellung nach wesentliche Offenbarungen (vor allem Torah und z. T. Propheten) schon vorweggenommen sind. 159 Jedenfalls fehlt hier einmalig die endzeitliche Wendung zum Heil auch für Israel. Das ist untypisch für die TestXII, bei denen selbst nach dem relativ pessimistischen Satz in TLev 18,9 „Israel aber wird abnehmen in Trauer“ doch noch eine Heilsverheißung, die zumindest implizit auch Israel einschließt, folgt (TLev 18,10ff). 160 Einmal mehr sei auf den Aufsatz von J ERVELL , Interpolator, verwiesen, in dem er den wichtigen Hinweis gibt, etwaige Interpolationen nicht als Textverderbnisse, sondern als Interpretamente zu begreifen. 161 I RENÄUS , Fr 17; H IPPOLYT , Ben Iac 28; Fr 52 u. 81 in Gen; O RIGINES , Hom 4,4 in Ez.; T ERTULLIAN Scorp. 13; Adv. Marc 5,1 - vgl. H OLLANDER / DE J ONGE , Commentary, S. 443. 162 Interessant ist dabei, dass Paulus in seiner eigenen Abschiedsrede in Apg 20,29 ebenfalls von reißenden Wölfen spricht. Damit meint er aber seine - womöglich „judenchristlichen“ - Gegner. 163 Das ist auch da festzuhalten, wo wie z. B. bei E PHRAEM Comm. in Gen 48,11 das Rauben und Versorgen als gleichzeitig beschrieben wird. Die Thematik Israel/ Heiden ist in TBen schlichtweg singulär. Dies gilt auch für den weiteren Beleg bei Apollinarius, den H OLLANDER / DE J ONGE (ebd.) anbringen: In beiden Fällen ist nicht Israel Opfer des Raubes, sondern der oder das Böse, die Dämonen etc. <?page no="44"?> 38 Da ist zunächst festzuhalten, dass Paulus dezidiert als Benjaminit ein Sohn der Patriarchen, ein Teil des Volkes Israel bleibt 164 . Er wird nicht ausgestoßen, sondern in Israels zukünftige Heilsgeschichte integriert. Man könnte darin mit etwas Mut womöglich das erste Dokument erkennen, in dem so etwas wie die „Heimholung des Ketzers 165 “ versucht wurde. Innerjüdisch wurde Paulus in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten vehement abgelehnt. Dagegen scheint TBen geradezu erpicht darauf zu sein, Paulus in den leuchtendsten Farben darzustellen: Ein „Geliebter des Herrn“ wird er genannt und damit in die Reihe jüdischer Vorbilder erster Güte gestellt, als da wären David 166 , Esra 167 , Sedrach 168 und Joseph 169 . Er gilt als Arbeiter Gottes, als Lichtbringer der Völker 170 . Allein die Tatsache, dass er mit messianischen Prädikationen belegt wird, erklärt, dass andere Versionen 171 hier schon umlenken auf Jesus Christus, weil doch er der Retter der Heiden ist - und nicht Paulus. Doch bleibt diese auffällig positive Beschreibung von Paulus in einem sonst den jüdischen Charakter wahrenden Dokument nicht ohne Ambivalenzen. Sein Verhältnis zu Israel wird in ausgesprochen gewalttätigen Metaphern geschildert. Das Niedertreten 172 und Berauben Israels sind harte Worte, während die von Paulus geschilderten Verfolgungen 173 seiner Person durch jüdische Kreise völlig unerwähnt bleiben 174 . Mit jüdischchristlichen Augen gelesen wird Paulus hier fast eine Mitschuld gegeben am Scheitern der einen Kirche aus Juden und Heiden - so sehr das von Paulus nach eigenem Bekunden 175 mehr als alles andere vermieden werden 164 So, wie er sich selber sah, vgl. Röm 9,3; 2. Kor 11,22; Gal 1,13f, Phil 3,5f. 165 Vgl. Stefan M EIßNER Heimholung. 166 TSol D 1,2. 167 Griech. Esra Apokalypse passim. 168 Apk Sedr. 169 JosAs 23,10. 170 Vgl. mit dem Knecht Gottes und Lichtbringer der Völker in Jes 42,6 (LXX). Dies wird traditionell ebenfalls auf Christus hin ausgelegt. 171 Die Handschriften chi. 172 ἐπεμβαίνειν ist hapax in den TestXII. Sonst werden der ungleich härtere Begriff καταπατεῖν und dessen Derivate verwendet. So z. B. in der oben zitierten Passage über die Schuld der Sichemiten in TLev 6,9. Sonst sind Fremdvölker oder die unreinen Geister das Objekt des Niedertretens. 173 Vgl. nur den „Peristasenkatalog“ in 2.Kor 11,24ff, aber auch die Schilderungen in anderen Briefen und der Apostelgeschichte. 174 Das ist auch in sofern bemerkenswert, als eine Einordnung in die verfolgten Propheten mühelos in das Schema der TestXII gepasst hätte. 175 Man vgl. nur Röm 9-11, aber auch seine Vermittlungsversuche zwischen „Starken und Schwachen“, sein Bemühen um Kollekten als mögliches Vehikel zur Anerken- <?page no="45"?> 39 sollte. Genau genommen wird in diesem Zusammenhang gar keine Schuldfrage gestellt. Das Heil der Heiden wird begrüßt, und die Tatsache, dass Israel dieses Heils so nicht teilhaftig wird, bedauert. Aber weder die Juden noch Paulus selbst werden dafür direkt beschuldigt. Vielmehr erscheint es so, als sei das Heil der Heiden nicht ohne Raub und Verlust bei Israel möglich, weil es ja in die patriarchale Vision von TBen (und Gen 49) eingetragen wird. Es ist das Heil, mit dem auf Israel herumgetrampelt wird 176 , und es ist die Rettung der Heiden, die durch die Beraubung Israels bewirkt wird. 1.3.4.3 Theologie des Paulus und die TestXII: Rechtfertigungslehre versus Tugendethik? Die entscheidende Frage wäre nun, wie sich die TestXII zur paulinischen Theologie verhalten. Dies kann zu Beginn dieser Arbeit kaum sinnvoll beantwortet werden, denn die Theologie der TestXII soll erst noch ermittelt werden. Schon bei einem ersten Überblick stellt man fest: Es fehlen für Paulus zentrale Motive wie Gerechtigkeit 177 und Rechtfertigung. Die besondere Bedeutung des Todes Jesu zur Vergebung der Sünden ist bestenfalls andeutungsweise zu finden, und wichtige Konfliktthemen bei Paulus wie , Beschneidung 178 , Speisevorschriften 179 , Sabbatheiligung 180 und alles, was sonst mit den Werken des Gesetzes 181 zusammenhängt, wird in den TestXII weder positiv noch negativ erwähnt. Ebenso merkwürdig muss die theologische Abwesenheit Abrahams erscheinen, der bei Paulus eine zentrale Rolle spielt 182 - und nicht nur bei ihm 183 . Das Thema Glauben - bei Paulus die Opposition zu den Gesetzeswerken - steht in den TestXII ziemlich im Hintergrund. Auch die Inhalte der paulinischen Glaubensbotschaft, das Wort vom Kreuz und die Vergebung der Sünden finden in den TestXII nur wenig Widerhall. nung der heidenchristlichen Gemeinden durch das judenchristliche Jerusalem und dergleichen. 176 Das Licht der Erkenntnis ist wohl nach vorne zu beziehen, auf das Leuchten unter den Heiden. 177 Dies ist um so erstaunlicher, als δικαιοσύνη ja auch im hellenistischen Bereich eine Kardinaltugend darstellt. 178 Röm 2,25-29; 4,9-12; 1.Kor 7,18f, Gal 5,2-6.11f; 6,12-15; Phil 3,2-7. 179 Röm 14, 2-4.15-17; 1.Kor 6,13; 8; 10,23ff; Phil 3,19. 180 Röm 14,5; Gal 4,10. 181 Gal 2,16; 3,2.5; Röm 3,20-26; 4,2-6; 9,12; 11,6. 182 Gal 3f, Röm 4. 183 Mt 1; 3; Luk 1; 3; Apg 3; 7; Heb 7; 11; Joh 8; Jak 2; 1.Pet 3. <?page no="46"?> 40 Die meisten Berührungen gibt es mit Paulus gerade dort, wo traditionell eher die Ränder seiner Theologie gesehen werden: in der Paränese und in seiner - nach seinen Kämpfen gegen den „Ἰουδαϊσμός” vielleicht überraschenden - Passage Röm 9-11, in der er versöhnliche Töne gegenüber den Juden und Israel anschlägt. Aber das macht die TestXII gerade nicht anti-paulinisch, denn dann müssten sie die strittigen Themen besonders in den Mittelpunkt stellen und dort Paulus angreifen. Davon kann keine Rede sein, denn sie konzentrieren sich gerade auf jene Themen, in denen mit Paulus kein Dissens besteht: Nirgendwo ist er gegen Tugend, Liebe und Barmherzigkeit. Im Gegenteil, Motive wie das Kampfbahnmotiv und die Hoffnung auf eine endzeitliche Errettung Israels durch die gläubigen Heiden entsprechen sich. Mögliche Erklärungen dafür gibt es viele. Einerseits könnte man vermuten, dass die TestXII in einem anderen Traditionszusammenhang stehen. Sie haben mit Paulus gemeinsam, was in Bergers Theologiegeschichte vor der Abzweigung nach Antiochien 184 liegt. Möglicherweise ist aber auch der veränderte historische Kontext maßgeblich: Die Konflikte um die Werke des Gesetzes waren ausgestanden, die paulinische Position hatte sich mehrheitlich durchgesetzt, und eine jüdische Verfolgung der Christen war Geschichte. Was bleibt ist die Frage nach dem rechten christlichen Leben, also die Paränese, und die Frage, ob Israel nun überhaupt noch Anteil an der Heilsgeschichte Gottes mit seinem Volk hat. Genau diese Themen stehen im Zentrum der TestXII. Ihre Position in diesen Fragen gilt es nun zu ermitteln und dann von Fall zu Fall mit neutestamentlichen Traditionen - unter anderem auch den Positionen von Paulus - in Beziehung zu setzen. 1.4 Konsequenzen für diese Arbeit Die Situation ist also komplexer, als selbst komplizierte Darstellungen wie die von Davila es erscheinen lassen. Die Defizite in der Wahrnehmung und Darstellung des Judenchristentums basieren vor allem auf der disparaten Quellensituation. Außer ein paar ebionäischen und nazoräischen Frage- 184 §§ 85-87. Die TestXII weisen Beziehungen auf zu Themen sowohl der paulinischen Traditionskreise wie auch zu den Synoptikern (vor allem Mt) oder auch zu katholischen Briefen wie Jak. Dabei sind literarische Bezüge bis auf ein paar abzählbare und umstrittene Ausnahmen nicht nachweisbar. Auch wenn hier keiner Frühdatierung das Wort geredet werden soll, ist es wahrscheinlich, dass die TestXII aus einem eigenen Traditionszusammenhang kommen, der nicht mit einer der genannten Linien identisch ist. <?page no="47"?> 41 menten scheint es so gut wie nichts zu geben, was uns das Judenchristentum der ersten nachchristlichen Jahrhunderte hinterlassen hat. Aber ist das wirklich so? Vielleicht hülfe es, die Pseudepigraphenliteratur als Ganzes in den Blick zu nehmen. Man könnte doch fragen, ob nicht gerade sie eine Quelle judenchristlicher Theologie des zweiten und dritten Jahrhunderts darstellt, die eben nicht in ein ebionäisches oder nazoräisches Schema passt. Dann wäre das Judenchristentum des zweiten bis vierten Jahrhunderts gar kein „Auslaufmodell 185 “ sondern litararisch ausgesprochen produktiv und theologisch lebendig. Für diese Arbeit soll es genügen, zunächst nur die TestXII darauf hin zu untersuchen, ob nicht eine judenchristliche Hypothese ihrer Entstehung viele der Probleme des Ineinandergreifens jüdischer Traditionen und christlicher Zuspitzungen löst. Leider kann es nicht gelingen, in dieser einen Arbeit eine komplette Neuinterpretation der gesamten TestXII nach doppelt-synchroner Lesart zu liefern. Es kann nur der Versuch unternommen werden, beispielhaft gerade an den umstrittenen Passagen darzulegen, in wie weit hier eine wirkliche Alternative zu text- und literarkritischen Endlosdiskussionen gefunden werden kann. Daher hält sich die Untersuchung nur scheinbar paradoxerweise an den klassischen „Interpolationen“ in den TestXII auf. Denn wo, wenn nicht hier, kann die neue Methodik zeigen, was sie zu leisten vermag? Wir werden uns im Folgenden mit den ὡς ἄνθρωπος-Perikopen beschäftigen. Sie sagen Gottes endzeitliches Erscheinen gleich einem Menschen als vaticinium ex eventu voraus, und ermöglichen damit eine Neuinterpretation des Christusereignisses. Wir werden uns das genealogische Priesterkönigtum Christi aus Levi und Juda ansehen, das eine klare Alternative zu dem Priesterkönigtum aus den Völkern und für die Völker nach Ordnung Melchisedeks aus dem Hebräerbrief formuliert. Wir betrachten die Unschuldspassagen in ihrer Spannung zur Kollektivschuldtheologie und können damit womöglich auch den Giftzahn christlichen Antisemitismus' vielleicht nicht gleich ziehen, aber doch ein bisschen zum Wackeln bringen. Diese Beobachtungen sind nur möglich, wenn man die christliche Interpretation nicht als Enteignung des jüdischen Erbes, als Zerstörung ihres jüdischen Charakters, sondern als Fortschreibung, als Aneignung der Traditionen betrachtet. 185 F RANKEMÖLLE , Frühjudentum, S. 330. Frankemölle hat die Pseudepigraphen kaum und die TestXII überhaupt nicht im Blick, vgl. sein Stellenregister S. 441. <?page no="48"?> 42 2 Gott als Mensch - Die ὡς ἄνθρωπος-Perikopen Ein immer wiederkehrendes und zugleich typisches Motiv der TestXII sind die Passagen, in denen Gottes Erscheinen gleich oder ähnlich einem Menschen angekündigt wird. Am Ende der Zeiten, so heißt es immer wieder, wird Gott gleich einem Menschen (TSim 6,5; TLev 2,11 u. ö.) oder in menschlicher Gestalt (TSeb 9,8; TBen 10,7) auf der Erde erscheinen, in Demut und Niedrigkeit (TIss 7,7; TDan 5,13). Er wird unter den Menschen wohnen (TLev 5,2; TNaph 8,2-3), ja gar mit ihnen essen (TSim 6,7) und trinken (TAss 7,3). Sie finden sich natürlich bevorzugt in den Weissagungen bezüglich der Zukunft, und sind weit gestreut. Das gleiche Thema klingt noch weit öfter an (TSim 7,2 1 ; TJud 24,1 2 ; TSeb 4,10 3 ; TBen 9,2-3 4 ). Diese Texte nenne ich ὡς ἄνθρωπος-Perikopen (HAP). Nicht alle der genannten Passagen enthalten wortwörtlich dieses Begriffspaar, doch drücken sie das Mit-Sein Gottes mit den Menschen, die Erniedrigung des Höchsten oder ähnliche Motive aus. Legt man jedoch nicht nur inhaltliche, sondern auch formale Kriterien an, kann man einen „harten Kern“ von Perikopen ausmachen, in denen charakteristische Elemente auftreten. 2.1 Struktur und Fundstellen 2.1.1 Beispielexegese 5 : TSim 6,5 Betrachten wir zunächst eine Beispielperikope (TSim 6,5) unter exegetischen Gesichtspunkten: τότε Σήμ ἐνδοξασθήσεται κύριος ὁ μέγας του Ἰσραήλ φαινόμενος ἐπὶ γῆς ὡς ἄνθρωπος και σώζων ἐν αὐτῷ τον Ἀδάμ 1 Die beinahe nizänisch (genau genommen ephesinisch - vgl. ACO 1.1.1-7) anklingende Bezeichnung „θεὸς καὶ ἄνθρωπος“ ist in den TestXII wahrscheinlich eher auf das priesterliche und königliche Amt zugeordnet zu verstehen, weniger als ontologische Bestimmung. Vgl. auch die Ausführungen zu den Levi-Juda Passagen. 2 Eigentlich die Inversion der Thematik: Ein Mensch erscheint „gleich der Sonne der Gerechtigkeit“, doch sein Mitgehen geschieht nicht strahlend und stark, sondern in Sanftmut und Gerechtigkeit. 3 Das ἱμάτιον παλαιòν δούλου erinnert an Phil 2,7. 4 Hier wird das Heil in Gestalt des eingeborenen Propheten (sic) gesandt, doch später ist vom Kyrios die Rede, der am Holz erhöht wird. 5 Die exegetische Methodik soll hier einmal - auch in ihrer relativen Schwäche - demonstriert werden. Bei den kommenden Passagen beschränke ich mich dann auf ein paar Anmerkungen in den Fußnoten. <?page no="49"?> 43 Sie ist die erste ὡς ἄνθρωπος-Perikope in den TestXII und gleich ziemlich typisch. Das gilt auch für die exegetischen Auffälligkeiten. Textkritisch ist festzustellen, dass die Handschriften hk im Marginaltext den Hinweis enthalten, dass hier eine Prophetie auf Jesus Christus hin zu finden sei. Dieser Hinweis ist in cij am Anfang des Verses 5 in den Text gelangt. Diese Glosse ist tkr. auszuscheiden. Die äußeren Kriterien sind stark, und auch von den inneren Kriterien her gibt es eine nachvollziehbare Erklärung, wie diese Ergänzung in den Text gelangt ist. Anders sieht es mit dem dann folgenden Text aus. Er ist grundsätzlich gut bezeugt, wenn auch mit Unklarheiten. So schwankt die Überlieferung schon bei dem Namen Σήμ, denn die Handschriften aefchij haben σημεῖον. Da die Buchstaben ΣΗΜ eine Abkürzung für σημεῖον sein können, ist nun beides möglich: Die Abkürzung wurde als Name gelesen, oder der Name als Abkürzung. Das Letztere scheint wahrscheinlicher. Denn erstens belegen die Handschriften bk, die nach den Leidener Forschungen den relativ besseren Text haben, diese Lesart und zweitens ist es sehr plausibel, dass man im späteren, christlichen Gebrauch des Textes mit dem Namen Sem nicht mehr viel anzufangen wusste. Auch hier bieten die armenischen Zeugen nicht etwa einen jüdischen Text, sondern einen weiteren Beleg für die christliche Benutzung, denn in einigen Handschriften wurde Sem auch nicht mehr verstanden und durch Seth ersetzt 6 . Die verschiedenen tkr. Varianten des Gottesnamens 7 fallen inhaltlich nicht ins Gewicht. In jedem der Textzeugen wird eine Epiphanie berichtet. Die entscheidende Frage ist also das ὡς ἄνθρωπος. Dies fehlt allein in Handschrift a. Dass diese Lesart ursprünglich sei, ist von den äußeren Kriterien her auszuschließen, und auch die inneren Kriterien können wenig Gründe beisteuern, weshalb diese Worte sekundär in den Text gelangt sein könnten 8 . Mechanische Ursachen, wie der Ausfall durch Homoioteleton bei den vielen Schlusssigmata in der Passage ist genauso denkbar, wie eine inhaltliche Ursache für eine Erweiterung als glossierende Ergänzung. Ein wahrscheinlicheres Argument ist aber die Glättung des Textes durch Streichung der zwei Worte; a hätte hier eine lectio facilior, die das offensichtlich Christliche zu entschärfen versucht. Dennoch wird das ὡς ἄνθρωπος vielfach als christliche Interpolation behandelt 9 . 6 B ECKER , Untersuchungen, S. 331, A3. 7 Es handelt sich nur um eine andere Wortstellung in chij. 8 Ungültig sind jedenfalls alle Argumente, die zirkulärer Natur sind, sich also bereits der These einer christlich interpolierten jüdischen Grundschrift bedienen, die ja textkritisch bewiesen werden soll. 9 B ECKER , Testamente, S. 45, klammert die zwei Worte einfach ein, auch U LRICHSEN , Grundschrift, S. 82 geht von einer Interpolation aus. Eine tkr. Diskussion findet nicht statt. Immerhin wird auf Schnapp, Bousset und Charles verwiesen - dort finden sich <?page no="50"?> 44 Wir haben hier zwei textkritische Phänomene in einer Textpassage: Einerseits das Eindringen christlicher Randglossen in den Fließtext zu Beginn des Verses, und andererseits das Entfernen allzu christlicher Elemente in dessen Mitte. Es gibt also kein allgemeines Gefälle, dass der Text zunehmend immer christlicher wurde, noch gibt es eine generelle “Rejudaisierungstendenz” 10 . Literarkritisch gibt es diverse Hypothesen zu TSim 6. U LRICHSEN betrachtet zum Beispiel nur v.2 für einen Teil der Grundschrift, auch wenn er den Rest des Kapitels für eine jüdische Zufügung hält, die erst mit dem HA- Element christlich interpoliert wurde 11 . Auch B ECKER lässt nur v.2 zum “Grundstock” gehören, und rechnet mit jüdisch-apokalyptischen und christlichen Zusätzen 12 . Erwartungsgemäß stellen Hollander/ de Jonge das Kapitel als gegliederte Einheit dar 13 . In der Tat liest sich der Text nicht einheitlich. Doch ist dies kein wirklicher Beleg für verschiedene Stadien auf literarischer Ebene. Der Neueinsatz zu den Zukunftsweissagungen 14 in 5,4 mit dem Verweis auf die Schriften Henochs ist nicht untypisch für die TestXII 15 . Die Struktur der Perikope folgt einem in den TestXII wiederkehrenden Muster: Die Ankündigung einer Rebellion gegen Levi (und Juda 16 ) findet sich auch an vielen andern Stellen der Patriarchentestamente (so z.B. TRub 6,5-12). Sie bilden das Motiv der Sünde im Rahmen einer SER-Passage. So begegnet das aber auch nur inhaltliche Argumente, da sich ohne diese „Zufügung“ der Text jüdischer liest. 10 Dies gilt zumindest für die griechischen Zeugen. In den armenischen Versionen sind die Kürzungen speziell bei den christlichen Passagen so ausgeprägt, dass man einen Trend zur Rejudaisierung behaupten kann. 11 Grundschrift, S. 81-83. 12 Untersuchungen, S. 330-332. 13 Commentary, S. 120f. 14 Man kann natürlich Zukunftsweissagungen an sich für sekundär halten, wie es ansatzweise Becker und andere tun. Derartige Ausblicke sind aber im formalen Rahmen der Abschiedsreden durchaus vorgesehen. 15 TLev 10,5; 14,1; 16,1; TJud 18,1; TDan 5,6; TNaph 4,1; TBen 9,1. U LRICHSEN , Grundschrift, S. 81 argumentiert zirkulär, wenn er TJos 20,1ff zur „einzige(n) ursprüngliche(n) Prophetie“ in den TestXII erklärt, die dann belegen soll, dass der Patriarch in der Hellsichtigkeit des nahenden Todes keinen Rückgriff auf schrifltiche Quellen nötig habe. Außerdem verkennt er die Tatsache, dass die Testamente pseudepigraph sind. Nicht die sterbenden Patriarchen reden zu uns, sondern ein jüdisch/ christlicher Verfasser, der seine eigene Schriftkundigkeit hier und da einflechten will. Zur Wahrung der Fiktion kann er dies nur verklausuliert über die ominösen „Henoch- Schriften“ tun. Diese haben nichts mit der uns bekannten Henochliteratur zu tun, sondern sind lediglich ein Deckname für das Alte Testament. 16 Wie in TRub 6,5ff wird Juda „nachgereicht“. Das muss keine literarische Interpolation sein. Es kann auch sein, dass Levi Traditionen übernommen und im Rahmen ihrer Integration in die TextXII „judaisiert“ wurden. <?page no="51"?> 45 Stichwort ἁμαρτία in 6,1; namentlich genannt werden πορνεία 17 , ἀδικία (5,4), φθόνος 18 , und σκληροτραχηλία (6,2). Als Strafe erfolgt Exil oder Zerstreuung 19 (5,6: ἐπιμεριζόμενοι) bis es zu einem eschatologischen Erbarmen kommt. Dies wird hier besonders ausgestaltet. Die terminologische Nähe zu Sir 50,8.12 lässt vermuten, dass hier der Stammesname Simeon mit dem Namen des Hohepriesters Simon verbunden wurde 20 . Doch ist dies nicht zwingend, denn wie H OLLANDER / DE J ONGE zeigen konnten 21 , beschreibt diese Terminologie auch ganz allgemein Israels Schicksal, wenn es sich Gott wieder zuwendet. Dazu passt auch die Weissagung über den Untergang der Fremdvölker (6,3-4), die in 6,6 dann “spiritualisiert” werden: Es sind die bösen Geister, die niedergetreten werden 22 . Dazwischen liegt die Beschreibung einer Epiphanie Gottes gleich einem Menschen. Sie wird eingeleitet mit der Ankündigung, dass Sem wieder zu Ehren kommen soll 23 - eine ganz und gar jüdische, man darf hier sogar sagen: “semitische” Hoffnung. Daher wurde, wie oben geschildert, versucht, nur das ὡς ἄνθρωπος als christlich auszuscheiden. Die Heilszusage, dass die Rettung nicht Israel allein trifft, sondern Adam, also die ganze Menschheit, müsste dann auch der christlichen Hand zugeschrieben werden 24 . Ist demnach der ganze Vers christlich? Dagegen spricht die Verherrlichung Sems am Anfang. Die Literarkritik endet in Aporien und Ratlosigkeit. 17 Dass hier ein Sündenbegriff auftaucht, der eher zum TRub gehört (TRub 1,6; 2,8f; 3,3.9-15; 4,1-11), ist kein Argument für literarische Uneinheitlichkeit, wie B ECKER , Untersuchungen, vermutet. Tatsächlich ist πορνεία ein Begriff, der mehr oder weniger allgemein für Untugend und Sünde stehen kann. 18 Dies ist dann die spezielle Sünde Simeons, vgl. den Titel des Testaments. 19 In Fall der Simeoniten findet die Aufteilung und Zerstreuung schon unter die Stämme Levi und Juda statt, vgl. Gen 49,7 LXX. 20 Wird hier die tiefere Bedeutung dessen gesehen, dass Simeon in Levi aufgegangen ist? In diesem Priester erlebte der Stamm gewissermaßen seine Auferstehung. Von Simeons eigener Auferstehung ist in TSim 6,7 die Rede. 21 Parallelen in Sir finden sich auch ohne Bezug auf den Hohepriester Simon, so z.B. über die Weisheit: Sir 24,8.13-17; über Israel 39,13f. Zu weiteren jüdischen Parallelen vor allem in der Weisheitsliteratur, vgl. H OLLANDER / DE J ONGE , Commentary, S. 123f. 22 Hier lohnt erneut ein Blick auf die parallele Perikope in TRub 6,12, wo gleichermaßen von sichtbaren und unsichtbaren Kriegen die Rede ist. Dazu mehr unten Kap 5.7 S. 153ff. 23 Grammatisch genau stellt die im Partizipialstil geschilderte Epiphanie eine untergeordnete Beschreibung der Verherrlichung Sems dar. Überspitzt könnte man sagen, die Rettung der Menschheit diene nur dem Zwecke, Sem zu Ehren zu bringen. Doch überdehnte man damit die Bedeutung solch grammatischer Feinheiten, denn hier sind die Partizipien wohl eher bei- oder nachgeordnet zu verstehen. 24 Den Universalismus der Heilshoffnung als christliche Interpretation der TestXII betont vor allem J ERVELL , Interpolator, passim. <?page no="52"?> 46 Nicht nur deshalb lohnt der Versuch, die Perikope synchron zu lesen, christlich und jüdisch. Dass für den Verfasser der TestXII eben kein unüberbrückbarer Gegensatz zwischen Verherrlichung Sems, Rettung Adams, und menschlichem Erscheinen Gottes bestanden hat, sollte theologisch erklärt werden. 2.1.2 Struktur typischer ὡς ἄνθρωπος-Perikopen Versuchen wir zunächst, die Strukturmerkmale von TSim 6,5 als einer typischen ὡς ἄνθρωπος-Perikope herauszuarbeiten: 1. Zukunftsmarker (τότε) (a) Begleitereignis (Σήμ ἐνδοξασθήσεται) 2. Gottesbezeichnung (κύριος ὁ μέγας του Ἰσραήλ) 3. Epiphanieverb (φαινόμενος) (a) Ort der Erscheinung (ἐπὶ γῆς) 4. HA-Element (ὡς ἄνθρωπος) 5. Heilstat (καὶ σώζων) (a) Adverbiale Bestimmung der Heilstat (ἐν αὐτῷ) (b) Objekt der Rettung (τὸν Ἀδάμ) Vergleicht man diese Elemente nun mit ähnlichen Passagen der TestXII so stellt man fest: Für fast alle Einzelteile gibt es eine terminologische Bandbreite. So gibt es alle möglichen Zukunftsmarker aus dem Kontext der einzelnen Testamente heraus. Auch die Gottesbezeichnung streut sich im Rahmen der für die TestXII üblichen Terminologie (so findet sich neben θεός 25 auch κύριος 26 , ὕψιστος 27 , βασιλεύς τῶν οὐρανῶν 28 und μέγας oder ἅγιος τοῦ Ισραήλ 29 ). Als Epiphanieverb fungiert neben φαίνειν oft auch ὀφθῆναι oder ἐπισκοπεῖν 30 als HA-Element begegnet die Wendung ἐν σχήματι ἀνθρώπου 31 oder Verben des gemeinsamen Wohnens (κατοικεῖν 32 ) oder Wanderns (συμπορεύεσθαι 33 ). Eine Doppelfunktion nimmt das gemeinsame Essen und Trinken (ἐσθίειν 34 , πίνειν 35 ) ein. Einerseits betont es das 25 TSim 6,5; TSim 6,7; TSim 7,2; TJud 22,2; TIss 7,7; TSeb 9,8; TNaph 8,3; TBen 10,8. 26 TSim 6,5; TLev 2,11; TDan 5,13. 27 TLev 4,1; TAss 7,2. 28 TBen 10,7. 29 TSim 6,5; TDan 5,13. 30 TLev 4,4; 16,5; TJud 23,5; TAss 7,2 31 TSeb 9,8. 32 TNaph 8,3. 33 TIss 7,7. 34 TSim 6,7. 35 TAss 7,3. <?page no="53"?> 47 wirkliche Menschsein 36 , andererseits stellt es auch fraglos eine adverbiale Bestimmung der Heilstat dar. Diese muss nicht nur mit Rettung (σώζειν) zu tun haben 37 , sondern kann auch mit der Vernichtung der Feinde 38 (Beliars, der unreinen Geister oder des Drachens) einhergehen. Als Objekt der Rettung finden sich entweder als feste Formel Israel und die Völker oder Formulierungen, die wie oben gleich die ganze Menschheit in den Blick nehmen. Oft fallen Teile ganz weg 39 . Will man die Teile 2, 3 und 4 für konstitutiv erklären, bleiben noch acht Stellen mit folgenden Elementen als „echte“ HA- Perikopen übrig: TSim 6,5: 1+1a; 2; 3+3a; 4; 5+5a+5b siehe oben TSim 6,7: 1+1a; 2; 3; 4; 5a+5+5b TLev 2,11: 1a; 3; 2; 4; 5+5a+5b TSeb 9,8: 5a+5+5b=1; 3; 2; 4 ; 3a TDan 5,13: 1+1a; 2; 3; 4; (2); 5+5a+5b TNaph 8,3 1; 3; 2; 4; 3a; 5+5b TAss 7,2c+3 1; 2; 3+3a; 4; 5a+5+5b TBen 10,7 1+1a; 2; 3a+3; 4; 5b+5 Bei diesem Variantenreichtum in Formulierung und Anordnung der Einzelteile kann man nicht von festem Formelgut sprechen, wohl aber von einer eigenen Form. 2.2 Jüdische Tradition Vor jüdischem Hintergrund sind die HA-Perikopen in der Tat etwas Einzigartiges, doch sind sie in ihren Teilelementen durchaus jüdisch belegt. Daher kann gerade hier gezeigt werden, wie auch in Passagen, die dezidiert christliche Elemente enthalten, die jüdische Fiktion aufrechterhalten wird. 2.2.1 Tag JHWHs - Amos 5, Joel 3 u. ö. Ja, der Tag des H ERRN ist groß und voller Schrecken, wer kann ihn ertragen? Gottes Kommen als eschatologisches Ereignis ist eine Vorstellung, die auf die Tag JHWHs-Traditionen der wahrscheinlich noch vorexilischen Zeit 36 Vgl Tob 12,19; Luk 24,41-43; Ign Trall 9,1; Ign Smy 3,3. 37 TSim 6,7; TAss 7,3 38 TAss 7,3 39 Das ist aber bei gleichbleibender Aussage oft nur eine Variation über das gleiche Thema. Beispiel: TAss 7,2 spricht über einen Besuch Gottes, mit einem klaren HA- Element in Vers 3. TLev 4,4; 16,5 und TJud 23,5 sagen sinngemäß genau dasselbe, ihnen fehlt nur ein klares HA-Element. Dies wird durch Niedrigkeitsaussagen ersetzt. <?page no="54"?> 48 zurückgeht, denn der wohl älteste Beleg 40 in Am 5,18-20 setzt bereits positive Traditionen zum Tag JHWHs voraus, die er zu korrigieren versucht. Dass also die erste schriftliche Quelle bereits eine Gegenposition zur ursprünglichen Bedeutung darstellt, macht die Untersuchung des Tag JHWHs-Motivs nicht einfacher. Die Kontexte 41 weisen aber darauf hin, dass am Anfang der Tradition wahrscheinlich ein Tag des Gerichts über die Heidenvölker, und ein Tag der Errettung Israels stand, eine Version, die auch in späteren Schriften wie denen von Obadja 42 wieder neu begegnet. Die Motivgeschichte lässt sich also grob so skizzieren, dass es eine mündliche Tradition über den Tag JHWHs gab, die den göttlichen Beistand im Kampf wider die Fremdvölker thematisierte. Schriftliche Spuren davon könnten in alten Liedern wie dem der Miriam oder der Deborah erhalten sein. Zu Beginn der Schriftprophetie mit dem nahenden oder unmittelbar erlebten Untergang und Exil, wird dieser Tag zu einem Gerichtstag JHWHs über sein ungehorsames Volk, bis dann im Exil die Hoffnung aufkeimt, der wirkliche Tag JHWHs stehe noch aus, das Gericht über die Fremdvölker wird doch noch kommen, und Israel wird erlöst werden. Erst in diesem Kontext findet die Verknüpfung mit dem Theophaniemotiv statt. Es ist auffällig, dass in den ersten Zeugnissen vom Tag JHWHs es stets der Tag selber ist, der da kommt, der heraneilt 43 oder herbeigesehnt 44 wird. Erst in einer späteren Entwicklung 45 - nämlich bei Nahum 46 , Habakuk 47 und schließlich Joel 48 und Sacharja 49 - wird dieser Tag 50 mit einem Kommen 40 S CHESWIG , Rolle, S. 8 u.ö. - Allerdings sind alttestamentliche Datierungshypthesen mit vielen Unsicherheiten belastet, und die Unbefangenheit, mit der auch Scheswig mit literarkritischer Methodik arbeitet, erscheint vor dem Hintergrund der immanenten Probleme dieser Methode durchaus hinterfragbar. Es ist im Rahmen dieser neutestamentlich ausgerichteten Arbeit jedoch völlig ausgeschlossen, die einzelnen Entstehungshypothesen der alttestamentlichen Forschung je und je im Einzelnen zu überprüfen. Deshalb nehmen wir den Stand der Forschung so, wie er sich uns derzeit darstellt, wenn auch nicht ohne - wenigstens in der Fußnote - ein kleines Fragezeichen zu setzen. 41 Drohworte gegen die Völker finden sich stets im unmittelbaren Kontext, vgl. dazu auch S CHESWIG , Rolle und B ECK , Tag, passim. 42 Obadja reflektiert bereits die Exilssituation, zur Redaktionskritik vgl. S CHESWIG , Rolle, S. 81f. 43 „Schneller ist der Tag als ein Läufer“ Zeph 1,14. 44 Am 5,18. 45 Die redaktionskritischen Überlegungen zu Joel sind mit vielen Unsicherheiten behaftet. Dennoch folge ich hier zunächst der Mehrheit der Alttestamentler, die in Joel eine späte Schrift vermuten, wie auch S CHESWIG , Rolle, S. 116ff. 46 Nah 1,2-8. 47 Hab 3,3-16 sic! Vgl. S CHESWIG , Rolle, S. 67. 48 Joel 2,1-11; 4,1-3.9-17. 49 Sach 14. <?page no="55"?> 49 Gottes verknüpft. Man kann es sich so erklären, dass das Volk, das kein Land, keine Truppen oder Könige mehr besitzt, kaum die Hoffnung hat, an einem solchen Tag mit göttlicher Hilfe die Feinde zu vernichten. Daher muss Gott selbst auf der Erde erscheinen und dieses Gericht vollziehen 51 . Diese Erscheinung wird teilweise sogar anthropomorph ausgestaltet, so dass davon die Rede sein kann, wie er die Erde betritt und wie er das Land durchschreitet 52 . Das Motiv wird nachbiblisch weiter ausgestaltet. So findet sich das Bild von einem Einmarsch Gottes auch in Hen(äth)1,3-4 53 . Eine weitere Stufe der Entwicklung könnte in Mal 3,13ff 54 vollzogen sein, in denen die Antipoden nicht mehr Israel und die Fremdvölker sind, sondern die Gottlosen und die Gottesfürchtigen innerhalb, womöglich auch außerhalb Israels. Solche drastischen Theophanieschilderungen finden sich dann auch in der christlichen Apokalyptik 55 . Dass damit aber eine Mit-Menschlichkeit wie bei den TestXII gemeint sei, ist in diesem Kontext nicht denkbar. Diese Ereignisse sind sämtlich von erlesener Dramatik 56 : Das Erscheinen Gottes wird begleitet durch berstende Berge 57 , die Verfinsterung von Sonne, Mond oder Sternen 58 , tobende, ausströmende oder versiegende Wasser 59 und vieles andere 60 . 50 In Nah und Hab nicht als Tag JHWHs, sondern als Tag der Trübsal (jôm şarā). 51 Vgl. dazu auch R OOSE , Teilhabe, die systematisch zwischen „Gott als Handlungsmodell“ und „Menschen als Handlungsmodell“ unterscheidet. In manchen exilischen Texten tendiert die menschliche Kooperation gegen Null. 52 Hab 3,3-15, Sach 14,4. 53 Vgl. im Übrigen S CRIBA , Geschichte. 54 Diese Passage ist insofern wichtig, als dass die „Sonne der Gerechtigkeit“ in TJud 24,1 zitiert wird, und dieses machtvolle Erscheinen gleich im Nachsatz durch ein Wandeln mit den Menschen in Sanftmut und Gerechtigkeit interpretiert wird. Das ist ganz gegen die Tendenz des Maleachi-Textes, der von Zertretung der Feinde redet, aber völlig konsistent innerhalb der Logik der TestXII. In diesem einen Vers ist also die Umdeutung der Tag JHWHs-Traditionen mit Händen zu greifen: Das Wort „Sanftmut/ πραότης“ steht nicht nur im Neuen Testament gerade für die Milde im Gericht (vgl. 1. Kor 4,21; Gal 6,1; 2.Tim 2,25), die von Christus ausgesagt (Mt 11,29; 21,5; 2.Kor 10,1) und dann von Christen gegenüber ihren Mitmenschen gefordert wird (Mt 5,5; Gal 5,23 u.ö.). Zum profangriechischen und atl.-jüd. Sprachgebrauch vgl. auch THWNT, S. 645ff. 55 Vgl. z. B. SyrDan 28f. Obwohl es sich hier auch um eine christliche Verarbeitung jüdischer Traditionen handelt (vgl. die Einleitung zu SyrDan von H ENZE , S. 4f), bleiben die Theophaniemotive ganz im jüdischen Rahmen und werden nur durch eine Wiederkunft Christi (SyrDan 30f) ergänzt. 56 S CRIBA , Geschichte, spricht von „Schreckreaktionen“ (S. 53-58; 80 u. ö.). 57 Neben Hab 3,6 finden sich Erdbebenphänomene in 1.Kön 19; Ps 29,8; Am 9,5; Nah 1,5; Joel 2,10.3,16; Sach 14,4f u.ö. oder das Schmelzen der Erde als eher vulkanisches Bild in Mi 1,4; Ps 97,5, Hen(äth) 1,6 u.ö. 58 Zeph 1,15; 4,15 ; Sach 14,6f; Hab 3,10f; Joel 2,2.10. u.ö. 59 Nah 1,5; Hab 3,9f; Sach 14,8 u.ö. <?page no="56"?> 50 Davon ist in den HAP der TestXII nicht die Rede. Interessanterweise treten diese Phänomene allerdings in einer anderen Passage auf, die vom Leiden des Höchsten spricht 61 und vielleicht ähnlich wie Matthäus 27,51 eine Art paradoxe Theophanie formuliert 62 . Doch müssen die Unterschiede wahrgenommen werden: Die Theophanie-Motive führen bei Mt zur Erkenntnis: Dieser ist wahrhaft Gottes Sohn gewesen. Die leitende Idee dahinter ist, dass - wenn man es etwas salopp formuliert - die Erde nicht beim Auftreten, sondern beim Abtreten des Gottessohnes bebte und barst. In TLev bleibt dagegen die Szene in den klassischen Kontexten der Gerichtsprophetie. Es findet eben gerade keine Gotteserkenntnis statt 63 . Mit dem Hinweis auf Mt ist auch die Frage nach dem Menschensohn gestellt. Auch seine Epiphanie, wie sie ansatzweise in Dan 7,13 und ausgeführter in Hen 46,1ff beschrieben ist, wird mit ähnlichen Phänomenen begleitet. Das ὡς υἱὸς ἀνθρώπου 64 ist deshalb kaum mit dem HA-Element der TestXII vergleichbar. Denn beide Szenen (Dan 7 und Hen 46 65 ) spielen vor dem Angesicht Gottes. Damit ist also sein Erscheinen vor Gott und nicht vor den Menschen beschrieben. Das Erscheinen des Menschensohnes auf der Erde ist dann ein Tag des Gerichts, der Macht und der Stärke - nicht aber der Niedrigkeit, Demut, Einfachheit und Barmherzigkeit, wie die TestXII ihn schildern. Von daher ist von diesem Motivkomplex 66 her eigentlich auszuschließen, dass am „großen und schrecklichen Tag JHWHs 67 “ dieser als ein einfacher 68 Mensch erscheinen könnte, in Demut und Niedrigkeit, wie es die TestXII in ihren HAP schildern 69 . 60 Vgl. auch S CRIBAS ausführliche Schilderungen der „Elemente des Motivkomplexes Theophanie“ im zweiten Kapitel seines Buches, Geschichte, S. 14-79. 61 TLev 4,1. Zeph 1,15f als gemeinsamer Intertext zwischen Mt und TLev lässt es nicht zwingend erscheinen den einen von dem anderen abhängig zu sehen. 62 Vgl. J EREMIAS , Theophanie, S. 164, L UZ , EKK 1/ 4, S. 357ff. 63 TLev 4,1: οἱ ἄνθρωποι ἀπιστοῦντες ἐπιμενοῦσιν ἐν ταῖς ἀδικίαις· 64 Dan 7,13 LXX. 65 Dennoch hat es wegen dieser ausgeprägten Motivik und des Fehlens der „Bilderreden“ in den qumranischen Fragmenten viele Spekulationen gegeben, ob dieser Teil des Henochbuches nicht ganz und gar von christlicher Hand stammen könnte - vgl. dazu die Einführung bei U HLIG , Henochbuch, S. 573f. Das ist nicht auszuschließen, aber eher unwahrscheinlich. Es wäre in jedem Falle ein anderes (Juden-)Christentum als das der TestXII. 66 Den Begriff habe ich von S CRIBA , Geschichte. Er drückt treffend aus, dass hier keine feste Gattung oder Form vorliegt, sondern aus einem großen Repertoire wiederkehrender Elemente geschöpft wird. 67 Joel 3,4 ; Mal 3,23 (LÜ). 68 Vgl. die Rolle der ἁπλότης in den TestXII. Noch einmal sei auf den direkten Zusammenhang in TJud 24,1 verwiesen. 69 Zu den genauen Begrifflichkeiten siehe auch unten zur Ethik in der Eschatologie, Kapitel 6.1, S. 159ff. <?page no="57"?> 51 Typisch für den Tag JHWHs ist außerdem das punktuelle, vielleicht noch ingressive Element. Gottes Erscheinen, sein Auf-Treten und Ein-Schreiten in der Welt ist der entscheidende Moment. Rettung und Gericht finden an diesem einen Tag statt. Das Motiv eines rettenden Erscheinens Gottes begegnet auch in einer Reihe der HAP in den TestXII 70 . Dennoch ist bei den TestXII dieser Tag des Erscheinens oft nur der Anfang eines Prozesses, eines dann einsetzenden Mit-Seins, Mit-Wohnens Gottes bei den Menschen 71 . Die TestXII übernehmen also Motive der alten Tag JHWHs Tradition und folgen der Entwicklung der jüdischen Tradition, die darin letztlich ein eschatologisch-theophanes Ereignis sehen. Dennoch bieten sie mehr als nur eine weitere Variante dieser Konzeption, weil entscheidende Elemente des Motivkomplexes der Theophanie ausfallen, ja faktisch durch ihr Gegenteil sogar konterkariert werden. Dies kann man schnell als „christlich“ oder „unjüdisch“ markieren. Man kann aber auch versuchen, weitere jüdische Traditionen zu befragen, ob solche Aussagen einer Nähe Gottes auch jenseits theophaner Machterweise 72 vorhanden sind. Die Verheißung von Gottes Gegenwart führt uns in die Nähe der alttestamentlichen Bundeszusagen. 2.2.2 Gottes Bund: Sein Wohnen bei den Menschen (Ex 25,8) Und sie sollen mir ein Heiligtum machen, dass ich unter ihnen wohne. Exodus 25,8 Das Wohnen Gottes bei seinem Volk findet sich alttestamentlich in einer engen kontextuellen Nähe zur sogenannten „Bundesformel“ 73 . Sie ist in einer priesterlichen Linie zu sehen, die man vom Pentateuch 74 über die Propheten 75 bis zu den Apokryphen 76 ziehen kann. Dabei ist es für unsere Untersuchung nicht entscheidend, dass in der Verschriftlichung dieser Verheißung die prophetischen Texte höchstwahrscheinlich vor der Endredaktion des Pentateuch anzusetzen sind, wenngleich sich die Redaktionsgeschichte vom Jeremiabuch ihrerseits facettenreich darstellt 77 . Maßgeblich ist, dass den Verfassern und Bearbeitern der TestXII diese Verheißung von Gesetz und Propheten her vorgegeben war, so dass sie sie aufnehmen und weiterverarbeiten konnten. 70 TSim 6,5; TJud 22,2. 71 Davon ist allerdings auch in Joel 4,17.21 die Rede, wenn auch nicht weiter ausgeführt. 72 Eine inner-alttestamentliche Skepsis gegenüber diesem Motivkomplex findet sich in 1.Kön 19 - auch wenn die Alternative eine andere ist. 73 Vgl. dazu R ENDTORFF , Bundesformel, S. 40. 74 Hier vor allem die „priesterschriftliche“ Linie , Ex 25,8; 29,45f; Lev 26,12 u.ö. 75 Jer 24; 31 (Bundesformel) Ez 37,27 (Bundesformel und Mitwohnen). 76 Jub 1,17.26 77 Einigkeit besteht bei den Exegeten darüber jedoch noch nicht. <?page no="58"?> 52 Wenn hier allerdings von der Bundesthematik die Rede ist, dann nicht im philologischen Sinne, dass die hebräische Vokabel (oder das griechische pendant διαθήκη) unbedingt eine Rolle spielen muss. Der Schwerpunkt liegt auf dem theologischen Kontext von Bundesformel, Bundesbuch, Bundesschluss. Hier wird eine „Nähe“ Gottes ausgesagt, die bis zum Wohnen Gottes bei den Menschen ausgestaltet werden kann. Bezeichnend aber ist, dass in der Regel vom κατασκηνοῦν Gottes die Rede ist 78 , wie wir es von der LXX und ihr folgend auch Joh 1 her kennen 79 . Gerade dieser Begriff wird bei den TestXII nicht gebraucht 80 . Κατοικεῖν ist dagegen ein ganz und gar menschlicher Begriff, der wirklich das häusliche Niederlassen ausdrückt. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet 1.Kön 8,27 LXX: Dort heißt es unmissverständlich: Εἰ ἀληθῶς κατοικήσει ὁ Θεὸς μετὰ ἀνθρώπων ἐπὶ τῆς γῆς; Dass hier οἰκεῖν verwandt wird, ist sicherlich dadurch zu erklären, dass Gott von dem Zelt der Stiftshütte in ein festes Haus umziehen soll. Tatsächlich ist diese Aussage in eine Frage gekleidet, und die Antwort bleibt letztendlich in der Schwebe, ob denn Gott, den „der Himmel und aller Himmel Himmel nicht fassen können 81 “ wirklich auf Erden wohnen kann, mit den Menschen und in einem Haus, das von Menschenhänden gemacht wurde. Exakt diese Frage wurde ja auch in Bezug auf den herodianischen Tempel noch zu neutestamentlicher Zeit kontrovers diskutiert, wie an der Tempelkritik des Stephanus 82 erkennbar ist. Aber auch das Fragezeichen, dass hier im LXX Text deutlich sichtbar ist, könnte - schematisch - auf die Formel gebracht werden: κατασκηνοῦν ja, κατοικεῖν nein. Gott hat ein Zelt auf Erden, kein Haus, er bleibt damit in gewisser Weise „flüchtig“ 83 und unverfüg- 78 In der LXX die reguläre Übersetzung des hebr. , das im weiteren Verlauf der jüdischen Theologiegeschichte Grundlage der Shekhina-Vorstellungen wird. 79 Siehe dazu unten, S. 70 Anm. . 80 Es wäre wohl vermessen, von einer bewussten Vermeidung zu sprechen, aber auffällig ist dieser semantische Wechsel allemal. 81 1.Kön 8,27 LÜ 82 Apg 7,48; siehe aber auch Apg 17,24. Hier wird hellenistisches Denken einer Transzendenz Gottes mit jüdischer Tempelkritik verbunden. 83 Es ist zumindest eine durchgängige Linie in der israelitisch-jüdischen Theologiegeschichte, die im „kleinen geschichtlichen Credo“ genauso zum Ausdruck kommt wie in den königskritischen Linien der prophetischen wie narrativen Überlieferungen, in nomadisierenden Gruppen von den Rechabitern und dem Eliakreis bis zum „Wanderradikalismus“ (T HEISSEN ) im NT. Auch in den paränetischen Passagen weisen die TestXII deutliche Unterschiede zu diesen Traditionen auf. Siehe dazu unten Kapitel 6, S. 159ff. <?page no="59"?> 53 bar 84 . Möglicherweise ist Jesu Wort über die Heimatlosigkeit des Menschensohnes 85 eine Variation auf dieses Thema. Vor allem der Zusatz der Septuaginta gegenüber dem MT μετὰ ἀνθρώπων ist ausgesprochen interessant. Zwar ist der Zusatz ganz offensichtlich durch die Chronikparallele 86 motiviert, doch gibt dieses Wohnen Gottes unter den Menschen dem Ganzen eine deutlich „christlichere“ Farbe 87 und wird folgerichtig später von den Kirchenvätern als Weissagung auf Christus interpretiert 88 . Die Vorstellung einer heilvollen Gegenwart Gottes findet sich später auch in apokalyptischen 89 Texten. Sie wird - ähnlich wie wir es für die Tag JHWHs Traditionen feststellen konnten - nun für die Endzeit 90 erwartet. Doch ist auch hier kaum von einem Wohnen Gottes gleich einem Menschen unter Menschen die Rede 91 , sondern von einer Einwohnung 92 Gottes, die eher spirituell, metaphysisch oder hypostatisch 93 aufgefasst wird. Schon bei Hesekiel wird diese Gegenwart Gottes nicht mehr als sein persönliches Wohnen, sondern als Präsenz seiner Herrlichkeit ( ) aufgefasst. Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass die TestXII offenbar bewusst Verben wie οἰκεῖν bevorzugen. So nehmen die TestXII die Bundeszusage Gottes zwar auf, modifizieren sie jedoch entscheidend. Die Gegenwart Gottes scheint sich bei ihnen nicht geistlich-spirituell zu vollziehen, sondern wird - zumindest auf metaphorischer Ebene - ausgesprochen „boden-ständig“ beschrieben 94 . Dabei fällt besonders auf, dass der einzige biblische Beleg von κατοικεῖν tatsächlich an eine „Immobilie“ gebunden ist, an ein festes Haus, an den 84 Die „Unverfügbarkeit Gottes“ führt bei Z IMMERLI wie ein roter Faden durch seine Theologie des AT. 85 Mt 8,20. 86 2. Chr 6,18. Wobei es spannend sein dürfte zu fragen, wie das in den Chroniktext gelangt ist. 87 Das Problem, wie „christlich“ die LXX eigentlich gefärbt ist, wird unten bei der Behandlung von Bar 3,38 noch einmal thematisiert. 88 E PIPHANIUS , Testimonia ex divinis et sacris scripturis, VI 5,54. 89 Z.B. Hen 45,4, vom „Erwählten“. Vgl. aber auch Offb. 21,3. Hier eben nicht christologisch, sondern ganz „jüdisch“ gedacht. Vgl. im Übrigen: K OESTER , Dwelling. 90 Die Zerstörung des Tempels machte Gott in gewisser Weise „obdachlos“. Die Hoffnungen auf ein erneutes Wohnen Gottes knüpfte sich dann an einen neuen Tempel, der erst in der Endzeit gebaut würde. 91 Auf die Ausnahme 2.Chr 6,18 habe ich hingewiesen, doch ist die Aussage durch ihre Frageform zurückhaltend. Auch wenn von einem Wohnen mit den Menschen die Rede ist, ist die Gegenwart Gottes nicht in menschlicher Gestalt gemeint. 92 Das Judentum hat dieses Vorstellung der „Shekhina“ noch erheblich ausgebaut, vgl. dazu wiederum K OESTER , Dwelling. 93 In Sir 24 ist es die Weisheit Gottes, die im Heiligen Zelt Wohnung nimmt. Siehe dazu unten, S. 66f. 94 Zu der sehr „bodenständigen“ Ethik siehe unten S. 129f. <?page no="60"?> 54 Tempel. Gerade darum scheint es den TestXII aber ausdrücklich nicht zu gehen. Zwar spielen der Tempel und Jerusalem in den TestXII durchaus eine Rolle, aber kaum als Ort der Gegenwart Gottes. So findet sich „Jerusalem“ zuerst im Zusammenhang mit den Schuld-Passagen 95 . Im Kontext des Erscheinens 96 wird es einmal genannt, jedoch weniger als Wohnort, denn als Ortsbestimmung der Epiphanie. Zuletzt taucht es auch einmal im Kontext der Bundesformel 97 auf, doch gerade hier ist es ein „neues“ Jerusalem, das die Gegenwart Gottes verheißen bekommt. Mit den Belegen für den Tempel verhält es sich ähnlich, das Heiligtum ist ein himmlisches 98 , gerade kein Ort göttlicher Gegenwart auf der Erde. Das bedeutet, die Bindung an ein Heiligtum, die eng mit dem Motivkomplex der Bundesformel zusammenhängt, ist bei den TestXII brüchig geworden. Tempelzerstörung und Zerstreuung sind für sie eine Tatsache. Die neue Zuwendung Gottes in der Endzeit ist zwar an Israel als Land, Jerusalem als Stadt und den Tempel als Heiligtum gebunden, aber sie bleibt nicht dort. Der Vorhang reißt 99 , der Tempel wird zerstört, das Volk zerstreut, und die Hoffnung richtet sich auf ein neues Jerusalem, in dessen Mitte Gott, der Heilige Israels, in Demut und Armut regiert. Also fehlen auch hier typische Motive eines Traditionsstranges, und es werden andere eingeflochten, die der menschlich wirkenden Gegenwart Gottes entsprechen und doch beweglich und mobil bleiben, weil sie an keinen Ort oder Heiligtum gebunden sind. 95 TLev 10,3-5 - Zum Motiv des reißenden Vorhangs im Tempel siehe unten Kap. 5.3, S. 143; TLev 14,6 (tkr. unsicher - vgl. Commentary, S. 168 Anm 49). 96 TSeb 9,8. 97 TDan 5,12f. 98 TLev 5,1; 18,6. Ist dagegen vom irdischen Tempel in Jerusalem die Rede, dann immer im Horizont seiner Zerstörung. TLev 10,3; 15,1; TJud 23,3; TBen 9,2-4. Einzig TSeb 9,8 scheint von dem Tempel in Jerusalem als eschatologischem Heilspunkt zu sprechen, doch ist die Lesart tkr. unsicher (vgl. DE J ONGE , Textausgabe, S. 100). Vor allem ist (gegen H OLLANDER / DE J ONGE , Commentary, S. 273) nicht von der zweiten Ankunft Christi die Rede. Dass Gott in menschlicher Gestalt im Tempel von Jerusalem zu sehen sein wird, trifft in der Lesart der TestXII auf Jesu Erdenleben zu. Damit ist aber auch in TSeb 9,8 jener zweite Tempel beschrieben, dessen Untergang schon prophezeit und - nach aller Wahrscheinlichkeit - zur Abfassungszeit bereits Geschichte ist. 99 TLev 10,3; TBen 9,4 siehe zu diesem Motiv unten, Kap. 5.3, S. 143f. <?page no="61"?> 55 2.2.3 Gottes Begleitung auf dem Weg (Tobit 5-12) Gott sei mit euch auf dem Wege, und sein Engel geleite euch! Tobias 5,23b 100 Neben dem endzeitlichen Erscheinen Gottes und seinem Wohnen bei den Menschen gibt es in den HAP noch ein weiteres Motiv, das das Bild der göttlichen Gegenwart weiter schärft. Wie oben gezeigt, geht es weder um ein machtvolles und schreckliches Erscheinen Gottes noch um ein neues Haus oder einen heiligen Ort. Stattdessen wird eine Nähe Gottes verheißen, die mit-geht. Und dies nicht metaphysich, sondern gleich einem Menschen unter Menschen. Deshalb soll auch ein Blick auf die Geschichte des Tobias geworfen werden. Hier ist es zwar ein Engel der Tobias begleitet, aber dennoch geht es um das Wandern 101 von einem, der im Himmel wohnt 102 , mit (einem) Menschen 103 . Tatsächlich bietet die Tobiasgeschichte noch weitere Parallelen zu den TestXII: Das Motiv der Rettung und Überwindung von Dämonen 104 , ja sogar das gemeinsame Essen und Trinken 105 als Zeichen wirklichen Menschseins ist hier anzutreffen. Eine große Nähe zeigt auch der paränetische Kontext: Die Geschichte eines leidenden Gerechten 106 , wie sie der fromme Vater genauso wie der junge 100 So LÜ nach der Vulgata. Nach G II (übersetzt von B. E GO , Tobit): „Und der Gott, der im Himmel ist, bewahre euch dort und bringe euch wohlbehalten zu mir zurück. Und sein Engel begleite euch mit (seinem) Schutz“ (Tob 5,17). Tatsächlich gibt es große Unsicherheiten beim Textbestand von Tob. Vgl. dazu nur H ANHART , Text, passim, und die knappe Zusammenfassung der Problematik bei E GO , Tobit 6,1,2, S. 120-122. Aus der Distanz lässt sich nur sagen, dass auch hier die Zeit der Hochschätzung der Literarkritik vorüber ist (E GO , a.a.O., S. 136) und die Kurzform für sekundär gehalten werden muss (E GO , a.a.O., S. 122). Ein Ergebnis, dass meinen Beobachtungen zu den TestXII entspricht. 101 Συμπορεύεσθαι - vgl. Tob. 5,3ff. mit TIss 7,7 u. TJud 24,1. 102 Von Gott: Tob 5,17, von Rafael Tob 12,15. 103 Vgl. die Aufforderung Tobits an seinen Sohn: „πορεύου μετὰ τοῦ ἀνθρώπου“ (G I ). Dies entbehrt nicht einer gewissen Ironie. 104 Tob 6 u. 7 - Vgl. TAss 7,3 und TDan mit dem durchgängigen Motiv des Kampfes gegen Beliar. 105 Das wird in Tob 12,19 zwar ausdrücklich für den Engel verneint, doch macht gerade diese Beteuerung deutlich: hätte er gegessen und getrunken, so wäre er wirklich Mensch gewesen - vgl. TSim 6,7, TAss 6,3; im Gegensatz dazu TestAbr 4,9-11. 106 In diesem Zusammenhang wird auch die für das Buch Tobit evidente Verbindung zum Achikar Stoff diskutiert (vgl. dazu nur E GO , JSRHZ II,6, S. 925 Anm. e), der ja auch Bezüge zur Josephsgeschichte aufweist (vgl. dazu R UPPERT , Funktion, passim). Anders als in Tob 1,20; 2,10; 11,19 und 14,10 gibt es aber keine namentliche Erwähnung Achikars in den TestXII. Auch das Motiv der Weisheit, das Achikar auszeichnet (vgl. die Einleitung N IEHR , JSRHZ.NF, S. 7-10), fehlt im Josephbild der TestXII. <?page no="62"?> 56 Josef verkörpern 107 , der Schutz, ja die Nähe Gottes in Anfechtung und Gefahr, der hohe Wert von Tugend 108 , Barmherzigkeit 109 und Frömmigkeit, das Motiv des Gehorsams gegenüber den Mahnungen der Alten 110 , die Betonung von Beten und Fasten 111 und die kritische Sicht sexueller Lust 112 . Aber bei aller Nähe, die man feststellen kann, bleiben auch entscheidende Unterschiede. Es ist bei Tobias nicht Gott selbst, der ihn begleitet, sondern „nur“ einer seiner Engel 113 . Zwar können auch die TestXII von Gottes Gegenwart durch einen Engel sprechen 114 , doch der Schwerpunkt liegt deutlich auf einem Erscheinen, einer Gegenwart und einer Begleitung durch Gott selbst. Die scharfe Trennung zwischen einer subordinatorischen Engels- Christologie und einer modalistischen Christus=Gott Vorstellung ist mehr dem Bedürfnis nach Systematisierung der dogmengeschichtlichen Forschung geschuldet 115 , als dass es den tatsächlichen Vorstellungen des 3. Jhdts wirklich gerecht würde. So kann man gerade für den judenchristlichen Bereich PsClemHom 16,14 anführen, wo die Gleichung Gott=Engel=Immanuel begegnet. Zu einer ähnlichen Gleichsetzung (Gott=Rafael=Immanuel), die unserer vermuteten Verknüpfung der Rafael- Thematik aus Tobit mit dem „Gott-mit-uns“ Motiv der HAP der TestXII nahekommt, vgl. auch Kap 6 des Testaments Salomos 116 , in denen „Emmanuel“ der Name des höchsten Gottes sei 117 und gleichzeitig als Bezwinge- 107 In anderen Zusammenhängen scheint der Bezug mehr der zu sein, dass der alte Vater als Jakobsgestalt zu sehen ist, so zum Beispiel bei dem Motiv der Blindheit und dem verloren geglaubten Sohn. 108 Allerdings gegenüber den TestXII verbunden mit ritueller Reinheit wie Speisegesetzen, Bestattungsriten und dem Verbot der Ehe mit Heiden. 109 In Tob hauptsächlich mit dem Begriff ἐλεημοσύνη belegt, und vor allem als terminus technicus für Almosen verwandt (Tob 4,7ff, 12,8 u.ö.). In den TestXII begegnet nur das dazugehörige Adjektiv ἐλεήμων (TSim 4,4; TJud 19,3; TIss 6,4; TSeb 9,7; TAss 4,3) - vgl. aber auch Gen 47,29 LXX. 110 Testamente des Tobias finden sich doppelt: Tob 4,1-21 und 14,3-11. Auch hier werden biographische Notizen, paränetische Sequenzen und Zukunftsweissagungen miteinander verknüpft. 111 Tob 12, 8 (G I , Vulg.). Vgl. TJos 3,3f; 4,8 u.ö. 112 Tob 8,7 - Noch erheblich ausgebaut in Vulg, vgl. mit TRub. 113 Immerhin ist er einer der sieben Engel, die vor Gottes Thron stehen (Tob 12,15). 114 TDan 5,4 - Dies aber wohl mehr in einem Kontext wie Dan 12,1. 115 Vgl. H AUSCHILD , Lehrbuch, S. 8. 116 Diese Schrift befasst sich mit der Bezwingung der Dämonen und ist ebenfalls als eine christliche Schrift aufzufassen, die ausgiebig jüdisches Material verarbeitet hat. Vgl. B USCH , Testament Salomos, S. 10-37. Wieweit hier auch eine über die Davidssohnschaft vermittelte Salomo-Christus-Typologie eine Rolle spielt, dazu B USCH Testament Salomos, S. 68f. 117 TSal 6,8. <?page no="63"?> 57 engel des Beelzebul genannt wird 118 . Das was wir für die TestXII vermuten, nämlich dass die Tobiasgeschichte einen traditionsgeschichtlichen Hintergrund bildet, lässt sich für das TSal belegen: In TSal 5 wird explizit die Tobiasgeschichte referiert, und in Kap 13, Rec B gibt es für Raphael (640) eine ganz ähnliche Gematrie wie Emmanuel (644) in Kapitel 6. Doch das Tobiasbuch selbst scheut noch davor zurück, Gott selbst als Begleiter des Jungen zu benennen. So ist auf der anderen Seite auch eine Vorsicht zu spüren, den Engel wirklich als Menschen zu schildern. Es wird zum Beispiel ausdrücklich klargestellt, dass Rafael „nur scheinbar“ gegessen habe 119 . Auch an der Rettung des Jungen ist der Engel selbst seltsam unbeteiligt. Er weiß zwar stets den guten Rat zu geben, doch handeln muss der Mensch. Sowohl bei dem Fisch 120 wie auch bei dem Dämon 121 ist es Tobias, der durch Ausführung des göttlichen Ratschlags sein Schicksal selbst in die Hand nimmt 122 . Dass der bezwungene Dämon dann vom Engel quasi abgeführt wird 123 , ist nur ein schwacher Schimmer der Kämpfe von Dämonen gegen Engel, die man aus der apokalyptischen Literatur kennt - und die wohl auch den Hintergrund für die Beliar-Passagen 124 der TestXII bilden. Daraus wird eine traditionsgeschichtliche Entwicklung deutlich: Die Tradition des Dämonenkampfes durch seine Engel - in diesem Falle Raphael - ist im Tobiasbuch nur in einer abgemilderten Form anzutreffen. Daneben, so beweisen TSal und das dem Dämonenkampf besonders gewidmete TDan 125 in den TestXII, kann aber auch Gott selbst mit diesem Engel identifiziert werden 126 . Die Bezeichnung „Engel“ ist dann weniger eine Subordination eines Dieners unter den Allmächtigen, als vielmehr eine Rollenbeschreibung Gottes in seinem Kampf gegen die Dämonen und ihren Fürsten. Engelschristologie widerspricht also nicht einem monarchianischen 118 Ibid. 119 Tob 12,19. 120 „Pack ihn bei den Kiemen“ Tob 6,4 (LÜ). 121 Tob 6,19-23; 8,2 (LÜ). 122 Nicht jedoch in der Perspektive von Tobias selbst. Er sieht sich allein durch den „heiligen Mann“ gerettet, s. Tob 12,3f (LÜ). 123 Tob 8,3. 124 Exemplarisch nur TDan 10,10-13. 125 Es ist wohl nicht zufällig, dass die markantesten Passagen für eine mögliche Engelschristologie in TDan 5,4; 6,5-7 zu finden sind, jenem Testament, das über die traditionelle Verbindung des Stammes Dan mit den Dämonen (vgl. H OLLANDER / DE J ONGE , Commentary, S. 287) einen besonderen Schwerpunkt auf das Bezwingen Beliars und seiner Engel legt (vgl. auch Anm. oben). 126 In TDan 5 finden sich zwei LJ-Passagen, von denen eine (TDan 5,4) von einem Engel spricht, der Levi und Juda schützt, die zweite (TDan 5,13) dann aber von Gott selbst handelt, der aus Levi und Juda hervorgehend, mit den Menschen wandelt. <?page no="64"?> 58 Modalismus 127 , sondern kann vor dem hier gezeigten traditionsgeschichtlichem Zusammenhang 128 eine besondere Spielart davon sein. Die weisheitlich-paränetische Richtung des Judentums, die hinter dem Buch Tobit steht, greift hier also auf prophetisch/ apokalyptische Traditionen zurück. Ein ähnliches Zusammspiel kann für die TestXII vermutet werden. Die eschatologischen Passagen, in denen uns die HAP begegnen, sind kein Fremdkörper im paränetischen Kontext. Das Besondere an den TestXII ist das Zusammentreffen, die Verflechtung von Motiven, die man eben nicht durch die literarkritische Schere auseinandertrennen kann, ohne ein Ganzes zu zerstören. Für ein Erscheinen Gottes gleich einem Menschen fehlt uns jedoch immer noch eine klare Parallele. Gibt es dafür keine jüdischen Vorbilder? Sind die TestXII da wirklich einmalig? Vielleicht muss man - wie die Autoren der Patriarchentestamente selber - nur lange genug zurückgehen und in der Genesis lesen. 2.2.4 Gott zu Besuch - Genesis 18 Und der HERR erschien ihm im Hain Mamre, während er an der Tür seines Zeltes saß, als der Tag am heißesten war. Genesis 18,1 Das Alte Testament kennt sehr wohl ein Erscheinen Gottes gleich einem Menschen. Sogar das Essen und Trinken Gottes mit seinen Erwählten ist überliefert. In der archaischen Geschichte des Besuchs Gottes bei Abraham in Mamre 129 sind alle diese Elemente vorhanden. Als Epiphanieverb 130 fungiert ὀφθῆναι im Aorist, Zeit und Ort ist die Mittagszeit beim Hain von Mamre. Direkt anschließend ist von den drei Männern 131 die Rede. Man unterhält sich, und es wird gemeinsam gegessen 132 . Nun gibt es aus späteren Zeiten allerdings keine jüdischen Belege, dass diese Vorstellung wiederbelebt würde 133 : In den Targumen gibt es eine klare Tendenz zur Distanzierung 127 Vgl. dazu unten, Kap 2.3.5; S. 79ff. 128 Wie stabil solche Zusammenhänge sein können, zeigt die ebenfalls im Kontext des Dämonenkampfes beheimatete Engelschristologie der Katharer, vgl. H AUSCHILD , Lehrbuch, S. 447f. 129 Gen 18. 130 Gen 18,1 LXX. 131 Von denen aber nach Gang der Geschichte einer Gott selbst, die beiden anderen Engel sind. 132 Gen 18,8. 133 Aber christliche schon im NT: Der erste Satz der Stephanus-Rede in Apg 7,2, zieht eine heilsgeschichtliche Linie zwischen den Erscheinungen Gottes in Mamre, im Dornbusch und in Jesus Christus. Auch der Lobgesang des Zacharias in Luk 1,68 spricht von einem erlösenden Besuch des Herrn, des Gottes Israels bei seinem Volk. Vgl.dazu unten: Kap. 2.3.3, S. 74. <?page no="65"?> 59 von einer allzu wörtlichen Interpretation 134 . Diese Distanzierung findet sich auch bei Josephus 135 und z. B. im Koran 136 . Auch Philo hat sichtlich Schwierigkeiten mit der Perikope und spricht von Engeln oder Propheten 137 . Immerhin hält er es für möglich, dass sie ihre geistlich/ geistige Wesensart verwandeln in eine menschliche Erscheinung 138 . Das ist erstaunlich, weil Philo sonst sehr daran interessiert ist, die Unterscheidung von πνεῦμα und σάρξ zu betonen, um gerade nicht das Pneumatische sarkisch oder das Sarkische pneumatisch erscheinen zu lassen 139 . Doch es bleibt ein entscheidender Unterschied: Ein Besuch Gottes bei den Menschen, wie er in den archaischen Geschichten Israels, aber auch in der antiken griechisch-römischen Tradition zum erzählerischen Überlieferungsgut gehört, ist immer mit dem Motiv der Täuschung und Camouflage verbunden. Der erschienene Gott ist in Wirklichkeit gar kein Mensch. Er sieht nur so aus. Er ist selbstverständlich unsterblich - und nach späterer hellenistischer Deutung auch unveränderlich und leidensunfähig 140 . Von daher ist ein solcher Besuch eben nur eine Visite, die den Unterschied zwischen Gott und Mensch nicht aufgibt, sondern eher noch unterstreicht 141 . Von der echten Solidarität in Niedrigkeit, dem tatsächlichen Mit-Leiden 142 Gottes sprechen derlei „Besuchsberichte“ jedenfalls nicht 143 . 134 Während Targum Onkelos zur Stelle noch recht unbefangen von Gottes Begegnung sprechen kann, weicht Neofiti (vor allem in der Marginalie) auf „Gottes Wort“ aus. 135 Ant 1,11,2: Abrahams Gäste haben nur scheinbar gegessen. Vgl. die gleiche Tendenz bei Rafael und Tobias (s. o.: S. 55 Anm..). „Doketismus“ ist keine christliche Erfindung. 136 Sure 51,27f.: Die Weigerung der Gäste, vom gebratenen Kalb zu essen, macht sie verdächtig, Abraham bekommt es mit der Angst zu tun. 137 De Abrahamo 113 - Zu seiner großen Reserviertheit gegenüber Anthropomorphismen vgl. unten, S. 61 und Anmerkungen dort. 138 Der hier von Philo gezeigten Differenzierung zwischen einer pneumatischen οὐσία und einer anthropomorphen ἰδέα begegnet sonst nur im Fragment Questiones in Genesim 92 über die Engel aus Gen 6. Vergleiche aber auch die - freilich nur als Gedankenspiel deklarierte - Vorstellung einer in Menschengestalt auftretenden εὐγένεια in Virt 195,2. 139 Siehe dazu unten: Kap. 2.2.5, S. 61. 140 Auch dazu kann ich auf Kap. Kap. 2.2.5, S. 61ff. verweisen. Dort wird Philos Position über den unveränderlichen und leidensunfähigen Gott diskutiert. 141 Stattdessen ist eher typisch, dass die Götter „sich verraten“ oder eben doch wiedererkennbar sind. Vgl. dazu die von S TRELAN , Recognizing, genannten Beispiele aus der griechischen Götterwelt, aber auch die Hellhörigkeit des Besuchers Gen 18,13 und die Macht seiner Begleiter in der Sodom-Episode Gen 19,11. 142 Vgl. dagegen die Verwendung von σπλάγχνα / σπλαγχνίζεσθαι in den TestXII: TLev 4,4; TSeb 8,2; 9,8; TNaph 4,5. Zur Nähe zu „theopaschitischen Häresien“ siehe unten: Kap. 2.3.5, S. 79. 143 Vgl. dazu auch die Episode Apg 14,8-18: Für Götter werden Barnabas und Paulus aufgrund eines therapeutischen Wunders gehalten (v. 11). Sie widersprechen dem <?page no="66"?> 60 Es ist also gerade in der patriarchalen Fiktion der TestXII durchaus vorstellbar, dass eine menschliche Gegenwart Gottes, wie sie die Patriarchen erlebt haben, in der Endzeit wieder erfahrbar wird, auch wenn eine Spannung zur jüdisch-hellenistischen Philosophie entstünde. Doch muss festgehalten werden, dass die TestXII diese Brücke nicht explizit selber bauen. Anspielungen auf andere Teile der Bibel (vor allem des Alten Testaments) dürfen nur verklausuliert eingebracht werden 144 , weil es in der Patriarchenzeit weder Gesetz noch Propheten gab. Abraham hätte als ein Vorfahr der Patriarchen zur Verfügung gestanden. Aber dieser Bezug findet sich in den HAP seltsamerweise nicht. Abraham ist zwar durchaus präsent in den TestXII 145 , aber gerade die klassischen Abraham-Geschichten sind seltsam abwesend. Dies ist umso mehr verwunderlich, als er im Judentum wie Christentum 146 eine so prominente Rolle spielt. Doch weder Abraham als Vater der Beschneidung, noch Abraham als Vater des Glaubens findet in den Testamenten Erwähnung. Kein Wort von der Bindung Isaaks, kein Wort von Lot oder Melchisedek, kein Wort über Hagar, Ismael oder Sara - und so auch kein erkennbarer Rekurs auf die Mamre-Episode. Über die Gründe kann nur spekuliert werden. Eine mögliche Erklärung wäre, der Vereinnahmung Abrahams durch die die verschiedenen Traditionen zu entgehen. Vielleicht spielt Abraham eine so untergeordnete Rolle nicht obwohl, sondern weil sein Erbe so umstritten ist. Möglicherweise wollten sich die TestXII gar nicht einmischen in den Streit, wem nun eigentlich Abraham gehört, und lassen ihn so in den Hintergrund treten 147 . In Bezug auf die HAP ist aber festzuhalten: Das Erscheinen Gottes gleich einem Menschen scheint nicht als solches unjüdisch zu sein, doch gerade dagegen erhebt Philo als Kronzeuge des hellenistischen Judentums entschieden Widerspruch. mit der Beteuerung „leidensfähige Menschen“ zu sein (ὁμοιοπαθεῖς ἐσμεν ὑμῖν ἄνθρωποι - v. 15). 144 So werden z. B. Bezüge auf das mosaische Gesetz als Rückgriff auf die „Bücher Henochs“ getarnt, die jedoch nichts mit den der Henochliteratur zu tun haben. 145 TLev 6,8f erzählt eine Abrahamsgeschichte, die möglicherweise von Gen 20par inspiriert ist; TLev 9,12 erwähnt auch eine Anordnung Abrahams. Parallelen finden sich dazu nicht in der Genesis, aber im ArLev (zum Teil identisch mit den Zusätzen zu TLev 18 in der Handschrift e) und Jub 21. Sonst kommt Abraham aber nur in Reihen mit Isaak und Jakob vor. Bezüge zu Gen 18 fehlen jedenfalls völlig. 146 Mt 3,9par; 8,11; Luk 13,28; Joh 8,37ff.52ff; Röm 4; Gal 3,6ff; 4,21ff; Heb 7,1-10; Barn 9,7-9; u.ö. Vgl. im Übrigen den Artikel in der TRE: B ERGER , Abraham 2. 147 Dies wäre in der Tendenz der insgesamt versöhnlichen Töne, die die TestXII im Verhältnis zwischen Juden und Christen anschlagen. <?page no="67"?> 61 2.2.5 Entschiedener Widerspruch: Philos Quod deus sit immutabilis Philo untersucht in seiner Schrift Passagen aus dem Prolog der Flutgeschichte in Gen 6. Dort werden Gott Affekte wie Zorn und Reue zugeschrieben und so der Eindruck erweckt, auch Gott sei genauso den Leidenschaften 148 unterworfen wie ein Mensch. Offensichtlich hat es zu seiner Zeit auch Juden 149 gegeben, die genau das behauptet haben und dazu u. a. die Flutgeschichte als biblischen Beleg anführten. Diese „Gegner“ versucht Philo zu widerlegen 150 . Dazu kontrastiert er in den §§ 51-69 Num 23,9 151 mit Gen 6,7, Deut 8,5 und anderen Passagen. Er führt aus, dass es sich bei den letztgenannten, wie bei jeder anderen Stelle in der „menschlich“ von Gott gesprochen wird, nicht um die reine Wahrheit über Gott handle. Es sei nicht möglich, den an der Seele erkrankten, unvernünftigen Menschen die Wahrheit über Gott zu sagen 152 . Diese ist für ihn zweifelsfrei: Gott ist nicht wie ein Mensch. Diese These gehört zu den zentralen Themen in Philos Theologie und findet sich sinngemäß auch in vielen anderen Werken 153 . Für uns von Bedeutung ist, dass er in Quod Deus 59 ausdrücklich auf das Essen und Trinken Gottes eingeht - und dies vehement ablehnt 154 . Derlei Behauptungen bezeichnet er als „gottlose Mythenmacherei / ἀσεβῶν αὗται 148 Diese sind für den Hellenisten P HILO der Ausweis unvernünftiger Gottesferne, so z.B. Quod Deus 3. 149 Das ist m. E. anzunehmen, denn P HILO argumentiert durchgängig „biblisch“, also auf der Grundlage einer gemeinsam anerkannten Autorität. Selbst wenn er so ein Denken oft als „heidnisch“ geißelt und fremden Religionen zuordnet (wie z. B. De Posteritate Caini 1,2), so bekämpft er doch das „Heidentum“, die ἀσέβεια innerhalb der jüdischen Gemeinde Alexandriens. Das bestreitet nicht, dass es im Griechischen Denken eine Vielzahl anthropomorpher wie auch inkarnatorischer Modelle göttlichen Wirkens unter den Menschen gab (vgl. die Belege bei Schnelle, ThHK 4,I; S. 50f). Nur ist die Alternative jüdisch/ griechisch meiner Ansicht nach falsch gestellt. Auch unter Juden gab es anthropomorphes Reden von Gott, und auch unter Griechen gab es Kritik an den vermenschlichten Göttern. Vgl. dazu auch S IEGERT , Logos, S. 290. 150 Dieser Widerspruch ist widerum kein genuin jüdischer, wie beispielsweise ein Blick in die Auseinandersetzung mit den „Theopaschiten/ Patripassiani“ zeigen. Vgl. ferner D IODOR Bibl Hist 22,9,4 und 40,3,4. 151 Tatsächlich die einzige Belegstelle für die Wendung ὡς ἄνθρωπος in der LXX. P HILO zitiert die Wendung in Quod Deus 62; 69. 152 Quod Deus 63-69. Die Nähe zur Polemik Tertullians gegen die idiotae, die in ihrer simplicitas die Logosspekulationen der Apologeten ablehnten, ist kaum zu übersehen. Die Argumentation der so attackierten Gegner dürfte ebenfalls Ähnlichkeiten aufgewiesen haben. Vgl. dazu unten: Kap 2.3.5, S. 79ff. 153 De Opificio Mundi 69,4f; Legum Allegoriarum I 36,6; De Sacrificiis Abelis et Caini 95,6; De Posteritate Caini 1-3; De Plantatione 35,1-6; De Confusione Linquarum 134- 135; De Congressu Eruditionis Gratia 115,4; De Mutatione Nominum 54,4. 154 Vgl. auch: De Plantatione 35,1-6. <?page no="68"?> 62 μυθοποιίαι“. Wer antropomorph 155 von Gott rede, gestehe ihm auch menschliche Leidenschaften 156 zu. Damit bezieht er sich offensichtlich auf Schilderungen griechischer Götter, die in Menschengestalt (oder Tiergestalt) auftreten, und dies mal für ein helfendes Eingreifen, aber auch gern mal für ein erotisches Abenteuer nutzten 157 . Deutlich bei diesen Epiphanien ist die Tatsache, dass die Menschengestalt nur eine Tarnung, eine Verkleidung des Göttlichen war. Der in Menschengestalt auftretende Gott war natürlich trotzdem unsterblich. Gerade deshalb zielt Philos Kritik auf den Begriff πάθος ab: Der unsterbliche, unveränderliche 158 Gott muss auch leidensunfähig sein 159 . Ist er aber leidensunfähig, kann er auch nicht von Leidenschaften getrieben sein, von denen die ἐπιθυμία 160 , im Sinne des Verlangens nach dem anderen Geschlecht, mit Sicherheit die anrüchigste ist. Er begründet dies zwar auch exegetisch mit dem Rückgriff auf Num 23,9, entscheidend ist bei ihm aber das Argument, dass Gott als das reine Sein 161 solche Leidenschaften nicht empfinden könne. Damit orientiert er sich deutlich an der hellenisierenden Übersetzung von Ex 3,14LXX 162 , die aber im Judentum nicht unumstritten war 163 . Im Gegenteil: Nimmt man Bergers These über die frühchristliche Theologiegeschichte ernst, dass die Position der Gegner immer historisch älter als ihre Widerlegung sein muss 164 , dann gilt das auch für die Position der Gegner Philos, die er in Quod Deus zu widerlegen sucht. Sie scheinen ihre Theologie biblisch zu begründen, und haben wahrscheinlich besonders auf Gen 6 Bezug genommen. Daneben werden sie alle Passagen anführen, in denen von Gottes Füßen, Händen, seinem Gehen und Kommen die Rede ist 165 . Demnach dürfte es sich also um jüdische Gegner gehandelt haben, die Philo hier auf scharfe Weise zu disqualifizieren sucht. Je mehr Philo also bemüht ist, deren Position als gottlos und somit unjüdisch darzustellen, desto sicherer können wir davon ausgehen, dass es innerhalb des Judentums 155 Quod Deus 59,4: ἀνθρωπόμορφον - Vgl. dagegen TBen 10,7. 156 Ibid: ἀνθρωποπαθές - Vgl. dagegen TLev 4,1. 157 Die Geschichten von Zeus als Stier oder Schwan sind v. a. durch ihre Wirkungsgeschichte in der Kunst noch heute bekannt. 158 Vgl. das „immutabilis et informabilis“ bei Tertullian, Adversus Praxean, 27,6. 159 Vgl. auch den Widerspruch Pauli und Barnabae in Apg 14,15: „ὁμοιοπαθεῖς ἐσμεν ὑμῖν ἄνθρωποι“. 160 So nimmt Paulus das Verbot des Begehrens (Ex 20,17) in Röm 7,7 sogar als eine Art Zusammenfassung des Gesetzes. 161 Vgl. Quod Deus 4; 33; 52; u.ö. 162 Philo verwendet nebeneinander die Formen ὁ ὦν und το ὄν. 163 Das zeigt schon ein Blick in die Versionen von Symachus und Theodotion. 164 Theologiegeschichte S. 6 u.ö. 165 Quod Deus 60. <?page no="69"?> 63 durchaus andere Positionen gab, als die von Philo dargestellte hellenistische Sicht Gottes als abstraktes Sein. Vor allem aber ist festzuhalten, dass wir bei Philo die Unterscheidung von pneumatischer οὐσία und menschlicher ἰδέα finden können 166 . Das bedeutet, dass sich sein Widerspruch gegen anthropomorphes Reden von Gott auf die ontologische Ebene bezieht. Die menschlichen Kategorien können keinesfalls Gottes Wesen und sein Sein beschreiben. Da sich die HAP der TestXII aber auf das Erscheinen Gottes, also seine ἰδέα, weit mehr beziehen als auf sein Sein, ist der Widerspruch längst nicht so scharf wie er auf den ersten Blick wirkt. Philo hält durchaus für möglich, dass etwas dem Sein nach Geistliches auch in konkreter Gestalt auf der Erde den Menschen gleich einem Menschen erscheinen könnte. Er scheut zwar zurück, dies von Gott selbst auszusagen, aber er schließt nicht aus, dass etwas Geistlich- Transzendentes fleischlich-konkret erscheinen kann. Die HAP in den TestXII verlassen also nicht den Rahmen dessen, was im Judentum in hellenistisch-römischer Zeit denkbar war. Nur: Wurde es auch im hellenistischen Judentum gedacht? Gäbe es einen positiven Beleg außerhalb der TestXII, dann wäre viel gewonnen. Daher muss ein Blick auf Bar 3,38 geworfen werden. 2.2.6 Eine lupenreine HAP außerhalb der TestXII? (Bar 3,38) Zu den merkwürdigsten Versen der Septuaginta gehört ohne Frage Bar 3,38 167 . Es ist bereits unklar, ob er nicht interpoliert wurde. Wenn man ihn zum Grundtext hinzurechnet, bleibt seine Übersetzung strittig. Ebenso ist unklar, wie er theologisch zu deuten und theologiegeschichtlich einzuordnen ist. Er ist zudem auch monographisch noch nicht behandelt worden, was es um so schwerer macht, sich ein abschließendes Urteil zu bilden. Die Meinungen gehen weit auseinander, und ein Konsens ist nirgendwo in Sicht. Bevor wir uns den möglichen Interpretationen widmen, soll der Vers selber in Augenschein genommen werden, und gleich mit unseren Kriterien für eine HAP und den semantischen Parallelen zu den TestXII verknüpft werden, um die Relevanz für diese Arbeit zu verdeutlichen: μετὰ τοῦτο (Zukunfts(? )-marker) ἐπὶ τῆς γῆς (Ort der Erscheinung 168 ) 166 De Abrahamo 113; Quest in Gen 92; Virt 195,2. 167 Leider wurde diese Passage noch nicht monographisch bearbeitet. Wobei es doch erstaunt, wenn selbst wissenschaftliche Ausgaben wie JSHRZ es nicht für nötig halten, dieser crux interpretum auch nur eine Anmerkung zu widmen; vgl. G UNNEWEG , Baruch, S. 177. 168 TestSim 6,5 und TestNaph 8,3. <?page no="70"?> 64 ὤφθη (Epiphanieverb 169 [incl. Gottesbezeichnung οὗτος ὁ θεός ἡμῶν aus v.36? ]) καὶ ἐν τοῖς ἀνθρώποις συνανεστράφη (HA-Element 170 ) So wie er da steht, kann er als lupenreine HA-Perikope durchgehen, jedenfalls dann, wenn man Gott als das grammatische Subjekt des Satzes annimmt. Doch das ist umstritten. Dafür sprechen gewichtige Argumente: Gott wird in v. 36 als neues Subjekt eingeführt, in v. 37 beibehalten und es gibt in v. 38 keinen Hinweis auf einen Subjektwechsel. Dieser ist erst in Bar 4,1 mit dem αὕτη gegeben, das sich eindeutig auf die Einsicht (ἐπιστήμη) von v.37 bezieht. Damit steht v. 38 ein wenig unscharf in der Mitte. Viele Forscher haben deshalb angenommen, dass sich der Subjektwechsel implizit schon in v. 38 vollzogen habe, und eben doch die Einsicht auf Erden erschienen sei und mit den Menschen Umgang gehabt habe. Das lege auch der Kontext und die Nähe zu Sir 24, Prv 8 und Sap 9 nahe. Aber bei näherem Hinsehen ist das alles andere als zwingend, auch wenn viele Übersetzungen 171 diesen (einfacheren) Weg gehen. Denn das αὕτη hätte eigentlich in Vers 38 stehen müssen, wenn die Funktion des Subjekts von Gott, der bis dahin der handelnde Part war, auf die Weisheit hätte übergehen sollen. In der Tat zeigen die Belege bei den Kirchenvätern 172 - wie auch in der Vulgata, dass in Bar 3,38 Gott als Subjekt angesehen wurde. Dies wird gerade da deutlich, wo die Autoren in der Abwehr monarchianisch-theopaschitischer Positionen ihre Mühe mit dieser Perikope haben 173 . Dieses Argument, dass Bar 3,37 und Bar 4,1 eigentlich viel nahtloser zusammenpassen, und der Vers 38 sowohl den grammatischen wie den inhalt- 169 TestLev 2,11 und TestNaph 8,3. 170 TestDan 5,13. 171 LÜ; EÜ; APAT (hält es dennoch für interpoliert); JSHRZ (ohne Anmerkung! ) ATD.Apo immerhin mit eingeklammerter Alternativübersetzung. 172 T ERTULLIAN , Praxeas 16,3; H IPPOLYT , Contra Noetum, 2,5 (Noets Position); 5,1-5 (H.s Widerlegung); Haer 9,10,11-12; I RENEÄUS , Haer IV 20,4.8; Dem 97; P S A THANASIUS , Dialogus de Sancta Trinitate, ed B IZER , S. 1252, Z. 17; B ASILIUS V . C AESARAEA , Prolog 8, MPG 31, S. 685, Z. 16. E PIPHANIUS , Testimonia ex divinis et sacris scripturis, 1,7 u. ö. Vgl. auch den Exkurs bei V OGT , Glaubensbekenntnis S. 64-86 und C AVALCANTI , Osservationi S. 145-165. (Manchmal wird in Abgrenzug zu monarchianischer Häresien auch an das Stichwort „τῷ παιδὶ αὐτοῦ ... τῷ ἠγαπημένῳ“ angeschlossen, jedoch nicht an die Weisheit oder Erkenntnis). 173 Dies wäre über die Logos-Christologie gut möglich gewesen. Doch dass I RENÄUS in Demonstratio 97 an das „geliebte Kind“ Israel anknüpft, um eine Sohnchristologie einzutragen, scheint mir zu verdeutlichen, dass er die Einsicht und Vernunft nicht als mögliches Subjekt des Satzes wahrgenommen hat. Vgl. auch H IPPOLYT , Contra Noetum 5,1-4. T ERTULLIAN , Praxeas 16,3 muss pauschal alle Taten und Werke Gottes des Alten Testaments dem Sohn zuschreiben, um dann auch Bar 3,38 in diese Reihe eintragen zu können. <?page no="71"?> 65 lichen Zusammenhang nur stört, ja womöglich Christliches in den jüdischen Kontext einträgt, hat natürlich die Literarkritiker auf den Plan gerufen. Handelt es sich bei Bar 3,38 etwa um eine christliche Interpolation? Dies wird von gar nicht wenigen Forschern angenommen 174 , doch sprechen alle äußeren Kriterien sehr deutlich dagegen: Es gibt textkritisch keinerlei Evidenz 175 für eine Interpolationstheorie. Das ist bei einer weit besseren Textqualität und -quantität über die die Septuaginta gegenüber den TestXII verfügt, schon ein sehr gewichtiges Argument. Auch die recht frühen und breit gestreuten Belege bei Hippoloyt 176 , Irenäus 177 und Tertullian 178 lassen wenig Zweifel an der Echtheit der Passage. Die Versionen (wie z. B. die Vulgata) weisen ebenfalls den Vers in seinem Wortlaut auf. Die äußeren Kriterien sind also geradezu erdrückend 179 . Textlich gehört Bar 3,38 demnach in den Urbestand der Septuaginta. Freilich könnte er im Rahmen der Übersetzung eines - allerdings hypothetischen 180 - semitischen Originals in den Text gelangt sein oder im Rahmen eines - ebenfalls hypothetischen - Redaktionsprozesses 181 . Wir wissen schlichtweg zu wenig über die Entstehungsgeschichte der LXX und haben im Falle von Bar keine Qumranfunde, die ein Licht auf die Vorgeschichte dieses Buches werfen könnten 182 . Spannend wäre die Frage, welche Konsequenzen die Annahme einer christlichen Interpolation für die gesamte Septuagintaforschung hätte: Haben wir in der Septuaginta etwa gar kein hellenistisch-jüdisches Dokument, sondern nur eine christliche Bearbeitung davon? Hat man erst eine christliche Interpolation ausgemacht, wäre damit die lose Masche gefunden, von der aus man den gesamten Text der Septuaginta (zumindest was die Teile 174 R OTHSTEIN , APAT; S TECK , ATD.E; ersterem folgend z.B. auch Wengst in ThKNT zu Joh 1 (S.39, Anm3) - anders G UNNEWEG Baruch. 175 Der Apparat der Göttinger LXX verzeichnet nur unwesentliche Lesartabweichungen, die keine inhaltliche Relevanz haben. Zu bemerken wäre lediglich, dass der Codex Sinaiticus wegen Blattverlustes bzgl. Bar eine Lücke aufweist und damit als Textzeuge nicht zur Verfügung steht. 176 Contra Noetum 2,5 u.ö (um 200). 177 Haer IV 20,4 (um 190), Dem 97 (nach 190). 178 Praxeas 16,3 (um 213). 179 Vgl. auch die wiederkehrende Formulierung „permulti patres gr. et lat.“ im Göttinger Apparat zu Bar 3,38. 180 Gunneweg schließt ein semitisches Original aus. (Baruch, S. 170) Er hält Bar aber ohnehin für eine Redaktion selbständiger Einzelteile. 181 Die Vermutung, die Einarbeitung der Apokryphen, also jener Bücher die in der LXX > MT sind, sei ganz und gar christlich gewesen, ist m. E. nach der Auffindung des hebräischen Materials zu Sir nicht mehr haltbar. 182 Ein argumentum e silentio aus den doch nur fragmentarischen Funden Qumrans ist nicht wirklich belastbar. Vgl. dazu die Diskussion um die Bilderreden des äthHen, deren jüdische Provenienz doch weithin anerkannt wird. <?page no="72"?> 66 ohne hebräische Grundlage betrifft 183 ) in Frage stellen und auf christliche Bearbeitungen überprüfen müsste. Wer sagt dann, dass die hier herausgearbeiteten jüdischen Parallelen in Tobit, Sapientia und Sirach 184 wirklich jüdisch sind? Einmal mehr wird deutlich, wie fließend plötzlich die Grenzen zwischen Jüdischem und Christlichem werden, wenn die Paradigmen, nach denen Schriften als ganz jüdisch oder ganz christlich zugeordnet werden, nur ein wenig ins Wanken geraten. Die Diskussionen, wie sie um Joseph und Aseneth, um die Psalmen Salomonis und die TestXII stattfinden, könnte man nun auf alle Apokryphen des Alten Testamentes ausweiten und jeweils für jedes einzelne Buch fragen, ob es ganz jüdisch, jüdisch mit christlichen Interpolationen oder ganz christlich ist. Doch davor schreckt man allgemein zurück 185 . Es wäre auch ganz neu zu fragen, wie die offenkundigen Bezüge von NT zu LXX zu erklären wären: Ist gar nicht das NT von LXX abhängig, sondern umgekehrt 186 ? Die eine Tatsache ist, dass wir die LXX nur in christlichen Codizes haben, die andere ist, dass man sich kaum vorstellen kann, die gesamte Übersetzungsarbeit sei von den Christen der ersten Jahrhunderte geleistet worden. Aber hier und da eine Interpolation, eine Redaktion von jüdischen Inhalten - das kann keiner grundsätzlich ausschließen, und ein jüdisches Original (in griechischer Sprache) liegt nicht vor. Es muss für die weitere Bearbeitung eine vorläufige Entscheidung gefällt werden, denn sollte Bar 3,38 jüdisch sein, nimmt dieser Text für die jüdische Interpretation der HAP sicherlich eine Schlüsselstellung ein. Zunächst kann die ausweichende Übersetzung nicht nachvollzogen werden, denn das wichtigste Argument dafür, die Parallele in Sir 24, erweist sich als nicht tragfähig: So fällt deutlich auf, dass praktisch überhaupt keine semantische Nähe besteht. Subjekt Prädikat Zielgruppe Sirach 24 σοφία κατασκηνοῦν Ιακώβ Baruch 3 ἐπιστήμη συναναστρέφειν ἄνθρωποι 183 Aber auch markante Abweichungen vom hebräischen Original könnten dann bereits als christliche Bearbeitung angesehen werden - von ὁ ὤν in Ex 3,14 über παρθένος in Jes 7,14 bis zum „Widerruf“ Hiobs in 42,6 - usw.! 184 Zu Sirach 24 fehlt jedenfalls der hebräische Text, vgl. Georg S AUER , Sirach 3,7; S. 485f. 185 Etwas mutiger ist D AVILA , Provenance, S. 217ff, der Baruch (neben anderen Apokryphen wie Weisheit) in sein Kapitel „Some pseudepigrapha of debatable origin“ aufnimmt. Allerdings nimmt er zu Bar 3,38 keine Stellung und hält das Buch am Ende (anders als Weish) doch für jüdisch. 186 Man fühlt sich unwillkürlich schmunzelnd an den - freilich satirischen - Beitrag V . H EYDENS , zu Genesis 1 in der Apocalypsis Sancti Nicolai, Heidelberg 2000, S. 21-35 erinnert. <?page no="73"?> 67 Es ist damit relativ unwahrscheinlich, dass es eine unmittelbar literarische Abhängigkeit des einen vom anderen Text gibt. Aber auch inhaltlich/ theologisch machen die unterschiedlichen Begriffe einen erheblichen Unterschied. Wenn Sir 24 von Sophia/ Weisheit redet, dann tut er das in einem Kontext weisheitlicher Literatur, in der die Weisheit auch sonst als eine Wesenheit personifiziert vorgestellt wird 187 . Von der Episteme/ Einsicht ist so etwas in der LXX zumindest nicht belegt. Die Tatsache, dass Weisheit und Einsicht oft synonym gebraucht werden 188 , muss dagegen zur Kenntnis genommen werden. Die weiteren Unterschiede wiegen daher schwerer. Es ist - wie schon oben in Kap 2.2.2f erläutert, ein Unterschied, ob von einer Einwohnung Gottes (κατασκηνοῦν) oder einem begleitenden Mitwandern (συναναστρέφειν) die Rede ist. In Sir 24 ist diese Wohnung außerdem exklusiv im Bundeszelt auf dem Zion verortet. Das passt auch zu der „Zielgruppe“, nämlich Jakob/ Israel. Alles ist auf eine Heilsexklusivität angelegt: Nur Israel, nur am Zion. Bar 3,38 dagegen nimmt zwar auch die Bundesmetaphorik von Ex 24 auf, interpretiert sie aber in einer ganz eigenen Weise. Zwar wird die Einsicht auch hier zunächst dem geliebten Kind Jakob/ Israel gegeben (v. 37), doch findet danach 189 noch ein zweiter Schritt statt, indem sie persönlich auf der Erde erscheint und mit „den Menschen“ Umgang hat 190 . Damit wird die Heilsexklusivität ausgeweitet zu einem weder lokal noch ethnisch begrenzten Universalismus 191 . Auch mit einem angenommenen Subjekt der Einsicht/ Episteme bleibt Bar 3,38 näher an den HAP der TestXII als an Sir 24. Aber gerade dadurch wird diese Annahme wenig plausibel: Ist also doch Gott das Subjekt des Erscheinens? Das wäre auch von der inneren Logik des Textes durchaus denkbar: Nach der Gabe der Weisheit an Israel, wird dies nur noch dadurch überboten, dass Gott selbst aktiv auf der Erde erscheint, und mit den Menschen Umgang hat. Doch wäre das nicht - wie in den TestXII - eine eher eschatologische Erwartung? Bar 3,38 bleibt aber in der Vergangenheit, als sei diese Erscheinung bereits geschehen, sie wäre dann gerade keine Heilserwartung für die Zukunft. 187 Spr. 8, Weish 1; 8 u. ö. 188 Beispiele gibt es dafür viele: Ex 36,1; Hi 12,12; Jes 33,6 - um nur ein paar Belege aus den verschiedensten Kontexten der LXX zu geben. 189 Es ist für das μετὰ τοῦτο in diesem Zusammenhang keine andere Übersetzung möglich. 190 Und zwar ohne erkennbaren Bezug zu Tempel/ Zion/ Zelt oder ähnlichem. 191 Die Ausweitung des Heils von Israel auf alle Menschen ist bei den TestXII bereits als Hinweis auf eine christliche Bearbeitung interpretiert worden. Vgl. J ERVELL , Interpolator, passim. <?page no="74"?> 68 Es kann hier möglicherweise helfen, auf die gemeinsame Tradition vom Bundesschluss am Sinai zurück zu gehen. Ist mit dem ὤφθη Moses Theophanievision von Ex 34 gemeint, woraufhin ab Ex 36 dann die Bundeslade gebaut wird 192 ? Und ist das συναναστρέφειν vielleicht als die Wüstenwanderung mit Zelt und Lade zu verstehen, in der Gott mit seinem Volk umherzog 193 ? Bar 3,38 gäbe dann einen Kurzabriss der Sinaigeschichte: Gott erteilt das Gesetz - und vermittelt darin seinem Volk die Einsicht/ ἐπιστήμη, erscheint danach Mose, und begleitet dann das Volk in Zelt und Lade 194 . Immerhin wird im unmittelbaren Umfeld der Theophanievision 195 diese Begleitung Gottes als eine Art Mitwandern (συμπορεύεσθαι) aufgefasst 196 , und es wird deutlich formuliert, dass dies auf Erden (ἐπὶ τῆς γῆς) stattfindet. Sichtbar werden und Begleitung der Menschen wären dann gar nicht gleichzeitig, sondern nacheinander zu denken. Dies ist bei dem einfachen καί, das beide Glieder verbindet, zwar nicht die erste Wahl in der Übersetzung, aber grammatisch zumindest möglich. In jedem Falle neu ist aber die Sicht, das Volk nicht als das aus allen Völkern hervorgehobene und erwählte zu begreifen, sondern als Repräsentanten für die Menschheit als Ganzes. Der Text selbst gibt wenig Hinweise, wie er richtig verstanden werden will, und so bleibt die Deutung letztendlich immer auch ein Stück weit Spekulation. Von allen nicht gänzlich überzeugenden Möglichkeiten konnten wir literarkritische Interpolationshypothesen sowie eine entschärfende Übersetzung im Sinne einer auf Erden erschienenen Erkenntnis mit ziemlicher Sicherheit ausschließen 197 . Von daher scheint der Kontext des Bundesschlusses am Sinai noch die am weitesten führende Interpretationsrichtung zu sein. Mit dem Bundesschluss wird Gottes Wesen und Wirken nicht nur Einzelpersonen, sondern einem ganzen Volk, ja eigentlich allen Menschen offenbar. Ob man enggeführt die Theophanie am Sinai, und die Wüstenwanderung als konkrete Form des Sichtbarwerdens und Mitwanderns Got- 192 Die Abfolge von Kapiteln und Versen als chronologische Ordnung zu interpretieren ist mit heutiger, kritischer Hermeneutik unvereinbar, war aber zu neutestamentlicher Zeit - und weit darüber hinaus - die Regel. 193 T ERTULLIAN , Praxeas 16,2, interpretiert das Erscheinen Gottes auch nicht wörtlich, sondern im übertragenen Sinne: Gott habe sich (in Christus) die ganze Heilsgeschichte über bei den Menschen „sehen lassen“ und zu ihnen gesprochen. 194 Eine Gegenwart Gottes im Bundeszelt, dem ein „Herabsteigen“ und „Zusammenziehen“ Gottes vorausgeht, findet sich auch in der rabb. Literatur: BemR 12,3; MTeh 91,1; PesR 4; ShemR 34,1 (zit. Nach W ENGST , Johannesevangelium, S. 53f). 195 Ex 33,16; 34,9 LXX. Vgl. auch Dtn 31,8 - doch alles mit ausdrücklicher Betonung des einen erwählten Volkes. 196 Derselbe Ausdruck findet sich auch in den TestXII in einer Hos-Anthropos- Perikope: TIss 7,7. 197 Nicht ausschließen kann man eine intendierte Doppeldeutigkeit: Sichtbar wurde Gott in der Theophanie und die Einsicht auf den Tafeln des Gesetzes. Sowohl Gott wie auch die Tafeln begleiteten das Volk auf der Wüstenwanderung in Zelt und Lade. <?page no="75"?> 69 tes auffasst oder doch den größeren Kontext der Bundesverheißung annimmt, ist letztendlich nicht ausschlaggebend, weil eines das andere auch nicht kategorisch ausschließt. Damit ist der Zusammenhang zwischen dem theophanen Motiv des Erscheinens und dem Bundesmotiv des Mit-Wohnens bzw. Mit-Wanderns sowie der Adressat „Mensch“ dieses Heilshandelns hier erstmals jüdisch belegt, und zu den Formulierungen der TestXII ist es nur noch ein kleiner Schritt. Allerdings zeigt die Wirkungsgeschichte von Baruch 3,38 auch, wie leicht diese Perikope christlich interpretiert und von daher schnell als Interpolation aufgefasst werden kann. 2.2.7 Zusammenfassung Auf jüdischer Ebene interpretiert, bieten die TestXII eine singuläre Verknüpfung archaisch-anthropomorpher Rede von einem „Besuch“ Gottes bei den Menschen mit apokalyptisch-eschatologischen Vorstellungen eines endzeitlichen rettenden Erscheinens und der Bundeszusage eines Wohnens und Wanderns Gottes mit den Erwählten. Die engste Parallele zeigte sich in Bar 3,38 - und von da ausgehend in den Bundesschluss- und Theophanieschilderungen in Ex 33f (LXX). So könnte man in den TestXII möglicherweise davon ausgehen, dass sie in ihrer endzeitlichen Zukunftshoffnung ein Erscheinen Gottes wie am Sinai und eine Begleitung Gottes für die Menschen wie in der Wüstenzeit 198 erwarten. Dort, wo ausdrücklich davon die Rede ist, dass Gott wie ein Mensch erscheint und gar isst und trinkt, ist vielleicht sogar die Väterzeit eine Vorlage für diese Hoffnung, wenn nicht an eine engelähnliche Gegenwart 199 wie im Buch Tobit gedacht wird. Der Adressat solcher Heilsaussagen ist dabei in erster Linie Israel. In den TestXII wird Israel oft an erster Stelle genannt, doch kommt immer wieder auch der universelle Charakter von Gottes Erlösungswillen zum Ausdruck. Das Heil wird letztendlich der gesamten Menschheit zuteil, also auch den Heidenvölkern. Im engeren Kontext dieser Passagen fehlt die Zionsthematik fast vollständig 200 . Das macht eine Diasporasituation als Hintergrund dieser Texte wahrscheinlich. 198 Den Versuch, die Wüstenzeit durch Kulturaskese nachzuerleben, unternehmen die TestXII allerdings nicht, siehe dazu auch Kapitel 4.2.3, S. 128. 199 Von einem begleitenden Engel ist in den TestXII durchaus die Rede: TDan 5,4; 6,2.5 - die ebenfalls christologisch gedeutet werden können (vgl. H OLLANDER / DE J ONGE , Commentary, z. St.). 200 Jerusalem kommt acht Mal in den TestXII vor, dabei in TSeb 9,8 und TDan 5,12f in der Nähe einer Hos-Anthropos-Perikope. In TSeb 9,9 wird allerdings gleich die Verwerfung hinterher geliefert und TDan 5,13 redet bereits von einem neuen Jerusalem. <?page no="76"?> 70 2.3 Christliche Interpretation Diese Aussagen sind keineswegs so „standard christian terminology“ wie es von H OLLANDER / DE J ONGE in ihrem Kommentar behauptet wird 201 . Auch hier sind einzelne Elemente reich belegt. Die Kombination ist dagegen ähnlich singulär wie im Judentum, und das trotz einer wesentlich breiteren Überlieferungsbasis für diesen Zeitraum. 2.3.1 Die Inkarnation des Logos (Joh 1,14) Ohne Zweifel muss man zum Vergleich frühchristliche Inkarnationsvorstellungen heranziehen. Zentral und von immenser Wirkungsgeschichte 202 steht hier der Johannesprolog 203 , der den Christus als den Logos bezeichnet, der Fleisch wird. Die Differenz zu den TestXII wird sofort deutlich: Dort ist weder von λόγος noch von σάρξ die Rede. Die Terminologie ist im Ganzen grundverschieden, gerade auch da, wo sinngemäß Vergleichbares gesagt werden soll. Aber nicht nur terminologisch ist der Unterschied offensichtlich, auch die Aussageabsicht in Joh 1, die im hellenistischen Denken antagonistisch auftretenden Größen Logos und Sarx miteinander in Christus in eine heilvolle Einheit zu bringen, ist in den TestXII völlig abwesend, weil es ihnen gar nicht um Ontologie geht. Es ist nicht die ontologische Distanz zwischen Logos und Sarx, die überwunden wird, sondern die un-heilvolle Distanz zwischen Gott und den Menschen. Die Argumentation der TestXII ist konsequent heilsgeschichtlich. Die Berührungen zwischen Joh 1 und den TestXII finden gerade da statt, wo sie auf gemeinsame jüdische Wurzeln zurückgreifen, wie bei dem Wohnen Gottes unter den Menschen 204 . 201 H OLLANDER / DE J ONGE , Commentary, S. 125. Sie geben viele Belegstellen an, die jedoch hauptsächlich vom „κύριος“ sprechen, und auch sonst nicht den unten definierten formalen Kriterien der ὡς ἄνθρωπος -Perikopen genügen. 202 Sie begann mit der Logoslehre der Apologeten, allen voran Justins, und bildet die Grundlage christologischer Terminologie in der frühen Kirche. Vgl. H AUSCHILD , Lehrbuch, S. 8f; G RILLMEIER , Jesus, S. 225-231. 203 Joh 1,1-18. Kommentare und Monographien gibt es dazu zahllose, vgl. dazu den auch nicht mehr ganz aktuellen Überblick bei T HEOBALD , Fleischwerdung S. 6-155. Im Rahmen dieser Arbeit kann nur exemplarisch auf die Literatur zurückgegriffen werden. 204 Joh 1,14b - Joh verwendet den klassischen Begriff des κατασκενοῦν, nicht wie die TestXII die Vokabel οἰκεῖν. Dass diese Wortwahl nicht zufällig ist, dazu S CHNELLE , ThHK 4,49; T HEOBALD , Fleischwerdung, S. 249. Auch Heb 13,14 und das ganze Wanderschaftsmotiv des Heb betonen das Flüchtige, nicht Bleibende. Der Begriff (κατ)οἰκεῖν spielt christlich vor allem im Hirt des Hermas eine Rolle (vgl. B ROX , Hermas, S. 549-551). Doch kann man zeigen, dass bei aller “Breite der Anwendbarkeit des Bildes” (S. 550f), das Wohnen von Gott selbst nur in, nicht bei <?page no="77"?> 71 Damit sind die TestXII entweder unabhängig von Joh 1 oder gehen bewusst auf Distanz zur Logos-Spekulation. Zwar kennen auch die TestXII die Gegenwart von Gottes Erbarmen 205 , seinem Engel 206 oder seinem Sohn 207 , doch damit ist kein theologisch-philosophisches Modell verbunden, dass Nähe und Distanz zwischen Gott und Welt ausbalancieren soll. Es gibt in diesem Sinne keine hypostatische Vermittlung der Nähe Gottes 208 in den TestXII. Damit erweisen sie sich einmal mehr als judenchristliche Variante. Auch Justin kämpfte schon gegen judenchristliche Skepsis gegenüber seiner Logoslehre. Kritiker hielten ihm vor, sein Logos sei - ganz im Sinne eines Modalismus 209 - nur eine Wirkweise des einen Vaters 210 . Die Transzendierung der Transzendenz, wie sie im Johannesprolog philosophisch-spekulativ 211 als ein Ereignis vor aller Zeit schon angebahnt wird, findet in den TestXII ganz konkret im Hier und Jetzt statt. Hier auf der Erde ist es Gott selbst, der als Mensch erscheint, mit den Menschen wandelt, isst und trinkt, ja sogar leidet. Doch ist erkennbar, dass beide Traditionen gemeinsame Wurzeln haben, denn auch der Johannesprolog erklärt gleich zu Beginn die Identität von Logos und Gott 212 . Zentrale gemeinsame Motive sind die Präexistenz Christi und seine Göttlichkeit. Ebenso vergleichbar ist die Auffassung, dass seine Inkarnation ein Epiphaniegeschehen ist, ein Aufleuchten des Göttlichen mitten im Menschlichen. Und schließlich die Vorstellung, dass diese heilsbringend ist, und zwar für alle Menschen. Gemeinsam ist also die Vorstellung einer Erscheinung des Göttlichen, die ganz „handgreiflich“ in das Fleisch, in die Menschlichkeit hineinführt, und als solches ein universales Heilereignis darstellt. den Menschen ausgesagt wird (549f). Die Berührungen zu den TestXII betreffen hier also nur die paränetischen, nicht die christologischen Konnotationen dieses Bildes. Zu ersteren vgl. TDan 5,1 u.ö. 205 TNaph 4,5. 206 TDan 5,4. 207 TLev 4,4. 208 Dies sieht S CHNELLE auch für den Johannesprolog gegeben (ThHK S. 48). Dem widerspricht W ENGST entschieden (ThKNT 4,I, S. 61). W ENGST ist insofern recht zu geben, dass man zwischen Gott und Logos nicht einfach ein Gleichheitszeichen setzen kann, als seien beide Begriffe im Johannesprolog austauschbar. Allerdings, und da mahnt S CHNELLE ebenfalls zu Recht, darf die Rede von einer indirekten oder hypostatisch vermittelten Mitteilung Gottes nicht zu einer „Minimierung johanneischer Christologie“ führen. Dennoch bleibt die Rede von der „Menschwerdung Gottes“ ein Schritt einer (durchaus zulässigen) theologischen Interpretation, der über das, was konkret im Johannesprolog gesagt wird, hinausgeht. 209 Zum Modalismus der TestXII siehe unten S. 79f. 210 Ap I 63, 15; Dial 128,1f. 211 Zu diesem Charakter des Logos siehe auch S IEGERT , Logos, S. 279. 212 Joh 1,1. <?page no="78"?> 72 2.3.2 Die Kenosis/ Tapeinosis des Gottgleichen (Phil 2,5-11) Die Wendung „ὡς ἄνθρωπος“ kann wörtlich auch im Neuen Testament gefunden werden. Im Christushymnus des Philipperbriefes heißt es wörtlich: ὃς ἐν μορφῇ θεοῦ ὑπάρχων οὐχ ἁρπαγμὸν ἡγήσατο τὸ εἶναι ἴσα θεῷ, ἀλλὰ ἑαυτὸν ἐκένωσεν μορφὴν δούλου λαβών, ἐν ὁμοιώματι ἀνθρώπων γενόμενος· καὶ σχήματι εὑρεθεὶς ὡς ἄνθρωπος Die Parallelen sind vor allem in der Terminologie erkennbar: Neben dem bereits genannten HA-Element begegnen in den TestXII auch die Wendungen „ ἐν σχήματι ἄνθρωπου“ 213 oder „μορφή ἀνθρώπου“ 214 , ebenso der Aorist von λαμβάνειν als Verbum für die Annahme der menschlichen Gestalt 215 . Selbst für δοῦλος könnte eine Parallele gefunden werden 216 . Zu diesem Wort muss auch die Frage aufgeworfen werden, ob nicht die - JHWH-Lieder aus Dt.-Jes. hier als gemeinsamer Intertext fungieren. Dies könnte über die Stichwortverbindung „Knecht 217 “ und über das Motiv der „Erniedrigung“ durchaus zutreffend sein. Gerade in Bezug auf die Josephstypologie, in der sich noch weiter Elemente des Motivkomplexes „Leidender Gerechter“ finden, ist dies nicht auszuschließen. Doch stimmt dieser Befund nur für die TestXII als Ganzes. Speziell für die HAP ist das Element der Gottgleichheit aber konstitutiv. Es ist gerade ihre Pointe, dass es eben Gott selbst und nicht ein Knecht oder Diener ist, der in die Niedrigkeit kommt. Der Gottesknecht (und jeder andere leidende Gerechte) dagegen ist immer ein Mensch - oder ein Kollektiv vom Menschen. Dieses Motiv der Göttlichkeit teilen also Phil 2 und die HAP der TestXII. Dennoch ist die Aussage keineswegs identisch, denn weder wird eine Identi- 213 TSeb 9,8. 214 TBen 10,7. 215 TSim 6,7. 216 TSeb 4,10: das alte Knechtsgewand als Zeichen der Erniedrigung eines in TSeb zum Typos Christi gestalteten Joseph. Siehe dazu auch unten Kap. 5.4, S. 145. 217 Hier muss aber eingeräumt werden, dass dann nicht die Vokabel δοῦλος, sondern eher παῖς zu erwarten gewesen wäre. <?page no="79"?> 73 tät mit Gott ausgesagt 218 , noch ist der Umgang mit den Menschen, das Erscheinen in ihrer Mitte, das wirklich entscheidende Heilsereignis. Viel zu sehr läuft der Hymnus im Philipperbrief auf den Tod als dem eigentlichen „Höhepunkt“ der Erniedrigung hinaus 219 . Der Tod Jesu spielt aber in den HA-Passagen der TestXII auffälligerweise kaum eine Rolle - weder als „endgültiger“ Erweis seiner Menschlichkeit 220 , noch im Sinne einer heilsnotwendigen Vollendung seines Weges. Insofern man für die TestXII jedoch eine Josephstypologie annimmt, finden sich hier durchaus Elemente von Erniedrigung und Erhöhung, die auch eine inhaltliche Nähe zum paulinischen Modell des Philipperhymnus' erkennen lassen. Unterschiede zum Josephsgeschehen zeigen sich daran, dass im Philipperhymnus die Erniedrigung ein aktives Geschehen ist, bei dem Jesus Christus stets Subjekt bleibt. Er erniedrigt sich selbst 221 . Das ist ein deutlicher Unterschied zu Erniedrigung und Erhöhung eines Gerechten wie Joseph, der seine Erniedrigung in der Regel als Opfer erfährt 222 und dies nur in der demütigen Annahme aktiv verarbeiten kann 223 . Dennoch ist die ταπείνωσις wenigstens eine semantische Brücke zwischen Joseph, den HAP und Phil 2. Die Niedrigkeit ist ein Merkmal des Erscheinens Gottes bei den Menschen 224 , ein Charakterzug Josephs 225 und der Weg Jesu Christi zum Kreuz in Phil 2,8. Diese Niedrigkeit steht in allen Passagen vor allem in einem ethischen Kontext 226 , deshalb dazu unten 227 mehr. Als Fazit zeigen sich die TestXII insofern unabhängig vom Philipperhymnus, als sie zwar eine terminologische Nähe zeigen und inhaltliche 218 Der Philipperhymnus bleibt in beide Richtungen etwas indifferent, weder das ἴσα θεῷ noch das ὡς ἄνθρωπος sind wirklich eindeutig. Ist er wirklich Gott selbst, und ist er wirklich ganz Mensch? Oder ist er nur Gott ähnlich und streift das Menschsein nur über? 219 Phil 2,8. Es wurde viel diskutiert, ob der Philipperhymnus von Paulus übernommen worden wäre und nur dieser Satz von ihm selber stammte S TRECKER , Redaktion, S. 70f. Bei der gebotenen Skepsis gegenüber literarkritischen Spekulationen sehe ich solche Überlegungen kritisch (ebenso: G NILKA , Philipperbrief, S. 111f. 124). 220 Diese Funktion erfüllt das Essen und Trinken (TSim 6,7; TAss 7,7); über die Rolle und Funktion vom Tod Jesu in den TestXII siehe unten Kapitel 5, S. 139ff. 221 ἑαυτόν - vv 7+8. 222 Zu den vorhandenen Varianten aktiver Demut und passiver Demütigung im Josephsbild der TestXII vgl. auch unten die Übersicht in Kap. 6.2. 223 Vgl. auch die jüdischen Gestalten von Hiob, Tobit, den makkabäischen Märtyrern und anderen leidenden Gerechten. 224 TDan 5,13; 6,9 TBen 9,5; 10,7. 225 TJos 10,2. 226 Auch in Phil 2,3 verlangt Paulus ταπεινοφροσύνη von seinen Lesern. 227 Zu Gott siehe S. 159ff; zu Joseph siehe S. 162ff. <?page no="80"?> 74 Motive ähnlich gestalten, doch weder ist ein wörtliches Zitat zu erweisen, noch werden die theologischen Schwerpunkte übernommen. Stattdessen können viele Gemeinsamkeiten wieder auf gemeinsame jüdische und jüdisch-hellenistische Wurzeln 228 zurückgeführt werden, die die Motive des Knechts Gottes, des leidenden Gerechten und der Erniedrigung und Erhöhung je auf ihre eigene Weise verarbeiten. 2.3.3 Der Besuch Gottes im Benedictus (Luk 1,68-79) Der Lobgesang des Zacharias am Anfang des Lukasevangeliums wird in seiner Urfassung 229 für ein vorlukanisches Traditionsstück gehalten 230 . Über die genaue Zuordnung herrscht Rätselraten. Das Lied ist sowohl für jüdisch 231 als auch judenchristlich 232 gehalten worden 233 , außerdem wurde die Nähe zu den TestXII entdeckt 234 . Dass es möglicherweise eine Beziehung zu den Textamenten gibt, ist zunächst philologisch festzustellen. Das Bild eines Besuchs Gottes findet sich explizit in Lk 1,68, in dem κύριος ὁ θεὸς τοῦ Ἰσραήλ das Subjekt ist 235 . Von einem Besuch Gottes sprechen auch die TestXII 236 . Mit dem ἐπισκοπέω sind die semantischen Berührungen aber noch nicht ausgeschöpft. Das mitleidige Erbarmen (σπλάγχνα ἐλέους), das die zweite Ankündigung des Besuches charakterisiert, ist ein Ausdruck, der in dieser Kombination sonst nur in den TestXII zu finden ist 237 . Dabei fällt vor allem TSeb 8,2 auf, denn hier sind 228 Man hat dem Philipperhymnus auch einen gnostischen Erlösermythos als Vorlage zugetraut. Dies ist meiner Meinung nach aber widerlegt. 229 Die Einheitlichkeit wird mit den üblichen literarkritischen Argumenten in Frage gestellt, um Interpolationen oder redaktionell-lukanische Verse ausscheiden zu können. Dieses Vorgehen ist sehr hypothetisch und produziert einen home made text. So richtig: M ITTMANN -R ICHERT , Magnifikat, S. 35 - anschließend argumentiert sie dann doch dafür, die vv. 70.76f für redaktionelle Einschübe zu halten. Mit H ENGEL , Christuslied, S. 211 halte ich das Lied für einheitlich. 230 So übereinstimmend K LEIN , Lukasevangelium, S. 120; B OVON , Lukas, S. 97f. 231 H ENGEL , Christuslied, S. 209, spricht von „jüdischen Täuferkreisen“, B OVON , Lukas, S. 99, will konkret die Johannesjünger als Produzenten ausgemacht haben - schließt aber ein christliches Gemeindelied nicht aus. Auch K LEIN , Lukasevangelium, S. 12, hält das Stück für „vorchristlich“. 232 So G NILKA , Hymnus, S. 238, M ITTMANN -R ICHERT , Magnifikat, S. 97-100; 120-132. 233 Zu den Neueren Vertretern der Theorien vgl. K LEIN , Lukasevangelium, S. 12, Anm 3. Eine umfangreiche Bibliographie bietet M ITTMANN R ICHERT , Magnifikat. 234 G NILKA , Hymnus, S. 235-238. 235 Dem korrespondiert das Besuchen in v. 78 in dem zumindest grammatikalisch der Aufgang aus der Höhe das Subjekt ist. B OVON , Lukas, S. 96 übersetzt auch hier mit Gott als Subjekt. 236 TLev 4,4; 16,5; TJud 23,5; TAss 7,2. 237 So G NILKA , Hymnus, S. 235 mit Hinweis auf TSeb 7,3; 8,2. H OLLANDER / DE J ONGE , Commentary, S. 268 weisen noch auf Qumranparallelen hin, die von M ITTMAN - R ICHERT , Magnifikat, S. 75/ Anm 67 noch erheblich erweitert werden. Ihr Argument, <?page no="81"?> 75 auch engste Beziehungen zu den HAP zu finden 238 . So findet man Wendungen wie die Sendung des Erbarmens (σπλάγχνον) auf die Erde (ἐπὶ τῆς γῆς), und wo er (ὁ θεὸς) mitleidiges Erbarmen (σπλάγχνα ἐλέους) findet, dort wird er wohnen (κατοικεῖ). Die ganze Bandbreite der HAP-Motivik wird also abgedeckt 239 . Die Marginalien von k und d haben diese Passage folgerichtig als christologisch markiert 240 ; zumal direkt im Anschluss ein Bezug zu Joseph hergestellt wird, der gerade in TSeb als Typos Christi gezeichnet wird 241 . Eine weitere semantische Berührung ist die ἀνατολή, die stark an das aufgehende Heil in den TestXII erinnert 242 . Diese Rettung wird mit denselben Begriffen 243 beschrieben. In beiden Texten wird der Gottesname ὕψιστος gebraucht 244 . Ebenso ist ein positiver Begriff von γνῶσις sonst nicht typisch für Lk 245 - in den TestXII aber die Regel 246 . In der Summe sind die Überschneidungen zwischen diesem kurzen Liedtext und den vergleichsweise knappen HAP und LJ-Passagen so signifikant, dass man kaum von Zufall reden kann. damit sei Gnilkas These einer Beziehung vom Benediktus zu den TestXII widerlegt, kann mit den hier vorgebrachten weiteren philologischen und inhaltlichen Berührungen zurückgewiesen werden. Dass es Beziehungen auch der TestXII zu den qumranischen Vorstellungen gibt, ist damit nicht bestritten, vgl. dazu (etwas zu optimistisch) VAN DER W OUDE , Vorstellungen, passim. Gerade deshalb kann der Zusammenhang nicht als Entweder-Oder gesehen werden. Vielmehr zeigen Benedictus und TestXII eine praktisch identische Verarbeitung und Interpretation derselben qumranischen Traditionen. 238 B OVON , Lukas, S. 99 irrt, wenn er von „anthropologischer Verwendung“ spricht. 239 Das zeigt auch der Vergleich mit TNaph 4,5. Auch hier wird die „Inkarnation“ des Erbarmens als endzeitliche Zuwendung Gottes nach dem Gericht verheißen. Vgl. auch TLev 4,4, wo eschatologischer Besuch Gottes und Inkarnation des Erbarmens ebenfalls miteinander kombiniert werden, mit klar christologischer Pointe. 240 Vgl. DE J ONGE , Text, S. 98. 241 Siehe unten Kap 5.4, S. 145. 242 Ἀνατέλλειν ist in den Levi-Juda Passagen der terminus technicus für das Hervorgehen des Heilands aus den beiden Stämmen - in Lk 1,69 nur auf David bezogen. Das ist insofern interessant, weil der Sohn, um den es in dem Lied eigentlich geht, aus priesterlichem Hause stammt. Für die Verheißung des neuen Sterns in TLev 18 und TJud 24, vgl. Kap 3.1.1, S. 90ff, für die priesterlichen Reminiszenzen im Lk vgl. Kap 3.3.2, S. 107ff. 243 Als σωτηρία (Luk 1,69.71.77 - TLev 17,2; TDan 6,10; TNaph 8,2; TGad 4,7; 5,7; TBen 3,8; 11,2) neben diversen anderen Ableitungen der Wurzel - oder als λύτρωσις (Lk 1,68 - TSim 7,1; TLev 2,10; TSeb 9,8 und TJos 8,1; 18,2). 244 Lk 1,76 - in den TestXII über 25mal. 245 B OVON , Lukas, S. 108. 246 Hier wieder auffällig gerade die Passage TLev 18,3.5.9. Aber auch sonst: TRub 2,6; TLev 4,3, TGad 5,7; TBen 11,2. <?page no="82"?> 76 Hinzu kommen die inhaltlichen Übereinstimmungen: Beiden geht es um die Erfüllung von Verheißungen an die Vätern 247 . Daher ist auch bei beiden zuerst Israel Adressat des Heilshandelns Gottes 248 , das kontinuierlich gedacht wird. Das Hervorgehen „von unten“ aus David und das Aufstrahlen aus der Höhe wird nicht als Widerspruch gesehen 249 , genauso wenig wie die Verbindung eines endzeitlich-theophanen Motivs mit Aussagen über Mitleid und Niedrigkeit 250 . Dabei muss auch auf Unterschiede hingewiesen werden: Levi taucht im Lied selber nicht auf, der Kontext in eine priesterliche Rahmenhandlung ist lukanisch. Auch Juda wird nicht genannt, nur David. Die wichtige Wendung ὡς ἄνθρωπος taucht in dieser Form nicht auf. Im Ganzen lässt sich nicht nachweisen, dass eine literarische Abhängigkeit der Texte zueinander besteht. Zusammenfassend ist aber der Position Gnilkas zuzustimmen, dass das Benediktus judenchristlichen Kreisen entstamme, die „dem Milieu der Zwölf-Patriarchen-Testamente“ nahegestanden hätten. „Das zeigt sich vor allem in dem Anliegen, die neue christliche Lehre im Gewand der alten jüdischen Vorstellungen und Formen zu verkünden“ 251 . 2.3.4 Ignatius von Antiochien, Melito von Sardes Ignatius spricht in seinem Brief an die Epheser zweimal davon, dass Gott selbst Fleisch geworden 252 , beziehungsweise als Mensch 253 erschienen sei. Die erste Passage befindet sich im Rahmen einer hymnische Lobpreisung Christi als dem einen Arzt wider die als eine Art Tollwut beschriebene Krankheit der Irrlehre (7,1). Der Hymnus schildert Christus als eine Art Paradoxon. Zunächst stellt er Antithesen 254 einander gegenüber die „sowohl 247 Lk nennt den Schwur gegenüber Abraham (73) und die Verheißungen der Propheten (76). Die TestXII sind als Ganzes so ausgelegt, das Erscheinen Christi als Voraussage der Patriarchen darzustellen. Vgl. dazu auch Lk 1,55. 248 „Sein Volk“ in Lk 1,68.77 ist kaum anders zu verstehen, vgl. wieder Lk 1,54. Israel als Adressat des Heilshandelns wird in den TestXII zwar regelmäßig durch „die Völker“ ergänzt, steht aber in der Regel an erster Stelle. Vgl. dazu auch J ERVELL , Interpolator und unten: Kap. 4.4, S. 137. 249 Vgl. dazu TLev 18 und TJud 24. 250 Die Niedrigkeitsaussagen im Zusammenhang der Theophanie sind ja das eigentlich Anstößige. Vgl. dazu oben. 251 G NILKA , Hymnus, S. 237. 252 Ign Eph 7,2: ἐν σαρκὶ γενόμενος θεός. 253 Ign Eph 19,3: ἀνθρωπίνως. 254 Antithesen begegnen auch in Ign Pol 3,2. H ÜBNER , Der paradox Eine, nimmt dies zum Anlass, eine Abhängigkeit des Ignatius von einer Glaubensregel Noets zu vermuten, die er anhand von H IPPOLYTS refutatio rekonstruiert. Das ist ziemlich abenteuerlich. Richtig ist jedoch, dass es die Tradition antithetischer Gottesprädikation im frühen Christentum gab, die von Ignatius bis zu Noet und Melito reicht. Diese Anti- <?page no="83"?> 77 als auch / τε καὶ“ wahr sein sollen: sowohl fleischlich als auch pneumatisch / σάρκικος πνευματικός, sowohl geboren wie auch ungeworden / γεννητός ἀγέννητος. Dann löst Ignatius das Paradox durch eine leichte Verschiebung auf der Zeitlinie auf 255 , ohne die Spannung zu eliminieren: im Fleisch geborener Gott, im Tode das wahre Leben, sowohl aus Maria als auch aus Gott, erst leidend, dann leidensunfähig. Das Paradoxon besteht also zumindest teilweise gar nicht wirklich, weil es eine Bewegung gegeben hat vom göttlich-pneumatischen in das menschlich-fleischliche und wieder zurück in das unsterblich-leidensunfähige Leben 256 . Dass sich Ignatius hier an hellenistischen Paradigmen über das göttliche/ geistliche/ ungewordene/ leidensunfähige auf der einen und das menschliche/ fleischliche/ geborene/ leidende Dasein auf der anderen Seite abarbeitet, zeigt, dass er - ähnlich wie Joh 1 - hier durchaus ontologisch spekulatives Interesse hat 257 . Das Wunder besteht weniger in der Erfüllung alttestamentlicher 258 Verheißungen, als in der Überwindung kategorischer Grenzen. So steht bei den TestXII das Kommen, die Begleitung und die Nähe Gottes im Mittelpunkt. Bei Ignatius geht es dagegen um Gott und Mensch, Geist und Fleisch, oder - in moderner Terminologie - Transzendenz und Immanenz 259 . Dennoch ist erkennbar, dass die so verstandene Fleischwerdung Gottes bei Ignatius eine soteriologische Qualität hat. Das verbindet ihn mit den TestXII. thesen setzen aber - gegen Hübner - keineswegs eine entwickelte valentinianische Gnosis voraus. 255 Damit gibt es auch bei Ignatius dieses geschichtliche Motiv, auch wenn es praktisch ohne den Verweis auf die alttestamentlich jüdische Kategorie der Heilsgeschichte auskommt. 256 Dabei fehlt bei Ignatius die für die Gnosis typische Abwertung des Einen gegenüber dem Anderen. Im Gegenteil: In seiner Unfassbarkeit bliebe Gott den Menschen letztendlich fremd, hätte es keine Offenbarung in dieser Welt gegeben. Die theologia via negationis hat bei ihm nicht das letzte Wort. 257 Vgl. dazu auch IgnPol 3,2. Ignatius arbeitet sich an hellenistischen Gottesprädikationen ab, deren „negativer Charakter“ durchbrochen wird durch die positive Offenbarung. Mehr dazu bei P AULSEN , Ignatius, S. 110-122. 258 Ignatius' Verhältnis zum Alten Testament ist wohl als ambivalent zu bezeichnen. Vermutlich berufen sich seine Gegner aus IgnPhd 8,2 auf das Alte Testament, Ignatius beruft sich dagegen auf die Urkunden Kreuz, Tod und Auferstehung Jesu Christi. Ob die im Kontext der Auseinandersetzung mit jüdischen oder judaisierenden Gegnern (IgnMagn 8-10) gebrauchten Bilder der alten Fabeln (8,1) und des alten, bitteren Sauerteigs (10,2) ebenfalls auf alttestamentliche Traditionen zu beziehen sind, ist nicht sicher. 259 Ignatius als „Theologen der Einheit von Transzendenz und Immanenz“ zu bezeichnen, wie H AUSCHILD , Lehrbuch, S. 157 (und S. 6f ähnlich) es tut, steht in der Gefahr des Anachronismus'. <?page no="84"?> 78 Die zweite Perikope weist deutlichere Berührungen mit den TestXII auf: Mit dem Erscheinen in Menschengestalt vernichtet Gott alle Zauberei und schließlich den Tod. Das erinnert stark an die Vernichtung Beliars in den TestXII 260 . Ebenso lässt der Kontext dieses Abschnitts Bezüge zu Traditionen erkennen, die auch in den TestXII ihren Widerhall haben. So ist vom Aufstrahlen des Sternes die Rede (19,2), was an Num 24 erinnert, eine Prophetie, die auch in den TestXII zweimal aufgegriffen wird 261 . Die folgende Schilderung des Reigens, in denen die anderen Sterne und sogar Sonne und Mond diesem Stern huldigen, erinnert stark an den Traum Josephs (Gen 37,9). Der Traum wird in den TestXII zwar nicht ausdrücklich erwähnt, doch begegnet eine Joseph-Christus-Typologie an mehreren Stellen 262 . Bei all diesen Ähnlichkeiten muss aber auch die Differenz gesehen werden. Für Ignatius ist es eben nicht „Beliar“ der besiegt wird, dieser Name aus der jüdischen Apokalyptik taucht bei ihm nicht auf. Jesus Christus ist in seinen Briefen immer nur Sohn Davids 263 , von Levi keine Spur. In Bezug auf Wirken und Geschick Jesu ist er sehr auf Tod und Auferstehung fixiert 264 . So sehr an diesen beiden Stellen die Göttlichkeit von Jesus Christus behauptet wird, so sehr ist Ignatius sonst bemüht, seine wahre Menschlichkeit zu betonen. Dabei werden ebenfalls Formulierungen verwendet, die an die TestXII erinnern 265 . Doch die Ähnlichkeit der Formulierungen lässt vermuten, dass dazu auf traditionelles Gut zurückgegriffen wurde 266 , das uns in den TestXII womöglich in einer eigenen Prägung erhalten geblieben ist. Festzuhalten ist, dass Ignatius anders als die TestXII auch andere Inkarnationsvorstellungen verarbeitet und nicht durchgängig vom Erscheinen Gottes selbst spricht. Die Vorstellung ist bei ihm also präsent, aber keineswegs im Vordergrund. Leider ist die Überlieferung der Werke Melitos zu bruchstückhaft, als dass man sein theologisches Konzept ohne Weiteres rekonstruieren könnte. Vieles von dem, was von ihm erhalten ist und was über das Verlorene bekannt ist, belegt ähnliche Vorstellungen. Er wird nicht zu Unrecht in eine 260 Eine Verknüpfung mit dem Erscheinen gleich einem Menschen und der Vernichtung der Feinde findet sich auch in TAss 7,3. 261 TJud 24 und TLev 18. 262 Den Versuch einer Zusammenstellung wage ich unten, Kapitel Josephstypologie, S. 145ff. 263 IgnEph 20,2 u.ö. 264 Vgl. dazu P AULSEN , Ignatius, passim. Der Tod Jesu spielt auch in Ignatius' Martyriumssehnsucht eine entscheidende Rolle: Nur im Tod glaubt er wirklich, als Christi Nachahmer erfunden zu werden (IgnRöm 6,3 u.ö.), vgl. P AULSEN , Ignatius, S. 180- 187. 265 IgnTrall 9,1 und auch IgnSmy 3,3 beteuern z.B. das Essen und Trinken. 266 So spricht IgnEph 7,2 vom Mensch gewordenen Gott, 19,3 von Gott der als Mensch erscheint. Beides sind hymnische Passagen, in denen I GNATIUS offenbar Traditionen verarbeitet. <?page no="85"?> 79 Reihe mit Ignatius und Ireneäus gestellt 267 , die eine antidoketische, später antignostische Frontstellung 268 verbindet. So fehlt uns die Schrift ΠΕΡΙ ΕΝΣΩΜΑΤΟΥ ΘΕΟΥ, doch allein ihr Titel zeigt bis hinein in die Wortwahl 269 eine Nähe zu den TestXII. Dahinter steckt ein theologisches Konzept. In der einzig vollständig erhaltenen Schrift Peri Pascha zeigt sich Melitos heilsgeschichtliches Programm, in dem durch typologische Auslegung des Alten Testaments, speziell des Passah-Ereignisses im Blick auf Kreuzigung, Tod und Auferstehung Jesu, die Identität Gottes mit Christus so weit ausgesagt wird, dass am Ende der Spitzensatz steht: „φύσει θεὸς καὶ ἄνθρωπος“ 270 . Physis ist hier nicht im Sinne des späteren christologischen Naturenbegriffs gemeint, sondern eher als Bekräftigung 271 . Das heißt, Melito kommt es nicht auf die ontologische Reflexion, sondern auf die heilsgeschichtlich Pointe an. Dies ist eine weitere Berührung mit den TestXII 272 . Melito expliziert die Inkarnation ein weiteres Mal in § 66. Auch wenn hier Gott nicht das eigentliche Subjekt ist, ist das Erscheinen auf der Erde als Mensch doch nahe an den Vorstellungen, die in den TestXII begegnen. Sogar die als theopaschitisch verdächtigte Passage in TLev 4,1 hat eine Parallele in Peri Pascha 96: Auch hier wird im Kontext des Todes Jesu, und ausdrücklich bei Verweis auf die kosmischen Erscheinungen wie z. B. das Erdbeben, vom Mord an Gott gesprochen „ὁ θεὸς πεφόνευται“. Hier muss man allerdings soweit differenzieren, als dass in dem hymnischen Kontext der Gottesbegriff nur eine von verschiedenen Attributen des Christus ist, die Melito in einer Reihe von Antithesen aufbaut, um die Spannung zwischen göttlicher Natur und irdischem Leid möglichst kontrastreich aufzubauen. Es darf auch nicht verschwiegen werden, dass direkt auf diesen eigentlich nicht steigerbaren Satz nur noch eine Zeile folgt: Der König Israels wird durch Israels Rechte 273 zum Tode verurteilt. Entsprechend folgt eine Passage gegen Israel im §99. 2.3.5 Modalistischer Monarchianismus (Noet, Praxeas) Dass Gott selbst auf der Erde erschienen sei, dass daher nur im übertragenen Sinne von verschiedenen Personen bei Vater und Sohn gesprochen werden könne, dass Gott selbst leidet oder zumindest mit-leidet, ist eine Position des 267 G RILLMEIER , Jesus S. 207. Bis zur literarischen Abhängigkeit gehen die Vermutungen von H ÜBNER , Der paradox Eine. 268 G RILLMEIER , Jesus. S. 209. 269 Während in der Folge von Joh 1,14 und der Logoslehre der Apologeten die Begriffe λόγος und σάρξ dominieren, begegnen hier θεός und σῶμα - wie auch in TSim 6,7. 270 Peri Pascha §8. 271 Wie bei Ignatius das ἀληθῶς, vgl. G RILLMEIER , Jesus, S. 212. 272 TSim 7,2 formuliert nahezu identisch. 273 Im Sinne von der rechten Hand. Wird hier nur die Elite angesprochen? Oder begegnet hier schon eine Vorversion des Vorwurfs der Gottesmörder? <?page no="86"?> 80 sogenannten modalistischen Monarchianismus 274 . Sie ist uns nur aus ihren Widerlegungen bekannt, und damit fehlen uns weitgehend die Originalquellen 275 . Für die Auseinandersetzung am Übergang zwischen dem zweiten und dritten Jahrhundert sind auf der Seite der Monarchianer die Namen Noët und Praxeas, auf der Seite der Bestreiter „Hippolyt“ 276 und Tertullian 277 zu nennen 278 . In der älteren Literatur findet man häufiger den Hinweis, dass die TestXII theopaschitischen Häresien nahegestanden hätten 279 . Nun gibt es in ihnen genau eine einzige Stelle, die wortwörtlich vom Leiden des Höchsten spricht 280 . Ansonsten geht es in den TestXII in auffälliger Weise gerade nicht 274 Dazu nach Angabe der einschlägigen Lehrbücher (H AUSCHILD , Lehrbuch; G RILLMEI- ER , Jesus) immer noch maßgeblich: H ARNACK , Monarchianismus, v.a. S. 324-332 - vgl. dazu aber neuerdings die deutlich positivere Sicht bei H ÜBNER , Der paradoxe Eine. 275 Immerhin kann man ihre Wurzeln - wie im Kapitel oben getan - bei der „theologia Christi“ eines Melito oder Ignatius oder auch Irenäus sehen. Deren Texte liegen uns vor. Nicht zuletzt wäre zu fragen, ob nicht die TestXII einen solchen Originaltext darstellen (zumindest H ARNACK , Monarchianismus, S. 324 führt sie an) - aber das hieße den Ergebnissen vorzugreifen. 276 Von „Hippolyt“ sind gleich zwei Schriften überliefert, die gegen diese von ihm als Häresie gebrandmarkte Theologie Position beziehen: zunächst die unter dem Namen „Contra Noëtum“ bekannte Schrift, als auch die Refutatio omnium haeresium (vor allem die Kapitel 9,7,1 und 10,27,1). In der neueren Forschung ist die Frage nach der Autorenschaft der Werke unter dem Namen „Hippolyt“ stark umstritten. Nach neueren Vermutungen gibt es mindestens zwei Hippolyte, wobei die Refutatio auf H IPPO- LYT VON R OM , Contra Noëtum auf einen kleinasiatischen Namensvetter zurückgeht, der einige Jahrzehnte früher anzusetzen ist. Vgl. dazu die Einleitung S IEBEN s zu T ER- TULLIAN , Praxeas, S. 72, Anm. 133. Dabei ist aber die Echtheit von Contra Noëtum insgesamt umstritten: H ÜBNER , Der paradox Eine, S. 3-8.39, rechnet mit einem pseudepigraphen Werk des vierten Jhdts, in das möglicherweise Originalfragmente eingearbeitet wurden. 277 Hier vor allem seine Schrift Adversus Praxean. Über die Historizität von Praxeas gibt es einigen wissenschaftlichen Streit. Ist der Name nur ein Pseudonym? Insgesamt sind alle Vorschläge für historische Personen hinter „Praxeas“ ziemlich spekulativ. Das einzig greifbare Indiz ist das Schweigen „Hippolyts“. Diese argumenta e silentio gelten jedoch zu Recht als eher schwach. Relativ gute Argumente auf der Textebene haben die Versuche, eine literarische Abhängigkeit der Streitschrift Adversus Praxean von Contra Noëtum zu beweisen. Doch bleiben die Ergebnisse unsicher (vgl. dazu meine Anmerkung auf S. 81). Dennoch ist zumindest damit zu rechnen, dass nicht alle „Gegner“-Positionen aus Adv Prax wirklich einem historischen Praxeas zuzuschreiben sind. Vgl. dazu nochmals die Einleitung von S IEBEN zu T ERTULLIAN , Adversus Praxean, S. 27-52.72-78. 278 Daneben werden noch Schüler genannt, so E PIGONUS und K LEOMEDES (vgl. H IPPPO- LYT , haer, 9,7,1), später wird Sabellius noch ein einflussreicher Kirchenlehrer, der seinen modalistischen Monarchianismus aber schon erheblich modifiziert. 279 So z.B. H ARNACK , Monarchianismus, S. 325. 280 TestLev 4,1: „ἐπὶ τῷ πάθει τοῦ ὑψίστου“ siehe dazu auch unten, Kapitel 5.2, S. 140. <?page no="87"?> 81 um das Leiden und Sterben von Jesus Christus, sondern um sein Erscheinen auf der Welt und sein Mit-Leben und Mit-Wandern mit den Menschen. Doch womöglich wurden auch die sogenannten Theopaschiten oder „patripassiani“ von ihren antihäretischen Widerlegern allzusehr auf den Aspekt des Leidens und Sterbens reduziert, weil dort der Schwachpunkt ihrer monarchianisch-modalistischen Theologie gesehen wurde 281 . Wenn Gott selbst als Mensch erschien, bestand der Skandal 282 vor allem in seinem Leiden und Sterben 283 . Die Fixierung auf diese Thematik sagt also womöglich mehr über „Hippolyt“ und Tertullian aus als über Praxeas und Noët. Dazu ist die Aussage B ERGERS 284 zu berücksichtigen, dass die Position der Häretiker naturgemäß schon mal „älter“ sei als die ihrer Widerlegung. Dies gilt natürlich auch für Praxeas und Noët 285 . Damit stellt sich die Frage: Sind die TestXII von Häretikern wie Noët oder Praxeas beeinflusst? Oder ist es womöglich umgekehrt? Kann man nicht am ehesten vermuten, dass beide aus den gleichen Traditionen schöpfen, die stärker die Einheit von Gott und Jesus Christus betonen und das Erdenleben des Jesus von Nazareth als eine Epiphanie Gottes in Niedrigkeit und Menschlichkeit begreifen wollen? In der Tat scheinen auch Noët und Praxeas nicht allein vom Leiden Gottes gesprochen zu haben, wenn ihre Position (fast wortgleich 286 ) so wiedergegeben wird: „ἔφη τὸν Χριστὸν αὐτὸν εἶναι τὸν Πατέρα, καὶ αὐτὸν τὸν Πατέρα γεγεννῆσθαι καὶ πεπονθέναι καὶ ἀποτεθνηκέναι.“ H IPPOLYT , Contra Noetum 1,2 281 Contra Noet 1,2; 2,3.7; 3,2 usw. Adv Prax 1,1.5; 2,1; 10,8; 16,6f u.ö. 282 1Kor 1,23. 283 Vgl. dazu die jüdisch-hellenistische Position P HILOS oben, Kap. 2.2.5, S. 61f. 284 Theologiegeschichte, S. 6 u.ö. 285 Vgl. bezüglich der Frage, wer eigentlich der Neuerer war, Tertullian oder Praxeas, die Position H ÜBNERS , Der paradox Eine, S. 30 u. 237. 286 Diese und andere Übereinstimmungen haben die Befürworter einer literarischen Abhängigkeit Tertullians von Hippolyt auf den Plan gerufen. Schon H ARNACK , Monarchianismus, S. 326 erwähnt Lipsius. Für die aktuellere Diskussion sei einmal mehr auf die gelehrte Einleitung von S IEBEN zu T ERTULLIAN , Praxean verwiesen (S. 72ff). Ich halte die Argumente letztlich nicht für beweiskräftig. Es nähme doch Wunder, dass zum Beispiel eine Stelle wie Bar 3.38, die in Contra Noetum 5 ausführlich diskutiert wird, in Praxeas 16,3 nur gestreift wird. Derlei Argumente ließen sich mehrere hinzufügen, was die Auswahl und Reihenfolge der zu diskutierenden biblischen Texte betrifft. In jedem Falle wäre die „Benutzung“ der Quelle so kreativ und frei, dass auch ein traditionsgeschichtlicher Zusammenhang denkbar, ja sogar als wahrscheinlicher anzunehmen wäre. Bislang wenig Anhänger findet die These u. a. H ÜBNERS , Der paradox Eine, S.VIII, Contra Noetum in das vierte Jahrundert zu datieren. <?page no="88"?> 82 „Ipsum dicit patrem descendisse in virginem, ipsum ex ea natum, ipsum passum, denique ipsum esse Iesum Christum“ T ERTULLIAN , Adversus Praxean 1,1 Hier ist also erkennbar der ganze Prozess der Menschwerdung im Blick, nicht allein das Leiden und Sterben, auch wenn Hippolyt und Tertullian sich argumentativ genau darauf konzentrieren. Wo genau sind also diese Positionen zu verorten? Es geht darum, einerseits die für das hellenistische Judentum unverzichtbare Einheit Gottes 287 beizubehalten 288 , dabei aber anders als sogenannte „judenchristliche“ Positionen keine Abstriche bei Jesu Göttlichkeit zu machen 289 . Gegen hellenistisch motivierten Doketismus wird auf der anderen Seite Front bezogen, in dem Gottes ganz und gar menschliches Erscheinen betont wird. Der von den Apologeten beschrittene Weg, durch hypostatische Präsenzformen Gottes - namentlich ihrer Logoschristologie - das Dilemma zu lösen, wurde abgelehnt, weil es die Einheit Gottes gefährde 290 . Auch die TestXII verwenden nirgendwo im Zusammenhang mit inkarnatorischen Themen den Begriff Logos, nicht einmal der Begriff „Sohn“ wird von ihnen verwandt 291 . Das zeigt eine deutliche inhaltliche Nähe zu 287 Dieses wichtige Thema des hellenistischen Judentums wurde vom Christentum praktisch nahtlos übernommen, vgl. Jak 2,19: Das Bekenntnis zum „Einen Gott“ wird als christliches Glaubensbekenntnis wiedergegeben, und ist als solches nicht defizitär, es muss nur durch Werke umgesetzt werden. Zum Monarchianismus als prägende Glaubensrichtung des frühen Christentums vgl. auch H ÜBNER , Der paradox Eine, 207-238. 288 Auf die „Monarchia“ scheint großer Wert gelegt worden zu sein, vgl. Praxeas 3,2 u.ö. 289 Der sognannte „dynamistische Monarchianismus“ z.B. im Rahmen von Prophetenchristologie - wie sie in der muslimischen Interpretation des Jesus-Geschehens fortlebt, vgl. C OLPE , Siegel, passim. Es ist aber anzumerken, dass Theodot, 'der Schumacher', als einzig namentlicher Vertreter des Adoptianismus kein Judenchrist war (vgl. H AUSCHILD , Lehrbuch, S. 13f.). Die Engelchristologie, die auch gern im Rahmen eines „judenchristlichen“ Subordinatianismus abgehandelt wird (vgl. z. B. H AU- SCHILD , Lehrbuch, S. 8), ist nicht immer im Sinne eines Subordinatianismus' zu verstehen, vgl. oben Kap.2.2.3. 290 Der Vorwurf, die Rede von einem Sohn/ Logos als einem „Anderen“ (alius/ ἕτερος) würde aus einem Gott mehrere machen, wird in beiden Schriften intensiv rezipiert: Noët 2,5; 5,1; 11,1.3. Prax. 3,1.6; 8,1ff; 9,1-3 usw. Wegen der Nähe zu gnostischen Emanationslehren wird offenbar sogar der Vorwurf des Valentinianismus' erhoben, vgl. die o.g. Stellen. 291 Das Begriffspaar „Vater“ und „Sohn“ wird von Praxeas und Noet aufgrund des biblischen Zeugnisses natürlich eingeräumt, jedoch setzen sie zwischen beiden ein Gleichheitszeichen. Es sei Gottes Wundermacht zuzutrauen, sich selbst als seinen eigenen Sohn zu zeugen. Dies bringt ihnen natürlich den Spott des glänzenden Rhetorikers Tertullian ein (Prax. 10,1-9). <?page no="89"?> 83 Noët und Praxeas, für die der Begriff „Sohn“ nur metaphorisch für die inkarnierte Menschlichkeit des einen Gottes galt, und die Logoslehre abgelehnt wurde, weil sie entweder zu einem Ditheismus führte oder die Göttlichkeit Jesu Christi einschränkte 292 . Da verwandte Traditionen bei Ignatius, Melito und eingeschränkt auch bei Irenäus 293 zu finden sind und auch Praxeas nach Auskunft Tertullians aus Asien kommt, nehmen wir eine judenchristliche Position aus dem Asien Ende des zweiten oder zu Beginn des dritten Jahrhunderts an. Dass der Modalismus der kleinasiatischen Gemeindefrömmigkeit entsprach, kann man auch den einschlägigen Dogmengeschichten 294 entnehmen. Man sollte sich allerdings hüten, der Rhetorik Tertullians 295 auf den Leim zu gehen und diese „Gemeindefrömmigkeit“ als primitiv und unreflektiert abzutun 296 . Es ist festzuhalten, dass sich eine regelrechte monarchianische Schule bildete mit Lehrern und deren Schülern. Auch gibt sich der modalistiche Monarchianismus durchaus schriftkundig 297 . Keineswegs findet er nur in den populären und zum Teil trivialen Apostelakten seinen schriftlichen Niederschlag. Das Judenchristentum hielt sich vor allem in Kleinasien bis zum Aufkommen des Islam 298 . Das Zeitfenster ist deshalb relativ groß, weil der Modalismus zwar in Rom und Karthago bekämpft wurde, aber seine Ideen „gut zweihundert Jahre lang für die Kirche ein strittiges Thema“ waren 299 . 2.4 Theologisches Fazit: Rettung durch Erscheinen und Mit-Leben Welche Erkenntnis wurde gewonnen? Dass die TestXII einem modalischen Monarchianismus nahe stehen, hat man schon im vorletzten Jahrhundert gesehen. Geradezu aufregend sind dagegen die nachweisbaren Bezüge speziell zu den hymnischen Passagen quer durch die frühchristliche Literatur 292 Noet 3,1 nennt sogar den Namen Theodet, einen Vertreter des dynamistischen Monarchianismus'. 293 Haer 20,8: impassibilis passibilis. 294 Z.B. Hauschild, Lehrbuch, S. 13f. 295 Er schildert sie als „simplices“, „imprudentes“ und „idiotae“ (Prax 3,1). 296 Dieser Gefahr entgeht auch H ARNACK , Monarchianismus, S. 325, nicht, wenn er lediglich einräumt, es habe neben der Masse der unreflektiert glaubenden („Es mag zutreffen, daß diese modalistischen Monarchianer zum größten Theile theologische „Idioten“ waren“) ein paar wissenschaftliche Gewährsmänner gegeben. Reste dieser Haltung lassen sich in den o.g. Dogmengeschichten bis heute nachweisen. 297 Sowohl Hippolyt wie Tertullian arbeiten sich regelrecht an den von den Monarchianischen Gegnern beigebrachten Schriftzitaten ab. Vgl. dazu auch die Einleitung S IE- BENS zu T ERTULLIAN , Adversus Praxean, S. 37f. 298 Vgl. dazu C OLPE , Siegel. 299 H AUSCHILD , Lehrbuch, S. 13. <?page no="90"?> 84 von Paulus über Ignatius bis zu Lukas. Diese vor-schriftlichen Zeugnisse einer aus dem Lobpreis erwachsenen Christologie judenchristlicher Gemeinden des frühen ersten Jahrhunderts wirken in den TestXII spürbar nach. Hier gibt es ein Traditionskontinuum über die Generationen hinweg 300 , das nicht zwingend der Schriftform bedurfte, wenn die Lieder ihren festen Sitz im Leben der Gemeinde hatten. Gerade die doppelt-synchrone Exegese bringt einen Erkenntnisfortschritt: Solange die christlichen Passagen als Interpolationen galten, die mehr oder minder willenlos in den Text geworfen wurden und ihren „Kon- Text“ entstellten und verderbten, waren sie theologisch nicht ernst zu nehmen. Sie waren lediglich ein Beleg für eine modalistische „Gemeindefrömmigkeit“, die immer noch den Anruch fehlender Reflexion und theologischer Wertigkeit hatte. Wir konnten nun zeigen, dass sie sehr wohl in ihrem Kontext ihren Sinn entfalten, dass sie ein in sich konsistentes Konzept von „Monarchia“ und „Oikonomia“ vertreten, in dem die „Oikonomia“ eben nicht auf ontologische Spekulation einer gegliederten Einheit, sondern konsequent als Heilsgeschichte aufgefasst wird. Gerade die „Monarchia“ im Gottesbild bedeutet auch die Einheit der Heilsgeschichte. Man beachte, dass auch die Gegner der Monarchianer, wie z. B. Tertullian, ganze Durchgänge durch die Heilsgeschichte bieten, in denen alle Mitteilungen Gottes an sein Volk dem Logos zugeschrieben werden. Damit bleiben sie zwar noch ausdrücklich auf Distanz zu dem Versuch Markions, die alttestamentliche Heilsgeschichte einem vom liebenden Vater Jesu Christi unterschiedenen Demiurgen zuzuschreiben. Dennoch findet so etwas wie eine „Enteignung“ der atl. Tradition statt: Es war Jesus Christus, der die Welt mit schuf, es war Jesus Christus, der Mose im Dornbusch erschien und es war Jesus Christus, den die Propheten schauten. Der Gott Israels bleibt in der fernen Transzendenz, unbewegt, mitleidlos und unsichtbar. Und es scheint so, als ob damit, dass der Gott Israels selber alles Konkrete an seinen Logos abgibt, auch das konkrete Israel praktisch überflüssig wird. Es hat noch seine Funktion als Abbild Jesu Christi 301 oder der Kirche als Gottesvolk - die konkreten Juden werden fast nur noch als Gegner wahrgenommen 302 . Demgegenüber sind die monarchianischen Passagen in denTestXII nicht zufällig in einen jüdischen Kontext geraten. Das „ipsum“, das „αὐτόν“, das den Monarchianern so am Herzen liegt, steht für heilsgeschichtliche Kontinuität: Es ist ein und derselbe Gott, der in seiner Menschwerdung seine 300 Genauso ließe sich die Linie auch rückwärts verfolgen, zu den Liedern Hannahs und Mirjams, zu den Psalmen und den hymnischen Qumrantexten. Zur Kontinuität hymnisch vermittelter Frömmigkeit vgl. auch B ERGER , Psalmen, S. 8f. 301 Vgl. dazu nur „H IPPLOLYTS “ Auslegung zu Bar 3,38 in Noët 5. 302 Vgl. T ERTULLIAN , Adversus Judaeos. H IPPOLYT , Demonstratio adversus Judaeos. <?page no="91"?> 85 Verheißungen an seinem Volk erfüllt. Das Heil findet genauso wenig zufällig in dem Landstrich zwischen Jordan und Mittelmeer statt, wie die christlichen Passagen in eine Schrift der jüdischen Patriarchen geraten sind. Dass dabei auch Aussagen über Gottes Leiden getroffen werden, wird nicht als Problem wahrgenommen. Zu sehr sind die Testamente - schon auf jüdischer Ebene gelesen - ein Zeugnis „hebräischen“ Denkens eines leidenschaftlichen Gottes, vor allem eines mitleidenden Gottes. Die „Gegner“- Position zu Hippolyt und Praxeas entspricht hier auch der „Gegner“- Position zu Philo von Alexandrien: Würde man aus den TestXII alles Mitleid herausnehmen, es bliebe einfach nichts übrig außer einer moralinsauren Abhandlung ohne jede Seele 303 . Theologisch interessant sind diese Passagen aber nicht nur vom christologischen Standpunkt aus wegen ihrer modalistisch/ theopaschitischen Tendenz. Auch ihre soteriologische Konzeption ist eine originelle Variante im Vergleich zu sonst bekannten und gerade im Westen sehr weit verbreiteten Entwürfen in der frühen Christenheit, denn die Rettung Israels und der Heiden ereignet sich nicht bei Tod oder Erhöhung Jesu, sondern bereits in seinem Kommen, seinem Erscheinen auf der Erde 304 . Dieses „Retten-durch- Erscheinen“-Motiv wird in aller Regel noch der jüdischen Grundschrift zugewiesen und ist in jüdischen Quellen auch durchaus nachweisbar 305 . Doch hat der christliche Redaktor/ Interpolator gerade hier eingegriffen und dieses Motiv selbst stehen gelassen anstatt einen Verweis auf Jesu Tod einzufügen. Der soteriologische Aspekt wird somit ganz und gar darauf konzentriert, dass Gott als Mensch erschien, ja sogar mit den Menschen gegessen und getrunken 306 hat. Dabei wird jedoch nicht auf irgendeine mirakulöse Geburt angespielt 307 , sondern auf das Erscheinen selbst. Das Leiden und Sterben spielt in dieser Konzeption zwar als die Vollendung des Menschseins eine Rolle 308 , doch Passagen, die sich auf den Tod Jesu beziehen, sind sehr viel stärker an der Schuldfrage interessiert 309 als an der Soteriologie. Das punktuelle, ingressive Element eines rettenden Erscheinens wird in den TestXII aber - in Anlehnung an die Bundesverheißungen einer Gegen- 303 Vgl. dazu unten die Rolle des Mitleids gerade auch in den paränetischen Texten (dazu unten S. 170f.). 304 Liturgisch ausgedrückt wäre weder Karfreitag noch Weihnachten, sondern Epiphanias das Fest, an dem wir unsere Erlösung feierten. 305 Vgl. oben zum Tag JHWHs Kap 2.2.1 S. 47. 306 TSim 6,5-7; TAss 7,2-3. 307 Das unterscheidet sie von dem Kontext, in den Lk die Lieder Magnificat und Benedictus gesetzt hat. Die Lieder selber hingegen weisen keine Bezüge zu einem Geburtswunder auf. 308 Ähnlich wie in Phil 2. 309 TLev 14, 1-3; 16,2-4 - zum Thema „Unschuldspassagen“ siehe unten S. 119ff. <?page no="92"?> 86 wart Gottes bei seinem Volk - erweitert und ausgebaut. Es ist von einem Mitwandern und einem Mitwohnen Gottes die Rede, wobei Letzteres sogar den Klang des häuslichen Niederlassens hat - ohne das ein Bezug zu einem Haus im Sinne von Tempel oder Heiligtum hergestellt wird. Die Nähe Gottes wird nicht kultisch vermittelt, sie ist ohnehin keine Bewegung der Menschen zu Gott, sondern eine Bewegung Gottes zu und mit den Menschen - in aller Niedrigkeit, Demut und Bescheidenheit, aus Liebe und Mitleid. Diese Mit-Menschlichkeit Gottes in jeder Hinsicht des Wortes zeichnet die heilsbringende Qualität des göttlichen Erscheinens unter den Menschen aus. Eine ganz ähnliche Vorstellung begegnet uns bei Irenäus, der in seiner Interpretation der ἀνακεφαλαίωσις / recapitulatio aus Eph 1,10 auch eher einen Prozess als ein punktuelles Ereignis vor Augen hat 310 . Am schönsten wird das vielleicht an der Passage in Haer II 22,4b deutlich: „Er ist nämlich gekommen, um alle durch sich zu retten; alle heißt, die durch ihn zu Gott wiedergeboren werden, Säuglinge, kleine Kinder, Knaben, junge Männer und reife Männer. So durchlebte er jede Altersstufe, und indem er unter den Säuglingen ein Säugling wurde, heiligte er die Säuglinge; indem er unter den kleinen Kindern ein kleines Kind wurde, heiligte er die Menschen in diesem Alter und wurde ihnen zugleich ein Vorbild 311 von Frömmigkeit, Gerechtigkeit und Gehorsam; als junger Mann unter den jungen Männern ein Vorbild und heiligte sie für den Herrn, und genauso als reifer Mann unter reifen Männern, um ihnen in jeder Hinsicht ein idealer Lehrer zu sein, nicht nur in der Entfaltung der Wahrheit, sondern auch, was sein Alter betraf, indem er auch die reifen Männer heiligte und auch ihnen ein Vorbild wurde. Danach ging er in den Tod, um als ‚Erstgeborener aus den Toten in allem den Vorrang zu haben, der Anführer des Lebens als erster von allen und allen voran. 312 ‘“ 310 z.B.: Epid 30f; 97; Haer II 6,2; 10,2; 14,7 u.ö. 311 Die Übersetzung von exemplum mit Vorbild scheint mir etwas zu schwach. Hier geht es wohl nicht nur um eine Vorbildfunktion, sondern auch um eine Art Stellvertretung im Rahmen von Irenäus' Urbild/ Abbild-Theologie. In den TestXII wird diese Vorbildfunktion durch Josef ausgefüllt, der gleichzeitig ein Typos für Christus ist, vgl. unten: Kap 6.2 S. 162ff. 312 Übersetzung von Norbert B ROX , Haereses. <?page no="93"?> 87 3 Die Levi-Juda Passagen Anders als bei den Hos-Anthropos-Perikopen sind die Levi-Juda-Passagen schon intensiv in der Forschung diskutiert worden. Das liegt daran, dass sie von Marinus de Jonge als Argument für eine christliche Gesamtredaktion der TestXII vorgebracht wurden 1 . In der Tat weisen viele LJ-Passagen Merkmale auf, die eine christliche Interpretation nahelegen. Dennoch wollen wir uns hier - wie oben angekündigt - nicht in die Diskussion um Redaktion oder Interpolation einmischen, sondern strikt bei dem Versuch bleiben, die Passagen theologisch auszuwerten. Dazu werden wir uns erneut auf genau jene Passagen konzentrieren, die am stärksten für Interpolationen oder redaktionelle Elemente der christlichen Schreiber gehalten wurden, und werden versuchen, diese in ihrem jüdischen wie christlichen Kontext zu würdigen. Da die TestXII erkennbar die biblischen Traditionen 2 über die einzelnen Stämme als Grundlage ihrer Charakterisierung der einzelnen Patriarchen wählen, nimmt es nicht Wunder, dass Juda als Repräsentant des Königtums und Levi als Repräsentant des Priestertums auftritt. Dabei fällt auf, dass diese Stämme auch in den Abschiedsreden der anderen Patriarchen regelmäßig hervorgehoben werden und ihnen dabei eine entscheidende Rolle für das künftige Heil zugewiesen wird. Es handelt sich um eine genealogisch verankerte Priester-Königliche Heilsvorstellung, die zum Teil unpersönlich, möglicherweise auf ein Dreamteam eines idealen Königs plus eines idealen Priesters oder auf eine einzelne Retterfigur aus beiden Stämmen und zum Teil sogar auf Gott selbst zielt. 3.1 Struktur und Fundstellen Die Levi-Juda Passagen sind verschieden strukturiert. Häufig gibt es Voraussagen über eine Rebellion der anderen Stämme gegen Levi und Juda 3 . Einige davon münden in eine Hervorhebung von Levi und Juda, weil aus ihnen das Heil oder der Heiland hervorgehe 4 . Beides kann aber auch unabhängig von 1 Erstmals in Testaments, 1953. 2 Vor allem Gen 49 und Dtn 33. Sicher ist aber auch, dass auch nachbiblisches Material verwandt wurde, wie ArLev, Jub und hebNaph zeigen. 3 TRub 6,5-7.8.10-12; TSim 5,4-6; TJud 21,1-6a; TIss 5,7-8a; TDan 5,4 sowie als Vision in TNaph 5-6. 4 TSim 7,1-2; TLev 2,11; TDan 5,10; TNaph 8,2; TGad 8,1; TJos 19,6. <?page no="94"?> 88 einander vorkommen 5 . Für uns maßgeblich ist die Gruppe der Heilsworte, die allesamt christlicher Überarbeitung verdächtigt werden 6 . Diese Ankündigungen sind oft sehr kurz, dass es nur heißt: καὶ ἀνατελεῖ ὑμῖν ἐκ τῆς φυλῆς Ἰουδὰ καὶ Λευὶ τὸ σωτήριον κυρίου: (TDan 5,10a 7 ) Mehr als diese drei Glieder braucht eine klassische Heilszusage aus Levi und Juda nicht. 1. Eine Beschreibung des Auftretens, in der Regel ἀνατέλλειν 8 . Im theologischen Gebrauch 9 steht das Verbum bzw. das Nomen ἀνατολή (z. B. in der LXX) für einen Spross im Sinne eines Nachkommens (Sach 3,8; 6,12) oder auch für den Aufgang eines Sterns 10 . Beide Bedeutungen werden in der christlichen Literatur übernommen 11 . Die engste Berührung mit den TestXII hat dabei Heb 7,14: ἐξ Ἰούδα ἀνατέταλκεν ὁ κύριος ἡμῶν - bezeichnenderweise gerade in Abweisung jeglicher genealogischpriesterlicher Vorstellungen in Bezug auf Jesus Christus. 2. Der Verweis auf die beiden Stämme: Dies kann einfach durch die bloßen Namen 12 oder durch die Bezeichnung Stamm (φυλή) 13 erfolgen. Aber 5 H OLLANDER / DE J ONGE , Commentary, S. 57. 6 H OLLANDER / DE J ONGE , ebd. 7 B ECKER , Testamente, S. 95 bzw. Untersuchungen, S. 354, hält den ganzen Satz für eine christliche Interpolation. Dagegen optieren H ULTGÅRD , Eschatologie I, S. 293 und U LRICHSEN , Grundschrift, S. 104, für ein Fragment einer jüdischen LJ-Redaktion. H OLLANDER / DE J ONGE , Commentary, S. 53, schließlich halten TDan 5,4a-5.6 für eine SER-Passage, zu der 10-13 eine „saviour“-Passage mit einer J.L. Formel darstellt, die Teil der christlichen Gesamtredaktion des Werkes sei. Auch hier haben wir auf tkr Ebene den Beleg, dass als Marginalie (kdc) und im Text (hij) auf den christlichen Charakter der Passage hingewiesen wurde. Sonst ist höchstens fraglich, ob Juda nachträglich eingetragen wurde; offenbar ist in lchij nur von Levi die Rede. Das ist inhaltlich aber nicht so entscheidend, da gerade für die christliche Interpretation die behauptete Abstammung von Levi weit spannender ist, als die allseits bekannte judäische. Sollte es sich bei Juda um einen Nachtrag aus christlicher Zeit handeln, verwunderte dies wenig - jedoch wäre dann bemerkenswert, dass Levi dabei nicht entfernt wurde. 8 Nur TLev 2,11 verwendet ein anderes Verb (ὀφθῆναι). 9 Dass es auch ganz profan für Sonnenaufgang etc. gebraucht werden kann, steht außer Frage, vgl. dazu auch THWNT z. St. 10 Num 24,16 - dazu unten noch mehr S. 93f. 11 2. Pet 1,19; IgnMg 9,1; OdSal 7,15 u. 15,10. 12 TSim 7,2; TLev 2,11; TNaph 8,2; TGad 8,1; TJos 19,6. <?page no="95"?> 89 nicht nur da, wo der Stamm oder das Geschlecht explizit genannt werden, ist damit zu rechnen, dass eine genealogische, keine typologische Abkunft gemeint ist. Die Doppelung aus Levi und Juda ist auffällig, weil derartige Verheißungen üblicherweise nur einen der Stämme treffen. Das bewusste Nebeneinander ist in jedem Falle interpretationswürdig. Es wird auch nichts über die Art der Abkunft oder Genealogie gesagt (etwa dass der Vater von dem einen oder die Mutter von dem anderen Stamm komme o.ä.), noch ist erkennbar, dass eine uns bekannte judäo-levitische Figur oder Dynastie in der jüdischen Geschichte gemeint sein könnte 14 . 3. Der Hinweis auf das Heil (σωτήριον) 15 , den Heiland(σωτὴρ) 16 oder einer Figur, die rettet (σῴζειν) 17 . Bis in die Terminologie hinein hat die Zukunft der Stämme Levi und Juda also eine soteriologische Dimension. Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, was die eigentliche Aussage dieser Passagen ist: Geht es wirklich um eine Ermahnung der Leser, Levi und Juda nicht gering zu achten, oder geht es mehr um diese Heilsaussage. Diese Frage betrifft auch die Abfassungssituation: Befinden sich Judäer und/ oder Leviten in Bedrängnis 18 oder ist ein Heiland als judäisch und levitisch zu erweisen 19 ? Das muss vor allem deshalb offen bleiben, weil es kaum eine nähere Bestimmung gibt, worin dieses Heil besteht. Prinzipiell ist von staatlicher Restauration Israels bis zum privaten Seelenheil alles denkbar. Ebenso unklar bleibt das Unglück oder die Krise, aus der die Rettung erfolgen soll. Ist es mehr die Exilssituation, die eher metaphysische Gefahr durch Beliar und seine Geister oder die Bedrohung des persönlichen Seelenheils durch Schuld und Sünde? In unserer Beispielperikope TDan 5,10 wird im Kontext alles erwähnt, eine Rückkehr zum Heiligtum in TDan 5,9 und ein siegreicher Krieg gegen Beliar TDan 5,10bf und schließlich die Hinwendung der Herzen zum Herrn in TDan 5,11 - während TDan 5,13 wieder die Rückkehr in den Blick nimmt 20 . 13 TSim 7,1; TDan 5,10. 14 Die Interpretationen reichen von pro-hasmonäischen (wegen derer Personalunion von König und Priester) bis zu antihasmonäischen Kreisen (weil deren Genealogie keine judäischen Vorfahren aufweist), z.B. H ULTGÅRD , Eschatologie I, S. 58-77. Auch die These de Jonges, mit den LJ-Passagen sei von Anfang an Christus gemeint gewesen, steht angesichts der Parallelen in Jub und dem Fehlen einer levitischen Genealogie für Jesus auf nicht all zu sicheren Füßen. 15 TSim 7,1; TDan 5,10; TNaph 8,2. 16 TGad 8,1 - vgl. Epigr.Graec. 978. 17 TLev 2,11; TJos 19,6. 18 Dies spiegelt die Diskussionen um mögliche (anti-)hasmonäische Tendenzen der LJ- Redaktion wieder. 19 Das wäre dann die Position de Jonges, der eine christliche LJ-Redaktion annimmt. 20 Zu den literarkritischen Lösungsversuchen dieser mehrschichtigen Logik, vgl. U L- RICHSEN , Grundschrift, S. 103-107. Bei ihm wird das für diesen Text prägende Inein- <?page no="96"?> 90 Zu den LJ Passagen sind aber auch TLev 18 und TJud 24 zu zählen, die den Interpolationstheoretikern Rätsel aufgeben 21 . Sie haben nicht die Struktur einer kurzen Heilszusage und bestehen anders als die typischen Levi- Juda-Passagen - nicht nur aus ein oder zwei eingeworfenen Sätzen. Vielmehr wirken sie wie die ausformulierte Langfassung dessen, was diese vereinzelten Passagen eigentlich über Levi und Juda sagen wollen. Sie sind daher textimmanent für die Interpretation dieser kurzen Passagen unerlässlich. 3.1.1 TLev 18 und TJud 24 Die inhaltlichen Schlusskapitel 22 von TLev und TJud nehmen in ihren jeweiligen Testamenten eine Schlüsselstellung ein. Jeder Leser der TestXII, der die zum Teil sehr knappen Heilsweissagungen aus den LJ-Passagen gelesen hat 23 , fragt sich unwillkürlich: Was sagen Levi und Juda selber dazu? Es finden sich praktisch keine LJ-Stücke in den betreffenden Testamenten, bestenfalls TLev 2,11 und TJud 21,5; 25,1 sind mit ihnen verwandt. In TLev 2,11 ist es aber bezeichnenderweise nicht Levi selbst der spricht, sondern ein Engel redet zu ihm im Traum. TJud 25,1ff ist eine Auferstehungspassage, die in den unmittelbaren Kontext von TJud 24 gehört, denn auch die Parallelstelle in TLev 18 hat einen ähnlichen Ausblick am Schluss. Bliebe also nur TJud 21,1-22,3. Hier haben wir eine längere Zukunftsprophetie über das Königtum Judas, dass er in 21,1-5 dem Priestertum Levis unterordnet. Doch ist gerade hier nicht vom Heil die Rede, dass aus beiden Stämmen hervorgehen soll. Die Heilsweissagung in 22,2 ist dagegen ohne jeden genealogischen Bezug zu Levi oder Juda. Für den Leser bleibt also die Frage: Äußern sich die Stammväter in ihren Testamenten noch einmal selber über das Heil, das aus ihrer Nachkommenschaft erwachsen soll? Dieser Erwartung wird in den inhaltlichen Schlusskapiteln entsprochen. Beide geben noch einen Ausblick auf die Zukunft und auf die eine messianiandergreifen von Heilsgeschichte Israels, himmlisch apokalyptischer Szenerie und erbaulicher Ermahung in einzelne Redaktions- und Interpolationsschichten aufgelöst. Diese Vermischung der Ebenen könnte aber gerade die Intention des Textes und seiner Verfasser sein. 21 Die Texte gelten heute meist als ganz christlich (so z.B. U LRICHSEN , Grundschrift, S. 174; 204f, bei Becker immerhin TJud 24), aber es gibt durchaus die verschiedensten Hypothesen, vgl. z.B. für TLev 18 B ECKER , Untersuchungen, 291ff, H ULTGÅRD , Eschatologie I, S. 270ff. Da textkritisch nichts zu retten ist, weil auch der armenische Text eine offensichtlich gekürzte Fassung bietet (so richtig B ECKER , Testamente, S. 26), bleibt literarkritische Ratlosigkeit. 22 In TLev folgt mit TLev 19 tatsächlich nur noch der Bericht von Tod und Bestattung des Patriarchen. In TJud 25 wird noch eine kurze Auferstehungspassage von fünf Versen geboten, bevor auch dieses Testament mit TJud 26 den Abschluss findet. 23 Dies ergibt sich jedenfalls in einer synchronen Lesart. Wer die Stücke schon sämtlich als Textverderbnisse ausscheidet, dem stellt sich diese Frage gar nicht, vgl. U LRICHSEN Grundschrift, S. 324f. <?page no="97"?> 91 sche Gestalt, die ihnen nachfolgen 24 wird. Diese Kapitel sind deshalb auf die Levi-Juda Passagen bezogen zu denken 25 . Redaktionskritisch argumentiert sind sie Teil der LJ-Redaktion 26 . Die text 27 - und literarkritischen Hypothesen lassen sich in ihrer Fülle kaum darstellen. Vor allem in TLev 18 versuchen sie einen jüdischen Kern zu ermitteln 28 . In der Tat könnte TLev 18 als Vorlage für TJud 24 fungiert haben 29 . Gerade weil TJud kompakter und durchgängig christlich wirkt, während TLev durch mehrere Bearbeitungsstufen gewachsen zu sein scheint, wirkt die These plausibel. Doch trifft auf diese Argumentation das grundsätzliche Problem der Literarkritik zu: Es sind im Kern sehr unscharfe Kriterien, wenn es darum geht, was einheitlich wirkt, welche Teile zueinander passen, usw. Der Vorwurf, hier spiele das individuelle Geschmacksurteil des Exegeten eine zu wesentliche Rolle, ist bei aller sorgfältigen Gelehrsamkeit, mit der Halbverse auseinandergepult werden, nicht von der Hand zu weisen. Genauso plausibel ist eine gleichzeitige Entstehung beider Kapitel, in der jeweils jüdisches Levi- und Juda-Material verarbeitet wurde. Letzteres kommt uns durch die christliche Wirkungsgeschichte weit bekannter vor, während das Levi-Material fremd und im christlichen Kontext ungewohnt wirkt. Dass die TestXII Levi-Material verarbeiteten, das uns nur fragmentarisch erhalten ist, daran besteht kein Zweifel 30 , auch wenn es unmöglich ist, mit 24 In TJud ausdrücklich in genealogischer Hinsicht; in TLev 18 findet sich zumindest kein Hinweis darauf, dass der „neue Priester“ nicht aus seinem Stamm erwachsen soll - vgl. Anm unten. 25 H ULTGÅRD Eschatologie I, S. 293-296, expliziert deutlich die Beziehungen zwischen TDan 5 und TLev 18. 26 Auch die exponierte Schlussstellung lässt die Vermutung zu, dass hier eine redaktionelle Zufügung „den Sack zubindet“. Interessanterweise behandeln H OLLANDER / DE J ONGE , Commentary, diese Texte nicht in ihrem Kapitel über LJ-Passagen. Indes bleibt die LJwie die SER-Redaktion eine schwer zu beweisende Hypothese. 27 Die Textkritik bietet keine Chance, ein jüdisches Original zu rekonstruieren. Dass MS e in TLev 18,7 die Worte ἐν τῷ ὕδατι auslässt, bildet da keine Ausnahme (gegen H ULTGÅRD , Eschatologie, S. 115). Denn gerade MS e fügt im selben Kapitel umfangreich jüdisches Material ein. Die Tendenz zu einer Rejudaisierung ist nicht zu übersehen. Zudem steht e hier gegen alle anderen Zeugen und kann schon aus äußeren Kriterien nicht als jüdische Originallesart in Anspruch genommen werden. Die üblichen Marginalien weisen auch das ganze Kapitel als προφητεία περὶ χριστοῦ aus. Noch deutlicher fällt das Ergebnis in TJud 24 aus: Die Textvarianten sind inhaltlich deckungsgleich und geben nicht den geringsten Anlass zu Spekulationen über irgendwelche Grundschriften. 28 B ECKER , Untersuchungen, S. 291-300, H ULTGÅRD Eschatologie I, S. 268-290; anders U LRICHSEN , Grundschrift, S. 204f. 29 B ECKER , Untersuchungen, S. 321. 30 Enge Beziehungen z.B. von 4Q541 speziell zu TLev 18 weist Z IMMERMANN , Texte, S. 247-277 nach. Eine direkte literarische Abhängigkeit hält er für möglich, aber „nicht zwingend“ (S. 271). S CHWEMER , Studien, 242f. hält den Text dagegen für eine Elia- Tradition und betont de Beziehungen zu Mal 3. Zu anderem aramäischen Levi- <?page no="98"?> 92 dem vorhandenen Material die Vorgeschichte dieses Textes von seinem jüdischen Traditionsmaterial bis zu seiner christlichen Endgestalt samt möglicher Zwischenstufen sicher zu rekonstruieren. Es ist doch bemerkenswert, dass diese Einarbeitung jüdischen Levi-Materials in eine christliche Prophetie über Jesus Christus stattfand. Wenn man von der Vorstelluung einer gedankenlosen Interpolation wegkommt und eine intensive Bearbeitung annimmt, muss man folgerichtig zur Kenntnis nehmen, dass die jüdische Tradition eines levitischen Messias den christlichen Bearbeitern offensichtlich wichtig war 31 . Inhaltlich argumentiert, wird man sie als Explikation dessen verstehen müssen, was in den LJ-Passagen nur fragmentarisch angedeutet wird 32 . Sie sind erkennbar parallel konstruiert 33 : TLev 18 TJud 24 (3.) Καὶ ἀνατελεῖ ἄστρον αὐτοῦ ἐν οὐρανῷ, ὡς βασιλεύς, φωτίζων φῶς γνώσεως ἐν ἡλίῳ ἡμέρας· καὶ μεγαλυνθήσεται ἐν τῇ οἰκουμένῃ, ἕως ἀναλήψεως αὐτοῦ. (1.) Καὶ μετὰ ταῦτα ἀνατελεῖ ὑμῖν ἄστρον ἐξ Ἰακὼβ ἐν εἰρήνῃ, καὶ ἀναστήσεται ἄνθρωπος ἐκ τοῦ σπέρματός μου, Material vgl. DE J ONGE , Levi in Aramaic und Testament Levi sowie die Zusammenfassung in H OLLANDER / DE J ONGE , Commentary, S. 16-25. 31 Dies ist eine entscheidende Schwäche der Interpolationstheorie. Waren die Interpolatoren zu dumm oder zu faul, die jüdischen Levi-Traditionen zu entfernen? Haben sie nur mangels theologischen Reflexionsvermögens die levitische Messianologie auf Jesus umgedeutet? Es gebietet schon die jedem Exegeten aufgetragene Loyalität zum Text, dass man derlei Vermutungen nur als ultima ratio anstellt. Vermutet man dagegen eine theologische Absicht, dann ist es kein Zufall mehr, dass ausgerechnet die TestXII uns levitische Messianologie jüdischer Provenienz erhalten haben. 32 Ich halte es deshalb auch für müßig darüber zu spekulieren, ob das Fehlen eines ausdrücklichen genealogischen Hinweises in TLev 18 daraufhin zu interpretieren sei, dass der angekündigte neue Priester wohl aus einem anderen Stamm komme. Dies versucht DE J ONGE , Pseudepigrapha, S. 140 mit Rückgriff auf einen Hinweis auf J. Tromp zu erklären: „The priest expected to introduce a new era would not be son of Levi“. Diese Aussage steht im diametralen Gegensatz zu allem, was sonst in den TestXII gesagt wird. Der Kontext des TLev und der LJ-Passagen lassen m. E. keinen anderen Schluss zu, als dass auch der neue Priester Levit ist. Jede andere Abstammung hätte eines expliziten Hinweises bedurft, nur die von Levi nicht. Insofern ist das argumentum e silentio nur in eine Richtung wirksam (dabei ist weder de Jonges Argument, noch dessen Widerlegung wirklich neu, vgl. auch B ECKER , Untersuchungen, S. 297, A1). 33 Diese Beobachtung findet sich durchgängig in der Literatur, vgl. B ECKER Testamente z.St., H OLLANDER / DE J ONGE , Commentary z.St. - H ULTGÅRD , Eschatologie I S. 291 bietet sogar eine kleine Synopse. <?page no="99"?> 93 (4.) Οὗτος ἀναλάμψει ὡς ὁ ἥλιος ἐν τῇ γῇ καὶ ἐξαρεῖ πᾶν σκότος ἐκ τῆς ὑπ’ οὐρανόν,καὶ ἔσται εἰρήνη ἐν πάσῃ τῇ γῇ. (5.) Οἱ οὐρανοὶ ἀγαλλιάσονται ἐν ταῖς ἡμέραις αὐτοῦ, καὶ ἡ γῆ χαρίσεται, καὶ αἱ νεφέλαι εὐφρανθήσονται, καὶ ἡ γνῶσις Κυρίου χυθήσεται ἐπὶ τῆς γῆς, ὡς ὕδωρ θαλασσῶν· καὶ οἱ ἄγγελοι τῆς δόξης τοῦ προσώπου Κυρίου χαρίσονται ἐν αὐτῷ. ὡς ὁ ἥλιος τῆς δικαιοσύνης, συμπορευόμενος τοῖς υἱοῖς τῶν ἀνθρώπων ἐν πρᾳότητι καὶ δικαιοσύνῃ, καὶ πᾶσα ἁμαρτία οὐχ εὑρεθήσεται ἐν αὐτῷ. (6.) Οἱ οὐρανοὶ ἀνοιγήσονται, καὶ ἐκ τοῦ ναοῦ τῆς δόξης ἥξει ἐπ’ αὐτὸν ἁγίασμα μετὰ φωνῆς πατρικῆς ὡς ἀπὸ Ἀβραὰμ πατρὸς Ἰσαάκ. (2.) Καὶ ἀνοιγήσονται ἐπ’ αὐτὸν οἱ οὐρανοὶ ἐκχέαι πνεύματος εὐλογίαν πατρὸς ἁγίου· (7.) Καὶ δόξα ὑψίστου ἐπ’ αὐτὸν ῥηθήσεται, καὶ πνεῦμα συνέσεως καὶ ἁγιασμοῦ καταπαύσει ἐπ’ αὐτὸν ἐν τῷ ὕδατι. καὶ αὐτὸς ἐκχεεῖ πνεῦμα χάριτος ἐφ’ ὑμᾶς Die Parallelen werden deutlich, wenn man die Texte nebeneinander stellt. Es tauchen nicht nur dieselben Schlüsselbegriffe auf, sie begegnen auch in derselben Reihenfolge: Beide nehmen Bezug auf die Thematik eines aufgehenden 34 Sterns 35 , bei der vor allem TJud ausdrücklich Num 24,17 zitiert. Diese Passage ist nicht nur - womöglich schon seit Mt 2,2 36 - von christlichen Autoren als eine 34 gr.: ἀνατέλλειν - genau das Verbum, das auch typisch für die LJ-Passagen ist! 35 TLev 18,3 und TJud 24,1 verwenden wie Num 24,17LXX den Begriff ἄστρον, während Mt 2,2 und IgnEph 19,2 von ἀστήρ sprechen. 36 H OLTMANN , Magier, bezweifelt dies (S. 238). Er würde in diesem Fall ein reguläres „Erfüllungszitat“ erwarten. Mt beziehe sich allein auf Mi 5,1 und 2. Sam 5,2 (S. 224), Num 24,17 habe bestenfalls im Hintergrund eine Rolle gespielt. Anders praktisch alle Kommentare zu Mt. C HARLESWORTH , Schrift des Sem (S. 15-18), vermutet neuerdings auch einen realen judenchristlich-astrologischen Hintergrund. <?page no="100"?> 94 Weissagung auf Jesus Christus hin verstanden worden 37 . Auch jüdische Interpreten haben daran ihre messianischen Hoffnungen angeknüpft 38 . Ebenfalls parallel gebraucht wird das Bild der Sonne 39 , das wiederum in TJud stärker pointiert auf das aus Mal 3,20 40 entlehnte Motiv der Sonne der Gerechtigkeit 41 bezogen wird. Weitere verbindende Stichworte sind Frieden, Gericht, Geist, Vater, Söhne und Wahrheit. Eine weitere wichtige Parallele stellt das Motiv des offenen Himmels dar 42 . Dies wird als deutliche Anspielung auf die Berichte über die Taufe Jesu aufgefasst 43 . Allerdings ist dies Motiv bei der Bedeutung der angekündigten Mittlerfigur zwischen Gott und Menschen nicht wirklich überraschend 44 , und daher auch vor dem Hintergrund der jüdischen Traditionen gut vorstellbar. Inhaltlich ist festzuhalten, dass beide Kapitel zwar nur den Nachfolger aus ihrem eigenen Stamm vor Augen haben - von einer Doppelabkunft ist nicht die Rede - dennoch sind priesterkönigliche Traditionen mit Händen zu greifen. In TLev 18 heißt es bezüglich des Sterns, der über dem eschatologischen Priester aufgeht, dass er königlich sei 45 . TJud 24 gibt dem König aus Juda typisch priesterliche Attribute 46 . So wird ihm der Segen des Geistes 47 37 IgnEph 19,2; I RENÄUS , Dem 58; Haer III,9,2; J USTIN Apol. I,32,12; Dial 106,4; 126,1. Eine Verknüpfung mit Mt 2,2 bietet O RIGENES : Cels I,59. Wörtlich zitiert (gemäß TLG) auch später bei G REGOR VON N YSSA , Testimonia Adversus Iudaeos 46,205 und A THANASIUS , De Incarnatione Verbi, 33,4. Vgl. auch H OLTMANN , Magier, S. 226-237. 38 Z. B. in den Qumranschriften: 1QM 11,6f; CD 7, 18-21; 4QTest 9-13, aber auch Bar „Kochba“ scheint diese Weissagung für sich in Anspruch genommen zu haben, vgl. die Bemerkung im Jerusalemer Talmud (jTaan 4,8/ 68d) und bei E USEB (H.E.IV,6,2). 39 TLev 18,3; TJud 24,1. 40 Mal 3,20-24 mündet am Ende in eine Theophanie. Die TestXII sehen keinen Widerspruch zwischen einer Levi-Juda Messianologie und dem Erscheinen Gottes selbst. 41 Christlich in Bezug auf Jesus bei H IPPOLYT , Antichr. 61; O RIGENES Cels. VI 79 u.ö. 42 Dazu maßgeblich immer noch die Aufsätze von L ENTZEN -D EIS , Himmelsöffnung, und S EGAL , Ascent. 43 Mk 1,10parr. Vgl. DE J ONGE , Commentary z.St.; B ECKER , Testamente z. St. - anders H ULTGÅRD , Eschatologie, S. 115, der noch eine jüdische Grundform rekonstruiert. 44 Das Motiv des offenen Himmels spielt auch in jüdischen Texten eine prominente Rolle. Wenn es einen messianischen Priester gibt, der alles dagewesene übertrifft, dann kann ihm auch zugetraut werden, die Grenze zwischen Himmel und Erde durchlässig zu machen. Vgl. nochmals die vielen Belege bei L ENTZEN -D EIS , Himmelsöffnung, und S EGAL , Ascent. 45 In der Sache königliche Attribute finden sich in den Levi-Passagen der TestXII auffällig oft, vgl. unten, S.100, Anm . 46 Das ist nicht neu, Tendenzen, dem davidischen König auch priesterliche Aufgaben zuzutrauen, finden sich z.B. auch in Ps 40. 47 πνεύματος εὐλογίαν (v. 2). Die Parallele in Mal 3,10 LXX steht im priesterlichen Kontext der Verzehntung. <?page no="101"?> 95 zugesprochen und auch die Gebote Gottes 48 sind ihm zugeordnet. Hier wird also eine Entwicklung innerhalb der jüdischen messianischen Tradition 49 zu einem Ende geführt: Die Erwartungen an den königlichen oder priesterlichen Messias werden einander so ähnlich, dass sie schließlich in eins fallen. In der Endgestalt der jeweiligen Abschlusskapitel von TJud und TLev ist also zu erkennen, dass in der eschatologischen Zukunft nicht mehr zwei, sondern eine Gestalt erwartet wird. 3.2 Jüdische Tradition 3.2.1 König aus Juda Mit der Dynastie der Davididen (oder zumindest im verklärenden Rückblick darauf) entstand die Hoffnung auf eine ewig währende Regentschaft des Hauses David aus dem Stamme Juda. Es ist für die Zeit der Abfassung der TestXII unerheblich, wie die alttestamentliche Wissenschaft entscheidet, ob textgeschichtlich am Anfang dieses theologischen Topos die Nathansverheißung 50 , der Jakobssegen 51 oder nicht doch der 110. Psalm stehen - ganz zu schweigen von einer breiten Bezeugung in den Prophetenbüchern 52 . In jedem Fall ist diese Vorstellung breit bezeugt, und hat - wie man nicht zuletzt an der neutestamentlichen Wirkungsgeschichte 53 erkennen kann - ein hohes Maß an Relevanz und Akzeptanz im jüdischen Denken zu hellenistischrömischer Zeit gehabt. Beispiele auch außerbiblischer Literatur lassen sich viele beibringen, von Geschichtsschreibern wie Josephus über das Buch der Jubiläen bis zu den Qumranschriften und Pseudepigraphen 54 . Einen historischen Anhaltspunkt für die Hoffnung auf einen judäischen Messias, der als Realpolitiker Israels Größe wiederherstellt, finden wir im zeitlichen Umfeld der TestXII nicht. Seit Serubbabel 55 , der die in ihn gesetzten Hoffnungen offenbar maßlos enttäuschte, blieb der Thron Davids verwaist. Der Spross Davids ist also in diesem historischen Kontext ein theologi- 48 Der Begriff πρόσταγμα wird dafür mehrfach in der LXX verwendet, z.B. Lev 26,3; 1. Kön 8,61 und Ez 11,20. Man beachte, dass auch 1. Kön 8,61, wo von Salomo die Rede ist, im Tempel angesiedelt ist und damit einen durchaus priesterlichen Kontext hat. 49 Die sei in den beiden folgenden Kapiteln skizziert. 50 2.Sam 7. 51 Gen 49,8-12. 52 Hos 3,5; Am 9,11; Jes 9,1-6; 11,1-16; 55,3; Jer 23,5-8; 30,9; 33,14-26 (mit Levi! ) Ez 34,23-31; 37,15-28; Sach 12,1ff u.ö. 53 Die Hinweise auf die Davidssohnschaft Jesu sind praktisch ubiquitär. Siehe dazu unten S. 105ff. 54 Insofern die PsSal nicht als christliche gelten, sind sie - schon von ihrem Oeuvre her als Schriften des Davidssohnes Salomon - vornehmster Ausweis jüdischer Gottessohnvorstellungen, inhaltlich dann konkret v.a. In PsSal 17 u. 18. 55 Hag 1,12ff; 2,20ff; Sach 4,6ff. <?page no="102"?> 96 scher Topos, ein Herrscher der eschatologischen Heilszeit. Die konkreten Herrscher in Israel haben versagt. Die Hoffnung ruht allein wieder auf Gott, der einen neuen Spross aus David direkt erwecken soll. Von daher ist es leicht zu erklären, dass am ehesten Bezüge zu jenen Verheißungen zu entdecken sind, die das Hervorbrechen von etwas Neuem aus Totgeglaubtem thematisieren oder das Aufgehen des Heils aus dem Dunkel der Nacht. Die starke Bezugnahme auf Num 24,17 oder Jes 11 muss daher nicht christlichen Einflüssen geschuldet sein. Als Beleg dafür kann der starke Niederschlag gelten, den beide Texte in messianischen Passagen der Qumranschriften 56 gefunden haben. Jüdisch interpretiert ist es also ganz natürlich, dass der Retter gemäß den Verheißungen aus Juda kommt. Auffällig ist die starke Betonung, dass stets von einem Retter, einer Rettung, einem rettenden Erscheinen die Rede ist. Dabei ist wohl nicht im Sinne späterer Frömmigkeit von einem Heiland zum persönlichen Seelenheil die Rede, sondern man hat eher einen Retter nach dem Format der Richterzeit im Blick, der mit übernatürlicher Kraft das Volk eint und die Feinde zerschmettert. Diese können dann ganz konkret, aber auch spirituell aufgefasst werden 57 . Im Ziel kann es nur ein Friedensreich 58 sein, das aufgerichtet wird. Diese Hoffnung ist nicht untypisch für das Judentum aus römisch-hellenistischer Zeit 59 , wobei auffällig ist, dass in den entsprechenden Kontexten der Retter in der Regel Gott selbst ist. In Bezug auf Menschen, und seien es Könige oder gar David selbst, wurde diese Begrifflichkeit gemieden 60 . Das Motiv des Rettens rückt also die LJ-Passagen in die Nähe der oben besprochenen HAP. Obwohl es so scheint, als bestünde zwischen dem wundersamen Erscheinen Gottes selbst in der Endzeit und einem ganz genealogisch auf natürlichem Wege gezeugten Retter aus den Stämmen Levi und Juda ein Widerspruch, ist dies vor dem jüdischen Horizont der TestXII kein Problem. Wirklich retten kann nur Gott selbst. Dazu wird er gleich einem Menschen aus dem Volk seiner Erwählung, aus den 56 Neben dem genannten CD 8,19 vgl. auch 4Q174; 4Q285 u.ö. weiteres bei Zimmermann, Qumran, S. 512 u. 515. 57 Vergleiche nur TRub 6,12: Der König stirbt in sichtbaren und unsichtbaren Kriegen für sein Volk. Konkrete Feinde werden sonst allerdings selten genannt. Weit häufiger sind Beliar und seine unreinen Geister diejenigen, die es zu überwinden gilt. Vgl. dazu unten Kap. 5.6, S. 152ff. 58 Jes 11, vgl. TJud 24. 59 J UNG , , S. 177-261, gibt einen Überblick über den Gebrauch des Begriffes in der LXX und im hellenistischen Judentum. Leider fehlt in seiner Monographie der Blick auf die Verwendung des Verbums σώζειν und damit auch eine Würdigung der TestXII. 60 J UNG , , S. 238 - allerdings bildet Josephus eine Ausnahme: Er verwendet den Begriff völlig unbefangen auch für selbsternannte oder von ihrem Volk anerkannte heidnische Soteres. <?page no="103"?> 97 Stämmen seiner Verheißungen hervorbrechen wie ein Reis aus einem toten Stumpf, aufsteigen gleich einem Stern in tiefster Dunkelheit. Dennoch haben die TestXII natürlich auch eine eigene Stimme im Konzert jüdischer Messiaserwartungen an den Stamm Juda. Der dabei interessanteste Aspekt, dass Juda diese herausragende Stelle mit Levi teilen muss, wird uns unten noch gesondert beschäftigen. Auch das Motiv des Erscheinens von Gott selbst wurde oben schon erwähnt. Anzumerken ist daher nur noch das eigentümliche Sterben Judas „für uns“ in sichtbaren und unsichtbaren Kriegen, dass es dafür keine jüdische Parallele gibt 61 , ist so nicht richtig. Denn es gibt viele jüdische Helden, die für die gute Sache ihr Leben eingesetzt haben, von Simson 62 angefangen bis zu Eleazar 63 , den Bruder des Judas Makkabäus. Vor allem in den jüdischen und später christlichen Märtyrerberichten begegnen vergleichbare Traditionen 64 . Dennoch es bliebe es eine Besonderheit der Patriarchentestamente, wenn auf jüdischer Ebene schon von einem Märtyrer-Messias die Rede wäre. 3.2.2 Priester aus Levi Die Verheißung des Priestertums an den Stamm Levi ist längst nicht so breit bezeugt, wie die davidische Thronverheißung. Ein wenig täuscht deren enorme christliche Wirkungsgeschichte über die Realitäten in den Texten hinweg. Immerhin ist auch Levi 65 bzw. seinem aaronitischen Nachkommen Pinchas in Num 25,12f ein ewiger Bund für alle seine Nachkommen verheißen, ein Friedensbund 66 , auf den man in den Psalmen 67 , bei Sirach 68 , Josephus 69 , Philo 70 und den Makkabäern 71 ausdrücklich Bezug nimmt. Die Geschichte von Pinchas ist auch im Neuen Testament noch geläufig 72 , allerdings wird sie theologisch mehr vom Verbot der Unzucht und des Götzenopfers her eingebracht 73 . Eine messianische Hoffnung, die sich auf den 61 Behauptet jedenfalls B ECKER , Untersuchungen, S. 201f. 62 Ri 16,23f. 63 JosAnt XXII 9,4. 64 Siehe dazu unten Kap 5.7, S. 154ff. 65 Von einem namentlichen Bund mit Levi ist z.B. in Mal 2,4f.8 die Rede. 66 Man beachte die terminologische Nähe zu Jes 11. 67 Ps 108 (105LXX). 68 Sir 45,23ff. 69 JosAnt IV,6,12 70 VitMos 301-306 u.ö. 71 1.Makk 2,26.54. 72 1.Kor 10,8; Apk 2,14. 73 Dass 1.Kor und Apk zu diesem Thema trotz Bezug auf dieselbe atl. Grundlage ganz unterschiedliche Positionen beziehen, ja womöglich mit dem Bileam aus Apg 2 der Paulus des 1.Kor gemeint sein könnte, sei nur am Rande angemerkt. <?page no="104"?> 98 Stamm Levi oder die Nachkommenschaft Aarons richtet, findet sich dementsprechend auch in den Qumranschriften 74 und dem Jubiläenbuch 75 . Anders als in der Davidsverheißung hat es offenbar aus der priesterlichen Linie heraus etliche Personen gegeben, die solche Hoffnungen weckten oder sogar bewusst für sich in Anspruch nahmen 76 . Neben den genannten Makkabäern ist noch der Hohepriester Josua aus dem Sacharjabuch zu nennen oder der Hohepriester Simeon aus Sir 50. Zusätzlich zu diesen namentlich bekannten Personen sind noch Trägerkreise des Großteils der Qumranliteratur und die des Jubiläenbuches mit hoher Wahrscheinlichkeit dem priesterlichen Stand zuzurechnen - oder zumindest Sympathisanten hierokratischer Konzepte. Ein wichtiges Detail ist noch die häufig anzutreffende Unterscheidung von Priestern und Leviten, die in den TestXII keinerlei Rolle spielt. Dies ist nur auf den ersten Blick verwunderlich, denn sowohl von der fiktiven Abfassungszeit, der Patriarchenzeit, ist so eine Unterscheidung anachronistisch - wie auch in der tatsächlichen Abfassungssituation, bei der wir davon ausgehen können, dass der Tempel, und damit die verschiedenen Dienste am Heiligtum, so nicht mehr existierten 77 . Doch die unterschiedlichen Priestergeschlechter mit ihren je spezifischen Aufgaben spielen für die TestXII keine Rolle, denn in ihrer Genealogie ist Levi der Stammvater Aarons 78 , Zadoks und aller „Leviten“ gleichermaßen. Dennoch hätten Levis Visionen natürlich auch einem konkreten Priestergeschlecht der Nachwelt einen besonderen Vorzug geben können. Vielleicht haben die TestXII im Rahmen der vielen priesterlichen Konzeptionen gerade da ihre ganz eigene Stimme. Anders als in anderen Quellen findet keine Engführung auf Mose, Aaron, Zadok oder Pinchas statt. Das genealogische Interesse bleibt ganz bei Levi, ohne dass sich eine bestimmte Sippe der Priesterschaft nun besonders berufen fühlen könnte. Damit ist wahrscheinlich, dass trotz der vielen historischen Vorbilder die TestXII keine konkrete historische Figur vor Augen haben, so dass sich die Hoffnungen wie bei Juda auf die Zukunft richten. Diese Zukunft ist auch davon bestimmt, dass das Priestertum ein Ende haben wird bei Erfüllung der Verheißungen durch das Erscheinen Gottes 79 . Das muss nicht christlich sein, denn in Gen 49, das eine Art Vorlage für die TestXII bildet, ist auch eine 74 Vgl. Z IMMERMANN , Messias, S. 23-45 und 230-311. 75 Jub 31,13-17; 32,1 u. ö. 76 Auch B ERGER , Jubiläen, S. 299, schließt sich der Meinung H ULTGÅRDS und M EYERS an, dass sich die Voraussagen zu Levi auf die Gegenwart, die zu Juda aber auf die Zukunft beziehen. 77 Dies ist jedenfalls bei synchroner Lesart der TestXII mit Blick auf die Passagen, die die Tempelzerstörung ankündigen, fest anzunehmen. 78 Ex 6,16-25 u.ö. 79 TRub 6,8; TLev 2,11; 4,4; 18 u.ö. - vgl. auch das oben zu den HAP Gesagte. <?page no="105"?> 99 Limitierung der Verheißung an Juda vorhanden 80 . Und in Mal 2,1-9 können die Nachkommen Gottes Bund mit Levi verderben. Interessant ist auch, dass TLev gewissermaßen zwischen Jub und Sir anzusiedeln ist, was die Interpretation des Eifers 81 betrifft. Obwohl dieser Eifer in allen drei Varianten die Grundlage für den Bund mit Levi ist 82 , finden sich auch deutliche Unterschiede. Während Sir 45 die mörderische Komponente des Eifers ganz ausblendet und ihn zu einer hellenistischen Tugend macht, wird die Gewalt bei Jub 30f ganz deutlich bejaht und gegen Gen ausdrücklich als Wille Gottes gerechtfertigt. TLev 6f nimmt also eine Mittelstellung ein, weil zwar einerseits von Schuld und Sünde im Zusammenhang dieses Mordes gesprochen wird, andererseits aber auch weit mehr Entschuldigendes 83 vorgebracht wird als in der Genesisvorlage 84 . Eine weitere Auffälligkeit ist, dass die besonderen Aufgaben der Priesterschaft Levis zum Teil außerordentlich von dem abweichen, was man erwarten würde. Obwohl auch der Opferdienst genannt wird 85 , treten Aufgaben der Lehre und Unterweisung 86 sowie des Segnens 87 stark in den Vordergrund. Liturgische Elemente werden sogar umgedeutet 88 , so dass die Insignien der Priesterschaft zu Metaphern für Tugenden von Gerechtigkeit, Einsicht, Wahrheit, Glauben und dergleichen werden 89 . Eine ganz ähnliche 80 Gen 49,10b. Hier ist auch von den Völkern die Rede. Das in den TestXII stets wiederkehrende Völkerheil muss also nicht christlich sein - gegen J ERVELL , Interpolator, passim. 81 Konkret in der Geschichte um die Rache für die Schändung Dinas: TLev 6f im Vergleich zu Gen 34. 82 Das ist zwar gegen die Vorlage in Gen 49, findet sich aber in Num 25. 83 Es geht ein himmlischer Auftrag vorweg (TLev 5,3f), und die Bosheit der Sichemiten reicht weit über die eine Vergewaltigung hinaus (6,8-11). 84 Gen 34 und auch Gen 49 lassen kein gutes Haar an Levi und Simeon: Ihnen wird kein Segen, kein Land verheißen, sondern sie werden dazu verflucht, unter den Stämmen ihrer Brüder in Zerstreuung zu leben. 85 Anders TLev 9: Hier ist durchaus vom Opferdienst die Rede, gegenüber ArLev jedoch erheblich gekürzt. Außerdem fehlt der heilseschatolologische Kontext. Die Opfervorschriften betreffen die nahe Zukunft des Patriarchen - also die ferne Vergangenheit der Leser. Möglicherweise dienen diese Passagen dem Zweck, die Testamente authentisch wirken zu lassen. Dazu passt, dass Ms e diesen spezifisch priesterlichen Abschnitt aus einer eigenen Quelle, die eng mit arLev verwandt ist, noch erheblich erweitert. Und dies zu christlicher Zeit - hier also ein tkr. Beweis für eine Rejudaisierung des Textes. Vgl. dagegen TLev 3,6 wo von einem vernünftigen, unblutigen Opfer der Engel die Rede ist - ganz im Sinne hellenistischer Opferkritik. 86 TLev 13 als einzige „echte“ Paränese in TLev (H OLLANDER , Joseph, S. 58) ermahnt die Nachkommen zur Alphabetisierung ihrer Kinder, zur Lehre der Torah und zur Weisheit als Tugend. 87 Vgl. die immerhin 32 Belege für εὐλογέω und εὐλογία in den TestXII. 88 TLev 8,2. 89 Vgl. nur mit Sir 50, wo das liturgische Amt des Priesters noch aus eigener Anschauung gepriesen wird. <?page no="106"?> 100 Tendenz zeigt Mal 2,1-9 90 , wo es die primäre Berufung Levis ist, neben dem Segen (v.2) verlässliche Weisung zu erteilen und die Lehre zu bewahren (v.6f). Die Opfer werden in dieser Prophetie mit Unrat verglichen und den Priestern regelrecht ins Gesicht geworfen (v. 3) 91 . Zudem erhält Levi in den TestXII auch königliche und kriegerische Konnotationen 92 , die womöglich im Einfluss der Makkabäerkriege 93 liegen, aber in jedem Falle auffällig sind. Damit sind wir bei der engen Verbindung zwischen Levi und Juda, die nun gesondert betrachtet werden soll. 3.2.3 Priesterkönig Dass Levi und Juda in den TestXII beinahe notorisch nebeneinander genannt werden, ist eine der großen Auffälligkeiten der Patriarchentestamente. Doch ist so eine Zusammenschau auf jüdischer Seite keineswegs ohne Beispiel. Schon Melchisedek wird in Gen 14,18 Priester und König, sowie in Ps 110 als Vorbild 94 eines davidischen Königs genannt. Diese kurzen Passagen, die aber durchaus mit jüdischen Zentralfiguren und Zentralthemen wie Abraham, David, Jerusalem, Priestertum, Königtum und Verzehntung verknüpft sind, zeigen beträchtliche Wirkungsgeschichte im Judentum. Melchisedek findet einen Reflex in Qumran 95 , allerdings ist seine Rolle in diesem Fragment äußerst umstritten 96 . Er scheint dort eine himmlische 97 und womöglich auch messianische 98 Funktion einzunehmen. In jedem Fall ist ein 90 Sie unterscheidet sich von der Kult- und Opferkritik (z. B. in Jes 1,10ff; Jer 6,20; Am 5,21ff, vgl. auch Ps 40,7f; Spr 15,8) darin, dass sie eine direkte Anrede an die Priester ist und nicht an das Volk. Allerdings lassen o. g. Stellen erkennen, dass Gott an den Opfern der Gerechten durchaus Wohlgefallen haben könnte. 91 Zwar legt der Kontext Mal 1,6ff nahe, dass JHWH vor allem an den minderwertigen Opfern Anstoß nimmt, doch kommt es auch 1,10 zum (ironischen? So M EINHOLD , Maleachi z. St.) Vorschlag, den Altarbereich gleich ganz abzuschließen. In einer Situation nach dem Untergang des zweiten Tempels (und die ist für die Abfassungszeit von den TestXII in ihrer Endgestalt vorauszusetzen) wird sich diese Weissagung jedenfalls nicht mehr ironisch angehört haben. 92 Z. B. in TSim 5,5 mit einer Formulierung, die sonst für David gebraucht wird, vgl. H OLLANDER / DE J ONGE , Commentary, S.122. In ähnlicher Weise TRub 6,7 u.ö. 93 M ICHEL , Hebräer, S. 555f, nimmt eine Gegenposition von Jub und TestXII gegen hasmonäische Ansprüche an. Da aber die Hasmonäer ihre levitische Abkunft behaupteten, ist das keineswegs zwingend - und womöglich der etwas voreiligen Zuschreibung beider Schriften an „pharisäische und essenische Kreise“ geschuldet. 94 F ITZMYER , Melchisedek, S. 64, Anm. 3. Dort finden sich auch diverse andere Übersetzungsmöglichkeiten, doch wird diese etwas vorsichtige Variante die angemessenste sein. 95 11QM ELCH . 96 Vgl. nur die umfangreiche Literaturliste bei Z IMMERMANN , Texte, S. 389, A 252. 97 11QMelch 7.10, vgl. Z IMMERMANN , Texte, S. 403f und M ARTINEZ , Tradiciones, S. 72f. 98 11QMelch 18 wird oft als Geistsalbung Melchisedeks interpretiert, so z.B. M ARTINEZ , Tradiciones, passim. Anders dagegen Z IMMERMANN , Texte, S. 410 f., der den wohl e- <?page no="107"?> 101 eschatologischer Kontext erkennbar 99 . Doch ist wichtig festzuhalten, dass diese Figur aus Gen 14 und Psalm 110 überhaupt die Gemüter dort beschäftigte. Diese Texte wurden ausgelegt und weiter interpretiert, verknüpft und eschatologisch ausgeweitet. Gerade dies tun die TestXII trotz zum Teil ähnlicher Motive 100 eben nicht. Levi und Juda stehen für Priestertum und Königtum - sie allein, für Melchisedek bleibt keine Lücke. P HILO 101 und J OSEPHUS 102 nehmen ebenfalls Bezug auf Melchisedek, interpretieren ihn typologisch, indem sie ihn als König der Gerechtigkeit darstellen. Sie formen ihn mehr zu einem Typos hellenistischer Tugend, denn als eschatologische, womöglich apokalyptische Figur. Sie könnten damit aber auch versuchen, historischen Melchisedek-Prätendenten 103 den Wind aus den Segeln zu nehmen. Schwer zu entscheiden ist die Stellung von Hen(sl.) 72f. Die Melchisedek-Episode ist in ihrer Endgestalt erkennbar christlich, der Umfang des jüd. Materials ist strittig. Aber selbst wenn sie christlich zu lesen ist, ist sie wahrscheinlich unabhängig von Heb 104 , und bezieht sich auf einen vater- und faktisch mutterlos 105 geborenen Proto- Melchisedek aus noachidischer Zeit 106 . Immerhin wird er dort in die Nachkommenschaft Seths aufgenommen, was eine jüdische Spur sein könnte 107 . Interessant ist auch ein Blick in die Targume und rabbinischen Traditionen 108 . Hier wird Melchisedek genealogisch gewissermaßen nach Israel zuher irdischen Messias aus 11QMelch ausdrücklich von der Engelsgestalt Melchisedeks unterschieden haben will. Der Streit lässt sich aufgrund des vorhandenen Materials nicht entscheiden. Ob in den vielen Lücken des Textes eine Inkarnation des himmlischen Melchisedek ausgesagt wird oder nicht, ist reine Spekulation. 99 So ist jedenfalls die Verknüpfung mit Traditionen von Erlassjahren und Versöhnungstag (11.QMelch 2-7) zu verstehen. Klare eschatologische Züge trägt auch der Verweis auf das Ende der Tage (11QMelch 4) und die Thematisierung eines Kampfs gegen Belial 11QMelch 12-13.25. 100 Vor allem der eschatologische Kampf gegen Beliar begegnet in den TestXII häufig. 101 Congr §99. 102 Bell VI§438. 103 Dies wird den Hasmonäern zumindest vorgeworfen. 104 Die Darstellung lässt sich nicht mit Heb 7 harmonisieren, wenn Hen(sl) Heb voraussetzt, dann stellt er doch eine sehr eigenständige Weiterentwicklung dar. 105 Die Mutter stirbt noch vor der Geburt, M. gebiert sich sozusagen selbst. 106 Dadurch entsteht das Problem, wie Melchisedek die Flut überlebt haben soll. Dies wird mit einer Entrückung in das Paradies gelöst. Der Melchisedek aus Gen 14 wäre demnach also schon eine Re-Inkarnation des ersten Melchisedek gewesen. Kein Wunder also, dass auch weitere Erscheinungen auf Erden für möglichgehalten und schließlich christlich pointiert werden. 107 Vgl. auch die Versuche, Melchisedek in die Genealogie Sems einzubinden in den Targumen, M C N AMARA , Melchisedek, passim. 108 Vgl. M C N AMARA , Melchisedek und W ILLI , Melchisedek, passim sowie ders. Art. Melchisedek II, TRE 22, 1992. <?page no="108"?> 102 rückgeholt, indem er mit Sem, dem Sohn Noahs, verknüpft wird 109 . Außerdem wird das Priestertum dann an Abraham abgegeben und bekommt von dort eine genealogische Fortsetzung die Nachkommenschaft Melchisedeks ausdrücklich nicht 110 . Möglicherweise sind die späteren rabbinischen Belege schon von der Inanspruchnahme Melchisedeks durch Christen geprägt und stellen eine Abwehrreaktion dar. Um so mehr muss verwunderlich erscheinen, dass die TestXII, die so sehr um das Verhältnis Israel und Völker besorgt sind, Melchisedek als Zentralfigur für diese Frage mit keinem Wort erwähnen - weder in der einen, noch der anderen Richtung. Das Gegenteil ist der Fall. Die TestXII erwähnen den Namen Melchisedek auch da nicht, wo man ihn erwarten würde 111 . Es scheint sogar, als würden sie seine Figur als Typos des Priesterkönigtums meiden. Das ist - anders als bei Figuren wie Mose oder David - diesmal unmöglich der patriarchalen Fiktion geschuldet, denn Melchisedek ist Abraham begegnet, und der wird in den Testamenten ausdrücklich erwähnt. Stattdessen werden Prädikationen, die Melchisedek sonst zustehen, wie Priester des Höchsten Gottes 112 und Priester auf ewig 113 , auf Levi oder Juda übertragen. Diese Besonderheit teilen die TestXII mit dem Jubiläenbuch 114 , in dem der Name Melchisedeks sogar dort verschwiegen wird, wo explizit seine Geschichte erzählt wird 115 . Hier wie dort kann man mit gewisser Sicherheit vermuten, dass dies bewusst gegen eine Inanspruchnahme durch theologische oder politische Gegner der Verfasserkreise dieser Schriften geschieht. Sonst existieren priesterliche und königliche Prädikationen in der Regel nur nebeneinander. Die Schwerpunkte werden dabei sehr unterschiedlich gesetzt: In Ez 44-48 ist von der Sonderrolle der Priester (mehr die Abkömmlinge Zadoks als Levis) und eines stammesmäßig nicht weiter definierten Fürsten Thema. Dies zeigt, dass Ez eben stärker von der priesterlichen Konzeption auf die königliche zugeht. Dies finden wir auch in den Qumranschriften 116 wieder, wo ein Messias ben Aaron neben einen Messias ben Israel gestellt wird. Der Unterschied ist deutlich: Aaron ist weit konkreter als 109 Z.B. Targum Ps.Jonathan z.St. Vgl. auch die weiteren Belege bei M C N AMARA , Melchisedek, S. 10f. 110 M C N AMARA , Melchisedek, S. 11 und die dort zitierten Texte. 111 H OLLANDER / DE J ONGE , Commentary, S. 154, verweisen auf TLev 8,14: Hier sei deutlich auf Melchisedek angespielt. Für mich ist umgekehrt entscheidend, dass der Name an dieser Stelle gerade nicht fällt, sondern das Priestertum nach Art der Völker für die Völker ganz im Zusammenspiel von Levi und Juda bleibt. 112 Gen 14,18 vs TIss 2,5. 113 Ps 110,4 vs TLev 8,3. 114 Jub 32,1. 115 Jub 13,25. 116 1QM u.ö. Die qumranischen Messiasvorstellungen der prophetischen, priesterlichen und königlichen Art hat sehr sorgfältig zusammengestellt und untersucht: Z IMMER- MANN , Texte. <?page no="109"?> 103 Levi, Israel dagegen allgemeiner als Juda. Dies deutet auf die stärker am Priestertum interessierte Linie hin. Allerdings sind die Qumranschriften in dieser Frage nicht einheitlich. Neben den oben genannten Melchisedek- Schriften gibt es auch einiges an aramäischem Levi Material, sowie Reste von Testamenten(? ) Amrams und Qahats, den folgenden zwei Gliedern der Levi- Genealogie. Hier gibt es also nicht das qumranische Alternativmodell, sondern eine erhebliche Bandbreite von Vorstellungen und Modellen. In Jer 33,14-22 dagegen steht David deutlich im Vordergrund - die parallel zu ihm genannten Leviten bleiben namenlos. Auch in Sach 4 steht der namentlich genannte Davidssohn Serubbabel neben einem namentlich und genealogisch unbestimmten Priester 117 . Hier ist die Bewegung also umgekehrt: von einem königlichen Modell zu einem priester-königlichen. In Kap. 6 sieht dann auch Sacharja die Zukunft vor allem in der Priesterschaft Joschuas. Der geschichtliche Hintergrund ist wohl der, dass - nachdem mit Serubbabel der letzte Davidide doch eher sang- und klanglos von der politischen Bildfläche verschwand - nur die jerusalemer Hohenpriester als Führungspersönlichkeiten, Integrationsfiguren und Hoffnungsträger übrigblieben. Das hat sich in hellenistischer Zeit nicht mehr geändert. So geben auch Jub 31,9ff; 33,20 klar Levi den Vorzug vor Juda. Allerdings ist auch hier immer von zwei unabhängigen Personen die Rede, nämlich einem Priester und einem König. Eine ganz ähnliche Tendenz verrät die Chronikparallele zu 2.Kön 11: Der Bericht in 2.Chr 22,10-23,21 ist vor allem um ein Thema erweitert: die Rolle der Leviten. Während der Bericht im Königsbuch von einem durch den Priester lancierten Putsch der Gardehauptleute gegen die als „gottlos“ empfundene Regierung der Omritochter Atalja handelt, ist in den Chroniken die Levitenschaft des Landes Träger der Revolte (23,2). Die Erzählung wird dadurch etwas absurd, weil die Hauptleute über Hundert zwar namentlich genannt werden (23,1) aber ihre Hundertschaften selber ganz offenbar keine Rolle spielen 118 . Ihre Aufgaben, wie z. B. die Bewachung der Tore (23,4f) und des Königs (23,7), werden sämtlich bewaffneten Leviten übertragen. Auch die Regierung der Putschisten wird aus Leviten gestellt (23,18). Damit entsteht eine neue Tendenz: Der Priester und die Leviten sind es, die der davidischen Dynastie das Überleben sichern. Schließlich war Atalja eine Tochter der samarischen Omridynastie, und hatte versucht - so der Bericht von 2.Kön und 2.Chr gleichlautend - alle Nachkommen königlichen Geblütes auszurotten (22,10). Dass neben Levi auch Juda und David im besonderen Interesse des Chronisten stehen, zeigen weitere Details des sy- 117 Es sei denn, es ist von Joschua die Rede, der vorher (Kap. 3) recht ambivalent, später (Kap.6) an Stelle Serubbabels dargestellt wird. Dennoch bleibt die Priesterfigur hier erstmal anonym. 118 Immerhin ist so erklärlich, dass für den Putsch auf antike Waffen aus davidischer Zeit in den Magazinen des Tempels zurückgegriffen werden musste (23,9). <?page no="110"?> 104 noptischen Vergleichs 119 . In der Diktion des Chronisten stehen also Levi und Juda als Repräsentanten der Verheißung und der guten Ordnungen gegen Omri, Samaria und Atalja als Repräsentanten von Sünde und Untergang. 3.2.4 Zusammenfassung Insgesamt lässt sich sagen, dass im jüdischen Kontext eher von zwei Personen die Rede ist als von einer. Da, wo Juda und Levi nebeneinander stehen, bekommt in den späteren Texten regelmäßig Levi den Vorrang. Außerdem entsteht der Eindruck, Judas Verheißung bezöge sich auf eine ferne eschatologische Heilszeit, während Levi schon hier und jetzt in der Verantwortung stehe. In den TestXII ist in der jetzigen Form - meist klar von einem Retter die Rede, der aus beiden Stämmen stammt. Dabei ist aber der Vorrang Levis kaum zu übersehen, und nur an Einzelstellen ist das Verhältnis umgekehrt. Insgesamt fällt auf, dass auch da, wo nur von Juda oder nur von Levi die Rede ist, die Aufgaben nicht klar getrennt sind. Vielmehr übernimmt Levi königliche Autorität, und Juda setzt den eschatologischen Priester ein. Auch das spricht für eine Personalunion - und für den eschatologischen Horizont. Ein tagespolitischer Impuls für eine bestimmte Richtung, Partei oder Sippe ist nicht auszumachen. Allerdings teilen die TestXII diese Haltung durchaus mit Jub, das ebenfalls dezidiert für Levi einsteht und nicht für andere oder konkretere Priestergeschlechter. Tatsache ist, dass die TestXII durchaus im Kontext jüdisch-eschatologischer Messiaserwartungen stehen. Sie beziehen dort aber eine eigene Position, weil sie einen judäisch-levitischen Priesterkönig erwarten, der nicht nur endzeitliches Heil bringt, sondern stellenweise auch mit Gott selbst identifiziert wird 120 . 119 So ergänzt Chr bei den Nachkommen des königlichen Geblütes den Hinweis „aus dem Hause Juda“ (22,10); bei der Verschwörung mit den Hauptleuten der ausdrückliche Hinweis auf die Davidsverheißung (23,3); genauso wie der Hinweis auf eine „Weisung Davids“ als Tempelordnung (23,18). 120 Was als solches nicht unjüdisch ist. Dass über die Bundesformel ein wahres Königtum und ein wahres Priestertum Gottes Nähe, ja seine Gegenwart herbeiführen oder ausdrücken können, ist nicht neu. Vgl. dazu das oben zu den Hos-Anthropos Perikopen Gesagte. <?page no="111"?> 105 3.3 Christliche Interpretation Dass Jesus ein Davidide vom Stamm Juda sei, ist eine schon im neutestamentlichen Schrifttum breit bezeugte Vorstellung 121. Sie findet auch in der frühen Kirche ein breites Echo. Vor allem da, wo Jesu Menschheit gegen doketische Tendenzen verteidigt wurde, betonte man seine davidische Abkunft aus dem Fleisch (σάρξ) 122 . Später geriet diese Hervorhebung der Davidssohnschaft in Kritik, weil sie eine zu „judenchristliche“ Überbewertung der Menschlichkeit Jesu und womöglich eine Unterordnung unter David darstelle 123 . Außerdem ist auffällig, dass - möglicherweise ausgelöst durch heidnische oder jüdische Polemik - man sich bald bemühte, die davidische Abstammung von Maria herzuleiten 124 , um die Spannung zwischen den Konzepten Davidssohn und Jungfrauengeburt aufzuheben. Dabei könnte die Tradition einer levitischen Abkunft verdrängt worden sein, von der sich aber vielleicht noch Spuren sichern lassen 125 . Priesterkönigliches findet sich auch im Hebräerbrief, dort eng verknüpft mit der Figur Melchisedeks 126 . So sehr auch hier jüdische Vorbilder vorhanden sind, kann man gerade zu den TestXII auch erhebliche Unterschiede der Konzeptionen feststellen. 3.3.1 Christi Herkunft aus David und Geist Dass Jesus ein Davidide ist, ist breit bezeugt 127 . Besonderes Augenmerk ist aber auf die Perikopen zu richten, in denen neben David noch eine weitere genealogische Komponente genannt wird, an deren Stelle in den TestXII Levi steht. An prominenter Stelle steht dabei der Heilige Geist. Dies ist bei den Schilderungen der Jungfrauengeburt 128 zu sehen, aber auch bei hymni- 121 Rö 1,3; Mk 10,47par; Lk 3,34; Mt 1,1; 2. Tim 2,8; Offb 3,7; 5,5 u.ö. Zur weiteren Wirkungsgeschichte vgl. auch Grillmeier, Jesus, S. 17ff, der sich stark auf die Monographie B URGER , Jesus bezieht. 122 Vor allem bei Ignatius: IgnEph 18,2; 20,2; IgnRöm 7,3, IgnTrall 9; IgnSmy 1,1. 123 So z.B. Barn 12,10f: Jesus ist Davids „Herr“ nicht Sohn, oder C LEMENS VON A LEXAND- RIEN , Strom VI 132,4, in dem der Titel Gottessohn deutlich den des Davidssohns überbietet. Dass die Bezeichnung „judenchristlich“ tatsächlich irreführend ist zeigt ein Blick in die „judenchristlichen“ Kerygmata Petrou, in denen sachlich genauso argumentiert wird (18,13 GCS 247). 124 Vgl. ProtEvJak 10, das erhebliche Wirkungsgeschichte in der patristischen Literatur erfährt. In Mt 1 läuft der Stammbaum noch deutlich auf Joseph hinaus. Obwohl auch Mt die Jungfrauengeburt berichtet, sieht er offenbar keinen Widerspruch zu einer Josephsgenealogie. 125 Z. B. in Luk 1f, vgl. dazu unten Kap. 3.3.2, S. 107ff. 126 Dass Heb damit möglicherweise ein geradezu anti-levitisches Konzept verfolgt, dazu unten Kap. 3.3.4, S. 110ff mehr. 127 Siehe Anmerkung oben. 128 Mt 1,18.20; Luk 1,35. <?page no="112"?> 106 schen Bekenntnissen 129 . Die Rolle des Heiligen Geistes kann auch umschrieben werden 130 , oder es wird sogar von Gott selbst gesprochen 131 . In jedem Falle wird aber eine göttliche und eine menschliche Komponente zusammengeführt, um einen irdischen Messias (nach David) und einen himmlischen Gottessohn (aus dem Heiligen Geist) gleichzeitig aussagen zu können 132 . Dabei ist - wie Röm 1,3f zeigt - dies eben nicht an die Geburt gebunden, sondern kann auch an die Auferstehung, oder an die Taufe Jesu geknüpft werden 133 . Wenn von der Geburt die Rede ist, ist dabei jede Art göttlich-menschlicher Mischehe absolut tabu - auf jüdischer Ebene schon alleine vor dem Hintergrund von Gen 6 134 . Das Interesse konzentriert sich darauf, die Gottessohnschaft von Anfang an auszusagen und nicht erst ab einem gewissen biographischen Datum im Leben Jesu. In dieselbe Richtung weisen dann auch die Versuche, die Präexistenz Christi auszusagen. Ob sich dies in eine schöne Entwicklungslinie im Sinne eines Vorher-Nachher eintragen lässt, muss jedoch bezweifelt werden 135 . Dennoch sind gerade die Zeugungsaussagen im griechischen Kontext leicht missverständlich. Zu geläufig waren die Vorstellungen auch von geschlechtlichen Verbindungen zwischen Göttern und Menschen 136 . 129 Röm 1,3f; IgnEph 18,2. 130 IgnSmy 1,1: „κατὰ θέλημα καὶ δύναμιν θεοῦ“. 131 IgnEph 7,2. 132 Dies Bemühen setzt sich fort, z.B. bei J USTIN , Dial, 100,3-4. 133 Vgl. die Sohnproklamation in Mk 1,11par. Sohnproklamationen finden sich aber auch im Zusammenhang der Verklärungsgeschichte Mk 9,7par oder dem Kreuzestod Mk 15,39par. Vertreter des Adoptianismus (vgl. G RILLMEIER , Jesus, S. 186f) durften sich also aussuchen, ab wann Jesus der Gottessohn war und wann dies offenbar wurde. 134 Hier ist vor allem auch auf die enorme Wirkungsgeschichte hinzuweisen, die dieser „Engelfall“ z.B. in der Henochliteratur zeigt. Gen 6,1-4 stellt also zu neutestamentlicher Zeit keine vergessene Randnotiz dar. 135 Freilich klingt die Vorstellung eines sich immer weiter nach vorne verlagernden Zeitpunktes der Gottessohnschaft zunächst plausibel, vgl. auch W ILCKENS , Römer, S. 59f. Aber schon Gal 4,29 spricht von einem geistgezeugten Christus, Phil 2 vom präexistenten Jesus Christus. In den synoptischen Evangelien existieren Gottessohn- Akklamationen zur Taufe, zur Verklärung, zum Tod, zur Zeugung und im Rahmen von Auferstehung oder Himmelfahrt friedlich nebeneinander. Auch die Datierungsdiskussion zu Joh zeigt, dass hier noch nicht das letzte Wort gesprochen ist. 136 Dies besonders, weil die Vorstellung ja nicht die biologische Kenntnis heutiger Zeit berücksichtigt, sondern in Modellen von Same und Ackerboden beheimatet ist. Die Vorstellung eines göttlicher Samens, der in menschlichen Boden gesät wurde, begegnet der Sache nach noch im 3. Jhdt in Konzepten wie der sog. Logos-Sarx- Christologie und der Lehre vom σῶμα ἄψυχον bei Arianern (? ), Homöousianern, Homöern und Eusebianern (vgl. H AUSCHILD , Lehrbuch, S. 160f.). Allerdings wird hier kein geschlechtlicher Akt assoziiert. <?page no="113"?> 107 Die Genealogie aus Levi und Juda könnte insofern einen Versuch darstellen, das Paradox des Göttlich-Menschlichen eben nicht als Mischung aus irdischer Sarx und göttlichem Pneuma zu verstehen und damit das Missverständnis eines Halbgottes auszuschließen. Zwar bleibt mit Juda und Levi, mit Königtum und Priestertum in der Gestalt des Einen eine Verbindung zwischen einem weltlichen und geistlichen Amt bestehen 137 , aber beide sind genealogisch „geerdet“, beide sind „κατὰ σάρκα“. Das Wunder der Inkarnation wird aus der Zeugungsgeschichte herausgehalten. Dass Gott Mensch wurde, wird in den Hos-Anthropos-Perikopen verhandelt, die sich nur gelegentlich mit den LJ-Passagen berühren, theologisch aber immer von ihnen unterscheidbar bleiben. 3.3.2 Levitische Anklänge im Lukas Evangelium Eine solche genealogische Verknüpfung mit dem Stamm Levi klingt noch bei Lukas in der priesterlichen Verwandtschaft der Maria an 138 , spielt bei ihm aber keine theologische Rolle. Man hält es für möglich, dass Lukas diese Verwandtschaft nur als “Vorwand” für Marias Besuch bei Elisabeth - und überhaupt als Kitt für seine Doppelerzählung Täufer/ Christus gebraucht. In Wirklichkeit hätten sich Johannes und Jesus gar nicht gekannt 139 . Tatsächlich spricht aber die Parallelität der beiden Namen zu Aarons Schwester (Miriam - Ex 15,20) und Frau (Elisabeth - Ex 6,23) für ein priestertheologisches Programm hinter dieser Randnotiz. Gerade die Marginalität der Notiz macht sie so unverdächtig. Als weitere Hinweise auf eine levitische Abkunft Jesu bei Lk könnten in Lk 1 der Name Levi an Position 4 und 32 140 in der Genealogie Jesu angesehen werden. Außerdem fehlt in Lk 2,22-24 der Auslösepreis für Jesus, denn es werden zwei Tauben zur Reinigung der Mutter 141 dargebracht, aber keine 5 Silberstücke 142 für Jesus als Erstgeborenem 143 . Auffällig ist auch die erzählerische Nähe zu 1. Sam 1+2, die Anlass zu Spekulationen über eine priesterliche Würde Jesu gibt. Zwingend ist das alles freilich nicht. Doch ist zumin- 137 Dass dies in den TestXII durchaus so gesehen wurde - auch mit einer klaren Unterordnung des einen unter das andere - dazu vgl. TJud 21,1-4. 138 Nur bei Lk 1,36. Elisabeth ist aus dem Geschlecht Aaron (1,5b). Dass dies extra erwähnt wird, ist bemerkenswert. Bei B ECKER , Maria, finden wir davon nichts berichtet. 139 H AUCK , Lukas, S. 27 verweist auf Joh 1,31 und auf Lk 7,19. Das ist aber kein Argument. Nach der Einheirat von Maria in das Haus Josephs wäre es nicht unüblich, wenn der Kontakt zu ihrer alten Familie - also auch zu Elisabeth - weitestgehend abbräche. 140 Vgl. B ROWN , Messiah, Table I, S. 76. 141 Lev 12,6-8. 142 Num 3,47; 18,15f. 143 Dies ist nur insofern auffällig, als Lukas sonst penibel auf Einhaltung des Gesetzes achtet. <?page no="114"?> 108 dest wahrscheinlich, dass eine levitisch priesterliche Tradition in der Frage nach der Herkunft Jesu in den vorlukanischen Quellen vorgelegen hat, bei Lk selbst allerdings nur noch schemenhaft erkennbar ist. Womöglich steht im Hintergrund auch eine jüdische Zwei-Messias-Lehre, in der Johannes der Messias aus Levi, Jesus aber der Messias aus Juda sein sollte. Selbst wenn Lk (wie die Synoptiker insgesamt) in der Schilderung des Täufers auf Eliatraditionen zurückgreift, könnten levitisch-priesterliche Vorstellungen durchaus im Hintergrund stehen 144 . Vergleicht man aber die Wortfelder aus den hymnischen Passagen Lk 1,46-55 und 1,68-79, so fällt auf, dass ganz ähnliche Saiten angeschlagen werden wie in den LJ-Passagen der TestXII. Auch hier geht es um Rettung und den Retter, um den Besuch Gottes bei den Menschen, um den Höchsten, um den Eidschwur Gottes an die Patriarchen, um das aufscheinende Licht, um Erbarmen - und wenn man Lk 2,10-15.29-32 hinzuzieht, haben wir auch die Themen des Friedens und des Heils für alle Menschen im Blick. Obwohl uns diese Wortfelder - wie oben gezeigt werden konnte - durchaus auch im jüdischen Kontext begegnen, ist auffällig, dass sie im Neuen Testament vornehmlich in hellenistischen oder hellenisierenden Schriften 145 verwendet werden, also dort, wo (hellenistische) Judenchristen ihre Botschaft an ihre hellenistische Umwelt richten 146 . 3.3.3 Protoevangelium Jakobi Das ProtEvJak weiß sogar noch die Namen von Marias Eltern. Obwohl auch hier von einer Verwandtschaft mit Elisabeth die Rede ist 147 , fehlen dem Joachim wie auch der Anna jegliche priesterlichen Prädikationen. Dennoch wird eine Kindheit Marias am Tempel berichtet, und wie sie dort tanzt 148 , so dass hier erneut eine Nähe zu levitischen Motiven 149 besteht. Wenn also überhaupt in nachneutestamentlicher Zeit über die Abkunft Mariens nachgedacht wird, dann versucht man auch sie von David herzulei- 144 Als Verbindung könnte man immerhin auf den Eifer Elias und Pinchas' verweisen, die explizit zwischen Sir 45 und 48 sowie 1. Makk 2,49-68 hergestellt wird. Möglich ist auch eine priesterlich aufgefasste Rolle Eliahs in Mal 3,23f. Vgl. dazu C LARK , Highpriest. S. 92-105. 145 Lk, Tit. 146 Den Hinweis, dass ein bestimmter Sprachgebrauch oft weniger etwas über den Verfasser als über dessen Adressaten aussagt, verdanke ich meinem Kollegen Rüdiger F UCHS . Vgl. auch ders., Unterschiede, S. 37ff. 147 ProtEvJak 12,2, wahrscheinlich aber von Lk 1 beeinflusst. 148 ProtEvJak 7,3; 15,2. 149 Die Leviten als Tänzer und Sänger begegnen vor allem in Chronik und Esra. <?page no="115"?> 109 ten 150 , um die Spannung von Jungfrauengeburt und Davidsohnschaft aufzulösen. Von levitischen Traditionen sind bestenfalls noch Spuren zu sichern 151 . Dennoch bedarf es keiner besonderen “Hermeneutik des Verdachts”, um auf den Gedanken zu kommen, dass Traditionen über eine priesterlichlevitische Abkunft Mariens möglicherweise unterdrückt worden sind. Die Leviten waren bald mit den Pharisäern und Saduzzäern und übrigen Mitgliedern der Jerusalemer Tempelaristokratie die Schuldigen am Tod Jesu 152 , ohne dass in den Feinheiten differenziert wurde. Für das heidenchristlich dominierte Christentum der späteren Jahrhunderte waren es dann immer häufiger pauschal „die Juden”, die als „Christusmörder“ beschimpft wurden 153 . In den TestXII hat diese Aussage aber ihren festen Platz. Aus Levi und Juda wird das Heil aufgehen. Oft wird das Heil auf die Völker ausgeweitet 154 und auf die Person Jesu hin personhaft aufgefaßt 155 . Lesen wir diese Passagen nun komplett christlich, ergibt sich ein ganz eigenes christologisches Programm: Jesus vereint auch in seiner menschlichen Genealogie die Würde des jüdischen Priestertums und des jüdischen Königtums. Damit ist diese Konzeption tatsächlich näher an qumranischen Vorstellungen als an christlich bekannten Traditionen 156 . In der christlichen Konzeption der TestXII ist aber nicht von zwei Messiassen die Rede, sondern von einer Person. Beide Ämter werden von Jesus zur Vollendung geführt. Anders als die oft allzu menschlichen Königs 157 - und Priestergenerationen 158 vor ihm , wird er deren 150 ProtEvJak 10 , Justin, Dial 100,3 - weitere Belegstellen bei F ISCHER , Abkunft, passim. (Die Schrift ist durch ihren apologetischen Charakter sonst allerdings nur von begrenztem Wert). 151 D E J ONGE führt I RENÄUS , Fr 17 an. Vgl. auch H IPPOLYT , ben Mos 2,2. Außerdem nennt B ROWN , Messiah, S. 287, (leider ohne Stellenangabe! ) noch E PHRAEM und H IP- POLYT (meint er o.g. Stelle? ). Weiterhin unbeachtet: die Apodeixis über Christus als Priester, vgl. B ERGER , Jubiläen, S. 477 A12. 152 Auch die TestXII thematisieren die Schuldproblematik, siehe dazu unten Kap 4, S. 119ff. und Kap 5.1, S. 139 153 Dies ist allerdings kein beherrschendes Thema. Man hat heute einiges an Antijudaismus zutage gefördert, das ist auch richtig, doch sollte nicht übersehen werden, dass die Auseinandersetzung mit dem Judentum in den späteren Jahrhunderten keineswegs im Mittelpunkt stand. Innerchristliche Konflikte um die rechte Lehre waren viel virulenter, und im Antritt des jüdischen Erbes musste auch die Kirche mit Jesaja 53 bekennen: um unserer Sünden willen hat er gelitten - vgl. auch hymnologische und liturgische Belege. 154 Das ist vor allem das Anliegen des Aufsatzes von J ERVELL , Interpolator, passim. 155 Dann meist als σωτήρ wie in TLev 10,2; TDan 6,9; TBen 3,8. 156 Darauf weisen P HILONENKO , Interpolations und VAN DER W OUDE , Vorstellungen zu Recht hin. 157 Kritik an den Königen Israels findet sich naturgemäß in TJud, so z.B. in 17,2-6; 21,6b-22,2a und 23,1-4. <?page no="116"?> 110 priesterliche Aufgaben in einer besonderen Vollmacht und Vollkommenheit ausführen, die das bisher Dagewesene endgültig überbietet. Damit ist vollständiges Heil beinahe notwendig verbunden, denn gute Könige und gute Priester sind Garanten des Heils, während gottlose Priester und Könige Unheil bedeuten. Vollständiges Heil kann als solches die Heiden nicht ausgrenzen, das ist schon im Alten Testament angelegt. 3.3.4 Priesterkönig nach Ordnung Melchisedeks Die Levi-Juda Passagen der TestXII werden gern mit dem Hebräerbrief in Zusammenhang gebracht 159 . Doch nirgendwo fällt der Name Melchisedek 160 was gerade im Kontext der Patriarchenzeit ganz ausgezeichnet gepasst hätte 161 , ja selbst da wird sein Name vermieden, wo er möglicherweise als Person gemeint ist 162 . Die TestXII übergehen damit auch einen der meistrezipierten Psalmen des frühen Christentums 163 - und das bei ihrer sonst so erstaunlichen Nähe zu hymnischem Traditionsgut. Darüber hinaus ist auffällig, dass gerade die Rolle des Priesters als Opferdiener und Volksversöhner in den Test XII eine völlig untergeordnete Rolle spielt 164 . Die ganze Szene des Jom Kippur, des großen Volksversöhnungstages, die im Heb minutiös nachgezeichnet wird, spielt keine Rolle. Überhaupt scheint bei den Opfern in den TestXII mehr die Motivik der Dankopfer auf, als dass hier die für Heb alles entscheidenden Sühn- und Sündopfer dargebracht würden. 158 Zum Teil scharfe Kritik an den Nachkommen Levis finden sich in den sog. SER- Passagen in TLev 10; 14-15; 16. Vgl. auch das unten zu den Unschuldspassagen in Kap 4, S. 119ff Gesagte. 159 Vgl. z.B. B AUER , ThWNT u.ö. Besser: H OLLANDER / DE J ONGE , Commentary S. 126 (zu TSim 7,2). Sie verweisen auf I RENÄUS Fr 17. 160 H OLLANDER / DE J ONGE , Commentary S. 154, wollen zumindest in TLev 8,14 beim „Priestertum nach Art der Völker für alle Völker“ auf Melchisedek angespielt wissen. Das gibt der Text m. E. nicht her. 161 Das ist insofern besonders, als weder rabbinisch-jüdische Quellen, noch hellenistischjüdische Autoren wie Philo und Josephus Melchisedek auslassen, sondern sich viel Mühe machen, ihn in ihrem Sinne zu interpretieren. Vgl. dazu nur den kurzen Aufriss in ThWNT, allerdings mit einer problematischen Einordnung der TestXII. 162 TIss 2,5 spricht von einem „Priester des Höchsten“, der zu dem Zeitpunkt gerade in der Gegend war. Damit ist wahrscheinlich Melchisedek gemeint (vgl. H OLLANDER / DE J ONGE , Commentary, S. 238f). Die Tendenz ist unverdächtig, es geht eigentlich darum, dass das profane Geschäft mit den Liebesäpfeln noch eine religiöse Note bekommt. Gerade deshalb ist die Vermeidung des Namens Melchisedek so auffällig. 163 Vgl. B ERGER , Theologiegeschichte, S. 20-22. 164 Einzig in TRub 6,8 spielt der Begriff θυσία eine Rolle in der Nähe einer christologisch interessanten Passage, doch steht auch hier die Kenntnis des Gesetzes Gottes klar an erster Stelle. <?page no="117"?> 111 In den TestXII tritt Levi vielmehr als Gesetzeslehrer 165 auf, während die Vermittlung des Gesetzes im Heb nicht per Lehre geschieht, sondern spirituell durch den Heiligen Geist, der das Gesetz in das Herz der Gläubigen schreibt 166 . In den Test XII empfängt und verwaltet Levi den Zehnten. Das ist im Heb auch erwähnt, doch wird dies nur als Frage der Würde verhandelt, wer wem zehnten muss. Da Levi Abrahams Same sei, habe er als Unterlegener quasi mit Abraham zusammen Melchisedek den Zehnten entrichtet 167 . Somit erweise sich das Levitische Priestertum dem von Melchisedek deutlich unterlegen. Mit anderen Worten: Jesus Christus als Weisheits- und Gesetzeslehrer, Prophet und Gemeindeleiter ist im Heb stark unterbelichtet, in den TestXII aber im Vordergrund der priesterlichen Prädikationen. Das ist nicht mit dem Heb, sehr wohl aber mit dem Jesus Christus der Evangelien und der Paulusbriefe kompatibel. Entscheidend aber ist: Die TestXII betonen mit ihrer genealogisch gedachten Abkunft Christi aus Levi und Juda viel stärker eine Kontinuität zum Bund mit Israel. Heb. dagegen spannt mit dem Rückgriff auf eine außerisraelitische Figur 168 den Bogen quasi über die Heilsgeschichte Israels hinweg 169 zum „neuen Bund“ 170 . Dabei versucht er ausdrücklich das levitische Priestertum als Umweg, womöglich sogar als Irrweg zu disqualifizieren 171 . Wohl nicht zufällig bezeichnet er Melchisedek mehrfach als Priester „ohne Stammbaum 172 “. Fraglich ist, wie weit Heb hier nur ein Schweigen der Gen 165 TLev 16,3, vgl. auch Mt 5,17-20. 166 Heb 10,16. 167 Heb 7,4-10. 168 Eine Tatsache, die allen jüdischen Autoren Mühe macht. In rabbinischen Quellen wird Melchisedek Abraham deutlich untergeordnet, bei Philo eher philosophisch aufgefasst, und in Hen(sl.) durch einen Proto-Melchisedek noachidischer Zeit in die Genealogie Adam-Seth-Noah (dessen - allerdings nicht ganz leiblicher - Neffe er sein soll) eingebunden. Jedoch ist Hen(sl) am Ende christlich, und womöglich schon von Heb 7 beeinflusst - was man im negativen Sinne auch bei den rabbinischen Aussagen über Melchisedek nicht ausschließen kann. 169 Wobei die Patriarchen - und da berühren sich Heb und TestXII eigentümlich - als „Wolke der Zeugen“ eine durchaus positive Rolle spielen. Vgl. dazu auch R OSE , Wolke, passim. 170 καινή διαθήκη, Heb 8,13 u.ö. 171 Heb 7,11-24, vgl. G RÄßER , Hebräerbrief II, S. 12: „Die vor allem interessierenden Vergleichspunkte sind Melchisedeks Göttlichkeit und ewiges Priestertum (v.3), sowie die mit der Bezehntung Abrahams offenkundige Inferiorität des levitischen Priestertums (vv.4-10).“ 172 Heb 7,3.6. von Jesus: 7,16. <?page no="118"?> 112 zum Argument ausbaut, oder ob er jüdische 173 oder gnostische 174 Vorlagen gehabt hat. Doch erklärt Heb freimütig, dass „unser Herr dem Stamm Judas entsprossen ist“ 175 . Es geht ihm also gar nicht um eine Himmelszeugung völlig ohne Stammbaum 176 , sondern ganz konkret um die Ablehnung eines levitischen Stammbaumes. Da auch das aaronitische oder zadoqidische Geschlecht dabei keine Rolle spielt 177 , liegt sogar die Vermutung nahe, dass jüdische, womöglich judenchristliche prolevitische Kreise mit dieser Ablehnung adressiert wurden, jene Kreise also, die wir auch hinter Jub bzw. den TestXII vermuten dürfen. Es ist schwer zu sagen, ob sich die TestXII bewusst gegen Heb stellen, oder ob Heb sich bewusst gegen Positionen wendet, die hinter TestXII stehen. Als sicher kann jedoch gelten, dass wir hier zwei grundverschiedene Auffassungen derselben Aussage haben, nämlich dass dem Christus priesterliche und königliche Würde zusteht. Doch abgesehen von dieser Aussageabsicht gehen beide Traditionen ganz unterschiedliche Wege. Es ist auffällig, dass die Melchisedek-Christus Typologie eine erhebliche Wirkungsgeschichte 178 in der Alten Kirche hat, die bei Justin 179 und Clemens von Alexandrien 180 ihren Ausgang nimmt und vom ökumenischen Konzil in Ephesus 431 181 bis in häretische 182 und gnostische 183 Kreise reicht. Ähnlich 173 Wenn sl.Hen 72f jüdische Vorstufen hat - was z. B. B ÖTTRICH , Henochbuch, S. 804f vermutet, dann kämen diese als Vorlage für Heb infrage. Das Gegenteil ist allerdings auch möglich. 174 W UTTKE , Melchisedek und T HEISSEN , Hebräerbrief, nehmen gnostische Vorlagen für diese Auszeichnung Melchisedeks an. Fraglos spielte Melchisedek in gnostischen Spekulationen eine Rolle, wie NHC Melch und die von Theißen und Wuttke angeführten Quellen bei den Kirchenvätern zeigen. Ob diese jedoch selbstständige Entwicklungen aufgrund jüdischen und apokalyptischen Materials sind, oder ob nicht doch Heb 7 bei ihrer Entstehung schon einwirkte, lässt sich bei der schlechthin unlösbaren Datierungsfrage gnostischer Quellen kaum beantworten. 175 Heb 7,14. 176 Hier existiert ein typisches Nebeneinander von Konzeptionen. Die Konzeption der Vater- und Mutterlosigkeit spielt eine Rolle in der priesterlichen Melchisedektypologie, muss aber, wenn es um judäisch-königliche Attributionen geht, nicht zwingend durchgehalten werden. 177 Heb 7,11. 178 Die Suche ιm TLG zum Begriff Μελχισεδέκ ergibt allein in der Kategorie „Theologica“ über 100 Treffer. Da sind andere Schreibungen und lateinische Autoren wie z.B. Justin noch nicht einmal erfasst. Die Suche in der gleichen Kategorie nach Λευὶ und Ἰοῦδα mit max. 5 Wörtern Abstand gab außer ein paar Väterlisten bei Epiphanius keinen einzigen Treffer. 179 Dialog mit Trypho, 19,4; 32,6; 33,1f; 63,3; 83,2f; 113,5; 118,1. 180 Stromata IV 25,161,3. 181 Heb wird dort nicht weniger als 15 Mal zitiert (ACO 1.1.1 S. 104 bis 1.1.7 S. 110). 182 Sogenannte Melchsisedekianer, vgl. L AMPE , Greek Patristic Lexicon, z. St. <?page no="119"?> 113 wie bei der Geringschätzung Levis als Hauptschuldigen am Tode Jesu, kann auch in der Hochschätzung Melchisedeks zu christlicher Zeit ein heidenchristlicher und antijüdische Impuls liegen. Eine Sonderrolle nimmt hier slHen 72 ein, auf die schon mehrfach eingegangen wurde. Sieht man sie dem Ansatz dieser Arbeit folgend, als judenchristliche Schrift in ihrer Endgestalt, so bietet sie eine zu den TestXII alternative - und andererseits in der Zielrichtung analoge Lösung an. Während die TestXII auf Melchisedek verzichten und Jesus Christus genealogisch an Levi und Juda anbinden, um ihm priesterkönigliche Würde zuzuschreiben, geht slHen den umgekehrten Weg: Er bejaht die Melchisedek-Typologie, bindet aber nun Melchisedek seinerseits in die jüdische Genealogie ein. In beiden Fällen steht die eschatologische Heilsgestalt des Priesterkönigs nicht außerhalb, sondern innerhalb der jüdischen Genealogie. Die Abwertung des levitischen Priestertums als Umweg und die Lösung Jesu Christi aus seinem jüdischen Kontext erwies sich in der Wirkung als problematisch. Sie beförderte Konzeptionen, die den Neuen Bund als Ablösung des Alten auffassten (sog. Ersatztheologie) und die Kirche als das wahre Israel ansahen. Nachdem die jüdische Genealogie Jesu immer mehr zu einer Allegorie wurde, konnte dann selbst die im Neuen Testament noch als Auszeichnung vergebene Stammverwandtschaft mit Juda und David späteren Juden nur noch als Makel anhaften 184 . 3.3.5 Hippolyt: Stammverwandtschaft Jesu Christi mit Levi und Juda Es gibt jedoch genau einen Beleg, der neben den TestXII von einer gleichermaßen judäischen wie levitischen Abstammung Jesu Christi spricht: der Kommentar über die Segnungen Isaaks, Jakobs und Moses von Hippolyt 185 . Er liegt in einer sehr guten 186 Edition in der Patrologia Orientalis von M. Brière, L. Mariès und B. Ch. Mercier vor. De Jonge hat dieser auffälligen Parallelität einen eigenen Artikel gewidmet 187 . 183 Vgl. nur NHC Melch, und die Belege bei den Adversus Haereses Schriften der Kirchenväter. 184 In der letzten Konsequenz im „Davidstern“ - hätte die Kirche TJud 24 gelesen, wäre es ihr vielleicht erspart geblieben, vor lauter Davidsternen Jesus Christus zu übersehen. 185 Die Zuschreibung ist nicht ganz sicher. Traditionell werden diese Fragmente teilweise Irenäus zugeschrieben. In der neueren Forschung wird diskutiert, ob nicht ein Bischof des syro-palästinischen Raumes gleichen Namens für die Autorenschaft in frage kommt. Vgl. dazu das schon oben zu „Hippolyt“ Gesagte: S. 80, Anm. ; außerdem DE J ONGE , Hippolytus, S. 246f. Die Datierung in das dritte christliche Jahrhundert bleibt davon unberührt. 186 Diese Auffassung teilen DE J ONGE , Hippolytus (S. 246) und R ICHARD , Opera (S. 52). 187 D E J ONGE , Hippolytus - viele Beobachtungen des folgenden Abschnitts verdanke ich diesem Aufsatz, auch wenn es nicht jeweils im Einzelnen angemerkt wird. <?page no="120"?> 114 Die Aussagen bei Hippolyt sind von erfreulicher Eindeutigkeit. Die Herkunft von Levi und Juda begegnet mehrmals und wird explizit als Abstammung (φύλη) nach dem Fleisch (σάρξ) charakterisiert. Dies ist im Kontext seines übrigen Kommentares ziemlich gegen die Tendenz, denn Hippolyt versucht die Patriarchen eher typologisch aufzufassen. So wird Joseph als Typos für Jesus 188 verstanden. Auch Simeon, Sebulon und Benjamin sind nur als Typos für spätere, neutestamentliche Figuren interessant. Die Typologie darf sogar der Genealogie strikt entgegengesetzt sein, und die eigentliche Wahrheit aussagen, wenn z. B. Esau als Typos der Juden, und Jakob als Typos der (Heiden-)Christen gilt 189 . Daher ist anzunehmen: Hippolyt hat die Abstammung von Juda und Levi nicht etwa „erfunden“, sondern bereits vorgefunden. Darauf weist auch das Wort „εὑρίσκειν“ hin 190 , das er sonst vor allem im Zusammenhang mit Fundstellen in der Heiligen Schrift verwendet. Hat er diese Voraussage in der Heiligen Schrift 191 gefunden? Oder sogar in den TestXII 192 ? Jedenfalls hat er seine Mühe mit diesem Topos. Es passt ihm mehr schlecht als recht in sein typologisches Konzept, es läuft auch seiner theologischen Aussageabsicht entgegen. Israel ist in seiner Darstellung weitgehend verworfen und wird kollektiv für den Tod Jesu verantwortlich gemacht. Die Segnungen Jakobs bezögen sich - so Hippolyt 193 - eigentlich auf Christus und die Christen, während die drohenden Prophezeiungen Israels Schicksal in Zerstörung und Zerstreuung ankündigten. Von daher käme ihm die Verwerfung Levis im Jakobssegen eigentlich wunderbar zupass, kein „Segen“, nur „Prophezeiung“. Aber offenbar lassen das seine Vorlagen nicht zu. Er muss noch etwas Gutes an Levi lassen, denn er soll am Ende Stammvater Jesu nach dem Fleisch (κατὰ σάρκα) sein. Also müht er sich redlich: Levi sei in Juda aufgegangen 194 , er habe als Stamm aufgehört zu existieren, und so sei jeder Judäer im Prinzip auch irgendwie Levit. Aber ganz so, als traue er seiner eigenen Theorie nicht recht, konstruiert er in einer kühnen Kombination aus Matthäus 1,11 und Susanna 1,2 noch eine „echte“ judäo-levitische Abkunft Jesu 195 . 188 Eine solche Typologie ist auch in den TestXII vorhanden, siehe dazu Kap. 5.4, S. 145ff und Kap. 6.2, S. 162ff. 189 H IPPOLYT , benedictiones (M ARIÈS ), S. 10-12. 190 H IPPOLYT , benedictiones (M ARIÈS ), S. 52. 191 Dabei könnte man an die oben genannten Passagen bzgl. Pinchas denken. 192 Diese Vermutung äußert M ARIÈS , aber DE J ONGE widerspricht ihm, eine literarische Abhängigkeit zu den TestXII sei nicht nachweisbar. 193 H IPPOLYT , benedictiones (M ARIÈS ), S. 8-10 u. 52. 194 H IPPOLYT , benedictiones (M ARIÈS ), S. 72. 195 Warum er sich nicht auf die naheliegende Variante über die Maria/ Elisabeth Verwandtschaft bei Lukas einlässt, ist mir nicht ersichtlich. Allerdings kann ich DE J ONGE zustimmen, der schreibt (Hippolytus, S. 258): „Anyone who reads this rather lengthy <?page no="121"?> 115 Die wahrscheinlichste Erklärung für diese Mühen ist, dass Hippolyt eine Tradition vorgefunden hat, die ihm mit einer fast biblischen Autorität eine judäo-levitische Abstammung Jesu vorgegeben hat. Inhaltlich scheint diese Tradition aber recht unbestimmt zu sein, so dass er in der Gestaltung des „wie“ dieser Abstammung offenbar die Freiheit hatte, seine eigenen Gedanken zu entwickeln. Da er die TestXII weder erwähnt noch wörtlich zitiert, kann nicht endgültig bewiesen werden, dass diese Tradition bereits eine schriftliche Form hatte, ja womöglich unsere heutige Version der TestXII gewesen ist. Allerdings muss man zugeben, dass bei derzeitigem Forschungsstand keine plausiblere Alternative zu sehen ist. Der Verweis auf eine gemeinsame ältere Tradition 196 ist in diesem Zusammenhang natürlich möglich. Ich halte es dennoch für wahrscheinlich, dass Hippolyt mindestens ein Levi-Dokument vorliegen hatte, möglicherweise aber auch schon die TestXII als Ganzes, denn die größte semantische Nähe zu seinen Formulierungen findet sich in einer LJ-Passage in TSeb 7,2 und TGad 8,1 197 . Umstritten ist auch die Rolle von 1.Clem 32,2: In der Genealogie von Jakob und den zwölf Stämmen Israels wird Jesus als Nachfahre „κατὰ σάρκα“ zwischen Levi und den Priestern einerseits und Juda und den Königen andererseits genannt. Damit ist zwar keine direkte levitische Abkunft Jesu ausgesagt, da sich das κατὰ σάρκα eindeutig auf Jakob allein bezieht. Diese Rahmung zwischen den beiden Stämmen aber, bei der Levi sogar als erstgenannter fungiert, macht es durchaus wahrscheinlich, dass auch 1.Clem zu einer levitischen Tradition 198 Bezugspunkte hatte. Aber wie immer in der nicht endgültig zu beantwortenden Frage literarischer oder traditioneller Bezug entschieden wird, ist festzuhalten, dass Hippolyt nicht völlig unabhängig von den LJ-Passagen der TestXII auf dieses Thema kommt, es aber doch sehr eigenständig verarbeitet. Diese Eigenständigkeit zeigt sich darin, dass er deutlich zu der eigentlich pro-jüdischen Tendenz dieser Passagen auf Distanz geht und das levitische Priestertum zwar als genealogische Wurzel Jesu stehen lässt, sonst aber nichts Gutes davon zu sagen weiß und es stark von der Schuld der Hohenpriester her bewertet. Im Gegensatz zu den TestXII bringt er auch Psalm 110 und Melchisedek ins Spiel 199 , der sozusagen den geistlichen Aspekt von Christi Hohepriestertum abdeckt, Levi und Aaron dagegen nur den fleischliexposition cannot but admire Hippolytus' ingenuity“ vielleicht war auch das vom Kirchenvater selbst beabsichtigt. 196 So DE J ONGE , Hippolytus, S. 259f. 197 M ARIÈS , Messie, S. 395f. 198 J AUBERT , Thèmes Lévitique, S. 200f weist hier auch explizit auf die TestXII hin. 199 H IPPOLYT , benedictiones, S. 144-146. <?page no="122"?> 116 chen. Damit wird der Widerspruch zu Heb 7, der in den TestXII noch offensichtlich ist, erheblich entschärft 200 . Die Wirkungsgeschichte ist noch wenig erforscht, es scheint als verliefe diese Spur im Sande. Bei Ambrosius ist sie noch nachweisbar 201 , jedoch findet sich auch hier die schon bei Hippolyt geschaffene enge Verbindung aus der Verwerfung Simeons und Levis, die nicht auf ihre Bluttat in Sichem, sondern auf die Schuld der Schriftgelehrten und Hohepriester bezogen wird. Wie bei Hippolyt findet sich auch der Gedanke, eine eigene levitische Abkunft sei durch das Aufgehen des Stammes Levi in den Stamm Juda obsolet geworden 202 . 3.4 Theologisches Fazit: Das Heil kommt von den Juden Schon bei der Interpretation im jüdischen Horizont konnten wir feststellen, dass - anders als bei vielen anderen jüdischen Schriften aus der zwischentestamentlichen Zeit - keine konkrete Figur, Sippe oder Dynastie zum Träger, Bewahrer und Erfüller der Verheißungen propagiert wird. Es ist vielmehr erkennbar, dass mit der Rückbindung an die Erzväter Levi und Juda, mit dem Verzicht auf Konkretionen in Richtung Aaron, Zadok oder andere Priestergeschlechter - wie auch auf David, Serubbabel oder andere Judäer - eine Hoffnung formuliert wird, die das Heil wieder ganz von unten, aus dem Volk, den Stämmen Israels hervorgehen sieht. Wohl nicht zufällig finden sich daher auch sehr kritische Passagen über die konkreten Nachfahren der Stämme, und so kommt das Heil erst nach dem Scheitern, nach der Katastrophe der Könige und Priester Israels. Es kommt als neuer Spross aus dem Stumpf, erstrahlt als Stern in der Nacht. Der Rückgriff auf diese Metaphorik, die Israel wohl schon zu Exilzeiten Trost und Hoffnung gegeben hat, will diese auch in der offenbar schlimmen Zeit der Gegenwart dem Leser vermitteln. Es ist auffällig, dass dabei auf hellenistische Begriffe aus dem Wortfeld des Rettens zurückgegriffen wird. Das Heil wird also durchaus auch zeitbezogen erwartet, in einem Retter und Wohltäter. Das kann ein Priester sein, der das Gesetz in Weisheit lehrt und Erkenntnis (Gnosis) zu vermitteln weiß, oder ein König, der nicht nur Kriege führt, sondern auch Mitleid und Erbarmen kennt. Es ist noch Hoffnung da, Gott vergisst seine Verheißungen nicht, wenn konkrete Projekte schei- 200 Anders DE J ONGE , der hier auch eine „contra Hebrews 7“ Position konstatiert (Hippolytus, S. 259). 201 De Patriarchis, (ed. Schenkl), 3,14 u. 4,16. 202 De patr, 4,16. Allerdings verweist A MBROSIUS auch noch auf Luk 3,29.31 und bringt damit Levi und Nathan als levitische Stammväter Jesu ins Spiel (3,16). J AUBERT , Thèmes Lèvitique, Anm 20 zitiert die Schrift unter dem Namen De benedictionibus patriarcharum. Eine solche Schrift existiert m.W. nicht. <?page no="123"?> 117 tern, wenn der große Baum fällt und verfault. Die Wurzel ist gut, und am Ende wird Gott selbst sein Volk besuchen, und ein neuer Spross wird grünen und blühen. Und dies wird vor dem christlichen Horizont eingelöst durch die Person Jesu Christi. Dieser Jesus Christus kommt aber nicht von außen oder von oben, sondern wird hier ganz und gar als jüdisches Eigengewächs beschrieben, tief verwurzelt in das Volk und die Stämme Israels. Jesus Christus ist nicht das Ende oder gar die Verwerfung der jüdischen Heilsgeschichte, sondern deren logische Fortsetzung und Vollendung 203 . Deshalb kann er seine königliche Würde nur von seiner Stammverwandtschaft mit Juda bekommen und - das ist neu - seine priesterliche Würde nur aus levitischer Abstammung gewinnen. Damit gehen sie auf Distanz zu einer Christologie eines „ewigen“ Priesterkönigs aus vorabrahamitischer Zeit, wie sie der Hebräerbrief von Psalm 110 her entwickelt. Stattdessen betonen sie die Bedeutung der Genealogie, der Volks- und Stammeszugehörigkeit des Verheißenen. Die LJ-Passagen bieten eine Christologie „von unten“, die die menschliche, explizit jüdische Herkunft Jesu betont. Jesus scheint hier ganz der aus dem Volk erwachsene Messias zu sein. Nicht einmal für die Jungfrauengeburt scheint es in dieser Konzeption Platz zu geben 204 . Aber wie verträgt sich das mit den oben besprochenen HA-Perikopen? Wird dort nicht von einem Erscheinen Gottes selbst gesprochen, also einer Christologie quasi „senkrecht von oben“? Dies könnte man wieder diachron lösen und von verschiedenen Interpolatoren mit verschiedenen theologischen Interessen sprechen. Oft sagt dies jedoch mehr über unsere theologischen Konzepte und Vorstellungen aus als über das Denken und Glauben der Texte und ihrer Produzenten 205 . Denn die TestXII sehen in der Verbindung beider Konzeptionen ganz offensichtlich überhaupt keinen Widerspruch 206 . Vielmehr ist beides gemeinsam Erfüllung von Gottes Verheißung. Er hat sowohl den Priestern als auch den Königen Israels seine Gegenwart 203 Insofern kann auch vom Ende des levitischen Priestertums die Rede sein, nicht jedoch aufgrund des Scheiterns, sondern weil es sein Ziel, seine Erfüllung erreicht hat. Vgl. auch Christus als τέλος des Gesetzes bei Paulus (Röm 10,4). 204 Jedenfalls wenn man Joseph dem Stamm Juda und Maria dem Stamm Levi zuordnet. Allerdings sahen weder Mt noch Lk einen Widerspruch zwischen Jungfrauengeburt und Genealogie. Außerdem finden sich Hinweise auf Traditionen, dass Maria sowohl judäisches wie auch levitisches Blut gehabt haben könnte. Dazu siehe unten Kap. 3.3.2f, S. 107ff. 205 Vgl. auch DE J ONGE , Main Issues, S. 516f (Collected Essays 155f). 206 Siehe z.B. TLev 2,11, wo beides in einem Atemzug genannt wird. Desweiteren kann auf TSim 7,1-3 hingewiesen werden. Dort heißt es am Ende schlicht: θεός καὶ ἄνθρωπος (vgl. dazu auch I RENÄUS Fr.IX in Analecta Sacra, ed J.B. Pitra II, S. 208). <?page no="124"?> 118 verheißen 207 . Dass am Ende der Zeiten in einem vollkommenen Priesterkönig aus Levi und Juda Gott selbst sein Volk besucht, ist kein theologischer Denkfehler der TestXII, sondern eines ihrer zentralen theologischen Anliegen. 207 Die Bundesformel, die wir oben als maßgeblichen formalen wie inhaltlichen Hintergrund der HA-Perikopen ausgemacht haben, findet sich im AT sowohl in königlichdavididischen wie auch priesterlich-levitischen Kontexten. <?page no="125"?> 119 4 Unschuldspassagen Ein eigenes Thema im Testament Levis ist die Schuldfrage am Tod Jesu. Da Levi kollektiv für die jüdische Priesterschaft steht (und nicht nur für die „Leviten“ am Tempel 1 ), ist die in den Evangelien geschilderte Mitschuld der Jerusalemer Priesterschaft am Kreuzestod Jesu ein Thema, mit dem sich speziell dieses Testament auseinandersetzen muss. Es ist zumindest augenfällig, dass der Tod Jesu sonst in den Patriarchentestamenten kaum - und oft nur indirekt - erwähnt wird, obwohl er zum Kernbestand christlicher Verkündigung gehört 2 . Wieder einmal zeigt sich, dass das, was uns an „Christlichem“ in den TestXII begegnet, eben nicht einfach nur „common christian“ ist, sondern eine ganz eigene Handschrift trägt. 4.1 Struktur und Fundstellen Klassische Unschuldspassagen gibt es genau zwei, TLev 10,2 3 und TLev 14,2, die auch eine auffallend vergleichbare Struktur aufweisen: 1. Unschuld des Patriarchen - ἀθῷός εἰμι (von Levi, TLev 10) oder καθαρὸς ἔσται (von Jakob/ Israel, TLev 14) 2. an der Gottlosigkeit - ἀσέβεια im Genitiv verknüpft mit ἀπὸ als Trennungspartikel. 3. einer konkreten Generation von Levis Nachkommenschaft, entweder am Ende der Zeiten (TLev 10) oder eben jener Hohepriester (TLev 14) die dem Retter der Welt angetan wird (σωτὴρ τοῦ κόσμου) 4 1 Wie oben schon zu LJ-Passagen gesagt, ist eine Differenzierung in zadokidische, aaronitische und andere Priestergeschlechter den TestXII fremd. 2 Vgl. im Einzelnen dazu unten das Kapitel 5 ab S. 139ff. 3 Tkr steht uns für beide auch eine Gegenüberstellung mit den armenischen Lesarten zur Verfügung (de Jonge, Textausgabe, S. 196f). Keine davon bietet einen weniger „christlichen“ Text. Das Phänomen „christlicher“ Marginaltexte, die teilweise in den Text geraten sind, ist vertraut. Ansonsten finden sich keine inhaltlich bedeutsamen Textvarianten in den griechischen Versionen, die nach tkr Kriterien Anspruch auf besondere Würdigung hätten. 4 Neutestamentlich begegnet dieser Titel im johanneischen Schrifttum: Joh 4,42 und 1.Joh 4,14. Der Titel Σωτὴρ allgemein findet sich darüber hinaus aber auch in Luk, Tit u.a. Nach Überlegungen meines Kollegen F UCHS ist es die griechische Vokabel, mit der hellenistische Judenchristen ihren heidenchristlichen Brüdern und Schwestern den Messias-Begriff kulturell übersetzen (Unterschiede, 99f). Vgl. auch Jung, ΣΩΤΗΡ. <?page no="126"?> 120 Diese Struktur teilen sie mit vielen weiteren „Unschuldspassagen“ in den TestXII sowie im Neuen und Alten Testament: In Gen 24(LXX) kommen zum Beispiel beide Varianten vor: καθαρὸς ἔσῃ und ἀθῷος ἔση , hier im Sinne eines Eides, der den Knecht dann nicht mehr bindet. In der Tat ist von einer „schicksalswirkenden Tatsphäre“ 5 die Rede, wenn die Wendung „ἀθῷος/ καθαρὸς εἶναι ἀπὸ ...“ gebraucht wird. Das kann wie oben genannt ein Eid oder ein Fluch sein, oft ist es aber Blutschuld 6 oder ein anderes (kapitales) Vergehen 7 . Es können auch Zeichenhandlungen wie das Händewaschen von Pilatus oder das Fasten Davids hinzutreten. Während die meisten dieser Belege auf eine Einzelperson bezogen sind, ist in 2. Sam 3,28 David als König mehr als nur ein Individuum. Und so greift seine Unschuldsbeteuerung auch über seine Person hinaus: „Unschuldig bin ich (ἀθῷός εἰμι), ich und mein Königtum (ἐγὼ καὶ ἡ βασιλεία μου) vor Gott in alle Ewigkeit vom Blut (ἀπὸ τῶν αἱμάτων) Abners des Sohnes Ners! “ Im Neuen Testament sind derartige Worte von Pilatus überliefert 8 , aber auch von Paulus in seiner Abschiedsrede an die ephesinischen Presbyter in Milet 9 . Innerhalb der TestXII begegnen solche Formulierungen auch in TSim 6,1 und TSeb 3,1 10 . Formgeschichtlich sind diese „Unschuldspassagen“ noch nicht eingehend untersucht 11 , daher kann hier nur eine versuchsweise Einordnung vorgenommen werden. Sie als „Unschuldserklärung“ oder „Unschuldsbeteuerung“ zu bezeichnen greift zu kurz 12 , denn das würde sie einem juristischen Sitz im Leben zuordnen. Doch das trifft auf keine der genannten Beispiele zu. Aber auch eine rein kultische Verortung im Sinne eines 5 K OCH , Spruch, S. 398. 6 Ex 21,19.28 LXX; Jer 2,35 LXX. 7 Ri 15,3 LXX (κακά); 2. Sam 14,9 LXX (ἀνομία). 8 Ἀθῷός εἰμι ἀπὸ τοῦ αἵματος τούτου·- Mt 27,24. 9 καθαρός εἰμι ἀπὸ τοῦ αἵματος πάντων - Apg 20,26b. 10 Zu den Parallelen in den TestXII siehe unten, Kap.4.2.1, S. 125f. 11 Ich habe zu den diversen biblischen Belegstellen sowohl die einschlägigen Kommentare, als auch den Index Theologicus bzgl. eventueller Aufsätze befragt, ohne zu einem befriedigenden Ergebnis zu kommen. Immerhin gibt es eine formgeschichtliche Untersuchung zur Paulusrede in Milet von H.-J. Michel, die auch intensiv auf die TestXII Bezug nimmt. Die Ergebnisse können indes nicht überzeugen. Der noch beste Artikel zu dem verwandten Spruch „Sein Blut komme auf sein Haupt“ von Klaus K OCH bleibt bei der wenig aussagekräftigen Bezeichnung „Spruch“. 12 B OECKER , Redeformen, S. 49-51.57 bezeichnet mit dem Begriff jedenfalls etwas Αnderes. In der neutestamentlichen Formgeschichte ist die Bezeichnung allerdings verbreitet: vgl. B ERGER , Formgeschichte, S. 360f., M ICHEL , Abschiedsrede, S. 69 und ihm folgend R OLOFF , Apostelgeschichte, S. 302 u. 304 bezeichnen es als „Selbstentlastung des Sterbenden“. Das entspricht zwar der konkreten Funktion innerhalb einer Abschiedsrede, wird aber dem sonstigen Gebrauch des Spruches nicht gerecht. <?page no="127"?> 121 „Reinigungseides 13 “ bleibt defizitär. Es handelt sich zwar um einen performativen Sprechakt, der die verhängnisvolle Wirkung einer wie eine Sphäre 14 gedachten Blut- oder Eidesschuld abwenden will, dafür fehlen aber typische Elemente des Eides wie die Anrufung des Namens Gottes 15 oder eine bedingte Selbstverfluchung - sie sind zumindest verzichtbar. Der Begriff „Reinigungseid“ bedeutet schlicht etwas Anderes 16 . Man könnte es - in Anlehnung an Koch - (Selbst)reinigungsspruch nennen. Der Sprechende 17 löst durch den Spruch sich (oder den so Besprochenen) aus einer Fluchsphäre heraus, die durch Eidbruch, Sünde oder Blutschuld entstanden ist. So ist das ἀπό das einzig konstitutive Element 18 . Davor können Begriffe der Unschuld, Reinheit oder Rechtfertigung gebraucht werden, dahinter können Worte wie Blut, Schuld, Gottlosigkeit, Eid oder dergleichen stehen. Wichtig ist in jedem Falle, dass der Sprechende hier nicht nur etwas beteuert, sondern selber davon überzeugt ist, damit wirklich eine Grenze gezogen zu haben und anschließend tatsächlich rein, unschuldig und gerechfertigt zu sein. Das gilt wahrscheinlich gerade auch für die Belege, in denen der Betreffende sich durchaus nicht sicher sein kann, dass er wirklich frei von Schuld ist: Weder Simson, noch David, noch Pilatus postulieren ihre völlige Reinheit von Schuld wirklich zu Recht. Indem aber ein anderer genannt wird 19 , der noch viel schuldiger ist, wird mit diesem Selbstreinigungsspruch quasi noch die Rest-Schuld, die auf ihnen bleiben könnte, wortwörtlich „entsorgt“, so dass sie sich danach tatsächlich rein und frei von Schuld meinen. 13 So B UDDE , KHC 8, S. 213, ohne weitere Erläuterung. 14 K OCH , Spruch, passim. Man kommt auch ohne den Begriff „Sphäre“ aus. In jedem Falle ist aber die Vorstellung richtig beschrieben, dass das Blut der Erschlagenen auch „metaphysisch“ an ihm haftet und Strafe in Form von Fluch und Vergeltung auf den so Βehafteten zieht. 15 Bei David wird der Name Gottes angerufen, doch nicht als Zeuge oder im Sinne einer bedingten Selbstverfluchung, sondern nur als diejenige Instanz, von der man eine Blutrache befürchten muss. 16 B OECKER , Redeformen, S. 37f. Hier eben als typischer Eid mit Schwurformeln. 17 Es ist bezeichnend, dass dieser „Spruch“ tatsächlich nur in wörtlicher Rede vorkommt. Auch die - freilich literarischen - Testamente gelten ja als Rede des Patriarchen. Der Spruch fehlt aber komplett in der Briefliteratur, selbst wenn sie, wie einige (Deutero-)Paulinen oder Ignatianen deutlich testamentarischen Charakter haben. Dies unterstreicht den Charakter des Reinigungsspruches als performativen Sprechakt, der eben ausgesprochen werden muss, um wirkmächtig zu sein. 18 Womit deutlich wäre, dass es um eine Grenzziehung geht, genaugenommen eine Aus-Grenzung aus der Schuld-, Fluch- oder Blutsphäre. Es hat also durchaus etwas mit „Absolution“ zu tun. 19 Dieser Verweis kann durchaus nonverbal erfolgen, nur David nennt Abner beim Namen. Aber sowohl die schuldigen Philister im Richterbuch, wie auch in Mt das Volk, stehen als „wahre Schuldige“ fest. <?page no="128"?> 122 Die Nennung des „wahren Schuldigen“ gehört also in den engeren Kontext dieses Spruches. Dies kann sehr unterschiedlich ausfallen. Es kann die erwählte Braut ist, die sich weigert dem Knecht zu folgen, die Philister, die ihr Unheil selbst provoziert haben, Joab, der selbst der Mörder ist - oder im Neuen Testament die Menge des Volkes, die die Blutschuld bereitwillig auf sich nimmt 20 . Ein weiterer - bislang unbeachteter - Unterschied zur Unschuldsbeteuerung aus dem juristisch/ dikanischen Bereich ist die Tatsache, dass der (Selbst-)reinigungsspruch auch prophylaktisch gebraucht werden kann, ja in der Mehrzahl der Belege sogar so gebraucht wird. Als Pilatus sich die Hände wäscht, lebt Jesus noch. Auch die Ernte der Philister steht noch auf dem Halm, als Simson sich von aller Schuld an ihrer Vernichtung reinigt. Isaaks Knecht wird prophylaktisch von seinem Eid gelöst für den Fall einer unfolgsamen Braut, und auch Paulus blickt (jedenfalls in der literarischen Fiktion) auf kommende Irrlehren und Spaltungen in der Gemeinde. Wenn der Selbstreinigungsspruch also in die Gattung der Abschiedsreden übernommen wurde 21 , hat das nicht nur den Zweck, dass der Sprechende Rechenschaft über sein zurückliegendes Leben gibt und deshalb „mit sich im Reinen“ scheiden kann. Vielmehr muss erklärt werden, warum eine Notwendigkeit gesehen wird, sich auch von zukünftiger Schuld der eigenen Nachfahren reinzusprechen. Michel weist ihm in diesem Zusammenhang eine überzogene Funktion in der Theodizeefrage zu 22 . Theodizee ist aber eine neuzeitliche Fragestellung, die weder Lukas noch die TestXII sonderlich umtreibt. Stattdessen geht es in diesen Abschiedsreden um die Apologie des „Patriarchen“, also im Falle der Apostelgeschichte darum, Paulus von der Schuld an den ihm folgenden Spaltungen und Parteiungen freizusprechen. Das war offenbar notwendig, denn Paulus war im frühen Christentum keineswegs unumstritten, wie seine eigenen Briefe 23 , aber auch Jak 24 , Apk 25 und PsClem 26 zeigen. Den Vorwurf, mit dem Spalten von Gemeinden angefan- 20 Dazu mehr unter Abschnitt 4.3.1, S. 132ff. 21 So richtig M ICHEL , Abschiedsrede, S. 51. 22 Abschiedsrede, S. 50.52.55. 23 Paulus verteidigt sich mehrfach gegen Vorwürfe und verteidigt seinen Apostolat nachdrücklich, vgl. 1.Kor 9; 2.Kor fast durchgehend, Gal 1,10-3,5; 1.Thess 2 u.ö. 24 Es ist umstritten, ob Jak 2,14-26 sich direkt gegen Paulus richtet oder gegen einen Paulinismus, der die paulinischen Paränesen ignorierte und den Glauben an den „einen Gott“ (Jak 2,19) schon für alles von Gott Geforderte proklamierte. In jedem Falle ist aber die Umdeutung der Abrahamsgeschichte in Jak 2,21 eine Kritik an der paulinischen Deutung in Röm 4,2f und Gal 3,6. 25 Apk 2,14 wird z. B. von B ERGER (Vorlesung über Apk in Heidelberg) für eine Anspielung auf Paulus gesehen, der den Verzehr von Götzenopferfleisch, wie auch die Mischehe, grundsätzlich erlaubt. 26 Die kerygmata petrou rechnen im Namen Petri mit Paulus ab, der nur mit dem Namen des Erzketzers Simon angeredet wird. <?page no="129"?> 123 gen zu haben, macht man ihm bis heute 27 , schließlich ist von ihm das erste „Anathema“ der Kirchengeschichte 28 überliefert. Lukas schildert Paulus als gesetzesobservanten Juden und lässt ihn gerade in den sensiblen Fragen des Fleischgenusses und der „porneia“ 29 Zugeständnisse machen 30 , die sich so nicht aus den paulinischen Briefen erkennen lassen 31 . Insofern ist die Apg nicht nur eine Apologie des Christentums gegenüber seinen heidnischen oder jüdischen Widersachern, sondern auch eine Apologie des Paulus gegenüber seinen innerchristlichen Gegnern. TLev übernimmt diese Funktion der Selbstentlastung. Auch hier wird sie deutlich für Vergehen in der Zukunft in Anspruch genommen. Durch die Mahnungen hat der Patriarch seine Schuldigkeit getan, die künftige Gottlosigkeit seiner Nachfahren zu verhindern 32 , genauer: Es werden auch hier die wahren Schuldigen genannt, ob es jene gottlosen Generationen in den TestXII sind oder die reißenden Wölfe in Apg 20. Aber die Entlastung des „Sprechenden“ ist unter den Bedingungen der Pseudepigraphie eine literarische Fiktion. Deshalb muss gefragt werden, wer hier eigentlich aus der Fluch- und Schuldsphäre herausgelöst werden soll. Es macht nur Sinn, wenn man den Patriarchen als Repräsentanten des Kollektivs sieht, der die Schuld zurückweist auf einzelne Übeltäter aus den eigenen Reihen. Die inhaltliche Nähe zu Davids Versuch, mit der Blutschuld an Abner seinen Feldherren und Kriegsminister Joab zu behaften und das Kollektiv seiner βασιλεία davon frei und rein zu halten, ist nicht von der Hand zu weisen. Das bedeutet, dass die Strafe diesen konkreten Übeltäter auch treffen darf, ja treffen muss 33 , damit die Schuld- und Blutsphäre beseitigt wird. Die benannten Schuldigen dienen gewissermaßen als „Blitzableiter“ für das, was 27 Vgl. Lüdemann, K ETZER , S. 71-112. 28 Gal 1,8f. 29 Die Bedeutung der „porneia“ ist nicht ganz klar. Während es wohl für judaisierende Gegner von Paulus fraglos so war, dass jeder Verkehr mit heidnischen Partnern den Tatbestand der „porneia“ erfüllte, war für Paulus das Kriterium mehr das, was „nicht einmal unter den Heiden“ erlaubt ist, vgl. 1.Kor 5. Der Kontext jüdischer Ritual- und Reinheitsgesetze in den Konflikten rund um das sog. Apostelkonzil lässt die Vermutung zu, es sei dort - zumindest einer der beteiligten Seiten - wohl nicht nur um Unzucht im engeren Sinne gegangen. 30 Apg 15,29. 31 Gal 2,2-10; 1. Kor 7,12-16; 8,1-13. 32 So auch Paulus in Milet, Apg 20,26. Der Reinigungsspruch steht bei ihm ebenfalls direkt vor den düsteren Weissagungen über die Zukunft. 33 Hier knüpft Michel die Theodizeefrage an: Gegenwärtiges Unheil würde als Gottes notwendige Strafe apostrophiert und damit legitimiert. Das ist m. E. nicht die Fragestellung der TestXII. Strafen Gottes sind immer legitim, die Frage für die Sterblichen ist nur, ob sie die Schuld erkennen, die sie heraufbeschworen hat. Und genau dazu dienen die Ermahnungen der Patriarchen. <?page no="130"?> 124 als notwendige Konsequenz aus dem unschuldig vergossenen Blut folgen muss: Tod und Zerstörung, Unheil und Fluch. So sind die Unschuldspassagen ein Teil der sogenannten SER-Passagen (sin-exile-return), die de Jonge hinlänglich beschrieben hat 34 . Dabei weist er zu Recht darauf hin, dass durchaus mehrere „sin“-Passagen als Schuld der Nachkommen der Patriarchen gegen den zukünftigen Messias interpretiert werden können. Neben den genannten Levi Passagen enthielte auch je eine in TSeb 9,9; TGad 8,2 und TAss 7,5 signifikant christliche Elemente in der Voraussage der Sünden der Nachkommenschaft 35 . Dies ist insofern richtig, als in allen Fällen ein Rückbezug auf eine deutlich christliche HA- oder LJ- Perikope gegeben ist. Jedoch ist in keiner der Passagen wirklich vom Tod des Verheißenen Retters die Rede, sondern nur vom Ungehorsam, von Boshaftigkeit und anderen Sünden, die auch für die übrigen SER-Passagen typisch sind. Allein in TLev 16,3 ist noch vom Mord an dem Mann die Rede, der das Gesetz des Höchsten wieder aufrichten wird, doch wird auch hier keine endgültige Verwerfung als Konsequenz gepredigt, sondern Hoffnung auf Gnade in der Endzeit 36 . Übrigens wird diese Gnade in TAss 7,7 ausdrücklich auf die Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob zurückgeführt. Damit kann TAss 7,7 indirekt ebenfalls als Unschuldspassage gelten. Im Zusammenhang betrachtet bedeuten die Unschuldspassagen also eine Behaftung von fluchwürdigem Vergehen auf die konkreten Übeltäter einer konkreten Generation. Diese muss die Konsequenzen bitter zu spüren bekommen. Das Kollektiv, für das der patriarchale Repräsentant spricht, ist aber gerade dadurch gereinigt und schuldlos. 4.2 Jüdische Tradition Die Passagen stehen im Kontext der von de Jonge beschriebenen SER- Passagen 37 , und diese lassen sich mit ihrer harschen Kritik am priesterlichen und auch herrschaftlich königlichen Establishment mühelos einordnen in eine deuteronomistische Kritik 38 an Israels Mächtigen 39 . Diese Kritik kann zuweilen vernichtend ausfallen und findet sich auch zu hellenistisch- 34 Testaments (1953) und Commentary, vgl. auch ders., Levi, S. 182. 35 Commentary, S. 53f. 36 TLev 16,5. 37 Zuerst in ders., Testaments (1953). 38 Siehe S TECK , Israel, S. 149-153, vgl. auch B ECKER , Untersuchungen, S. 172-177, H ULT- GAARD , L'Eschatologie, S. 82-174. Die besondere Rolle des unschuldig vergossenen Blutes in diesem Kontext beschreibt kurz und prägnant D ÖPP , Tempel, S. 18. 39 So z. B. programmatisch in Jer 19,1-13: Die Adresse an die Priester, Ältesten und Könige, die Nennung von Götzendienst und unschuldig vergossenem Blut (v. 4) und als Strafandrohung die Zerstörung des Tempels und der Stadt. <?page no="131"?> 125 römischer Zeit noch weit verbreitet in den Apokryphen und Pseudepigraphen 40 wie auch in den Qumrantexten. Spuren lassen sich bis in die rabbinische Literatur 41 hinein verfolgen. Dass diese Bosheit mit dem Thema des „Leidenden Gerechten“ verknüpft werden kann, wird am Beispiel der Jeremialiteratur 42 deutlich: Nicht die Propheten als Kollektiv, sondern der eine Prophet, der eine Gerechte leidet unter der Ungerechtigkeit des Volkes einerseits - und unter der Last des drohenden Gerichtes andererseits. Die verschiedenen Ansätze der Verurteilung der gegenwärtigen Herrscher unterscheiden sich kaum in der Voraussage eines göttlichen Gerichts, das in relativ stabilen Faktoren wie Krieg, Zerstörung des Heiligtums, Armut und Exil oder Naturkatastrophen und dergleichen geschildert wird. Signifikante Unterschiede finden sich eigentlich nur bei der Benennung des Heiligen Restes, in der Regel der Produzenten- oder Tradentengruppe dieser Texte. 4.2.1 Im Kontext der TestXII „Siehe, ich sage Euch dies alles vorher, damit ich gerechtfertigt bin von den Sünden eurer Seelen“ TSim 6,1 Zunächst stehen die Unschuldspassagen im Kontext der Bekenntnisse der Patriarchen, die auch an anderen Stellen ihre Reinheit und Unschuld beteuern - und damit als Vorbild für kommende Generationen da stehen, oder aber ihre Sünden bekennen, um ihre Nachkommenschaft zu besserem Handeln aufrufen 43 . Zu nennen wären: TRub 1,10; TIss 3,1-6 und 7,1-6; TSeb 1,4-5; TAss 5,4. Eine besondere Nähe legt auch das Bekenntnis Sebulons nahe (TSeb 3,1), der sich unschuldig erklärt am Schicksal Josephs 44 . Dies ist vor allem deshalb von großem Interesse, weil die Schuld der Brüder an Joseph paradigmatisch für die Schuld Israels als Ganzes gelten kann. Schon im Rahmen der jüdischen Tradition wird die Josephsgeschichte mit dem Jom 40 So z.B. Bar 3,10-13, 4. Esra 8,31, syr Bar - u. ö.! 41 Hier sei nur auf die von D ÖPP , Deutung, S. 87-98 und S. 170-193 angeführten Belege hingewiesen. 42 Jeremia, Baruch, Threni, VitProphJer, Paralipomena Jeremiae. 43 Vgl. dazu auch A SCHERMANN , Formen, S. 63ff. der es zutreffend zunächst in die Gattung der paränetischen Formen einreiht. Die These von M ICHEL , Abschiedsrede, S. 51f es ginge in der „Unschuldsbeteuerung“ nicht nur um die „Entlastung des Sterbenden“, sondern auch um die Theodizee, weil so das (gegenwärtige oder vergangene) Unheil als Strafe Gottes legitimiert würde, ist m. E. etwas weit hergeholt - siehe oben, Anmerkungen und in diesem Kapitel. 44 Die Figur Josephs stellt oft das Scharnier zwischen den biographischen Notizen und den paränetischen Ermahnungen dar. Vgl. H OLLANDER , Joseph, passim. <?page no="132"?> 126 Kippur verknüpft 45 . Kaum anders verhält es sich in der christlichen Interpretation, wo Joseph - gerade in TSeb - als Typos Christi dargestellt wird, dazu unten 46 mehr. Hier reicht der Hinweis, dass das Handeln der Brüder gegen Joseph in TSeb 2,2 mit den Begriffen ἐπάγειν χεῖρας und ἐκχεῖν αἷμα ἀθῷον bezeichnet wird. Sie sind semantisch identisch mit den Schuldvorwürfen an die Nachkommen Levis 47 . Im zweiten Begriffspaar wird auch deutlich der Aspekt unschuldigen Blutes und damit der Schuldsphäre angesprochen. Noch deutlicher wird TSim 6,1, wo Simeon seine Ermahnungen ausdrücklich damit begründet, dass er durch diese gerechtfertigt würde von den Sünden seiner Nachkommen: „Ἰδοὺ προείρηκα ὑμῖν πάντα, ὅπως δικαιωθῶ ἀπὸ τῆς ἁμαρτίας τῶν ψυχῶν ὑμῶν“. Zunächst dienen diese Beteuerungen der Unschuld also der paränetischen Funktion 48 , die Patriarchen als moralische Vorbilder intakt zu halten. Sie heben sich in Reinheit und Tugend von dem Mittelmaß ihrer nachfolgenden Generationen, vor allem der zunehmend als verderbt wahrgenommenen Wirklichkeit der Gegenwart ab. Auch da, wo sie gesündigt haben, sind sie in der Lage, diese Schuld zuzugeben, Buße zu tun und ihr Leben zu ändern 49 . Davon können die Nachkommen ebenfalls lernen. Nicht zuletzt werden die Patriarchen selber dadurch von der Sünde der Nachkommen gerechtfertigt, dass sie ihre Kinder rechtzeitig gewarnt und ermahnt haben 50 . Im eschatologischen Kontext - und der ist in unseren konkreten Unschuldspassagen in TLev 10 und 14 klar gegeben - ist jedoch unübersehbar, dass die Patriarchen die gute Wurzel darstellen, die durch den Wildwuchs ihrer Triebe nicht verdorben werden kann. Aus dieser guten Wurzel soll schließlich noch die Erlösung sprießen, also muss sie rein bleiben, integer und gut, selbst wenn einige Zweige giftige Früchte tragen und in Folge ihrer Verdorbenheit abgehauen und verbrannt werden müssen 51 . 45 Jub 34,12f .18. 46 Kapitel 5.4 S. 145ff. 47 χεῖρας ἐπιβάλλειν TLev 14,1f; αἷμα ἀθῷον TLev 16,3. 48 Einmal mehr zeigt sich das Ineinandergreifen von Paränese und Eschatologie in den TestXII. Es macht wenig Sinn, die Unschuldspassagen allein von ihrer paränetischen Seite her zu betrachten, wie Aschermann es tut, oder sie ganz allein in ihrer eschatologischen Funktion zu sehen. 49 Ob nicht gerade das Motiv der Vergebung als zentrales Thema der Paränese christlich ist, wird von DE J ONGE , Pseudepigrapha, S. 158f zur Diskussion gestellt. Dies wäre speziell bei Simeon, der ja die Rolle des Erzbösewichts gegenüber Joseph spielt (vgl. TSim 1,6f; 2,11; TSeb 2,1 u.ö.), insofern von Bedeutung, als man zumindest auf christlicher Ebene von einer Joseph-Christus Typologie ausgehen kann (vgl. dazu unten, Kap 5.4, S. 145f). 50 Vgl. dazu auch Paulus in Milet (Apg 20,17-38: Er hat das ganze und reine Evangelium gepredigt und ist somit unschuldig an zukünftigen Irrlehren. 51 Vgl. TJud 24,2f mit Jes 9,14 und 11,1 - vgl. auch das Ölbaumgleichnis des Paulus in Röm 11, 16ff. <?page no="133"?> 127 4.2.2 Kein unschuldiges Blut über das ganze Volk „Unsre Hände haben dies Blut nicht vergossen, ... lege nicht das unschuldige Blut auf dein Volk Israel! “ Deuteronomium 21,7f. In der Regelung über die Sühnung des Erschlagenen von unbekannter Hand in Dtn 21,7f findet sich das Bekenntnis der Ältesten: „Unsre Hände haben dies Blut nicht vergossen, so haben's auch unsre Augen nicht gesehen. Sei gnädig deinem Volk Israel, das du, HERR, erlöst hast; lege nicht das unschuldige Blut auf dein Volk Israel! “ Hier findet sich die Abwendung von Blutschuld nicht von einem einzelnen oder einer Gruppe Individuen, sondern tatsächlich vom Kollektiv des ganzen Volkes. Hinter diesem rituellen Schwur steht genau diese Vorstellung von Schuld-, Fluch- oder Blutsphäre 52 , die wir als traditionsgeschichtlichen Hintergrund für alle alt- und neutestamentlichen Unschuldspassagen dargestellt haben. Wenn eben kein Schuldiger gefunden wird, der die Schuld sühnt, dann bleibt das Unheilvolle „in der Luft“ und könnte das ganze Volk betreffen, oder Einzelne daraus. Ziel dieses Reinigungsrituals ist also, diese Schuldsphäre abzubauen. Dazu müssen die Ältesten als Autoritäten auftreten, die auch das Recht haben, für das Volk zu sprechen. Vorher müssen sie sich einem Akt der Reinigung unterziehen. Mutatis mutandis könnte man in den TestXII also die Patriarchen als Älteste vor Gott stehen sehen: Sie betonen ihre Unschuld (ἀθῷος) und Reinheit (καθαρὸς), und wenden so unschuldiges Blut ab vom Volk - ihren Nachkommen. Dazu signifikant ist die Passage TLev 16,3b: Eine bestimmte Generation der Nachkommen Levis vergießt unschuldiges Blut, das auf ihre Häupter kommt. Aber Schuld und Strafe bleiben bei denen „haften“, die selber die Sünde getan haben. Deshalb wird auch konkret „ihr“ Tempel zerstört 53 (TLev 16,24). Die Blutschuld liegt nicht auf dem ganzen Volk 54 . Auf der Ebene jüdischer Tradition interpretiert, zeigt sich ein Unterschied darin, ob sich in der Frage bezüglich der Sühne für einen Mord ein Schuldiger finden lässt, der den Fluch, die „Blutsphäre“ vom Volk abwendet. 52 K OCH , Spruch, S. 398. 53 Der Topos unschuldig vergossenen Blutes als Ursache der Tempelzerstörung ist keineswegs ein genuin christlicher Topos. Sein traditionsgeschichtlicher Hintergrund geht auf die Deutung der Zerstörung des ersten Tempels durch das sog. Deuteronomistische Geschichtswerk und den Propheten Jeremia zurück und hat seine Spuren in der rabbinischen, apokalyptischen und christlichen Literatur hinterlassen - vgl. dazu D ÖPP , Deutung, S. 18-32. 54 Von „unschuldigem Blut“ ist übrigens auch in Jona 1,14 die Rede - ebenfalls um Kollektivschuld abzuwenden. Mt 27,25 ist keineswegs die einzige biblische Parallele. Vgl. im weiteren dazu meine Anmerkungen zu Mt 27,25 unten, Kap. 4.3.1, S. 132ff. <?page no="134"?> 128 In den TestXII hat also gerade die Behaftung der Schuld auf die konkrete Levitengeneration eine reinigende Wirkung - nicht nur auf die Patriarchen selber, sondern auch auf das Volksganze. Die schicksalswirkende Blutsphäre des durch die Söhne Levis vergossenen unschuldigen Blutes hat einen Kondensationspunkt, eine Art „Blitzableiter“ in den wahren Schuldigen. Und so wird das Gericht über den Tempel und die Priestergeneration als eine Art „reinigendes Gewitter“ verstanden, an dessen Ende die Patriarchen - und mit ihnen das Volk - rein, unschuldig und gerechtfertigt dastehen. Das Motiv des vom Gericht verschonten Restes hat ebenfalls eine jüdischalttestamentliche Traditionsgeschichte. 4.2.3 Das Motiv des heiligen Restes und früherer Reinheit „Bringe uns, HERR, zu dir zurück, dass wir wieder heimkommen; erneure unsre Tage wie vor alters! “ Klagelieder 5,21 Es ist nun hinreichend deutlich, welche Struktur und Bedeutung dieser Selbstreinigungsspruch in seinen jeweiligen Kontexten hat. Dennoch bleibt die Frage nach dem Sinn und Zweck im speziellen Kontext der Patriarchentestamente. Geht es nur darum, den einzelnen Patriarchen als ethisches Vorbild intakt zu halten? Wie oben 55 bereits geklärt, besteht auch eine Nähe zum Motiv der guten Wurzel, aus der wieder Rettung sprießen kann. Dies ist das Motiv des Heiligen Restes, jener Stumpf, der übrig bleibt, und aus dem ein neuer Spross hervorgehen wird, wie es in Jes 9-11 geschildert wird 56 : Ein Rest kehrt um 57 , ein Rest bleibt rein, ein Rest wird bleiben. Die Vorstellung gleicht einem Flaschenhals: Die Vergangenheit, die Väter waren gut, die Zukunft wird auch wieder gut sein, nur die Gegenwart ist verdorben. In dieser Gegenwart überleben nur die, die es den Vätern gleichtun. Sie sind die Hoffnung für die Zukunft. Aus dieser Vorstellung heraus entspringt auch die Rede davon, dass sich Gott erbarmen wird um der Väter willen 58 . Die Integrität, die Reinheit der Vätergeneration ist also geradezu heilsnotwendig. Mit ihnen hat Gott jenen 55 Siehe Abschnitt 4.2.1, S. 125f. 56 Vgl. auch Jes 4,2ff: Hier ist Vegetationsmetaphorik verbunden mit der Vorstellung vom Heiligen Rest. Die Begriffe Stamm (φυλή) und hervorsprossen (ἀνατέλλειν) sind durchgängige Terminologie in den Levi-Juda Passagen, siehe oben Kap. 3.1, S. 87ff. Dass also gerade bei Levi die Integrität des Stammvaters, der Wurzel des Stammes (wieder)hergestellt wird, ist sicherlich kein Zufall. 57 Jes 7,3. 58 Dieses Motiv findet sich z. B. in 2. Kön 13,23 und in Röm 11,28. Vgl. dazu TLev 15,4: Καὶ εἰ μὴ δι’ Ἀβραὰμ καὶ Ἰσαὰκ καὶ Ἰακὼβ τοὺς πατέρας ἡμῶν, εἷς ἐκ τοῦ σπέρματός μου οὐ μὴ καταλειφθῇ ἐπὶ τῆς γῆς. <?page no="135"?> 129 Bund geschlossen, der nun Hoffnung trotz Sünde und Exil gibt: Hoffnung auf eine Rückkehr und eine Erneuerung des Bundes 59 . Der Rückbezug auf eine frühere Heilszeit 60 , in der Israel noch eine intakte Gottesbeziehung 61 hatte, führt in der jeweiligen Gegenwart zum Versuch, diese Zeit zu imitieren 62 . Der in dieser Hinsicht populärste Bezugspunkt war die Zeit der Wüstenväter. In der Wüstenzeit war Gott dem Volke nahe, in der Wüste am Horeb wurde der Bund geschlossen. Kanaan 63 ist der Abfall von dieser „ersten Liebe 64 “, der Beginn der Dekadenz und der Anfang vom Ende. Die Abwendung dieses schrecklichen Endes verspricht man sich von einer Hinwendung zum Leben der Wüstenväter 65 . Immer wieder versuchte man, diese Zeit zurückzuholen, indem man auf die „Segnungen“ der Zivilistation, der Sesshaftigkeit, des Ackerbaus und Handwerks verzichtete 66 . Auch die TestXII beschwören eine alte, heilige Zeit intakter Gottesbeziehung gerade angesichts von Krisen und Katastrophen. Auch sie besinnen sich in ihrem ganzen Oeuvre auf die Zeit, in der Gott seinen Bund 67 geschlossen und aus einer kleinen Zahl Menschen ein ganzes Volk formte. Das wirklich Auffällige an den TestXII ist dabei , dass sie als die Zeit der heiligen Väter nicht etwa die nomadische Wüstenzeit darstellen, sondern mit den zwölf Patriarchen durchaus bodenständige Leute als Vorbilder der früheren Heilszeit aufstellen. Diese Auffälligkeit wird jedoch nur sichtbar, 59 In Mal 2,1-9 mit der Person Levis verknüpft - und damit die vielleicht engste Berührung mit den TestXII. 60 Man könnte diesen Bezug als das entscheidende Motiv für Pseudepigraphie schlechthin bezeichnen, wenn die Heiligen der frühesten Vergangenheit als Autoritäten fungieren. 61 Explizit begegnet dieses Motiv z.B. in Ez 20,5 und Hos 11,1 oder Klgl 5,21 - vgl. auch Apk 2,4f. 62 Die paränetische Aufforderung der TestXII, die Patriarchen in ihrem guten Handeln zu imitieren, hat durchaus auch einen soteriologischen Aspekt. 63 Es ist nicht zufällig, dass Johannes der Täufer im Jordan tauft und nicht irgendein Wasserbecken im Kulturland wählt. Sinnfällig wird deutlich, dass das Heil Gottes jenseits des Jordans ist, in der Wüste, fern vom Kulturland Kanaan. 64 Dass dieser Topos, wie er sich im Propheten Hosea und daraufhin in der Prophetie und Apokalyptik des Judentums findet, übergangslos von christlicher Seite übernommen wurde, zeigt z.B. Apk 2,4. 65 Vgl. den ansatzlosen Übergang in christlich-monastische Traditionen. 66 Vgl. den Artikel B ERNHARDTS : Naziräer in TRE 24, S. 10-12 . 67 Der Bundesschluss mit Abraham kommt in den TestXII nicht vor. Der Begriff διαθήκη findet sich fast ausschließlich in der Bedeutung „Testament“ in den Überschriften zu TRub, TNaph, TGad, TAss und TJos. Nur in TBen 3,8 taucht er als „Bund“ auf, und das nicht in Bezug auf Abraham sondern aufdas Lamm. Der Bezug zum „Bund der Väter“ ist aber implizit durch die Aufnahme der Vätergeschichten vorhanden. Speziell der Segens Jakobs für seine Söhne (Gen 49) gilt als Vorlage für die TestXII. <?page no="136"?> 130 wenn man die eschatologischen und die biographisch-paränetischen Passagen im Zusammenhang liest, und nicht auseinanderdividiert 68 . Das Besondere an den Unschuldspassagen ist also nicht so sehr die Erwartung, dass Israel am Ende den Propheten aller Propheten umbringen könnte - das hatte Elia auch schon für möglich gehalten 69 . Das Besondere ist auch nicht die Erwartung des Erbarmens Gottes nach dem Gericht. Besonders ist, dass der Heilige Rest nichts mit der Wüste zu tun hat. Typische Reform- und Umkehrbewegungen im Judentum haben immer wieder den Weg in die Wüste gesucht. In der Wüste war die Gottesnähe, diese konnte man suchen, in dem man tatsächlich in die Wüste floh und dort lebte. Beispiele dafür gibt es die ganze Geschichte Israels hindurch: Elia 70 , die Rechabiter 71 , David hatte eine Wüstenzeit 72 und auch in der Zeit des Frühjudentums wird man reichlich fündig, ob man die erste Zeit der Makkabäer 73 , die „Qumran-Sekte“ 74 oder Johannes den Täufer nimmt - die Bilder gleichen sich. Alternativ konnte man sich in Zivilisationsaskese mitten unter den Bewohnern des Kulturlandes üben, indem man sich dessen Segnungen - die als Fluch empfunden wurden - entzog. So wird Simson als der erste „Nasiräer“ beschrieben 75 , und noch zur Zeit von Paulus scheint diese Art von Askese eine Rolle gespielt zu haben 76 . Wenn man in den Hebräerbrief blickt, ist das „wandernde Gottesvolk 77 “ geradezu die Blaupause für die Ge- 68 Die Mahnung zu maßvollem Weintrinken in TJud 14 wäre ein Schlag ins Gesicht für alle Nasiräer, Täuferjünger oder andere Asketen - vgl. auch TIss 7, 3. 69 1.Kön 19,10.14. 70 2.Kön 1,8. 71 1.Kön 10,15ff und Jer 35,6ff. 72 1. Sam 23,14ff. Hat gerade diese Zeit ihm die Legitimation verschafft, ein ziemlich „kanaanäisches“ Königtum in Israel, Juda und Jerusalem aufzubauen? Vgl. dessen Beschreibung bei D ONNER , Geschichte, 1.Bd., S. 220ff. 73 1. Makk 2,28. 74 Es gibt erhebliche Differenzen darüber, ob es so eine Gruppierung überhaupt gab, ob die in CD geschilderte Gemeinschaft wirklich in Qumran wohnte, und ob es sich um ein abgelegenes Wüstenversteck oder nicht doch eine recht lebendige Karawanserei, Manufaktur oder dergleichen handelte. Tatsache ist aber, dass es eine Gruppe gab, deren Urkunden mit CD, 1QS und 1QM und anderen Texten durchaus dem Bild eines Heiligen Restes in der Wüste entspricht. Ob diese Gruppe wirklich in Qumran wohnte (aber wo sonst? ), und ob man sie als „Essener“ bezeichnen kann, ist freilich damit noch nicht entschieden. 75 Ri 13,5, vgl. Num 6,1-21, 1. Sam 1,11 u.ö. Allein Rubens Buße in TRub 1,10 wird ähnlich beschrieben - aber es ist eine auf 7 Monate befristete Bußleistung und kein neuer Lebensstil. 76 Apg 21,23ff. Vgl. auch die Kritik der Johannesjünger an Jesus als „Fresser und Weinsäufer“ in Mt 11,19par. 77 Vgl. K ÄSEMANN , Gottesvolk, passim. Er bezeichnet die in Heb 3,7-4,13 typologisch aufgefasste Wüstenwanderschaft als „Grundmotiv“ (S. 5) des Hebräerbriefes. Dies wurde bestritten, aber z. B. durch G RÄßER , Gottesvolk, passim, überzeugend verteidigt. <?page no="137"?> 131 meinschaft der Christen. Der Heilige Rest kam irgendwie immer aus der Wüste. Hier in den TestXII sind biedere Dorfbewohner die Paten für den heiligen Rest: Bauern, Fischer, Händler und Handwerker. Keine Askese, keine besondere Radikalität, kein Eifer 78 und keine Entsagung zeichnet sie aus, sondern allein eine tugendhafte Moral 79 . Sie wäre wohl von manchem Eiferer für das Gesetz des Herrn für die reine Spießbürgerlichkeit gehalten worden - zumal sie sich kaum von dem abhob, was das hellenistische Umfeld lehrte 80 . Das Fehlen jeglicher Identitätsmerkmale 81 ist untypisch für die Rede vom Heiligen Rest. Dazu passt dann, dass zum geheiligten Rest in den Unschuldspassagen ausdrücklich auch Heidenvölker gehören. Dass auch ihnen Gottes letzte Zuwendung gelten wird, ist zwar nicht dezidiert unjüdisch 82 , aber im Kontext des Heiligen Restes schon sehr bemerkenswert. 4.2.4 Fazit Auf jüdischer Ebene haben wir wieder eine interessante Verknüpfung von Motiven vorliegen: Den Rahmen bildet das deuteronomistische Geschichtsbild mit Sünde, Verwerfung und Restauration eines heiligen Restes. Auffällig ist, dass die Restauration der Heilszeit weder mit einem neuen Tempel 83 , einem Neuen Zion, einer neuen Mitte gedacht wird, noch mit einer Rückkehr in die Wüste, in die Gottesnähe. Vielmehr werden mit den Patriarchen 78 Vgl. nur die Rolle des Eiferns bei Pinehas, Elia, den Rehabitern, Makkabäern usw. - und dagegen die sehr negative oder zumindest ambivalente Sicht des ζέλος in TRub 3,5; 6,4f; TSim 2,6f; 4,5.7; TLev 6,3; TJud 13,3; TIss 4,5; TDan 1,6; TGad 7,4; TAss 4,5 ; TBen 4,4. 79 Als Beispiel nur TIss 7,1-7. 80 Sie sind dabei der populären Ethik kynisch-stoischer Diatribe zum Teil noch näher als philosphisch geprägten Stadtmenschen wie Philo. Dieser bemüht sich zwar auch in de specialibus legibus, jüdische Spezialgesetze in hellenistische Tugendethik zu übersetzen - doch geht es oft um weit abstraktere Tugenden, als in den an konkreter Moral interessierten TestXII. 81 Nicht einmal normale jüdische Identitätsmerkmale spielen eine Rolle, wie z. B. Beschneidung, Essensgebote oder Sabbatheiligung, geschweige denn besondere sichtbare Auszeichnungen, wie Haartracht, Kleidung oder völliger Verzicht auf Kulturgüter wie Brot und Wein. 82 In der Regel aber kommen die Völker zum Heil, gedacht zum Beispiel als Völkerwallfahrt zum Zion, wie in Mi 4 resp Jes 2; 60. Vgl. auch Mal 1,6-2,6: In dieser Perikope wird der Gottesdienst der Heidenvölker ebenfalls als vorbildlich dem unwürdigen Treiben der Tempelpriesterschaft gegenübergestellt. 83 Immerhin begegnet das Bild eines himmlischen Tempels TLev 5,1; 18,6. Auch der „letzte“ Tempel in TBen 9,2 ist eher eine eschatologische Größe, vgl. H OLLANDER / DE J ONGE , Commentary, S. 435. Im Kontext von TBen wird gerade deutlich, dass mit dem Ende des Tempels der Geist auf die Völker übergeht und förmlich durch den Riss des Vorhangs heraus fließt. Eine reale Mitte existiert danach nicht mehr. <?page no="138"?> 132 als Träger des Bundes und Garanten der Gottesnähe sehr bodenständige, anständige Leute über die Schuld und Verfehlung der Nachfahren erhoben. Gottesnähe ist weder in Kult noch in Askese, sondern in Tugend wiederzufinden, und folgerichtig ist die Nachfolge dieser Helden der Vorzeit grundsätzlich auch für Heiden möglich. Damit zeigt sich ein „Sitz im Leben“ des hellenistischen Diasporajudentums, das ohne Tempel und Kult auskommen muss und in der Regel bürgerlich verfasst ist. Es kann mit dem Radikalismus von Naziräern und anderen Asketen wenig anfangen. Stattdessen ist man bemüht, Gemeinsames mit der heidnischen Umwelt zu finden, gerade im ethischen Bereich. Es besteht sogar die Neigung, speziell die tugendhafte Seite der Torah auf dem 'globalen' Markt der Weltanschauungen anzupreisen. 4.3 Christliche Interpretation 4.3.1 Kollektivschuld der Juden im NT? Sein Blut über unser Haupt und das unserer Kinder Mt 27,25 Die Erwähnung des Blutes, dass über die Häupter der Nachkommen Levis kommen soll (TLev 16,3), wird in Mt 27,25 assoziiert 84 . Das ist zwar durchaus nachvollziehbar, doch wird bei der frappierenden Ähnlichkeit die Differenz übersehen. Wieder führt der Eifer, etwas als „common christian“ zu definieren, zu Ungenauigkeiten im Detail: In Mt. 27 antwortet das ganze Volk (πᾶς ὁ λαὸς) 85 , und beschwört Jesu (unschuldiges) Blut (τὸ αἷμα αὐτοῦ) „auf uns und unsere Kinder“ (ἐφ ἡμᾶς καὶ ἐπὶ τὰ τέκνα ἡμῶν). Über diesen Vers gibt es - vor allem mit Beginn des jüdisch-christlichen Dialogs nach der Shoa - eine Vielzahl von Untersuchungen, die hier nicht im Einzelnen gewürdigt werden können 86 . Sicherlich ist richtig, dass nicht wörtlich das ganze Volk Israel auf dem Platz stand, sondern immer noch der gleiche „ὄχλος“ wie zu Beginn der Verhandlung. Es ist also zutreffend, hinter dem Wechsel von der „Menge“ zum „ganzen Volk“ eine theologische und nicht unbedingt eine historische Aussage zu sehen. Diese sollte aber nicht - auch nicht aus den edelsten Motiven 87 - entschärft werden 88 . Für Matthäus steht- wie auch in den Passionsgeschichten 89 84 Z.B. H OLLANDER / DE J ONGE , Commentary, S. 172. 85 Die Wendung vom ὄχλος zum λαός ist kaum zufällig, vgl. L UZ , Matthäus, S. 277f. 86 Eine Übersicht verschafft L UZ , Matthäus, S. 264. Neuere (bei Luz nicht erfasste) Aufsätze zum Thema bieten J ANKOWSKI , Blut (2000) und H ARLÉ , Sang (2003). 87 Dazu zählt die Überwindung des Antisemitismus' in der Auslegungsgeschichte von Mt 27,25 allemal! 88 So ganz richtig auch L UZ , Matthäus, S. 288. <?page no="139"?> 133 der anderen Evangelisten - in dieser Szene der Messias vor seinem Volk, und wird von ihm abgelehnt, ja dem Tode überantwortet. Er ist für Matthäus nicht von einem zufällig zusammengelaufenen Mob gelyncht worden, selbst wenn er selber die Menge ähnlich charakterisiert. Fraglich ist, ob die anwesende Menge tatsächlich repräsentativ für das ganze Volk mit dieser „bedingten Selbstverfluchung“ (T HEISSEN 90 ) die Blutschuld auf alle ziehen kann 91 - für den Fall, dass Jesus unschuldig sei. Matthäus hat es wohl so gesehen, wenn auch bereits im Rückblick auf die erfolgte Realisierung des Fluches durch die Zerstörung Jerusalems und des Tempels 92 . Problematisch wird diese Sicht mit der bereits bei Origenes 93 einsetzenden Überzeugung, dass diese Blutschuld nicht mit einer einzigen Katastrophe abgegolten werden kann, sondern von allen Generationen des jüdischen Volkes bis zum Ende der Welt abgetragen werden muss 94 . Richtiggehend kriminell erscheint dann die - allerdings erst im Mittelalter nachweisbare 95 - Haltung, dass Christen selbst bei der Realisierung des Fluches Hand anlegen dürften oder gar sollten. Es bleibt aber dabei, dass Matthäus das Volk als Ganzes mit mehr als einer Generation in die Blutschuld am Tode Jesu einbezogen sieht 96 . Genau das ist in TLev 16 nicht gegeben. Weder ist das ganze (jüdische) Volk betroffen, noch ist von den Kindern die Rede. Sollte TLev 16,3 tatsächlich Mt 27,25 zum Vorbild gehabt haben, müssen diese Differenzen erklärt werden. Aber auch wenn beide Perikopen relativ unabhängig voneinander entstanden sein sollten, muss dieser Unterschied festgehalten werden. Wäh- 89 Luk 23,13 lässt zum Gericht ebenfalls neben den Hohenpriestern und Oberen auch das Volk (λαός) antreten, Johannes spricht ohnehin von „den Juden“. Allein Markus belässt es bei dem ὄχλος, der von den Hohenpriestern aufgehetzt wurde. 90 Aporien, S. 538. 91 Dies ist in der matthäischen Dramaturgie der Szene gerade im Zusammenhang mit dem Reinigungsspruch von Pilatus eine eindeutige Aussage. 92 Dies entspricht auch der Sicht der TestXII: In TLev 16,24 wird die Zerstörung des Tempels als Strafe für das unschuldige Blut benannt. 93 Vgl. dazu L UZ , Matthäus, S. 285f. Für die in die gleiche Richtung gehenden Belege bei Hieronymus siehe K AMPLING , S. 125ff. 94 Neuere Übersetzungen von B ERGER (Neues Testament) und S CHOTTROFF (Bibel in gerechter Sprache) versuchen, dieses Verständnis schon in der Übersetzung auszuschließen und beschränken die Haftung auf die eine Generation der Kinder. Das ist mit Blick auf Mt 23,35f sicherlich in Matthäi Sinne, da er die Strafe für alles unschuldige Blut auf τὴν γενεὰν ταύτην zukommen sieht (womit eher diese eine Generation, als die ganze Genealogie gemeint ist). 95 L UZ , Matthäus, S. 287. 96 So wird die Schuld auch in eine Kontinuität mit den Verfehlungen Israels der Generationen vor Christus gestellt, bei Lukas in die Ablehnung der Propheten, bei Stephanus mit der Anbetung des goldenen Kalbes, bei M ELITO dann mit allen Sünden Israels insgesamt, die schließlich in der Ermordung Gottes gipfelt Peri Pascha 96. <?page no="140"?> 134 rend bei Mt also eine Tendenz zur Entgrenzung der Schuld festzustellen ist, kann bei TLev 16 gerade im Kontext mit den Passagen in TLev 10 und 14 genau das Gegenteil konstatiert werden: Die Schuld wird begrenzt, eingegrenzt auf eine konkrete Generation eines konkreten Stammes. Das ist im christlichen Kontext des 2.-3. Jahrhunderts durchaus gegen die Tendenz, in der zunehmend eine völlige Verwerfung Israels gelehrt wurde 97 , und die mehr und mehr heidenchristliche Kirche als das „wahre Israel“ galt 98 . Dagegen muss für die TestXII konstatiert werden, dass da, wo die Schuld am Tode Jesu thematisiert wird, sie nicht dem ganzen Volk auf ewig angelastet wird. Auch da, wo von Strafe die Rede ist, kann diese nicht ohne Hoffnung auf eine Wende zum Guten bleiben. Eine andere Tendenz, die Schuld kollektiv aufzufassen ist zum Beispiel im Johannesevangelium und einigen Paulusbriefen zu finden: Dort wird der Tod Jesu im Kontext frühchristlicher Verfolgungssituationen gedeutet. Die Christen waren selber Opfer von Verfolgungen, die oft von Synagogen oder der Jerusalemer Tempelpriesterschaft ausgingen. Sie konnten sich mit Jesus identifizieren 99 , der ebenfalls als Opfer einer jüdischen Intrige und Verfolgung gesehen wurde. So wurde eine Brücke gebaut, auch die jeweiligen Verfolger miteinander zu identifizieren. Zur Tempelpriesterschaft trat die Synagoge hinzu 100 , und schließlich konnte kollektiv von „den Juden“ geredet werden 101 , die sich Jesus und den Christen gegenüber gleichermaßen feindlich verhielten 102 . So konnte schließlich die sogenannte „Ersatz-Theologie“ entstehen, die die Christenheit als einziges Volk Gottes ansah 103 , und die Juden samt und sonders als verworfen betrachtete 104 . 97 Von der Tendenz her schon deutlich bei Barnabas und Melito. 98 Vgl. die (leider auf lateinische Väter begrenzte) Zusammenstellung in K AMPLING , Blut, passim. 99 1.Thess 2,14f. 100 Joh 16, 2-4. 101 So durchgängig im Johannesevangelium, vgl. aber auch Joh 4,22. 102 Dazu: M UßNER , Traktat und ihm weitgehend folgend, H AHN , Verwurzelung, S. 119- 129. Deren Aussagen im Blick auf die Datierung des Johannesevangeliums sind allerdings umstritten, doch begegnet dies Thema sachlich schon im 1.Thess, also dem ältesten Dokument des NT. 103 Vgl. dazu die immer noch grundlegende Arbeit S IMON , Verus Israel. 104 In dieser Deutlichkeit vielleicht erstmals Barn 4,6f u.ö. Allerdings war dies immer noch kein rassistischer Antisemitismus im engeren Sinne, sondern eine sehr scharfe, und für Mt und Barn innerjüdische Kontroverse. Der rassistische, ja eliminatorisch mordende Antisemitismus ist eine Erfindung der Moderne. Für die kirchlichen Ausleger galt stets: Juden, die sich zu Jesus bekehrten, und also die Ablehnung ihres Messias aufgaben, waren selbstverständlich Teil der geretteten Gemeinde. Vgl. dazu auch L UZ , Matthäusevangelium, S. 286. <?page no="141"?> 135 Eine Verfolgungssituation scheint bei den TestXII nicht gegeben zu sein. Gerade die paränetischen Passagen lassen die Radikalität einer bedrohten Minderheit vermissen und rufen durchweg zu tugendhaftem bürgerlichen Leben auf. Wo Märtyrerterminologie laut wird, geht es um Sitte und Moral, nicht um Glaubensfragen 105 . 4.3.2 Die guten Wurzeln - Römer 9-11 Die Reinheit der Patriarchen ermöglicht es auch, sie als Vorbilder und Heilige in die christliche Tradition aufzunehmen. Doch ist die Frage, ob sie damit quasi den Juden ent-eignet werden, oder ob hier eine Aneignung stattfindet, die die Patriarchen in ihrem jüdischen Kontext lassen kann. Ausdrücklich nennt Paulus in Röm 9,5 die (Erz-)Väter nicht nur als Stammväter Jesu nach dem Fleisch, sondern auch als bleibendes Heilsgut Israels und der Juden, und zwar explizit auch jener Juden, die sich noch nicht seiner Botschaft vom Evangelium angeschlossen haben. Die gleiche Richtung verfolgen auch die TestXII: Die Schuld der Nachkommenschaft ist zwar unvermeidlich 106 , aber sie wird dafür nicht enterbt. Nicht nur der Patriarch selber ist also „rein“ von dieser Schuld. Eine Chance auf Reinheit erhält auch diejenige Generation, die wir uns als die tatsächlichen Adressaten der TestXII vorstellen müssen. Es sind die Kinder und Kindeskinder jener frevelnden Priester, die die Schuld begangen haben. Diese erhalten die Möglichkeit, lauter und rein zu leben und sich an den Patriarchen zu orientieren statt an ihren sündigen Vätern. Das Motiv des Heiligen Restes begegnet in den TestXII gleichermaßen wie auch bei Paulus, der seinerseits 1. Kön 19 zitiert 107 , um seiner Hoffnung für Israel Ausdruck zu geben. Auch bei ihm kommen zum geheiligten Rest die Heiden hinzu. Allerdings muss auch der Unterschied markiert werden: Während für Paulus der Glaube die zentrale Rolle spielt, ist davon in den TestXII eher selten die Rede. In TLev 16,5 wird die erneute Zuwendung Gottes „in Glaube und Wasser“ verheißen. In TDan 5,13 ist davon die Rede, dass, wer dem Mensch gewordenen Gott auf Erden vertraut (πιστεύειν), mit ihm im Himmel herrschen werde. Auch wenn diese beiden Belege zeigen, dass die Vorstellung von Glauben als Weg zum Heil den TestXII nicht fremd ist, hat dies längst nicht die zentrale Rolle wie bei Paulus im Römer- 105 Vgl. dazu die Schilderung der Nöte Josephs in der Anfechtung durch die Memphitin TJos 3,1-9,5. 106 Auffällig ist, dass hier oft ein Verweis auf die „Tafeln des Himmels“ oder die Schriften „Henochs“ eingeflochten wird. Damit wird durch das etwas verklausulierte Motiv des „Schriftbeweises“ die (Heils-)Notwendigkeit des ansonsten unentschuldbaren Frevelns der Nachkommenschaft der Väter unterstrichen. Man vergleiche den exzessiven Gebrauch des „Schriftbeweises“ auch in Röm 9-11! 107 Röm 11,3f. <?page no="142"?> 136 oder Galaterbrief. Man kann sagen: Auch wenn einerseits Paulus die Paränese zu tugendhaftem Verhalten vertraut ist 108 , andererseits auch die TestXII den Aufruf zum Glauben kennen, liegen die Schwerpunkte jeweils deutlich auseinander 109 . Paulus schließt seine Abhandlung über die bleibenden Verheißungen des Judentums im 11. Kapitel des Römerbriefes mit seinem Ölbaumgleichnis. Darin schildert er Israel als den guten Stamm, aus dem Zweige heraus gebrochen und wilde Zweige aus dem Heidentum eingepfropft worden sind. So sehr dieses Bild botanisch unsinnig ist 110 , so klar ist seine Aussage: Nicht die Wurzel, nicht der Stamm ist verdorben, sondern nur einzelne Zweige. Dies entspricht ganz und gar der Sicht der Patriarchentestamente: Nicht Israel ist verdorben, sondern eine konkrete korrupte Priestergeneration. Am Ende wird aber Israel gerettet werden, gemeinsam mit den Heiden - so, wie Paulus es auch hofft und glaubt 111 . Interessant ist auch, dass Paulus den Bund ebenfalls nicht am Sinai, sondern mit den Vätern geschlossen sieht, zu dem das Gesetz nur hinzugekommen 112 ist. Den Israeliten gehören Kindschaft, Herrlichkeit, Bund, Gesetz, Gottesdienst und Verheißungen. Ihnen gehören die Väter, und von denen stammt Christus nach dem Fleisch 113 - alles Aussagen, die so auch mit den TestXII konform gehen, nur dort weit konkreter und ausgiebiger ausformuliert sind. 4.3.3 Justin: Israels Hoffnung ist Buße Justin teilt mit anderen Kirchenvätern wie z.B. Irenäus die Auffassung, dass die vormosaischen Figuren des Alten Bundes durchaus des endzeitlichen Heils teilhaftig sind 114 . Sofern dies in das Bild einer endzeitlichen Auferstehung der Patriarchen gemeinsam mit den Christen gebracht wird, gibt es durchaus enge Berührungen mit den TestXII 115 . Wichtigste gemeinsame 108 Man beachte nur die Schlusskapitel von Galater- und Römerbrief. 109 Bei DE J ONGE , Israel, verschiebt sich die Ursache für das Heil Israels. Erst reicht es, wenn man tugendhaft lebt oder sich zu Christus bekehrt (196); am Ende wird daraus ein ein und (211). Das dient erneut seiner Zielrichtung, die Testamente möglichst in einen christlichen mainstream einzuordnen, was ihnen am Ende nicht gerecht wird. 110 Jeder, der etwas von Veredelung von Obstgehölzen versteht, weiß, dass man die edlen Zweige für die guten Früchte auf wilde und widerstandsfähige Artgenossen pfropft. 111 Röm 11,12.26.31f. 112 Gal 3,17. 113 Röm 9,4f. 114 Die Beziehungen zu Justin und Irenäus untersucht DE J ONGE in seinem Artikel Pre- Mosaic Servants, passim. 115 Diese sogenannten „ressurection passages“ werden gewürdigt in H OLLANDER / DE J ON- GE , Commentary, S. 61-63. Mehrfach begegnet dort die Trias Abraham, Isaak und Jakob (TLev 18,14; TJud 25,1; TBen 10,6), möglicherweise steht auch eine Tradition wie die von Mt 22,32par im Hintergrund: Dort nennt Jesus im Kontext der Frage nach <?page no="143"?> 137 Position ist, dass die Patriarchen als Heilige Männer gelten. Sie sind unschuldig am Tod Jesu, wie es die TestXII herausstellen, und genauso wie in den TestXII besteht daher auch für die nachfolgenden Generationen Hoffnung. Sie sind nicht automatisch in der Falle der Kollektivschuld. Allerdings dürfen sie nicht damit fortfahren, Christus (bzw. die Christen? ) zu verfolgen 116 , sondern müssen Buße tun. Ist damit eine Bekehrung zu Jesus Christus gemeint? Oder ist diese Buße eher eine ethisch-moralische Größe? Justin scheint sich da nicht festlegen zu wollen: Mal deutet er an, im endzeitlichen Gericht habe jeder eine reelle Chance, der sich an die Maßstäbe des ewigen, also vor-mosaischen und damit auch christlichen Gesetzes halte 117 , dann ruft er wieder leidenschaftlich zum Glauben an Jesus Christus auf 118 . Bezeichnend ist jedenfalls, dass Justin selber sich bewusst ist, in der christlichen Welt seiner Zeit durchaus auch Gegner zu haben: Nicht alle Christen teilen seine Hoffnung, dass auch die Patriarchen und der Heilige Rest 119 Israels gerettet würden 120 . Während bei Justin ganz offensichtlich die direkte Auseinandersetzung mit Juden, Judenchristen und einem beginnenden heidenchristlichen Antisemitismus seinen Dialog mit Trypho prägt, ist der Hintergrund bei Irenäus eher der Konflikt mit Marcion und dessen Ablehnung des alttestamentlichen Gottes als Demiurgen. Aber auch das nötigt ihn, die Patriarchen in Schutz zu nehmen und eine Kontinuität von altem und neuem Bund herauszustreichen. 4.4 Theologisches Fazit: Hoffnung für Israel Während es für Vertreter der Interpolationstheorie stets bedeutend war, die merkwürdige Errettung der Heiden in einem vermeintlich jüdischen Dokument zu betonen 121 , muss vor dem Hintergrund christlicher Theologiegeschichte besonders erwähnt werden, dass Israel neben den Heiden auch gerettet wird 122 . Die Ablehnung einer jüdischen Kollektivschuld am Tode der Auferstehung die Väter Abraham, Isaak und Jakob als Beispiel für die Verstorbenen und doch Lebenden. Freilich gibt es auch auf jüdischer Seite diverse Belege, die die Auferstehung oder mindestens das himmlische Weiterleben der Patriarchen thematisieren, vgl. z.B. 4. Makk 7,19; 13,17; 16,25, P HILO Sacrif. 5 und öfter. 116 Dial 26,1. 117 Dial 130,1+2. 118 Eindrucksvoll noch einmal am Ende des Dialoges (142). 119 Dial 25,1; 32,2; 55,3; 64,2-3. 120 Dial 80,2: Vor allem scheint nicht konsensfähig gewesen zu sein, dass Justin zu den Gerechten der Vorzeit letztlich alle Juden vor Jesus rechnet, die mit Ernst das Gesetz befolgten. 121 J ERVELL , Interpolator, passim, H ULTGAARD , Universalisme, und Eschatologie. 122 Untersucht z.B. durch DE J ONGE , Israel's Future, passim. <?page no="144"?> 138 Jesu, das Aufrechterhalten einer eschatologischen Hoffnung für Israel auch nach Golgatha und den frühzeitlichen Verfolgungen der ersten Christen, ist definitiv gegen die erkennbare Tendenz in der späteren heidenchristlich dominierten Theologie 123 . Schon bei Justin ist absehbar, dass er mit seiner Position, Israel seinen Platz in der Heilsgeschichte zu lassen, zunehmend in die Defensive gerät. Hier zeigt sich eine judenchristliche Perspektive, die eine Nähe zu Paulus, aber auch zum Jakobusbrief hat. Mit beiden gemeinsam erhebt sie die jüdisch-hellenistiche Tugendethik zum Maßstab gerechten, ja heiligen Handelns. Damit wird ein moralischer Impetus anstelle ritueller Vorschriften und äußerer Identitätsmerkmale gesetzt, der dann ebenso für Juden wie Heiden einen Anspruch, aber auch eine offene Tür darstellt. Auf diese Weise wird auch in ethisch-moralischer Perspektive die Kontinuität der Geschichte Gottes mit den Menschen betont: Es gibt kein „neues Gebot“, sondern die Forderungen Gottes sind seit Urzeiten - seit der Zeit der Patriarchen - schon immer dieselben gewesen. Die Reinheit der Patriarchen von Schuld und Verfehlung, ihre moralischen Mahnungen an die nachfolgenden Generationen und ihre Voraussagen bezüglich der zukünftigen großen Umwälzungen von Sünde, Unheil und Rettung, alles steht in einem Zusammenhang. Nur die unschuldigen, moralisch vorbildlichen Patriarchen können im Strudel der Zeiten als Fels in der Brandung stehen. Sie sind verbindliche Weg-Weiser für Juden wie für Heiden. Sie symbolisieren schon in ihrer Person die gemeinsame Heilsgeschichte, die gemeinsame Hoffnung auf Gottes Bundestreue auch über Schuld und Sühne hinweg, die gemeinsame Verpflichtung zur Liebe zu Gott und dem Nächsten und so beinahe zwangsläufig auch die gemeinsame Rettung durch Gott selbst am Ende der Zeiten. 123 Beispiele seien nur die diversen Verus Israel und Adversus Ioudaeos Schriften der Kirchenväter. Bei 5./ 6. Esra und dem Barnabasbrief, die zum Teil auch scharfe antijüdische Invektiven enthalten, kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass es sich um judenchristliche Schriften handelt, die einen innerjüdischen Konflikt um Jesus Christus austragen. Dass Kritik ihren Charakter wandelt und auch ein Stück weit ihre Legitimität verliert, wenn sie von der Innenperspektive zur Außenperspektive wechselt, ist ein Phänomen, dass man bis heute immer wieder beobachten kann. <?page no="145"?> 139 5 Theologischer Querschnitt: Leiden und Tod Jesu in den TestXII Das Kreuz und der Tod Jesu sind und bleiben zentralen Momente christlicher Verkündigung. So begegnet diese Thematik auch in den christlichen Passagen der TestXII, und das in vielerlei Facetten. Obwohl sie unter den einzelnen Formen und Perikopen für sich ausgewertet werden muss, soll hier ein Querschnitt versucht werden, um so etwas wie die „Theologie“ der TestXII zu umreißen. Dabei kommen auch einige Aspekte und Passagen zu Wort, für die im Hauptteil der Arbeit kein Raum war. 5.1 Schuldfrage Wie im letzten Kapitel bereits intensiv behandelt, sind die TestXII bezüglich des Todes Jesu vornehmlich an der Schuldfrage interessiert. Sie wird vor allem im Rahmen der SER-Passagen thematisiert, also als Teil einer als „deuteromistisches Geschichtsbild“ klassifizierten, jüdischen Herangehensweise, die das Geschick Jesu in den Kontext der verfolgten Propheten Gottes stellt. Dabei gehen sie aber eigene Wege. Die durch die gewaltsamen Konflikte zwischen Juden und Judenchristen entstandene Verurteilung von ganz Israel ist hier nicht zu finden. Die Schuld trägt eine konkrete Generation eines einzelnen Stammes 1 - nicht das ganze Volk 2 , und auch nicht für immer und ewig. So sehr „sin“ und „exile“ auch in grellen Farben gemalt werden können, es folgt zuverlässig ein „repentence“ und „return“. Am Ende, ganz am Ende steht das Heil für Israel. Das ändert nichts daran, dass die Ablehnung, Folterung und Tötung dessen, der der Heiland, das Heil, ja Gott selbst genannt wird, der absolute Gipfel der Gottlosigkeit und aller Schandtaten ist, zu denen sich die Kinder der Patriarchen fähig erweisen werden. Theologiegeschichtlich zeigen sie damit eine Kontinuität zur Predigt der ersten hellenistischen Judenchristen 3 . Doch fehlt der Bezug zur weiteren Verfolgung der ersten Christen 4 . Vielmehr ist von weiterer Bedrängnis, Tempelzerstörung und Exil die Rede, die jeweils Israel treffen. Die neue historische Situation 1 TLev wird von D ÖPP , Deutung, S. 83-87 daher auch unter der Überschrift: „Versagende Priester“ aufgeführt. 2 Der Unterschied zum matthäischen πᾶς ὁ λαὸς ist oben schon betont worden. 3 Der Bezug Jesus - verfolgte Propheten findet sich in der Apg 7,52 und 1. Thess 2,14- 16. Vgl. dazu §81 in B ERGER , Theologiegeschichte, S. 147 und D ÖPP , Deutung, S. 33-69. 4 Der ist sowohl in Apg durch die Steinigung des Stephanus als auch in 1. Thess gegeben. <?page no="146"?> 140 sorgt also für eine neue Applikation: Nicht mehr die Christen, sondern Israel ist bedrängt, und muss die Chance zur Umkehr nutzen. 5.2 Patripassianismus Wie in der Diskussion der Hos-Anthropos-Perikopen oben beschrieben, begegnet in den TestXII mehrfach die Vorstellung, in Jesus Christus sei Gott selbst „gleich einem Menschen“ erschienen, um Israel und die Menschheit zu retten. Dies wurde in der Forschungsgeschichte oft zum Anlass genommen, die TestXII einer häretischen, als „Patripassianismus“ klassifizierten Richtung des frühen Christentums zuzuordnen 5 . In der Tat findet sich in TLev 4,1 im Kontext der in Mt 27 genannten Phänomene 6 beim Tode Jesu (Erdbeben, Sonnenfinsternis, Auferstehung der Heiligen) genau die Formulierung, dass dies die Begleitumstände „bei dem Leiden des Höchsten / ἐπὶ τῷ πάθει τοῦ ὑψίστου “ sein werden 7 . Der Titel „ὁ ὕψιστος“ ist ein gängiger Gottestitel in den TestXII 8 . Im Hintergrund stehen „Christus ist Gott“-Vorstellungen 9 , die sich für das frühe Christentum durchaus belegen lassen. Sie können sogar das Leiden Gottes aussagen 10 und sind sowohl für jüdische, wie auch für hellenistische Ohren mit Schwierigkeiten belastet. Jüdischerseits fürchtet man die Gefahr, griechischen Vorstellungen von auf der Erde wandelnden Göttern in Menschengestalt 11 Vorschub zu leisten und das Erhabene des einen, unsichtbaren Gottes preiszugeben. Griechischerseits ist es für Hellenisten schwer zu denken, dass der eine unsichtbare, leidensunfähige, unveränderliche Gott essen und trinken, leiden und sterben könnte. Man könnte daher den patripassianistischen Zug in den TestXII also 5 Kapitel 2.3.5, S. 79. 6 Dies muss keine literarische Abhängigkeit sein, eine ganz ähnliche Motivsammlung findet sich z.B. bei Zeph 1,15f. Da die TestXII den prophetischen Tag JHWHs Traditionen ohnehin nahe stehen, ist ein direkter Bezug zu Zeph 1,15f durchaus möglich. 7 Einzig H ULTGÅRD , Eschatologie I, S. 258f. versucht mit „Zorn Gottes“ zu übersetzen und die Passage im Ganzen jüdisch zu lesen. 8 Die TLG Suche bietet immerhin 24 Treffer; vgl. auch den Wortindex in der Textausgabe von DE J ONGE . 9 Vgl. H AUSCHILD , Lehrbuch, S. 7. 10 So - abseits der sogenannten Häretiker Praxeas und Noet - auch bei Ignatius von Antiochien, der in IgnEph 1,1 unbefangen vom αἷμα θεοῦ spricht. Oder I RENÄUS , adv Haer, 20,8, wo es als Heilsereignis gewertet wird, dass sich der leidensunfähige Gott als leidensfähig erwiesen habe. Vgl. auch M ELITO , der in Peri Pascha 96 vom Mord an Gott spricht. Ob dies schon „Modalismus“ ist, wird in der dogmengeschichtlichen Forschung diskutiert. In der Regel geht man von einer Vorstufe aus, wie oben weiter erläutert: Kapitel 2.3.5, S. 79ff. 11 So wie es Barnabas und Paulus offenbar in Lystra passiert ist (Apg 14,14). <?page no="147"?> 141 gleichermaßen als unjüdisch wie unhellenistisch, und damit auf gar keinen Fall als hellenistisch-jüdisch charakterisieren 12 . Doch blickt man auf die HAP im Detail, so fällt auf, dass die TestXII ihren ganz eigenen Weg haben beide Missverständnisse zu vermeiden. Sie distanzieren sich von antik-griechischen Vorstellungen wandelnder Götter auf Erden, indem sie Gottes Erscheinen eben nicht als eine Epiphanie in Machterweisen schildern 13 . Vielmehr sind die TestXII bemüht, das Erscheinen, aber auch das Wesen Gottes grundsätzlich in Kategorien der Niedrigkeit 14 , des Erbarmens 15 , ja sogar des Mit-Leids 16 zu beschreiben. Insofern ist sein mit-menschliches Erscheinen keine Tarnung 17 , sondern Ausdruck seines Wesens 18 . Wenn aber sein Erscheinen auf der Erde keine Tarnung ist und sein Wesen nicht in der unbewegten Transzendenz liegt 19 , dann ist sein Leben und sein Leiden mit und unter den Menschen echt 20 und tut dennoch seinem göttlichen Wesen nicht den geringsten Abbruch 21 . Die TestXII offenbaren hier also eine Sichtweise, die weniger durch hellenistische Philosophie geprägt ist, sondern den Einfluss des hebräisch- 12 Vgl. mein Kapitel 2.2.5 zu Philo, S. 61f. 13 Vgl. das in Apg 14,11ff geschilderte Missverständnis der Apostel als wandelnde Götter: Ihre Machttaten machen sie verdächtig, Götter zu sein. Die menschliche Gestalt der Götter ist also nur Tarnung. 14 TDan 5,13; 6,9; TBen 9,5; 10,7. 15 TJud 19,3; TJud 23,5; TSeb 8,2; 9,7; TNaph 4,5. 16 TLev 4,4; TSeb 8,2; 9,7f; TNaph 4,5 - der Begriff σπλάγχνα bezeichnet eigentlich die Eingeweide und macht deutlich, dass etwas wirklich „an die Nieren geht“, vgl. auch die entsprechenden Artikel im ThWNT. Der Begriff findet sich demnach im NT ausschließlich in Bezug auf Jesus und den barmherzigen Samariter. 17 Dies könnte bei Ausdrücken wie ἐν σχήματι ἀνθρώπου in TSeb 9,8 so verstanden werden. 18 Bezüglich des Wesens und der Güte Gottes gibt es interessante Entsprechungen zwischen den eschatologischen und paränetischen Passagen der TestXII, vgl. dazu meine Beobachtungen unten Kap 6.1, S. 159ff. 19 Diese muss Philo letztlich aufgeben, wenn er Gottes Beziehung zu den Menschen beschreiben will. Der kategoriale Unterschied zwischen Fleisch und Geist, den das hellenistische Denken macht, ist auch bei Philo unter bestimmten Bedingungen überwindbar. Je weniger man sich auf der ontologisch-spekulativen Ebene bewegt, und je stärker man die heilsgeschichtliche Perspektive annimmt, desto wichtiger wird es, dass Göttliches und Menschliches einander begegnen. Dies kann - gerade bei der Betonung der Unfähigkeit der Sarx zum Pneumatischen - nur so gedacht werden, dass das Geistliche auf das Fleisch zugeht, sich ihm offenbart, ihm begegnet - womöglich in Gestalt eines Menschen. 20 Ein Ausweg, die Christus=Gott Vorstellung hellenistischen Hörern zumutbar zu machen, ist der sog. Doketismus gewesen, der behauptete, Christus habe nur zum Schein gelitten. Diesen Weg gehen die TestXII nicht und stehen damit den Johannesbriefen, aber vor allem Ignatius nahe. 21 Vgl. auch S IEGERT , Logos. <?page no="148"?> 142 jüdischen Gottesbildes zeigt, das keineswegs in unbewegter Transzendenz verharrt. Das ist passend zum Oeuvre, in dem ebenfalls auf alttestamentliche Gestalten und Geschichten zurückgegriffen wird. Es ist auch dem jüdischen Monotheismus verpflichtet und erscheint als eine streng „monarchianische“ Sicht einerseits, greift aber andererseits späteren Formulierungen der Zweinaturenlehre schon voraus. Dabei fehlt das spekulative Interesse an substanzontologischen Fragestellungen fast vollständig. Viel entscheidender ist für die TestXII die Einordnung in die Heilsgeschichte, an deren Höhepunkt Gott seine Mitmenschlichkeit offenbart. Damit stehen die TestXII durchaus einer als Gemeindefrömmigkeit 22 bezeichneten Strömung nahe. Darin steckt oft eine kaum verhohlene Abwertung. Richtig ist daran, dass die Logosspekulationen der Apologeten in den Gemeinden zunächst wenig Anklang fanden. Doch lassen sich die TestXII nicht z.B. mit den Apostelakten in einen Topf werfen. Hier begegnet keine Trivialliteratur 23 . Pseudepigraphie muss differenziert betrachtet werden, z. B. auch nach dem Kriterium, ob die zugeschriebenen Autoren Altvordere oder erst in jüngerer Geschichte zu Ansehen gekommene Autoritäten waren. Die Gemeindefrömmigkeit, in ihrer Einfachheit erst von Theologen wie Tertullian gerühmt und dann gescholten, sollte man sich auch nicht zu primitiv vorstellen: Sie hat sich erfolgreich gegen Gnosis und andere zeitgeistige Strömungen behaupten können, gerade weil sie mehr auf die biblischen Schriften als auf die Moden und Modelle der Philosophie hörte. Speziell die judenchristliche Tradition, die eine Einheit aus Altem und Neuem Bund lehrte und deshalb am Alten Testament und dem einen Gott festhielt, war ein wirksamer Schutz vor einem markionitischen Schmalspurchristentum zeitgeistigen Zuschnitts. Damit soll nicht die Leistung der damaligen Theologen geschmälert werden. Sie haben im Diskurs zwischen der zeitgenössischen Philosophie und der Gemeindefrömmigkeit wirklich geniale Kompromissformeln und Synthesen gefunden, die bis heute unsere Glaubensbekenntnisse prägen. Die Theologen wären aber ohne den retardierenden, vielleicht zuweilen renitenten Zug der Gemeindefrömmigkeit nie dazu gezwungen gewesen. Die theologiegeschichtliche Einordnung findet ihren Ausgangspunkt in den relativ einfach ausgestalteten Christus=Gott und Christus=Mensch Vorstellungen, wie sie in der Abwehr doketischer oder adoptianistischer Vorstellungen schon zu neutestamentlicher Zeit und bei Ignatius belegt sind. Gerade die starke Betonung der Einheit Gottes ist dabei erneut eine judenchristliche Traditionslinie. Sie kommt nicht zu einem wirklich ausgefeilten 22 So z. B. H AUSSCHILD , Lehrbuch, S. 13; G RILLMEIER , Jesus, S. 157-168. 23 So über die Pseudepigraphie allgemein B ROX , Pseudepigraphie, S. 334. <?page no="149"?> 143 theologischen System, wie man es vielleicht bei Sabellius vermuten könnte. Wichtig ist ihnen dabei weder das supranaturalistische Wunder der religiösen Trivialliteratur (wie z. B. in den Apostelakten) noch die ontologische Seinsbestimmung der Theologen und Apologeten, sondern die heilsgeschichtliche Kontinuität: Es ist derselbe Gott, der in Jesus Christus Mensch wurde und seine Gegenwart schon den Vätern verheißen hatte. 5.3 Tempelvorhang An zwei Stellen 24 ist in den TestXII vom Reißen des Tempelvorhangs 25 die Rede. Man hätte ihnen ein eigenes Kapitel widmen können, wäre dieses Thema nicht schon von DE J ONGE in einem ausführlichen Artikel gewürdigt worden 26 . Es reicht daher, seine Ergebnisse hier zusammenzufassen und zu bewerten. Immerhin konzediert de Jonge selbst, dass die Aussagen der TestXII, und auch nicht die gefundenen christlichen Parallelen dazu, in den christlichen „mainstream 27 “ fallen. Versucht man dagegen beide Aussagen in einem jüdischen Kontext zu verstehen, offenbaren sich neue Verstehensmöglichkeiten. TLev 10,3 interpretiert das Geschehen so, als zerrisse der Tempel selbst sein Kleid. Das Zerreißen der Kleider ist ein sehr jüdischer Ritus, der Trauer und Scham ausdrückt, aber auch Wut und Entrüstung. Der Tempel selbst wird hier personifiziert dargestellt, er stellt sich auf die Seite des leidenden Höchsten. Eine so positive Sicht des Tempels war nicht einmal im Judentum selbstverständlich 28 , im Christentum ist sie eher selten 29 . Hier scheint es dagegen so, als ob sich der Tempel selbst gegen sein korruptes Personal wendet. Denn es besteht ja eine Analogie zu der Schilderung des Hohepriesters in den Passionsberichten 30 , der in Verkennung dessen, den er vor sich hat, seine Kleider zerreißt. Mit dieser Geste drückt nun der Tempel 24 TLev 10,3; TBen 9,4. 25 Mk 15,38 par. 26 D E J ONGE , Temple Veil, passim. Hier bringt er eine beinahe komplette Auslegungsgeschichte des reißenden Tempelvorhangs in den ersten christlichen Jahrhunderten. Christliche Parallelen, die ich im Folgenden angebe, stellen nur eine Auswahl davon dar und verdanken sich seiner Vorarbeit. 27 D E J ONGE , Temple Veil, S. 351. 28 Tempelkritik findet sich schon durchgängig in den alttestamentlichen Schriften und entsprechend auch in den außerbiblischen Schriften, wie z.B. denen von Qumran. 29 Immerhin findet sich z. B. im Lukasevangelium das Motiv der Trauer um den Tempel, vgl. D ÖPP , Tempel, S. 292. 30 Mk 14,63; Mt 26,65. Die Geste fehlt in Lk und Joh. In Mt ist von ἰμάτια, in Mk von χιτῶνα die Rede. Der Begriff ἔνδυμα findet sich in diesem Kontext nicht, allerdings scheint es auch keine festgeformte Formulierung zu geben. <?page no="150"?> 144 seinerseits über die Priester und ihre Untaten, die eigentliche Gottlosigkeit, seine Scham, seine Trauer - und sein Urteil aus 31 . Als „Nebeneffekt“ dieser Trauergeste wird die Schande der levitischen Tempelpriesterschaft offenbar werden. Deutlich wird im Kontext, dass Israel als Volk Opfer jener levitischen Tempelpriesterschaft ist. Israel wird verführt, die Priester freveln 32 wider Israel. Erneut sitzt nicht Israel selbst auf der Anklagebank, sondern die Priesterschaft, die es in die Irre und Gottlosigkeit leitet. Wie bereits erwähnt, ist die Schilderung des Reißens des Tempelvorhangs auf diese Weise einmalig. Die inhaltlich nächste christliche Parallele, in der immerhin der Vorgang mit dem Zerreißen der Kleider assoziiert wird, findet sich bei M ELITO , Peri Pascha 97f: Weil niemand aus dem Volk (λαός) aus Scham daraus seine Kleider 33 zerreißt (περισχίζειν), tut dies der Engel (der offenbar als im Tempel wohnend gedacht wird). Formal philologisch deutet nichts darauf hin, dass beide Traditionen verwandt sind, weder wird das hier in den TestXII sonderbare Wort „ἔνδυμα”als Kleidung des Tempels, Engels oder sonst eines Beteiligten verwandt, noch gibt es irgend eine andere wörtliche Übereinstimmung, nur das Motiv ist ähnlich: die Gewandmetaphorik und die Assoziation mit dem Zerreißen der Kleider, die damit verbundene Konnotation aus Scham und Wut. Große Unterschiede gibt es aber vom Kontext und der Aussageabsicht her: Bei Melito ist der große Kontext eine lange Anklageschrift wider Israel, in der schließlich die Phänomene beim Tod Jesu, wie sie in Mt 27,45-54 geschildert werden in Antithesen gegenüber dem teilnahmslosen Volk formuliert werden. Das Volk zittert nicht, aber die Erde usw. Diese Phänomene werden in TLev 4,1 angesprochen, doch gerade da fehlt der Verweis auf den Vorhang. Wie schon an anderen Stellen vermerkt, ist dieses Urteil nicht endgültig und gerade darin eine Besonderheit in der christlichen Literatur. TBen 9,4 verknüpft das Reißen des Vorhangs mit dem Auszug des Geistes aus dem Heiligtum und seinem Wirken unter den Heidenvölkern. Vorstellungen dieser Art sind in der Tat weit reicher belegt mit christlichen Parallelen wie die vorige Passage, aber auch hier liegen die jüdischen Interpretationsmöglichkeiten durchaus auf der Hand. Nicht nur dass die Ausgießung des Geistes für die Völker schon in Joel 2,28f verheißen ist, auch der Auszug (der Herrlichkeit, oder des Geistes) Gottes aus seinem Heiligtum, 31 Vgl. auch das Verhalten Rubens beim Verkauf Josephs in TSeb 4,5. 32 Begrifflich konkret: ἀσεβεῖν, πλανᾶν, ἀνομεῖν - hier wird nichts ausgelassen. 33 Ein Akkusativobjekt fehlt. Das ist wohl dem hymnisch-antithetischen Duktus von Melitos Schrift geschuldet. So wissen wir nicht, ob hier χιτών, ἱμάτια oder ἔνδυμα gedacht werden sollte. <?page no="151"?> 145 wenn die Sünden Israels zu groß werden, ist eine genuin jüdische Vorstellung 34 . Freilich wurden sie von christlichen Interpreten aufgenommen, und „adversus Iudaeos“ gerichtet 35 . Doch gerade dies kann von TBen nicht gesagt werden. Dieses Verlassen ist nicht ohne Rückkehr, es ist nicht endgültig. Ziel dieses Verlassens ist - wie in dem Exil zuvor - die Buße und Umkehr des Volkes und damit seine endgültige Errettung. Und so wird das Bild vom Tempel, der sein Kleid vor Scham zerreißt und vom Geist, der vom Tempel zu den Heidenvölkern strömt, nur ein weiteres Bild für eine der Kernthemen der Theologie der TestXII: Das Heil kommt von den Juden 36 , es kommt von Jerusalem her, und erreicht von dort die Welt 37 , um irgendwann aber auch zu Israel zurückzukehren. Damit ist ihre theologiegeschichtliche Position schon umrissen: Sie teilen die grundsätzliche Tempelskepsis: Das Gebäude als solches kann Gott nicht fassen, es kann nur eine Übergangslösung sein. Durch die Schuld der Priester zerreißt der Tempel sein Kleid, und die Gegenwart Gottes geht auf die Völker über. Sie bewegen sich damit auf der judenchristlichen Argumentationsebene, die wir von Paulus, aber auch von den Hellenisten kennen. Wir haben also erneut einen Befund, der uns in das Milieu des griechischsprechenden Judenchristentums führt. Sie teilen nicht die Ersatztheologie späterer Generationen der Kirchenlehrer. 5.4 Josephstypologie Joseph dient in den TestXII vornehmlich als ethisches Vorbild von Tugend und Genügsamkeit, Erbarmen und Demut, Vergebungsbereitschaft und Bruderliebe 38 . Diese Ethik kann jüdisch wie christlich aufgefasst werden. Dennoch lassen sich viele Hinweise darauf finden, dass Joseph in einer Weise dargestellt wird, die ihn als Typos für Jesus Christus erscheinen lassen 39 . 34 Dabei sind nicht nur die Vorstellungen von Ezechiel und Deuterojesaja über ein Verlassen des Tempels und einer Rückkehr aus dem Exil zu nennen, sondern auch Parallelen bei J OSEPHUS (vor allem bellum 6,299) und in der rabbinischen Literatur. Siehe dazu auch die Zusammenstellung bei DE J ONGE (S. 356, Anm. 28). 35 Z.B. von T ERTULLIAN in seinem gleichnamigen Werk, 13,15. 36 Vgl. Joh 4,22b - auch hier im Kontext der Tempelfrage! 37 Apg 1,8 - vgl. auch den Stellenwert Jerusalems in TSeb 9,8. 38 Siehe dazu unten, Kapitel 6.2, S. 162ff. 39 Das ist in der Alten Kirche eine der beliebtesten Typologien, so z. B.: A PHRAAT , Hom. 21; E PHRAEM , Comm in Gen 48; De laudibus Iosephi; A MBROSIUS , De Ioseph Patriarcha; O RIGENES , Homilien und Selecta in Genesim u. ö. Zu der vor allem volkstümlichen Auslegung in Dichtung und Kunst vgl. die umfassende Zusammenstellung in V . E RFFA , Ikonologie, S. 428-474. <?page no="152"?> 146 Dies ist vor allem darin zu sehen, dass nicht nur sein eigenes Verhalten als beispielhaft geschildert wird, sondern auch das Verhalten seiner Brüder zu ihm exemplarisch für ihre Tugend oder ihre Lasterhaftigkeit steht. Neutestamentlich fühlt man sich gleichermaßen an Phil 2,1-11 und an Mt 25,40.45 erinnert. Es geht einerseits darum, die Bruderliebe Jesu zu imitieren, die er nicht zuletzt in seiner Erniedrigung gezeigt hat, weil er gleich einem Menschen erschien und gleich Joseph in ein Knechtsgewand 40 gehüllt wurde - und es geht andererseits darum, in dem geringsten unter den Brüdern 41 , dem kleinen Joseph, den Herrn und Weltenrichter Jesus Christus zu erkennen. Sieht man die Figur Josephs aus diesem Blickwinkel, fallen einem viele Anspielungen auch auf Jesu Leidensgeschichte auf 42 . Da wird Josephs Zeit in der Zisterne 43 mit der Spanne zwischen Grablegung und Auferstehung Jesu gleichgesetzt 44 , da wird der Preis, für den Joseph verkauft wird, als Blutgeld bezeichnet 45 und auf 30 Goldstücke festgelegt 46 , und nicht zuletzt wird Joseph mit dem Lamm verglichen 47 . Auffällig auch, dass sich die Wendungen vom „Hände ausstrecken 48 “ und „unschuldiges Blut 49 “ vergießen sowohl in der Passage über Joseph 50 finden, als auch bezüglich des Herrn und Retters der Welt 51 . 40 TSeb 4,10 - Phil 2,7. TSeb wäre hier eine originelle Deutung. Traditionell wird schon die Sendung Josephs zu seinen Brüdern als Inkarnation verstanden, so z. B. A UGUS- TINUS , De tempore. 41 TJos 17,8 wörtlich τῶν ἐλαχίστων - Mt 25, 40b.45. 42 So auch DE J ONGE , Testaments, S. 98.123 und Paränese, S. 544f. 43 Die Zisterne als Bild für den Tod z.B. auch in Ps 69,16 u.ö. Vgl. dazu z. B. A MBROSIUS , De Iosepho patriarcha (mit Zitat aus Ps 87/ 88, 7). 44 TSeb 4,4 - die drei Tage und drei Nächte stimmen zwar nicht mit der Passionsüberlieferung überein, entsprechen aber dem „Zeichen des Jona“ aus Mt 12,39f (Jona 2,1); Zur Trias Jesus/ Josef/ Jona vgl. auch die Darstellung auf den Emailltafeln des Klosterneuburger Altars aus dem 12. Jhdt abgedruckt in L UX , Josef, S. 270 - sonst: S CHILLER , Ikonographie, S. 558, Abb. 572-574. 45 TSeb 3,3 - Mt 27,6. 46 TGad 2,3 - im NT sind es 30 Silberlinge, vgl. Mt 26,15. Möglicherweise spielte die Zahl von 20 Goldstücken (Minen? ) eine Rolle, von denen bei JosAnt 2 die Rede ist. Durch das Verbergen von 10 wird die symbolträchtige 30 erreicht, ohne den 20 zu widersprechen. Gleichzeitig ist ein Seitenhieb auf die Geldgier möglich, die ja auch als Motiv Judas' genannt wird. Die widersprechenden Zahlen sind auch in der Patristik Gegenstand diverser Spekulationen, unter Bezug auf Sach 11, 12 besteht Hieronymus auf den Unterschied zw. 20 und 30 Schekeln, weil Jesus mehr wert sei als Joseph. Die TestXII haben also auch hier eine durchaus eigene Variante zu bieten. 47 TBen 3,8 - Joh 1,29.36 siehe dazu auch den nächsten Abschnitt. Die Darstellungen Jesu als Lamm sind zahlreich, das Bild Josephs dagegen nur hier zu finden. 48 Mt 26,50. 49 Mt 27,24f - ähnlich auch bei A MBROSIUS , De Josepho patriarcha. 50 TSeb 2,2. 51 TLev 14,2 ; 16,3. <?page no="153"?> 147 Die christliche Interpretation dieser Anspielungen ist zwar keineswegs zwingend, weshalb es sich lohnte, den ganzen Josephskomplex auch konsequent jüdisch zu durchdenken. Doch hier geht es um die christliche Endgestalt, und ein christlicher Leser erkennt die Josephstypologie, wie sie auch bei anderen christlichen Auslegern der Genesis belegt ist 52 . Die TestXII zeigen jedoch wieder einmal darin ihre Besonderheit, dass - so sehr das Verhalten der Brüder gegenüber Joseph verurteilt wird - diese Brüder doch am Ende Josephs Vergebung empfangen. Am Ende ist nicht entscheidend, wie sie ihn behandeln. Seine Liebe zu ihnen hat das letzte Wort. Dies ist christlich gesehen mehr als nur eine paränetische Pointe. Bezogen auf den Tod Jesu ist demnach also ausgesagt, dass sein Tod wie bei Joseph ein Zeichen seiner Erniedrigung - aber auch ein Beleg für seine Ablehnung durch die älteren Brüder war. Doch sind die drei Tage und Nächte im Brunnen, ja auch die Zeit bei den heidnischen Ägyptern, nur eine Übergangszeit. Am Ende, am Ziel wird Joseph seine Brüder in die Arme schließen. Hermeneutisch spannend wird das im Blick auf die älteren Brüder von „heute“ also der Abfassungszeit. Damit sind aus christlicher Perspektive diejenigen Juden gemeint, die Jesus ablehnen. Sie sind als „ältere Brüder“ durchaus belegbar, wenn Luk 15,25-31 nicht schon selbst so gemeint war 53 , dann ist er zumindest im Frühen Christentum mehrheitlich so verstanden worden 54 . Freilich ist der „verlorene Sohn“ kein Bild für Jesus oder Joseph 55 , aber gerade in der Wahrnehmung von Joseph als Typos für Christus war der Verrat und der (versuchte) Mord an Joseph eine Steilvorlage für christliche Polemik 56 , die bis in die Genesispredigten Luthers weiterwirkt 57 . 52 I RENÄUS , Fr 17; H IPPOLYT , Ben. Iac 12; 26; C YPRIAN , Testimonia 1,20; Epistulae 59,2; De bono paenetentiae 10; T ERTULLIAN Adv. Marc. 3,18; Adv. Iud. 10; vgl. auch DE J ONGE , Commentary S. 420 und A RGYLE , Joseph, passim. 53 Als eine mögliche Auslegungsrichtung der Wirkungsgeschichte schildert es B OVON , Lukas (EKK III,3), S. 54, während sich K LEIN , Lukasevangelium, S. 534 darauf festlegt, dass Lukas damit eine „Einladung an die Frommen Israels (die Pharisäer)“ aussprechen möchte, „an der Festfreude der christlichen Gemeinde...teilzunehmen“. 54 Dies belegt z.B. T ERTULLIAN , de pudicitia, Kap 8. Tertullian versucht sich zwar von dieser zu seiner Zeit offbenbar gängigen Interpretation abzusetzen - dies aber vor allem, weil er den Juden die positiven Attribute aus Luk 15,29.31 abspricht. 55 Zwar wird im verlorenen Sohn das Thema Erhöhung und Erniedrigung durchgespielt, doch ist dessen Erniedrigung selbst verschuldet. Das ist bei Joseph und Jesus nicht der Fall. 56 Z.B. T ERTULLIAN , Adversus Iudaeos 10 und Adv. Marc. 3,18,3. Beachtenswert ist auch die Identifikation Simeons und Levis mit den Schriftgelehrten und Priestern - Letzteres ja auch ein Thema der TestXII und ihrer Unschuldspassagen. Anders C YPRIAN Epistulae 59,2: Die eigenen Brüder sind die häretischen Mitchristen, von denen die Gefahr für den Gläubigen ausgeht. <?page no="154"?> 148 Diese Polemik ist in den TestXII erfreulich abwesend. Die TestXII betonen die Reue der Patriarchen 58 und Josephs Vergebungsbereitschaft 59 . Die Juden der Abfassungszeit der TestXII können und sollen also dem Beispiel ihrer Vorväter folgen und Buße tun. Gleichzeitig aber schimmert ein Verständnis durch, dass diese ihren Bruder Joseph, der ihnen als ägyptischer König begegnete, nicht erkannten. Das Nichterkennen der Brüder ist aus judenchristlicher Sicht vielleicht einer der Schlüssel zum Verständnis der schwierigen Tatsache, dass Israel „seinen“ Messias noch nicht erkannt hat: Jesus ist vor allem unter den Heiden 60 zu Ehren gekommen und begegnet seinen Brüdern also im heidnischen Gewand 61 . Die TestXII halten an der Hoffnung fest, dass sich Jesus/ Joseph seinen Brüdern offenbart, dass sie ihn wiedererkennen, dass sie ihn anerkennen und Buße tun, dass sie seine Vergebung erhalten und gerade darin die Weisung ihrer Ahnherren befolgen. Theologiegeschichtlich wird auf der paränetischen Ebene der schon neutestamentlich belegte Topos der Imitatio Christi mit dem ebenfalls bekannten Topos „Beispiel der Väter“ verknüpft. Dadurch wird Joseph zum Typos Christi. Das hat aber dann weitere Konsequenzen, die wieder in die judenchristliche Richtung weisen: Jesus war in der Geschichte Israels präsent, und die wichtigste Tugend, die man von ihm lernen kann, ist die Liebe, die Barmherzigkeit und die Bereitschaft zur Vergebung. 5.5 Lamm-Metaphorik Das Bild des Lammes ist eine beinahe stehende Metapher für Jesus Christus in der christlichen Literatur. In neuerer Zeit mehren sich die Stimmen, die davor warnen, gleich jedes „Lamm“ mit Opfer und Tod Jesu zu identifizieren 62 . Gleiches gilt auch für die Lamm-Metaphorik der TestXII. Genau betrachtet hat von den drei Perikopen, in denen das Lamm in den TestXII auftaucht, nur eine direkt eine mögliche Verbindung zum Tode Jesu und der Opferthematik: In TBen 3,8 ist Joseph adressiert, von dem es heißt, 57 WA 24, 609-710: Luther macht einen hermeneutischen Dreisatz auf, bei dem Joseph für Christus, die Brüder für die Juden stehen. Durch die Identifikation von Josephs buntem Kleid mit der Kirche wird der Konflikt in die Gegenwart geholt. 58 Anders als die Polemik - vgl. nur L UTHER WA 24, 618, 15-22, der jegliche Reue bestreitet, „...und hören noch nicht auff“. 59 Zur Ehrenrettung karthagischer Kirchenväter sei hier auf C YPRIAN verwiesen, der in de bono patientiae X ebenfalls Josephs Barmherzigkeit in den Mittelpunkt stellt. 60 Ägypten als „die Welt“ begegnet auch schon bei P HILO , de somniis. 61 Vgl. auch A UGUSTINUS , De Tempore, wo eine ganz ähnliche Gewandmetaphorik begegnet. 62 Eine Arbeit von Michael K NÖTHIG zu diesem Thema ist angekündigt und wird hoffentlich mehr Klarheit schaffen. In die die TestXII betreffenden Kapitel durfte ich dankenswerterweise vorab Einsicht nehmen. <?page no="155"?> 149 dass sich „in ihm die Prophetie des Himmels über das Lamm Gottes und den Heiland der Welt erfüllen wird, nämlich dass ein Unschuldiger für Gesetzlose dahingegeben werden wird und ein Sündloser für Gottlose sterben wird durch das Blut des Bundes für das Heil der Völker und Israels, und dass er Beliar und seine Diener vernichten wird.“ Hier begegnet neben dem Lamm Gottes gleich ein ganzes Arsenal christlicher Topoi. Es lohnt sich dennoch, kurz in der jüdischen Interpretation zu verharren - gerade wenn man es christlich richtig verstehen will. Hier bietet sich als alttestamentliche Parallele zuerst Jes 53 an. Das Motiv des Lammes im Zusammenhang mit dem leidenden Gottesknecht könnte hier auf Joseph bezogen worden sein. Denn nicht nur das Lamm begegnet uns hier, sondern auch das wichtige Motiv der Stellvertretung 63 . Es könnte aber auch das Passalamm (Ex 12) anklingen, das die Verknüpfung zum Blut 64 liefert. Zur Josephstypologie ist oben schon einiges gesagt, jedenfalls könnte hier auch eine Messias-ben-Joseph Thematik angeschnitten sein, gerade auch in der Form des Überwinders der bösen Geister 65 . Das Lamm als apokalyptische Figur begegnet jüdisch ebenso in Hen(äth) 89,42-49, hier ebenfalls mit eher herrschaftlichen Konnotationen - auch wenn Jakob als das Lamm vor den Bullen der Patriarchen eher blass wirkt. Hinzuweisen wäre noch auf eine Josephsätiologie zum Jom Kippur im Midrasch 66 . Das Motiv einer „Stellvertretung“ durch Joseph - symbolisiert durch den Sündenbock im Jom Kippur und den Bock, der anstelle Josephs sterben musste - ist also keineswegs eine allein christliche Idee. Nicht zuletzt bieten auch die TestXII zum Teil apokalyptisch anmutende Visionen über das Lamm - selbst wenn diese wohl einem christlichen Judentum zuzurechnen sind. In der Zusammenschau kann nur konzediert werden, dass offensichtlich das Lamm aus Jes 53 und die Rede vom Lamm Gottes in Joh 1,29.36 67 zu einem Kristallisationspunkt wurden, an dem sich die anderen Prädikationen beinahe beliebig andocken konnten. Doch hüte man sich davor, hier eine reine Beliebigkeit anzunehmen, als würde wahllos in die Kiste christologischer Hoheitstitel gegriffen. Keiner der Titel im Einzelnen ist ohne Parallele in den TestXII: Die Josephstypologie begegnet uns vor allem in TSeb. Der Begriff des Retters findet sich immer 63 Das Sterben für die anderen begegnet sonst in den TestXII nur in TRub 6,12. 64 Bundesblut begegnet Ex 24,8 - allerdings als Blut von Stieren. 65 M ITCHELL , Deliverer, attestiert gerade dem Messias ben Joseph ausgesprochen kriegerische Attitüden. Seine Zusammenstellung von schwer lesbaren Qumranfragmenten (4Q175) mit rabbinischen Deutungen (baraita zu Sach 2,3f) und Targum Ps.- Jonathan zu Ex 40,9-11 wirkt allerdings etwas künstlich. 66 Midr Gn Rab 89,2: Hier sind auch die Brüder ein Bild für Israel. 67 Doch fehlt der - auch liturgisch gewordene - Satzteil ὁ αἴρων τὴν ἁμαρτίαν τοῦ κόσμου in TBen 3 wie auch in TJos 19. <?page no="156"?> 150 wieder in den Hos-Anthropos Perikopen und den Levi-Juda Passagen 68 , das Heil für Israel und die Völker ist eine stehende Formel in den TestXII 69 , und über die Vernichtung Beliars soll noch einiges gesagt werden. Das Sterben „für uns“ ist immerhin in TRub 6,12 belegt, und vom Blut ist in TSeb 3,3 die Rede, wenn auch nicht vom Blut des Bundes 70 . In den TestXII ist allerdings nirgends von einem neuen Bund die Rede 71 . Dieser feine aber bedeutende Unterschied könnte darauf hindeuten, dass auch hier die TestXII stärker die Kontinuität des einen Bundes betonen wollen. Allerdings muss gerade beim TBen festgestellt werden, dass es vom tkr Befund her am unsichersten überliefert ist 72 . Hier haben sich offenbar doch viele Hände bemüht, das Resümee der TestXII zu schreiben oder umzuschreiben. Ohne vom Prinzip einer synchronen Auslegung der TestXII abzuweichen, muss man sich umgekehrt hüten, TBen zum Maßstab für die Erkenntnisse aus allen anderen Testamenten zu machen. Die Versuchung „of dotting the i's and crossing the t's“ 73 war in diesem Testament - das ja so etwas wie den resümmierenden Abschluss bilden sollte - offenbar das eine oder andere Mal größer als die Loyalität zum Original. Wenn also hier tatsächlich „common christian material“ in geballter Form auftaucht, darf das nicht dazu verleiten, die TestXII sozusagen rückwirkend ganz in den mainstream christlicher Theologie des zweiten oder dritten Jahrhunderts einzureihen. Davor warnen auch die beiden anderen Perikopen über das Lamm. In TJos 19,3.6 ist von einem Lamm die Rede, das keineswegs ein wehrloses Schlacht- und Opferlamm 74 ist, sondern als ein machtvolles Wesen alle angreifenden Bestien niederwirft. Dass in dieser apokalyptischen Szene überhaupt von Jesus Christus die Rede sein soll, macht erst der Kontext deutlich: Es geht aus einer Jungfrau aus Juda 75 im leinenen (Priester-)Gewand 76 hervor, 68 Vgl. die von DE J ONGE beschriebenen „saviour passages“, Commentary, S. 63f. 69 Siehe oben, zu Hoffnung für Israel und J ERVELL , Interpolator, passim. 70 Das erinnert fraglos stark an die Abendmahlsworte in 1.Kor 11,25 und Luk 22,20 Diese Wendung findet sich aber auch in Ex 24,8 - dort allerdings als Blut von Stieren. 71 Anders Mk 14,24. Aber selbst wenn man die mk Formulierung für die ältere hielte, wäre der Rückgriff auf sie im 3. Jhdt. erklärungsbedürftig, zumal sich die Formulierung vom „neuen“ Bund auch liturgisch durgesetzt hat - und damit sicherlich verbreiteter war als die mk Textfassung. 72 Hier scheint es teilweise so zu sein, dass zu bestimmten Passagen die einzelnen Textzeugen unabhängig von ihrer „familären“ Zugehörigkeit ganz eigene Versionen bieten. 73 D E J ONGE , Pseudepigrapha, S. 99. 74 Freilich wird mit der Wendung ἀμνός ἄμωμος gerne ein Opferlamm charakterisiert. Das Entscheidende ist, dass das unbefleckte, unschuldige Lamm hier in krasser Weise aus seiner (Opfer-)Rolle fällt. 75 Dies kann als Indiz dafür gewertet werden, dass die TestXII sehr wohl die Jungfrauengeburt kannten und vertraten und daher schon für Maria von einer doppelten Ge- <?page no="157"?> 151 und an seiner Seite ist etwas wie ein Löwe. Die Vernichtung der Feinde zur Zertretung findet sich so auch in TSim 6,6 77 - hier als Rettungstat des als Mensch erschienenen Gottes gegen die unreinen Geister. Diese Nähe zu den Hos-Anthropos-Perikopen und den LJ-Passagen findet sich auch in TJos 19,6(11) 78 wieder: Es wird das Lamm Gottes aufgehen (ἀνατέλλειν) aus Levi und Juda und alle Völker und Israel retten (σῴζειν). Vom Tod des Lammes ist weder hier noch dort die Rede. Somit darf es auch nicht vorschnell mit dem Lamm aus der Apokalypse des Johannes 79 identifiziert werden, das anders als das Lamm hier eine deutliche Wunde als Zeichen seines Todes trägt. Mit dem Nebeneinander von Lamm und Löwe 80 aus Juda, dem Raub- und dem Opfertier 81 wird ein Kontrast gesetzt zwischen Gewalt und Wehrlosigkeit, Macht und Unschuld. Gegenüber alttestamentarischen aber auch frühjüdisch-apokalyptischen Heilserwartungen ist die Überwindung der Feinde eine stärker im Unsichtbaren angesiedelte Aufgabe des Messias. In den TestXII bleibt beides miteinander verwoben: das Erscheinen auf Erden in Demut und Niedrigkeit und der Sieg über Beliar und seine Geister. Der Spross aus Levi und Juda ist beides: Löwe und Lamm, Gott und Mensch. 82 Fazit: Vom Lamm Gottes ist in den TestXII keineswegs nur in der Opferrolle die Rede. Es kann auch die Macht des göttlichen Sprosses aus Levi und Juda symbolisieren, der die Kraft hat, die Feinde zu besiegen und Israel und alle Völker zu retten. Freilich kann es auch - vor allem im Blick auf die Josephstypologie - die Hingabe des Unschuldigen repräsentieren und so weitere christliche Assoziationen an sich binden, vom Blut des Bundes bis zum stellvertretenden Tod. nealogie aus Levi und Juda ausgingen. Maria als Jungfrau aus Juda begegnet uns auch bei J USTIN , Dial 43,1 und Apol I 32, 14. Vgl. auch H IPPOLYT , Ben. Iac. 15f. genauso ProtEvJak. 76 Als Zeichen der Reinheit wie in anderen apokalyptischen Texten oder als Hinweis auf priesterliche Würde - was im Kontext der TestXII durchaus Sinn ergeben würde, vgl. TLev 8,6. 77 Und öfter - siehe unten zum Thema Sieg über Beliar. 78 Vers 6 nach Leidener Zählung, Charles, Becker und andere folgen der armenischen Version und zählen hier Vers 11. 79 Apk 5,6 u. ö. 80 Gen 49,9. 81 Mehr im Sinne von Beutetier, vgl. auch 1. Sam 17,34. Dieses Nebeneinander steht auch in Jes 11,6-9 und 65,25 für die messianische Heilszeit. Gerade die Nähe zu Jes 11 mit seinem Bezug zum Haus David und dem auftreibenden Spross ist bei mehreren messianischenPassagen in den TestXII zu konstatieren. 82 Möglicherweise ist auch hier eine judenchristliche Botschaft enthalten, wenn man Jacobs" Lion, folgt, stehen Löwe und Lamm auch als Symboltiere für Judentum und Christentum fungieren . <?page no="158"?> 152 Aber gerade darin bleibt der Tod Jesu, auch und sofern er im Bild des Lammes gezeichnet wird, nicht ein Opfertod, sondern hat die Perspektive der machtvollen Rettung, die nicht nur die Heiden erreichen wird, sondern auch Israel. 5.6 Tod als Sieg über Beliar Wie oben schon im Blick auf das siegreiche Lamm in der kleinen Apokalypse in TJos 19 festgestellt wurde, ist der Sieg über Beliar und die unreinen Geister ein wichtiges Thema in den TestXII 83 . In den allermeisten Fällen ist es nicht mit dem Tod Jesu verbunden 84 , sondern steht selbstständig als Teil der Rettungstaten Gottes in der Endzeit. Auch in der genannten Lamm- Apokalypse 85 kann der Tod des Lammes nur nachträglich hineininterpretiert werden. Dass diese Interpretation von Anfang an intendiert war, ist jedoch eher unwahrscheinlich. Ein Hinweis auf den Tod des Lammes (wie z.B. in Apk 5,6) findet sich nicht. Dagegen kann TBen 3,8 eindeutig hinzugezogen werden: Hier sind Tod und Sieg über Beliar klar miteinander verknüpft 86 . Der Sieg über Satan, Tod und Dämonen kann verknüpft werden mit dem Zeugnis von Tod und Auferstehung Jesu. Das Motiv findet sich neutestamentlich bei Paulus 87 , aber auch in den TestXII wird der Hades „geleert“ bei den Leiden des Höchsten 88 . Zwar betonen die TestXII die Niedrigkeit und Demut des als Mensch erschienenen Gottes 89 , aber gerade sein Tod scheint nicht - wie bei Paulus - die besondere Tiefe der Erniedrigung und Demütigung darzustellen 90 . Er wird bereits in den Farben von Sieg und Herrschaft gezeichnet. Vor allem aber fehlt die Verbindung zur Sünde und Sündenvergebung 91 . Jegliche Opfertheologie ist den TestXII im Blick auf den Tod Jesu fremd 92 . 83 TSim 6,6; TL 3,3; 18,2; TJud 25,3; TSeb 9,8 - und weit öfter, vgl. auch H OLLANDER / DE J ONGE , Commentary, S. 49f. 84 TAss 7,3 spricht zum Beispiel vom Zertreten des Kopfes des Drachens. Aber obwohl Gen 3,15 den Anlass geben könnte, auch den Tod des Menschen dabei zu reflektieren, unterbleibt dies. Stattdessen steht die Vollmacht Gottes im Vordergrund, wie in Ps 74,13f aber auch Röm 16,20 oder Apk 12,9.17. 85 TJos 19. 86 Vgl. allerdings das zu der grundsätzlichen Problematik der christlichen Passagen in TBen Gesagte. 87 1.Kor 15, 54ff. 88 TLev 4,1 - hier eine descensio ad inferos zu sehen, halte ich für etwas mutig, anders D ANIÉLOU , Théologie S. 265. 89 TLev 4,4; 16,5; TJud 23,5; TIss 7,7; TNaph 8,2 u.ö. 90 Phil 2,8. 91 Das ὁ αἴρων τὴν ἁμαρτίαν τοῦ κόσμου aus Joh 1,29 ist in TJos 19,6 nur in Manuskript c nachgetragen. <?page no="159"?> 153 Mit dem Eintreten Gottes in die Welt ist für den Feind kein Platz mehr, er muss besiegt und beseitigt werden. Der menschliche Gott zeigt sich zwar als leidensfähig, ja sogar sterblich, aber gerade darin als siegreich im Streit gegen jede Konkurrenz. 5.7 Sterben für uns Neben der genannten Lamm-Perikope in TBen 3,8 ist in TRub 6,12 die Rede davon, dass „er“ „für uns“ in „sichtbaren und unsichtbaren Kriegen“ sterben wird. So lautet die Aufforderung Rubens an seine Nachkommen: καὶ προσκυνήσατε τῷ σπέρματι αὐτοῦ, ὅτι ὑπὲρ ἡμῶν ἀποθανεῖται ἐν πολέμοις ὁρατοῖς καὶ ἀοράτοις καὶ ἔσται ἐν ὑμῖν βασιλεὺς αἰώνων. Schon die Frage wer „er“ ist, wird kontrovers diskutiert. Ist es der Spross aus Levi? Der Anschluss zwischen Vers 11 und 12 ist unsicher. In 11a ist deutlich Levi Subjekt, der Israel und Juda segnet. In ihm (ἐν αὐτῷ) - so schließt v.11b an - soll nach Gottes Erwählung die Königsherrschaft sein, und vor seinem Samen soll man sich niederwerfen (v 12). Während B ECKER 93 mit einem eingeklammerten „Juda“ die eine Übersetzung vorzieht, favorisieren H OLLANDER / DE J ONGE 94 die Beibehaltung Levis als Bezugspunkt für das Pronomen. Die Situation ist insofern komplizierter, als Juda das letzte Nomen vor dem Pronomen ist und sehr gut als Bezugspunkt möglich ist. Dennoch ist Levi nicht ausgeschlossen. Es wäre zwar überraschend, dass hier offenbar Levi die Rolle des Königtums zugeschrieben wird, die eigentlich sonst Juda und seinen Nachkommen zusteht, aber so ungewöhnlich ist das nicht. Levi werden auch andernorts in den TestXII königliche Attribute zugewiesen, und er wird oft als erster genannt, wenn es um die Unterordnung der anderen Stämme unter diese zwei geht. Eine weitere crux interpretum liefert dann auch das „für uns / ὑπέρ ἡμῶν“. Wer ist diese „Wir-Gruppe“, für die der Nachkomme des Patriarchen sein Leben gibt? Formal spricht ja Ruben. Insofern wäre das „Wir“ die Gruppe der Patriarchen, die zwölf Brüder, wie es auch sonst in den TestXII relativ konsequent durchgehalten wird. Dass Levi und Juda für die Sippe Kriege geführt haben, ist in den TestXII durchaus eine geläufige Vorstel- 92 Dies markiert einen weiteren wichtigen Gegensatz zum Hebräerbrief, der Opfer und Sühne zu einem zentralen Topos seiner Verkündigung macht. Aber auch für Paulus ist die Beseitigung der Sünde eines der wichtigsten Wirkungen des Todes Jesu. 93 Testamente, S. 39. 94 Commentary, S. 105-108. <?page no="160"?> 154 lung 95 . Allerdings gehen alle diese Kriege siegreich aus, und keiner der Patriarchen oder seiner Söhne lässt dort sein Leben. Damit fehlt das konstitutive Element des Sterbens. Daher könnte das „für uns“ zwar durchaus auf die Sippe bezogen gedacht werden, aber dann inklusive der angesprochenen Nachkommenschaft. Nach jüdischer Tradition kann das nur das Volk Israel sein. Derjenige, der sein Leben lässt, wäre dann ein Nachfahre Judas oder Levis 96 . Christlich interpretiert ist die Wir-Gruppe dagegen die lesende Gemeinde 97 . Doppelt-synchron gelesen muss man beides für möglich halten, ja, vielleicht ist hier auch bewusst eine schillernde Formulierung gewählt, damit sich die lesende Gemeinde mit Israel identifizieren kann. Dazu wäre hilfreich herauszufinden, welche sichtbaren und unsichtbaren Kriege eigentlich gemeint sein könnten. Die unsichtbaren Kriege können eigentlich nur als Krieg gegen Beliar und die unreinen Geister aufgefasst werden. Nur ist ausgerechnet hier nicht gesagt, dass dieser Krieg siegreich ausgehen wird. Insofern passt diese Perikope nicht direkt in die „Sieg gegen Beliar“-Thematik. Es ist zu vermuten, dass der Tod „für uns“ nicht sinnlos ist, und damit könnte gemeint sein, dass mit diesem Tod die bösen Geister überwunden werden. Aber wie vereinbart man das mit den genannten sichtbaren Kriegen? Es finden sich genügend jüdische Motive eines Helden, der für das Volk und den rechten Glauben in Kriegen in den Tod geht, z. B. Simson als der erste Selbstmordattentäter 98 der Geschichte in Ri 16,23ff oder Judas Makkabäus in 1.Makk 9,10ff. Die deutlichsten Parallelen finden sich in den Märtyrerberichten der weiteren Makkabäerliteratur 99 , vor allem 2. Makk 6f. und 4. Makk 18, die das Martyrium Eleazars, seiner Brüder und seiner Mutter schildern 100 . Denn auch wenn ein Martyrium gar nicht auf den Schlachtfeldern stattfindet, wird 95 Vgl. die Sichem-Episode in TLev 6,3-7,4 und Judas Kriege gegen die Kanaaniter in TJud 3,1-7-11 und gegen Esau in 9,1-8. 96 Dass Sterben des Einen für die Vielen ist nicht nur Thema in Jes 53f, sondern auch in der jüdischen Märtyrertheologie. Vgl. DE J ONGE , Jesus' Death. Wie weitJoh 11,50 tatsächlich eine jüdische Position widerspiegelt, ist dagegen umstritten (vgl. z. B. W ENGST , Johannesevangelium, S. 40f.). 97 H OLLANDER / DE J ONGE , Commentary, S. 108, vergleichen das ὑπέρ ἡμῶν mit christlichen Autoren. Sie führen u.a. Joh 11,50f; 18,14 und Röm 5,6ff sowie einige Kirchenväter an. Ihre Schlussfolgerung: „...the king over all the nations who will die for us, cannot be anyone else than Jesus Christ.“ 98 Das ist jedoch ein hinkender Vergleich. Entgegen den „modernen“ Selbstmordattentätern der islamistischen Terrorgruppen attackieren die biblisch-jüdischen „Märtyreraktionen“ keine unschuldigen Zivilisten. 99 1.Makk 2,50; 6,43-46; 2.Makk 8,21; 3. Makk 1,23; 4.Makk 1,8.10; 9,1; 6,27; 13,9. 100 Diese Spur verdanke ich DE J ONGE , Jesus' Death, 147ff. Er selbst geht darin aber auf TRub nicht ein. <?page no="161"?> 155 es durchaus als Kampf geschildert 101 . Oft wird betont, dass der eigentliche Krieg in der „unsichtbaren Welt“ stattfindet. So schleudert der sechste Bruder dem heidnischen König entgegen: „Glaub aber ja nicht, dass du heil davon kommst; denn du hast es gewagt, mit Gott zu kämpfen“ 102 . So können die Märtyrer auch gleichzeitig sterben und doch siegreich sein 103 . Damit ist jedoch noch nicht endgültig geklärt, worin das „pro nobis“ dieser Märtyrer- und Heldentode liegt. Zunächst sind es nur auserwählte Männer, die für Israel als Ganzes, für die Thora, für das Gute, Wahre und Schöne kämpfen und deshalb auch sterben. Bei den Märtyrerberichten mischt sich jedoch ein Element der Sühne hinein: Die Schuld Israels ist die Ursache dafür, dass heidnische Könige überhaupt diese Macht über Leib und Leben der Frommen haben, und indem diese Frommen leiden und sterben, wird auch die Schuld gesühnt und beseitigt 104 . Damit bekommt der Tod eine soteriologische Dimension und in der verheißenen Auferstehung 105 für die Märtyrer auch eine eschatologische. Stirbt ein Märtyrer, stirbt er also nicht nur für sich und seine Ideale, sondern auch für sein Volk, also für „uns“ - wenn man die Passage jüdisch liest. Weil er die Konsequenzen der Sünde des Volkes - nämlich die Macht der Heiden - erleidet und erträgt, wird die Schuld abgegolten. Stattdessen ist damit das Gericht über die Heiden beschlossen, weil sich Gottes Zorn nun nicht mehr wider sein Volk, sondern gegen die grausamen Heidenkönige richtet. Vor jüdischem Horizont interpretiert, ist diese Passage also am ehesten mit dem verlustreichen Kampf der Makkabäer zu vergleichen, die ihren Kampf - und ihre Bereitschaft zum Martyrium - als Kampf in der sichtbaren wie unsichtbaren Welt auffassten, und sich - auch genealogisch 106 - in einer Reihe begriffen mit Abel, Isaak, Joseph und Pinchas sowie den drei Männern im Feuerofen 107 . Sie litten unter der Macht der heidnischen Könige, die Israels Sünde verschuldet hat. Als leidende Gerechte wandten sie so den Zorn Gottes vom Volk ab und lenkten ihn wider ihre Peiniger und Mörder. Ihr Tod brachte dem Volk Befreiung. 101 Am deutlichsten zu erkennen an der Bezeichnung der leidenden Gerechten als „Athleten“, so z. B. TestHiob, Heb 10,32, aber auch bei den Kirchenvätern, vgl. Lampe z.St. 102 2.Makk 7,19. 103 Dieses Motiv ist z. B. auch in der Offenbarung des Johannes präsent, wenn es heißt, dass der Widersacher durch das „Blut“ also den gewaltsamen Tod des Lammes besiegt wird (Apk 12,11). 104 Vgl. DE J ONGE , Jesus' Death, S. 149. 105 Vgl. DE J ONGE , Jesus' Death, S. 150. 106 Dass sich die Makkabäer als Nachkommen des Leviten Pinhas sahen, wird aus 1.Makk 2,54 deutlich. 107 4.Makk 18,11. Die Namen der Männer im Ofen differieren vom hebr. Danielbuch. <?page no="162"?> 156 Will man die Passage christlich interpretieren, muss man dies im Hinterkopf behalten. In das Sterben Jesu „pro nobis“ lässt sich schnell vieles hereinlesen, was definitiv nicht da steht: Schuld, Sühne, Opfer und dergleichen. Was da steht, ist der Tod Jesu als ein Tod im Krieg gegen die bösen Mächte der Welt, sichtbar und unsichtbar. Hierzu müssen also die Parallelen gesucht werden. Zunächst bietet sich Jesu Rede vom Dämonenreich an, das in sich entzweit sei 108 . Doch ist dieser unsichtbare Krieg eher hypothetisch, und Jesu Überwindung der Dämonen aus der Kraft Gottes findet ja vor seinem Tode statt. Dennoch ist er der „Stärkere“, der die Dämonen vertreibt. Bei Paulus zeigen sich „kriegerische“ Töne im unmittelbaren Kontext der Rede von Tod und Auferstehung. In 1.Kor 15 beschreibt er den Sieg über den Tod durch den Tod 109 . Interessanterweise wird auch in diesem Kontext die Märtyrerthematik angeschnitten, indem Paulus von seinen Kämpfen in Ephesus berichtet 110 . Typisch für Paulus ist aber, dass der Tod Jesu in den Kontext von Sünde und Gesetz gestellt wird 111 , eine Zuspitzung, die die TestXII vermissen lassen. Wir haben also eine große Nähe der Vorstellungen und der Terminologie, aber keine identische Theologie 112 . Eine judenchristliche Verknüpfung der drei Glieder Märtyrerthematik, himmlischer Krieg und stellvertretender Tod bietet die Schilderung in Apk 12,7-12. Von der bedrohten Gruppe, von der es in v. 11 heißt, dass sie nicht am Leben gehangen, sondern den Tod auf sich genommen habe, gilt gleichzeitig, dass sie „durch das Blut des Lammes...überwunden“ habe. Hier spielt also der stellvertretende Tod Jesu mit hinein. Parallelisiert wird dieses irdische Geschehen mit der Schilderung des Krieges Michaels und seiner Engel wider den Drachen und seine Dämonen in vv. 7-9. Der Kontrast liegt hier darin, dass ein eher einfacher Satz in den TestXII mit einem entfalteten apokalyptischen System der Johannesoffenbarung zusammentrifft. Die TestXII greifen zwar apokalyptische Themen wie jene unsichtbaren Kriege auf, aber sie entfalten sie nicht. Das wird auch bei der Verarbeitung der Märtyrerterminologie in den Josefspassagen deutlich 113 . Für den Sitz im Leben bedeutet dies: Die Gruppe sieht sich zwar existentiell 108 Mk 3,22par. 109 Vv. 26.54f. 110 V 32. 111 Vv 3.56. 112 Etwas, was die Leidener Publikationen oft schmerzlich vermissen lassen, ist die Erkenntnis, dass Terminologie und Theologie nicht identisch sind. Gemeinsame Wortfelder zu finden ist wichtig, aber dass mit den Worten auch Inhalte, Gedanken, Konzeptionen transportiert werden, und jemand mit denselben Worten etwas ganz anderes und mit ganz anderen Worten exakt dasselbe sagen kann - das wird bei unseren niederländischen Nachbarn oft übersehen. 113 Vgl. dazu unten, S. 165ff. <?page no="163"?> 157 bedroht, aber weniger durch physische Verfolgung und Todesgefahr, als durch moralische Anfechtung und innere Kämpfe. In der synchronen Auslegung betont das „für uns“ - im Kontext ist TBen 3,8 zu denken - den stellvertretenden Tod des Unschuldigen für die Gesetzlosen, des Gerechten für die Gottlosen. Das kriegerische Motiv erinnert an alle Texte zur Überwindung Beliars und seiner Geister. In der Märtyrertheologie jüdischer wie christlicher Provenienz findet beides zusammen. Es ergibt sich also ein Bild, das Jesus als den leidenden Gerechten aus Juda (und/ oder Levi) zeichnet, der als Märtyrer Gottes Zorn wendet, indem er im sichtbaren und unsichtbaren Kampf zwischen Gut und Böse, Gerechten und Gottlosen zum Opfer wird. In der kollektiven Deutung wendet er damit das Gericht von Israel ab und lenkt es auf die wahren Schuldigen, also die frevelnden Priester. Das göttliche Gericht trifft die menschlichen Vertreter der Bosheit, aber nicht das Volk als Ganzes, denn seine Rettung ist ja das Ziel. Er stirbt „für uns“, und das heißt auch in der christlichen Deutung der TestXII für die Heiden und das Volk Israel. In der stärker individuell erbaulichen Deutung stehen als Feinde Beliar und seine Geister im Mittelpunkt: Auch hier trifft das Gericht Gottes die wahren Schuldigen, nämlich den einen eigentlich Bösen. Der Tod Jesu überwindet auch diesen Feind „für uns“. Mit kultischen Sühnopfervorstellungen hat das wenig zu tun, denn mindestens so sehr wie um die Bewältigung der vergangenen Schuld geht es um die aktuelle Bereitschaft zur Vergebung und zukünftige Kraft, allen möglichen Anfechtungen siegreich zu widerstehen. 5.8 Ergebnis: Polyphonie ohne Dissonanz Die TestXII zeigen eine weite Bandbreite an Interpretationsmöglichkeiten des Todes Jesu. Jedoch ist diese Vielstimmigkeit keineswegs zufällig, so als hätten verschiedene Interpolatoren ihre je eigene Theologie eingetragen, so dass am Ende ein Durcheinander von Meinungen und Stimmen entstanden wäre. Es ist auch nicht so, als hätte der Autor oder Redaktor hier eine Fülle von Ideen und Denkansätzen präsentiert, um seine Schriftkenntnis oder seinen Erfindungsreichtum zu beweisen. Vielmehr lässt sich feststellen, dass sich hier eine sehr eigenständige und durchaus schlüssige Kombination aus neutestamentlichen, jüdischen und frühchristlichen Motiven zeigt, die ihren Platz in der Theologiegeschichte des Christentums beansprucht. Der Tod Jesu wird konsequent aus jüdischer Perspektive betrachtet: Er ist keine Sündenvergebung im Sinne eines Sühnopfers, er ist vielmehr zunächst der Gipfel einer langen Geschichte der Auflehnung Israels gegen die <?page no="164"?> 158 Propheten Gottes. Dabei wird aber nicht Israel kollektiv, sondern eine konkrete Generation von Priestern verantwortlich gemacht. Gegen den christlichen mainstream gibt es keine Kollektivschuld und auch keine Ersatztheologie. Stattdessen aber ein Festhalten an der Heilshoffnung für Gottes Volk, an der Chance zur Umkehr und zur Rettung. Die Hohenpriester sündigen nicht gegen einen Gott, der ihnen fremd geworden wäre, sondern gegen einen Gott, der ihnen als Retter aus ihrem eigenen Volk und Geschlecht begegnet, als König aus Juda, als Priester aus Levi. Ein Gott, der Mensch geworden ist, um gemäß seinem Versprechen in der Mitte seines Volkes zu wohnen. Seine Menschlichkeit, seine Niedrigkeit machen ihn angreifbar, seine Brüder können ihn wie Joseph verachten, verraten und verkaufen. Doch das Leiden des Höchsten hat nicht ihre Vernichtung zur Folge. Vernichtet werden Beliar und die unreinen Geister. Es ist der Sieg des Lammes über die Bestien. Der Hades wird geleert und der Geist und die Rettung strömen von Jerusalem, vom Tempel aus in die ganze Welt, so dass die ganze Menschheit, Juden und Heiden des Heiles teilhaftig werden. Scham und Trauer stehen im Vordergrund, wenn Israel an das Schicksal seines Retters denkt, ausgedrückt in den zerrissenen Kleidern des Tempels oder Rubens, des Erstgeborenen unter den Brüdern Josephs, oder der Patriarchen, die die Vergeblichkeit ihrer Mahnungen voraussehen. Aber aus Scham und Trauer kann Reue, Buße und Umkehr werden. So wie die Brüder auch Joseph erkannten, als er sich ihnen offenbarte, so wie sie vor ihm niederfielen und seine Vergebung erfuhren, so kann Israel auch auf die Vergebung seines Gottes hoffen, den sie als ihren geringsten Bruder dereinst verachtet, verraten, verkauft und in die Grube geworfen haben. Israel besteht nicht nur aus den Eliten, aus Priesterschaft und anderen Cliquen, die die Propheten Gottes verfolgen. Israel, das sind auch die Propheten, Helden und Märtyrer. Der Tod des Einen rettet viele. Der Zorn Gottes trifft die Schuldigen, er trifft die Priester, und ihr Tempel wird zerstört. Das Blut des Opfers wendet sich wider die Täter, nicht aber gegen das ganze Volk und nicht gegen ihre Kinder und Kindeskinder. Aber das Volk soll gerettet werden, ja sogar alle Heiden. Alle haben die Chance, auf die Patriarchen zu hören und in Demut und Bescheidenheit ihnen nachzueifern in ihrer Liebe zu Gott und den Menschen. Wir haben hier also ein Stück judenchristlicher Theologie im reinen Wortsinne vorliegen. Der Tod Jesu wird in jüdischen Bildern und Kategorien begriffen, ohne dass ein deutlicher Widerspruch formuliert wird zu dem, was die heidnischen Brüder und Schwestern glauben und bekennen. Dennoch werden eigene Akzente und Schwerpunkte gesetzt, die unser Bild von der Theologie des frühen Christentums bereichern können. <?page no="165"?> 159 6 Exkurs in die Ethik Die Ethik und Paränese ist ausdrücklich nicht das Thema der ausgewiesen christlichen Passagen der TestXII, die - wie schon eingangs erwähnt - naturgemäß in den eschatologischen Kontexten auftauchen. Dennoch ist es gerade die Aufgabe synchroner Exegese, die Bezogenheit von Ethik und Eschatologie in den TestXII nachzuweisen. Dies kann hier nur in groben Zügen in Form eines Exkurses geschehen, da der Schwerpunkt dieser Arbeit auf der Bearbeitung des eschatologischen Materials liegt. Dort soll der Ausgangspunkt genommen werden, um über die in vielerlei Hinsicht vermittelnde Rolle Josephs zum wohl umstrittensten Thema des Doppelgebotes der Liebe zu finden. 6.1 Ethik in der Eschatologie - der menschliche Gott Dass Gott sein Volk in ganz menschlicher Weise besuchen wird, ist nicht zufällig das erste thematische Kapitel dieser Arbeit. Es ist ein wesentliches Proprium der Eschatologie der TestXII. Und gerade in diesen Passagen fällt eine große semantische Nähe zu den paränetischen Stücken der Testamente auf. Die Tugenden, die von den Patriarchen gefordert werden, finden wir auch Gottes Erscheinen zugeschrieben. Ausgehend von den Kardinaltugenden, die einzelnen Testamenten in den Überschriften zugeordnet sind, werden weitere - für das Erscheinen Gottes formulierte - Wesenszüge untersucht. Das Ergebnis ist eine auffällige Parallelität der Begriffe und Themen. Nicht aufgelistet sind die nach dem Index von DE J ONGES Textausgabe 1 über 60 Belege für ἀγάπη und deren Derivate. Denn so sehr diese Tugend (was schon die Vielzahl der Belege aussagt) im Zentrum der Paränese der TestXII steht, so wenig spektakulär ist die Erkenntnis, dass in den Testamenten viel von der Liebe Gottes und der Bruderliebe die Rede ist. Darüber wurde auch genug geschrieben. Spannender dürfte die Frage sein, wie sich diese Liebe - aktiv 2 - konkretisiert. Und da entsteht folgendes Bild: 1 S. 207. 2 Dass sie auch unter der Abwesenheit dieser Tugenden - passiv - leidet, wird vor allem an der Figur Josephs illustriert, vgl. dazu unten. <?page no="166"?> 160 Tugend 3 Von Menschen 4 Von Gott 5 ἁπλότης (Einfachheit) TRub 4,1; TSim 4,5; TIss (v.a. 3-6) TIss 7,7 ἔλεος (Erbarmen) TJud 18,3; TSeb (v.a. 5-8) TJud 19,3; TJud 23,5; TSeb 8,2; 9,7; TNaph 4,5 μακροθυμία (Geduld) TDan 6,8; TJos 17,2 TDan 6,9 6 οἰκτιρμός (Nachsicht) TJos 2,3; TSeb 2,2; TAss 2,2 TLev 16,5, TJud 19,3 πραότης (Sanftmut) — 7 TDan 6,9; TJud 24,1 8 (εὐ)σπλάγχνον (Barmherzigkeit) TSim 2,4; TSeb (v.a. 2.4-8; 5,3f; 7,3f; 8,1); TNaph 7,4 TLev 4,4; TSeb 8,2; 9,7f; TNaph 4,5 σωφροσύνη (Besonnenheit) TJos (v.a. 4; 6; 9; 10), TBen 4,4 TJos 10,2f ταπείνωσις (Niedrigkeit) TRub 6,10; TJud 19,2; TGad 5,3; TJos 10,2 TDan 5,13; 6,9 TBen 9,5; 10,7 Das Spektakuläre an diesem Befund ist die Tatsache, dass auch von Gott in Attributen der Niedrigkeit, Demut und Einfachheit geredet wird, besonders im Umfeld der Hos-Anthropos-Perikopen. 3 In Auswahl werden auch direkt abgeleitete Verbformen oder Adjektive mit aufgeführt. 4 Fett gedruckt sind jene Testamente, in denen die entsprechende Tugend in der Überschrift genannt wird. Hier wird dann in der Regel auf eine vollständige Auflistung der Einzelbelege verzichtet und nur der Kapitelbereich angegeben, in dem die Tugend ausführlich behandelt wird. 5 Gegebenenfalls kann auch von dem Retter oder einer anderen menschlichen Gestalt mit göttlichem Auftrag und eschatologischer Funktion die Rede sein, wie z.B. in TDan 6,9 oder TJud 24,1. 6 Hier der Retter der Völker. Aber von Form und Inhalt vergleichbar, zumal in TDan 6,6f der Begriff „Retter/ σωτήρ“ zum Namen Gottes erklärt wird. 7 Die Sanftmut ist aber ein typisch christlicher Tugendbegriff, z.B. in den Seligpreisungen Mt 5,5; bei den Früchten des Geistes in Gal 5,23; vgl. auch Kol 3,12; Eph 4,2. u. ö. (Tim, Tit, 1. Pet, Jak). Zum Ganzen: ThWNT, S. 645ff. Zu TDan 6,9 vgl. Anm oben. 8 Hier ist (möglicherweise auch bedingt durch Num 24,17) zwar von einem Menschen die Rede, doch ist mit dem Stichwort „Sonne der Gerechtigkeit“ ein Bezug zur Theophanieschilderung von Mal 3,20 gegeben, bei der es darum geht, dass Gott selbst kommt (Mal 3,24), um das Erdreich zu richten. Gerade im Kontext dieses Gerichts mit Feuer (Mal 3,19) und Zertretung (Mal 3,21) ist eine Aussage über Sanftmut und Milde bemerkenswert. <?page no="167"?> 161 Vor dem Hintergrund der jüdischen Tradition ist das ziemlich revolutionär. So sehr das zum Thema Liebe noch auf dem jüdischen Horizont gut darstellbar ist 9 , dass man den Nächsten mit der Liebe Gottes liebt (z.B. TBen 3,5) und damit die Liebe Gottes und die Liebe der Menschen in eins fallen, so sonderbar erscheinen Aussagen der Niedrigkeit und Demut Gottes im jüdischen Zusammenhang. Eine besondere Erwähnung verdient die ἁπλότης. Sie ist mit 15 Belegen 10 eine der am häufigsten genannten Tugenden in den TestXII und hat eine zentrale Funktion in der Paränese 11 . Der Begriff ist selten in der LXX, wird aber in Aquila und Theodotion regelmäßig zur Übersetzung von und Derivaten verwandt, er hat also einen Bezug zur Reinheitsethik. Da er auch in den Apokryphen 12 der LXX zunehmend auftaucht, wird vermutet, dass der Begriff erst später in den jüdischen Sprachgebrauch eingegangen ist 13 . Christlich begegnet er im Neuen Testament nur im Corpus Paulinum, herausragend ist seine Rolle im Hirt des Hermas 14 . Bei der durchaus schillernden Bedeutung des Begriffes hilft es, seine positive Bestimmung aufgrund der als Kontrast formulierten Untugenden schärfer einzugrenzen. Es geht in den TestXII primär um die „Einfalt des Herzen - ἁπλότης καρδίας”. Sie ist durchaus vielschichtig gemeint. Vor allem in TIss ist sie eine Tugend des Bauern und damit auch in ihrer Bedeutung der Einfalt und Schlichtheit zu verstehen. Sie steht darüber hinaus aber auch im Gegensatz zur Eigenschaft „doppelgesichtig - διπρόσωπος“ 15 , hat also auch die Bedeutung der Lauterkeit und Integrität 16 . Ein weiterer Gegenpol zu dieser Tugend ist der Eifer 17 . Auch zu spekulativer Philosophie oder gar der Gnosis 18 besteht eine kritische Distanz. Da die Einfachheit in den 9 Vgl. z.B. nur die fast lutherisch klingende Passage bei P HILO , Deus immut. 69 - u. ö. Dennoch ist auffällig, dass die TestXII die deutliche Mehrzahl der Belegstellen (gezählt nach D ENIS , Concordance, S. 95f) für ἀγαπᾶν (55%) und ἀγάπη (71%) in den griechischen Pseudepigraphen stellen. 10 Index der Textausgabe, S. 211 - vgl. auch E DLUND , Auge, S. 62. 11 E DLUND , Auge, S. 62-79; A MSTUTZ , ΑΠΛΟΤΗΣ, S. 64-84. 12 Hier sei „apokryph“ im lutherischen Sinne gebraucht. 13 A MSTUTZ , ΑΠΛΟΤΗΣ, S. 39. Die von E DLUND , Auge, S. 53-61, vermutete Ursache, dass die schlechte, von ihm beinahe „unjüdisch“ charakterisierte Textqualität der LXX dafür verantwortlich sei, ist wohl zurückzuweisen. 14 Vgl. B ROX , Hermas, S. 500-502. 15 Hier vor allem zu nennen TAss 2,5 und TBen 6,7. 16 Als exklusiv jüdisch-christliche Bedeutung erkannt in A MSTUTZ , ΑΠΛΟΤΗΣ, S. 41. 17 Bauern sind keine „Wanderradikale“ (T HEISSEN ), Zeloten oder Nasiräer. Siehe dazu oben, S. 129ff. 18 Dass gerade die antignostischen Schriften von Tertullian diese Tugend hochhalten und sie auch bei Irenäus eine bedeutende Rolle spielt, dazu B ROX , Glaube, S. 312f. Dass die Apologetgen dann mit ihrer Logoschristologie selber an eben jener „simplicitas“ schier verzweifeln, steht auf einem anderen Blatt (B ROX , Glaube, S. 313-316). Man beachte aber, dass γνῶσις in den TestXII nirgendwo negativ verwandt wird, so <?page no="168"?> 162 TestXII auch Eigenschaft Gottes ist 19 , schließt sich auf der christlichen Verstehensebene der Kreis zur monarchianisch anmutenden Christologie: Dem einen, einzigen und einfältigen Gott mehr als ein πρόσωπον, mehr als eine persona zuzuordnen, würde ihn διπρόσωπος erscheinen lassen. Gott wäre damit unlauter, unzuverlässig und im wahrsten Sinne des Wortes un-glaubwürdig. Nach den TestXII vereint Jesus als menschlicher Gott alle diese Tugenden auf sich. Er ist die Liebe Gottes in Person, die diese Liebe in Niedrigkeit, Demut und Einfachheit den Menschen gegenüber als Mensch gelebt hat. Nach der Christologie der TestXII war es kein anderer als Gott selbst, der sein Volk und die ganze Menschheit so geliebt hat, dass er ihnen in niedriger Menschengestalt begegnete. Für die Ethik bedeutet dies den Anspruch an die Christen, einander in gleicher Weise Liebe zu erweisen. Dass dies Gottes Liebe ist, erkennt man förmlich daran, dass sie bescheiden, einfach, demütig und vergebungsbereit ist. Es geht also um nicht mehr und nicht weniger als Nachahmer Gottes (μιμηταὶ θεοῦ 20 ) zu sein: Wenn selbst Gott sich in Niedrigkeit und Demut gezeigt hat, wieviel mehr haben wir Menschen Grund, demütig zu sein und bescheiden und einfach zu leben. Doch für eine Konzeption der Nachahmung braucht es ein konkretes Beispiel. Nachdem mit der Niedrigkeit Gottes die Grundlage gelegt ist, die keinen Zweifel mehr daran lässt, dass auch ταπείνωσις und ἁπλότης geradezu göttliche Tugenden sind, zeigen die TestXII jetzt an einem konkreten Mann, wie diese Tugenden praktisch gelebt werden können. 6.2 Joseph als Modell des guten Mannes 21 Joseph als ἀγαθὸς ἀνήρ 22 wird mehrfach in den TestXII als Vorbild dargestellt 23 . TBen widmet ihm einen eigenen Abschnitt: In TBen 4,1-6,7 wird der „gute Mann“ ausführlich beschrieben und in 3,1 und 5,5 mit Joseph identifi- TRub 2,6 (ambivalent, weil sie von Beliar nutzbar ist); TLev 4,3; 18,3.5.9; TGad 5,7; TBen 9,2. 19 Dies ist nicht unjüdisch. Das hebr. Pendant wird ebenfalls für Gott verwandt, vgl. E DLUND , Auge, S. 45. 20 Vgl. Ign Eph 1,1, IgnTrall 1,1; IgnRöm 6,3; IgnPhd 1,2. Bei ihm auch die originelle Umkehrung: Was wäre, wenn Gott unser Verhalten nachahmte? IgnMagn 10,1. 21 Vgl. H. W. H OLLANDER , zu TBen in Joseph, S. 65-92. 22 Ein klassischer Tugendbegriff des Hellenismus (vgl. die Belege über Epictet, Musonius und Plutarch bei H OLLANDER / DE J ONGE , Commentary, S. 413; H OLLANDER , Joseph, S. 66f.) der jüdischen Weisheitsliteratur (Belege über Prov, Eccl, Sir ebd.) und folglich auch im frühen Christentum. 23 TSim 4,4; TDan 1,4; TBen 3,1. <?page no="169"?> 163 ziert. Dem Charakter von TBen als Abschlusstestament entsprechend kann darin ein Resümee des Josephbildes in den TestXII gesehen werden 24 . Zu addieren wären dann noch die ausgiebigen Joseph-Passagen in den biographischen und paränetischen Abschnitten, vor allem TSeb 2-4, aber auch in anderen Patriarchentestamenten. Schließlich ist das gesamte Testament Joseph heranzuziehen. Achtet man auf die Tugenden, die Joseph zugeschrieben werden, so fällt sofort auf, dass sie einem sonderbar bekannt vorkommen, weil schlechthin alle Tugenden, die von Gott und vom Menschen ausgesagt werden (siehe Tabelle S. 160), auch im Zusammenhang der Josephspassagen 25 zu finden sind. Dabei werden sie in doppelter Hinsicht mit der Figur Josephs verknüpft: einerseits indem er aktiv diese Tugenden (meist seinen Brüdern) erweist - oder indem er passiv so behandelt wird, bzw. unter der Abwesenheit eben jener Tugenden leidet 26 . Tugend von Joseph aktiv ...und passiv ἁπλότης 27 TBen 6,7 28 ἔλεος TSim 4,4; TSeb 2,2; TSeb 5,4 μακροθυμία TJos 2,7; 17,2; 18,3 οἰκτιρμός TSeb 2,2.4; TJos 2,3 σπλάγχνον TSim 4,4, TSeb 8,4 TSim 2,4; TSeb 2,2.4; 5,3f σωφροσύνη TJos 9,2f; 10,2f; TBen 4,4 ταπείνωσις TJos 10,2 TBen 5,5 24 H OLLANDER , Joseph, S. 66. 25 Faktisch kann auch die Tugendreihe in TBen 4,4 hinzugezählt werden, denn H OL- LANDER , Joseph, ist recht zu geben, dass mit dem guten Mann aus TBen immer auch beispielhaft Joseph gemeint ist. Das gleiche gilt für paränetische Passagen in TJos, in denen er sich selbst als Beispiel gibt. 26 Beispiele: TSeb 2,2.4 schildert das Mitleid Sebulons, TSeb 5,3 beklagt die Mitleidlosigkeit der anderen Brüder. TJos 10,2 schildert Joseph als demütig, TBen 5,5 spricht davon, dass Joseph gedemütigt und dann erhöht wird. 27 Diese Tugend ist die Tugend Issachars, der als ethisches Vorzeigemodell eine gewisse Konkurrenz zu Joseph darstellt, Joseph kommt in TIss nicht vor. Issachar ist der einzige, der neben Joseph als sündlos dasteht (vgl. v.a. TIss 3). Seine Tugend steht im Zentrum der Paränese der TestXII (vgl. dazu A MSTUTZ , ΑΠΛΟΤΗΣ, S. 64-84). 28 Hier als Fazit der Tugendliste des ἀγαθός ἀνήρ, dem Titel Josephs in TBen (vgl. H OLLANDER , Joseph, S. 65-91). <?page no="170"?> 164 Josephs Tugenden sind also wortwörtlich identisch mit dem, was schon über Gott und über die Menschen ausgesagt wurde. Damit wird Joseph nicht nur ein Modell dafür, wie Menschen (Brüder) miteinander umgehen sollen, sondern auch, wie sich Gottes Liebe zu den Menschen konkretisiert. Christlich interpetiert, ist er nicht nur ein ethisches Modell, sondern auch ein christologisches Modell. In ihm wird das Erscheinen Gottes auf Erden schon einmal vorab dargestellt. So wie er müsste sich - aktiv - der menschliche Gott verhalten, und so wie ihm dürfte es - passiv - Gottes personifizierter Liebe ergehen 29 . Von daher lässt sich einerseits zeigen, dass auch hier Biographisches, Paränetisches und Eschatologisches nicht wirklich voneinander zu trennen ist, und andererseits, dass vieles schon von diesem Befund her dafür spricht, in Joseph nicht nur ein Modell des „rechtschaffenen Mannes“ zu sehen, sondern auch einen Typos für Jesus Christus 30 . Dies wird auch durch einen Vergleich mit dem alten Christushymnus in Phil 2 deutlich: Auch hier begegnen dieselben Begriffe im sowohl ethischen wie auch im christologischen Kontext: ἀγάπη, σπλάγχνα, οἰκτιρμοί, ταπεινοφροσύνη prägen die paränetischen Verse 1+2, die Verben κενόω und παπεινόω die christologischen Verse 7+8 31 . Und beides wird miteinander in Beziehung gesetzt, ja regelrecht identifiziert in Vers 5. Imitatio Dei ist imitatio Christi - ist imitatio Iosephi, so stellen es die TestXII dar. Dies lässt sich nicht nur aus den philologischen Bezügen zu den HAP erweisen, sondern auch an der konkreten Art und Weise, wie Joseph in den TestXII dargestellt wird. 6.2.1 TJos Das Testament Josephs beschreibt Joseph in Begriffen hellenistisch-jüdischer Tugend. Nicht zufällig hat Philo von Alexandrien Joseph eine eigene Abhandlung gewidmet 32 . Αuch bei Josephus findet sich ein eigener Abschnitt in den Antiquitates 33 , der ebenfalls den vorgegebenen Genesisstoff stark erweitert. Zwischen diesen Werken und TJos gibt es freilich einige Berührungspunkte. Jedoch fehlt in den TestXII fast 34 jeglicher Hinweis auf Josephs Weisheit und Weitsicht. P HILO schildert Joseph dagegen als Proto- 29 Vgl. dazu das oben unter Josephstypologie Gesagte, S. 145ff. 30 Die Josephstypologie ist in der Alten Kirche durchaus weit verbreitet. Vgl. dazu A RGYLE , Joseph, passim. 31 Zu den Ähnlichkeiten von Phil 2 mit den HAP siehe auch oben, Kap. 2.3.2, S. 72f. 32 P HILO , De Josepho - vgl. aber auch die weit kritischere Josephsdarstellung in de somniis. Zum Verhältnis Philos zu TJos (auch mit weiteren Bezügen aus anderen Schriften Philos) vgl. H ARRINGTON , Joseph, S. 129f. 33 Antiquitates, Buch 2, Kapitel 2-8. 34 TLev 13 setzt die Weisheit als Tugend der Priester nur indirekt mit Joseph in Verbindung. <?page no="171"?> 165 typ des weisen Staatsmannes mit erheblichen Management-Qualitäten. Αuch bei J OSEPHUS ' Antiquitates findet sich eine stark „hellenisierende“ Darstellung von Joseph 35 . Dort übertrifft er seine Brüder vor allem an Klugheit 36 . Die Zielrichtung von TJos weist dagegen weniger auf einen philosophischen Anspruch hin, als viel mehr in die Richtung der volkstümlicheren kynisch-stoischen Diatribe 37 . Es geht um handfeste Moralpredigt. Josephs Tugenden sind nicht Weisheit und Einsicht, sondern Keuschheit und Geduld 38 . Doch bleibt TJos nicht bei kynisch-stoischer Moralpredigt stehen, sondern beschreibt ausdrücklich auch Tugenden, die im kynisch-stoischen Kontext eher als Krankheiten der Seele gegolten hätten, wie z.B. Mitleid und Erbarmen 39 . Jedenfalls kann das in TGad 6-7 geforderte Tolerieren und Vergeben von selbst gröberer Ungerechtigkeit nicht mehr in den kynischstoischen Kontext integriert werden 40 . Damit weisen die TestXII deutliche religiöse Bezüge vor allem zur LXX auf. Am auffälligsten sind die Parallelen zu den Psalmen, die eine deutliche Nähe zu Dank- und Klageliedern des Einzelnen sowohl von den verwandten Gattungsmerkmalen wie von den Wortfeldern 41 her aufweisen. Joseph äußert sich in seinem Testament als einer, der schwer bedroht und durch Gottes Eingreifen gerettet wurde. Der leidende Gerechte ist auch ein Motiv der Weisheitsliteratur 42 , ein Bezug, der in diesem Zusammenhang wenig überraschend ist. Spannender sind die Berührungen mit der jüdischen Märtyrerterminologie 43 . Es finden sich deutliche Parallelen in der Makkabäerliteratur 44 , aber auch bei Daniel und später in den christlichen Märtyrerlegenden. Der Kampf, die Todesgefahr, die Folterstrafen, die Bildwelt von drohender Flamme und anderes zählten dazu. Nicht nur dass sein Leiden unter den Brüdern und im Gefängnis in Ägypten erheblich ausgestaltet wird, auch seine Zeit bei den Ismaeliten wird 35 Vgl. die Dissertation S PRÖDOWSKY , Hellenisierung. 36 JosAnt 2.2.1. 37 Vgl. P FITZNER , Agon Motif, aber auch die von H OLLANDER , Joseph, S. 16ff vorgebrachten Parallelen. 38 Zur zentralen Rolle dieser Tugenden siehe H OLLANDER , Joseph, S. 38f u. ö. 39 Vgl. dazu THWNT, S. 474f. Siehe auch DE J ONGE , Paränese, S. 546. 40 Im Grunde geht sie auch über hellenistisch-jüdische Paränese hinaus, vgl. DE J ONGE , ebd. 41 H OLLANDER , Joseph und Commentary, S. 362ff. 42 Insbesondere aber auch jener Weisheitsliteratur, die eine Krise der Weisheit kennt, also Hiob, Prediger und Daniel. Wobei Joseph als Paradebeispiel dessen gilt, der auch unter widrigsten Umständen an Glaube und Moral festhält und deshalb von Gott erhöht und zu Ehren gebracht wird. 43 Darauf weist H OLLANDER , Joseph, S. 36 hin. 44 Vor allem 4.Makk, vgl. nur den Stellenindex bei H OLLANDER , Joseph, S. 137f. <?page no="172"?> 166 durch Leidensgeschichten erweitert 45 . Ebenso wird die Versuchungsgeschichte im Hause Potiphars 46 als Kampf um Keuschheit mit viel Geduld und Leidensbereitschaft dargestellt. Diese Geschichte mit Potiphars Frau nimmt einen erheblichen Raum in den biographischen Abschnitten des TJos ein. Im Vergleich zu den anderen jüdischen Heiligen- und Märtyrererzählungen fällt auf, dass inhaltlich spezifisch jüdische Gesetze - also die klassischen Identitätsmerkmale, die zum Martyrium führten - kaum eine Rolle spielen. Dies gilt sogar für den Vergleich mit dem weniger von Märtyrerstolz, sondern - ähnlich den TestXII - hellenistisch-jüdischer Moralpredigt verpflichteten Werk JosAs. Es ist kaum die Rede von Speisevorschriften. Das mehrfache Erwähnen des Fastens 47 ist nicht mit dem Verzicht auf Fleisch und andere heidnische Genüsse bei Daniel 48 und den Makkabäern 49 oder der Nahrungsaskese Josephs in JosAs 50 vergleichbar, auch wenn die Wirkung ähnlich ist 51 . Sein Verzicht bekommt sogar eine ausdrücklich zwischenmenschliche Komponente der Mildtätigkeit 52 und damit eine eher ethische Konnotation. Auch von Sabbatheiligung ist wenig die Rede, und nicht einmal Glaube an den Einen Gott 53 wird besonders herausgefordert. Die Memphitin versucht zwar, Joseph mit dem Versprechen zu ködern, sie würde ihm zuliebe die Götzen verlassen 54 , aber sie verlangt nicht von ihm, seinerseits die Götzen zu verehren, wie es typisch ist für die antijüdischen Tyrannen bei Daniel 55 oder den Makkabäern 56 . Stattdessen ringt Joseph um die allgemein hellenistisch zu nennende Tugend der Keuschheit 57 oder Selbstbeherrschung. Das ist als solches noch nicht unjüdisch, aber im Kontext der Märtyrerterminologie doch untypisch, auch wenn andere aus der Weisheit erwachsene Schriften weniger am Ritual als an der Tugend im täglichen Leben interessiert sind. 45 TJos 11-16. 46 TJos 3-9. 47 TJos 3,4.5; 4,8. 48 Dan 1,8. 49 2. Makk 6,18. 50 JosAs 7,1. Zu den Verbindugnen JosAs zu TJos vgl. auch S MITH , Joseph, S. 133-135. zu Recht betont er auch die erheblichen Unterschiede. 51 Vgl. Dan 1,15 mit TJos 3,4 - vgl. aber auch Mt 6,17. 52 TJos 3,5 - vgl. aber auch Tob 12,9, jedoch ohne apotropäischen Kontext. 53 Die Konversion Aseneths zum jüdischen Glauben ist das schlichtweg beherrschende Thema von JosAs. 54 TJos 4,5. 55 Dan 3; 6; Dan 14LXX. 56 1. Makk 2,15ff. u.ö. 57 Die σωφροσύνη ist nicht zufällig die Tugend, die es in den meisten Handschriften in die Überschrift des TJos geschafft hat. <?page no="173"?> 167 Die größte Nähe besteht zum Motivkomplex „Das Leiden des Gerechten durch viele Prüfungen“ 58 . Dennoch fällt auf, wie stark die Märtyrerterminologie durchschlägt. Es geht nicht nur um Leiden und Prüfung, sondern immer auch um den Tod 59 - was definitiv über das hinaus geht, was die Genesis-Erzählung vorgibt. Es stellt sich damit die Frage: Wofür ist Joseph eigentlich bereit zu sterben? Wofür nimmt er Leiden um Leiden auf sich? Es ist die sittliche Reinheit, die σωφροσύνη, aber auch die Bruderliebe, die bedingungslose Vergebungsbereitschaft, die uns als Motive genannt werden. Das ist ziemlich einmalig 60 . Für christliche Leser muss dagegen auffällig gewesen sein, dass Joseph der Versuchung durch Fasten und Beten 61 widerstanden hat. Er versuchte, die Anfechtung durch des Vaters Wort zu überwinden 62 . Dabei wurde ihm vorgegaukelt, er würde den Willen Gottes erfüllen 63 . Ja, auch das Versprechen der Frau, ihm alles untertan zu machen 64 , sollte sonderbar bekannt vorkommen. Natürlich kann die inhaltliche Nähe zur Versuchungsgeschichte Jesu durch gemeinsam verwandtes, traditionelles jüdisches Material erklärt werden, aber mit christlichen Augen gelesen ist nicht so sehr die vergangene Genese dieser Passagen entscheidend, sondern die zukünftige Wirkung. In der wird Joseph nicht nur ein Vorbild für jeden Christen, sondern auch zu einem Typos Christi, der alles erleidet, in allem versucht wird und doch selbst ohne Schuld 65 bleibt. 58 Vgl. Jak 5,10f: Der Bezug zu den leidenden Gerechten des Alten Testaments ist auch hier ohne explizit christologische Konnotation im christlich-paränetischen Kontext gebraucht. 59 Vgl. schon die Einleitungssätze zu den Episoden TJos 3,1 und 11,3. 60 Auch P HILO , de Iosepho, 247f. berichtet von Josephs Verschweigen seiner Herkunft. Auf den ersten Blick ist das (gerade in der Opposition zu Gen 40,14f) eine erstaunliche Parallele - vgl. dazu auch H ARRINGTON , Joseph S. 129f. Doch ist das Motiv für das Schweigen anders gelagert: in Jos 240 lässt Philo Joseph das Motiv für sein Schweigen benennen: ἐυσέβεια gegenüber dem Vater und φιλανθρωπία gegenüber den Blutsverwandten. Das sind allgemeine Tugenden, und sie wirken erheblich kühler und distanzierter als die leidenschaftlichen Begriffe σπλάγχνον und ἔλεος in TSeb. 61 TJos 4,8 - Mk 9,29; Mt 17,21, Fasten und Beten kommt einzeln auch mehrfach vor, z.B. Mt 4,2 u.ö. 62 TJos 3,10 - Mt 4,1ff. 63 TJos 4,5f - Mt 4,1ff. 64 TJos 3,2 - Mt 4,8f. 65 Vgl. Heb 4,15. Die Schuldlosigkeit Josephs hat zwei Kratzer: Erstens, die biographische Episode in TGad 1,4-9 lässt ihn nicht in so makellosem Licht dastehen, und zweitens wird auch Issachar als Mann ohne Sünden und Fehler dargestellt (TIss 3). <?page no="174"?> 168 Josephs Tugend hat also einen aktiven Aspekt der Keuschheit, des Fastens und des Betens, und andererseits einen passiven Aspekt 66 der Geduld, des Ertragens und der Bereitschaft zur Vergebung. Dieser zweite Aspekt steht im Mittelpunkt der zweiten großen biographischen Passage im TJos. Mehrfach wird betont, dass seine eigene hohe Herkunft verborgen bleibt, ja, dass er sie leugnet oder schweigt 67 . Er erduldet sogar Todesdrohungen 68 und Folterstrafen 69 , um dieses Geheimnis zu wahren. Durch das Verschweigen von Straftaten schützt er aber nicht nur seine Brüder, sondern auch Potiphars Frau 70 und ihren Eunuchen 71 . Zentrales Motiv für das Schweigen Josephs ist aber, seine Brüder nicht zu beschämen und sie vor dem Vater und vor anderen in Schutz zu nehmen. Lieber leidet er, als sie der Strafe auszusetzen 72 . Zu seiner Tugend der Geduld, dies alles um seiner Brüder willen auszuhalten, tritt die Vergebungsbereitschaft ganz deutlich bei der paränetischen Zusammenfassung der zweiten Episode 73 hinzu. Deutlich geschildert wird die Haltung Josephs, denen Gutes zu tun, die ihn so schändlich verraten und verkauft haben. Dies alles ist nicht unjüdisch. Josephs Schweigen wird auch von Philo und Josephus berichtet 74 , und Vergebungsbereitschaft gilt auch im Judentum durchaus als Tugend 75 . Dennoch ist diese Betonung auffällig. Es wird weit weniger von der Reue und der demütigenden Prüfung der Brüder berichtet, als in der Genesis oder den Parallelüberlieferungen 76 . Im Gegenteil: Joseph versucht zu verhindern, dass seine Brüder beschämt werden. Seine Schikanen gegen die Brüder zur Prüfung ihrer Besserung finden keinen Niederschlag in TJos. Vielmehr wird 66 Dieser passive Aspekt scheint mir bei H OLLANDER , Joseph, insgesamt unterbelichtet, weil er viele biographische Notizen in seine ethisch-paränetischen Überlegungen nicht einbezieht. 67 Das Schweigen Josephs und das Schweigen Jesu in der Passionsgeschichte deuten in eine ähnliche Richtung. 68 TJos 11,3. 69 TJos 13,9; 14,2. 70 TJos 9,4. 71 TJos 16,6. 72 TJos 11,2; 15,3; 17,1. 73 TJos 17,1-18,4. 74 P HILO , de Josepho, § 247f, J OSEPHUS , Antiquitates 2.5.1 und 2.6.9. Vgl. H ARRINGTON , Joseph, S. 129f, S MITH , Joseph, S.136 und zusammenfassend H OLLANDER / DE J ONGE , Commentary, S. 364f. 75 Dazu nur exemplarisch Spr. 17,9, vgl. auch JosAs 23,9; 28,12; 29,3 (wobei die jüdische Provenienz von JosAs durchaus umstritten ist - vgl. zuletzt D AVILA , Provenance, S. 190-195). 76 Josephus z.B. schildert ausführlich die Qualen, die die Brüder durch Josephs Schikanen erleiden mussten, und wie tief ihre Reue und ihr Schmerz war. Davon erfahren wir in TJos und den TestXII erstaunlich wenig. Auch Philo baut die Szene erheblich aus. <?page no="175"?> 169 in TJos der Eindruck erweckt, als sei Josephs Bereitschaft zur Vergebung ohne Vorbedingungen vorhanden gewesen, sogar schon gleich nach seinem Verkauf, unter Sklaverei, Folter und Gefangenschaft und lange vor der erkennbaren Besserung der Brüder. Das ist in der Tat außergewöhnlich, selbst für die christliche Josephsliteratur. Eine christliche Interpretation muss daran anknüpfen: Joseph gilt als moralisches Vorbild in der Bereitschaft, zu leiden, zu vergeben und das Böse mit Gutem zu vergelten. Er ist ein Vorbild an Selbstbeherrschung und Keuschheit. Er ist damit auch ein Bild Christi, der unschuldig und ohne Sünde leidet, ohne seine Peiniger zu verklagen 77 , der seinen wahren Status, die Sohnschaft von einem mächtigen Vater, verschweigt und so dessen Rache abwendet. Und der in allem Leid bereit ist zur Vergebung, dessen Liebe zu seinen Brüdern unerschütterlich ist. Erkennbar geht die christliche Interpretation über reine moralische Paränese hinaus. Hier wird auch höchst erbaulich ein Bild von Jesus Christus gezeichnet, seiner Unschuld, seiner Liebe und seiner Vergebung. Die paränetische Ermahnung, dann in gleicher Weise gesinnt zu sein wie er (Ethik als imitatio Christi 78 ), erscheint wie eine narrative Entfaltung von Phil 2,5 79 . Schließlich lohnt aber auch ein Blick auf das Thema, das die TestXII immer wieder beschäftigt: Das Verhältnis von Israel zum Christentum oder namentlich zu Jesus Christus. Dass die älteren Brüder Israel repräsentieren, ist naheliegend. Sie sind die Stammväter der zwölf Stämme 80 , und für christliche Leser ist die Metapher des älteren Bruders für Israel oder die Juden ebenfalls nicht neu 81 . Konsequent zu Ende gedacht bedeutet dies: Jesu Liebe zu Israel ist bedingungslos. Die älteren Brüder bleiben Brüder und werden nicht zu Fremden, auch wenn sie ihren eigenen Bruder in die Fremde verkauft haben. Dort wurde er erhöht, dort wurde sein Königtum anerkannt, doch seine Brüder hat er nicht vergessen. So wird von den Lesern also in der Nachahmung Christi nicht nur die Liebe zu ihren christlichen, sondern auch zu den jüdischen Brüdern ver- 77 Vgl. die ganz ähnliche Kombination in 1.Petrus 2,21f: Vorbild Christi im unschuldigen Leiden ohne Gegenwehr. Aber anders als in den TestXII findet sich hier wie bei dem ähnlichen Motiv in 2. Kor 5,21 und Heb 4,15 ein klarer Bezug zur Sündenvergebung durch den Tod Jesu. 78 Eine ähnliche Verknüpfung aus imitatio Dei und imitatio Christi bietet Ignatiusvon Antiochien, z.B. IgnEph 1,1; 10,3: Die Gemeinde soll „Nachahmer Gottes“ und „des Herrn“ sein. In 10,3 übrigens mit dem Stichwort σωφροσύνη (hapax bei Ign.! ) verbunden. Vgl. auch IgnPhd 7,2. 79 Vgl. auch das Schema von Erniedrigung und Erhöhung, das Stichwort der Sklaverei (Knechtsgewand und Knechtsgestalt). 80 Dass es keinen Stamm Joseph gibt, erweist sich quasi als Glücksfall für die christliche Interpretation des Geschehens. 81 Luk 15,25ff, vgl. die Bovon, Lukas (EKK III, 3), S. 54. <?page no="176"?> 170 langt. Ihnen gegenüber sollen sie so die Vergebungsbereitschaft und Bruderliebe praktizieren, wie Joseph es seinen Brüdern gegenüber tat. 6.2.2 Josephbezüge aus den anderen Testamenten Schon erwähnt wurden die Anspielungen in TSeb 82 , die eine Christus- Typologie Josephs nahelegen. Sie brauchen nicht weiter besprochen werden 83 . Vielmehr geht es jetzt noch einmal um die Ethik und Gesinnung Josephs, sofern sie als vorbildlich für die Leser formuliert werden. Die Tugenden, um die es geht, unterscheiden sich allerdings kaum von den aus TJos bereits gewonnenen Rahmenlinien. Sie streichen einerseits die Leidensbereitschaft Josephs heraus und betonen andererseits seine Keuschheit und Vergebungsbereitschaft. In TRub 4,8-10 wird - ganz ähnlich wie in TJos - die Anfechtung durch die Ägypterin als tödliche Bedrohung skizziert, aus der Joseph von Gott gerettet wurde. Dass hier von sichtbarem und unsichtbarem Tod die Rede ist, ist wohl weniger als Anspielung auf offene Hinrichtung oder verborgenen Mord bezogen 84 , sondern eher als Parallele zu dem Tod in sichtbaren und unsichtbaren Kriegen in TRub 6,12 zu sehen: Sichtbar ist der physische Tod, aber weit schlimmer ist der unsichtbare Tod in der geistlichen Welt 85 . Christlich gesehen könnte die göttliche Rettung aus beiderlei Tod durchaus als Anspielung auf die Auferstehung verstanden werden. TSeb 8,4f und TSim 4,3-5,1a sind erneut Perikopen, die Josephs Vergebungsbereitschaft unterstreichen. In ersterer Stelle ist davon die Rede, dass Joseph schon bei ihrer Ankunft in Ägypten nichts Arges wider seine Brüder im Sinne hatte, sondern stattdessen Mitleid und Erbarmen (εὐσπλαγχνίζεσθαι) gegenüber Sebulon zeigte. Es sei hierbei angemerkt, dass im neutestamentlichen Sprachgebrauch 86 σπλαγχνίζεσθαι nur vom barmherzigen Samariter 87 und von Jesus selbst ausgesagt wird. In den TestXII wird dieses barmherzige Mitleid aber auch von den Nachkommen gefordert, speziell in TSeb. Christlich gesehen müsste dies also in die Wirkungsgeschichte des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter eingeordnet werden, und es passt fugenlos in eine Ethik der imitatio Christi. 82 Siehe oben, Kapitel 5.4, S. 145. 83 Dass sie bei H OLLANDER , Joseph, gar keine Bearbeitung finden, ist allerdings misslich. Denn gerade für die christliche Ethik ist es von entscheidender Bedeutung, ob die beispielgebende Funktion Josephs allein darauf beruht, dass er ein „good man“ gewesen ist, oder ob (über einen kleinen typologischen Umweg) zur imitatio Christi aufgerufen wird. 84 Anders H OLLANDER , Joseph, S. 52. 85 Apk 2,11; 20,14. 86 Vgl. ThWNT z. St. 87 Dieser wird gerade darin auch als Typos für Jesus Christus wahrgenommen. Vgl. B OVON , Lukas (EKK III,2), S.93-98. <?page no="177"?> 171 Die zweite erwähnte Passage in TSim ist insofern von besonderem Interesse, als hier - anders als in TJos - die Schikanen Josephs zur Prüfung der Gesinnung seiner Brüder immerhin Erwähnung finden. Simeon erinnert sich daran, quasi als Geisel inhaftiert gewesen zu sein. Aber gerade darin ist auffällig, dass Simeon seinen Nachfahren gegenüber die Rechtmäßigkeit dieser Strafe ausdrücklich betont und Josephs Motive nicht etwa Misstrauen oder gar Rache gewesen sein können, sondern nur lauter Liebe und Erbarmen (TSim 4,4). Erneut begegnen die Schlüsselworte ἔλεος 88 und εὐσπλαγχνία sowie die ἀγάπη. Wichtig ist auch, dass hier die aus der hellenistischen Tugendethik geläufige 89 Titulatur als „guter Mann“ (ἀγαθὸς ἀνὴρ) begegnet. Das ist für die TestXII eine übliche Bezeichnung für Joseph 90 . Eine Besonderheit dieser Perikope besteht darin, dass Joseph als erfüllt von Gottes Geist beschrieben wird 91 . Dies ist im alttestamentlich-jüdischen Kontext eine Aussage, die typisch für Propheten 92 , Richter 93 und Könige 94 ist. Im Neuen Testament ist dies erst 95 eine Auszeichnung Jesu 96 und dann ein Merkmal aller Christen 97 . Dass der Heilige Geist nicht nur ein ekstatisches Phänomen ist, sondern auch eine handfeste ethisch moralische Komponente hat 98 , die sich in mitleidigem Erbarmen und Liebe äußert, ist typisch für früchristliche Ethik vom Neuen Testament an 99 und begegnet auch hier in den TestXII. 88 ἔλεος und ἐλεεῖν sind im Hellenismus keineswegs unbestritten positive Tugenden, In der LXX stehen sie jedoch für die Gnade und Huld Gottes ( ). Ιm hell. Judentum wird sie dann zum zwischenmenschlichen und auch eschatologischen Begriff. Christlich findet sie Verwendung bei fast allen Schriften des NT, sowie Ignatius, Klemens und Hermas (THWNT S. 474-482). 89 Belege finden sich zuhauf in pagan- und jüdisch-hellenistischen Schriften, vgl. dazu H OLLANDER , Joseph, Kap 4 und Anmerkungen dort. 90 TSim 4,4; TDan 1,4; TBen 3,1 u.ö. 91 Auf den Geist Gottes geht H OLLANDER , Joseph, S. 55f leider nicht ein. 92 In erster Linie wären Elia und Elisa zu nennen, aber auch in den Jesajabüchern und bei Jeremia und Ezechiel spielt der Geist eine wichtige Rolle 93 Stark ausgeprägt in der Simsongeschichte. Grundsätzlich muss das Richteramt als ein charismatisches Amt angesehen werden, vgl. D ONNER , Geschichte, Bd 1, S. 167ff. 94 Nicht nur in den Königserzählungen der Samuelisbücher, die Saul und David als Charismatiker schildern, auch in den Psalmen (z.B. Ps. 51) ist Geistbegabung und Königtum miteinander verwoben. 95 Allein bei Lk findet sich ausdrücklich die Erfüllung mit dem Heiligen Geist auch bei vor-jesuanischen Personen wie Johannes (Lk 1,15) und Elisabeth (Lk 1,41). 96 Im Rahmen der Tauferzählung (Mt 3,16), aber auch öfter (Mt 12,28). 97 Vgl. die diversen „Pfingsterzählungen“, Joh 20,22; Apg 2; 8; 10 - ebenso bei Paulus z.B. Gal 3,2 usw. 98 Vgl. auch Röm 1,4; 8; 12,11 u.ö. 99 B ERGER , Theologiegeschichte, S. 498, weist auch zu Recht auf die alttestamentlich/ jüdische Grundlage hin (Jer 31,33; Ez 11,19f; 18,31; 36,25-27 und Jub 1,23-25). <?page no="178"?> 172 TLev 13 endet ebenfalls mit einem Verweis auf Joseph, wobei an dieser Stelle eigentlich nur das Schema Erniedrigung und Erhöhung noch einmal bemüht wird. Immerhin wird hier eine - wenn auch lose - Verbindung zwischen Joseph und der Weisheit (σοφία) hergestellt 100 . TDan 1,4-9 wiederholt die Bezeichnung Josephs als wahrhaft guten Mann und stellt die Eifersucht Dans als eine „Konspiration“ seines Geistes mit den Geistern Beliars dar. In der ethischen Konsequenz wird hier einmal mehr eine geistliche Konnotation zum tugendhaften Verhalten eingebracht, die (ähnlich wie oben Josephs Güte auf den Geist Gottes zurückgeführt wurde) auch das Böse pneumatologisch verortet 101 . Das Gute wie das Böse im Denken, Fühlen und Tun befinden sich also nicht allein in der menschlichen Verfügbarkeit. So ist es auch nicht Josephs Klugheit oder Weisheit zu verdanken, sondern Gottes helfendem Eingreifen, dass er Dan nicht allein im Dunkeln begegnet ist. Die Nähe zu apotropäisch/ exorzistischem Vokabular in TJos findet also durchaus eine Entsprechung in TDan. Dort schützt die Tugend der μακροθυμία gegen die Versuchung und den Versucher 102 . Auffällig ist auch, dass in der weiteren Paränese von TDan ausdrücklich vom Wohnen Gottes im Menschen die Rede ist 103 . TGad 1,4-2,5 ist ebenfalls eine heikle Perikope, da hier Josephs Denunziantentum gegen seine Brüder angesprochen wird. Es ist ja durch Gen 37,2 vorgegeben, und so ist das Bemühen erkennbar, Josephs Schuld klein zu halten. Dazu dient vor allem der Vergleich mit dem tödlichen Hass Gads, den dieser selbst als viel größere Sünde bekennt. Erneut wird auch die geistliche Dimension erwähnt, indem von einem Geist des Hasses 104 berichtet wird und von Gottes rettendem Eingreifen, das schlimmere Schuld verhindert. Interessant ist, dass Gads Hass gegen Joseph regelrecht psychosomatische 105 Symptome hervorruft, die seine Leber 106 betreffen. 100 H OLLANDER , Joseph, S. 58ff, zeigt deutlich, dass hier ein Unterschied zu den Josephsdarstellungen z.B. Philos, aber auch zu ArLevi besteht, in denen Josephs Weisheit direkt als Modell formuliert wird. 101 Erneut verzeichnet H OLLANDER , Joseph, S. 56f, gerade dieses entscheidende Motiv nicht. Die von ihm beibehaltene Trennung von paränetischem und biographischem Material erweist sich als Verengung der Perspektive. 102 TDan 6,8.9. 103 TDan 5,1. Die Einwohnung Gottes vertreibt Beliar. Umgekehrt wird eine Seele, die von Zorn verstört wird, von dem Herrn verlassen und von Beliar heimgesucht (TDan 4,7). Vgl. auch TBen 6,4 , TIss 7,7 und TJos 10,2f. 104 Wenigstens anzumerken ist, dass dies auch im weiteren Testament durchgehalten wird. Mehrfach wird auch erwähnt, dass der Hass Sünde gegen Gott/ den Herrn selbst ist (TGad 4,1f). Der Geist der Liebe dagegen könnte selbst die Toten zurück ins Leben bringen und die Menschen retten (4,6f). 105 Korrekt müsste man eigentlich von pneumatosomatischen Symptomen sprechen, da die geistliche Welt nicht als Domäne der Psychologie galt. <?page no="179"?> 173 Als Antagonist zum Hass fungiert einmal mehr das Erbarmen, das zu den Kardinaltugenden der TestXII gehört, im späteren Verlauf des Testaments auch die Reue, die Liebe, Gerechtigkeit und Wahrheit. So siegt am Ende die Vergebungsbereitschaft gegen einander. Insofern fungiert Joseph auch hier als Vorbild oder Typos 107 : einmal passiv, weil man ihm seine kleine 108 Schuld hätte vergeben müssen 109 , und dann aktiv, weil er gezeigt hat, dass er auch große Schuld vergeben kann 110 . TBen, das ja in mancherlei Hinsicht so komponiert wurde, dass es „den Sack zubindet“, bildet auch in der Paränese keine Ausnahme. Konzentrierten sich die anderen Testamente mehr oder minder auf jeweils einzelne Tugenden, thematisiert TBen gleich das Ganze: den guten Menschen an und für sich. So finden sich hier 111 regelrechte Kataloge von Tugend und Laster 112 . Gleich mehrfach begegnet uns das Doppelgebot der Liebe 113 , und paradigmatisch wird noch einmal aufgelistet, was der Gerechte alles erträgt und vergibt 114 . Schließlich begegnet ein weiteres Mal die geistliche Dimension des Kampfes von Beliar mit seinen Geistern wider Gott und seinen Geist 115 , bis zu der Spitzenformulierung von einer Einwohnung Gottes im guten Menschen 116 . Es ist so gesehen also nicht viel Neues in TBen. Ein paar Details sollen dennoch erwähnt werden: Ausdrücklich erwähnt TBen die Fürbitte Josephs an seinen Vater um der Brüder willen 117 . Dies ist ein Detail, das über die biblische Josephsgeschichte hinausgeht und insofern immer einen Hinweis auf die Position des Autors birgt. Vor jüdischem Hintergrund erinnert dies an die Fürbitte des Gerechten für die Sünder, sei es Abraham für Sodom 118 oder Hiob für seine Freunde 119 . Auf christlicher Ebene interpretiert, wird hier die Fürbitte Jesu vor seinem Vater angedeutet 120 . Dass diese Fürbitte jenen älteren Brüdern gilt, die ihn 106 TGad 5,9. Die Leber gilt in den TestXII als Sitz des Hasses, des Erbarmens, und anderer Gefühle (TGad 2,1; 5,11; TRub 3,4; TSim 2,4.7; 4,1 TSeb 2,4). 107 Anders H OLLANDER , Joseph, S. 57, der Joseph für diese Rolle disqualifiziert sieht. 108 TGad 4,6. 109 TGad zählt noch weit größere Ungerechtigkeiten auf, die hingenommen werden müssten. 110 Vgl. dazu auch das sog. Gleichnis vom Schalksknecht Mt 18,23ff. 111 Ähnlich sonst nur in TIss, das in mancherlei Hinsicht TBen vorwegnimmt. 112 TBen 4,4ff; TBen 6,2ff. 113 TBen 3,1.3.4.5. 114 TBen 3,4-6; 4,3; 5,4f. 115 TBen 3,3-5; 5,2; 6,1.7; 8,2. 116 TBen 6,4. 117 TBen 3,6. 118 Gen 18, 16ff. 119 Hi 42, 8-10. 120 Luk 23,22; Joh 17,11.15. <?page no="180"?> 174 erniedrigt haben, könnte ein weiterer Hinweis auf die Israel-Thematik der TestXII sein. Schließlich ist in TBen 4,1 vom Ende 121 (τέλος) des guten Mannes (ἀγαθὸς ἀνὴρ) die Rede - mit der Empfehlung zur Nachahmung 122 (μιμεῖσθαι). Als Belohnung wird ein goldener Ehrenkranz (στέφανος δόξης) verheißen. So sehr das alles noch in einem jüdisch-hellenistischen Kontext erklärt werden kann 123 , sind die deutlichsten Parallelen bei Paulus und anderen christlichen Autoren zu finden 124 . Die von Joseph praktizierte imitatio dei 125 kann also nachgeahmt werden, indem man ihn zum Vorbild nimmt. So kann auch Paulus im Philipperbrief erst Jesus (2,5), und dann sich selbst (3,17) als Vorbild anbieten. Das Ziel ist dasselbe. Ein weiterer Aspekt von TBen ist die starke Betonung der Gesinnung 126 . Auch dies kann durchaus im Kontext der hellenistisch-jüdischen Tugendethik verortet werden, doch ist auffällig, dass es auch bei paulinischer Paränese immer wieder um Gesinnung 127 geht. Schließlich muss noch TBen 8,2f erwähnt werden. Hier geht es um die Reinheit der guten Gesinnung, die nicht verunreinigt werden kann, weil Gottes Geist darin ruht. Als Beispiel wird die Sonne genannt, die durch irdischen Dung nicht behelligt wird, sondern ihn austrocknet und sogar den üblen Geruch vertreibt. Ähnliche Motive finden sich auch in der jüdischen Weisheit 128 und Apokalyptik 129 . Es besteht jedoch eine besondere Nähe zur christlichen Konzeption einer „offensiven“ Reinheit 130 , die nicht verunreinigt werden kann, sondern ihrerseits reinigend wirkt 131 . Wird Joseph also als Typos für Jesus Christus verstanden, fügt sich auch dieses Detail fugenlos ein. 121 Oder Ziel. Diese Bedeutung changiert auch bei Paulus, wenn er z. B. vom „Ende des Gesetzes“schreibt. 122 Vgl. auch TBen 3,1. 123 So H OLLANDER , Joseph, mit Verweis auf P FITZNER , Agon Motif. 124 Vor allem Phil 3,12-16 - aber auch 1.Kor 9,25 und später 2.Tim 4,8; Jak 1,12; 1.Pet 5,4; Apk 2,10. 125 TBen 4,3.5 - vgl. H OLLANDER , Joseph, S. 71. 126 TBen 3,2; 4,1; 5,1; 6,1.4.5.7; 8,2. 127 Ein Beispiel dazu ist der Gebrauch des Verbes φρονεῖν. In Phil 2,2.5; 3,14f; 4,2 und Röm 11,25; 12,3 u.ö. Vgl. dazu THWNT, S. 228f. 128 H OLLANDER , Joseph, S. 91 Anm. 215 führt Weish 7,24 an. 129 B ERGER verdanke ich den Hinweis, dass die Sonne als unkontaminierbar reiner Sühneort in der griechisch/ syrischen Baruch Apokalypse genannt wird. 130 B ERGER , Theologiegeschichte, S. 129 u.ö. 131 Vgl. dazu die Geschichte von der blutflüssigen Frau (Mt 10,20-22), aber auch die paulinische Rede vom ἱλαστήριον als Sühneort: Der Ort absoluter Reinheit kann nicht verunreinigt werden, sondern beseitigt die Unreinheit (Röm 3,25). <?page no="181"?> 175 6.3 Das Doppelgebot der Liebe Es ist eine ideologisch überladene Diskussion, ob das Doppelgebot der Liebe nun eine „christliche Erfindung“ womöglich von Jesus selbst sei 132 , oder eine bereits jüdische Kombination von Hauptgeboten 133 . Es geht auch den TestXII gerade nicht darum, das Doppelgebot als etwas Neues vorzustellen, das erst mit einem künftigen Propheten Geltung erlangen wird, sondern als die ganz uralte Weisung 134 der jüdischen Patriarchen. Unabhängig vom Nachweis einer schriftlichen Quelle 135 für die Zusammensetzung aus Dtn 6,5 und Lev 18,19 sollte über die jüdische 136 Provenienz des Doppelgebotes eigentlich Einigkeit bestehen. Die TestXII belegen die kombinierte Forderung, sowohl Gott als auch die eigenen Brüder zu lieben, an diversen Stellen 137 . Welche Funktion hat diese Kombination speziell im Kontext der Ethik der TestXII? Im Kontext jüdischer Tradition ist dies problemlos in das Bestreben des hellenistischen Judentum einzuordnen, die Hochschätzung von Gottesfurcht und Menschenliebe 138 im Stoizismus mit den jüdischen Geboten ins Gespräch zu bringen. Der Versuch, die Gesetze vom Dekalog bis zu den Einzelgesetzen zusammenzufassen und auf für die hellenistische Welt fassliche Begriffe zu bringen, hat vor allem bei Philo dazu geführt, so etwas wie Überschriften oder Hauptgebote zu suchen 139 . So geht es den TestXII bei der Formulierung des Doppelgebotes nicht um ein „Neues Gebot 140 “ Jesu, sondern um das alte Gebot der Patriarchen, das noch vor der Formulierung der Torah des Mose, also auch vor Lev 19 und Dtn 6 schon Gültigkeit hatte. 132 T HEISSEN , Doppelgebot, geht davon aus, dass das Doppelgebot in der christlichen Tradition auf Jesus selbst zurückgeht. Doch der könnte es von Johannes dem Täufer übernommen haben (S. 70-72). 133 Für den komplizierten traditionsgeschichtlichen Werdegang des Doppelgebotes ist B ERGER , Gesetzesauslegung, immer noch maßgeblich. Vgl. dazu neuerdings aber auch den Aufsatz von T HEISSEN , Doppelgebot. 134 Vgl. 1.Joh 2,7; 2. Joh 4-6; nach B ERGER , Theologiegeschichte, auf jeden Fall ein Hinweis auf judenchristliche Theologie. 135 Der aber mit dem Hinweis auf Jub 7,20 und 36,7 ohne Weiteres gelingen sollte, vgl. im Übrigen B ERGER , Gesetzesauslegung, S. 142-165. 136 Genauer wohl: jüdisch-hellenistische Provenienz. 137 TIss 5,2; 7,6; TGad 4,2; TDan 5,3; TJos 11,1; TBen 3,3; 4,4 - der Sache nach noch einige Male öfter. 138 B ERGER , Gesetzesauslegung, S. 143-165. Berger verhandelt die TestXII noch als Vetreter genuin jüdisch-hellenistischer Apokalyptik (S. 160-162). Das ist insofern bedeutsam, weil sich die TestXII gerade in dieser Frage eben nicht erheblich von ihren jüdischen Traditionen abheben. In der Sache muss das heute differenzierter gesehen werden. 139 Als Beispiel dafür kann seine Schrift de specialibus legibus gelten. 140 Joh 13,34. <?page no="182"?> 176 Das Besondere, das die TestXII im jüdischen Kontext einbringen, ist nicht die Zusammenstellung von zwei Hauptgeboten bzgl. Gottesfurcht und Menschenliebe. Es ist der unmittelbare Bezug zur Liebe Gottes selber und die theologische Aussage, dass Gottesliebe und Menschenliebe sachlich in eins fallen. Wie oben gezeigt werden konnte, ist die Liebe Gottes, die er allen Menschen - zuerst Israel und dann den Heiden - erweist, wortwörtlich genau dieselbe Liebe, die von den Brüdern untereinander erwartet wird. Damit wird die Liebe Gottes erstaunlich menschlich - und die Bruderliebe tatsächlich göttlich. Dies wird dadurch unterstrichen, dass die Tugenden spirituellpneumatologisch auf den Geist Gottes zurückgeführt werden können 141 . Auf diese Weise ist sogar die Liebe, die ein Bruder dem anderen 142 erweist, die Liebe Gottes selbst. Hier setzt praktisch übergangslos die christliche Interpretation ein. In Jesus Christus sieht der christliche Leser diesen Joseph wieder, der seine Brüder liebt und bereit ist ihnen zu vergeben. Er nimmt zu ihrem Schutz sogar Leid und Tod in Kauf, am Ende aber wird er erhöht und kommt zu Ehren. In ihm sehen sie Gottes Erbarmen in menschlicher Gestalt, ja Gott selbst mit seiner Liebe in Gestalt eines Menschen, in aller Einfachheit, Niedrigkeit und Demut. Und weil dieser Joseph, dieser Jesus, dieser Gott dem Leser nicht nur als Vorbild vorgestellt wird, sondern auch als Prüfung der eigenen Gesinnung, bedeutet das in der Konsequenz: Auch die Liebe zu Gott und zum Bruder fallen in eins 143 . So ist auch zu erklären, dass die Gewalt im Kontext der Passagen zum Tode Jesu als ἀσέβεια, als Gottlosigkeit bezeichnet wird und Hass wie jede andere Form der Misanthropie als Einwohnung Beliars oder seiner Geister wahrgenommen wird 144 . 6.4 Fazit Wir haben damit also eine thematische und semantische Brücke von den biographischen Notizen bezüglich Joseph über die paränetischen Passagen bis hin zu den eschatologischen Ausblicken der TestXII. Wer immer mit 141 Wobei es keinen Gegensatz zwischen Geist und Gesetz gibt. Anders als in der Opposition von Röm 7 und 8, aber ganz vergleichbar mit 1. Joh 3,24; 5,3 - vgl. auch Gal 5,13-26, wo der Geist eine ganz ähnliche Tugendfunktion hat wie in den TestXII. 142 Wenn hier nur von Brüdern, und nicht auch von Schwestern die Rede ist, dann ist das dem „brüderlichen“ Kontext der TestXII geschuldet. Selbstverständlich gilt Gottes Liebe wie auch seine Forderung allen Menschen gleichermaßen. 143 Vgl. 1. Joh 4,19-21. 144 Vgl. dazu Joh 8,30-47: Der Hass, die Bereitschaft zum Mord sind Zeichen einer „Teufelskindschaft“, siehe auch 1. Joh 3,8.10. <?page no="183"?> 177 literar- und redaktionskritischer Methodik einzelne Teile der TestXII als sekundär erweisen möchte, muss diesen Tatbestand erstmal erklären. Doch selbst wenn man von einer durch einen Redaktions- oder Interpolationsprozess gewachsenen Schrift ausgeht, so muss man deutlich konstatieren: Es ist nicht willenlos, zufällig, sporadisch oder zusammenhanglos mit Textfragmenten hantiert worden, sondern es ist mit voller Absicht ein Textganzes produziert worden, das eine klare Intention und Richtung verfolgt, die sich terminologisch wie inhaltlich als ein roter Faden hindurchzieht. Für inhaltliche Abgrenzungen ist die Paränese indes insgesamt wenig geeignet. Es ist eine offen zu Tage liegende Tatsache, dass die Überschneidungen jüdisch-christlich-hellenistischer Tugendethik so groß sind, dass jeder Versuch einer philologischen Distinktion immer durch eine einfache Abfrage im Thesaurus Linguae Graecae widerlegt werden kann. Es gibt kaum einen Tugendbegriff bei Philo oder Josephus, den man nicht auch bei den Stoikern finden könnte, und bei den christlichen Moralpredigern sieht es ganz genauso aus. Doch bleibt der Befund nicht indifferent. Für ein hellenistischjudenchristliches Konzept sprechen folgende Beobachtungen 145 : 1. der beweisbare philologische Zusammenhang der deutlich christlichen Hos-Anthropos-Perikopen mit den paränetischen Passagen 2. die durchgängig erkennbare Joseph-Christus-Typologie 3. die starke Spiritualisierung moralischen Handelns 4. die inhaltlich starke Betonung von Vergebung, die deutlich über das hinaus geht, was hellenistisch-jüdische oder hellenistisch-stoische Autoren für gerecht und angemessen gehalten hätten Versucht man diese Aspekte fruchtbar zu machen, kann man vorsichtige Schritte einer weiteren Verortung gehen. Nimmt man die Hos-Anthropos- Passagen ethisch ernst und nimmt die Aussagen hinzu, dass von einem Wohnen Gottes im Gerechten mehrfach ausdrücklich die Rede ist, dann kann man feststellen, dass hier zwar noch keine ausgeführte Trinitätslehre 145 Es ließe sich auch durch argumenta e silentio erweitern - auch wenn diese naturgemäß schwächer einzustufen sind als erweisbare philologische Zusammenhänge, weshalb sie nur eine Fußnote erhalten. Aber wenigstens hier muss erwähnt werden, dass z.B. der gesamte Bereich einer „Unterordnungs“-Ethik, wie wir sie aus frühchristlicher Quelle (Eph, Kol, Tim, 1. Pet, Ign, usw.) in unterschiedlichsten Formen und Themen haben, in den TestXII praktisch völlig fehlt. Der einzige Beleg für das Schlüsselwort „ὑποτάσσειν” findet sich TJud 21,2 (aktiv! ) und betrifft die abstrakte Unterordnung des Königtums unter das Priestertum (sic! ). Von einer Pflicht des „Sich-Unterordnens“ (medio-passiv) irgendwelcher gesellschaftlicher, gemeindlicher oder familiärer Parteien unter eine andere ist nirgendwo die Rede. Das beweist natürlich zunächst nichts, ist aber doch bemerkenswert. <?page no="184"?> 178 vorliegt, aber die neutestamentlichen Aussagen von der Einwohnung des Geistes Christi auch problemlos von Gott selbst getroffen werden können. Gott erscheint gleich einem Menschen, der wie Joseph erniedrigt, verraten und in die Grube geworfen, aber dann erhöht wird. Gott wohnt und wirkt in den guten Menschen durch seinen Geist. Diese Zusammenhänge lassen sich in den TestXII darstellen und legen ein deutlich christliches Bekenntnis ab. Aber ist überhaupt noch etwas Jüdisches zurückgeblieben? Obwohl es auch in der Ethik immer wieder um das Verhältnis Kirche und Israel geht, spielen jüdische Identitätsmerkmale wie Beschneidung, Sabbat, Speisevorschriften und dergleichen eine erstaunlich geringe Rolle. So wie es scheint, hat die Trennung insofern schon stattgefunden, dass jede Seite ihre eigenen Bräuche und Praktiken hatte, und sich das Thema, ob nun Christen sich beschneiden und nach der jüdischen Kaschrut leben müssten, offenbar erledigt hatte. Stattdessen geht es um eine Verhältnisbestimmung beider Gruppen zueinander. Hier spielt die Schuldfrage eine erstaunlich prominente Rolle. Ganz offensichtlich besteht noch eine lebendige Erinnerung an erfahrene Gewalt, möglicherweise nicht nur im gewaltsamen Tod Jesu, sondern auch in Form von Verfolgungen der frühen Christen. Die Absage an Kollektivschuld, die paränetische Ermahnung zur Vergebungsbereitschaft, die Fürbitte für die älteren Brüder - dies alles legt durchaus nahe, dass die Erinnerung an erfahrene Erniedrigung noch präsent ist. Möglicherweise haben sich aber die Gewichte schon verlagert, und die Christen müssen nun eindringlich darauf hingewiesen werden, dass die Bruderliebe die wichtigste christliche Tugend ist und Bruderhass ganz und gar das Werk Beliars. Jüdisch ist also nicht nur das allgemein moralische Arsenal, aus dem sich ein christlicher Autor bedient, sondern die besondere Perspektive in Bezug auf Israel, für das die Erzväter nicht nur den narrativen Aufhänger bieten, sondern durchgängig als Repräsentanten eines realen Volkes fungieren. Das Doppelgebot der Liebe begegnet hier also auch in einem christlichen Kontext. Als Beweis dafür, dass es jüdisch vor Jesus gebildet wurde, können die TestXII kaum noch gelten. Aber die Ermahnung, Gott und die Menschen zu lieben, steht nicht völlig außerhalb des jüdischen Kontextes. Im Gegenteil: Christliche Juden ermahnen hier als Juden nicht nur einander, sondern auch die heidnisch-christlichen Brüder. <?page no="185"?> 179 7 Ertrag: Die TestXII als judenchristliche Schrift 7.1 Zusammenfassung der Ergebnisse 7.1.1 Prolegomena Schon von den methodologischen Vorüberlegungen her stellte sich die Frage: Sind die TestXII nun jüdisch oder christlich? Noch immer ist sie auch in der übrigen Forschung ein Brennpunkt der Diskussion. Am Ende dieser Arbeit muss die Antwort wohl lauten: Die Frage ist möglicherweise falsch gestellt. Die TestXII sind jüdisch und christlich, und zwar nicht nur nebeneinander, dass es „jüdische“ und „christliche“ Passagen gibt, die in einem mehr oder minder umfangreichen Interpolations- oder Redaktionsprozess zusammengefügt wurden. Die TestXII sind auch da christlich, wo sie nach übereinstimmender Meinung der Forscher jüdisch sind 1 - und sie sind auch gerade da sehr jüdisch, wo sie dezidiert christlich sind 2 . Durch doppelt synchrones Lesen konnte dies in Einzelfällen und ganzen Gruppen von Texten immer wieder gezeigt werden. Ob sich daraus ein Gesamtbild ergibt, mag unterschiedlich beurteilt werden. Will man das Sowohl-als-auch von Jüdischem und Christlichem weiter ausführen, so kann gesagt werden: Die TestXII verstehen sich durchgängig als eine jüdische Schrift. In ihr sprechen - nach der Fiktion des Erzählers - die Erzväter Israels zu ihren Nachfahren. Für diese Fiktion wird jüdisches Material im großen Umfang zum Teil unverändert übernommen 3 , ja in Einzelfällen sogar noch nachgetragen 4 . Diese jüdischen Traditionsstücke sind keine oberflächliche Camouflage des eigentlich christlichen Inhalts. Sie prägen den gesamten Charakter der Schrift nachhaltig. Umgekehrt ist aber auch das Christentum in den TestXII keineswegs nur eine oberflächliche erratische Interpolation. Die explizit christlichen Passagen zeigen nicht nur ihr ganz eigenes Gepräge im Kontext frühchristlicher Theologie, sie sind 1 In der Betonung der moralischen anstelle der rituellen Gesetze, des doppelten Liebesgebots, der Tugenden des Mitleids, Erbarmens und Vergebens - genauso wie der Untugenden Eifersucht und Neid, die z. B. auch den roten Faden in der Paränese des 1. Clem bilden. Weitere Beispiele ließen sich mühelos anfügen. 2 Die Stichworte Monotheismus, genealogische Christologie und Kontinuität der Heilsgeschichte sollen unten noch weiter entfaltet werden. 3 Dabei ist jetzt nicht entscheidend, ob diese Tradition schon in der literarischen Form einer „Grundschrift“ vorlag. Wichtig ist, dass das verwendete Material nicht entstellt oder zerstört wurde. 4 Damit sind nicht nur die „rejudaisierenden“ Tendenzen der armenischen Überlieferung gemeint, sondern auch die umfangreichen Zusätze in Manuskript e. <?page no="186"?> 180 auch durchweg auf ihren jüdischen Kontext bezogen und lassen sich nur aus ihm heraus verstehen. 7.1.2 Hos Anthropos Jesus Christus wird darin bei entschiedener Wahrung des jüdischen Monotheismus' als endzeitliches Erscheinen von Gott selbst verstanden. Dieses Erscheinen hat soteriologische Qualität, auch und insofern es in ein heilvolles Mitwandern und Mitwohnen Gottes mündet. Dies kann als unüberbietbare Einlösung dessen, was in der Bundesformel verheißen ist, aufgefasst werden. Diese Mit-Menschlichkeit Gottes drückt sich auch in den Attributen von Niedrigkeit, Demut, Erbarmen und Liebe aus, die sich deutlich von apokalyptischen Vorstellungen eines endzeitlichen Erscheinens Gottes abheben. Gerade da, wo die TestXII also eine steile Christologie senkrecht von oben entwickeln, müssen sie von Demut, Niedrigkeit und Menschlichkeit reden. Konsequenterweise macht diese Schilderung eines menschlichen Gottes auch vor „patripassianistischen“ Formulierungen nicht Halt. Sie riskiert damit einen Konflikt mit dem hellenistischen Denken, das sonst für die TestXII prägend ist 5 . Aber einem Gott, dessen Wesen menschlich ist, kann Leid nicht fremd sein. 7.1.3 Levi-Juda Neben dieser Christologie „von oben“ gibt es eine explizite Christologie „von unten“. Beides kann innerhalb eines Satzes auftreten und wird nicht als Widerspruch empfunden. Gerade da, wo die Christologie „von unten“ betrieben wird, erscheinen herrschaftliche Aussagen über einen Priester und König. Diese messianische Würde Jesu Christi als Mensch wird auf Juda und Levi zurückgeführt. Er ist kein Priesterkönig nach der Ordnung Melchisedeks, sondern ein Spross aus Jakob, ein Nachkomme der Söhne Israels. Das levitische Priestertum findet in ihm zwar ein Ende, aber ganz im Sinne eines Ziels - wie das judäische Königtum auch. Damit bleibt er genealogisch verwurzelt im Volk Israel. Im Gegensatz zu der im slavischen Henoch nachweisbaren Tendenz des frühen Judentums, in Melchisedek eine mehr und mehr himmlische Figur zu sehen, wirkt die priester-königliche Christologie aus Levi und Juda regelrecht geerdet. Hier begegnet gehäuft die Rede von Rettung, denn dieser Jesus aus Juda und Levi ist der Messias, auch wenn er 5 Gerade das betont die theologische Bedeutung, die dieser Aussage zugemessen wird, weil die TestXII sonst nicht „antignostisch“ oder „antihellenistisch“ eingestellt sind. <?page no="187"?> 181 nur sehr zurückhaltend mit diesem Titel bedacht wird. Seine Rettungstat ist die Einlösung von Gottes Verheißungen an die Patriarchen 6 . 7.1.4 Tod Jesu Der Tod Jesu hat vor dem Hintergrund dieses rettenden Erscheinens Gottes kaum eine soteriologische Funktion. Es gibt deutliche Anklänge an die jüdische Märtyrertheologie, die in den Josephspassagen hervortreten. In ihrem Kontext ist wohl auch das Sterben „für uns“ in TRub zu verstehen. Dass damit aber Sühnevorstellungen 7 verbunden wären, kann am Text nicht nachgewiesen werden - nicht einmal da, wo vom Blut des Lammes die Rede ist 8 . Am ehesten steht die Vorstellung einer apokalyptischen Entscheidungsschlacht gegen Beliar und seine Geister im Hintergrund. Eine große Rolle spielt der Tod Jesu aber in der Schuldfrage, die an mehreren Stellen differenziert betrachtet wird. Die Fragen nach seinem unschuldig vergossenem Blut 9 , der gerechten Strafe für das Volk Israel und seine Chance auf endzeitliche Umkehr und Rettung werden deutlich gestellt 10 . Hier lesen sich die TestXII streckenweise wie das Plädoyer eines klugen Verteidigers, der die Schuld zwar nicht leugnen kann, aber doch begrenzen will auf eine überschaubare Zahl wirklich Verantwortlicher, um für das Kollektiv einen Freispruch zu erreichen. Untermalt wird dieses Plädoyer mit dem Bild des Joseph, der seinen älteren Brüdern gerne vergibt 11 . 6 Eine ähnliche Verknüpfung aus Verheißung, Bund, Vätern und irdischer Abkunft Christi finden wir in Röm 9,4f. Vgl. auch Luk 1,54f. 68-75. 7 Auch hier unterschieden sich die TestXII deutlich von Heb: Opferterminologie ist ihnen im Zusammenhang mit dem Tod Jesu völlig fremd. Das ist insofern bedeutsam, als beide ein großes Interesse an der priesterlichen Würde Jesu haben. Eine „unblutige“ Perspektive auf das Hohepriestertum Christi bieten auch IgnPhd 9,1 und 1. Clem 36 - in denen der Priester wie in den TestXII vor allem durch Erkenntnis und Gottesnähe ausgezeichnet ist. 8 Das Lamm ist auf Joseph bezogen, es geht um den leidenden Gerechten und Motive der Stellvertretung. Trotz „Blut des Lammes“ kann keine Opferterminologie nachgewiesen werden. 9 Mit dieser Thematik sind Berührungen zu Mt zu vermerken: z. B. die Schilderung von Theophaniesymptomen beim Tod Jesu und eine Ethik, in der das Verhalten gegenüber dem geringsten Bruder zum Maßstab erhoben wird. Doch in der sensiblen Frage des unschuldigen Blutes zeigt sich eine andere Tendenz: Eingrenzung statt Ausweitung. Der Spruch zur Selbstreinigung findet sich im Munde der jüdischen Patriarchen - nicht des römischen Prokurators. 10 Hier ist der Vergleich mit Melito, mit dem die TestXII die Tendenz zu einer modalistisch-monarchianischen Christologie teilen, interessant: Gerade der „Mord an Gott“ wird bei ihm zu einer Schuld des ganzen Volkes. 11 Die entscheidende Abweichung vom Genesis-Erzählstoff besteht gerade darin, dass Joseph seinen Brüdern schon verzeiht, bevor sie Reue zeigen, und ohne dass er ihre Gesinnung geprüft hat. Ja, sogar schon während seiner Bedrängnisse in Ägypten ist Josephs Leidensbereitschaft durch die Liebe zu seinen Brüdern motiviert. <?page no="188"?> 182 Dennoch stellt der Tod Jesu, wenn auch nicht das Ende des Bundes, so doch eine Zäsur dar. In der Rede vom zerreißenden Tempelvorhang wird die Öffnung hin zu den Heidenvölkern deutlich illustriert, doch bleibt für Israel Hoffnung. Das Gericht, das in den wiederkehrenden Topoi von Exilsweissagungen prophezeit wird, ist noch nie Gottes letztes Wort gewesen, und so besteht auch jetzt noch die Chance auf „repentance“ und „return“ - selbst wenn das Heiligtum fortan ein himmlisches ist. 7.1.5 Paränese Wendet man sich der Paränese der TestXII zu, die sich an die biographischen Erzählungen aus dem Leben der Patriarchen anschließt, so scheint es zunächst, dass sie sich wesentlich bei hellenistischen Allgemeinplätzen von Tugend und Moral aufhält. Anstand und Sitte, Keuschheit und Lauterkeit stehen im Mittelpunkt. Doch in ihrem Mehrwert leuchten „christliche“ Tugenden auf, die von Liebe, Erbarmen, Mitleid und Vergebungsbereitschaft geprägt sind. Beispielhaft für tadelloses Verhalten sind vor allem die Patriarchen Joseph (und Issachar 12 ) - bzw. als abschreckendes Beispiel die gegen Anstand und Moral, vor allem aber gegen Joseph frevelnden Brüder. Dies wäre immer noch nicht sonderlich spektakulär, wenn nicht die Tatsache ins Auge fiele, dass die Tugenden von Issachar, Joseph und z. B. auch Sebulon gerade jene sind, mit denen auch Gottes „Menschlichkeit“ ausgedrückt wird. Die Inkarnation wird von daher gar nicht als Paradoxon empfunden, weil „Menschlichkeit“ Gottes Wesen nicht fremd ist, sondern ganz und gar entspricht. Umgekehrt wird in der Paränese nicht nur eine imitatio Christi oder Iosephi gefordert, sondern schlechterdings eine imitatio Dei. Das barmherzige liebende Handeln des Menschen als Antwort auf die bereits erwiesene Barmherzigkeit Gottes - einen so „evangelischen“ Zug hätte man einer „judenchristlichen“ Schrift kaum zugetraut - sie ergibt sich ganz natürlich aus der Gesamtkonzeption. Ja, ganz im Sinne einer pneumatologisch vermittelten Ethik 13 wird die Barmherzigkeit eines Menschen wie Joseph gleichermaßen als Voraussetzung wie als Wirkung der Einwohnung Gottes begriffen 14 . 12 Issachar begegnet nur in seinem eigenen Testament als besonders vorbildlich, während die Modellfunktion Josephs ein durchgängiger Zug durch die gesamten TestXII ist. 13 Vgl. dazu B ERGER , Theologiegeschichte, S. 498-502. 14 TSeb 8,2f. <?page no="189"?> 183 7.2 Theologisches Fazit Jüdische Traditionen werden hier also nicht verarbeitet, nur um der Glaubwürdigkeit einer pseudepigraphen Fiktion willen. Noch scheint es eine Notlösung zu sein, weil den christlichen Verfassern die Kreativität fehlt, einen eigenen Text zu produzieren. Es scheint ihnen ein theologisches Anliegen zu sein, ihre eigenen jüdischen Wurzeln im Licht ihres christlichen Glaubens neu zu ordnen und zu interpretieren. Der „Interpolations-“ oder „Redaktionsprozess“ fand womöglich nicht auf literarischer Ebene, sondern biographisch-theologisch auf Seiten der Verfasser der Testamente statt. Sie verstehen ihr Christentum als Weiterentwicklung, als eine Art „Update 15 “ ihres Judentums. Es genügen zu ihrer jüdischen Tradition eigentlich nur ein paar interpretierende Zufügungen, gewissermaßen „Patches 16 “, um authentisches Zeugnis ihres Glaubens zu sein. Das Ganze in text-, literar- oder redaktionskritischer Manier auseinanderzuschneiden, um eine authentische „Grundschrift“ zu rekonstruieren, wäre dann völlig kontraproduktiv in der Ermittlung der eigentlichen Aussageabsicht des Gesamtwerkes. Sind die TestXII damit für die Ermittlung jüdischen Denkens in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten bedeutungslos geworden? Das würde den jüdischen Christen, die hinter diesem Text stehen, ihr Judentum absprechen, wogegen sie sich mit Sicherheit heftigst verwahrt hätten. Die TestXII sind auch in ihrer christlichen Endgestalt ein Zeugnis über im Judentum lebendige Traditionen von Erzvätererzählungen, über jüdisch-hellenistische Ethik und über jüdische Eschatologie. Sie bilden erkennbar den Hintergrund der gesamten Schrift, auch wenn sie sich eben nicht in literarischer Gestalt einer Grundschrift ermitteln lassen. Positionen innerhalb des Judentums, wie man sie z. B. für die „Gegner“ von Philos Schrift Quod Deus annehmen muss, begegnen hier zwar in ihrer christlichen Interpretation, aber der Traditionszusammenhang zu ihren jüdischen Wurzeln ist unübersehbar. Entsprechend interessant ist die Einordnung in die Theologie- und Dogmengeschichte des Christentums. Hier begegnet uns eine „Gegner“- Position im Originalzusammenhang. Und anders als es die Polemiken z. B. eines Tertullian vermuten lassen, handelt es sich - bei aller Hochschätzung der ἁπλότης in den TestXII - gar nicht um idiotae, sondern um eine durchaus stimmige und reflektierte Theologie. Dass sie dabei einer als “Gemeindechristologie” titulierten einfachen Vorstellung von modalistischem Monarchianismus nahestehen, ist kein Makel. Eine Theologie, die sich ganz und gar von der Gemeinde und ihrer 15 Die Ausdrücke aus der Softwareentwicklung bieten heute vielleicht die am leichtesten nachvollziehbaren Bilder für solche Prozesse. 16 Das solche „Flicken“ zuweilen auch Nahtstellen hinterlassen, ist durchaus eine Dimension der Metapher, die etwas austrägt. <?page no="190"?> 184 Frömmigkeit abkoppelt, kann kaum als Ideal gesehen werden. Ihre enge Beziehung zur Gemeinde verraten die TestXII auch mit der besonderen Nähe zu hymnischem Traditionsgut - selbst da, wo sie ihre Christologie “von oben” entwickeln. Andererseits verraten die TestXII keine Anzeichen einer Theologie- und Theoriefeindlichkeit. Begriffe wie γνῶσις sind in den TestXII durchweg positiv belegt. Von einem ängstlichen Beharren auf schlichten und einfachen Wahrheiten, wie es der “Gemeindetheologie” vorgeworfen wird, kann keine Rede sein. Stattdessen begegnet uns in den TestXII eine originelle und kreative Theologie, die sich nicht scheut, Zusammenhänge neu und anders zu denken, als wir es aus ihrem historischen Kontext kennen. Die TestXII sind ein leidenschaftliches Plädoyer für eine Kontinuität der Heilsgeschichte, für eine Identität von dem Gott Israels und dem Heiland der Christen. Sie sind damit ein Beleg fortgeschriebener judenchristlicher Theologie im zweiten Jahrhundert, die keineswegs in schroffer Abgrenzung zur Kirche und ihren Lehren steht, sondern loyal, aber nicht unkritisch, ihren eigenen Beitrag dazu leisten will. Dabei scheint sie freilich mehr und mehr in die Rolle einer bedrängten Minderheit zu geraten. Der Apell an Mitleid und Barmherzigkeit, an Vergebungsbereitschaft und Bruderliebe richtet sich wohl nicht nur nach innen, sondern auch nach außen. Im Ausblick könnte man den Blick auf weitere Schriften der „Interpolationsliteratur“ werfen und die Frage stellen, in welcher Weise Jüdisches und Christliches miteinander verknüpft werden. Handelt es sich um Aneignung oder Enteignung von Traditionen? Ebenso lohnend könnte der Vergleich mit anderer Konvertitenliteratur 17 sein. Wo wird einerseits die Abgrenzung zum vorherigen Glauben betont und wo andererseits die Kontinuität herauszustellen versucht - was möglicherweise zu Spannungen im Vergleich zum mainstream des neuen Glaubens führt. Die theologische Auswertung der TestXII ist durch diese Arbeit also alles andere als abgeschlossen. Doch ist ein Anfang gemacht, die Diskussion von der Ebene reiner Zuschreibungen nach der einen oder anderen Seite hin zu einer theologischen Auswertung ihrer interessanten und originellen Positionen zu verlagern, auf der es noch viel zu entdecken gibt. 17 Z.B. dem muslimischen Barnabas-Evangelium, einer Schrift, die christliche Traditionen aufnimmt, diese muslimisch interpretiert und damit ebenfalls weder christlicher noch muslimischer Orthodoxie entspricht. <?page no="191"?> 185 7.3 Polemischer Epilog 18 Zum Abschluss sei noch eine hermeneutische Reflexion erlaubt. Trägt die Erforschung solcher doch eher randständigen Schriften überhaupt irgend etwas für das wirkliche Leben der realen Kirche heute aus? Es seien einige Stichworte notiert: Der Konflikt zwischen Theologie und Gemeindefrömmigkeit ist bis heute nicht beigelegt. Müssen nicht wir Theologen zugeben, dass ohne die Gemeindefrömmigkeit unsere Gelehrsamkeit ein Haschen nach Wind wäre, ohne Basis, ohne Publikum und ohne kritisches Korrektiv? War es nicht die Gemeindefrömmigkeit, die die Theologie des dritten Jahrhunderts dazu zwang, sich mit der genialen Logoschristologie der Apologeten nicht zufrieden zu geben? Nachdrücklich forderte sie eine Lösung ein, die von subordinatorischen Emanationsvorstellungen Abstand nahm und die Göttlichkeit Christi mit der Monarchia Gottes in einen neuen Einklang brachte. Auf der anderen Seite ist es jene - der einfachen Gemeindefrömmigkeit schwer vermittelbare - Zwei-Naturen-Lehre und Trinitätstheologie, die es heute möglich macht, vom mit-leidenden Gott zu sprechen. Damit können Antwortwege aufgezeigt werden, die einen direkten Bezug zu den Fragen haben, die die Menschen in den Gemeinden unmittelbar bewegen, und wo „einfache“ Lösungen nicht greifen 19 . Im Verhältnis Kirche und Israel bringen die Judenchristen immer eine zusätzliche Dimension hinein. Sie wehren einfachen Ersatztheologien, denen zufolge Gott sein Volk ganz verlassen, vergessen und aufgegeben hätte, und nun nur noch seine neue Kirche liebe. Ebenso sind sie ein Stachel im Fleisch der Vorstellungen über einen doppelten Heilsweg, bei dem es für Juden, die Christen werden, eigentlich keinen Platz mehr gäbe 20 . Die TestXII versuchen genau diese Balance zu halten. Sie wollen Israel nicht einfach abschreiben, aber auch nicht den Eindruck erwecken, als wäre es Gott egal, ob sein Volk nun seinen Messias erkennt oder nicht. Judenchristen fristen ein Schattendasein in unserer Kirche. Erst misstraut man „dem Juden“, auch wenn er sich zu Christus bekennt - und später ist dieses Christusbekenntnis schon fast peinlich, weil Juden ihren „eigenen“ Heilsweg verlassen haben und sich einfach auf „unseren“ gemacht haben. Die TestXII sind dennoch auch ein Teil dieser jüdischen Traditionsgeschichte, nicht nur von ihren (kaum noch im Detail ermittelbaren) literari- 18 Die Überschrift verdanke ich L GSTRUP , fordring, S. 244. 19 Dies betrifft die Frage nach einer Theologie nach Auschwitz im Speziellen (dazu z. B. B ÖHNKE , Lösungen, S. 85f), oder der Frage nach dem Leid und dem Bösen im Allgemeinen (vgl. dazu D ALFERTH , Leiden, S. 212-219). 20 Diese Diskussion ist gerade wieder in der Auseinandersetzung um Papst Benedikt XVIs Karfreitagsfürbitte entbrannt: Darf ein Papst darum bitten, dass Juden Christen werden? <?page no="192"?> 186 schen Vorstufen her. Sie sind als Ganzes jüdisch gemeint, vielleicht im Sinne eines aus christlicher Perspektive idealisierten patriarchalen Judentums, dass die Messianität Jesu schon klarsichtiger erkennt als die Zeitgenossen. Vom ganzen Duktus des Textes - auch in seiner Endgestalt - sprechen Juden zu uns. Es mag ungewohnt erscheinen, aber es ist meiner Ansicht nach unerlässlich, auch das Textganze, und nicht nur eine „gereinigte“ Version der TestXII, jüdisch zu lesen. Zuletzt sei noch das Stichwort der Ethik genannt. Wie wohltuend sich doch die TestXII von ihrer hellenistischen Umgebung abheben in ihrer Predigt von Liebe, von Vergebung und Barmherzigkeit 21 . Und dies nicht als moralischer Zeigefinger, sondern im Werben um eine Nachahmung Gottes, der in Christus seine Liebe, Vergebung und Barmherzigkeit offenbart hat. 21 Heute spielt dieser Barmherzigkeitsbegriff im Christlich-Islamischen Dialog eine Rolle: Das christliche Verständnis von Barmherzigkeit ist keine Bewegung von oben nach unten, im Sinne eines majestätischen Hulderweises, sondern von unten nach oben, aus der Tiefe, der Niedrigkeit, dem wortwörtlichen Mit-Leid. <?page no="193"?> 187 Literaturverzeichnis Textausgaben, Übersetzungen und Kommentare Vorbemerkung: Griechische Autoren, sofern nicht anders angegeben, werden zitiert nach dem Thesaurus Linguae Graecae, Irvine 2002ff, auf den ich online Zugriff hatte über: http: / / www.ub.uni-heidelberg.de/ cgi-bin/ db-onl.cgi? app=tlgonl. 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