Bert Brechts Lyrik
Außenansichten
0309
2011
978-3-7720-5404-4
978-3-7720-8404-1
A. Francke Verlag
Hans Vilmar Geppert
"Dauerten wir unendlich so wandelte sich alles. Da wir aber endlich sind bleibt vieles beim alten."
Der skeptische und nachdenkliche Lyriker Bert Brecht ist Gegenstand dieses Buches, das aus öffentlichen Vorträgen an der Universität Augsburg hervorgegangen ist. Es geht also vor allem um den Dichter, der wesentlich erst durch seinen Nachlass bekannt wurde und sich seit dem Exil immer wieder fragte: "Warum soll mein Name genannt werden?" Aber Skepsis bedeutete für Brecht auch kreativen Möglichkeitssinn, bedeutete vor allem ein Bekenntnis zur immer erneuerten Freiheit der Ästhetik, unlösbar verbunden mit unbedingtem sozialem und politischem Engagement. Obwohl "wir endlich sind", können wir einiges verändern, auch als Dichter, auch und gerade in Schwierigen Zeiten."Außenansichten" bedeutet hier, dass aus bewusst verschiedenen und durchaus auch fremden methodischen Perspektiven ausgewählte Stationen in Bert Brechts Lyrik betrachtet werden: das Lesebuch für Städtebewohner im Kontext verschiedener Medien, die Lyrik seit dem Exil im Hinblick auf die Logik ihrer "Wenn"-Sätze, die Sprache der "Chiffren" in Brechts Lyrik, der Ort dieser Lyrik in der Tradition der europäischen Moderne: von Baudelaire und Rimbaud zu Ungaretti oder Celan, die spezifische Kreativität der Dialektik in Brechts Gedichten, oder etwa die Kontinuität der Argumentation im späten Gedicht-Zyklus der Buckower Elegien.
<?page no="0"?> Hans Vilmar Geppert Bert Brechts Lyrik Außenansichten <?page no="1"?> Bert Brechts Lyrik <?page no="3"?> Hans Vilmar Geppert Bert Brechts Lyrik Außenansichten <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. Umschlagabbildung: Bronzeskulptur „Bertolt Brecht“ von Fritz Cremer; aus Wikimedia Commons, Autor: SpreeTom, lizenziert unter GNU-Lizenz für freie Dokumentation. © 2011 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8404-1 <?page no="5"?> Inhalt 1 Vorwort: „ Stehend an meinem Schreibpult “ Außenansichten von Bert Brechts Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2 „ Warum soll mein Name genannt werden? “ Ein lyrisch-politisches Programm im Exil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 3 „ Sieh den Balken dort! “ Zur Sinnlichkeit der Chiffren in Bert Brechts Lyrik . . . . . . . . . . . . . 29 4 „ Ach wie solln wir nun die kleine Rose buchen? “ Bert Brechts Lyrik und die Tradition der Moderne . . . . . . . . . . . . . . 49 5 „ Verwisch die Spuren! “ Bert Brechts Lesebuch für Städtebewohner im Mediendialog . . . . . . . . 69 6 „ Ein kräftiges WENN NICHT “ Zur Logik des Engagements in Bert Brechts Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . 101 7 „ Vergnügungen “ Dialektik als kreative Alltagslogik im Kinderbuch, in der Werbung und in Bert Brechts später Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 8 „ Warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld? “ Zur Kontinuität der Argumentation in Bert Brechts Buckower Elegien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Anhang Bert Brechts Buckower Elegien neu geordnet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 <?page no="7"?> 1 Vorwort: „ Stehend an meinem Schreibpult “ Außenansichten von Bert Brechts Lyrik „ Stehend an (s)einem Schreibpult “ erinnerte sich Brecht, dies wohl im Sommer 1955, 1 plötzlich „ (s)einer Kindheit in Augsburg “ (1179/ 25.294). 2 Mein eigenes Stehpult dagegen stand lange Jahre, von 1984 bis 2009, tatsächlich in Augsburg, und ich sah ebenfalls oft über es hinweg „ durchs Fenster “ - nicht auf einen „ Holderstrauch “ , lediglich auf Nelken, eine Latschenkiefer, Zwergwacholder und andere genügsame Terrassenpflanzen. Und statt einer plötzlichen „ mémoire involontaire “ , einer „ unwillkürlichen Erinnerung “ , wie Brecht sie erlebte, einer klassisch modernen, poetischen Figur, erinnere ich mich heute eher einer postmodernen Zitat-Collage, wie sie damals nahe lag. 3 Ich assoziiere heute als eng zusammen gehörig ein anderes Brecht-Gedicht, das sofort im Gedächtnis haftete, einen Text von Ilse Aichinger, über den ich lange grübeln musste, und einen 56 x 28 cm großen Farbholzschnitt von Heiner Bauschert (1928 - 1986, seit 1982 mein freundlicher Nachbar in Kilchberg bei Tübingen), den ich ebenfalls „ stehend an meinem Schreibpult “ vor Augen hatte: Sieh den Balken dort am Hang Aus dem Boden ragend, krumm und, ach Zu dick, zu dünn, zu kurz, zu lang. Einstmals freilich war er dick genug Dünn genug, lang genug, kurz genug Und trug mit drei anderen ein Dach. (Bertolt Brecht, Der Balken, 1941, 982/ 15.42) Ich wollte mich auf einem Querbalken niederlassen. Ich wollte wissen, was ein Querbalken ist, aber niemand sagt es mir. (Ilse Aichinger, Der Querbalken, 1963) 4 1 Im Gedicht Schwierige Zeiten, vollständig zitiert unten Kap. 7 „ Vergnügungen “ Dialektik als kreative Alltagslogik im Kinderbuch, in der Werbung und in Bert Brechts Lyrik. 2 Im Text zitiert werden die folgenden Ausgaben: Bertolt Brecht, Die Gedichte: Zusammenstellung: Jan Knopf, Frankfurt 2000, zitiert nach Seitenzahl; sowie, nach dem Schrägstrich: Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, 31 Bde., Berlin/ Weimar und Frankfurt/ M. 1988 - 2000, zitiert nach Band und Seitenzahl. 3 Ich musste zum Anfang des Wintersemesters 1984/ 1985 so gut wie gleichzeitig ein Seminar vorbereiten über Ilse Aichingers Kurzgeschichten und einen Vortrag im Rahmen einer Bert- Brecht-Ringvorlesung, letzteres sehr kurzfristig in Auftrag gegeben. Insofern fühlte ich mich damals auch Brechts Gedichttitel Schwierige Zeiten ein bisschen nahe. 4 Ilse Aichinger, Meine Sprache und Ich. Frankfurt/ M. 1978, S. 161. <?page no="8"?> (Heiner Bauschert, Baumstützen II, 1980) 5 Kommen nur (exzentrische) Komparatisten oder (verrückte) Semiotiker darauf, 6 hier Zusammenhänge zu sehen? Der rhetorische Begriff für Bezüge zwischen Fernliegendem wäre Xenikon, „ Verfremdung “ . 7 Ist das für den Umgang mit Brecht so ganz falsch? Haben die drei „ Balken “ - auch Bauscherts Baumstützen werden von aufgesägten „ Balken “ dargestellt - nicht auf den 5 Vgl. Rudolf Bayer, Heiner Bauschert. Holzschnitte 1979 - 1985. Mit einem Werkverzeichnis der Holzschnitte. Heilbronn 1985, S. 63. Wiedergabe mit freundlicher Erlaubnis von Nanna Bauschert-Engel. 6 Zu Max Benses Definition einer ästhetischen Zeichenfunktion: „ 3.1 2.2 1.3 “ , über die ich damals ebenfalls eigentlich ständig nachdachte, vgl. unten Kap. 3 „ Sieh den Balken dort! “ Zur Sinnlichkeit der Chiffre in Bert Brechts Lyrik; vgl. auch Verf., Ilse Aichinger „ Der Querbalken “ . Semiotik und Interpretation. In: Walter Seifert (Hrsg.), Literatur in Medien und Unterricht. Festschrift für Albrecht Weber zum 65. Geburtstag. Köln, Wien 1987, S. 69 - 78. 7 Vgl. z. B. Heinrich Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik. 5. Aufl., München 1983, S. 39 f.; zur Einführung vgl. z. B. Kaspar Spinner, Theorien der Verfremdung. In: Verf. und Hubert Zapf (Hrsg.), Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Bd. II, Tübingen und Basel 2005, S. 85 - 94. 8 Vorwort: „ Stehend an meinem Schreibpult “ <?page no="9"?> zweiten und dritten Blick viel gemeinsam? Könnte nicht diese „ Außenansicht “ auf Brechts Lyrik nun in der Tat in ein Hauptthema dieser jetzigen Aufsatzsammlung: „ Brecht und die moderne Lyrik “ , zumindest einführen? Gewiss, Ilse Aichinger entwirft Netze und Wirbel vieler Assoziationen. Sie „ entautomatisiert “ , 8 man kann auch sagen, abstrahiert normierte sprachliche Bedeutungen und situative Kontexte. Brecht abstrahiert eine gegenständliche Situation bzw. ein „ Ding “ , indem er es anschaulich, aber auch zeitlich ( „ einstmals freilich “ ) perspektiviert. In beiden Texten ist die „ wahre “ Bedeutung des Balkens nur als „ abwesende “ zu begreifen. 9 Jedes Mal wird der Text so in seine Sequenz, aber auch in seine Tiefe hinein dynamisiert: Man soll sowohl das vorgestellte „ Ding “ als auch die weiteren Aussagen darüber immer neu befragen. Die „ Balken “ werden zu etwas produktiv „ Unbekanntem “ . 10 Aichingers Querbalken könnte, so fährt ihre Erzählung fort, ein „ Schiffsbestandteil “ sein, oder zu einer „ verschwundenen Synagoge “ gehören, oder zu einem „ Galgen “ oder zu einem „ Kreuz “ , oder er könnte auch einfach nur Teil einer „ Kreuzung (von) Linien “ sein, z. B. eines Schriftzeichens und so fort. Gegenständlich, als „ Ding “ sieht erst recht der Holzschneider seine gekreuzten Balken, aber er sieht, gestaltet und druckt eben immer einen Aus- „ Schnitt “ , immer ein genau gesuchtes Holzbzw. Balken-Fragment - anders aber prinzipiell vergleichbar Brechts Balken, der immer „ zu kurz, zu lang “ ist. Brechts Balken nun ist aber auch „ zu dick, zu dünn “ . Das bedeutet, die fragmentarischgegenständliche Abstraktion ergänzend, eine konzeptionelle, sprachlichbegriffliche Abstraktion, die den „ Balken “ in ein System gegensätzlicher Attribute hinein stellt, ihn hier aber auch geradezu sichtbar zugleich auflöst. 11 Das kommt der unfassbaren Zeichenhaftigkeit des „ Balkens “ bei Aichinger erstaunlich nahe. Vergleichbar löst sich das „ Ding “ im Holzschnitt auf - abstrahierend wirkt hier der Schnitt, die Selektion der Drucktiefe, die Farbwahl beim Mehrfachdruck, die Anordnung der zwei Druckplatten - , das Holz- „ Ding “ löst sich auf in eine Konfiguration von Linien, Farben (im Original braun, grün und rot), Hell-Dunkel-Effekten und weißen Flächen; und all das konzentriert sich neu: Das Holz bzw. diese „ Balken “ erzählen von Baumstützen, die selbst „ abwesend “ sind, so wie Brecht von der „ abwesenden “ Nützlichkeit und Aichinger von der abwesenden Wahrheit der „ Balken “ erzählen. 8 Eugenio Coseriu, Thesen zum Thema ‚ Sprache und Dichtung ‘ . In: Wolf-Dieter Stempel (Hrsg.), Beiträge zur Textlinguistik. München 1971, S. 184 - 188, S. 184. 9 Ein Schlüsselbegriff der „ Postmoderne “ , insbesondere, wenn man sie als Fortsetzung und Radikalisierung der „ Moderne “ versteht, vgl. z. B. Peter V. Zima, Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik. Tübingen und Basel 1994, S. 34 ff. 10 „ Der Dichter [. . .] kommt an beim Unbekannten “ (Arthur Rimbaud, sog. Seherbrief, in: Walter Höllerer [Hrsg.], Theorien der modernen Lyrik. Reinbek 1965, S. 70). 11 Vgl. programmatisch z. B. Jacques Derrida, Die différance. In: Peter Engelmann (Hrsg.), Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Stuttgart 1990, S. 76 - 113. Außenansichten von Bert Brechts Lyrik 9 <?page no="10"?> Damit wächst die Polysemie, die „ offene “ und immer aus sich heraus „ erneute “ 12 Bedeutungsvielfalt dieser abstrakt aufgelösten „ Dinge “ und Zeichen, eine offene Vielfalt, die gleichwohl, und das scheint mir nun sehr wichtig, alles andere als beliebig ist. 13 Die Ding-Zeichen erzählen: von „ Welt “ , von „ Zeit “ , aber auch von Subjektivität. Bei Brecht ist der anschauliche Gegensatz von „ alt “ und „ jung “ , jetziger Schwäche und einstiger Stärke auf viele „ tragende “ Konstruktionen anwendbar: vital-subjektive, intellektuelle, gemeinschaftsbildende, auch politische. Sein lyrisches Oeuvre enthält viele „ Haus “ - und Architektur-Metaphern. Darauf wird hier immer wieder zurück zu kommen sein. Das ist von „ Schiff “ , „ Synagoge “ , „ Galgen “ oder „ Kreuz “ bei Aichinger nicht grundsätzlich verschieden. Auch die aus der Perspektive des „ dort am Hang “ Vorbeigehenden evozierte Situation, eine Situation der ruhelosen Reise, des Exils oder der verlorenen Zeit kann man mit Aichingers Gestus des immer weiter Suchens und Fragens verbinden. Das hat ja bei beiden Dichtern auch deutliche biographische Hintergründe. Mit anderen Worten, es geht in allen drei zunächst so fremd wirkenden Beispielen um Erfahrungen von Zeitlichkeit, die an den fragmentarischen und künstlerisch verfremdeten „ Balken “ -Zeichen sichtbar werden und die auch Sprecher (lyrisches Ich, Erzählerin) und Adressaten dieser Texte mit wachsender Intensität zu betreffen scheinen, zumindest betreffen können. Es ist klar, dass der Gedanke nutzlosen, einsamen Alterns bei Brecht das sehende und sprechende Subjekt des Gedichts beschäftigt, ja erschüttert. Aichingers Suche nach dem „ wahren “ Querbalken - zuletzt der Querbalken eines Kreuzes? - erinnert an eine Suche nach dem Gral oder dem Stein der Weisen oder einer anderen Wahrheit. Wird nicht aber gerade auch das auf- „ geschnittene “ Holz bei Bauschert, das ja ebenfalls an lebendige Baumstützen und noch radikaler eben an Bäume nur noch erinnern kann, zu einer Zeit-Signatur? Gerade die sinnliche Medialität des Holzes macht das in den Jahresringen anschaulich bezeugte, stetige Altern des Baumes, aber auch die Unregelmäßigkeiten der Maserung, deren Verschlingungen um die Astlöcher herum, die Zufälle der Überkreuzungen und nun eben auch der Ein- „ Schnitte “ zu Zeit- und Lebenslinien. Wie bei Brecht spricht die Zeitlichkeit der Holz-Balken von der Zeitlichkeit derer, die sie bearbeitet haben und derer, die sie betrachten. Wie auch immer, und es geht ja jetzt nur darum, einen methodischen Zugang plausibel zu machen: Die „ Außenansicht “ des Vergleichs von fern Liegendem kann nicht nur ganz einfach anregend sein, sie kann auch auf tiefere Gemeinsamkeiten moderner Ästhetik und Poetik hinweisen. Viele Stichworte sind ja bereits gefallen: Abstraktion, Verfremdung, Verwandlung der „ Dinge “ in Zeichen- und Wahrnehmungs-Konfigurationen, Chiffren, Semantik des 12 Paul Hoffmann, Das erneute Gedicht. Mit einem Vorwort von Uwe Kolbe, Frankfurt/ M. 2001. 13 Umberto Eco, Das offene Kunstwerk. Dt. von Günter Memmert, Frankfurt 1973. 10 Vorwort: „ Stehend an meinem Schreibpult “ <?page no="11"?> „ Abwesenden “ , Polysemie, um nur ein paar Schlüsselbegriffe zu nennen, - diese Texte und Bilder nehmen Teil an der „ entautomatisierenden “ , „ offenen “ , vieldeutigen, das „ Unbekannte “ suchenden Poetik der Moderne. 14 Geht es nicht in den drei Beispielen, so verschieden sie sein mögen, um das „ Unbekannte “ in der Subjektivität, in der Zeit oder in der Wahrheit? Dass gerade auch Brechts Lyrik von einer entschieden modernen Poetik ausgeht, wurde lange nicht gesehen, oft geradezu ausgeblendet. In Hugo Friedrichs Standardwerk Die Struktur der modernen Lyrik (1956), lange ja fast wie eine Art Bibel gelesen, kam Brecht nicht vor. Dann wollten umgekehrt in den 70er Jahren viele Studierende von solch einer „ Moderne “ , zu der Brecht nicht zu zählen schien, nichts wissen ( „ wem nützt eine Dichtung, die niemand versteht? “ ), und viele Brecht-Spezialisten wollten das auch nicht. Sofern dies einen Themenschwerpunkt der folgenden Aufsätze darstellt, kann es vielleicht immer noch als „ Außenansicht “ gelten. Exzentrisch wirkte es auf alle Fälle, ich erinnere mich noch lebhaft an die Reaktion, bzw. Nicht-Reaktion der Hörer, als ich mich im Rahmen einer Ringvorlesung zu Bert Brecht - das wurde und wird in Augsburg ganz einfach erwartet - in Konkurrenz zu vielen Beiträgen zum Theater als einziger mit Lyrik beschäftigte, noch dazu nicht mit der viel gesungenen provozierenden und frechen oder der eindeutig parteiischen, sondern mit einer eher nachdenklichen, zweifelnden, ja leisen Lyrik, für die in der Tat das Motto sprach: Warum soll mein Name genannt werden? Aber die Entscheidung für diese Lyrik, bei der ich für alle weiteren „ Aufträge “ blieb, war eine glückliche Entscheidung; und die anfängliche Pflicht - ich gebe es zu - wurde (Spaß wäre zu wenig) zur Freude und wurde auf alle Fälle zu einem anhaltenden Interesse. Insbesondere die Freude an der „ späten “ Lyrik, wie etwa an den Buckower Elegien war wesentlich an den Themen dieser Brecht-Vorträge beteiligt und bildet jetzt einen weiteren durchgehenden Zusammenhang dieser Sammlung. Ein wenig prägte ein gewisser „ Außen “ -Aspekt wohl auch mein methodisches Herangehen. „ Außenansichten “ wäre vielleicht gar keine so schlechte Übersetzung für „ Skepsis “ : etwas sorgfältig von vielen Seiten „ ansehen “ und es vor allem nicht im Sinne fester „ dogmatischer “ Meinungen begreifen. Die moderne Literaturtheorie, indem sie davon ausgeht, jedes Wort, jedes Zeichen könnte auch „ anders “ sein und wird erst von „ anderem “ her bedeutsam, steht sicher in der sehr alten und immer wieder neuen Tradition der Skepsis. Wie auch immer: Es geht im Folgenden um Zuordnungen der Lyrik Brechts 15 zu fremden, auf alle Fälle „ äußeren “ Kontexten, wie etwa europäischem Sym- 14 Vgl. dazu auch unten Kap. 4: „ Ach, wie solln wir nun die kleine Rose buchen? “ Bert Brechts Lyrik und die Tradition der Moderne. 15 Nicht um „ Vereinnahmung “ , vor der Klaus-Detlef Müller (Bertolt Brecht. Epoche - Werk - Wirkung. München 2009, S. 187) zu Recht warnt. Außenansichten von Bert Brechts Lyrik 11 <?page no="12"?> bolismus, Imagismus, Hermetismus usw., zu fremden Kontexten wie „ polyhistorischem “ Roman, oder zu Medien wie Film und Rundfunk, dann zu Zeichentheorie, formaler Aussagenlogik, Argumentationstheorie, oder etwa auch zu so etwas ganz „ Unangemessenem “ wie Werbung. Und machen wir uns nichts vor, jede Methode entwirft, zumindest ein Stück weit, auch ihren Gegenstand. So wird in diesen Vorträgen und Aufsätzen ganz bewusst nicht nach dem „ ganzen “ oder dem „ eigentlichen “ Brecht gefragt. Es ist durchaus der „ skeptische “ , nachdenkliche, auch der selbstkritische, auf alle Fälle der antidogmatische Lyriker Bert Brecht, der im Folgenden im Mittelpunkt des Interesses steht, damit auch der Dichter, wie er eigentlich vor allem erst durch die Publikation des Nachlasses bekannt wurde. Auch die Konzentration auf den lyrischen Nachlass Brechts hat ja vielleicht etwas von einer „ Außenansicht “ . 16 Brechts Gedichte jedenfalls halten solche methodischen und vergleichenden, skeptischen Konfrontationen, eben „ Außenansichten “ nicht nur aus, unser Verständnis seiner Lyrik, davon bin ich überzeugt, könnte dabei gewinnen. Insbesondere kommt man so immer wieder - und auch das zieht sich wie ein roter Faden durch die folgenden Aufsätze - zurück auf den gerade für Brecht so wichtigen Zusammenhang von Kreativität, freier, grenzenlos freier ästhetischer Kreativität und niemals ganz vergessenem oder gar aufgegebenem, kritisch denkendem politisch-gesellschaftlichem Engagement. „ Stehend an (s)einem Schreibpult “ sieht der Dichter, bewusst abstrahierend, ein freies, offenes, vieldeutiges Zeichen: „ etwas Rotes und etwas Schwarzes “ . Aber bedeutsam wird diese plötzliche ästhetische Distanz für ihn genau und nur im Zusammenhang mit dem zeitkritischen Titel des Gedichts: Schwierige Zeiten. Wie Brecht an seinem Schreibpult denke auch ich gern an Augsburg zurück. Mein Dank gilt allen, die diese Arbeit begleitet und mein Interesse geteilt haben: neben denen, denen einzelne Aufsätze gewidmet sind, meinem unvergessenen Lehrer Paul Hoffmann sowie den Kollegen Henning Krauß und Severin Müller, dann vor allem Helmut Koopmann, Theo Stammen, Joseph Becker, Erich Köhler, Klaus-Detlef Müller, Bernadette Malinowski, Werner Frick, Fabian Lampart. Zu einzelnen Fragen halfen mir Laura Gieser, Isabel Kranz, Alexa Eberle und Christian Gerlinger. Die ersten Manuskripte betreute Sonja Deck. Auch ihnen allen mein Dank! Und danken möchte ich wieder einmal den Damen und Herren des Francke-Verlags für ihre Geduld und ihre kompetente Hilfe. 16 Jedenfalls stehen im Standardwerk der Brechtforschung: Jan Knopf (Hrsg.), Brecht-Handbuch. Bd. 2: Gedichte. Stuttgart und Weimar 2001, weit überwiegend die Gedichte der Sammlungen im Vordergrund, die, ausgenommen die Buckower Elegien, sozusagen „ offiziell “ veröffentlicht wurden. 12 Vorwort: „ Stehend an meinem Schreibpult “ <?page no="13"?> 2 „ Warum soll mein Name genannt werden? “ Ein lyrisch-politisches Programm im Exil Das im Januar 1936 auf einer Seereise von New York nach Southampton entstandene Gedicht (vgl. 14.621/ 622), 1 dessen letzte Strophe die „ kleine “ Gesamtausgabe zur Überschrift machte, 2 und so haben viele es erstmals kennen gelernt, gehört zu den Brecht-Gedichten, zu denen man immer wieder zurückkehrt. In vielem ist es so dem Gedicht Der Radwechsel (von 1954, 296/ 12.310) vergleichbar. 3 Hier wie dort geht es um eine persönliche wie gesellschaftliche Zeit-Krise, die prinzipiell, ja philosophisch-lyrisch beantwortet wird. Auf alle Fälle kann wohl gelten: Wenn Brecht so deutliche klassische Bezüge herstellt wie in diesen Gedichten - dazu gleich - , dann ist ein konkreter, aktueller Anlass dahinter zu vermuten. 4 Es geht, einer in der Exilliteratur häufigen Tendenz folgend, gerade dann, wenn sie sich klassizistisch gibt - noch und gerade auch die Buckower Elegien bleiben ja letztlich „ ein Alterswerk des Exils “ - , 5 es geht nicht um Verallgemeinerung, sondern um prüfende „ Authentizität “ . 6 Das heißt: Traditionelle Denkweisen können gegenüber dieser Gegenwart lediglich die Funktion von Hypothesen oder Fragen beanspruchen, wie allgemein immer sie formuliert sein mögen, und der Sprecher, das „ lyrische Ich, “ 7 versteht sich als einer, der die eigene Position neu durchdenken muss: 8 1 Zur Zitierweise im Text vgl. oben Kap. 1, Anm. 2. 2 Bertolt Brecht, Gesammelte Werke in 20 Bänden. Hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann, Frankfurt/ M. 1967, Bd. 9, S. 561/ 562. 3 Vgl. dazu unten Kap. 8 „ Warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld? “ Zur Kontinuität der Argumentation in Bert Brechts „ Buckower Elegien “ . 4 Hans Mayer, Brecht in der Geschichte. Frankfurt/ M. 1971, S. 7 ff. 5 Helmut Koopmann, Brechts „ Buckower Elegien “ - ein Alterswerk des Exils? In: Hans-Jörg Knobloch/ Helmut Koopmann (Hrsg.), Hundert Jahre Brecht - Brechts Jahrhundert? Tübingen 1998, S. 113 - 134. 6 Werner Vortriede, Vorläufige Gedanken zu einer Typologie der Exilliteratur In: Akzente 15 (1968), S. 556. 7 Zu dieser, gerade für Brechts oft „ rollenhaft “ verfassten Lyrik so wichtigen Kategorie vgl. überzeugend Sandra Schwarz, Stimmen - Theorien lyrischen Sprechens. In: Verf./ Hubert Zapf (Hrsg.), Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Bd. 3, Tübingen und Basel 2007, S. 91 ff. 8 „ Brecht verhält sich zur Tradition, bei aller Dialektik der Aufhebung, als einer, der zu lernen gedenkt, da er lehren will. Aus der Tradition soll gelernt werden, da es gilt, Tradition zu begründen. “ Hans Mayer, Brecht in der Geschichte, S. 14. <?page no="14"?> Warum soll mein Name genannt werden? 1 Einst dachte ich: in fernen Zeiten Wenn die Häuser zerfallen sind, in denen ich wohne Und die Schiffe verfault, auf denen ich fuhr Wird mein Name noch genannt werden Mit andren. 2 Weil ich das Nützliche rühmte, das Zu meinen Zeiten für unedel galt Weil ich die Religionen bekämpfte Weil ich gegen die Unterdrückung kämpfte oder aus einem anderen Grund. 3 Weil ich für die Menschen war und Ihnen alles überantwortete, sie so ehrend Weil ich Verse schrieb und die Sprache bereicherte Weil ich das praktische Verhalten lehrte oder Aus irgendeinem anderen Grund. 4 Deshalb meinte ich, wird mein Name noch genannt Werden, auf einem Stein Wird mein Name stehen, aus den Büchern Wird er in die neuen Bücher abgedruckt werden. 5 Aber heute Bin ich einverstanden, daß er vergessen wird. Warum Soll man nach dem Bäcker fragen, wenn genügend Brot da ist? Warum Soll der Schnee gerühmt werden, der geschmolzen ist Wenn neue Schneefälle bevorstehen? Warum Soll es eine Vergangenheit geben, wenn es eine Zukunft gibt? 6 Warum Soll mein Name genannt werden? (835/ 836/ 14.320/ 321) 14 „ Warum soll mein Name genannt werden? “ <?page no="15"?> Die Kommentare weisen zu Recht auf Horaz hin. 9 Von seinem „ exegi monumentum aere perennius “ , dem Anspruch, mit seinem Werk „ ein Denkmal errichtet zu haben, dauerhafter als Erz “ , 10 scheint Brecht sich deutlich abgrenzen zu wollen. Im positiven Sinn dagegen sind offensichtlich zwei weitere Folien hier erkennbar: zum einen eine breit belegte barocke, und nicht zuletzt durch Walter Benjamin wiederbelebte Bild-Tradition, zu der Brecht vielerlei Verbindungen unterhält, und dann der ihm gerade in der Zeit des Exils nicht minder geistesverwandte Heine. Schon die ganze Eingangstimmung des Gedichts von beschleunigter Zeit, Vergänglichkeit und Eitelkeit menschlichen Lebens hat etwas bewusst Barockes; in diesen Kontext gehört auch das alte Bild von der Seefahrt als Lebensreise und zugleich, beides ist hier relevant, als Bild der Rede bzw. der Dichtung. 11 Das ausgesprochen heilsgeschichtliche Interesse dieses mittelalterlich-barocken Bildes scheint Brecht auf seine Weise völlig ernst zu nehmen: Wie verhält sich ein politisch aktiver und künstlerisch produktiver Einzelner gegenüber der gewussten (oder nur geglaubten? ) Totalität des Geschichtsprozesses? Diesem Verfahren, sich von der Tradition her und gegen sie zu definieren, entspricht die analoge Verwendung des „ Haus “ -Motivs. In der Bibel, deren Sprache und Bilder Brecht ja bekanntlich ständig präsent hat, ist das Haus häufig eine Figur der Wahrheit: ein „ geistiges Haus “ . Als „ aedificatio/ Erbauung “ , wird seit dem Mittelalter in der Theologie und in der ihr benachbarten Rhetorik ein Teil bzw. eine Stufe der Schriftauslegung bezeichnet. 12 Auch Brechts Freund Walter Benjamin weist wiederholt auf den traditionellen Zusammenhang von Ruinen-Bild, um das es sich hier ja handelt, und, freilich oft negativer, ja aggressiv gebrauchter transzendenter Wahrheit hin, sowohl in seinem Buch über das barocke Trauerspiel, 13 als auch zum 9 Vgl. z. B. 14. 621 ff., oder, ein Beispiel für viele, Edgar Marsch, Brecht-Kommentar zum lyrischen Werk. München 1874, S. 241; Marion Lausberg, Brechts Lyrik und die Antike. In: Helmut Koopmann (Hrsg.), Brechts Lyrik - neue Deutungen. Würzburg 1999, S. 163 - 198, S. 190 f. 10 Horaz, Sämtliche Werke. Lateinisch und deutsch. Hrsg. von Hans Färber, München 1967, S. 176 (Carmina III. 30). 11 Zum Bild der Seefahrt in der Barocklyrik vgl. z. B. Martin Opitz: Trostgedichte (1621), Paul Fleming: S. Augustinus sein Inter brachia Salvatoris mei, Andreas Gryphius: Andencken eines auf der See ausgestandenen gefährlichen Sturmes (1638), und: An die Welt (1643), Catharina-Regina von Greiffenberg: Auf meinen bestürmten Lebenslauf (1662) und viele andere Gedichte. 12 Vgl. z. B. Reinhard Herzog, Exegese - Erbauung - Delectatio. Beiträge zu einer christlichen Poetik der Spätantike. In: Walter Haug (Hrsg.), Formen und Funktionen der Allegorie. Stuttgart 1980, S. 52 - 69. 13 „ Allegorien sind im Reiche der Gedanken, was Ruinen im Reiche der Dinge. “ Walter Benjamin, Der Ursprung des deutschen Trauerspiels. Frankfurt/ M. 1963, S. 197. Ein lyrisch-politisches Programm im Exil 15 <?page no="16"?> Beispiel anlässlich Baudelaires. 14 In dessen berühmtem Gedicht Le Cygne/ Der Schwan (1849) ist übrigens der Zusammenhang von „ Haus/ Ruine “ und „ Seefahrt “ erneut weltliterarisch festgehalten. 15 Benjamin hat dieses Gedicht übersetzt. Hier ist ja auch vom Thema des Exils, nämlich von den „ exilés, ridicule et sublime/ Exilierten, lächerlich und erhaben “ die Rede ( „ so lächerlich groß [. . .] verzehren sich Verbannte “ , übersetzt Benjamin), 16 an die der Anblick der abgebrochenen und neu errichteten Bauten in Paris erinnert. Und bedeutsam ist dann vielleicht auch, gerade im Hinblick auf Brecht, das berühmte Programm Baudelaires aus demselben Gedicht Le Cygne: „ Tout pour moi devient allégorie/ Alles wird für mich zur Allegorie “ . Nicht freilich, dass es hier so sehr auf einen kryptischen, allegorischen, „ geistigen “ Sinn von „ Haus “ und „ Schiff “ ankäme, er liegt ohnehin klar zutage. Von größter, modellhafter Bedeutung ist vielmehr die allegorische, den Augenschein, die wörtliche Bedeutung und die Erfahrung umkehrende Argumentation, die „ logizistische [. . .] Antinomie des Allegorischen “ : 17 für das Barock, für Baudelaire, für Benjamin und deutlich auch für Brecht. Brecht hat seit langem seine persönliche und ideologische Position, ganz traditionell-rhetorisch den status seiner Lebensgestaltung und dichterischen Arbeit, unter den komplementären Bildern von „ Haus “ und „ Schiff “ reflektiert. Das kann hier nicht detailliert nachgezeichnet und wesentlich nur genannt werden. 18 In dem Lied Blasphemie aus Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (1928/ 1929) stehen zum Beispiel die Zeilen: Willst du wohnen in einem Haus Gehe in ein Haus [. . .] Wenn das Dach durchbricht, gehe weg! Du darfst es! Wenn es einen Gedanken gibt Den du nicht kennst 14 „ Die Allegorie Baudelaires trägt - im Gegensatz zur barocken - die Spuren des Ingrimms, welcher vonnöten war, um in diese Welt einzubrechen, ihre harmonischen Gebilde in Tümmer zu legen “ , und: „ Die allegorische Anschauung “ hat eine „ destruktive Tendenz “ , ihr eignet „ die Betonung des Bruchstückhaften. “ Walter Benjamin, Charles Baudelaire. Frankfurt/ M. 1974, S. 167 und 186. 15 Charles Baudelaire, Oeuvres complètes. Ed. de la Pléiade, hrsg. Von C. Pichois, Paris 1975, Bd. 1, S. 85 ff. 16 Charles Baudelaire, Ausgewählte Gedichte. Deutsche Übertragung von Walter Benjamin, Frankfurt/ M. 1979, S. 34 ff. 17 Walter Benjamin, Der Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 177 und 193; vgl. zu diesem wesentlichen „ Bruch “ in der Argumentation z. B. auch Gerhard Kurz, Zu einer Hermeneutik der literarischen Allegorie. In Walter Haug (Hrsg.), Formen und Funktionen der Allegorie, S. 12 ff., sowie ders., Metapher, Allegorie, Symbol. Göttingen 1982, S. 27 ff., v. a. S. 37. 18 Vgl. dazu ausführlicher als Beispiel für „ Brechts Weg zur Chiffre “ unten Kap. 3 „ Sieh den Balken dort! “ Zur Sinnlichkeit der Chiffre in Bert Brechts Lyrik. 16 „ Warum soll mein Name genannt werden? “ <?page no="17"?> Denke den Gedanken. Kostet er dich Geld, Verlangt er dein Haus Denke ihn, denke ihn. Du darfst es! [. . .] Für die Zukunft der Menschheit Zu deinem eigenen Wohlbefinden Darfst du. (136/ 11.172) Man sieht, wie hier im Grunde alle traditionellen Elemente, „ Ruinen-Denken “ , „ heilsgeschichtliche Perspektive “ , ja „ Haus der Wahrheit “ , bereits versammelt sind. Aber es muss das Exil gewesen sein, das diese Elemente zu quasi-allegorischer Präzision verdichtete. 19 Und das Gedicht Zeit meines Reichtums (1934; 804/ 14.278) scheint genau diesen Bedeutungs-Wechsel zu markieren. Es hält fest, wie Brecht sein nur sieben Wochen bewohntes Haus in Utting am Ammersee verlassen musste. In seinem Tagebuch beschreibt Brecht fast nur den neuen großen Garten. 20 Im Gedicht dagegen steht vor allem die Gediegenheit des Hauses im Mittelpunkt. Erst das Exil und die übertragene „ geistige “ Bedeutung scheinen dem „ Haus “ Interesse zu verleihen. Noch deutlicher in diesem Sinne lesen lässt sich der Schluss des Gedichtes Ich habe lange die Wahrheit gesucht (um 1933): „ Als ich über die Grenze fuhr, dachte ich: / Mehr als mein Haus brauche ich die Wahrheit [. . .] Und seitdem ist die Wahrheit für mich wie ein Haus “ - allerdings ein Haus, beweglich, auf Widerruf und vom Verlust bedroht - „ ist die Wahrheit für mich wie ein Haus und ein Wagen. / Und man hat sie genommen “ (739/ 14.192, Hervorhebung von mir). Es scheint also gerade der Gedanke beweglicher, unruhiger, problematischer und distanzierter Identifikation mit ideologischen Wahrheiten zu sein, der dominiert in der Parallelsetzung von „ Haus (der Wahrheit) “ und „ Schiff (eigener dichterischer Praxis) “ - die Allegorie, die sich noch weiter bestätigen wird, vorerst einmal angenommen - am Anfang von Warum soll mein Name genannt werden. Wie präzise nun auch Letzteres, also das „ Schiff “ -Motiv so zu lesen ist, zeigt zum Beispiel das spätere, 1941 entstandene Gedicht auf den Freitod des Allegorie-Theoretikers Walter Benjamin Die Verlustliste, das beginnt: „ Flüchtend vom sinkenden Schiff, besteigend ein sinkendes / - Noch ist in Sicht kein neues [. . .] “ (982/ 14.43). Und wie eine barocke emblematische 19 Vgl. zum allgemeinen Kontext z. B. Reinhold Jaretzky, Bertolt Brecht. Reinbek 2006, S. 79 ff. oder Klaus-Detlef Müller, Bertolt Brecht. Epoche - Werk - Wirkung. München 2009, S. 21 f. und S. 175 ff. 20 Bertolt Brecht, Tagebücher 1920 - 1922. Autobiographische Aufzeichnungen 1920 - 1954. Hrsg. von Herta Ramthun, Frankfurt/ M. 1975, S. 218. Ein lyrisch-politisches Programm im Exil 17 <?page no="18"?> Verbildlichung dieser hier skizzierten Bedeutungen erscheint es, wenn Brecht sein erstes Haus im Exil bei Svendborg, auf dessen Dach ein Schiffsruder angebracht war, mit der inscriptio versieht: „ Die Wahrheit ist konkret “ . (Er malte den Satz auf einen Querbalken des Hauses.) Gerade in der konkreten Wahrheit ist man, wie auf einem fahrenden und schwimmenden Haus - das wäre die emblematische pictura, und die Lyrik, bzw. die literarische Arbeit des Exils als solche könnte dann die erläuternde subscriptio abgeben -, 21 in einem so beschriebenen „ Haus-Boot der Wahrheit “ ist man nur problematisch, auf alle Fälle aber beweglich zu Haus. In diesem Sinne endet zum Beispiel das Motto- Gedicht der Steffinschen Sammlung (1937 - 1940) mit den Versen: „ Dem gleich ich, der den Backstein mit sich trug/ Der Welt zu zeigen, wie sein Haus aussah “ (270/ 12.95). Dass Brecht sich und andere fragt: „ Warum soll mein Name genannt werden? “ , unterstreicht die bisherigen Beobachtungen. Deutlich ist zumindest ein weiteres für das Exil bezeichnendes Motiv erkennbar, dessen Tradition z. B. an den exilierten Dichter-Kollegen Heinrich Heine denken lässt: „ Ich bin ein deutscher Dichter / Bekannt im deutschen Land; / Nennt man die besten Namen / So wird auch der meine genannt “ , um nur einen Beleg zu zitieren. 22 Spricht aus diesen Versen Heines der Stolz des Exils, so zeigt der Schluss desselben Gedichtes dessen Fragwürdigkeit und bittere Voraussetzung: „ Und was mir fehlt [. . .], / Fehlt manchem im deutschen Land; / Nennt man die schlimmsten Schmerzen, / So wird auch der meine genannt! “ . Ja, auch der prinzipielle Selbstzweifel ist, und deutlich an Brecht erinnernd, bei Heine vorgebildet, wenn es heißt: „ Wer weiß? Die Nachwelt wird vielleicht / Halt gar nichts von mir sagen “ . 23 Das Gedicht Besuch bei den verbannten Dichtern (227/ 12.35/ 36), aus der Sammlung Svendborger Gedichte, nahezu gleichzeitig entstanden mit Warum soll mein Name genannt werden, zeigt die Genauigkeit dieser Zusammenhänge. Dafür spricht zum Beispiel auch Im zweiten Jahre meiner Flucht (1935), das sich mit dem Verlust der deutschen Staatsbürgerschaft beschäftigt: „ Als ich meinen Namen las neben vielen andern / Guten und schlechten. / Das Los der Geflohenen schien mir nicht schlimmer als das / Der Gebliebenen “ (810/ 14.289). Und noch im Exil in den USA, den USA der McCarthy-Ära, scheint sich Brecht im Sonett in der Emigration (1941) an Heine zu erinnern: „ [. . .] Spell your name / Auch dieser ‚ name ‘ gehörte zu den großen! / Ich muß noch froh sein, wenn sie ihn nicht kennen / Wie einer, hinter dem ein Steckbrief läuft / Sie würden kaum auf meine Dienste brennen “ (987/ 15.48). 21 Dazu, dass solch ein barockes Schema für Brecht nicht abwegig ist, vgl. z. B. exemplarisch Reinhold Grimm, Marxistische Emblematik. In: Renate von Heydebrandt und Klaus G. Just (Hrsg.), Wissenschaft als Dialog. Stuttgart 1969, S. 364 ff. 22 Heinrich Heine, Sämtliche Schriften. Hrsg. von Klaus Briegleb, München 1976, Bd. 1, S. 115. 23 Heinrich Heine, Sämtliche Schriften, Bd. 11, S. 115. 18 „ Warum soll mein Name genannt werden? “ <?page no="19"?> Aber, und das ist doch bemerkenswert, auch den Dissens zu seinen eigenen Freunden, Schicksals- und Gesinnungsgenossen spricht Brecht fast mit denselben Wendungen an, mit denen er sich von Nazi-Deutschland und den USA abgegrenzt hatte: Die ich schicke, werden mit Verachtung behandelt Sie kehren zurück zu mir und sagen: Man scheint Dich dort nicht zu kennen. Von Leuten meines Faches (in dem ich ein Weiser bin) Werde ich aufgefordert Meinen Namen zu buchstabieren. Aber die Polizei Kennt mich. (249/ 14.248) Dieses erstmals im Supplement der (kleinen) Werkausgabe enthaltene Gedicht 24 bezieht sich recht eindeutig auf Brechts linke und vor allem stalinistische „ Freunde “ bzw. Konkurrenten. Zu solcher Verbitterung hatte er damals durchaus Anlass, und zwar in einer über die allgemeinen Zwänge, Behinderungen und Isolationen des Exils hinausgehenden Weise. 25 Die Uneinigkeit der Schriftsteller hatte sich gerade auf dem Kongress von 1935 in Paris wieder gezeigt; der Versuch, Die Mutter in New York zu inszenieren - „ nur nichts zu tun haben mit den sogenannten linken Theatern “ , schreibt Brecht 26 - , hatte tiefe Missverständnisse gerade bei den Freunden offen gelegt; die Begleitumstände bei der Publikation des Dreigroschenromans hatten Brecht geradezu verletzt; am tiefsten aber ging in diesen Jahren der fast unüberbrückbare Dissens zur offiziellen Kunstauffassung der kommunistischen Partei. Alfred Kantorowicz hatte in Unsere Zeit Brechts Dreigroschenroman gleichsam im offiziellen Auftrag als „ idealistisch “ und „ bürgerlich dekadent “ abgelehnt. 27 Die so genannte „ Expressionismusdebatte “ in der Zeitschrift Das Wort 28 zeigte zentrale, tiefgehende Widersprüche auf, insbesondere zwischen den Auffassungen von Georg Lukács und denen von Brecht. Die vielen Aufzeichnungen, die Brecht sich dazu gemacht hat, aber auch seine Gespräche mit Walter 24 Vgl. Bertolt Brecht, Supplementbände zur Werkausgabe. Bd. 4, Gedichte aus dem Nachlaß. Hrsg. von Herta Ramthun, Frankfurt/ M. 1982, S. 296. 25 Brechts Briefe aus dem Exil sprechen immer wieder von „ Gegeneinanderarbeiten, Mißtrauen, Skepsis oder Illusionen “ . Bert Brecht, Briefe. Hrsg. von Günter Glaeser, Frankfurt/ M. 1981, Bd. 1, S. 164; vgl. z. B. auch S. 189 ff., 213 ff., 253 ff. oder 291, wo Brecht sich beklagt, „ daß unsere Leute öffentlich [. . .] gute Miene machten, aber intern böses Spiel trieben “ . Zu Brechts Isolation allgemein in dieser Zeit vgl. z. B. Alexander Stephan, Die deutsche Exilliteratur 1933 - 1945. München 1979, S. 163 ff. 26 Bertolt Brecht, Briefe, Bd. 1, S. 278. 27 Zu Brechts Verärgerung darüber vgl. ebd. S. 231 ff. 28 Bequem nachzulesen in Hans-Jürgen Schmitt (Hrsg.), Die Expressionismusdebatte. Materialien zu einer marxistischen Realismuskonzeption. Frankfurt/ M. 1973. Ein lyrisch-politisches Programm im Exil 19 <?page no="20"?> Benjamin lassen erkennen, dass Brecht darin mehr sah, als nur ein literarischtechnisches Problem. So sagt Brecht, „ daß die, welche die theoretischen Lehren von Marx sich zu eigen gemacht und in Behandlung genommen haben “ , heute „ eine pfäffische Kamarilla bilden “ , Lukács und die seinen seien „ Feinde der Produktion “ , „ die Bekämpfung der Ideologie ist zu einer neuen Ideologie geworden “ . 29 Und in diesem Zusammenhang spricht Brecht dann auch seine bekannte Verurteilung des Stalinismus an, als „ Diktatur über das Proletariat “ , die man „ eines Tages [werde] bekämpfen “ müssen: „ Es wird schon als Vorsatz ausgelegt, wenn in einem Gedicht der Name Stalin nicht vorkommt. “ 30 Warum sollte vor diesem Hintergrund Brechts eigener, von allen Seiten immer wieder so feindselig buchstabierter Name - Lukács sprach von „ gewissen Stücken Brechts “ und „ den Eislers “ - , warum sollte dieser Name genannt werden? Man sieht, wie die Anfangsverse des Gedichtes in diesem Kontext immer bitterer und skeptischer werden. Hinter den barocken Bildern der Vergänglichkeit und Vergeblichkeit allen menschlichen Tuns (vanitas) wird eine ganz aktuelle Situation sichtbar, und der ebenfalls traditionellen allegorischen Doppelbödigkeit des Sehens und Sprechens folgt ganz konkret nicht nur eine materielle, sondern eine „ geistige “ bzw. ideologische Umkehr: Die so genannten Wahrheiten werden eng und drückend wie die bürgerlichen Häuser in der frühen Lyrik, oder sie zerbröckeln und zerfallen. Und die Praxis der dichterischen Arbeit wird wie ein hin und her treibendes Schiff in der barocken, aber z. B. auch in der symbolistischen oder expressionistischen Lyrik, nicht zuletzt der von Brecht selbst, 31 orientierungslos, ihre Geltung fragwürdig und ihre Wirkung zweifelhaft. Freilich, auch das zeigt gerade der Rückblick auf die Tradition, dies sind trotz aller realen, historischen und biographischen Anlässe vor allem in Szene gesetzte, es sind modellhaft und als Rolle durchgespielte Zweifel. Auf dieselbe Weise spielt Brecht auch eine quasi-heilsgeschichtliche Zukunftsgewissheit marxistischer Geschichtstheorie hier durch, und zwar bemerkenswerter Weise, indem er eine der barocken Argumentationsstruktur vergleichbare Umkehr der Begründungsverhältnisse einführt. Es scheint nämlich nur so, als würde Brecht in diesem Gedicht plädieren für eine „ Selbstaufhebung der Dichtung “ in einem Gesamtprozess geschichtlich-gesellschaftlicher Entwicklung. 32 Das Scheinargument ist schnell formuliert: Wenn die klassenlose Gesellschaft als unmittelbare Befriedigung aller materiellen und geistigen Bedürfnisse - selbst der Schnee 29 Walter Benjamin, Versuche über Brecht. Hrsg. von R. Tiedemann, Frankfurt/ M.. 3. Aufl. 1971, S. 128, 132, 133. 30 Ebd. S. 129, 131, 135. Zu Brecht und Stalin vgl. auch unten Kap. 8 „ Warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld? “ Zur Kontinuität der Argumentation in Bert Brechts „ Buckower Elegien “ . 31 Zu Beispielen vgl. unten Kap. 3 „ Sieh den Balken dort! “ Zur Sinnlichkeit der Chiffre in Bert Brechts Lyrik. 32 Jan Knopf, Brecht-Handbuch. Lyrik, Prosa, Schriften. Stuttgart 1984, S. 90. 20 „ Warum soll mein Name genannt werden? “ <?page no="21"?> macht dann nur noch Freude, mit Kälte und Arbeitslosigkeit hat er nichts mehr zu tun - , wenn die „ wirkliche Geschichte “ an die Stelle der „ Vorgeschichte der Menschheit “ getreten sein wird, dann ist jede individuelle Arbeit in ihr „ aufgehoben “ : negiert und bewahrt zugleich. „ Warum soll es eine Vergangenheit geben/ Wenn es eine Zukunft gibt? “ - eine Zukunft im Sinne der gewussten und als richtig erkannten historischen Totalität. Aber das sieht nur so aus: Die elementare Künstler-Sorge des Vertriebenen, mitsamt seinem Werk vergessen zu werden, weicht dem Einverständnis mit einem Prozeß unaufhörlichen Wandels, dem gerade die bedeutenden literarischen Produkte Vorschub leisten, so sich gleichsam selbst überflüssig machend. 33 Das ist sicher richtig, aber es sagt noch nicht genug. Denn es sind die inneren Widersprüche in diesem „ Prozeß unaufhörlichen Wandels “ , es ist die jetzt gerade aufbrechende kritisch-selbstkritische Reflexion, die Brecht lyrisch inszeniert. Die kritische Reflexion intensiviert sich in dem Maße, in dem die aktuelle Situation des Exils die Sorge des Vergessen-Werdens verschärft hatte. Brechts Gedicht reproduziert die Überzeugung eines selbstevidenten „ Siegs “ des Kommunismus nur - es geht ja nicht um irgendeinen „ unaufhörlichen Wandel “ - , um diese Sicherheit zu destruieren. Und zwar lässt sich Brechts ganze, gezielte lyrische Selbsthinterfragung, wenn ich so sagen darf, gerade an der Brecht-Lukács-Kontroverse veranschaulichen. Was Brecht immer wieder in Frage stellt, in der Kunsttheorie wie in der Politik, ist die Auffassung, dass man den historischen Materialismus - an der Methode politischer Ökonomie hält Brecht zeitlebens fest - als eine Gesamtwahrheit handhabt, die man besitzt und anwendet, als eine geschlossene Konstruktion sozusagen, - oder, und in der Chiffrensprache Brechts gesprochen, eben als ein „ Haus “ . Hier liegt der entscheidende Punkt seines Widerspruchs zu Lukács und dessen Totalitäts-Forderungen für die Literatur. Denn diese haben in Lukács ’ Begriff einer „ historischen Totalität “ ihre Wurzel. Wie ein roter Faden zieht sich durch Lukács ’ klassische Sammlung von Programmschriften der 20er Jahre Geschichte und Klassenbewußtsein der Gedanke, dass ein „ orthodoxer Marxismus “ Geschichte immer als ein „ Gesamtsystem “ und eine „ zusammenhängende Einheit “ zu sehen habe. Es geht um „ die methodische Herrschaft der Totalität über die einzelnen Momente “ . „ Das geschichtliche Werden hebt [. . .] die Selbständigkeit der Momente auf “ , es zwingt die Erkenntnis, „ kein solches Element in seiner bloßen konkreten Einmaligkeit beharren zu lassen, sondern weist ihm als methodischen Ort der Begreifbarkeit die konkrete Totalität der geschichtlichen Welt, den konkreten und totalen Geschichtsprozeß selbst zu “ . 33 Franz Norbert Mennemeier, Bertolt Brechts Lyrik. Düsseldorf 1982, S. 177. Ein lyrisch-politisches Programm im Exil 21 <?page no="22"?> Nicht auf „ schöne, aber abstrakte und leere Perspektiven “ kommt es an, sondern auf „ die klare und bewußte gedankliche Vorwegnahme des richtig erkannten Entwicklungssprozesses “ . 34 Es ist gerade diese Form historischer Totalität, die das Gedicht in der Weise des Redens über Zukunft und des Rechnens mit ihr ganz wörtlich ad absurdum führt. Um das zu sehen, ist eine grammatisch-logische Sicht nötig, die „ gläubige “ Brecht-Leser vielleicht geradezu als eine ganz „ äußerliche “ Perspektive ( „ wozu das alles? “ fragten seinerzeit meine Hörer) 35 empfinden mögen. Man muss auf das Gefüge der temporalen, kausalen und konditionalen Sätze achten, auf die „ Wenn-Dann “ -Sätze, in denen das Scheinargument der eventuell ersten Lektüre zusammenbricht. (Und Brecht hielt sehr viel vom „ Zerpflücken von Gedichten “ und von „ Lyrik und Logik “ ). 36 Die beiden Teile des Gedichts nämlich lassen sich im Prinzip ihrer Argumentation auf zwei einander widersprechende Konditionalsätze zurückführen, die einen Temporalsatz ablösen: Das temporale „ Wenn “ in der zweiten Zeile der ersten Strophe führt eine Zeitperspektive ein, die, von Zeile 6 an durch ein Kausalverhältnis erweitert, nur dann zu halten ist, wenn ihr eine Gesetzmäßigkeit unterlegt wird. Diese aber kann nur als ein „ iterativer “ , also immer weiter fortgesetzter Konditionalsatz formuliert werden. Das temporale wird unter der Hand zu einem konditionalen „ Wenn “ . Das heißt dann ausformuliert: „ Wenn wir politisch-progressiv arbeiten, dann wird die Revolution siegen, und wenn sie siegt, werden wir geehrt werden “ . Und das mit Zeile 22 einsetzende Argument scheint genau daran anzuschließen: „ Wenn die Revolution gesiegt hat und die klassenlose Gesellschaft da ist, dann kann mein Name auch vergessen werden “ . Aber so wie beim temporal-konditionalen Wechsel im ersten Teil des Gedichts findet jetzt ein weiterer Bedeutungs-Wechsel, ein Wechsel verschiedener Konditional-Konstruktionen statt. Denn logisch gesehen argumentiert Brecht auffallend genau, zu auffallend, als dass dies beliebig wäre, mit der so genannten „ Absurdität “ von Konditionalsätzen. Das zeigt die Wiederholung der Formel: „ aus einem andren Grund “ deutlich an. Sie macht es, logisch gesehen, belanglos, ob wir überhaupt politisch-progressiv arbeiten oder nicht. Die „ objektive Geschichte “ wird so oder so ihren Lauf nehmen. Und genauso ist es nach dem Sieg der Revolution belanglos, ob der Name eines Dichters genannt oder vergessen wird. Man könnte, logisch gesehen, beide Sätze um 34 Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein. Frühschriften. Bd. 2, Berlin 1968, S. 164, 167, 180, 327, 425. 35 Anlässlich eines Vortrags in Augsburg im Januar 1985, vgl. oben Kap. 1 Vorwort: „ Stehend an meinem Schreibpult “ . Außenansichten von Bert Brechts Lyrik. 36 Vgl. Bertolt Brecht, Gesammelte Werke, Bd. 19, S. 385 ff. und 389 ff. 22 „ Warum soll mein Name genannt werden? “ <?page no="23"?> ihren Vorderbzw. Nachsatz kürzen; 37 dann bliebe allein der immer richtige Satz: „ Die Revolution wird siegen “ , und das ganze Argument wäre so richtig wie überflüssig. Aber produktiv ist der Widerspruch der Konditionalsätze. Der zweite, der den „ notwendigen Grund “ formuliert ( „ nur wenn . . . “ oder genauer: „ wenn nicht . . . “ ), muss den ersten „ anderen Grund “ korrigieren, der ( „ immer wenn . . . “ ) nach dem „ hinreichenden Grund “ funktioniert. Und das ergibt verblüffend genau sozusagen eine konditionale Logik der Revolution, die Brecht immer wieder bejaht hat, so vor allem und wohl am klarsten in dem späten Gedicht aus den Buckower Elegien (1974): Die Wahrheit einigt Freunde, ich wünschte, ihr wüsstet die Wahrheit und sagtet sie! Nicht wie fliehende müde Cäsaren: „ Morgen kommt Mehl! “ So wie Lenin: Morgen abend Sind wir verloren, wenn nicht . . . So wie es im Liedlein heißt: „ Brüder, mit dieser Frage Will ich gleich beginnen: Hier aus unsrer schweren Lage Gibt es kein Entrinnen. “ Freunde, ein kräftiges Eingeständnis Und ein kräftiges WENN NICHT! (300/ 12.315) Hier ist alles völlig klar. Aus der Formel: „ Wenn nicht . . . “ , kann man eben keinesfalls schließen: „ Wir sind nicht verloren, wenn . . . “ , bzw. eben: „ Wir werden siegen, wenn . . . “ . Geht es nicht auch bereits genau darum im Exil- Gedicht Warum soll mein Name genannt werden? Korrigiert man im Sinne dieser Logik den ersten Teil dieses Gedichts in: „ Nur wenn wir für sie arbeiten, wird die Revolution Erfolg haben; aus keinem andern Grund “ , dann ist sofort auch die temporale und kausale Sicherheit des Ganzen dahin. Eine Folgerung nach dem modus ponendo ponens (vorausgesetzt, die ganze Formel gilt, und gesetzt, der Vordersatz ist erfüllt, dann folgt der Nachsatz) ist nicht mehr möglich. Anders gesagt: „ Wie es nach dem Sieg der Revolution gegenstandslos ist, ob mein Name genannt wird oder nicht, so kann man aus meiner bzw. unserer progressiven Arbeit nicht schließen, dass die Revolution Erfolg haben wird, und wir geehrt werden “ . Natürlich beweisen diese logischen Widersprüche allein noch nichts. Gleichwohl sind sie bewusst gesetzt, gewissermaßen inszeniert. Sie zeigen auf, welche Folgen es haben kann, wenn man eine objektiv gewusste Totalität 37 Vgl. zu diesen aussagenlogischen Überlegungen und zum Gedicht Die Wahrheit einigt genauer unten Kap. 6 „ Ein kräftiges WENN NICHT! “ Zur Logik des Engagements in Bert Brechts Lyrik. Ein lyrisch-politisches Programm im Exil 23 <?page no="24"?> des Geschichtsprozesses voraussetzt und von der Zukunft redet, als kenne man sie. Gerade während der Zeit des Exils hat Brecht Gedichte extremen Zweifels an dieser Sicherheit geschrieben: Wie eine Antwort an Lukács, für den das Bewusstsein historischer Totalität das proletarische Klassenbewusstsein ist bzw. zu sein hat, klingt Brechts Gedicht, das in der Zeit des Exils entstanden ist: Proletariat, die Hoffnung der Welt Sehet, sie sind wie alte Leute Die ihre Zeit schon gelebt haben Ihre Taten sind schon verrichtet Ihre Worte sind schon gesprochen Worauf warten sie noch? Sie haben keine Pläne mehr Sie haben zuviel Erfahrung. Wo man sie hinstellt, dort bleiben sie stehen Ihre Wünsche haben nicht nur ihre Peiniger, Sondern auch sie vergessen. Schlägt man sie ins Gesicht Möchten sie nur eine dicke Haut haben. Hundertmal stößt man ihnen das Maul in den Dreck, Und hundertmal Spucken sie geduldig das Blut aus. Die Gurte über ihren Schultern Rücken sie sich zurecht. [. . .] Wer da gut lebt Der lebt von ihnen. Wer da alt wird Der überlebt sie. Wer sein Haus auf ihren Rücken baut Der baut auf Felsen [. . .] Wer wollte hoffen auf sie, die so müde sind? Die Achse der Welt ist verschoben. Werden diese sie einrenken? (14.602) Das Hamlet-Zitat in der Schlussstrophe zeigt freilich an, dass der Sprecher, der Intellektuelle, sich hier selbst als schuldig sieht. So ist es ja auch durchaus nicht das Verhalten „ des “ Proletariats, das Brecht hier beklagt, im Gegenteil, er fühlt mit ihm. Was er verurteilt ist dessen theoretische Hypostasierung: eine Theorie, die ihm die Last aufbürdet, „ das Subjekt der Geschichte “ sein und „ die Menschheit [. . .] befreien “ zu müssen 38 - ein Ansinnen, auf das Kalle in den 38 Bertolt Brecht, Gesammelte Werke, Bd. 14, S. 142) 24 „ Warum soll mein Name genannt werden? “ <?page no="25"?> Flüchtlingsgesprächen antwortet: „ Jedenfalls zahl ich ihr nicht den Kaffee “ , 39 ganz im Sinne Brechts. Nach derselben „ Nur-wenn/ wenn-nicht “ -Logik hat Brecht in Gedichte im Exil (1935) ja auch das ständige Sich-Berufen auf die Zukunft verurteilt, als kennte man sie oder könne sie herbei folgern: „ Und am gierigsten blicken sie / Die ohne Gegenwart scheinen / Auf ihre Nachkommen “ (828/ 14.311). Es ist ein Unterschied, ob man mit der Zukunft rechnet, oder ob man in der Gegenwart für sie arbeitet. Im Gedicht Der Nachgeborene es scheint mir auf eine Entstehung „ um 1920 “ zurückdatiert, obwohl es seiner ganzen Diktion nach in die Zeit des Exils gehört 40 - hat Brecht in diesem Sinne eine noch radikalere Konsequenz gezogen, rollenhaft die Situation dessen einnehmend, der als „ Nachgeborener “ die Zukunft schon zu kennen scheint: Der Nachgeborene Ich gestehe es: ich Habe keine Hoffnung. Die Blinden reden von einem Ausweg. Ich Sehe. Wenn die Irrtümer verbraucht sind Sitzt als letzter Gesellschafter Uns das Nichts gegenüber. (426/ 14.189) Das sind radikale, aber es sind „ inszenierte “ , in der Reflexion rollenhaft durchgespielte Zweifel. Es bildet daher auch keinen unproduktiven Widerspruch zu ihnen, wenn Brecht im Gedicht Wie künftige Zeiten unsere Schriftsteller beurteilen werden sagt: „ Aber in jener Zeit werden gepriesen werden / Die auf dem nackten Boden saßen, zu schreiben / Die unter den Niedrigen saßen / Die bei den Kämpfern saßen “ (928/ 14.434). Der hymnische Ton zeigt freilich auch hier, dass es sich bei dieser Zukunft um einen Wunsch handelt, nicht um ein Wissen, genauso wie der elegische Ton in dem berühmten Gedicht An die Nachgeborenen (267 - 269/ 12.85 ff.), dem gewichtigen Schlussgedicht der Svendborger Gedichte, jedes Denken an eine Zeit, in der „ der Mensch dem Menschen ein Helfer ist “ , fast wie einen vergangenen Traum von der Zukunft erscheinen lässt. Und ebenso führen diese Zweifel auch nicht aus dem Marxismus hinaus, sondern präzise an seine Wurzeln zurück. Das Gedicht Warum soll mein Name genannt werden fällt ja auch nicht skeptisch in sich zusammen, sondern seine Argumentation kehrt sich um, ganz wörtlich: von der Peripherie zur Mitte, von der Vergangenheit und Zukunft zur Gegenwart, von der logischen Absurdität 39 Ebd. 40 Vgl. z. B. den Kommentar von Edgar Marsch, Brecht-Kommentar zum lyrischen Werk. München 1974, S. 107. Ein lyrisch-politisches Programm im Exil 25 <?page no="26"?> zum „ eingreifenden Denken “ , von der Theorie zur Praxis. Nicht das Bewusstsein historischer Totalität darf Voraussetzung politischer Arbeit sein, sondern es kann sich bestenfalls aus dieser Praxis als Perspektive ergeben. Insofern scheint es fast - das ist nun freilich nur noch ein abschließender, eher illustrativer als argumentativer Ausblick dieses Vortrags - es scheint geradezu, als habe Brecht den Mittelteil, der so auffällig allgemein und humanistisch klingt, an den klassischen Feuerbach-Thesen des jungen Marx (1845) modelliert. Wir erinnern uns: - „ Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens - das von der Praxis isoliert ist - ist eine rein scholastische Frage. “ So lautet Marx ’ zweite These, und genau nach ihrem Muster hat Brecht die Frage nach der Zukunft, nach der Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit einer Geschichtstheorie über die logische Form der Argumentation (scholastisch-formal) ad absurdum geführt, um sie für die Praxis zu öffnen. - Ebenso wird vielleicht plausibel, warum „ die Religion “ hier eine so prominente Stelle einnimmt, als ob es um 1936 keine wichtigeren Gegner gäbe, und dass sie ausdrücklich „ der Unterdrückung “ parallel gesetzt wird - freilich bei Brecht ein altes Thema: Genau so nämlich hatte Marx gegen Feuerbachs Analyse der „ religiösen Selbstentfremdung “ und „ Verdoppelung der Welt “ die konkrete, gesellschaftliche „ Selbstzerrissenheit “ und das „ Sichselbstwidersprechen dieser weltlichen Grundlage “ gestellt. Und deren sichtbarste Äußerung ist eben die gesellschaftliche wie politische „ Unterdrückung “ . - „ Alles den Menschen überantworten “ : Das ist genau, gemäß der zehnten These, „ der Standpunkt “ , das heißt für Brecht, die Perspektive einer „ menschlichen Gesellschaft “ bzw. „ gesellschaftlichen Menschheit “ . - Das „ Nützliche “ - es reicht bei Brecht vom Sinnlich-Alltäglichen bis zur Beschäftigung mit politischer Theorie - , das zusammen mit dem Prinzip, „ praktisches Verhalten [zu] lehren “ die zentralen Verse gewissermaßen einrahmt, das ist auch bei Marx der Zentralbegriff, und zwar ebenfalls in einer ganz alltäglich-materialistischen Formulierung, nämlich „ gegenständliche [. . .] sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis “ . - Und so kann sich schließlich auch die Arbeit, „ Gedichte zu schreiben und die Sprache zu bereichern “ , die Brecht hier ganz gegen alle Basis-Überbau- Konstruktionen unmittelbar der ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Arbeit gleichsetzt, auch diese Arbeit kann sich ihrerseits auf Marx berufen; heißt es doch wenig später in der Deutschen Ideologie (1845/ 1846): „ Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins ist [. . .] unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen. Sprache des wirklichen Lebens. “ 41 41 Karl Marx/ Friedrich Engels, Werke. Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 3, Berlin 1969, S. 4/ 5 und 26. 26 „ Warum soll mein Name genannt werden? “ <?page no="27"?> Natürlich kann man sehr viele Aussagen Brechts auf Marx ’ Feuerbach-Thesen zurückführen. Es geht ja hier auch nicht um den Nachweis irgendwelcher Quellen. Worauf es ankommt, ist, wie sich Brechts Subjektivität, eben sein ganz eigener „ Name “ , hier gegen ein scheinobjektives Konzept historischer Totalität behauptet. Nicht „ weil “ oder „ wenn “ , sondern dass überhaupt politischliterarisch gearbeitet wird, darauf kommt es Brecht an. „ Kunst als menschliche Praxis, mit spezifischen Eigenarten, eigener Geschichte, aber doch Praxis unter anderen und verknüpft mit anderer Praxis “ , 42 notiert sich Brecht; er argumentiert gegen Lukács, aber ganz im Sinne des jungen Marx. Es ist diese Praxis, sowohl der sprachlich-literarischen wie jeder anderen Zeit- und Wirklichkeitsgestaltung, die es gegen das zu feste „ Haus “ der Theorie wie gegen das bedrohte oder zerbröckelnde „ Haus “ der Theorie-Krise im Exil zu stellen gilt, und die durchaus die kreative Kontinuität des eigenen Dichtens - in der „ Schiffs “ -Metapher angesprochen - zu rechtfertigen vermag. Nur indem man „ die Welt zu verändern sucht “ , ergibt sich Zukunft als konkrete Perspektive, nicht, indem man sie, wieder einmal, verbindlich interpretiert und dann die Literatur beauftragt, Vorwegnahme dieser Totalität zu sein. Wenn Brecht daher gegen die Totalität das Fragment, gegen die gedankliche Vorwegnahme einer „ Totalität “ das „ Experiment “ , gegen die „ richtige Darstellung “ die Verfremdung setzt, gegen das Resultat das Problem, gegen die Demonstration des Gesamtprozesses die Perspektive, welche den „ Einzelfall “ , das „ Detail “ , „ sichtbar “ , „ erkennbar “ , „ behandelbar “ zu zeigen sucht, wenn er gegen die kontemplative, vom Wissen getragene Gesamtschau „ kampfvoller und verschlungener Klassenschicksale “ - eine Lieblingsvorstellung von Lukács - , wenn Brecht dagegen „ der Wirklichkeit [. . .] neue Seiten abgewinnen “ , „ auf wirkliche Menschen wirklich einwirken “ und „ die treibenden Kräfte [. . .] in Bewegung “ setzen will, wenn er schließlich gegen Lukács ’ Bevorzugung der Modelle des bürgerlichen Realismus und Thomas Manns, dessen Ablehnung des Expressionismus und so fort, wenn Brecht alle „ formalen Neuerungen “ aufzunehmen sucht, sofern sie dazu beitragen, „ die Realität den Menschen meisterbar in die Hand zu geben “ 43 - so könnte man noch lange weiter zitieren - , dann hat das eben in einer anderen Auffassung des Verhältnisses von „ Wahrheit “ und „ Geschichte “ seinen Grund. Man sieht, wie genau die bewusste, lyrisch durchgespielte und reflektiert Theorie-Krise und die lyrisch-programmatische Antwort darauf zusammengehören, durchaus vergleichbar dem alten Umkehr-Sinn der Allegorie. Wie sehr davon auch Brechts ganze dichterische Subjektivität betroffen war, die Gefahr, vergessen zu werden, und die Arbeit daran, es sein zu dürfen, das zeigt, übrigens erneut und nicht zufällig mit barocken vanitas- und Kirchhofs- 42 Bertolt Brecht, Gesammelte Werke, Bd. 19, S. 373. 43 Ebd. in der Reihenfolge der Zitate, S. 300, 306, 321, 295, 368, 287, 325. Ein lyrisch-politisches Programm im Exil 27 <?page no="28"?> Anklängen, auch das folgende, doch wohl dem Exil benachbarte, oder es vorwegnehmende oder von ihm bestätigte, auf alle Fälle „ immerfort korrigierte “ Gedicht: Schreibt nichts auf den Stein Außer den Namen. Ich vergaß: den Namen Könnt ihr weglassen. (14.40) 28 „ Warum soll mein Name genannt werden? “ <?page no="29"?> 3 „ Sieh den Balken dort! “ Zur Sinnlichkeit der Chiffren in Bert Brechts Lyrik für Paul Hoffmann „ In der späten Lyrik Brechts werden die Sachlichkeit, die Trockenheit, die scheinbare Beiläufigkeit der Aussage wieder geheimnisvoll - manchmal sogar geheimnisvoller als viele Gedichte anderer Autoren, die Wortmagie, Wortrausch, Wortekstase pflegten. “ 1 Das ist ein wichtiger Hinweis, der weiterverfolgt die Frage nach der Stellung Brechts in der Tradition der spezifisch „ modernen “ Lyrik neu zu stellen auffordert. 2 Hugo Friedrich hatte Brecht in seinem lange Zeit als eine Art Bibel zitierten Buch Die Struktur der modernen Lyrik (1956) aus eben dieser Moderne verbannt. 3 Michael Hamburgers komparatistisch eher gewichtigere Übersicht The Truth of Poetry (1969), deutsch: Die Dialektik der modernen Lyrik (1972), später Wahrheit und Poesie (1985), aus der eben zitiert wurde, bildete dazu eine Gegenthese, an der sich auch die folgenden Beobachtungen und Überlegungen orientieren. 4 Freilich, so unumstritten solche Sätze heute sind, so gegensätzlich versteht man die Inhalte dieser „ geheimnisvollen “ Sprache selbst. Einerseits wurde sie als symbolisch, manchmal geradezu allegorisch interpretiert, 5 völlig apodiktische Codes der Entschlüsselung hat es gegeben, 6 andererseits werden gegen solche oft ideologisch oder doch parteilich motivierten Konstruktionen einer „ tieferen “ Wahrheit der „ Politpoesie “ zu Recht „ auch Zweifel, Unsicherheit, Orientierungslosigkeit “ in 1 Michael Hamburger, Wahrheit und Poesie. Spannungen in der modernen Lyrik von Baudelaire bis zur Gegenwart. Berlin 1985, S. 147. 2 Vgl. dazu auch unten Kap. 3 „ Ach, wie solln wie nun die kleine Rose buchen? “ . Brechts Lyrik und die Tradition der Moderne. 3 Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik: von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Hamburg 1956. 4 Dasselbe gilt inzwischen, allerdings mit anderer Akzentsetzung, für Dieter Lamping, Moderne Lyrik. Eine Einführung. Göttingen 1991. 5 Jürgen Link, Die Struktur des literarischen Symbols. Theoretische Beiträge am Beispiel der späten Lyrik Brechts. München 1975. 6 Vgl. z. B. Nasratolla Rastegar, Die Symbolik in der späten Lyrik Brechts. Frankfurt, Bern, Las Vegas 1978. <?page no="30"?> der „ späten Lyrik “ betont, 7 ja gerade die „ Verschlüsselungen “ werden vehement bestritten, 8 zumindest als kontrovers angesehen. 9 Auf alle Fälle scheint es hier ein prinzipielles Problem zu geben: Die Konkretheit, das genaue Sehen, der Anspruch auf kommunikative Wirkung, auf Anwendung und Veränderung, all das scheint gegen „ Chiffren “ , „ Codierungen “ , überhaupt gegen eine irgendwie komplexe Semiotik zu sprechen. Aber Anschaulichkeit und konkrete Erfahrungen auf der einen Seite, Bedeutungsverdichtungen, die bis zu „ geheimnisvollen “ Verschlüsselungen getrieben werden, auf der anderen schließen einander nicht aus. Denn der ‚ Code ‘ der Brechtschen Verschlüsselungen ist ihre Geschichte: zum einen die der sich entwickelnden lyrischen Sprache im jeweiligen Kontext ihrer Zeit, zum anderen aber auch die der Bedeutungsgenese im je einzelnen Gedicht. Es ist als vollziehe Brecht seinen, wenn ich so sagen darf, ‚ Weg zur Chiffre ‘ immer wieder neu nach. Und es ist dieser doppelte Prozess in der Abfolge sich verändernder Seh- und Denkformen, der die ‚ chiffrierten ‘ , ja manchmal fast allegorischen Bedeutungen in Brechts Gedichten immer wieder kohärent zu lesen erlaubt: Indem sie anschaulich vor dem inneren Auge und dem inneren wie äußeren Ohr der Leser entstehen, also gerade in der Sinnlichkeit der Bilder, Rhythmen, Kontraste und Reflexionswege, 10 verlieren diese Chiffren nach und nach ihre Esoterik und gewinnen jeweils von neuem ihren Gehalt. Und darin sind sie allenfalls graduell, aber nicht prinzipiell verschieden von den Formen der modernen, nach-symbolistischen, das „ Unbekannte “ in der Poesie suchenden, europäischen Lyrik allgemein. 11 Ich möchte zunächst diese Entwicklung an den Motiven von „ Haus “ und „ Schiff “ zeigen, die sich kontinuierlich durch Brechts ganze Lyrik hindurch ziehen. Der junge Brecht hat für die Situation irgendeines ‚ Behaustseins ‘ wenig übrig. Die Häuser in seinen Gedichten - da, wo diese Gedichte sich zur Eigentümlichkeit klären, also etwa seit den Jahren 1916/ 17 - diese Häuser sind kalt, fremd, verschlossen und eng. Man denke etwa an das Haus, in dem Jakob Apfelböck (im Lied Apfelböck oder Die Lilie auf dem Felde, dem zweiten Gedicht 7 Helmut Koopmann, Brechts späte Lyrik.In: Helmut Koopmann (Hrsg.), Brechts Lyrik - neue Deutungen. Würzburg 1999, S. 143 - 162, S. 151. 8 Vgl. z. B. Jan Knopf, Brecht-Handbuch. Lyrik, Prosa, Schriften. Stuttgart 1984, S. 194 ff.; ders. (Hrsg.), Brecht-Handbuch. Bd. 2: Gedichte. Stuttgart und Weimar 2001, S. 441 und 443 f. 9 „ Zweifel am methodischen Verfahren zur Ermittlung des politischen Gehalts der ‚ verschlüsselten ‘ Texte und des Grades ihrer Konkretheit lassen sich [. . .] im kritischen Nachvollzug der Einzelanalysen erhärten “ (Klaus-Detlef Müller, Bertolt Brecht. Epoche - Werk - Wirkung. München 2009, S. 188/ 189). 10 „ Sinnlichkeit in Bild und Klang “ war Motto und Titel der Festschrift für Paul Hoffmann zum 70. Geburtstag. Hrsg. Von Hansgerd Delbrück, Stuttgart 1987, für die dieser Aufsatz (vgl. dort S. 465 - 479), der inzwischen überarbeitet wurde, ursprünglich bestimmt war. 11 Vgl. grundlegend Paul Hoffmann, Symbolismus.München 1987. 30 „ Sieh den Balken dort! “ <?page no="31"?> der Hauspostille) leidet, mordet und eingesperrt ist (29/ 30/ 11.42/ 43). 12 Allgemein gesagt, ‚ Haus ‘ und ‚ Dach ‘ sind Sinnbilder bürgerlicher Sekurität und eingefahrener Vorurteile, und Brecht, genauer, das Ich in seinen Gedichten, begreift sich im Gegensatz zu ihr. Seine „ Identifikationsfigur ist [. . .] der Asoziale “ . 13 In der für diese Distanz bezeichnenden Ballade von den Abenteurern (entstanden 1917) 14 entwirft er das Wunschbild von einem, der es fertig bringt, die ganzen Zwänge und Ordnungen seiner Umwelt hinter sich zu lassen: „ [Er hat] seine ganze Jugend, nur nicht ihre Träume vergessen / Lange das Dach, nie den Himmel, der drüber war “ (60/ 11.78). Und in der Urfassung des Gedichts Vom armen B. B. finden sich die Verse: „ Von den vielen Kammern, die ich bewohnte / Hab ich keine wohnlich gemacht [. . .] / Mag sein, denke ich [. . .] aus der Asphaltstadt komme ich nie mehr heraus / So habe ich doch über den Dächern einen bleichen Waldhimmel für mich / Und eine schwarze Stille in mir und ein Tannengebraus “ (464/ 465/ 13.241/ 242). Wird hier noch eine ungebundene, freiere und reichere Innenwelt dem äußeren Druck entgegengesetzt - freilich eine, die „ schwarz “ und „ kalt “ die Fremdheit nach außen auch innerlich reproduziert - , so kehrt die Endfassung dieses Gedichts (von 1922) diese Vorstellung bedeutsam um: „ Wir sind gesessen, ein leichtes Geschlecht / In Häusern, die für unzerstörbare galten [. . .] / Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie hindurchging, der Wind! / Fröhlich machet das Haus den Esser: er leert es. / Wir wissen, daß wir Vorläufige sind / Und nach uns wird kommen: nichts Nennenswertes “ (97/ 11.120). Das Essen ist hier, wie Walter Benjamin anmerkt, 15 eine aggressive Handlung, die aber an das gebunden bleibt, wogegen sie sich richtet. Es genügt offensichtlich nicht mehr, die Innenwelt gegen die Außenwelt, die Träume vom „ freien Himmel “ gegen die realen Begrenzungen zu setzen: Es gilt, sich in den Widersprüchen der Realität direkt zu behaupten. Das bleibt von nun an, bis in die späte Lyrik hinein, prägend. Waren so „ Haus “ und „ Dach “ etwas, was der junge Brecht sinnbildlich ablehnte, ohne ihnen - den bürgerlichen Zwängen, die er darin verkörpert sah - entgehen zu können, so war er andererseits seit langem fasziniert von den „ Schiffen “ , Sinnbilder für Abenteuer, Ungebundenheit, für das Davonfahren aus allen Zwängen und Ordnungen; so etwa in dem Gedicht Unsere Erde zerfällt (1820): „ Er spuckt auf die Häuser, die Dächer mit Fieber / Der Himmel genügt ihm mit Orion und Bär / Auf Kästen morschen Holzes jagt er lieber / Hinter den Haien, die nach ihm hungern, her “ (412/ 13.173). Und darin befindet 12 Zur Zitierweise vgl. oben Kap. 1, Anm. 2. 13 Klaus-Detlef Müller, Bertolt Brecht. Epoche - Werk - Wirkung, S. 29. 14 Ein „ Kristallisationspunkt unter den Gedichten und Balladen der Frühzeit “ , Klaus Schumann, Der Lyriker Bertolt Brecht 1913 - 1933. München 1971, S. 46. 15 Walter Benjamin, Versuche über Brecht. Hrsg. Von Rolf Tiedemann, 2. Aufl., Frankfurt/ M. 1971, S. 61. Zur Sinnlichkeit der Chiffren in Bert Brechts Lyrik 31 <?page no="32"?> Brecht sich literarisch deutlich in der Nachfolge von Walt Whitman, von Baudelaires Gedicht Le Voyage (1859, dem Schlussgedicht der Fleurs du mal) und vor allem von Artur Rimbauds berühmtem Le Bateau ivre (1871). 16 Aber die Ausbrechermentalität und die befreite Imagination, die sich hier aussprechen, gehen von Anfang an im Wunsch nach Ferne und Freiheit nicht auf: Sie sind immer aggressiv, leidend, fordernd, kritisch - die Haltungen wechseln - , sie sind immer auf die Realität bezogen, die sie zu verlassen scheinen. Sei es, dass die bürgerliche Erwerbs- und Konkurrenzgesellschaft sich in ihrem scheinbaren Gegensatz nur reproduziert, etwa wenn es in Die Geburt im Baum (1920) heißt: „ Zwischen superfeinen Leichen / Braunem Raubtier sanft gesellt / Schwamm im Frühling ich mit gleichen / Satten Fressern aus der Welt “ (403/ 13.160). Sei es, dass wie in Das Schiff (1919) gegenüber all den Ausbruchs- und genussvollen Untergangs-Phantasien die letzte Strophe eine distanzierende und genau darin konsequent aggressive Außenperspektive 17 einführt: „ Fremde Fischer sagten aus: sie sahen / Etwas nahen, das verschwamm beim Nahen. / Eine Insel? ein verkommnes Floß? / Etwas fuhr, schwimmend von Möwenkoten / Voll von Alge, Wasser, Mond und Totem / Stumm und dick auf den erbleichten Himmel los “ (34/ 11.48). So ist es nur konsequent, wenn in einem anderen, deutlich in dieser Tradition stehenden Gedicht, dem Lied am schwarzen Samstag (etwa 1920), das Davonfahren sich fast explizit als dichterisches Spiel präsentiert: Denn es ist ja lediglich ein Papierschiff, das sich auf die Reise begibt. Das Schiff wird, wie bei Rimbaud und wie in einer lange schon begründeten Tradition der Literatur - prominent ist Horaz -, 18 von da an für Brecht zum Sinnbild der Dichtung selbst, der dichterischen Kreativität und der dichterischen Existenz. Aber es ist bezeichnend für ihn, dass auch diese Reise nicht in irgendein Außerhalb führt, sondern mitten in die reale Umwelt hinein: „ Im Frühjahr unter grünen Himmeln, wilden / Verliebten Winden schon etwas vertiert / Fuhr ich hinunter in die schwarzen Städte / Mit kalten Sprüchen innen tapeziert “ (58/ 11.76). Das ist dieselbe Sprache und dieselbe Haltung wie in der Ballade vom armen BB., wo die erste Strophe mit dem Vers endet: „ Und die Kälte der Wälder wird in mir bis zum Absterben sein “ . Distanz, die reproduziert, was sie ablehnt, Widerspruch als Selbstbehauptung gegen und in der Realität, derart sieht sich das 16 Vgl. z. B. Franz Norbert Mennemeier, Bertolt Brechts Lyrik. Düsseldorf 1982, S. 25 ff.; zu Brecht und Rimbaud vgl. v. a. Walter Benjamin, Versuche über Brecht, S. 118 ff. 17 Die Kontrastperspektive ist strukturell dem resignativen Rückzug bei Rimbaud ( „ je suis las [. . .] / ich bin müde “ , Artur Rimbaud, Oevres complètes. Édition de la Pléiade, hrsg. von A. Adam, Paris 1972, S. 69) gleich gestellt, die aggressive Umkehr der Bewegung steht also dazu in genauem Gegensatz. So kann und soll für Brecht die symbolistische „ Freiheit der Imagination “ eine kritisch-aggressive Richtung nehmen. 18 Horaz, Sämtliche Werke. Hrsg. von H. Färber, München 1967, S. 218 ff. (Carmina IV, 15). Brecht beruft sich auf dieses Gedicht dann v. a. auch im Motto-Gedicht der Buckower Elegien. 32 „ Sieh den Balken dort! “ <?page no="33"?> „ lyrische Ich “ Bert Brechts in dieser Zeit: „ Er hat eine Lust in sich: zu versaufen / Und er hat eine Lust: nicht unterzugehen “ (62/ 11.62), so endet die Ballade auf vielen Schiffen (1920), und noch, wenn es im Lied Die Seeräuber-Jenny aus der Dreigroschenoper (1928) heißen wird: „ Und das Schiff mit acht Segeln / Und mit fünfzig Kanonen / Wird beschießen die Stadt “ (107/ 11.136), ist das eine teils dramatisch-rollenhaft objektivierte, teils schon elegisch-spielerische Erinnerung an die Lyrik zwischen 1917 und 1922. Im Gedichtzyklus Über die Städte (entstanden um 1926 und in der „ kleinen “ Werkausgabe noch dem Lesebuch für Städtebewohner zugeordnet), 19 werden diese Versuche, sich in den Widersprüchen der Realität zu behaupten, als ein extremes Rollenspiel inszeniert: „ Die Türen der Häuser sind weit geöffnet. Das Essen / Steht schon auf dem Tisch [. . .] “ ; aber bevor er eintreten kann, der Gast, der noch ganz expressionistisch der Fremdling, der Außenseiter und nicht Angepasste ist, ergeht die Aufforderung: „ Haut ihm doch bitte in die Fresse, ihr! / [. . .] wenn ihr mit ihm fertig seid, könnt ihr / Hereinbringen, was von ihm noch da ist, das / Wollen wir behalten “ (13.363/ 371). Wird hier die stumme Gewalt dieser sich so gediegen, ja freundlich gebenden Welt hervorgekehrt, der ihr Gegner in leidend-aggressiver Selbstbehauptung gegenübersteht, so scheint es im Eröffnungsgedicht des Lesebuchs für Städtebewohner (geschrieben um 1926, erschienen 1930) 20 nur den Weg zu geben, dass man jeder Definition entgeht, indem man sie, wie die Häuser und Wohnungen, ständig wechselt: „ Gehe in jedes Haus, wenn es regnet, und setze dich auf jeden Stuhl, der da ist / Aber bleibe nicht sitzen! [. . .] Ich sage dir: / Verwisch die Spuren! “ (129/ 11.157). Und noch deutlicher wird in einem anderen Gedicht, das bereits die Haltung des Lesebuchs für Städtebewohner, vorwegzunehmen scheint, das „ Haus “ als Sinnbild nicht nur des Eingeschlossenseins, sondern auch der sozialen Festlegung und Zugehörigkeit verstanden, die es zu vermeiden gilt: „ Weil ich so sehr für das Vorläufige bin und an mich nicht recht glaube / Darum hause ich, wie ’ s trifft [. . .] “ (13.209). So Brecht in den Zwanziger Jahren. Auch diese Haltung wird sich bis in die späte Lyrik hinein fortsetzen und immer wieder mit dem „ Haus “ -Motiv verbinden. Zu den „ Schiffen “ gehört sie ohnehin. Man weiß, dass wenig später Brechts Marx- und Leninlektüre beginnt und seine wachsende Identifikation mit dem Kommunismus. Auch das bisher untersuchte Motivfeld, das sich kontinuierlich fortsetzt, erhält nun neue Bedeutungen. Die Kontinuität des in Ideologien „ Unbehaustseins “ und des kreativen „ Auf vielen Schiffen-Fahrens “ zeigt sich schon darin, dass das neu Begriffene auch jetzt, das heißt, wo es das alte Motiv neu deutet, nicht die Form 19 Vgl. den Kommentar zu diesem Gedicht, 13.537/ 538. 20 Vgl. dazu auch unten Kap. 5: „ Verwisch die Spuren! “ Bert Brechts „ Lesebuch für Städtebewohner “ im Mediendialog. Zur Sinnlichkeit der Chiffren in Bert Brechts Lyrik 33 <?page no="34"?> eines positiven Inhalts erhält ( „ das ist so “ ) - sonst dominierend in dieser Zeit 21 - als vielmehr die einer Forderung ( „ das soll so sein “ ), allerdings einer unabdingbaren: Wie soll die Stimme, die aus den Häusern kommt Die der Gerechtigkeit sein Wenn auf den Höfen die Obdachlosen liegen? Wie soll der kein Schwindler sein, der den Hungernden Anderes lehrt, als wie man den Hunger abschafft? Wer den Hungernden kein Brot gibt Der will die Gewalttat Wer im Nachen Keinen Platz für die Versinkenden hat Der hat kein Mitleid Wer keine Hilfe weiß Der schweige. (682/ 14.112) Das Gedicht von 1930/ 31 ist ein Plädoyer für sozialkritisch-parteiische Literatur im weitesten Sinn: Die Hungernden und Obdachlosen sind Maßstab der Wahrheit. Das Gedicht ist in seiner Tendenz konkret und im Zusammenhang von „ Hunger “ (das materielle a-priori) und „ Gewalttat “ (die Verelendung als revolutionäres Potential? ) auch materialistisch. Insofern bedeutet es, das zeigt gerade die Motivik von „ Haus “ und „ Nachen “ , sowohl eine Neubewertung der früheren Lyrik als auch bewusste Kontinuität. Brechts eigene Stimme war ja nicht nur nie „ aus den Häusern “ gekommen, im Grunde hat auch er selbst sich immer als ideologisch „ obdachlos “ gesehen. Und denkt man an das „ Schiff “ als Sinnbild des eigenen Verhaltens, insbesondere als Sinnbild der Dichtung, und erinnert man sich an das Motiv des Versinkens in der Hauspostille ( „ Er hat eine Lust in sich: zu versaufen / Und er hat eine Lust: nicht unterzugehn “ ), dann erhält, folgt man der Bedeutung dieser Motivkontinuität, der „ Nachen “ neuer dichterischer Praxis im sozialistischen Auftrag auch ein Moment kontinuierlicher Rechtfertigung der eigenen, dichterischen Subjektivität, wenn zur Rettung anderer aufgefordert wird. Auf alle Fälle bleibt die Geborgenheit in einem „ Haus “ in Brechts Lyrik etwas Fragwürdiges und kritisch Betrachtetes. Zwei erst in den Supplementbänden der (kleinen) Werkausgabe veröffentlichte Gedichte, die unsicher datiert 21 Etwa im Sinne der Lehrstücke, also eines „ geforderten Einverständnisses [mit] gesellschaftlich richtigem Verhalten “ (Klaus-Detlef Müller, Bertolt Brecht. Epoche - Werk - Wirkung, S. 89 und 92); zur Lyrik vgl. z. B. das Schlusskapitel bei Klaus Schuhmann, Der Lyriker Bertolt Brecht, S. 316 ff. 34 „ Sieh den Balken dort! “ <?page no="35"?> sind, deutlich aber die „ negative Didaktik “ 22 des Lesebuchs für Städtebewohner fortsetzen, zeigen das auf: Die Häuser des Unglücks Ihr Unterhalt ist zu teuer. In solche Häuser Zieht das Unglück eilig ein. Wie gejagt stürzt es die Treppe hinauf Wirft seine Koffer in alle Zimmer und hängt Vor die Haustür ein Schild: „ Besetzt “ . (720/ 14.167) Das Gedicht hat kaum etwas Verschlüsseltes. Das „ Haus “ ist deutlich das bürgerlicher und nur scheinbarer Gediegenheit, die aber ihrer ökonomischen Wahrheit nach ein Chaos und der Kampf aller gegen alle ist. „ Teuer “ kann nur auf den Kapitalismus deuten, in dem alle Lebensbezüge verdinglicht und nach dem Gesetz der Ware behandelt werden. Und diese deutlichen, fast aufklärerisch-allegorischen Verdoppelungen des „ Haus “ -Motivs gewinnen ganz kontinuierlich weitere Präzision, wenn man ihnen die späteren Lieder vom Anstreicher Hitler (1933; vgl. 162 ff./ 11.215 ff.) zur Seite stellt, der dem brüchigen, ja aus Dreck gebauten „ Haus “ des deutschen, bürgerlichen Kapitalismus nur scheinbar zu Hilfe kommen, der es nur „ anstreichen “ , aber nicht vor dem Zusammenbruch retten kann. Man könnte weiterhin an das berühmte Gedicht Deutschland von 1933 denken, in dem es heißt: „ In deinem Hause / Wird laut gebrüllt was Lüge ist “ (195/ 11.253). Dann ließe sich auch das deutlich (allerdings nur in der „ kleinen “ Werkausgabe so gesehene) parallele Gedicht Das Haus des Kummers als bereits an die gerichtet lesen, die nur ihre private Existenz sichern und sich aus allen Widersprüchen heraus halten wollen: „ Sie haben zu lernen aufgehört. / Man verbessert nichts mehr an ihnen. [. . .] / Sie gehören nur mehr sich selbst und hiermit / Verschwindenden Leuten [. . .] / Wenn das Haus fertig ist / Kommt der Tod “ . 23 Das scheinen bündige, als objektiv angesprochene, ganz in der Außenwelt gesehene Vorgänge zu sein. Doch diese Objektivität setzt eine subjektive Vorentscheidung voraus - auch bei der Interpretation: Man könnte die Gedichte auch als Momentaufnahmen bourgeoiser Melancholie lesen. Anders gesagt: Das Ich, das sonst immer das „ Haus “ der bürgerlichen Welt „ von außen “ gesehen und angesprochen hatte ( „ Denn die Straßen zumindest sind unser / Wenn sie die Häuser uns rauben “ , 708/ 14.151), scheint genau dann ihre Innensicht zu übernehmen, wenn diese präziser, rationaler Kritik zugänglich 22 Franz Norbert Mennemeier, Bertolt Brechts Lyrik, S. 118. 23 Bertolt Brecht, Gesammelte Werke. Supplementband IV. Frankfurt 1982, S. 176 f. Zur Sinnlichkeit der Chiffren in Bert Brechts Lyrik 35 <?page no="36"?> ist. Dann ist diese Innensicht die einer Rolle. Das Ich tritt, wie die Schauspieler im Lehrstück, als ein „ lernendes “ auf, und es ist zugleich sein eigener Zuschauer. Seine Welt und seine Rolle sind geradezu plastisch nur Modelle, die im Ganzen überschaubar sind. Die Häuser des Unglücks und des Kummers werden sozusagen durchsichtig. Man sieht, wie auf der Bühne, in sie hinein: Denn um sie herum hat sich ein anderer Raum gelegt - ein Bühnenraum der Demonstration, ein „ Haus der Wahrheit “ (dazu gleich)? - die zu praktizierende, politisch-ökonomische Methode. Und das scheint mir gerade da interessant, wo es ganz unaufdringlich und unpathetisch geschieht. Der Gegensatz zwischen humanem Programm und historisch-gesellschaftlicher Umwelt, der schon früh mit dem „ Haus “ -Motiv verbunden war, wird übersetzt in den in Gegensätzen fortschreitenden Prozess der Reflexion und Argumentation selbst. Auch dies wird bis in die späte Lyrik hinein prägend bleiben. Es ist dann fast wie eine Bestätigung dieser ganzen Entwicklung zu lesen, wenn Brecht tatsächlich 1933 das nur sieben Wochen bewohnte Haus in Utting am Ammersee verlassen musste, um ins Exil zu gehen. Das Gedicht Zeit meines Reichtums (1934; 804/ 805/ 14.278) hat diese Erfahrung festgehalten. 24 Immer wieder kann man, gerade in der Lyrik, beobachten, dass Brecht das Exil misstrauisch und sensibel bereits in seiner Haltung vorweggenommen hat, bevor es ihn tatsächlich traf. 25 Und sofort mit dem Beginn des Exils wird dann auch die ganze bis jetzt verfolgte motivische Entwicklung klar definiert: „ Als ich über die Grenze fuhr, dachte ich: / Mehr als mein Haus brauche ich die Wahrheit [. . .] / Und seitdem / Ist die Wahrheit für mich wie ein Haus “ (739/ 14.192). So heißt es in einem Gedicht mit dem bezeichnenden Titel Ich habe lange die Wahrheit gesucht (1933). Das Motiv des „ Hauses “ , das zunächst die bürgerliche Enge und Scheinsicherheit anschaulich gemacht hatte, das später zum Inbegriff von Zwang, Erstarrung und Gewalt geworden war und das nur in seinem Zerbröckeln und Auseinanderbrechen sich als durchsichtig erwiesen hatte für die gesuchte 24 Im Tagebuch beschreibt Brecht fast nur den Garten, im Gedicht dagegen vor allem die Gediegenheit des Hauses. Erst das Exil und die dichterische, sinnbildlich übertragene Bedeutung scheint dem „ Haus “ Interesse zu verleihen. Vgl. Bertolt Brecht, Tagebücher 1920 - 1922. Autobiographische Aufzeichnungen 1920 - 1954. Hrsg. Von H. Ramthun, Frankfurt 1975, S. 218. 25 „ Der Kämpfer für die ausgeblutete Klasse ist im eigenen Lande ein Emigrant “ , Benjamin, Versuche über Brecht, S. 67 (zum Gedicht Verwisch die Spuren). Zu bedenken ist allerdings auch: „ Hatten die frühen Gedichte den asozialen Charakter, die Außenseiterrolle des genialischen Bürgerschrecks B. B. betont [. . .], so sind die Gedichte des tatsächlich isolierten Exilanten gerade umgekehrt bemüht, Anschluß zu gewinnen, die eigene Existenz in die Solidarität kollektiver Erfahrung zu integrieren [. . .]und vielleicht sogar vorrangig: in die kollektive Memoria, die Langzeitidentität der Literatur “ (Werner Frick, „ Ich, Bertolt Brecht. . . “ . Stationen einer poetischen Selbstinszenierung. In. Helmut Koopmann, Hrsg., Brechts Lyrik - Neue Deutungen.Würzburg 1999, S. 9 - 47, S. 32/ 33). Diese Identität in der „ literarischen Memoria “ würde zu der im abstrakten, chiffrierten „ Haus der Wahrheit “ passen. 36 „ Sieh den Balken dort! “ <?page no="37"?> Wahrheit, es wird genau dann zur Chiffre dieser Wahrheit, wenn die Realität, aus der es stammt, die deutsche, bürgerlich-kapitalistische Welt, im Exil in prinzipielle Distanz gerückt ist. 26 Aber es ist eine veränderbare, auf lebendige Bewegung angewiesene Wahrheit, gerade auch auf die bewegliche Dynamik dichterischer Imagination und Kreativität. Die alte Polarität von einem „ Haus “ (konventioneller Ordnung und nur als Schein vorgegebener Wahrheit) und dem freien „ Schiff “ (der Imagination bzw. dichterischen Existenz) wird gleichsam aufgehoben im Bewusstsein problematischer, dichterisch wie ideologisch unsicherer „ Behaustheit “ , wie sie gerade für das Exil bezeichnend ist. 27 So kann Brecht in dem wichtigen Gedicht Warum soll mein Name genannt werden (1936) erstmals beide Motive parallel setzen: „ Einst dachte ich: in fernen Zeiten / Wenn die Häuser zerfallen sind, in denen ich wohne / Und die Schiffe verfault, auf denen ich fuhr / Wird mein Name noch genannt werden / Mit andren “ (835/ 14.320). Derselbe Gedanke vergänglicher, aber eben damit auch beweglicher Wahrheit und dichterischer Praxis spricht sich aus, wenn Brecht in dem vorher zitierten Gedicht Ich habe lange die Wahrheit gesucht fortfährt: „ [So] ist die Wahrheit für mich wie ein Haus und ein Wagen / Und man hat sie genommen “ (739/ 14.192). Und diese theoretische Position und ihre Chiffre ermöglicht es auch, offensichtliche Krisen der Orientierung auszusprechen, etwa in dem Gedicht Über die Bezeichnung Emigranten (1937): „ Du, der du, sitzend im Buge des Bootes / Siehest am unteren Ende das Leck / Wende lieber den Blick nicht weg / Denn du bist nicht aus dem Auge des Todes “ (264/ 12.81), oder in dem Gedicht Die Verlustliste (1941), auf den Tod Walter Benjamins: „ Flüchtend vom sinkenden Schiff, besteigend ein sinkendes - / Noch ist in Sicht kein neues [. . .] “ (982/ 14.43), oder - und erneut zeigt sich diese neue Parallelität von „ Haus “ , „ Wagen “ und „ Schiff “ , diesmal eben im benachbarten Bildbereich der „ Haus “ -Architektur - im Mottogedicht der Steffinischen Sammlung (1941): „ Dies ist nun alles und ist nicht genug. / Doch sagt es euch vielleicht, ich bin noch da. / Dem gleich ich, der den Backstein mit sich trug / Der Welt zu zeigen, wie sein Haus aussah “ (270/ 12.95). Das hat in der Verknappung der Bilder und der bildhaften Umsetzung von Gedanken nun in der Tat schon fast etwas Allegorisches. Als aedificatio, „ Erbauung “ wird seit dem Mittelalter in der Theologie und der ihr benach- 26 Zum Zusammenhang von Exil und Brechts Tendenz zur Chiffre vgl. auch Christiane Bohnert, Brechts Lyrik im Kontext. Königstein 1982, 141 ff.; zur Codierung-Umcodierung aufgrund neuer Erfahrungen, ja Krisen, kommt gerade im Exil verstärkt das „ Streben Brechts nach Knappheit des Ausdrucks [. . .] wenn die Arbeit an größeren Projekten “ behindert war (Marion Lausberg, Brechts Lyrik und die Antike. In: Helmut Koopmann [Hrsg]., Brechts Lyrik - neue Deutungen, Würzburg 1999, S. 163 - 198, S. 176, vgl. S. 174 ff.). 27 Vgl. dazu auch oben Kap. 2 „ Warum soll mein Name genannt werden? “ Ein lyrisch-politisches Programm im Exil. Zur Sinnlichkeit der Chiffren in Bert Brechts Lyrik 37 <?page no="38"?> barten Rhetorik ein Teil bzw. eine Stufe der Schriftauslegung bezeichnet. 28 Die Seefahrt ist ein altes, insbesondere barockes Bild sowohl der Lebensreise als auch der Rede bzw. der Dichtung. Aber es ist - und das ist nun sehr wichtig - gerade das als problematisch Reflektierte, das allegorisch verschlüsselt wird. Die Allegorie ist für Brecht eine Figur der Skepsis. Für seine Überzeugungen wählt Brecht den direkteren Weg der Kommunikation 29 und Demonstration. Indirekt spricht er über den Zweifel. Genau und nur so fügen sich diese verschlüsselten Gedichte in die auf Wirksamkeit angelegten Zyklen der Exillyrik ein. Und mit diesen haben sie nicht zuletzt das Sinnlich-Anschauliche und den Erlebnischarakter gemeinsam. Es mag banal scheinen, aber es ist bekannt und eben sehr sprechend, dass Brecht auf einen Balken seines Hauses in Dänemark den Satz „ Die Wahrheit ist konkret “ gemalt hat und dass auf dem Dach dieses Hauses ein Schiffsruder angebracht war - eine im Ganzen geradezu barock-emblematische Stilisierung. Dabei ist es nun immer wieder die sinnliche Seite der Gedichte, die das allegorische Moment nicht nur trägt, sondern jeweils auch wieder korrigiert, allerdings nicht in der Form sofortiger und direkter, empirischer Falsifikation. Ihre Widerlegung oder Bestätigung - und dieses Risiko ist diesen Figuren und „ Chiffren “ immer eingeschrieben - kann nur die historisch-politische Erfahrung als ganz konkrete leisten. Die jederzeit zugängliche Sinnlichkeit der Chiffren dagegen, die Bild- und Klangqualität in ihrem Aufbau, ja ihre sinnliche Genauigkeit ist ein Stimulus für die Reflexion, für Selbstbesinnung und eigene Orientierung des lyrischen Subjekts wie der Leser. So hat diese reflektierte Selbstbesinnung sehr oft poetologische, bzw. „ meta-poetische “ , also über Dichtung redende Funktion. Es ist das „ lyrische Ich “ als Subjekt dichterischen Sprechens, 30 dichterischer „ Praxis “ , das sich in den dargestellten Dingen anschaulich wird: im Prozess des Sehens, Sprechens und poetischen Argumentierens, ja als dieser Prozess selbst. Und „ das Dichten muß [für Brecht] als menschliche Tätigkeit angesehen werden, als gesellschaftliche Praxis, mit aller Widersprüchlichkeit, Veränderlichkeit, als geschichtsbedingt und geschichtemachend “ (26.418) 31 . Gerade die bisher untersuchte Motiv- 28 Vgl. Reinhard Herzog, Exegese - Erbauung - Delectatio. In: Walter Haug (Hrsg.), Formen und Funktionen der Allegorie. Stuttgart 1979, S. 52 - 69. 29 „ Der Spielraum der Entwicklung neuer Ausdrucksqualität bemisst sich [. . .] nach den Möglichkeiten wechselseitiger Kommunikation “ , Klaus-Detlef Müller, Bertolt Brecht. Epoche - Werk -Wirkung, S. 178, vgl. S. 175 ff. 30 Zu dessen Definition vgl. Sandra Schwarz, Stimmen - Theorien lyrischen Sprechens. In. Verf./ Hubert Zapf (Hrsg.), Theorien der Literatur. Bd. III, Tübingen und Basel 2007, S. 91 - 123. 31 „ Damit wird der Bereich der Ästhetik insgesamt der Praxis unterstellt “ (Klaus-Detlef Müller, Bertolt Brecht. Epoche - Werk - Wirkung, S. 177). Das heißt allerdings nicht, dass gesellschaftliche Praxis die dichterische Praxis kontrollieren soll, sondern dass sie deren Zweck ist. Dichtung kann und soll so ihre kreative Freiheit wahrnehmen, und nur so kann gesell- 38 „ Sieh den Balken dort! “ <?page no="39"?> kontinuität von „ Haus “ und „ Schiff “ kann das zeigen, zum Beispiel in dem Gedicht von 1941: Der Balken Sieh den Balken dort am Hang Aus dem Boden ragend, krumm und, ach Zu dick, zu dünn, zu kurz, zu lang. Einstmals freilich war er dick genug Dünn genug, lang genug, kurz genug Und trug mit drei anderen ein Dach. (982/ 15.42) Man hat den „ Hang “ als die prekäre Situation des Exils gedeutet und das Verhältnis von „ Boden “ und „ Dach “ als das - natürlich - von „ Basis “ und „ Überbau “ . 32 Ich wüsste nicht, was das Gedicht dann noch zu sagen hätte. Es ist gerade das Zweifelhafte der Wahrheit, ihr Ruinenbild, das es zu sehen gilt. „ Allegorien sind im Reiche der Gedanken, was Ruinen im Reiche der Dinge “ , sagt Walter Benjamin. 33 Alles Allgemeingültige, kategorisch Vorgegebene, nachdem schon die Emphase „ ach “ es fragwürdig gemacht hatte, hebt sich hier ja wechselseitig auf. 34 Die Alternativen eines Bewertungs-Systems: „ zu dick, zu dünn, zu kurz, zu lang “ , geben keinen Maßstab für den Balken ab. Er ist in herkömmliche Raster nicht zu subsumieren. Aber das macht nur auf die direkte, besondere Art des Sehens und Sprechens und vor allem auf dessen Prozesscharakter aufmerksam. Und dies, zusammen mit dem einsilbigen Reim, dem steigenden Versmaß in der dritten und dem daktylischen in der vorletzten Zeile, trotz des melancholischen Inhalts, strahlt dies doch Zuversicht aus. Entsprechend wird das Allgemeine ersetzt durch die kontinuierliche Zeit in der Erinnerung: „ einstmals freilich “ , durch die empirische Erfahrung, die damit verbunden ist, durch die bestimmte Zahl ( „ mit drei anderen “ ), ja, durch das praktische Zusammenwirken konkreter Elemente. Es ist ja eigentlich nicht ein passives, statisches Belastbarsein, was das Gedicht zum Ausdruck bringen will, sondern ein aktives, dynamisches Tragen, ein Hochheben gewissermaßen. So wird der „ Balken “ durch die Emphase in Zeile zwei, durch die Fähigkeit zum Altern und zur individuellen Geschichte und durch seine aktive Natur am Ende fast wie ein Mensch gesehen. Aber er ist kein Symbol für irgendein Dichterschaftliche Arbeit von ihr profitieren. Vgl. dazu auch unten Kap. 6 „ Ein kräftiges WENN NICHT “ . Zur Logik des Engagements in Bert Brechts Lyrik. 32 Nasratolla Rastegar, Die Symbolik in der späten Lyrik Bert Brechts, S. 154, der die vier „ Balken “ dann als „ vier Träger der Vermittlungsfunktion zwischen Basis und Überbau (juristische, politische, weltanschauliche und moralische Institutionen) “ identifiziert. 33 Walter Benjamin, Der Ursprung des deutschen Trauerspiels. Frankfurt 1963, S. 197. 34 Vgl. zu diesem Gedicht auch oben Kap. 1 Vorwort: „ Stehend an meinem Schreibpult “ . Außenansichten von Bert Brechts Lyrik. Zur Sinnlichkeit der Chiffren in Bert Brechts Lyrik 39 <?page no="40"?> Ich. Das implizite „ Du “ der Anrede ist zunächst nur eine amplificatio, eine kommunikative, die Hörer und Leser einschließende Erweiterung des Ich und schafft zugleich eine klare Distanz gegenüber dem betrachteten Objekt. Subjektiviert dagegen, vom Ich durchdrungen, und das heißt auch von seiner Menschlichkeit, Geschichtlichkeit und seinem sozialen Konnex, ist der Balken als Artefakt. Er „ trug “ , weil er sinnreich und kunstgerecht bearbeitet und mit anderen zusammengefügt worden war. Und genau dies geht völlig kohärent zusammen mit dem Argumentationsgang, ja mit Bild, Klang, Prozess und schließlich dem Faktum des Gedichtes selbst. Dann ist ein sensus allegoricus des „ Hauses der Wahrheit “ , ja, wenn man will, des Menschen als „ lebendigem Stein im geistigen Hause “ , also geradezu so etwas wie die mittelalterliche Allegorie der aedificatio, der „ Erbauung “ , wie sie bei Brecht in vielen Architekturmetaphern aufklärerisch-sozialistisch immer wieder transformiert wird, all das ist beim Anblick dieses „ Balkens “ durchaus präsent, aber hier fast nur wie eine Erinnerung und auf alle Fälle und in erster Linie als Hypothese und Problem. In dem Maße, in dem der kunstvolle Diskurs des Gedichts, also der Prozess des Lesens, Hörens und Sehens, Inhalte entwirft und Bedeutungen „ verdichtet “ , im selben Maße hebt er - und wohlgemerkt, dieser Prozess ist der „ Code “ dieser „ Chiffre “ - jede apodiktische, immer richtige, gleichsam ‚ heilsgeschichtliche ‘ Wahrheit auf. Die „ Ruine “ wird im ganz sinnlich vermittelten Prozess der sich herstellenden Bedeutung in diesem Gedicht zu einem „ Aufmerksamkeitsvektor “ 35 für Wirklichkeitsbezüge aller Subjektivitäten 35 „ Indices sind Aufmerksamkeitsvektoren “ (Umberto Eco, Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte. Dt. von Günter Memmert, Frankfurt 1977, S. 157): Es ist bemerkenswert, wie genau der Prozess der Bedeutungsgenese in diesem Gedicht der wesentlich ja indexikalisch konzipierten semiotischen Ästhetik Max Benses korrespondiert, also einem Entwurf von Zeichenprozessen, die im generativen-degenerativen Zusammenhang des „ triadisch-trichotomischen “ Zeichenmodells von C. S. Peirce um eine „ rhematisch-indexikalisch-symbolische “ Zeichenfunktion ( „ 3.1 2.2 1.3 “ ) kreisen (vgl. z. B. Max Bense, Semiotische Prozesse und Systeme in Wissenschaftstheorie und Design, Ästhetik und Mathematik. Baden-Baden 1975, S. 85 und 135 ff.; zur Begrifflichkeit - „ symbolisch “ heißt hier „ konventionell “ bzw. „ arbitrarisch “ - und der zugrunde liegenden Zeichentheorie allgemein vgl. z. B. Winfried Nöth, Handbuch der Semiotik. 2. Aufl., Stuttgart-Weimar 2000, v. a. S. 425 - 466; als kurze, literaturtheoretisch orientierte Einführung vgl. Verf., Bedeutung als unendlicher Prozess. C. S. Peirces Semiotik und ihre literar- und medienwissenschaftlichen Perspektiven. In: Verf./ Hubert Zapf [Hrsg.], Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Bd. 1, Tübingen und Basel 2003, S. 141 ff., v. a. S. 156 ff.). Auffallend, fast demonstrativ genau verweist der appellativ hinweisende Gedichtbeginn ( „ dicentisch-indexikalisch “ , 3.2 2.2) sowohl ( „ selbstreferentiell “ ) auf das so geradezu isolierte Wort „ Balken “ ( „ rhematisch-symbolisch “ , 3.1 1.3) als auch auf das sich eben fiktional konstituierende Zeichen-Objekt: „ den [im Sinne von „ diesen “ ] krummen [. . .] Balken [. . .] dort “ ( „ dicent-sin “ , 3.2 1.2). Auch das „ degenerative “ , „ replikative “ (wenn man will: „ dekonstruktive “ ) Ansprechen des Bewertungs-Systems: „ zu dick, zu dünn, zu kurz, zu lang “ ( „ argument-symbol “ , 3.3 2.3), das dieser Balken ja gerade nicht erfüllt, betont „ indexikalisch “ dessen Besonderheit, seine sozusagen alle vorgegebenen „ Codes “ durchbrechende, genuine Singularität. Aber dies ist ein Gedicht, ein genauer, rhythmisch und bildhaft intensiver Text. 40 „ Sieh den Balken dort! “ <?page no="41"?> (Autor, „ Sprecher “ , Leser), die sie wahrnehmen. Und solche Bedeutungen können nur offen bleiben. Dieser prozessual-diskursive Bedeutungskontext nun, eine „ Bild- und Spuren-Geschichte “ kann man sagen, die sich nie vollständig zu einem post-ästhetisch zu fixierenden, z. B. ideologischen „ Code “ schließt, sondern ihm oft geradezu widerspricht, diese wandelbar-sinnliche „ Chiffre “ ist in Brechts Lyrik nach 1945 dann vielfach wieder zu finden. So provoziert zum Beispiel in Gedichten, die um Berlin 1948 kreisen (15.195 ff., vgl. 428), der Anblick von „ Bergen von Schutt “ und - sehr sprechend - von „ Hausskeletten “ die Überlegung: „ Noch sind Trümmer da. Bald wird wieder / Eine Stadt stehen, aber die Punier / Führten drei Kriege “ (15.195, 201, 432). Was nützt Wiederaufbau, wenn er zur ideologischen und hier zugleich ganz sinnlichanschaulichen „ Restauration “ , zum bloßen „ Wiederaufbau “ wird? Die alten Wahrheiten führen nur in neue Kriege, wie die Geschichte lehrt. Entsprechend heißt es in einem Gedicht Für Helene Weigel bzw. Und jetzt trete in der leichten Weise (1949): „ Das Richtige zeigend [. . .] Am gestürzten Haus / Die falsche Bauformel “ (1107/ 15.203) oder in dem Gedicht Schlechte Zeiten (1949): „ Das Haus ist gebaut aus den Steinen, die vorhanden waren “ (1118/ 15.214). Und genauso deutlich kritisiert Brecht in dem Gedicht Unglücklicher Vorgang (1952/ 1953), das den Aufbau ‚ von oben ‘ in der DDR zum Gegenstand hat, das Ausgehen von einer festen, vorgegebenen Wahrheit, die nicht praktisch, aus der „ Weisheit des Volkes “ erarbeitet wurde: Hier ist ein Haus, das für euch gebaut ist. Es ist weit. Es ist dicht. Es ist gut für euch, tretet ein. Zögernd nähern sich Zimmerleute und Maurer Klempner und Glaser. (1156/ 15.263) In all diesen Beispielen wird der zeitliche Vorgang des Sehens, Sicherinnerns und Reflektierens selbst zum Argument. Das galt auch für das Gedicht Der Die eben genannten Semiosen werden immer und immer wieder gelesen und verbunden. So entsteht in der Tat ein neuer, und immer wieder sich erneuernder, auf sich selbst ( „ indexikalisch “ , 2.2) verweisender, ästhetischer „ Code “ (ein „ legi “ -Zeichen, 1.3), der zugleich und ebenfalls „ indexikalisch “ auf den „ offenenen Konnex “ ( „ Rhema “ , 3.1) an Deutungsmöglichkeiten ( „ Interpretanten “ ) dieses „ Ding-Zeichens “ weist. Genau so werden dann diese Zeichenprozesse fruchtbar für die (ihrerseits „ dicentisch-indexikalische “ , 3.2 2.2 1.3) Erinnerung und deren Aussagen, für die Rekonstruktion der vollen Funktionen des Balkens und so fort. Das „ genaue Sehen des Konkreten “ in diesem Gedicht ist angewiesen auf das volle und imaginativ freie Ausspielen der angesprochenen Sprach- und Zeichen-Perspektiven. Die Erinnerung wählt bereits aus ihnen aus. Brechts lyrische Kunst ist eine des Verdichtens von Hinweisen, Spuren und Reflexions-Impulsen. Zur Sinnlichkeit der Chiffren in Bert Brechts Lyrik 41 <?page no="42"?> Balken. Wie dieser Balken einst trug, werden andere wieder tragen, auch im übertragenen Sinn, vorausgesetzt man arbeitet und denkt so, wie dieses Gedicht sieht und argumentiert. Beachtet man nun noch die frühere, oben zitierte Gleichsetzung: „ Seitdem ist die Wahrheit für mich wie ein Haus und ein Wagen “ , dann eröffnet alles bisher Gesehene vielleicht auch einen Zugang zum ersten Gedicht der Buckower Elegien von 1953: Der Radwechsel Ich sitze am Straßenhang Der Fahrer wechselt das Rad. Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre. Warum sehe ich den Radwechsel Mit Ungeduld? (296/ 12.310) Man hat die präzise, alltägliche Situation, aber auch den weiteren Kontext vor Augen, mit dem Übergang von Faschismus, Krieg und Exil zu einer nicht einmal halb geglückten DDR. Der Sprecher sieht zu, wie an einem Wagen ein Rad gewechselt wird, und die Perspektive dieses Vorgangs selbst geht über alle vorgegebenen und erwarteten Wertungen und Ziele hinaus. Ob diese erfreulich sind oder nicht, wird unwichtig. Im Grunde kehrt sich das Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft gegenüber der Gegenwart um. Zeit wird als bewusste, bis ins Gefühl hinein erlebte Praxis mitgeteilt. Dieser Moment des Umschlags der Zeitorientierung - die ganze Stimmung konzentrierter Muße in diesem Gedicht vermittelt es auf ihre Weise auch - birgt, besser, entlässt ein Moment von Freiheit: Aufwertung des Unbedeutenden im Gegensatz zu allen vorgegebenen Ordnungen, Freiheit, aus den festen Zeitabläufen zumindest in Gedanken herauszutreten, Distanz zu sich selbst, und so auch die Freiheit, die so genannten Ziele in Frage zu stellen. Und dieser Augenblick des frei negierenden ( „ nicht “ und „ nicht “ ) Nachdenkens über „ woher “ und „ wohin “ ist auch mit Erinnerung gefüllt. So reagiert einer, der lange unstet und ungewiss unterwegs und nirgends recht „ zu Hause “ war. Genauso erinnert das Gedicht ja auch an die Nahezu-Allegorie seiner Motivkontinuität. Der Zusammenhang von „ Haus “ und „ Wagen “ (der Wahrheit: „ Ist die Wahrheit für mich wie ein Haus und ein Wagen “ , 739/ 14.192) hatte ja immer vor allem dem Bewusstsein des Problematischen und Hypothetischen gegolten. Es ist bezeichnend, dass auch jetzt - es muss ja eine Reifenpanne voraus gegangen sein - gerade die Situation der Störung und des Nicht-Funktionierens produktiv wird. Erst sie lenkt das Denken, aber auch bereits den lesend-vorstellenden Blick auf das Frage- und Erfahrungspotential des je Besonderen, zum Beispiel auf einen einzelnen Augenblick. Dem entspricht es dann auch, dass Brecht, indem er an die allegorische Bedeutung erinnert, diese zugleich entbehrlich macht. Genau 42 „ Sieh den Balken dort! “ <?page no="43"?> auf diese Weise realisiert er poetisch einen Begriff von Wahrheit, zu dem vor allem der Wechsel, die Erneuerung, perspektivische Praxis und stetiges Fragen gehören. Das Ich begreift den konkreten Vorgang, indem es ihn transzendiert. Das kann man an das Modell der Allegorese anschließen, muss es aber nicht. Das Gedicht zeigt es ohnehin. Kann man von „ lyrischen Chiffren “ in dieser Phase von Brechts Lyrik sprechen? Es zeigt sich verblüffend klar eine analoge Struktur wie in der modernen, nachsymbolistischen Lyrik allgemein. 36 Diese Zeichen sind äußerster Knappheit fähig. Bildhafte ( „ iconische “ , oft „ metaphorische “ ) Entwürfe verbinden sich in ihnen mit ( „ indexikalischen “ , „ metonymischen “ ) „ Kontiguitäts “ -Assoziationen und „ Aufmerksamkeits-Vektoren “ , die sehr genau den engeren und weiteren Kontext des jeweiligen Gedichts erschließen: die Erlebnisse des Autors, die historische Situation, aber oft auch sehr weit zurückreichende Mentalitäts- und Text-Geschichten. All dies wieder steht in produktiver Wechselwirkung mit konventionellen Bedeutungen (dem proprium) der Sprache und der Motive. Es ist natürlich hilfreich, da diese bildhaften und „ deiktischen “ Abbreviaturen immer wiederkehren, ihre Kontinuität und Distribution im Gesamtwerk zu lesen. Aber dabei haben bei Brechts lyrischen Chiffren Kontext, Variation, Singularität und durchaus auch ihr Verweis auf biographische wie historische Situationen die wesentliche interpretative Funktion. So gerinnt ihre Bedeutung auch nie zum Code. Gerade aus der Spannung von paradigmatischer Rekonstruktion und syntagmatischer Neubewertung leben sie. Darin liegt ein wesentliches Moment ihrer Modernität. Und dass das so ist, zeigt sich besonders deutlich in ihrem Verhältnis gegenüber der Allegorie. 37 Deren Tradition, ja Topik ist offensichtlich wirksam. Aber deren gleichsam heilsgeschichtliche Ideologisierung, dass, wer über eine richtige Lehre verfügt, alles allegorisieren kann, das ist offensichtlich nicht Brechts Position. Es sind nie positive Aussagen oder Gesetzmäßigkeiten, auch nicht solche marxistischer Lehre, und streng genommen sind es auch nicht historische Verhältnisse, die den sensus allegoricus dieser Zeichen bilden, oder besser: dessen immer bewusst distanzierte, nur als ferner Horizont präsente Erinnerung. Der Modus des Irrealis in den jetzt gleich zu besprechenden Gedichten beispiels- 36 Zum jetzt zugrunde gelegten Modell moderner Poetik, insbesondere zu den Begriffen „ Similarität “ und „ Kontiguität “ , „ Metapher “ und „ Metonymie “ in ihrer Wechselwirkung, zur Dialektik von „ Code “ und „ Message “ , „ Paradigma-Selection “ und „ Syntagma-Kombination “ usw. vgl. z. B. Roman Jakobson, Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921 - 1971. Hrsg. von Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert, Frankfurt 1979, sowie Roman Jakobson und Krystina Pomorska, Poesie und Grammatik. Dialoge. Dt. von Horst Brühmann, Frankfurt 1982. Jakobson war wesentlich von Peirce beeinflusst, und seine Poetik lässt sich mit dessen Semiotik kohärent verbinden. 37 Vgl. z. B. Gerhard Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol. Göttingen 1982. Zur Sinnlichkeit der Chiffren in Bert Brechts Lyrik 43 <?page no="44"?> weise, der Topos der Destruktion, der Umstand, dass alles immer das Gegenteil von dem bedeuten kann, als was es sich zunächst präsentiert, nicht zuletzt die deutliche Kontinuität zu den unaufgelösten Spannungen des Frühwerks, all das scheint mir wesentlich. Es ist der Zweifel, den Brecht allegorisiert, aber in seiner produktiven Form: Probleme, Hypothesen und Antithesen, Forderungen, gedachte Umkehrungen, das je Einzelne als Risiko der Lehre. Und dem entspricht es schließlich, dass die sinnlich-anschauliche, eigentlich materialistische Basis dieser Chiffren, dass gerade sie ihre Verschlüsselungen aufhebt, indem sie ihre Bedeutung in actu immer neu konstituiert. Wie hier Bild, Rhythmus, syntaktischer und argumentierender Prozess usw. zusammenwirken, habe ich gezeigt. So wird das Objektive subjektiviert, denn es wird perspektivisch, fragend und reflektierend aufgelöst. Immer ist ein anschauendes, denkendes und sprechendes, die Realität bearbeitendes Ich erkennbar. Aber zugleich ist dieses Subjektive objektiviert: Die Gedanken, Gefühle und Assoziationen werden ja anschaulich und gegenständlich dem Ich entgegengesetzt. Als Modelle und Prozesse sind sie dann auch für den Leser bzw. Hörer der Gedichte im Nach-, Mit- und Weitersprechen überprüfbar. So wird der sensus allegoricus konstituiert und entbehrlich zugleich. Gerade weil es sich ja immer nur um Zweifel, Möglichkeiten und Forderungen des praktischen Sehens und Denkens handelt, kann, wer genau hinsieht und seinen Verstand zu gebrauchen wagt, auch so hinter den „ chiffrierten “ Sinn kommen. Dass seit dem Exil und dann vor allem in der späten Lyrik die in der Frühzeit so gegensätzlichen Motive „ Haus “ und „ Schiff “ eng verbunden sind, das ist genau und nur unter dieser Struktur von Brechts Chiffrensprache plausibel. Der Rauch Das kleine Haus unter Bäumen am See. Vom Dach steigt Rauch Fehlte er Wie trostlos dann wären Haus, Bäume und See. (1953; 295/ 12.307) Dies ist eines der Gedichte, die am klarsten in der Tat die Buckower Elegien als ein „ Werk des [immer noch fort dauernden] Exils “ 38 ausweisen. So gibt es ja zu diesem Gedicht eine sehr sprechende Vorstufe: Heimkehr des Odysseus Dies ist das Dach. Die erste Sorge weicht Denn aus dem Haus steigt Rauch: es ist bewohnt. 38 Helmut Koopmann, Brechts „ Buckower Elegien “ ein Alterswerk des Exils? , S. 113. 44 „ Sieh den Balken dort! “ <?page no="45"?> Sie dachten auf dem Schiffe schon: vielleicht Ist unverändert hier nur mehr der Mond. (850/ 14.339) Odysseus war für Brecht ein Exilierter, der nie wirklich heimkehren kann: Er sucht nach einem Land, „ das er selber gebaut hatte, und zwar in seinem Kopf. Er fand dieses Land nicht. Es liegt anscheinend nicht auf diesem Planeten. “ 39 Hier ist er auch von seinen Weggenossen isoliert. Er sieht, tiefer als sie, in der Unveränderlichkeit des Mondes auch die bis zum Leblosen totale Zerstörung. Das hat im Kontext des Kriegsendes eine schneidend aktuelle Bedeutung: Der einzige Sinn der Zerstörung ist die radikale Veränderung. So enthält hier jedes Element des Gedichtes seinen Gegensatz: Das Heimelige des bewohnten Hauses spricht auch von Erstarrung, die Heimkehr spricht auch von lebenslangem Exil, die Hoffnung auf Bestand geht einher mit dem Wunsch nach Veränderung. Die „ erste Sorge weicht “ , aber eine noch viel weiter gehende steht unmittelbar dahinter: Welche Zerstörungen wird erst die Zeit nach dem Kriege anrichten, welche der immer wieder erwartete ( „ die Punier führten drei Kriege “ ) dritte Weltkrieg? Man sieht, wie aus der Abfolge von Eindrücken und Reaktionen die Perspektive des Gedichts und aus dieser wieder antithetische Folgerungen entstehen, und wie all dies sich in den Reflexionsprozess hinein fortsetzt, der dem Leser nahe gelegt wird. So wird nicht nur Räumliches in Zeit und Geschichte übersetzt. In kontinuierlichem Übergang wird das Gegenständliche und Anschauliche über den Vorgang des Sehens und Erlebens und dann des Denkens zu geistiger Bedeutsamkeit erhoben. Fast unmerklich und völlig unaufgesetzt treten so auch die alten Bedeutungen hervor, etwa vom „ Haus der Wahrheit “ , das nur lebt, wenn es zerstörbar und veränderbar ist, und ihm korrespondierend die vom „ Schiff “ imaginativer bzw. dichterischer Existenz, von der aus dieses „ Haus “ ja gesehen wird, und die sich eben als ruhelos, zweifelnd, nur exiliert zuhause begreift. Man kann diesen sensus allegoricus der Chiffre sehen, muss es aber nicht. Ihre poetische Sinnlichkeit zeigt ihn ohnehin. Dieselbe „ Sinnlichkeit der Chiffre “ , ja geradezu noch ein Mehr an Anschaulichkeit, leistet Brechts lyrische Sprache im Gedicht Der Rauch. Das Haus wird offensichtlich aus einiger Entfernung gesehen. Es gerät samt Bäumen und See zu Beginn des Gedichtes als ganzes in den Blick, als sähe man es zum ersten Mal oder als sähe man es nach langer Zeit überraschend wieder. Erst dieser unruhige Zeithorizont macht die räumliche Geschlossenheit und Ruhe des Bildes selbst wirklich spürbar. So korrespondiert der 39 Bertolt Brecht, Gesammelte Werke, Bd. 19, S. 437. Darauf, dass das Motiv des „ Rauchs “ bereits in der Odyssee des Homer auftaucht (Odysseus sehnt sich im Exil bei Kalypso nach dem Rauch vom heimischen Herd) weist. Marion Lausberg hin, Brechts Lyrik und die Antike, S. 187. Zur Sinnlichkeit der Chiffren in Bert Brechts Lyrik 45 <?page no="46"?> „ objektiv “ aufsteigende Rauch einer „ subjektiven “ Erwartung, ja einer das Gedicht überhaupt prägenden Art und Praxis des Sehens und Denkens. Erst diese aktive, arbeitende Seh- und Denkweise und Lebensform erschließt hier dann das Tröstliche des Gedichts. Und dazu gehört wesentlich auch, dass dieser lyrische Diskurs in der Vorstellung ( „ fehlte er. . . “ ) gerade auch die Destruktion des Gegebenen durchspielt. Der einfache Eindruck wird negiert und korrigiert, um erst dann als bedeutsam erkannt zu werden. Und all das ist schließlich ein zeitlicher und ein reflektierender Vorgang. Der Irrealis der Reflexion teilt sich dann gerade auch dem Resultat mit. Die durch Nach- und Weiterdenken erneuerte Anschauung meint nichts einfach Gegebenes und Gegenwärtiges mehr. Erst so erhält die hier angedeutete Einheit von Natur und „ Haus “ ihre über die Idylle hinausreichende Bedeutung. Sie ist etwas Zukünftiges, eine Möglichkeit und eine Aufgabe. Auch jetzt wird die Chiffre vom „ Haus der Wahrheit “ - konstruktivdestruktiv, veränderlich, eine Aufgabe der Praxis, unter dem Vorbehalt des Noch-Nicht-Erreichten, aus der Perspektive andauernder Emigration gesehen usw. - auch jetzt wird die „ Chiffre “ im Gedicht in actu aufgehoben. Und das gilt nun verblüffend genau und parallel auch im Hinblick auf die andere in diesem Aufsatz nachgezeichnete Motiv- und Bild-Tradition - man findet sie übrigens auch sehr sprechend in dem schönen Gedicht Rudern, Gespräche - , all das gilt erst recht für das Motto der Buckower Elegien: Ginge da ein Wind Könnte ich ein Segel stellen. Wäre da kein Segel Machte ich eines aus Stecken und Plane. (294/ 12.310) Unverkennbar spricht aus diesem Gedicht zunächst eine gewisse Enttäuschung über die Stagnation des Sozialismus in der DDR, erst recht „ nach dem Volksaufstand des 17. Juni “ 1953 (wie es wenige Zeilen später das Gedicht Die Lösung präzisiert, 296/ 12.310). Nur Dogmatiker würden sie ableugnen, nur Idealisten würden an ihr verzweifeln. Aber im Bild des „ Windes “ kommt nicht nur das Fehlen historischer Energie - dies gewiss - , es kommt auch ganz einfach der Rhythmus der Natur in den Blick, der Tages- und Jahreszeiten beispielsweise. Man vergleiche etwa die Gedichte Vergnügungen (1174/ 15.287) oder Wie der Wind weht (bzw. Die Burschen, eh, 1177/ 15.292). Es wäre Unsinn, so zu tun, als würde es nie wieder Wind geben. Anders gesagt, je mehr man auf einfache, praktische Dinge zurückgeht, umso klarer wird aus dem Irrealis ein Konditionalis: 40 „ Wenn es Wind gibt, mein Segel setze ich schnell “ . Dann hat 40 Vgl. dazu unten Kap. 8 „ Warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld? “ Zur Kontinuität der Argumentation in Brechts „ Buckower Elegien “ . 46 „ Sieh den Balken dort! “ <?page no="47"?> der Irrealis nichts Enttäuschtes mehr, sondern etwas Wartendes, besser: etwas von Erwartung. Man befindet sich an einem unaufdringlichen, für jeden nachvollziehbaren Übergang von Stagnation und Dynamik, Zusehen und Eingreifen, Denken und Handeln, Theorie und Praxis. Und genauso kontinuierlich gelingt hier der Übergang von wörtlichanschaulichem und übertragenem Sinn, von Bild und Chiffre. Es handelt sich ja auch und vor allem um ein metapoetisches Gedicht. Nicht nur, dass die alte Vorstellung der inspiratio erneuert wird und natürlich auch das Bild vom Schiff der Rede und der ganzen dichterischen Existenz. Sehr fein und mit leichter Hand ist dies hier auch mit dem „ Haus und dem Wagen der Wahrheit “ verknüpft, sofern Stecken und Plane z. B. an das Floß des exilierten Odysseus erinnern - eine Brecht nahe liegende Assoziation - , aber etwa auch Teile eines Zeltes sein können: Beweglichkeit, konstruktiv und destruktiv sein, Verantwortlichkeit und Kreativität, alle diese Gedanken, die die beiden Bilder seit dem Frühwerk begleiten, sie sind vielleicht nirgends so konzentriert und fast spielerisch verschlüsselt dargestellt wie hier. Aber wie jedes poetologische Gedicht macht auch dieses seine Aussage in seiner Form, in der Sinnlichkeit von Bild und Klang transparent. Es zeigt in seinem irrealen Modus, dass die prinzipielle Differenz von Idee und Realität, wie sie sich traditionell mit der Form der Elegie verbindet, nicht einfach weg-behauptet werden kann. Aber sie muss auch nicht lähmen. Das ergibt sich schon aus der genannten zweierlei Logik, nach der der Irrealis des Anfangs fortschreitend, und das heißt nach und nach retrospektiv, in einen Konditionalis übergeht. Aber die Metapoetik des Gedichts führt darüber noch hinaus. Die Imagination des Abwesenden, mit der das Gedicht beginnt, unterstreicht eben eine ureigene Fähigkeit der Dichtung. Sie korrespondiert hier durchaus der etwa in Der Balken oder Der Radwechsel oder in den Rauch-Gedichten gesehenen imaginierten Destruktion des Gegebenen. Und dass dies hier wiederholt und bewusst aktiv behauptet wird, diese Haltung setzt sich fort in den ganz praktisch-materiellen Schluss. Wie „ Wind “ für inspiratio und „ Schiff “ für Dichtung stehen kann, so kann „ machen “ nach dem Vorbild des Griechischen (poiein) eben auch „ dichten “ heißen. Poetik ist Modell allgemeiner Praxis und orientiert sich an ihr. Und das Gedicht aus einfachen, alltäglichen Materialien, also Bildern, Klängen und Worten - „ die allereinfachsten Worte / Müssen genügen “ (1180/ 15.295; 1956) - , dieses „ Segel aus Stecken und Plane “ ist nichts Irrationales oder Konditionales mehr. Es ist ein lyrisches Faktum. 41 41 Das Gedicht „ formuliert hypothetisch die Möglichkeit, unter bestimmten Voraussetzungen dichten zu können, verneint zugleich aber in der Hypothese, dass die Voraussetzungen bestehen, und realisiert dies dennoch lyrisch “ , Jan Knopf, Bertolt Brechts Buckower Elegien. Frankfurt 1986, S. 37. Zur Sinnlichkeit der Chiffren in Bert Brechts Lyrik 47 <?page no="48"?> Man sieht, wie gerade der metapoetische Argumentationsweg des Gedichts zur Antithese gegenüber seinem Beginn, auch gegenüber der historischen Situation führt. Das aber bleibt nicht bei einer ästhetischen Distanz. Es ist vielmehr so, dass die prinzipielle Differenz von Idee und Realität überführt wird in die konkrete Distanz von Praxis und Resultat. Die Elegie schlägt um in utopische Antizipation. Genau darin, dass es das zu leisten vermag, hat das Sinnliche, Anschauliche und Praktische gegenüber allen gleichwohl gültigen „ Chiffren “ das letzte Wort. 48 „ Sieh den Balken dort! “ <?page no="49"?> 4 „ Ach wie solln wir nun die kleine Rose buchen? “ Bert Brechts Lyrik und die Tradition der Moderne Unter den späten Gedichten von Bert Brecht befindet sich eines, über das ich mich schon seit einiger Zeit immer ein bisschen ärgere. Daher will ich es auch Ihnen nicht vorenthalten: Beim Anhören von Versen Des todessüchtigen Benn Habe ich auf Arbeitergesichtern einen Ausdruck gesehen Der nicht dem Versbau galt und kostbarer war Als das Lächeln der Mona Lisa. (15.300) 1 Hier ist vieles unpassend: Solche Gedichte schreibt Brecht nicht oft und nach dem Exil immer seltener. Das Gedicht ist auch ein bisschen dümmlich: Benns große Wirkung auch über die so genannten „ Intellektuellen “ hinaus ist erwiesen. Und vor allem ist Benn nicht „ todessüchtig “ . Er redet gar nicht oft vom Tod, und wenn, dann immer, schon seit seinen frühen expressionistischen Gedichten, in einem ausgesprochen vitalistischen Sinn: Und sinkt der letzte Falter in die Tiefe die letzte Neige und das letzte Weh, bleibt doch der große Chor, der weiterriefe: die Himmel wechseln ihre Sterne − geh. Der Tod erscheint als ein bloßer Übergang im Gesamt evolutionärer Prozesse; über jeden Tod hinaus führt innerweltliche Transzendenz, ein größeres „ Leben “ als das je eigene: Die Fluten, die Flammen, die Fragen − und dann auf Asche sehn: „ Leben ist Brückenschlagen über Ströme, die vergehn. “ 2 Auch im Mittelvers des programmatischen Gedichts Statische Gedichte, auf das ich gleich eingehen werde, nimmt Benn eher die Haltung des stoischen Weisen 1 Zur Zitierweise vgl. oben Kap. 1, Anmerkung 2. 2 Gottfried Benn, Gesammelte Werke. Hrsg. Von Dieter Wellershoff, Wiesbaden 1960, Bd. 1, S. 344 (Epilog 3). <?page no="50"?> ein, der den Tod weder fürchtet noch ersehnt und ihn gelassen erwartet, als die irgendeiner „ Sucht “ nach ihm. Wer dagegen auffallend viel vom Tod, vom Gestorbensein, von der Hölle, vom Abschiednehmen und Vergessenwerden dichtet, ist - Brecht selbst. Dass ein Intellektueller von der „ Arbeiter-Klasse “ , die er sucht, „ belächelt “ und verkannt wird − „ In der Welt, die ich mir wünsche, komme ich nicht vor [. . .] Strebend nach einem Kollektiv, verlasse ich ein Kollektiv “ 3 ; Benn dagegen beansprucht das Recht zum Monolog und erhebt die Distanz zum Prinzip − , ja, dass der Weise geradezu verlacht wird, ist ebenfalls etwas, was Brecht selbst beschäftigt: „ Ha! Ha! Ha! lachten die Kunden des Sokrates [. . .] “ (1183/ 15.299), so beginnt gleich das in der „ kleinen “ Werkausgabe der Benn-Verspottung folgende späte Gedicht, das Elisabeth Hauptmann noch den Buckower Elegien zugeordnet hatte. 4 Es scheint ja überhaupt ein Gesetz zu sein: Wenn Dichter über Dichter reden, dann reden sie immer auch über sich selbst. Gibt es also vielleicht zwischen den beiden Antipoden der deutschen Nachkriegslyrik, Benn und Brecht, nach denen man früher geradezu verschiedene Epochen einteilte, 5 tiefer liegende Gemeinsamkeiten und Zusammenhänge, so etwas wie einen verborgenen Dialog der Gegenthesen, oder eben ganz allgemein „ moderne “ gemeinsame Voraussetzungen ihrer im Ergebnis freilich ganz verschiedenen Poetik? Diese Frage ließe sich, wenn überhaupt, nur im größeren Kontext der Frage nach „ Bert Brechts Lyrik und die Tradition der europäischen Moderne “ beantworten. Zu dieser Moderne hat Benn sich immer bekannt, er hat sie nach dem Krieg wesentlich propagiert. Aber wie steht es mit Brecht? Für die Forschung war und ist das weithin ein Tabu-Thema. 6 In dem lange prägenden Standard-Werk von Hugo Friedrich Die Struktur der modernen Lyrik (1956) kam Brecht als Lyriker nicht vor. 7 Und umgekehrt schienen Brecht-Forscher lange irgendwie stolz darauf zu sein, Baudelaire oder Rilke 3 Bertolt Brecht, Gesammelte Werke in 20 Bänden. Hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann, Frankfurt/ M. 1967; Supplementbände zur Werkausgabe. Gedichte aus dem Nachlaß. Hrsg. von Herta Ramthun, Frankfurt/ M. 1982, Bd. 3, S. 244. 4 Bertolt Brecht, Gesammelte Werke, Bd. 10, S. 1018. 5 So etwa und prägend Walter Hinck, (Hrsg.), Gedichte und Interpretationen. Bd. 6: Gegenwart. Stuttgart 1982, S. 14. 6 Auf alle Fälle ist die Sorge, dass eine „ Annäherung seines [Brechts] Begriffs politischer Lyrik an die Konzeption autonomer Kunst “ und der Versuch, „ hinter dem Ideologen Brecht den Dichter aufzuspüren “ , dass dies eine „ Entpolitisierung “ , „ Vereinnahmung “ und „ ideologische Anpassung “ mit sich bringe (Klaus-Detlef Müller, Bertolt Brecht. Epoche - Werk - Wirkung. München 2009, S. 187), diese Sorge scheint mir unbegründet. Die moderne autonome Ästhetik bildet, davon bin ich überzeugt, die Voraussetzung politisch-kommunikativer Wirkung in Brechts Lyrik, auf alle Fälle in seinen besten Gedichten. 7 Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik. Erweiterte Neuausgabe, Hamburg 1967. 50 „ Ach wie solln wir nun die kleine Rose buchen? “ <?page no="51"?> oder Benn nicht zu kennen. Dagegen hat z. B. Michael Hamburger immer wieder auf die europäisch-modernen Züge in Brechts Lyrik hingewiesen, in einzelnen Interpretationen, in Querverweisen (Rimbaud und Brecht, Brecht und Apollinaire, Ezra Pound, William Carlos Williams) und kontinuierlich auf immerhin zehn von 406 Seiten seines Buches The Truth of Poetry (1969)/ deutsch: Die Dialektik der modernen Lyrik (1972), später: Wahrheit und Poesie (1985): Der Unterschied zwischen einer primär auf Entdeckung ausgehenden oder experimentellen Lyrik und einer Lyrik, deren primäres Anliegen ihre Funktion als Kommunikationsmedium ist [. . .] der Unterschied ist also ein gradueller. 8 Ich möchte mich dem anschließen und noch einen Schritt weiter gehen: Nicht nur gibt es Zusammenhänge und Übergänge. Das sogenannte Moderne, also z. B. die „ Anarchie der Imagination “ , das Ausspielen der ästhetischen Negationen und Entautomatisierungen, die Offenheit des Kunstwerks, das im Prinzip radikale Experiment, ist in Brechts Gedichten, auf alle Fälle in den gelungensten, Voraussetzung seines kommunikativen, sozialen und politischen Engagements, natürlich nicht die einzige, aber eine wesentliche und unverzichtbare. Man könnte nun so vorgehen, dass man der Entwicklung Brechts folgt und so z. B. den Spuren des Expressionismus nachgeht, ein Verfahren, das Brecht mit Sicherheit in der Tradition der europäischen Moderne zeigen würde. Ich wähle aber heute einen eher essayistischen, auf alle Fälle direkteren und hoffentlich anschaulicheren, eben einen komparativen Weg: Etwa zur Zeit der Buckower Elegien (1953), auf die und ihr, vorsichtig gesagt, 9 mögliches lyrisches Umfeld ich mich konzentrieren möchte, entstanden ganz unabhängig voneinander Gedichte verschiedener Autoren, in denen zentrale Strukturen der modernen Lyrik bewusst rekonstruiert wurden, und indem ich diese Texte zu denen Brechts in Beziehung setze, aus dem Dialog der Gegensätze heraus, möchte ich versuchen, mich meinem Thema und meiner These zu nähern. 8 Michael Hamburger, Die Dialektik der modernen Lyrik. Dt. von H. Fischer, München 1972, S. 245, vgl. ebd. ff.; im bewussten Anschluss an Hamburger und kritisch gegenüber Friedrich (vgl. S. 7 ff.) hat z. B. auch Dieter Lamping (Moderne Lyrik. Eine Einführung. Göttingen 1991) den Begriff so erweitert, dass Brecht und überhaupt die „ politische Lyrik “ darin Platz haben (vgl. v. a. S. 42 ff.), aber in der Dichotomie: „ realistische “ gegen „ symbolistische “ Tradition scheint mir dann doch das Modell der „ Antipoden “ weiter zu leben. 9 Vgl. v. a. zur Zyklusfrage auch unten Kap. 8 „ Warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld? “ Zur Kontinuität der Argumentation in Bert Brechts „ Buckower Elegien “ . Bert Brechts Lyrik und die Tradition der Moderne 51 <?page no="52"?> Gottfried Benn Statische Gedichte Entwicklungsfremdheit ist die Tiefe des Weisen, Kinder und Kindeskinder beunruhigen ihn nicht, dringen nicht in ihn ein. Richtungen vertreten, Handeln, Zu- und Abreisen ist das Zeichen einer Welt, die nicht klar sieht. Vor meinem Fenster, − sagt der Weise, − liegt ein Tal, darin sammeln sich die Schatten, zwei Pappeln säumen einen Weg, du weißt, − wohin. Perspektivismus ist ein anderes Wort für seine Statik: Linien anlegen, sie weiterführen nach Rankengesetz, − R a n k e n s p r ü h e n , − auch Schwärme, Krähen, auswerfen in Winterrot von Frühhimmeln, dann sinkenlassen − , Du weißt − für wen. [1943] 10 Gottfried Benns späte Gedichte kreisen nicht um den Tod, sondern um das Nichts - obwohl dieses selbst selten genannt wird. Nur vor diesem Hintergrund sind die vielfältigen Realien und Ideen, Alltägliches und Abendländisches, Symbolisches ebenso wie Banales, thematisierbar: „ Perspektivismus “ entsteht, indem alles was ist, auch anders sein oder nicht sein könnte. Die Kunst lebt nun von dieser Fähigkeit zur Negation − das umschreiben die ersten beiden Verse − , denn nur so erhält das Zusammenführen des Heterogenen, der „ Benn- Ton “ , Ausdrucks- und Erkenntniswert: „ Linien anlegen, / sie weiterführen / nach Rankengesetz, − / R a n k e n s p r ü h e n . “ Benns Form ist dann vielleicht der sich aufhebender Magnetfelder vergleichbar, „ Statik “ hieße „ Nullpunkt vielfältiger Dynamik “ , und insbesondere vermag so das an den Widersprüchen 10 Gottfried Benn, Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 236; wirksam rezipiert wurden diese Gedicht freilich erst in den 50er und frühen 60er Jahren, der so genannten lyrischen „ Benn-Zeit “ . 52 „ Ach wie solln wir nun die kleine Rose buchen? “ <?page no="53"?> der Zeit leidende „ späte Ich “ , das „ verlorene “ aber auch „ gezeichnete “ , also stigmatisierte Ich aus der Kraft zur Negation heraus sein Selbstbewusstsein zu erhalten: Durch soviel Formen geschritten durch Ich und Wir und Du [. . .] es gibt nur zwei Dinge: die Leere und das gezeichnete Ich. 11 Wie auch immer, für Brecht - dieser Gegensatz bleibt natürlich relevant - ist die bloße Künstlerexistenz, die als solche angenommen wird, angenommen ohne Illusionen über die Realität, nicht genug. Aber wenn für ihn, das ist sein Credo seit langem, Kunst Teil allgemeiner, realitätsverändernder Praxis ist, dann ist auch für ihn das Einkalkulieren des Nichts Teil seiner poetischen und politischen Strategie: [. . .] Wenn die Irrtümer verbraucht sind Sitzt als letzter Gesellschafter Uns das Nichts gegenüber. (426/ 13.189) Das ist so lakonisch allgemein formuliert, dass es für Brecht genauso hart gilt wie für Benn oder, neben vielen anderen, etwa schon für Baudelaire ( „ je cherche le vide le noir et le nu “ ). 12 Weitergedacht heißt das: Alles, was wir behaupten und für wahr halten, also dann z. B. durchaus auch der Sozialismus, so wie wir ihn bis jetzt kennen und erfassen, gilt unter der Voraussetzung seiner Negierbarkeit; es könnte sich als Irrtum erweisen; also nur wenn wir diesen Gedanken zulassen, aber freilich nicht aus ihm allein, gewinnen wir eine notwendige Dimension dafür, sinnvoll für die Wahrheit, auch die des Sozialismus zu arbeiten. Geh ich zeitig in die Leere Komm ich aus der Leere voll. Wenn ich mit dem Nichts verkehre Weiß ich wieder, was ich soll. (1125/ 15.223) 11 Ebd., S. 342, vgl. S. 215 oder S. 231 ( „ Noch einmal so sein “ ) oder S. 345 ( „ Die vielen Dinge “ ). 12 (Ich suche das Leere, das Schwarze und das Nackte) Charles Baudelaire, Oeuvres complètes. Hrsg. von C. Pichois, Éditions de la Pléiade, Paris 1975, S. 75 (Das Gedicht Obsession gilt als Kontrapunkt zum programmatischen Communications). Sofern nichts anderes vermerkt ist, stammen alle Übersetzungen von mir. Bert Brechts Lyrik und die Tradition der Moderne 53 <?page no="54"?> − Haben wir hier nicht so etwas wie einen punktuellen Dialog vor uns zwischen den beiden Antipoden der Nachkriegsliteratur? Nur über die Negation entsteht der Sinn für das Unbekannte und das Neue, das Innovative und die Kunst: „ Die radikale Abkehr vom Alten, die jeweilige Neuerung muß laufend weitergeführt werden. “ 13 Das ist ein Kernsatz der europäischen Moderne: Wir müssen uns hinein wagen „ au fond de l ’ Inconnu pour trouver du nouveau “ (in die Tiefe das Unbekannten hinein, um Neues dort zu finden) sagt Baudelaire, „ les voyants arrivent à l ’ inconnu “ (die [Dichter als] Seher kommen im Unbekannten an) heißt es bei Rimbaud, „ what is known I strip away, and I launch all men and women with me forward into the unknown “ sagt fast gleichzeitig mit Baudelaire Walt Whitman. 14 Bei allen drei Autoren nun verbindet sich dieses Prinzip, so wie es jetzt zitiert wurde, mit dem Topos, dem bedeutungsgeprägten Bild, der Seereise. Und demselben Topos begegnen wir im Motto-Gedicht der Buckower Elegien − Ginge da ein Wind Könnte ich ein Segel stellen Wäre da kein Segel Machte ich eines aus Stecken und Plane. (294/ 12.310) Auch das Vorbild des Horaz − 4. Buch Oden, 15. Gedicht (Seefahrt heißt „ Dichtung schreiben “ , wie die „ große “ Brecht-Ausgabe elegant kommentiert, 12.448) − auch dieses Vorbild wird hier negativ, als „ abwesendes “ , gleichwohl Bedeutung stiftendes Paradigma zitiert: Es ist allgemein, man kann auch sagen „ strukturell “ relevant, ohne für diesen einzelnen Text inhaltlich zu gelten. Denn bei Horaz handelt es sich um ein Preislied auf Augustus: In einer derart friedlichen Zeit der Blüte und Fülle ( „ tua, Caesar, aetas “ / dein Zeitalter, Kaiser) ist es nicht angebracht, von Schlachten und besiegten Städten zu reden ( „ volentem proelia me loqui / Victas et urbis “ ); und der Dichter wird sogleich von Phoebus Apoll, dem Gott der Dichtkunst davor gewarnt: „ ne parva Tyrrhenum per aequor / vela darem [. . .] “ , dem gefährlichen Tyrrhenischen Meer solle er das schwache Schifflein seiner Rede nicht anvertrauen. 15 Brecht nun zitiert dieses Vorbild als Gegenbild: Er sieht sich in einer Zeit der Stagnation und Enttäuschung, nicht im quasi-goldenen Zeitalter, und er sucht geradezu die Bewegung, im Bild, den Wind und die Fahrt, während 13 Dieter Lamping, Moderne Lyrik, S. 8. 14 Charles Baudelaire, ebd., S. 124 (es handelt sich um den Schlussvers des Gedichts Le Voyage und damit der ganzen Fleurs du Mal); Artur Rimbaud, Lettre à Paul Demeny, 15. Mai 1871. In: Artur Rimbaud, Oeuvres complètes. Hrsg. von A. Adam, Éditions de la Pléiade, Paris 1972, S. 251; Walt Whitman, The Complete Poems. Hrsg. von F. Murphy, Harmondsworth 1975, S. 728 (Song of Myself, Vers 1135). 15 Horaz, Sämtliche Werke. Hrsg. von H. Färber, München 1967, S. 218 (Carmina IV, 15). 54 „ Ach wie solln wir nun die kleine Rose buchen? “ <?page no="55"?> Horaz froh ist, dem nicht ausgesetzt zu sein. Das ist wichtig, denn durch den intertextuellen Dialog werden weitere und grundsätzlichere Orientierungsfragen provoziert. Und sie verbinden sich in der Tat mit der Tradition dieses Bildes der Seefahrt. Für die alte Welt und noch das Mittelalter bedeutete die Seefahrt eine Gefahr und eine Strafe. Mit der Ausfahrt von Schiffen ( „ vela dabat ventis [. . .] navita “ ) enden beispielsweise in Ovids Metamosphosen das goldene und das silberne Zeitalter der Menschheit, und Krieg und Frevel beherrschen die Zeit. 16 Noch bei Dante wird im 26. Gesang des Inferno Odysseus für seine letzte Fahrt, die schon sehr modern „ das Unbekannte “ suchte, grausam mit ewigem Feuer bestraft; aber hier kann man, erst recht natürlich aus der Retrospektive, auch schon etwas von der Faszination des Aufbruchs ins Unbekannte hinein verspüren, die sich mit der Neuzeit durchzusetzen beginnt und dann am radikalsten wohl erst im Symbolismus des 19. Jahrhunderts ausgesprochen wird: z. B. von Baudelaire im Gedicht Le voyage/ Die Reise, dem Schlussgedicht der Fleurs du mal/ Blumen des Bösen (1859), und v. a. in Rimbauds berühmtem Le bateau ivre/ Das trunkene Schiff (1871). Auch Brechts Gedicht Das Schiff aus der Hauspostille steht in dieser Tradition: Wenn es dort am Ende wild-aggressiv „ auf den erbleichten Himmel los “ (34/ 11.48) geht, so ist darin sicher Rimbauds „ planche folle [qui] trouait les ciels “ (das wahnsinnige Brett, das die Himmel durchstieß) erkennbar, vielleicht sogar der „ folle vuolo “ (der wahnsinnige Flug), zu dem sich bei Dante die letzte Seefahrt des Odysseus steigert. 17 So ist auch im Motto-Gedicht der Buckower Elegien das Bild der Seefahrt eines der Dichtung und des Lebens, mit Brecht, der „ Praxis “ allgemein. Und zwar ist es gerade der Irrealis, der die symbolistische Tradition fortsetzt. Horaz begann mit einem negativen Finalsatz: „ ne [. . .] darem “ − die erfüllte Zeit der „ aetas Augusti “ hat keine offene Zukunft nötig. Brecht dagegen setzt mit einem Konditionalsatz ein, der hinter die Negation zurückgeht: „ Es geht kein Wind . . ., aber wenn einer ginge, dann . . . “ , und so fort. So gesehen bzw. gelesen ist es nicht nur erlaubt, einen positiven Potentialis zu folgern, zumindest nicht auszuschließen: „ Es könnte Wind, es könnten neue Dynamik und Fortschritt aufkommen . . ., mein Segel (das meiner dichterischen Existenz) ist dabei . . .. “ Die ganze Konstruktion des Satzes lässt, sofern man eine positive Folgerung sucht, also nicht gelähmt und resigniert bleibt − das ist Brechts Sache nicht − , der Satz lässt als Fortsetzung immer nur neue Negationen 18 und einen neuen Potentialis zu: „ Es könnte. . ., und wenn nicht, dann könnte ein 16 Publius Ovidius Naso, Metamorphosen. Übersetzt und hrsg. von Erich Rösch, München 1952, S. 12 (Buch 1, Vers 125 ff.). 17 Artur Rimbaud, Oeuvres complètes, S. 68; Dante Alighieri, La divina Commedia. Hrsg. von N. Sapegno, 3 Bde., Firenze 1968, Bd. 1, S. 295 (Inferno XXVI, Vers 125). 18 Vgl. zu dieser Form „ iterativer Replikation “ auch unten Kap. 6 „ Ein kräftiges WENN NICHT “ . Zur Logik des Engagements in Bert Brechts Lyrik. Bert Brechts Lyrik und die Tradition der Moderne 55 <?page no="56"?> andermal. . . “ , und so fort. Hoffnung und Skepsis zugleich, zugleich der Gegenwart und Zukunft gegenüber, und sowohl als Dichter wie als gesellschaftlich engagierter Intellektueller gesprochen: Das ist das Motto der Buckower Elegien. Und wenn wir das politisch verallgemeinern, heißt das: Die Fahrt, die Brecht sich und im weiteren Sinn auch der DDR wünscht, soll mutig und im Vertrauen auf die eigene Phantasie, das eigene kreative Potential, auch ins Unbekannte und in die ständige Innovation, „ l ’ Inconnu “ , „ the Unknown “ , „ le Nouveau “ hineinführen. Auch Günter Eichs Gedicht Zum Beispiel Segeltuch (1964) steht in derselben Tradition wie das Motto-Gedicht der Buckower Elegien: Zum Beispiel Zum Beispiel Segeltuch. Ein Wort in ein Wort übersetzen, das Salz und Teer einschließt und aus Leinen ist, Geruch enthält, Gelächter und letzten Atem, rot und weiß und orange, Zeitkontrollen und den göttlichen Dulder. Segeltuch und keins, die Frage nach einer Enzyklopädie und eine Interjektion als Antwort. Zwischen Schöneberg und Sternbedeckung der mystische Ort und Stein der Weisen. Aufgabe gestellt für die Zeit nach dem Tode. 19 „ Salz, Teer, Leinen “ gehören zur Seefahrt damals, so wie heute die Spinnakerfarben „ rot, weiß, orange “ oder die „ Zeitkontrollen “ beim Regatta-Segeln dazugehören. Lakonisch kurz, aber sehr präzise wird die alte heilsgeschichtliche Bedeutung der Lebensreise angesprochen: Der „ letzte Atem “ führt zur „ Zeit nach dem Tode “ , der „ göttliche Dulder “ ist bei Homer (in der Vossischen Übersetzung) ein Beiname des Odysseus, des Seefahrers schlechthin, und schon die alte Kirche hat daraus eine Allegorie für Christus gemacht. Aber bei Eich geht es um eine „ realistische “ Transformation der Metaphysik, die z. B. den „ Geruch “ , die Sinnlichkeit von „ Schweiß “ und „ Teer “ einschließt. Und 19 Günter Eich, Gesammelte Werke. 4 Bde, Frankfurt 1991, Bd. 1, S. 136. 56 „ Ach wie solln wir nun die kleine Rose buchen? “ <?page no="57"?> alles ist zu überführen in Sprache: „ Die Frage nach einer Enzyklopädie / und eine Interjektion als Antwort “ . Der moderne Dichter hat sich entschlossen, die Welt als Sprache aufzufassen und sich in ihr mit Sprache zu orientieren. So tritt die „ Enzyklopädie “ an die Stelle jenes Kosmos, in dem die Seefahrt als Heilsgeschichte verortet war − das Wort „ Seefahrt “ findet sich ja in der Tat im Lexikon zwischen „ Schöneberg “ und „ Sternbedeckung “ . Und dieses Raum- Modell wird wiederum selbst bedeutsam: Einerseits kann es um einen recht beliebigen Punkt auf der Karte gehen, andererseits ist die Sternwarte ( „ Schöneberg “ ) ein Ort für das erkennende Subjekt, wo es immer noch den alten (Kantischen) „ bestirnten Himmel “ über sich finden kann. Auf die Sprache übertragen: Auch die „ Interjektion “ , eines der kleinsten sprachlichen Partikel, und so dann auch der kleine einzelne Mensch mit dem, was er weiß und erkennt, lebt von der Möglichkeit einer „ Enzyklopädie “ , eines „ Sinn-Ganzen der Bedeutungen “ , und hält das Bedürfnis danach lebendig. Der „ Ort “ des Gedichts − Gedichte sind „ trigonometrische Punkte “ sagt Eich − , zugleich der „ Ort “ sich orientierender und sich Wirklichkeit erarbeitender Subjektivität, wird dann gleich in der ersten Zeile angesprochen. Es ist eben ein Ort im Raum der Sprache, zu dem vor allem auch „ das Unbekannte “ gehört. Dichten heißt: aus einer „ unbekannten Sprache übersetzen “ , 20 lautet eine weitere Aussage von Eich. Man brauchte nur hinzuzufügen: „ Ein Wort in ein anderes Wort übersetzen “ und man befände sich an einem Schnittpunkt neuerer Sprachtheorie auf der einen Seite: die These von der „ Alterität “ der Sprache, „ die Bedeutung eines Zeichens ist ein anderes Zeichen “ nach Peirce, „ la différance “ nach Derrida, die offene Logik der Signifikanten nach Eco. 21 Und andererseits findet man den Zugang zu Positionen der modernen Lyrik wie Rimbauds: „ Je est un autre “ ( „ Ich ist ein anderer “ , ab er auch „ ein anderes “ ), verstanden als „ das andere “ des Mediums und der Sprache, oder Baudelaires und Mallarmés Spiel mit der Homophonie von „ cygne “ − der Schwan als Symbol des Dichters − , und „ signe “ , „ das Zeichen “ , sofern beide Worte im Französischen gleich klingen. 22 Wie auch immer − auf ihre Weise umkreisen auch Paul Celan und Yves Bonnefoy, die Freunde, die sich wechselseitig beeinflusst haben, jenen „ Ort “ 20 Günter Eich, Der Schriftsteller vor der Realität. In: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 613 f. 21 Vgl. etwa Charles S. Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen. Hrsg. und übersetzt von H. Pape, Frankfurt 1983, S. 64; Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz. Dt. von R. Gasché, Frankfurt, 2. Aufl. 1985, S. 422 ff.; Umberto Eco, Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen. Dt. von G. Memmert, München 1987, S. 347 ff.. 22 Artur Rimbaud, Oeuvres complètes, S. 250; Charles Baudelaire, Œ uvres complètes, Bd. 1, S. 85; Stéphane Mallarmé, Le vierge, le vivace et le bel aujourd ’ hui. In: Stéphane Mallarmé, Œ uvres complètes. Hrsg. Von H. Mondor und G. Jean-Aubry, Éditions de la Pléiade, Paris 1945, S. 67. (Zumindest Mallarmé kann dieses Wortspiel sicher zugeschrieben werden). Bert Brechts Lyrik und die Tradition der Moderne 57 <?page no="58"?> des Gedichts als Ort kreativer Subjektivität im Kosmos der Sprache, der nur über Negation und Alterität zugänglich ist: Yves Bonnefoy Que saisir sinon qui s ’ échappe, Que voir sinon qui obscurcit, Que désirer sinon qui meurt, Sinon qui parle et se déchire? Parole proche de moi Que chercher sinon ton silence, Quelle lueur sinon profonde Ta conscience ensevelie, Parole jetée matérielle Sur l'origine et la nuit? [1953] 23 Paul Celan WEGGEBEIZT vom Strahlenwind deiner Sprache das bunte Gerede des Anerlebten − das hundertzüngige Mein- Gedicht, das Genicht. Ausgewirbelt, frei der Weg durch den menschengestaltigen Schnee, den Büßerschnee, zu den gastlichen Gletscherstuben und -tischen. Tief in der Zeitenschrunde, beim Wabeneis, wartet, ein Atemkristall, dein unumstößliches Zeugnis. [1967] 24 Der Weg ins Kalte und Unbelebte, in eine Welt, die negiert, ist der Weg zur Sprache, besser, er führt durch diese Welt hindurch. „ Sinon qui parle et se déchire “ : Nur das spricht, was sich „ zerreißt “ , was sich selbst negiert. „ Le vrai lieu “ ist eine „ traversée “ : Der wahre Ort ist einer des Wechsels und des Übergangs, eines Übergangs, der immer Negationen voraussetzt. Ici, toujours ici ( „ Hier, immer nur hier “ , ein programmatisches Gedicht Bonnefoys von 1958) 25 : Das Hier und Jetzt liegt im ständigen Übergang von Vergangenheit und Zukunft, so wie das „ Atemkristall “ in der „ Zeitenschrunde “ , hart und fragil und lebendig zugleich, zwischen Einatmen und Ausatmen und zwischen Ich und Welt, vielleicht auch zwischen Leben und Tod vermittelt. Anders gesagt, 23 (Was sollen wir ergreifen, wenn nicht das, was sich entzieht, was sehen, wenn nicht das, was sich verdunkelt, was wünschen, wenn nicht etwas, das stirbt, wenn nicht etwas, das spricht und sich zerreißt? Wort, das mir nah ist, was soll ich suchen, wenn nicht dein Schweigen, welches Licht, wenn nicht ein tiefes, dein vergrabenes Gewissen, Wort, dessen Körper ich geworfen habe auf den Ursprung und auf die Nacht? ) Yves Bonnefoy, Poèmes. Préface de Jean Starobinski. Paris 1982, S. 66. 24 Paul Celan, Gesammelte Werke in fünf Bänden. Hrsg. Von Beda Allemann, Stefan Reichert und Rolf Bücher, Frankfurt/ M. 1986, Bd. 2, S. 31 (aus dem Buch Atemwende). 25 Vgl. Jean Starobinski, Préface. In: Yves Bonnefoy, Poèmes, S. 14 und 17. 58 „ Ach wie solln wir nun die kleine Rose buchen? “ <?page no="59"?> und nun auch Günter Eichs Programm wieder aufnehmend: Der „ trigonometrische Punkt “ der modernen Lyrik ist der, an dem „ ein Wort in ein Wort “ übersetzt wird, der Übergang eines Zeichens in ein anderes, eines Wortes in ein anderes, eines Gedankens in einen anderen, und so fort - was immer auch einen Akt des Negierens enthält. Solche „ Orte “ sucht gerade auch Brecht in seinen Gedichten immer wieder auf, vor allem in den späten. Es lohnt sich, sie mit Augen und Ohren zu lesen, die an der lyrischen „ Moderne “ geschult sind. Mit dem Gedicht Der Blumengarten wollte Brecht (vgl. 12.446) die Buckower Elegien immer beginnen lassen: Der Blumengarten Am See, tief zwischen Tann und Silberpappel Beschirmt von Mauer und Gesträuch ein Garten So weise angelegt mit monatlichen Blumen Daß er vom März bis zum Oktober blüht. Hier, in der Früh, nicht allzu häufig, sitz ich Und wünsche mir, auch ich mög allezeit In den verschiedenen Wettern, guten, schlechten Dies oder jenes Angenehme zeigen. (294/ 12.307) Man muss - muss man nicht? 26 - dieses Gedicht, zumindest im „ Übergang “ , tatsächlich „ de-konstruktiv “ lesen: Das an diesem „ Ort “ „ Anwesende “ ( „ le vrai lieu “ , der „ trigonometrische Punkt “ ) muss immer vom „ Abwesenden “ her verstanden werden, so wie die nahe Gegenwart „ Buckow “ z. B. auf das ferne, vergangene Modell der Bucolica des Vergil verweist, und deren jetzt präsentiertes und nachgeahmtes Modell, die Idylle, eben als „ Elegie “ gesehen werden soll, also erneut „ von außen “ und „ verfremdet “ , von einer Zeit her gesehen, die eigentlich keine Idyllen erlaubt. 27 Entsprechend ist das Gedicht auf raffinierte Weise anschaulich in seiner Multi-Perspektivik aufgebaut. Wie bei einem „ Zoom “ im Film und dem Wechsel von „ Schuss “ und „ Gegenschuss “ mit entsprechenden Schnitten − der multiperspektivische und prozessuale Film ist traditionell und anschaulich der modernen Poetik verbunden − , auf alle Fälle spielerisch kunstvoll verengen sich und wechseln die Perspektiven: von oben nach unten und von unten nach oben, von außen nach innen, von „ jetzt “ nach „ dann “ und „ dann “ und „ dann “ . Das, was also „ hier “ heißt am Beginn der zweiten Strophe, hat dann auch etwas von einem „ hermetischen “ , abgeschlossenen und verborgenen und gerade dadurch sprechenden und „ wahren “ 26 „ Die moderne Lyrik, so scheint es, ist komplizierter als alle politischen Theorien über sie “ , Dieter Lamping, Moderne Lyrik, S. 108. 27 Vgl. auch unten Kap. 8 „ Warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld? “ Zur Kontinuität der Argumentation in Bert Brechts „ Buckower Elegien “ . Bert Brechts Lyrik und die Tradition der Moderne 59 <?page no="60"?> Ort. Es könnte, nimmt man die perspektivischen Prämissen ernst, auch anderswo oder nirgends sein. Gerade das negative Moment in „ ou-topisch “ (wörtlich: „ nicht verortet “ ) ist Voraussetzung dafür, dass der Zusammenhang von Natur und Arbeit − ein zentraler Gedanke des Marxismus − , dass also der Garten „ angelegt “ ist und „ blüht “ , dass dies richtig gesehen wird: „ Wechsel der Jahreszeiten “ ist so bereits schon auch auf „ Dialektik “ bezogen. So konnotiert „ Blühen “ immer auch Welken; und Säen und Pflanzen konnotiert ungewisse Arbeit, wenn nicht Zerstörung, und so fort − das Gedicht redet sehr genau auch von dem, was es nicht sagt, es bleibt, denkt man in diesem Sinne weiter, dann auch präzise auf den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Kontext bezogen, in dem die Buckower Elegien ja immer gesehen werden müssen. Dieser erst verleiht dem „ Blumengarten “ , modern gesprochen, seine „ différance “ : Dass der Sinn dieses Phänomens aus Antithesen ( „ differe “ ) kommt und „ hinausgeschoben “ ( „ deferre “ ) ist, 28 macht es immer zu einem Projekt, nie ist es einfach gegeben. Und von seiner „ Alterität “ ( „ je est un autre “ ) her muss auch das „ Ich “ in der zweiten Strophe verstanden werden. Wer „ in der Früh, nicht allzu häufig “ hier sitzt, könnte jederzeit aufstehen, um etwas anderes zu machen. Er hat dieses Privileg nur, weil er es jederzeit auch wieder räumen kann. Ebenso verweist das „ Angenehme “ der Gedichte, ihr delectare, nicht nur auf das prodesse des Horaz 29 − es ist auch jetzt gerade die „ abwesende Struktur “ , die spricht. 30 Der Zusammenhang des ganzen Gedichts ist schließlich einer des Wechsels und der Prozessualität: „ verschiedene Wetter “ , „ Gutes, Schlechtes “ , „ dies oder jenes “ ; und das „ Angenehme “ wird sich nur zeigen unter Voraussetzungen, die immer wieder „ anders “ sind und zwischen denen auch Negationen vermitteln. Wenn ein Gedicht von Brecht seinen Ort an einem „ trigonometrischen Punkt “ hat, im Sinne der „ traversée “ und „ différance “ , des „ vrai lieu “ und der „ Atemwende “ , also eines Denkens in Alternativen und Übergängen, dann sicher: Der Radwechsel Ich sitze am Straßenhang. Der Fahrer wechselt das Rad. Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. 28 Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz. Dt. von Rodolphe Gasché, Frankfurt, 2. Aufl. 1985, S. 422 ff.; vgl. Peter Zima, Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik. Tübingen und Basel 1994, S. 51 ff. 29 „ Omne tulit punctum, qui miscuit utile dulci / lectorem delectando pariterque monendo / der erhielt allen Beifall, der das Angenehme mit dem Nützlichen verbindet, den Leser erfreuend und zugleich ermahnend “ , Horaz, Sämtliche Werke, S. 250 (De arte poetica,Vers. 343/ 344). 30 Sehr deutlich „ abwesend “ im Sinne von Umberto Eco, Einführung in die Semiotik. Dt. von Jürgen Trabant, München 1972, S. 357 ff., spricht das „ prodesse “ , das „ Nützliche “ mit, obwohl nur das „ delectare “ , das „ Angenehme “ genannt ist. 60 „ Ach wie solln wir nun die kleine Rose buchen? “ <?page no="61"?> Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre. Warum sehe ich den Radwechsel Mit Ungeduld? (296/ 12.310) Dies ist ein Gedicht, das nur aus gegensätzlichen Perspektiven besteht und um Negationen kreist, und dessen Schlussfrage nur als unaufgelöste Frage die Antwort gibt. Der Punkt des „ Übergangs “ ist der „ trigonometrische Punkt “ des Denkens und Handelns. Das Gedicht ist „ offen “ und zugleich anschaulich, gegenständlich dicht, einfach und alltäglich. Das heißt, wir können hier eine weitere Tradition der Moderne erkennen, die von Walt Whitman über die anglo-amerikanische Gruppe der „ Imagists “ zu Dichtern wie William Carlos Williams und schließlich zur jüngsten Gegenwart führt. Es wäre allerdings oberflächlich, deshalb den Begriff „ modern “ überhaupt aufzugeben: Die Abstraktion eines Dinges oder einer Situation lässt sich mit der eines Zeichens, z. B. der Aufhebung von Bedeutungsdeterminationen, durchaus vermitteln. T. E. Hulme Images Old houses were scaffolding once and workmen whistling. (1912) Ezra Pound In a Station of the Metro The apparition of these faces in the crowd Petals on a wet black bough. (1912) 31 Der Name „ Imagismus “ ist etwas irreführend. Es handelt sich im Kern gar nicht um „ Bilder “ , sondern um „ Dinge “ oder um gegenständliche Situationen, die aus ihren gewohnten Kontexten vorübergehend abstrahiert und nun so präzise wie möglich und dann auch sehr „ bildhaft “ vorgestellt werden sollen. Worauf es ankommt, ist im Gedicht die Strahlkraft, das ( „ indexikalische “ ) 32 Anregungspotential dieser „ Dinge “ zu entfalten, sie zu nutzen als Knotenpunkte in den Vernetzungen unserer Gefühle und Erkenntnisse von und mit der Realität. So muss man z. B. in dem Gedicht von T. E. Hulme nach „ Old houses “ eine Pause lesen, während die Alliteration von „ were “ , „ once “ , „ workmen “ und „ whistling “ die Einheit des Prädikats betont. Hier kommt es in der Tat auf Kontinuität und Fluss der Assoziationen an. Der Gegensatz von vorgestelltem und erinnertem „ Alter “ und sprachlich evoziertem lebendigem Vorgang vertieft die Zeiterfahrung; Statik und Dynamik, Visuelles und 31 Peter Jones (Hrsg.), Imagist Poetry. Harmondswortu 1972, S. 49 und 57. 32 Vgl. dazu auch oben Kap. 4 „ Sieh den Balken dort! “ Zur Sinnlichkeit der Chiffren in Bert Brechts Lyrik. Bert Brechts Lyrik und die Tradition der Moderne 61 <?page no="62"?> Akustisches dimensionieren den Raum; in ihm kann sich der Leser alt und jung zugleich fühlen. An „ Image “ is that which presents an intellectual and emotional complex in an instant of time, lautet die berühmte Definition von Ezra Pound. Und um das zu erreichen, brauche es „ concrete things “ , deren „ variable significance “ so aus ihnen hervorbricht, dass beim Leser ein „ sense of sudden liberation “ , ein „ sense of freedom “ 33 entstehe, eine plötzliche Befreiung der Einbildungskraft - darum war es ja eben auch den Symbolisten gegangen - , eine augenblickliche freiere und sinnvollere Einsicht in die Realität. Insofern ist das von William Carlos Williams später, aber durchaus in dieser Poetik-Tradition geforderte: „ Compose. (No ideas but in things) “ , 34 nicht als Ausschließen der „ ideas “ zu verstehen, sondern als kreative Folge von „ things “ und in ihnen präzise implizierten, ja „ vernetzten “ Vorstellungen und Gedanken, eine kreative Strahlkraft, die von den „ Dingen “ ausgeht. In dem berühmten In a Station of the Metro handelt es sich nicht um einen Vergleich, sondern um einen „ throu-the-glass-effect “ : Das erinnerte Bild dient der „ Strahlkraft “ der gegenständlichen Situation, allein aus ihrer Intensität gehen die „ variable significances “ hervor: die Schönheit eines menschlichen Gesichts in der Menge, das schnell Vorübergehende im Strom der Fahrgäste, der Augenblick der Lebendigkeit in der Situation unter der Erde, das sinnlich Natürliche im Kontext der Zivilisation; was immer das so gesehene „ Ding “ sagen könnte, das sagt es auch. Betrachten wir Bert Brechts Gedicht Der Rauch, so erkennen wir eine weithin analoge Poetik: Der Rauch Das kleine Haus unter Bäumen am See. Vom Dach steigt Rauch. Fehlte er Wie trostlos dann wären Haus, Bäume und See. (295/ 12.308) Das Gedicht ist ein Reflexions- „ Image “ . Das Nachdenken und Wieder-Hin- Sehen ist dem gegenständlichen, situativen Eindruck untergeordnet. So sieht man das kleine Haus als etwas schon Bekanntes, und man sieht es gewissermaßen „ wieder “ − auf eine durchaus nicht selbstverständliche Weise. Was ist, 33 Ezra Pound, A Few Dont ’ s by an Imagiste [1913). In: P. Jones (Hrsg.), Imagist Poetry, S. 130 ff. 34 William Carlos Williams, A Sort of Song. In: William Carlos Williams, The Collected Poems. New York 1963, S. 7. 62 „ Ach wie solln wir nun die kleine Rose buchen? “ <?page no="63"?> könnte auch nicht sein. Das Leben stockt einen Augenblick lang. Erst so wird der aufsteigende Rauch „ trostvoll “ . Und erweitert man diesen intensiven, situativen Eindruck und sucht ihn zu konkretisieren − es macht ja die Modernität auch dieses Gedichts aus, dass es viele Deutungen zulässt − , dann gerät man z. B. in der Tat in die Perspektive nach dem Krieg, nach Exil oder Gefangenschaft, wo so ein Haus eben nicht mehr stehen könnte, oder verlassen sein könnte oder von anderen Leuten bewohnt und so fort. Tannen In der Frühe Sind die Tannen kupfern. So sah ich sie Vor einem halben Jahrhundert Vor zwei Weltkriegen Mit jungen Augen. (298/ 12.313) Ich habe dieses Gedicht nicht nur ausgewählt, weil es eigentlich ein sehr schönes Bekenntnis zur Kindheit in Augsburg enthält, sondern als weiteres Beispiel imagistischer Poetik beim späten Brecht. Auch jetzt soll man zweimal hinsehen. Die Vergangenheit, das fremd gewordene Ich der Jugend, der Wahnsinn, der zwei historische Zäsuren gesetzt hatte, all das soll dem intensiven, gegenständlichen Eindruck dienen. Die Impression ist hier ja bereits durch Abstraktion und Verallgemeinerung der „ Kupferfarbe “ hindurchgegangen und so als Metapher bewusst gesetzt; es heißt also gerade nicht: „ Die Tannen sehen irgendwie aus wie Kupfer “ , sondern: „ Die Tannen sind kupfern “ . Und dieser „ Mut “ zum neuen, innovatorischen Sehen und kreativen Sprechen wird ebenfalls der „ Strahlkraft “ der „ kupfernen Tannen in der Frühe “ hinzugezählt. Das Leben der Natur und genauso das der auch im „ Alter “ immer noch jungen künstlerischen Kreativität werden dann auch zum Argument für die Fähigkeit, nicht nur neu zu sehen und zu sprechen, sondern auch neu zu denken und zu handeln − z. B., und weit voraus gedacht, auch gegen einen weitern Krieg zu denken und zu dichten. Zum Schluss dieses vielleicht etwas esoterischen Vortrags möchte ich zumindest an einem Punkt die politische Relevanz dieser „ modernen “ Ästhetik bei Brecht aufzeigen. Viele Gedichte der Spätzeit kreisen um den 17. Juni 1953. Dieser bildet auch den Hintergrund der Buckower Elegien. Brechts Zustimmung zu den Maßnahmen der Regierung, das heißt, zur Niederschlagung des Aufstands, stehen außer Frage, aber er meinte nur die „ akute Notsituation “ . Zugleich übte Brecht in den politischen Gedichten der Buckower Elegien (Die Lösung, Böser Morgen u. a.) sehr klare Kritik an den Entwicklungen, die zum Aufstand geführt haben, insbesondere an der Distanz von Partei und Regierung zu dem, was Brecht die „ Weisheit des Volkes “ nannte. Alle, auch die auf Bert Brechts Lyrik und die Tradition der Moderne 63 <?page no="64"?> den ersten Blick „ nicht politischen “ Gedichte müssen vor diesem Hintergrund gesehen werden, prinzipiell habe auch ich das getan. Ich möchte nun zeigen, wie das politisch-programmatische Gedicht Die Wahrheit einigt und das scheinbar ganz private, idyllisch-ästhetische Ach wie solln wir nun die kleine Rose buchen eigentlich komplementär zu verstehen sind. Sie ergänzen sich wechselseitig. Und zwischen beiden vermittelt Brechts Logik der Revolution und der Utopie. 35 Das ist für das erste Gedicht leicht einsichtig: Die Wahrheit einigt Freunde, ich wünschte, ihr wüßtet die Wahrheit und sagtet sie Nicht wie fliehende müde Cäsaren: „ Morgen kommt Mehl! “ So wie Lenin: Morgen abend Sind wir verloren, wenn nicht . . . So wie es im Liedlein heißt: „ Brüder, mit dieser Frage Will ich gleich beginnen: Hier aus unsrer schweren Lage Gibt es kein Entrinnen. “ Freunde, ein kräftiges Eingeständnis Und ein kräftiges WENN NICHT! (300/ 12.315) Der „ Witz “ des Gedichts ist logisch einfach und wird in dieser Form von Brecht oft benutzt. Es geht um die Logik der „ notwendigen Bedingung “ . (Es gelte: „ Wenn nicht p dann nicht q “ , daraus folgt nicht „ wenn p dann q “ , es kann auch „ wenn p dann nicht q “ heißen − „ ex vero sequitur quodlibet “ / aus der wahren Voraussetzung kann was immer folgen). Das Gedicht wendet sich gegen jeden Begriff „ objektiver Geschichte “ oder eines „ historischen Subjekts “ . Es sagt: „ Die kommunistische Partei muss im Namen der Arbeiterklasse die Macht erobern und ausüben “ , allgemeiner, es betont die Notwendigkeit politischer Arbeit für die Unterdrückten, oekonomisch Ausgebeuteten und sozial Benachteiligten. Aber daraus lässt sich noch kein Sozialismus ableiten oder als „ real existierend “ setzen. Es lässt sich aus einem „ wenn nicht “ und einer positiven Setzung ( „ wir arbeiten politisch “ ) ja nichts folgern − im Gegenteil, die „ Wahrheit “ , die allein „ einigen “ kann, muss eine Wahrheit ständiger Verbesserung, Lernbereitschaft und Selbstkorrektur sein; alles, was „ gilt “ , kann auch wieder aufgehoben werden, es hängt vom eingetretenem Erfolg ab, und so fort. Das Gedicht tritt eigentlich ein für eine Logik fortgesetzter Reformen, so haben es, wie mir Volker Braun bestätigte, die Dichter, Künstler und Intellektuellen der DDR auch immer verstanden. 35 Vgl. dazu auch unten Kap. 6, „ Ein kräftiges WENN NICHT “ . Zur Logik des Engagements in Bert Brechts Lyrik. 64 „ Ach wie solln wir nun die kleine Rose buchen? “ <?page no="65"?> Das mag ja alles so sein, werden Sie sagen, aber was bitte hat das mit einer „ kleinen Rose “ zu tun? Ach, wie solln wir nun die kleine Rose buchen? Ach wie solln wir nun die kleine Rose buchen Plötzlich dunkelrot und jung und nah Ach wir kamen nicht, sie zu besuchen Aber als wir kamen, war sie da. Vor sie da war, war sie nicht erwartet Als sie da war, war sie kaum geglaubt. Ach, zum Ziele kam, was nie gestartet Aber war es so nicht überhaupt? (1171/ 15.283) Auch eine „ kleine Rose “ ist nichts Beliebiges. Sie hat eine lange allegorische und symbolische Tradition. Hier ist sie sicher Sinnbild der Liebe, Schönheit und Vollendung. Sie steht für das überraschende, persönliche Glück; und zugleich wird in ihr anschaulich - wenn man weiter denkt und das Gedicht z. B. in den Kontext von Bert Brechts später Lyrik stellt - , man könnte in dem Aufblühen einer Rose - ist nicht „ dies Erblühen [. . .] die wahre Arbeit und der wahre Fleiß “ ? 36 - auch ein symbolisches Bild dafür sehen, wie Natur und Geschichte an ihr Ziel kommen können. Das hieße, die kleine Rose verkörperte unaufdringlich, alltäglich, aber letztlich und auf sehr lange Sicht doch bedeutsam auch das utopische Potential des Schönen. Und das bedeutet dann viel. Und vor allem eben entspräche das dann verblüffend genau dem „ fröhlichen “ Element in der revolutionären Logik, einer Logik der „ notwendigen “ (aber nicht „ hinreichenden “ ) Bedingung, also dem „ wenn “ als „ wenn nicht “ aus dem Gedicht Die Wahrheit einigt: Der Erfolg, das Ziel einer schöneren und besseren, einer „ blühenden “ Welt ist etwas, das nicht aus einer Theorie oder einer historischen Entwicklung oder Gesetzmäßigkeit einfach abgeleitet und gefolgert werden kann, schon gar nichts, was man als „ real existierend “ erklären kann, erst recht nicht mit Gewalt. Es bleibt aber zweifellos etwas, das immer nicht nur möglich, sondern das eben und insbesondere auf kreative gesellschaftliche und politische Arbeit angewiesen ist. Daher ist es nicht einfach „ zu besuchen “ , kann „ nicht “ einfach direkt und geradlinig „ erwartet “ werden, und oft wird es ehrlicherweise „ kaum geglaubt “ . Brecht führt diesen Gedanken einer offenen Geschichte ganz konsequent und zugleich ganz alltäglich aus. 36 „ Sogar eine simple Rose muß vom Morgen bis zum Abend tapfer dabei sein mit ihrem ganzen Corpus “ , will sie „ eine wahrhaftige Rose “ werden, Gottfried Keller, Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe. Hrsg. von Clemens Heselhaus, München 1958, Bd. 1, S. 477 (aus: Der Grüne Heinrich). Bert Brechts Lyrik und die Tradition der Moderne 65 <?page no="66"?> Und dieses Schöne und - erst in der Interpretation weitergedacht - , utopisch Vollendete, die „ kleine Rose, die plötzlich erblüht “ , kann man nicht „ verbuchen “ , also rational vereinnahmen; sie verträgt sich offensichtlich vorzüglich gerade mit den „ Absurditäten “ der Logik „ notwendiger Bedingung “ , mit denen Brecht hier zu spielen scheint − mit beiden ( „ nicht erwartet “ / „ nicht geglaubt “ ). 37 So kommt noch einmal, und zwar recht genau, eine spezifisch moderne Ästhetik ins Spiel. Denn dass das „ Spiel der Kunst “ berufen sei, die Vernunft zu korrigieren - allein herrschend würde diese zum Zwang - , ist ein Gedanke, den z. B. Schiller gegen Kant vorgebracht hat, und den man analog etwa in der Frühromantik findet. Aber erst die Moderne hat in den verschiedensten Formen die radikalen Konsequenzen einer solchen Ästhetik ausgearbeitet. Und dazu gehörte, dass das „ freie Spiel der Einbildungskraft “ allem Gegebenen und Vorgedachten gegenüber immer wieder gerade auch seine Kraft zur Negation entdecken muss, z. B. als „ dérèglement de tous les sens “ (Entregelung aller Sinne und [im Französischen auch aller] Bedeutungen) so Rimbaud, 38 oder als sprachliche „ Suche nach dem Leeren, dem Schwarzen und dem Nackten “ , so Baudelaire, oder als „ Wort, das spricht und sich zerreißt “ , so Bonnefoy, oder als negierendes „ Wegbeizen “ , so Celan, oder eben, so Bert Brecht, als produktiver Umgang mit dem Nichts: „ Wenn ich mit dem Nichts verkehre / Weiß ich wieder was ich soll “ . Wird so freilich nicht ein schönes kleines Liebesgedicht wie Ach wie solln wir nun die kleine Rose buchen? letztlich doch mit Bedeutungen überfrachtet und überinterpretiert? „ Aber war es so nicht überhaupt? “ Erinnern wir uns: „ Rose, oh reiner Widerspruch “ (Rainer Maria Rilke), 39 „ die Antirose “ (Yvan Goll), 40 „ die Nichts-, die Niemandsrose “ (Paul Celan) 41 ! Wird nicht auch hier immer wieder gerade das Negative im Beglückenden und Schönen betont? Und die Beispiele ließen sich leicht vermehren. Auch für alle diese Dichter ließe sich ein Zusammenhang zur Liebeslyrik grundsätzlich nachweisen. Natürlich bleibt auch die Bildtradition des Nebeneinanders von Blüte und Dorn und Glück und Schmerz, die sich mit dem Symbol der Rose verbindet, noch in den Verkürzungen bis hin zur Chiffre erhalten. Aber unverkennbar strebt die lyrische Moderne zur Abstraktion und damit zur Verallgemeinerung gerade der 37 Vgl. dazu oben Kap. 2, „ Warum soll mein Name genannt werden! “ Ein lyrisch-politisches Programm im Exil, sowie unten Kap. 6, „ Ein kräftiges WENN NICHT “ . Zur Logik des Engagements in Bert Brechts Lyrik. 38 Artur Rimbaud, Lettre à Georges Isambart, 13 mai 1871. In: Artur Rimbaud, Œ uvres complètes, S. 249. 39 Rainer Maria Rilke, Werke. Ausgewählt und hrsg. vom Insel-Verlag, 3. Aufl., Frankfurt 1984, Bd. 5, S. 185. 40 Yvan Goll/ Claire Goll, Traumkraut. Die Antirose. Gedichte. Frankfurt/ M. 1990, S. 75. 41 Paul Celan, Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 225 (Psalm aus Die Niemandsrose). 66 „ Ach wie solln wir nun die kleine Rose buchen? “ <?page no="67"?> Widersprüche und Negationen in diesem Bild. Dann erweitert sich folgerichtig dessen distributives Potential, also das vielfach Anwendbare im Vieldeutigen. Es kann vieles Anderes, Ähnliches, aber auch z. B. kontextuell benachbartes Fremdes bezeichnen. Und gerade in Brechts später Lyrik sind Alltag und „ große “ Geschichte nie ganz zu trennen. Könnte „ so nicht überhaupt “ die Logik des Zusammenhanges von Zeitgeschichte und gesellschaftlicher Utopie, eben als eine ganz paradoxe Logik, im Bild des „ kaum geglaubten “ Erblühens einer „ kleinen Rose “ anschaulich werden? Verblüffend nahe kommt auf alle Fälle dem eben entwickelten Bild- Gedanken bei Brecht das folgende, inzwischen auch bereits „ klassisch-moderne “ Gedicht, mit dem ich diesen Vortrag schließen will: Giuseppe Ungaretti Eterno Tra un fiore colto e l ’ altro donato L ’ inesprimibile nulla. (1942) 42 Ewig Zwischen einer gepflückten Blume und der anderen gegebenen das nicht auszudrückende Nichts. Wie bei Brecht, ja noch radikaler als der Schritt von der wachsenden zur blühenden Rose ist hier der von der lediglich „ gepflückten “ zur „ gegebenen “ Blume - sie kann nur ein Zeichen der Liebe sein, und was sonst als eine Rose? - , ein Schritt, der das „ Nichts “ überschreitet. Und dieses „ Zwischen “ zeigt auch hier auf eine Folge, die nicht „ erwartet “ werden kann. Dieser Schritt, diese Folge ist hier sogar etwas so Eigenes und Paradoxes, dass die Blume einerseits bekannt bleibt, darauf weist der bestimmte Artikel hin, und sie sich andererseits eben zu einer völlig „ anderen “ verwandelt. Die Paradoxie, dass die Voraussetzung gegeben sein, die Folge aber auch nicht eintreten kann, diese mögliche Negation, durchaus der „ Antirose “ und der „ Nichts- “ und „ Niemands-Rose “ bei Goll und Celan vergleichbar, vertieft Ungaretti zum „ nicht auszudrückenden Nichts “ und erhebt sie, so der Gedicht-Titel, zu einer unendlich bzw. „ ewig “ anwendbaren Figur. Sind dann das Glück und die Schönheit, sicher auch die gelungener Kunst, die die „ andere gegebene “ Blume verkörpert (Ingeborg Bachmann übersetzte sogar „ geschenkte “ ) 43 von einer utopischen Perspektive bei Brecht so völlig verschieden? Entscheidend ist hier wie dort die Verallgemeinerung der Paradoxie im Zusammenhang von Voraussetzung und Folge, entscheidend ist das mögliche „ Nichts “ , das sich immer zwischen ihnen auftun kann. Auch für Brecht hängt die „ kleine Rose “ ja nur negativ mit 42 Giuseppe Ungaretti, Gedichte. Italienisch und deutsch. Übertragung und Nachwort von Ingeborg Bachmann, Frankfurt/ M. 1961, S. 8. 43 Ingeborg Bachmanns Übersetzung als ganze: „ Zwischen einer gepflückten Blume und der geschenkten / das unausdrückbare Nichts “ , ebd. S. 9. Bert Brechts Lyrik und die Tradition der Moderne 67 <?page no="68"?> Erwartungen und Glauben zusammen. Immer kann ihnen statt der Erfüllung auch das „ Nichts “ folgen. Allgemein gesagt: Gerade auch Brecht sucht in seiner Lyrik Abstraktionen, Paradoxien, Freiheit der Imagination und der Zeichen, Verfremdungen und Negationen. Die Tradition der Moderne gehört in der Tat zu den zentralen ästhetischen Voraussetzungen seiner Lyrik. Aber die Kleine Rose zeigt auch, wie dieses paradoxe, durch die Möglichkeit seiner Negation hindurchgegangene lyrisch Schöne sich mit seiner Utopie verträgt und sie letztlich mit bedingt. 68 „ Ach wie solln wir nun die kleine Rose buchen? “ <?page no="69"?> 5 „ Verwisch die Spuren! “ Bert Brechts Lesebuch für Städtebewohner im Mediendialog Die Großstadt war für die moderne Literatur nicht nur ein zentrales Thema, in dem beispielsweise die französische Lyrik oder der italienische Futurismus den deutschen Expressionismus, mit ihm auch Brecht, entscheidend beeinflusst haben. Sie bedeutete auch einen Erfahrungsraum, der sich ganz direkt in lyrisches Sehen und Sprechen überführen ließ. Und ein interessanter Aspekt in diesem Zusammenhang ist die ganz ursprüngliche lebens-rhythmische, bildhafte, diskursive, aber auch emotionale Nähe dieser lyrischen Moderne zu den „ neuen Medien “ , insbesondere Rundfunk und Film, die sich mit dem zwanzigsten Jahrhundert durchzusetzen begannen. Brecht stand gerade dieser „ Tradition der Moderne “ aufgeschlossen wie wenige gegenüber. Sein Lesebuch für Städtebewohner ist als bewusste Literatur im Mediendialog ein eigenwilliges und zugleich beispielhaftes Experiment, nicht zuletzt auch darin, dass es nie ganz verwirklicht wurde. Inzwischen sind ja fast die „ Spuren “ dieses Versuchs so gut wie „ verwischt “ . Trenne dich von deinen Kameraden auf dem Bahnhof Gehe am Morgen in die Stadt mit zugeknöpfter Jacke Suche dir Quartier und wenn dein Kamerad anklopft: Öffne, o öffne die Tür nicht Sondern Verwisch die Spuren! Wenn du deinen Eltern begegnest in der Stadt Hamburg oder sonstwo Gehe an ihnen fremd vorbei, biege um die Ecke, erkenne sie nicht Zieh den Hut ins Gesicht, den sie dir schenkten Zeige, o zeige dein Gesicht nicht Sondern Verwisch die Spuren! Iß das Fleisch, das da ist! Spare nicht! Gehe in jedes Haus, wenn es regnet, und setze dich auf jeden Stuhl, der da ist Aber bleibe nicht sitzen! Und vergiß deinen Hut nicht! Ich sage dir: Verwisch die Spuren! Was immer du sagst, sag es nicht zweimal Findest du deinen Gedanken bei einem andern: verleugne ihn. Wer seine Unterschrift nicht gegeben hat, wer kein Bild hinterließ Wer nicht dabei war, wer nichts gesagt hat <?page no="70"?> Wie soll der zu fassen sein! Verwisch die Spuren! Sorge, wenn du zu sterben gedenkst Daß kein Grabmal steht und verrät, wo du liegst Mit einer deutlichen Schrift, die dich anzeigt Und dem Jahr deines Todes, das dich überführt! Noch einmal: Verwisch die Spuren! (Das wurde mir gesagt.) So lautet das erste und sicher auch modellhaft exemplarische Gedicht des Lesebuchs für Städtebewohner (122 - 130/ 11.155 - 165). 1 Dieser Zyklus − offen, vielleicht fragmentarisch, auf alle Fälle sorgfältig durchkomponiert − war 1926/ 27 entstanden; er ist in mehreren klaren Abschriften aus dem Jahre 1927 überliefert; einzelne Gedichte wurden bereits in diesen Jahren publiziert; die Folge von zehn durchnummerierten Gedichten, wie sie jetzt in der Berliner und Frankfurter Ausgabe steht, erschien erstmals 1930 im 2. Heft der Versuche. 2 Es gibt eine Reihe weiterer Gedichte, die Brecht wiederholt als zum Lesebuch für Städtebewohner zugehörig bezeichnete, aber auch Hinweise, dass Brecht Teile seiner Prosa, die Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, das Badener Lehrstück vom Einverständnis − das aber wiederum die Kenntnis des Hörspiels Der Lindberghflug voraussetzt − und eventuell noch anderes in eine „ gattungsübergreifende Sammlung “ aufnehmen wollte, die den „ Einzug der Menschheit in die großen Städte “ (11.349) zum Gegenstand gehabt hätte. Aber da Brecht die „ weiteren Gedichte “ teilweise schon früh anderswo verwendet (z. B. das Gedicht Blasphemie in der Mahagonny-Oper, das Gedicht Anrede als Einleitung zu einem Programmheft für Mann ist Mann, vgl. 11.354), ist einerseits diese geplante größere Sammlung heute schwer zu rekonstruieren, andererseits ist der Zusammenhang der zehn Gedichte der Teilsammlung von 1930 von Brecht früh festgelegt worden (noch die geplanten Gesammelten Werke des Malik- Verlags von 1938 hätten nur diese Gedichte in dieser Reihenfolge enthalten), und dieser Zusammenhang hält auch genauerer Lektüre stand. Auf diese zehn Gedichte, ihren Zusammenhang, ihre Anordnung und die Folge ihrer Argumentation will ich mich konzentrieren. Dann ist auch gleich das erste Gedicht mit dem Refrain „ Verwisch die Spuren! “ exemplarisch für dieses unvollständige Ganze und geeignet, die fünf Punkte meines Vortrags anzukündigen: Zuerst interessant ist die offene Problematik: „ Anpassung “ oder „ Veränderung “ ? Sie wird gleich im ersten 1 Zur Zitierweise vgl. oben Kap. 1, Anmerkung 2. 2 Vgl. zum Folgenden den kommentierenden Anhang 11.348 - 355. 70 „ Verwisch die Spuren! “ <?page no="71"?> Gedicht eindrucksvoll sichtbar, und sie prägt die ganze Folge von Gedichten: Die erste Strophe des ersten Gedichts beispielsweise (Stichwort: „ Öffne die Tür nicht! “ ) verweist bereits auf das Gesamtthema, den Überlebenskampf von Einzelnen in der Großstadt (thematisiert später vor allem in den Gedichten 2 und 6 bis 8); die zweite Strophe ( „ gehe an [deinen Eltern] fremd vorbei “ ) korrespondiert dem dritten Gedicht: „ Dich wollen wir töten [. . .] so sprechen wir mit unseren Vätern “ ; die dritte spricht vielleicht, wenn man Brechts Diktion und Vorstellungswelt kennt, in Stichworten wie: „ das Fleisch, das da ist “ , „ setze dich auf jeden Stuhl [. . .] aber bleib nicht sitzen! Und vergiß deinen Hut nicht “ , ein Thema „ Umgang mit Frauen “ an, in den Gedichten 4 und 5 werden weibliche Stimmen antworten; und die letzten beiden Strophen ( „ was immer du sagst “ , „ findest du deinen Gedanken bei einem andern “ ) kündigen bereits die Stimme eines desillusionierten Intellektuellen an und das Reden über Dichtung, in der Verstellung „ kein Grabmal “ auch eines jener verfremdeten Selbstportraits, die man aus Brechts Lyrik kennt und die das Schlussgedicht thematisiert: „ Wenn ich mit dir rede / kalt und allgemein [. . .] so rede ich doch nur / Wie die Wirklichkeit selber “ . Weiterhin ist das Gedicht, wie noch zu zeigen sein wird − aber schon jetzt beachte man den episodenhaften, immer neu ansetzenden Aufbau, der Zwischenmusiken, Geräusche etc. zuließe − , sehr „ rundfunkgerecht “ gestaltet. Der technische, kulturgeschichtliche und interpretatorische Aspekt der Notiz Texte für Schallplatten wird uns als weiteres beschäftigen. Eng damit zusammen hängt drittens der „ epische Rahmen “ dieses und der anderen neun Gedichte, der den Kontext der Großstadtliteratur anspricht. Der Angeredete beispielsweise, der seine „ Spuren [. . .] verwischen “ soll, ist offensichtlich irgendwie auf der Flucht − wie man nach 1934 erkannte, hat Brecht sehr klar die Situation der Emigration vorweggenommen. Arnold Zweig hat diese Gedichte 1935 Mitemigranten vorgelesen, und der Eindruck soll „ betäubend “ gewesen sein (vgl. 11.352). Kurz abzuhandeln, aber interessant scheint mir viertens der enge Zusammenhang von Großstadtthema und „ filmischem Sehen “ . Man beachte etwa nur den Wechsel der geradezu eine filmische Sequenz simulierenden „ Einstellungen “ : „ mit zugeknöpfter Jacke “ , zu „ Suche dir Quartier “ , zu „ wenn dein Kamerad anklopft “ usw.! Und dieser „ Dialog der Medien “ , das wäre mein heutiger methodischer Ansatz, soll abschließend unter dem theoriegeleiteten Stichwort: „ Prosaisierung der Lyrik “ den „ Dialogismus “ des Lesebuchs für Städtebewohner (Stichworte aus der Literaturtheorie Michail Bachtins) als Interpretationsangebot dieses Vortrags herausarbeiten. Bert Brechts Lesebuch für Städtebewohner im Mediendialog 71 <?page no="72"?> „ Anpassung “ oder „ Veränderung “ , „ Hoffnung “ oder „ Verzweiflung “ ? 3 Das zweite und dritte der Gedichte hatte Brecht bereits 1926 unter den Titeln Vom fünften Rad und An Chronos veröffentlicht. 4 So wie das erste Gedicht ( „ Verwisch die Spuren! “ ) vielleicht die Situation des Exils vorwegnahm, so liest sich das zweite ( „ daß du das fünfte Rad bist “ ) gerade heute in einer Zeit erneuter hoher Arbeitslosigkeit ganz aktuell. Von Anklage, aber auch von Politökonomie ist freilich nicht die Rede. Aber hat die Aussage: „ Nicht schlecht ist die Welt / Sondern / Voll “ das letzte Wort? Wer sind „ Wir “ , wer ist „ Du “ ? Und wo hinaus soll es mit dem irritierenden, kalkulierten „ Aneinander-vorbei- Reden “ , ja „ Aneinander-vorbei-Denken “ ? Wir sind bei dir in der Stunde, wo du erkennst Daß du das fünfte Rad bist Und deine Hoffnung von dir geht. Wir aber Erkennen es noch nicht. Wir merken Daß du die Gespräche rascher treibst Du suchst ein Wort, mit dem Du fortgehen kannst Denn es liegt dir daran Kein Aufsehen zu machen. Du erhebst dich mitten im Satz Du sagst böse, du willst gehen Wir sagen: bleibe! und erkennen Daß du das fünfte Rad bist. Du aber setzest dich. Also bleibst du sitzen bei uns in der Stunde Wo wir erkennen, daß du das fünfte Rad bist. Du aber Erkennst es nicht mehr. Laß es dir sagen: du bist Das fünfte Rad Denke nicht, ich, der ich ’ s dir sage Bin ein Schurke Greife nicht nach einem Beil, sondern greife Nach einem Glas Wasser. 3 Walter Benjamin hatte, wegweisend für alle seitherigen Interpretationen des Lesebuchs, auf die Spannung hingewiesen zwischen der dargestellten „ Fühllosigkeit “ der Stadt und der lyrisch gestalteten äußersten Feinfühligkeit „ für die spezifischen Reaktionsweisen der Städter “ , so dass es offen bleibe, ob diese Gedichte „ zu Hoffnung oder Verzweiflung berechtigen “ (zitiert 11.352). 4 Vgl. Werner Hecht, Brecht-Chronik 1898 - 1956. Frankfurt 1997, S. 220 f. 72 „ Verwisch die Spuren! “ <?page no="73"?> Ich weiß, du hörst nicht mehr Aber Sage nicht laut, die Welt sei schlecht Sage es leis. Denn nicht die vier sind zu viel Sondern das fünfte Rad Und nicht schlecht ist die Welt Sondern Voll. (Das hast du schon sagen hören.) Das dritte Gedicht gewinnt seine Aussage eigentlich erst mit der Schlusszeile, nämlich genau dann, wenn man erfährt, dass diese gleichgültig-brutale Rede an „ unsere Väter “ gerichtet ist; und das hat beim ersten Lesen schon etwas Schockierendes. Der vorübergehend gewählte Titel An Chronos benennt in der Anspielung an den Gott ( „ Zeit “ ), der seine Kinder frisst und von seinem Sohn ( „ Zeus “ ) entmachtet wird, allerdings, wenn auch ohne jede konkrete Perspektive, eine völlig allgemeine, völlig sinnleere Veränderung. So könnte der Titel auch eine ironische Auseinandersetzung mit Goethes fortschrittsfrohem Gedicht An Schwager Chronos vorschlagen. ( „ Wir wissen nicht, was kommt, und haben nichts Besseres. “ ) Das Thema des Generationenkampfes, ja des „ Vatermords “ , gibt es vielfältig in der Literatur seit der Jahrhundertwende (Hasenclever, Bronnen, natürlich Freud und die Folgen); aber die nüchterne Kälte, mit der Brecht es inszeniert, bringt doch einen neuen Ton: Wir wollen nicht aus deinem Haus gehen Wir wollen den Ofen nicht einreißen Wir wollen den Topf auf den Ofen setzen. Haus, Ofen und Topf kann bleiben Und du sollst verschwinden wie der Rauch im Himmel Den niemand zurückhält. Wenn du dich an uns halten willst, werden wir weggehen Wenn deine Frau weint, werden wir unsere Hüte ins Gesicht ziehen Aber wenn sie dich holen, werden wir auf dich deuten Und werden sagen: das muß er sein. Wir wissen nicht, was kommt, und haben nichts Besseres Aber dich wollen wir nicht mehr. Vor du nicht weg bist Laßt uns verhängen die Fenster, daß es nicht morgen wird. Die Städte dürfen sich ändern Aber du darfst dich nicht ändern. Den Steinen wollen wir zureden Aber dich wollen wir töten Du mußt nicht leben. Bert Brechts Lesebuch für Städtebewohner im Mediendialog 73 <?page no="74"?> Was immer wir an Lügen glauben müssen: Du darfst nicht gewesen sein. (So sprechen wir mit unsern Vätern.) Die Gedichte 4 und 5 lassen weibliche Stimmen zur Sprache bzw. zu Gehör kommen. Man hört eine Frau vor dem Spiegel, die an ihren Teint denkt: [ . . .] Ich gebe mir Mühe Frisch zu bleiben und hart, aber Ich werde mich nicht anstrengen; das Gibt Falten. Ich habe nichts zum Verschenken, aber Ich reiche aus mit meiner Ration. Ich esse vorsichtig; ich lebe Langsam; ich bin Für das Mittlere. (So habe ich Leute sich anstrengen sehen.) Und dem folgt ein Text in der Tradition der „ Hurenbeichte “ : Ich bin ein Dreck. Von mir Kann ich nichts verlangen, als Schwäche, Verrat und Verkommenheit Aber eines Tages merke ich: Es wird besser; der Wind Geht in mein Segel; meine Zeit ist gekommen, ich kann Besser werden als ein Dreck − Ich habe sofort angefangen. [. . .] Bemerkenswert ist, dass hier in beiden „ weiblichen “ Gedichten Verfall − zunächst einmal einer der sozialen Einbindungen − und persönliches Durchsetzungspotential direkt auseinander hervorgehen; sonst sind sie ja auf verschiedene „ Stimmen “ verteilt. Und im fünften Gedicht setzt gerade der Verfall des Körpers eine unbesiegbare Vitalität frei. (Da mir diese Passage in der bisher einzigen Produktion des Lesebuchs für Städtebewohner [unter der Regie von Klaus Buhlert produziert für den Deutschlandfunk, Bayerischen Rundfunk und Westdeutschen Rundfunk, erstgesendet am 9. 2. 1998] am besten gelungen scheint, werde ich Ausschnitte daraus später vorstellen.) Leider mußte ich Rein um mich am Leben zu erhalten, viel Tun, was mir schadete; ich habe Gift gefressen, das vier 74 „ Verwisch die Spuren! “ <?page no="75"?> Gäule umgebracht hätte, aber ich Konnte nur so Am Leben bleiben; so habe ich Zeitweise gekokst, bis ich aussah Wie ein Bettlaken ohne Knochen Da habe ich mich aber im Spiegel gesehen − Und habe sofort aufgehört. Sie haben natürlich versucht, mir eine Syphilis Aufzuhängen, aber es ist Ihnen nicht gelungen; nur vergiften Konnten sie mich mit Arsen: ich hatte In meiner Seite Röhren, aus denen Floß Tag und Nacht Eiter. Wer Hätte gedacht, daß so eine Je wieder Männer verrückt macht? − Ich habe damit sofort wieder angefangen. Ich habe keinen Mann genommen, der nicht Etwas für mich tat, und jeden Den ich brauchte. Ich bin Fast schon ohne Gefühl, beinah nicht mehr naß Aber Ich fülle mich immer wieder, es geht auf und ab, aber Im ganzen mehr auf. Durch seine Länge, die naturalistisch-vitalistische Intensität, die mythische Überhöhung ( „ Hure Babylon “ ), die futurischen ( „ der Wind geht in mein Segel “ , „ das Geschlecht von morgen “ ), ja biblisch-heilsgeschichtlichen Ausblicke ( „ es müssen alle Dinge mir zum besten dienen “ , nach Römer 8, 28) ist dieses Gedicht das „ epischste “ und im wörtlichen Sinne „ historischste “ des ganzen Zyklus. So steht es auch irgendwie zu Recht in dessen Mitte Ich bin ein Dreck; aber es müssen Alle Dinge mir zum besten dienen, ich Komme herauf, ich bin Unvermeidlich, das Geschlecht von morgen Bald schon kein Dreck mehr, sondern Der harte Mörtel, aus dem Die Städte gebaut sind. (Das habe ich eine Frau sagen hören.) Die Gedichte 6 (das Porträt eines Verlierers, der „ die Straße hinunter “ geht, „ den Hut im Genick “ ) und 7, der zynische Rat an ihn, sich eben ganz neu durchzuschlagen (mit der Schlusszeile „ nichts zu danken “ ), werden wir später unter den Aspekten des „ filmischen Sehens “ und der „ Episierung “ betrachten. Das achte Gedicht spricht über die „ Städtebewohner “ bereits eine Art Gesamt- Bert Brechts Lesebuch für Städtebewohner im Mediendialog 75 <?page no="76"?> urteil, wobei der Anspruch auf Allgemeinheit auch durch das nur leicht veränderte Zitat aus Dante: „ Laßt [. . .] eure Hoffnung fahren “ (der Schluss der Inschrift am Tor zur Hölle, Inferno, 3. Gesang, Vers 9), unterstrichen wird. Laßt eure Träume fahren, daß man mit euch Eine Ausnahme machen wird. Was eure Mutter euch sagte Das war unverbindlich. Laßt euren Kontrakt in der Tasche Er wird hier nicht eingehalten. Laßt nur eure Hoffnungen fahren Daß ihr zu Präsidenten ausersehen seid. Aber legt euch ordentlich ins Zeug Ihr müßt euch ganz anders zusammennehmen Daß man euch in der Küche duldet. Ihr müßt das ABC noch lernen. Das ABC heißt: Man wird mit euch fertig werden. Denkt nur nicht nach, was ihr zu sagen habt: Ihr werdet nicht gefragt. Die Esser sind vollzählig Was hier gebraucht wird, ist Hackfleisch. Aber das soll euch Nicht entmutigen! Die zweimalige, und beim zweiten Zitat genauere, Anspielung auf die Divina Commedia ist insofern zusätzlich interessant, als sie neben dem Mythos der „ Hölle Großstadt “ (auch davon später) auch, sozusagen als „ abwesendes “ Modell (im Sinne neuerer Literaturtheorie − die Literatur, erst recht die Lyrik der Moderne ist angewiesen auf Theorie), vielleicht auch eine Dante vergleichbare Umkehr des „ Abstiegs “ vorzeichnet. Dem waren wir im fünften Gedicht als unbesiegbarem Vitalismus begegnet ( „ ich / komme herauf, ich bin / Unvermeidlich “ ), im siebenten als zynische Moralistik ( „ wenn Sie durchkommen / Haben Sie mehr getan als / Wozu ein Mensch verpflichtet ist “ ). Das neunte Gedicht, das einzige mit einer Überschrift Vier Aufforderungen an einen Mann von verschiedener Seite zu verschiedenen Zeiten, zeichnet zwar im ganzen einen sozialen Abstieg nach, von der Wohnung über das „ Zimmer mit einem Bett “ , dann die „ Schlafstelle “ bis zur Unterkunft bei einer Prostituierten für „ eine Nacht, aber das kostet extra “ . Doch jedes Mal ist damit die Aufforderung verbunden: „ Hier bleibe “ , „ bleibe ruhig bei uns “ , „ Du kannst also dableiben “ . Das zehnte Gedicht setzt einen Schlusspunkt, trägt aber kein irgendwie „ vollständiges “ Argument vor (auch dazu später unter dem Stichwort der „ Prosaisierung der Lyrik “ ). Es ist ein metapoetisches Gedicht, ein Gedicht über 76 „ Verwisch die Spuren! “ <?page no="77"?> Dichtung, seine Stimme ist die des „ implied author “ , es spricht der, der den ganzen Zyklus verantwortet, dessen Gesamt-Subjekt, und angeredet ist ein intendierter Leser. Aber indem beide in die Folge von Gedichten eintreten, werden beide auch den Betroffenen der Großstadtwelt gleichgestellt. Wenn ich mit dir rede Kalt und allgemein Mit den trockensten Wörtern Ohne dich anzublicken (Ich erkenne dich scheinbar nicht In deiner besonderen Artung und Schwierigkeit) So rede ich doch nur Wie die Wirklichkeit selber (Die nüchterne, durch deine besondere Artung unbestechliche Deiner Schwierigkeit überdrüssig) Die du mir nicht zu erkennen scheinst. Texte für Schallplatten „ Wenn ich mit dir rede / Kalt und allgemein [. . .] Ohne dich anzublicken “ : Solche Selbstdeutungen aus dem Schlussgedicht des Lesebuchs für Städtebewohner scheinen bruchlos in die Notiz Texte für Schallplatten überzugehen, die Brecht seinem Manuskript mit gegeben hat: eine „ veränderte Rezeption “ , die „ Anonymität der Stimme “ , durch „ das Medium “ festgelegte „ neue Wahrnehmungsweisen “ und ein festgelegtes „ Tempo des Wahrnehmungsablaufs “ , wodurch „ das wiederholende Lesen von Zeilen, das Zurückgehen zur Eingangsstrophe, der korrespondierende Blick über die Zeilen hinweg, kurzum: das Verweilen bei Einzelheiten nur erschwert möglich “ sei. „ Die direkte Beziehung “ zum Vortragenden, etwa bei einer Lesung, „ sei bei der Schallplattenlyrik der Anonymität gewichen “ , genau dies sei der Darstellung der Großstadt angemessen und korrespondiere „ auch (der) Anonymität ihrer Bewohner in deren Redeformen “ . So die bisher einzige eingehendere Überlegung zum Lesebuch für Städtebewohner als „ medienästhetischer Versuch “ Brechts. 5 Das ist alles richtig. Aber es ist noch zu wenig. Brecht war 1926/ 27 schon zu gut mit dem neuen Medium Rundfunk vertraut, um einfach an eine „ Lesung auf Schallplatte “ zu denken, die dann gesendet werden könnte. 6 Brecht wollte 5 Dieter Wöhrle, Bertolt Brechts medienästhetische Versuche. Köln 1988, S. 62 - 70. 6 So auch Jan Knopf, Brecht Handbuch. Lyrik, Prosa, Schriften. Stuttgart 1984, S. 65; In Jan Knopf (Hrsg.), Brecht-Handbuch. Bd. 2: Gedichte. Stuttgart und Weimar 2001, wird diese Auffassung allerdings entschieden zurückgewiesen (vgl. S. 181) und der Ansatz einer Deutung als „ Medienexperiment “ empfohlen (vgl. S. 184 ff.); das andere Standartwerk, Klaus-Detlef Müller, Bertolt Brecht. Epoche-Werk-Wirkung. München 2009, S. 33 ff. bleibt noch weitgehend beim Ansatz des „ Lehr- und Lernbuch[s]. Seine mediale Form ist hier zugleich die Schallplatte, Bert Brechts Lesebuch für Städtebewohner im Mediendialog 77 <?page no="78"?> mehr, und das Stichwort „ Schallplatte “ besaß für den Rundfunk der Weimarer Republik eine eigene, heute nicht mehr geläufige, aber damals recht genaue Bedeutung. Wie hielt es der Rundfunk mit der Literatur? Mit dem rapiden Anstieg der Hörerzahlen (1926 waren 1 224 000, 1928 2 284 000 Radios angemeldet) stieg auch das Bedürfnis nach „ geistiger Nahrung “ für die „ Massen “ (so Hans Bredow, Radiomann der ersten Stunde und für den Rundfunk verantwortlicher Staatssekretär im Postministerium, in einer Ansprache 1924). 7 Lesungen waren gefragt, Hörfunkbearbeitungen literarischer Vorlagen: Als erstes deutsches Hörspiel inszenierte Alfred Braun 1925 für die Berliner Funkstunde Wallensteins Lager, wobei eisengewandete Statisten unter Trompetengeschmetter die Marmortreppe des Funkhauses hinauf- und hinunterpoltern mussten; auch Brecht inszenierte 1927 zusammen mit Alfred Braun Macbeth von Shakespeare und − das neue Medium war sehr aufgeschlossen − im selben Jahr auch sein eigenes Mann ist Mann, das noch zwei weitere Male in Berlin und Köln gesendet wurde. Aber all das war Brecht bald schon nicht genug. Viele deutsche Dichter freilich standen dem neuen Medium skeptisch gegenüber. Berühmt ist Thomas Manns Ausspruch: „ Ich habe nicht gern die Welt in meinem Zimmer “ ; andere dagegen forderten schon früh originale, rundfunkproduzierte Literatur. Aber noch 1927 − dem Jahr der Reinschrift des Lesebuchs für Städtebewohner − veranstaltete die Reichs-Rundfunk-Gesellschaft ein Preisausschreiben für ein „ Sendungs-Spiel “ und konnte unter tausend Bewerbungen kein akzeptables Werk finden. Ja, es gab einen gerade im Laufe dieser Jahre an Heftigkeit zunehmenden theoretischen und programmatischen Streit darüber, 8 wie Literatur im Rundfunk verstanden werden sollte. Sollte der Rundfunk die Kunst des hörbaren Geschichtenerzählens wiederbeleben? (So fordert Arnold Zweig auf einer gemeinsamen Sitzung der Preußischen Akademie der Künste und der Reichs-Rundfunk- Gesellschaft am 30. September und 1. Oktober 1929, der Rundfunk müsse „ sich dem Urquell der Erzählungen, dem Epischen, wieder [. . .] nähern “ ). 9 Oder kommt „ dem Wort die ausschlaggebende Bedeutung zu “ , den „ Stimmen sein Kommunikationsort auch der Rundfunk “ (S. 34, Hervorhebungen von mir). Es kommt aber darauf an, den „ Mediendialog “ als prägend bereits für die primäre Konstitution der Texte zu sehen, nicht lediglich als weiteren „ Ort “ einer irgendwie späteren „ Kommunikation “ . 7 Wolfram Wessels, Welle, Du Wunder, wir grüßen Dich.Die Anfänge des Hörspiels in der Weimarer Republik. Bayerischer Rundfunk 7. 1. 1991, Sendemanuskript 5. (Für die Zusendung der hier und im Folgenden zitierten Manuskripte und Kopien bin ich diesem und anderen deutschen Sendern zu großem Dank verpflichtet; für die Kontakte und die Vermittlung danke ich Christian Gerlinger; ohne dieses Material wäre der Vortrag nicht möglich gewesen). Zum allgemeineren Hintergrund vgl. z. B. Gerhard Schäffner, Hörfunk. In: Werner Faulstich (Hrsg.), Grundwissen Medien. München 1994, S. 235 - 254. 8 Vgl. Werner Wessels, Welle du Wunder, wir grüßen Dich, S. 9 ff. 9 Ebd. S. 15. 78 „ Verwisch die Spuren! “ <?page no="79"?> als körperlosen Wesenheiten “ , der „ imaginativen Kraft des Wortes “ und „ seelischen Einheit [. . .] mit dem Hörer “ ? (so, neben vielen anderen, Reinhard Kolb, Rundfunkkritiker aus München, der später unter den Nazis eine steile Karriere machte). 10 Seit der Entstehung des Rundfunks aber gab es nun, das war sozusagen die dritte Meinung, Forderungen nach der künstlerischen Nutzung aller medialen Möglichkeiten, die die neue Technologie bot. Kurt Weill beispielsweise, Komponist, aber vor allem auch Rundfunkkritiker, fordert 1925 eine „ absolute Rundfunkkunst “ ; 11 und der wesentliche Befürworter und Förderer dieser experimentellen Durchdringung von Literatur und Funk, damals „ Funkspiel “ , „ Hörbild “ , „ Tonstück “ , „ Akustischer Film “ usw. genannt, 12 wurde in der Folgezeit Hans Flesch, der vom Südwestfunk nach Berlin gekommen war. „ Der Rundfunk ist eine Maschine “ , lautete sein provozierendes, damals viel zitiertes, aber auch viel umstrittenes Programm. 13 Und er empfahl nun vor allem für anspruchsvolle Rundfunkproduktionen das so genannte, seit 1924 entwickelte und bekannte „ Tri-Ergon “ -Verfahren. 14 Dabei werden in „ drei Arbeitsschritten “ zunächst „ Tonfilme “ hergestellt, die anschließend kopiert, geschnitten, überblendet, montiert und beliebig oft angesetzt werden können. Und das Ergebnis wird schließlich auf eine Wachsschallplatte übertragen, denn nur die konnte für die Rundfunksendung benutzt werden. Eine Wachsschallplatte für eine Rundfunksendung, hergestellt im medientechnisch damals progressivsten Tri-Ergon-Verfahren: Genau eine solche „ Schallplatte “ , als Zwischenprodukt einer technisch anspruchsvollen und künstlerisch avancierten Rundfunkarbeit, scheint Brecht wohl zu meinen, wenn er „ Texte für Schallplatten “ notiert. Texte für Schallplatten als Untertitel von Lesebuch für Städtebewohner heißt: Manuskript für ein rundfunkgerechtes Sprache-Ton-Experiment, und das war eine damals ganz eigene und ganz neue literarisch-mediale Gattung. Warum ist das so wichtig? Wie könnte man sich das vorstellen? Von den Experimenten, die damals auf dem Weg technischer Schallaufzeichnungsverfahren erzeugt wurden, sind freilich heute vor allem nur noch die bekannt, die nach 1930 entstanden sind und bereits einen beträchtlichen Grad an Raffinesse erreicht haben. Als Bahn brechend gilt bis heute etwa das „ Geräuschhörspiel “ Weekend, das Walter Ruttmann 1930 für die Berliner Funkstunde produzierte und das mit rhythmischen Sirenen, Knarrgeräuschen 10 Heinz Hostnig, 70 Jahre Hörspiel. Sendung 1: 1924 - 1934. Bayerischer Rundfunk 4. 9. 1994, Sendemanuskript S. 4 ff. 11 Werner Wessels, Welle, Du Wunder, wir grüßen Dich, S. 33 12 Heinz Hostnig, 70 Jahre Hörspiel, S. 3. 13 Zitiert ebd. S. 4, ebenso bei Werner Wessels, Welle, Du Wunder, wir grüßen Dich, S. 25. 14 Vgl. zum Folgenden ebd. S. 11 ff. oder Heinz Hostnig, 70 Jahre Hörspiel, S. 23 ff. Bert Brechts Lesebuch für Städtebewohner im Mediendialog 79 <?page no="80"?> sich öffnender Tore, Fahrradklingeln, Hupen, Schreibmaschinenklappern, Maschinenkrach, darunter Musikfetzen usw. beginnt, das also ganz aus Alltags- und dann Sonntagsgeräuschen komponiert ist. Aber auch ein ausgesprochen literarisches, ja episches, auf Stimmen aufbauendes Hörspiel wie Die verhexte Stunde von Ernst Bringolf, das 1932 gesendet wurde, eine Montage von Schauergeschichten von Guy de Maupassant und Gustav Meyrinck, arbeitet mit vielerlei akustischen Effekten: Geräuschen, die technisch bearbeitet werden, Musik, tonalen Entwürfen, Stimmenüberlagerungen, Kollagen von Sprachfetzen und so fort. 15 1927, als Brecht sein Lesebuch für Städtebewohner schrieb, war man technisch und teilweise auch programmatisch durchaus schon so weit. Alfred Döblin, neben Brecht, Arnold Bronnen und Lion Feuchtwanger einer der für den Rundfunk aufgeschlossensten von den bedeutenderen Autoren, forderte etwa ein Jahr später auf der bereits erwähnten Tagung von 1929 die lebendige, wirkliche, tönende Sprache, aber auch alle anderen Möglichkeiten des Rundfunks, z. B. auch die Verwendung von Musik und Geräuschen für die Literatur. 16 Montage, Überblendungen, Schnitt-Technik und andere filmische Mittel hatte er literarisch ohnehin adaptiert. Aber die Senderleitungen und (überwiegend staatlich besetzten) Rundfunkbeiräte waren noch nicht so weit − auf die Zensur, ein weites, wichtiges Feld, in dem es mal so, mal so ausging, will ich aus Zeitgründen nicht eingehen. Gleichwohl, 1930, als Brecht den Vermerk Texte für Schallplatten dem Lesebuch für Städtebewohner hinzufügte, hätte es wohl Möglichkeiten einer avancierten medien-literarischen Realisierung gegeben. Aber Brechts Auffassungen vom Zusammenwirken von Literatur und Rundfunk hatten sich eindeutig hin zum politisch-didaktischen Auftrag des immer noch jungen Mediums verschoben: „ Kunst und Radio sind pädagogischen Absichten zur Verfügung zu stellen “ , es gehe darum, „ zum Kollektivismus zu erziehen “ ; „ Disziplinierung “ zur „ Freiheit “ , eine „ Anwendung “ des Rundfunks, die ihm „ revolutionären Wert “ verleihe sei geboten usw. (so in den Aufzeichnungen Über Verwertungen und den Anmerkungen zum Lindberghflug von 1930). 17 Die volle Nutzung aller technischen und künstlerischen Möglichkeiten des Rundfunks blieb dabei allerdings eine Voraussetzung, die gar nicht mehr eigens thematisiert werden musste. Brecht nutzte die offenen Möglichkeiten der modernen Medien so entschlossen und gezielt wie sonst etwa die „ entautomatisierende “ , die „ volle Funktionalität “ der sprachlichen und lite- 15 Im Vortrag wurden Ausschnitte daraus vorgestellt. Diese frühen „ Ton-Stücke “ sind auf alle Fälle auch nach fast achtzig Jahren immer noch erstaunlich packend und hörenswert. 16 Vgl. Andrea Melcher, Vom Schriftsteller zum Sprachsteller. Alfred Döblins Auseinandersetzung mit Film und Rundfunk (1909 - 1932). Frankfurt, Berlin, Bern 1996, S. 141 ff. 17 Bertolt Brecht, Gesammelte Werke. Hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann, Bd. 8, Schriften zu Literatur und Kunst, Frankfurt 1967, S. 124 - 131. 80 „ Verwisch die Spuren! “ <?page no="81"?> rarischen Möglichkeiten suchende Tradition der lyrischen Moderne. 18 1927 hatte er beispielsweise für die Berliner Funk-Stunde eine radiogerechte Fassung von Mann ist Mann erarbeitet, die nach Kurt Weills Urteil „ weit über alles hinaus “ ging, „ was der Berliner Sender bisher auf diesem Gebiet unternommen hat “ ; Brecht habe „ einen wesentlichen Teil aller Sendespielfragen gelöst “ . 19 Im selben Jahr bot Brecht dem Frankfurter Rundfunkmann Ernst Hardt ein „ wirkliches Sendespiel “ an, Geschichte der Sintflut, in dem „ ziemlich moderne Städte “ neben den mythischen Ninive, Sodom und Gomorrha etc. untergehen und neben Stimmen und Musik ausdrücklich auch „ Lärm “ eine Rolle spielen sollten. 20 In seinen vom „ Tonstück “ -Pionier Hans Flesch und dessen „ Tri- Ergon “ -Verfahren angeregten Hörspielen Der Lindberghflug und Badener Lehrstück vom Einverständnis suchte Brecht diese Arbeit fortzusetzen. Freilich, das zweite gelangte damals nicht in den Rundfunk, das erste wurde mehrfach gesendet, ist aber als originales Tondokument nur in einer gekürzten, ganz auf die Musik (immerhin ursprünglich von Kurt Weill und Paul Hindemith) gestellten Berliner Fassung von 1930 (die nur noch Vertonungen von Kurt Weill bringt) erhalten. Auch bei der konzertanten Uraufführung im Juli 1929 in Baden-Baden − das Rahmenthema der Baden-Badener Musiktage hieß in diesem Jahr „ Radiokunst für die Massen im technischen Zeitalter “ -, 21 arbeitete Brecht ausgesprochen multi-medial; er bezeichnete das Ensemble von Stimmen, Tönen und Musik z. B. ausdrücklich als „ Der Apparat “ 22 ( „ der Rundfunk ist eine Maschine “ , hatte Hans Flesch 1928 gesagt) und so fort. Aber die gleichzeitig von Hans Hardt für den Rundfunk erarbeitete Fassung (am 29. Juli 1929 aus Frankfurt gesendet) enthielt ihm zuviel lediglich „ naturalistische Geräusche “ . 23 Der Lindberghflug hatte Erfolg vor allem wegen der Musik; 24 die Baden-Badener Inszenierungen dagegen erwiesen sich als Skandal, aber auch als Reinfall - was rückblickend nicht überrascht. Man stelle sich vor: Das festliche Publikum, darunter Gerhart Hauptmann, André Gide, der Erbprinz von Donaueschingen usw., sollte die Musik mitsummen, die Chöre mitsingen oder mitsprechen. Brecht wies beispielsweise an: „ Die Menge liest für sich: [. . .] Um Hilfe zu verweigern, ist Gewalt nötig / Um Hilfe zu erlangen, ist auch 18 Vgl. dazu genauer oben Kap. 1 Vorwort: „ Stehend an meinem Schreibpult “ . Außenansichten von Bert Brechts Lyrik, sowie Kap. 4 „ Ach wie solln wir nun die kleine Rose buchen? “ Bert Brechts Lyrik und die Tradition der Moderne. 19 Werner Hecht, Brecht-Chronik 1898 - 1956, S. 225. 20 Vgl. dazu und zum Folgenden Wolfram Wessels, Das Lehrstück von der Katastrophe. Von der „ Sintflut “ zum „ Ozeanflug “ . Brecht als Pionier des Radios. Ein Essay mit Tondokumenten. Südwestfunk 8. 1. 1998, Sendemanuskript. 21 Michael Langer, Ein ungeheures Kanalsystem! Brechts Radio-Theorie und -Praxis - gestern und heute. Bayerischer Rundfunk 26. 1. 1998, Sendemanuskript, S. 23. 22 Ebd. S. 24. 23 Wolfram Wessels, Das Lehrstück von der Katastrophe, S. 11 ff. 24 Ein Ausschnitt wurde im Vortrag vorgestellt. Bert Brechts Lesebuch für Städtebewohner im Mediendialog 81 <?page no="82"?> Gewalt nötig “ . Man sah sich „ verhöhnt “ . 25 Brecht und Weill wurden nie wieder eingeladen. Brecht hielt sein eigenes Rundfunkprogramm von da an für „ utopisch “ . Dass Die heilige Johanna der Schlachthöfe, weil das Stück kein Theater fand, gleichwohl zuerst am 11. April 1932 unter der Regie von Alfred Braun mit Fritz Kortner, Carola Neher, Helene Weigel, Peter Lorre u. a. als Hörspiel gesendet wurde, 26 bedeutete zwar eine literatur- und hörspielgeschichtliche Sensation, entstand aber doch wohl aus einem Mangel heraus. Hans Flesch, Alfred Braun, Ernst Hardt und viele andere Rundfunkpioniere kamen später ins Konzentrationslager. 27 Die Nazis realisierten genau das, aber eben auf ihre Weise, was Brecht als „ die wichtigste Frage “ bezeichnet hatte, nämlich, „ wie man Kunst und Radio überhaupt (politisch) verwerten kann “ . Das Radio war vielleicht ihr wichtigstes Propaganda-Medium. Nach der Rückkehr aus dem Exil hat Brecht nicht mehr kreativ für den Rundfunk gearbeitet: „ Es gab etwas Gezänk mit der Parteizensur. Nichts weiter. Dem Radio hatte Brecht nichts mehr zu sagen “ . 28 Gleichwohl, wenn 1930 der Untertitel zum Lesebuch für Städtebewohner, Texte für Schallplatten, einen stillen Irrealis mitformuliert: „ Texte, die eigentlich für Schallplatten bestimmt gewesen wären “ , dann hat dieser Irrealis einerseits zwar nichts mehr mit den technisch-künstlerischen Möglichkeiten und auf alle Fälle nicht nur bzw. noch nicht mit den politischen Rahmenbedingungen für eine Rundfunkproduktion zu tun. Das Medium wäre aufnahmebereit gewesen. Brechts eigene Intentionen hatten sich geändert. Das Lesebuch für Städtebewohner ist auf seine Weise zu gut gelungen, um sich dem erhobenen Zeigefinger der Lehrstücke unterzuordnen. Andererseits aber fällt seine Entstehung in eine kontroverse, aber auch produktive, experimentierfreudige Phase der Rundfunkgeschichte. Brecht stand in alledem mitten drin, arbeitete mit den Pionieren eng zusammen. In einem offenen Brief, Vorschläge für den Intendanten des Rundfunks, 1927, also zeitgleich zum Lesebuch, hatte er ganz im Sinne von Kurt Weill oder Hans Flesch gefordert, die „ Produktion für das Radio “ müsse „ sehr intensiviert werden “ : „ Sie müssen ein Studio einrichten. Es ist ohne Experimente einfach nicht möglich, Ihre Apparate oder das, was für sie gemacht wird, voll auszuwerten “ . 29 Wir können also ein erstes Fazit ziehen: Texte für Schallplatten heißt: Vorlagen für „ Experimente “ mit dem „ Apparat “ , ja, der „ Maschine “ Rundfunk. Die Schallplatte interessiert nicht für sich, sondern als damals unerlässliches Zwischenresultat der Rundfunkproduktion. Dann greift wohl auch die Vor- 25 Heinz Hostnig, 70 Jahre Hörspiel, S. 7 f. 26 Wieder gesendet im Süddeutschen Rundfunk (S 2) am 15. 1. 1998 mit einem Nachwort Zur Uraufführung im Rundfunk. 27 Heinz Hostnig, 70 Jahre Hörspiel, S. 21 ff. 28 Michael Langer, Ein ungeheures Kanalsystem, S. 26. 29 Bertolt Brecht, Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 126 f. 82 „ Verwisch die Spuren! “ <?page no="83"?> stellung eines medial reproduzierten, fortlaufenden sprachlichen Vortrags zu kurz (von der die einschlägige Forschung oft ausgeht). Bereits vor dem Hintergrund des Rundfunks der Jahre 1928 bis 1930 kann man sich eine viel lebendigere Produktion vorstellen: Ganz bestimmt viele verschiedene Stimmen wären zu hören; sicher wäre die Stimme in Klammern am Ende der ersten sechs Gedichte ( „ So wurde mir gesagt “ , „ So habe ich Leute sich anstrengen sehen “ ) von der der Texte zu unterscheiden; das Einmontieren, Unterlegen, aber auch − warum nicht? − das übertönende „ Darüberlegen “ von Großstadtgeräuschen wäre zu erwarten; Brechts Nähe und natürlich auch die des Hörfunks zur Musik wäre fast unendlich anwendbar: Zitate, Neukompositionen, Hintergrund-Musik, anschwellend und verklingend, Rhythmisierungen der Stimmen, aber auch Gesang, nicht als Songs wie in Mahagonny, aber sehr gut vorstellbar in der freieren, „ harmonischen wie rhythmischen Dramatik “ des späteren Lindberghflugs, 30 solche Musik also, weiterhin Chöre oder etwa kantatenartige Wiederaufnahmen von Themen und Sätzen könnte man sich gut vorstellen. Schon die Texte sind ja in diesem Sinne „ polyphon “ durchkomponiert. Und nimmt man einmal an, was doch sehr plausibel ist, die „ Schallplatten “ wären Teil des von Hans Flesch favorisierten „ Tri-Ergon “ - Verfahrens gewesen, dann hätte sich zwischen ihnen und den Tonaufnahmen eine weitere Bearbeitungsphase eröffnet, die Schnitte, Vervielfältigungen, Wiederholungen, kompositorische Korrespondenzen und Kontraste aller Stimmen, Geräusche, Töne und Musik ermöglicht hätte: ein epochales Ereignis für die moderne Lyrik, möglich gemacht durch ihren Mediendialog. Dieser Vortrag wurde im Sommer 1997 konzipiert; der hier entwickelte Aspekt war damals für die Forschung neu, 31 aber die Praxis hat diese Forschung inzwischen, also zum „ Brecht-Jahr “ 1998, überholt. Und sie bestätigt nun in der Tat doch weithin diese Überlegungen zur Produzierbarkeit des Lesebuchs für Städtebewohner für den Rundfunk. Klaus Buhlert hat im Auftrag von Deutschlandfunk, Bayerischem Rundfunk und Westdeutschem Rundfunk aus diesen und anderen „ Zum Lesebuch [. . .] gehörenden Gedichten “ 32 eine „ Lyrische Versuchsanordnung “ hergestellt, deren „ Bearbeitung, Komposition und Regie “ allerdings sehr frei, ja beliebig mit Brecht umgehen. Am 7. Februar 1998, 71 Jahre nach seiner Niederschrift, wurde also auch dieser Medienversuch Brechts erstmals realisiert. 33 Vieles daran ist sehr gelungen. Zunächst einmal ist es erfreulich, dass dieses Projekt überhaupt verwirklicht wurde. 30 Wolfram Wessels, Das Lehrstück von der Katastrophe, S. 15. 31 Vgl. z. B. Seung-Jin Lee, „ Einmaliges Abspielen der Platte genügt nicht. “ Ein medienästhetisches Experiment in der Lyrik. In: Jan Knopf (Hrsg.), Interpretationen. Gedichte von Bertolt Brecht. Stuttgart 1995, S. 43 - 52. 32 Orientiert offensichtlich an der „ kleinen “ Werkausgabe, Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 267 - 298. 33 Mit freundlicher Genehmigung des Bayerischen Rundfunks wurden große Teile dieser Produktion im Vortrag vorgestellt. Bert Brechts Lesebuch für Städtebewohner im Mediendialog 83 <?page no="84"?> Durch die Montage inzwischen ja breit verfügbaren Rundfunkmaterials erweist Buhlert, was nun in der Tat sehr wichtig ist, überzeugend die Aktualität der Brechtschen Texte. Geräusche der Großstadt wurden aufgenommen und unterlegt, echoartige oder auch kantatenhafte konfigurierende Wiederholungen wurden ausformuliert (eine ratlose weibliche Stimme wiederholt beispielsweise in Frageform Satzfetzen des ersten Gedichts - eine sehr gute Idee), die Regie arbeitet konsequent immer wieder Höhepunkte heraus (das Gedicht: „ Laßt eure Träume fahren “ , beispielsweise hebt sich durch seinen Rand des Schweigens wirkungsvoll von den anderen ab). Hier und vor allem in den weiblichen Partien wird sehr intensiv, oft provozierend gesprochen. Wie überhaupt diese Teile (Interviews mit Prostituierten werden eingeblendet, der Hörraum mit Regengeräuschen, Schritten, dem Ruf: „ Ruhe da! “ etc. ist sehr eindrucksvoll konturiert) zu den gelungensten der Inszenierung gehören. Aber es widerspricht dem Brecht-Text, dass nur vier Stimmen zu hören sind. Die stimmliche Identität der Schlusskommentare (in Klammern) zu den Haupttexten scheint mir völlig falsch: So setzen sich die Stimmen jeweils selbst in Anführungszeichen und zitieren sich ironisch sozusagen selbst. Statt der distanzierten Verfremdung, die zu prüfender Verallgemeinerung auffordert, wird ein fragwürdiges Individuum vorgestellt, und statt Rundfunkarbeit gibt es zuletzt immer noch eine aufgezeichnete Lesung. Manche Effekte (der „ Megaphonmann “ etwa, oder die sehr zerhackte Sprechweise beim Gedicht „ Das fünfte Rad “ ) wirken einfach billig. Auch die Verwendung aktuellen Rundfunkmaterials aus dem Archiv (v. a. Straßeninterviews, teilweise auch auf amerikanisch) scheint mir ambivalent: Die Gedichte werden dadurch auch nivelliert, als sei Gleichgültigkeit das Thema; es geht aber Brecht um allgemeine Aggressivität und institutionalisierte Gewalt. Vor allem wurde die von Brecht sehr sorgfältig (in mehreren Reinschriften und allen Ausgaben) festgelegte Folge der Texte aufgebrochen, und es fehlt das nun wirklich bedeutsame Schlussgedicht: „ Wenn ich mit dir rede / Kalt und allgemein [. . .] Ohne dich anzublicken [. . .] So rede ich doch nur / Wie die Wirklichkeit selber [. . .] Die du mir nicht zu erkennen scheinst “ . Ein schlimmer Eingriff! Denn ist nicht gerade dieses Gedicht ein Verständnis-Schlüssel, ein „ metapoetisches “ bzw. „ poetologisches “ Gedicht, das auf den ganzen Zyklus zurück verweist und auf alle Fälle dazu auffordert, dem unbestechlichen Großstadt-Realismus dieser Gedichte ins Gesicht zu blicken? Stattdessen bietet Buhlert unter Verwendung eines ganz fremden Brecht-Textes einen wohl selbst erdachten Verlegenheitsschluss: (Megaphonmann): Der Regen. . . (eine Frauenstimme): Der Regen Kehrt nicht mehr zurück nach oben Wenn die Wunde 84 „ Verwisch die Spuren! “ <?page no="85"?> Nicht mehr schmerzt Schmerzt die Narbe (Geträller, Schreibmaschinengeräusche) Was sagen sie, sie wollen noch was? Ne! Irgendwann ist Schluß mit dem Gequatsche. Was, noch etwas über Männer und Frauen, was soll ’ s? Das war so, das ist so, immer so. Ein solches „ akustisches Achselzucken “ aber wäre sicher Brechts Sache nicht gewesen. Der literarische Kontext Es kann nun nicht darum gehen, ganz spekulativ, rein in der rekonstruierenden Vorstellung, eine wirklich „ brechtige “ Produktion des Lesebuchs für Städtebewohner entwickeln zu wollen. Meine Frage heute lautet: Was kann der „ Dialog der Medien “ , ein Dialog des Hörfunks, aber auch anderer Medien, mit der Literatur, was kann dieser Kontext zu unserem Verständnis dieser Texte, insbesondere ihrer Modernität beitragen? Fest steht beispielsweise, dass der Hörfunk alle Literatur „ episiert “ . Ihm fehlt die selbstverständliche und so oft nicht bemerkte Erzählfunktion der Bühne oder der Bilder, noch radikaler als das Buch ist er auf das zeitliche Nacheinander gestellt, sein sprachlicher, durch das direkte Hören freilich intensiver Imaginationsraum nimmt die (zum Wesen des Mediums gehörige) Grenzenlosigkeit auf seine Weise auf, tendiert dazu, Konflikte diffus zu machen (die Stimmen sind teils akustisch nah, teils technisch fern, reden immer „ aneinander vorbei “ , nämlich zum Hörer etc.); das Einbringen von Vermittlern, Einführungen, Rahmenerzählungen, gesprochenen Überschriften, Unterbrechungen, der Wechsel von direkter Anrede und fiktiver Szene liegen sehr nahe. Kurz, so wie Brechts Rundfunkarbeit allgemein sicher seine Entwicklung eines „ epischen Theaters “ beförderte, so ist auch − das ist durchgängige Forschungsmeinung − das Lesebuch für Städtebewohner nur schwer im Kontext lediglich von „ Großstadtlyrik “ , nicht nur der von Brecht, einzuordnen. 34 Und an der oft wiederholten „ Behaviourismus “ -These 35 ist auf 34 Vgl. z. B. Franz Norbert Mennemaier, Bertolt Brechts Lyrik: Aspekte, Tendenzen. Düsseldorf 1982, S. 103: „ Brecht ist der erste deutsche Lyriker, der statt die Großstadt von außen erschrocken und empfindsam zu beschreiben, sie von innen her, aus den Widersprüchen der in der Stadt sich konzentrierenden und dort ihr eigentliches Wesen offenbarenden Gesellschaft erfaßt. “ Jan Knopf, Brecht- Handbuch, Bd. 2: Gedichte. Stuttgart und Weimar 2001, S. 178 ff. betont zu Recht, dass diese Gedichte völlig anders konzipiert sind als die der Hauspostille: „ Die Großstadt [als] eine neue widersprüchliche Realität [. . .] steht für die gesamte sich verändernde Gesellschaftsformation “ (S. 180 und 187). 35 Vgl. z. B. Henning Rischbieter, Zum „ Lesebuch für Städtebewohner “ . In: Wolfgang Fritz Haug und Klaus Pierwoß (Hrsg.), Aktualisierungen Brechts. Berlin 1980, S. 192 - 199, sowie kritisch Bert Brechts Lesebuch für Städtebewohner im Mediendialog 85 <?page no="86"?> alle Fälle aber nur in einem höchst allgemeinen Sinne, die episierende „ Beobachtung menschlichen Verhaltens “ richtig. Ein interpretierender Kontext aber, der sich anbietet und gerade in dieser Zeit reich und anschaulich ausgearbeitet wurde, ist der des Großstadtromans. Dabei kann es jetzt und hier natürlich nicht um Einflüsse gehen − Brecht bezeichnet beispielsweise erst 1928 den Ulysses von James Joyce (erschienen 1922, als deutsche Übersetzung 1927) als das beste Buch des Jahres, aber ich bin nicht sicher, ob er ihn überhaupt gelesen hat; er will 1926 „ mehrere Pläne für Romane “ gehabt haben, darunter auch eine „ Robinsonade in der Stadt “ , einen „ Illustrierten-Roman “ , einen „ Boxerroman “ (der bis zu einem Exposé kam), lauter Stichworte, die aufhorchen lassen; aber all dies fand keine Ausführung. 36 Interessant dagegen und sprechend für Brechts Versuch, zu „ rede[n . . .] wie die Wirklichkeit selber “ , sind strukturelle Gemeinsamkeiten mit epochal gleichzeitig entstandener Literatur. Wirken nicht diese Gedichte, die mehrstimmig und auch in wechselnder Perspektive einen Großstadtraum eröffnen − gerade auch dann, wenn man sie aus dem Radio hörte − , ein Nebeneinander von vielerlei Einzelschicksalen, die einander spiegeln, variieren, forterzählen, kontrastieren, wie eine lyrische Umsetzung eines nicht geschriebenen Romans? Und wäre die von Brecht wiederholt angesprochene „ größere Sammlung “ : der „ Einzug der Menschen in die Städte “ , anders als in einer romanhaften „ formlosen Form “ vorstellbar? Hermann Broch hat später diesen inzwischen klassisch gewordenen Typ des modernen Romans, den „ polyhistorischen Roman “ genannt, 37 wörtlich: „ vieles auf vielerlei Weise erzählend “ . Und gerade dieser „ Vielheits-Roman “ oder auch „ Roman des Nebeneinanders “ ist - man denke nur an Balzac - gerade auch seiner Vorgeschichte nach mit dem Sujet der Großstadt aufs engste verbunden. Natürlich kann ich jetzt in diesem weiten Feld, das sich hier eröffnen würde, nur wenige Linien ziehen. Aus der deutschen Literatur der zwanziger Jahre wäre geradezu als Paradigma Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) zu nennen − vor allem einzelne Partien, wenn etwa die verschiedensten Leute in der Bahn zusammen fahren und von ihnen erzählt wird oder wenn sie einen Platz überqueren oder ein Mietshaus bewohnen 38 , die vielerlei Personifizierungen von „ Gewalt “ (von der „ Dampframme “ bis zu den „ Totschlägern “ und dazu Jan Knopf, Brecht Handbuch. Lyrik, Prosa Schriften" S. 56 ff.; ders., Brecht-Handbuch. Bd. 2: Gedichte (2001), S. 181 und 189. 36 Vgl. Werner Hecht, Brecht-Chronik 1898 - 1956, S. 198, 211 und 258. 37 Herrmann Broch, Dichten und Erkennen. Essays Bd. 1. Hrsg. und eingeleitet von Hannah Arendt, Zürich 1955, S. 236: „ Der moderne Roman ist polyhistorisch geworden. Seine Realitätsvokabeln sind die großen Weltbilder der Zeit. “ 38 Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. Hrsg. von Werner Stauffacher, München 1965, S. 51 ff. ( „ Der Rosenthaler Platz unterhält sich “ ), S. 123 ff. ( „ Eine Handvoll Menschen um den Alex “ ) und andere Stellen. 86 „ Verwisch die Spuren! “ <?page no="87"?> Mördern) und nahezu unendlich anderes mehr − , zu denken wäre an Lion Feuchtwangers Roman Erfolg (1930), wo der junge Brecht selbst auftritt; aus der europäischen Literatur nenne ich nur James Joyces Ulysses (1922), hier beispielsweise und vor allem die Kapitel Aeolus und Wandering Rocks, überhaupt das Prinzip je neuer Personenkonstellationen, Perspektiven, vor allem, und hier besonders anschaulich, auch Stimmen. Ist nicht überhaupt Odysseus / Ulysses einer, der seine Spuren verwischt, beispielsweise immer wieder seinen Namen nicht nennt, weil (Väter-)Götter ihn verfolgen? In André Gides Les Faux-Monnayeurs (1925) verzweigen sich die Erzählungen immer weiter, bis sich ein Netz sich kreuzender Lebenslinien ergibt. Aus etwas späterer Zeit wären zu nennen: der dritte Band der Schlafwandler-Trilogie von Hermann Broch (1932), noch später beispielsweise die Romane von Louis Aragon, von E. L. Doctorov und sehr deutlich der erste und der letzte Roman der Trilogie von Wolfgang Koeppen (Tauben im Gras, 1951, und Der Tod in Rom, 1954). Besonders sprechend und anschaulich scheinen mir Anklänge an John Dos Passos ’ Manhattan Transfer (1925, dt. erstmals 1927); ob Brecht diesen Roman vor 1934 bereits kannte, konnte ich bisher nicht feststellen; in der Brecht- Chronik wird weder der Roman noch sein Autor erwähnt; in seinen Überlegungen während der „ Realismusdebatte “ 1937 - 1941 führt Brecht freilich Dos Passos, auch Gide, Döblin und v. a. Joyce mehrmals gegen Lukács ’ verfehltes Verständnis des 19. Jahrhunderts und dessen Vorbildcharakter an. 39 Wie auch immer, schon der Anfang von Manhattan Transfer lässt aufhorchen: Bud Koerpening hat seinen Vater erschlagen und sucht von da an geradezu verzweifelt, „ seine Spuren zu verwischen “ , er geht in die Stadt New York hinein wie in eine labyrinthische Hölle, in der er, verzweifelnd an ihrer Härte und Kälte, von Tag zu Tag zu überleben sucht, in der er sozial und vital immer weiter absteigt, um schließlich, allerdings mit einem „ rebel ’ s cry “ 40 - aber ist der nicht unterschwellig auch bei Brecht immer zu hören? - unterzugehen. Auch die thematische Nähe dieses Roman-Helden aus der Unterschicht zum intellektuellen Protagonisten von Manhattan Transfer, dem Journalisten Jimmy Herf ist strukturell gesehen, also auf das „ lyrische Ich “ und eben die möglichen „ Leser “ des Lesebuchs für Städtebewohner bezogen, eine wichtige Aussage des Romans. Der Vater-Sohn-Konflikt findet sich freilich auch sonst fast unendlich oft in der Literatur der Zeit: im Roman beispielsweise bei André Gide, bei Feuchtwanger, bei Broch; und er gehört als Hamlet-Thema, das den jugendlichen Helden Stephen Daedalus begleitet, zum Kern des Ulysses. Sätze wie: Laßt eure Träume fahren, daß man mit euch Eine Ausnahme machen wird. Was eure Mutter euch sagte 39 Bertolt Brecht, Werke, Bd. 22 - 1, S. 484 ff., 449, 456 f. und 493 f. 40 John Dos Passos, Manhattan Transfer. Boston 1953, S. 189. Bert Brechts Lesebuch für Städtebewohner im Mediendialog 87 <?page no="88"?> Das war unverbindlich. Laßt euren Kontrakt in der Tasche Er wird hier nicht eingehalten [. . .], solche Perspektiven gehören seit Balzac - Les illusions perdues/ Verlorene Illusionen (1837 - 1843) steht bezeichnenderweise im Zentrum der Comédie humaine/ der Menschlichen Komödie 41 - immer wieder zum Roman der jungen Leute, die voller Illusionen in der Stadt ankommen. Dasselbe gilt für das Modell des Abstiegs in die Unterwelt − „ Lasciat ’ ogni speranza voi ch ’ entrate/ Lasst, Ihr die hier eintretet, alle Hoffnung fahren “ steht bei Dante am Ende der Inschrift über dem Tor zur Hölle 42 − , das Balzac bewusst ausarbeitet, 43 das aber etwa auch ganz bildhaft bei Dos Passos oder Döblin den Roman eröffnet. Themen wie das der bis zur Erschöpfung Kämpfenden (man denke an Franz Bieberkopfs drei „ Niederlagen “ 44 ), das der Versager (z. B. die „ Intellektuellen “ bei Joyce, Dos Passos oder in Feuchtwangers Erfolg), der Frauen, die sich „ verkaufen “ müssen, aber auch der zynischen Ratschläge an sie alle sind im europäischen und amerikanischen Roman der zwanziger Jahre Allgemeingut. Aber auch solche Details wie die Metapher des aggressiven „ Fleisch- Essens “ ( „ was hier gebraucht wird, ist Hackfleisch “ ), finden sich nahezu wörtlich im Laestrygonen-Kapitel bei Joyce ( „ Eat or be eaten. Kill! Kill “ ) 45 oder z. B. in einer prosa-lyrischen Kapiteleröffnung bei Dos Passos ( „ the revolving doors grinding out his years like sausage meat “ ) 46 oder in der breit auserzählten Schlachthof-Metapher bei Döblin. 47 Speziell bei Dos Passos zieht sich der Gedanke durch den ganzen Roman, dass die, die „ nach oben “ kommen (Ellen Thatcher, George Baldwin), hart, maschinenhaft, ja zu Stein werden müssen. „ Er ging die Straße hinunter, den Hut im Genick “ , könnte zu jedem der „ Verlierer “ in Manhattan Transfer passen, die immer schlechteren Wohnsitze ebenso, sicher noch vieles mehr. 41 Vgl. Verf. Honoré de Balzac „ La comédie humaine/ Die menschliche Komödie “ . In: Günter Butzer/ Hubert Zapf (Hrsg.), Große Werke der Literatur.Bd. 12, Tübingen und Basel 2011 (im Druck). 42 Dante Alighieri, La Divina Commedia. Hrsg. von Natalino Sapegno, 3 Bde., Firenze, 2. Aufl. 1968, S. 30 (3. Gesang, Vers 9). 43 „ Je suis en enfer, et il faut que j ’ y reste/ Ich bin in der Hölle, und da muss ich bleiben “ , sagt Rastignac, stellvertretend für viele Doppelgänger, wenn er in Paris angekommen ist, (Le père Goriot, 1835, Honoré de Balzac, La comédie humaine.Hrsg. von P. G. Castex, 12 Bde., Paris 1967 - 1981, Bd. 3, S. 158). Auch der Aufbau der Comédie humaine folgt, wenn auch vage, dem der Divina Commedia. 44 Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz, S. 11. 45 James Joyce, Ulysses. Annotated Student ’ s Edition, hrsg. und kommentiert von Declan Kibert, London 1992, S. 216. 46 John Dos Passos, Manhattan Transfer. Boston 1953, S. 120. 47 „ Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh; wie dies stirbt, so stirbt er auch [. . .] Totengericht für die Tiere [. . .] eine Verwaltungsangelegenheit “ , Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz, S. 136 ff. 88 „ Verwisch die Spuren! “ <?page no="89"?> Und was diese Romane schließlich mit dem Lesebuch für Städtebewohner gemeinsam haben - und mit der Romantheorie Michael Bachtins (dazu gleich) - , und was mir das Interessanteste scheint, ist jene Struktur, dass ihre Handlung geschlossen ist, ihr Diskurs aber offen bleibt. (Das unterscheidet sie von der rhetorischen Bündigkeit in Brechts Konzept des epischen Theaters, wo die Erkenntnis eine bestimmte Richtung nehmen soll, und erst recht von der Didaktik der Lehrstücke.) Aus diesen Romanen lässt sich eigentlich nie eine Lehre ableiten. Oft enden sie, wie der Lesebuch-Zyklus in der von Brecht festgelegten Reihenfolge, metapoetisch, also mit einer Reflexion über Literatur: Sie fordern auf, „ lesend “ den Weg ihrer Personen immer neu zu nehmen, also zum Hineingehen in Sprachwelten und Erzählwelten. Ihre Form ist ihr weitest gehendes Argument, ihre Erzähl-Sprache ist ihr eigentlicher „ Held “ . Aber es ist eine mit Realität gesättigte Sprach: Es geht darum, und darum geht es auch Brecht, die Realität der Großstadt recht „ lesen “ zu lernen. Großstadt und filmisches Sehen Auch wenn ein solcher metapoetischer Schluss vielleicht nicht immer eindeutig ist, so ist er doch niemals beliebig. Das kann, auch wenn wir ihn nur kurz ansprechen, ein weiterer Kontext der Medien zeigen. Als es darum ging, eine eigenständige Hörfunkkultur zu erarbeiten, beispielsweise „ Rundfunkkunst “ , „ Sendespiel “ und so fort, da wurde, schon um die Abgrenzung vom Theater zu betonen, wiederholt der Film als Vorbild angeführt. Die technischen Verfahren, sehr klar etwa bei der „ Tri-Ergon “ -Methode, die für den Tonfilm entwickelt wurden und an die auch Brecht gedacht haben muss, wenn er von „ Schallplatten “ spricht, dieser „ Apparat “ war ursprünglich teilweise identisch mit dem Film und blieb ähnlich: Aufnahme, Schnitt, Montage, Kopie und so fort. „ Akustischer Film “ war eine der Bezeichnungen, die für die neue Gattung vorgeschlagen wurden. Rundfunkpioniere wie Walter Ruttmann kamen vom Film. Brecht war beiden neuen Medien gegenüber außerordentlich aufgeschlossen. Und seit den Anfängen des Films gehören seine Sehweisen und das Thema der Großstadt aufs engste zusammen: Arbeiterinnen, die eine Fabrik verlassen, Boxer, die sich schlagen, Menschen beim Fahrradfahren, immer wieder passierende Autos und Fußgänger auf belebten Straßenkreuzungen, Parade, Aufmärsche, Züge, die in einen Bahnhof einfahren, Variété- Aktressen beim Serpentintanz, Jongleure bei einem ihrer Bühnenakte [. . .]. So beschreibt Jerzy Toeplitz in seiner Geschichte des Films 1895 - 1928 48 die „ Sujets der ersten sekundenlangen Filmstreifen “ , und man glaubt, eine fil- 48 Jerzy Toeplitz, Geschichte des Films: 1895 - 1928. München 1975, S. 38. Bert Brechts Lesebuch für Städtebewohner im Mediendialog 89 <?page no="90"?> mische oder auch literarische Passage: „ Großstadt “ vor sich zu sehen. Die zwanziger Jahre brachten eine Blüte des Films, und Autoren wie Dos Passos oder Döblin forderten für ihre Großstadtromane ganz selbstverständlich „ Kinostil “ , „ Newsreel “ , „ Camera Eye “ und ähnliches. Ein Beispiel dafür, wie eng Großstadt-Thema, Film- und Radio-Kunst zusammenhängen, kann die Korrespondenz zwischen Walter Ruttmanns seinerzeit berühmtem, noch heute avantgardistisch wirkendem Film Berlin. Die Sinfonie der Großstadt (1927, Produktion: Fox Europa) und seinem späteren Hörspiel Weekend zeigen: Der Film hat wie das Hörspiel keine Handlung, sondern reiht Großstadtaufnahmen aneinander. Der Ablauf eines Tages bildet den Rahmen, es gibt thematische Schwerpunkte − im Teil, den ich vorstelle, beispielsweise den Großstadtverkehr. Aber wichtiger ist die Rhythmisierung ähnlicher Motive (z. B. Menschen, die aus Zügen steigen), der „ Dialogismus “ bzw. die „ Gegenschuss “ -Perspektive von Einstellungen (z. B. wechselnd schräg an fahrende Züge), von Statik und Bewegung (z. B. Züge fahren durch Straßenschluchten, dann unter Brücken, ein Verkehrspolizist bringt den Verkehr an einer Kreuzung zum Stehen, gibt ihn dann wieder frei). Der Film hat geradezu etwas von einer lyrischen Großform, einem Gedichtzyklus. Und in ihn eingearbeitet ist das Thema: „ der Mensch, ja der einzelne (viele einzelne sind noch keine Masse) und die Großstadt “ . Man achte etwa auf die Menschen, die sich zwischen fahrenden Autos hindurch „ retten “ , oder auf die kleine Szene des von einem gut gekleideten Herrn weggeworfenen und sofort von einem Obdachlosen aufgehobenen Zigarettenstummels, oder auf die Metapher des mühevoll gegen die Autos anziehenden Droschkenpferdes, oder die kleine Szene der sich prügelnden Männer und so fort. 90 „ Verwisch die Spuren! “ <?page no="91"?> Ist das nicht die Welt, das Gegeneinander der Stimmen und Perspektiven, die Metaphorik oder etwa auch die Rhythmisierung der Episoden, die wir auch im Lesebuch für Städtebewohner vor uns haben? Was Film und Roman und Brechts Gedicht-Zyklus gemeinsam haben und was sie als interpretierenden Kontext, in beiden Medien in den zwanziger Jahren bereits künstlerisch hoch differenziert, bereithalten, ist ihr intensiver sprachlicher bzw. visueller, prozessualer Dialogismus. Im letzten Teil meines Vortrags möchte ich diesen Ansatz weiter ausformulieren, um eine mögliche Antwort auf die Probleme von Brechts Lesebuch für Städtebewohner zu entwerfen, freilich auch, um dessen Grenzen zu zeigen. Im Film kommentieren sich Statik und Bewegung, Vorder- und Hintergrund wechselseitig − was beispielsweise durch „ schräg “ angeschnittene Fassaden, perspektivische Verlängerungen, Durchblicke etc. unterstrichen werden kann; der Wechsel der Einstellungen von Nah zu Totale, Halbtotale usw., von Zoom oder Rückfahrt der Kamera zur festen Einstellung, dann wieder zu Schwenks, lässt beim Sehen die Bilder und Bewegungen auch einander überlagern (und durch Kontraste bzw. Korrespondenzen der Motive kann das unterstrichen werden): So formulieren diese Wechsel von Einstellungen, formulieren Schnitte und Montagen in der „ Filmsprache “ Aussagen, die über jedes einzelne Bild und jede einzelne Handlung hinausgehen. Und die bereits auch literarisch so wirksame Konfiguration von Person, Stimme und Umwelt kommt noch hinzu. Bert Brechts Lesebuch für Städtebewohner im Mediendialog 91 <?page no="92"?> Das Gedicht „ Reden Sie nichts von Gefahr “ ( „ hier können Sie nicht bleiben, Mann. Hier kennt man Sie [. . .] Lassen Sie die Frau, wo sie ist [. . .] Sie brauchen jetzt keine Haltung mehr zu bewahren: Es ist niemand mehr da, der Ihnen zusieht “ ) entwirft beispielsweise eine Situation, in der die Medien (Radio oder Film) den Hörer/ Zuschauer zu einem Eindringling machen, einem, der mithört, was ihn nicht angeht, oder der voyeuristisch zuschaut ( „ die Frau [. . .] hat selbst zwei Beine, Die Sie nichts mehr angehn, Herr! “ ). Das Gedicht „ Er ging die Straße hinunter “ ist durch den Dialogismus der Einstellungen (nah: „ den Hut im Genick “ gegen die Totale des Anfangs: „ [Mann, von hinten] geht die Straße hinunter “ ), von Schuss und Gegenschuss (von hinten, dann auf das Gesicht) und halbtotalem drittem Blickwinkel ( „ er sah jedem Mann ins Auge und nickte, er blieb vor jedem Ladenfenster stehen “ ) sehr filmisch strukturiert. Und die Folgerung: „ Alle wissen, daß er verloren ist “ , wäre eine jener neuen Aussagen, die die Filmsprache erarbeiten könnte. Das neunte Gedicht Vier Aufforderungen an einen Mann von verschiedener Seite zu verschiedenen Zeiten zieht wie im Film die Zeit zusammen, indem genau analoge Szenen − ein Mann betritt, selbst immer schlechter ausgestattet, eine immer ärmlichere Unterkunft − in schneller Folge aneinander geschnitten werden. So könnte man noch lange vergleichen. Sie sehen Brechts Nähe zu diesen medialen Möglichkeiten. Ein interessantes und meines Erachtens sehr sprechendes Beispiel für den „ Dialog “ von Roman, Hörspiel und Film, um den es in diesem Vortrag ja geht, ist das folgende: 49 Der Roman Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin erschien 1929 und wurde ein großer Erfolg; für das Hörspiel Die Geschichte vom Franz Biberkopf hatte Döblin das Drehbuch geschrieben und an der Produktion mitgewirkt (Regie Alfred Braun, dann Max Bing); die Sendung in der „ Berliner Funkstunde “ war für den 30. September 1930 angekündigt, die Produktion war fertig und wurde auch in den siebziger Jahren als gut erhaltener Plattensatz wieder gefunden. Aber am Tage selbst wurde die Sendung abgesetzt: wie Döblin selbst vier Stunden vor der vorgesehenen Sendezeit ins Mikrofon sagte, „ aus künstlerischen Gründen “ , die technischen Möglichkeiten seien nicht genug ausgenutzt worden. (Es haben aber, vierzehn Tage nach der Reichstagswahl und dem gewaltigen Erfolg der Nationalsozialisten, sicher auch politische Erwägungen mit gesprochen.) Auf alle Fälle greift der Film von 1931 (Regie: Phil Jutzi, Produktion: Allianz Tonfilm), an dem Döblin selbst ebenfalls mitgearbeitet hat, in der folgenden Szene, so meine Überzeugung, auf den Anfang des Hörspiels zurück und übersetzt, was das produzierte Hörspiel 49 Vgl. zu den Einzelheiten z. B. Andrea Melcher, Vom Schriftsteller zum Sprachsteller, S. 141 ff., v. a. S. 189 ff.; zu einer genaueren vergleichenden Analyse vgl. Verf. „ Von einem einfachen Mann wird hier erzählt “ . Dreistellige Erzählsemiotik in „ Berlin Alexanderplatz “ - Roman, Hörspiel, Film und Fernsehserie. In: Verf., Literatur im Mediendialog. Semiotik, Rhetorik, Narrativik: Roman, Film, Hörspiel, Lyrik und Werbung. München 2006, S. 75 - 105. 92 „ Verwisch die Spuren! “ <?page no="93"?> gerade vermissen lässt, den Geräuschraum Großstadt als Hintergrund für die Stimme des Franz Biberkopf, den Dialogismus von Person und Umwelt − und Zuschauer bzw. Hörer, die im Film über beide „ hinweg “ sehen oder am Radio an ihnen „ vorbei “ hören, potenzieren das noch einmal − , genau diese bedeutungsproduktive Konfiguration greift der Film visuell auf: Wir sehen groß und nah, auf der Leinwand geradezu riesig, Franzens Kopf, dann in wechselnden Einstellungen die Zuschauer oder über deren Köpfe hinweg wieder Franz. Aber hinein geschnitten sind eindrucksvolle Totalen von Straßenschluchten, vom Alexanderplatz, schräg von unten, also überhöhend aufgenommene Großbauten, fahrende Autos und Straßenbahnen, Arbeitsbilder und -lärm, viele Menschen, die über einen Übergang hasten und so fort. Man spürt, diese Welt wird Biberkopf „ platt machen “ - auch er kämpft ja, wie die Menschen im Lesebuch für Städtebewohner, um sein Überleben - , aber diese Stadt im Film ist voller offener Perspektiven. Und sicher stünde dann eine solche Sequenz dem ursprünglichen Roman näher als dem Rest des Films (in dem Franz zuletzt doch wieder, guter Kerl der er ist, „ auf die Beine “ kommt). Das ist - und das scheint mir jetzt wichtig - inhaltlich durchaus immer noch verschieden von Brechts Lesebuch für Städtebewohner. Brecht sieht das Thema „ Einzelner und Großstadt “ härter und provozierender, ohne jede Mythisierung „ der Gewalt “ und sicher ohne Döblins Transzendenz von Tod und Wiedergeburt. Aber formal, in der Komposition der Hör-, Seh- und Denkweisen, folgt er demselben Prinzip. Dialogismus als Prosaisierung der Lyrik - Brecht und Bachtin Der Titel Lesebuch für Städtebewohner. Texte für Schallplatten enthält für uns heute vielleicht ein Paradox, das für Brecht freilich keines war. Sollen diese Texte nun im Radio produziert und gehört werden, oder sollen sie aus dem „ Lesebuch “ gelesen werden? Für Brecht stand mit ziemlicher Sicherheit fest: Beides! Er dachte sich beispielsweise die Rundfunkproduktion seiner Lehr- Bert Brechts Lesebuch für Städtebewohner im Mediendialog 93 <?page no="94"?> stücke so, dass die Programmzeitschriften die Texte vorher abdrucken, die Hörer sie einüben und dann mitsprechen, mitsingen, hinein reden, mit diskutieren und so fort. In seinem Vortrag Der Rundfunk als Kommunikationsapparat von 1932 forderte er: Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern in Beziehung zu setzen. 50 Das ist eine schillernde, revolutionär-utopische und zugleich technikgläubige Aussage. Nimmt sie heutige interaktive Multimedien vorweg, 51 oder wird Brecht ihnen gegenüber in seiner Hoffnung auf eine „ bessere Verwendung der Apparate im Interesse der Allgemeinheit “ , als einer „ Erneuerung “ und Humanisierung der „ Gesellschaftsordnung “ erst recht weltfremd? 52 Auf alle Fälle zeigt sich auch hier: Wenn Brecht sich eine Rundfunkarbeit vorstellte, dann dachte er sich nicht einen stumm hörenden, sondern einen mitredenden, hineinredenden, ja dagegen redenden Adressaten. Allerdings wollte er diesen Mitarbeiter 1932 dann doch in ein didaktisches Programm integriert wissen, das ein parteiisches „ eingreifendes “ Ziel verfolgt. Das diffuse Aktivierungspotential der damals möglichen Rundfunkproduktionen, gerade auch der avanciertesten, dürfte ihm nicht genügt haben. So zog er ja für seine Lehrstücke inzwischen beispielsweise die kollektive Theaterarbeit vor. Und vergleichbare Vorbehalte könnte er spätestens ab 1930 auch gegenüber seinem Lesebuch für Städtebewohner gehabt haben. Die Aufnahme in die Versuche hat möglicherweise auch etwas von einer „ Ablage “ : „ Versuche, die Versuche geblieben sind “ . Die Notiz Texte für Schallplatten, also ganz klar für den Rundfunk, formuliert vielleicht auch unterschwellig schon den Abschied von diesem Medium: „ Texte (die eigentlich) für Schallplatten (einer Rundfunkproduktion) “ bestimmt waren, jetzt aber als Buch erscheinen. Wie also können wir dieses Lesebuch lesen? Wir sollten es weniger als „ Werk des Übergangs “ 53 verstehen (obwohl dieser Aspekt für das Interesse kontinuierlicher Werkbiographie natürlich relevant bleibt) oder gar in ihm eine „ Vorstufe zu den Lehrstücken “ sehen, 54 wir sollten es vielmehr als einen 50 Bertolt Brecht, Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 134. 51 So z. B. Michael Langer, Ein ungeheures Kanalsystem, S. 23 ff. 52 So z. B. Peter Groth und Manfred Voigts, Die Entwicklung der Brechtschen Radiotheorie 1927 - 1932. In: John Fuegi, Reinhold Grimm und Jost Hermand (Hrsg.), Brecht Jahrbuch 1976, S. 9 - 43. 53 So, allerdings nicht abwertend, Franz Norbert Mennemaier, Bertolt Brechts Lyrik, S. 99. 54 So z. B. Dieter Wöhrle, Bertolt Brechts medienästhetische Versuche, S. 80, und nachdrücklich Seung-Jin Lee, „ Einmaliges Abspielen der Platte genügt nicht “ , S. 51 ff.; Jan Knopf, Brecht- 94 „ Verwisch die Spuren! “ <?page no="95"?> Versuch in eine Richtung deuten, in die Brecht nicht weiter ging. Alle bisher vorgetragenen Beobachtungen und Überlegungen scheinen mir das zu unterstreichen. Ob wir uns das Lesebuch für Städtebewohner als eigenständige Rundfunkproduktion denken oder als Teil einer größeren episch-rhapsodischen, multimedialen oder auf andere Weise „ zentrifugal “ komponierten Sammlung, es handelt sich um ein ganz eigenständiges Werk. Mit den Stichworten „ Dialogismus “ und „ Prosaisierung der Lyrik “ möchte ich versuchen, diese Eigenständigkeit anzusprechen. Um das Jahr 1930 herum entwickelte mehrere tausend Kilometer von Brecht in Berlin entfernt der nach Sibirien verbannte russische Literaturtheoretiker Michail Bachtin seine Theorie künstlerischer Prosa, die auch die These von einer spezifisch modernen Prosaisierung aller Gattungen enthält. Ihre Nähe zu dem sich um diese Zeit in Europa und den USA konstituierenden „ polyhistorischen Roman “ wurde oft beobachtet, sie liegt auf der Hand. Ich halte sie auch für interessant im Vergleich zu Brechts Theorie des „ epischen Theaters “ , sofern sie deren „ allgemeinen “ Teil mit enthält, allerdings ohne dass sie die didaktisch-stringenten Argumentationen mit trüge, um die es Brecht hier ja doch immer geht. Aber treffend scheint mir Bachtins Theorie für das Lesebuch für Städtebewohner. Nach Bachtin ist die Wechselwirkung zwischen verschiedenen Kontexten, verschiedenen Standpunkten, verschiedenen Horizonten, verschiedenen expressiven Akzentsystemen, verschiedenen sozialen Sprachen [. . .] im Alltag in selbständige Akte isoliert. Genau diese „ isolierte “ , einzelne Rede macht Brecht als ausgeliefert, angreifbar und völlig unterlegen hörbar und stellt sie zugleich in einen nicht nur dialogischen, 55 sondern mehrstimmigen, das bloße Geräusch wie die abstrakte Reflexion erfassenden Kontext. Das ist Bachtins Denken sehr verwandt. Denn, so Bachtin weiter, gerade in der „ prosaisierten Lyrik “ , ebenso überhaupt in der künstlerischen Prosa, insbesondere im Roman [. . .] durchdringt (eine) innere Dialogizität [. . .] das Entwerfen des Gegenstandes durch die Sprache und seine Expression von innen heraus, indem sie die Semantik und die syntaktische Struktur der Handbuch. Bd. 2: Gedichte (2001), betont einerseits die „ lehrhafte Tendenz “ (S. 178) andererseits die Eigenständigkeit des Lesebuchs für Städtebewohner gegenüber den Lehrstücken, sofern Brecht die „ krisenhafte Situation [der Großstadtwelt] bejaht “ (S. 182), um dann allerdings bei den Einzelinterpretationen doch immer wieder von den Lehrstücken her zu argumentieren (vgl. S. 181 ff.); Klaus-Detlef Müller, Bertolt Brecht. Epoche - Werk - Wirkung, sieht „ eine Vorwegnahme der ‚ Pädagogien ‘ , wie Brecht sie für seine Lehrstücke beschrieben hat “ (S. 34). 55 Der Ansatz bei einem „ dialogischen Grundgestus “ (Jan Knopf, Brecht-Handbuch [2001), S. 178) weist in die richtige Richtung; auf alle Fälle geht es aber vor allem doch um ein ‚ Übereinander- Hinweg ‘ - und ‚ Aneinander-Vorbei ‘ -Reden der „ Stimmen “ , ein Verstummen der möglichen Antworten und so fort, einen im Sinne Bachtins (romanhaften) „ Dialogismus “ , nicht eigentlich um (wesentlich ja dramatische) „ Dialoge “ . Bert Brechts Lesebuch für Städtebewohner im Mediendialog 95 <?page no="96"?> Sprache umformt. Die dialogische, wechselseitige Orientierung wird hier gleichsam zu einem Ereignis der Sprache selbst, das von innen die (künstlerische Prosa, das prosaisierte Gedicht usw.) in allen ihren Momenten belebt. 56 So weit, so kurz, Bachtin. Es geht mir mehr um einen Eindruck als um eine genaue Analyse. 57 In Brechts Lesebuch für Städtebewohner, mit diesem Gedanken will ich meinen Vortrag abschließen, wird der „ äußeren Stimmenvielfalt “ der Großstadt, insbesondere wenn man von der Direktheit und den Montage- Möglichkeiten der Rundfunkproduktion ausgeht, ein vielfältiger „ innerer Dialogismus “ entgegengesetzt, der aus der Gedichtsprache heraus kompositorisch entwickelt wird, der also, und das entspricht konsequent der Theorie Bachtins, gerade den „ Replikcharakter des Gedichts “ für eine „ dialogische Gedicht-Umweltbeziehung “ 58 nutzt und diese dem Hörer bzw. Leser als aktives Hinein- und Gegenredenden nahe bringt. Dabei kommt es nicht gleich auf einen Umschlag von Zustimmung in Gegenrede, von Anpassung in Widerstand oder Veränderung an, sondern um ein Freisetzen möglicher Abweichungen, die Leerstellen und offene Perspektiven eröffnen. Wenn etwa im Anfangsgedicht die „ erste “ Stimme sagt: „ Verwisch die Spuren “ , „ wer nichts gesagt hat / Wie soll der zu fassen sein “ usw., dann setzt sich eine zweite Stimme davon ab: „ Das wurde mir gesagt “ . Und eine (innerlich) dialogische Folgerung könnte lauten: Es muss also nicht unbedingt gelten. Und die „ Stimme “ des Mediums, des Rundfunks oder des Buches wiederum zeichnet gerade jene „ Spur “ einer „ Aussage “ auf, die die erste Stimme zu „ verwischen “ aufgefordert hatte. Wie wird sich der Angeredete verhalten? Ist der Leser / Hörer diesen übereinander hinweg und aneinander vorbei redenden Stimmen gegenüber festgelegt? Und vor allem - „ [der] Horizont des Autors geht [im] Wechselverhältnis mit anderen [. . .] mit seinem eigenen Wort mit ein “ in den Dialogismus des Gedichts -, 59 hört man hinter diesen vielen Stimmen nicht auch und als „ innere “ Gegenrede zu ihnen eine ganz eigene Stimme, die „ vox ipsissima “ des historischen Bert Brecht, der illusionslos und hart letztlich doch zur Änderung und Humanisierung dieser Großstadt-Welt auffordert? 56 Michail Bachtin, Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. und eingeleitet von Rainer Grübel, Frankfurt 1979, S. 176. (Ich habe der besseren Verständlichkeit wegen „ Wort “ [slovo] durch „ Sprache “ ersetzt; man könnte auch „ Rede “ schreiben und muss auf alle Fälle „ Aussage “ verstehen, also funktionale, gesprochene Rede mit Wirklichkeits- und Adressaten-Bezug). 57 Vgl. genauer Verf., Vom Erzählen, vom Lachen und von der Zeit. Eine Einführung in Michail Bachtins Erzähltheorie. In: Verf. und Hubert Zapf (Hrsg.), Theorien der Literatur. Bd. 3, Tübingen und Basel 2007, S. 61 - 79. 58 Wolfgang Preisendanz, Die Pluralisierung des Mediums Lyrik beim frühen Brecht. In: Rainer Warning und Winfried Wehle (Hrsg.), Lyrik und Malerei der Avantgarde. München 1982, S. 333 - 357, S. 346, vgl. v. a. S. 338 ff. 59 Michail Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, S. 211 und 214/ 215; der Autor ist für Bachtin ein „ Projekt “ und nur als solches dann doch auch eine „ letzte Sinninstanz “ (ebd., S. 205). 96 „ Verwisch die Spuren! “ <?page no="97"?> In diesem Sinne eines über sie hinaus weisenden, über sie hinweg redenden Projekts behaupten sich ja diese Stimmen, auch wenn die Menschen, von denen/ zu denen sie reden, sich bis zur Unkenntlichkeit anpassen oder untergehen. Ihre Redeform, das Sprachereignis der Gedichte, ist mit der zynischen Weitergabe gesellschaftlicher Härte, der unbeschönigten Aussage, dass die Großstadt die Menschen in ihr verbraucht, nicht identisch. Dabei geht es allerdings nicht einfach um ein „ ja “ oder „ nein “ , sondern um ein „ nicht nur “ , „ nicht mehr “ , „ noch nicht “ und so fort. Es geht um eine lange, zähe Auseinandersetzung. So kommt ganz konsequent den „ metasprachlichen “ bzw. „ metapoetischen “ Aussagen besonderes Gewicht zu: 60 Immer wieder ist von „ reden “ , „ sprechen “ , „ verleugnen “ die Rede, das Wort „ sagen “ kommt zwanzig Mal vor; das Schlussgedicht beansprucht: „ So rede ich doch nur / Wie die Wirklichkeit selbst “ , so dass Leser und Hörer diese Wirklichkeit besser „ zu erkennen “ vermögen. So kurz solche metasprachlichen Momente jeweils sind, sie brechen doch die Eindeutigkeit sprachlicher Gewalt immer wieder punktuell, aber präzise auf: „ Ihr müßt das ABC noch lernen [. . .] Denkt nur nicht nach, was ihr zu sagen habt / Ihr werdet nicht gefragt “ . Immerhin werden hier doch eine Möglichkeit und ein Wert bereits „ vor “ ihrer Negation angesprochen, nämlich die Möglichkeit, ja die Forderung, zu lernen, zu denken, zu fragen und noch anderes zu sagen als dieses hier. Und im Hörraum der Rundfunkproduktion einerseits (z. B. indem die Aufforderungen immer härter wiederholt werden, bis sie abstoßen, oder indem man sie mit einem fragenden „ Echo “ unterlegt etc.), und andererseits, indem sie dem hineinredenden Leser/ Hörer überantwortet werden, können sich diese Möglichkeiten prinzipiell vervielfachen. So sind etwa auch die verschiedenen „ Ich “ -, „ Du “ -, „ Wir “ -, „ Sie “ -Rollen sowohl in der Stimmenvielfalt der Produktion als auch in der prinzipiellen Offenheit der Rezeption verschieden besetzbar. Dabei entsteht allerdings nicht gleich eine „ neue Subjektivität “ , 61 da sich jedes einheitliche Subjekt, das immer ein allgemeines voraussetzt, eben sprachlich auflöst − es gibt kein stabiles Ich, kein verlässliches Wir − , erst recht entsteht so kein „ proletarischer Standpunkt “ 62 oder ein revolutionäres oder auch nur ein „ richtiges “ Bewusstsein (die liest nur der hinein, der von ihrer Unausweichlichkeit überzeugt ist). Aber es entsteht durchaus Individualität: als Teil von Handlungskonnexen, Entwick- 60 So dass es eine erhebliche Verkürzung bedeutet, wenn die Inszenierung von Klaus Buhlert (7. 2. 1998 im Bayerischen und Westdeutschen Rundfunk) auf diesen gerade ja auch abschließenden Aspekt verzichtet. 61 Jürgen Jacobs, Wie die Wirklichkeit selber. Zu Brechts „ Lesebuch für Städtebewohner “ . In: John Fuegi, Reinhold Grimm und Jost Hermand (Hrsg.), Brecht-Jahrbuch 1994. Frankfurt/ M. 1995, S. 77 - 92. 62 Jan Knopf, Brecht-Handbuch [1984], S. 57; was allerdings in der Neubearbeitung des Brecht- Handbuchs [2001] klar zurückgenommen wird (vgl. S. 190). Bert Brechts Lesebuch für Städtebewohner im Mediendialog 97 <?page no="98"?> lungslinien, ihren Bündelungen, Konfrontationen und vor allem im Verlauf von Erkenntnisprozessen. Die durchaus ja erkennbaren Einzelnen in den Gedichten, zum Beispiel die Frauen, finden im sprachlichen Entwurf der implizierten Leser und Hörer ein Gegenüber, das auf Individualität angelegt ist. Der Gegenbegriff zu Individuum wäre hier Pluralität, nirgends aber in diesen zehn Gedichten wird ein Kollektiv sichtbar. Im Gedicht vom „ fünften Rad “ beispielsweise ist der Leser/ Hörer von dem völlig gesichtslosen „ wir “ ausgeschlossen ( „ du aber erkennst nicht “ ) und in dem „ du “ nicht angesprochen. Der raffiniert versetzte zeitliche Verlauf der Einsicht ( „ wir erkennen noch nicht “ , „ du erkennst nicht mehr “ und die jeweilige „ positive “ Entsprechung) schaffen zu allen diesen Positionen Distanz; aber diese Distanz wirkt durch die gleichzeitige, fast körperlich suggerierte Nähe ( „ du erhebst dich “ , „ greife nach einem Glas Wasser “ ) erst recht isolierend; und wenn es in diesem Erkenntnisprozess eine Perspektive gibt, so eine zentrifugale. Auf Konsens soll das nicht hinauslaufen. „ Nicht schlecht ist die Welt, sondern voll “ : Eine qualitative Zustimmung ist ausgeschlossen, eine quantitative völlig belanglos. Gegenüber dieser „ vollen Welt “ ist auch der Leser/ Hörer immer nur ein einzelner und immer bereits einer zu viel, aber genau das ist er. Erst recht wirft die direkte Anrede im letzten Gedicht: „ Ich erkenne dich scheinbar nicht / In deiner besonderen Artung und Schwierigkeit “ , den Adressaten unentrinnbar auf eben diese „ besondere Artung und Schwierigkeit “ zurück, von der der Dichter (man kann auch sagen: das lyrische Ich oder das metapoetische Ich) ja auch ausdrücklich anmerkt, es „ scheine “ nur so, dass er sie nicht erkenne. Sie wird durch die Negation erst eigentlich eingegrenzt und bezeichnet. Dass ihre Negation durch die Großstadt und durch zynische Ratschläge der Stimmen die Individualität der Angeredeten erst recht provoziert und noch deutlicher die der Leser oder Hörer, scheint mir für alle diese Gedichte zu gelten. Das zu übersehen, wie es immer wieder in den Interpretationen geschieht, scheint mir ein massives Missverständnis. Und wenn diese Individuen sich der Realität erst recht stellen sollen − „ So rede ich doch nur wie die Wirklichkeit selbst [. . .] die du mir nicht zu erkennen scheinst “ − , dann hat das eigentümlich genau auch wieder mit dem Medium Rundfunk zu tun, von dem ich in diesem Vortrag ausgegangen bin. Nicht nur liegt der „ Realismus “ des Hörfunks, „ Medium des Jetzt “ , 63 auf der Hand: „ Aufnahmen “ realer Rede, Reportage, Aktualität − damals gegenüber den Zeitungen völlig sensationell und noch heute im Zweifel agiler als alle anderen − , es geht auch um eine ganz wörtlich zentrifugale, beliebig erweiterbare Erfassung von Welt. Und dem korrespondiert der „ Realismus “ des Hörens. Das Radio spricht „ direkt “ in die je konkrete Umwelt hinein, überträgt genauso direkt Stimmen, Geräusche, eben „ die Welt in jedes Zimmer “ . So kann es (muss es allerdings 63 Gerhard Schäffner, Hörfunk, S. 236. 98 „ Verwisch die Spuren! “ <?page no="99"?> nicht) genauso direkt in der Tat Teil der je individuellen „ Artung “ der Hörer werden - und wer je nachts allein Radio gehört hat, weiß das. Realität wird mit Realität „ vernetzt “ . Gerade im Dialog der Medien: Literatur und Radio, kann Brecht beanspruchen, „ mit dir “ , dem je konkret Einzelnen, zu reden, „ kalt und allgemein [. . .] ohne dich anzublicken “ − darin steckt nicht nur die Anonymität, sondern eben auch die ganze Produktivität des „ Apparates “ − , um sogleich zu behaupten: „ So rede ich doch nur / Wie die Wirklichkeit selber “ . Mit dieser Wirklichkeit setzt Brecht sich hier nicht parteiisch auseinander, aber vielstimmig und multiperspektivisch, individuell, plural, nicht kollektiv orientiert, dialogisch, nicht dialektisch-synthetisch. Es geht keine Ermutigung zum handelnden Widerstand daraus hervor, wohl aber eine Ermutigung zum Denken, zur suchenden Kritik, zur Selbstbehauptung im „ Lesen der Stadt “ , eine intellektuelle Unabhängigkeitserklärung, kein direkter Appell zur Veränderung, lediglich ein sehr mittelbarer, nämlich die Aufforderung lediglich zur Erkenntnis, nicht die zu entschiedener Parteinahme. Eine solche wesentliche Offenheit und „ Unvollständigkeit “ der zehn Gedichte, die in ihrer „ kunstvoll mittelbaren [. . .] rezeptionsästhetischen [. . .] Strategie “ wesentlich an „ Intelligenz “ , ja „ Vernunft “ appellieren, 64 nicht an Parteinahme, scheint für Brecht um 1930 offensichtlich bereits ein Problem geworden zu sein, er spricht auffallend wenig über dieses Lesebuch für Städtebewohner und scheint es irgendwie abgelegt, vielleicht sogar verdrängt zu haben. Die anderen Zum Lesebuch für Städtebewohner gehörenden Gedichte, wie die „ kleine “ Werkausgabe sie versammelt, 65 sind bereits deutlicher parteiisch ausgerichtet (Ich will nicht behaupten, daß Rockefeller ein Dummkopf ist, oder Anleitung für die Oberen), sie entwerfen positivere Perspektiven (so z. B. die beiden „ weiblichen “ Gedichte: Es war leicht, ihn zu bekommen und Immer wieder), sie sind einerseits manchmal geradezu pathetisch engagiert (Anrede), andererseits auf eine Weise satirisch, dass sie beliebig werden (Sie sind ein Plattkopf, 700 Intellektuelle beten einen Öltank an) und so fort. Nur in einem Vers des Gedichts Blasphemie − es liest sich wie eine Fortsetzung und zugleich eine Antwort auf Verwisch die Spuren − klingt durch, was meines Erachtens das Lesebuch für Städtebewohner auszeichnet und worauf Brecht dann etwa vom dritten Jahr seines Exils an sich wieder einlassen wird, 66 das volle intellektuelle Risiko: [. . .] Wenn es einen Gedanken gibt Den du nicht kennst 64 Franz Norbert Mennemaier, Bertolt Brechts Lyrik, S. 105. 65 Bertolt Brecht, Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 277 - 298. 66 Vgl. oben Kap. 2 „ Warum soll mein Name genannt werden? “ Ein lyrisch-politisches Programm im Exil. Bert Brechts Lesebuch für Städtebewohner im Mediendialog 99 <?page no="100"?> Denke den Gedanken Kostet er dich Geld Verlangt er dein Haus Denke ihn, denke ihn. Du darfst es. [. . .] (136/ 11.172) 100 „ Verwisch die Spuren! “ <?page no="101"?> 6 „ Ein kräftiges WENN NICHT “ Zur Logik des Engagements in Bert Brechts Lyrik für Henning Krauß Wer in den feinen Strichen der Logik nicht die Unruhelinien der Sehnsucht aufgezeichnet sieht, wer in dieser scharfen Seismographie nicht das Beben unter der Rinde, die Spannungen des Umtreibenden hört, verwechselt die Logik mit einem Herbarium von Redeblumen oder auch nur, positivistisch, von Tautologien. Ernst Bloch Jede Aussage, jedes Bekenntnis, jeder Appell haben ihre Form, auch und gerade die des Engagements. Und Brecht hätte, darum geht es in diesem Vortrag, Ernst Blochs eingangs zitierte These (sie steht auf dem Umschlag meines ersten Lehrbuchs der Logik) 1 sicher unterschrieben. Zunächst ein Beispiel für die Logik des Engagements bei Bert Brecht: Dauerten wir unendlich So wandelte sich alles Da wir aber endlich sind Bleibt vieles beim alten. (1180/ 15.294) 2 Bert Brecht liebte offensichtlich solche logischen Spiele, hielt sie für wichtig und nahm sie ernst, spätestens seit dem Exil 3 und dann vor allem in seiner späten Lyrik. Wie spät ist freilich ein Werk, das mit 58 abgebrochen wird? Worum geht es hier? Wenn D für (zeitliche) „ Dauer “ und W für (qualitativen) „ Wandel “ steht, kann man das Gedicht zunächst in die Form 4 bringen: 8 D ! 8 W 1 Willard van Orman Quine, Grundzüge der Logik. Deutsch von Dirk Siefkes, Frankfurt/ M. 1974. 2 Zur Zitierweise vgl. oben Kap. 1, Anmerkung 2. 3 Vgl. oben Kap. 2: „ Warum soll mein Name genannt werden? “ Ein lyrisch-politisches Programm im Exil. 4 Ich verwende (mit einer leichten, klärenden Vereinfachung für die Quantoren) die Schreibweise des Historischen Wörterbuchs der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter. 12 Bde, Darmstadt 1971 - 2004. <?page no="102"?> „ Allgemeine Dauer bedingt (impliziert) allgemeinen Wandel “ . Wenn die Voraussetzung gegeben wäre, die Folge aber nicht einträte, dann, und nur dann, wäre die ganze Aussage falsch. 5 Aber diese Aussage ist uninteressant, so wahr sie sein mag, oder auch nicht. Wir müssen immer davon ausgehen, dass wir endliche Wesen sind. Es gilt: : 8 D ( „ es gibt nichts, das allgemein dauert “ , „ unendliche Dauer ist allgemein negiert “ ). Dann folgt der zweite Teil des Gedichts nicht logisch zwingend aus dem ersten, andere Folgerungen wären möglich, sondern bedeutet (ponendo ponens) eine weitere Aussage: : 8 D ! : 9 W Es soll gelten: „ Wir dauern nicht unendlich. “ (Brecht schrieb übrigens zuerst: „ Wären wir unendlich “ , vgl. 14.494, betont also das hypothetische Setzen des ersten Gedichtteils.) Daraus soll folgen: „ Einiges ändert sich nicht “ , bzw., „ es gibt negierte Fälle von Veränderung “ , es „ bleibt vieles beim alten “ . Zumindest vermieden ist dann die, freilich nach Satz eins wie zwei nicht auszuschließende Folge: „ Es ändert sich nichts “ , bzw. „ negiert sind alle Fälle von Veränderung “ . Und ausgeschlossen ist, und zwar erst durch den zweiten Satz, die so genannte Paradoxie der Implikation, dass die Voraussetzung negiert wird, die Folge gleichwohl eintritt ( „ verum sequitur ex quolibet, ex falso sequitur quodlibet “ / das Wahre folgt aus was immer, aus dem Falschen kann was immer folgen), 6 hier also beispielsweise die Annahme: „ Durch irgendeine Macht, die nicht von uns abhängt, kann sich alles wandeln. “ (Wir erinnern uns: „ Es rettet Euch kein höheres Wesen “ und so fort.) Gleichwohl hat das Gedicht mit Resignation nichts zu tun. Denn es bleibt die (disjunktive, „ und/ oder “ bzw., „ sei es so oder so “ ) Aussage möglich: : 8 D _ 9 W Ausformuliert heißt das: „ Es gibt nichts, das allgemein dauert, “ und: „ Es kann Zustände geben, die dauern, aber es sind auch Fälle von Veränderung möglich “ . Und das wiederum heißt dann völlig klar: Auch als endliche Wesen, ja, obwohl wir endlich sind, muss nicht alles beim Alten bleiben, einiges können wir verändern, einiges kann „ sich wandeln “ . 7 Wie haben wir, so gesehen, dann wohl das folgende, ähnlich verklausulierte Gedicht zu verstehen? 5 „ Ein Schema impliziert ein andres genau dann, wenn die Konjunktion [eine Verbindung durch „ und “ , H.V.G.] aus dem einen und die Negation aus dem anderen unerfüllber ist “ , Willard v. O. Quine, Grundzüge der Logik, S. 141. 6 Albert Menne, Einführung in die Logik. 2. Aufl., München 1973, S. 37. 7 Diese Folgerung könnte wichtig werden beispielsweise im Hinblick auf das zunächst resigniert klingende Gedicht Beim Lesen des Horaz mit der Schlusszeile: „ Freilich wie wenige / Dauerten länger “ (300/ 12.315). Vgl. dazu auch unten Kap. 8 „ Warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld? “ Zur Kontinuität der Argumentation in Bert Brechts „ Buckower Elegien “ . 102 „ Ein kräftiges WENN NICHT “ <?page no="103"?> Der Krieg wird nicht unnötig Wenn er nicht geführt wird Sondern nur, wenn er unnötig ist Braucht er nicht geführt zu werden. (1165/ 14.183) Man kann die Aussage nach der „ Wahrheitswertetafel “ überprüfen: 8 Voraussetzung Folge Ganze Aussage Wir führen keine Kriege Dadurch werden Kriege überflüssig Falsch Wir führen keine Kriege Krieg tritt trotzdem ein Wahr Nur die umgekehrte allgemeine Bedingung ist richtig: Wir führen keine Kriege Denn der Krieg ist unnötig Wahr Hier geht es um die Paradoxie der Replikation, der Logik der „ notwendigen Bedingung “ , also aller Aussagen, die von „ nur wenn “ -Voraussetzungen ausgehen. Ausgeschlossen ist die Implikation bzw. die „ hinreichende Bedingung “ , dass unser genereller Pazifismus ( „ immer wenn wir auf Krieg verzichten “ ) bereits das Ende von Konflikten bedeutet. Deren Umkehr allerdings: „ Eine konfliktfreie Welt ist hinreichende Voraussetzung allgemeinen Kriegsverzichts “ , ist richtig und wird ja auch im Gedicht eigens als letzter Schluss betont. Dann folgt gleichwohl: „ Nur wenn wir auf Krieg verzichten, werden Kriege unnötig “ . Aber diese Voraussetzung, da sie eben kein „ immer wenn “ enthält, kann allein Kriege noch nicht verhindern. Wir müssen, weitergedacht, und das heißt, auf anderen Wegen, die Bedingungen schaffen, dass Kriege unnötig werden (beispielsweise durch Aufklärung und Friedens-Erziehung, weltweite soziale Veränderungen, gerechtere Verteilung der Ressourcen, internationale Verständigung, Solidarität etc.); auch dafür müssen wir arbeiten, wenn wir wollen, dass keine Kriege mehr geführt werden müssen. So bleibt es freilich immer noch und erst recht wahr, keine Kriege zu führen - aber eben nicht als einzige politische Maxime. Denn wenn wir, auch dieser Umkehrschluss bleibt richtig, ( „ um den Frieden zu sichern “ ) den Krieg immer vorbereiten, oder, anders gesagt, wenn wir ausschließen, dass wir ihn nicht führen, wenn wir also die notwendige Voraussetzung negieren und den Krieg nicht verhindern, wird er auch nicht „ unnötig werden “ , also früher oder später eintreten. Die wahre 8 Vgl. Albert Menne, Einführung in die Logik, S. 36/ 37. Zur Logik des Engagements in Bert Brechts Lyrik 103 <?page no="104"?> Folge macht die Voraussetzung wahr. Die wahre Voraussetzung macht die ganze Aussage wahr, aber eben für sich allein (noch) nicht die Folgerung. Sehr klar tritt dieselbe Form des Denkens hervor in einem Schlüssel- Gedicht der Buckower Elegien: Die Wahrheit einigt Freunde, ich wünschte, ihr wüßtet die Wahrheit und sagtet sie! Nicht wie fliehende müde Cäsaren: „ Morgen kommt Mehl! “ So wie Lenin: Morgen abend Sind wir verloren, wenn nicht . . . So wie es im Liedlein heißt: „ Brüder, mit dieser Frage Will ich gleich beginnen: Hier aus unserer schweren Lage Gibt es kein Entrinnen. “ Freunde, ein kräftiges Eingeständnis Und ein kräftiges WENN NICHT! (300/ 12.315) Der Grundgedanke ist in allen diesen Gedichten derselbe: Veränderungen, Verbesserungen, Weltfrieden - all das kommt weder „ von oben “ noch von selbst. Aber auch wenn wir dafür arbeiten: Wir können uns des Erfolgs nicht sicher sein. Doch wenn wir nicht versuchen unsere Lage zu verbessern, wird sie sich auch nicht verändern. Die einzige richtige Folgerung ist eine „ nur wenn “ / “ wenn nicht “ -Logik politischen Engagements. 9 Es ist klar, dass Brecht sich hier gegen den „ marxisme paresseux “ , den „ faulen Marxismus “ eines „ objektiven Geschichtsverlaufs “ wendet, dass eine „ Weltgeschichte aus Klassenkämpfen “ folgerichtig bereits Revolution und klassenlose Gesellschaft impliziere, dass es sozusagen eine Erfolgsgarantie des Klassenkampfes gäbe. Brecht kritisiert logisch sehr klar, aber bezeichnenderweise nur so logisch-formal und noch dazu lyrisch-subjektiv (und dadurch auch wohl ein wenig verdeckt) 10 den Selbstbetrug der „ Sieger der Geschichte “ oder eines „ real existierenden Sozialismus “ . „ Die große Gewissheit der Klassiker und die langen / Gesichter der Nachwelt “ , formulierte später Volker Braun (der das Gedicht Die Wahrheit einigt in Augsburg vortrug) eine solche (kontrafaktische, die Implikation negierende) Falsifikation jeder irgendwie „ objektiven Geschichte “ . 11 Brecht war diese Logik - und mit ihr auch Kritik, ganz wörtlich: „ Differenzierung “ , Trennung in Alternativen - politischen Engagements offensichtlich sehr 9 „ Diese Funktion [. . .] ist nur dann falsch, wenn der Vordersatz falsch und der Hintersatz wahr ist “ , ebd., S. 37. 10 Brecht soll allerdings dieses Gedicht 1953 „ an Otto Grotewohl geschickt [haben] mit der Bitte, es im Ministerrat vorzulesen “ (vgl. 12.450). 11 Volker Braun, Rechtfertigung des Philosophen. In: Volker Braun, Gedichte. Frankfurt 1979, S. 138. 104 „ Ein kräftiges WENN NICHT “ <?page no="105"?> wichtig. Man begegnet ihr im Spätwerk immer wieder. Das wird noch zu zeigen sein. Aber derlei Denken galt für ihn nicht immer. Natürlich lässt sich hier keine klare, eindeutige Markierung eintragen. Wozu auch? Aber in den Gedichten der Jahre 1935/ 1936 gibt es eine Gruppe, die zugleich persönlich und grundsätzlich wirkt, die von Erfahrungen ausgeht und dann konzentriert Möglichkeiten und Grenzen von Folgerungen aus diesen Erfahrungen reflektiert: Folgen öffentlichen Handelns, Konsequenzen eines „ esprit civique “ , 12 die plausibel oder nicht, enttäuscht oder eingetreten, sicher oder sinnlos auf ihren Wahrheitswert geprüft werden. Die Frage nach einer Logik des Engagements scheint gerade diese Gedichte zu verbinden. Ich greife hier vor allem die Gedichte im Exil, 13 sowie die Gedichte Der Lernende und Einst dachte ich in fernen Zeiten bzw. Warum soll mein Name genannt werden heraus. Sie sind zu lang, um jetzt ganz zitiert zu werden, lassen aber auch in Ausschnitten die Richtung ihrer Reflexion erkennen. In Gedichte im Exil 14 geht es rahmenhaft, aber sehr eindringlich, um die Isoliertheit und Kommunikationslosigkeit dieser Situation, wie sie ja oft, nicht nur von Brecht, thematisiert wurde ( „ Sie werden nicht angerufen. Sie werden nicht angehalten. Niemand schilt sie und niemand lobt sie [. . .] Sie bewegen sich ohne Paß und Ausweis “ , 828/ 14.311). Dann aber kommt es zu fast selbstzerstörerisch kritischen Versen: Da sie keine Gegenwart haben Suchen sie sich Dauer zu verleihen. Nur um an ihr Ziel zu kommen Das weit entfernt ist Suchen sie sich zu verbessern. [. . .] Sie sägten die Äste ab, auf denen sie saßen Und schrieen sich zu ihre Erfahrungen Wie man schneller sägen konnte, und fuhren Mit Krachen in die Tiefe, und die ihnen zusahen Schüttelten die Köpfe beim Sägen und Sägten weiter. (828/ 14.311 und 830/ 14.314) 12 Der hier erweiterte Aufsatz wurde verfasst für die Festschrift: Esprit civique und Engagement. Festschrift für Henning Krauß zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Hanspeter Plocher, Till R. Kuhnle und Bernadette Malinowski, Tübingen 2003. 13 Gemeint ist nicht die gleichnamige 1943/ 1944 zusammengestellte, hektographiert zu Weihnachten 1944 an Freunde verschickte Sammlung (12.118 - 125, vgl. 12.404 - 408), sondern eine ebenso überschriebene, erst aus dem Nachlass veröffentlichte Gruppe von Versen, die wesentlich früher um 1935/ 1936 entstanden sind. 14 Es könnte sich um mehrere selbstständige Strophen handeln (Vgl. 14.618/ 619), die Brecht offensichtlich zu selbstkritisch, ja destruktiv angelegt waren, um in eine „ offizielle “ Sammlung wie die Svendburger Gedichte oder eine andere Sammlung (vgl. Klaus-Detlef Müller, Bertolt Brecht. Epoche - Werk - Wirkung. München 2009, S. 176 ff.) zu passen. Zu dieser „ Arbeitsteilung “ vgl. z. B. wiederholte Hinweise in Roland Spiers (Hrsg.), Brecht ’ s Poetry of Political Exile. Cambridge 2000. Zur Logik des Engagements in Bert Brechts Lyrik 105 <?page no="106"?> Dies ist nun gleichwohl kein verzweifeltes oder resigniertes Gedicht. Genau besehen ist hier das Exil gar nicht mehr Thema. Seine Situation deckt viel allgemeinere, gefährliche, ja - so Brecht - , verfehlte Verhaltensgewohnheiten auf. Wie verhalten sich diese Leute, deren Habitus das Exil sichtbar macht? Es geht doch wohl um einen Bezug zu Zeit und Geschichte, bei der alles vom „ Ziel “ her betrachtet und erschlossen wird: „ Am gierigsten blicken sie / Die ohne Gegenwart scheinen / Auf ihre Nachkommen “ . Und dieses Ziel wird nur ganz formal bezeichnet; selbst das Wort „ Zukunft “ , was schon bemerkenswert ist, findet sich lediglich in „ Gegenwart “ , „ Gedächtnis “ und „ Erinnerung “ komplementär angesprochen. Geht es dann nicht sehr genau um eine bestimmte Logik des Engagements, ja, geht es nicht um eine bloße Form des Handelns? Gerade als Form freilich wird diese Logik von ihren Ziel- Vorgaben, die hier nicht in Frage gestellt werden, verdeckt: Sie „ fuhren mit Krachen in die Tiefe [. . .] und / Sägten weiter “ . Verhängnisvoll ist offenkundig eine falsche Art zu denken. Denn legt man die modellhaften Aktionen übereinander, die aufgezählt werden: 1. Dauer ohne Gegenwart suchen, 2. nur für das Ziel sich verbessern, 3. Beschäftigung ohne Essen, 4. Schlaflosigkeit, die keine Lagerstatt braucht, 5. an Vorfahren und Nachkommen sich halten ohne „ Verbindung “ zu den „ Zeigenossen “ , 6. das Meer mit einem Löffel ausschöpfen wollen (vgl. 829/ 14.312) 7. „ aus einem Turmhaus fallen und im Sturz nachdenken [. . .] wie höher zu bauen wäre “ , 8. Äste absägen, fallen, weitersägen, dann scheint es in der Tat, als sollten die Leser eine all diesen Handlungen gemeinsame Figur herausfinden. Und diese Figur, dieses „ Suchbild “ könnte man geradezu sagen, wird so gesehen verblüffend klar: Die erwarteten Folgen unseres Handelns, so sagen und denken diese Leute, werden mit Sicherheit eintreten (vgl. die Aktionen 2, 5 und 6); aber sie können auch eintreten, wenn die Voraussetzungen nicht gegeben sind, diese können falsch sein, die Gesamtaussage bleibt trotzdem wahr (so die Haltungen1, 3, 4, 7 und 8). Die sich erfüllende Erwartung ist nicht zu bezweifeln. Es handelt sich um das genaue Gegenteil von Die Wahrheit einigt ( „ ein kräftiges WENN NICHT “ ), also um die Form der Implikation, wobei eben gerade deren mögliche Absurdität ( „ sie sägten die Äste ab, auf denen sie saßen “ : ex falso sequitur quodlibet - zur falschen Aktion wird die richtige Folge erwartet) betont, oder besser: fraglos hingenommen wird. Eigentlich kritisiert Brecht nicht so sehr die Exilanten. Diese erscheinen hier durchweg selbst als Opfer ihres Denkens, und sie leiden ja auch (noch) 106 „ Ein kräftiges WENN NICHT “ <?page no="107"?> lediglich allein an ihrem Selbstbetrug, sich auf der Seite der Sieger der Geschichte zu glauben, einer „ objektiven “ Gesetzmäßigkeit zu vertrauen, einer Partei anzugehören, die „ immer Recht “ hat und so fort. Interessant ist, dass mittelbar schon eine Situation und deren mögliche Folgen mitkritisiert werden, in denen solche Leute dann die Macht haben könnten. In der Tat werden hier Aspekte des Spätwerks vorbereitet: Unglücklicher Vorgang Hier ist ein Haus, das für euch gebaut ist. Es ist weit. Es ist dicht. Es ist gut für euch, tretet ein. Zögernd nähern sich Zimmerleute und Maurer Klempner und Glaser. (1156/ 15.263) Der Witz, die Pointe der kleinen Parabel (um 1952/ 1953) besteht nicht nur darin, dass die falschen Leute das politische Haus für das Volk eingerichtet haben, sondern dass diese falschen Leute eben gerade „ richtig “ zu denken meinen. Über der für sie hinreichenden Bedingung politischen Handelns, einer objektiv richtigen Theorie, haben sie die notwendige Voraussetzung übersehen, dass, so wie „ nur “ Zimmerleute, Maurer, Klempner und Glaser ein Haus bauen können, genauso nur von unten her der Sozialismus aufzubauen sei, und dass es für sein Gelingen keine Erfolgsgarantie von Anfang an gibt. Und das komplementäre Gedicht: Glücklicher Vorgang Das Kind kommt gelaufen Mutter, binde mir die Schürze! Die Schürze wird gebunden. (1156/ 15.262) - dieses Gedicht, das keinerlei inhaltlichen Bezug zum vorigen hat, kann eigentlich und interessanterweise eben nur logisch bzw. eben ganz konsequent nur formal mit seinem Gegenstück verknüpft werden. Anders gesagt: Es ist in jedem Fall notwendig, dass jemand die Bitte des Kindes erfüllt und die aufgegangene Schürze bindet; nur wenn die Schürze gebunden wird, kann daraus ein „ glücklicher Vorgang “ werden. Aber der Erfolg des „ Vorgangs “ ist damit noch nicht bedingt, er verlangt eine eigene Aktion, logisch gesehen eine eigene „ Setzung “ ; diese ist Ergebnis selbstständiger mütterlicher Erfahrung, Initiative und Fürsorge, also mit Brecht gesprochen: die Antwort auf ein „ kräftiges WENN NICHT “ . Zur Logik des Engagements in Bert Brechts Lyrik 107 <?page no="108"?> Blicken wir von hier zurück auf die vorhin ins Auge gefasste Gruppe von Exil- Gedichten, dann klären sich vielleicht weitere Zusammenhänge. Um kontrafaktische Erfahrungen geht es auf alle Fälle in Der Lernende Erst baute ich auf Sand, dann baute ich auf Felsen Als der Felsen einstürzte Baute ich auf nichts mehr. Dann baute ich oftmals wieder Auf Sand und Felsen, wie es kam, aber Ich hatte gelernt. [. . .] Was ich auftrug, wurde nicht ausgerichtet. Als ich hinkam, sah ich Es war falsch gewesen. Das Richtige War gemacht worden. Davon habe ich gelernt. [. . .]. (826/ 14.309) Entscheidend sind die Sätze: „ Als der Felsen einstürzte “ , und „ was ich auftrug [. . .] war falsch gewesen “ . Es geht nicht nur darum, dass unvermeidlich immer wieder Misserfolge eintreten und Fehler gemacht werden, sondern darum, dass es überhaupt keine „ felsenfesten “ Wahrheiten und Voraussetzungen unseres Handelns gibt, und genauso kann niemand immer „ das Richtige “ anordnen, immer den „ richtigen Auftrag “ geben. „ Der Lernende “ lernt doppelt: Er lernt seine Illusion einzusehen im Einzelnen, und er lernt eine neue Form des Denkens im Ganzen. Anders gesagt und erneut auf das Spätwerk voraus gegriffen, er lernt eine „ Wahrheit “ , die fortan zu „ wissen “ lohnt. Wenn das bis jetzt Gesagte richtig ist, dann erhält das wichtigste Gedicht dieser Gruppe, zumindest auf den ersten Blick, eine eigentümliche Ambiguität: 1 Einst dachte ich in fernen Zeiten wenn die Häuser zerfallen sind, in denen ich wohne Und die Schiffe verfault, auf denen ich fuhr Wird mein Name noch genannt werden Mit andren. 2 Weil ich das Nützliche rühmte, das Zu meinen Zeiten für unedel galt Weil ich die Religionen bekämpfte Weil ich gegen die Unterdrückung kämpfte oder Aus einem anderen Grund. [. . .] 108 „ Ein kräftiges WENN NICHT “ <?page no="109"?> 4 Deshalb meinte ich, wird mein Name noch genannt Werden, auf einem Stein Wird mein Name stehen, aus den Büchern Wird er in die neuen Bücher abgedruckt werden. 5 Aber heute Bin ich einverstanden, daß er vergessen wird. Warum Soll man nach dem Bäcker fragen, wenn genügend Brot da ist? Warum Soll der Schnee gerühmt werden, der geschmolzen ist Wenn neue Schneefälle bevorstehen? Warum Soll es eine Vergangenheit geben, wenn es eine Zukunft gibt? 6 Warum Soll mein Name genannt werden? (835/ 836/ 14.320/ 321) Die Motive von „ Haus “ und „ Schiff “ , das Thema des Nachruhms und des „ Gedenksteins “ ziehen sich durch große Teile von Brechts Lyrik. Dies ist also doch wohl ein programmatisches Gedicht. (Freilich wurde es, wie auch die anderen, bisher besprochenen Exil-Gedichte, weder in eine repräsentative Sammlung der Exil-Lyrik aufgenommen, noch überhaupt zu Brechts Lebzeiten veröffentlicht, vgl. 14.622.) Und man kann, und hat ja auch, es, zumindest zunächst, ganz „ gläubig “ (ge)lesen. Die mit Sicherheit zu erwartende klassenlose Gesellschaft braucht nicht mehr nach ihren Voraussetzungen in der „ Vergangenheit “ bzw. nach „ irgendeinem [. . .] Grund “ ihrer Erfüllung, beispielsweise nach dem engagierten Literaten Bert Brecht, zu fragen. Die Folge ist immer wahr, auch wenn die Voraussetzung nicht erfüllt ist; warum noch die „ Namen “ derer „ nennen “ , die diese Voraussetzung geschaffen haben? Der Text von sich aus gibt keine Hinweise, die eine solche Lesart ausschließen. Die umständlichere, aber vom Kontext nahe gelegte Lesart steht ganz wörtlich zwischen den Zeilen. Der Kontext, zumindest soweit er eben umrissen wurde, hilft sie formulieren. Die Absurdität der „ immer-wenn “ - Lesart trat beispielsweise unübersehbar in Gedichte im Exil zu Tage und wird ja auch später immer wieder formuliert. Gleichwohl bleibt eine Aussage wie: „ Warum / Soll es eine Vergangenheit geben, wenn es eine / Zukunft gibt? “ mehrdeutig. „ Verum sequitur ex quolibet “ : Das scheint die näher liegende Interpretation. Die Leser, wenn sie, wie Brecht „ Lernende “ geworden sind, müssen sich dann aus eigener Überzeugung gegen das näher Liegende und für eine sozusagen - man verzeihe den Ausdruck - „ post-kontra-faktische ponen- Zur Logik des Engagements in Bert Brechts Lyrik 109 <?page no="110"?> do-ponens-Lesart “ entscheiden: „ Weil ich gegen die Unterdrückung kämpfte “ (und obwohl wir nicht wissen, ob sie je überwunden wird), und nur wenn ich „ mit anderen “ mich engagiere (obwohl diese mich gerade auch im Exil oft allein lassen), und dann erst, wenn diese von uns gesuchte Zukunft da ist (da sein sollte), dann kann „ mein Name (auch) vergessen “ werden. (Und banal findet diese Offenheit wohl nur, wer sich nie engagiert hat.) 15 Wie hier prägen beispielsweise zwei selbstständige Setzungen das thematisch Einst dachte ich in fernen Zeiten vorbereitende Gedicht: Ich benötige keinen Grabstein, aber Wenn ihr einen für mich benötigt Wünschte ich, es stünde darauf: Er hat Vorschläge gemacht. Wir haben sie angenommen. Durch eine solche Inschrift wären Wir alle geehrt. (739/ 14.191) Man kann, folgt man den handschriftlichen Korrekturen bis zur „ Neufassung “ dieses Gedichts, sehr genau verfolgen, wie Brecht die beiden selbstständigen Setzungen immer genauer herausarbeitet. Schon die erste Fassung ist bemerkenswert, bemerkenswert klar, gerade in ihrer Logik der Widersprüche: Ich benötige keinen Grabstein, wenn Ihr keinen benötigt. Sonst wünschte ich, es stehe darauf: Ich habe Recht gehabt. Dennoch Habe ich gesiegt. Zwei Unzertrennliche Sätze. (14.557) Hier ist bereits die (nicht hinreichende, lediglich gegebene, also etwa disjunktiv oder gar alternativ fortsetzbare) Voraussetzung des „ Recht “ -Habens ebenso unumwunden ausgesagt, wie die Notwendigkeit, den Sieg eigens „ dennoch “ zu begründen „ unzertrennlich “ dazu „ gesetzt “ werden muss. Und die folgenden Fassungen ziehen daraus dialogische Konsequenzen: „ [. . .] er / Hat recht gehabt. Wir / haben es bemerkt “ ; sodann die nur noch replikativ zu verstehenden, die Folge zur Bedingung erhebenden Zeilen: Was soll uns, wenn Du in deinem Kopf denkst, denke In unserem. (14.557) 15 Zu einer genaueren Untersuchung dieses Gedichts vgl. oben Kap. 2: „ Warum soll mein Name genannt werden? “ Ein lyrisch-politisches Programm im Exil. 110 „ Ein kräftiges WENN NICHT “ <?page no="111"?> Dann beantwortet sich die Frage des persönlichen Nachruhms übrigens von selbst. Brecht könnte sich beruhigt in die Nachfolge des Horaz stellen ( „ exegi monumentum aere perennius “ , ich habe ein Denkmal errichtet [in meinem Werk], das dauerhafter ist als Erz), 16 die natürlich hier immer mit in Frage steht. Es ist ja in keinem Fall gesagt, dass der Name des neuen Klassikers vergessen werden muss. Nach der „ nur wenn/ wenn nicht “ -Lesart - der Schluss von der erfüllten Folge auf die gegebene Voraussetzung ist neben dem „ wenn-nicht “ - Schluss (der aber nur ausschließt) der replikativ einzig sichere - ist die Vergangenheit gerade verlässlich in der Zukunft aufgehoben. Brechts Name braucht nicht eigens feierlich offiziell und amtlich „ genannt “ zu werden, er ist immer leicht zu erschließen und mit allen Erfolgen seiner Arbeit untrennbar verbunden. Anders und recht klar gesagt: „ Der schöne Tag, wenn ich nutzlos geworden bin “ soll nur dann eintreten, wenn „ mich der letzte erst weglegt / Der von den Hunden gebissen wurde “ (1180/ 15.295); die ‚ erfüllte Zeit ‘ gilt nur dann, wenn sie ganz wörtlich eine Not beendet; noch „ der letzte “ , den bekanntlich immer „ die Hunde beißen “ , soll sie sich aus eigener Initiative erarbeiten, dann darf er, wenn er will, ‚ seinen Brecht ‘ weglegen; denn - so können wir in diesem Kontext weiterdenken - dann, „ wenn da Zeit sein wird / Werden wir die Gedanken aller Denker aller Zeiten bedenken “ und uns „ aller Meister “ und „ aller Spaßmacher “ erinnern (1178/ 15.293); Brecht selbst sieht sich wohl beiden zugehörig; gerade die Zukunft, die wir erarbeiten wollen, wird alle diese „ Meister “ und „ Spaßmacher “ , „ Denker “ und „ Dichter “ zwanglos und sicher und selbstverständlich in sich enthalten; so auch und erst recht eben den unvergessenen Bert Brecht. Man sieht, und mit diesem Ausblick möchte ich meinen Vortrag schließen, wie Brechts Logik des Engagements, die sich im Exil geformt, zumindest geklärt haben muss, Bezüge zum lyrischen Spätwerk und dann auch zu vielen Gedichten gerade der Buckower Elegien eröffnet. Beispielsweise hängt solches Denken ganz direkt mit einer für den Brecht der letzten Gedichte bezeichnenden Erfahrung von Zeit zusammen. Erinnert sei nur an die vielleicht bekannteste Buckower Elegie: Der Radwechsel Ich sitze am Straßenhang. Der Fahrer wechselt das Rad. Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre. Warum sehe ich den Radwechsel Mit Ungeduld? (296/ 12.310) 16 Horaz, Sämtliche Werke. Hrsg. von Hans Färber, München 1967, S. 176 (Carmina 3.30). Brecht setzt sich sehr oft, geradezu lebenslang, mit diesem Anspruch auseinander. Zur Logik des Engagements in Bert Brechts Lyrik 111 <?page no="112"?> Brechts Logik des Engagements wird hier ganz alltäglich gelebt. Wie Einatmen und Ausatmen prägt diese Denkform hier geradezu das Verhältnis von Lebensplanung und Lebenszeit. Deren auch die Erwartungen enttäuschender (kontrafaktischer) Zusammenhang: „ nicht gern wo ich hinfahre “ , wird ganz selbstverständlich akzeptiert. Die übergeordnete Lebens-Logik des Wechsels tritt hervor: Ich lebe, ich arbeite, ich dichte - „ nur “ so ergibt sich die Möglichkeit einer Veränderung zum Besseren, auch wenn sie nicht immer eintritt. Dasselbe „ wenn nicht “ gilt für den Zusammenhang von „ eingreifendem Denken “ , Schreiben, man kann auch sagen, Erleben, also der Figur persönlicher Zeit und den Perspektiven möglicher allgemeiner Geschichte. Es wäre dann zumindest beliebig, „ Straße “ , „ Fahrer “ , „ Rad “ und so fort (etwa als „ Basis “ und „ Überbau “ ) zu allegorisieren. So dumm denkt Brecht einfach nicht. Die Praxis des Schreibens als Form des Engagements, eine kreative „ Ungeduld “ , so auch, gewissermaßen in der wirkungsästhetischen Dimension dieses Gedichts, die Praxis des Lesens, sehen nahezu unendliche Anwendungsmöglichkeiten vor, eine offene Wirkungsästhetik des „ ésprit civique “ , ohne, denn sie sind auf jeden Wechsel gefasst, an Zähigkeit des Engagements zu verlieren. Natürlich können wir jetzt diese Gedichte nicht einzeln durchgehen. 17 Aber hat nicht das Mottogedicht: Ginge da ein Wind Könnte ich ein Segel stellen. Wäre da kein Segel Machte ich eines aus Stecken und Plane. (294/ 12.310), hat es nicht, neben vielen anderen Bedeutungen die Form einer iterativen Replikation ( „ nur wenn - dann, und nur wenn dies - dann “ , und so fort)? Spielt nicht Die Lösung (296/ 12.310) - „ das Volk (hat) das Vertrauen der Regierung verscherzt [. . .]. Die Regierung löst[e] das Volk auf und / Wählt[e] ein anderes “ - spielt das Gedicht nicht satirisch, so wie früher die ebenso ja nicht veröffentlichten Gedichte im Exil mit den Absurditäten der Implikation (die Folge ist immer wahr)? Dagegen zählt das „ um 1954 “ entstandene Gedicht Vergnügungen (1174/ 15.287) vor allem das auf, was eben gerade nicht sicher erwartet werden darf (auch „ der Hund “ hat ja etwas Unberechenbares) - und „ Die Dialektik “ , das „ Begreifen “ als Teil all dieser erfreulichen Dinge, kann sie eine andere als eine offene Form haben? 18 Interessant scheint mir, dass hier auch der 17 Vgl. ausführlicher unten Kap. 8: „ Warum betrachte ich den Radwechsel mit Ungeduld? “ Zur Kontinuität der Argumentation in Bert Brechts „ Buckower Elegien “ 18 Vgl. unten Kap. 7 „ Vergnügungen “ Dialektik als kreative Alltagslogik im Kinderbuch, in der Werbung und in Bert Brechts Lyrik. 112 „ Ein kräftiges WENN NICHT “ <?page no="113"?> „ Schnee “ und „ der Wechsel der Jahreszeiten “ auftauchen. Spricht nicht daraus ein Zeitbewusstsein, das selbst diesen Wechsel nicht einfach als gesetzmäßig bedingt, sondern eben als etwas von Fall zu Fall immer neu „ Gesetztes “ , geradezu, aber ohne Zwang, als erarbeitet erfährt? Dasselbe Zeitgefühl scheint mir aus dem ersten Gedicht der ersten Veröffentlichung der Buckower Elegien zu sprechen. Und dieses Gedicht sei, auch dem Jubilar der Festschrift zu Ehren und als Wunsch gewidmet, nun doch noch ganz zitiert: Der Blumengarten Am See, tief zwischen Tann und Silberpappel Beschirmt von Mauer und Gesträuch ein Garten So weise angelegt mit monatlichen Blumen Daß er vom März bis zum Oktober blüht. Hier, in der Früh, nicht allzu häufig, sitz ich Und wünsche mir, auch ich mög allezeit In den verschiedenen Wettern, guten, schlechten Dies oder jenes Angenehme zeigen. (294/ 12.307) Zur Weisheit des Gärtners, so wie sie unbedingtes Engagement und ständige Arbeit voraussetzt, gehört es doch wohl - das weiß der Gärtner spätestens im zweiten Jahr - , nichts mit Sicherheit zu erwarten. Gerade auch das „ Angenehme “ setzt für Brecht Arbeit voraus, und das private Sitzen im Garten folgt demselben Zeitgefühl wie sein „ ésprit civique “ . Zur Logik des Engagements in Bert Brechts Lyrik 113 <?page no="115"?> 7 „ Vergnügungen “ Dialektik als kreative Alltagslogik im Kinderbuch, in der Werbung und in Bert Brechts später Lyrik für Severin Müller Ich sitze am Straßenhang Der Fahrer wechselt das Rad. Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre. Warum sehe ich den Radwechsel Mit Ungeduld? (296/ 12.310) 1 Bert Brecht gibt in seiner späten Lyrik, so wie hier im Anfangsgedicht der Buckower Elegien, immer wieder Rätsel auf, Rätsel auf die wir Leser mit Sinn- Hypothesen antworten sollen. Und das ist eine recht klassische dialektische Figur: Der argumentative Schluss, das Enthymem, von „ rätselhaftem Resultat “ und „ hypothetischer Regel “ auf „ mögliche Fälle “ , von seinem Wiederentdecker als aristotelische Apagoge identifiziert und lateinisch Abductio genannt, englisch recht hässlich Abduction, ist inzwischen gut beschrieben und anerkannt. 2 Dass diese wesentlich kreative, dialektische Figur 3 einen Schlüssel zu 1 Zur Zitierweise vgl. oben Kap. 1, Anm. 2. Der Vortrag wurde gehalten im Rahmen einer Veranstaltungsreihe: Augsburg geist-reich im Wintersemester 2007/ 2008. 2 Charles S. Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen. Hrsg. und übersetzt von Helmut Pape, Frankfurt 1983, S. 89 ff., v. a. S. 94 ( „ Apagoge “ als „ Abduktion “ ) und 95 ff. ( „ Abduction ist jene Art von Argument, die von einer überraschenden Erfahrung ausgeht [. . .]das Aufstellen einer erklärenden Hypothese [. . .] der erste Schritt im gesamten Prozess des Schließens “ ). Vgl. z. B. die Einleitungen von Helmut Pape ebd., S. 7 - 36, sowie ders. zu: Charles S. Peirce, Semiotische Schriften. Hrsg. und übersetzt von Christian J. W. Kloesel und Helmut Pape, 3 Bde., Frankfurt 2000, Bd. 1, S. 7 - 83, Bd. 2, S. 7 - 79, Bd. 3, S. 7 - 72. Als kurze literaturwissenschaftlich orientierte Einführungen vgl. Verf., „ Welchen der Steine du hebst. “ Charles S. Peirces Semiotik und ihre literar- und medienwissenschaftlichen Perspektiven, und „ Ist die Nacht von der E-Klasse erhellt. “ Rhetorik in Literatur, Design und Werbung. In. Verf., Literatur im Mediendialog. Semiotik, Rhetorik, Narrativik: Roman, Film, Hörspiel, Lyrik und Werbung. München 2007, S. 9 - 35 und S. 37 - 74, v. a. S. 63 ff., sowie zum Folgenden auch: Zur Poesie der Werbung, ebd., S. 209 ff. 3 „ Freilich: Die Dialektik von Wahrnehmung, Handeln und Arbeit [. . .] und die in ihr entwickelten Formen erwachsen einer Wahrnehmung und aisthesis, welche hinter die Trassierungen der beobachtenden Vernunft zurück- und in Bahnen eigener Lebendigkeit verläuft. [. . .] Brechts aisthesis und Brechts poiesis, seine Ästhetik der Sprache [. . .] die Kreativität solchen Hervorbringens, die Quellen solchen Sichtbarwerdens sind noch anderen Erfahrungswegen verbunden als allein den [. . .] denkgeschichtlichen Vorgaben “ wissenschaftlich-aufklärerischer Rationalität. Severin Müller, Handeln im Spiegel der Wahrnehmung. Formen der Dialektik bei <?page no="116"?> Bert Brechts Lyrik - einen von vielen, gewiss - abgibt, ist die These meines Vortrags. Erlauben Sie zur Einführung ein paar Alltagsbeispiele, die dann auf Brechts Lyrik hinführen werden: fünf aus der Werbung, eines aus einem Kinderbuch - das offensichtlich auch bei Erwachsenen sehr erfolgreich war und ist - , sowie locker, gleichwohl ganz respektlos zugeordnet, vier späte Gedichte von Bert Brecht, Unglücklicher Vorgang, Gewohnheiten noch immer, Schwierige Zeiten und Vergnügungen. Wie so oft bei Fragen zur Rhetorik, deren Teilgebiet die Argumentationslehre bzw. Dialektik ursprünglich ist und immer sein sollte, erweisen sich Beispiele aus der Werbung als besonders anschaulich, während die Gedichte fortschreitend mehr hypothetische Kreativität beim Lesen und Interpretieren verlangen. Und genau darauf scheint mir Brechts späte Lyrik wesentlich abzuzielen. „ Pappi, wir haben Besuch! “ Der Vater, der in der Küche herumhantiert, dreht sich um (im Film: Schnitt zum „ Gegenschuss “ in die Drehung). Um den Tisch sitzen das Töchterchen und lauter Plüschtiere. „ Dem Besuch muss man doch etwas anbieten! “ Schnell ist „ Doktor Oetkers Backmischung “ zur Hand, noch schneller gebacken: Mampf, mampf! Zum strahlenden Kind sagt der vorbildliche Pappi: „ Willst du mir unseren Besuch nicht vorstellen? “ Hinter vorgehaltener Hand die Antwort: „ Ich kenne sie selber nicht. “ Wie raffiniert die Werbung manchmal das Enthymem, den rhetorischen Schluss oder eben das Argument nutzt, kann ein weiteres Beispiel zeigen: Leute steigen in einen Linienbus. Der Fahrer sieht im Rückspiegel, wie eine Frau mit Einkaufstasche und letzter Kraft auf die hintere Tür zu rennt. Noch etwa ein Meter, und sie hätte es geschafft; da schließt er die Tür und fährt los. Eine Stimme im „ off “ : „ Wie kann er nachts gut schlafen? “ Schnitt, neue Einstellung, eine kleine Flasche mit Arzneitropfen: „ Horlick schenkt ruhigen Schlaf. “ (Beide Beispiele sind aus der Erinnerung rekonstruiert. Sie können sich nicht darauf verlassen, diese Produkte tatsächlich unter diesem Namen erwerben zu können.) Mein drittes Beispiel folgt der aufklärerischen Tradition der Tierfabel und ist, wenn man will, Teil eines episodischen Bildungsromans für kleine und große Kinder. Weil es so belehrend ist, will ich es dann auch gleich als erstes analysieren. Ein kleiner Teddybär kommt an in London, „ Paddington Station “ ; und diese fremde Welt wird er sich nach und nach lernend und immer praktisch erschließen. Einmal geht „ Paddington-Bear “ auf eine Versteigerung von Antiquitäten. 4 Höflich wie er ist, antwortet er immer, wenn Leute ihm zuwinken oder den Hut lüften. Bertolt Brecht. In: Helmut Koopmann/ Theo Stammen (Hrsg.), Bertolt Brecht - Aspekte seines Werks, Spuren seiner Wirkung. München 1994, S. 239 - 272, S. 272. 4 Paddington Makes A Bid. In: Michael Bond, Paddington Helps Out. With drawings by Peggy Fortnum, London 1960, S. 26 - 39. 116 „ Vergnügungen “ <?page no="117"?> So ersteigert er unfreiwillig mehrere nutzlose Sachen. Fast will er jedes Interesse aufgeben. Doch dann wird ein silberner Ständer für Orangenmarmelade-Gläser aufgerufen. Orangenmarmelade ist, wie jeder weiß, Paddingtons Leibspeise. Er hebt die Pfote Dialektik als kreative Alltagslogik 117 <?page no="118"?> und bietet mit fester Stimme: „ Zehn Pfennig! “ Alles verstummt. Der Auktionator lächelt gequält: „ Ja, ja, wir machen alle mal gern einen kleinen Scherz. Beginnen wir noch einmal von vorn! Was höre ich als erstes Gebot? “ Weiterhin ratloses Schweigen, dann eine Stimme von hinten: „ Neun Pfennig! “ Da kann Paddington wieder mit bieten. Leute tuscheln: „ Der kleine Bär weiß etwas. Er hat schon viel ersteigert. Ob das da eine Fälschung ist? Vorsicht, Vorsicht! “ Sie ahnen es: Niemand bietet mehr, und am Ende bekommt Paddington, was er will. Was lernen wir daraus? Die üblichen Mechanismen für Versteigerungen funktionieren diesmal nicht, Paddington hat sie gesprengt, die Situation wird zum Rätsel. So wie viele Helden von Kinderbüchern hat auch Paddington manchmal etwas Anarchisches. Aber auch die jetzt erforderliche allgemeine Sinnhypothese ist eine für Kinderbücher nahe liegende: Kleine Leute, also z. B. Teddybären, sind oft schlauer als große. Daraus folgt ( „ der Bär weiß etwas “ ) der „ mögliche Fall “ : Es könnte sich um eine Fälschung handeln. Nach derselben „ Alltagslogik “ - so nannte Manfred Kienpointner sehr glücklich die Argumentationstheorie 5 - könnte man, und soll wohl auch, eine noch viel weiter reichende „ Bildungs “ -Hypothese entwerfen: Wenn man etwas erreichen will, muss man es auch gegen alle Wahrscheinlichkeit zumindest versuchen - eine Brecht gar nicht so fern liegende „ Bildungsidee “ . 6 Dazu kommt das „ rätselhafte Resultat “ : Paddington ersteigert für 10 (alte) Pfennige, was ca. 50 Pfund wert ist. Und der Schluss auf den „ möglichen Fall “ ermuntert zum Weiterlesen (und zum Erwerb weiterer Paddington-Bände): Der „ Bear from darkest Peru “ wird sich in der großen fremden Welt von London behaupten. Jetzt lassen sich dann auch die beiden Werbungsbeispiele glatt und schulmäßig analysieren: Ein Fiesling schlummert sanft (rätselhaftes Resultat), Horlick ist noch wirksamer als ein gutes Gewissen (Regel-Hypothese im Sinne eines Gradationsarguments: a majore ad minorem, vom stärkeren zum schwächeren Grundsatz), 7 und dann der Schluss auf einen zum Kaufen ermutigenden „ möglichen Fall “ : Nimm auf alle Fälle mal Horlick! Und das erste Beispiel: Kuchen für Plüschtiere - wo gibt es denn so etwas (rätselhaftes Resultat)? Ein Pappi, der sein Töchterchen liebt, erfüllt ihm aber auch jeden 5 Manfred Kienpointner, Alltagslogik. Struktur und Funktion von Argumentationsmustern. Stuttgart 1992 6 „ Brechts listig lebenspraktische Anwendung von Dialektik [. . .] gründet in der Leistung der Wahrnehmung und der Auffassung, einen Sachverhalt in seiner negativen wie positiven Zuordnung, also in unterschiedlichen Deutungszusammenhängen verstehen zu können “ , Severin Müller, Handeln im Spiegel der Wahrnehmung. Formen der Dialektik bei Bertolt Brecht, S. 248. 7 Als Übersicht über verschiedene Argumentationsformen vgl. z. B. Chaim Perelman und Lucie Olbrechts-Tyteca, The New Rhetoric. A Treatise on Argumentation. Notre Dame 1969, S. 185 ff.; Manfred Kienpointner, Alltagslogik, S. 187 ff.; Verf., Rhetorik in Literatur, Design und Werbung, S. 68 ff. 118 „ Vergnügungen “ <?page no="119"?> Wunsch (eine sehr nahe liegende, also kaum noch hypothetische Regel, die im Sinne nicht nur dieser Werbung immer neu durch Geldausgeben verifiziert werden kann), dann der hier allerdings sehr kreative, auf alle Fälle überraschende „ mögliche Fall “ : Das hat das schlaue Kind von Anfang an gewusst. Und dann könnte man gleich weiter argumentieren: So ein schlaues Kind verdient eine Belohnung (induktive Argumentation). Oder man folgert z. B. analogisch: Dr. Oetkers Backmischung bietet eine „ schlaue “ Art zu backen, und so fort. Es ist klar, dass es entschieden komplexere „ rätselhafte Situationen “ gibt und dass entsprechend und vor allem manche Sinnhypothesen mehr und anspruchsvollere Kreativität verlangen. Aber die Denkform ist in der „ Elementarstruktur [der] drei Variablen “ 8 grundsätzlich dieselbe. Dialektik war und ist die Lehre von der Argumentation. Brecht experimentierte damit. Sie gehörte zu seinen ganz und ausdrücklich alltäglichen Vergnügungen (1174/ 15.287). Sie als offene „ Alltagslogik “ zu begreifen, kommt seinen Nachdenk- Gedichten und ihrer Wirkungsästhetik offensichtlich entgegen. Betrachten wir das Gedicht Unglücklicher Vorgang, entstanden zwischen 1951 und 1953: Unglücklicher Vorgang Hier ist ein Haus, das für euch gebaut ist. Es ist weit. Es ist dicht. Es ist gut für euch, tretet ein. Zögernd nähern sich Zimmerleute und Maurer Klempner und Glaser. (1156/ 15.263) Es gibt dazu ein Gegengedicht Glücklicher Vorgang. Und es ist interessant, dass beide Gedichte inhaltlich überhaupt nichts miteinander zu tun haben. Ihre Antithetik ist eine ganz formale, sie stellen verschiedene Formen von Dialektik vor. Glücklicher Vorgang Das Kind kommt gelaufen. Mutter, binde mir die Schürze! Die Schürze wird gebunden. (1156/ 15.262) Hier ist nicht nur der „ Vorgang “ sondern eben auch die Argumentation eine „ glückliche “ . Sie geht ganz schulmäßig klar auf - ganz im Gegensatz zum Komplementärgedicht. Die Verbindung von „ Fall “ , „ Regel “ und „ Resultat “ , 8 Josef Kopperschmidt, Methodik der Argumentationsanalyse. Stuttgart 1989, S. 91. Dialektik als kreative Alltagslogik 119 <?page no="120"?> adsumptio, propositio und complexio, wie die alten Rhetoriker sagten, 9 ist so wohlgefällig, wie der Fall lieb und das Resultat selbst erfreulich ist. Vielleicht handelt es sich ja um eine Dirndl-Schürze, was auch den topos, den sedis argumenti, den allgemeinen Grundsatz: „ Frauen und Mädchen wollen und sollen schön aussehen “ , zusätzlich heimelig macht (in Süddeutschland, nicht zuletzt in Augsburg, werden gern sehr hübsche Trachten getragen). Wie beim „ Pappi-wir-haben-Besuch “ -Beispiel lautet die, hier freilich klar und ganz im Sinne eines „ rhetorischen Syllogismus “ implizierte Regel bzw. propositio: „ Mütter handeln fürsorglich. “ Und so ist auch das Enthymem, die argumentatio als solche „ glücklich “ gewählt, eine klassische deductio, ein „ quasi-logisches “ Argument, ein Schluss vom Allgemeinen aufs Besondere: Binde mir die Schürze (Fall), Mütter handeln fürsorglich (Regel), die Schürze wird gebunden (Resultat). Nicht nur eine solche Fürsorge, auch eine solche Dialektik funktioniert in Unglücklicher Vorgang nun eben ganz genau nicht. Dabei ist dieses Gedicht genauso anschaulich wie sein Gegenstück: Man merkt ja in der Tat zuerst, dass ein Haus „ weit “ , also geräumig, dann, dass es „ dicht “ ist bzw. gut isoliert. Entsprechend werkeln immer zuerst „ Zimmerleute und Maurer “ , erst später „ Klempner und Glaser “ . Aber dann stimmt etwas nicht. Die Erfahrung: „ Zögernd nähern sich “ die Leute vom Bau, spricht gegen die Anschauung: „ Hier ist ein Haus. “ Und dialektisch muss gegen beide argumentiert werden. Denn dies ist ähnlich wie bei dem Busfahrer-Beispiel ein rätselhaftes, antiinduktives Resultat: Fieslinge sollten nicht gut schlafen dürfen, Zimmerleute und Maurer, Klempner und Glaser, die noch viele Häuser bauen müssen, sollten nicht ihr eigenes Haus (vgl. die erste Zeile) misstrauisch betrachten. Die Antwort ist eine zu suchende neue hypothetische Gesetzmäßigkeit. Und wie so oft bei hypothetischen Überlegungen hilft eine Analogie, bzw. ein Vergleich weiter. Architektur-Parabeln, -Metaphern, -Allegorien usw. haben eine lange Tradition, nicht zuletzt in Brechts eigener Dichtung. 10 Oft geht es dabei um Wahrheit, Vernunft, Ordnung und Herrschaft. Hier geht es offensichtlich um die Vernunft von Macht. So ist die Fürsorge, wie die einer Mutter für ihr Kind, sie mag gut gemeint und sogar erfolgreich sein - das „ Haus “ ist ja „ weit “ und „ dicht “ - diese ‚ Vernunft von oben ‘ und ‚ Güte der Macht ‘ ist offensichtlich fragwürdig. 9 Adsumptio: „ Angenommener Fall “ , propositio: „ vorgeschlagene Regel “ , complexio (wörtlich: Verbindung): „ daraus folgt das Resultat “ etc., vgl. dazu und zum Folgenden Manfred Kienpointner, Argument. In: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 1, Tübingen 1992, Sp. 889 - 994, v. a. Sp. 891 ff. 10 Vgl. oben Kap 3: „ Sieh den Balken dort! “ Zur Sinnlichkeit der Chiffre in Bert Brechts Lyrik. 120 „ Vergnügungen “ <?page no="121"?> Große Zeit, vertan Ich habe gewußt, daß Städte gebaut wurden Ich bin nicht hingefahren. Das gehört in die Statistik, dachte ich Nicht in die Geschichte. Was sind schon Städte, gebaut Ohne die Weisheit des Volkes? (297/ 12.311) Hier geht es um Städte, aber nicht nur. 11 Das Gedicht aus den Buckower Elegien nennt, aber nur als negatives Resultat, auch etwas, das fehlt, so wie in Unglücklicher Vorgang eine Hypothese gesucht werden muss für etwas, was ebenfalls fehlt. Politische Konstruktionen, genauso wie „ Städte “ oder „ ein Haus “ werden nur dann langfristig funktionieren, stehen und bergen, wenn alle, die etwas davon verstehen, auch daran mitarbeiten. Aber diese gut funktionierende sozialistische Demokratie ist in unserer jetzigen gegenwärtigen Zeit nur eine Hypothese und eine bisher ungenutzte (Große Zeit, vertan) Chance. Denn die möglichen Fälle, die ihr entsprechen sollen, stehen offensichtlich noch aus. Und nun müssen wir uns fragen: Beansprucht der Dichter diese „ Weisheit des Volkes “ bereits zu kennen, oder ist auch sie für ihn lediglich ein Projekt? Erst das zweite macht eine Dialektik der Apagoge bzw. Abduction nötig. Dass er diese noch zu entwickelnde, hypothetische „ Weisheit des Volkes “ auch über sein eigenes Wissen stellt - „ Unwissende! schrie ich / Schuldbewußt. “ (297/ 12.31) - wird das Gedicht Böser Morgen zeigen. Man sieht hier übrigens, wie wichtig die Frage der Reihenfolge zwischen Böser Morgen und Große Zeit, vertan wäre (und überhaupt die des Aufbaus und der Anordnung der Buckower Elegien): 12 Steht Große Zeit vertan zuerst, so die Lesart von Elisabeth Hauptmann, 13 wäre diese „ Weisheit “ irgendwie bereits vorgegeben, „ das Volk “ besäße sie schon, und auch der Dichter selbst wäre dann irgendwie, da er das ja schon bereits begriffen hat, ein „ Weiser “ ; im Traum besänne er sich nur auf etwas, was er vergessen hat. Steht dagegen Böser Morgen voran, was ja auch wohl „ der überlieferten Reihenfolge “ entspricht, 14 so ordnet 11 Der Zusammenhang mit Unglücklicher Vorgang zeigt übrigens auch, dass Brecht nicht (mehr) nur, was ja auch der Hinweis auf „ die Statistik “ zeigt (eine Statistik, die durchaus der Fürsorge geschuldet sein kann) an die Städte im Westen denkt (vgl. Jan Knopf, Brechts Buckower Elegien mit Kommentaren von Jan Knopf. Frankfurt 1986, S. 69 ff.). 12 Vgl. genauer unten Kap. 8 „ Warum betrachte ich den Radwechsel mit Ungeduld? “ Zur Kontinuität der Argumentation in Brechts „ Buckower Elegien “ . Kap. 7 und 8 gehörten seinerzeit zum selben, nur stark gekürzt zu präsentierenden Vortrag. 13 Bertolt Brecht, Gesammelte Werke. Hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann, Frankfurt 1967, Bd. 10 (Gedichte 3), S. 1009/ 1010. 14 So der Kommentar 12.446. Dialektik als kreative Alltagslogik 121 <?page no="122"?> die Gedichte zu Recht dann auch Jan Knopf, 15 dann ist der Dichter als „ lyrisches Ich “ selbst ein Fragender, Mitbetroffener von seiner eigenen Kritik, die ja noch viele Gedichte prägt, und einer, der neu zu denken sucht, so wie alle „ nach dem Aufstand des17. Juni “ (Die Lösung, 296/ 12.310) erst einmal neu denken müssen. Und auch die „ Weisheit des Volkes “ wäre wesentlich ein Projekt. Natürlich muss der Zirkel der Argumentation nicht immer der Folge: „ rätselhaftes Resultat “ , „ hypothetische Regel “ , neuer „ möglicher Fall “ folgen - zur Erinnerung an diese Figur noch ein zum Lachen klares Werbe-Beispiel: 16 15 Bertolt Brechts Buckower Elegien. Mit Kommentaren von Jan Knopf, S. 12 und 17. 16 Bildnachweis: The Sunday Times Magazine, 19. Juli 2009, eine Werbung für „ Currys “ , eine Elektro-Handels-Kette mit dem Slogan: „ we can help “ : Dass der Hund den Teller reinigen muss, wäre die „ rätselhafte Situation “ , die Perfektion eines neuen Geschirrspülers wäre die „ hypothetische Regel “ - für dieses Bild ist sie ja lediglich eine Hypothese - , und die Unterschrift: „ we can help “ schließlich wäre Teil des anvisierten „ möglichen Falls “ - ich gehe jetzt zu Curry ’ s. 122 „ Vergnügungen “ <?page no="123"?> Die Folge, in der das Argument präsentiert wird, muss nicht immer diese sein. In einer offenen, lebendigen Dialektik wird man sich der Apagoge-Abduction oft auch in die Gegenrichtung denkend, also anti-deduktiv oder, wie gesehen, antiinduktiv nähern. 17 Das ist im Alltag, also beispielsweise der Werbung, so geläufig wie in der Lyrik Bert Brechts. (Wer hier von einfacher Gleichsetzung redet, soll besser nachdenken! ) So gesehen lassen sich die folgenden Beispiele durchaus direkt zusammen sehen: ein Fernsehspot und ein weiteres Brecht- Gedicht. Zuerst wieder die Werbung: Ein Kleinkind, aber schon am Tisch sitzend im hohen Kinderstuhl und mit Lätzchen, haut mit Begeisterung mehrmals seinen Löffel in den Karottenbrei. Es spritzt nach allen Seiten, auch auf der Tante ihre Seidenbluse. Mit gerunzelter Stirn: „ Wollt Ihr nicht endlich etwas tun? “ Schnitt, neue Einstellung: Der Esstisch ist weit auseinander gezogen. Am einen Ende sitzt der kleine Liebling und haut fröhlich weiter in den Brei. Am anderen Ende sitzt die Familie ungestört beieinander; darunter eine Einblendung und dazu eine Stimme im „ off “ : „ IKEA - lebe die Möglichkeiten! “ (Auch dieses Beispiel wurde aus dem Gedächtnis zitiert; es gibt also keine Gewähr.) Das Brecht-Gedicht dagegen ist gesichert; es gehört zu der Auswahl aus den Buckower Elegien, die Brecht schon 1953 in Sinn und Form veröffentlicht hat: Gewohnheiten, noch immer Die Teller werden hart hingestellt. Dass die Suppe überschwappt. Mit schriller Stimme Ertönt das Kommando: Zum Essen! Der preußische Adler Den Jungen hackt er Das Futter in die Mäulchen. (295/ 12.307) Brecht verbindet eine Synekdoche (pars pro toto/ der Teil steht für das Ganze: Die Essensausgabe steht für ein autoritäres System) mit einer Metapher (totum pro toto per similitudinem/ eine Ähnlichkeitsrelation als „ Sprung-Tropus “ : der Adler und seine Kinder als Bild für Regierung und Volk) 18 und beide mit einem historisierenden (indexikalisch-metonymisch [pars pro parte: Teil statt Teil] einen Konnex, eine „ Spur “ herstellenden) Namen: Preußen und dann die DDR im Kontext (per contiguitatem) der deutschen Geschichte. Und diese Verdich- 17 Deduktion wäre nach diesem Modell der Schluss von „ Fall “ und „ Regel “ auf ein „ Resultat “ , Induktion der Schluss von „ Fällen “ und „ Resultaten “ auf eine „ Regel “ . 18 Zu den Begriffen vgl. z. B. Jacques Dubois u. a., Allgemeine Rhetorik. Übersetzt und hrsg. von Armin Schütz, München 1974, S. 152 ff., oder Verf., Rhetorik in Literatur, Design und Werbung, S. 49 ff. Dialektik als kreative Alltagslogik 123 <?page no="124"?> tung ist so unmittelbar einsichtig, so eng und anschaulich, dass fast so etwas wie ein „ Symbol “ entsteht, ein Bild, in dem wie Goethe es einst forderte, „ ein Besonderes [. . .] Millionen Fälle [. . .] lebendig fasst “ : 19 Wohin hat solch ein System schon geführt, wohin kann es noch führen? Die autoritären „ Gewohnheiten “ , die Brecht kritisiert, erschließen einzelne „ Fälle “ , etwa den Umgang mit Kindern und überhaupt Abhängigen, aus vorgegebenen Regeln, z. B. einer allgemeinen Wahrheit, die sagt: „ Wahre Fürsorge braucht die Macht, klare Regeln jederzeit durchzusetzen. “ Das ist ein deduktiver Schluss. So kann man z. B. auch „ höhere Arbeitsnormen “ anordnen. Und Brecht misstraut solchen Deduktionen. Natürlich darf man die radikalen Unterschiede, ja Gegensätze zwischen Lyrik und Werbung nicht übersehen. Indem die IKEA-Werbung ein solches autoritäres Verhalten lachend verkürzt und sozusagen „ überspringt “ , macht sie es harmlos und rhetorisch verfügbar. Und genauso verfügbar, also käuflich, wird auch das kreative Gegenargument eingerahmt. Die Werbung setzt bei den Zuschauern recht genau, aber eben nur spielerisch, zunächst eine solche deduktiv-autoritäre Reaktion voraus, also etwas, was doch wohl die Tante zu meinen scheint: „ Das Kind muss besser erzogen werden, man muss ihm den Brei wegnehmen, man sollte es füttern! “ , oder ähnlich. Nein, sagt die Werbung, es gibt kreativere Lösungen, die für Geld zu haben sind, es gibt neue Hypothesen für mögliche Fälle. Man kann neue zweckmäßigere, wandlungsfähige Einrichtungen kaufen (das ist die Hypothese), und das frei am großen Tisch fröhlich mit seinem Essen spielende Kind ist dann solch ein möglicher Fall. Aber diese Hypothese ist nicht so richtig frei und neu, sie erschließt lediglich eine übergeordnete „ allgemeine Wahrheit “ : Alles, auch Kreativität und Lebendigkeit, sind käuflich. Das freie Spiel, das dem lieben kleinen Kind angeboten wird, die „ Möglichkeiten “ , die, so der Werbe-Slogan, „ gelebt “ werden sollen, sind immer schon die des fröhlichen Konsumierens. Nur wer unbegrenzt konsumieren kann, „ lebt “ wirklich frei. Auch Brecht sieht freie Kreativität, die sich dann letztlich absoluter ästhetischer Freiheit nähern würde, nicht als Selbstzweck, also, wie man lange sagte, als „ zweckfrei “ . Aber sie soll sich auch nicht vorgegebenen Regeln unterordnen, z. B. dem ökonomischen Mehrwert, und so dann auch nicht einer Parteidoktrin. Worin diese kreativen Argumentationen nach Brecht „ dialektisch aufgehoben “ werden sollen, das wäre die Kontinuität zugleich freien wie sachlichen, also im besten Sinn realistischen Denkens und Handelns selbst. Und Brecht, so verstehe zumindest ich ihn, ist davon überzeugt, dass von einer 19 Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen Nr. 751 und 489. in J. W. von Goethe, Werke. Hamburger Ausgabe. Hrsg. von E. Trunz u. a., Bd. 12, Hamburg 1953, S. 471 und 433; genau besehen handelt es sich allerdings eher um eine Allegorie, vgl. unten Kap 8, Anm. 14 und 15, die freilich so dicht und anschaulich präsentiert wird, dass sie wie ein Goethesches Symbol wirkt (dessen Begriff bekanntlich schon Schiller nicht ganz zutreffend fand). 124 „ Vergnügungen “ <?page no="125"?> solchen „ Alltagslogik “ alle und täglich profitieren würden: ein frei demokratischer und sozialistischer Alltag. (Davon später mehr, denn darum scheint es mir in den Buckower Elegien zu gehen.) Und in diesem Sinne dialektisch aufgehoben, bedient sich Brecht auch der Alltagsästhetik, ja im weiteren Sinn der Ästhetik der Moderne überhaupt ( „ le dérèglement de tous les sens “ / der „ Ent-Regelung “ aller Sinne, auch aller „ Wort “ - und „ Zeichen-Sinne “ so Rimbaud, um zumindest eine klassische Stimme zu zitieren). 20 Dazu, zum Zusammenhang von Ästhetik und rhetorischer Dialektik, allerdings nur ansatzweise, 21 meine letzten Beispiele: In der Werbung darf sich die Ästhetik, auch die des Alltags, nur vorübergehend vom Produkt und eben dem Verkaufszweck befreien. Aber diese kunstvollen Übergänge erhalten oft viel Spielraum. Und man kann an ihnen beobachten, wie die Ästhetik im Fluss der Zeichen prinzipiell denselben Stellenwert hat wie die Apagoge/ Abduction im Fluss des Argumentierens. Ein Modefoto z. B. muss nicht speziell für das hier abgebildete Kleid werben, das ja doch wohl nur begrenzt „ tragbar “ wäre; es scheint eher auf die Kreativität des Modehauses oder der Kollektion als solcher, oder die des Fotografen hinzuweisen, für die es ein Beispiel ist. Im Kontext eines Print-Mediums wirkt es auf alle Fälle überraschend und schön: 20 Vgl. oben Kap. 4 „ Ach wie solln wir nun die kleine Rose buchen? “ Bert Brechts Lyrik und die Tradition der Moderne. 21 Anregend für diesen Analyse-Schritt war für mich v. a. Max Benses Theorie „ ästhetischer Zeichen-Funktion “ . Vgl. z. B. Elisabeth Walther, Allgemeine Zeichenlehre. Einführung in die Grundlagen der Semiotik. Stuttgart, 2. Aufl., 1979, S. 83, 97 ff., 110 f. und 146 ff., sowie oben Kap. 3, Anm. 35. Dialektik als kreative Alltagslogik 125 <?page no="126"?> Ist das nicht eine „ rätselhafte Situation “ ? 22 Sie wird nicht nur von einer offenen Dialektik, sondern von einem noch offeneren „ Spiel der Zeichen “ beantwortet: einem Zusammenspiel von Farbe (ein strahlendes, seidiges Pink), Material, Licht, Schatten, Konfiguration und Bewegungen - alles in einem durchaus visuell-lyrischen Augenblick. Der Augenblick, der eingefangen wurde, ist sicher ein prekärer: Alles wirkt gerade noch stabil. Man beachte die Verdichtungen (im Jargon, die hohe „ Isotopie der Äquivalenzen “ ): die komplex leichte Architektur der Schuhe (sehr hochhackig mit Plateausohle und interessanten Querstreben), die verdrehte, kontra-statische Schichtung der Kartons mit ihren stabil wirkenden, aber hier eben vergeblich stabilisierenden Längsrillen, der oberste ist fast schon am Kippen, dann die Dramatik von Haltung und Gesichtsausdruck, also den charmant besorgten Blick, den offenen Mund, die gerade noch greifenden Hände, den halben, schwebend-kippenden Schritt usw. Und das wird noch verstärkt durch den Kontrast der rechteckigen Formen zum verdreht und fragil „ tragenden “ , spielerisch lebendigen und leichten Körper, auch zum frei schwingenden Haar, eines sehr hübschen Mädchens. Es ist die Intensität von Farbe und Bewegung, v. a. das leuchtende Rosa- Violett in vielen, von Schnitt, Faltenwurf und Beleuchtung erzeugten Schattierungen, das den rätselhaften Augenblick als möglichen Fall lebendiger Kunst interpretiert: Kunst des modischen Entwurfs und Kunst der Fotografie. Das Mode-Foto spricht für sich selbst (es ist „ autoreferentiell codiert “ ) und verspricht (das offene Interpretans des ästhetischen Zeichens) noch viele solche lebendigen Möglichkeiten. Und die Rhetorik der Mode-Werbung - Kunst und Design verhalten sich wie Ästhetik und Rhetorik - nutzt das für ihren Überredungs-Zweck: Vertrau unserer Kunst und Du bist jeder „ kippeligen “ , prekären Situation spielerisch gewachsen! Wäre das die (verborgene bzw. auf die weiteren Seiten verweisende), nicht mehr nur ästhetische sondern bereits rhetorische Werbe-Botschaft dieses Fotos? Auf alle Fälle sucht das Foto die Betrachter durch den kreativen Widerspruch von prekärer Situation und ästhetischem Möglichkeitssinn zu interessieren. Es sind solche Situationen, in denen „ abduktive “ Dialektik entsteht. Und - der Vergleich kann nur sprunghaft, wenn Sie wollen, abstrakt theoretisch ansetzen - wie konsequent, ja radikal und wie frei nun auch Brecht solch ein kreatives neues Denken verstanden haben muss, kann mein drittes Brecht- Beispiel zeigen: das Gedicht Schwierige Zeiten (1955). Zwischen Titel und Inhalt besteht hier ein ähnlicher, dialektischer Widerspruch wie eben, freilich auf harmlose Weise, zwischen Narrativik und Ästhetik des Mode-Fotos und 22 Bildnachweis: The Sunday Times Style Supplement, 16. August 2009; die Vorlage ist ca. 20 x 30 cm groß. 126 „ Vergnügungen “ <?page no="127"?> wie, weiterreichend und kritischer, zwischen Glücklicher Vorgang und Unglücklicher Vorgang. Und wie diese Gedichte eröffnet auch Schwierige Zeiten einen Bezug zu den Buckower Elegien: Schwierige Zeiten Stehend an meinem Schreibpult Sehe ich durchs Fenster im Garten den Holderstrauch Und erkenne darin etwas Rotes und etwas Schwarzes Und erinnere mich plötzlich des Holders Meiner Kindheit in Augsburg. Mehrere Minuten erwäge ich Ganz ernsthaft, ob ich zum Tisch gehen soll Meine Brille holen, um wieder Die schwarzen Beeren an den roten Zweiglein zu sehen. (1179/ 15.294) Warum trägt diese ganz private Momentaufnahme einer plötzlichen unwillkürlichen Erinnerung den Titel Schwierige Zeiten? (Man wird genauso fragen müssen: Was hat das motivisch sehr ähnliche Gedicht Tannen [298/ 12.313] aus den Buckower Elegien mit „ dem 17. Juni 1953 “ zu tun? ) Wenn hier wie dort Privates und Öffentliches (eben „ schwierige Zeiten “ ), Natur und Gesellschaft, Vergangenheit und Gegenwart, der Augenblick einer Erfahrung und das Bewusstsein historischer Abläufe aufeinander bezogen und gegeneinander abgesetzt werden, gilt es, diese Spannungen produktiv zu durchdenken. Mir scheint, dieses Gedicht sucht gerade gegen die „ schwierigen Zeiten “ jenes kreative, kindliche Staunen nicht nur zu bewahren, sondern zu erneuern, das ästhetisch den Möglichkeitssinn einer kreativen Dialektik befördern kann und das ihm auf alle Fälle entspricht. Es ist ja ein ausdrücklich persönliches, leibhaftiges Ich, das die Arbeit ( „ stehend “ ) des Schreibens kurz unterbricht. Der Blick durchs Fenster zeigt Distanz an. Nur einen Augenblick lang erhält das unwillkürliche Sehen und plötzliche Erinnern gegenüber der Schreib- Arbeit in „ schwieriger Zeit “ sein Recht. Genauso verzichtet dieses Ich ja dann auch und umständlich ( „ erwäge, Tisch, Brille “ ) auf die empirische Überprüfung ( „ um wieder [. . .] zu sehen “ ), also auf ein irgendwie zu erfahrendes Resultat des plötzlich wieder möglichen, aber eben nur möglichen kindlichen Blicks. Es gibt keine allgemeine Verhaltensregel, die hier greifen soll, es gibt nur eine fraglose Unterbrechung; argumentativ gesprochen: Es gibt keine deduzierbare Antwort auf das überraschte Sehen und plötzliche Erinnern. Und es soll ausdrücklich aus der Wahrnehmung: „ etwas Rotes und etwas Schwarzes “ , eben keine gesicherte Erfahrung von „ schwarzen Beeren an den roten Zweiglein “ hervorgehen, also und erneut argumentierend gesprochen, nichts was sich induktiv fortsetzen und verallgemeinern ließe. (Und schon gar nicht lässt sich eine irgendwie „ schwarz-rote “ Symbolik folgern.) Dialektik als kreative Alltagslogik 127 <?page no="128"?> Das ist ein schönes Gedicht, nicht nur weil Augsburg darin vor- und auch einmal gut wegkommt. Es geht ganz ursprünglich um Ästhetik als befreite Wahrnehmung, als nicht gegenständlich eingebundenes Sehen, das dann neues kreatives Denken nach sich ziehen könnte. Denn der plötzliche, die Schreibarbeit unterbrechende Augenblick eines neuen kindlichen Staunens, ein Freilegen von erinnertem Möglichkeitssinn, soll ja für die Leser und auch für das lyrische Ich etwas Ungewohntes und Rätselhaftes behalten. Das Staunenkönnen jetzt und in der Kindheit wären dann jene „ möglichen Fälle “ , möglich gemacht durch die neue, besser: die unwillkürlich gerade jetzt wieder neu entdeckte Verhaltens-Hypothese (eine proposito an sich selbst), einer ursprünglichen, ästhetisch wahrnehmenden Kreativität - sofern wir, das Ich und die Leser, uns zu ihr bekennen. Und deren dialektische Entsprechung - um sie zu finden, muss man freilich die „ Schreibarbeit “ um dieses Gedicht herum hinzuziehen - , eben ein Argumentieren mit kreativ-neuen Hypothesen, wäre das die Antwort auf die „ schwierigen Zeiten “ , die widersprüchliche Situation, die der Gedicht-Titel nennt? Denn um einen Rückzug ins Private handelt es sich hier sicher nicht. Das erlebende Ich weiß und will ( „ erwäge ich ganz ernsthaft “ ), was es da tut und unterlässt. Es wird wohl gleich weiter „ schreiben “ und arbeiten. Das lyrische Ich, das Gesamtsubjekt des Gedichts, will angesichts der „ schwierigen Zeiten “ etwas sagen. Und denkt man von hier aus nicht, wie so oft, an das Gedicht von 1954? Vergnügungen Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen Das wiedergefundene alte Buch Begeisterte Gesichter Schnee, der Wechsel der Jahreszeiten Die Zeitung Der Hund Die Dialektik Duschen, Schwimmen Alte Musik Bequeme Schuhe Begreifen Neue Musik Schreiben, Pflanzen Reisen Singen Freundlich sein. (1174/ 1175/ 15.287) Der „ Blick aus dem Fenster “ , der Moment des „ Wiederfindens “ , der „ Wechsel der Jahreszeiten “ (wie ihn ja auch schwarze Holunderbeeren anzeigen): Das 128 „ Vergnügungen “ <?page no="129"?> erinnert alles und so beiläufig, wie es zum Alltag gehört, auch an das Gedicht Schwierige Zeiten - so wie dieses wieder an das Gedicht Tannen aus den Buckower Elegien erinnert. Auch deren „ kupfernes “ Aussehen „ in der Frühe “ könnte sich ja einem „ ersten Blick aus dem Fenster “ verdanken. (Und es schließt sich die Vermutung an, dass das Gedicht Tannen in der Anordnung das Zyklus der Buckower Elegien an hervorgehobener, etwas Neues einleitender Stelle stehen sollte.) Denn nicht nur ist Vergnügungen geradezu ein schöner, zwanglos zustimmender Kommentar zur Auffassung von „ Dialektik “ als „ Alltagslogik “ , so alltäglich und unprätentiös, wie sie hier genannt wird. Viele der einzelnen Freuden, die der Dichter nennt, haben etwas Überraschendes (der erste „ Schnee “ , der die Welt verwandelt), etwas Unberechenbares - dazu gehört vielleicht auch „ der Hund “ - , sie haben die Qualität des Neuen, wie „ die Zeitung “ , oder „ Reisen “ , oder „ neue Musik “ , oder „ Pflanzen “ , es findet sich das Belebende, wie „ Duschen, Schwimmen “ , auch das des kreativen Neu-Entdeckens, wie der neue Umgang mit einem fast vergessenen „ alten Buch “ oder immer wieder erfrischender, immer wieder neu zu hörender „ alter Musik “ . Zählt man noch den Impetus kommunikativer Verallgemeinerung hinzu ( „ begeisterte Gesichter “ , „ Singen “ ) - und einsame Freuden und Vergnügen hat Brecht nie propagiert ( „ hattst du eine Freud nicht mit / Hatt ich selber keine “ , 1198/ 15.315) - , werden da nicht lauter stimulierende Alltagsüberraschungen aufgezeigt, erfreuliche rätselhafte Situationen, auf die der Dichter gerade im „ Begreifen “ und „ Schreiben “ und eben ganz selbstverständlich auch in der „ Dialektik “ mit kreativ neuen (hypothetischen) Weltentwürfen antworten will: Kleinen, alltäglichen, aber doch immer ein wenig zukunftsweisenden Apagogeen und Abductiones sozusagen? Und liegt es dann nicht nahe, dass für Brecht solche „ Vergnügungen “ immer auch und sehr präzise, dass sie erst recht kreativ-dynamisch mit den „ schwierigen Zeiten “ um sie her zu tun haben? Dialektik als kreative Alltagslogik 129 <?page no="131"?> 8 „ Warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld? “ Zur Kontinuität der Argumentation in Bert Brechts Buckower Elegien Wie kennen wir eigentlich die Buckower Elegien? Bilden diese widersprüchlichen Gedichte, teils - allerdings nur auf den ersten Blick - private Natur- Idyllen, teils Träume, teils Reflexionen über Zeit und Geschichte, teils Satiren gegen die Zeitläufte, insbesondere „ nach dem Aufstand des 17. Juni “ 1953 (Die Lösung), Gedichte, deren weitaus größter Teil erst aus Brechts Nachlass veröffentlicht wurde, bilden sie überhaupt einen erkennbaren Zusammenhang? Und wie können und sollen wir diese angebliche Sammlung aus den Jahren 1953/ 1954 eigentlich lesen? Mit absoluter Sicherheit nicht so, wie sie uns heute in der Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe präsentiert wird 1 und ihr folgend, aber nicht ganz - das Motto steht tatsächlich am Anfang - in der einbändigen Gesamtausgabe Die Gedichte, 2 und dieser wiederum folgend in der Ausgabe Die Gedichte als Insel Taschenbuch 3 - so erfreulich es ist, dass es diese Bücher, und auch recht preiswert, gibt. Diese heute doch wohl klassischen Editionen sind leider klassische Beispiele dafür, wie strenge Philologie Unsinn zum Lesen, Unsinn für „ Freunde des Wortes “ produzieren kann. Denn man muss nun doch wohl befürchten, dass diese schönen Gedichte, Brechts „ lyrische Summe “ , 4 von jetzt an genau so, in dieser hässlichen Präsentation gelesen werden. Um nur einen schlimmen Punkt zu nennen: Es ist nicht zu übersehen, dass der Titel mit seinem Widerspruch: Buckower „ bucolische “ , also eigentlich „ idyllische “ , von schöner Natur redende Elegien (jetzt jedoch „ elegisch “ traurige, von einer bösen Zeit redende Gedichte) 5 vom Motto: „ Ginge da ein Wind “ und beides wieder vom Eingangsgedicht Der Radwechsel: „ Ich sitze 1 Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, 31 Bde., Berlin/ Weimar und Frankfurt 1988 - 2000, Bd. 12, S. 305 - 315. 2 Bertolt Brecht, Die Gedichte. Zusammenstellung: Jan Knopf, Frankfurt 2000, S. 294 - 300. Diese beiden Ausgaben werden im Text zitiert; zur Zitierweise vgl. auch oben Kap. 1, Anmerkung 2. 3 Bertolt Brecht, Die Gedichte. Hrsg. von Jan Knopf, Frankfurt 2007, S. 391 - 399. 4 Jan Knopf (Hrsg.), Brecht-Handbuch. Bd. 2: Die Gedichte. Stuttgart 2001, S. 441, wo die Buckower Elegien dann aber doch in thematische Gruppen und Einzelinterpretationen aufgelöst werden (vgl. S. 442 ff.). 5 „ Die Idylle der Buckower Elegien ist freilich eine scheinbare, gebrochene, doch um diese Gebrochenheit zu zeigen, muss die Idylle erst einmal evoziert werden “ , Marion Lausberg, Brechts Lyrik und die Antike. In: Helmut Koopmann (Hrsg.), Brechts Lyrik - Neue Deutungen. Würzburg 1999, S. 168 - 198, S. 186, vgl. S. 185 ff. <?page no="132"?> am Straßenhang [. . .] Ich bin nicht gern [irgendwo] “ interpretiert werden. Der spezifisch dichterischen folgt die subjektive, aber auf Verallgemeinerung gerichtete Standortbestimmung, beides skeptische Aussagen; und der Zusammenhang von Titel, Motto und Eingangsgedicht stellt eine erweiterte „ Überschrift “ für die ganze Sammlung dar, auf alle Fälle eine Prämisse für Der Blumengarten. Die so genannte „ Große “ Ausgabe allerdings trennt den Titel vom Motto, die Ausgabe Die Gedichte lässt auf Titel und Motto Der Blumengarten folgen. Die Gedichte werden isoliert, ihr Zusammenhang wird unklar oder gar beliebig, ihr Verständnis erschwert oder gar beschädigt. Was hätte wohl Brecht selbst zu dieser Leistung angemerkt? Oder ist das alles vielleicht doch nicht so wichtig? Schließlich geht es ja „ nur “ um ein paar Gedichte, oder? Die Buckower Elegien hat Brecht immer als Sammlung verstanden, aber nie endgültig bearbeitet und abgeschlossen. 6 Die Reihenfolge der Gedichte auf einzelnen Typoskript-Seiten mag er selbst bestimmt haben, vor allem natürlich die der vorab 1953 in Sinn und Form und in derselben Anordnung 1954 im 13. Heft der Versuche veröffentlichten, aber klar als Auswahl verstandenen sechs Gedichte. Das Motto und mit ihm dann auch das Anfangsgedicht Der Radwechsel, beide erst aus dem Nachlass veröffentlicht, sind ebenfalls sofort erkennbar. Aber die restlichen Blätter wurden ungeordnet von Brechts Mitarbeitern abgelegt, und wirklich abgeschlossen ist die Sammlung auch nicht. Andererseits handelt es sich zweifellos um eine Sammlung für die, wie bei allen Gedicht-Sammlungen und Zyklen Bert Brechts, die Reihenfolge höchst bedeutsam ist: Die Anordnung ist [. . .] integraler Bestandteil des Zyklus. Brecht wollte durch die Zusammenstellung dem einzelnen Gedicht sein Gewicht nehmen, das es isoliert beansprucht; zugleich aber gab sie ihm Raum zu vielfachen Brechungen und Spiegelungen, die beileibe nicht in bloßer Antithetik oder „ dialektischen “ Einheit der Gegensätze aufgehen. Die Buckower Elegien lassen von daher noch einen weiten Spielraum für die Interpretation. 7 Jeder dieser Sätze, ebenso natürlich das Prinzip dieser einzigen, heute erhältlichen und überzeugenden Ausgabe der Buckower Elegien als Sammlung ist zu unterschreiben. Insbesondere die Warnung vor einem zu engen Begriff von „ Dialektik “ scheint mir in die richtige Richtung zu weisen. Meine Überlegungen zur Kontinuität der Argumentation bzw. eben Dialektik, im alten rhetorischen Sinn, versuchen freilich auch ihrerseits nicht die gültige Ordnung dieser Gedichte aufzustellen - auch wenn ich eine aus dieser Sicht plausible vorschlagen werde, die sehr oft ja nur bereits Vorgegebenes weiter begründet - ; es geht im Folgenden um ein Prinzip möglicher Zusammenhänge, eines von 6 Vgl. zum Folgenden 12.444 ff. 7 Bertolt Brechts Buckower Elegien. Mit Kommentaren von Jan Knopf, Frankfurt 1986 (edition suhrkamp 1397), S. 123/ 124. 132 „ Warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld? “ <?page no="133"?> sicher mehreren, die auch vorstellbar wären, eine Grammatik der Syntax dieser Gedichte sozusagen, die viele „ Sätze “ strukturieren könnte, nicht um einen oder gar den Diskurs. Wie auch immer, in der widersinnigen Form, in der sie jetzt in den „ klassischen “ Ausgaben präsentiert werden, wollte Brecht mit Sicherheit nicht, dass wir die Buckower Elegien lesen. Wer kann, sollte die Ausgabe Buckower Elegien. Mit Kommentaren von Jan Knopf (Edition Suhrkamp) neben die Gesamtausgaben legen, oder eben die alte, sogenannte „ kleine “ Frankfurter Ausgabe (bearbeitet von Elisabeth Hauptmann), 8 allerdings nach Korrektur der teilweise sinnentstellenden Schreibfehler, 9 weiter benutzen. 10 Denn ihr Vorteil war es, dass die Gedichte dieser Sammlung zwischen den übrigen Gedichten des Spätwerks (1947 - 1956) stehen und nicht durch Bände oder viele Seiten von ihnen getrennt sind. Denn mit diesen späten Gedichten sind sie offensichtlich vielfach und bewusst in wechselseitiger Kommentierung vernetzt. 11 Überlegungen zur Kontinuität der Argumentation - an der recht klar überlieferten Folge der Anfangsgedichte wird sie am deutlichsten erkennbar - sind zugleich immer Überlegungen zur „ Anschließbarkeit “ , zum Dialog und zur dialektischen Reflexion über die Grenzen der Sammlung hinaus. 8 Bertolt Brecht, Gesammelte Werke in 20 Bänden. Hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann, Frankfurt 1976, Bd. 10. Gedichte 3, S. 1009 ff.; diese Anordnung stimmt mit der Ausgabe: Bertolt Brecht, Gedichte. Bd. 7, Frankfurt 1964, S. 5 - 23 für die ersten 18 Gedichte überein und fügt noch vier weitere Gedichte an (vgl. zu Umfang und Anordnung auch unten Anm. 10). 9 Um nur die wichtigsten zu nennen: In Der Radwechsel muss statt „ Straßenrand “ jetzt „ Straßenhang “ gelesen werden, was die Distanz zur Straße bzw. zum Zeitgeschehen vergrößert; in Eisen muss „ den Eisernen “ (groß geschrieben) stehen: ein deutlicher Hinweis auf Stalin, so dass dieses Gedicht dann an Die Musen anknüpft und auf Die Kelle voraus weist; und so entsteht zugleich ein Stück Ordnung und Kontinuität im Zyklus. In Rudern, Gespräche macht die Lesart „ Neben einander rudernd “ das solidarische Zusammenarbeiten weniger selbstverständlich und hebt es heraus. 10 Zur Orientierung die Anordnung nach Elisabeth Hauptmann: Bertolt Brecht, Gesammelte Werke, Band 10, 1967: Motto Der Radwechsel Der Blumengarten Die Lösung Große Zeit, vertan Böser Morgen Gewohnheiten, noch immer Heißer Tag Die Wahrheit einigt Der Rauch Eisen Tannen Der Einarmige im Gehölz Vor acht Jahren Rudern, Gespräche Beim Lesen des Horaz Laute Bei der Lektüre eines sowjetischen Buches Der Himmel dieses Sommers Die Kelle Die Musen Bei der Lektüre eines spätgriechischen Dichters. Die Anordnung nach Jan Knopf: Bertolt Brechts Buckower Elegien,1986: Motto Der Radwechsel Der Blumengarten Die Lösung Böser Morgen Die Musen Gewohnheiten, noch immer Heißer Tag Die neue Mundart Große Zeit, vertan Eisen Der Rauch Vor acht Jahren Der Einarmige im Gehölz Die Wahrheit einigt Rudern, Gespräche Lebensmittel zum Zweck Bei der Lektüre eines spätgriechischen Dichters Tannen Der Himmel dieses Sommers Bei der Lektüre eines sowjetischen Buches Die Kelle Beim Lesen des Horaz Laute. 11 Etwa Unglücklicher Vorgang und Große Zeit, vertan, Tannen und Schwierige Zeiten, Der Blumengarten und Vergnügungen (vgl. oben Kap. 7 „ Vergnügungen “ Dialektik als kreative Alltagslogik) oder, und sehr wichtig, wie noch zu zeigen sein wird: Beim Lesen des Horaz und Dauerten wir unendlich. Zur Kontinuität der Argumentation in Bert Brechts Buckower Elegien 133 <?page no="134"?> Antiautoritäre Dialektik Dass Brecht gekonnt und klar mit verschiedenen Argumentationsformen arbeitet, ist unübersehbar. Und da, wo deren aptum, 12 ihr Überredungszweck aggressiv und oft satirisch ausgerichtet ist, wie in den politischen, zeitkritischen Gedichten, da liegt es nahe, und darauf weisen alles in allem auch alle überlieferten Ordnungen hin, auch deren amplificatio, ihre Steigerung durch Reihen und Gruppen anzunehmen. Beispielsweise, um mit einer doch recht klaren Gruppe mitten aus der Sammlung zu beginnen, zieht Brecht immer da, wo Autoritäten oder feste Gewohnheiten oder allgemeine überkommene Wahrheiten oder ganz einfach Machtausübung im Mittelpunkt stehen, die keiner weiteren Begründung zu bedürfen beanspruchen und gehorsame Folgerungen verlangen, überall da zieht er skeptische, ja negative Schlüsse. Er misstraut den Deduktionen. 13 Gewohnheiten, noch immer Die Teller werden hart hingestellt. Dass die Suppe überschwappt Mit schriller Stimme Ertönt das Kommando: zum Essen! Der preußische Adler Den Jungen hackt er Das Futter in die Mäulchen. (295/ 12.307) Wer unkontrolliert die Macht hat, kann sie rücksichtslos gebrauchen. Das gilt auch, wenn sie fürsorglich, bzw. so wie hier „ Futter “ reichend ausgeübt wird. Das Resultat sind, fortgedacht, „ Gewohnheiten “ , die nicht zuletzt vor und „ nach [. . .] dem 17. Juni “ herrschend sind (Die Lösung, 296/ 12.320, dazu gleich). Man erkennt die deduktive, quasi-logische Argumentation vom Ganzen auf das Teil, oder, und noch besser, vom Allgemeinen auf das Besondere. Interessant und wichtig ist zum einen, dass Brecht nicht nur solches Verhalten kritisiert, sondern eben auch die Denkfigur selbst, die es begründet, genauer, dass er sie in der den Lesern zugemuteten Abwehrreaktion zu öffnen sucht. Es soll nicht damit getan sein, in bewährten Gewohnheiten zu handeln und zu denken. Und interessant ist, dass sehr genau und argumentativ schlüssig diese zu durchbrechende ( „ noch immer “ deduktiv funktionierende) 12 Vgl. zu solchen Begriffen z. B. Gert Ueding/ Bernd Steinbrink, Grundriss der Rhetorik. Geschichte. Technik. Methode. Stuttgart 1986, oder eine andere Einführung in die Rhetorik. 13 Vgl. zu Grundbegriffen der Argumentationstheorie oben Kap. 7 „ Vergnügungen “ Dialektik als kreative Alltagslogik im Kinderbuch, in der Werbung und in Bert Brechts Lyrik. 134 „ Warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld? “ <?page no="135"?> „ Regel “ wie selbstverständlich das traditionelle Wappentier zur „ Allegorie “ 14 des hart fürsorglichen „ preußischen Adlers “ ausgestaltet. 15 Dieselbe Verbindung von Macht-Gewohnheiten, deduktiver Argumentation und Bildlichkeit haben wir im ersten der drei Stalin-Gedichte vor uns: Die Musen Wenn der Eiserne sie prügelt Singen die Musen lauter. Aus gebläuten Augen Himmeln sie ihn hündisch an. Der Hintern zuckt vor Schmerz Die Scham vor Begierde. (299/ 12.313) Dass der mächtige Stalin ( „ der Eiserne “ ) „ prügeln “ kann, wen er will, wäre hier die „ Regel “ , die Situation der Kunst in diesem System wäre der „ Fall “ , und aus beidem zu schließen wäre auf die Hingabe der Kunst an die Macht. Dass Hingabe für viele „ geil “ ist (eine weitere Regel) schlösse sich als formal gleich aufgebautes Argument an, und so fort. Und jetzt können wir sehen, wie die Bildlichkeit in dem zweiten der drei Stalin-Gedichte argumentativ eben ganz anders wieder aufgenommen wird: Eisen Im Traum heute nacht Sah ich einen großen Sturm Ins Baugerüst griff er Den Bauschragen riß er Den Eisernen, abwärts. Doch was da aus Holz war Bog sich und blieb. (299 f./ 12.315) Es ist wichtig, dass Brecht hier selbst „ Den Eisernen “ , also den Beinamen groß schreibt - eine der notwendigen Korrekturen gegenüber der „ kleinen “ Frankfurter Ausgabe. 16 Denn nun, und erst recht nach dem Musen-Gedicht, ist klar, dass Brecht auch jetzt auf Stalin verweist. Aber ein Traum hat seine eigene 14 Jan Knopf, Bertolt Brechts Buckower Elegien, S 60; auch die für die Allegorie typische „ Überblendung “ der Bilder (ebd.) hat etwas Deduktives: Geschlossen wird vom übergeordneten Bild dominierender Macht auf das Wappenbild, und die Allegorie ist das „ Ergebnis “ . 15 „ Es ist ein großer Unterschied, ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht oder im Besonderen das Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie “ , Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen Nr. 752, Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, herausgegeben von Erich Trunz u. a., Bd. 12, mit Kommentaren von Hans Joachim Schrimpf u. a., Hamburg 1953, S. 471; der Jurist Goethe dachte offensichtlich im Sinne rhetorischer Enthymeme. 16 Vgl. Jan Knopf, Bertolt Brechts „ Buckower Elegien “ , S. 73. Zur Kontinuität der Argumentation in Bert Brechts Buckower Elegien 135 <?page no="136"?> Logik. Dies hier ist doch wohl ein „ nächtlicher Tagtraum “ . Die Architektur- Metapher vom „ Baugerüst “ sucht das Wünschbare. Der „ Sturm “ , wäre er die eben nur erträumte Entsprechung für den „ Wind “ , der im Mottogedicht Ginge da ein Wind vermisst wird, wäre dies der Sturm-Wind einer historischen Chance, die Veränderungen ermöglichte? Die Lesart, die mir dann weiterhin gefiele, wäre eine ganz abstrakte, nämlich die, dass in dieser wohlgemerkt nur erträumten Situation gerade und nur der Widerspruch als solcher, hier also die klassische contradictio in adjectu „ hölzernes Eisen “ , fortgedacht: die Produktivität der Widersprüche, die der Stalinismus unterdrückt, dass gerade diese Dynamik eine Überlebensmöglichkeit, genauer, ein radikal neues antistalinistisches, auf alle Fälle ein anti-autoritäres Denken eröffnete, eben ein Denken, das die Widersprüche sucht. Und dann wäre das Gedicht: Die Kelle Im Traum stand ich auf einem Bau. Ich war Ein Maurer. In der Hand Hielt ich eine Kelle. Aber als ich mich bückte Nach dem Mörtel, fiel ein Schuß Der riß mir von meiner Kelle Das halbe Eisen. (1162/ 15.270) dieses Gedicht, das lange nicht zu den Buckower Elegien gezählt wurde, wäre das dann ganz ( „ abduktiv “ ) folgerichtig 17 die ebenfalls traumhaft wünschbare Entsprechung eines „ möglichen Falles “ , der diesem neuen Denken entspräche, so dass immerhin „ das halbe Eisen “ weggerissen wäre? Wo könnten diese Gedichte stehen? Die Ausgaben platzieren sie verschieden, in verschiedener Reihenfolge, zwei stellen jeweils zwei davon nahe zusammen, was meines Erachtens ihre Wirkung schwächt. Die am sorgfältigsten überprüfte und durchdachte Anordnung von Jan Knopf 1986, die aber, wie gesagt, irgendwie nicht mehr „ offiziell “ zu gelten scheint, stellt Die Musen gleich hinter Böser Morgen - darauf komme ich noch zurück - , Eisen zwischen Große Zeit, vertan und Der Rauch, und Die Kelle als drittletztes Gedicht. Das ist in der Reihenfolge und auch durch die Trennung die 17 Als „ Abduktion “ (nach der aristotelischen Apagoge) bezeichnet C. S. Peirce einen Schluss von einem „ rätselhaften Resultat “ und einer „ hypothetischen Regel “ auf „ mögliche Fälle “ , wobei es eben vor allem auf „ die provisorische Annahme einer erklärenden Hypothese “ ankommt (Charles S. Peirce, Semiotische Schriften. Hrsg. und übersetzt von Christian J. Kloesel und Helmut Pape, Darmstadt 2000, Bd. 3, S. 151); vgl. oben Kap. 7, Anmerkungen 2, 7 - 9 und 17. Eine „ Deduktion “ funktioniert, vereinfacht, aber nicht falsch definiert, als Schluss von „ Regel “ und „ Fall “ auf ein „ Resultat “ , „ induktiv “ werden aus „ Fällen “ , z. B. Erfahrungen, und „ Resultaten “ , z. B. Vergleichen, Beobachtungen längerer Entwicklungen, Messergebnissen etc., allgemeine „ Regeln “ , z. B. bis auf weiteres geltende (falsifizierbare) Gesetzmäßigkeiten erschlossen. 136 „ Warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld? “ <?page no="137"?> plausiblere Anordnung. Denn sobald diese Gedichte eng zusammen stehen, würde ein Automatismus suggeriert, eine Selbstevidenz der Veränderung, oder ein bloßes Gedankenspiel, die widersinnig wären. Träume erhalten im Kontext von Erfahrungen, aber auch von sozusagen taghellen Reflexionen und vor allem im Kontext anderer nur möglicher Folgerungen, wie etwa dem Zukunftsentwurf eines Wolga-Staudamms (Bei der Lektüre eines sowjetischen Buches), sie erhalten gegenüber anderen Denkmustern mehr kreativ anregende Überzeugungskraft, als wenn Traum auf Traum folgte. Und sehr klar scheint mir in dieser Anordnung der aufeinander verweisenden Stalin-Gedichte eben die Kontinuität der Argumentation. Sie führt vom allgemeinen „ (immer-)wenndann “ -Enthymem in Die Musen, einer klaren Gesetzbzw. Gewohnheit-Fall- Resultat-Deduktion, die durch die Nähe zu Böser Morgen auch etwas indirekt Selbstkritisches erhält, und dies in produktiver Spannung zum lustvoll aggressiv ausgemalten complexio-Resultat der Musen-Befindlichkeit, sie führt also vom zu Unrecht geltenden, allgemeinen Gesetz des kulturellen Stalinismus über mehrere Zwischenstationen und Denkschritte hin zum traumhaften, aber ganz präzise als Teil einer Gegenhypothese angenommenen „ Sturm “ und dessen möglichen Folgen, und von da dann zum ebenfalls nur traumhaften „ möglichen Fall “ , also zur vagen, lediglich analogen und „ halben “ Folgerung persönlicher Veränderungen im eigenen Arbeiten und Denken: „ Riß mir (weg) das halbe Eisen. “ Nicht nur mit Stalin, auch mit „ alten “ ehrwürdigen Autoritäten geht Brecht so um, dass Folgerungen vom Allgemeinen zum Besonderen auf unerträgliche, desolate, nicht lebbare Befindlichkeiten führen, etwa und sogar in dem Gedicht: Beim Lesen des Horaz Selbst die Sintflut Dauerte nicht ewig Einmal verrannen Die schwarzen Gewässer Freilich, wie wenige Dauerten länger! (300/ 12.315) Auch jetzt gilt es zu bedenken, wie bedeutsam die Kontinuität der Argumentation ist. Steht das Gedicht für sich, noch dazu, wie in den jetzigen „ offiziellen “ Ausgaben, nahezu am Ende der Sammlung, dann schiene der Zyklus mit einem resignierten, nahezu verzweifelten Ausblick zu schließen, zumindest erhielte dieser einen eigenen Akzent. Aber nicht nur haben solche Denk- und Empfindungsweisen in den Buckower Elegien argumentativ nicht das letzte Wort, man denke an den „ preußischen Adler “ oder „ Stalin “ . Man sieht hier auch wieder einmal, dass man diese Sammlung nicht vom Kontext der späten Zur Kontinuität der Argumentation in Bert Brechts Buckower Elegien 137 <?page no="138"?> Gedichte trennen sollte. (Den Brecht-Lesern wird nicht nur mit der zerstörten Sammlung, sondern zusätzlich auch damit ein Bärendienst erwiesen, dass sie einen ganz anderen Gedicht-Band aufschlagen oder achthundert Seiten weiterblättern müssen, um für Brecht offensichtlich sprechende Zusammenhänge zu entdecken.) Denn sehr klar wird bis in die Formulierungen hinein 18 in einem späteren Gedicht von 1956 ganz explizit und vor allem klärend an dieses hier angeknüpft: Dauerten wir unendlich So wandelte sich alles Da wir aber endlich sind Bleibt vieles beim alten. (1180/ 15.294) Hier wird ganz unübersehbar und sehr klar weiter- und gegen-gedacht. An die Stelle der passiv angenommenen schicksalartigen „ Sintflut “ tritt die abstrakte, aber aktivere, arbeitsame „ Veränderung “ . Und jetzt kann man „ quasi-logisch “ , aber eben nur ganz formal, gleichwohl ganz im Sinne eines klassischen Enthymems, alle Folgerungen und Anschließungen nach „ alles “ und „ vieles “ bzw. „ einiges “ usw. (quantoren-logisch) 19 ausarbeiten. Irgendwann kommt man zu der (disjunktiven) Aussage: Auch wenn wir endlich sind, muss nicht alles beim alten bleiben, einiges kann sich wandeln, einiges können wir verändern. Auch das Katastrophenbild der biblischen „ Sintflut “ enthält ja immer auch bereits das Hoffnungs- „ Zeichen “ des Regenbogens (1. Mose 9, 12 ff.) in sich. Illusionslose Antithesen In der erhaltenen Mappe der Buckower Elegien (vgl. 12.315) stehen Eisen, Beim Lesen des Horaz und das Gedicht Die Wahrheit einigt als eigene Gruppe zusammen. Gibt es Gemeinsamkeiten? Bei allen drei Gedichten handelt es sich um illusionslose Antithesen zu bestehenden Gesetzmäßigkeiten. Das Anti- Stalin-Gedicht Eisen, sofern „ der Eiserne “ immer noch die fraglose Macht und entsprechend als Bild fast schon allegorische Allgemeinheit beansprucht, enthält nichts weiter als einen nächtlichen Tag- und Wunschtraum. Der Übergang von „ Freilich, wie wenige / Dauerten länger! “ zu „ Dauerten wir unendlich “ , also der Übergang von einer Erfahrung (Beim Lesen) zur Reflexion, von einem Resultat zu dessen tieferem Gesetz und allen seinen möglichen 18 Brecht schrieb zuerst: „ Wären wird unendlich “ , betont also das logisch wichtige, hypothetische Setzen des ersten Gedichtteils, und verbesserte später zu: „ Dauerten wir unendlich “ (vgl. 14.494, Hervorhebung von mir), womit doch wohl ein genauer Bezug zu Beim Lesen des Horaz sichtbar wird. 19 Vgl. oben Kap. 6 „ Ein kräftiges WENN NICHT “ Zur Logik des Engagements in Bert Brechts Lyrik. 138 „ Warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld? “ <?page no="139"?> Folgen, dieser Übergang hat auch etwas von der Überwindung einer Niedergeschlagenheit, eines Hinausdenkens über eine „ Resignation “ , indem diese ganz wörtlich „ wieder bezeichnet “ und gedeutet wird. Und Die Wahrheit einigt formuliert den harten, logischen und zugleich völlig illusionslosen Kern von Brechts politischem Engagement überhaupt, den er schon lange für sich gefunden hat: 20 Es gibt keine objektiv gewisse, bessere Zukunft, nur unsere bedingungslose subjektive Arbeit dafür können wir voraussetzen. Die Wahrheit einigt Freunde, ich wünschte, ihr wüßtet die Wahrheit und sagtet sie! Nicht wie fliehende müde Cäsaren: „ Morgen kommt Mehl! “ So wie Lenin: Morgen abend Sind wir verloren, wenn nicht . . . So wie es im Liedlein heißt: „ Brüder mit dieser Frage Will ich gleich beginnen: Hier aus unserer schweren Lage Gibt es kein Entrinnen. “ Freunde, ein kräftiges Eingeständnis Und ein kräftiges WENN NICHT! (300/ 12.315) „ Wenn nicht “ heißt: „ nur wenn “ im Allgemeinen und „ dies nicht “ im Besonderen. Nur wenn die Voraussetzung in dieser Form von Aussage (der „ notwendigen Bedingung “ bzw. Replikation: q p ) nicht erfüllt ist, ist die ganze Aussage falsch. Diese negative Folgerung ist die einzige, die wir aus dem Vordersatz, sofern eben auch er nicht erfüllt ist, ziehen können. Dagegen ist es unmöglich, von der erfüllten Bedingung auf die Folge zu schließen. (Auch „ kontrafaktische “ Aussagen sind hier „ logisch wahr “ .) Man sieht, wie negativ Brecht auch hier mit Deduktionen umgeht. Man kann aber auch sehen, wie dabei ganz (logisch) „ hart “ ein Gegenargument vorbereitet wird: Nur wenn wir für eine bessere Zukunft arbeiten, besteht die Chance, dass sie eintritt. Niemand kann sicher behaupten, jetzt schon im Sinne der Zukunft, oder im Sinne historischer Gesetzmäßigkeiten, oder auf Grund immer richtiger Einsicht ( „ die Partei hat immer recht “ ) zu handeln. Und wenn wir den Erfolg unseres Tuns nicht vorhersagen können, dann können, ja müssen wir alle Entscheidungen unter hypothetische (auf etwas anderes bezogene) Vorzeichen stellen. Alles, was hilfreich, nützlich, einer besseren Zukunft dienlich sein könnte, muss durchdacht und geprüft werden: Möglichkeitssinn statt Dogmatismus. Bekanntlich hatte Brecht dieses Gedicht 1953 „ an Otto Grotewohl geschickt mit der Bitte, es im Ministerrat vorzulesen “ (12.450). In der Tat, eine solche „ Wahrheit “ wäre eine gewesen, die Regierung und Aufständische des 20 Vgl. dazu oben vor allem die Kapitel 2, 4 und 6. Zur Kontinuität der Argumentation in Bert Brechts Buckower Elegien 139 <?page no="140"?> 17. Juni, die nach Brecht ja auch nicht per se einfach im Recht waren, hätte, vielleicht ja auch erst auf lange Sicht, „ einigen “ können. 21 Auf alle Fälle - das Gedicht hat „ meta-dialektische “ Bedeutung, es sollte an wichtiger Stelle stehen - , wird hier die Argumentations-Kontinuität der Buckower Elegien, die Notwendigkeit neuer Hypothesen, aussagenlogisch begründet. Und insbesondere das Motto zieht aus der „ meta-dialektischen “ eine „ meta-poetische “ , die Voraussetzung dieser Dichtung, dieses Zyklus formulierende Folgerung: Ginge da ein Wind Könnte ich ein Segel stellen Wäre da kein Segel Machte ich eines aus Stecken und Plane. (294/ 12.310) Die Seefahrt ist eine alte Allegorie der Dichtung. Brecht knüpft hier vor allem an Horaz an (Carmina IV, 15), der ja auch später noch einmal genannt wird, und bei Brecht überhaupt oft präsent ist. Dass auch jetzt freilich Autoritäten allein noch keine gültigen Wahrheiten zu folgern erlauben - wir haben es schon mehrfach gesehen - , diese antiautoritäre Dialektik macht hier vielleicht der Irrealis deutlich, in dem das Gedicht gehalten ist. Sehr klar sieht man, wie Realisierungen, etwa die, dass das „ Schifflein der Dichtung “ im „ Wind der Geschichte “ Fahrt aufnehmen möge, dass also ein möglicher Erfolg 22 dichterischer Arbeit lediglich hypothetisch angesprochen wird. Anders gesagt: Die Verfertigung von Gedichten aus alltäglichen Erfahrungen bzw. Materialien ( „ machte ich [ein Segel] aus Stecken und Plane “ ), und Dichtung als Teil allgemeiner gesellschaftlicher Arbeit verstanden ( „ ginge da ein Wind / könnte ich ein Segel setzen “ ), all dies kann eben nur eine notwendige, keine irgendwie hinreichende Bedingung dafür sein, dass ein „ eingreifendes “ und die Zustände zum Besseren bewegendes Verständnis dieser Dichtung entsteht. Man kann das Gedicht in die Form einer „ iterativen Replikation “ bringen, eine Folge von „ wenn - dann, und wenn dies - dann “- Aussagen (ponendo ponens), die Brecht von 21 Wie Brecht sich am 20. 8. 1953 in seinem Arbeitsjournal notierte, „ zeigen die Demonstrationen der Arbeiterschaft immer noch, dass hier die aufsteigende Klasse ist “ . Und vor allem gelte es jetzt, die „ Gelegenheit “ zu ergreifen, „ die Arbeiter zu gewinnen “ (27.346/ 347). Auch in Gesprächen und Diskussionen dieser Zeit forderte Brecht immer wieder v. a. eine „ große Aussprache “ (Werner Hecht, Brecht-Chronik 1898 - 1956. Frankfurt 1997, S. 1063 ff.). 22 Auch bei Horaz geht es darum, das „ Schifflein “ der Dichtung nicht Wind und Meer zu „ geben “ ( „ ne [. . .] vela darem “ , Horaz, Sämtliche Werke. Hrsg. von H. Färber, München 1967, S. 218). Brecht verstärkt diesen Wirkungs-Aspekt, indem er das „ stürmische Tyrrhenische Meer “ durch eine Flaute ersetzt und zusätzlich das etwa aus dem ersten Gesang der Odyssee (Odysseus baut sich ein Floß) und aus Baudelaires Gedicht Le voyage (1859, vgl. oben Kap 4) bekannte Bild des schiffbrüchigen Exilierten dazu fügt, der sich eben nur ein Floß und ein Segel „ aus Stecken und Plane “ bauen kann. Dass Brecht seine Gedichte, auf alle Fälle die kritischen, so auch das Motto nicht veröffentlichen konnte, passt zu dieser neuen Akzentuierung. 140 „ Warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld? “ <?page no="141"?> ihren (noch) nicht eingetretenen Folgerungen her präsentiert. Das heißt, und das ist der „ Witz “ dieses Gedichts, dass erst die eingetretene Folge die Voraussetzung bestätigt, die für sich allein unsicher wäre: Der Wind macht das Segel und das Segel macht die Arbeit mit Stecken und Plane tatsächlich „ wahr “ , die praktische Arbeit verifiziert die Bereitschaft dazu (das „ könnte “ und „ machte “ enthält ein „ würde ich “ ), und erst diese wieder erfüllte die an sich leere Möglichkeit ( „ wäre da “ ) mit Bedeutung. Umgekehrt und positiv im Sinne der replikativen „ nur-wenn “ -Folge gesprochen: Wenn ich dichte ( „ machte ich “ ), und wenn diese Dichtung gelingt, also veröffentlicht wird ( „ würde ich ein Segel stellen “ ), und wenn sie auf historische Dynamik trifft, auf allgemeine Bereitschaft dieses „ Schiff der Dichtung “ mitzunehmen, dann könnten diese Gedichte etwas bewirken, verändern und verbessern, dann wären diese Buckower Elegien, dann wäre meine „ dichterische Seefahrt “ selbst Teil dieser „ Reise “ in eine bessere Zukunft. 23 Denn die Seefahrt ist nach alter Überzeugung, nicht zuletzt der des Horaz, nicht nur stets unsicher, ja gefährlich - so ungesichert wie Brechts „ wennnicht “ -Logik des Engagements - , sie soll ja doch wohl etwas transportieren und eben an einem Ziel ankommen. Es ist dann nur konsequent, dass die prägende Argumentationsform der Buckower Elegien die Verbindung von Schwierigen Zeiten, schwieriger historischer Situation „ nach dem Aufstand des 17. Juni “ (rätselhaftem Resultat), dichterischer und gesellschaftlicher (hypothetisch produktiver) Aktivität ( „ machte ich [. . .] ein Segel “ ), eines neuen Denkens, und eben nicht nur vielerlei empirisch-aktueller Erfahrung, sondern vor allem auch antizipierter (möglicher) Zukunft wäre, wozu nicht zuletzt die Erwartung jener „ möglichen Fälle “ gehörte, dass diese Gedichte verstanden und beherzigt werden. Und in diesem Sinne kann der Dichter der Buckower Elegien (ihr implizierter Autor, ihr Gesamtsubjekt, ihr lyrisches Ich) dann in der Tat den an das Motto folgerichtig anschließenden Radwechsel „ mit Ungeduld “ betrachten. 23 „ Wenn kein Wind geht, hat die subjektive Aktion keinen Sinn “ (Jan Knopf, Bertolt Brechts Buckower Elegien, S. 37), das ist richtig, wenn „ Sinn “ als „ Richtung “ verstanden wird. Es scheint mir aber zu kurz gedacht, im „ Wind “ historischer Dynamik „ allgemeine Bedingungen “ zu sehen, „ unter denen [das lyrische Ich] tätig werden könnte “ (ebd.). Dichten und politisch arbeiten wird Brecht immer; das steht, erst recht seit dem Exil, nicht zur Disposition; fraglich ist der Erfolg dieser Arbeit. Treffender scheint mir die Deutung in Jan Knopf (Hrsg.), Brecht- Handbuch. Bd. 2: Die Gedichte: „ Diese Lyrik ist nicht Resultat der ‚ Windstille ‘ , sondern verweist kritisch auf sie “ , wobei es v. a. auf das „ Rezeptionsverhalten “ ankommt, auf das „ der appellative Charakter des Mottos “ abzielt (S. 443). Die Deutung von Klaus-Detlef Müller (Bertolt Brecht. Epoche - Werk - Wirkung. München 2009), dass „ die Intention gesellschaftlicher Nutzanwendung [. . .] appellativ an die Voraussetzung gesellschaftlicher Mobilität “ gebunden sei (S. 190), diese also eine eigens anzufordernde Gegebenheit darstellt, kommt ebenfalls der Logik des Gedichts näher. Zur Kontinuität der Argumentation in Bert Brechts Buckower Elegien 141 <?page no="142"?> Möglichkeitssinn und Erfahrung Bevor wir uns in diesem Sinne der weitest gehend anerkannten Folge, der des Anfangs der Buckower Elegien zuwenden, erlauben Sie einen kurzen Blick auf Gedichte, die induktiv um ein überraschend deutliches Unbehagen, ja Erschrecken gegenüber Erfahrungen und oft geradezu um eine latente Verzweiflung angesichts ihrer möglichen Verallgemeinerung kreisen - und auf den Kontext, in dem sie zu sehen sind. Hierher gehören etwa Der Einarmige im Gehölz (der SS-Mann hebt noch immer den Arm, 298/ 12.312), Vor acht Jahren (es gibt noch viele Unbelehrbare, die der Zeit nachtrauern, als „ alles hier anders “ war, 299/ 12.314), oder, und sehr klar und anschaulich in der induktiv verallgemeinerten Argumentation: Die neue Mundart (wo im Vergleich von „ einst “ und „ jetzt “ die Macht die Sprache verdirbt: „ Dem der Kaderwelsch hört / Vergeht das Essen. / Dem der es spricht / Vergeht das Hören “ , 297/ 12.311). Hier steht am Ende nun in der Tat bereits wieder eine (induktiv) aus Erfahrung gewonnene, doppelte, begriffliche und sentenzhafte, kritisch zugespitzte „ neue Regel “ , die bereits zu einem geschlossenen, bösen kleinen System geworden ist; argumentativ gesprochen: Das wäre eine kleine, aber vollständige induktive Beispielargumentation. Und hierher gehört auch das Gedicht: Der Himmel dieses Sommers Hoch über dem See fliegt ein Bomber Von den Ruderbooten auf schauen Kinder, Frauen, ein Greis. Von weitem Gleichen sie jungen Staren, die Schnäbel aufreißend Der Nahrung entgegen. (299/ 12.313) Der Naturvergleich, überhaupt die Analogie hat hier eine ganz andere Funktion als die Metaphern in Tannen, auf das wir gleich eingehen werden, oder im Motto-Gedicht „ Ginge da ein Wind “ , oder als die staunende, plötzliche Erfahrung: „ etwas Rotes und etwas Schwarzes “ in Schwierige Zeiten (1955; 1179/ 15.294). 24 Dort entwirft die Analogie etwas hypothetisch Neues, hier dagegen bekräftigt sie nur, dies freilich sehr anschaulich, eine fortgedachte und verallgemeinerte Erfahrung, etwas was man leider im Lauf des Zwanzigsten Jahrhunderts gelernt hat: Die Faszination für neue, mächtige Waffen lässt auch ihren Einsatz erwarten und mit ihm eine selbstzerstörerische Zukunft. Argumentiert wird aus Erfahrung (Faszination für Waffen einst und jetzt) und aus der Geschichte als aus einem gewussten Resultat: Krieg, dies ist die „ neue Nahrung “ , der viele immer wieder entgegen sehen; und die ganze Folgerung 24 Vgl. zu einer eingehenderen Interpretation dieses Gedichts oben Kap. 7 „ Vergnügungen “ Dialektik als kreative Alltagslogik. 142 „ Warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld? “ <?page no="143"?> zielt auf eine sich bestätigende Regel: So ist es immer wieder und wird sich immer neu und schlimmer bestätigen. Dieselbe induktive, eine Erfahrung verallgemeinernde Denkfigur ( „ wie in alten Zeiten “ , es bleibt alles beim alten), prägt offensichtlich das Gedicht Heisser Tag. Aber in welchen Zusammenhang des Zyklus gehört dieses Gedicht? Elisabeth Hauptmann stellt es nach Gewohnheiten noch immer. Das entspricht der Schlusserkenntnis, macht aber die sehr genau perspektivisch, ja filmisch aufgebaute Empirie in dem Gedicht zur bloßen Bestätigung von etwas, was man schon weiß, so wie die „ alten Zeiten “ in Gewohnheiten noch immer dann lediglich veranschaulicht würden. Sie stellt es allerdings vor Die Wahrheit einigt, was plausibel aussieht: „ Wenn (wir) nicht “ handeln, wird alles bleiben wie es ist. Aber dann würde sich das „ ihr “ bzw. „ wir “ an die falschen Leute wenden, oder es bliebe beliebig, statt ganz klar an die neuen Machthaber, auf alle Fälle an Gesinnungsgenossen, eben „ Freunde “ gerichtet zu sein. Jan Knopf stellt Heißer Tag ebenfalls gleich hinter Gewohnheiten noch immer, aber vor Die neue Mundart, was das Gewicht der Erfahrung verstärkt und die Kritik an falscher Macht „ noch immer “ und „ wieder neu “ intensiviert. Davor stehen in diesem Sinne Die Musen, dahinter Große Zeit, vertan, was in der Tat der Reflexionskontinuität im Ganzen durchaus entspricht, und auch weitere „ Zwischen-Schritte “ vertrüge. Aber die zweifellos auf Brecht selbst zurückgehende Reihenfolge der Gedichte im Vorabdruck des 13. Heftes der Versuche hatte ganz anders, und für alle, die mit der „ kleinen “ Frankfurter Ausgabe vertraut waren, überraschend ausgesehen. Dort und in den jetzigen „ großen “ Ausgaben folgen auf Gewohnheiten noch immer die drei Gedichte: Rudern, Gespräche Es ist Abend. Vorbei gleiten Zwei Faltboote, darinnen Zwei nackte junge Männer. Neben einander rudernd Sprechen sie. Sprechend Rudern sie nebeneinander. Der Rauch Das kleine Haus unter Bäumen am See Vom Dach steigt Rauch Fehlte er Wie trostlos dann wären Haus, Bäume und See. Heißer Tag Heißer Tag. Auf den Knien die Schreibmappe Sitze ich im Pavillon. Ein grüner Kahn Zur Kontinuität der Argumentation in Bert Brechts Buckower Elegien 143 <?page no="144"?> Kommt durch die Weide in Sicht. Im Heck Eine dicke Nonne, dick gekleidet. Vor ihr Ein ältlicher Mensch im Schwimmanzug, wahrscheinlich ein Priester. An der Ruderbank, aus vollen Kräften rudernd Ein Kind. Wie in alten Zeiten! denke ich Wie in alten Zeiten! (295/ 12.307/ 308) 25 Alle drei Gedichte haben das Lokal: Buckow am Scharmützel-See gemeinsam, dazu hin die Genauigkeit des Sehens, und diese bestätigend die Zeit des Präsens. Offensichtlich sind Rudern, Gespräche und Heißer Tag kontrastierend aufeinander bezogen: „ Nackt “ steht gegen „ dick gekleidet “ und den altmodischen „ Schwimmanzug “ , „ neben einander “ , jeder für sich und zugleich beide zusammen arbeitende und sprechende - man darf folgern: ihre Gedanken austauschende - junge Leute gegen stumm einander teils gegenüber teils abgewandt sitzende, teils passiv nutznießende, teils hart „ an der Ruderbank “ (Hervorhebung von mir), wie an einer Werkbank arbeitende, getrennte Generationen, Leichtigkeit ( „ Faltboote “ , „ gleiten “ ) des Seins in der Nähe zur Natur einerseits, andererseits naturfeindliche Schwerfälligkeit ( „ kommt durch die Weide “ ). Wie ist dieser Kontrast zu durchdenken? Wie wird argumentiert? Vor allem: Worauf fällt der erste Blick, was sollen wir zuerst lesen? Geht es beide Male um Erfahrungen: Es gibt noch viel Ungleichheit, ja Ausbeutung „ wie in alten Zeiten “ , es gibt aber auch Situationen „ junger “ , glücklicher Harmonie von Arbeit, Natur und Kommunikation? Da Erfahrungen sich auf Vergangenes berufen, auch die Gegenwart wie eine verwertbare Vergangenheit behandeln, wechseln die beiden Gedichte wie von selbst die Plätze. So stehen sie, und dann auch weiter auseinander, in den Zyklen von Elisabeth Hauptmann und Jan Knopf. Interessant ist, dass Knopf das Schlüsselgedicht Die Wahrheit einigt vor Rudern, Gespräche, Hauptmann vor Der Rauch stellt. Beide Anordnungen scheinen mir überzeugend. Denn sowohl Rudern, Gespräche als auch Der Rauch haben die Qualität eines neuen Denkens und Sehens, das eine lähmende „ trostlose “ Kontinuität bzw. Situation aufbricht - wie auf andere Weise auch Der Radwechsel und Tannen. Solche Gedichte, das wäre mein Vorschlag, könnten Gruppierungen innerhalb der Buckower Elegien markieren: Rudern, Gespräche, Der Rauch und Heißer Tag also die überwiegend „ induktive “ , zweite Gruppe der Sammlung einleiten. Denn auf alle Fälle hat Der Rauch etwas Prinzipielles gerade darin, dass die Vorstellung vor und hinter die Erfahrung zurückgeht. Der „ vom Dach (steigende) Rauch “ als ( „ indexikalisches “ , einen realen Konnex anzeigendes) 25 Für die dritte Zeile von Rudern, Gespräche folge ich dem Hinweis von Jan Knopf (Bertolt Brechts Buckower Elegien, S. 23, 88/ 89 und 124) „ Neben einander “ zu lesen. 144 „ Warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld? “ <?page no="145"?> Zeichen 26 gewinnt seine Bedeutung (ein Index ist ein „ Aufmerksamkeitsvektor “ ) unter der Voraussetzung - man denke an das für Brecht so wichtige „ wenn nicht “ - , dass alles auch anders sein könnte. So erhält er die Qualität eines Neuanfangs. Wenn er hinweisender Teil von Leben, Wohnenkönnen, Zuhausesein im weitesten Sinn ist, dann eben in dem Sinn, dass all dies nicht einfach aus der Kontinuität der Vergangenheit folgt - eine vergleichbare Zeitdynamik prägt auch Der Radwechsel und, wie wir gleich sehen werden, Der Blumengarten. Die verfremdende Distanz des Irrealis ( „ fehlte er “ ) gibt ihm etwas Überraschendes. Das Lebens-Zeichen „ der Rauch “ wird zum Zeichen einer prinzipiell immer nur möglichen, sozusagen immer wieder bezweifelten und immer neu einsetzenden Zukunft. Dieser „ Rauch “ ist der mögliche Fall einer nur hypothetisch-problematisch, also stets als unsicher erwarteten lebendigen, aktiven ( „ wäre da ein Wind “ - so beginnen die Buckower Elegien) besseren Zeit und Gesellschaft. Das wird vielleicht klarer, wenn man eine bereits 1936, also im Exil entstandene Vorstufe dieses Gedichts hinzuzieht: Heimkehr des Odysseus Dies ist das Dach. Die erste Sorge weicht. Denn aus dem Haus steigt Rauch, es ist bewohnt. Sie dachten auf dem Schiffe schon: vielleicht Ist unverändert hier nur mehr der Mond. (850/ 14.339) Wird auch in Der Rauch das „ kleine Haus [. . .] am See / Vom Dach steigt Rauch “ vom Wasser aus gesehen? Dann ergäbe sich eine interessante, quasi-filmische Gegenperspektive zu Rudern, Gespräche und Heißer Tag, wo sehr ausdrücklich vom Ufer auf den See geschaut wird. Und der Hintergrund des Motivs der Seefahrt als Lebens- und Dichtungsreise, im Motto-Gedicht angesprochen und überhaupt für Brecht sehr bedeutsam, 27 gäbe dem Gedicht zusätzliches Gewicht. Entscheidend ist auf alle Fälle der distanzierte Blick von jemand, der das Haus und dessen Situation wieder sieht und nichts sicher erwartet. Auch bei Homer kehrt ja Odysseus nicht einfach heim, muss sich zuerst verstecken, und er findet alles andere vor als eine Fortsetzung seines früheren Lebens. Und eine solche fühlende, sehende, erfahrende und reflektierende Distanz zur Zeit und Umwelt, ein Fortleben des Exil-Bewusstseins, prägt die ganze Sammlung der Buckower Gedichte, prägt insbesondere den Titel Elegien, weshalb Helmut Koopmann zu Recht von einem „ Alterswerk des Exils “ 26 Vgl. zu solchen Überlegungen und Begriffen oben Kap. 3 „ Sieh den Balken dort! “ Zur Sinnlichkeit der Chiffren in Bert Brechts Lyrik. 27 Vgl. auch oben Kap 2 „ Warum soll mein Name genannt werden? “ Ein lyrisch-politisches Programm im Exil, sowie Kap. 3. Zur Kontinuität der Argumentation in Bert Brechts Buckower Elegien 145 <?page no="146"?> spricht: Brecht sieht die „ Welt aus der Distanz des immer noch und ein für alle Mal Exilierten “ . 28 Das lyrische Ich der Buckower Elegien, gerade auch in den glücklichen Augenblicken, behandelt die Realität als eine vorübergehende, ungewisse, in die es immer wieder auch nur vorübergehend und oft überrascht zurückzukehren scheint. Umso unbedingter, da nicht von Fakten und Zuständen herzuleiten, ist das „ wenn nicht “ seines Möglichkeits- und Hoffnungssinns und seines Engagements: Wenn wir die Zeichen des Lebens ( „ vom Dach steigt Rauch “ ) sicher erwarten, werden wir sie ebenso verfehlen, wie wenn wir die Hoffnung darauf aufgegeben haben, dann „ fehlten “ sie, und „ wie trostlos “ wäre dann unsere Realität. Und umgekehrt: Nur wer zu hoffen wagt, kann den „ utopischen Charakter “ in Rudern, Gespräche, „ die Utopie einer ‚ richtigen ‘ Welt “ , 29 „ Utopie der neuen Zeit “ , 30 auch wenn diese nur einen Moment lang sich zeigt, kann auf alle Fälle ein „ glückliches Voranschreiten, Fortschritt “ 31 in diesem Gedicht verstehen. Wie der Irrealis in Der Rauch kehrt auch der Kontrast zwischen Rudern, Gespräche und Heißer Tag nun, und das scheint mir wichtig, sowohl die Zeitdimension als auch die Argumentationsprämissen um. Eigentlich könnte man an Rudern, Gespräche die Zeile anhängen: „ Wie in der neuen Zeit, denke ich “ , aber das wäre nicht nur unsäglich platt, es wäre auch geradezu falsch. Jede Verallgemeinerung wäre unter der Voraussetzung des bloßen Möglichkeitssinns voreilig und ungerechtfertigt und wird vermieden. Nur wer die Hypothese, und eben nur als bloße Hypothese im Kopf hat: Arbeit, selbstbestimmtes Denken, freies, solidarisches Zusammenleben und Natur - „ Sprechend rudern sie [leicht, gleitend] nebeneinander “ - diese klassischen Momente einer sozialistischen Gesellschaft könnten harmonisch zusammengehen, nur wer die Utopie zu denken wagt, wird ihre punktuelle unscheinbare Realisierung, nur ein „ möglicher Fall “ , in dieser im Gedicht entworfenen Situation erkennen. Aus dieser von Zweifel, aber auch von Möglichkeitssinn geprägten Distanz heraus - das Exil hatte bekanntlich beides intensiviert - , aus der Bereitschaft heraus, die Realität unter der Hypothese ihres möglichen Andersseins zu betrachten, werden solche Konstellationen wie in Heißer Tag, Vor acht Jahren oder Die neue Mundart nur um so kritischer begriffen werden können. Kurz, es spricht viel dafür, die von Brecht in den Versuchen aufgestellte 28 Helmut Koopmann, Brechts „ Buckower Elegien “ - ein Alterswerk des Exils? In: Hans-Jörg Knobloch/ Helmut Koopmann (Hrsg.), Hundert Jahre Brecht - Brechts Jahrhundert? Tübingen 1998, S. 113 - 134, S. 129. 29 Günter Häntzschel, Einfach kompliziert. Zu Brechts Lyrik. In: ebd., S. 65 - 82, S. 77 30 Klaus-Detlef Müller, Bertolt Brecht. Epoche - Werk Wirkung, S. 195; dass daraus aber die „ nachgeordnete Stellung im Zyklus “ gegenüber Heißer Tag „ plausibel “ sei (ebd.), kann ich nicht sehen. Würde so, also der kritischen Bestandsaufnahme nachgeordnet, die Utopie nicht doch wieder zur Flucht? 31 Jan Knopf, Bertolt Brechts Buckower Elegien, S. 90, vgl. S. 88 ff. 146 „ Warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld? “ <?page no="147"?> Reihenfolge der drei Gedichte zu erhalten und mit ihnen den zweiten Abschnitt, sofern der erste mit Die Wahrheit einigt abschließt, zu eröffnen: Auf das klare „ wenn nicht “ folgt ein zumindest punktuelles, hoffnungsvolles „ wenn - so wie hier und jetzt “ . Die Kontinuität der Argumentation, eine Dialektik der Apagoge bzw. Abduktion, geht über in eine neue Möglichkeit des Sehens, die ihrerseits wieder die Zeitkritik intensiviert. Thema und Modell der Buckower Elegien Die Ordnung der Anfangsgedichte der Sammlung ist nicht nur die am besten anerkannte, sie gibt auch das Thema vor: Die Buckower „ bucolischen “ Idyllen einerseits, die „ böse “ Zeit vor und nach dem 17. Juni andererseits, zwischen beiden, und beide unlösbar aufeinander beziehend, eine „ elegische “ Distanz. All dies steht unter einem Vorzeichen subjektiven Veränderungswillens, einer Prämisse des „ nur wenn “ , wie sie das meta-poetische, die Situation der Dichtung besprechende Motto aufnimmt. Und auf dieses folgt das nicht weniger programmatische „ meta-dialektische “ , ein Prinzip des Denkens und Argumentierens vorstellende Gedicht: Der Radwechsel Ich sitze am Straßenhang Der Fahrer wechselt das Rad. Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre. Warum sehe ich den Radwechsel Mit Ungeduld? (296/ 12.310) Wer das Gedicht gelesen hat, vergisst es nicht so leicht. Man denkt immer wieder darüber nach. Es thematisiert nicht nur etwas fundamental, ja existential Menschliches: ein Bewusstsein von Zeitlichkeit, in dem die Gegenwart nur im Übergang von Erinnerung und Erwartung, Vergangenheit und Zukunft erfahrbar ist, unterstrichen durch die räumliche, wörtlich „ chronotopische “ 32 ( „ Straßenhang “ , nicht „ Straßenrand “ ), also auch mittelbar zeitliche Distanz. Wer am „ Straßenhang “ sitzt, befindet sich gewissermaßen, und etwas pathetisch gesprochen, im Exil von der Straße, fast schon gestrandet oder vertrieben; er hat auf alle Fälle mit der Geschäftigkeit auf der Straße direkt nichts zu tun. 32 Ein räumliches Modell als eines von Zeit, „ der grundlegende wechselseitige Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfassten Zeit- und Raum-Beziehungen “ , Michail Bachtin, Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Dt. von Michael Dewey, hrsg. von Edward Kowalski und Michael Wegner, Frankfurt 1989, S. 7. Zur Kontinuität der Argumentation in Bert Brechts Buckower Elegien 147 <?page no="148"?> Wie in einem barocken Emblem-Gedicht 33 geht sein „ Sehen “ in betrachtendes Nachdenken über. So folgt, und ebenso fast wie in einem barocken Emblem, auf die anschauliche pictura, also auf das „ Bild “ erlebter Gegenwart, ab der dritten Zeile eine Art subscriptio, ein Kommentar in verallgemeinerndem, reflektierendem und eben argumentierendem Präsens. 34 Die klaren Satz- und Verstrennungen markieren diese bewusste Dialektik. Erst das Schlussenjambement schafft die Dynamik, die als „ Ungeduld “ wieder in die erfahrene Zeit zurückführt. Aber dieses Resultat der Zeiterfahrung ist ein Rätsel. Dass die Buckower Elegien so deutlich mit einem „ rätselhaften Resultat “ beginnen, beeinflusste wesentlich Titel und These dieses Vortrags. Denn nicht nur, und das völlig klar, sind zwei argumentative Antworten auf dieses Rätsel eben von Anfang an ausgeschlossen. „ Ich bin nicht gern, wo ich herkomme “ : Bisherige Erfahrungen, man kann sie weiter, also historisch, oder enger, also biographisch fassen, beides wird in Brechts Lyrik regelmäßig angesprochen, die „ Resultate “ aus der Vergangenheit reichen nicht aus, um das Rätsel dieser Zeiterfahrung induktiv, also qua Verallgemeinerung bisheriger Erfahrungen zu beantworten. Aber auch der umgekehrte (deduktive) Schluss aus bekannten Gesetzmäßigkeiten und der gegenwärtigen Situation auf eine erwartbare Zukunft soll ausgeschlossen sein: „ Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre. “ Das dialektische Rätsel verlangt eine neue Art des Denkens. Man sieht sofort auch die Kontinuität der Argumentation. Und sie vertieft zunächst das Rätsel. Die durch den Radwechsel unterbrochene Fahrt führt, bedenkt man den Titel der Sammlung, ja entweder nach Buckow oder von dort weg. Ist das nicht rätselhaft? Und wenn beides mit „ nicht gern “ -Befindlichkeiten verbunden ist, was gilt dann für das idyllisch- „ bukolische “ Gedicht, das ganz eindeutig auf Der Radwechsel folgt? Muss man diese Kontinuität der Gegensätze nicht unbedingt sehr ernst nehmen? Und kann dann Der Blumengarten überhaupt etwas anderes bedeuten als ein hypothetisches Modell für eine Welt, die er nicht bereits und einfach selbst enthält? 33 Zu denken wäre etwa an Andreas Gryphius ’ Einsamkeits-Sonett (1636), das klar nach Begriff (inscriptio), Bild (pictura) und Reflexion (subscriptio) aufgebaut ist und wie Der Radwechsel Sehen ( „ beschau ich “ ), und Nachdenken ( „ betracht ich “ , „ unzählige Gedanken “ ) verbindet (vgl. z. B. Ulrich Maché/ Volker Meid [Hrsg.], Gedichte des Barock. Stuttgart 1980, S. 120); auch das „ Sitzen “ und Grübeln „ am Straßenhang “ hat ja durchaus etwas von zumindest vorübergehender „ Einsamkeit “ ; selbst der „ schreckliche Ort “ (locus horribilis) der „ mehr denn öden Wüsten “ , den Gryphius beschreibt, ließe sich zu „ Buckow “ , wo des „ lyrische Ich “ ja gerade „ nicht gern “ wäre, erst recht natürlich zur Idylle in Der Blumengarten in einen sprechenden Gegensatz bringen. 34 Vgl. zu diesen Begriffen z. B. Siegfried Peuckert (Hrsg.), Emblem und Emblematikrezeption. Darmstadt 1978. 148 „ Warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld? “ <?page no="149"?> Der Blumengarten Am See, tief zwischen Tann und Silberpappel Beschirmt von Mauer und Gesträuch ein Garten. So weise angelegt mit monatlichen Blumen Daß er vom März bis zum Oktober blüht. Hier in der Früh, nicht allzu häufig, sitz ich Und wünsche mir, auch ich mög allezeit In den verschiedenen Wettern, guten, schlechten Dies oder jenes Angenehme zeigen. (294/ 12.307) Es herrscht, verglichen mit Der Radwechsel, eine ganz andere, immer wiederkehrende, im Rhythmus der Natur harmonische Zeit. Allerdings ist diese Zeitinsel konsequent ausgegrenzt ( „ vom März bis zum Oktober “ ) aus dem Gesamt-Zyklus der Jahreszeiten; und ebenso ( „ chronotopisch “ ) distanziert, ja „ tief “ verborgen und „ beschirmt “ ist sie angesiedelt gegenüber den Zeitläuften historischer und gesellschaftlicher Entwicklungen. Das Stichwort „ Nach dem 17. Juni “ , mit dem das folgende Gedicht Die Lösung beginnt, noch mehr die ganze Verkehrung der Idylle in ihr Gegenteil in Böser Morgen müssen immer schon mitgelesen werden. Es handelt sich - auf die Verbindung „ Buckow “ - Bucolica (des Vergil) wurde oft hingewiesen - um eine bewusst räumlich, zeitlich und lebenspraktisch ausgegrenzte Idylle. Welche Relevanz hat dann die eigene Gesetzlichkeit, der spezifische harmonische Zeit- und Lebensrhythmus, die in ihr herrschen? Denn die „ Blumen [. . .] blühen “ nach einem „ weise “ vorhergesehenen System; und auch das „ Ich “ , das hier „ nicht allzu häufig “ , aber doch regelmäßig zuhause ist, folgt einer eigenen Zeitordnung. Andererseits freilich ist auch der Rückbezug auf die Welt „ draußen “ , liest man weiter und liest man mehrmals, ebenso klar hergestellt, wie schon die Aktivität „ im Garten “ als Praxis entworfen ist, als Tätigkeit. Diese Tätigkeit sucht die Verallgemeinerung der Idylle und die Verbesserung der Welt, wie bescheiden ( „ dies oder jenes “ ) immer das angesetzt ist: „ Zeigen “ will der Dichter das „ Angenehme “ , sprich weiter: das Erfreuliche und das Nützliche (Horaz lässt wieder einmal grüßen) 35 seiner Leistung durchaus anderen und vielen. Aber zugleich steht diese Hilfe zum schöneren Leben im Modus des 35 Brecht spielt auf die berühmte Epistula ad Pisones, bzw. Ars Poetica des Horaz auf raffiniert verzögernde, zum eigenen Denken anregende Weise an. Denn Horaz sagt ja zunächst: „ aut prodesse volunt aut delectare poetae / aut simul et jucunda et idonea dicere vitae “ (entweder nützen oder erfreuen wollen die Dichter, oder auch zugleich vom Fröhlichen und Angemessenen des Lebens reden, Vers 333 f.), und trennt auch im Folgenden durchaus die „ Stilhöhen “ ; erst am Ende des Abschnitts zieht er den Schluss: „ omne tulit punctum, qui miscuit utile dulci / lectorem delectando pariterque monende “ (allen Beifall erhält der, der das Nützliche mit dem Angenehmen verbindet, den Leser erfreuend und zugleich ermahnend, Vers 342 f., Horaz, Sämtliche Werke, S. 250). Zur Kontinuität der Argumentation in Bert Brechts Buckower Elegien 149 <?page no="150"?> „ Wünschens “ . Belegt ist lediglich eine ganz subjektive Absicht ( „ ich mög “ ), die sich an eine unberechenbare Zukunft ( „ gute, schlechte “ Zeiten) wendet und sich in ihrem formalen Wahrheitswert auf eine bloße Analogie beruft: „ Auch ich “ möchte wie dieser Gärtner und sein Garten die Welt etwas schöner machen. Der Inhalt dieses Weltentwurfs, der vom kleinen Modell aus zweifellos Wirklichkeit einfordert, ist ein sehr gewichtiger: ein tätig harmonisches Zusammenleben von Mensch und Natur und - so muss man im Vorgriff auf die ganze Sammlung, insbesondere auf Rudern, Gespräche, ergänzen - von Mensch und Mensch. Man sieht wie die poetische Perspektive sich von Anfang an zwischen Idylle (Der Blumengarten) und Elegie bewegt: Die fehlende historische Dynamik etwa im Motto-Gedicht, und noch deutlicher die fehlende geistige Lebendigkeit, die die folgenden zeitkritischen Gedichte beklagen, sind Ausdruck dieser „ elegischen “ Distanz zur eigenen Zeit. Darin eingebettet finden sich immer wieder Satiren in vielen Formen. Aber von mindestens ebenso zentraler Bedeutung ist die utopische Perspektive. Anders gesagt, eine sozialistische Utopie zwangfreier Harmonie von Natur, menschlicher Arbeit ( „ weise angelegt “ ) und gesellschaftlichem Zusammenleben ( „ Angenehmes “ - mit Horaz: auch „ Nützliches [. . .] zeigen “ ) bildet in den Buckower Elegien jene „ hypothetische Regel “ , von der aus die „ rätselhaften Ergebnisse “ sowohl der historischen Krise „ nach dem Aufstand des 17. Juni “ als auch persönlicher Desorientierung ( „ warum betrachte ich den Radwechsel mit Ungeduld “ , „ Unwissende! schrie ich / Schuldbewußt “ etc.) aufgefasst werden sollen. Im Sinne eines Apagoge- Enthymems schließen sollen wir Leser auf die möglichen Fälle eines zukünftigen richtigeren Verhaltens. Und es ist die Hoffnung auf eine solche unberechenbare, aber bessere, gleichwohl nur rein mögliche Zukunft, die positiv der „ Ungeduld “ , einer Ungeduld des Denkens neuer Hypothesen in Der Radwechsel entspräche. Die Folge der ersten fünf Gedichte: Motto, Der Radwechsel, Der Blumengarten, Die Lösung, Böser Morgen, ist die wohl stabilste des ganzen Zyklus. Ihre Argumentationskontinuität gibt gewissermaßen die Grammatik vor, nach der die Buckower Elegien gelesen werden sollen: Die Meta-Poetik des „ Nur- Wenn “ -Engagements im Motto, die Meta-Dialektik, dass nur ein neues Denken die „ Ungeduld “ in der Zeitkrise beantworten kann in Der Radwechsel. Wenn diese Einsicht vorhergeht und der Bezug auf den 17. Juni (Die Lösung), noch klarer die negative Spiegelung in Böser Morgen ernst genommen werden, eine Umkehr der Motivik, die rückwirkend deren direkte (kategorische), einfach setzende Verallgemeinerung ausschließt, dann wird die erfüllte Zeit in Der Blumengarten zur Hypothese bzw. zur Utopie, die zugleich eine Reflexionsprämisse für alles weitere darstellt: Nur wenn wir uns solch ein Ziel vorzustellen die Kraft haben, werden wir die falschen „ Lösungen “ , die „ bösen Morgen “ der Selbstzweifel, die unguten „ Gewohnheiten, noch immer “ , das Weiterleben der „ alten Zeiten “ und so fort bewältigen können. 150 „ Warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld? “ <?page no="151"?> Auf alle Fälle sollte die Folge der ersten fünf Gedichte immer zusammen gelesen werden. Das wird innerhalb dieser Kontinuität der Argumentation noch einmal besonders klar in der reflektierenden, ganz wörtlich hin und her, vor und zurück spiegelnden Vernetzung von Die Lösung, Böser Morgen und von da zurück zu Der Blumengarten: Die Lösung Nach dem Aufstand des 17. Juni Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands In der Stalinallee Flugblätter verteilen Auf denen zu lesen war, dass das Volk Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe Und es nur durch verdoppelte Arbeit Zurückerobern könne. Wäre es da Nicht doch einfacher, die Regierung Löste das Volk auf und Wählte ein anderes? Böser Morgen Die Silberpappel, eine ortsbekannte Schönheit Heute eine alte Vettel. Der See Eine Lache Abwaschwasser, nicht rühren! Die Fuchsien unter dem Löwenmaul billig und eitel. Warum? Heut nacht im Traum sah ich Finger, auf mich deutend Wie auf einen Aussätzigen. Sie waren zerarbeitet und Sie waren gebrochen. Unwissende! schrie ich Schuldbewußt. (292 - 297/ 12.307 - 311) Der „ Aufstand des 17. Juni! “ ist nicht das Thema der Buckower Elegien, aber ein entscheidender Anlass für diese Dichtung; die „ Buckower “ Idylle des Blumengarten wird damit nicht ungültig, sondern muss explizit neu gesehen und durchdacht werden. Vor allem wird spätestens mit Die Lösung und Böser Morgen der ganze Zeitbezug auf jene Reflexionsebene gehoben, auf der sich Der Radwechsel, das meta-dialektische Pendant zum meta-poetischen Motto von Anfang an befindet. Anders gesagt: Es geht nicht eigentlich um eine Auseinandersetzung mit den Ereignissen des 17. Juni, auch nicht um eine Rechtfertigung oder Verurteilung weder des Aufstandes noch seiner Niederschlagung. Es geht um eine exemplarische, experimentelle und subjektive Auseinandersetzung mit einem Denken und Urteilen und Entscheiden, das zu dieser Krise geführt hat, und dann um eines, das auf sie antworten könnte. Bei aller situativen Anschaulichkeit ( „ Fuchsien “ und „ Löwenmaul “ beispiels- Zur Kontinuität der Argumentation in Bert Brechts Buckower Elegien 151 <?page no="152"?> weise blühen im Sommer) sind die Buckower Elegien letzten Endes „ kopflastige “ Gedichte. Da er dieses Denken und ein ihm folgendes politisches und gesellschaftliches Verhalten grundsätzlich und auf lange Sicht für veränderbar und verbesserbar hielt, blieb Brecht bei aller kritischen Distanz und ohne dass er „ produktiv und konstruktiv in die politischen und gesellschaftsbezogenen Debatten der DDR eingegriffen hätte “ , 36 letztlich doch solidarisch ( „ stand und stehe ich an ihrer Seite “ ) 37 mit der damaligen SED-Führung. Wie skeptisch immer, zur Veränderung falschen Denkens, wenn auch auf lange, fast utopische Sicht, will er mit den Buckower Elegien, die er ja größtenteils gar nicht veröffentlichen konnte, beitragen. Sie enthalten Erfahrungen, Vorstellungen, Bilder, Lektüren, Erinnerungen, Träume - , aber immer zielen sie auf Reflexion, Argumentation und deren Kontinuität. So ist es sicher die Kritik und Selbstkritik überholten Denkens, die Die Lösung und Böser Morgen verbindet. Die absurde „ Lösung “ , das falsche Resultat des ironischen Gedankenspiels, die satirische complexio, also Schlussfolgerung: „ Die Regierung löst(e) das Volk auf und / Wählt(e) ein anderes “ , geht über in das „ Schuldbewußt(sein) “ von jemand, der bis dahin die Hierarchie von sicherem polit-historischem Wissen und dem entgegenstehendem „ Unwissen “ für sich beansprucht, ja sie bequem, ohne „ zerarbeitet[e . . .] Finger “ , genutzt hatte. Dann erfährt einerseits diese konsequente, desillusionierende deductio - das klassische Enthymem aus Regel, Fall und Resultat, dem Brecht so misstraut - ihre nicht weniger folgerichtige argumentative amplificatio, wenn analog aufgebaute Gedichte wie Die Musen (so Knopf) und/ oder Gewohnheiten noch immer (so Hauptmann) folgen, sowie Die neue Mundart und/ oder Große Zeit vertan - beide wegen ihres sentenzhaften Schlusses bei Knopf zu Recht am Ende dieser ersten Folge stehend. Alle diese Gedichte nehmen nicht nur das Thema von Die Lösung und Böser Morgen auf und führen dieses Thema weiter aus: „ Der 17. Juni hat die ganze Existenz verfremdet “ (so das Arbeitsjournal vom 20. 8. 1957; 27.346), und zwar die allgemeine wie die persönliche Existenz. So dass immer auch Selbstkritik mitgemeint ist bei den extrovertierten kritischen Gedichten wie Die Musen oder Große Zeit vertan. Immer wird auch die Form des Denkens, die verfehlte Dialektik eines faul und bequem gewordenen, offiziellen Marxismus desavouiert, die den 17. Juni erst vorbereitet hat und dann nicht verstehen will. Folgt man so der Kontinuität der Argumentation, dann könnte das „ metadialektische “ , die logischen Voraussetzungen dieses engagierten Denkens und Dichtens formulierende, sowohl persönlich gehaltene wie allgemeinverbindlich gemeinte Gedicht Die Wahrheit einigt an das Ende dieser ersten Gruppe, des ersten „ Satzes “ der Gesamt-Komposition gehören. So wäre auch der 36 Helmut Koopmann, Brechts „ Buckower Elegien “ , S. 129. 37 So in einem Brief an Peter Suhrkamp vom 1. 7. 1953 (30.183 f.). 152 „ Warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld? “ <?page no="153"?> Rhythmus des Wechsels von Der Radwechsel zu Der Blumengarten wieder aufzunehmen, wenn die meines Erachtens zusammengehörige Gruppe aus den Versuchen: Rudern, Gespräche, Der Rauch und Heißer Tag den „ zweiten Satz “ des durchkomponierten Zyklus einleiten. Zugleich wäre die Kontinuität der Reflexion über diese Zäsur hinweg erhalten: So wie am Anfang der ganzen Sammlung - Der Radwechsel und Die Wahrheit einigt verhielten sich wie Frage und (in dieser bereits implizierte, später explizit vorgeschlagene) Antwort - entspräche der geforderten Kreativität neuen Denkens eine sich aktuell befreiende kreative, utopiefähige Wahrnehmung und Phantasie (erwünscht in Der Blumengarten, gegenwärtig erfahren, aber ganz punktuell, in Rudern, Gespräche und Der Rauch). Auf alle Fälle ändert sich mit und nach Der Rauch das Argument: Es führt im Folgenden induktiv vom Besonderen zum Allgemeinen, wobei das Mögliche (kontrastiv: Rudern, Gespräche gegen Der Rauch, anschauliche Hoffnung gegen hier noch lediglich vorstellbare, dann aber, in den späteren Gedichten erfahrene „ Trostlosigkeit “ ) der von jetzt an (eben induktiv) verallgemeinerten Erfahrung vorherginge. Auf alle Fälle erweitert sich nach und nach der zeitlichhistorische Horizont, in den diese Erfahrungen gestellt werden. Der alte, noch immer lebendige Faschismus (Brecht hielt ihn für einen noch lange nicht überwundenen Parasiten des Volksaufstandes vom 17. Juni) bildete dann in Gedichten wie Vor acht Jahren und Der Einarmige im Gehölz die amplificatio, die Verstärkung und Verallgemeinerung zu Heißer Tag; und folgt man dieser Argumentation, dann würde auch Der Himmel dieses Sommers (alte Faszination für Kriegswaffen, immer neu, immer gefährlich) und Lebensmittel zum Zweck hierher gehören: Das alte Thema (Faschisten kaufen sich die Massen) ist leider immer wieder neu erfahrbar. Die Folge von empirisch gegebener Situation (Fall und Resultat) zu allgemeiner Regel, hier in die Form von Tierfabeln gekleidet (Stare hungern nach Vernichtung, zum Metzger drängt sich das Kalb) ist so induktiv durchgeführt, wie sie fast schon verzweifelte Perspektiven eröffnet. Das Unabgeschlossene - „ Ich bin ’ s zufrieden “ Wäre der weiteste zeitliche Horizont (von Bei der Lektüre eines spätgriechischen Dichters bzw. „ den Troern “ zu Bei der Lektüre des Horaz, also „ der Sintflut “ ), 38 38 Dass Horaz „ die Sintflut “ nicht thematisiert, gab Anlass zu verschiedenen Kommentaren. (Jan Knopf, Bertolt Brechts Buckower Elegien, S. 114 ff.; v. a. Marion Lausberg, Brechts Lyrik und die Antike, S. 193 ff., Jan Knopf, Brecht-Handbuch [2001], S. 450 ff.). Wenn die „ Sintflut “ als Metapher für historische Katastrophen zu lesen ist, die durchaus auch den „ Stalinismus “ einschließen können (Jan Knopf, ebd., S. 451), ließe sich dann nicht das Stichwort „ Dauer “ , in Verbindung bringen zur berühmten, von Brecht oft bezweifelten Ode des Horaz III.30 ( „ Exegi monumentum aere perennius “ , Ein Denkmal habe ich errichtet, dauerhafter als Erz, Horaz, Zur Kontinuität der Argumentation in Bert Brechts Buckower Elegien 153 <?page no="154"?> wäre diese Distanzierung eine Konsequenz aus der historisierenden, eben die Gegenwart historisierenden, „ zweiten “ Gruppe von Gedichten? Passte dazu der melancholische, resignierende Ton und der Rückzug in die Bibliothek, ein Rückzug, der immer noch die (Lese-)Erfahrung, aber nur noch diese sucht? Und vor allem, was folgte dann im Sinne einer Kontinuität der Reflexion und eines Neuansatzes, wie ihn die Buckower Elegien von Anfang an fordern? Was lehrt der oben angesprochene Zusammenhang von Bei der Lektüre des Horaz und Dauerten wir unendlich: Einige wenige haben überdauert, etwas können wir verändern, auch meine Gedichte könnten überleben und wirksam bleiben? Man muss sich wohl damit abfinden, das ist auch die einzige Rechtfertigung der Unordnung in den „ großen “ Ausgaben, dass die Buckower Elegien ein unabgeschlossenes Fragment geblieben sind: Weder ihre Reihenfolge noch ihren Umfang können wir irgendwie endgültig wissen. 39 Wäre es da nicht am plausibelsten, und dafür sprechen auch alle bisherigen Überlegungen zur Kontinuität der Argumentation, dass die Sammlung mit dem Aufzeichnen „ möglicher Fälle “ , mit singularen Perspektiven, mit dem Entwurf einer offenen und diskohärenten Situation abschließt, eben dem Schluss einer Apagoge bzw. Abduktion, so dass erhoffte wie zu fürchtende Einzelbefunde, Erwartungen, Beobachtungen und Gedanken nebeneinander stünden? Das Gedicht Tannen verbindet punktuell verdichtete Zeiterfahrung und Bewusstsein, ja Praxis subjektiver Kreativität. Tannen In der Frühe Sind die Tannen kupfern So sah ich sie Vor einem halben Jahrhundert Vor zwei Weltkriegen Mit jungen Augen. (298/ 12.313) Der weite zeitliche Horizont nimmt die Perspektive der (induktiven) Gruppe von Gedichten gegen den alten/ neuen Faschismus wieder auf, ebenso die Melancholie von Beim Lesen des Horaz. Aber ganz im Sinne von Dauerten wir unendlich folgt jetzt ein: „ Ich bin noch da “ , ich sehe und erinnere mich, Sämtliche Werke, S. 176, vgl. auch oben Kap. 2 „ Warum soll mein Name genannt werden? “ Ein lyrisch-politisches Programm im Exil.)? Das wäre dann ein weiterer Hinweis auf die „ metapoetische “ Kontinuität der Reflexion in den Buckower Elegien: Es geht Brecht um die „ Dauer “ dieser seiner Dichtung, die von seiner und Gesinnungsgenossen politischer Arbeit nicht zu trennen ist. Und zur biblischen „ Sintflut “ gehört eben das Hoffnungsbild des „ Regenbogens “ . 39 Jan Knopf (Bert Brecht. Stuttgart 2000) sieht geradezu „ Brechts resignative Haltung “ als Grund dafür, dass er nie „ eine gültige Sammlung [der Buckower Elegien] zusammenstellte “ (S. 248). 154 „ Warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld? “ <?page no="155"?> empfinde, denke und dichte. Auch die „ metapoetische Sorge “ , wenn ich so sagen darf, aus Beim Lesen des Horaz würde so wieder aufgenommen und, wie punktuell und momentan immer, beantwortet. Denn Tannen ist ein fast schon meta-poetisches Gedicht über die Entstehung einer Metapher. Die Tannen „ sind [. . .] kupfern “ (Hervorhebung von mir), und nicht: „ Sie sehen irgendwie so aus als ob. . . “ . Das Gedicht meldet noch dichter und entschiedener als das spätere Schwierige Zeiten, mit dem es in vielem vergleichbar ist, 40 den Möglichkeitssinn freier Ästhetik an. Es sagt zum vorhergehenden Beim Lesen des Horaz: Wichtiger noch als die ungewisse und bedrohte „ Dauer “ von Dichtung und Kreativität ist es, dass sie leben, jetzt, in diesem Augenblick. Vergangenheit als leidvolle Historie ( „ zwei Weltkriege “ und wie viele noch? ) wird als solche bewusst gemacht und verwandelt sich zugleich einen Augenblick lang in intensive, eine kreative kindliche Vergangenheit ( „ mit jungen Augen “ ) intensiv erinnernde Gegenwart. Dieser Augenblick ist zwar nicht Ewigkeit, aber er eröffnet mögliche Zukunft - qua metaphorischer Kreativität: „ in der Frühe “ , und in beidem auch im subjektiven Selbstbewusstsein des erlebenden und dichtenden Ich. Und natürlich knüpft dieses Gedicht wörtlich und anschaulich in den Motiven an Der Blumengarten an. Dies ist dann einer der erfreulichen „ möglichen Fälle “ , die der Dichter sich am Anfang der Sammlung gewünscht hatte. Bei der Lektüre eines sowjetischen Buches wäre eine allgemeinere, historisch immerhin mögliche Konstellation, Die Kelle eine dazu kontrastierend-spannungsreiche, persönliche Entsprechung. Man könnte auch Der Himmel dieses Sommers (so Jan Knopf) oder Bei der Lektüre eines spätgriechischen Dichters (so Elisabeth Hauptmann) weit an das Ende der Sammlung stellen. Beide Gedichte können sowohl im Hinblick auf ihr allgemeines Gesetz als auch auf dessen (schlimmstenfalls) erwartbare oder (bestenfalls) doch nur mögliche Folgen gelesen werden. Auf alle Fälle prägt so gesehen diese letzte Gruppe von Gedichten eben das offene Nebeneinander, auch etwas Unabgeschlossenes und Punktuelles, nicht mehr wie am Anfang die Kontinuität der Argumentationsschritte. Wenn man weitere Späte Gedichte in die Buckower Elegien aufnehmen wollte, dann wäre wohl hier der Ort dafür. Insofern halte ich es für sehr plausibel, wenn die Sammlung, wie Jan Knopf es vorschlägt, vorläufig mit dem Gedicht Laute schließt - insbesondere und erst recht dann, wenn die Buckower Elegien mitten zwischen die Späten Gedichte aus dem Nachlass gestellt werden: Laute Später, im Herbst Hausen in den Silberpappeln große Schwärme von Krähen Aber den ganzen Sommer durch höre ich 40 Vgl. oben Kap. 7 „ Vergnügungen “ Dialektik als kreative Alltegslogik. Zur Kontinuität der Argumentation in Bert Brechts Buckower Elegien 155 <?page no="156"?> Da die Gegend vogellos ist Nur Laute von Menschen rührend. Ich bin ’ s zufrieden. (299/ 12.313) Tiere, der „ preußische Adler “ , das „ Kalb “ , das zur „ schmeichelnden Hand [. . .] seines Metzgers “ drängt, die „ jungen Stare “ , die zukünftigen Kriegsbomben freudig entgegenblicken, solche kleinen, aber durchaus regelrechten Allegorien, 41 die „ von etwas anderem reden als sie darstellen “ , waren in den Buckower Elegien ebenso regelmäßig so negativ gesehen worden, wie ein Denken, dem sie sich verdanken. Erklärt sich so der „ Fehler “ , dass eine „ Gegend „ vogellos “ genannt wird, die das empirisch Buckow am Scharmützel-See, aber auch der „ bukolische “ , also (topisch) hergebrachte Ort der Idylle nicht ist, bzw. nicht sein darf? „ Brecht soll, konfrontiert mit dem Einwand, es wären doch überall Vögel zu hören, geschwiegen, am Abend aber freundlich und verschmitzt repliziert haben: ‚ Ich bin kein Ornithologe ‘ . “ 42 Es geht hier nicht um Realität, auf alle Fälle nicht nur, sondern um Poetik, Rhetorik und Dialektik. Verwandelt sich hier vielleicht punktuell und ganz unaufdringlich, ähnlich wie explizit in Böser Morgen, der idyllische locus amoenus, der „ schöne Ort “ aus Der Blumengarten mit seinen „ Silbepappeln “ in einen vogellosen, „ schrecklichen “ locus horribilis, ja vielleicht sogar in einen Todes-Ort? 43 Auf alle Fälle verschiebt das Gedicht solche Verallgemeinerungen auf „ später “ . Die „ Laute “ , die „ den ganzen Sommer “ hindurch hörbar werden, sind immer mal wieder ja einzelne Lebensäußerungen „ von Menschen “ , die so oder so bedeutsam sein mögen oder auch nicht: nur „ Laute “ , nicht, noch nicht, Sprache oder Kommunikation. Das knüpft an das bloße Anzeichen von Leben (und Veränderung) in Der Rauch an und bedeutet ein Minimum jener Erwartung, genauer: an Antworten auf die Erwartungen, die vor allem Der Blumengarten oder Rudern, Gespräche veranlasst hatten. Das Mögliche als das Einzelne und ganz Unabgeschlossene: „ Ich bin ’ s zufrieden. “ 41 Vgl. z. B. Gerhard Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol. Göttingen 1982, S. 27 ff. 42 Jan Knopf, Brechts Buckower Elegien, S. 119. 43 Im bereits erwähnten Einsamkeits-Sonett von Andreas Gryphius (vgl. oben Anm. 33) leben in der „ mehr denn öden Wüste “ nur „ stille Vögel “ , und man blickt auf „ Totenkopf “ und „ abgezehrtes [Ge]bein “ . 156 „ Warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld? “ <?page no="157"?> Anhang Bert Brechts Buckower Elegien neu geordnet Ginge da ein Wind Könnte ich ein Segel stellen. Wäre da kein Segel Machte ich eines aus Stecken und Plane. Der Radwechsel Ich sitze am Straßenhang. Der Fahrer wechselt das Rad. Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre. Warum sehe ich den Radwechsel Mit Ungeduld? * * * Der Blumengarten Am See, tief zwischen Tann und Silberpappel Beschirmt von Mauer und Gesträuch ein Garten So weise angelegt mit monatlichen Blumen Daß er vom März bis zum Oktober blüht. Hier, in der Früh, nicht allzu häufig, sitz ich Und wünsche mir, auch ich mög allezeit In den verschiedenen Wettern, guten, schlechten Dies oder jenes Angenehme zeigen. Die Lösung Nach dem Aufstand des 17. Juni Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands In der Stalinallee Flugblätter verteilen Auf denen zu lesen war, daß das Volk Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe Und es nur durch verdoppelte Arbeit Zurückerobern könne. Wäre es da Nicht doch einfacher, die Regierung Löste das Volk auf und Wählte ein anderes? <?page no="158"?> Böser Morgen Die Silberpappel, eine ortsbekannte Schönheit Heut eine alte Vettel. Der See Eine Lache Abwaschwasser, nicht rühren! Die Fuchsien unter dem Löwenmaul billig und eitel. Warum? Heut nacht im Traum sah ich Finger, auf mich deutend Wie auf einen Aussätzigen. Sie waren zerarbeitet und Sie waren gebrochen. Unwissende! Schrie ich Schuldbewußt. Die Musen Wenn der Eiserne sie prügelt Singen die Musen lauter. Aus gebläuten Augen Himmeln sie ihn hündisch an. Der Hintern zuckt vor Schmerz Die Scham vor Begierde. Große Zeit, vertan Ich habe gewußt, daß Städte gebaut wurden Ich bin nicht hingefahren. Das gehört in die Statistik, dachte ich Nicht in die Geschichte. Was sind schon Städte, gebaut Ohne die Weisheit des Volkes? Gewohnheiten, noch immer Die Teller werden hart hingestellt Daß die Suppe überschwappt. Mit schriller Stimme Ertönt das Kommando: Zum Essen! Der preußische Adler Den Jungen hackt er Das Futter in die Mäulchen. Die Wahrheit einigt Freunde, ich wünschte, ihr wüßtet die Wahrheit und sagtet sie! Nicht wie fliehende müde Cäsaren: „ Morgen kommt Mehl! “ So wie Lenin: Morgen abend Sind wir verloren, wenn nicht . . . So wie es im Liedlein heißt: 158 Anhang <?page no="159"?> „ Brüder, mit dieser Frage Will ich gleich beginnen: Hier aus unsrer schweren Lage Gibt es kein Entrinnen. “ Freunde, ein kräftiges Eingeständnis Und ein kräftiges WENN NICHT! * * * Rudern, Gespräche Es ist Abend. Vorbei gleiten Zwei Faltboote, darinnen Zwei nackte junge Männer: Neben einander rudernd Sprechen sie. Sprechend Rudern sie nebeneinander. Der Rauch Das kleine Haus unter Bäumen am See. Vom Dach steigt Rauch. Fehlte er Wie trostlos dann wären Haus, Bäume und See. Heißer Tag Heißer Tag. Auf den Knieen die Schreibmappe Sitze ich im Pavillon. Ein grüner Kahn Kommt durch die Weide in Sicht. Im Heck Eine dicke Nonne, dick gekleidet. Vor ihr Ein ältlicher Mensch im Schwimmanzug, wahrscheinlich ein Priester. An der Ruderbank, aus vollen Kräften rudernd Ein Kind. Wie in alten Zeiten! denke ich Wie in alten Zeiten! Vor acht Jahren Da war eine Zeit Da war alles hier anders. Die Metzgerfrau weiß es. Der Postbote hat einen zu aufrechten Gang. Und was war der Elektriker? Der Einarmige im Gehölz Schweißtriefend bückt er sich Nach dem dürren Reisig. Die Stechmücken Bert Brechts Buckower Elegien neu geordnet 159 <?page no="160"?> Verjagt er durch Kopfschütteln. Zwischen den Knieen Bündelt er mühsam das Brennholz. Ächzend Richtet er sich auf, streckt die Hand hoch, zu spüren Ob es regnet. Die Hand hoch Der gefürchtete S. S. Mann. Die neue Mundart Als sie einst mit ihren Weibern über Zwiebeln sprachen Die Läden waren wieder einmal leer Verstanden sie noch die Seufzer, die Flüche, die Witze Mit denen das unerträgliche Leben In der Tiefe dennoch gelebt wird. Jetzt Herrschen sie und sprechen eine neue Mundart Nur ihnen selber verständlich, das Kaderwelsch Welche mit drohender und belehrender Stimme gesprochen wird Und die Läden füllt - ohne Zwiebeln. Dem der Kaderwelsch hört Vergeht das Essen Dem, der es spricht Vergeht das Hören. Lebensmittel zum Zweck An Kanonen gelehnt Teilen die Söhne Mac Carthys Schmalz aus. Und in unendbarem Zug, auf Rädern, zu Fuß Eine Völkerwanderung aus dem innersten Sachsen. Wenn das Kalb vernachlässigt ist Drängt es zu jeder schmeichelnden Hand, auch Der Hand seines Metzgers. Der Himmel dieses Sommers Hoch über dem See fliegt ein Bomber. Von den Ruderbooten auf Schauen Kinder, Frauen, ein Greis. Von weitem Gleichen sie jungen Staren, die Schnäbel aufreißend Der Nahrung entgegen. Bei der Lektüre eines spätgriechischen Dichters In den Tagen, als ihr Fall gewiß war Auf den Mauern begann schon die Totenklage Richteten die Troer Stückchen grade, Stückchen In den dreifachen Holztoren, Stückchen. Und begannen Mut zu haben und gute Hoffnung. Auch die Troer also . . . 160 Anhang <?page no="161"?> Beim Lesen des Horaz Selbst die Sintflut Dauerte nicht ewig. Einmal verrannen Die schwarzen Gewässer. Freilich, wie Wenige Dauerten länger! * * * Tannen In der Frühe Sind die Tannen kupfern. So sah ich sie Vor einem halben Jahrhundert Vor zwei Weltkriegen Mit jungen Augen. Eisen Im Traum heute Nacht Sah ich einen großen Sturm. Ins Baugerüst griff er Den Bauschragen riß er Den Eisernen, abwärts. Doch was da aus Holz war Bog sich und blieb. Bei der Lektüre eines sowjetischen Buches Die Wolga, lese ich, zu bezwingen Wird keine leichte Aufgabe sein. Sie wird Ihre Töchter zu Hilfe rufen, die Oka, Kama, Unsha, Wetluga Und ihre Enkelinnen, die Tschussowaja, die Wjatka. Alle ihre Kräfte wird sie sammeln, mit den Wassern aus 7000 Nebenflüssen Wird sie sich zornerfüllt auf den Stalingrader Staudamm stürzen. Dieses erfinderische Genie, mit dem teuflischen Spürsinn Des Griechen Odysseus, wird alle Erdspalten ausnützen Rechts ausbiegen, links vorbeigehn, unterm Boden Sich verkriechen - aber, lese ich, die Sowjetmenschen Die sie lieben, die sie besingen, haben sie Neuerdings studiert und werden sie Noch vor dem Jahre 1958 Bezwingen. Und die schwarzen Gefilde der Kaspischen Niederung Die dürren, die Stiefkinder Werden es ihnen mit Brot vergüten. Bert Brechts Buckower Elegien neu geordnet 161 <?page no="162"?> Die Kelle Im Traum stand ich auf einem Bau. Ich war Ein Maurer. In der Hand Hielt ich eine Kelle. Aber als ich mich bückte Nach dem Mörtel, fiel ein Schuß Der riß mir von meiner Kelle Das halbe Eisen. Laute Später, im Herbst Hausen in den Silberpappeln große Schwärme von Krähen Aber den ganzen Sommer durch höre ich Da die Gegend vogellos ist Nur Laute von Menschen rührend. Ich bin ’ s zufrieden. 162 Anhang <?page no="163"?> Literaturverzeichnis 1. Bertolt Brecht, Werkausgaben: Die Gedichte. Zusammenstellung: Jan Knopf, Frankfurt 2000. Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von WernerHecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, 31 Bde., Berlin/ Weimar und Frankfurt 1988 - 2000. 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