Im Namen der Aufklärung
0420
2011
978-3-7720-5385-6
978-3-7720-8385-3
A. Francke Verlag
Otfried Höffe
Was ist Aufklärung und worin liegt ihre nicht nur europäische, sondern interkulturelle Bedeutung? Dieser Frage widmete sich ein chinesisch-deutsches Symposium in Peking anlässlich des Besuchs von Bildungsministerin Annette Schavan. Deutsche und chinesische Philosophen, Sinologen, Kulturwissenschaftler und Kulturvermittler traten in einen interkulturellen und interdisziplinären Dialog und debattierten über die Bedeutung der Aufklärung für den im Zeitalter der Globalisierung über die Grenzen der Kulturen hinweg geführten Diskurs über Moral, Freiheit und Macht. Der vorliegende Sammelband enthält die Vorträge des Symposiums, jeweils in deutscher und chinesischer Sprache. Auf diesem Weg soll eine Bestandsaufnahme der Aufklärung aus der Perspektive beider Philosophietraditionen geleistet werden.
<?page no="1"?> Im Namen der Aufklärung <?page no="3"?> Otfried Höffe (Hrsg.) Im Namen der Aufklärung <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. Umschlagfotos: Kallgan, Shenwumen-Tor der Verbotenen Stadt Andreas Praefcke, Neckarfront Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8385-3 <?page no="5"?> Der vorliegende Band basiert auf einer Vortragsveranstaltung an der Peking-Universität, 15. April 2008. Um den chinesisch-deutschen Dialog auch sprachlich darzustellen, wurden die Beiträge sowohl in chinesischer als auch in deutscher Sprache abgedruckt. <?page no="6"?> ......................................................................................................... 8 ................................................................................................................... 16 .................................................................................................. 28 .............................................. 52 ...................................................................................... 68 ................................................................................................... 92 <?page no="7"?> Inhalt Annette Schavan Grußwort ......................................................................................................... 9 Otfried Höffe Einleitung ......................................................................................................... 17 Han Shuifa Das Subjekt der Aufklärung .......................................................................... 29 Andreas Kablitz La tolérance est l’apanage de l humanité Vernunftbegriff und Universalismus im siècle des lumières ...................... 53 Huang Liaoyu Aufklärung in China, wozu? ......................................................................... 69 Otfried Höffe Aufklärung und Religion ............................................................................... 93 Autorenportraits ........................................................................................... 115 ’ <?page no="9"?> Grußwort Annette Schavan Bundesministerin für Bildung und Forschung Die Universitäten sind das Herzstück unserer Wissenschaftssysteme. Es freut mich deshalb sehr, dass es zwischen Universitäten in China und Deutschland seit vielen Jahren intensive Beziehungen gibt. Gemeinsam werden spannende Projekte bearbeitet. Deshalb ist es für meine Delegation und mich eine besondere Freude, heute bei Ihnen zu sein. Diese Freude ist verbunden mit großem Respekt und großer Anerkennung für die Entwicklung im Wissenschaftssystem in China - sowohl in den Universitäten wie auch in den Forschungseinrichtungen. Diese Veränderung bildet gleichsam das Fundament, auf dem wir hier über die Weiterentwicklung wissenschaftlich-technologischer Zusammenarbeit und über weitere gemeinsame Projekte sprechen wollen. Kooperationen von Universitäten werden wesentlich getragen von einzelnen Wissenschaftlern oder Wissenschaftlergruppen. Die heutige Veranstaltung gestalten Hochschullehrer, die sich dem Gedanken des Brückenbaus in der Wissenschaft in besonderer Weise verschrieben haben: Wissenschaftler wie Professor Höffe, die Universitäten in China kennen und hier schon gelehrt haben; Wissenschaftler aus China und Deutschland, die Erfahrungen gesammelt haben im Dialog der Geisteswissenschaften und den Stellenwert dieses Dialogs im Ganzen der Wissenschaft kennen. Wir wollen uns heute mit einer Philosophie und Tradition beschäftigen, die zum kulturellen Fundament Europas gehört. Sie prägt ganz wesentlich das europäische Selbstverständnis, das sich im Laufe von Jahrhunderten entwickelt hat. Diese Entwicklung erfolgte keineswegs in kontinuierlichen oder harmonischen Prozessen. Sie wurde vielmehr begleitet von vielen Auseinandersetzungen, die am Ende zu dem geführt haben, was wir als Aufklärung bezeichnen. Mit dem Begriff Aufklärung verbinden wir eine besondere Stellung des Menschen und seine besondere Fähigkeit und Möglichkeit zur Verantwortung. Aufklärung prägt das europäische Geistesleben, Aufklärung prägt die europäi- <?page no="10"?> 10 50 1810 <?page no="11"?> Grußwort Annette Schavan 11 sche Tradition der Universität, Aufklärung prägt das Verständnis der Wissenschaft. Der deutsche Philosoph, der in besonderer Weise für die Aufklärung steht, ist Immanuel Kant. Er hat dieser herausragenden, einflussreichen Entwicklung des europäischen Geisteslebens nicht nur das Programm gegeben, sondern mit seinen Schriften auch die Segmente dessen, was mit Aufklärung verbunden ist, in außergewöhnlicher Weise beeinflusst. Aufklärung beschreibt nicht nur einen individuellen Prozess rationaler Selbstvergewisserung. Aufklärung ist auch ein historischer Epochenbegriff für einen Abschnitt der europäischen und nordamerikanischen Geschichte im 17. und 18. Jahrhundert. Diese Periode ist für die politische und ideelle Entwicklung Europas von kaum zu überschätzender Bedeutung. Das Gedankengut der Aufklärung hat Schritt für Schritt alle Bereiche des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens geprägt. In erster Linie zählt dazu der politische Paradigmenwechsel von einer absolutistischen zu einer demokratischen Grundlegung des Staates, die das Volk zum obersten Souverän machte. Dieser Paradigmenwechsel war gleichzeitig verbunden mit der Idee der Menschen- und Bürgerrechte. Den Menschen und seine Fähigkeiten in den Mittelpunkt zu stellen, das ist gleichsam ein ur-europäischer Gedanke. Im vergangenen Jahr - 50 Jahre nach Unterzeichnung der Römischen Verträge, die am Beginn der Europäischen Union standen - wurde dieser Gedanke von den Europäischen Staats- und Regierungschefs noch einmal sehr deutlich formuliert. In der Berliner Erklärung heißt es: Europas Reichtum liegt im Wissen und Können seiner Menschen. Die besonderen Möglichkeiten des Menschen, sein Wissen und Können und die Entfaltung aller seiner Kräfte und Talente werden möglich in Bildungsprozessen. Dieser Gedanke wurde in besonderer Weise vom Bildungsreformer Wilhelm von Humboldt aufgenommen, der 1810 die Berliner Universität - die spätere Humboldt-Universität - mitbegründet hat. Humboldt hat jene Form der Universität auf den Weg gebracht, die mit der kurzen, aber auch eindringlichen Erwartung verbunden ist, die besagt: Wissenschaft bildet. Wilhelm von Humboldt hat eine idealistische Vorstellung. Er beschreibt in herausragender Weise, was Bildung meint, nämlich den ganzen Menschen in all seinen Kräften und all seinen Äußerungen zu fördern. Humboldt spitzt dies sogar noch zu, wenn er sagt, Bildung sei die einzige Möglichkeit für die <?page no="12"?> 12 (Äußerung) <?page no="13"?> Grußwort Annette Schavan 13 „Fortschritte des Menschengeschlechts“. Einer der früheren Präsidenten dieser Universität hat am Anfang des 20. Jahrhunderts an der Universität Leipzig Philosophie studiert. Die Bildungsideale Humboldts waren für ihn von so großer Bedeutung, dass er sie auf die moderne chinesische Universität zu übertragen versuchte. Wissenschaft bildet, lautete der Anspruch Humboldts. Bildung ist der Schlüssel für Teilhabe, der Schlüssel für menschliche Emanzipation, der Schlüssel dafür, dass Menschen nicht hinter ihren Möglichkeiten bleiben. Nicht zuletzt aber ist Bildung auch Motor für gesellschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung. Im Schlusskapitel der „Kritik der reinen Vernunft“ formuliert Kant vier Fragen. Ich behaupte, von den Antworten auf diese Fragen hängt viel ab für die Mentalität und das Selbstbewusstsein einer jeden Generation. Diese vier Leitfragen der Aufklärung lauten: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Und schließlich: Was ist der Mensch? Die Antwort, die auf diese letzte Frage in der europäischen Tradition gegeben wird, ist die Überzeugung von der unantastbaren Würde eines jeden Menschen - unabhängig von Leistung und Vermögen, Talenten und Grenzen; die Überzeugung von der Berufung des Menschen zur Freiheit und Verantwortung; die Überzeugung, dass der Mensch Zweck an sich ist und ihm seine Würde deshalb nicht von anderen verliehen, sondern aus sich heraus zu eigen ist; und schließlich die Überzeugung, dass der Mensch unabhängig von konkreten gesellschaftlichen und kulturellen Umständen und Bedingungen Träger unveräußerlicher Menschenrechte ist. Nicht solcher Rechte, die ihm jemand zugesteht, nicht solcher, die jemand ihm verleiht, sondern solcher, die er als Mensch hat. Aufklärung als eine historische Epoche ist nach einer weitverbreiteten Auffassung mit der französischen Revolution abgeschlossen. Aufklärung als individueller und gesellschaftlicher Prozess aber ist prinzipiell unabschließbar und von unaufhebbarer Aktualität. Wissenschaft wirkt global. Das gilt für alle Segmente der Wissenschaft. Das gilt auch für die Geisteswissenschaften, die in besonderer Weise den interkulturellen Dialog brauchen und ihn auch immer wieder neu beleben können. <?page no="14"?> 14 <?page no="15"?> Grußwort Annette Schavan 15 Der Dialog über kulturelle Grenzen hinweg trägt zu einem gegenseitigen tieferen Verständnis bei. Unsere Beziehungen leben nicht nur von dem, was wir konkret in diesem und jenem Projekt erreichen wollen. Sie erhalten Substanz und Stabilität erst, wenn zum konkreten Projekt auch die Beschäftigung mit den kulturellen Grundlagen kommt und dem, was jeweils die Geistesgeschichte geprägt hat und bis heute prägt. Deshalb gehört zu unserem Dialog nicht nur der interkulturelle Austausch über das, was heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts bedeutsam ist, sondern auch das Gespräch über die prägenden Kräfte der Geistesgeschichte. In einer Zeit, von der wir alle wissen, dass sie dem Menschen so viel ermöglicht wie nie zuvor, ist auch die Selbstreflexion bedeutsamer denn je zuvor. Ich freue mich auf das heutige Symposium, künftige Kooperationen deutscher und chinesischer Universitäten, die weitere gute Zusammenarbeit und ein gutes Miteinander. Vielen Dank. (Übersetzung: Dai Shenyan; redigiert von Huang Liaoyu) <?page no="16"?> (siècle des lumières) <?page no="17"?> Einleitung Otfried Höffe Wer von Aufklärung spricht, darf nicht bloß von Europa, er muß auch von China reden. Denn „eine einzigartige Entscheidung des Schicksals“, schreibt der Fürst der deutschen Aufklärung, Gottfried Wilhelm Leibniz, „hat die höchste Kultur und die höchste technische Zivilisation der Menschheit heute gleichsam gesammelt an zwei äußersten Enden unseres Kontinents, in Europa und China.“ Europa pflegt auf seine Epoche der Aufklärung, das lange siècle des lumières, stolz zu sein, und es hat damit ebenso recht wie unrecht. Recht hat Europa, weil das Zeitalter der Aufklärung durchaus Feinkritik verdient, beispielsweise an manch naivem Vernunft- und Fortschrittsoptimismus und an einer gelegentlich überzogenen Institutions- und Traditionskritik. Im wesentlichen ist es aber eine facettenreiche Epoche, die auch die sogenannte Dialektik der Aufklärung eine im Ansatz übrigens bescheidene Kritik, weil lediglich Kritik der instrumentellen Vernunft, einschließt. Und zweifellos ist die Epoche brillant. Sie bringt so überragende Geister hervor wie den Mathematiker und Physiker Isaac Newton und den Mathematiker, Historiker und Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz, wie den Moralisten, Rechtsethnologen und Staatsphilosophen Charles-Louis de Montesquieu und das Muster eines Universallexikons, die französische Encyclopédie. Hinzu kommen „das Wunder seiner Zeit“, wie Goethe sagt, also Voltaire, ferner der Moralphilosoph und Volkswirtschaftslehrer Adam Smith, der große David Hume, ein Kritiker naiver Aufklärung wie Jean-Jacques Rousseau, nicht zuletzt der philosophische Höhe- und zugleich Wendepunkt der Aufklärung, Immanuel Kant. Aus dem weiten Feld von Glanzleistungen seien drei Dinge hervorgehoben. In „theoretischer“ Hinsicht setzt man die Erfahrung, die Natur- und die Sozialerfahrung, ins Recht; in praktischer, vor allem politischer Hinsicht wird die Freiheit gestärkt, sichtbar in Forderungen nach Toleranz, Religionsfreiheit und Straf- <?page no="18"?> 18 1 2 Sapere aude 1 1583-1645 Huig de Groot (1625) (1609) 2 1632-1694 (1660) (1672) <?page no="19"?> Einleitung Otfried Höffe 19 rechtsreform; und hinter beidem steht die Ermächtigung der Vernunft, sowohl der theoretischen als auch moralischen. Wegen dieser außergewöhnlichen Dichte überragender Gestalten und Leistungen dürfte das europäische Zeitalter der Aufklärung zwar eine singuläre Epoche sein, die drei Glanzleistungen hervorbringt. Die eineinhalb Jahrhunderte von der Mitte des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts sind aber nicht die einzige Aufklärung der Weltgeschichte. Europa darf auch deshalb auf diese Epoche stolz sein, weil sie von so gut wie all seinen Kulturen getragen wird. Man braucht sich nur an die Herkunft und den Wirkungsort der überragenden Figuren zu erinnern. Einer der Väter des modernen Völkerrechts, der Vor- und Frühaufklärer Hugo Grotius, stammt aus den Niederlanden. Der zu seiner Zeit einflußreichste Völkerrechtslehrer, der deutsche Samuel Pufendorf, Hochschullehrer in Heidelberg und im schwedischen Lund, ist einige Jahre als schwedischer Staatssekretär in Stockholm, später einige Zeit als brandenburgischer Historiograph in Berlin tätig. Der Philosoph Baruch de Spinoza ist wieder Niederländer; John Locke und Isaac Newton sind Engländer, David Hume und Adam Smith Schotten. Der Fürst der deutschen Aufklärung, Gottfried Wilhelm Leibniz, korrespondiert mit fast allen Gelehrten Europas und regt die Gründung der Akademien der Wissenschaften in Berlin und St. Petersburg an. Aus Frankreich wiederum kommen Montesquieu und das wissenschaftliche Groß- und Gemeinschaftsunternehmen, die Encyclopédie, sowie der Prototyp des kritischen Intellektuellen, Voltaire, der aber auch in England, später am Hofe Friedrichs des Großen einige Jahre verbringt. Aus dem schweizerischen Genf stammt ein Mitarbeiter der Encyclopédie und zugleich Kritiker einer naiven Aufklärung, Jean-Jacques Rousseau. Lebens- und Wirkungsort vom Höhepunkt und zugleich Wendepunkt der europäischen Aufklärung, von Immanuel Kant, ist dagegen Königsberg, die Hauptstadt von Ostpreußen. Es ist auch Kant, der das Wesen der Epoche auf den Begriff bringt. So knapp und prägnant wie in Stein gemeißelt erklärt er: „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“. Unter diesem Wahlspruch schiebt Europa einmal alle politischen Querelen beiseite und bringt, bald in geistiger <?page no="20"?> 20 <?page no="21"?> Einleitung Otfried Höffe 21 Kooperation, bald in intellektueller Konkurrenz, eine gemeineuropäische Bewegung hervor. Seit dem gehört die Aufklärung zu Europas unaufgebbarem Erbe, vorausgesetzt, daß man sie nicht als den einmal für immer festgeschriebenen Kanon von Ansichten versteht. Die Aufklärung ist eher ein Prozeß, der sich durch den Entschluß zum Selbstdenken auszeichnet, mit diesem Entschluß die Aufhebung von Irrtümern und Vorurteilen in Gang bringt, auch die allmähliche Loslösung von partikularen Beschränkungen und dadurch schrittweise die allgemein menschliche, streng universale Vernunft freisetzt. In diesem Begriff der Aufklärung als dem Prozeß eines facettenreichen Selbstdenkens deutet sich schon an, daß Europa auf sein siècle des lumières zwar stolz sein, es aber nicht für das einzige Aufklärungsgeschehen der Menschheit halten darf. Man muß hinzusetzen: glücklicherweise. Denn wäre die Aufklärung ein Sonderphänomen der europäischen Neuzeit, so könnte man sie schwerlich von anderen Kulturen erwarten, darüber hinaus sie sogar ihnen zumuten. Tatsächlich gibt es Aufklärungsbewegungen in vielen Kulturen. Und Europas Zeitalter der Aufklärung setzt ältere Aufklärungsbewegungen, insbesondere die der griechischen Antike, als geschichtliche Vor-Ereignisse voraus. Wer für Aufklärung plädiert, erliegt also nicht einem Eurozentrismus. Noch weniger setzt er sich für ein bloß christliches Europa ein. Zu den großen Philosophen der Aufklärung gehört der Jude Baruch de Spinoza, später ein Gesprächspartner Kants, Moses Mendelssohn. Heute, im Zeitalter der Globalisierung, ist ohnehin etwas angesagt, was anderen Kulturen eine Demütigung erspart und ein antieuropäisches bzw. antiwestliches Ressentiment überflüssig macht; vonnöten ist ein interkultureller Diskurs. In ihm läßt sich zeigen, daß sich die Aufgabe kulturunabhängig allen Menschen stellt: einem Potential, das den Menschen aller Kulturen gemeinsam zueigen ist, zur lebendigen Wirklichkeit zu verhelfen. Dank der Sprach- und Vernunftbegabung, die unsere Gattung auszeichnet, ist dem Menschen sowohl möglich als auch aufgegeben, zu selbstverantwortlichen Personen zu werden und sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Und weil diese Aufgabe die Menschheit über all ihre Unterschiede und Grenzen hinweg eint, also wegen ihres universalistischen Charakters, erstaunt es nicht, daß sich Aufklärungsbewegungen in vielen Kulturen finden. Erneut darf man hinzusetzen: glücklicherweise. Unsere Veranstaltung widmet sich den zwei Kulturen, die schon Leibniz hervorgehoben hat, China und Europa. Beispiele ihrer Kultur werden unsere <?page no="22"?> 22 <?page no="23"?> Einleitung Otfried Höffe 23 chinesischen Kollegen vorstellen. Als sinologischer Amateur erwähne ich nur Xun Zi, den konfuzianischen Meister Xun aus dem dritten Jahrhundert v. Chr. Er erhebt nämlich die für eine Aufklärung typische Forderung, den menschlichen Geist von Aberglaube und Vorurteilen zu befreien. Ob in Europa oder in China oder noch anderswo, die Aufklärung bringt eine Leistung zustande, die die Menschheit schon immer, heute, in Zeiten der Globalisierung, aber in erhöhtem Maße willkommen heißt. Sie hilft nämlich, von der Kirchturmperspektive, in der man aufwächst, frei zu werden und den verengten Blick durch einen weiten Horizont zu ersetzen, in dem wir interkulturelle, hier und heute chinesisch-deutsche Diskurse führen. Diese Seite der Aufklärung, die Erweiterung des geistigen Horizonts, verspricht eine politisch erfreuliche Nebenwirkung. Erfaßt sie nicht nur eine schmale Bildungsschicht, sondern einen Großteil der Bevölkerung, so macht sich eine Gesellschaft oder Kultur von der engstirnigen Fixierung auf sich selbst frei. Sie wird auf andere Gesellschaften und Kulturen neugierig. Aus der Neugier ergeben sich Kenntnisse, aus den Kenntnissen eine Wertschätzung, und im Verlauf dieses Prozesses entstehen wie von selbst Offenheit und Toleranz. Für diese Aufklärung, die Überwindung einer sowohl kulturellen als auch epochalen Egozentrik leisten einen herausragenden Beitrag die Geisteswissenschaften. Indem sie den Blick auf andere Kulturen und andere Epochen öffnen, lehren sie ein dreifaches Verstehen. Erstens lehren sie, die anderen in ihrer Andersartigkeit, zweitens die anderen und sich selbst in ihrer Gemeinsamkeit und schließlich drittens durch die Verbindung von Verschiedenheit und Übereinstimmung sich selber besser zu verstehen. In diese Aufgabe dreifachen Verstehens ordnet sich unsere heutige Veranstaltung ein. Neu ist - ein drittes Mal: glücklicherweise - das Gespräch zwischen chinesischen und deutschen Wissenschaftlern und Philosophen nicht. Es ist auch nicht erst wenige Jahrzehnte alt, sondern hat im Gegenteil eine lange Tradition. Exemplarisch nenne ich wenige Beispiele meines Metiers, der Philosophie. Der schon erwähnte „Fürst der deutschen Aufklärung“ zeigt an der chinesischen Kultur mehr als bloß laienhaftes Interesse. So studiert Leibniz in den von Pater Couplet und anderen Jesuiten herausgegebenen Werken des <?page no="24"?> 24 3 Novissima Sinica Discours sur la théologie naturelle des Chinois 4 1873-1929 3 1639-1712 (1711) 1689,1693 4 (1679-1754) (1710) (1712, 1738, 1754) (1719, 1741) <?page no="25"?> Einleitung Otfried Höffe 25 Konfuzius. Er trifft sich mit Claudio Filippo Grimaldi, der in Peking Leiter des chinesischen Amtes für Mathematik werden soll und übergibt ihm eine Liste von Fragen zur Sprache, zu den ethnischen Gruppen und dem Stand der Technik in China. Nur in Klammern: Der chinesische Kaiser kannte die Euklidische Geometrie und konnte mit Hilfe deren Trigonometrie die Bewegungen der Himmelskörper berechnen. Zurück zu Leibniz. Unter dem Titel Novissima Sinica („Das Neustes aus China“) - das einleitende Zitat stammt aus deren Einleitung - veröffentlicht er eine Sammlung von Texten: Briefen und Aufsätzen von Mitgliedern der Jesuitenmission in China. Um für die Berliner Akademie eine Haupteinnahmequelle zu gewinnen, schlägt er sogar vor, die berühmte Seidenstraße gewissermaßen zu verkürzen und in den Königlichen Gärten von Potsdam eine Seidenraupenzucht anzulegen. So recht gedeihen sollte das Unternehmen freilich nicht. Leibniz' Wertschätzung von China geht so weit, daß man sogar von Sinophilie sprechen darf. Zu seinen gelungensten Veröffentlichungen gehört ein systematischer Abriß seiner Interpretation chinesischer Wissenschaft und Philosophie. Er trägt den verengenden Titel Discours sur la théologie naturelle des Chinois („Abhandlung über die natürliche Theologie der Chinesen“). Der bedeutende Leibniz-Schüler Christian Wolff wird das Interesse seines Meisters an China teilen. Er veröffentlicht eine „Rede von der Sittenlehre der Chinesen“. Und Kant sagt in der Physischen Geographie von China: „Dieses Reich ist ohne Zweifel das volksreichste und cultiviertste in der ganzen Welt.“ Für die andere Seite, für den Blick Chinas auf Europa, darf ich die Kant-Rezeption herausgreifen. Sie beginnt vor weit mehr als hundert Jahren, am Ende des 19. Jahrhunderts. Zunächst stützt man sich noch auf japanische Übersetzungen, so der Philosoph Liang Quichao (1873-1929), der Kant „in Begriffen des traditionellen chinesischen Denkens“ interpretiert. <?page no="26"?> 26 1868-1940 <?page no="27"?> Einleitung Otfried Höffe 27 In einer zweiten Phase, nachdem bedeutende Intellektuelle in Deutschland studierten, stützt man sich auf die Originaltexte. Einer der wichtigsten Vertreter ist Cai Yuanpei (1868-1940), zunächst Erziehungsminister, dann Präsident der Peking-Universität. Auch die erste Übersetzung der Kritik der reinen Vernunft verdankt sich einem Präsidenten der Peking-Universität. Ein Vertreter der dritten Phase übersetzt nicht bloß Kants wichtigste Werke; er widmet auch drei Bücher der Auseinandersetzung mit Kant. Schließen darf ich meine Einleitung mit dem Hinweis, daß bis heute die Peking Universität ein bedeutendes Kant-Forschungszentrum ist. <?page no="28"?> 1 1 153—196 (348-409) (1130-1200) <?page no="29"?> Das Subjekt der Aufklärung Han Shuifa Ein Vortrag auf diesem Symposium über das Thema der Aufklärung stellt eine eindringliche Erinnerung an die akademische Verantwortung dar. Im Oktober diese Jahres wird die Fakultät für Philosophie und das Institut für westliche Philosophie der Peking-Universität eine internationale Konferenz zum Thema Aufklärung veranstalten. Es haben bereits mehrere Dutzend Geistes- und Sozialwissenschaftler aus dem In- und Ausland ihre Teilnahme zugesagt, darunter auch mehr als zehn deutsche Kollegen. Das heutige Symposium lässt sich als Präludium für diese Konferenz betrachten, zur gleichen Zeit beweist es, dass die Problematik der Aufklärung für die gesamte Menschheit bis heute nichts von ihrer Bedeutung verloren hat. 1. Das Subjekt der Aufklärung Seit Beginn der Aufklärungsbewegung in Europa sind bereits mehr als 200 Jahre vergangen. Das chinesische Wort qimeng jedoch, das heute in China für den Begriff der Aufklärung verwendet wird, wurde bereits vor mehr als 2000 Jahren geprägt. 1 Aufklärung und der Begriff der Aufklärung waren im Westen beträchtlichen Veränderungen und Verschiebungen unterworfen. Die Vielfältigkeit des Verständnisses von Aufklärung steht in einem Spannungsverhältnis zu der ständig fortschreitenden Angleichung der Lebensformen der Menschen und zur Zusammenfassung der geschichtlichen Erfahrung in einer vereinheitlichten Lebensanschau- 1 Yingshao (ca. 153-196), der in der Han Dynastie lebte, schreibt in seinem Werk „Über die Sitten“ im Kapitel „Kaiserliche Supermacht“: „es reicht die Unsitten abzuschaffen und zur Aufklärung zu gelangen.“ Hier taucht das Wort „Aufklärung“ erstmals auf. Weitere wichtige Werke, in denen die Aufklärung frühzeitig behandelt wurde, sind: das Werk von Gu Kai (348-409) aus der Jin Dynastie mit dem Titel „Notiz zur Aufklärung“, Zhu Xi (1130-1200) hat ein Buch mit dem Titel „Aufklärung zum Buch der I Jing“ („Einführung in I Jing“) geschrieben. <?page no="30"?> 30 <?page no="31"?> Das Subjekt der Aufklärung Han Shuifa 31 ung. Das führt zu einer wichtigen Frage bezüglich des Problems der Aufklärung, nämlich zu der Frage des „Ausgangs“, einem Wort, das im Deutschen auch noch etwas anderes andeutet, nämlich ein Ende im Sinne des Abschieds. Das traditionelle chinesische Wort für Aufklärung hat die Konnotation der Beseitigung von Unklarheit/ Unvernunft und der Entfaltung von Rationalität. Selbstverständlich hat es auch hier im Laufe von 1800 Jahren Geschichte Veränderungen und Vertiefungen gegeben, der Grundton blieb jedoch erhalten. Obwohl diese Bedeutung gewisse Ähnlichkeiten mit dem modernen, aus dem Westen eingeführten Aufklärungsbegriff hat, ist sie in der Moderne von diesem heftig attackiert und schließlich umgeworfen worden. Das chinesische Wort für Aufklärung qimeng besteht aus zwei Schriftzeichen. Qi ist ein Verb und bedeutet öffnen, eröffnen und im übertragenden Sinne aufschließen, meng ist ein Nomen, es bezeichnet ursprünglich eine Art Kraut und im übertragenen Sinne Unwissenheit, Verblendung, Obskurität und hat schließlich im Wort für Aufklärung die Bedeutung „unwissendes Kind“. Im Chinesischen hat qimeng also ursprünglich die Bedeutung, eine „Verhüllung“ zu entfernen, und den verhüllten Gegenstand sichtbar werden zu lassen. Etymologisch gesehen ist das Wort qimeng also als Metapher bzw. in Analogie verwendet worden. In diesem Sinne ist seine ursprüngliche Bedeutung das Entfernen von Ignoranz und das Hervorscheinen lassen von Vernunft. Wie auch immer, dieser Metapher wurde natürlich bereits bei ihrer Ausformung ein mehr oder weniger klar definierter Inhalt gegeben und dieser Inhalt war eine mit philologischer Ausbildung verbundene Erziehung in Sittlichkeit und humanitärem Wissen. Das letztere umfasst unter anderem Geschichte, Politik, Astronomie und Geographie. Diese Wissensbereiche waren in den Augen der alten Chinesen engstens miteinander verbunden und konnten sich gegenseitig unterstützen und beweisen. Mit Ankunft der Moderne erlebte der Qimeng-Begriff im chinesischen Denken dramatische Veränderungen. Im Austausch mit anderen Gedankenströmungen der Welt, insbesondere mit dem westlichen Denken wurde der Qimeng-Begriff polyvalent und besaß von da an keine festgelegte Bedeutung mehr. Es lässt sich deshalb auch sagen, dass eine Art von mächtiger Aufklärung aus dem Westen dafür verantwortlich war, dass die Chinesen präzedenzlose, durch eine Utopie hervorgerufene Schwierigkeiten zu bewältigen hatten und Härten erlitten. Als ein Resultat davon ist der Aufklärungsbegriff mehr oder weniger in den Status einer Metapher zurückgekehrt. Aufklärung setzt die Existenz von Unmündigkeit voraus, <?page no="32"?> 32 <?page no="33"?> Das Subjekt der Aufklärung Han Shuifa 33 durch die Ambivalenz des Begriffes der Aufklärung ist aber auch das, was man als Unmündigkeit bezeichnet unklar geworden. Als Kant postulierte, dass „Habe Mut Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen (sapere aude! )“ das Motto der Aufklärung sei, schien der Aufklärungsbegriff seine definitive Bedeutung erhalten zu haben. Es ist hier kaum notwendig darauf hinzuweisen, dass die wichtigsten Elemente des Geistes der Aufklärung keineswegs im Zeitalter der Aufklärung plötzlich erschienen sind, sondern dass die Vorstellungen und Prinzipien von Aufklärung und Rationalität vielmehr bereits vorher im westlichen Denken in naiver und nicht vollständiger Form aufschienen und sich in einem Prozess der Transformation und Entwicklung befanden. Die Aufklärungsbewegung ist nicht mehr als eine systematische Integration all dieser Elemente durch die Universalität der Vernunft. Die Tatsache, dass Foucault, als er zweihundert Jahre nach Kant erneut die Frauge „Was ist Aufklärung? “ zu beantworten suchte, dabei den Aspekt der Aufklärung als Ausgang (sortie) betonte, und schließlich die Vermutung äußerte, dass die Menschheit zu diesem Zeitpunkt noch keinen Ausgang gefunden habe, zeigt, dass im Westen der Aufklärungsbegriff erneut in einen metaphorischen Zustand zurückgefallen ist. Die Beantwortung der Frage, ob wir heute in einem aufgeklärten Zeitalter leben, bringt aus diesem Grunde eine ganze Reihe von Schwierigkeiten mit sich. Da Aufklärung in einen metaphorischen Zustand zurückgekehrt ist, ist das Vertrauen der Menschheit in die eigene Vernunft in einem pluralistischen Dschungel versackt. Wenn man ein hohes Maß an Verantwortungsbewusstsein verspürt und diese Frage unbedingt beantworten will, dann kann man eigentlich nur das folgende sagen: „Wir haben bereits eine Aufklärungsbewegung durchgemacht, einschließlich ihrer Auswirkungen und Auswüchse, ein Ausgang jedoch hat sich nirgendwo deutlich gezeigt! “ In der Tat ist es so, dass der Terminus Technicus „Aufklärung“ in allen wichtigen westlichen Sprachen immer im Range einer Metapher steht. In dem Moment, in dem Aufklärung durch die Vernunft als etwas Allgemeines bestimmt wird und sich auf diese Art und Weise ihres metaphorischen Charakters entledigt, bewegt sich die Aufklärung in Richtung ihres Abschlusses. Foucault glaubte, dass Aufklärung in Kritik transformiert werden müsse; und „das bedeutet, dass diese historische Ontologie unserer selbst von allen Projekten Abstand nehmen muss, die beanspruchen, global oder radikal zu sein. In der Tat wissen wir aus Erfahrung, <?page no="34"?> 34 2 1139—1192 3 2 1998 540 3 1 <?page no="35"?> Das Subjekt der Aufklärung Han Shuifa 35 dass der Anspruch, dem System der gegenwärtigen Realität zu entkommen, um allgemeine Programme einer anderen Gesellschaft, einer anderen Weise zu denken, einer anderen Kultur, einer anderen Weltanschauung hervorzubringen, nur zur Rückkehr zu den gefährlichsten Traditionen geführt haben.“ 2 Falls es möglich sein sollte, Aufklärung in Kritik zu transformieren, so liegt der Schlüssel sicherlich darin, die zentrale Position der Selbstkritik, ihre Bedeutung sowie ihre Tiefe anzuerkennen. Aus einer anderen Perspektive gesehen, liegt der Schlüssel aber darin, zu verstehen, was das Subjekt der Aufklärung ist. Das ist der eigentliche Ausgangspunkt des Problems der Aufklärung. Weder im chinesischen Aufklärungsbegriff noch im westlichen Aufklärungsbegriff ist diese Frage jemals vollkommen klar gelöst worden. Wenn wir von dem Subjekt der Aufklärung reden, meinen wir hier die selbstbestimmte Existenz, die die Aufklärung an sich vorantreibt und trägt und nicht jemanden, der sich in einem Rezeptionsprozess die Aufklärung aneignet. Kants Philosophie enthält eine Erklärung, die allerdings ursprünglich nicht als Beantwortung dieser Frage gedacht war: Vernunft ist der Mensch, der Mensch ist die Vernunft. In China hat der Vertreter der Gemütsschule Lu Jiuyuan (1139- 1192) während der Song-Zeit gesagt: “Das Gemüt und das Prinzip, in Wirklichkeit sind sie eins und können nicht getrennt werden“. 3 „Gemüt“ (xin) und „Prinzip“ (li) meinen hier Vernunft und Wissen/ Erkenntnisse des Menschen. Die Vorstellung, dass alle das gleiche Herz und alle die gleiche Vernunft haben, (ren tong ci xin, xin tong ci li) ist ursprünglich auch eine Überzeugung des chinesischen Aufklärungsdenkens. Die Haupttriebfeder der Herzschule ist aber nach wie vor Wang Yangmings Äußerung: „In dem Moment, in dem man etwas denkt, ist man ein Handelnder (yi nian fadong chu jishi xing).“ Kerngrundlage und Kernelement der klassischen Aufklärung ist die Vorstellung von der Allgemeingültigkeit der Vernunft, auf Grund deren die Aufklärung zu einer universalen Aktivität werden konnte. Wenn die Vernunft für alle Menschen ganz und gar das Gleiche ist, dann ergibt sich daraus die Möglichkeit, dass die Aufklärung zu einer autonomen Aktivität eines unabhängigen Geistes oder einer unabhängigen Vernunft wird und dass die Menschen so zum Werkzeug der Vernunft werden. Das jedoch bringt eine neue theoretische 2 Vgl. Foucault, Michel, „Was ist Aufklärung“, in: Erdmann, Eva / Forst, Rainer / Honneth, Axel (Hrsg.), Ethos der Moderne. Foucaults Kritik an der Aufklärung, Frankfurt am Main: Campus 1990, S. 35-44. 3 Vgl. Lu Jiuyuan, Quanji (Gesammelte Werke), J.1. <?page no="36"?> 36 <?page no="37"?> Das Subjekt der Aufklärung Han Shuifa 37 Schwierigkeit hervor: Aktivitäten, bei denen der Mensch die Vernunft verwendet, werden in dieser Logik auf den Kopf gestellt und zu Aktivitäten, bei denen der Mensch von der Vernunft verwendet wird. Das Subjekt der Aufklärung wird auf diese Art und Weise zu einem Ding, das zwar etwas mit dem Menschen zu tun hat, aber außerhalb des Menschen steht. Das kann noch eine Vertiefung erfahren: in dem Moment, in dem Vernunft die Rolle zuerkannt wird, den Menschen zu kontrollieren, ist es ein notwendiges Ergebnis, dass sich die Vernunft an Stelle des Menschen auf die Bühne der Aufklärung begibt. Tatsächlich sind es immer noch diese Menschen, die ins Rampenlicht treten. Es ist aber so, dass dieser Mensch bzw. diese Menschen unbedingt verlangen, die sogenannte Macht der Vernunft auszuüben. Auf diese Art und Weise wird „Aufklärung“ zunehmend transformiert in ein Werkzeug, durch das ein Mensch andere Menschen belehrt. Auch wenn das Subjekt der Aufklärung zu den Menschen zurückgekehrt ist, so haben doch die Menschen den Prozess einer weitgehenden Aufspaltung, oder Zersplitterung durchlebt. Diese Transformation ist die Transformation des Subjektes der Aufklärung und in ihrer Folge ereignen sich auch grundsätzliche Veränderungen in der Natur der Aufklärung. Aus der Aufklärung des Menschen wird die Manipulation des Geistes, der Konzepte und des Verhaltens der Menschen in neuer Form. Weiterhin ist es so, dass, egal ob es sich um den besonderen Geist dieser oben genannten Vertreter handelt oder um die Vernunft selbst, in einer derartigen Situation Aufklärung zumindest zur besonderen Macht einer Gruppe von Menschen oder einer Minderheit wird. Unter diesen Bedingungen vergeht sich Aufklärung nicht nur an sich selbst, sondern zugleich auch an der Vernunft, um ein besonderes Ding zu werden. Wir können daher beobachten, dass diese die universale Vernunft ausführende Aufklärung in Bezug auf das Problem des Subjektes in die Gefahr gerät, sich selbst auszulöschen. In dem Moment aber, in dem Vernunft zu einem besonderen Ding wird, welche Bedeutung kann Aufklärung dann noch haben? 2. Der Tod der Ungestalt und Handlung der Kritik Lassen Sie uns nochmals zurückblicken auf die europäische klassische Aufklärungsbewegung. Weiter oben habe ich bereits darauf hingewiesen, dass die Konzepte der Aufklärung für die Menschen im Westen im Zeitalter der Aufklärung keinesfalls vollkommen neue Dinge waren. Hier ist zu beachten, <?page no="38"?> 38 <?page no="39"?> Das Subjekt der Aufklärung Han Shuifa 39 dass in dieser Bewertung die Westler als eine Gesamtheit betracht werden. In dem Moment, in dem man seinen Blick auf eine spezielle Gruppe in ihrer Mitte konzentriert, sieht die Situation völlig anders aus. Es lässt sich sagen, dass für einen Teil der Italiener die Renaissance nichts anderes ist als die Wiederbelebung der klassischen Kultur, während es für viele andere europäische Gruppen den Prozess der Aufnahme einer völlig neuen Zivilisation bzw. gar einer von außen kommenden Zivilisation bedeutete. Bei der Verbreitung des Christentums in Europa liegt der Fall ähnlich. Der Prozess der Christianisierung der Germanen war gleichzeitig der Prozess des Verlustes ihrer ursprünglich vorhandenen Kultur. Aus diesem Grund lässt sich sagen, dass, egal ob es sich um das Christentum handelt, um die Renaissance oder um die Aufklärungsbewegung, für eine Zivilisation wie die germanische oder die deutsche es sich um Sachen handelte, die vollkommen neu und fremd waren. In diesem Prozess hat die Entwicklung der europäischen Gesellschaft, wie Weber gesagt hat, ihre sehr große Zufälligkeit, und diese Zufälligkeit ist begründet darin, dass unterschiedliche menschliche Gruppen die Möglichkeit haben, sich unterschiedlich und auf vielfältige Art und Weise zu entwickeln. Auf die gleiche Art und Weise verfügen die Veränderungen in der ganzen Welt ursprünglich über eine Vielzahl von Möglichkeiten, und auch heute ist - auch wenn sich die Menge der Möglichkeiten reduziert hat - der künftige „Ausgang“ der Menschheit nach wie vor nicht auf einen beschränkt. Es lässt sich erkennen, dass die Menschheit hinsichtlich der Vernunft ausgesprochen unterschiedliche Ansichten hat, zum Telos der Geschichte gibt es überaus unterschiedliche Perspektiven und was den Verkehr und die Verständigung zwischen unterschiedlichen Gruppen angeht, gibt es nach wie vor tiefe Gräben und Hindernisse. In einer derartigen Situation gibt es für die Aufklärung keine Möglichkeit, sich aus ihrem metaphorischen Zustand zu befreien. Aus diesem Grund möchte ich hier eine sehr wichtige Metapher analysieren, die Zhuangzi erdacht hat, und untersuchen, inwieweit sie unser Denken in Hinblick auf das gegenwärtige Aufklärungsdenken stimulieren kann. Seit 2300 Jahren hat diese Parabel Anziehungskraft auf die größten intellektuellen Köpfe und hat immer wieder für Verwirrung gesorgt. „Der Herr (di) des Südmeeres war Hastewas, der Herr des Nordmeeres war Kannste, und der Herr der Mitte war Ungestalt/ Chaos/ Unausdifferenziertes. Hastewas und Kannste trafen sich oft im Land von Ungestalt und Ungestalt begegnete ihnen stets äußerst zuvorkommend. Hastewas und Kannste wollten Ungestalt seine Freundlichkeit entgelten und sagten sich: ‚Alle Leute haben <?page no="40"?> 40 4 5 4 5 <?page no="41"?> Das Subjekt der Aufklärung Han Shuifa 41 sieben Löcher zum Sehen, Hören, Essen und Atmen. Ungestalt allein hat keins. Wir wollen ihm ein paar Löcher bohren . So bohrten sie jeden Tag ein Loch, und am siebten Tage starb Ungestalt.“ 4 Herr (di) kann hier als eine spezifische Gemeinschaft, als Repräsentant einer spezifischen Gemeinschaft oder aber einfacher gesagt als jemand, der sich von der Masse unterscheidet, interpretiert werden. Der Herr Ungestalt lebt in seiner speziellen Lebensweise an seinem eigenen Ort. Dieser Ort war für die Leute aus der Ferne attraktiv. Von anderen Gründen einmal abgesehen bewirtete Ungestalt seine Gäste gut, obwohl die Verständigung zwischen beiden Seiten sehr speziell war. Die Einzigartigkeit von Ungestalts Existenz und seine Methode der Kommunikation stellten auf keinen Fall ein Hindernis für das moralische Handeln von Ungestalt als Person dar. Möglicherweise war es auch gerade Ungestalts spezielle Lebensform, die ihn dazu brachte, diese Männer nicht als fremde Gäste zu betrachten. Egal wie man es versteht, Ungestalt stellt auf diese Art und Weise ein vollkommen unabhängiges Subjekt dar. „Er folgte seiner Natur so wie sie ist und duldete keinen Eigennutz“. Aber gerade dieses war der Hauptgrund, der zu seinem brutalen Ende führte. Der Ausgangspunkt von Hastewas und Kannste war wohlmeinend, sie wollten Gutes mit Gutem vergelten. In gleichem Maße in dem sie ein tiefes Gefühl für die Tugendhaftigkeit Ungestalts entwickelten, entwickelten sie auch ein tiefes Gefühl für die Unterschiede zwischen ihnen und Ungestalt. Dem Herren Ungestalt fehlen die sieben Öffnungen, diese extreme Besonderheit können die beiden anderen unter keinen Umständen ertragen, sie wollen diesen Unterschied beseitigen. Der Zeitpunkt zu dem die Unterschiede eliminiert sind, ist aber der Zeitpunkt von Ungestalts Tod. Diese Parabel enthält eine Vielzahl von bedeutungsschweren Gegensätzen. Auch die Schriftzeichen für „Ungestalt“ haben eine reichhaltige Bedeutung. Hier reicht es jedoch aus, darauf hinzuweisen, dass 1. Ungestalt/ Chaos sich auf einen Zustand bezieht, in dem sich Himmel und Erde und die Dinge noch nicht ausdifferenziert haben, die Ordnung noch nicht etabliert ist und die Unterscheidungen zwischen den Dingen noch unscharf ist. Das beinhaltet jedoch zur gleichen Zeit die Möglichkeit einer Entwicklung, bei der die Entwicklungsrichtung noch nicht festgelegt ist. 4 Zhuangzi „Ying diwang“ (Antworten an die Könige), Übersetzung folgt Wohlfart, Günter (Hrsg.), Zhuangzi. Auswahl übersetzt von Stephan Schumacher, Stuttgart: Rec1am 1998, S. 114. ‘ <?page no="42"?> 42 <?page no="43"?> Das Subjekt der Aufklärung Han Shuifa 43 2. Chaos auf eine natürliche Ordnung hinweist, die nicht menschengemacht ist und genau aus diesem Grund für viele Menschen auch nicht verständlich ist. Wenn man diesen Hintergrund versteht, dann kann man auch die grundlegende Bedeutung der unten verfolgten Fragen verstehen. 1. Die aus besten Absichten entstandene Forderung nach Einheitlichkeit ist, selbst wenn sie Gewalt nicht erwähnt, immer direkt auf andere Subjekte gerichtet, da diese ihre eigene, besondere Form der Existenz haben. Wo aber kommt die Legitimität dieser Forderung her? Behindert der Unterschied zwischen Ungestalt und Hastewas und Kannste die Kommunikation zwischen ihnen? Nein! Behindert der Unterschied die friedliche Koexistenz der drei? Die drei haben ursprünglich nicht nur friedlich koexistiert, sondern haben sich auch noch als Freunde behandelt. Die Tatsache, dass der Autor Zhuangzi den Konflikt über die Differenz in einer derartigen Umgebung platziert, betont die grundlegende, gleichsam ontologische Bedeutung der Unmöglichkeit zwischen den beiden Seiten zu einem Kompromiss zu gelangen. 2. In der menschlichen Gesellschaft, in der Welt, in der unzählige Individuen selbstbestimmt handeln: Was entscheidet darüber, dass ein Subjekt ein Subjekt ist? Solange Ungestalt auf seine eigene Art und Weise selbstbestimmt lebt, was sind für Ungestalt die Kernfaktoren, die Ungestalt ausmachen? Ist es die Tatsache, dass er nicht über die sieben Körperöffnungen verfügt oder die Unklarheit der Ordnung, die sein Name impliziert, die ihn daran hindern eine selbstbestimmte Existenz zu sein? Diese Frage betrifft nicht nur Ungestalt, sie betrifft auch Hastewas und Kannste direkt. In dieser Parabel bedeutet die Negation der Normalität der besonderen Existenz von Ungestalt die Negation seines gesamten Daseins. Die gesamte Existenz von Ungestalt als selbstbestimmtes Wesen hängt davon ab, ob er über die sieben Körperöffnungen verfügt oder nicht. Vergleicht man das mit der wirklichen Welt, so lässt sich sagen, dass Besonderheiten, die zur Auslöschung einer Existenz führen, häufig deutlich kleiner sind, als in unserem Falle. Tatsächlich ist es so, dass das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein der sieben Körperöffnungen keineswegs seine Existenz als selbstbestimmtes Wesen beeinflusst. Analog beeinflusst das auch nicht seine Existenz als Subjekt. Wenn das so ist, was ist dann der Grund dafür, die Körperöffnungen zu bohren? Auf diese scheinbar so einfache Frage kann es jedoch unzählige Antworten <?page no="44"?> 44 <?page no="45"?> Das Subjekt der Aufklärung Han Shuifa 45 geben, und diese können sich durchaus gegenseitig widersprechen, in Konflikt zu einander geraten oder aber einander neutralisieren. 3. Selbst wenn sich Ungestalt verändern kann und er über reichhaltige Möglichkeiten zur Veränderung verfügt, in welche Richtung muss er sich verändern? Hastewas und Kannste sahen sich kritiklos als das Modell für Ungestalt an, sie nahmen ihre eigene Gestalt als Verkörperung der Universalität und der Ewigkeit an. Gerade hier liegt jedoch die Tiefe der Satire des Zhuangzi: Der Augenblick (Hastewas und Kannste) hat aus einem eingeschränkten guten Willen heraus die ewige Unklarheit (Chaos) getilgt; derjenige, in dem die Vernunft existiert, kann nur schwer die von ihm unterschiedlichen „anderen“, die noch Entwicklungspotential haben, ertragen. Egal ob es sich um den klassischen chinesischen Aufklärungsgedanken handelt, oder um den europäischen Aufklärungsgedanken, in jedem Fall wird Vernunft zu einem speziell definierten Rationalismus deformiert; und was das letztere angeht, so impliziert Hundun (Ungestalt) ursprünglich einen viele Möglichkeiten bietenden Geist; gerade dieses ist es aber, was die Aufklärung aus ihrer Sichtweise ausmerzen will. 4. An dieser Stelle ergibt sich ein Problem, das häufig nicht ausreichend beachtet wird. Wenn der Unterschied zwischen Hastewas und Kann s te und Ungestalt zu beseitigen ist, warum ist es dann so, dass es sich bei dem, was es zu verändern gilt, um Ungestalt handelt; warum haben die beiden nicht erkannt, dass die Veränderung auch bei ihnen selbst vorgenommen werden könnte? Einem vergebenden und toleranten Ungestalt wird schließlich von Hastewas und Kannste, die nicht so vergebend und tolerant sind, ein neuer Kommunikationskanal geschaffen, was schließlich zu seinem Tod führt. Eine mögliche Frage hier wäre, ob selbst wenn Ungestalt zugestimmt hat, dass Hastewas und Kannste die sieben Öffnungen bohren, Hastewas und Kannste das Recht dazu hätten das zu tun. Wir lassen hier diese Frage dahingestellt und fragen stattdessen, ob Ungestalt für seinen Tod verantwortlich ist. In seinem in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts publizierten Buch Die Krisis der Europäischen Wissenschaften und die Transzendentale Phänomenologie betont Husserl für die Europäer aus äußerster Sorge um die europäische Wissenschaft, welche als absolute Idee die Wahrheit der menschlichen Natur wirklich bestimmt, dass die Europäer auf keinen Fall wie die Inder und Chinesen zum Objekt/ Gegenstand der empirischen Anthropologie hinabsinken <?page no="46"?> 46 6 6 Husserl, Edmund, Die Krisis der Europäischen Wissenschaften und die Transzendentale Phänomenologie, (Husserliana Bd. 6), Haag: Martinus Nijhoff 1954, 14 <?page no="47"?> Das Subjekt der Aufklärung Han Shuifa 47 dürfen. 5 In Husserls Augen haben China und Indien nur ihre Existenzberechtigung, wenn sie durch die Europäer erforscht werden bzw. wenn sie von ihnen assimiliert werden. Diese Assimilation hat ihren weltweiten Wert. Im Bereich der Phänomenologie und im Bereich der normalen Philosophie ist Husserl ein großer Entdecker gewesen. Seine Lehren im Bereich der reinen Philosophie sind von vielen chinesischen Gelehrten stark beachtet und zum Objekt von vielen Untersuchungen geworden. Aber auf dem Gebiet des Vergleichs der europäischen Zivilisation mit der chinesischen und der indischen Zivilisation ist er ebenfalls eine bedeutende Persönlichkeit, die auch vor der Selbstsatire nicht zurückschreckt und einen geradezu komödiantischen Charakter hat. Ich hoffe wirklich, dass es ihm klar war, wo sich die Krise des europäischen Geistes in der damaligen Zeit befand. Letztlich war es sein eigenes Volk, das, nachdem Husserl einen derartigen Standpunkt vertreten hatte, die allumfassendste Assimilation durch den europäischen Geist erlitt, und er selbst hatte für diese umfassende Assimilation die philosophischen Prinzipien zur Verfügung gestellt. Nun können wir hier, insbesondere als Chinesen, die Verantwortungsebene des Husserlschen Standpunktes außen vor lassen, genauso, wie wir die Verantwortung von Hastewas und Kannste vorübergehend außer Acht lassen können. Es gibt aber eine Frage, die wir keineswegs vermeiden können: Welch Verantwortung tragen wir selbst für einen Standpunkt wie den Husserls? Und wir selbst tragen tatsächlich eine Verantwortung. Das Voranschreiten der Aufklärung umfasst tatsächlich das Aufscheinen von Selbstsatire und es umfasst auch selbstzerstörerische Handlungen. Ebenfalls umfasst es einen Prozess der Zerstörung und schließlich Vernichtung bei voller Zustimmung. Aus diesem Grund ist es hier natürlich auch notwendig die folgende Frage zu stellen: Warum hat sich Ungestalt nicht selbst die Frage gestellt, ob es nicht notwendig gewesen wäre, Hastewas und Kannste die sieben Körperöffnungen zu verschließen? Angesichts dieses Phänomens lautet meine Frage nach wie vor, was eigentlich in letzter Instanz das Subjekt der Aufklärung ist? Diese Parabel von Ungestalt offenbart den Menschen die multidimensionale Beziehung zwischen Täter und Opfer, während Husserl auf das paradoxe Verhältnis zwischen dem Gedanken des Opfers und dem Akt des Täters hinweist. Die Hauptströmung der europäischen klassischen Aufklärung ist das 5 Husserl, Edmund, Die Krisis der Europäischen Wissenschaften und die Transzendentale Phänomenologie (Husserliana Bd. 6), Haag: Martinus Nijhoff 1954, S. 14. <?page no="48"?> 48 <?page no="49"?> Das Subjekt der Aufklärung Han Shuifa 49 Entgegenstehen von dem universalen und speziellen Geist, sie hat zwar die Romantik als Gegner, zeigt aber trotzdem eine unwiderstehliche Dynamik. Wenn die Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts zu einer allgemein gültigen Erkenniss gelangt, dann lautet diese, daß die Menschen sich darüber noch lange nicht einig sind, was Ratio eigentlich ist, und daß sie keinen vernünftigen Weg zum Ziel der allgemein akzeptierten Lösung der Bedeutung des Ratio finden. Diese Uneinigkeit hindert die Menschen aber nicht daran, sich mit einer offenen Haltung in einem Dialog zusammenzufinden. Kant sagt, dass das Prinzip der Aufklärung darin liegt, sich mutig seines Verstandes zu bedienen. Obwohl sich der Verstand eines jeden Menschen voneinander unterscheidet, impliziert dieses Prinzip die folgende Folgerung: Das, was die Menschen mutig nutzen, sind unterschiedliche Formen des Verstandes. Es ist offensichtlich, dass das - obwohl es eine mögliche Schlussfolgerung ist - keineswegs das ist, worauf Kant hinauswollte. Wenn das aber so ist, dann ist Aufklärung auch heute noch eine Metapher. Die Menschen sind sich keineswegs ihrer exakten Bedeutung bewusst. Aus diesem Grund besteht das Problem, vor dem wir heute stehen, nicht nur darin, die eigentliche Bedeutung von Aufklärung zu finden, sondern auch darin, sie zu einem möglichst transparenten Kontext zu machen und dafür Sorge zu tragen, dass dieser Kontext offen bleibt und nicht verschlossen wird. In diesem Kontext ist eines einigermaßen klar: Aufklärung ist keineswegs eine reine Bewegung, die sich über den Verstand aller anderen Menschen erhebt. Sie ist auch nicht die Erziehung einer Gruppe von Menschen durch eine andere Gruppe von Menschen, eines Volkes durch ein anderes oder eines Menschen durch einen anderen. Jedes Individuum ist selbstständig handelnd und sie alle sind damit Subjekt der Aufklärung. Gleichzeitig kann oder sollte ein jedes Subjekt allen anderen Subjekten gegenüber ein kritisches Subjekt sein. Ungestalt ist eine gutherzige und eine bestimmte Vorstellungen beachtende Existenz; er ist aber kein kritisches Subjekt. Husserl ist ein konstruktiver und kritischer Denker, er hat aber die allgemeine Bedeutung von Kritik dem denkenden Subjekt gegenüber nicht erkannt. Foucault verwendet seine einschneidende Anschauung dazu, um Kants großartige Theorie der Aufklärung zu zerschmettern. Von den Rändern der Fragmente hinterfragt er dann die Bedeutung von Aufklärung. Wie auch immer, Kant hat Aufklärung vor allem als eine Aufforderung zum Handeln verstanden, und nicht nur als ein theoretisches Konstrukt. Foucault hinge- <?page no="50"?> 50 <?page no="51"?> Das Subjekt der Aufklärung Han Shuifa 51 gen missversteht sie in erster Linie als eine Art Theorie, ein System. Foucaults selbst so bezeichnete Haltung, sein Ethos und sein philosophisches Leben sind ein Zwischenstück zwischen Theorie und Handlung, und gerade das ist sein blinder Fleck beim Verständnis des selbstbestimmten Subjekts. Aus diesem Grund bleibt seine Kritik ein geschlossenes Ding, seine Perspektive beschränkt sich immer bewusst auf den Raum zwischen ihm und der westlichen Gesellschaft/ Geschichte vor ihm. Ich muss es hier wiederholen: Der Kern der Aufklärung besteht immer in den selbstbestimmten Handlungen eines jeden Menschen. Aus diesem Grund berühren wir hier auf einer anderen Ebene die Universalität. Jeder einzelne Mensch ist das Subjekt der Aufklärung, er selbst trägt Verantwortung für Aufklärung und treibt Aufklärung voran. Dazu können einige Menschen dann sofort bemerken: Ist das nicht nochmals eine Ungestalt? Und es wird auch schwer zu vermeiden sein, dass sich Husserlsche Angst erneut in Köpfen und Herzen einiger Menschen breitmacht. Obwohl eine derartige Angst immer wieder aufscheinen kann, solange sie nicht für immer zurückkehrt, so ist die hier beschriebene Universalität keineswegs erneut das alles Umfassende einer „absoluten Idee“, sondern vielmehr der Prozess der Abstimmung zwischen einzelnen selbst bestimmt Handelnden bzw. den von ihnen geformten unterschiedlichen Gruppen. Es ist jedoch auch nicht das von Foucault benannte Nachsinnen über die Frage, wie wir zu etwas geworden sind, dieses Untersuchen und Erforschen der dunklen Spuren von Gesellschaft/ Geschichte vor und nach der Aufklärung. Es betrifft vielmehr direkt die zukünftigen Aussichten eines jeden Menschen, hinsichtlich der Frage was er selbst sein kann. Diese Universalität ist nicht fertig hergestellt, sie hängt ab von dem Verhalten eines jeden handelnden Subjekts, unabhängig davon, ob es Handlungsregeln, Modus des Verständnisses und Sprache der Vermittlung beinhaltet oder jede Person so sein lässt, wie sie will. Auf diese Art und Weise ist Aufklärung wirklich nicht das Licht, das eine Art von Definitivität beleuchtet, sondern es handelt sich vielmehr um die Suche nach jeder Art von Potential der Menschheit. Wenn wir noch willens sind, Kants Metapher zu verwenden: Jeder Mensch ist das Subjekt der Aufklärung, jeder kann das Tor zu einer Zukunft von noch nicht festgelegten Möglichkeiten öffnen. Übersetzung: Iwo Amelung ( ) <?page no="52"?> égalité 1 1 <?page no="53"?> La tolérance est l’apanage de l humanité Vernunftbegriff und Universalismus im siècle des lumières Andreas Kablitz Die Vorstellung von der Existenz eines universellen Rechts, eines Rechts, das für jeden Menschen, ungeachtet seiner biologischen oder kulturellen Identität und unbeschadet seiner sozialen Stellung oder weltanschaulichen Überzeugung gilt, eines Rechts, das wir um dieser Universalität willen als Menschenrecht bezeichnen, wird gemeinhin und zurecht als eine Errungenschaft der europäischen Aufklärung betrachtet. So war es nur schlüssig, daß die tiefe historische Zäsur, deren Wurzeln im Denken der Aufklärung liegen, daß die Französische Revolution die Forderung nach Gleichheit, den Ruf nach égalité, prominent gemacht hat. Der historische Befund, daß es die Aufklärung war, die ein solches universalistisches Konzept der Menschheit hervorgebracht hat, ist insoweit ganz unstrittig. Sehr viel weniger evident scheint mir statt dessen zu sein, worin genau die Voraussetzungen innerhalb des aufklärerischen Denkens bestehen, aus denen diese universalistische Position hervorgegangen ist; und diese Frage betrifft auch die Modalitäten der Begründung bzw. Begründbarkeit eines solchen Menschenrechts. Diese Frage ein wenig zu erhellen, ist das Anliegen des folgenden Vortrags. Nun scheint eine Erklärung für die Existenz wie die Legitimität der Menschenrechte schon mit einem Begriff gegeben zu sein, den wir häufig zu ihrer Bezeichnung benutzen: Denn wir nennen sie auch ein Naturrecht. Naturrecht will besagen, daß dieses Recht allen positiven Rechtsordnungen, die historisch entstanden, durch Setzung oder Vertrag definiert sind, immer schon vorausliegt. Das Naturrecht bezieht seine Geltung nicht von diesem positiven Recht, vielmehr gilt umgekehrt, daß sich die Legitimität des positiven Rechts an ihm zu bemessen hat. Der Begriff des Naturrechts will den Menschenrechten also eine Grundlage besorgen, die in der Natur des Menschen selbst angelegt ist, weshalb alle kultu- ’ <?page no="54"?> 54 <?page no="55"?> La tolérance est l’apanage de l humanité Andreas Kablitz 55 rellen Unterschiede seiner Lebensformen ihre Geltung nicht tangieren können, weil sie ihm eben von Natur aus zukommen. Das Postulat der Natürlichkeit der Menschenrechte ist insoweit vor allem eine Chiffre für die Behauptung seiner unverbrüchlichen Geltung. Dies scheint genau in das Selbstverständnis der Aufklärung zu passen. Es bedurfte, so scheint der Begriff des Naturrechts zu besagen, nur der endlich gefundenen Einsicht in die wahre Natur des Menschen, es bedurfte des Aufräumens mit allen Vorurteilen und allem Aberglauben, um im Lichte der reinen Vernunft seine eigentliche Beschaffenheit und damit seine natürlichen Rechte zu erkennen. Doch bei näherem Zusehen erscheint es durchaus fraglich, ob die Einsicht in die Natur des Menschen wirklich eine solche Garantie zu bieten vermag. Die Natur selbst, d. h. die biologische Verfaßtheit des Menschen, bietet dafür kaum eine Handhabe, lehrt sie doch im Grunde anderes als seine fundamentale Gleichheit. Die Menschen begegnen in ihrer natürlichen Verfaßtheit als Mann und Frau, sie haben unterschiedliche Hautfarbe und Statur, sie sind schwach oder stark, sie sind gesund oder behindert. Um die natürliche, d.h. biologische, Gleichheit der Menschen ist es nicht sonderlich gut bestellt; in der Natur begegnet uns weit eher ihre Verschiedenheit, eine Unterschiedlichkeit, die kaum ein Argument für die Begründung eines für alle gleichen Menschenrechts zu bieten scheint. Sich auf die Natur zur Begründung des Rechts zu berufen, ist im Grunde eine äußerst riskante Unternehmung. Denn ließe sich aus dieser Natur nicht ebenso das Recht des Stärkeren ableiten? Die Natur im Naturrecht erweist sich solchermaßen als eine höchst brüchige Sicherung seiner Geltung. Der Begriff ‚Naturrecht‘ versucht den Eindruck zu erwecken, als sei die Geltung dieses Rechts die Folge eines empirischen Befunds, gewissermaßen eine logische Konsequenz aus der rechten Einsicht in die natürliche Beschaffenheit des Menschen. Doch die Beobachtung der Natur selbst kann diese Voraussetzung nicht bieten. Auch das Naturrecht ist wie jedes Recht das Produkt einer Setzung, worüber dieser Begriff letztlich hinwegzutäuschen sich bemüht. Vermutlich ist deshalb der im Begriff des Naturrechts steckende Versuch, die Normativität einer Rechtssetzung als die Resultate eines empirischen Befunds auszuweisen, im Grunde ein Symptom der Fragilität der Geltung dieses Rechts. Wenn es also kaum die rechte Einsicht in die Natur des Menschen sein kann, die dem Menschenrecht seine Grundlage besorgt, was hat dann im Denken der Aufklärung zur Begründung dieses Rechts geführt? Es liegt nahe, das Prinzip der Vernunft dafür in Anschlag zu bringen, das uns in der Tat in das Zentrum dieses Denkens führt. Denn bekanntlich hat die Aufklärung im Namen der Vernunft eine Deutung der Welt entwickelt, die diesem und nur diesem Prinzip verpflichtet ist, an dem sich deshalb alle Wahrheit entscheidet. Lag ’ <?page no="56"?> 56 cogito, ergo sum <?page no="57"?> La tolérance est l’apanage de l humanité Andreas Kablitz 57 es da nicht nahe, diese Vernunft, welche als genuines Merkmal wie als Auszeichnung des Menschen unter allen Lebewesen gilt, eine Vernunft, an der alle Menschen teilhaben, auch zur Grundlage einer universalistischen Anthropologie zu machen? Liefert insoweit der gattungsmäßige Besitz der Vernunft durch das animal rationale nicht auch schon die Begründung für ein universelles Menschenrecht? Historisch betrachtet aber garantiert der Rationalismus als solcher durchaus nicht die Entwicklung einer universalistischen Anthropologie. Wie man weiß, hat nicht erst die Neuzeit ein rationales Modell der Wirklichkeitsinterpretation auf den Weg gebracht. Dies ist vielmehr eine Leistung der griechischen Philosophie in der Antike. Doch werfen wir einen Blick auf das Werk eines maßgeblichen Vertreters dieses Denkens, auf keinen geringeren als Aristoteles, so bemerken wir, daß, aus moderner Sicht durchaus erstaunlich, seine zutiefst vernunftgeleitete Deutung der Wirklichkeit sich umstandslos mit der Feststellung substantieller Unterschiede zwischen den Menschen verträgt. Deutlich wird dies vor allem anhand der von ihm festgehaltenen Verschiedenheit zwischen Hellenen und Barbaren. Denn die Barbaren sind für Aristoteles von Natur aus zur Sklaverei bestimmt, die Griechen statt dessen zur Herrschaft berufen. Bezeichnenderweise ist es also der Begriff der Natur, welcher diesen Unterschied bestimmt. Wie wenig die Definition des Menschen als eines vernunftbegabten Tieres die Bestimmung einer für alle gleichen menschlichen Natur zur Folge hat, beweist im besonderen Aristoteles’ Bemerkung, daß weder Frauen noch Kinder noch Barbaren dazu in der Lage sind, zur höchsten Stufe der Tugend zu gelangen - ein Unvermögen, das ihnen wiederum von Natur her eignet. Diese Beispiele mögen genügen als Beleg dafür, daß der Rationalismus aus sich selbst heraus noch keine hinreichende Garantie für das Entstehen einer universalistischen Anthropologie und eine aus ihr folgende Begründung universeller Rechte des Menschen bietet. Was also mußte geschehen, welche Wendung mußte dieser Rationalismus nehmen, bis die Aufklärung im Namen der Vernunft ein natürliches, d. h. unverbrüchliches Recht des Menschen erklärte? Die These, die ich im folgenden vertreten möchte, besagt, daß erst die kritische Wendung, welche das Konzept der Vernunft am Beginn der Neuzeit nimmt, die Voraussetzung dafür erbrachte. Was aber ist mit der Formulierung ‚kritische Wendung der Vernunft‘ gemeint? Nun, sie zielt auf jenen archimedischen Punkt der Philosophiegeschichte, der mit dem Namen René Descartes und seiner berühmt gewordenen Formel cogito, ergo sum verbunden ist. Denn was ereignet sich hier? Man kann diesen Vorgang als eine radikale Zuspitzung der Skepsis bezeichnen. Die Skepsis selbst, das grundsätzliche Mißtrauen gegenüber der ’ <?page no="58"?> 58 Je pense, donc je suis <?page no="59"?> La tolérance est l’apanage de l humanité Andreas Kablitz 59 Wahrheit menschlicher Urteile, der Zweifel, daß all unsere Aussagen über die Welt nichts als Täuschung sind, ist uralt. Schon die Antike kennt ja bereits verschiedene Ausprägungen dieser Skepsis gegenüber der Vernunft des Menschen. Doch stets blieb dieses Mißtrauen auf die Eigenschaften der Dinge beschränkt. Daß wir nicht in der angemessenen Weise die Qualitäten dieser Dinge zu erkennen und zu bestimmen vermögen, ist der Inhalt dieses skeptischen Zweifelns. Descartes aber radikalisiert die Skepsis bis zu dem Punkt, daß er auch die Existenz der Dinge hypothetisch in Zweifel zieht. Wie, so lautet seine Frage, läßt sich Gewißheit gewinnen, daß wir uns nicht nur einbilden, daß da etwas ist, daß unsere Annahme vom Vorhandensein von etwas nicht nur als einen Effekt unserer Täuschung darstellt? Mit unerbittlicher Konsequenz hat Descartes deshalb alle Quellen unseres Wissens und unserer Erkenntnis einer rationalen Kritik unterzogen, um am Ende diese Gewißheit nur noch in der Selbstbezüglichkeit des Denkens zu gewinnen. Je pense, donc je suis - ich denke, also bin ich: Das Sein wird erst in der kritischen Wendung der Vernunft auf sich selbst begründbar. Damit aber ist das Kernanliegen der Philosophie, die Erkenntnis des Seins, von einer rationalen Kritik des Denkens abhängig gemacht; und genau dies bezeichne ich als die kritische Wendung der Vernunft am Beginn der Neuzeit. Von nun an wird das Denken in hohem Maße Kritik sein, und konsequent überkommene Geltungsansprüche in Frage stellen. Aufklärung ist deshalb stets ein Stück weit ‚Kritische Theorie‘ - und nicht erst bei denen, die ihre Dialektik erkannt haben. Bekanntlich sollte diese radikalisierte Skepsis keinen anderen Geltungsanspruch so sehr betreffen wie denjenigen der Religionen und vorzüglich des christlichen Offenbarungsglaubens. Es ist nun diese kritische Wendung der Vernunft, die das Denken wesentlich als eine Überprüfung von Wahrheitspostulaten in Erscheinung treten läßt, welche auch, so meine These, maßgeblich an der Entstehung eines rechtlich fundierten Universalismus beteiligt ist. Der Universalismus der Menschenrechte käme demzufolge nicht aufgrund einer Bestimmung positiver Merkmale der Natur des Menschen zustande, sondern ergibt sich vielmehr aus den Begründungsdefiziten, die jedweder Bestimmung seiner Natur anhaften. Die Vorstellung vom Menschenrecht kommt solchermaßen nicht als - im logischen Sinne - positiver Befund in die Welt, sondern gewissermaßen ex negativo. Sie ergibt sich als eine Konsequenz der Defizite aller Versuche, diese Natur des Menschen näher zu bestimmen. Das Menschenrecht ist deshalb in seinem Kern schlüssigerweise auch eine Garantie von Freiheit, denn Freiheit besteht eben wesentlich in einem Verzicht auf Determination, sie beruht auf einer Vermeidung von Bestimmung. ’ <?page no="60"?> 60 1752 1770 1780 “La tolérance est l’apanage de l’humanité” humanité <?page no="61"?> La tolérance est l’apanage de l humanité Andreas Kablitz 61 Zum Beleg meiner These möchte ich auf einen Text zurückgreifen, der sozusagen aus einer Summe des aufklärerischen Denkens stammt, aus der großen, von Diderot und d’Alembert zwischen 1752 und 1770, mit einigen Supplementbänden bis 1780 herausgegebenen Encyclopédie, einem gewaltigen systematischen Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und des Gewerbes, das den Erkenntnisstand zusammenfassen und repräsentieren möchte, den das siècle des lumières bis dahin erarbeitet hat. Genauer gesagt möchte ich einen Artikel aus dieser Enzyklopädie ein wenig genauer untersuchen, der einen für die Aufklärung zentralen Begriff behandelt, den Begriff der Toleranz. Seine Zentralität scheint selbst schon, wie noch zu begründen sein wird, meine These zu stützen, derzufolge die Defizite der Geltungsansprüche einer jeglichen Bestimmung des Menschen die Voraussetzung für die Begründung eines universellen Menschenrechts bildet. Der Titel meines Vortrags La tolérance est l’apanage de l’humanité macht die Bedeutung des Begriffs sehr sinnfällig kenntlich. Es ist ein Zitat aus Voltaires gleichnamigem Wörterbuch, das so einfach ins Deutsche nicht zu übersetzen ist. Denn es bedeutet, mit dem bezeichnenden Doppelsinn des französischen Wortes humanité, ebenso, daß die Toleranz die Mitgift der Menschheit wie der Inbegriff der Menschlichkeit sei. Was aber ist mit diesem Terminus der Toleranz besagt? Schaut man in einer der maßgeblichen philosophischen Enzyklopädien unserer Tage nach, im Historischen Wörterbuch der Philosophie, so findet man dort zu Beginn des einschlägigen Artikels die folgende Definition: Toleranz ist die Duldung von Personen, Handlungen oder Meinungen, die aus moralischen oder anderen Gründen abgelehnt werden. Vielleicht ist der Gegensatz von moralischen und anderen Gründen nicht sehr glücklich, denn bei Toleranz denken wir ja nicht nur an das was wir für ein Übel, sondern vor allem auch an das, was wir für falsch halten. Sie hat es deshalb ebenso mit der Wahrheit wie mit der Moral zu tun und womöglich noch ein wenig mehr mit dem Andersgläubigen als mit dem Raucher. Die zitierte Definition aber beschränkt sich vor allem auf eine Beschreibung der Haltung einer toleranten Person. Indessen läßt sich die begriffliche Bestimmung der Toleranz wohl konzeptuell noch etwas schärfer fassen. Denn in ihrem gedanklichen Kern ist die Toleranz ein Verzicht auf die Durchsetzung des Geltungsanspruchs einer Wahrheit. Sie hat es deshalb ebenso mit der Wahrheit wie mit der Macht zu tun. Diese Unterscheidung ist nun nicht unwichtig im Hinblick auf die verschiedenen Möglichkeiten einer Begründung von Toleranz. Denn diese Begründungen können ebenso bei der Macht wie bei der Wahrheit ansetzen, sie können funktionaler oder epistemischer Natur sein. Eine solche Differenzierung nimmt sich auf den ersten Blick wie eine jener Begriffsunterscheidungen aus, die ei- ’ <?page no="62"?> 62 <?page no="63"?> La tolérance est l’apanage de l humanité Andreas Kablitz 63 nem deutschen Universitätsprofessor so wichtig sind, weil er meint, mit ihnen die Welt ordnen zu können. In vorliegenden Fall aber erweist sich diese Unterscheidung vielleicht doch als mehr denn bloß eine logische Spekulation. Sie scheint mir in historischer Hinsicht ausgesprochen wichtig zu sein, erlaubt sie doch, das spezifische Profil aufklärerischer Toleranz in den Blick zu rücken. Denn die Toleranz ist ja keine Erfindung des siècle des lumières. Schon frühere Epochen kennen sie, und auch dem Mittelalter, so unwahrscheinlich dies für manchen erscheinen mag, ist sie durchaus nicht fremd. Die Scholastiker haben die Toleranz definiert als eine permissio comparativa. Etwas wird zugelassen, obwohl es falsch oder schlecht ist, weil die Durchsetzung der Wahrheit Folgen, anders gesagt: Kollateralschäden, verursachen würde, die ein noch schlimmeres Übel hervorbrächten. Hier handelt es sich also um eine rein funktionale, an den Effekten der Machtausübung zur Durchsetzung eines Wahrheitsanspruchs orientierte Begründung von Toleranz. Wir werden sehen, daß die historische Eigenheit der Toleranz in der Aufklärung sich statt dessen gerade aus einer epistemischen Begründung dieser Kategorie ergibt. Der Beginn des Artikels tolérance, den ich Ihnen hier in einer selbstgestrickten Übersetzung präsentiere, lautet wie folgt: Die Toleranz ist im allgemeinen die Tugend eines jeden schwachen Wesens, dem es bestimmt ist, mit seinesgleichen zusammenzuleben. Der Mensch, der durch seine Intelligenz so groß ist, ist zugleich so beschränkt durch seine Irrtümer und Leidenschaften, daß man ihm gar nicht genug zu Toleranz und Nachsicht zureden kann, deren er selbst so sehr bedarf und ohne die man auf der Erde nur Unruhen und Unstimmigkeiten sähe. Es ist zumal aus der Sicht unserer Tage bemerkenswert, daß der Artikel einsetzt mit einer Bestimmung der Toleranz als einer Erscheinungsform von Schwäche. Aufgerufen aber sind damit die Prinzipien einer für das Ancien Régime in der Tat maßgeblichen, letztlich aristokratischen Moral, in der Tugend und Stärke voneinander nicht zu unterscheiden waren; um so sichtbarer aber werden damit sozusagen die Hemmschwellen, die es zu überwinden galt, um der Toleranz Gehör zu verschaffen. Nicht minder bemerkenswert ist der Fortgang des zitierten Eingangs des Toleranz-Artikels der Encyclopédie. Denn er stellt ganz unvermittelt den Adel des Menschen, den er seiner Vernunft verdankt, seiner Schwäche gegenüber, die aus derselben Vernunft, nämlich ihrer Irrtumsfähigkeit resultiert. Es sind diese Defizite humaner Vernunft, welche nun sehr konsequent zum entscheidenden Argument für die Unverzichtbarkeit der Toleranz ausgebaut werden. Ich zitiere noch einmal den tolérance-Artikel der Encyclopédie: Ich nähere mich, so sagt sein ’ <?page no="64"?> 64 <?page no="65"?> La tolérance est l’apanage de l humanité Andreas Kablitz 65 Verfasser, unserem Gegenstand durch eine sehr einfache Überlegung, die indessen in hohem Maße für die Toleranz spricht und die besagt, daß unser Verstand keinen genauen und bestimmbaren Maßstab kennt: Darum ist das, was dem einen als evident erscheint, für den anderen oft nur undurchsichtig; denn Evidenz, so weiß man, ist nur eine relative Eigenschaft. Dies ist eine höchst beachtliche Kritik der Leistungsfähigkeit menschlicher Vernunft, denn sie erklärt den Irrtum letztlich zur Unvermeidlichkeit. Bestätigt wird diese Annahme in der folgenden Analyse eines jeden raisonnements: Wir verfügen, es ist wahr, so heißt es, über gemeinsame Axiome, über die man sich schnell verständigt. Aber diese ersten Prinzipien des Denkens sind gering an Zahl, und die Schlußfolgerungen, die daraus zu ziehen sind, verlieren immer mehr an Klarheit, je mehr sie sich von diesen Prinzipien fortbewegen, wie die Gewässer, die sich eintrüben, wenn sie sich von ihrer Quelle entfernen. Das ist eine ganz andere Dialektik der Aufklärung als diejenige, welche die sich ‚kritisch‘ nennende Theorie ihr bescheinigt hat. Denn so unanfechtbar es ist, daß der kompromißlose Glaube an die Vernunft Blindstellen erzeugt hat, welche totalitäre Züge aufklärerischen Denkens hervorbringen sollte, so anschaulich tritt uns doch hier statt dessen das kritische Bewußtsein für die Mängel derselben Vernunft entgegen, die alle Nobilität des Menschen begründet. Wenn die aufklärerische Vernunft in hohem Maße als eine Instanz der Kritik in Erscheinung tritt, so sind hier gewissermaßen die Konsequenzen aus diesem Vernunftbegriff gezogen. Das permanente Erfordernis der Kritik aller Geltungsansprüche mündet in eine Analyse der Vernunft, die ihr Fehlbarkeit als einer ihrer ureigensten Eigenschaften attestiert. Es ist diese skeptische Einsicht in die kritische Vernunft, welche an der Wiege der Begründung einer universellen Ordnung der Menschenrechte steht. Sie ist geboren aus dem Vorbehalt gegen die rationale Begründbarkeit einer jeden Definition der Natur des Menschen und findet darum in der Garantie von Freiheit, in der Sicherung von Selbstbestimmung einen Ausweg aus diesem Dilemma - eine Lösung, die freilich in letzter Konsequenz einer Suspension des Wahrheitsprinzips für alle Lebensformen gleichkommt. Die Vorstellung von der Gleichheit der Menschen ist keine Erfindung des Zeitalters der Aufklärung. Ihre wohl mächtigste Bastion besaß sie längst zuvor im Glauben an einen Schöpfergott, der die Menschen nach seinem Bild gleich geschaffen hat. Schon hier war es die Vernunft, welche diese Ebenbildlichkeit des Menschen und ihre daraus folgende substantielle Gleichheit begründete, denn als deren Grundlage hat die Theologie eben die Ausstattung des Menschen mit seiner Vernunft verstanden. Alle Unterschiede der Lebensformen erscheinen darum als bloß kontingent, als akzidentiell und folglich für die Na- ’ <?page no="66"?> 66 La tolérance est l’apanage de l huma ni té . 2 2 ’ <?page no="67"?> La tolérance est l’apanage de l humanité Andreas Kablitz 67 tur des Menschen belanglos. Freilich blieb diese Gleichheit der Menschen gewissermaßen folgenlos, wenn sie nicht von der Anerkenntnis desjenigen begleitet wurde, dem sie geschuldet war. Anders gesagt, damit Gottes Geschöpfe in ihre Rechte als Gottes Kinder gesetzt werden konnten, damit sie das Heil erlangen konnten, bedurfte es des Glaubens an den einen Gott, der sie gemacht hat. Die Gleichheit von Gottes Geschöpfen ist deshalb mehr noch als eine Gegebenheit eine Gelegenheit, sie ist die Eröffnung der Möglichkeit, dem göttlichen Anspruch gerecht zu werden. In unverkennbarer Klarheit ist dies im Prolog des Johannesevangeliums formuliert: Er kam in sein Eigentum, doch die Seinen nahmen ihn nicht auf. Denen aber, die ihn aufnahmen, gab er Gelegenheit, Kinder Gottes zu werden. Die kreatürliche Gleichheit ist insofern nur eine Voraussetzung für das Vermögen, von Gott als ein solches Geschöpf angenommen zu werden - eine Möglichkeit, die Gott den Menschen durch seine Heilstat eröffnet hat, deren Einlösung indessen von ihrem eigenen Verhalten abhängt. Die Aufklärung hat mit den Menschenrechten, so scheint mir, diese Beziehung zwischen Gegebenheit und Gelegenheit im Grunde umgekehrt. An die Stelle einer für alle gleichen und durch den Schöpfungsakt bestimmten Natur des Menschen hat sie statt dessen sein Recht gesetzt, seine Lebensform selbst zu bestimmen. Und weil diese Möglichkeit als ein Recht verbrieft wird, beruht sie nicht auf einem natürlichen Befund, sondern auf einer Setzung. Was in dieser Konstruktion in nachgerade stupender Weise gelingt, ist die Vermittlung von Gleichheit und Verschiedenheit. Denn die Gleichheit der Rechte geht einher mit einer großen Vielfalt der faktischen Lebensverhältnisse und -umstände. Das Menschenrecht besteht darum wesentlich in einer Freiheit von Bestimmung. Indessen sollten wir über den emphatischen Begriff der Freiheit nicht den zutiefst skeptischen Grund dieser Konzeption übersehen. Die Definition von Menschenrechten beruht zu erheblichen Teilen auf dem Zweifel, daß es eine wahre, daß es die, ja daß es eine richtige Form des Lebens gibt. Dies macht ihre Stärke, aber auch ihre Schwäche aus. Es ist eine solche, skeptische Haltung gegenüber einem jeden Lebensentwurf, welche der Toleranz in der Aufklärung ihr spezifisches Profil verleiht und ihr zugleich eine zentrale Stellung zukommen, ja sie zum Inbegriff der Menschlichkeit geraten ließ. Denn wie sagte Voltaire? La tolérance est l’apanage de l humanité. ’ (Übersetzung: Wen Shizhe, Zhao Yajing und Chen Wei; redigiert von Huang Liaoyu) ’ <?page no="69"?> Aufklärung in China, wozu? Huang Liaoyu Verehrte Frau Bundesministerin, Verehrter Herr Botschafter, Verehrter Herr Präsident, Meine Damen und Herren! Neun Jahrzehnte sind vergangen, seitdem mit der Bewegung des 4. Mai die Geburtsstunde der Aufklärung des modernen Chinas geschlagen hat. Wenn wir davon ausgehen, daß uns Chinesen in diesen 90 Jahren passiert ist, was die Europäer in ihrem siècle des lumières erlebt haben, so muß gleich bemerkt werden, daß, während die Europäer mit Stolz und Gewißheit auf ihre Epoche der Aufklärung zurückblicken, es für uns Chinesen beim Rückblick auf unsere geistige Befreiungsbewegung noch viele Unsicherheiten, viele Fragen und Ambivalenzen gibt - trotz unserer positiven Grundeinstellung. Die Fragen, die bei den Diskussionen über die Aufklärung des modernen Chinas immer wieder gestellt werden, sind zum Beispiel die folgenden: Ist der Prozeß der Aufklärung des modernen Chinas bereits abgeschlossen oder nicht? Wie sollte sie in Phasen eingeteilt werden? Was für Nutzen und Nachteile hat sie für uns? Ist eine neue Runde Aufklärung nötig? Mich persönlich beschäftigt dabei hauptsächlich die Frage, was durch diese 90 Jahre lange Aufklärung, die fast gänzlich aus importierter geistiger Nahrung aus Europa gespeist wurde und wird, aus dem konfuzianischen Chinesen geworden ist, wie man - als Kulturvermittler ist man sich des Fremdblickes stets bewußt - im Ausland den aufgeklärten Chinesen sehen würde. Bevor ich diese Frage erörtere, muß zweierlei vorausgeschickt werden. Erstens: Ich halte mich bei der Phasierung der chinesischen Aufklärungsgeschichte an die Drei-Phasen-Theorie meines hochgeachteten Kollegen Han Shuifa. Die drei Phasen, von denen er spricht, sind nämlich die Aufklärung der Bewegung des 4. Mai, die nach der Gründung der Volksre- <?page no="70"?> 70 ? 1 1 <?page no="71"?> Aufklärung in China, wozu? Huang Liaoyu 71 publik China - ich würde sagen: institutionalisierte - marxistische Aufklärung und die mit der Öffnung Chinas ins Werk gesetzte nach-marxistische Aufklärung. Zweitens: Da wir uns noch mitten in der dritten Aufklärung befinden, da uns infolgedessen der nötige Zeitabstand fehlt, um ihre Folgen und Auswirkungen abzuschätzen, spreche ich heute nur über die ersten zwei Phasen. Meine Damen und Herren, ich bin Germanist und Thomas Mann-Verehrer. Bitte lassen Sie mich mit einer kleinen Bemerkung über den Zauberberg beginnen. Daß dieser Roman in einer Diskussion über die Aufklärung erwähnt wird, ist alles andere als abwegig, zumal er auf eine subtile und hinreißende Art das Schicksal der klassischen Aufklärung am Ende des ausgehenden bürgerlichen Zeitalters, also ihren Kampf an zwei Fronten - zum einen gegen die alten und zum anderen gegen die neuen Gegenmächte - dargestellt hat. Da ich neulich beim Wiederlesen besonders auf diesen Kampf geachtet habe, ist mir eine wenig beachtete Nebenfigur aufgefallen. Gemeint ist Dr. Ting-fu, der einzige Chinese in Thomas Manns figurenreicher und ethnisch vielfältiger Kunstwelt, der infolge seiner werkimmanenten Marginalität kaum einen Inlandsgermanisten interessiert, und von dem der an China-Bezügen interessierte chinesische Germanist wiederum leicht abgelenkt wird durch Settembrinis wortreiche Warnungen und Attacken gegen Asien und die Philosophie des Nichtstuns. Mich hat Dr. Ting-fu deswegen beeindruckt, weil sich dieser komische Chinese, der immer wieder kichert, auf einer der im vor-vorletzten Unterkapitel geschilderten okkultistischen Sitzungen als ein nüchterner, wenn auch pietätloser Mann erwiesen hat, weil er dabei wie ein Spielverderber fungierte. Da hat er nicht allein die Vermutung, der so geachtete wie gefürchtete Spiritus Holger sei ein Dieb gewesen, ausgesprochen und sich lustig gemacht über Holgers Eitelkeit - nicht ganz zu unrecht; vielmehr ist er, als bei ausgedrehtem Licht die Sitzungsteilnehmer in tausend Ängsten vor einer mysteriösen fremden Hand schwebten, der einzige gewesen, der „den gesunden Gedanken faßte, das Dekkenlicht einzuschalten, so daß alsbald das Zimmer in Klarheit lag.“ So kontrastiert Dr. Ting-fu als Teilnehmer an der okkultistischen Sitzung einerseits mit dem Staatsanwalt Paravant, der „eine derbe Backenpfeife aus der Transzendenz <?page no="72"?> 72 ? 2 3 4 2 1003-1005 3 1013 4 293 <?page no="73"?> Aufklärung in China, wozu? Huang Liaoyu 73 empfangen und mit wissenschaftlicher Heiterkeit quittiert“ hat; der Jurist hätte sich, wie uns der Erzähler versichert, anders verhalten, wäre dieser Streich vitaler Herkunft gewesen. Andererseits erinnert Dr. Ting-fu mit seinem Vertrauen zum Licht an Settembrini, weil dieser sich nie deutlicher als Aufklärer zu erkennen gegeben hat als bei jenem Abendbesuch bei dem bettlägerigen Hans Castorp, wo er bei noch offener Tür schon das Deckenlicht eingeschaltet hat... Meine Damen und Herren, ich habe diese Wanderung zum Zauberberg unternommen, nicht um einem Dichter meine Bewunderung zu zollen, der trotz seinem auffälligen - man denke an seine Dichterkollegen wie Hesse oder Döblin - Desinteresse für chinesische Kultur und trotz seiner umstrittenen leitmotivischleichtfertigen Abspeisung der Nebenfiguren einen aus meiner Sicht typischen Chinesen erfunden hat; und wenn ich Dr. Ting-fu einerseits dem ins Transzendentale entrückten Juristen gegenüberstelle und andererseits in die Nähe von dem lichtfreudigen Settembrini rücken lasse, so tue ich es nicht in der Absicht, meinen fiktiven Landsmann zu stilisieren. Vielmehr geht es mir darum, Sie aufmerksam zu machen auf ein um die Jahrhundertwende typisches Chinesenbild zum einen und auf das vielleicht delikate Verhältnis der Chinesen zur Welt der europäischen Aufklärung zum anderen. Aber warum delikat? Meine Damen und Herren, ich denke, ich werde nicht auf allgemeinen Widerspruch stoßen, wenn ich sage - ich sage es weder mit Stolz noch mit Inferioritätsgefühlen -, daß die chinesische Welt eine Welt der Immanenz oder eine Welt ohne Transzendenz ist, und daß wir Chinesen ein angeborenes Unverhältnis oder Mißverhältnis zum Transzendentalen haben. Es sind doch die Europäer, die das offene Geheimnis als einen Wesenszug des chinesischen <?page no="74"?> 74 ? 5 6 5 2001 117 6 2006 <?page no="75"?> Aufklärung in China, wozu? Huang Liaoyu 75 Geistes, ja des Chinesentums überhaupt, entdeckt haben - mehr mit Verwunderung und Verachtung als mit Hochachtung und Bewunderung. In diesem Zusammenhang muß ich Hegel nennen, weil er einer der einflußreichsten Verächter der chinesischen Bodenständigkeit ist, und weil er beispielsweise in der Philosophie der Geschichte über das Chinesentum harte Urteile gefällt hat, die bei uns Chinesen so etwas wie eine geistige Gehirnerschütterung verursachten, von der sich die Sensiblen schwerlich erholen können. Was man dabei nicht so leicht verschmerzen kann, ist die Hegelsche Diagnose der philosophischen Inkompetenz der Chinesen. Überdies ist es auch beunruhigend für uns zu sehen, daß Hegel gar nicht allein war und ist mit seinem Zweifel an der Bereitschaft und Fähigkeit der Chinesen zu geistigem Aus- und Aufflug. Die Frage, ob man die chinesische Philosophie in Anführungszeichen setzen solle, gehört zu den ersten und letzten Fragen der westlichen Sinologie und hat infolgedessen bis heute auch nicht an Aktualität verloren. Eines müssen wir Chinesen untereinander auch zugeben: Wer mit der abendländischen Philosophie in Berührung gekommen ist, wird schon mehr oder weniger Verständnis haben für das Unbehagen, das die Abendländer an der hauptsächlich vom Konfuzianismus geprägten chinesischen Philosophie und der chinesischen Kultur überhaupt empfinden. Unsere Philosophie oder Philosophie in Anführungszeichen ist tatsächlich gekennzeichnet durch die Rarität bzw. Abwesenheit dessen, was vom Empirischen abstrahiert und abgehoben ist. Vermißt in der chinesischen Philosophie sind nicht nur der Tod und der Teufel, sondern auch die Ideenlehre, die Willensmetaphysik und der Hinweis auf das Ding an sich. Die Versuchung, den philosophischen Rigorismus der Abendländer uns gegenüber zu bejahen, ist sehr groß. In Wirklichkeit gibt es schon chinesische Philosophen, die dieser Versuchung erliegen. Stimmt, wie könnte man in einer Welt ohne Innerlichkeit und Transzendenz, wie könnte man in einer Welt ohne Tod und Teufel philosophieren? Der Tod zum <?page no="76"?> 76 ? 7 8 7 1997 614 8 1993 309 <?page no="77"?> Aufklärung in China, wozu? Huang Liaoyu 77 Beispiel, den Schopenhauer als den eigentlichen inspirierenden Genius oder den Musageten der Philosophie bezeichnet, steht seit Jahrtausenden draußen vor den Toren des Palastes des chinesischen Denkens, ohne Einlaß zu erlangen. Der das philosophische Hausverbot für den Tod verhängt hat, ist kein Geringerer als Konfuzius, und zwar mit dem Argument: Wie sollte man den Tod kennen, wenn man noch nicht das Leben kenne? Mit Konfuzius fängt es also an, daß zum Gegenstand der Betrachtung chinesischer Geister nur werden kann, was im Leben und auf Erden passiert und existiert; Konfuzius ist also der Begründer einer Tradition, durch die wir Chinesen das geworden sind, was mitunter bei den Europäern ein Kopfschütteln hervorruft. In ihren Augen sind wir nämlich zu sehr Empiriker, Pragmatiker, Ethiker, Utilitaristen, Materialisten, Atheisten ... Meine Damen und Herren, so fremdartig und befremdlich die chinesische bzw. konfuzianische Mentalität dem Europäer erscheint, so leicht erkennbar ist doch die Verwandtschaft zwischen gewissen Grundzügen der chinesischen Tradition und einigen Grundwerten der europäischen Aufklärung, zu denen nicht zuletzt Gleichheit, Toleranz, praktische Vernunft und Diesseitsgewandtheit zählen. Ich nenne Ihnen hier ein paar „aufklärerische“ Züge der chinesischen Geschichte: Erstens ist China von alters her keine Ständegesellschaft, sondern eine offene. Ein gescheiter Bauernsohn, der sich bei der Kaiserlichen Prüfung hervorgetan hat und dadurch des Kaisers Schwiegersohn geworden ist, hätte im alten Europa höchstens im Märchen begegnen können; im Reich der Mitte hingegen ist diese märchenhafte Metamorphose eine wenn nicht alltägliche, so doch menschenmögliche Erfahrung. Zweitens: Die religiöse Toleranz ist eine Selbstverständlichkeit für uns Chinesen. Wir sind ein gottfernes bzw. gottloses Volk und tolerieren aus religiöser Indifferenz Gläubige unterschiedlicher Provenienz. Religiös motivierte Verfolgungen hat es hierzulande nicht gegeben, aus rein religiösen Gründen sind weder Taoisten noch Buddhisten, weder Gläubige noch Abergläubige verfolgt worden. Außerdem ist ein Konfuzianer, der ein gutes Verhältnis zur taoistischen oder/ und buddhistischen Welt unterhält oder ein we- <?page no="78"?> 78 ? 9 10 11 9 845 1994 10 747 11 699 <?page no="79"?> Aufklärung in China, wozu? Huang Liaoyu 79 nig Aberglauben hat, auch keine Seltenheit gewesen. Das Wunder der Dreieinigkeit ist ein zugleich irritierendes und faszinierendes Merkmal des Konfuzianers. Zum Dritten ist das ganze Tun und Trachten der chinesischen Geister darauf gerichtet, ein glückliches, harmonisches und wohlgeordnetes Gesellschaftsleben zu errichten. Meine Damen und Herren, ich weiß nicht, was Ihnen jetzt durch den Kopf schießt. Aber ich sehe bei der Porträtierung des konfuzianischen Chinesen einen klassischen europäischen Aufklärer vor meinem inneren Auge. Und ich befürchte sogar, daß die parodierte Aufklärungskritik im Zauberberg auf China übertragen werden könnte. Sie lautet nämlich: "Es ist Philisterei und bloße Ethik, irreligiös. (747) (522) Oder mit einem Wort: „Schäbige Lebensbürgerlichkeit“ 699 (488). Meine Damen und Herren, mit dem Begriff der Lebensbürgerlichkeit möchte ich darauf hindeuten, daß die frappante Ähnlichkeit zwischen der konfuzianischen und der aufklärerischen Welt eigentlich aus hochgradiger geistiger Verwandtschaft zwischen dem Träger der konfuzianischen Kultur, also den Mandarinen, und dem der europäischen Aufklärung, nämlich dem Bürgertum, resultiert. Die diesseitige Lebensorientierung ist nicht das einzige, was den konfuzianischen Chinesen und den europäischen bzw. deutschen Bürger verbindet. Dieser und jener ähneln einander auch in den Verhaltensnormen, den Lebenseinstellungen und Lebensformen. Die Charakteristika des deutschen Bürgers, die beispielsweise von Jürgen Kocka zusammengefaßt sind, passen überraschenderweise zum großen Teil auch zum Konfuzianer. Zum Beispiel: Hochachtung vor Bildung und Leistung, Ansprüche auf soziales Ansehen und politischen Einfluß, eine positive Grundhaltung gegenüber regelmäßiger Arbeit, eine typische Neigung zu rationaler und methodischer Lebensführung, zur Kontrolle der Emo- “ <?page no="80"?> 80 ? 12 12 1995 17-19 <?page no="81"?> Aufklärung in China, wozu? Huang Liaoyu 81 tionen und zur Disziplin, der Familiensinn, die Pflege der Hochkultur (hier Oper-, Konzert- und Museumsbesuche, dort Gedichte schreiben, malen und kalligraphieren) und der gute Ton (Höflichkeit und Bescheidenheit im Umgang mit den Mitmenschen). Insofern kann man ruhig sagen, daß der konfuzianische Chinese ein im europäischen Sinne Aufgeklärter ist. Meine Damen und Herren, ich vermute, einige von Ihnen fragen schon im Stillen: der konfuzianische Chinese - gibt es ihn noch? Das ist auch eine Frage, die wir uns immer wieder stellen. Denn die Geschichte der chinesischen Aufklärung ist dermaßen eine Geschichte der Entkonfuzianisierung gewesen, daß wir zuweilen den Eindruck haben, daß der konfuzianische Chinese auf dem Kontinent nicht mehr existiere, daß er höchstens auf unserer Insel Taiwan zu finden sei. Also zum konfuzianischen Chinesen. Statt mich auf die Suche nach ihm zu machen, möchte ich kurz zurückblicken auf die geistigen Einflüsse aus dem Westen, denen er im Prozeß der Aufklärung ausgesetzt ist. Die Aufklärung hat zunächst dem konfuzianischen Chinesen, der bis dahin nur als soziales Wesen, der nur im Netz seiner gesellschaftlichen Beziehungen existiert hatte, den Begriff der Individualität und den der autonomen Vernunft des Individuums vermittelt. Ungehorsam gegen den Staat oder die Eltern, der in der konfuzianischen Tradition einem Verbrechen gleichkommt, hat es im alten China nur in Ausnahmefällen gegeben. Seit der Bewegung des 4. Mai faßt er Mut, Vater, Mutter und Familie Gehorsam zu verweigern und sich gegen sonstige äußere Autoritäten zu behaupten. Der konfuzianische Chinese ist zum ersten Mal als Individualist, Rebell und Kämpfer aufgetreten. Mit dem Erwachen des Selbstbewußtseins ist der konfuzianische Chinese kritisch und kritikfähig geworden. Was der neugeborene Kritiker als erstes praktiziert, ist radikale Selbstkritik, die an Selbsthaß, Selbstverleugnung und Selbstauslöschung grenzt. Was die kirchlichen Dogmen und der Despotismus für die Europäer des 18. Jahrhunderts waren, das war der Konfuzianismus für die Chinesen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Nur hat dieser mit mehr Wut und Wucht die Fesseln der verhaßten Tradition von sich geworfen. „Nieder mit dem Konfuzius-Laden! “ gehört wie „Totale Verwestlichung! “ zu den Parolen, die während der Bewegung des 4. Mai am lautesten <?page no="82"?> 82 ? <?page no="83"?> Aufklärung in China, wozu? Huang Liaoyu 83 ausgerufen wurden. Der Wille zur Verwestlichung ist einmal so stark geworden, daß auch diejenigen, die die chinesische Schrift latinisieren wollten, ihre Stimme erhoben haben. Der Nationalnihilismus ist es, was die Physiognomie des aufgeklärten konfuzianischen Chinesen tragikomische Züge hat annehmen lassen. Auf die Götzendämmerung des Konfuzianismus folgt ein neuer Personenkult, ein Kult mit zwei Herren aus dem Westen. Der eine ist Mister D. (Democracy), der andere ist Mister S. (Science). Sie sind die neuen Heiligen und gelten als Retter Chinas. Die Frage, wer von den beiden uns mehr geholfen habe, oder wem von ihnen mehr Reverenz erwiesen worden sei, bleibe dahingestellt. Mit der Verehrung des Mister S. hat der konfuzianische Chinese aufgehört, in einem rein lyrischen Verhältnis zur Natur zu stehen. Er sieht sich genötigt, die Gesetze der Natur zu erkennen und ihnen zu gehorchen; gleichzeitig spürt er das nie gekannte Verlangen, das quasi faustische Verlangen, die Natur zu erobern und zu beherrschen. Damit ist das konfuzianische Ideal der harmonischen Vereinigung mit der Natur in Vergessenheit geraten. Angesichts beunruhigender Umweltprobleme wird dieser Gesinnungswandel zunehmend negativ bewertet. Die Aufklärung des konfuzianischen Chinesen begann einerseits im Zeichen nationaler Erniedrigung und Empörung, andererseits im Zeichen des Willens zum nationalen Wiederaufstieg. Seine Bescheidenheit und Lernwilligkeit gegenüber dem Westen hängt mit einer uralten chinesischen Weisheit zusammen: Der Stärkere habe recht. Infolge verschiedener zeitgeschichtlicher Hintergründe und rezeptiver Voraussetzungen sind die geistigen Waffen der chinesischen Aufklärer moderner und schärfer als die der europäischen. Zur chinesischen Aufklärung dienen nicht nur die Enzyklopädisten und die Geister des 18. Jahrhunderts, sondern auch diejenigen, die im 19. Jahrhundert das Projekt Aufklärung in Europa fortführen. Die Aufklärer der Bewegung des 4. Mai favorisieren auffälligerweise die großen europäischen Kritiker, Entlarver und geistigen Umstürzler des 19. Jahrhunderts wie Darwin, Marx und Nietzsche. Mit der Gründung der Volksrepublik China ist der Marxismus, der während der Bewegung des 4. Mai mit anderen westlichen geistigen Strömungen zusammengekommen war, zur Staatsphilosophie erhoben worden. Damit begann die institutionalisierte marxistische Aufklärung in China, die erklärterma- <?page no="84"?> 84 ? <?page no="85"?> Aufklärung in China, wozu? Huang Liaoyu 85 ßen anti-feudal und anti-kapitalistisch ist und folglich die Entkonfuzianisierung und die Kapitalismuskritik zu ihren pädagogischen Hauptaufgaben zählt. Daß diese Jahrzehnte lange andauernde geistig-politische Bewegung nicht ohne Erfolg ist, sieht man hinterher, d.h. nach der Öffnung Chinas und der Einführung der sozialistischen Marktwirtschaft, deutlicher. Beispielsweise gibt es immer mehr Leute, die die konfuzianische Gelehrsamkeit, Bescheidenheit und Höflichkeit vermissen - aus dieser Nostalgie, aus dieser Tendenz des back to the roots erklärt sich die große Popularität, der sich die koreanischen und die taiwanesischen Fernsehserien mit ihrer Darstellung der konfuzianischen Familienverhältnisse hier auf dem Kontinent erfreuen. Andererseits läßt sich doch bei genauerem Hinsehen feststellen, daß der konfuzianische Chinese nicht ausgestorben ist, und daß sein Grundzug, der Materialismus nämlich, durch die marxistische Aufklärung nicht geschwächt oder gar aufgehoben, sondern verstärkt und verfeinert worden ist. Denn ihm ist zunächst durch den historischen Materialismus der Begriff der geschichtlichen Entwicklung vermittelt worden. Da hat er gelernt, daß sich die Geschichte nach ihren eigenen, vom Willen der Menschen - von dem des Einzelnen ganz zu schweigen - unabhängigen Gesetzen entwickelt, daß sich das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen läßt, und daß man den Gang der Geschichte ohne Sentimentalität und moralische Aufgeregtheit beobachten soll. Zum zweiten ist sein Blick durch die marxistische Enthüllung des vexatorischen Verhältnisses von sozialem Sein und sozialem Bewußtsein, von Basis und Überbau entschärft worden für den Primat des Willens im Denken, Reden und Handeln sowohl des Einzelmenschen als auch der sozialen und der staatlichen Gebilde, und seinem geschärften Blick entpuppt sich der Intellekt immer häufiger als das gefällige Dienstmädchen des Willens. Zum dritten ist er durch die marxistische Religionskritik, die die Religion rundweg als das Opium für das Volk bezeichnet, in größere Gottesferne gerückt. Es sollte übrigens geklärt werden, ob der für das Chinesentum untypische Religionshaß, der in der Kulturrevolution zur bilderstürmerischen Barbarei und zur barbarischen Tempelzerstörung geführt hat, auf der einen Seite etwas zu tun hat mit dem Haß gegen den Aberglauben, dessen grauenhafte Folgen ein Hauptthema im Werk unserer aufklärerischen Dichter seit der Bewegung des 4. Mai (Sprichwort: Lu Xun) darstellen, ob er auf der anderen Seite von unserem schmerzenden historischen Gedächtnis aus der Neuzeit herrührt (Sprichwort: Opiumkrieg). Aber was man hierzulande dem Marxismus am meisten zu verdanken hat, ist einer Meinung nach die Kritik am Kapitalismus, die ein Land auf das, was als übersprungen und überwunden galt, und was trotzdem kommen sollte, vorbereitet hat: den Geist und die Praxis des Kapitalismus. In der Maozeit, wo man in einem abgeschlos- <?page no="86"?> 86 ? 13 13 44 2001 829 <?page no="87"?> Aufklärung in China, wozu? Huang Liaoyu 87 senen sozialistischen Land ohne Ausbeutung und Unterdrückung lebte und freilich nicht wußte, was in den damaligen amerikanischen oder europäischen Fabriken passierte, wurde die marxistische Kapitalismuskritik im Dunst der Abstraktheit rezipiert. Das Kapital kommt, von Kopf bis Zeh aus allen Poren, blut- und schmutztriefend, zur Welt: Las ein Chinese der Maozeit das berühmte Wort aus dem Kapital, bewunderte er mehr Marxens dichterisch-rhetorisches Talent als dessen sozialkritischen Scharfblick; einem Chinesen der Nach-Maozeit wird es ganz anders gehen, wenn er auf diesen Satz stößt. Denn heute weiß und sieht man endlich, was der Manchester Kapitalismus ist, was Klasse und Klassenbewußtsein und Klassenkampf bedeutet; heute versteht man auch besser, warum Marx und Engels mit heiligem Zorn die Sünden des Geldes verfluchen. Meine Damen und Herren, durch die marxistische Kapitalismuskritik ist der konfuzianische Chinese nicht dem Kapitalismus entfremdet oder gar für ihn verdorben. Vielmehr hat er im Rahmen der sozialistischen Marktwirtschaft und innerhalb von zwei, drei Jahrzehnten kapitalistische Leistungen erbracht, die auch in der alten, Jahrhunderte alten kapitalistischen Welt Anerkennung finden. Das ist erklärungsbedürftig, das läßt sich aber unschwer erklären. Die Welt, in der wir nun eng miteinander leben, ist eine entzauberte und entmystifizierte, eine profanisierte und prosaisch gewordene Welt, kurz, sie ist eine für den Kapitalismus geschaffene Welt. Daß der diesseitsorientierte, bodenständige und prosaisch denkende konfuzianische Chinese in dieser Welt wie in seinem Element ist, wird einem schon einleuchten, wenn man ein bißchen Ahnung vom Kapitalismus hat. Der konfuzianische Chinese der Gegenwart ist zufrieden mit der Welt und mit sich selbst, wie er es lange nicht mehr war. Und seine Zufriedenheit ist sowohl materieller als auch geistiger Natur. Aber die Welt ist unzufrieden mit ihm. Darunter leidet er schon ein bißchen. Er ist wirklich verwirrt und irritiert durch die Kritiken und kritischen Fragen aus dem Westen, die sich von Tag zu Tag vermehren und verschärfen, die ihm gleichzeitig immer unverständlicher und erklärungsbedürftiger erscheinen. Denn er glaubt zunächst, daß er keinem seiner globalen Partner schadet und schaden wird, daß durch seine erfolgreiche Praxis der sozialistischen Marktwirtschaft viele Win-Win-Situationen geschaffen werden, und daß China bereits in hohem Grade in das kapitalistische Weltsystem integriert worden ist. Davon zeugen sowohl die Anziehungskraft des Standortes China als auch die wachsende Sichtbarkeit des <?page no="88"?> 88 ? 14 14 2008 4 6 <?page no="89"?> Aufklärung in China, wozu? Huang Liaoyu 89 Made in China im Westen. Zum anderen weiß er, daß die heutige Welt die Schöpfung oder - wenn das Wort auf der konnotativen Ebene fehl am Platz wäre - das Werk der europäischen Aufklärung ist, daß er, indem er diesseitsorientiert bleibt, seinen prosaischen Verstand beibehält und an den Prinzipien der Gleichheit und des gegenseitigen Nutzens festhält, auch im Geiste der Aufklärung lebt und schafft. Und wenn seine Fortschritts- und Zukunftsgläubigkeit ein wenig über das Durchschnittsniveau der klassischen Aufklärer hinausgeht, dann liegt es an seiner Aufklärung durch den dialektischen und den historischen Materialismus. Er ist nämlich überzeugt, daß der Überbau durch die Basis bedingt ist, und daß mit der rasanten Wirtschaftsentwicklung auch zivilisatorische politische und moralische Fortschritte gemacht werden können oder müssen. Meine Damen und Herren, der heutige konfuzianische Chinese ist betroffen vom Hagel westlicher Kritik, die sowohl vom Lager der Idealisten als auch von dem der Materialisten zu kommen scheint. Diese versuchen, durch die Infragestellung der Globalisierbarkeit der Wohlstandsgesellschaft ihn von seinem Entschluß zum Glücksstreben abzubringen. Durch derartiges Zureden ist der konfuzianische Chinese total konfus, weil er selber nie gefragt hat und nie fragen wird, ob man noch lebe, wenn andere lebten, oder ob man gut lebe, wenn andere gut lebten. Derartige Fragen hätten höchstens stammen können von einem für das Chinesentum untypischen Denker wie Xun Zi, der wie Thomas Hobbes von der Schlechtigkeit der menschlichen Natur, nämlich vom „Homo homini lupus“ überzeugt ist, und dessen Stimme bisher wenig Gehör gefunden hat. Die Kritik vom anderen Lager, die idealistische nämlich, klagt wiederum über die Irreligiosität und den Materialismus des konfuzianischen Chinesen. <?page no="90"?> 90 ? 15 15 <?page no="91"?> Aufklärung in China, wozu? Huang Liaoyu 91 Meine Damen und Herren, der konfuzianische Chinese ist lernselig, aufnahmefähig und harmoniebedürftig. Doch wenn er die vielen Klagen und Kritiken aus dem Westen liest, kann er trotz redlicher geistiger Anstrengungen nicht kapieren, was man überhaupt von ihm wolle. Er weiß nicht einmal, ob es eher an seiner Unter- oder an seiner Überaufgeklärtheit liege, daß er den anderen nicht gefällt. Der konfuzianische Chinese; was nun? Wäre es für ihn und auch für andere besser, wenn er sich von der tätigen, lebensfrohen und fortschrittsfreudigen Welt der Aufklärung in die taoistische Welt des Nichtstuns oder in die buddhistische der Entsagung zurückzöge? Wäre man dann zufrieden mit ihm? Hoffentlich hilft uns die dritte chinesische Aufklärung, eine befriedigende Antwort auf diese Frage zu finden. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. <?page no="92"?> A xi “ 1 1 2004 <?page no="93"?> Aufklärung und Religion Otfried Höffe I. Das Prinzip der Aufklärung, das Immanuel Kant wie in Stein gemeißelt formuliert, schafft eine neue Beziehung des Menschen nicht nur zur natürlichen und zur sozialen Welt sowie zu sich selbst. Es erfaßt auch das Verhältnis zur Religion und zu Gott. Diesen systematischen Gedanken werde ich in vier Schritten entfalten: Zunächst zeige ich, wie die Aufklärung für die Religion sowohl eine Entlastung bringt als auch eine Herausforderung bedeutet. Sodann stelle ich zwei Grundmodelle von religiöser Aufklärung vor und werfe in religiöse Texte den Blick eines Philosophen. Ich schließe mit empirischen Hinweisen auf die Lage der Religion heute. Also erstens Entlastung und Herausforderung: Durch den ‚Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen , entdeckt und entfaltet sich der Mensch als selbstverantwortliche Person. Für Erkennen, Handeln und Politik selber zuständig, tritt er allen Autoritäten, folglich auch religiösen Aussagen und Institutionen, als in sich gefestigte Person entgegen. Diese richtet ihr Leben am eigenen Gewissen und an einer schon natürlichen, also nicht auf Religion angewiesenen Moral aus. Erneut gibt Kant das Prinzip vor. In dem Werk, das nach Arthur Schopenhauer „das wichtigste Buch“ ist, „das je in Europa geschrieben worden“, in der Kritik der reinen Vernunft, erklärt er (A xi): „Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung, durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich, und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.“ ‘ <?page no="94"?> 94 <?page no="95"?> Aufklärung und Religion Otfried Höffe 95 Die öffentliche Prüfung fällt keineswegs nur negativ aus. Daß das Selbstbewußtsein der Aufklärung vor religiösen Institutionen nicht haltmacht, führt nicht zu einer generellen oder sogar pauschalen Religions- und Kirchenfeindlichkeit. Der Fürst der deutschen Aufklärung, Leibniz, schreibt eine berühmte Theodizee, also Rechtfertigung von der Güte Gottes. Kant verwirft zwar alle theoretischen Gottesbeweise. Seine drei Kritiken gipfeln aber in einer Moralphilosophie, für die eine Moraltheologie wesentlich ist. Und eine seiner bedeutendsten Schriften trägt den Titel Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Fichte schließlich will im Versuch einer Kritik aller Offenbarung die Vernunftmäßigkeit religiöser Offenbarung nachweisen. Die Aufgabe, selber verantwortlich zu werden, stellt sich nun kulturunabhängig allen Menschen. Daß daher die Aufklärung keinen eurozentrischen, sondern einen universalistischen Charakter hat, bringt für die Religion sowohl eine Entlastung als auch eine Herausforderung. Entlastet wird die Religion, weil die Aufklärung nicht an bestimmte Kulturen und Epochen gebunden ist. Aus diesem Grund, der interkulturellen und interepochalen Bedeutung von Aufklärung, kann sich die Religion ihr auf Dauer schwerlich entziehen, und darin liegt die Herausforderung. Ich beginne mit der interkulturellen Bedeutung und gehe dann zur bleibenden Herausforderung über, zu der in der „Einleitung“ genannten Aufklärung als unabgeschlossenem Prozeß. II. Um das verbreitete Mißverständnis zu entkräften, die Aufklärung sei an die europäische Neuzeit gebunden, erinnere ich exemplarisch an vier andere Aufklärungsbewegungen. Eine davon, mein Beispiel aus China, Xun Zi, habe ich schon in der „Einleitung“ erwähnt. Die vier Beispiele vertreten zusammen zwei sich gegenseitig ergänzende Grundmodelle. Das erste Beispiel und erste Grundmodell besteht in einer religionsexternen Religionskritik. Die autonom gewordene Vernunft nimmt sich das Recht, die Religion samt ihren Gottesvorstellungen auf ihre Vernünftigkeit hin zu überprüfen. Im griechischen Mythos ist der Regenbogen die Erscheinung einer <?page no="96"?> 96 2 “ ” 3 22, 21 12, 17 “ 2 540-570 3 1379-1362 <?page no="97"?> Aufklärung und Religion Otfried Höffe 97 Göttin, Iris genannt. Einer der Philosophen vor Sokrates, Xenophanes, verabschiedet den Mythos zugunsten des Logos; er setzt nämlich an die Stelle des Mythos eine natürliche Erklärung: „Und was sie Iris nennen, auch das ist nur eine Wolke, purpurn und hellrot und gelbgrün anzuschauen“ . Schärfer wird Xenophanes, wenn er die aus Homer- und Hesiodtexten bekannten Götter als ungöttlich entlarvt: „Die Äthiopier behaupten, ihre Götter seien stumpfnasig und schwarz, die Thraker, blauäugig und blond“. Seine Kritik geht noch weiter: „Wenn aber die Rinder, Pferde und Löwen Hände hätten und mit den Händen malen könnten und Werke schaffen wie die Menschen, dann würden die Pferde pferdeähnliche und die Rinder rinderähnliche Bilder der Götter malen und Körper bilden von der Gestalt, die sie selber haben.“ Schließlich vertritt Xenophanes einen neuen, „aufgeklärten“ Gottesbegriff; sein Kern ist ein von den sogenannten Buchreligionen unabhängiger Monotheismus: „Ein einziger Gott, unter Göttern und Menschen der Größte, weder an Gestalt den Sterblichen ähnlich noch an Gedanken.“ (Nur in Klammern: Vergessen darf man nicht die ägyptischen Aufklärungen, insbesondere nicht die Echnaton-„Episode“ mit ihrem vorjüdischen Monotheismus.) Der in der „Einleitung“ erwähnte Vertreter „fernöstlicher“ Aufklärung, ein zweites Beispiel, folgt dem Xenophanes-Modell und beschränkt es, wie Xenophanes auch, nicht auf die Religion. Xun Zi, der konfuzianische Meister Xun, erhebt eine für Aufklärung typische Forderung: Man darf nicht immer, wie es im Konfuzianismus vorherrscht, der Tradition folgen. Statt dessen soll sich der menschliche Geist von Aberglaube und Vorurteilen befreien. Das zweite Grundmodell, die nicht mehr religionsexterne, sondern religionsinterne Aufklärung, zeigt sich im dritten Beispiel. Im Alten Orient, sowohl in Ägypten als auch im Zweistromland, in Mesopotamien, waren Religion, Gesellschaft und Staat trotz ihrer funktionalen Differenz eng miteinander verquickt. Dem gegenüber lesen wir im Neuen Testament, bei Matthäus (22, 21), auch Markus (12, 17), eine Ent-Quickung: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist“ („Caesari Caesaris, Deo Dei“). Hier trennt sich die <?page no="98"?> 98 ” “ ” 4 - 800-870 - 870-950 - - 4 2008 <?page no="99"?> Aufklärung und Religion Otfried Höffe 99 religiöse von der staatlichen Sphäre, was beide Seiten von der gegenseitigen Umklammerung befreit. In einer wechselseitigen Emanzipation wird die politische Aufgabe, die Herrschaft, von der religiösen Aufgabe, dem Heil, getrennt. Diese gegenseitige Relativierung entläßt den Staat aus vorgeblichen Pflichten gegen Religion und Kirche; die Religion wiederum vermag einer weltanschaulichen Neutralität des Staates ohne Demütigung und ohne Ressentiment zuzustimmen. Das vierte Beispiel erinnert an die große islamische Aufklärungsbewegung, die sich aus der Rezeption von „heidnischen“, nämlich griechischen Texten der Philosophie, Mathematik, Astronomie und Medizin entwickelt. Im Verlauf der islamischen Aufklärung werden, wie es analog auch im Judentum und im Christentum geschieht, über weite Strecken sogar im Gespräch mit ihnen, Lehren der heiligen Schrift, für den Islam: des Koran, mit Hilfe von Logik und Metaphysik zu einer wissenschaftlichen Theologie fortentwickelt. Durch sie sollen selbst religiöse Skeptiker rational überzeugt werden. Aus der etwa vier Jahrhunderte währenden Glanzzeit islamischen Denkens greife ich nur zwei Vertreter des neunten und zehnten Jahrhunderts heraus. Sie belegen im Vorübergehen die Vielfalt innerreligiöser Aufklärung, denn sie repräsentieren zwei ihrer konkurrierenden Formen (für den ersten Einblick in deren Epoche vgl. Höffe 3 2008, Kap. 6): Nach dem Philosophen und Universalgelehrten Al-Kindi (ca. 800-870 n. Chr.) kann man religiöse Grundgedanken wie die Schöpfung aus dem Nichts mit den Mitteln bloßer Vernunft einsichtig machen. Gäbe es trotzdem einen Konflikt zwischen Vernunft und Offenbarung, so sei der Koran überlegen. In dessen Prophetie finde sich nämlich die höchste, durch Wahrnehmungs- oder Denkfehler nicht verzerrte Form des Wissens. Dem widerspricht zwei Generationen später Al-Farabi (ca. 870-950). Er stellt eine Hierarchie von Wissensformen auf, die die orthodoxe Theologie provoziert. Denn an der Spitze steht nicht mehr wie bei Al-Kindi der Koran, vielmehr das beweisbare, allgemeingültige Wissen der Philosophie und Wissenschaft. Die Theologie sei - nur - zu „wahrscheinlichen“ Aussagen im Sinn von Aristoteles’ Topik fähig. Ein anderer Teil der Religion schließlich, der Ritus, stellt die Wahrheit bloß partikular, lediglich für einen gewissen Kulturraum gültig dar. Beauftragt, „das Volk zu überzeugen“, habe der Ritus den Rang einer Rhetorik in Aristoteles’ Verständnis. <?page no="100"?> 100 1, 26 38 72 32 91 15 29 - —— —— - - “ ” 2007 11 - - <?page no="101"?> Aufklärung und Religion Otfried Höffe 101 Ich gehe nun von dem die Religion entlastenden Blick über zur Aufklärung als Provokation der Religion. Nicht nur bestallte Theologen dürfen religiöse Texte lesen. Weil es auch Philosophen nicht verwehrt ist, erlaube ich mir, für die Aufklärung religiöse Gründe zu nennen, also aus religiösen Texten Bausteine für eine „Theologie innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ aufzusammeln. Ein erster Baustein: Nach meiner Lektüre der Genesis (1, 26) werden weder bloß Theologen noch lediglich fromme Religionsanhänger zum Ebenbild Gottes erklärt. Dasselbe gilt für die Aussage des Koran, Gott habe den Menschen seinen eigenen Geist eingehaucht. Sie findet sich fast wortidentisch in der Sure Saod (Kapitel 38), Vers 72, der Sure Sajde (Kapitel 32), Vers 91 und der Sure Hejr (Kapitel 15), Vers 29. Da also der hohe Rang der Gottesebenbildlichkeit jeden Menschen auszeichnet, hat ebenfalls jeder Mensch das mit diesem Rang verbundene Recht, „sich seines eigenen Verstandes zu bedienen“. Auch mit religiösen Argumenten läßt sich also die Berufung des Menschen zur Aufklärung rechtfertigen. Diese Berufung schließt das Recht, eigentlich sogar die Pflicht ein, vor der Tür zur Kirche, zur Synagoge oder zur Moschee den eigenen Verstand nicht abzugeben. Für dieses Recht bieten sich beide Modelle an. Der „fromme Aufklärer“ wird das Modell Al-Kindi vorziehen, dem die Offenbarung - beim Juden die Thora, beim Christen das Alte und vor allem das Neue Testament - als die irrtumsfreie überlegene Wissensform gilt. Der „liberale Aufklärer“ wird dagegen dem Modell Al-Farabi folgen, das die säkulare Vernunft für epistemisch vorrangig erklärt. Selbst wenn die Religionsgemeinschaft sich für das Modell Al-Kindi entscheidet, sollte sie aber dem anderen Modell einräumen, was der Aufklärer Kant das Recht auf öffentliches Gehör nennt: „Urtheile und Einsichten … frei und öffentlich der Welt zur Prüfung darlegen“ (Was ist Aufklärung? VIII 41). Wie die Doyenne der türkischen Philosophie auf dem letzten Weltphilosophietag, im November 2007 in Istanbul, betonte, ist die Meinungsfreiheit ein unveräußerliches Menschenrecht. Und als Minimum hat die Religion das Aufklärungsniveau von Al-Kindi anzuerkennen: Auch einer Offenbarungsreligion steht eine wissenschaftlich-philosophische Auseinandersetzung, eine Theologie im anspruchsvollen Verständnis, gut zu Gesicht. Gewisse Offenbarungstexte mögen für den „gewöhnlichen“ Verstand provokativ, vielleicht sogar ein Skandalon sein. In diesen Fällen darf sich die Religion gegen jene verkürzte Aufklärung zur Wehr setzen, die da verlangt, die skandalösen Texte zu entschärfen. Auf den Boden des gewöhnlichen Verstandes <?page no="102"?> 102 Nadeem Elyas Soheib Bencheikh 5 9 5 “ ” 6 umma 5 2001 12 16 6 <?page no="103"?> Aufklärung und Religion Otfried Höffe 103 braucht die Religion ihre heiligen Texte nicht „herunterziehen“ zu lassen. Sie ist auch nicht verpflichtet auf die in der europäischen Aufklärung vielerorts vorherrschende Einschränkung der Religion auf Moral. Berechtigt bleibt aber die von der Aufklärung erhobene Forderung, die Texte, obwohl eine „geheiligte Offenbarung“, auf methodischen Wegen auszulegen und dabei Kontroversen zuzulassen. Zudem muß man erfahren dürfen, wann und in welchen geschichtlichen Zusammenhängen die Texte entstanden sind und wann sie ihre kanonische Gestalt erhalten haben. Schon eine moderate Aufklärung erwartet also von der Religion eine kritische Hermeneutik, die den genuin religiösen Kern von zeitbedingten Anlagerungen trennt. Auch Muslime haben damit keine prinzipiellen Schwierigkeiten. Beispielsweise erklärt der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Nadeem Elyas, den Islam nicht für einen Monolithen, der einer einzigen Auslegung verpflichtet sei. Im Gegenteil sei ein innerislamischer Pluralismus erlaubt, und tatsächlich gebe es ihn längst. Der Großmufti von Marseille, Soheib Bencheikh, verlangt sogar, die vielerorts noch vorherrschenden archaischen Interpretationen des Islam aufzugeben. Ein Minimum der kritischen Hermeneutik dürfen nicht erst die Mitglieder von ihrer Religionsgemeinschaft einfordern. Die Weltöffentlichkeit muß beispielsweise vom Islam verlangen, den Vers 5 der Sure 9 friedensfähig auszulegen, und zusätzlich fordern, daß die friedensfähige Auslegung von allen Muslimen anerkannt wird: „Sind aber die heiligen Monate verflossen, so erschlaget die Götzendiener, wo ihr sie findet, und packet sie und belagert sie und lauert ihnen in jedem Hinterhalt auf.“ Vergessen darf man freilich nicht, daß auch andere heilige Texte anstößige Passagen enthalten. Im Alten Testament lesen wir zum Beispiel, die im heiligen Land eintreffenden Juden sollen alle fremden Götterstandbilder zerstören. Bekanntlich teilt der Islam die Menschheit in drei Gruppen ein: Die „Gemeinde“ (umma) besteht aus den Muslimen; „die Leute des Buches“ (ahl al-kitab) wie die Juden, Christen und Mandäer (eine gnostische Johannes-der-Täufer-Reli- <?page no="104"?> 104 ahl al-kita “ ” —— —— 7 7 R. Forst (Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs) 2003 O. Höffe (Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger. Politische Ethik im Zeitalter der Globalisierung) 2004 <?page no="105"?> Aufklärung und Religion Otfried Höffe 105 gionsgemeinschaft) hängen nach islamischer Ansicht einem Fast-Monotheismus an; erst die Polytheisten (und die Atheisten) sind im vollen Sinn Ungläubige. Die Juden und Christen fallen also nicht unter die mit Gewalt bedrohten Götzendiener. Schon der Selbstschutz der westlichen, im islamischen Sinn auch Götzendiener umfassenden Gemeinwesen, vor allem aber die Selbstachtung jetzt der gesamten nichtmuslimischen Welt muß freilich von den Muslimen fordern, sowohl von ihren religiösen als auch ihren politischen Führern, jeden Krieg gegen Nichtgläubige zu ächten. Intellektuell mag man miteinander streiten; jeder Streit mit Waffen ist dagegen ausnahmslos zu verbieten. Wer über Politik nicht bloß philosophiert, sondern sich auch als politischer Philosoph versteht, darf sich vor politikrelevanten Bemerkungen nicht scheuen. Liberale Intellektuelle - oder sollte man sie „sogenannte Liberale“ nennen? - mögen derartige Bemerkungen zwar nicht, aufgeklärte, weil erfahrungsoffene Zeitgenossen scheuen aber nicht vor ihnen zurück: Weil ein aufgeklärtes Gemeinwesen von den Religionsgemeinschaften eine methodisch anspruchsvolle Theologie und eine kritische Hermeneutik erwarten darf, hat es ein wichtiges Recht, seinen muslimischen Bürgern gegenüber sogar eine Pflicht, zumindest für die staatlichen und für die staatlich unterstützten Schulen von allen, auch den muslimischen Religionslehrern die für Schulen übliche, wissenschaftsgestützte Ausbildung an deutschen Hochschulen zu verlangen. Wie sieht es mit den Aufklärungsgeboten von Toleranz und Religionsfreiheit aus? 1 Für die Aufklärung unverzichtbar und unverhandelbar, kann man sie mit drei sich ergänzenden Argumentationsschritten begründen. Zunächst eine Vorbemerkung: Dem Vertreter einer monotheistischen Religion mag der Befund schwer fallen, daß polytheistische Religionen als polytheistische Religionen es mit der religiösen Toleranz leichter haben. (Und noch leichter hat es ein von vornhe- 1 Zu Begriff und Rechtfertigung der Toleranz s. Forst 2003 und Höffe 2004, Kap. 8. <?page no="106"?> 106 20, 3 12, 30 13, 23-30, 36-43 2, 15-17 7, 36-50 8, 3-11 3, 12 4, 12 11, 1 5, 1.13 8, 12 3, 28 109 <?page no="107"?> Aufklärung und Religion Otfried Höffe 107 rein a-religiöses Denken wie der Konfuzianismus.) Zur Gewalt bereite Anhänger finden sich zwar auch in einer polytheistischen Religion wie dem Hinduismus. Zumindest die aus dem Abendland bekannten Polytheismen taten sich aber leicht, ältere und neuere Gottheiten aufzunehmen: Sowohl der griechische als auch der römische Götterhimmel bieten ein gutes Beispiel. Alexander der Große macht sich die kulturelle, einschließlich der religiösen Verschmelzung sogar zum politischen Programm. Und Kaiser Hadrian baut in Rom ein „Heiligtum aller Götter“, das Pantheon. Der Monotheismus dagegen, philosophisch und theologisch zweifellos ein Gewinn, pflegt zu sagen, als erstes der zehn Gebote sogar: „Du sollst keine fremden Götter mir zum Trotz haben“ (Exodus 20, 3). Das Neue Testament bekräftigt dies mit den Worten: „Wer nicht für mich ist, der ist wider mich“ (Mt 12, 30). Später geht das Christentum noch weiter. Während es Japanern nicht schwer fällt, sowohl Schintoist als auch Buddhist, manchmal sogar zusätzlich Christ zu sein, spaltet sich das Christentum in Konfessionen. Und diese tun sich trotz neutestamentlicher Gemeinsamkeiten wie der Bergpredigt und dem Samaritergleichnis mit der Ökumene schwer. Trotzdem finden sich im Christentum gute Argumente für die Toleranz. Eine erste, religiöse Argumentationsstrategie erklärt die Glaubensfreiheit als mit der Religion vereinbar. In der Tat hat die Toleranz beispielsweise neutestamentliche Grundlagen, etwa das Prinzip der Gegenseitigkeit und das Liebesgebot, ferner die Bergpredigt, das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (Mt 13, 24-30, 36-43), vor allem aber Jesu Verhalten, zur Nachfolge nicht zu zwingen, sondern einzuladen, sichtbar in seiner großmütigen Haltung gegen Sünder (Mk 2, 15-17; Lk 7, 36-50; Joh 8, 3-11). Schließlich darf man an Paulus’ Mahnung zu gegenseitigem Ertragen erinnern (Kol 3, 12 f.; 1Kor 4, 12; 2Kor 11, 1; Gal 5, 1.13; s. auch 1Kor 8, 12 und Gal 3, 28). Und der Muslim kann sich Vers 7 aus der Sure 109 des Koran ins Gedächtnis rufen: „O ihr Ungläubigen! … Euch euer Glaube und mir mein Glaube.“ Die zweite, sowohl staatsals auch religionstheoretische Strategie folgt der erwähnten „Caesari Caesaris“-Formel. Sie entläßt den Staat aus seiner angeblichen Pflicht gegen Religion und Kirche. Als eine weltliche Schutzeinrichtung ist er lediglich beauftragt, grundlegende Rechtsgüter wie Leib und Leben, Freiheit und Eigentum der Bürger zu sichern. Das Ziel der Religion, das Heil, und ein <?page no="108"?> 108 “ ” <?page no="109"?> Aufklärung und Religion Otfried Höffe 109 Gegenstand vieler Religionen, das Jenseits, fällt jedenfalls aus der hoheitlichen Zuständigkeit des Staates heraus. Bleiben wir bei einer Religion, die vor allem in manchen ihrer Stammlande mit Religionsfreiheit und Toleranz Schwierigkeiten hat und die diese Schwierigkeiten im Gepäck vieler Einwanderer in bislang nichtmuslimische Länder mitgibt: Prinzipielle Schwierigkeiten dürfte auch der Islam mit der skizzierten Entquickung, der gegenseitigen Emanzipation von Religion und Staat, nicht haben. Die aus dem Alten Orient stammende Verquickung der Religion mit Staat und Gesellschaft gründet nämlich nicht in seiner religiösen Substanz. Nach dem schlechthin ersten Prinzip, übrigens einer funktionalen Äquivalenz zum ersten Gebot des Dekalogs, nach dem Bekenntnis „Es gibt keinen Gott außer Allah“ kommt es dem Islam vor allem auf einen reinen Monotheismus an. Da der Ausdruck „Allah“ im Arabischen nichts anderes als „Gott“ bedeutet, könnte das Bekenntnis nicht nur von Muslimen, sondern etwa auch von Christen verwendet werden, denn es besteht in der emphatisch vorgetragenen Tautologie: „Es gibt keinen Gott außer Gott“. Auch die nächstwichtigen Elemente werden durch eine Entquickung nicht tangiert, weder das Bekenntnis zur Prophetenschaft Mohammeds oder das fünfmalige tägliche Gebet noch das Almosengeben, weder das Fasten im Ramadan noch die Wallfahrt nach Mekka. Ohnehin kennen selbst islamische Gemeinwesen die Trennung von weltlichem und geistlichem „Herrscher“, von Kalif und Sultan. In jedem Fall ist ein Minimum von Emanzipation zu fordern: Selbst ein Gemeinwesen mit einem stark christlichen, hinduistischen, jüdischen oder muslimischen Hintergrund hat den anderen Religionsgemeinschaften sowohl die persönliche als auch die korporative Religionsfreiheit zu gewähren. Sofern Religionsgemeinschaften abweichende Ansichten, Häresien, mit Ausschluß ahnden, darf dies keinerlei weltlich-staatliche Folgen haben. Vor allem dürfen sie ein etwaiges Verbot, vom angestammten Glauben abzufallen, nicht mit weltlichen, weder mit rechtlichen noch mit sozialen Strafen erzwingen. Im übrigen haben sie selber dagegen verstoßen: sowohl die Christen als auch die Muslime und die Buddhisten, als sie durch eine Mission der „Heiden“ sich nach und nach zu global verbreiteten, zu Weltreligionen entfalten. Wer sich das Recht zu missionieren nimmt, seinen Anhängern aber den Austritt verbietet, verstößt sowohl gegen die interkulturell anerkannte Goldene Regel als auch gegen ein unstrittiges Element der Gerechtigkeit, gegen das Willkürverbot bzw. die Ungleichbehandlung. <?page no="110"?> 110 <?page no="111"?> Aufklärung und Religion Otfried Höffe 111 Eine dritte, personale Rechtfertigungsstrategie religiöser Toleranz geht von der personalen Integrität des Menschen aus. Ihretwegen hat jeder einzelne nicht bloß eine Befugnis, sondern sogar eine Verpflichtung, nach seinem (aufgeklärten) Gewissen zu handeln. Enthält allerdings eine Religion Verbindlichkeiten, die den gesellschaftlichen Frieden bedrohen, beispielsweise den Bürger zur Meinung verleiten, er brauche den staatlichen Gesetzen nicht zu gehorchen, so endet staatlicherseits die Gewissensfreiheit. III. Meine Überlegungen zum Verhältnis von Aufklärung und Religion blieben unterbestimmt, wenn sie einen wesentlichen Faktor der Aufklärung, der Erfahrung, ihr Recht nähmen. Für mein Thema bedeutet es, daß eine nichtdogmatische Aufklärung sich gegenüber der sozialen Wirklichkeit, dem fortdauernden Gewicht der Religion, offen hält. In den westlichen Demokratien, selbst in den Ländern von West-, Mittel- und Nordeuropa, in denen das Christentum an praktizierter Zustimmung verliert, ohnehin in den muslimischen Ländern übernimmt die Religion einen bunten Strauß von Aufgaben. (1) Sie zeigt sich beispielsweise als eine wichtige Autorität für Wertbildung und Wertevermittlung. (2) Auch schaffen die Religionen Gemeinschaft. (3) Ferner sind sie eine Fundgrube für Lebensweisheit. (4) Sie dienen, säkular gesprochen, der Kontingenzbewältigung. Und vor allem (5) machen sie spirituelle Angebote. Eine nichtdogmatische, erfahrungsoffene Aufklärung nimmt diese reiche Wirklichkeit nicht bloß zur Kenntnis, sie denkt auch über die Gründe nach. Dabei stößt sie auf mindestens drei sich nicht ausschließende Hypothesen. Nach der anthropologischen Hypothese ist die Religion ein menschliches Grundbedürfnis. Nach der genetischen Hypothese prägt eine der Religionen, das Christentum, die Entwicklung der modernen Welt. Und die Legitimationshypothese sieht in Religionen einen wesentlichen Faktor für die Rechtfertigung eines unveräußerlichen Bestandteils der Moderne, für die Menschenrechte. Für alle drei Hypothesen gibt es Gegenhypothesen, gewiß. Zur anthropologischen These sagt ein Kritiker, der Szientist, ein Teil der religiösen Aufgaben, insbesondere die umfassende Weltdeutung, könne besser von den Wissenschaften übernommen werden. Nach einem anderen Kritiker vollbringt spirituelle Leistungen auch eine nicht religiös gebundene Meditation, samt nichtreligiöser <?page no="112"?> 112 <?page no="113"?> Aufklärung und Religion Otfried Höffe 113 Askese. Wieder ein anderer erklärt, ein rechtschaffenes Leben werde nicht bloß von frommen Menschen geführt. Und eine vierte Kritik bringt die Religion mit der Behauptung in Verruf, die Religion verkörpere doch nur die Erfüllung von Kinderwünschen, vor allem die Sehnsucht nach Geborgenheit und die Hoffnung auf eine spätestens durch das Jenseits gerechte Welt. Kritiker der zweiten, genetischen Hypothese betonen die vom Christentum unabhängigen Wurzeln der Moderne, die griechische Philosophie, Wissenschaft und Politik, die stoische Moral und das römische Recht. Und Kritiker der dritten, der Legitimationshypothese erinnern an das Trauma der im Namen der wahren Religion geführten Kriege und Bürgerkriege, ferner an die generationenlange vehemente Ablehnung der Menschenrechte seitens der Großkirchen. Stellung nehme ich heute weder zu den Hypothesen noch den Einwänden. Ich nenne nur eine Einsicht, die aus den einschlägigen Debatten folgt: Die Aufklärung besteht nicht in einem Schatz von infalliblen Wahrheiten. Das Wagnis, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, ist ein unabgeschlossener Prozeß. Zitierte Literatur: Bencheikh, S. 2001: Die Furcht vor dem Islam ist gerechtfertigt. Scheich Benscheikh, Großmufti von Marseille im Gespräch, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16.12.01, 10. Elyas, N. 2001: Der Islam - keine gewalttätige, aber eine kämpferische Religion, in: zur Debatte 31, H. 6, 5-6. Forst, R. 2003: Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt/ M. Höffe, O. 2004: Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger. Politische Ethik im Zeitalter der Globalisierung, München. ______ 3 2008: Kleine Geschichte der Philosophie, München. (Übersetzung: Wang Ge; redigiert von Huang Liaoyu) <?page no="115"?> Autorenportraits Prof. Han Shuifa, geboren 1958, ist Professor für Philosophie an der Pe king-Universität sowie Vize-Direktor des German Studies Center der Peking- Universität. Er studierte Philosophie an der Peking-Universität und promovierte an der sozialen Akademie Chinas 1988 zum PhD. Von 1993 bis 1995 war er Visiting Scholar am Philosophischen Seminar sowie von 2000 bis 2001 Gastprofessor am Institut für Sinologie und Koreanistik der Eberhard Karls Universität Tübingen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Immanuel Kant und praktische Philosophie. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen Kant (Shijiazhuang 1997), A Study of Kant ’ s Doctrine of Things in Itself (Peking 2007) und Vision of Justice (Peking 2009). Prof. Dr. phil. Dr. h.c. mult. Otfried Höffe, geboren 1943, studierte Philosophie, Theologie, Geschichte und Soziologie in Münster, Tübingen, Saarbrücken und München, wo er 1970 zum Dr. phil. promovierte. 1970/ 71 war er Visiting Scholar an der Columbia University in New York City. Er habilitierte sich 1974/ 75 in Philosophie (München), war ab Sommersemester 1977 o. Prof. für Philosophie an der Universität Duisburg, ab Sommersemester 1978 Lehrstuhlinhaber für Ethik und Politische Philosophie an der Universität Freiburg (Schweiz), zugleich Direktor des internationalen Instituts für Sozialphilosophie und Politik und Lehrbeauftragter für Rechtsphilosophie an der Juristischen Fakultät. Seit 1992 ist er Lehrstuhlinhaber für Philosophie am Philosophischen Seminar der Universität Tübingen, Mitglied ihrer Juristischen Fakultät und seit 1994 Gründer sowie Leiter der Forschungsstelle Politische Philosophie. Darüber hinaus ist er ständiger Gastprofessor für Rechtsphilosophie der Universität Sankt Gallen. Er ist Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, der Deutschen Nationalakademie Leopoldina (und deren Senator) und der Teheraner Akademie für Philosophie und Weltweisheit. Die Universitäten Porto Alegre (PUCRS), Belgrad und Riga haben ihm die Ehrendoktorwürde verliehen. - Dr. <?page no="116"?> 116 Autorenportraits Aus seinen zahlreichen Buchveröffentlichungen seien einige erwähnt: Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat (1987, 4 2003), Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie (2003, 4 2004), Lebenskunst und Moral oder: Macht Tugend glücklich? (2007) und Ist die Demokratie zukunftsfähig? (2009). - Übersetzungen in mehr als 20 europäische und außereuropäische Sprachen. Prof. Dr. Huang Liaoyu, Jahrgang 1965, studierte von 1982-1989 Germanistik an der Peking-Universität. Dem schloss sich von 1990-2003 eine Lehrtätigkeit am Ausbildungszentrum für deutsche Sprache an der University of Business and Economics (UIBE) an. Er lehrt seit 2004 Neuere deutsche Literatur und Übersetzung am Institut für Germanistik der Peking Universität. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören das Bürgertum, das Künstlertum und das Judentum in der deutschen Literatur sowie deutsche Literaturkritik. Er schrieb über Thomas Mann, Kafka, Martin Walser, Wackenroder, Heine, Reich-Ranicki und übersetzte unter anderem Martin Walser, Thomas Mann und Sven Regener. 2005 wurde ihm der Lu-Xun-Literaturpreis für Übersetzung (Nationaler Übersetzerpreis) verliehen. Zur Zeit ist er Institutsleiter für Germanistik und einer der stellvertretenden Direktoren des Zentrums für Deutschlandstudien (German Studies Center) an der Peking-Universität. Prof. Dr. Andreas Kablitz, geboren 1957, studierte Romanistik und Geschichte. Er promovierte 1983 und habilitierte sich 1987. Kablitz war 1989/ 90 Professor für Romanische Philologie an der Universität Tübingen, 1990-94 Ordinarius für Italienische Philologie an der LMU München und zugleich Vorstand des Instituts für Italienische Philologie. Seit 1994 ist er Professor für Romanische Philologie an der Universität zu Köln; zugleich Direktor des Petrarca- Instituts der Universität. 1997 Verleihung des Gottfried Wilhelm Leibniz Preises durch die DFG. Seit 1998 Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Fritz-Thyssen-Stiftung. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen gehören u.a.: Alphonse de Lamartines „Médiations poétiques“ (Stuttgart 1985) und Der verborgene Gott und die Welt des Menschen. Studien zu einer literarischen Anthropologie der Renaissance (Göttingen 2003). <?page no="117"?> Autorenportraits 117 Prof. Dr. Annette Schavan, geboren 1955, studierte Erziehungswissenschaften, Philosophie und Katholische Theologie und promovierte 1980 an der Universität Düsseldorf. Ab 1980 war Schavan Referentin der Bischöflichen Studienstiftung Cusanuswerk. 1995 wurde Schavan als Ministerin für Kultus, Jugend und Sport unter Erwin Teufel in die Landesregierung von Baden-Württemberg berufen. Ab 1996 gehörte sie dem CDU-Landesvorstand von Baden-Württemberg an. Im November 1998 wurde Schavan stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende. Von 2001 bis 2005 war sie Mitglied des Landtages von Baden-Württemberg. Im Oktober 2005 wurde Annette Schavan im Kabinett von Angela Merkel zur Ministerin für Bildung und Forschung berufen. Auch im zweiten Kabinett von Angela Merkel (seit 2009) behielt Schavan den Vorsitz des Ministeriums. <?page no="119"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Aristoteles , einer der einflußreichsten Philosophen des Abendlandes, ist Denker, Forscher und Gelehrter in einer Person. Seit mehr als zwei Jahrtausenden prägen seine Begriffe und Argumente den Geist von Europa und dem Vorderen Orient. Sein wahrhaft enzyklopädisches Werk reicht von der formalen Logik über die Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, über die Physik, die philosophische Psychologie und die Zoologie, über die Erste Philosophie (Metaphysik) als Ontologie und als philosophische Theologie bis zur Ethik und Politik, selbst der Rhetorik und der Poetik. Aus diesem umfangreichen Werk präsentiert das Aristoteles- Lesebuch die wichtigsten Texte. Otfried Höffe , international hochanerkannter Aristoteles-Forscher, stellt zunächst Leben, Werk und Wirkung des Philosophen vor und führt dann sukzessive in Aristoteles‘ nach sechs Themenbereichen gegliedertes Werk ein: Wissen und Wissenschaft, Naturphilosophie, Metaphysik, Ethik, Politik, Rhetorik und Poetik. So erschließt sich dem Leser ein in seiner Vielfalt einmaliger Zugang zum Werk eines der größten Philosophen der Menschheit. Otfried Höffe Aristoteles: Die Hauptwerke Ein Lesebuch 2009, XXIV, 536 Seiten, geb. €[D] 19,90/ SFr 35,90 ISBN 978-3-7720-8314-3 <?page no="120"?>