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Goethe aus Goethe gedeutet

0406
2011
978-3-7720-5413-6
978-3-7720-8413-3
A. Francke Verlag 
Eva Hoffmann

"Schlüssel liegen im Buche zerstreut, das Rätsel zu lösen..." Goethe Es gibt in Goethes Leben ein Zentrum, das den Großteil seiner Dichtung durchstrahlt: die starke Bindung an eine Frau. Ihr Tod stürzte ihn in jungen Jahren in Verzweiflungund Schuldgefühle, bis er endlich Beruhigung fand in ihrer lebenslangen Feier und, wie er gewiß war, in von ihr empfangenen Zeichen. Sein eigener Unsterblichkeitsglaubefand Bestätigung, indemer "Sie" -Neuplatoniker,der er war - als einen Abglanz göttlicher Wahrheit erlebte. Dies behielt er für sich. Da er sich als Glied einer Reihe "wiederholter Spiegelungen" in Einklang wußte mit Dichtern der Vergangenheit, mit Dante, Petrarca oder Ha8s und ihren ähnlichen Geschicken, offenbarte er sich im Sinne des von ihm gerühmten Analogiedenkens. Zudem gab er vielfältige Hinweise auf Geheimes, größere und kleinere "Schlüssel", "das Rätsel zu lösen". Solch ein Schlüssel, die Dichtung Trilogie der Leidenschaft, öffnet Wege rückwärts und vorwärts durch das Werk.

<?page no="0"?> Eva Hoffmann Goethe aus Goethe gedeutet <?page no="1"?> Goethe aus Goethe gedeutet <?page no="3"?> Eva Hoffmann Goethe aus Goethe gedeutet 2. Auflage <?page no="4"?> Titelbild: Fresko von Stabia/ Flora, Der Frühling Museo Archeologico Nazionale, Neapel Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. 2., durchgesehene Auflage 2011 1. Auflage 2009 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: Satzpunkt, Bayreuth Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8413-3 <?page no="5"?> MAGISTRIS TRIBUS PATRI · PAULO · POETAE <?page no="7"?> 3 Inhaltsverzeichnis 1. „Warum ist Wahrheit fern und weit? …“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 2. Trilogie der Leidenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 3. Pandora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 4. Der Bräutigam. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 5. Namen, Parechese und Paronomasie, Buchstaben. . . . . . . . . . . . . . . . . 157 6. „Vergangenheit und Gegenwart in Eins“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 7. Die Zahl Sieben. Harzreise im Winter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 8. Sonette . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 9. Das geopferte Mädchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 10. Helena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 11. Andere Grenzüberschreitungen in Faust II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 12. Śa kuntal ā . Indisches Vor-Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 13. Das Nußbraune Mädchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 14. Makarie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 15. Wandrer und Pächterin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 16. Das Märchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 17. West-östlicher Divan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 18. Chaos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 19. Kästchen und Schloß; Schlüssel und „Schlüssel“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560 20. Himmel: Firmament und Paradies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612 Goethe-Ausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 Benutzte Primär- und Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 626 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 630 <?page no="9"?> 5 1. „Warum ist Wahrheit fern und weit? …“ Dieses Buch geht, wie der Titel sagt, von Goethe aus. Es versucht, seinen Intentionen nachzudenken. Über alles von ihm in Worte Gefaßte liegt eine unübersehbare Menge von Literatur vor. Sollte man - dies nun eine Frage, die sich gleich zu Beginn dieser Arbeit vor über dreißig Jahren stellte - sollte man, wenn man einem Dichter auch als Person gerecht zu werden sucht und seine Absichten zu bedenken trachtet, das, was er bewußt nicht klar ausgesprochen oder worüber er geschwiegen 1 hat, im Zwielicht belassen oder könnte es in mehrfachem Sinne das Rechte sein, aufzugreifen, was zwischen den Zeilen steht? Den Ausschlag geben die unzähligen und vielfältigen Andeutungen und Hinweise von Goethe selbst, die über das gesamte Werk verstreut sind und, einmal als solche wahrgenommen, den „Enkeln“ 2 eine Botschaft bereitgelegt haben: jene von der Nachwelt immer wieder zitierten und dennoch nie befriedigend zusammengefügten „Bruchstücke einer großen Konfession“. In zwiefachem Wortsinn 3 verstanden, wird sich diese „Konfession“ auf Goethes Leben wie auch auf seine Religiosität beziehen lassen, vorausgesetzt, man nimmt die leisen Zeichen auf, die er zu geben nicht müde wurde. Ihre Relationen untereinander fügen sich zu einem Netzwerk, das die ganze Dichtung durchzieht, unleugbar vorhanden für jeden, dem es, einmal gewahr geworden, eine neue Dimension in Goethes Leben und Werk aufschließt. Dabei muß festgehalten werden, daß diese Arbeit ihren eigenen, auf Wegweiser des Dichters ausgerichteten Pfad geht und dabei keinerlei Versuch macht, Andersmeinende bzw. gängige Überlieferungen zu widerlegen. Daß aufgenommene Erkenntnisse anderer Autoren unter allen Umständen angegeben werden, versteht sich von selbst. Grundsätzlich soll Goethe vor allem aus Goethe selbst erklärt werden. Dementsprechend gilt es als eine der wesentlichen Voraussetzungen dieser Studie, daß Goethe nach eigenen Aussagen schrieb, was er erlebt, wenn auch nicht eben so, „wie er es erlebt“ habe 4 , und nichts, das ihm nicht „auf die Nägel brannte und zu schaffen machte“ 5 , wie er ja auch „Liebesgedichte nur gemacht [habe], wenn [er] liebte“ 6 . Ja, er geht so weit, von „der neuesten Ausgabe meiner Lebensspuren“ zu sprechen, „welche man, damit das Kind einen Namen habe, Werke zu nennen pflegt.“ 7 Daß für Goethe die Identität von ‚lyrischem Ich’, ‚dramatischem Ich’ (auch aufgeteilt auf Personen, ja gerade auf Antagonisten), ‚Erzähler-Ich’, mit dem ‚auktorialen Ich’ legitimerweise für sein Schaffen durch alle Lebensabschnit- 1 Vgl. Josef Pieper, Über das Schweigen Goethes, München 1951. 2 „Erwachsne gehn mich nichts mehr an, / Ich muß jetzt an die Enkel denken“. („Ist denn das klug“, Zahme Xenien I; FA 2, S. 621.) 3 Vgl. „Bekenntnis heißt nach altem Brauch / Geständnis wie man’s meint; / […]“ FA 2, S. 726. 4 Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Vollständiger Text nach dem 24. Band der Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche Johann Wolfgang Goethes, Zürich 1976. 17. Februar 1830. S. 395. 5 Eckermann, 14. März 1830; a. a. O., S. 733. 6 Ebd. 7 An Zelter, 23. Januar 1815. FA 34, S. 400. <?page no="10"?> 6 te hindurch angenommen werden darf, hat er selbst insofern nahegelegt, als er in späten Jahren in Dichtung und Wahrheit bereits hinsichtlich der Leipziger Zeit (1765-1768) schreibt: Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige was mich erfreute oder quälte, oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen, um sowohl meine Begriffe von den äußeren Dingen zu berichtigen, als mich im Innern deshalb zu beruhigen. Die Gabe hierzu war wohl Niemand nötiger als mir, den seine Natur immerfort aus einem Extreme in das andere warf. Alles was daher von mir bekannt geworden, sind nur Bruchstücke einer großen Konfession, welche vollständig zu machen dieses Büchlein ein gewagter Versuch ist. 8 Aber obwohl alles von Goethe Mitgeteilte auf Lebenserfahrung beruhte 9 , wie er in einem wichtigen Brief festhält, geschah solche Mitteilung, wie erwähnt, in ihrem „Wie“ verändert, geschah sie auf mannigfache Weise verschlüsselt. Fragen wir, welche Mittel der Dichter einsetzte, um auf ein im Mitgeteilten Verborgenes hinzuweisen, so finden wir eine Vielzahl von Praktiken, die dem Zweck dienen, Geheimnisse zu umkreisen. Eine wesentliche, immer wieder angewandte Methode, ist die der Analogie. So stellt Goethe fest: Mittheilung durch Analogieen halt ich für so nützlich als angenehm; der Analoge Fall will sich nicht aufdringen, nichts beweisen, er stellt sich einem andern entgegen, ohne sich mit ihm zu verbinden: Mehrere analoge Fälle vereinigen sich nicht zu geschlossenen Reihen, sie sind wie gute Gesellschaft die immer mehr anregt als giebt. 10 Wieder spricht Goethe hier von „Mitteilungen“, von Erlebtem. Dieser Verhaltenheit der Vermittlung von Inhalten entspricht auf der Ebene des Stils die Litotes oder Untertreibung. Ein Brief an Schiller klärt darüber auf: […] Der Fehler, den Sie mit Recht bemerken, kommt aus meiner innersten Natur, aus einem gewissen realistischen Tic, durch den ich meine Existenz, meine Handlungen, meine Schriften den Menschen aus den Augen zu rücken behaglich finde. So werde ich immer gern incognito reisen, das geringere Kleid vor dem bessern wählen, und, in der Unterredung mit Fremden oder Halbbekannten, den unbedeutendern Gegenstand oder doch den weniger bedeutenden Ausdruck vorziehen, mich leichtsinniger betragen als ich bin […]. 11 Gemäß seinem Analogie-Denken suchte und fand Goethe auch in Leben und Werk früherer Dichter der verschiedensten Zeiten und Zonen Parallelen zu seinem eigenen Leben, was er zuweilen bloß mit Zitaten anzeigte, die der Leser 8 DuW II, 7; FA 14, S. 309 f. 9 An Carl Jacob Ludwig Iken, 27. Sept. 1827; HA Briefe 4, S. 250. 10 Sprüche in Prosa; FA 13, S. 77 (1.521; H 1247), s. auch: „Nach Analogien denken ist nicht zu schelten; […]” ebd., S. 44 (1.282; H 532). 11 9. Juli 1796; Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Nach den Handschriften des Goethe- und Schiller-Archivs herausgegeben von Hans Gerhard Gräf und Albert Leitzmann, Frankfurt a. M. / Wien / Zürich 1964. S. 179 f. <?page no="11"?> 7 erkennen sollte. Auf diese Weise konnte Goethe problemlos an bereits vorgegebene Situationen anknüpfen. Meist ließ er es aber nicht dabei bewenden, sondern überbot in solchen Fällen die Haltung des Vorgängers oder setzte einer negativen Einstellung eine eigene, positive, entgegen. Selber sprach er von „Wiederholten Spiegelungen“ (von denen später noch die Rede sein wird) oder er nannte solche Sichtweise in eigener Wortschöpfung „symphronistisch“ 12 , um mit dieser Bezeichnung das rein Gedankliche, ‚Logische’ der Analogie durch den Einschluß des Gemütes ( φρήν ) zu erweitern. Analogie oder, eben umfassender, Symphronismus gab Goethe auch die Möglichkeit, sich selbst oder geliebte Mitmenschen in mythische, allegorische oder Figuren der Literatur zu projizieren und so aus der Zeit zu heben. Des weiteren konnte er, Petrarca nachfolgend, Namen verschlüsselt in seine Dichtung übernehmen oder sie in parechetischer Abwandlung in Teile trennen, um sie so in verschiedenster Variation, auch übersetzt, als Chiffren zu verwenden. Er spielte etymologisch mit Namen seiner Umwelt, holte aus Wortfeldern, denen sie angehören, Chiffren zu seinem Gebrauch, gelegentlich auch hier in Übersetzung in eine andere Sprache. Zudem wurden ihm in der Nachfolge Dantes und Petrarcas auch gewisse Zahlen bedeutsam. Geheimes sollte verhüllt bleiben, aber dennoch die Möglichkeit seiner Aufdekkung bieten. Fingerzeige auf ‚verborgene Wahrheit’ hat Goethe immer wieder gegeben, und im folgenden seien einige wenige seiner Hinweise auf Thesen und Methoden herausgegriffen: Das Wahre ist gottähnlich; es erscheint nicht unmittelbar, wir müssen es aus seinen Manifestationen erraten. (Aus: Makariens Archiv 13 .) Es ist nicht immer nötig daß das Wahre sich verkörpere; schon genug, wenn es geistig umher schwebt und Übereinstimmung bewirkt; wenn es wie Glokkenton ernst-freundlich durch die Lüfte wogt. (Aus: Betrachtungen im Sinne der Wanderer 14 ) Die beiden Aphorismen aus den Wanderjahren von 1829 verhelfen zu einem besseren Verständnis des folgenden, wesentlich früher entstandenen Gedichts, in dem Goethe auf kleinstem Raum Einblick in einige seiner immer wieder angewandten sprachlichen Kunstmittel gewährt. Dabei handelt es sich um Anklänge an Schriften, die als bekannt vorausgesetzt werden können, wie um heimliche Wortspiele, um eine immer wieder thematisch mittels Buchstabenkombinationen eingesetzte Sprachmusik, besonders auch um Metrik als Ausdrucksmittel und um bezeichnete wie auch um unausgesprochen belassene Symbole: „Warum ist Wahrheit fern und weit? Birgt sich hinab in tiefste Gründe? “ Niemand verstehet zur rechten Zeit! - Wenn man zu rechter Zeit verstünde; 12 WMWJ, 2, 2; FA 10, S. 425, Z. 7. 13 FA 10, S. 746, Nr.3; auch in Sprüche in Prosa, FA 13, S. 53, (1. 333; H 619). 14 FA 10, S. 561, Betrachtungen im Sinne der Wanderer, Nr. 26; auch FA 13, S. 40 (1. 250; H 466). <?page no="12"?> 8 So wäre Wahrheit nah und breit, Und wäre lieblich und gelinde. (West-östlicher Divan, Buch der Sprüche 15 ) Das Gedicht scheint Aussagen der Sprüche schon vorwegzunehmen und poetisch darzustellen. Seine Frage setzt die Existenz der Wahrheit nicht in Zweifel, sondern gilt dem Grund ihrer Verborgenheit, entsprechend der etymologischen Deutung von ἀλήθεια als der ‚Unverborgenheit’! Ihre Existenz wird also a priori vorausgesetzt und, indem sie vermißt wird, auch ihr wohltuendes Wesen. Die Antwort, die der Dichter gibt, weist auf mangelndes Verständnis der Menschen und klingt an den Vers des Johannes-Evangeliums an: „Und das Licht scheinet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht begriffen.“ 16 . Im Gedicht liegt jedoch der Akzent auf dem Zeitpunkt: „Niemand versteht zur rechten Zeit! “ Und eben diese Zeitbestimmung wird in leichter Variation, ins Allgemeine gehoben, in der nächsten Zeile noch wiederholt, in Form der Protasis eines potentialen Konditionalsatzes: „Wenn man zu rechter Zeit verstünde“. Der Doppelpunkt danach hat starken Verweisungscharakter und leitet über zu der die Möglichkeitsform weiterhaltenden Apodosis mit ihrem hoffnungsvollen „So“. Die wenigen Verse sind mit einer ganzen Reihe von Wortspielen durchsetzt, die die „Wahrheit“ musikalisch umkreisen. Bereits der Beginn des Gedichts bringt im „Warum“ einen Vorklang mit Assonanz und Alliteration, so daß dem Wort „Wahrheit“ schon phonetisch der Weg bereitet scheint. In von ‚a’ zu ‚ä’ abgeschwächter Variation wiederholt sich der Vorgang in der fünften Zeile: „So wäre Wahrheit[…]“, mit einem Nachklang in der sechsten und letzten, wo „wäre“ wieder die gleiche Position in Vers und Metrum innehat, jetzt aber ohne das Wort „Wahrheit“: Die Verborgenheit hat sich also auf der sprachlichen Ebene noch intensiviert. Und dennoch verstärkt sich die Gewißheit ihrer tröstlichen Eigenschaften. Vom Gehalt und von den Phonemen angeregt, stellt sich, als von einem möglichen Keimpunkt des Gedichts die klangliche Assoziation eines Verses aus den Psalmen ein: „Denn der Herr ist freundlich und seine Gnade währet ewig und seine Wahrheit für und für.“ 17 Aber es gibt mehr zu entdecken: die im Sprachgebrauch gängigen Wortfolgen von ‚nah und fern’, und ‚weit und breit’ erscheinen hier gegenseitig verstellt zu „fern und weit“ (v. 1) und „nah und breit“ (v. 5). Im Leser klingt das erwartete Partnerwort ohne eigenes Zutun auf. Das fehlende ‚nah’ (zu „fern“) im tautologischen „fern und weit“ reflektiert in seinem Ausbleiben intensivierend die Abwesenheit der Wahrheit. Im fünften Vers geschieht das Umgekehrte: zu „nah“ assoziieren wir unwillkürlich das „fern“ der ersten Zeile; vor „breit“ fügt sich das oben ebenfalls schon genannte „weit“, wobei die Wortpartner sich im Vergleich zu Vers 1 gewandelt haben und nun nicht mehr auf Trennung weisen, sondern auf universelle Gegenwart: „nah und breit”, eine an sich ungelenke und daher Aufmerksamkeit fordernde Wortverbindung, vereint verheißungsvoll nun beides: „nah und fern“ und „weit und breit“. Es ist, als schwinge der Klöppel einer Glocke leise hin und her. 15 FA 3/ 1, S. 64; (hier Z. 4 des Gedichts zitiert nach der minimal veränderten Version im Brief an Sulpiz Boisserée vom 1. Mai 1818, HA Briefe 3, S. 429, an Stelle der buchstabengetreuen Wiederholung der Zeitbestimmung von Z. 3). 16 Joh. 1. 5. 17 Psalm 100, 5. <?page no="13"?> 9 Auf der Ebene des Satzes vollzieht sich ein Ähnliches. Zunächst einmal wandelt sich das negierende Pronomen „niemand“ der dritten Zeile zum positiven „man“ der vierten. Sodann wechseln Prädikat und Zeitbestimmung in diesem Verspaar ihren Ort; aus „Niemand versteht zur rechten Zeit! -“ wird „Wenn man zu rechter Zeit verstünde“ - auch hier die Bewegung des ‚Glockenklöppels’ diesmal im Platztausch von Verb und Adverbiale. Dabei wandelt sich das klanglich blasse, wenn auch durch seinen Indikativ bestimmtere, jedoch negierte „versteht“ zum immerhin potentialen „verstünde“, das mit seiner volleren Intonation, der stärkeren Akzentuierung am Versende und seinem auf die utopisch-klimaktische Schlußzeile hinzielenden Reim Hoffnung erweckt. Der „Glockenton, der ernst-freundlich durch die Lüfte wogt“ - man denke an das befreiende Läuten der Osterglocken in Faust - manifestiert sich auch im Metrum. Der ansteigende Klang der vierhebigen Jamben, den der erste Vers zunächst modellhaft kirchenlied-ähnlich darstellt (etwa wie in „Ein’ feste Burg ist unser Gott“) wird unterbrochen. Die Verse 2 bis 4 kennzeichnet ein anderes Metrum: sie setzen jeweils mit einem Choriambus ein, ehe sie das jambische Versmaß weiterführen. Eine zweite Glocke scheint sich dazugesellt zu haben. Zu Ende des Gedichts stellt sich der steigende rein jambische Rhythmus des Beginns wieder her, die beiden Endverse sind von ihm getragen, das ‚Wogen’ hat aufgehört, bevor das Gedicht nun in Ruhe ausklingt. Wenn man sich nun den einzelnen Lauten zuwendet, bemerkt man das alliterierende ‚w’, das im ersten Vers mit „Warum“ und „weit“ das Wort „Wahrheit“ umrahmt, mit „Wenn“ den vierten einleitet, dann im fünften in „wäre Wahrheit“ wieder aufscheint, innerlich ergänzt durch das ‚w’ in ‚weit’, das wir bei „breit“ mitdenken, und letztlich nochmals aufgenommen im nur wenig betonten „wäre“ des letzten Verses. Es ist, als nähme man anfangs und am Ende, da die Jamben ihren regulären Ablauf nehmen und das ‚Wogen’ noch nicht oder nicht mehr erklingt, das Wehen des Luftstroms wahr, den die Glocke erzeugt. Ferner: wenn von der Wahrheit, ihrem Tun oder Sein, die Rede ist, taucht der helle ‚i’-Laut auf, eingeführt durch den Diphthong ‚ei’, der phonetisch ja ‚a’ und ‚i’ vereint. In „Birgt sich hinab in tiefste Gründe“ bestimmt das ‚i’ den Vers fast ausschließlich, (denn auch das ‚ü’ von „Gründe“ wird zuletzt seinen Reimrespons in einem ‚i’-Wort finden), aber der helle Vokal kommt noch nicht zum Tragen und bleibt, dem Inhalt der Zeilen entsprechend, verhalten. Noch fehlt ihm der Konsonant, der vor dem letzten Vers im ganzen Gedicht kein einziges Mal vorkommt: das ‚l’. Mit dem dreimal erklingenden und, wie man später immer wieder sehen wird, von Goethe als Chiffre intensiver Bejahung, ja Beglückung, eingesetzten Phonem „li“ 18 in „lieblich und gelinde“ erreicht das Gedicht seinen Höhepunkt und seinen Ausklang. Zurück bleiben, nachschwingend, klangliche Assoziationen von Lindheit, Licht und Liebe als Erscheinungsformen der Wahrheit, ihren Hypostasen. Aber sie werden nur verhalten genannt. Der Konjunktiv wird nicht aufgehoben, das „wäre“ bleibt in Doppelung unvermindert bestehen, und dennoch wurde mögliche Erfüllung gewiß. Denn: „Das Wahre ist gottähnlich; es erscheint nicht unmittelbar, wir müssen es aus seinen Manifestationen erraten.“ 18 Zu Goethes Sprachmusik und ihrer Auslegung siehe S. 35-37. <?page no="14"?> 10 Dies ist ein Leitsatz Goethes, gültig auch für die Interpretation seiner Werke, wobei es sehr darauf ankommt, daß man „zur rechten Zeit“ verstehe, daß man nicht hinweglese über scheinbar Unbedeutendes, das sich oft erst sehr viel später als relevant erweisen wird. So läßt sich z. B. die von der Handlung her gänzlich unmotivierte doppelte Einführung einer Person in Goethes Novelle entdecken als Fingerzeig auf die Formstruktur der Wiederholung, die diesem Werk zugrundeliegt. 19 Und hinsichtlich der Lehrjahre verriet Goethe Eckermann gegenüber: Den anscheinenden Geringfügigkeiten des Wilhelm Meister liegt immer etwas Höheres zum Grunde, und es kommt bloß darauf an, daß man Augen, Weltkenntnis und Übersicht genug besitze, um im Kleinen das Größere wahrzunehmen. Andern mag das gezeichnete Leben als Leben genügen. 20 Zuletzt das wohl Wichtigste, das beim zitierten Gedicht bereits gezeigt, aber nicht benannt wurde: die Symbolik. „Das Wahre“, im zweiten der beiden Aphorismen umschrieben als Vergleich „wie Glockenton“, wird als Symbol in dem Gedicht als ‚geistig umherschwebend und Übereinstimmung bewirkend’ fühlbar und so, bei all seiner Verborgenheit, unausgesprochen erfahrbar gemacht. In gleichem Sinne lesen wir in Wilhelm Meisters Lehrbrief: […] Die Worte sind gut, sie sind aber nicht das Beste. Das Beste wird nicht deutlich durch Worte. Der Geist, aus dem wir handeln, ist das Höchste. Die Handlung wird nur vom Geiste begriffen und wieder dargestellt. 21 Dieser Lehrsatz greift über das Gedicht hinaus, weist aber ebenfalls die Richtung zu einer von Goethe nahegelegten Interpretation seiner Schriften, also, gegebenenfalls auch über das geschriebene Wort hinauszudenken. In diesem Sinne soll einigen von den zahlreichen in seiner Dichtung angelegten ‚Geheimnissen’ nachgegangen werden, wobei die folgenden Aphorismen aus Wilhelm Meisters Lehrbrief als Leitsätze gelten sollen: Des echten Künstlers Lehre schließt den Sinn auf, denn wo die Worte fehlen, spricht die Tat. Und, folgend: Der echte Schüler lernt aus dem Bekannten das Unbekannte entwickeln, und nähert sich dem Meister. 22 Noch konkreter wirkt Goethes Wunsch, […] daß [der Erklärer] nicht gerade beschränkt seyn soll, alles was er vorträgt aus dem Gedicht zu entwickeln, sondern daß es uns Freude macht, wenn er manches verwandte Gute und Schöne an dem Gedicht entwickelt. […] 23 19 Vgl. Peter Höfle in seinem Nachwort zu Goethe, Novelle, Frankfurt a. Main 2000. S. 14 und S. 16. 20 Eckermann, 25. Dezember 1825; a. a. O., S. 166 unten f. 21 WMLJ 7, 9; FA 9, S. 875. 22 Ebd. 23 Über Goethe’s Harzreise im Winter, in Kunst und Altertum III (1821); FA 21, S. 139. <?page no="15"?> 11 Dabei sollte - sit venia verbo - in Goethes eigener behutsamer Weise vorgegangen sein. Wenn der Versuch glückt, könnten in anteilnehmendem Lesen die Entdeckungen, die Verf. gemacht zu haben glaubt, nachvollzogen und jene Prämissen geprüft werden, welche zu ungewohnten Perspektiven führen. Dazu ist aber nötig, Goethes Texte bzw. diejenigen anderer Autoren, auf die er sich bezieht, auch vor Augen zu haben, weshalb diese Studie lieber zitiert, statt zu paraphrasieren oder sich auf bloße Stellenangaben zu beschränken. Darüber hinaus wird, was zur Unterbauung der Argumentation wichtig ist, meist im Text selbst aufgeführt, anstatt es in die Fußnoten zu verbannen. Der Versuch geht von der späten Dichtung Trilogie der Leidenschaft 24 aus, in der, wie in einem geschliffenen Kristall, Leuchtkraft und Glut eines ganzen Lebens gesammelt und in vielen Facetten wieder ausgesprüht erscheinen. So wird von hier aus „ein frisches Licht“ 25 auch auf andere Werke des Dichters fallen, die, nun ihrerseits rückstrahlend, wiederum die Trilogie erhellen, gemäß der bekannten programmatischen Äußerung gegenüber Iken, darin der alte Goethe anhand der Helena-Dichtung eine seiner wichtigsten Kompositionsmethoden darlegt: Auch wegen anderer dunkler Stellen in früheren und späteren Gedichten möchte ich folgendes zu bedenken geben: Da sich gar manches unserer Erfahrungen nicht rund aussprechen und direkt mitteilen läßt, so habe ich seit langem das Mittel gewählt, durch einander gegenübergestellte und sich gleichsam ineinander abspiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren. 26 Der „geheimere Sinn“, das ist die innere Wahrheit des Gedichts oder Werks. Da Goethe in „hohen Kunstwerken […] zugleich die höchsten Naturwerke“ 27 sah, so wandte er in der Kunst sein Konzept der Wirklichkeit an. Darin folgte er wesentlich Platons Ideenlehre, doch übernahm er sie vielfach in der differenzierteren Form, wie sie der Neuplatoniker Plotin (205-270) weiterentwickelt hat. Nicht als Schatten, die sich an der Rückwand einer dunklen Höhle abzeichnen 28 , erfaßte Plotin die dem Menschen mögliche Wahrnehmung der Welt der Ideen <hier ‚Begriffe’ genannt>, sondern als deren Bild in einem Spiegel, in einem „schaffenden Spiegel.“ Alles Seiende, das in seinem Sein und Wesen verharrt, bringt aus sich selbst mit Notwendigkeit ein Wesen hervor, das an die gegenwärtige Kraft desselben geknüpft ist, gleichsam ein Abbild des Urbildes, aus dem es entstanden ist 29 . 24 FA 2, S. 456 ff. 25 Vgl. wieder Brief an Carl Jakob Ludwig Iken v. 27. Sept. 1827. HA Briefe IV, S. 250. 26 Ebd. 27 Goethe, Italienische Reise, 6. Sept. 1786: „Die hohen Kunstwerke sind sogleich <als> die höchsten Naturwerke von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden. Alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen, da ist Notwendigkeit, da ist Gott.“ MA 15, S. 478. Vgl. auch Wolfgang Schadewaldt, Goethe-Studien, Zürich 1963. S. 300 u. Anm. 28 Vgl. Platon, Staat, 514 A-515 B. 29 Enneaden V 1, 6. Vgl. Franz Koch, Goethe und Plotin, Leipzig 1925, S. 83. Goethes Lektüre von Plotins Enneaden, höchstwahrscheinlich in der Übersetzung Marsilio Ficinos, ist dokumentiert für August und September 1805; s. Rose Unterberger, Die Goethe-Chronik, Frankfurt 2002, S. 259. <?page no="16"?> 12 Und weiter: […] die Natur des Weltalls bildet mit wunderbarer Kunst alle Wesen nach dem Bilde der Begriffe, die sie besitzt, in jedem ihrer Werke ist der Begriff vereinigt mit der Materie, da er das Abbild des Begriffes ist, welcher vor der Materie war, mit dem göttlichen Geist verknüpft, nach welchem er erzeugt wurde und auf welchen die Weltseele blickte bei ihrem Schaffen. 30 In Quintessenz bringt Franz Koch Plotins Konzept unserer Erfassung der wahrnehmbaren Welt: Nach Plotin ist die Sinnenwelt nichts anders als die Welt der Ideen im Spiegel des Stoffes, der Materie, an der sich das Licht des Geistes bricht und von der es reflektiert wird. Dabei liegt besonderes Gewicht auf dem Umstande, daß diese Spiegelung zugleich Weltschöpfung ist, und daß erst das Dasein dieser Spiegelwand, der Materie, […] Ursache der Entstehung dieser Welt wird […]. 31 Die Kunst nun vollzieht das kosmische Geschehen im kleinen. In Zusammenfassung einer These zur Kunsttheorie von Carl Philipp Moritz formuliert Goethe: „Jedes schöne Ganze der Kunst ist im Kleinen ein Abdruck des höchsten Schönen, im Ganzen der Natur.“ (WA I, 47, S. 86) 32 Während der Renaissance entwickelte, in Nachfolge von Plotins Lehre, Marsilio Ficino (1433-1499) das Konzept weiter und entwarf eine ganze Stufenfolge von Phasen, in welchen der „Geist“ für den Menschen wahrnehmbar wird: so als würde ein Künstler zuerst eine lebensähnliche Statue seiner selbst verfertigen, diese dann in einem Gemälde porträtieren, dieses Bild wieder in einem Spiegel auffangen und projizieren 33 , wobei diese letzte Stufe normaler Wahrnehmung entspräche. Aber während bei Platon, Plotin und Ficino das dem Menschen Vorbehaltene stufenweise immer mehr verblaßt, läßt Goethes Konzept durchaus auch eine Steigerung zu 34 . Goethes Vertrautheit mit Ficinos Werken hat Bernhard Buschendorf in seiner Interpretation der Wahlverwandtschaften entlang deren Handlung und mit vielen Zitaten nachgewiesen. 35 Die Form, in der Goethe solche ‚Spiegelung’ Ficinos als eigene Schaffensmethode übernahm 36 , bekundet sich darin, daß er Konstellationen aus Mythos und 30 Enn. IV. 3. 11; Franz Koch, Goethe und Plotin. Leipzig 1925, S. 83 f. 31 Ebd., S. 84 mit Nachweis der zusammengefaßten Plotin-Stellen, S. 241, Anm. 4. 32 Vgl. Karl Pestalozzi, „…dieses Ganze / / ist nur für einen Gott gemacht“ in Von der Pansophie zur Weltweisheit, hrsg. von Hans-Jürgen Schrader und Katharine Weder in Zusammenarbeit mit Johannes Anderegg, Tübingen 2004. S. 120. 33 Ebd., S. 117. 34 Vgl. Aus Makariens Archiv, Aphorismen 17-25 (FA 10, S. 748 f.), welche eine in einem Brief an Zelter vom 29. 8. 1805 gesandte Übersetzung Goethes aus Ficinos lateinischer Plotin-Übertragung aus Enn. V. 8. 1 (Basel 1515) darstellen, während die drei folgenden Aphorismen 26-28 (FA 10, S. 749) Plotins Aussage modifizieren, indem statt einer von Plotin angenommenen Abschwächung der Bilderfolge auch eine Steigerung gewährleistet ist. Vgl. Kommentar FA 10, S. 1257. 35 Bernhard Buschendorf, Goethes mythische Denkform. Zur Ikonographie der „Wahlverwandtschaften“, Frankfurt a. M. 1986. 36 Ein Hinweis auf Ficino expressis verbis findet sich bei Goethe in diesem Zusammenhang nicht, doch scheint der Name bereits in den Ephemerides (1770-1771) auf. Der junge Goethe, neu bearbeitete Ausgabe in fünf Bänden, hrsg. von Hanna Fischer-Lamberg, Berlin 1963. Bd. 1, S. 426-440. Zu Goethes Vertrautheit mit Ficinos Lehre vgl. auch Franz Koch a. a. O., S. 23 f. <?page no="17"?> 13 Geschichte, die er als seinem Schicksal gleichend befand, als Spiegelbilder seines eigenen Lebens, eines hinter dem anderen, aufscheinen läßt. Die jeweils veränderte Rolle wahrzunehmen, bleibt dabei dem poetischen Gespür des Lesers oder oft auch seinem Erkennen hinweisender Zitate überlassen. Ohne seine philosophischen Quellen preiszugeben, bezog sich Goethe, um seine künstlerische Methode anschaulich zu machen, auf ein Gleichnis aus der Optik, auf das Phänomen der „wiederholten Spiegelung“, wie er es benannte, wobei er aber, im Gegensatz zur neuplatonischen Lehre, wie bereits erwähnt, eine stete Steigerung der einzelnen Bilder in diesem Spiegelungsvorgang betonte und in einem Aufsatz 37 beschrieb. Demnach intensivieren sich die Bilder eines beleuchteten Kristalls in zwei einander gegenübergestellten geschwärzten Spiegeln farblich mit jeder Spiegelung 38 . Im Aufsatz Wiederholte Spiegelungen von 1823 (dem Jahr der Elegie 39 ) sieht Goethe diese optische Erscheinung als Analogon zu historischen Abläufen: Bedenkt man nun, daß wiederholte sittliche Spiegelungen das Vergangene nicht allein lebendig erhalten, sondern sogar zu einem höheren Leben empor steigern, so wird man der entoptischen Erscheinungen gedenken, welche gleichfalls von Spiegel zu Spiegel nicht etwa verbleichen, sondern sich erst recht entzünden, […] 40 Den Gedanken solcher Steigerung, nun psychologisch formuliert, überliefern die Aufzeichnungen Friedrich von Müllers vom 4. November 1823. Ein Toast, der auf die Erinnerung ausgebracht werden sollte, habe Goethe mit Heftigkeit in die Worte ausbrechen lassen: Ich statuiere keine Erinnerung in eurem Sinne, das ist nur eine unbeholfene Art sich auszudrücken. Was uns irgend Großes, Schönes, Bedeutendes begegnet, muß nicht erst von außen her er-innert, gleichsam er-jagt werden, es muß sich vielmehr gleich vom Anfang her in unser Inneres verweben, mit ihm eins werden, ein neues beßres Ich in uns erzeugen und so ewig bildend in uns fortleben und schaffen. Es gibt kein Vergangnes, das man zurücksehnen dürfte, es gibt nur ein ewig Neues, das sich aus den erweiterten Elementen des Vergangenen gestaltet, und die echte Sehnsucht muß stets produktiv sein, ein neues Beßres erschaffen. 41 * * * 37 Entoptische Farben, FA 25, S. 710 f. 38 HA Briefe 4, S. 320. 39 Hier, wie im folgenden, gilt Goethes eigener, Exempel statuierender Titel „Elegie“ für den Mittelteil der Trilogie der Leidenschaft, der gewöhnlich als ‚Marienbader Elegie’ bezeichnet wird. 40 [Wiederholte Spiegelungen] Jan. 1823, WA I. 42/ 2, 56 f. 41 Kanzler Friedrich von Müller, 4. November 1823, in: Unterhaltungen mit Goethe, a. a. O., S. 102. Vgl. hierzu Gerhard Kaiser, zum Erlebnisgedicht, in Geschichte der deutschen Lyrik von Goethe bis Heine, Erster Teil, Frankfurt / Main 1988. S. 67: „Erinnerung erweist sich hier ganz allgemein als paradoxe Möglichkeit, Nähe durch Abstand zu vergrößern. Um den Preis, daß die reale Wechselwirkung abgeschnitten ist, kann die erinnerte Geliebte gegenwärtiger sein als die gegenwärtige. […] Im Kreisen der Erinnerung kann schließlich das Gefühl bedacht, artikuliert, auf alle seine Schwingungen hin durchspürt werden, das im Augenblick der Unmittelbarkeit einfach da war, unter Umständen überwältigte. Es kann tiefer werden im reflexiven Rückbezug darauf, der schon im Verhältnis des Wortes ‚er-leben’ zu ‚leben’ steckt.“ <?page no="18"?> 14 In Goethes Leben zeigen sich Konstanten, die so grundsätzlich sind, daß dort, wo sie wirken, der Entstehungszeitpunkt einzelner Werke für ihren gedanklichen Inhalt nicht wesentlich ist. Wenn sich diese Arbeit um einer klareren Vermittlung solcher konstanter Inhalte willen wiederholt über die Chronologie von Entstehungs- oder Erscheinungsdaten hinwegsetzt, kann sie sich auf Äußerungen des Dichters berufen, nach welchen er manche Sujets jahrzehntelang im stillen mit sich herumgetragen habe 42 , ehe er sie aufzeichnete. Dementsprechend bekennt er auch in Dichtung und Wahrheit: Ein Gefühl […], das bei mir gewaltig überhand nahm, und sich nicht wundersam genug äußern konnte, war die Empfindung der Vergangenheit und Gegenwart in Eins: eine Anschauung, die etwas Gespenstermäßiges in die Gegenwart brachte. Sie ist in vielen meiner größern und kleinern Arbeiten ausgedrückt, und wirkt im Gedicht immer wohltätig, ob sie gleich im Augenblick, wo sie sich unmittelbar am Leben und im Leben selbst ausdrückte, Jedermann seltsam, unerklärlich, vielleicht unerfreulich scheinen mußte. 43 42 FA 1, S. 1233; ferner Brief an Zelter, 29. März 1827; an Nees von Esenbeck, 24. Mai 1827. 43 DuW III, 14; FA 14, S. 678. <?page no="19"?> 15 2. Trilogie der Leidenschaft 1. Die Trilogie im ganzen Aus einem immer weiter und höher entwickelten Kontinuum des Erlebens, wie Goethe es Kanzler von Müller gegenüber darlegte, nahm die Trilogie der Leidenschaft ihren Ursprung. Die äußeren Anstöße für die Entstehung der einzelnen Teile der Trilogie 1 sind so oft behandelt und nachgezeichnet worden 2 , daß ich mich damit begnüge, auf vorhandene Kommentare hinzuweisen, ohne ihnen jedoch grundsätzlich zu folgen. Die Dichtung sprengt den Rahmen der traditionellen biographischen Einordnung, weil sie, im wahrsten Sinne des Wortes, Goethes Lebenslied darstellt. So wie er ihr Kernstück, die Elegie, in die Hüllen der umrahmenden Gedichte gebettet hat, so ist er auch äußerlich mit ihrem Text verfahren: er hat ihn eigenhändig in lateinischer, korrekturfreier Schönschrift auf Velin-Papier abgeschrieben, hat sie mit einer seidenen Schnur in rotes Maroquin gebunden und sie einem der wenigen, die sie zunächst zu Gesicht oder Gehör bekamen, Johann Peter Eckermann, mit geradezu liturgischer Feierlichkeit, zwischen brennenden Kerzen dargeboten. 3 Als Goethe im Dezember krank lag, mußte ihm Zelter, der eben zu Besuch in Weimar weilte, das Gedicht wieder und wieder vorlesen. An ihn, den vertrautesten der späteren Freunde, schreibt er nach Berlin im Januar 1824: Daß Du mir die Mitteilung des Gedichtes durch innige Teilnahme so treulich wiedergabst war eigentlich nur eine Wiederholung dessen was Du durch Deine Kompositionen mir so lange her verleihest; aber es war doch eigen daß Du lesen und wieder lesen mochtest, mir durch Dein gefühlvolles sanftes Organ mehrmals vernehmen ließest was mir in einem Grade lieb ist den ich mir selbst nicht gestehen mag, und was mir denn doch jetzt noch mehr angehört da ich fühle daß Du Dir’s eigen gemacht hast. Ich darf es nicht aus Händen geben, aber lebten wir zusammen so müßtest Du mir’s solange vorlesen und vorsingen bis Du’s auswendig könntest. 4 Hier ist eine Rezeption gefordert, die sich den Gegenstand innigst anverwandelt, so daß er auswendig - par cœur, by heart - gewußt wird, als ein Lebendiges, das weiterwirken und sich auch im Leser weiter entfalten soll. In diesem Zusammenhang nochmals ein Wort aus dem oben zitierten Brief an Iken (vgl. S. 11): Da alles, was von mir mitgeteilt worden, auf Lebenserfahrung beruht, so darf ich wohl andeuten und hoffen, daß man meine Dichtungen auch wieder erleben wolle und werde. 1 FA 2, S. 456 ff. 2 Vgl. FA 2, S. 1050 f. 3 Vgl. Eckermann 27. Oktober 1823; a. a. O., S. 60 f. 4 An Zelter, 9. Januar 1824; HA Briefe 4, S. 99 f. <?page no="20"?> 16 Im Sinne dieser Forderung soll das Werk unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden, in der Hoffnung, daß die Untersuchung die ursprüngliche Wirkung von Gefühlsausdruck und Klangfülle nicht nur nicht mindern, sondern ihr zu einer zusätzlichen, von Goethe selbst vorgesehenen Teilhabe verhelfen möge. * * * Als erstes entstand der dritte Teil der Trilogie, das Gedicht Aussöhnung: Dank an die polnische Pianistin Marie Szymanowska, deren in Karlsbad veranstaltete Konzerte Goethe tief ergriffen hatten und die ihn auch persönlich bezauberte. Nach Konzerten später in Weimar kam es zu einem für Goethe schmerzlichen Abschied in seinem Hause, bei dem jene oben zitierten Worte über eine kreative Erinnerung fielen, die Kanzler von Müller überliefert hat. Dieses Gedicht scheint in der Ausgabe letzter Hand zweimal auf: als Schlußgedicht der Trilogie mit dem Titel Aussöhnung in Band 3 und im vierten Band als Nr. 38 der Inschriften, Denk- und Sendeblätter mit der Überschrift An Madame Marie Szymanowska 5 . Damit ist ausgedrückt, daß die Verse auf zwei verschiedenen Funktionsebenen ihre Gültigkeit haben: Der Anlaß ihres Entstehens, der Dank des Dichters an die begabte Künstlerin und liebenswürdige Frau, behält sein Gewicht. Auf der anderen Seite aber werden sie einem größeren Ganzen einverleibt, das in seinen zeitlichen, räumlichen, biographischen und literarischen Bezügen weit über den Anstoß hinausgreift. Goethe hat solches selbst im Inhaltsverzeichnis durch einen Zusatz zur eben erwähnten Fußnote festgehalten, die er dem Gedicht An Madame Marie Szymanowska mitgab: Auch ist hier wohl der Ort, noch mehrere Wiederholungen einzelner Gedichte wo nicht zu rechtfertigen doch zu entschuldigen. Das erstemal stehen sie im Allgemeinen unter ihres Gleichen, denen sie nur überhaupt durch einen gewissen Anklang verwandt sind; das zweitemal aber in Reih’ und Glied, da man sie denn erst ihrem Gehalt und Bezug nach erkennen und beurteilen wird. Weitersinnenden und mit unsern Arbeiten sich ernstlicher beschäftigenden Freunden glauben wir durch diese Anordnung etwas gefälliges erwiesen zu haben. 6 Nachträglich läßt sich dieses an den Schluß gesetzte Gedicht auch als eine Keimzelle, ein „Ur-Ei“ 7 , der Trilogie erkennen, in dem bereits die ganze Dichtung keimhaft angelegt ist. Hier offenbart sich Goethes Tendenz, in seiner Kunst dem Schaffen der Natur nachzueifern, besonders klar, denn hier zeigen sich schon alle jene Grundstimmungen, von denen die ganze Trilogie in wechselnder Abfolge getragen ist: Trauer, Sehnsucht, Verzweiflung an der Welt und der eigenen Person; Tröstung 5 FA 2, S. 594. Goethe hat das Gedicht mit folgender Fußnote versehen: „Dieses Gedicht, die Leiden einer bangenden Liebe ausdrückend, steht schon im vorigen Band […] ; hier durfte es nicht fehlen, weil es ursprünglich durch die hohe Kunst der Madame Szymanowska, der trefflichsten Pianospielerin, zu bedenklicher Zeit und Stunde aufgeregt und ihr ursprünglich übergeben wurde.“ 6 Ebd. Die eminente Wichtigkeit dieses so schlichten Fingerzeigs wird sich im Verlauf dieser Studie noch vielfach erweisen. 7 Mutatis mutandis analog zu Goethes Vergleich der Ballade mit einem „lebendigen Ur-Ey“ der Grundarten der Poesie, in Ballade, Betrachtung und Auslegung (1821), in: Über Kunst und Altertum III, 1; FA 21, S. 39. <?page no="21"?> 17 durch Gewahrwerden eines Höheren, „Überirdisch“-Schönen; und endlich dankbare Hingabe an den Augenblick erlebter Epiphanie. Auch das Versmaß der fünfhebigen Jamben ist in diesem erstentstandenen Schlußgedicht schon vorgegeben, sowie Strophen- und Reimschema des großen Mittelteils. Einzelne Reimpaare wie „verloren“ - „erkoren“ und „Sehnen“ - „Tränen“ aus den beiden späteren Gedichten sind bereits hier vertreten. Mit solchen und anderen sprachlichen Mitteln, auf die bald näher hingewiesen werden soll, werden die einzelnen Gedichte innigst miteinander verflochten. Auf diese Weise und durch die von Goethe ja selbst dokumentierte biographische Verankerung der umrahmenden Gedichte bezeugt sich die Identität des lyrischen oder Autor-Ich der Elegie mit dem der beiden letzteren. Das Gedicht Aussöhnung wird im Kontext der Stelle, die es in der Trilogie innehat, genau besprochen. 2. Das Gedicht An Werther Das Eingangsgedicht, die Kanzone An Werther 8 , entstand ein halbes Jahr nach der Elegie und acht Monate nach Aussöhnung, wobei sich äußerer Anstoß und kompositorische Verarbeitung verbanden: das fünzigjährige Jubiläum der Ersterscheinung des Werther-Romans und durch dessen lyrische Verknüpfung mit der Elegie seine Einbindung in die Lebenstotalität des Dichters. Hierzu äußerte er sich, wie Eckermann berichtet, folgendermaßen: Weygand [wollte] eine neue Ausgabe meines Werthers veranstalten und bat mich um eine Vorrede, welches mir dann ein höchst willkommener Anlaß war, mein Gedicht an Werther zu schreiben. Da ich aber immer noch einen Rest jener Leidenschaft im Herzen hatte, so gestaltete sich das Gedicht wie von selbst als Introduktion zu jener ‚Elegie’. 9 Zur neuen Ausgabe gab es also erstmals seit der zweiten Auflage von 1775 wieder einen Vorspruch zum Roman. Seinerzeit hatte Goethe, beunruhigt durch die Selbstmordwelle, die sein Werk ausgelöst hatte, dem ersten Buch die Verse vorangestellt: Jeder Jüngling sehnt sich so zu lieben, Jedes Mädchen so geliebt zu sein. Ach, der heiligste von unsern Trieben, Warum quillt aus ihm die grimme Pein? 10 Und dem zweiten Buch: Du beweinst, du liebst ihn, liebe Seele, Rettest sein Gedächtnis vor der Schmach: 8 Tagebuch-Eintrag vom 25. 3. 1824: „War das Gedicht zur neuen Ausgabe von Werther fertig geworden; “ 9 Eckermann, 1. Dezember 1831; a. a. O., S. 764. 10 FA 8, S. 917. <?page no="22"?> 18 Sieh, dir winkt sein Geist aus seiner Höhle: Sei ein Mann und folge mir nicht nach. 11 Abschnitt 1 Noch einmal wagst du, vielbeweinter Schatten, Hervor dich an das Tageslicht, Begegnest mir auf neu beblümten Matten Und meinen Anblick scheust du nicht. Es ist als ob du lebtest in der Frühe, Wo uns der Tau auf Einem Feld erquickt, Und nach des Tages unwillkommner Mühe Der Scheidesonne letzter Strahl entzückt; Zum Bleiben ich, zum Scheiden du, erkoren, Gingst du voran - und hast nicht viel verloren. Eine gewisse Distanz, die Goethe im zweiten Vierzeiler des Vorspruchs zur Gestalt Werthers dokumentieren möchte und dem Leser nahelegt, wie auch später noch häufig, finden wir im Eingangsgedicht der Trilogie nicht mehr. Die Ironie am Schlusse ist Selbstironie. Die Rede wendet sich nicht mehr an den Leser, sondern an den nach einem halben Jahrhundert wieder erschienenen „Schatten“, dessen Identität mit dem Dichter, insbesondere während der drei mittleren Abschnitte, immer stärker zutagetritt. Sie ist ausgedrückt im „Wir“ und in der dritten Person Singular, die gleich gilt für Sprecher und Angesprochenen. Zu Beginn des Gedichtes sieht sich der Dichter mit seiner eigenen Jünglingsgestalt konfrontiert und weist, um sich, wie es zunächst den Anschein hat, zu distanzieren, die Erscheinung zurecht: „Und meinen Anblick scheust du nicht.“ Das klingt streng, der jugendliche Revenant scheint damit gerügt, doch ließen sich die Worte auch umgekehrt verstehen und würden, so verstanden, andeuten, daß für Werther kein Grund bestehe, sein am Leben gebliebenes Alter Ego zu scheuen, befinde es sich doch in einer der seinen ganz ähnlichen Lage. Der junge wie der gereifte Mann haben denselben Erlebnishintergrund. Werther darf sich wohl des Verständnisses seines Gegenübers gewiß sein. Der „vielbeweinte Schatten“, dessen Auftreten zunächst als ungehörige Eigenmächtigkeit erscheint, gewinnt im folgenden trotz, oder vielleicht gerade wegen, seiner Wortlosigkeit immer mehr an selbstverständlicher Präsenz. Der Vers: „Es ist, als ob du lebtest in der Frühe“, legt ungeachtet seiner durch das „als ob“ geprägten Irrealität der syntaktischen Fügung, den Akzent auf Leben. Der nächste Vers „Wo uns der Tau auf Einem Feld erquickt“, weist unter Einspiegelung des später zitierten Werther-Briefes vom 10. Mai auf die biographische Identität. Das Folgende hebt den stummen jugendlichen Partner und den Sprechenden immer mehr in die Sphäre gemeinsamer Erfahrung. Die beiden Schlußverse des ersten Abschnitts: Zum Bleiben ich, zum Scheiden du, erkoren, Gingst du voran - und hast nicht viel verloren. 11 Ebd. <?page no="23"?> 19 fallen geradezu zugunsten von Werthers kurzer Existenz aus und machen aufhorchen, sagen sie doch nicht mehr und nicht weniger, als daß alles, was nach der Werther-Zeit kam, dem Dichter „nicht viel“ bedeutete. Mit „erkoren“ ist ausgedrückt, wie nahe am Abgrund er selber damals stand. Darüber hinaus gibt hier auch die Sprache Aufschluß, die mit ihren Wortkörpern das Bild von zwei Waagschalen vor Augen ruft: „Zum Bleiben ich“ hält sich mit „zum Scheiden du“ zunächst genau in der Schwebe durch das anaphorische „zum”, durch den Parallelismus der substantivierten Infinitive mit ihrer Assonanz der Diphthonge, bis hin zu den beiden Pronomina „ich“ und „du“, wobei die Diärese beide Kola scharf trennt. Nun aber zieht das Schlußwort „erkoren” die Waagschale Werthers schon rein äußerlich optisch oder akustisch, jedenfalls metrisch, durch sein Gewicht nach unten. Der nachfolgende Vers gibt genau diesen Befund, in Worte gefaßt, wieder: was zurückbleibt, wiegt leichter. Abschnitt 2 Des Menschen Leben scheint ein herrlich Los: Der Tag, wie lieblich, so die Nacht, wie groß! Und wir gepflanzt in Paradieseswonne, Genießen kaum der hocherlauchten Sonne, Da kämpft sogleich verworrene Bestrebung Bald mit uns selbst und bald mit der Umgebung; Keins wird vom andern wünschenswert ergänzt, Von außen düstert’s, wenn es innen glänzt, Ein glänzend Äußres deckt mein trüber Blick, Da steht es nah - und man verkennt das Glück. Die auf den ersten Abschnitt folgenden Abschnitte der Kanzone heben sich vom ursprünglichen Reimschema (ababcdcdee) markant durch den Paarreim ab. Damit ist eine Trennungslinie gezogen, hat ein Tonartwechsel eingesetzt. Der neue Ton ist einfacher, spontaner, Werther gemäßer. In den drei folgenden Abschnitten vollzieht sich die Rückverwandlung des alten Dichters. „Du“ und „Ich“ sind einem umgreifenden „Wir“ oder dem in die Allgemeingültigkeit gehobenen „Er“ gewichen. Nur einmal, in der vorletzten Zeile, taucht das Possessivum „mein” fast wie ein unversehens unterlaufener Lapsus auf, vom Dichter kunstvoll als Bekundung seiner Identität mit Werther eingeschmuggelt. (Erst im Schlußabschnitt scheint der Dualismus wieder auf, ohne daß jedoch die durch den Paarreim bedeutete Tonart aufgegeben würde.) Des Menschen Leben scheint ein herrlich Los: Der Tag wie lieblich, so die Nacht wie groß! Mit solchem überwältigten Staunen des Kindes über die Schönheit der Welt hebt der Abschnitt an. Die Polarität von Tag und Nacht wird als wunderbar harmonisch wahrgenommen. Wieder liegt hier ein Vers vor, der mit seinen von einer starken Mittelzäsur getrennten Hälften einer Waage gleicht, die sich jedoch diesmal völlig im Gleichgewicht hält. Aussage und Versstruktur sind eins. Welt und Seele wissen sich in Einklang. Aber der Moment der noch von keiner unliebsamen Erfahrung getrübten „Paradieseswonne“ ist gleich vorbei. Die Gegensätzlichkeit im mensch- <?page no="24"?> 20 lichen Bereich, in der sich das Kind findet, wird als Kampf, als „verworrene Bestrebung“, als Zustand des Mangels erlebt. Die Polarität von Tag und Nacht scheint wieder auf, übersetzt in die Hell-Dunkel-Metaphorik seelischer Befindlichkeit: „Von außen düstert’s, wenn es innen glänzt, / Ein glänzend Äußres deckt mein trüber Blick“. Die Polarität der Vershälften wird gerade durch deren teilweise Parallelität bei asymmetrisch gesetzten Aussagen beunruhigend fühlbar, ebenso das Verlangen nach Harmonisierung. Das vorhandene Glück bleibt unerkannt: „Da steht es nah - und man verkennt des Glück.“ Der Gedankenstrich und die drei auf ihn folgenden ganz schwach betonten Silben nach der Diärese bilden eine längere Stille wie ein tiefes Atemholen, ehe die Schlußworte fallen. Fast wörtlich im Tasso aus dem Munde der Prinzessin dieselbe Klage: Es gibt ein Glück, allein wir kennen’s nicht: Wir kennen’s wohl, und wissen’s nicht zu schätzen. 12 Abschnitt 3 Nun glauben wir’s zu kennen! Mit Gewalt Ergreift uns Liebreiz weiblicher Gestalt: Der Jüngling, froh wie in der Kindheit Flor Im Frühling tritt als Frühling selbst hervor, Entzückt, erstaunt, wer dies ihm angetan? Er schaut umher, die Welt gehört ihm an. Ein neuer Rhythmus weht durch diese Verse, dynamisiert im scharf konturierten Enjambement, treibt er die Worte an und hin zum Versende. Den Eindruck verstärken die vielen Frikative, die sich hier wie auch im nächsten Abschnitt häufen. Unversehens hat sich das Kind zum Jüngling gewandelt, den ein neues Gefühl durchpulst, ein neues Erstaunen, das nun ihm selber gilt. Das ist das seelische Substrat des Werther-Briefs vom 10. Mai und der Ganymed-Hymne: Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen, gleich den süßen Frühlingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen genieße. Ich bin allein und freue mich meines Lebens in dieser Gegend, die für solche Seelen geschaffen ist, wie die meine. Ich bin so glücklich, mein Bester, so ganz in dem Gefühle von ruhigem Daseyn versunken, daß meine Kunst darunter leidet, […]. Wenn das liebe Thal um mich dampft und die hohe Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsternis meines Waldes ruht und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligtum stehlen, ich dann im hohen Grase am fallenden Bache liege und näher an der Erde tausend mannichfaltige Gräschen mir merkwürdig werden; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzähligen unergründlichen Gestalten der Würmchen, der Mückchen näher an meinem Herzen fühle, und fühle die Gegenwart des Allmächtigen, der uns nach seinem Bilde schuf, das Wehen des Alliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält; mein Freund! wenn’s dann um meine Augen dämmert, und die Welt um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele ruhn wie die Gestalt einer Geliebten, dann sehne ich mich oft und denke: ach könntest du das wieder ausdrücken, könntest dem Papiere das 12 Torquato Tasso, v. 1912 f.; FA 5, S. 788. <?page no="25"?> 21 einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, da es würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes! 13 G ANYMED (frühe Fassung) Wie im Morgenrot Du rings mich anglühst Frühling Geliebter! Mit tausendfacher Liebeswonne Sich an mein Herz drängt Deiner ewigen Wärme Heilig Gefühl Unendliche Schöne! Daß ich dich fassen möcht In diesen Arm! Ach an deinem Busen Lieg ich, schmachte, Und deine Blumen dein Gras Drängen sich an mein Herz Du kühlst den brennenden Durst meines Busens Lieblicher Morgenwind! Ruft drein die Nachtigall Liebend nach mir aus dem Nebeltal. Ich komme! Ich komme! Wohin? Ach wohin? Hinauf hinauf strebts! Es schweben die Wolken Abwärts die Wolken, Neigen sich der sehnenden Liebe. Mir! Mir In eurem Schoße Aufwärts! Umfangend umfangen! Aufwärts An deinem Busen Alliebender Vater! 14 Werther und Ganymed sind ein und derselbe. Wie verwandt der Hymne ist aber auch Werthers Gebet vor seinem Tod, aus dem zugleich Ganymed und der Verlorene Sohn der Parabel sprechen! […] Vater den ich nicht kenne! Vater! der sonst meine ganze Seele füllte, und nun sein Angesicht von mir gewendet hat! rufe mich zu dir! Schweige nicht länger! Dein Schweigen wird diese dürstende Seele nicht aufhalten - Und 13 FA 8, S. 15. 14 FA 1, S. 205. <?page no="26"?> 22 würde ein Mensch, ein Vater zürnen können, dem sein unvermuthet rückkehrender Sohn um den Hals fiele und riefe: Ich bin wieder da, mein Vater! Zürne nicht, daß ich die Wanderschaft abbreche, die ich nach deinem Willen länger aushalten sollte. Die Welt ist überall einerley, auf Mühe und Arbeit, Lohn und Freude; aber was soll mir das? Mir ist nur wohl wo du bist, und vor deinem Angesicht will ich leiden und genießen. - Und du, lieber himmlischer Vater, solltest ihn von dir weisen? 15 Indem in Goethes Umdeutung des Ganymed-Mythos sich das passive Objekt der gewaltsamen Entführung zum sehnenden Subjekt wandelt, rückt der aus sich und über sich hinaus strebende Jüngling in die Nähe von Ikarus und Phaeton, die in ihrem Höhenflug auch ihren Untergang finden, wie später der Euphorion der Helena-Tragödie in Faust II. Lebensgefühl und Intensität des Erlebens sind jeweils die des jungen Werther: In’s Weite zieht ihn unbefangene Hast, Nichts engt ihn ein, nicht Mauer, nicht Palast: Wie Vögelschar um Wäldergipfel streift, So schwebt auch er, der um die Liebste schweift, Er sucht vom Äther, den er gern verläßt, Den treuen Blick, und dieser hält ihn fest. (An Werther, v. 26-32) Auch hier ein zunächst zielloses Wegstreben, dann ein allmähliches Innewerden einer Richtung, ein Gipfelflug um einen Mittelpunkt, die Liebesbindung letztlich an eine liebende Seele. Die Bilder von „Mauer“ und „Palast“ passen weder auf Werther noch auf den jungen Goethe; warum setzt sie der Dichter hier ein als Symbole der Beschränkung und Einengung des zur Liebe erwachten Jünglings? Die dreifache Negation des Verbs, das im Vers an erste Stelle gesetzte „Nichts“ deuten auf gewaltige Hindernisse. „Mauer“ und „Palast“ werden aus dem alles umfassenden „Nichts“ herausgehoben und, jedes für sich, nochmals negiert. Was ist damit angezeigt? Die Antwort liegt in Goethes Methode der Einspiegelung. Das Bild der Mauer weist auf die von Ovid erzählte (in Shakespeares Sommernachtstraum parodierte) Geschichte von Pyramus und Thisbe aus Babylon, die einander von Kindheit an lieben, denen aber, da sie herangewachsen sind, von den Vätern die Heirat verwehrt wird. Eine Mauer zwischen den beiden aneinandergebauten elterlichen Häusern trennt die jungen Liebenden, ermöglicht aber durch einen schmalen Spalt ihr Geflüster. So wird die Trennung immer quälender und die Sehnsucht immer mehr angefacht, bis beiden schließlich die heimliche Flucht gelingt, die dann aber nicht in der erträumten Verbindung endet. Unglückliche Zufälle und voreilige Schlußfolgerungen treiben, in unseliger Verwicklung, jeden der beiden Liebenden in den um des Anderen willen selbstverhängten Tod. 16 15 Brief vom 30. November; FA 8, S. 191. 16 Ovid, Met. IV, v. 55-161; mit Hinweis auf Ovid nacherzählt in <ursprünglich: Peter Lauremberg,> Newe und vermehrte Acerra Philologica, Das ist Sechs Hundert auserlesene / nützliche / lustige und denckwürdige Historien von Discursen auß den berümbtesten Griechischen und Lateinischen Scribenten zusammengetragen, Cleve M.DC.LXVI. Das dritte Hundert 5; a. a. O., S. 375. <?page no="27"?> 23 Shakespeare hat die Motivik der antiken Fabel im Schicksal der jugendlichen Liebenden Romeo und Julia im Drama nachgezeichnet, wie man sogleich als weitere Spiegelung assoziiert, für welche „Palast” das Stichwort liefert. Auf diese Weise sind der Jüngling der Werther-Kanzone und seine im Gedicht fast ganz ausgesparte Gefährtin eingereiht unter die berühmten jugendlichen Liebespaare, die durch ihren tragischen, aus dem Verhalten ihrer Umgebung resultierenden Untergang in die Weltliteratur eingegangen sind. Der folgende Vermerk Goethes stammt schon aus der Zeit der Ephemerides (1770-1771): „Romeo und Julie ist eben das Sujet von Pyramus und Thisbe.“ 17 Wie sehr bewußt das Bilderpaar von „Mauer“ und „Palast“ in der Werther-Kanzone eingesetzt wurde, läßt sich daraus ersehen, daß es auch schon im Gedicht Dauer im Wechsel 18 (Erstdruck 1806) als Symbol aufscheint, und zwar dort an erster Stelle, wo nach den an der Umwelt wahrgenommenen Veränderungen die Wandlungen des Menschen selber zum Thema werden und die Reflexion seinem Blick auf Welt und Leben gilt: „Du nun selbst! Was felsenfeste / Sich vor dir hervorgetan, / Mauern siehst du, siehst Paläste / Stets mit andern Augen an.“ Mit dem verschlüsselten Verweis auf die literarischen Vorbilder ist die Richtung, in welcher das Geschick seinen Weg nehmen wird, in der Kanzone vorgegeben, auch wenn hier der Liebende noch, aufgeteilt in viele sehnsuchtsvolle Gedanken, einer Vogelschar gleich, die Geliebte umkreist, bis ihr „treuer Blick“ ihn ihrer Gegenliebe versichert und festhält. Der Höhepunkt menschlichen Lebensgefühls ist hier erreicht, eine Phase der Steigerung aller Fähigkeiten, der Beflügelung, ja Vergöttlichung, dargestellt im Bild des inkarnierten Frühlings 19 , in Ganymeds überbordender Sehnsucht, im Gipfelflug des Liebenden. Urworte. Orphisch Spätestens hier tritt eine deutliche Parallelität zu einer anderen Dichtung Goethes zutage, zu Urworte. Orphisch. 20 Darauf ist näher einzugehen. Das Gedicht bietet sich förmlich an zum Vergleich, da es ebenfalls einen Überblick über das Leben, und wiederum vorwiegend über das Leben des jungen Menschen, vermittelt, hier jedoch ins Mythisch-Allgemeingültige gesteigert. Die auffallende Analogie zur Kanzone beglaubigt Urworte jedoch auch als autobiographisches Destillat, das seinerseits Licht in dunkle Stellen der ersteren zu werfen geeignet ist. In Anlehnung an antike Lehre 21 werden hier jene Schicksalsmächte veranschaulicht, die von außen wie von innen bestimmend auf das Leben Einfluß nehmen. Jeweils eine der fünf Stanzen ist einer der Mächte zugeordnet. Da ist zunächst ΔΑΙΜΩΝ , Dämon der im Bilde der astrologischen Konstellation den innersten Wesenskern mit seinen unveränderbaren charakterlichen Zügen und Verhaltensweisen festlegt: „So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen“. ΤΥΧΗ , Das Zufällige erscheint als nächste Macht. Sie versinnbildlicht die Lebensumstände, in 17 Hanna Fischer-Lamberg, Hrsg., a. a. O., Der junge Goethe, Bd. 1, S. 427.) („eben” steht hier für ‚ebendasselbe’.) 18 FA 2, S. 78 f. (Str. 3). 19 Vgl. Ovid, Met. II, v. 27. 20 FA 2, S. 501 f. 21 Entstanden am 8. 10. 1817. Vgl. Karl Eibl im Kommentar, FA 2, S. 1092 ff., insbesondere zu den antiken Quellen S. 1095. <?page no="28"?> 24 die ein Mensch hineingeboren wird, und wirkt sich am stärksten in der Kindheit aus, die, ähnlich wie in Abschnitt 2 der Kanzone, als beengend und enttäuschend erfahren wird. Die Stanze schließt mit den Versen: Schon hat sich still der Jahre Kreis geründet, Die Lampe harrt der Flamme die entzündet. Hierauf folgt: ΕΡΩΣ , L IEBE Die bleibt nicht aus! - Er stürzt vom Himmel nieder, Wohin er sich aus alter Öde schwang, Er schwebt heran auf luftigem Gefieder Um Stirn und Brust den Frühlingstag entlang, Scheint jetzt zu fliehn, vom Fliehen kehrt er wieder, Da wird ein Wohl im Weh, so süß und bang. Gar manches Herz verschwebt im Allgemeinen, Doch widmet sich das edelste dem Einen. Im Lichte des oben besprochenen erhöhten und von Erdenschwere befreiten Zustands des Menschen am Beginn des Erwachsenseins weist auch die Eros-Stanze auf eine Apotheose, sowohl durch ihre Sprache als auch durch ihre Symbolik. Im Titel ist das grammatische Genus der waltenden Macht mit ΕΡΩΣ , Liebe, nicht festgelegt. Das Pronomen „Er“, mit dem der erste Vers der Strophe in seiner zweiten Hälfte scharf pointiert einsetzt und das man zunächst wohl auf Eros bezieht, kann aber ebenso den Jüngling meinen, der „den Äther […] verläßt“, wie es in der Kanzone heißt. Sprachlich ist in dieser Ambivalenz eine Verschmelzung vollzogen. Eros, der Gott, nimmt Gestalt an im Jüngling, der sich plötzlich einer vorher ungeahnten Schöpferkraft bewußt wird, wie der oben zitierte Werther-Brief es darstellt. Davon sagen die Erläuterungen nichts, mit denen Goethe die Stanzen 1817, im Jahr ihrer Erstveröffentlichung, an anderer Stelle nochmals publizierte. 22 Doch deutet die Symbolik des „Schwebens“, des „luftigen Gefieders“, des „Frühlingstags“ 23 auch hier auf eine normales Menschenmaß kurzfristig übersteigende Transformation. Die Stanze findet im beschließenden Verspaar ihren Höhepunkt: Gar manches Herz verschwebt im Allgemeinen, Doch widmet sich das edelste dem Einen. Dazu sagt Goethe in seinen Erläuterungen: […] nun zeigt sich erst, wessen der Dämon fähig sey; er, der selbständige, selbstsüchtige, der mit unbedingtem Wollen in die Welt griff und nur mit Verdruß empfand wenn Tyche, da oder dort, in den Weg trat, er fühlt nun daß er nicht allein durch Natur bestimmt und gestempelt sey; jetzt wird er in seinem Innern gewahr daß er sich selbst bestimmen könne, daß er den durchs Geschick ihm zugeführten Gegenstand nicht nur gewaltsam ergreifen, sondern auch sich 22 Über Kunst und Altertum IIl / 3; FA 20, S. 491 ff. 23 Hes. Thgn. 1275 ff. <?page no="29"?> 25 aneignen und, was noch mehr ist, ein zweytes Wesen, eben wie sich selbst, mit ewiger unzerstörlicher Neigung umfassen könne. 24 Urworte. Orphisch werden, zusammen mit Goethes Erläuterungen, sich noch mehrfach als aufschlußreich für die Werther-Kanzone erweisen. Doch zunächst noch ein Blick auf die Form der letzteren. Dabei fällt auf, daß die in den Abschnitten 1 und 2 gesetzte Norm der zehnzeiligen Strophe erstmalig in Abschnitt 3 durchbrochen ist. Das Übermaß an Gefühl sprengt die Form und erweitert sie hier um ein Verspaar. Der folgende vierte Abschnitt wirkt mit seinen sechs Zeilen karg und schmächtig, eingefügt zwischen die doppelt so umfangreichen Abschnitte 3 und 5. Dennoch bleibt die Ökonomie des Gedichts, im Sinne von Goethes Morphologie 25 und seiner Auffassung von Kunst als vollendeter Natur, gewahrt: Abschnitt 4 ist genau um die Zeilenzahl ärmer, die die beiden umgebenden Abschnitte gemeinsam zu viel haben. Hier drückt die Form aus, was die Worte verschweigen: das Verstummen im Schmerz. Halten wir dazu Goethes Feststellung: Der Dichter ist angewiesen auf Darstellung. Das Höchste derselben ist, wenn sie mit der Wirklichkeit wetteifert, d. h. wenn ihre Schilderungen durch den Geist dergestalt lebendig sind, daß sie als gegenwärtig für jedermann gelten können. Auf ihrem höchsten Gipfel scheint die Poesie ganz äußerlich[…]. 26 Abschnitt 4 Doch erst zu früh und dann zu spät gewarnt, Fühlt er den Flug gehemmt, fühlt sich umgarnt, Das Wiedersehn ist froh, das Scheiden schwer, Das Wieder-Wiedersehn beglückt noch mehr Und Jahre sind im Augenblick ersetzt; Doch tückisch harrt das Lebewohl zuletzt. In den ersten beiden Versen bahnt sich die Katastrophe an, aber es bleibt offen, von welcher Seite die Gefahr droht; ist es ein „Zauberfädchen” 27 der Liebsten oder legt die Umgebung Fallstricke aus? Jedenfalls hält der Zustand der Beklommenheit über Jahre an, in denen Trennung und Wiedersehen Trauer und Glück bereiten, bis zuletzt der endgültige Abschied hereinbricht aus seinem Hinterhalt, in dem er „tückisch” die ganze Zeit auf seinen Augenblick „geharrt” hat. Zusätzlich zur Einbeziehung der Leiden des jungen Werthers können Goethes Erläuterungen, die zwischen die Stanzen Eros und Ananke eingeschoben sind, die Stelle klären helfen und die Situation aus der Perspektive des um so viele Jahre älteren Dichters neu beleuchten. Anschließend an die eben zitierte Passage folgt die bittere Abrech- 24 FA 20, S. 495. 25 FA 24, S. 263-281; ferner S. 836: Von einer andern Hauptwahrheit […] ist er [Geoffroy de Saint Hilaire] gleichfalls durchdrungen, daß nämlich die haushälterische Natur sich einen Etat, ein Budget vorgeschrieben, in dessen einzelnen Kapiteln sie sich die vollkommenste Willkür vorbehält, in der Hauptsumme jedoch sich völlig treu bleibt, indem, wenn an der einen Seite zuviel ausgegeben worden, sie es der andern abzieht und auf die entschiedenste Weise sich ins Gleiche stellt. 26 FA 13 (Sprüche in Prosa), S. 139 (2. 22. 2; H 510). 27 FA 1, S. 167, v. 17. <?page no="30"?> 26 nung mit den bestehenden Gesellschaftsstrukturen, insbesondere mit der Institution der Ehe: Kaum war dieser Schritt gethan, so ist durch freyen Entschluß die Freyheit aufgegeben; zwey Seelen sollen sich in einen Leib, zwey Leiber in eine Seele schicken und indem eine solche Uebereinkunft sich einleitet, so tritt, zu wechselseitiger liebevoller Nöthigung <hier fällt bereits der Titel der nächsten Stanze> noch eine Dritte hinzu; Eltern und Kinder müssen sich abermals zu einem Ganzen bilden, groß ist die gemeinsame Zufriedenheit, aber größer das Bedürfniß. Der aus so viel Gliedern bestehende Körper krankt, gemäß dem irdischen Geschick, an irgendeinem Theile, und, anstatt daß er sich im Ganzen freuen sollte, leidet er am Einzelnen und dem ohngeachtet wird ein solches Verhältnis so wünschenswerth als nothwendig gefunden. Der Vortheil zieht einen jeden an und man läßt sich gefallen, die Nachtheile zu übernehmen. Familie reiht sich an Familie, Stamm an Stamm, eine Völkerschaft hat sich zusammengefunden und wird gewahr daß auch dem Ganzen fromme was der Einzelne beschloß, sie macht den Beschluß unwiederruflich durchs Gesetz; alles was liebevolle Neigung freywillig gewährte wird nun Pflicht, welche tausend Pflichten entwickelt, und damit alles ja für Zeit und Ewigkeit abgeschlossen sey, läßt weder Staat, noch Kirche, noch Herkommen es an Zeremonien fehlen. Alle Theile sehen sich durch die bündigsten Contracte, durch die möglichsten Oeffentlichkeiten vor, daß ja das Ganze in keinem kleinsten Theil durch Wankelmuth und Willkühr gefährdet werde. 28 Hieran schließt nun die mit ΑΝΑΓΚΗ Nötigung überschriebene Stanze an. Die Übersetzung des Titels gibt zugleich die Interpretation: Ananke ließe sich auch mit „Notwendigkeit“ wiedergeben und hätte so das Gewicht des zwingend Unabänderlichen, während „Nötigung“ eher einem unliebsamen Eingriff in die Freiheit des Einzelnen oder gar einem Angriff gleichkommt. Dem scheint der erste Vers zu widersprechen: „Da ist’s denn wieder, wie die Sterne wollten”, der sich zurückbezieht auf die Dämon-Stanze, die, weil sie nicht formal parallel zu einem der Abschnitte der Werther-Kanzone gesetzt ist, bisher nur gestreift wurde. Doch nun ist sie durch ihre Eingebundenheit in die Ananke-Strophe, die dem Abschnitt 4 entspricht, für das Verständnis unerläßlich: ΔAIMΩN , D ÄMON Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen, Die Sonne stand zum Gruße der Planeten, Bist alsobald und fort und fort gediehen, Nach dem Gesetz wonach du angetreten. So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen, So sagten schon Sibyllen, so Propheten; Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt Geprägte Form die lebend sich entwickelt. 29 Hierzu Goethe in seinen Erklärungen: 28 FA 20, S. 495 f. 29 FA 2, S. 502. <?page no="31"?> 27 Der Bezug der Ueberschrift auf die Strophe selbst bedarf einer Erläuterung. Der Dämon bedeutet hier die nothwendige, bey der Geburt unmittelbar ausgesprochene, begränzte Individualität der Person, das Charakteristische wodurch sich der Einzelne von jedem andern, bey noch so großer Aehnlichkeit unterscheidet. Diese Bestimmung schrieb man dem einwirkenden Gestirn zu und es ließen sich die unendlich mannigfaltigen Bewegungen und Beziehungen der Himmelskörper, unter sich selbst und zu der Erde, gar schicklich mit den mannigfaltigen Abwechselungen der Geburten in Bezug stellen. Hiervon sollte nun auch das künftige Schicksal des Menschen ausgehen, und man möchte, jenes erste zugebend, gar wohl gestehen daß angeborne Kraft und Eigenheit mehr als alles Uebrige des Menschen Schicksal bestimme. Deßhalb spricht diese Strophe die Unveränderlichkeit des Individuums mit wiederholter Betheuerung aus. Das noch so entschieden Einzelne kann, als ein Endliches, gar wohl zerstört, aber, solange sein Kern zusammenhält, nicht zersplittert, noch zerstückelt werden, sogar durch Generationen hindurch.[…] 30 Der fortsetzende schmale Paragraph, der zu ΤΥΧΗ , dem „Zufällige(n)“, überleitet, weist diesem, also den Lebensumständen, den Kindheitseindrücken, der Bildung etc., eine nur begrenzte und eher hindernde Einwirkung auf den Dämon zu. Da Goethe sich in den Urworten als Interpret antiker Überlieferung gibt, konnte er sich einer möglichen Kritik solcher psychologischer Auffassung seitens der Zeitgenossen leicht entziehen. Doch steht er wohl mit Überzeugung hinter ihr. Der Wille der Sterne, auf den sich die erste Zeile von Ananke wieder beruft, ist keine von außen einwirkende Kraft, sondern repräsentiert den innersten Wesenskern. Insofern entspricht der „Nötigung“ von außen nun doch wieder eine, in die Titelübersetzung nicht einbezogene, innere Notwendigkeit: Da ist’s denn wieder wie die Sterne wollten: Bedingung und Gesetz, und aller Wille Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten, Und vor dem Willen schweigt die Willkür stille; Das Liebste wird vom Herzen weggescholten, Dem harten Muß bequemt sich Will’ und Grille. So sind wir scheinfrei denn nach manchen Jahren Nur enger dran als wir am Anfang waren. Hier fügt Goethe in den Erläuterungen an: Keiner Anmerkung bedarf wohl diese Strophe weiter; niemand ist dem nicht Erfahrung genugsame Noten zu einem solchen Text darreichte, niemand der sich nicht peinlich gezwängt fühlte wenn er nur erinnerungsweise sich solche Zustände hervorruft, gar mancher, der verzweifeln möchte, wenn ihn die Gegenwart also gefangen hält. […] Fünfmal fallen in dieser Strophe die Wörter „Wille“, „wollen“ oder eine der davon abgeleiteten Formen (nicht gerechnet „Willkür“, das hier so viel bedeutet wie Willensentscheidung). Der Mensch wird durch das ihm selbst innewohnende Gesetz seiner charakterlichen Prägung gezwungen, „scheinfrei“ die Nötigung von außen zu akzeptieren, sich ihrem Joch zu beugen aus innerer Notwendigkeit, entgegen 30 FA 20, S. 492 f. Vgl. dazu Dichtung und Wahrheit IV, 20; FA 14, S. 839 ff. <?page no="32"?> 28 seinem Gefühl und, unter Umständen, entgegen seiner eigenen Wahrheit. In diesem Sinne erklärt sich die Umgarnung, von welcher Abschnitt 4 der Kanzone spricht. Sie besteht in Entscheidungsnöten, Zweifeln, Gewissensängsten, Selbstaufgabe, Verzicht - bis hin zum Verzicht auf das Leben wie im Falle Werthers. „Doch tückisch harrt das Lebewohl zuletzt“, als etwas, das sich listig, geduldig und gnadenlos durchsetzt, so wie der Vogelfänger einen umgarnten Vogel oder die Spinne ein sich ins Netz verstrickendes Insekt betrachtet. Abschnitt 5 der Werther-Kanzone Mit der letzten Stanze der Urworte ist die antike Folge der Schicksalsmächte zu ihrem Anfang zurückgekehrt. Denn, wie Wolfgang Kayser festhält, gibt es im antiken Prototyp der Urworte kein Äquivalent für ΕΛΠΙΣ . 31 Die der Hoffnung gewidmete, von Goethe frei erfundene Strophe kommt hier nicht mehr zu Wort. Hier herrscht nur noch Trauer, nach außen hin ironisch abgemildert: „Du lächelst, Freund, gefühlvoll wie sich ziemt“, wie es sich für Werther ziemt, der ja die literarische Periode der Empfindsamkeit nicht überlebt hat, über welche sich Goethe später auch bitter lustig machen konnte (wie z. B. in Triumph der Empfindsamkeit 32 ). Das „gräßliche Scheiden“ wird als „kläglich Mißgeschick“ abgetan, was bestenfalls eine Geschmacklosigkeit wäre, wenn Goethe es auf diese Weise nicht, wieder ironisch, als eigene biographische Möglichkeit ausweisen wollte, die herabzusetzen er selber sich wohl berechtigt fühlte. Wie sehr nahe ihm die Entscheidung zum Suizid damals, aber auch später noch, gelegen hat, geht aus einer ganzen Reihe autobiographischer Hinweise hervor 33 und spiegelt sich auch wider in Egmont, Faust, den Wahlverwandtschaften, Wilhelm Meisters Lehrjahren und vielem anderen. Aus der Perspektive des Romans ist Werthers Selbstmord alles andere denn ein „kläglich Mißgeschick“; Werther versteht ihn als Opfertod. Hierzu aus seinem Brief vom 20. Dezember, den Lotte erst nach seinem Tode lesen wird: […] Wie ich mich gestern von dir riß, in der fürchterlichsten Empörung meiner Sinnen, wie sich all all das nach meinem Herzen drängte, und mein hoffnungsloses, freudloses Daseyn neben Dir, in gräßlicher Kälte mich anpakte; ich erreichte kaum mein Zimmer, ich warf mich ausser mir auf meine Knie, und o Gott! du gewährtest mir das letzte Labsal der bittersten Thränen, und tausend Anschläge, tausend Aussichten wütheten durch meine Seele, und zuletzt stand er da, fest ganz der letzte einzige Gedanke: ich will sterben! - Ich legte mich nieder, und Morgens, in all der Ruh des Erwachens, steht er noch fest, noch ganz stark in meinem Herzen: ich will sterben! - Es ist nicht Verzweiflung, es ist Gewißheit, daß ich ausgetragen habe, und daß ich mich opfere für Dich, ja Lotte! warum sollt ich’s verschweigen: eins von uns dreyen muß hinweg, und das will ich seyn! O meine Beste, in diesem zerrissenen Herzen ist es wüthend herum geschlichen, oft - Deinen Mann zu ermorden! - Dich! - mich! - So sey’s denn! Wenn du hinauf steigst auf den Berg, an einem schönen Sommeraben- 31 Vgl, Wolfgang Kayser, Kunst und Spiel, Fünf Goethe-Studien, darin Goethes Dichtungen in Stanzen, Göttingen 1967. S. 95 ff. 32 FA 5, S. 111. 33 U. a. DuW III, 13; FA 14, S. 628 ff. <?page no="33"?> 29 de, dann erinnere dich meiner, wie ich so oft das Thal herauf kam, und dann blikke nach dem Kirchhofe hinüber nach meinem Grabe, […] 34 Die für Werther so völlig unglaubhaft wirkenden Selbstanschuldigungen erwogener Morde werden nur von dem Punkt an verständlich, da wir erfahren, daß man nach seinem Tod Lessings Emilia Galotti 35 „auf dem Pult aufgeschlagen“ fand. Er mußte sich, wie aus seinem letzten Brief zu schließen ist, in alle Rollen so sehr eingelebt haben, daß es ohne tragische Lösung nicht mehr abgehen konnte. Werther gibt Lessings Drama eine andere Wendung: er läßt den Prinzen, mit dem er sich wohl identifiziert, sich selber töten, damit die anderen am Leben bleiben können. Auch der Prinz Gonzaga muß ein sehr junger, sehr unreifer Mann sein, wie aus seinem Verhalten durch Lessings ganzes Stück hindurch klar wird. Ebenso läßt sich erraten, daß Emilia, trotz allem, von seinem Werben nicht unberührt bleibt. - In seiner eigenen Dramaturgie tauscht Werther nun diesen Prinzen aus gegen einen anderen ebenfalls sehr jungen Helden Lessings, den Königssohn Philotas 36 , der sich, wohl in anderer Lage, in feindlicher Gefangenschaft aus Edelmut das Leben nimmt, um Vater und Vaterland freie Hand bei der Kriegsführung zu gewähren. Lessing hat in Emilia Galotti mit den Namen des ihm zum Vorwurf dienenden Livius-Textes 37 sein Spiel getrieben und die beiden Namen des verbrecherischen Decemvirn Appius Claudius auf den Bräutigam Emilias, Appiani, und ihre Mutter Claudia verteilt. Damit wurde, ohne Worte, eine Schuldzuweisung praktiziert, die dem ‚Bürgerlichen Trauerspiel’ einen heimlichen Schimmer von Romeo und Julia verleiht. Werther muß es so gesehen haben. Goethe seinerseits hat sich mit der Namensgebung nun wieder an Lessing orientiert: „Lotte“ klingt deutlich an „Galotti“ an, und wenn die Hypothese der ausgetauschten Prinzen zutrifft, liegt es nahe, in ‚Wert’ von „Werther“ (im Sinne von ‚lieb und wert’) das griechische φίλος enthalten zu sehen, aus dem „Philotas“ eine Weiterbildung ist. Philotas’ Selbstmord aber ist ein knabenhaft-enthusiastisch als notwendig verstandener Opfertod. Und nun nochmals: „Wir feierten dein kläglich Mißgeschick, / Du ließest uns zu Wohl und Weh zurück“. Das Folgende gilt also ausschließlich für die Zeit nach Werther. Dann zog uns wieder ungewisse Bahn Der Leidenschaften labyrinthisch an; 38 Und wir verschlungen wiederholter Not, Dem Scheiden endlich - Scheiden ist der Tod! (An Werther, v. 45-48) Mit „Dann zog uns wieder[…]“ ist neuerlich die Identität mit Werther bekundet. Der Dichter lebt weiter, seine Tragödie ist noch nicht zuende, für ihn wiederholt 34 Werther, Fassung A, FA 8, S. 224. 35 Gotthold Ephraim Lessing, Werke in drei Bänden. Nach den Ausgaben letzter Hand hrsg. von Peter-André Alt, 3. Aufl., München. 1994. Bd. I, S. 641 ff. 36 Philotas, Ebd. S. 507 ff. 37 Liv. Ab urbe condita, III, 44 ff. 38 Vgl. Francesco Petrarca, Sonett „Voglia mi sprona“, Canzoniere II., CCXI, a. a. O., S. 324 u. 325, jeweils v. 14. <?page no="34"?> 30 sich die Not, die im Scheiden, im Tode, gipfelt: „Scheiden ist der Tod! “ Hier sprechen keine Metaphern und keine Hyperbeln. Wie aus dem Weiteren auch klar hervorgeht, bedeutet durch den ganzen Abschnitt hindurch „Scheiden“ den Tod. Da es nicht der Dichter war, der starb, kann es nur die geliebte Frau gewesen sein. Wie klingt es rührend wenn der Dichter singt, Den Tod zu meiden, den das Scheiden bringt! Verstrickt in solche Qualen halbverschuldet Geb’ ihm ein Gott zu sagen was er duldet. Der Ausruf der Verse klingt nach sarkastischer Kritik am Überlebenden, der sich durch klagende Poesie vor dem eigenen Tode zu retten sucht. Die folgende Zeile beschwört das Bild des Harfners aus Wilhelm Meisters Lehrjahren und seine „herzrührenden, klagenden, von einem ängstlichen Gesange begleiteten Töne“: Wer nie sein Brot mit Tränen aß, Wer nie die kummervollen Nächte Auf seinem Bette weinend saß, Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte. Ihr führt ins Leben uns hinein, Ihr laßt den Armen schuldig werden, Dann überlaßt ihr ihn der Pein: Denn alle Schuld rächt sich auf Erden. 39 An diesem Punkt des Romans steht Wilhelm Meister vor der Tür des Harfners und lauscht der Musik: […] seine Seele war tief gerührt, die Trauer des Unbekannten schloß sein beklommenes Herz auf; er widerstand nicht dem Mitgefühl, und konnte und wollte die Tränen nicht zurück halten, die des Alten herzliche Klage endlich auch aus seinen Augen hervorlockte. Alle Schmerzen, die seine Seele drückten, lösten sich zu gleicher Zeit auf, er überließ sich ihnen ganz […]. Was hast du mir für Empfindungen rege gemacht, guter Alter? rief er aus. Alles, was in meinem Herzen stockte, hast du los gelöst; laß dich nicht stören, sondern fahre fort, indem du deine Leiden linderst, einen Freund glücklich zu machen.” 40 In äußerster Zusammendrängung nimmt die zweite Strophe des Liedes, das uns des Harfners, aber auch Wilhelms Seelenlage offenbart, die so viel später entstandenen Urworte. Orphisch schon vorweg. Umgekehrt klingt das „halbverschuldet“ der Kanzone wie ein spätes Echo des Harfner-Liedes, das die tragische Geschichte seines Sängers 41 in sich birgt. Zielobjekte für Kritik des Dichters sind andere Lieder des Harfners wie „Wer sich der Einsamkeit ergibt“ 42 (dem Inhalt nach) oder (der Form nach) „An die Türen, will ich schleichen“ mit seinem seltsam monotonen 39 WMLJ 2, 13; FA 9, S. 491. 40 Ebd. 41 WMLJ 8, 9; FA 9, S. 961 f. 42 FA 1, S. 492. <?page no="35"?> 31 Kreuzreim: „scheinen“ / „erscheint“, „weinen“ / „weint“. Der Roman selbst wird später den Harfner im wörtlichsten Sinn entlarven und ihn, der eine Feuersbrunst ausgelöst und fast ein Kind ermordet hat, als geistesgestört, ja als Rolle erweisen. Der scheinbar Geheilte tritt uns im Verlauf der Handlung ohne falschen Bart und ohne Kutte als „bedeutender Jüngling“ entgegen. Doch eine Konfrontation von außen mit seiner Vergangenheit zeigt, daß er ohne Beistand der Maske nicht existieren kann. Nach zwei gescheiterten, Aufsehen erregenden Versuchen, sich das Leben zu nehmen, verblutet er sich in der Stille. Der Harfner ist eine Werther- Figur, eine Schattenexistenz Wilhelm Meisters bzw. des Dichters, die nach der Katastrophe in lebensabgewandter Weise weiterzuleben versucht. Seine traurigen Gesänge sprechen von Tränen, Qual, Pein, Grab, Einsamkeit, aber sie bewältigen den Schmerz nicht, helfen nicht, die Realität zu ertragen. Erst eine wahrhafte Gestaltung des Leidens in der Kunst hätte ein Weiterleben ermöglicht und die neu gefundene Jugend schöpferisch und fruchtbar werden lassen. Goethe geht hart um mit dem Harfner. Die anfangs so ehrfurchtgebietend erscheinende Gestalt des alten Sängers verliert als geistig Kranker im Verlaufe des Romans immer mehr von ihrem Nimbus und wird, nach den äußerst phantasie- und prunkvollen Trauerfeierlichkeiten für Mignon, mit keinem Vermerk irgendeiner Form von Bestattung bedacht. Denn er ist Wilhelm Meisters überwundenes und abgelegtes Ego. Ganz spät erst erfahren wir den Namen des Unglücklichen. Der ist Augustin, der Name des Heiligen, dessen Fest auf den 28. August fällt, auf Goethes Geburtstag. 43 In den beiden Schlußversen der Kanzone wünscht sich der Dichter aus dem leidvollen Rückblick die Bewältigung seines Schmerzes: Geb’ ihm ein Gott, zu sagen was er duldet. Damit ist, wie man weiß, auf Torquato Tasso verwiesen. Goethe ließ seinen Tasso durchaus als „einen gesteigerten Werther” gelten. 44 Aber auch der Harfner in seiner Kutte ist in der Symbolik präsent, wenn die Prinzessin sich ermahnend an Tasso wendet: Dir kann man nichts mehr geben, denn du wirfst Unwillig alles weg, was du besitzest. Die Pilgermuschel und den schwarzen Kittel, Den langen Stab erwählst du dir, und gehst Freiwillig arm dahin, und nimmst uns weg Was du mit uns allein genießen konntest. 45 Die Worte fallen in jenem großen Dialog, in dem Tasso zuletzt der Prinzessin seine Liebe bekennt: […] Welch ein Gefühl! Ist es Verirrung was mich zu dir zieht? Ist’s Raserei? Ist’s ein erhöhter Sinn, 43 Geburts- und Namenstag waren ursprünglich identisch, da man Kinder auf den Namen des Heiligen taufte, auf dessen Fest ihre Geburt gefallen war. 44 Eckermann III, 3. Mai 1827; a. a. O., S. 627. 45 V, 4, v. 3179 ff.; FA 5, S. 826. <?page no="36"?> 32 Der erst die höchste reinste Wahrheit faßt? Ja, es ist das Gefühl, das mich allein Auf dieser Erde glücklich machen kann; Das mich allein so elend werden ließ, Wenn ich ihm widerstand und aus dem Herzen Es bannen wollte. Diese Leidenschaft Gedacht ich zu bekämpfen; stritt und stritt Mit meinem tiefsten Sein, zerstörte frech Mein eignes Selbst, dem du so ganz gehörst. 46 Tassos Bekenntnis seiner Liebe steigert sich zur Ekstase. Schließlich wird er, genau wie Werther 47 und genau wie später Wilhelm Meister im Salon der Gräfin 48 , die Katastrophe herbeiführen. Der Gegenliebe versichert, umarmt er die geliebte Frau, worauf sie sich ihm leidenschaftlich entzieht. An diesem Punkt „harrt“ jedesmal „tückisch das Lebewohl“. Werther wird sich das Leben nehmen. Wilhelm, der nur Rollen spielen kann, mit denen er sich total identifiziert 49 , wird, wie wir, im Gegensatz zu Hamlet, nur einmal und wie nebenbei erwähnt finden, den Prinzen in Emilia Galotti darstellen 50 , womit der äußerste Tiefstand der Verzweiflung erreicht sein muß. Tasso bricht psychisch zusammen und wird in Wahnsinn verfallen. Die Abreise des herzoglichen Geschwisterpaars, die Tasso aus der Ferne wahrnimmt, überwältigt ihn: O daß ich nur noch Abschied nehmen könnte! Nur einmal noch zu sagen: o verzeiht! Nur noch zu hören: Geh dir ist verziehn! Allein ich hör’ es nicht, ich hör es nie - Ich will ja gehn! laßt mich nur Abschied nehmen, Nur Abschied nehmen! Gebt, o gebt mir nur Auf einen Augenblick die Gegenwart Zurück! Vielleicht genes’ ich wieder. Nein Ich bin verstoßen, bin verbannt, ich habe Mich selbst verbannt, ich werde diese Stimme Nicht mehr vernehmen, diesem Blicke nicht, Nicht mehr begegnen - 51 Einem Erdbeben gleich kommt der Schmerz über ihn und verwandelt sein Inneres in einen Trümmerhaufen. Auch an seinem Talent muß er zweifeln. Doch eben von daher kommt allmählich ein Schimmer Trost, als die Verzweiflung ihn am Schluß wieder übermannt: Nein, Alles ist dahin! - Nur Eines bleibt: Die Träne hat uns die Natur verliehen, Den Schrei des Schmerzens, wenn der Mann zuletzt Es nicht mehr trägt - Und mir noch über alles - 46 V, 5, v. 3253 ff.; ebd. S. 828. 47 FA 8, S. 247. 48 WMLJ 3, 12; FA 9, S. 562. 49 WMLJ 8, 5; FA 9, S. 931. 50 WMLJ 5, 16; FA 9, S. 722. 51 V, 5, v. 3391 ff.; FA 5, S. 832. <?page no="37"?> 33 Sie ließ im Schmerz mir Melodie und Rede, Die tiefste Fülle meiner Not zu klagen: Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide. 52 3. Elegie 53 Das Gedicht im ganzen Bis hierher hat uns das Gedicht An Werther geführt. Die Überleitung zur Elegie - oder besser: die Verflechtung mit ihr - erfolgt auf mannigfache Weise. Erstens ganz offensichtlich durch das Motto, das das Stoßgebet der Schlußverse wieder aufnimmt. In jedem der beiden Fälle ist die ursprüngliche Tasso-Stelle etwas abgewandelt. Die in der Kanzone wieder in Frage gestellte und erflehte Begnadung der Schmerzbewältigung durch das dichterische Wort („Geb ihm ein Gott“) hat im Vorspruch zur Elegie bereits Erfüllung gefunden. Und während bei Tasso die Bedeutung auf dem Wie, auf der Intensität des Leidens, liegt, weist der Vorspruch auf das Was, auf seine Substanz. Die äußerlich kleine Abänderung beläßt ihm seinen Zitatcharakter, bekundet aber an dieser Stelle ganz klar ein „Mea res agitur.“ Goethe sieht in seinem Tasso ja einen „gesteigerten Werther“ (vgl. S. 79). Das Motto erfüllt aber noch eine weitere Funktion, es variiert einen Topos der italienischen Renaissance-Lyrik, das „sfogare il doloroso core“, das Aushauchen des Schmerzes in der Dichtung, das wir bei Dante und Petrarca immer wieder finden. 54 Goethe läßt seinen Tasso zitieren. Damit ist, neben der Struktur der gesamten Trilogie und der Beschwörung von Tassos Gestalt, eine weitere Verbindung zur italienischen Dichtung hergestellt, die uns noch intensiv beschäftigen wird. Die einzelnen Gedichte der Trilogie sind innigst miteinander verflochten. Das Motto der Elegie greift, wie gezeigt, den Schluß der Werther-Kanzone als abermals abgewandeltes Tasso-Zitat wieder auf, dessen Bedeutung noch dadurch unterstrichen wird, daß es, gemeinsam mit dem Titel, in Goethes Reinschrift 55 , von der hier ausgegangen und nach der im Folgenden zitiert wird, eine ganze Seite für sich allein in Anspruch nimmt. Eine gesamtstrukturelle Verknüpfung bekundet sich auch in der Wellenbewegung eines emotionalen Rhythmus von Auf und Ab, wie ihn die drittletzte Strophe der Elegie explizit benennt: 52 Ebd. v. 3426 ff. 53 So lautet der von Goethe gesetzte Titel des Gedichts, womit er dessen exemplarischen Charakter bekundete, so wie er auch mit anderen seiner Werke verfuhr, wenn er sie (stets im Singular) „Ballade“, „Märchen“ oder „Novelle“ nannte. 54 Vgl. Hugo Friedrich, Epochen der Italienischen Lyrik, Frankfurt a. Main, 1964. S. 222. 55 Elegie, September 1823. ‚Goethes Reinschrift’ mit Ulrikens von Levetzow Brief an Goethe und ihrem Jugendbildniß, hrsg. v. Bernhard Suphan, Verlag der Goethe-Gesellschaft, Weimar 1900. Facsimile-Druck.’ Auch in: Goethe, Gedichte in Handschriften. Fünfzig Gedichte Goethes, ausgewählt und erläutert von Karl Eibl, Frankfurt a. M. 1999. S. 231 ff. Ab nun folgen Zitate ganzer Strophen aus Elegie, H 153 (nach WA I 3, 381) ausschließlich der Schreibweise dieser von Goethe sekretierten Reinschrift. <?page no="38"?> 34 Wie könnte dies geringstem Troste frommen? Die Ebb’ und Flut, das Gehen wie das Kommen! Die Werther-Kanzone endete auf dem Punkt der tiefsten Verzweiflung. In Goethes Reinschrift der Elegie folgt nach der Seite mit Titel und Motto, wiederum für sich und in die Mitte einer Seite gesetzt, eine Strophe der Hoffnung. Eine Koronis schließt sie ab und deutet Trennung an, einen Zeitraum, der zwischen Strophe 1 und Strophe 2 verstrich. Inzwischen hat sich etwas ereignet. Ein Höhepunkt ist hier ausgespart, der in den Strophen 2 und 3 nur retrospektiv festgehalten wird, als Abglanz einer zutiefst bewegenden, vielleicht im Traum erlebten Paradieseserfahrung. Mit Strophe 4 sinkt die Wellenlinie wieder ab, und weiter so in der nachfolgenden Strophe 5. Danach hebt sie sich wieder leise und steigt nun unablässig an bis zu den Strophen 11 und 12, (der ungefähren Mitte), in denen im Rückblick wieder ein zweimaliges kurzes, aber tiefes Absinken statthat, bevor, in den letzten Zeilen wiederhergestellt, die Klimax vorhält bis inklusive Strophe 17. Hier geht es wieder nach unten, unaufhaltsam tiefer und tiefer, bis zum Ende der Elegie. Und darüber hinaus. In das Wellental ist auch noch die erste Strophe von Aussöhnung einbezogen, was auf diese Weise wiederum eine kompositorische Verflechtung bewirkt. Mit dem Einsetzen der Musik schwillt im folgenden eine Woge des Gefühls mächtig an und rauscht aufwärts bis zum Höhepunkt des letzten Verses, wo sie zu verharren scheint. Nur im Optativ der vorletzten Zeile „- o daß es ewig bliebe -“ drückt sich das ambivalente Bewußtsein sowohl von der Vergänglichkeit als auch der Ewigkeit des höchsten Glückes aus. Der letzte Vers, „Das Doppel-Glück der Töne wie der Liebe“, durch die Parenthese isoliert und hervorgehoben, wird zum Ewigen Augenblick, wie Goethe ihn (u. a.) im Gedicht Vermächtnis gefaßt hat: Dann ist Vergangenheit beständig, Das Künftige voraus lebendig, Der Augenblick ist Ewigkeit. 56 In Trilogie der Leidenschaft bedeutet die ansteigende Linie der Gefühlsbewegung das Nahen der Geliebten bis hin zu ihrer erlebten Erscheinung, das Absinken den Entzug ihrer Präsenz, begleitet von Trennungsschmerz und Verzweiflung, der notwendigen Voraussetzung für ihre erneute Gegenwart. Ganz klar bezeugt diese Entwicklung das im Juli 1822, also ca. ein Jahr vor der Elegie entstandene Gedicht Äolsharfen, das Goethe in seiner Ausgabe letzter Hand unmittelbar auf die Trilogie folgen läßt: […] E R Zur Trauer bin ich nicht gestimmt Und Freude kann ich auch nicht haben: Was sollen mir die reifen Gaben, 56 Vermächtnis, v. 28 ff.; FA 2, S. 686. <?page no="39"?> 35 Die man von jedem Baume nimmt! Der Tag ist mir zum Überdruß, Langweilig ist’s, wenn Nächte sich befeuern; Mir bleibt der einzige Genuß Dein holdes Bild mir ewig zu erneuern, Und fühltest du den Wunsch nach diesem Segen, Du kämest mir auf halbem Weg entgegen. S IE Du trauerst daß ich nicht erscheine, Vielleicht entfernt so treu nicht meine, Sonst wär’ mein Geist im Bilde da. Schmückt Iris wohl des Himmels Bläue? Laß regnen, gleich erscheint die Neue. Du weinst! Schon bin ich wieder da. E R Ja du bist wohl an Iris zu vergleichen! Ein liebenswürdig Wunderzeichen. So schmiegsam herrlich, bunt in Harmonie Und immer neu und immer gleich wie sie. 57 Die Äolsharfen, in denen der Wind spielt, symbolisieren einen Dialog von Geist zu Geist, in dessen Verlauf die Epiphanie der Geliebten in zunehmender Intensivierung statthat. Die Zeile „Sonst wär’ mein Geist im Bilde da.“ birgt das Geheimnis einer mystischen Erfahrung. Das „Bild“, ob eine andere Frau, die an die abgeschiedene Geliebte erinnert, ob ein „Luftgebild“ am Himmel, das „Bild“ wird zum Gefäß ihres Geistes und ermöglicht Kommunikation mit dem Geliebten, wenn auch nur in Form eines geistig-seelischen Substrats, für das er, gleichgestimmt wie sie, die Worte findet. So in der Elegie, v. 91, wo es heißt: „Es ist, als wenn sie sagte […]“. Die Erscheinung ist nicht nur „immer neu und immer gleich“ wie der Regenbogen, sondern auch so flüchtig. Fast noch bevor der mit den eben zitierten Worten eingeleitete Rat ausformuliert ist, ist der Kontakt abgebrochen und der Einsame wieder seinem Mißmut und seiner Trauer überlassen, die ihn nach Abstieg und Anstieg wieder hinführen werden zu neuer Verbindung. Auch auf der klanglichen Ebene läßt sich das Phänomen des Auf und Ab verfolgen, wenn wir Goethes Sprachmelodik so aufzunehmen wissen, wie ihn der an den Anfang dieser Studie gesetzte Sechszeiler aus dem West-östlichen Divan verdeutlicht (vgl. S. 7 f.). Da steht der Buchstabe ‚a’ zumal in Verbindung mit ‚r’ für ein Erhabenes und der ‚i’-Laut für seine subjektive Wahrnehmung als etwas Wohltuendes. Im vorletzten Vers von Strophe 1 („Kein Zweifeln mehr: Sie tritt ans Himmelsthor,“) verkörpert sich die frohe Gewißheit in einer Reihe von ‚i’-Lauten, die in der letzten („Zu Ihren Armen hebt Sie dich empor.“) untermischt sind mit der Abwandlung von ‚ir’ zu ‚ar’ und ‚or’, einer Klangreihe, die den inhaltlichen Zug nach oben mit einer lautsymbolischen Abwärtsbewegung verbindet: dem 57 FA 2, S. 463. <?page no="40"?> 36 gleichzeitigen Niederneigen der Geliebten zum Dichter. (Über ‚or’ als Chiffre wird später noch viel zu sagen sein.) Auf diese erste Strophe folgt eine Koronis und das Intervall einer ausgesparten hohen Glückserfahrung, welche die nächste, in Goethes Reinschrift auf eine neue Seite gesetzte Strophe als bereits vergangen festhält: So warst du denn im Paradies empfangen, Als wärst du wert des ewig schönen Lebens; Die Häufung der ‚i’-Laute am Schluß der ersten Strophe ist in der Anfangszeile von Strophe 2 einem vorherrschenden ‚a’ gewichen. Die Chiffre ‚ar’ ist schon im Schlußvers der ersten Strophe mit „Armen“ vorweggenommen, nun wird sie mit Nachdruck doppelt wiederholt - ein kurzer Abglanz aus einer höheren Welt (vgl. dazu auch Strophe 10). In der nächsten Zeile schon verblaßt das strahlende ‚ar’ von „Paradies“ und „warst“ zu „wärst“ und „wert“ und einer Reihe von ‚e’-Lauten. Die Kurve der Klänge vollzieht eine ähnliche Wellenbewegung, wie sie die Dichtung als ganze durchwaltet. In Strophe 7 (v. 37 f.) begegnet uns das Sprachmuster wieder: „klar und zart gewoben“, schwebt die Wolkengestalt, die der Geliebten gleicht, „seraphgleich aus ernster Wolken Chor! “ Mit der raschen Ablösung der ‚ar’durch die ‚er’-Wörter ist die übergroße Kürze des Erscheinungsmoments, die die folgende Strophe reflektiert, bereits sprachlich im voraus dargestellt. Im Gegensatz hierzu sinkt die Kurve des im 1. Kapitel dieser Arbeit besprochenen Divan-Gedichts nicht ab, sondern steigt an und hält sich in der Schwebe eines potentiellen ewigen Augenblicks: Dann wäre Wahrheit nah und breit Und wäre lieblich und gelinde. Wie in diesen Versen wird in der Trilogie tiefes Glückserleben durch die Chiffre ‚li’ ausgedrückt (vgl. S. 9) oder auch durch ihre Umkehrung zu ‚il’, darüber hinaus bleibt der wiederholt gesetzte Vokal ‚i’ auch in anderer Verbindung meist positiv besetzt. Die Emotion, die die in Strophe 7 festgehaltene Wolkenerscheinung auslöst, manifestiert sich in Wortverbindungen wie „Als glich es Ihr […]“, „Ein schlank Gebild […]“, „Die lieblichste der lieblichsten Gestalten.“ Die Strophen 8 und 9 sind noch völlig im Bann des ‚i’ und des ihm in Goethes Sprache nah verwandten ‚ü’- Lauts, die, zumal in den Paarreimen am Ende, jeweils im Einklang mit dem Sinngehalt zum Instrument stärksten Gefühlsausdrucks werden: Zu Vielen bildet eine sich hinüber, So tausendfach, und immer immer lieber. und So klar beweglich bleibt das Bild der Lieben Mit FlammenSchrift ins treue Herz geschrieben. Auch schon in Strophe 1: Wenn Liebe je den Liebenden begeistet, Ward es an mir aufs lieblichste geleistet. <?page no="41"?> 37 Allein in den Strophen 7-17 finden sich elf Verbalformen von „lieben“, bzw. Ableitungen oder Zusammensetzungen des Nomens „Liebe“. Über das Bedeutungsmoment hinaus sind sie Elemente einer komplizierten musikalischen Komposition, die Laute einsetzt wie Noten und sie entsprechend auch umkehrt, sodaß wir „lieb“, wenn auch mit verkürztem Vokal, oftmals wiederfinden als ‚bil’ wie in „Bild“, „Gebild“, „Luftgebild“, „bildet“ in eben denselben Strophen. Eine Fülle solcher und ähnlicher Beispiele, auch mit anderen Assonanzen oder Chiffren sowie anderer emotionaler Qualität, könnte hier (und wird gelegentlich) noch aufgezeigt werden. Gewiß gibt es auch Stellen, die solch einer Zuordnung zuwiderlaufen wie etwa in Aussöhnung, v. 6: „Die hehre Welt wie schwindet sie den Sinnen! ” Die Sprache ist eben doch kein System zwingender Entsprechungen von Laut und Bedeutung, wenn letztere uns als Leistung der Poesie auch immer aufs neue bezaubern. Ganz besonders ist die letzte Gedichtstrophe von Aussöhnung (vgl. S. 94) ein wahres Wunder an Klangsymbolik. Hatten wir in der zweiten Strophe von Elegie, der ersten nach der trennenden Koronis, ein Absinken der Kurve von „warst“ und „Paradies“ zu „wärst”“ und „wert“ und weiteren ‚e’-Wörtern festgestellt, so finden wir die Linie hier in ständigem Anstieg. Nach dem dunklen ‚u’- und ‚o’-Laut des Beginns hebt sie sich zur ‚er’-Konstellation von „Herz“, die in „erleichtert“ und „merkt“ in der gleichen Zeile noch zweimal wiederkehrt, während das „behende“ am Schluß des Verses das ‚He’ von „Herz“ variiert wiederbringt. Die nächste Zeile führt das ‚e’ über den Umlaut hin zum klaren ‚a’: Daß es noch lebt und schlägt und möchte schlagen. Dies das genaue Gegenstück zum oben genannten Beispiel. Das ‚a’ wird von „Dank“ der nächsten Zeile wieder aufgenommen, eingerahmt von dem gedoppelten klingenden ‚ei’, und weitergeführt in „darzutragen“, einer seltsamen Fügung, in der die ‚ar’-Chiffre mit ihrem Sinnhintergrund wieder aufscheint. Vorher noch schalten sich ‚i’-Wörter ein, auch sie, ebenso wie „rein“ und „reich“ in der vorangehenden Zeile, gepaart mit Alliteration: „Sich selbst erwidernd willig darzutragen.“, wobei „willig“ mit ‚il’ und ‚li’ nach unserer Skala eine emotionale Steigerung bedeutet, die, durch die ‚ü’-Worte „fühlte“ „-glück“ in den beiden Schlußversen, jeweils sowohl intensiviert als gebändigt, weiter anhält. Unter doppelter Fortführung der Chiffre ‚wi’ in „ewig“ und „wie“ erfolgt die Klimax in dem strahlenden Finale des letzten Reimpaars „bliebe“ - „Liebe“. Strophe 1 Auf einen weiteren Strang der Verflechtung der ersten beiden Teile der Trilogie ist noch hinzuweisen. Die Werther-Kanzone schließt in der Stimmung hoffnungsloser Trauer. In ihrem Parallelgang mit Urworte. Orphisch ist sie deshalb auch nicht über die ΑΝΑΓΚΗ -Strophe hinausgelangt. Die auf sie folgende, der Hoffnung gewidmete Stanze hat im Gedicht An Werther keine Entsprechung gefunden; in Goethes Erläuterungen der Urworte folgt sie auf die oben zitierten Worte herber Sozialkritik (vgl. S. 27), eingeleitet nur von einem an sie angefügten, die Elpis-Strophe einführenden Satz, um ihr selbst sodann das letzte Wort zu lassen: <?page no="42"?> 38 Wie froh eilen wir daher zu den letzten Zeilen, zu denen jedes feine Gemüt sich gern den Kommentar sittlich und religios zu bilden übernehmen wird. ΕΛΠΙΣ , H OFFNUNG Doch solcher Grenze, solcher ehrnen Mauer Höchst widerwärt’ge Pforte wird entriegelt, Sie stehe nur mit alter Felsendauer! 58 Ein Wesen regt sich leicht und ungezügelt: Aus Wolkendecke, Nebel, Regenschauer Erhebt sie uns, mit ihr, durch sie beflügelt, Ihr kennt sie wohl, sie schwärmt nach allen Zonen; Ein Flügelschlag - und hinter uns Äonen. Anders als in der „Ausgabe letzter Hand” und den nachfolgenden Editionen finden wir, wie bereits gesagt, in Goethes eigenhändiger Reinschrift der Elegie die erste Strophe für sich allein, mit größerer Distanz nach unten hin, auf eine Seite gesetzt und auch noch durch eine Volute von den folgenden Strophen abgetrennt. Hier haben wir das persönlich gefaßte Pendant zur ΕΛΠΙΣ -Stanze: Was soll ich nun vom Wiedersehen hoffen? Von dieses Tages noch geschlossner Blüte? Das Paradies, die Hölle steht dir offen, Wie wanckelsinnig regt sich’s im Gemüthe! - Kein Zweifeln mehr! Sie tritt ans Himmelsthor, Zu Ihren Armen hebt Sie dich empor. Entsprechend der zitierten kurzen Einführung Goethes zur Elpis-Stanze in Urworte. Orphisch kann diese erste Strophe der Elegie im Sinne der Parallelsetzung nur eschatologisch verstanden werden. Hätte Goethe „jenes“ statt „dieses“ Tages“ geschrieben, läge der Tatbestand klar auf der Hand. Er hat, wie so oft, die Möglichkeit von mehr als nur einer Deutung gegeben. Aber wenn man genauer auf die Sprache hinhört, beweist sich ihr religiöser Charakter. Es heißt nicht, wie man in säkularem Zusammenhang erwarten würde, ,Was kann’ oder ,Was darf’, sondern „Was soll […] ich hoffen“ ganz im Sinne christlicher Heilslehre, die Glaube, Liebe und Hoffnung vom Gläubigen erwartet. Hierher gehören auch Begriffe wie „Paradies“ und „Hölle“ und Wankelsinn, hinter dem sich das lutherische Wort „Kleingläubigkeit“ verbirgt. „Kein Zweifel mehr! “ wäre glatter, käme aber einer adverbialen Phrase gleich, während „Kein Zweifeln mehr! “ mit dem Pathos gerechtfertigter Glaubensforderung ausgerufen wird. Der umkämpfte Glaubensartikel betrifft bei Goethe nicht das Leben nach dem Tode an sich, das für ihn Gewißheit war, wie er seit jungen Jahren immer wieder bekundet hat. Man denke, beispielsweise, an den 1773 verfaßten Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***, der die Lehre des Origines von der Erlösung aller Kreatur am Ende der Zeiten predigt. 59 Vor allem der alte Goethe wird nicht müde, seine Überzeugung von einer Fortdauer des menschlichen Geistes auszusprechen: 58 Vgl. Matth. 16,18. Gleichsetzung bei Goethe von Pforten der Hölle und dem Felsen (Petrus? ). 59 Der junge Goethe in seiner Zeit, Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Schriften bis 1775. Hrsg. <?page no="43"?> 39 „Du hast Unsterblichkeit im Sinn; Kannst du uns deine Gründe nennen? “ Gar wohl! Der Hauptgrund liegt darin Daß wir sie nicht entbehren können. 60 Dieser Vierzeiler, nicht utilitaristisch als Lebenshilfe gedacht, formuliert im Sinne Kants ein Postulat, für welches eine Gewährleistung in der Transzendenz erwartet wird. Ohne die Überspitztheit dieser Verse findet sich der Gedanke klar formuliert in den Aufzeichnungen des Kanzlers von Müller (19. Oktober 1823): […] über den Glauben an persönliche Fortdauer. Goethe sprach sich bestimmt aus: Es sei einem denkenden Wesen durchaus unmöglich, sich ein Nichtsein, ein Aufhören des Denkens und Lebens zu denken; insoferne trage jeder den Beweis der Unsterblichkeit in sich selbst und ganz unwillkürlich.[…] 61 Wenn Goethe sich hier, vielleicht den Gesprächspartner bedenkend, auf Kant bezieht, so erhält Eckermann bei einer Wagenfahrt mit dem Dichter, beim Anblick der untergehenden Sonne, eine andere, eine poetisch-kosmische Begründung: Goethe war eine Weile in Gedanken verloren, dann sprach er zu mir die Worte eines Alten: „Untergehend sogar ist’s immer dieselbige Sonne.“ 62 „Wenn einer fünfundsiebzig Jahre alt ist“, fuhr er darauf mit großer Heiterkeit fort, „kann es nicht fehlen, daß er mitunter an den Tod denke. Mich läßt dieser Gedanke in völliger Ruhe, denn ich habe die feste Überzeugung, daß unser Geist ein Wesen ist ganz unzerstörbarer Natur, es ist ein fortwirkendes von Ewigkeit zu Ewigkeit. Es ist der Sonne ähnlich, die bloß unsern irdischen Augen unterzugehen scheint, die aber eigentlich nie untergeht, sondern unaufhörlich fortleuchtet. 63 Das ist hermetisches Entsprechungsdenken 64 . Als letztes Beispiel sei der sehr bekannte Brief an Auguste von Bernstorff angeführt, der den Glauben an das Weiterleben nach dem Tode christlich formuliert. Vierzig Jahre hatte die Korrespondenz geruht, als Auguste, das „Gustgen“ der frühen Briefe, aus Gewissensnot gedrängt, Goethe beschwor, sich vom Irdischen ab- und dem Ewigen zuzuwenden. Und hier die Antwort: […] Lange leben heißt gar vieles überleben, geliebte, gehaßte, gleichgültige Menschen, Königreiche, Hauptstädte, ja Wälder und Bäume, die wir jugendvon Karl Eibl, Fotis Jannidis und Marianne Willems, Frankfurt 1998. Bd. 2, S. 376 ff. 60 Zahme Xenien III (1822 / 23); FA 2, S. 645 und Anmerkung. 61 Kanzler von Müller, Unterhaltungen mit Goethe, hrsg. von Renate Grumach, 2. durchgesehene Auflage der von Ernst Grumach und Renate Fischer-Lamberg 1959 besorgten „Kleinen Ausgabe“. Gespr. vom 19. Okt. 1823, a. a. O., S. 99. 62 „Nicht am Morgen allein, noch am Mittag einzig beglückt sie, / Untergehend sogar ist’s immer dieselbige Sonne“. (nach Straton, Anth. Pal. XII, 178) FA 2, S. 856 u. Komm. S. 1333. Vgl. auch Ernst Grumach, Goethe und die Antike I, S. 322. 63 Eckermann, 2. Mai 1824; a. a. O., S. 115 f. 64 Vgl. Rolf Christian Zimmermann, Das Weltbild des jungen Goethe, München 1969, Bd. I, S. 29. <?page no="44"?> 40 lich gesäet und gepflanzt. Wir überleben uns selbst und erkennen durchaus noch dankbar, wenn uns auch nur einige Gaben des Leibes und Geistes übrig bleiben. Alles dieses Vorübergehende lassen wir uns gefallen; bleibt uns nur das Ewige jeden Augenblick gegenwärtig, so leiden wir nicht an der vergänglichen Zeit. Redlich habe ich es mein Lebelang mit mir und andern gemeint und bei allem irdischen Treiben immer aufs Höchste hingeblickt; Sie und die Ihrigen haben es auch getan. Wirken wir also immerfort, so lang es Tag für uns ist, für andre wird auch eine Sonne scheinen, sie werden sich an ihr hervortun und uns indessen ein helleres Licht erleuchten. Und so bleiben wir wegen der Zukunft unbekümmert! In unseres Vaters Reiche sind viel Provinzen, und da er uns hier zu Lande ein so fröhliches Ansiedeln bereitete, so wird drüben gewiß auch für beide gesorgt sein; vielleicht gelingt alsdann, was uns bis jetzo abging, uns angesichtlich kennen zu lernen und uns desto gründlicher zu lieben. […] Möge sich in den Armen das alliebenden Vaters alles wieder zusammenfinden. 65 Mit Absicht wurden diese persönlichen Zeugnisse nach ihrer zeitlichen Nähe zur Trilogie gewählt; es gäbe noch viele weitere 66 , doch nahm Goethe sich, wie Hans- Joachim Simm feststellt, „zu jeder Zeit die Freiheit des Widerspruchs, auch gegen eigene Positionen“ 67 , so z. B. im trotzigen Bekenntnis zu Lukrez, das er seltsamerweise im Brief an Friedrich Leopold Graf zu Stolberg vom 2. Febr. 1789 68 ganz anderen Einsichten provokant folgen läßt. Der oben aufgeführte Brief an Auguste von Bernstorff drückt nicht nur den Glauben an ein Leben nach dem Tode aus, sondern auch die Überzeugung personaler Begegnung. Nur in diesem Sinne, jedoch gültig hinsichtlich einer Liebe, die sich in der Trilogie mit Werther und Goethes jungen Jahren verknüpft zeigt, ist das „Wiedersehen“ in der ersten Strophe der Elegie zu verstehen. Ein Zweizeiler aus Sprichwörtlich nimmt die Erklärung für die Bedeutung von „Paradies“ und „Hölle“ in diesem Zusammenhang vorweg: „Mir gäb’ es keine größre Pein, / Wär ich im Paradies allein.“ 69 Was aber kann „größre Pein“ hier anderes meinen, als Höllenpein? Umso tröstlicher dann die Selbstversicherung am Schluß der Strophe: Kein Zweifeln mehr! Sie tritt an’s Himmelsthor, Zu Ihren Armen hebt Sie dich empor. Hier ist für den persönlichen Bereich visionär erfahren, was die Schlußverse von Faust II in allgemeingültiger Symbolik verkünden: „Das Ewig-Weibliche / Zieht uns hinan“. Es ist klar: die Geliebte der Elegie gehört dem irdischen Bereich nicht mehr an. Goethes sekretierte Reinschrift, die, mit Eckermanns Worten, „schon im Äußern 65 Brief vom 17. April 1823; HA Briefe 4, S. 63 f. 66 Wie z. B. Vermächtnis: „Kein Wesen kann zu nichts zerfallen“, FA 2, S. 685. 67 Siehe Hans-Joachim Simm, Goethe und die Religion, Frankfurt / Leipzig 2000. S. 11. Vgl. Franz Schmidt, Lukrez bei Goethe, in Goethe, Neue Folge des Jbs der Goethe-Ges. 24, hrsg. v. Andreas Wachsmuth, Weimar 1962. S. 158 ff. 68 HA Briefe 2, S. 109. 69 FA 2, S. 387, entstanden vermutlich zwischen 1812 und 1815 ( Komm. ebd., S. 1009). <?page no="45"?> 41 trug, daß er dieses Manuskript vor allen seinen übrigen besonders wert halte“ 70 , birgt in sich als Vermächtnis den Beweis. Durch das ganze Gedicht hindurch werden nämlich Personal-, Possessiv- und Reflexivpronomina, soweit sie der Geliebten gelten, grundsätzlich mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben, wie entsprechende Wörter in sakralen oder feierlichen Texten, die sich auf Gott oder Herrscher beziehen. Damit ist „Ihr“, deren Name nie genannt wird, der Rang von Heiligkeit oder Majestät zuerkannt. Hierin liegt mit der Grund, warum Goethe das Manuskript „nicht aus Händen lassen [durfte]“ 71 und warum er es nur ganz wenigen Freunden (Eckermann 72 , Wilhelm von Humboldt 73 und Zelter 74 ) vorlegte. Umgekehrt ist es auffallend, daß in den beiden die Elegie umrahmenden Gedichten, abgesehen von einer einzigen Ausnahme (Aussöhnung, v. 6), überhaupt kein feminines Pronomen (mit welchem Bezug auch immer) vorkommt! Dieser ganze sprachliche Bereich ist in ihnen ausgespart und freigehalten zu seiner Glorie im Mittelteil, um „Sie” in der Elegie, selbst mittels der Grammatik, zu feiern, wie ja auch inhaltlich die Trilogie gebaut ist als Triptychon, dessen seitliche Flügel ein zentrales Bild umschließen: links der junge Dichter in Gestalt seines Alter Ego Werther und rechts der alte, mit dem Schicksal versöhnte. - Lebenslange Kontinuität ist damit bezeugt. In überirdischen Regionen wie jener der Schlußszene von Faust II, die an Dantes letzte Gesänge des Purgatorio oder an Paradiso erinnert, ist angesiedelt, was die deutliche Pause zwischen der ersten, allein für sich auf einer Seite stehenden und der zweiten Strophe in sich birgt. „So warst du denn im Paradies empfangen,“ hebt letztere an und gibt Kunde von einem Erlebnis, das jenseits aller Schilderung liegt: „Das Unbeschreibliche, / Hier ist es getan“. Nur im Verstummen läßt es sich gegen den vorherigen Zustand des Fragens abgrenzen. Dante konnte es noch beschreiben und nach ihm, wiewohl karger, Petrarca, und auf diese Vorgänger weist auch die äußere Form von Elegie. Unter den großen Elegien Goethes zählt diejenige als Ausnahme, die als ‚Marienbader Elegie’ in die Literaturgeschichte eingegangen ist (ohne daß übrigens der Dichter selbst den Ortsnamen je anders als höchstens als Untertitel gesetzt hätte); alle anderen sind in Distichen verfaßt und folgen auch in ihrem Gehalt antiken Vorbildern, wie vor allem Properz und Ovid. Dieses Gedicht jedoch hat die sechszeilige Stanze 75 zur Form und deutet formal auf Verwandtschaft mit historisch viel Späterem. Dennoch wird sich zeigen, daß auch hier die Antike bedeutend zu Wort kommt und die Wahl des Titels Elegie der epochenübergreifenden Natur des Gedichts besonderen Nachdruck verleiht - eine Gültigkeit, die sich auch auf den Schluß Aussöhnung erstreckt, zu dem bewußt ein fließender Übergang geschaffen wurde. 76 70 Eckermann, I, 27. Oktober 1823; a. a. O., S. 61. 71 An Zelter, 9. Januar 1824. HA Briefe 4, S. 99 f. 72 Eckermann, 27. Oktober 1823 und 16. November 1823; a. a. O., S. 60 u. 74. 73 Vgl. Wilhelm von Humboldt an seine Frau Caroline, 19. November 1823. Goethe in vertraulichen Briefen. Zusammengestellt v. Wilhelm Bode, Berlin und Weimar 1979. Bd. 3, S. 170 f. 74 An Zelter, 9. Januar 1824; HA Briefe 4, S. 100. 75 Sonderform gegenüber der traditionellen Ottaverime-Strophe. Vgl. Otto Knörrich, Lexikon lyrischer Formen, Stuttgart 1992. S. 226. 76 Eckermann III, 1. Dezember 1831; a. a. O., S. 764. <?page no="46"?> 42 Der erste Teil der Trilogie, das Gedicht An Werther, ist in der italienischen Dichtung beheimatet, er folgt - wie schon bemerkt - der mehr Freiheit gewährenden Form der Kanzone, die die Möglichkeit einer Variation der Strophenlänge und ein weniger strenges Reimschema vorsieht. Dante hat in seiner Vita nova Kanzonen verwendet, vermischt mit Sonetten und erklärendem Text. Ohne den letzteren bildete Petrarca seinen Canzoniere ebenfalls (neben wenigen anderen Formen) aus Sonetten und Kanzonen. Beide Dichter standen bei der Entstehung von Trilogie der Leidenschaft Pate, wie schon vorher, 1807, bei der der Sonette (die später ausführlich behandelt werden). Beider Dichter Werke feiern eine hohe Herrin, die im Leben durch die Vollkommenheit ihrer Tugend und Schönheit entzückte und die nach ihrem Tode vom zurückgebliebenen Dichter ein Leben lang in Sehnsucht betrauert und verherrlicht wird. Im Paradiso der Divina Comedia läßt sich Dante von Beatrice durch alle Sphären des Himmels geleiten, läßt sich von ihr belehren und in die Geheimnisse der göttlichen Weisheit einführen. Sie erstrahlt im Licht überirdischer Schönheit, Weisheit und Heiligkeit. Auch Petrarca weiß Laura nach ihrem Hinscheiden im Paradies, auch er hat Begegnungen mit ihr, dort oder in seinem eigenen Ambiente, kurze Traumbesuche, meist überwiegt die Trauer - bis er am Ende seines Lebens allein Gott alle Ehre geben will. Aber der Canzoniere, an dem er lebenslang geschrieben und durch andauernde Umstellungen der Gedichte gearbeitet hat, steht dennoch fast ausschließlich im Zeichen Lauras, spielt in unzähligen Variationen mit ihrem Namen, lobpreist die Schönheit ihrer Augen, ihr goldenes Haar, die Vollkommenheit ihres Lebenswandels, ihre Vornehmheit und Güte, die, solange sie auf Erden weilt, nur erfahren werden durch einen Blick, einen flüchtigen Gruß, ein Erröten oder Erbleichen 77 . Erst nach ihrem Tode offenbart auch sie ihre Liebe, wie in dem folgenden Sonett: CCCII Levòmmi il mio penser in parte ov’era quella, ch’io cerco, e non ritrovo, in terra: Ivi, fra lor, che ’l terzo cerchio serra, la rividi più bella et meno altera. Per man mi prese, et disse: - in questa spera sarai anchor meco, se ’l desir non erra: i’ so’ colei che ti die’ tanta guerra, et compie’ mia giornata inanzi sera. Mio ben non cape in intelletto humano: te solo aspetto, et quel che tanto amasti, e là giuso è rimaso, il mio bel velo. - Deh perché tacque, et allargò la mano? Ch’al suon de’ detti sì pietosi et casti poco mancò ch’io non rimasi in Cielo. 77 Vgl. Hugo Friedrich, Epochen der italienischen Lyrik, Frankfurt a. M. 1964. S. 204. <?page no="47"?> 43 Mich hob mein Geist hinan auf fernem Gleise, Zu suchen, was der Erd ach! nun entschwunden. Da sah ich sie, vom dritten Kreis umwunden, Weit schöner und mit minder stolzer Weise. Sie gab die Hand und sprach: „In diesem Kreise Wirst du, irrt nicht mein Wunsch, mir einst verbunden; Ich bin’s, durch die du solchen Kampf gefunden, Und die vorm Abend schloß des Tages Reise. Kein menschlicher Verstand begreift mein Glücke; Dein harr ich nur und, das du liebtest lange, Des schönen Kleids, das drunten aufgehoben.“ Weh, warum zog sie stumm die Hand zurücke? Denn bei so mild und keuscher Worte Klange Fehlte nicht viel, blieb ich im Himmel droben. 78 Strophe 2 So warst du denn im Paradies empfangen Als wärst du werth des ewig schoenen Lebens; Dir blieb kein Wunsch, kein Hoffen, kein Verlangen, Hier war das Ziel des innigsten Bestrebens, Und in dem Anschaun dieses einzig Schoenen Versiegte gleich der Quell sehnsüchtiger Thränen. Wie Dante und wie Petrarca nimmt Goethe hier für sich in Anspruch, „im Paradies empfangen“ worden zu sein und stellt sich damit an die Seite jener Dichter, die der Frau, die sie liebten, über deren Tod hinaus, ein Leben lang anhingen und sich auch ihrer anteilnehmenden Gegenliebe gewiß waren. Die mystische Begegnung selbst, wie immer sie sich ereignet hat - in der Phantasie, im Traum, in einer parapsychologischen Erfahrung - bleibt ausgespart. Bei Goethe findet sie ein Analogon wie einen ‚Vorschein’ in früher Erlebtem, das die dritte Strophe in die Erinnerung hebt: glückliche Zeiten, in denen die Tage im Nu verflogen und der abendliche Kuß treue Gemeinsamkeit auch für das Morgen versprach: Strophe 3 Wie regte nicht der Tag die raschen Flügel, Schien die Minuten vor sich her zu treiben! Der Abendkuss, ein treu verbindlich Siegel So wird es auch der nächsten Sonne bleiben. Die Stunden glichen sich in zartem Wandern Wie Schwestern zwar doch keine ganz der andern. Dies deutet weniger auf große Bewegtheit als auf stille Innerlichkeit, Zufriedenheit mit dem Tagesablauf in seiner vertrauten Gleichförmigkeit, vermutlich der Kindheit. Die Ähnlichkeit der Stunden wird noch sprachlich nachvollzogen durch 78 Canzoniere CCCII, a. a. O., S. 438 u. 439. <?page no="48"?> 44 den Beinahe-Binnenreim von „glichen sich in” und die Assonanz in „zartem Wandern“. Daß auch dieses stille Glück eine Art von Paradies war, macht Strophe 4 im Bild des Engels mit dem Flammenschwert offenbar. Strophen 4 und 5 Der Kuß der letzte, grausam süß, zerschneidend Ein herrliches Geflecht verschlungner Minnen; Nun eilt, nun stockt der Fuß die Schwelle meidend, Als trieb ein Cherub flammend ihn von hinnen; Das Auge starrt auf düstrem Pfad verdrossen, Es blickt zurück, die Pforte steht verschlossen. Und nun verschloßen in sich selbst, als hätte Dies Herz sich nie geöffnet, selige Stunden, Mit jedem Stern des Himmels um die Wette An Ihrer Seite leuchtend nicht empfunden; Und Mismuth, Reue, Vorwurf, Sorgenschwere Belastens nun in schwüler Atmosphaere. Und wieder - wie bei Werther, wie bei Tasso und wie bei Wilhelm Meister in der Liebesszene mit der schönen, jungen Gräfin - muß es wohl eine Umarmung sein, die jene Katastrophe herbeiführt, die hier im Bilde der Vertreibung aus dem Paradies ihren Niederschlag findet. Das Verb „schließen“ ist mit allen seinen Formen bei Goethe stets so emotional besetzt wie wenig andere Wörter (wovon später noch die Rede sein wird). Strophe 5 nimmt das Partizip „verschlossen“ gleich zu Anfang wieder auf und gibt ihm in der Wiederholung zusätzliches Gewicht. Des weiteren trägt es die volle Bürde, die ihm die Erinnerung im Vergleich mit dem vorangegangenen Glückszustand zuweist. In ihm sammelt sich die ganze Bitterkeit über den Verlust der früheren Öffnung des Herzens, der Freude an künstlerischem Schaffen im Wettstreit mit allen großen Geistern in den „seligen Stunden“ an ihrer Seite. Bedrückung und Gewissensnot bleiben zurück. Die vorletzte Zeile entspricht mit ihrer Ballung der Nomina den schweren Gewitterwolken, auf welche die „schwüle Atmosphäre“ hinweist. Die Entladung des Gewitters bleibt ausgespart. Aus der Ananke-Strophe und ihrer Erläuterung wissen wir Bescheid. Strophe 6 Ist denn die Welt nicht übrig? - Felsenwände Sind sie nicht mehr gekrönt von heiligen Schatten? Die Erndte reift sie nicht? Ein grün Gelände Zieht sich’s nicht hin am Fluß durch Busch u. Matten? Und wölbt sich nicht das überweltlich Große, Gestaltet bald und bald gestaltenlose? 79 Nach der inhaltsschweren Pause richtet sich der Blick wieder auf die Welt. Die Luft ist gereinigt, die Landschaft wird in all ihrer Schönheit wieder wahrgenommen, Formen und Farben werden liebevoll reproduziert. Ein Neubeginn bahnt sich an. 79 In der Druckfassung, deutlich verbessert: „Gestaltenreiche, bald gestaltenlose? “ <?page no="49"?> 45 Die Stimmung von Strophe 6, einer Wiedergeburt ähnlich, weist zurück auf ein frühes Gedicht 80 , das ebenfalls eine Öffnung auf die Welt hin festhält, wobei es auf Vorangegangenes zunächst nur mit einem „Und“ als erstem Wort hindeutet. 81 Es ist das Gedicht Auf dem See von 1775 (in seiner späteren Fassung): Und frische Nahrung, neues Blut Saug’ ich aus freier Welt; Wie ist Natur so hold und gut, Die mich am Busen hält! Die Welle wieget unsern Kahn Im Rudertakt hinauf, Und Berge, wolkig himmelan, Begegnen unserm Lauf. Der Mittelabschnitt dieses Gedichts steht im Bann des Vergangenen, seines Leids und seiner Träume, die mächtig andringen, aber mit Vehemenz abgewehrt werden: Aug’, mein Aug’, was sinkst du nieder? Goldne Träume, kommt ihr wieder? Weg, du Traum, so Gold 82 du bist: Hier auch Lieb’ und Leben ist. Der Systole dieser Verse, in der das Verschwiegene nachbebt, folgt als Pendant zum ersten Abschnitt die Diastole des dritten: Auf der Welle blinken Tausend schwebende Sterne, Weiche Nebel trinken Rings die türmende Ferne; Morgenwind umflügelt Die beschattete Bucht, Und im See bespiegelt Sich die reifende Frucht. Der Ablauf von Systole (ausgespart) - Diastole - Systole - Diastole entspricht der seelischen Wellenbewegung der Elegie, wie wir sie nachzuzeichnen versuchten. Der Wortschatz von Strophe 6 beruft sich - bei allen stilistischen, metrischen und rhythmischen Unterschieden - auf das so viel frühere Gedicht und die Situation seiner Entstehung während der ersten Schweizer Reise, im Juni 1775, zwei Monate nach Goethes Verlobung mit Elisabeth Schönemann und zwei Wochen nach einem Besuch bei seiner Schwester Cornelia Schlosser in Emmendingen. Mit fünf rhetorischen Fragen, die alle das Glücksgefühl implizieren, das ihm sonst aus der Erfahrung einer innigen Naturverbundenheit, wie im Gedicht Auf dem See zuströmte, sucht sich der Dichter der Elegie Mut zuzusprechen. Aber weder der Ehrfurcht gebietende Anblick des Gebirges, noch die fruchtbaren Felder oder die freundliche 80 FA 1, S. 297. 81 Paul Hoffmann, Symbolismus, München 1987. S. 215. 82 Zu der besonderen Bedeutung der ‚Gold’-Symbolik später mehr. <?page no="50"?> 46 Flußlandschaft, die alle für „die Welt“ stehen, rühren diesmal die Seele an. Erst die letzte der Fragen: „Und wölbt sich nicht das überweltlich Große, / Gestaltenreiche, bald Gestaltenlose? “ (spätere, verbesserte Fassung) findet Widerhall und lenkt im folgenden den Blick zum Himmel empor. Hier schiebt sich das Erinnerungsbild eines späteren Erlebnisses tröstend ein, das ihm bei seiner Brocken-Besteigung im Dezember 1777 zuteil wurde und in seiner Seele präsent blieb: Strophe 7 Wie leicht und zierlich, klar und zart gewoben, Schwebt, Seraphgleich, aus ernster Wolcken Chor, Als glich es Ihr, am blauen Aether droben, Ein schlanck Gebild aus lichtem Duft empor; So sahst du Sie in frohem Tanze walten Die lieblichste der lieblichsten Gestalten. Hier vollzieht sich nun, in zartesten Pinselstrichen festgehalten, die Erscheinung der Geliebten. Auf die Sprachkunst dieser Verse ist bereits hingewiesen worden (vgl. S. 36); nachzutragen bleibt noch, wie die Wandlung der äußeren Erscheinung sich sprachlich verkörpert. Das zarte Wolkengebilde, das zunächst konjunktivisch-irreal auf die Geliebte hin gedeutet wird („Als glich es Ihr,“), verwandelt sich sozusagen vor unseren Augen in ihre Gestalt, in Sie selbst: „So sahst du Sie“, das ist der aufs äußerste zusammengezogene Ablauf einer, ganz im Sinne des erwähnten Wertekanons der Vokale sich im Sprachlichen vollziehenden Metamorphose nach Goetheschem Verständnis: die immer vollkommenere Ausbildung eines anfänglich Gegebenen. 83 Wie wenig sich solch eine Wortfügung dem Zufall verdankt, können wir aus Schriften bzw. Gedichten ersehen, die Goethe der Wolkenbeobachtung widmete, wie er sie schon seit Kindheit betrieben hatte. 84 Howards Einteilung der Wolken wurde von ihm begrüßt, er machte sich, wie er in der Abhandlung Wolkengestalt nach Howard schreibt, seine Terminologie zueigen, ging „aber sogleich wieder an die Natur und [suchte] die verschiedenen Wolkenformen auf dem Papier nachzubilden“. Dabei setzte er sich in Gegensatz zu jüngeren Zeitgenossen, u. a. Georg Forster, die ähnliche Bestrebungen zeigten. Ich mußte […] bei meiner alten Art verbleiben, die mich nötigt, alle Naturphänomene in einer gewissen Folge der Entwicklung zu betrachten und die Übergänge vor- und rückwärts aufmerksam zu begleiten. Denn dadurch gelangte ich ganz allein zur lebendigen Übersicht, aus welcher ein Begriff sich bildet, der sodann in aufsteigender Linie der Idee begegnen wird. 85 Im Gedicht-Zyklus Howards Ehrengedächtnis 86 ist er diesem Prinzip gefolgt. Es würde zu weit führen, auf mehr als nur einige Stellen des Zyklus einzugehen. Das Ein- 83 Die Metamorphose der Pflanzen, v. 15 - 29; FA 2, S. 496. 84 Vgl. Wolkengestalt nach Howard, FA 25, S. 214. 85 Ebd., S. 237 ff. und Howard’s Ehrengedächtnis, FA 2, S. 502 ff. gewidmet Luke Howard (1772- 1864), dessen Essay on the Modification of Clouds, London 1803, Goethe dankbar aufnahm. Vgl. FA 2, S. 1099 f. 86 FA 2, S. 503 ff. <?page no="51"?> 47 gangsgedicht betrachtet, wie das wechselnde, der indischen „Gottheit Camarupa“ zugeschriebene Spiel der Wolken im Menschen die Lust zum Nachgestalten weckt: „Nun regt sich kühn des eigenen Bildens Kraft, / Die Unbestimmtes zu Bestimmtem schafft“. Goethes selbstverfaßte Erläuterungen 87 verweisen auf Shakespeare, vor allem aber auf K ā lid ā sas Megha Duta, „indem dieses herrliche Gedicht in allen seinen Teilen hierher gehört” 88 . In dieser, 107 Strophen umfassenden, lyrischen Dichtung beschwört ein von seinem Fürsten strafweise für ein Jahr in eine ferne Gegend verbannter Höfling eine Monsunwolke, als Wolkenbote, ‚Megha Duta’, auf dem Weg nach Norden die sehnsuchtsvoll vermißte, einsame Gattin zu grüßen und zu trösten. Er folgt im Geiste dem Zug des Wolkenboten mit Schilderungen der Landstriche, Gebirge und Flüsse, seiner Begegnungen mit überirdischen Wesen und dem heiligen Fluß Ganges und läßt so den ungeheuer weiten Weg bis zur Liebsten hin erkennen, die sich in Sehnsucht nach dem Gemahl verzehrt. Das Gedicht, auf das hier Bezug genommen wird, ist ein durchaus erotisches; seinen vorausgesetzten tröstlichen Ausgang, die Erreichung des Ziels, an dem die Monsunwolke, gemeinsam mit anderen, die ersehnte erlösende, kühlende und fruchtbringende Regenzeit auslösen wird, darf jedoch der Zitierende für sich nicht in Anspruch nehmen: Der treuste Wolkenbote selbst zerstiebt, Eh’ er die Fern’ erreicht, wohin man liebt. Im Sinne seiner zeichnerischen Versuche charakterisiert Goethe die vier Wolkentypen in Übergängen, in Weiterbildung. Ihre Gestalten haben wir klar vor Augen, es sind Wolken, die da geschildert werden. Zugleich aber weist das Vokabular in den menschlichen Bereich 89 , auf Seelenzustände unterschiedlicher Entwicklungsstufen in einem mehr oder weniger festgelegten Ablauf in diesem oder auch in einem jenseitigen Leben. Da heißt es zuletzt: Cirrus Doch immer höher steigt der edle Drang! Erlösung ist ein himmlisch leichter Zwang. Ein Aufgehäuftes, flockig löst sich’s auf, Wie Schäflein trippelnd, leicht gekämmt zu Hauf. So fließt zuletzt, was unten leicht entstand, Dem Vater oben still in Schoß und Hand. 90 Solcher Sphäre entstammt auch das „schlank Gebild aus lichtem Duft“, das der Dichter der Elegie „festzuhalten” sucht. Diese in Strophe 7 bekundete Erscheinung wird sich noch mehrfach in Goethes Werken finden. Ein kleines biographisches Streiflicht aus einem 1882 veröffentlichten Bericht mag hier am Rande vermerkt sein: 87 Goethe zu Howards Ehren, FA 25, S. 242. 88 Vgl. Helmuth von Glasenapp. Das Spiel des Unendlichen. Gott, Welt und Mensch in der Dichtung der Hindus. In deutscher Nachbildung; Basel 1953, S. 44 f. 89 Vgl. Kommentar HA 1, S. 665. 90 Howards Ehrengedächtnis, Strophe 6; FA 2, S. 504. <?page no="52"?> 48 Der Dichter Apollonius Freiherr von Maltitz, der als Gesandter Rußlands nach dem Tode Goethes in Weimar lebte, hatte diesen in Karlsbad (am 26. Juli 1807) kennen gelernt. Viel früher noch betrachtete er den Dichter, wenn er ihn sah, ehrerbietig aus der Ferne und pflegte ihm zu folgen. Da fiel ihm die sich einigemal wiederholende Erscheinung auf, daß Goethe, allein im Tale sich ergehend, die Augen immer zu den Wolken richtete und die Lippen fast ununterbrochen bewegte, als ob er geheime Zwiesprache mit denen, die in den Wolken wohnen, pflegte.[…] 91 Strophe 8 Doch nur Momente darfst dich unterwinden, Ein Luftgebild statt Ihrer fest zu halten; In’s Herz zurück! dort wirst du’s besser finden, Dort regt Sie Sich in wechselnden Gestalten; Zu Vielen bildet Eine Sich hinüber, So tausendfach, und immer immer lieber. In gewissem Sinne wirkt das Wolkensymbol weiter, denn auch das Erinnerungsbild der Geliebten ist nicht statisch. In den „vielen“ wechselnden, von ihr inspirierten Gestalten seiner Dichtung ist sie lebendig, und das heißt bei Goethe, in einem ständigen Prozeß von Wandlung und Entwicklung begriffen: „So tausendfach und immer immer lieber.“ - Metamorphose auch hier. Strophen 9 und 10 Wie zum Empfang Sie an den Pforten weilte Und mich von dannauf stufenweis beglückte; Selbst nach dem letzten Kuß mich noch ereilte, Den letztesten mir auf die Lippen drückte; So klar beweglich bleibt das Bild der Lieben, Mit FlammenSchrift in’s treue Herz geschrieben. In’s Herz das fest wie zinnenhohe Mauer Sich Ihr bewahrt und Sie in sich bewahret, Für Sie sich freut an seiner eignen Dauer, Nur weis von sich wenn Sie Sich offenbaret; Sich freyer fühlt in so geliebten Schrancken Und nur noch schlägt für alles Ihr zu dancken. Strophe 9 spricht, in der Bewegung des anwachsenden Glücksgefühls der vorangegangenen Verse, andeutungsweise aus, was sich auch schon in dem großen Verstummen zwischen dem Schluß der ersten Strophe: „Kein Zweifeln mehr! Sie tritt ans Himmelstor/ Zu Ihren Armen hebt Sie dich empor“ und „So warst du denn im Paradies empfangen“ am Beginn der zweiten (vgl. S. 43) begeben hat. Allein schon der emphatische Plural von „Pforten“, der sich nicht etwa poetischer Lizenz zu verdanken hat und die Vorstellung einer gewöhnlichen Türe verbietet, sowie die fast buchstabengetreue Wiederholung des vorangegangenen Partizips in „Empfang“ weisen auf das festliche Ambiente hin, dem der Dichter das Wiederse- 91 L A. Frankl, Wahrheit aus Goethes Leben, 1882. In: Biedermann / Herwig, Bd. II, S. 243. <?page no="53"?> 49 hen zugeordnet wissen möchte. Die neunte Strophe schildert es in einer sie ganz umfassenden Periode, die, ungeachtet des am Ende gesetzten Punktes, syntaktisch überströmt in Strophe 10 und auch diese zur Gänze einbezieht in ihren Ablauf. Diese beiden Strophen bilden zusammen einen der Brennpunkte der Dichtung: ein hymnisches Bekenntnis von Liebe, Treue und Dankbarkeit. Von hier aus spannen sich Verbindungslinien, wie schon gezeigt, zum Beginn der Elegie und andererseits bis hin zur Schlußstrophe von Aussöhnung. Welcher Natur das konkrete Erlebnis war, das diese herrlichen Verse hervorrief, wird später zu ermitteln versucht werden; daß sie jedenfalls zutiefst erlebt sind, liegt nach Goethes eigenem Verständnis seiner dichterischen Begabung und Kreativität 92 auf der Hand. Ob Erinnerungsbild, Traum oder metamorphosierte Erfahrung des täglichen Lebens, woraus sich als biographischem Substrat der transzendentale Vorgang entwickelte - als wesentlich können wir jetzt nur festhalten, daß die Elegie aus einem Zustand psychischer Höchstspannung hervorging. („Ich setzte auf die Gegenwart“, sagte Goethe in diesem Zusammenhang, „so wie man eine bedeutende Summe auf eine Karte setzt, und suchte sie ohne Übertreibung so hoch zu steigern als möglich.“ 93 ). In der frohen Stimmung von Strophe 9 erscheint die Begegnung der Liebenden geradezu spielerisch gestaltet, ein erotischer Zauber liegt über ihr, eine beglückende Leichtigkeit. Das Schlimme hat aufgehört zu existieren, Schauplatz der Handlung ist ja das Paradies. Selbst nach dem letzten Kuß mich noch ereilte, Den letztesten mir auf die Lippen drückte: Das ist fröhliches, mädchenhaftes Spiel, das sich auch im beschwingten Rhythmus äußert. Das dunkle Grundmuster ist dennoch vorhanden, wenn auch überstrahlt vom paradiesischen Licht. „Der Kuß, der letzte“ in Strophe 4, der das Unheil brachte, kann nicht vergessen sein, wenn jetzt von einem „letzten Kuß“ so fröhliche Rede geht. Es scheint, daß man verstehen müßte: selbst nach jenem „letzten Kuß mich noch ereilte“, und das hieße dann, daß der „letzteste” das große Glück einer endgültigen Vergebung und Versöhnung mit sich brächte. Tiefgründigkeit und Leichtigkeit, beide haben hier ihre Gültigkeit, wie zwei verschiedene Stimmen in einem Musikstück. Die Form des zweiten Superlativs, auf die ebenfalls später wieder zurückzukommen sein wird, ist grammatisch unzulässig und widerspricht zudem aller Logik. Spielerisch und phantasievoll, setzt sie sich über sprachliche und logische Schranken hinweg und überwindet so auch die Grenze zwischen irdisch Letztem und transzendent Letztestem, also dem ‚Jüngsten’. Es könnte sein, daß Goethe hier eine Doppelung der Formen, analog den englischen Superlativen von ‚late’: ‚last’ und ‚latest’ suchte, wobei zu bedenken wäre, daß ‚latest’ keine Endgültigkeit ausdrückt, sondern immer dem jeweils Neueren zu weichen hat. 92 Vgl. Brief an Iken, 27. Sept. 1827 (S. 11). 93 Eckermann, 16. November 1823; a. a. O., S. 75. <?page no="54"?> 50 Die Schlußverse mit ihrem bedeutsamen Reim lassen einmal mehr die heitere Melodie in einem wunderbaren Akkord aufklingen, ehe die ernstere Thematik wieder in den Vordergrund rückt: So klar beweglich bleibt das Bild der Lieben, Mit FlammenSchrift ins treue Herz geschrieben. Strophe 10 des weiteren „Mit FlammenSchrift“! - Hier fällt ein ganz neuer Ton ein, man muß nicht lange nachdenken, ihn zu identifizieren. Wieder einmal zitiert Goethe sich selbst, um eine frühere Dichtung in den Bau der Trilogie einzubringen, der sein ganzes Leben und Werk in Andeutungen umfassen sollte. Chronologie spielt dabei keine Rolle, was auch wieder einen Beweis für die lebenslange Gültigkeit der Aussage darstellt. Die Spur weist sechzehn Jahre zurück zum Zyklus, der den Titel Sonette trägt. 94 E POCHE Mit FlammenSchrift war innigst eingeschrieben Petrarcas Brust vor allen andern Tagen Karfreitag. Eben so, ich darf ’s wohl sagen, Ist mir Advent von Achtzehnhundertsieben Ich fing nicht an, ich fuhr nur fort zu lieben Sie, die ich früh im Herzen schon getragen, Dann wieder weislich aus dem Sinn geschlagen, Der ich nun wieder bin ans Herz getrieben. Petrarcas Liebe, die unendlich hohe, War leider unbelohnt und gar zu traurig, Ein Herzensweh, ein ewiger Karfreitag; Doch stets erscheine, fort und fort, die frohe, Süß unter Palmenjubel, wonneschaurig, Der Herrin Ankunft mir, ein ew’ger Maitag. 95 Das Gedicht wurde erst in der Sammlung von 1827 an vorletzter Stelle dem 1807/ 08 96 entstandenen Sonetten-Zyklus angefügt, der in seiner Gänze in das Verständnis der Trilogie einbezogen sein will und der später noch ausführlich zu Wort kommen soll. Bereits bei der Besprechung der Form der Trilogie (vgl. S. 33) wurde darauf verwiesen, wie sehr die Dichtung in der italienischen Literatur verwurzelt ist. Schon das Motto der Elegie, das auf Goethes Torquato Tasso hinweist, evoziert diesen Dichter, aber darüber hinaus auch jene früheren, die in dem Tasso-Zitat, womöglich mehr noch als dieser Dichter selber, präsent sind: Dante und Petrarca (vgl. auch S. 41). Das von Goethe stichwortweise in die Elegie eingebrachte Sonett bezieht sich 94 FA 2, S. 250 ff. 95 Ebd., S. 259. 96 Vgl. Komm., FA 2, S. 986. <?page no="55"?> 51 auf beide Dichter, wörtlich auf den einen, auf den anderen in Anspielung, und zugleich auf beide (wenn auch mit Abweichung im Reimschema des Terzetts) durch die Form. Hinsichtlich des Grundthemas in Einklang mit ihm, setzt sich Goethe im einzelnen mit Petrarca auseinander, wobei er dessen eigene Kunstmittel anwendet, wie z. B. die asyndetische Häufung von Nomina, paronomastische Spiele (wovon später noch zu sprechen sein wird), Einsetzung des vollen Datums im Gedicht, Hervorhebung einer Zahl. Eine Reihe von Sonetten aus Goethes Zyklus nimmt Motive einzelner Petrarca-Sonette auf, um sie antinomisch zu behandeln, wie sich denn auch der gesamte Zyklus in seiner, zumindest auf den ersten Blick, spielerischen Art gegen die in Petrarcas Canzoniere lebenslang durchgeführte Feier von Leid und Tränen wendet. Von der Stunde an, da Petrarca Laura am Karfreitag des Jahres 1327 in der Kirche erstmals erblickt hatte, stand sein Leben im Schatten dieses Trauertages; beging er seine Wiederkehr und die des Datums, des 6. April, in schmerzlichen Gedichten, da ihm, selbst solange Laura lebte, die notwendig unerfüllte ‚Hohe Minne’ nur Leid brachte. Auch ihr Tod fiel seltsamerweise auf einen 6. April. Wie für Dante die Zahl Neun, so ist für Petrarca die Sechszahl von größter Bedeutung. Daß es für Goethe die Zahl Sieben war, wird noch zu zeigen sein. CCXI Voglia mi sprona, Amor mi guida et scorge, Piacer mi tira, Usanza mi trasporta, Speranza mi lusinga et riconforta et la man destra al cor già stanco porge; e ’l misero la prende, et non s’accorge di nostra cieca et disleale scorta: regnano i sensi, et la ragion è morta; de l’un vago desio l’altro risorge. Vertute, Honor, Bellezza, atto gentile, dolci parole ai be’ rami m’àn giunto ove soavemente il cor s’invesca. Mille trecento ventisette, a punto su l’ora prima, il dì sesto d’aprile, nel laberinto 97 intrai, né veggio ond’esca. 98 Mich spornt die Lust; voraus mir Amor ziehet; Die Freude lockt; Gewohnheit treibt und schüret; Die Hoffnung schmeichelt, tröstet und berühret Mit ihrer Hand mein Herz, das matt verglühet; Das arme Herz erfaßt die Hand und siehet Nicht, wie so blind und treulos, die es führet; Vernunft ist tot, und Sinnlichkeit regieret; Aus irrem Sehnen anderes erblühet. 97 Vgl. An Werther, v. 44. 98 Petrarca, a. a. O., S. 324 u. 325. <?page no="56"?> 52 Reiz, Tugend, süße Red, holdselig Weben Haben an schöne Zweige mich gebunden, Und still verwickelt sich mein Herz darinnen. Tausend dreihundert sieben und zwanzig eben 99 , Am sechsten Tag Aprils in erster Stunden, Trat ich ins Labyrinth, draus kein Entrinnen. Karfreitag war der Tag, an dem, wie Petrarcas Drittes Sonett 100 sagt, die Sonne sich einst ‚aus Mitleid mit ihrem Schöpfer’ verfinstert hatte und später Amor den arglosen, in tiefer Karfreitagstrauer ungeschützten Dichter seinem Pfeile hilflos ausgeliefert fand. Seit damals steht Petrarcas Lyrik im Zeichen des Schmerzes. Aber selbst dann, wenn er die erste Begegnung mit Laura segnet, geschieht dies in Ergebenheit in sein Leid: LXI Benedetto sia ’l giorno, e ’l mese, et l’anno, et la stagione, e ’l tempo, et l’ora, e ’l punto, e ’l bel paese, e ’l loco ov’io fui giunto da’ duo begli occhi che legato m’ànno; et benedetto il primo dolce affanno ch’i’ ebbi ad esser con Amor congiunto, et l ’arco, et le saette ond’i’ fui punto, et le piaghe che ’nfin al cor mi vanno. Benedette le voci tante ch’io chiamando il nome de mia donna ò sparte, e i sospiri, et le lagrime, e ’l desio; et benedette sian tutte le carte ov’ io fama l’acquisto, e ’l pensier mio, ch’è sol di lei, sì ch’altra non v’à parte. Gesegnet sei mir Jahr und Tag empfangen, Und Mond und Jahreszeit, Minut’ und Stunden, Das schöne Land, der Ort, wo mich gefunden Die schönen Augen, welche mich gefangen! Gesegnet sei das erste süße Bangen, Mit dem ich einst an Amor mich verbunden, Und Pfeil und Bogen, die mir schlugen Wunden, Und Wunden, die mir bis zum Herzen drangen! Gesegnet auch die vielen Wort’, in denen Ich meiner Herrin Namen rings geehret! Und alle Seufzer, alle Wünsch’ und Tränen! 99 In diesem Vers wurde gegenüber Försters „Dreizehn hundert“ die wörtlich genauere und metrisch passendere Übersetzung der Jahreszahl eingesetzt. 100 A. a. O., S. 10 u. 11. <?page no="57"?> 53 Gesegnet alle Blätter, die gemehret Der Teuren Ruhm! gesegnet all mein Sehnen, Das ihr nur, keiner andern angehöret! 101 In seinem Sonett Epoche (vgl. S. 50) bezieht sich Goethe, wie Petrarca in Sonett CCXI, auf eine bedeutsame Begegnung mit der „Herrin“. Die Jahreszahl (1807), im Text voll ausgeschrieben wie bei Petrarca, deutet jedoch auf ein Wiederbegegnen. Denn Goethe sagt: „Ich fing nicht an, ich fuhr nur fort zu lieben, / Sie, die ich früh im Herzen schon getragen, / Dann wieder weislich aus dem Sinn geschlagen, / Der ich nun wieder bin ans Herz getrieben.“ 102 Sie will er nicht in Trauer feiern, sondern in einem einzigen großen Freudenfest, für das mit „Advent“ nicht der Tod Jesu, sondern seine bevorstehende Geburt und seine bejubelte Ankunft in Jerusalem, in eins verschmolzen, das kirchliche Äquivalent zu Petrarcas Karfreitag darstellen sollen. Doch dies ist immer noch nicht genug: ein Maitag soll es überdies sein! Es läge nahe, an Pfingsten zu denken, das Fest der Ankunft, Herabkunft, des Heiligen Geistes. Aber Pfingsten fällt nicht notwendig in den Mai. Beim Gedanken an Petrarcas erste Begegnung mit Laura liegt Dantes erstes Zusammentreffen mit Beatrice nahe. Von Boccaccio wissen wir, daß es stattfand während eines von Beatrices Vater Folco Portinari veranstalteten Maifests 103 , das der junge Dante mit seinem Vater besuchte. Dante wie Beatrice waren damals in ihrem neunten Lebensjahr. Diese Festbegegnung im Leben des früheren Dichters machte ebenfalls „Epoche“. Die Elegie wird noch mehrmals auf den Bereich der beiden großen Italiener hinweisen und auf „jene lieben Frauen der Dichterwelt“, die Sonett II, Freundliches Begegnen, aus Goethes Zyklus einbezieht. Ihrer Reihe möchte er die Geliebte zugeordnet wissen. Lebenslange Bindung und Verbindung, hinweg über alle Wechselfälle der Biographie und selbst den Tod: das gilt auch für „Sie“ und den Dichter. So bekennt es die zehnte Strophe, so versinnbildlicht es auch der große Bogen der Periode, der sich ungehindert über Punkt und Strophenende von Strophe 9 zu ihr hinwölbt. Die ganze Stanze ist ein einziges Bekenntnis treuester Hingabe und dankbar erlebten Wechselbezugs. Der Vers „Für Sie sich freut an seiner eignen Dauer“ deutet wieder an, daß eine solche der Geliebten nicht beschieden war. Dennoch bleibt für ihn der Kontakt mit Ihr existentielle Notwendigkeit: „Nur weis von sich wenn Sie Sich offenbaret“. Reflexiv gebraucht, kann sich dieses Verb entweder auf ein Abstraktum beziehen oder aber auf ein Wesen höherer Art (wie dies ja die Strophen 13 und 14 ausführen). Die beiden letzten Verse nehmen fast wörtlich die Schlußstrophe von Aussöhnung vorweg; sie entbinden damit den letzten Teil der Trilogie aus seinen genetischen Gegebenheiten (vgl. S. 16) und heben ihn, wie Strophe 10 mit ihrem biblisch geprägten Sprachduktus, Vokabular 104 und Gebrauch von Gleichnis und Metapher bekundet, in die Sphäre lebenslang heiliggehaltener Verbindlichkeit. 101 A. a. O., S. 106 u. 107. 102 Hervorhebungen E. H. 103 Giovanni Boccaccio, Trattatello in laude di Dante V. Das Leben Dantes. Übersetzung von Otto Frhr. von Taube, Leipzig 1987 (Insel-Bücherei Nr. 275). S. 16 ff. 104 Vgl. Emil Staiger, Goethe, Zürich 1962. Bd. 3, S. 122. <?page no="58"?> 54 Strophen 11 und 12 War Fähigkeit zu lieben, war Bedürfen Von Gegenliebe weggelöscht, verschwunden; Ist Hoffnungslust zu freudigen Entwürfen, Entschlüssen, rascher That sogleich gefunden! Wenn Liebe je den Liebenden begeistet Ward es an mir auf’s lieblichste geleistet; Und zwar durch Sie! - Wie lag ein innres Bangen Auf Geist und Körper, unwillkommner Schweere, Von Schauerbildern rings der Blick umfangen Im wüsten Raum beklommner Herzensleere; Nun dämmert Hoffnung von bekannter Schwelle, Sie selbst erscheint in milder Sonnenhelle. Die große Dankbarkeit, die Strophe 10 ausdrückt, wird im folgenden weiter begründet. Strophen 11 und 12, durch ein Semikolon, entsprechend zeitgemäßer Interpunktion, syntaktisch mehr verknüpft als getrennt, zeichnen in paralleler Folge, jede für sich, das große Auf-und-Ab der ganzen Elegie nach. Beide setzen einen Zustand von Apathie und Depression, in Strophe 12 gesteigert bis zum Wahnsinn, in scharfen Kontrast zu der von der Geliebten ausgehenden heilenden Wirkung. Um sie zu erfahren, bedarf es der Verzweiflung (vgl. S. 34 zu Äolsharfen). Der Vorgang entspricht gewissen geistlichen Praktiken, die aus der Not eines vertieften und leidvoll gepflegten Sündenbewußtseins die mystische Schau bewirken wollen, wie sie auch in den Bekenntnissen einer Schönen Seele 105 dargestellt sind. Das Ende der Elegie läßt, wenn auch ohne die christlich-ethische Komponente einer solchen Übung, eine ähnliche Seelenhaltung in der Abkapselung von der Umgebung und totaler Hingabe an den Schmerz miterleben. In diesem Zustand werden die „getreuen Weggenossen“ fortgewiesen, erlahmt das sonst so wesentliche Interesse an der Natur und dem Wettbewerb mit ihr in der Kunst und verschwinden (wie Strophe 11 es darstellt) die „Fähigkeit zu lieben” und das „Bedürfen von Gegenliebe”, alles das fehlt, wozu der liebende Impuls von woimmer her dann wieder den Anstoß gibt: „Hoffnungslust zu freudigen Entwürfen, / Entschlüssen, rascher Tat“. Der Nachvollzug der blitzartigen Erweckung aus der Apathie der Depression spielt sich zwischen Vers 2 und Vers 3 ab. Der Übergang bleibt fließend: In dem die Verse 1-4 umfassenden Satzgefüge steht jeweils das Verb am Beginn der einzelnen Sätze; in den ersten beiden Fällen verbirgt sich ein adversatives „Während“ hinter der Inversion, die die Wortstellung der Nebensätze der des Hauptsatzes angleicht. Wir werden in die umgeschlagene Stimmung unversehens hineingetragen wie in dämmernden Morgen. Das Aufgehen der Sonne bringen dann die beiden Schlußverse (vgl. S. 39 und S. 64) und lassen es über das Intervall 105 Vgl. WMLJ 6; FA 9, S. 763 ff. <?page no="59"?> 55 zwischen den Strophen weiterwirken und sich vollenden: „Und zwar durch Sie! -“ Die drei schwach betonten Wörter, die dem Pronomen vorausgehen, bereiten syntaktisch, metrisch, rhythmisch und lautlich sein Erscheinen vor, bei dem das ‚Licht’ des ‚i’-Lautes von „Liebe“, „Liebenden“, „Lieblichste“ der vorangegangenen Schlußverse von Strophe 11 sich in einem Punkte sammelt. Dennoch - so schnell ist die tiefe Depression nicht wegzubannen. Der Blick wendet sich erneut dem durchlittenen Unheil zu, doch unter dem Einfluß des erinnerten Bildes löst sich die Sprache. Was vorher als mangelnde Fähigkeit, Liebe zu geben und zu nehmen, nur umrissen war, entfaltet jetzt seine ganze Intensität als „wüster Raum beklommner Herzensleere“, dessen „Schauerbilder“ den klaren Blick trüben. Der uns hier entgegentritt, heißt Orest, die Schauerbilder sind die seinen: „der Nacht uralte Töchter“. Sie rühren sich in ihren schwarzen Höhlen, Und aus den Winkeln schleichen ihre Gefährten, Der Zweifel und die Reue, leis’ herbei. Vor ihnen steigt ein Dampf vom Acheron; In seinen Wolkenkreisen wälzet sich Die ewige Betrachtung des Gescheh’nen Verwirrend um des Schuld’gen Haupt umher. Und sie, berechtigt zum Verderben, treten Der gottbesäten Erde schönen Boden, Von dem ein alter Fluch sie längst verbannte. Den Flüchtigen verfolgt ihr schneller Fuß; Sie geben nur um neu zu schrecken Rast. 106 Die Rettung Orests aus der Verfolgung der Erinnyen vollzieht sich nicht bei der ersten Begegnung mit Iphigenie, die Heilung erfolgt schrittweise, wie in den Elegie-Strophen 11 und 12 erinnerungsweise Apathie und Angstzustände neu durchlitten (‚aufgearbeitet’) werden. Was hernach in der Seele vor sich geht, projiziert Orest in die Außenwelt und läßt es in Gleichnissen von Witterung und Landschaft an uns vorüberziehen: Laß mich zum erstenmal mit freiem Herzen In deinen Armen reine Freude haben! Ihr Götter, die mit flammender Gewalt Ihr schwere Wolken aufzuzehren wandelt, Und gnädig-ernst den lang’ erflehten Regen Mit Donnerstimmen und mit Windes-Brausen In wilden Strömen auf die Erde schüttet; Doch bald der Menschen grausendes Erwarten In Segen auflös’t und das bange Staunen In Freudeblick und lauten Dank verwandelt, Wenn in den Tropfen frisch erquickter Blätter Die neue Sonne tausendfach sich spiegelt, Und Iris freundlich bunt mit leichter Hand Den grauen Flor der letzten Wolken trennt; O laßt mich auch an meiner Schwester Armen, 106 Iphigenie, v. 1059 f.; FA 5, S. 585 f. <?page no="60"?> 56 An meines Freundes Brust, was ihr mir gönnt Mit vollem Dank genießen und behalten. Es löset sich der Fluch, mir sagt’s das Herz. Die Eumeniden ziehn, ich höre sie, Zum Tartarus und schlagen hinter sich Die ehrnen Tore fernabdonnernd zu. Die Erde dampft erquickenden Geruch Und ladet mich auf ihren Flächen ein, Nach Lebensfreud’ und großer Tat zu jagen. 107 Auch in der Elegie wird die Verzweiflung mit ihren Schauerbildern durch die Erscheinung einer Lichtgestalt gebannt: Nun dämmert Hoffnung von bekannter Schwelle, Sie selbst erscheint in milder Sonnenhelle. (Vgl. S. 54.) Bei der versuchten Deutung von Strophe 1 wurde jedenfalls klar, daß die in ihr ausgesprochene Wiedersehenshoffnung eine eschatologische ist. Hier kommt sie nun wieder von „bekannter Schwelle“, vom Tode, her. Diesmal bleibt es grammatisch unklar, ob mit dem „Sie selbst“ die Geliebte oder die personifizierte Hoffnung gemeint ist, es gilt für beide, ähnlich wie im Drama Klärchen als Freiheit, oder die Freiheit in Gestalt des Egmont im Tod vorangegangenen Klärchen, den Eingekerkerten vor seinem letzten Morgen in einem Traum besucht. Hierzu die Bühnenanweisung: Er entschläft; die Musik begleitet seinen Schlummer, hinter seinem Lager scheint sich die Mauer zu eröffnen, eine glänzende Erscheinung zeigt sich. Die Freiheit in himmlischem Gewand, von einer Klarheit umflossen ruht auf einer Wolke. Sie hat die Züge von Clärchen, und neigt sich gegen den schlafenden Helden. Sie drückt eine bedauernde Empfindung aus, sie scheint ihn zu beklagen. Bald faßt sie sich, und mit aufmunternder Gebärde zeigt sie ihm das Bündel Pfeile, dann den Stab mit dem Hute. Sie heißt ihn froh sein und indem sie ihm bedeutet daß sein Tod den Provinzen die Freiheit verschaffen werde, erkennt sie ihn als Sieger und reicht ihm einen Lorbeerkranz. […] Beim leise einsetzenden Schall der Trommeln der spanischen Soldaten, die Egmont zu seinem Tode führen werden, verschwindet das Traumbild und Egmont erwacht. (So die Reihenfolge.) Dann fährt Egmont in seinem schon vor der Erscheinung begonnenen Monolog fort: Verschwunden ist der Kranz! Du schönes Bild das Licht des Tages hat dich verscheuchet! Ja sie waren’s, sie waren vereint die beiden süßten Freuden meines Herzens. Die göttliche Freiheit, von meiner Geliebten borgte sie die Gestalt; das reizende Mädchen kleidete sich in der Freundin himmlisches Gewand. In einem ernsten Augenblick erscheinen sie vereinigt, ernster als lieblich.[…] 108 In eben solchem Sinne verschmilzt die Elegie die Hoffnung auf Unsterblichkeit allegorisch mit der Gestalt der Geliebten, symbolisch vollzieht die Sprache dieses 107 Ebd., v. 1341 ff., FA 5, S. 594. 108 Egmont, letzte Szene; FA 5, S. 549 f. <?page no="61"?> 57 Geschehen nach. Hat sich bisher das Pronomen „Sie“ stets nur auf die Geliebte bezogen, so bildet es nun zusammen mit „selbst“ eine Einheit, die, wie gesagt, grammatisch sowohl Ihr als auch der Hoffnung gelten kann. Nach der zwischen den Strophen 1 und 2 ausgesparten Begegnung am Anfang des Gedichts, nach der kurzen Schau des Wolkenbildes („So sahst du Sie[…]“) außen am Himmel, nach den wechselnden Inkarnationen der „Einen“ im Herzen als vielerlei Gestalten der Dichtung („So tausendfach und immer, immer lieber“), mit Errettung aus Verzweiflung und Angstvisionen („Und zwar durch Sie! “) nun endlich „Sie selbst“, lebendiges Unterpfand und Garant der Hoffnung. Das „selbst“ gibt dem ja auch bisher mit großer Innigkeit behandelten Pronomen zusätzliche Bedeutung, nicht nur in Abgrenzung gegenüber den, sozusagen stellvertretend, vorangegangenen Manifestationen, sondern auch als Insignium eines höheren Ranges (im Sinne des griechischen ‚ aὐτός ’ mit seiner betonten Gewichtung der Person). Was wir hier erfahren, ist etwas wie die Darstellung eines graduellen Durchbruchs der Idee. Die in der Elegie nie namentlich Genannte ist über den organischen Zustand hinausgelangt und transparent geworden für das Höhere, dem sie gleicht. So verstanden, eröffnen die folgenden Strophen tiefe Einblicke in Goethes Religiosität. Sie gehören mit zum Schönsten, was je in deutscher Sprache gedichtet wurde; deshalb bedarf es einer gewissen Überwindung, um analysierend an sie heranzugehen. Strophen 13 und 14 Dem Frieden Gottes, welcher euch hienieden Mehr als Vernunft beseliget - wir lesen’s - Vergleich ich wohl der Liebe heitern Frieden In Gegenwart des allgeliebten Wesens; Da ruht das Herz, und nichts vermag zu stören Den tiefsten Sinn, den Sinn Ihr zu gehören. In unsers Busens Reine wogt ein Streben Sich einem höhern, reinern, unbekannten, Aus Danckbarkeit freywillig hinzugeben Enträthselnd sich den ewig ungenannten; Wir heißen’s: fromm seyn! - Solcher seligen Höhe Fühl ich mich theilhaft wenn ich vor Ihr stehe. Die beiden ersten Verse von Strophe 13 bringen in leichter Abwandlung das Paulus-Wort an die Philipper (4, 7): „Und der Friede Gottes, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christo Jesu.“ Goethes Variante hebt im Predigtton an und wendet sich mit der Anrede „euch“ und dem archaisierenden „hienieden“ an eine vorgestellte Gemeinde. Die bedeutungsvolle Einstimmung auf den i-Klang, noch unterstrichen durch den Binnenreim, läßt leicht darüber hinweglesen, daß der Sprecher sich selbst in die Gemeinde nicht einbezieht und es nötig findet, die Feststellung mit dem Hinweis auf die Schrift zu untermauern. Das poetisch Reizvolle des Reims „lesen’s“ - „Wesens“, das Natürliche des Idiomatischen, eingebunden in die strenge Form, bringt Lockerung <?page no="62"?> 58 und zugleich erhöhte Spannung: Spannung des ungewohnten Reims im Kontrast der Sprachstufen, Spannung auch im Gegensatz der biblischen Assoziation zum gegenwärtigen Inhalt und, noch weiter aufrechterhalten, in der Parallele „Wir heißen’s“ der vorletzten Zeile der nachfolgenden Strophe, in der zwischen „euch“ und „wir“ angelegten Kritik am Paulus-Wort. Goethe distanziert sich von einer Haltung, die den „Frieden Gottes“ in Gegensatz zur Vernunft setzt. Vernunft und Gott, Vernunft und Christus, das sind für den Aufklärer keine Antinomien. Man erinnere sich an den Spruch zum Jüngsten Tag aus den [Venezianischen] Epigrammen: 48. Böcke, zur Linken mit euch! so ordnet künftig der Richter: Und ihr Schäfchen, ihr sollt ruhig zur Rechten mir stehn! Wohl! Doch eines ist noch von ihm zu hoffen; dann sagt er: Seid, Vernünftige, mir grad’ gegenüber gestellt! 109 In diesen Zusammenhang gehört auch ein Wort, das im Gespräch mit dem Kanzler von Müller fiel: Sie wissen, was ich von dem Christentum halte, - oder Sie wissen es vielleicht auch nicht; - wer ist denn noch heutzutage ein Christ, wie Christus ihn haben wollte? Ich allein vielleicht, ob ihr mich gleich für einen Heiden haltet. 110 Mit dem „Frieden Gottes“ wird der heitere Friede der Liebe „In Gegenwart des allgeliebten Wesens“ verglichen, ein Friede, der sich nicht in Widerspruch zur Vernunft weiß. Das „allgeliebte Wesen“, das in Person der Geliebten in Erscheinung tritt, gewährt, über das Glücksempfinden erlebter Epiphanie hinaus, die Gewißheit persönlicher Unsterblichkeit. Die Schlußverse wandeln das Augustinus-Wort vom unruhigen Herzen ab: „[…] inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te, domine.“ 111 Da ruht das Herz, und nichts vermag zu stören Den tiefsten Sinn, den Sinn Ihr zu gehören. Mit diesen Versen und mit der folgenden Strophe 14 soll die Geliebte nicht an Stelle Gottes gesetzt werden. Indem transzendentale Hoffnung in ihr Gestalt annimmt, wird sie, im Sinne platonischer Metaphysik, zum faßbaren Repräsentanten von etwas Unfaßbarem, so wie der „farbige Abglanz“ des Wasserfalls das dem menschlichen Auge ungemäße Sonnenlicht vermittelt 112 , Goethes Symbolbegriff entsprechend: Das ist die wahre Symbolik wo das Besondere das Allgemeinere repräsentirt, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen. 113 109 FA 2, S. 219. 110 7. April 1830; a. a. O., S. 189. 111 Aurelius Augustinus, Confessiones I, 1. 112 Faust II, v. 4715 ff. 113 Sprüche in Prosa. FA 13, S. 33, 1. 196 (H 314). <?page no="63"?> 59 Wie bereits gezeigt (vgl. S. 41), weichen Goethes Manuskripte der Elegie hinsichtlich der Orthographie von der Ausgabe letzter Hand, aber auch von anderen, noch zu Goethes Lebzeiten erfolgten Drucklegungen 114 ab. Er hat sich bei Carl Wilhelm Göttling, Professor der Philologie und Bibliothekar in Jena, Korrekturen eingeholt 115 , die bei der Veröffentlichung maßgebend waren. Die Abweichung betreffen vor allem Interpunktion und Großbzw. Kleinschreibung. Abgesehen von der bereits hervorgehobenen grundsätzlichen Großschreibung aller vorkommenden femininen Personal- und Possessivpronomina in Goethes Reinschrift (und selbst des Reflexivums, wenn es sich auf „Sie“ bezieht), zeigt die Ausgabe letzter Hand bei diesem Gedicht noch weitere Abweichungen vom sekretierten Manuskript, das hier allein maßgebend ist. Goethe schreibt alle substantivierten Adjektive mit großem Anfangsbuchstaben, so u. a. Strophe 2, Vers 5: „dieses einzig Schönen“; in 6, 5: „das überweltlich Große“; so in 19,3: „zum Schönen manches Gute“. In Strophe 14 jedoch finden wir „einem höhern, reinern, unbekannten“ (Vers 2) und „ungenannten“ (Vers 4) klein geschrieben, wie dies auch noch die ersten Drucklegungen aufweisen. 116 Indem Goethe den bereits genannten großgeschriebenen substantivierten Adjektiven Komparative und Partizipien mit kleinen Anfangsbuchstaben gegenüberstellt, macht er klar, daß sie als Attribute gemeint sind, die sich hier nur auf „Busen“ rückbeziehen können. Damit fällt die Frage weg, ob der Mensch „sich“ (Dativ) „den ewig Ungenannten“ (Akkusativ Singular), so Trunz 117 , oder „sich“ (Akkusativ) „den ewig Ungenannten“ (Dativ, Plural) - so als mögliche andere Interpretation bei Staiger 118 - enträtsele. Hinter der bereits verklärten Gestalt der Geliebten, die jedoch nicht „unbekannt“ sein kann, wird ein fühlendes göttliches Wesen erahnbar, „unbekannt“, aber doch bis zu einem gewissen Grad enträtselbar, weil es sich ja in „Ihr“ manifestiert, wie die beiden Schlußverse verstehen lassen. Diese Lesart bezeugt nicht ein Abstraktum, sondern eine Persönlichkeit, wenn auch höher und reiner, als eine menschliche, selbst im Zustand höchster Reinheit und Hingabe, sein könnte, aber ihr verwandt und zugänglich. Hier werden Klage und Anklage der frühen Prometheus-Hymne zurückgenommen, wo es hieß: Da ich ein Kind war, Nicht wußte, wo aus noch ein, Kehrt’ ich mein verirrtes Auge Zur Sonne, als wenn drüber wär’ Ein Ohr, zu hören meine Klage, Ein Herz wie mein’s, Sich des Bedrängten zu erbarmen. 119 114 Vgl. WA I. 3, 381. 115 Vgl. WA I, 3. 382; Siehe Göttlings Brief an Goethe vom 15. Mai 1827 mit der beigefügten Fehlerliste. 116 Vgl. WA I, 3. 381. 117 Vgl. HA 1, S. 708. 118 Emil Staiger, Goethe, Gedichte, Manesse Ausg., Bd. 2, S. 382 f. 119 FA, 1, S. 329 f. <?page no="64"?> 60 Und Ganymeds Sehnsucht: „Aufwärts / An deinen Busen, / Alliebender Vater! “ 120 findet Erfüllung. Die „selige Höhe“, die „Sie“ im „Paradies” genießt, umschließt auch den sehnsuchtsvollen Frommen. Das Verhältnis gleicht dem in den letzten Gesängen des Purgatorio dargestellten Verhältnis Dantes zu Beatrice, die aus der Fülle göttlicher Gnade und Weisheit Einweihung und Lehre erteilt, selbst transparent geworden für die Sphäre des Göttlichen. Strophe 15 Vor Ihrem Blick, wie vor der Sonne Walten, Vor Ihrem Athem, wie vor Frühlingslüften Zerschmilzt, so längst sich eisig starr gehalten, Der Selbstsinn tief in winterlichen Grüften; Kein Eigennutz, kein Eigenwille dauert; Vor Ihrem Kommen sind sie weggeschauert. Hier wird Einblick gewährt in die Verwandlung, die die Nähe der Geliebten in der Seele des Dichters auslöst; es bedarf keiner Strafpredigt (vgl. Purg., 30 und 31), die Katharsis zu bewirken. „Ihre“ Gegenwart allein genügt, alles wegzuschmelzen, was Egoismus in den Tiefen der Psyche erkalten und erstarren ließ. Wir finden das Bild vom Wegtauen des Schnees bei Dante an der Stelle, wo der Dichter unter der Einwirkung der strengen Worte Beatrices und des 31. Psalms („Herr, auf dich traue ich“), den die Engel singen, endlich Tränen findet: Si come neve tra le vive travi per lo dosso d’Italia si congela, soffiata e stretta da li venti schiavi, Poi, liquefatta, in se stessa trapela, pur che la terra che perde ombra spiri, si che par foco fonder la candela; Cosi fui sanza lacrime e sospiri anci ’l cantar di quei che notan sempre dietro a le note de li etterni giri; Ma poi ch’ intesi ne le dolci tempre lor compatire a me, piu ehe se detto avesser: „Donna, perche si lo stempre? ” Lo gel che m ’era intorno al cor ristretto, spirito e acqua fessi, e con angoscia de la bocca e de li occhi usci del petto. 121 Wie, vom Nordost getrieben und verdichtet Und festgehalten von lebend’gen Balken, Der Schnee zu Eis gefriert auf Welschlands Rücken Und schmelzend dann in sich zusammensinkt, 120 Ebd., S. 331. 121 Dante Alighieri, La Comedia, Purgatorio 30, v. 85 ff. <?page no="65"?> 61 Sobald es weht vom schattenlosen Lande, Dass er sich auflöst, wie ein Licht am Feuer, So konnt’ ich Tränen nicht noch Seufzer finden Bis zum Gesange jener, deren Töne Stets die Musik der Sphären widertönen; Doch als in ihren süssen Melodien sie Mir Mitleid zeigten, mehr als ob: O Herrin, Was tust du ihm so weh? - gesagt sie hätten, Da ward der Frost, der mir das Herz erstarrte, Zu Hauch und Wasser, so dass mit Beklemmung Er aus der Brust mir drang durch Mund und Augen. 122 Beatrice fährt damit fort, Dante sein allzu weltliches Leben vorzuhalten, zumal er nach ihrem Tod auf einem Irrweg Phantomen gefolgt sei, die kein Versprechen hielten: Quando di carne a spirto era salita, bellezza e virtu cresciuta m’era fu’ io a lui men cara e men gradita; E volso i passi per via non vera, imagini di ben seguendo false, che nulla promission rendono intera. 123 Als ich vom Fleisch erhoben war zum Geiste Und Schönheit mir wie Kraft gewachsen waren, Ward minder lieb ich ihm und minder wert. Zu falschen Wegen wandt’ er seine Schritte, Den Bildern trügerischen Heiles folgend, Die kein Versprechen halten, das sie gaben; 124 Bis zu seinem völligen Zusammenbruch hält Beatrice dem Reuigen sein verfehltes, dem Irdischen zugewandtes Leben vor Augen, ehe sie ihn in den Lethe-Fluß taucht und ihn so aus seiner Verzweiflung erlöst. Goethes himmlische Herrin verfährt mit ihm umgekehrt, wie die folgenden beiden Strophen (16, 17) festhalten. 125 Zeichen setzend, verweisen zwei Wörter auch wieder auf Petrarcas Canzoniere, „Blick“ und „Frühlingslüfte“. Petrarca wird ja nicht müde, die Augen seiner Herrin zu feiern, während „l’aura“, eine jener Vokabeln ist, mit denen er den Namen Lauras verschlüsselt seinen Gedichten - neben „l’auro” (Gold), „l’aurora“ (Morgenröte) und vor allem „lauro“ (Lorbeer) 126 - einwirkt. Auf solche und ähnliche paronomastische Spiele wird später noch ausführlich zurückzukommen sein. Der Hinweis Goethes nun auch auf Petrarca muß als erneutes Zeugnis dafür verstanden werden, daß er, was den Verlust der geliebten Frau anlangt, sich als Dantes 122 Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie. Übersetzt von Karl Witte, Berlin 1921, S. 268. 123 Ebd., v. 127 ff. 124 a.a.O., S. 269. 125 „Der Nachahmer verdoppelt nur das Nachgeahmte, ohne etwas hinzu zu tun, oder uns weiter zu bringen.” Aus Der Sammler und die Seinigen, 8. Brief; FA 18, S. 726. 126 Hugo Friedrich, a. a. O. S. 196 ff. <?page no="66"?> 62 und Petrarcas Schicksalsgenossen versteht. Daß er dieses Schicksal selber aber auf andere Art zu bewältigen suchte, kann man seinem Wort für junge Dichter entnehmen, in dem er u. a. sagt: Ihr seyd nicht gefördert, wenn ihr eine Geliebte, die ihr durch Entfernung, Untreue, Tod verloren habt, immerfort betrauert. Das ist gar nichts werth und wenn ihr noch so viel Geschick und Talent dabey aufopfert. Heißt dies nicht, zu sein wie Orpheus und nicht zu lassen von der Geliebten - selbst nach ihrem Tod? Und weiter: Man halte sich an’s fortschreitende Leben und prüfe sich bey Gelegenheiten; denn da beweist sich’s im Augenblick ob wir lebendig sind, und bey späterer Betrachtung, ob wir lebendig waren. 127 Strophen 16 und 17 Es ist als wenn Sie sagte: Stund um Stunde Wird uns das Leben freundlich dargeboten, Das Gestrige lies uns geringe Kunde, Das Morgende! Zu wissen ist’s verboten; Und wenn ich je mich vor dem Abend scheute, Die Sonne sanck und sah noch was mich freute. Drum thu wie Ich und schaue, froh verständig, Dem Augenblick in’s Auge! Kein Verschieben! Begegn’ ihm schnell, wohlwollend wie lebendig, Im Handeln sey’s, zur Freude, sey’s dem Lieben; Nur wo du bist sey alles, immer kindlich, So bist du alles, bist unüberwindlich.“ Solchen lebensbejahenden Rat erteilt die Geliebte in diesen Strophen dem Dichter, der ihn im Geiste aufnimmt („Es ist, als wenn sie sagte“). Daß sie sich in ihrer stummen Ansprache gerade so und nicht anders an ihn wendet, setzt eine vorangegangene, nicht festgehaltene Frage an sie voraus. Aus ihrer Antwort können wir schließen, daß es die Frage nach seinem Tode war, der den seligen Zustand ihrer Nähe in einen bleibenden verwandeln würde. Die beiden Schlußverse von Strophe 15 legen dies nahe, zumal es zunächst hieß: „Kein Eigensinn, kein Eigenwille dauert“. Das kann durchaus auch den Lebenswillen meinen, der dem Wunsch zu sterben weicht, dem Wunsch, Ihr nachzusterben wie Eduard der Ottilie in den Wahlverwandtschaften. Solcher Sehnsucht tritt sie entgegen, indem sie ihn auf das Leben verpflichtet, auf diese Welt und auf die Gegenwart. An anderer Stelle finden wir es so ausgedrückt: Sehnsucht in’s Ferne, Künftige zu beschwichtigen, Beschäftige dich hier und heut im Tüchtigen. 128 127 Noch ein Wort für junge Dichter, FA 22, S. 932 ff., zit. Stelle: S. 934. 128 Chinesisch-deutsche Jahres- und Tageszeiten XIV; FA 2, S. 699. <?page no="67"?> 63 Wie Beatrice Vergil dazu ausersehen hat, Dantes Begleiter und Lehrer zu sein, so vertraut die Geliebte der Elegie auf Horaz. Ist Vergil ein Führer durch die Sphären des Jenseits, so erweist sich Horaz, wenn auch nur im Zitat beschworen, als Mentor für dieses Leben. In ihrer Rede - anders als Beatrices Strafgericht 129 mildeste Ermahnung - wandelt „Sie“ die beiden wohl geläufigsten Horaz-Oden ab, bezieht sie aufeinander und verwebt sie, in Parallelführung und Durchkreuzung, in eins. Der Ode C. I, 11 ist dabei gegenüber Ode C. III, 30 der weitaus größere Raum zugeteilt. Mit welcher Freiheit Goethe bei Übersetzung, oder, wie er einmal sagt, „poetischer Umschreibung“ lateinischer Verse vorging, hat er in der Novelle Der Mann von fünfzig Jahren selbst dargestellt. 130 Dementsprechend nimmt es auch nicht wunder, daß der Fluß der sechszeiligen Stanze nicht durchbrochen wird. Auch situativ hat Goethe eine Umgestaltung der ersteren der beiden genannten Oden vorgenommen; ein Rollentausch hat stattgefunden: anders als bei Horaz, belehrt hier, genauso wie bei Dante, wie bei Petrarca 131 (oder wie in Platons Gastmahl 132 , in Boethius’ Trost der Philosophie) die Frau den Mann. Zunächst nun Ode C. I, 11: Tu ne quaesieris, scire nefas, quem mihi, quem tibi finem di dederint, Leuconoe, nec Babylonios temptaris numeros, ut melius, quidquid erit, pati. seu pluris hiemes seu tribuit Iuppiter ultimam, Quae nunc oppositis debilitat pumicibus mare Thyrrenum: sapias, vina liques, et spatio brevi spem longam reseces, dum loquimur, fugerit invida aetas: carpe diem quam minimum credula postero. Frag nicht, Leuconoe, was du nicht wissen darfst, welch Ziel die Götter mir bestimmten, welches dir. Versuch Babylonische Rechnungen nicht. Weit besser ist es, dulden, was uns trifft; mag mehr der Winter noch uns Jupiter verleihn, sei dies der letzte, welcher jetzt die Wut Tyrrhenischer Wogen an den Klippen bricht. Sei weise und kläre den Wein, und schränke auf dies kurze Leben deine weitstrebenden Hoffnungen ein. Indem wir sprechen, fliehn die neidischen Jahre. Ergreif den Tag, und traue nicht leichtgläubig dem kommenden. 133 Der Anfang des Gedichts versteht sich, wie bereits gesagt, als Reaktion auf eine Frage, eine Frage, die hier nicht, wie bei Goethe implizit, sondern verbatim aufgegriffen und wiedergegeben ist: „quem mihi, quem tibi / finem di dederint“. Die Frage nach dem Ende wird, zusammen mit jeglichem orakelhaften Forschen nach der Zukunft, verworfen: „scire nefas“ - „Das Morgende! Zu wissen ist’s verboten“. Um das Gewicht voll auf die Gegenwart zu legen, geht Goethe sogar noch einen 129 Purg. 30, 31; a. a. O., S. 268 ff. 130 WMWJ 2, 4; FA, 10, S. 464 ff. 131 Vgl. Canzoniere CCLXXIX, a. a. O., S. 416 u. 417. 132 Das Gastmahl 201 D - 212 B. 133 Q. Horatius Flaccus, Oden und Epoden; lateinisch und deutsch. Übersetzt von Christian Friedrich Karl Herzlieb und Johann Peter Uz; eingeleitet und bearbeitet von Walther Killy und Ernst A. Schmidt, Düsseldorf / Zürich 2003. S. 83 f. <?page no="68"?> 64 Schritt weiter als Horaz, indem er auch das Vergangene wegweisen möchte, sofern es nicht in der Gegenwart lebendig ist. Man denke an sein Diktum hinsichtlich der Erinnerung (vgl. S. 13). Konzentration auf das Heute lautet Horazens Lehre. Goethe rafft die Zeit noch mehr: der Tag (dies) wird zur Stunde, (später gar zum Augenblick). „Stund’ um Stunde / Wird uns das Leben freundlich dargeboten“, das sind Horazens Weine, deren Läuterung Leuconoe anheimgestellt ist. Nicht weitgespannte Hoffnung ist gefordert - „spem longam reseces”, sondern schnelles Ergreifen des Tages („carpe diem“), des „Augenblicks“. „Kein Verschieben! ”: „quam minime credula postero“. Die ersten vier Verse der Strophe 16 geben die Quintessenz der Ode wieder, während die beiden Schlußverse Eigenes oder jedenfalls Anderes, einbringen. Ehe Goethe, bzw. die Herrin, sich einer weiteren Erörterung der Augenblicksdeutung zuwendet, wird, vor dem Hintergrund der Todesthematik, symbolisiert im „Abend“ gegenüber Horazens „Tag“, das Sinnbild der Sonne eingesetzt. Goethe hat die beiden Schlußverse von Strophe 16 mehrmals geändert; zunächst lauteten sie, bezogen auf den Angesprochenen: Und wenn du je dich vor dem Abend scheuest Ganz anders wirds so daß du dich erfreuest. 134 Dies war ein etwas vager Zuspruch gegenüber der - mit groß geschriebenem „Ich“! sich auf der Herrin eigene Erfahrung berufenden, von ihr selbst ausgesprochenen Beteuerung der späteren Fassung mit ihrem Hinweis auf die Zeugenschaft der Sonne: Und wenn Ich je mich vor dem Abend scheute, Die Sonne sank und sah noch was mich freute. Hier ist das Gefürchtete schon abgetan. Die untergehende Sonne versinnbildlichte für Goethe ja die Kontinuität des Lebens auch nach dem physischen Tod (vgl. S. 39). Am liebsten hätte er sie auf der Medaille gesehen, die zum 50-jährigen Regierungsjubiläum Karl Augusts geprägt werden sollte: Eine untergehende Sonne über einem Meere mit der Legende: Auch im Untergehen bleibt sie dieselbe, wäre ein für allemal das großartigste Symbol, aber wer wollte dazu raten? 135 Unter diesem Aspekt gewinnt der völlig diesseitige „Tag“ des Horaz als Goethes „Augenblick“ die Dimension der Transzendenz hinzu. Von der Sphäre jenseits des Todes gesprochen, verbürgt der Rat „Drum thu wie Ich und schaue, froh verständig, / Dem Augenblick ins Auge! “ auch die Kontinuität der geistig-seelischen Kondition im Nacheinander von irdischer und jenseitiger Existenz. Was die Geliebte fordert, ist ja gültig auch für Sie. Das ambivalente „wie“ vor „lebendig“ kann sowohl ,und’ als auch ,als ob’ bedeuten und trifft auf den einen wie den anderen Fall zu. ‚Dem Augenblick ins Auge zu schauen’, entspricht hier dem horazischen Gebot des „Carpe diem“, gleicht jedoch mehr einer Aufforderung zur 134 WA I. 3. 382. 135 Kanzler von Müller, 27. März 1824; a. a. O., S. 118 f. <?page no="69"?> 65 Erfüllung einer Pflicht als zum Auskosten von Genüssen eines kurzen Lebens (bei Horaz durch „vina“ versinnbildlicht). Man schaut ja, wenn man der Metapher nachdenkt, meist etwas Negativem, Gefährlichem ins Auge. In diese Richtung deutet auch das Verbot des Verschiebens, und ebenso der Auftrag, „wohlwollend wie lebendig“ „im Handeln“, „zur Freude“, „dem Lieben“, sich zu verhalten, also auch für Sie so zu sein. Die Kommata sind auf eine Weise gesetzt, daß unklar bleibt, womit „Freude“ verbunden werden soll. Der Bezug gilt vorwärts wie rückwärts, für den Handelnden und das, was ihm lieb ist: dem bzw der Lieben. In der sprachlichen Ambivalenz ist hier eine Begegnung in der Freude angedeutet, über alle Grenzen hinweg. Ähnlich wird schon im ersten Vers dieser Strophe verfahren, wo „froh verständig“ durch zwei in diesem Fall syntaktisch keineswegs geforderte Kommata isoliert und hervorgehoben wird. Bei näherer Betrachtung erweist sich dieser Einschub als eine Übersetzung des Frauennamens der zitierten Ode ( λευκός licht, klar, glückverheißend; νόος / νοũς Geist, Vernunft, Verstand). 136 Das Modaladverbiale „verständig“, mit dem ihm zugeordneten Adverb „froh“ syntaktisch intensiver verklammert als durch den Bindestrich der Druckfassung, gilt für die Sprecherin wie für den Adressaten. „Sie“, die ja kein Name bezeichnet, ist hier in die Rolle der Leuconoe geschlüpft, um etwa zu sagen: Einst habe auch ich viel über Tod und Schicksal gegrübelt, so wie jetzt du. Aber ich habe gelernt, dem Anspruch meines Namens in Horazens Sinne gerecht zu werden. Wenn auch du dich „froh verständig“ an die Mahnung „Carpe diem“ hältst, darfst du dich mit mir in Einklang wissen. So viel zum „heut“ des oben angeführten Spruchs zur „Sehnsucht ins Ferne, Künftige“. Nun zu seinem „hier“ (vgl. S. 62). Die beiden Schlußverse von Strophe 17 scheinen keinen rechten Sinn zu geben. Man hat versucht, das „Nur“ am Anfang des ersteren hypothetisch zu verschieben, um ‚Wo du nur bist’ (d. h. ‚wo immer du auch bist’) zu lesen. 137 Hierfür gibt aber auch die frühere Fassung keinen Anhaltspunkt, im Gegenteil, da hieß es nämlich: „Und wo du bist“. 138 Wie man auch die Verse betrachtet, sie bleiben tautologisch, solange man sie nicht an einen Bezugspunkt von außen knüpft. Hier kommt nun Ode C. III, 30 zum Tragen. Das Stichwort liefert das doppelt verwendete „alles“ - omnis -e, alle(s), ganz. Exegi monumentum aere perennius regalique situ pyramidum altius, quod non imber edax, non aquilo impotens possit diruere aut innumerabilis annorum series et fuga temporum. non omnis moriar multaque pars mei vitabit Libitinam: usque ego postera crescam laude recens, dum Capitolium 136 Vgl. Anm. zu C.1, 11, v. 2 a. a. O., S. 416: „Leuconoe“: Sprechender griechischer Name der Geliebten, die „klaren, heiteren Sinnes“ sein soll. 137 Vgl. Hierzu Erich Trunz, HA 1, S. 708. 138 WA I. 3. 382. <?page no="70"?> 66 scandet cum tacita virgine pontifex: dicar, qua violens obstrepit Aufidus et qua pauper aquae Daunus agrestium regnavit populorum, ex humili potens princeps Aeolium carmen ad Italos deduxisse modos. sume superbiam quaesitam meritis et mihi Delphica lauro cinge volens, Melpomene, comam. Erbaut hab’ ich mir ein Denkmal, ewiger als Erz, erhabner als der königlichen Pyramiden Bau, unzerstörbar dem nagenden Regen, dem Nordwind, der Reihe zahlloser Jahre, dem Fliehen der Zeiten. Nicht ganz werd’ ich sterben! Ein großer Teil von mir wird der Todesgöttin entrinnen. So lang noch der Pontifex mit der feierlich schweigenden Jungfrau das Capitol erklimmt, so lang werd’ ich wachsen an Nachruhm, Genannt werd’ ich sein, wo gewaltsam der Aufidus strömet, wo, wasserarm, Daunus einst ländliche Völker regierte, ich, der niedrigen Ursprungs, als Erster das Äolische Lied italischen Maßen verbunden. Nimm an den Stolz, den die Leistung hervorruft, Und umwinde mir willig, Melpomene, das Haar mit dem delphischen Lorbeer. 139 Thema des Gedichts ist der Stolz auf das Werk, das „Denkmal“, das Horaz sich gesetzt hat, denn es wird standhalten gegen jede Form der Zerstörung. Solange Rom besteht und wo immer man lateinisch spricht, werde man ihn nennen. Im Nachruhm sieht der Dichter ein teilweises Fortleben für sich gewährleistet. Das Kernstück der Ode: non omnis moriar multaque pars mei vitabit Libitinam wird kontrapunktisch aufgenommen in den eben besprochenen beiden Schlußversen von Strophe 17: Nur wo du bist sei alles, immer kindlich, So bist du alles, bist unüberwindlich. Dem futurischen „non omnis moriar“ setzen sie ihr präsentisches und positives „Sei alles“ entgegen, (präzisiert durch den adverbialen Nebensatz mit starker metrischer Betonung auf „wo“) „Nur wo du bist“, d. h. auf dieser Welt, in diesem Leben, sei ungeteilt hingegeben an die Aufgabe, die dir hier gestellt ist: „Dann bist du 139 A. a. O., S. 263 f. und Anm. ebd. S. 504. Übersetzung um größerer Wörtlichkeit willen verändert (E. H.). <?page no="71"?> 67 alles“, d. h. ‚ganz’, auch weiterhin, über den Tod hinaus, und nicht nur ein Teilaspekt („multa pars“) von dir, dein Werk, dein Ruhm, wird überleben. Dreimal sind Formen von „sein“ als Kopula zu einem Prädikativum gesetzt: das letzte „bist“, wiederum in metrischer Hebung, muß jedoch als Hauptverb angesehen werden, mit „unüberwindlich“ als Adverb, dessen negierendes Präfix aus der metrischen Senkung heraufgeholt ist. So entsteht, zusammen mit der Hebung in ‚über-’, eine Folge von drei betonten Silben, die das gewohnte Muster des Metrums durchbricht und gleichsam mit drei Hammerschlägen der Bedeutung der Aussage zusätzlichen Nachdruck verleiht. Sprachlich hat sich hier auf der Ebene der Grammatik eine semantische Metamorphose vollzogen, die besagt: ‚dann existierst du unüberwindlich. Der Tod kann dir in der Totalität deiner Persönlichkeit nichts anhaben und du bestehst fort, nicht nur, wie im Sinne der Ode, allein durch dein Werk.’ Eine Forderung der Herrin scheint nicht Horazischen Gedanken bzw. deren Weiterführung zu entspringen, nämlich das Gebot, „immer kindlich“ zu sein. Man kann darunter die selbstvergessene Hingabe verstehen, mit der sich Kinder an Spiel oder Aufgabe verlieren können. Dies mag wohl seine Berechtigung haben, doch im Zusammenhang geht es um mehr, geht es doch um ein Leben nach dem Tode. Und da scheint nun aus Ihren Worten ein anderer Lehrer mitzusprechen, der seinen Jüngern das Kindlich-Werden zur Vorschrift machte. Vorsichtig übt die Herrin Kritik an Horazens grandioser Feier seines Nachruhms, indem sie zur Warnung ihres Dichters Verse aus dem Mattheus-Evangelium anklingen läßt: Zu derselben Stunde traten die Jünger zu Jesu und sprachen: Wer ist doch der Größte im Himmelreich? Jesus rief ein Kind zu sich und stellte das mitten unter sie und sprach: Wahrlich ich sage euch: Es sei denn daß ihr euch umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. 140 Also keine Selbstüberschätzung! Auch nicht bei schließlicher Akzeptanz der Lehre, daß nur durch unermüdliche Tätigkeit in diesem Leben persönliche Unsterblichkeit erworben werden kann! So auch der von Goethe verehrte Plutarch, nach welchem nur in jenem Menschen das Göttliche Wohnung nimmt, der ihm nachzueifern bemüht ist. 141 Zu dieser Anschauung bekennt sich Goethe in dem Brief, den er 1827 an Zelter schrieb, anläßlich des Todes von dessen Sohn: […] Wirken wir fort bis wir, vor oder nacheinander, vom Weltgeist berufen in den Äther zurückkehren! Möge dann der ewig Lebendige uns neue Tätigkeiten, denen analog in welchen wir uns schon erprobt, nicht versagen! Fügt er sodann Erinnerung und Nachgefühl des Rechten und Guten was wir hier schon gewollt und geleistet, väterlich hinzu, so würden wir gewiß nur desto rascher in die Kämme des Weltgetriebes eingreifen. Die entelechische Monade muß sich nur in rastloser Tätigkeit erhalten; wird ihr diese zur andern Natur, so kann es ihr in Ewigkeit nicht an Beschäftigung fehlen.[…] 142 140 Matth. 18, 1-3. 141 Plutarch, Dio 1 (in Zeller, Die Philosophie der Griechen III, 1; 3. Auflage, S. 200/ 1, vgl. Plutarch Dio, Übersetzung und Kommentar von J. Gwyn Griffith, University of Wales Press, Cambridge 1970. 142 19. März 1827. HA, Briefe 4, S. 219. <?page no="72"?> 68 Doch der vertrauenden Bescheidenheit des Kindes bedarf es auch. Strophe 18 Du hast gut reden dacht’ ich, Zum Geleite Gab dir ein Gott die Gunst des Augenblickes, Und jeder fühlt, an deiner holden Seite, Sich Augenblicks den Günstling des Geschickes; Mich schreckt der Winck von Dir mich zu entfernen, Was hilft es mir so hohe Weisheit lernen! Die ethisch-religiöse Belehrung durch die Geliebte, beruhend auf einer mystischen Erfahrung, löst im Ermahnten eine Reaktion aus, die ebenso unvorhergesehen wie ernüchternd wirkt: „Du hast gut reden“, das ist nicht der Ton, der im Umgang mit dem Objekt lebenslanger Liebe, ja religiöser Hoffnung, zu erwarten wäre, selbst wenn dieses Wesen einen in ein ungeliebtes Leben der Trennung zurückbeorderte. Das Nächste, das in der Reinschrift auffällt, ist die zweimalige Kleinschreibung des „dir“ bzw. „deiner“ in den folgenden beiden Versen, während der vorletzte das Pronomen wieder groß schreibt. (In der eben angeführten respektlosen Wendung erlaubt die Großschreibung des „Du“ am Versanfang die Zuordnung des Pronomens rein formal zu jeder der beiden Kategorien.) Daß dann plötzlich bei der Anrede dieser Ausdruck der Reverenz wegbleibt, muß einen Grund haben, zumal in der vorangegangenen Strophe sogar das „Ich“ aus dem Munde der Geliebten mit großer Initiale wiedergegeben ist. Versehentliche Schreibfehler sind in diesem Fall, bei dem dokumentarischen Charakter, den Goethe der Reinschrift des Gedichts verliehen hat, unbedingt auszuschließen. Somit kann es nicht anders sein, als daß hier zwei verschiedene Personen angesprochen werden. Der Geliebten gelten die beiden Schlußverse: Mich schreckt der Winck von Dir mich zu entfernen, Was hilft es mir so hohe Weisheit lernen! Wenngleich diese Verse Bitterkeit ausdrücken, stehen sie in keinem Verhältnis zu der nonchalanten Reaktion des „Du hast gut reden“, die sich nur an eine gleichgestellte Person wenden kann. Die frühere Fassung, „Du hast gut lehren“ 143 , machte gerade solch ein Verhältnis nicht ganz so klar, gab aber eher die Richtung an, in welcher der oder die Angesprochene zu finden wäre. Und wer könnte es anders sein als Horaz? Und sofort fällt wieder ein Stichwort, das auf eine Ode verweist. Die betreffende Stelle ist zudem auch hervorgehoben durch einen syntaktisch völlig unbegründeten einleitenden Großbuchstaben nach bloßem Komma und mitten im Satz! Damit ist ein Zitat kenntlich gemacht: Du hast gut reden dacht’ ich, Zum Geleite Gab dir ein Gott die Gunst des Augenblickes, Es handelt sich hier um Ode C. IV, 3, die mit ihrem Beginn, gleich der Schlußstrophe von C. III, 30, wieder das Wort an die Muse richtet: 143 WA I. 3. 382. <?page no="73"?> 69 Quem tu Melpomene semel, nascentem placido lumine videris, illum non labor Isthmius clarabit pugilem, non equos inpiger curru ducet Achaico victorem, neque res bellica Deliis ornatum foliis ducem, quod regum tumidas contuderit minas, ostendet Capitolio: sed quae Tibur aquae fertile praefluut et spissae nemorum comae fingent Aeolio carmine nobilem. Romae, principis urbium, dignatur suboles inter amabilis vatum ponere me choros, et iam dente minus mordeor invido. o testudinis aureae dulcem quae strepitum, Pieri, temperas, mutis quoque piscibus donatura cycni, si libeat, sonum totum muneris hoc tui est, quod monstror digito praetereuntium Romanae fidicen lyrae; quod spiro et placeo, si placeo, tuum est. 144 Wen du, Melpomene, einmal bei seiner Geburt mit huldvollem Blicke ansahst, den verherrlicht der mühvolle Isthmische Kampf nicht, noch wird ihn ein flinkes Roß auf Achaischem Wagen zum Siege ziehn, kein Kriegserfolg wird ihn, lorbeergeschmückt, als Feldherrn, der den Hochmut drohender Könige brach, Zeigen dem Capitol. Aber die Bäche, die das fruchtbare Tibur bewässern, und das dichte Laub seiner Haine Schaffen ihm künftigen Ruhm mit dem Äolischen Lied. Die Söhne Roms, der allerersten der Städte, fügen dem holden Chor ihrer Dichter ehrend mich ein, und weniger fühl’ ich des Neides Zahn. 144 A. a. O., S. 274 ff. und Anmerkungen S. 508 f. <?page no="74"?> 70 O du, die dem goldenen Instrument süße Töne mischend entlockst, o Muse, die du stummen Fischen sogar Sang der Schwäne verleihen könntest, Dein Geschenk ist’s allein, weist man mit Fingern auf mich als den Meister römischer Leier, und ich schon lebend gefalle, so ich gefall’, ist dein Werk. 145 „Wen du, Melpomene, einmal bei seiner Geburt / mit huldvollem Auge ansahst“, findet man kunstvoll verschlüsselt und dennoch genau wiedergegeben in Goethes „Zum Geleite / Gab dir ein Gott die Gunst des Augenblickes“; nur muß man den „Augenblick“ als ‚Augen-Blick’, als Blick der Augen, lesen. (,Lumen‘ steht metaphorisch für Auge, ,placidus‘ bedeutet freundlich und huldvoll). Anstelle von der „Muse“ spricht er von einem Gott. Homer ruft am Beginn der Odyssee die Muse als Göttin „ Μοũσα “ an. Doch gibt es zumindest eine Stelle (Od. XXII, 347), wo ein Sänger sich auf einen θεός als Inspirationsquelle seiner Dichtung beruft; θεός bedeutet Gott wie auch Gottheit und steht, neben dem weniger gebräuchlichen θεά , auch für ‚Göttin’. Im Lateinischen wurde solcher Gebrauch von ‚deus’ gelegentlich übernommen, unbeschadet des hier völlig gleichberechtigt vorhandenen ‚dea’. Insofern darf sich Goethe mit seiner Übertragung in der antiken Tradition wissen. Es ist hier jedenfalls vom selben Gott die Rede, der am Schluß der Werther- Kanzone angerufen und dessen Hilfe im Motto der Elegie als geleistet verzeichnet wird: „Gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide.“ In Strophe 18 spricht ein Dichter zum anderen, zumal zu einem, mit dem er eine Menge gemeinsam hat, einer Identifikationsfigur - das könnte den respektlosen Ton am Anfang der Rede erklären. Die Zufriedenheit, mit der Horaz sich seines Glückes rühmt, das er in der vertrauten Landschaft oder in den liebenswürdigen Dichterzirkeln der Hauptstadt der Welt erfährt, und die zugleich stolze und bescheidene Haltung, mit der er die Verehrung auch schon der Zeitgenossen dankbar als Geschenk der Muse akzeptiert, praesentieren ihn als „Günstling des Geschickes“. Jeder ‚an seiner Seite’ darf sich glücklich schätzen: Und jeder fühlt, an deiner holden Seite, Sich Augenblicks den Günstling des Geschickes; Aus dem Wortlaut ergeben sich weitere mögliche Interpretationen, die offensichtlich nebeneinander bestehen können, weil sie einander nicht nur nicht ausschließen, sondern weil das Gedicht in seinem Verlauf sie alle zu rechtfertigen scheint. Die erste Deutung versteht jeden der „pereuntes“, der Vorübergehenden, schon durch den kurzen Moment der Begegnung, den Blick des Dichters, als vom Schicksal besonders beglückt. Mit der zweiten Deutung würde sich Goethe selbst dem antiken Kollegen zur „Seite“ stellen, still voraussetzend, daß er dies ohne zu große Anmaßung tun dürfe. Die idiomatische Sprache von „Du hast gut reden“ der 145 A. a. O., S. 275. Übersetzung etwas verändert (E. H.). <?page no="75"?> 71 ersten Zeile der Strophe entspricht solcher Haltung und steht auch nicht in Widerspruch zum nachfolgenden Verzweiflungsausbruch. Von der dritten, und wichtigsten, Deutungsmöglichkeit wird später noch zu sprechen sein. Ehe auf die Art und Weise der dargestellten rein gedanklichen Kommunikation mittels horazischer Oden näher eingegangen werden soll, nochmals eine Bemerkung zu „Augenblick“. Man hat auf den Doppelsinn des Wortes bei Goethe wiederholt aufmerksam gemacht. 146 Hier liegt der Beweis aus des Dichters eigener Feder vor: Indem Goethe lat. „dies” (Tag) von C.I,11,8 wie auch den Relativsatz mit „videre“ aus C.IV,3,2 im wesentlichen mit „Augenblick“ wiedergibt, macht er auf die Doppelbedeutung aufmerksam. Dadurch fällt ein neues Licht auf C.I,11,8, wo der „Augenblick“ dann doch wohl beides, Zeiteinheit und zugleich ‚Blick der Augen’, bedeuten muß. Eine frühere Fassung der Strophe weist ebenfalls in diese Richtung: Drum thu wie ich, und schaue froh verständig Dem Augenblick ins Auge; seinen Trieben Entgegne schnell in jedem Sinn, lebendig, Dem Handeln sey’s, der Freude, sey’s dem Lieben; 147 Die Aufforderung gilt hier deutlich zwischenmenschlichen Beziehungen, die „lebendig“ gestaltet werden sollen, wenn sich auch im „Entgegne“ ein gewisser Vorbehalt seitens der Herrin meldet, in Entsprechung zu dem oben erwähnten, durch die Redewendung des ‚Ins-Auge-Schauen’ implizierten Gefahrenmoments. Die Fassung der Reinschrift mildert den Vorbehalt ab, und es scheint, daß hier, in nuce, ein lebensbejahendes Gegenstück zu der großen Anklage Beatrices erstellt werden soll, in der sie Dantes Irren und mangelnde Treue nach ihrem Hinscheiden geißelt. (Vgl. S. 61.) Die Geliebte der Elegie fordert mit ihrem Gebot des ,Carpe diem’ geradezu den Liebesblick im irdischen Bereich, der ihrer eigenen teilnehmenden „Freude“ gewiß sein darf, ja die ewige Bindung auch noch intensiviert. Entsprechende Gedankengänge entwickelt ein Sonett Petrarcas, das von einem alten Mann berichtet, der sich nach Rom aufmacht, um dort das Antlitz Christi auf dem Schweißtuch der Veronika zu sehen. Solcher Pilgerschaft vergleicht Petrarca seinen Versuch, in anderen Frauen die wahre Gestalt Lauras wiederzufinden: XVI Movesi il vecchierel canuto et biancho del dolce loco ov’à sua età fornita et da la famigliuola sbigottita che vede il caro padre venir manco; indi trahendo poi l’antiquo fianco per l’extreme giornato di sua vita, quanto più pò, col buon voler s’aita, rotto dagli anni, et dal camino stanco; 146 Vgl. Gustav Cohen, Mignon. In: Jb. der Goethe-Ges. VII; Leipzig 1920. S. 132. Wolfgang Schadewaldt, Goethe-Studien, Zürich 1963. S. 446. Ferner: Ilse Graham, Goethe. Schauen und Glauben, Berlin 1988. S. 310 ff. 147 Vgl. WA I 3, S. 382. <?page no="76"?> 72 et viene a Roma, seguendo ’l desio, per mirar la sembianza di Colui ch’ancor lassù nel ciel vedere spera: cosi, lasso, talor vo cerchand’io, donna, quanto è possibile, in altrui la disiata vostra forma vera. Es zieht dahin der Al[t‘] in Silberhaaren Vom süßen Orte, wo er ward zum Greise, Und von den Seinen, die aus ihrem Kreise Besorgt den lieben Vater sehen fahren. Er schleppt die Glieder fort, die wandelbaren, Durch seiner Lebenstage letzte Gleise, Und hilft nach Kräften sich ans Ziel der Reise, Vom Weg ermüdet und gebeugt von Jahren, Um, seiner Sehnsucht folgend, einzuwandern In Rom und dessen Antlitz hier zu sehen, Den er einst hofft zu schaun in Himmelsklarheit. So will ich Armer manchmal auch erspähen, Soweit es, Herrin, möglich ist, in andern Euch, die Ersehnt, als wärt ihr’s selbst in Wahrheit. 148 Als Auftrag, in den „Augenblick“-Wortspielen verschlüsselt formuliert, wird in der Elegie der Blick auf ‚andere’ Frauen, ‚dem Augenblick ins Auge zu schauen’, von der Herrin persönlich gefordert. Ihr selbst werde er in Frauengestalten begegnen, die ihn an Sie erinnern oder eher - da er ja Erinnerung als solche nicht anerkennt - Ihr Bild wieder auf das lebendigste für ihn aktualisieren. Auf die Ebene des Sexuellen in einer Stufenfolge von Symbolen projiziert, findet man den Vorgang im Gedicht Das Tagebuch verschlüsselt dargestellt. 149 Strophe 18 des weiteren Die beiden Schlußverse von Strophe 18 bringen das Ende eines Dialogs, der sich stumm vollzogen hat. Die fiktive Rede der Herrin findet ihre Antwort im Bewußtsein des Dichters, dessen nicht verzeichnete Frage allem vorausgegangen sein muß. Die Unausgesprochenheit der Frage gibt das Rätsel auf, warum der Dialog gerade mittels Horaz geführt wird. Die Überlegung liegt nahe, daß nach dem Vorbild Dantes, der in seinem Epos den größten römischen Epiker zum Führer einsetzt, Goethe in seiner Lyrik den größten römischen Lyriker zu Hilfe ruft, wobei, 148 Canzoniere XV; a. a. O., S. 22 u. 23. 149 Das Tagebuch, FA 2, S. 843 ff.; Vgl. Hans Rudolf Vaget, Goethe, Der Mann von 60 Jahren. Zur Blick- Thematik s. Strophe 8, v. 57 f. (S. 845): „Doch blickend auch! So daß aus jedem Blicke / Sich himmlisches Versprechen mir entfaltet.“ (Näheren Aufschluß zum Code-Wort ‚himmlisch’ bringt das Schlußkapitel.) <?page no="77"?> 73 hier wie dort, die Lehre ergänzt und überhöht wird durch die Worte der Herrin. Voraussetzung ist jeweils die besondere Affinität des späteren zum antiken Dichter, wie ja Goethe sie zu Horaz beispielsweise im 67. der [Venezianischen] Epigramme (aus dem Nachlaß) bekundet. 150 Aus diesem Grund lag es nahe, an Horaz zu denken, wenn man Praktiken auf der Spur ist, die Goethe kannte, empfahl und gelegentlich auch selbst anwandte. Gemeint ist, was er in Noten und Abhandlungen zum Divan unter dem Titel „Buch- Orakel“ beschrieben hat: Der in jedem Tag düster befangene, nach einer aufgehellten Zukunft sich umschauende Mensch greift begierig nach Zufälligkeiten, um irgend eine weissagende Andeutung aufzuhaschen. Der Unentschlossene findet nur sein Heil im Entschluß, dem Ausspruch des Looses sich zu unterwerfen. Solcher Art ist die überall herkömmliche Orakelfrage an irgend ein bedeutendes Buch, zwischen dessen Blätter man eine Nadel versenkt und die dadurch bezeichnete Stelle beym Aufschlagen gläubig beachtet. Wir waren früher mit Personen genau verbunden, welche sich auf diese Weise bey der Bibel, dem Schatzkästlein und ähnlichen Erbauungswerken zutraulich Raths erholten und mehrmals in den größten Nöthen Trost, ja Bestärkung fürs ganze Leben gewannen. 151 Dementsprechend schrieb er von seiner Reise in den Harz am 9. Dezember 1777 an Charlotte von Stein: Es ist eben um die Zeit, wenig Tage auf ab, dass ich vor neun Jahren kranck zum Todte war, meine Mutter schlug damals in der äusersten Noth ihres Herzens ihre Bibel auf und fand, wie sie mir nachher erzählt hat: „Man wird wiederum Weinberge pflanzen an den Bergen Samariä, pflanzen wird man und dazu pfeifen.” Sie fand für den Augenblick Trost, und in der Folge manche Freude an dem Spruche. 152 Diese Zeilen wurden am Vorabend der gefährlichen Brockenbesteigung geschrieben, deren Ausgang für ihn ebenso unbestimmt gewesen sein muß, wie für die Mutter jener der Krankheit. Er unternahm den Aufstieg, „ob mirs schon seit 8 Tagen alle Menschen als unmöglich versichern“ 153 , wie er tags darauf berichtet, als alles gut vorbei war. Daß Goethe als junger Student das Buchorakel befragte oder es befragt zu haben zumindestens vorgab, erfahren wir aus einem Brief seiner Mutter von 1801: […] Vermuthlich ist dir aus dem Sinne gekommen was du bey deiner Ankunft in Straßburg - da deine Gesundheit noch schwanckend war in dem Büchlein das dir der Rat Moritz als Andencken mitgab, den ersten Tag deines dortseyn drinnen aufschlugs - du schriebst mirs und du warst wundersam bewegt - ich weiß es noch wie heute! Mache den Raum deiner Hütten weit, und breite aus die Teppige deiner Wohnung, spahre sein nicht - dehne deine Seile lang und stek- 150 FA 1, S. 477, „Klein ist unter den Fürsten“. 151 FA 3/ 1, S. 208 f. 152 HA Briefe, I, S. 245 und Komm. S. 662 ( Jer. 31, 5). Vgl. auch Leo Deutschländer, Goethe und das Alte Testament, Frankfurt a. M. 1923. S. 20 ff. 153 A. a. O., S. 246. <?page no="78"?> 74 ke deine Nägel fest, denn du wirst aus brechen, zur rechten und zur lincken. Jesaia 54.v.3. 4. 154 Auf jeden Fall zeigt die Stelle, wie vertraut Goethe mit dem Brauch des Buchorakels war, den er später im Zusammenhang mit orientalischer Lyrik für seine eigenen Gedichte erhofft: In Fortsetzung der oben zitierten Stelle aus den Noten und Abhandlungen heißt es: lm Orient finden wir diese Sitte gleichfalls in Uebung; sie wird Fal genannt und die Ehre derselben begegnete Hafisen gleich nach seinem Tode. Denn als die Strenggläubigen ihn nicht feyerlich beerdigen wollten, befragte man seine Gedichte, und als die bezeichnete Stelle seines Grabes erwähnt, das die Wanderer dereinst verehren würden, so folgerte man daraus daß er auch müsse ehrenvoll begraben werden. Der westliche Dichter spielt ebenfalls auf diese Gewohnheit an und wünscht daß seinem Büchlein gleiche Ehre widerfahren möge. 155 Dementsprechend läßt er das Buch der Sprüche auch folgendermaßen beginnen: Talismane werd’ ich in dem Buch zerstreuen, Das bewirkt ein Gleichgewicht. Wer mit gläubiger Nadel sticht Ueberall soll gutes Wort ihn freuen. 156 Eine ähnliche Gesinnung in der Aufnahme erhofft er auch für seine Zahmen Xenien: „Ich gebe gern von Zeit zu Zeit eine Partie solcher Reimsprüche aus; jeder kann nach eigner Lust eine Erfahrung, einen Lebenszustand hineinlegen oder daran knüpfen; sie kommen mir oft in der wunderbarsten Anwendung wieder zurück und bilden sich so lebendig immer weiter aus. Hat man doch auch aus der Bibel, aus Horaz und Virgil Denksprüche auf fast alle Ereignisse.“ 157 Der letzte Satz beruft sich auf Praktiken der Ratsuche, ‚sortes’, mit langer Tradition. Damit sind wir wieder bei Horaz und der Elegie angelangt, und die stumme Zwiesprache der Liebenden hat ihre Erklärung gefunden. Mehrmals wurde die Nadel in den Band der Oden versenkt. Das Orakel jedoch, - und das ist in der Elegie der Widerhaken, der das lyrische Ich betrifft - das Orakel hebt sich selbst auf, aus dem ‚Munde’ der Geliebten verbietet es seine Befragung: Tu ne quaesieris, scire nefas, quem mihi, quem tibi finem di dederint, Leuconoe, nec Babylonios temptaris numeros, ut melius, quidquid erit, pati. Der Weisung zum Trotz ,sticht’ er ein weiteres Mal und darf nun auf sich beziehen, was Ode C. IV, 3 über das Schicksal des Dichters im allgemeinen und über das des 154 Brief v. 7. Februar 1801; Briefe aus dem Elternhaus, hrsg. von Wolfgang Pfeiffer-Belli, Zürich 1960. S. 778 f. (Bibel-Zitat eigentlich: Jes. 54, 2. 3.) 155 West-östlicher Divan, FA 3/ 1, S. 209. 156 Ebd., FA 3/ 1, S. 62. 157 Kanzler Friedrich von Müller, 14. Februar 1824., a. a. O., S. 113. <?page no="79"?> 75 Horaz im besonderen aussagt: Quem tu, Melpomene […]. Zunächst scheint er die Auszeichnung nicht zu verstehen und sieht sich selbst im Gegensatz zu dem Begünstigten. Daher der Unmut. Dann jedoch schlägt die Stimmung um und wandelt sich, sowie das Pronomen „jeder“ eng mit „an deiner holden Seite“ verknüpft wird (also ‚jeder, der sich berechtigt fühlen darf, sich dir zur Seite zu stellen’), zur Erkenntnis einer Art geistigen Ritterschlags. Wieder ist die adverbiale Bestimmung ohne syntaktische Notwendigkeit zwischen Kommata gesetzt und auf diese Weise besonders hervorgehoben. Das Attribut „hold“, das für Horaz als Person nicht unbedingt das gemäßeste scheint, der Herrin jedoch wegen der Kleinschreibung von „deiner“ nicht gelten kann, bringt etwas Schillerndes in den Vers. Hier nun zu guterletzt die weitere und gewichtigste Bedeutung: nämlich die der Buchseite, der Seite, die das Stechen mit der Nadel erbracht hat. Als „hold“ erweist sich jene Seite, die mit dem großen Preislied auf die Existenz des Dichters den Jüngeren nun in doppeltem Sinne an die ‚Seite Horazens’ stellt und ihn so an seinen Rang und seine Berufung erinnert, die ihm aus der eigenen Begabung erwachsen. Damit muß er sich in ein tätiges Leben zurückbedeutet fühlen. „Winck“ verlangt Tätigkeit von ihm, das heißt aber auch Weiterleben und damit Verzicht auf die Hoffnung einer baldigen Vereinigung mit der Geliebten. Strophe 19 Nun bin ich fern! Der jetzigen Minute Was ziemt denn der? Ich wüßt es nicht zu sagen; Sie bietet mir zum Schönen manches Gute, Das lastet nur, ich muß mich ihm entschlagen. Mich treibt umher ein unbezwinglich Sehnen, Da bleibt kein Rath als gränzenlose Thraenen. Er hat dem ,Wink‘, sich „zu entfernen“, so erschreckend er ist, gehorcht. Mit Bitterkeit wird der Rat des ‚Carpe diem’ aufgegriffen, den die Geliebte in ihrer „Augenblicks“-Lehre vieldeutig umschrieben hat. Der Augenblick ist einem Zeitmaß gewichen, das schon durch seine zerdehnte Länge auf den Seelenzustand des Verbannten schließen läßt: „Nun bin ich fern! der jetzigen Minute / Was ziemt denn der? “ Wie anders klingt das als in Strophe 3, da der Tag in raschem Flug ‚die Minuten vor sich her zu treiben schien’. Nun senkt sich der graue Schleier einer tiefen Depression über das ganze Leben, das trotz des tröstlichen Zuspruchs des Buchorakels seinen Sinn verloren hat. Das „Schöne“ und „Gute“, das es bietet, wird erkannt und anerkannt, aber es hält dem Vergleich mit dem „Schönsten“ 158 nicht stand, jenem Einen, das sich entzogen und unbezwingliche, Ruhe verwehrende Sehnsucht zurückgelassen hat. ,Grenzenlose Tränen‘ bleiben der einzige ,Rat‘, ein therapeutischer Rat und ein Topos mit langer Tradition. Strophen 20 und 21 So quellt denn fort! und fließet unaufhaltsam; Doch nie gelängs die innre Glut zu dämpfen! 158 Vgl. Aussöhnung, v. 4. <?page no="80"?> 76 Schon raßt’s und reißt in meiner Brust gewaltsam, Wo Tod und Leben grausend sich bekämpfen. Wohl Kräuter gaeb’s des Körpers Quaal zu stillen; Allein dem Geist fehlt’s am Entschluß und Willen; Fehlt’s am Begriff: wie sollt er Sie vermissen? Er wiederholt Ihr Bild zu tausendmalen. Das zaudert bald, bald wird es weggerißen, Undeutlich jetzt und jetzt im reinsten Stralen; Wie könnte dies geringstem Troste frommen? Die Ebb’ und Flut, das Gehen wie das Kommen! Die Hingabe an den Schmerz ist allumfassend, den Tränen wird freier Lauf gelassen, wiewohl man weiß, daß die Glut im Innern nicht zu dämpfen ist. Das Schluchzen, das nun im Begriff ist, mit aller Macht loszubrechen, teilt sich auch sprachsymbolisch mit im Vers: „Schon raßt’s und reißt in meiner Brust gewaltsam,“ der die sich verstärkenden Spasmen lautlich nachvollzieht. Geist und Körper sind nun in Aufruhr, die Entscheidung, ob Tod oder Leben in diesem Kampf die Oberhand gewinnen, fällt hier nicht mehr durch einen Pistolenschuß, sie fällt im Innern, psychosomatisch bedingt, im Herzen. Der Todeswunsch äußert sich jetzt in Passivität, in der Gleichgültigkeit gegenüber rettender Medizin. Daß die „Kräuter“ in diesem Sinne zu verstehen sind, geht aus dem Folgenden klar hervor. Deshalb wurde gewiß die ominöser klingende frühere Version „Wohl gäb’s ein Kraut […]“ abgeändert. Der letzte Vers von Strophe 20 „Allein dem Geist fehlt’s am Entschluß und Willen“ greift syntaktisch über das Strophenintervall hinweg, um dann nach dem anaphorischen Versbeginn „Fehlt’s am Begriff“ in: „wie sollt’ er Sie vermissen? “ noch eine Steigerung zu erfahren. Die Pause des Intervalls und die Anaphora des Verbs wirken wie ein Stocken der Rede durch Versagen der Stimme und die so verursachte Notwendigkeit, den Faden wieder neu aufzunehmen. Etwas unsagbar Rührendes drückt sich hier aus. (Das Pronomen „er“, das auch im nächsten Vers wieder erscheint und syntaktisch mit „Geist“ verknüpft ist, wird jedoch eher als stellvertretend für „ich“ aufgefaßt, zumal von Emotionen die Rede ist.) In dieser Fusion bleibt der Körper eliminiert; seine „Qual“ wird nicht mehr bedacht, geschweige denn gestillt. Etwas wie eine Entkörperung hat stattgefunden. Der Vers „Er wiederholt Ihr Bild zu tausendmalen“ nimmt das Thema von Strophe 8 wieder auf. Aber wie hilflos scheint der Versuch, verglichen mit: Ins Herz zurück! dort wirst du’s besser finden, Dort regt Sie Sich in wechselnden Gestalten; Zu vielen bildet Eine Sich hinüber, So tausendfach, und immer immer lieber. Jetzt gleicht ihr Bild wieder den flüchtigen Wolkenerscheinungen in ihrer wechselnden Klarheit, ihrem Vorüberziehn, aber dennoch bleibt es stark genug, die Bewegung der Seele immer neu zu erregen, die „Ebb’ und Flut“ der Gefühle immer neu hervorzurufen. Die Frage: „Wie könnte dies geringstem Troste frommen […]? ” kann nur rhetorisch gemeint sein, denn der Dialog mit der Geliebten ist ja unterbunden worden. Vielleicht spielt sie jedoch auch auf jene Vorgänger an, die Schick- <?page no="81"?> 77 salsgenossen Dante und Petrarca, die im Schmerz, seinem Durchleiden in Tränen und seiner Bewältigung im Gesang, Erfüllung fanden. Hier nun schließt sich der Kreis, hin zum Ende der Werther-Kanzone und dem Motto der Elegie, in welchem Goethe aus Tasso dessen Vorgänger Dante und Petrarca sprechen läßt (vgl. S. 33), ihrem Beispiel („Rat“) folgend, indem er sich ganz dem Schmerz überläßt. D ANTE , V ITA N OVA XXXII Gli occhi dolenti per pietà del core hanno di lagrimar sofferta pena sí che per vinti son rimasi omai. Ora, s’io voglio sfogar lo dolore, che appoco appoco alla morte mi mena convenemi parlar traendo guai. […] Pianger di doglia e sospirar d’angoscia mi strugge il core ovunque sol mi trovo, sì che ne increscerebbe a chi ’l vedesse. E qual è stata la mia vita, poscia che la mia donna andò nel secol novo, lingua non è, dicer lo sapesse. […] Ihr Künder meines Jammers, meine Augen, Ihr tragt die Spuren meiner heißen Tränen, und - müdgeweint, - seid Ihr dem Schmerz erlegen. Nur Worte, gramgetränkte, mir noch taugen; Nur so könnt’ ich das Leid zu lindern wähnen, das langsam mich dem Tode führt entgegen. […] O angsterfüllte Seufzer, Schmerzenstränen, zerreißt mein Herz, wo immer ich auch weile, daß, wer es sähe, Mitleid fühlen müßte. Was ist mein Leben, und was ist mein Sehnen, seit selig sie entschwebt zum neuen Heile! Wo wär’ die Zunge, die’s zu schildern wüßte! 159 […] oder in XXXIII: Venite a intender li sospiri miei, o cor gentili, chè pietà il desia, li quali sconsolati vanno via, e se non fosser, di dolor morrei. Perochè gli occhi mi sarebbon rei, molte fiate più ch’io non vorria, lascio di pianger sì la donna mia, che sfogassi lo cor, piangendo lei. 159 A. a. O., S. 46 u. 48. <?page no="82"?> 78 Voi udirete lor chiamar sovente la mia donna gentil, che se n’è gita al secol degno della sua vertute, e dispregiar talora questa vita, in persona dell’anima dolente, abbandonata dalla sua salute. 160 O kommt, vernehmt mein Seufzen und mein Klagen; mitleid’ge Seelen, neigt Euch meinem Schmerz! Die übergroße Qual bräch’ mir das Herz, dürft’ nicht zu Euch der Hauch mein Wehe tragen. Seht, - meine Augen sich dem Leid versagen, - sind tränenleer und starren himmelwärts. Weh mir, vergehen müßte ich vor Schmerz, dürft’ ich ob meines Grams Euch nicht befragen. Seid mir ein Echo, wenn ich nach Ihr weine, nach Ihr, der Herrin mein, die uns entschwunden in ew’ger Heimat sel’ge Himmelsräume. O kommt, und seht auch meines Herzens Wunden, so tief, so blutend. - Da die Engelsreine entwich, - was sollen mir noch Glückes Träume! Lediglich ein einziges Petrarca-Gedicht möge, stellvertretend für viele andere des Canzoniere, anschaulich machen, wie sehr auch dieser Dichter sein Leid bis zur Neige auskostete: CCXXVI Passer mai solitario in alcun tetto non fu quant’io, né fera in alcun bosco, ch’i’ non veggio ’l bel viso, et non conosco altro sol, né quest’occhi ànn’altro obiecto. Lagrimar sempre è ’l mio sommo diletto, il rider doglia, il cibo assentio et tòsco, la notte affanno, e ’l ciel seren m’è fosco, et duro campo di battaglia il letto. Il sonno è veramente qual uom dice, parente de la morte, e ’l cor sottragge a quel dolce penser che ’n vita il tene. Solo al mondo paese almo, felice, verdi rive fiorite, ombrose piagge, voi possedete, et io piango, il mio bene. 160 Ebd. S. 49. <?page no="83"?> 79 Nie war auf seinem Dach so abgeschieden Ein Spatz, wie ich, kein Wild in dunklem Hage, Seit mir ihr Antlitz fehlt, der nichts ich frage Nach andrer Sonn und Augenlust hienieden. Nur immer Weinen gibt mir Freud und Frieden; Speis ist mir Gall’ und Gift; das Lachen Klage; Des Himmels Bläue Dunkel; Nacht ist Plage; Das Bett ein hartes Schlachtgefild dem Müden. Der Schlaf ist, wie der Mensch ihn nennt, in Wahrheit Bruder des Tods, der freundlichen Gedanken Das Herz entzieht, die es dem Leben einen. Du einzig Land voll segensreicher Klarheit, Ihr grünen Ufer, schattge Blütenranken, Ihr habt mein Glück - ich muß es fern beweinen! 161 Goethe hat solche Tendenz zur absoluten Depression später bei sich bekämpft; das beweist sein eigener Sonettenzyklus, der sich vielfach bis in Einzelheiten als Gegenwurf zu Petrarca interpretieren läßt (vgl. S. 53). Er mußte sie bekämpfen, weil er ihre Mächtigkeit nur zu gut kannte und nicht wie sein Werther, sein Tasso, sein Eduard, an ihr zugrunde gehen wollte. 1824 sagt er mit Bezug auf Werther: Das ist auch so ein Geschöpf […], das ich gleich dem Pelikan mit dem Blut meines eigenen Herzens gefüttert habe. Es ist darin so viel Innerliches aus meiner eigenen Brust, soviel von Empfindungen und Gedanken, um damit wohl einen Roman von zehn solchen Bändchen auszustatten. Übrigens habe ich das Buch, wie ich schon öfter gesagt, seit seinem Erscheinen nur ein einziges Mal wieder gelesen und mich gehütet, es abermals zu tun. Es sind lauter Brandraketen! Es wird mir unheimlich dabei, und ich fürchte, den pathologischen Zustand wieder durch zu empfinden, aus dem es hervorging. 162 Ferner heißt es: Es waren […] individuelle, naheliegende Verhältnisse, die mir auf die Nägel brannten und mir zu schaffen machten und die mich in jenen Gemütszustand brachten, aus dem der Werther hervorging. Ich hatte gelebt, geliebt, und sehr viel gelitten! - Das war es. 163 Sein „Tasso“ ist ihm ein noch „gesteigerter Werther“. 164 Mit Berufung auf ihn hat die Elegie begonnen, die, fast an ihr Ende gekommen, widerspiegelt, wie der von der Geliebten auf sich selbst zurückverwiesene Dichter sich nun gleich Tasso einem elementaren Strom von Verzweiflung überläßt, dessen tödliche Bedrohung er kennt und fürchtet. Eine schwere gesundheitliche Krise sollte tatsächlich nur knappe zwei Monate nach Entstehung der Elegie erfolgen. Zelter, der Freund und Vertraute, der zu Besuch in Weimar war, mußte sie dem Kranken wieder und 161 A. a. O., S. 340 u. 341. 162 Eckermann III, 2. Januar 1824; a. a. O., S. 545. 163 Eckermann, ebd., S. 546. 164 Ebd. 3. Mai 1827, S. 627. <?page no="84"?> 80 wieder vorlesen (vgl. S. 15), wie der bereits zitierte Brief des Dichters festhält. Die Strophen 20 und 21 stehen in der Reinschrift zu zweit auf einer Seite, während sonst immer drei Strophen eine Seite füllen; von dieser Ordnung weicht sonst nur die erste ab, die mit der ihr nachgesetzten Koronis die Mitte einer Seite einnimmt, und die beiden letzten, bei denen gleichfalls der leere Raum oben und unten symmetrisch verteilt erscheint, so daß für eine weitere Strophe kein Platz bliebe. Nach Strophe 21 schließt eine Koronis ab. Hiernach wäre noch genügend Raum für eine weitere Strophe. Ihr Platz ist leer. Hier konfrontiert uns das Verstummen, von dem das Tasso-Zitat des Mottos weiß. Hier ist der Punkt der größten Qual erreicht, hier wird sie sprach-los erlitten. Strophen 22 und 23 Verlasst mich hier, getreue Weggenoßen! Laßt mich allein am Fels, in Moor und Moos, Nur immer zu! euch ist die Welt erschlossen, Die Erde weit, der Himmel hehr und gros; Betrachtet, forscht, die Einzelnheiten sammelt, Naturgeheimniß werde nachgestammelt. Mir ist das All, ich bin mir selbst verlohren, Der ich noch erst den Göttern Liebling war; Sie prüften mich verliehen mir Pandoren, So reich an Gütern, reicher an Gefahr; Sie drängten mich zum gabeseligen Munde, Sie trennen mich, und richten mich zu Grunde. Was nun folgt, da Worte wieder möglich sind, ist der Abschied von den Freunden vor der Flucht in die Einsamkeit menschenleerer Landschaft. Ausgesprochen wird der Auftrag, fortzufahren in dem, was man bisher gemeinsam getan hat, da auch noch für den Dichter selbst „die Welt erschlossen, / Die Erde weit, der Himmel hehr und groß“ war, da die Erforschung der Natur und das Bemühen, selber schöpferisch zu bilden, gemäß dem ihr eigenen geheimnisvollen Plan, sein Anliegen war und seine Lehre. Das Bestreben eines ganzen Lebens findet sich hier in nuce zusammengefaßt und sogleich verloren gegeben: Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren, Der ich noch erst den Göttern Liebling war; Nichts mehr ist übrig von der inneren Ausgewogenheit und Harmonie der späten Dichtung Goethes, hier nimmt das Gefühl von Ausgeschlossensein, von Verlust und Verlorenheit so sehr überhand, daß alle Gemeinsamkeit zunichte werden muß und nur der Wunsch bleibt, sich in der Einsamkeit zu bergen, zu der das unfruchtbare Moor das entsprechendste Ambiente bietet. Hier ist der Widerspruchsgeist gebrochen, der sich gegen Horaz noch auflehnen konnte; Menschenflucht und Hingabe an die Verzweiflung drücken sich nun noch weit radikaler aus als im folgenden Sonett aus dem Canzoniere, das einen vergleichbaren Seelenzustand festhält: <?page no="85"?> 81 XXXV Solo et pensoso i più deserti campi vo mesurando a passi tardi et lenti, et gli occhi porto per fuggire intenti ove vestigio human la rena stampi. Altro schermo non trovo che mi scampi dal manifesto accorger de le genti, perché negli atti d’alegrezza spenti di fuor si legge com’io dentro avampi: sì ch’io mi credo omai che monti et piagge et fiumi et selve sappian di che tempre sia la mia vita, ch’è celata altrui. Ma pur sì aspre vie né sì selvagge cercar non so ch’Amor non venga sempre regionando con meco. et io co’llui. Allein und sinnend durch die ödsten Lande Zieh ich mit langsam abgemeßnem Schritte, Und ringsum schweift zur Flucht mein Blick, wo Tritte Der Menschen irgendwo zu sehn im Sande. Nicht anders bin zu bergen ich imstande, Was schnell sich offenbart in andrer Mitte, Weil meines Wandels freudelose Sitte Nach außen Kunde gibt vom innern Brande; So daß ich glaube, meinen Jammer ahnen, Wie ich ihn vor den Menschen auch verstecke, Gebirg und Wälder nun und Ström’ und Bäche. Doch find’ ich nicht so rauh’ und wilde Bahnen, Wo mich nicht Amor immer gleich entdecke, Daß ich mit ihm, er sich mit mir bespreche. 165 Das Sonett beklagt unerfüllte Liebe, noch nicht den Tod der Herrin. Der Dichter, der sein Liebesleid in einsame Landschaft hinträgt, das ist ein Topos mit antiker Tradition, den Petrarca in die italienische Dichtung eingeführt hat. 166 Dieser Topos kommt dem Spiel mit dem Laura-Namen und dem Gebrauch von Wörtern wie „lauro“, „l’aura“, u. a. entgegen, doch ist das Landschaftsmotiv durchaus nicht notwendig mit Paronomasie verknüpft, wie das eben zitierte Sonett zeigt. Das Motiv der Menschenflucht und der Zufluchtsuche in einsamer Landschaft geht in der romanischen Tradition auf Vergils Zehnte Ekloge zurück 167 . Es war aber, aller Wahrscheinlichkeit nach, C. Cornelius Gallus, dem diese Zehnte Ekloge gewid- 165 A. a. O., S. 64 u. 65. 166 Vgl. Hugo Friedrich, a. a.O., S. 211. 167 Ebd., S. 211 f. <?page no="86"?> 82 met ist, der das Motiv aus Theokrits Dichtung in die lateinische Literatur eingeführt hat. 168 Der Traditionsfaden, der sich von Sonett XXXV und ähnlichen Gedichten Petrarcas zurück zur Antike und hin zu Goethe spinnt, ist nur ein Indiz der vielfachen literarischen Verflochtenheit der Elegie. Goethe mußte natürlich nicht erst auf Umwegen zu Vergil gelangen, den er von Jugend an gelesen und geschätzt hatte. Anders als bei der Hineinnahme von Horaz-Texten in die Dichtung, geschieht der Vorgang im Falle Vergils vorwiegend nicht mittels wörtlicher Zitate, sondern durch Einarbeitung von Motiven, Bildern, Symbolen, die über eine Zeitspanne von zwei Jahrtausenden genügend lebendig geblieben sind, um mit ihrer Hilfe persönlichstes Erleben und Erleiden anzudeuten. Der Schluß der Elegie ist durchsetzt mit einer Reihe von Bezugspunkten, die, unter Einbeziehung der Sechsten, auf die Zehnte Ekloge hinweisen. Vorbild für die Zehnte Ekloge ist, wie ja bekannt, Theokrits Erste Idylle, in der, eingebettet in eine ländliche Rahmenerzählung, das Lied vom jungen Daphnis gesungen wird, der an unglücklicher Liebe zugrunde ging. In Vergils Gedicht ist an die Stelle von Daphnis Gallus getreten, eine Gestalt aus dem Freundeskreis Vergils, jener für uns fast völlig verschollene Dichter, der in seinem von Theokrit und Euphorion geprägten Werk die Liebeselegie in die lateinische Literatur eingeführt hat. Er war beispielgebend für Properz und Tibull wie für Ovid. Um zu zeigen, inwiefern er auch für Goethe wichtig wurde, ist es nötig, etwas weiter auszuholen und die Gestalt des Cornelius Gallus mit seiner Geschichte in Erinnerung zu rufen. Vergil läßt - ebenfalls eingefügt in eine Rahmenhandlung - Gallus sein eigenes Lied singen, seine Trauer um Lycoris, die einem anderen Mann nach dem Norden, in die Kälte, gefolgt ist. Servius, antiker Kommentator Vergils, merkt an, daß Vergil 46 Verse von Gallus in die Zehnte Ekloge übernommen habe. 169 Heute hält man dies für unwahrscheinlich, schon deshalb, weil für den jungen und noch ziemlich wenig bekannten Vergil kein Grund vorlag, so große Teile aus dem Werk eines viel angeseheneren Zeitgenossen zu zitieren. Wie dem auch sei, dem Gehalt nach muß die Zehnte Ekloge den Lebens- und Gemütszuständen des Cornelius Gallus entsprochen haben, war sie doch offensichtlich als Trostgedicht für ihn konzipiert. Gallus hatte, im Zusammenwirken mit anderen Freunden, seinem Schulfreund Vergil das väterliche Erbe in Mantua gerettet, als es nach der Schlacht von Philippi bei Umverteilung der Ländereien konfisziert werden sollte. 170 C. Cornelius Gallus lebte von 69 bis 26 v. Chr. Er hatte eine steile Karriere im Staat, eng befreundet mit Octavian. Auf dessen Seite kämpfte er erfolgreich im Alexandrinischen Krieg gegen Marc Anton und Kleopatra 171 und wurde nach der Schlacht von Actium im Jahre 30 Präfekt von Ägypten, womit er den Höhepunkt seiner Macht erreicht hatte. Offensichtlich erregte seine Selbstherrlichkeit und Ruhmsucht 172 (nach Ovid bloß ungezügeltes Reden beim Weingenuß 173 ) das Miß- 168 Ebd. 169 Servius, ecl. 10. 170 Servius auct. zu ecl. X, 6. 64 f. 171 Dio 51,9 f.; Plut. Ant. 79. 172 Dio 53,23,5 f. 173 Tristia II, v. 445. <?page no="87"?> 83 trauen des Kaisers. Im Jahr 26 wurde er nach Rom zurückbeordert, vor Gericht gestellt, für schuldig befunden, all seiner Güter verlustig erklärt und aus dem Bereich des ganzen Römischen Reiches, also auch sämtlicher Kolonien, verbannt. Hierauf nahm er sich das Leben. 174 Seine Ächtung, die „damnatio memoriae“, ist der Grund, warum seine Werke bis auf wenige Zeilen verloren gegangen sind, obwohl sie bei seinen Zeitgenossen Schule gemacht hatten. Seine vier an Catulls Carmen 68 anknüpfenden Liebeselegien-Bücher galten einer Cytheris (oder Volumnia, wie sie als Freigelassene eines Volumnius hieß). 175 Gallus feierte sie unter dem Namen Lycoris, der metrisch gleichwertig mit Cytheris ist (ähnlich wie es auch Properz und Tibull mit den Pseudonymen ihrer Geliebten hielten und vor ihnen schon Catull). Lykoreia war ein Ort auf dem Parnaß und Lykoreios ein Kulttitel des Apoll, mit besonderem Bezug auf sein Verhältnis zur Dichtkunst. ‚Lycoris’, als Mädchenname nicht gebräuchlich, deutet auf große Verehrung für Apoll und Neigung zu gelehrter Poesie. 176 Lycoris war Tänzerin und Schauspielerin und geraume Zeit die Geliebte Marc Antons 177 , der ihr so ergeben war, daß seine Mutter sie wie eine legitime Schwiegertochter behandeln mußte. Öffentlich und mit großem Gefolge führte er sie in einem mit Löwen bespannten Wagen durch Italien. Als er aber später Fulvia heiratete, ließ er sie fallen. 178 Dennoch muß er sie sehr geliebt haben. Da seine Elegien nicht erhalten sind, wissen wir nichts Genaueres über seine Beziehung zu ihr. Eben nur, daß er sehr litt, als sie einem anderen Mann in ein Soldatenlager im Norden folgte. Daß sie zu Marc Anton zurückgekehrt wäre, ist in Anbetracht seiner militärischen Bewegungen unwahrscheinlich. 179 Über der schon im Jahr 39, also lange vor Gallus’ Untergang, gedichteten Zehnten Ekloge hängt etwas wie eine dunkle Vorahnung; nicht nur, daß Vergil in dem an Theokrits Erster Idylle ausgerichteten Gedicht Gallus an die Stelle des todgeweihten Daphnis setzt, auch schon der Anruf an die Muse (oder eher Quellnymphe) am Anfang hat etwas Prophetisches, wenn es da heißt: Extremum hunc, Arethusa, mihi concede laborem. pauca meo Gallo, sed quae legat ipsa Lycoris, carmina sunt dicenda: neget quis carmina Gallo? Diesen letzten Gesang, Arethusa, laß mich vollenden, wenig für meinen Gallus, doch so, daß es selbst auch Lycoris liest, soll tönen mein Lied; wer weigerte Lieder dem Gallus? 180 Eine rhetorische Frage, gewiß, und formuliert mit Litotes. Doch später, nach Gallus’ Tod, wurden ihm kaum mehr Lieder gesungen. Wenn des Servius heute 174 Vgl. Der Kleine Pauly, I, Sp. 1316 f.; II, Sp. 687, z. 21 f. 175 Cic. Fam. 9,26,2; Phil. 2,58. 176 R.D. Anderson / P.J. Parsons / R.G.M. Nisbet, Elegiacs by Gallus from QASR IBRÎM. In: The Journal of Roman Studies, Vol. LXIX, 1979, S. 148. 177 Johann Heinrich Voss d. Ä. bestreitet die Identität von Cytheris und Lykoris in: Des Publius Virgilius Maro Ländliche Gedichte, übersetzt und erklärt. Band 2, S. 501. 178 Cic. Fam IX, 26; Att. X. 10, 10,5. 16,5; Phil. 2, 69.77. 179 Anderson/ Parsons/ Nisbet, a. a. O., S. 153. 180 Vergil, Ecl. X, v.1-3, Landleben, a. a. O., S. 76 u. 77. <?page no="88"?> 84 umstrittene Aussage zuträfe, dann mußte auf Wunsch des Augustus sogar der ursprüngliche Schluß von Vergils Georgica geändert werden; denn der soll Gallus und seinem Preis gewidmet gewesen sein. Diese Stelle nimmt (seither? ) Orpheus 181 ein. Ein bedeutungsschwerer Austausch wäre es immerhin. Die drei letzten Verse der Ekloge vermitteln ebenfalls das Gefühl von etwas Bedrohlichem, wenn in ihnen der Dichter in seiner Rolle als Hirt seine Ziegen zum Heimweg ermuntert: surgamus. solet esse gravis cantantibus umbra, iuniperi gravis umbra, nocent et frugibus umbrae. ite domum saturae, venit Hesperus, ite capellae. Stehen wir auf! Gefährlich ist meist den Sängern der Schatten, Gift der Wacholderbuschschatten, auch Früchten schadet der Schatten. Geht, der Abendstern blinkt, ihr seid satt, geht heim, meine Ziegen! 182 Dreimal in zwei Versen erscheint „umbra“, Schatten, nicht erquickend wie sonst, sondern, auch dies zweimal, als gefährlich, und nochmals als schädlich. Das ebenfalls verdoppelte „ite“ mutet wie Furcht an, wie Furcht vor Gespenstern. Zwischen diesen beiden ominösen Polen spielt sich nun die Handlung ab: Gallus allein, selbst von den Nymphen des Waldes verlassen, Gallus beweint von Lorbeer und Tamarisken, sogar von den Steinen der Berge, während er da unter seinem ‚einsamen’ Felsen liegt. Schafe sammeln sich rings um ihn, und allmählich kommen dann verschiedene Hirten und nehmen Anteil an seinem Leid. Zuletzt erscheinen Götter, und Apoll weist ihn zurecht: ,Galle, quid insanis? ’ inquit, ’tua cura Lycoris perque nives alium perque horrida castra secuta est.’ „Gallus, was rasest du? ” fragte er dich, dein Liebling Lycoris zog mit dem anderen fort durch Schnee und schaurige Lager.“ 183 Pan gibt Amor die Schuld, Amor, der unersättlich ist nach Tränen. Letztlich singt Gallus sein Lied, in dem Verzweiflung über die Untreue der Geliebten und Sorge um sie abwechseln mit Vorstellungen irrealer oder potentieller Existenzformen, in denen seine Liebe Erfüllung finden oder überwunden werden könnte. Man hat versucht, das Sprunghafte und Widersprüchliche dieser Verse damit zu erklären, daß sie einen Katalog von Gallus’ eigenen Dichtungen geben sollten. 184 Die Zeitgenossen hätten die Anspielungen verstanden und den schnellen Wechsel von Lokalität und Lebensform jeweils auf ein anderes Werk des Gallus bezogen. Gallus-Zitate darf man auch bei anderen Dichtern vermuten. Die folgenden Verse zum Beispiel haben eine ganz ähnliche Entsprechung bei Properz (I, 8, v.7f), so daß man annehmen kann, daß Gallus für beide Dichtungen die gemeinsame Quelle war. 181 Servius zu Ecl. X und Georg. IV, 1. 182 Verg., ecl. X, 75-77; a. a. O., S. 80 u. 81. 183 Ebd., v. 22 f.; a. a. O., S. 76 u. 77. 184 Franz Skutsch, Aus Vergils Frühzeit, Leipzig 1901, S. 18. <?page no="89"?> 85 tu procul a patria, nec sit mihi credere tantum, Alpinas a dura nives et frigora Rheni me sine sola vides. a, te ne frigora laedant. a, tibi ne teneras glacies secet aspera plantas Du vom Vaterland fern - ach, müßt ich solch Unheil nicht glauben! - siehst, du harte, der Alpen Schnee und den Winter am Rheine, einsam, fern von mir. Ach möge der Frost dir nicht schaden, ach daß starrendes Eis dir nicht schneide die Sohlen, die zarten! 185 Ehe sogleich Hinweise der Elegie auf die Ekloge aufgegriffen werden sollen, seien noch zwei kleine Dialoge aus Goethes Zahmen Xenien angeführt, bei denen, wie hier immer, die fremde Stimme durch Anführungsstriche markiert ist. Sie zeigen, wie sehr das von Gallus bewiesene Mitleid und seine Selbstlosigkeit auch Goethes eigener Haltung entsprachen: „Sie betrog dich geraume Zeit; Nun siehst du wohl, sie war ein Schein.” Was weißt du denn von Wirklichkeit; War sie drum weniger mein? „Betrogen bist du zum Erbarmen, Nun läßt sie dich allein! ” Und war es nur ein Schein; Sie lag in meinen Armen, War sie drum weniger mein? 186 Es wäre nicht verwunderlich, wenn diese späten Verse in einem fiktiven Gespräch zwischen Apollo und Gallus die eigene quälende Situation des jungen Goethe darstellten. Indem Gallus und sein Leid in die Elegie eingespiegelt wird, sehen wir uns wieder mit Werthers Lage konfrontiert. Die Frau, die, von Goethe so wenig benannt wie die anderen „lieben Frauen der Dichterwelt”, jetzt als Vergleichsobjekt vor uns auftaucht, ist keine Beatrice, keine Laura, nicht heilig, nicht tugendhaft, eher eine Helena im üblichen Verstande. Einige der Qualitäten jedoch, die sie auszeichneten, gehören wohl mit zum Charakterbild der Geliebten der Elegie: Begabung zu Tanz und Musik, Poesieverständnis und Meisterschaft des Vortrags. Cicero hörte Cytheris-Lycoris im Theater die Sechste Ekloge singen und fragte erstaunt, von wem sie sei. Als er den jungen Vergil endlich zu Gesicht bekam, soll er, zum eigenen wie zu Vergils Lobe, gesagt haben: „Die andere große Hoffnung Roms.“ 187 Durch Lycoris war er auf Vergil gestoßen! Wo Goethe in der Elegie Inhalte aus der Zehnten Ekloge übernimmt, überhöht und erweitert er sie zugleich in ähnlicher Weise, wie bereits an seinem Umgang mit der Lyrik Petrarcas und Horaz’ festzustellen war. Der vorgegebene Text erfährt sprachliche Verdichtung und emotionale Intensivierung. Wendet sich Vergil in der Nachfolge Theokrits mit leisem Vorwurf an die Waldnymphen, die Gallus in seiner 185 Ecl. X, v. 46-49; a. a. O., S. 78 und 79. 186 Zahme Xenien IV; FA 2, S. 656 f. 187 Servius, zu ecl. X. <?page no="90"?> 86 Not nicht beistehen 188 , so ist es in der Elegie der Betroffene selbst, der die „treuen Weggenossen“ sogar wegweist, woraus sich biographisch nicht uninteressante Analogieschlüsse ziehen ließen. Sucht Gallus Zuflucht in der Einsamkeit des Waldes, so findet sich der Trauernde der Elegie in einer unfruchtbaren Moorlandschaft. Hier, wie bei Vergil, ist der Fels von Wichtigkeit, bei Vergil metonymisch gefaßt als Signifikant für die Einsamkeit des Subjekts: „solam sub rupem“ 189 , bei Goethe als deren Symbol: „allein am Fels“. „Sub rupem“ impliziert vielleicht noch einen gewissen Schutz vor Regen und Sonne, „am Fels“ vermittelt nur die Empfindung von Härte und Kälte und einem drohenden Absprung. Gallus läßt seine Phantasie schweifen, um in anderen Existenzformen ein Heilmittel gegen sein psychisches Leiden zu suchen, u. a. auch in einem wild bewegten Jägerdasein; doch wird solch eine Vorstellung sogleich wieder abgetan: „tamquam haec sit nostri medicina furoris“ 190 (als ob dies Medizin gegen mein Rasen wäre). Bei Goethe heißt es: Wohl Kräuter gaeb’s, des Körpers Quaal zu stillen, Allein dem Geist fehlt’s am Entschluß und Willen”. Die Möglichkeit einer Heilung wird nur in Bezug auf den Körper gesehen, ohne Wunsch, sie zu realisieren; der Todestrieb ist stärker. In knappster Form ist hier der Zustand der tiefen Depression festgehalten, an der auch Gallus leidet. Wenn dieser bei Vergil sagt: iam neque Hamadryades rursus neque carmina nobis ipsa placent; ipsae rursus concedite silvae Ach, schon lieb ich die Nymphen nicht mehr, nicht einmal Gesänge liebe ich noch, ja selbst ihr Wälder, fahret auch ihr hin! 191 so erlebt er sich als abgelöst von seiner eigentlichen Existenzgrundlage, der beseelten Natur um ihn herum, die zusammen mit der Geliebten bislang sein Hauptanliegen war als Thema seiner Lieder. Dichter, der er ist, findet er sich damit losgerissen von seiner Kunst, die seinem Leben nun auch keinen Sinn mehr zu geben vermag. Schritt für Schritt vollzieht sich der Identitätsverlust. Goethe faßt das dann so: Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren, Der ich noch erst den Göttern Liebling war. „Den Göttern Liebling“ - hier wird die Erfahrung des Verlustes mit jener des vorangegangenen Glückszustands kontrastiert und damit noch schmerzlicher erlebt. Der Verlust ist total. Ihn auszudrücken, genügt die Dimension der Wälder nicht, er weitet sich auf das All aus, in dem das Ich keinen Raum mehr hat. Das „All“ umgreift auch jene andere Welt, zu der das Buchorakel den Zugang zunächst 188 Ecl. X, v. 9-12, S. 76 und 77. 189 Ebd., v. 14. 190 Ebd., v. 60. 191 Ebd. v. 62 f., S. 78-81. <?page no="91"?> 87 geöffnet und dann versperrt hat. Ähnlich wie Faust nach der Erscheinung des Erdgeists, sieht sich das Ich hier in seiner Existenz in Frage gestellt und am Rande der Vernichtung. Liebesverlust, Weltverlust, Allverlust, Ichverlust: so geht es immer tiefer hinab, wie denn auch das letzte Wort der Elegie „zu Grunde“ lauten wird. „Der ich noch erst den Göttern Liebling war; “ - auch dies eine Stelle, die eine Schicksalsgemeinschaft mit Gallus andeutet, denn als Götterliebling durfte auch der gelten. In der Sechsten Ekloge besingt Silen Gallus’ Weihe zum Dichter, bei der er aus den Händen des göttlichen Sängers Linus, des Sohnes Apolls, die Flöte Hesiods empfängt: tum canit, errantem Permessi ad flumina Gallum Aonas in montis ut duxerit una sororum, utque viro Phoebi chorus adsurrexerit omnis; ut Linus haec illi divino carmine pastor floribus atque apio crinis ornatus amaro dixerit: ’hos tibi dant calamos, en accipe, Musae, Ascraeo quos ante seni, quibus ille solebat cantando rigidas deducere montibus ornos. his tibi Grynei nemoris dicatur origo, ne quis sit lucus, quo se plus jactet Apollo. Weiter singt er von Gallus, wie ihn, der am Strom des Permessus Ziellos ging, eine Muse empor zu Aoniens Höhen führte, wie rings vor dem Mann sich erhob der Reigen des Phoebus, wie ihm Linus, der Hirt, der göttlich-begnadete Sänger, Blütenkränze im wallenden Haar und bitteren Eppich, dieses gesagt: „Die Flöte hier nimm, eine Gabe der Musen, einst dem askraeischen Alten geschenkt; so oft er sie spielte, pflegte er knorrige Eschen zum Tanz von Bergen zu ziehen. Preise auf ihr des gryneischen Haines göttlichen Ursprung, Daß kein Hain mehr sei, dessen lieber sich rühmte Apollo! “ 192 An das Geschenk der Flöte ist der Auftrag geknüpft, die Entstehung des Haines bei der Stadt Gryneia (oder Gryneion) in Mysien, am Golf von Elaia, zu besingen, wo Apoll einen berühmten Tempel mit Orakel hatte. Solch ein Gedicht hatte Gallus wohl wirklich verfaßt, so daß (mit den Worten Silens) kein anderer Hain Apoll mit größerem Stolz erfüllen sollte, als eben dieser. Und Apoll ist es ja auch, der zusammen mit den Waldgottheiten Pan und Silvanus den Gallus (Ecl. X, 21 f.) von seinem Kummer um Lycoris abzubringen trachtet. Das prekäre Schicksal eines Götterlieblings hatte Goethe schon früh beschäftigt. Im Brief an Auguste Gräfin zu Stolberg vom 17.7.1777 deutet er es als eigenes an: Alles gaben Götter die unendlichen Ihren Lieblingen ganz Alle Freuden die unendlichen Alle Schmerzen die unendlichen ganz. 192 Ecl. VI, v. 64-73; a. a. O., S. 58 u. S. 59. <?page no="92"?> 88 So sang ich neulich als ich tief in einer herrlichen Mondnacht aus dem Flusse stieg, der vor meinem Garten durch die Wiesen fließt[…]. 193 Im ‚Lied der Parzen’, das Iphigenie spricht, wird, in Reflexion auf den Ahnherrn Tantalos, der Topos thematisiert: Es fürchte die Götter Das Menschengeschlecht! Sie halten die Herrschaft In ewigen Händen, Und können sie brauchen, Wie ’s ihnen gefällt. Der fürchte sie doppelt Den je sie erheben! Auf Klippen und Wolken Sind Stühle bereitet Um goldene Tische. Erhebet ein Zwist sich: So stürzen die Gäste, Geschmäht und geschändet In nächtliche Tiefen, Und harren vergebens, Im Finstern gebunden, Gerechten Gerichtes. […] 194 So mußte Goethe auch das äußere Schicksal von C. Cornelius Gallus erscheinen, der von der Machtposition eines Statthalters von Ägypten ins Elend stürzte, als er sich die Ungnade des Divus zuzog, weil er, zu sehr auf seinen eigenen Ruhm und Nachruhm bedacht, sich habe Standbilder errichten und Tafeln mit seinen Namen und Taten an solch markanten Punkten wie den Pyramiden habe anbringen lassen. Vielleicht hatte Augustus wirklich Grund, ihn zu fürchten. Die Bestrafung war jedenfalls total. Obwohl sich seine Biographie anhand von Sueton und Dio Cassius ziemlich gut überblicken läßt und obwohl man auch den Versuch unternommen hat, seine Werke mit Hilfe antiker Kommentatoren wie Servius, Donat und Porphyrius aus den Dichtungen der Zeitgenossen wenigstens dem Gehalt nach zu rekonstruieren 195 - Gallus wäre für die Nachwelt ein Verschollener, hätte nicht Vergil sein Bild lebensnah überliefert, einerseits als das des Götterlieblings und andererseits als jenes über jedes Maß Verzweifelten, über dem der Schatten des Todes liegt, schon lange, ehe das äußere Verhängnis ihn ereilte. Es war nicht nötig, das Leben von Dante, Petrarca oder Tasso näher ins Blickfeld zu rücken. Es ist allenthalben präsent. Goethe durfte die Bekanntschaft mit Vergils Frühwerk, und insofern durchaus auch mit Gallus, beim größeren Teil sei- 193 HA Briefe, I, S. 234. 194 Iphigenie auf Tauris, v. 1726-43, FA 5, S. 605 f. 195 Siehe Franz Skutsch, Aus Vergils Frühzeit, Leipzig 1901 sowie Gallus und Vergil, Leipzig / Berlin 1906. <?page no="93"?> 89 ner Leser voraussetzen, was für die heutige Zeit nicht in dem Maße selbstverständlich ist; daher hier das etwas weite Ausholen zu seiner Person. Die Gestalt des begabten verlorenen Dichters, seine Naturverbundenheit, seine Liebe zu einer Frau, die einem anderen folgte, die Rolle eines ‚Götterlieblings’, die sich dann ins Gegenteil verkehrte, und schließlich sein tragischer (wenn auch nicht so früher) Tod durch eigene Hand: all dies erinnert an Werther. Und es nimmt nicht wunder, wenn Goethe, der zeit seines Lebens Analoges in Dichtern der Vergangenheit suchte und fand, hier ebenfalls eine Parallele zum eigenen Leben registriert hat. Interessiert hatte er sich jedenfalls schon lange, auch über Vergil hinaus, für den unglücklichen Dichter. Unter dem Datum des 23. Mai 1797 finden wir - dies Grumachs einziger Eintrag zu Gallus - in Goethes Tagebuch verzeichnet: „Die Elegien des Cornelius Gallus gelesen, auch einiges von Properz und Tibull,“ wozu Ernst Grumach in bezug auf die Elegien sagt: „Gemeint sind wahrscheinlich die vier zuerst von A. Manutius 1590 herausgegebenen Fälschungen; vgl. Riese, Anth. Lat. 714-17.“ 196 Ob nun Goethe in der Zwischenzeit bis zur Abfassung der Elegie erfuhr, daß es sich um Fälschung handelte, oder nicht, läßt sich nicht sagen und muß auch nicht geklärt werden, denn die Hinweise beziehen sich deutlich auf die beiden Eklogen Vergils, von denen er auch annehmen konnte, daß sie seinen Lesern bekannt waren. Aber immerhin bezeugt der Tagebuch-Eintrag zusätzlich sein Interesse an Gallus. Aus dem Zusammenhang läßt sich vermuten, daß die erwähnte seinerzeitige Lektüre auch von Properz und Tibull jenen Stellen galt, die C. Cornelius Gallus bzw. die Liebeselegie im allgemeinen betreffen. 197 Konnte Goethe seine starke Affinität zu Horaz und Hafis, deren Vergleichbarkeit er herausstellte 198 , begründet wissen in einer angestrebten Ausgewogenheit von Denken und Fühlen, der Klassizität ihrer Dichtung, den Lebensumständen am Hofe eines wohlwollenden Fürsten; fand er sich, wie die Elegie es festhält, wohl mit gewissen Vorbehalten, im Einklang mit den großen Italienern Dante und Petrarca, die ihrer auch im Leben unerreichbaren „Herrin“ über den Tod hinaus zutiefst verbunden blieben, so sah er andererseits aber auch in jenen Dichtern Seelenverwandte, die an ihrem Schicksal zerbrochen sind wie Torquato Tasso, wie der „unglückliche Vorgänger“ Johann Christian Günther, der die Poesie im Leben suchte, sich aber „nicht zu zähmen [wußte]“ 199 und seiner Leonore aus der Not seiner Lebensumstände bald in den Tod folgte. Wie die Exules, die er als Schicksalsgenossen empfand, Selbstverbannter aus Frankfurt und selber auch Exul von Rom 200 : Ovid 201 und „Hatem Tograi“ 202 . In die Reihe der Gestrandeten, mit denen 196 Ernst Grumach, Goethe und die Antike I, S. 370. Vgl. Alexander Riese, Anthologia Latina, sive Poesis Latinae Supplementum, Pars prior, Lipsiae MDCCCLXIV. S. 331-335. 197 Properz, vor allem 2, 34, 91 f.; Tibull im allgem. 198 Noten und Abhandlungen zum Divan; FA 3/ 1, S. 201. 199 Johann Christian Günther (1695-1723) Dichtung und Wahrheit II, 7; FA 14, S. 290. 200 MA 15, S. 1209: Ursprünglich vorgesehener Schluß der Italienischen Reise, 31.8.17.. <sic>, der nach WA I. 32. 427 das „älteste Stück der Bearbeitung des zweiten Römischen Aufenthalts darstellt“. Bezugnahme auf Ovid Trist. I, 3, 1-4 und 27-30. 201 Trist. I, 3. 202 Vgl. West-östl. Divan, „Da du nun Suleika heißest“ (FA 3/ 1, S. 74), S. 75, Z. 11. Vgl. Katharina Mommsen, Goethe und die Arabische Welt, Frankfurt/ Main 1988: „Abu Ismael Tograi als Namenspatron ‚Hatem Zograi’ im Divan“, S. 545 ff. <?page no="94"?> 90 Goethe sich identifizierte, fügt sich auch Gallus ein - als unglücklich Liebender und als Exilierter. Wie stark sich Goethe, trotz allen Glanzes seiner späteren Existenz, mit den vom Leben geschlagenen Dichtern identifizieren konnte, geht aus einer Selbstcharakterisierung hervor, in der er sich mit Ovid, dem Lokal nach, und mit Tasso, dem Schicksal nach 203 , verglich. Ähnliches vermittelt in bezug auf einen Zeitgenossen auch der Brief, den er Charlotte von Stein aus Rom schrieb: Moritz […] erzählte mir, wenn ich bei ihm war Stücke aus seinem Leben und ich erstaunte über die Ähnlichkeit mit dem meinigen. Er ist wie ein jüngerer Bruder von mir, von der selben Art, nur da vom Schicksal verwahrlost und beschädigt, wo ich begünstigt und vorgezogen bin. Das machte mir einen sonderbaren Rückblick in mich selbst. Besonders da er mir zuletzt gestand, daß er durch seine Entfernung aus Berlin eine Herzensfreundin betrübt. 204 Immer wieder begegnet uns in Goethes Werken die Polarität zwischen dem Weltgewandten, Erfolgreichen, „Tüchtigen“ und dem weltabgewandten Träumer und Liebenden, der am Leben scheitert, dargestellt an Antagonisten wie an Freundespaaren. Die Vorzeichen mögen wechseln, aber beide Typen entspringen aus Goethes eigenster Persönlichkeit, wofür im Tasso auch der Hinweis fällt. Goethe ist beides, er ist Tasso und Antonio; ebenso Egmont und Oranien, Orest und Pylades. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Aus seinem eigenen Inneren konnte er die Vorstellung Leonore Sanvitales herleiten, als habe das Schicksal es versäumt, aus den beiden extremen Charakteren Antonio und Tasso einen Mann zu bilden. 205 Goethe war dieser Mann, er mußte mit dieser ungeheuren Spannung seines Inneren leben und er wußte, wie sehr gefährdet die erstrebte Ausgeglichenheit war, die ihn mit Horaz verband. Hätte er sich sonst so sehr davor hüten müssen, seinen Werther ein zweites Mal wiederzulesen? (Vgl. S. 79.) Ein psychischer Zusammenbruch, wie er ihn an Werther, an Orest und Tasso, am Harfner und Eduard dargestellt hat, lag offenbar jederzeit im Bereich des Möglichen. In dieser Zwiespältigkeit oder Doppelexistenz muß er, über die Parallele der Werther-Thematik hinaus, eine Verwandtschaft mit Gallus gesehen haben, dessen äußere Biographie beweist, daß er durchaus befähigt war, in der Welt zurecht- und voranzukommen, und der dennoch Zeiten hatte, in denen die Verzweiflung ihn völlig zu Boden warf und schließlich aufgeben ließ. Abgesehen von ein paar einzelnen Versen oder Versfragmenten, an den Fingern abzuzählen (einer der Verse erst 1979 entdeckt) 206 , ist uns von Gallus nichts geblieben außer dem Echo seines Namens bei anderen Dichtern, das die Erinnerung an ihn wach gehalten hat und die Umrisse seiner Person erahnbar macht. So setzt Vergil in der Zehnten Ekloge unmittelbar vor die beängstigenden, an den Anfang des Gedichts zurückweisenden ‚Schatten’-Zeilen am Schluß, Verse, die seine Neigung zu Gallus festhalten: 203 Im ursprünglich für den Zweiten Römischen Aufenthalt vorgesehenen Schluß (WA I 32. 427); Komment. zur Italienischen Reise, MA 15, S. 1210. 204 14. 12. 1786; HA Briefe 2, S. 28 f. 205 Torquato Tasso, III, 2, v. 1704-06; FA 5, S. 782. 206 Vgl. Anderson / Parsons / Nisbet, Elegiacs by Gallus, a. a. O., S. 148. <?page no="95"?> 91 Pierides: vos haec facietis maxima Gallo, Gallus, cuius amor tantum mihi crescit in horas, quantum vere novo viridis se subicit alnus. 207 Holde Musen, macht lieb und wert diese Verse dem Gallus, Gallus, zu dem so Liebe mir wächst von Stunde zu Stunde, wie die Erle im jungen Lenz aufgrünend emporschießt. 208 Properz beschwört in einer Reihe anderer römischer Dichter von Liebeselegien das Bild „des kürzlich Verstorbenen, wie er im Wasser der Unterwelt die Wunden wäscht, die ihm die schöne Lycoris geschlagen hat“: et modo formosa quam multa Lycoride Gallus mortuus inferna vulnera lavit aqua! Ovid wiederum setzt ihn in einen Katalog derjenigen griechischen und römischen Dichter aller Genres, deren Werk er Unsterblichkeit zuerkennt. Diese Aufzählung läßt er mit Homer und Hesiod beginnen und mit sich selber enden, in der Hoffnung des Nachruhms (anklingend an Horaz, C.III,30; vgl. S. 65 f. b f ), in der man jedoch Catull sowie die Zeitgenossen Properz und Horaz (! ) vergebens sucht. Dem Lob Tibulls geht ein Distichon mit der Würdigung Vergils voran. Die Verse wurden zehn Jahre nach Verurteilung und Tod von Cornelius Gallus veröffentlicht und vierundzwanzig Jahre vor Ovids eigener Verbannung: Donec erunt ignes arcusque Cupidinis arma, Discentur numeri, culte Tibulle, tui; Gallus et Hesperiis et Gallus notus Eois, Et sua cum Gallo nota Lycoris erit. Ergo, cum silices, cum dens patientis aratri Depereant aevo, carmina morte carent. Cedant carminibus reges regumque triumphi Cedat et auriferi ripa benigna Tagi. Vilia miretur vulgus; mihi flavus Apollo Pocula Castalia plena ministret aqua, Sustineamque coma metuentem frigora myrtum, Atque a sollicito multus amante legar! Pascitur in vivis Livor; post fata quiescit, Cum suus ex merito quemque tuetur honos. Ergo etiam cum me supremus adederit ignis, Vivam, parsque mei multa superstes erit. 209 Solang Bogen und Pfeil und der Brandscheit Waffen Cupidos, Lernt man Verse von dir, feiner gepflegter Tibull; Stets wird Gallus im Morgen und stets im Abend genannt sein, Und mit Gallus genannt wird seine Lycoris sein. Darum, Kiesel im Fluß und die Schar des geduldigen Pfluges 207 Ecl. X, v. 72-74; a. a. O., S. 80 u. 81. 208 Prop. II, 34, v. 92 f. In: Properz, Gedichte, Lateinisch und deutsch von Rudolf Helm, Berlin 1986. S. 138 u. 239. 209 Am. I, 15, 27-42; Dt. Übers. In: Publius Ovidius Naso, Liebesgedichte, hrsg. v. Walter Marg und Richard Harder, Artemis Verlag, München und Zürich 1992. S. 50 ff. <?page no="96"?> 92 Schwinden dahin, das Lied kennt nicht Vergehen und Tod. Könige sollen dem Lied und Königstriumphe sich neigen, Und des Tagusstroms Ufer gesegnet mit Gold. Billiges preise das Volk. Mir mög einen lauteren Becher Voll Kastalias Trunk reichen der blonde Apoll, Und es trage mein Haupt den Kranz frostscheuender Myrte, Und es lese bewegt oft mich ein liebendes Herz, Nur von den Lebenden nährt sich der Neid, er ruht mit dem Tode; Dann beschützt nach Verdienst jeden der eigene Wert. Darum, wenn mich auch einst verzehrt die letzte der Gluten, Leb ich doch weiter und fort dauert ein Teil meines Selbst. Von Vergil geliebt und gefeiert, von Properz als Opfer seiner Liebe beklagt, von Ovid gemeinsam mit der Geliebten unter die unsterblichen Dichter eingereiht - so lebt Gallus fort: nicht in seinen eigenen Liedern, sondern in denen der Freunde, die seinen Namen seltsam oft aufrufen. Ovids Prophezeiung hat sich an Gallus nicht erfüllt. Es ließe sich sogar denken, daß gerade der Vers „Cedant carminibus reges regumque triumphi“, im Zusammenhang mit Gallus gelesen, schwelenden Groll in Augustus bewirkt haben könnte, zumal das Wort ‚rex’ unter Römern seit der Vertreibung der etruskischen Könige durchaus negativ besetzt war. 210 Falls der Kaiser diesen Vers auf sich bezogen hätte, könnte dies der allererste Anstoß gewesen sein für Ovids eigene Verbannung, die allerdings erst sehr viel später erfolgte. Vielleicht hat gerade jener Hexameter die posthume Unterdrückung von Gallus’ Werk noch verstärkt. Und ferner: den kaiserlich-patriotisch gesinnten Horaz, wenn auch zitiert, in der Liste der Gefeierten totzuschweigen und den geächteten Gallus zu preisen, das war ebenfalls ein gewagtes Stück für einen sonst ,unpolitischen’ Dichter. Das Werk, dem die oben zitierten Verse entstammen, wurde in der Nachfolge des toten Gallus verfaßt und übernahm auch den Titel von dessen Liebeselegien: Amores. Mit der Gestalt der Lycoris ist, wie bereits angedeutet (vgl. S. 85), ein neues Element in Goethes Elegie eingebracht. Sehr im Gegensatz zu Beatrice und Laura, deren spirituelle Existenz, unbeschadet - oder eher gerade wegen - ihrer beider langjährigen Ehen mit einem anderen Mann, sie ihren Dichtern über ihr irdisches Leben hinaus zum Objekt der ,Hohen Minne’ machte, erscheint Lycoris als eine in jedem Sinne irdische Frau: Tänzerin, Schauspielerin, aus dem niedrigen Stand einer Freigelassenen aufgestiegen zu großem Ruhm und Glanz, begabt und schön. Geliebte mehrerer Männer, die sie, wie Mark Anton, vergötterten und verließen, oder wie Gallus, „über jedes Maß“ 211 liebten. Über ihre eigenen Gefühle und die Motive ihres Handelns ist uns nichts bekannt. „Was wißt ihr denn von Wirklichkeit? “ das gilt vielleicht auch für sie. Auch hier läßt sich das Wahre „nur aus seinen Manifestationen erraten“, d. h. in diesem Falle aus der Tatsache, daß Lycoris unangefochten von Einwänden gegen ihre Person, an denen es sicher nicht gemangelt hat, zusammen mit ihrem Dichter in die Konfiguration eines Liebespaares geradezu mythischer Dimension eingehen konnte, eines Paares, das, wenn seine gemutmaßte Tilgung aus dem Vierten Buch der Georgica wirklich unum- 210 Vgl. Cicero, Rep. 2, 30, 53: pulso Tarquinio nomen regis audire non poterat [populus romanus]. 211 Vergil, ecl. X, 28. <?page no="97"?> 93 gänglich war, für Vergil sich nur ersetzen ließ durch die Gestalten von Orpheus und Eurydike - oder zumindestens, da diese These antiker Kommentatoren heutzutage umstritten ist, daß man jahrhundertelang an ihr festhalten konnte. * * * Mir ist das All, ich bin mir selbst verlohren, Der ich noch erst den Göttern Liebling war; Sie prüften mich verliehen mir Pandoren, So reich an Gütern, reicher an Gefahr; Sie drängten mich zum gabeseligen Munde, Sie trennen mich, und richten mich zu Grunde. Ohne merklichen Übergang hat sich mit der, erstmaligen, Nennung eines Frauennamens eine Metamorphose vollzogen. Das aus Vergil in die Elegie eingespiegelte (und zugleich überhöhte) historische Gallus-Drama setzt sich unversehens auf der Ebene des Mythos fort. Hinter der Identifikationsfigur des Gallus erscheinen die beiden wesentlichen Aspekte seiner Persönlichkeit wie auch jener Goethes, Dichter und Tatmensch, ins Titanische vergrößert als Epimetheus und Prometheus, wie sie uns das Drama Pandora vor Augen führt. Dieses gewöhnlich als Fragment gesehene Festspiel mit seinen 1086 Versen ließ Goethe aber letztlich als „Ganzes“ gelten. 212 Der geheimen Bedeutung, die Goethe überhaupt in die Gestalt der Pandora legte, soll gleich anschließend an die Trilogie der Leidenschaft nachgegangen werden. Seine Beschäftigung mit dieser mythischen Figur erstreckte sich über einen Zeitraum von mehr als fünfzig Jahren. Wenn Goethe im tragischen Finale seines Lebensgedichts den Namen „Pandora“ ausspricht, so bringt er mit ihm alles ein, was er in offener und verschlüsselter Gestaltung und Umgestaltung der schillernden Mythe niedergelegt hat. Alles Glück und alle Tragik seiner Existenz lud Goethe auf diesen Namen, hinter dem sich jene Gestalt verbirgt, von der getrennt zu sein gleichbedeutend war mit Untergang. Mythisch verschleiernd erscheint am Schluß der Elegie der Name Pandora, der das Leiden benennt und dem Motto Gehalt verleiht. Und wenn der Mensch in seiner Quaal verstummt, Gab mir ein Gott zu sagen was ich leide. Der Vorspruch könnte als Epilog zur Elegie stehen, denn mit ihr hat ja Erfüllung gefunden, was im Gedicht An Werther noch als lebensrettender Ausweg erfleht worden war. Damit ist das Gedicht an seinen Anfang zurückgekehrt, der des Dichters Identität mit Werther festhält; aus dem „Geb ihm“ ist nun tatsächlich „Gab mir“ geworden. Auch der Fokus der ersehnten, letztlich gewährten Schmerzbewältigung durch die dichterische Aussage hat sich verschoben: vom „Wie“, dem Ausmaß des Leidens, zu seinem „Was“, dem Gehalt, der nun endlich ‚zur Sprache kam’ und Erlösung bringt. Dieser wesentliche Wandel drückt sich auch phonetisch in der Wortmetamorphose von „Geb’“ zu „Gab“ aus, vom blasseren Vokal zum voll lautenden, der die im Motto vorweggenommene Erfüllung unterstreicht. 212 Eckermann, 21. Okt. 1823; a. a. O., S. 55. <?page no="98"?> 94 Diese Rückkehr zum Motto am Anfang des Gedichts bedeutet auch Rückkehr zu seiner gleichfalls allein auf eine Seite gesetzten und dadurch abgehobenen ersten Strophe, die aus der Erfahrung göttlichen Beistands die Zuversicht auf ein jenseitiges Wiedersehen gewährleisten darf. 4. Aussöhnung Die Leidenschaft bringt Leiden! - Wer beschwichtigt Beklommnes Herz das allzu viel verloren? Wo sind die Stunden, überschnell verflüchtigt? Vergebens war das Schönste dir erkoren! Trüb’ ist der Geist, verworren das Beginnen; Die hehre Welt wie schwindet sie den Sinnen. Da schwebt hervor Musik mit Engelschwingen, Verflicht zu Millionen Tön’ um Töne, Des Menschen Wesen durch und durch zu dringen Zu überfüllen ihn mit ew’ger Schöne: Das Auge netzt sich, fühlt im höhern Sehnen Den Götter-Wert der Töne wie der Tränen. Und so das Herz erleichtert merkt behende Daß es noch lebt und schlägt und möchte schlagen, Zum reinsten Dank der überreichen Spende Sich selbst erwiedernd willig darzutragen. Da fühlte sich - o daß es ewig bliebe! - Das Doppel-Glück der Töne wie der Liebe. Das Schlußgedicht der Trilogie setzt sich, im Unterschied zur Werther-Kanzone, in seiner Form nicht von der Elegie ab. Das war innerhalb des Strukturplans des Ganzen auch so beabsichtigt. 213 Daß es sich bei Aussöhnung um den am frühesten aufgezeichneten Teil handelt, wurde bereits gesagt, und auch die doppelte Rolle, die das Gedicht innerhalb des lyrischen Werks von Goethe zugewiesen erhielt, kam zur Sprache (vgl. S. 16). Zu dieser Doppelung vermerkte Goethe als Zusatz zum Inhaltsverzeichnis: Auch ist hier wohl der Ort noch mehrere Wiederholungen einzelner Gedichte wo nicht zu rechtfertigen doch zu entschuldigen. Das erstemal stehen sie im Allgemeinen unter ihres Gleichen, denen sie nur überhaupt durch einen gewissen Anklang verwandt sind; das zweitemal aber in Reih’ und Glied, da man sie denn erst ihrem Gehalt und Bezug nach erkennen und beurteilen wird. Weitersinnenden und mit unserm Arbeiten sich ernstlicher beschäftigenden Freunden glauben wir durch diese Anordnung etwas gefälliges erwiesen zu haben. 214 213 Eckermann III, 1. Dezember 1831: a. a. O., S. 764. 214 Vgl. FA 2, S. 462 und ebda, S. 594 f. <?page no="99"?> 95 Nur so viel soll hier noch vermerkt werden, daß Goethe diesem Gedicht einen ganz ähnlichen Ursprung beilegte wie dem Gedicht An Werther, nämlich „einen Rest jener Leidenschaft“ (vgl. S. 17), den er „immer noch im Herzen hatte“: Zuerst hatte ich, wie Sie wissen, bloß die Elegie als selbständiges Gedicht für sich. Dann besuchte mich die Szymanowska, die denselbigen Sommer mit mir in Marienbad gewesen war und durch ihre reizenden Melodien einen Nachklang jener jugendlich-seligen 215 Tage in mir erweckte. Die Strophen, die ich dieser Freundin widmete, sind daher auch ganz im Versmaß und Ton jener Elegie gedichtet und fügen sich dieser wie von selbst als versöhnender Ausklang. 216 Mit dieser Angleichung ist gezeigt, wie sehr sich alle drei Gedichte derselben Liebeserfahrung verdanken und wie eng sie zusammengehören. Dementsprechend ist dieser dritte Teil auch gemäß dem Platz zu betrachten, den Goethe ihm im Rahmen der Trilogie zuwies, zunächst als Finale der Elegie, die er ja metrisch weiterführt und vollendet, und, darüber hinaus, als Finale der Trilogie der Leidenschaft insgesamt, also gültig auch für das Werther-Gedicht. Interessant scheint mir, daß Goethe davon auszugehen scheint, daß Aussöhnung später als die Elegie gedichtet wurde, was mit der nachweisbaren Entstehungsdatierung nicht übereinstimmt (vgl. S. 16). Daraus läßt sich aber schließen, daß er bereits vor ihrer Aufzeichnung im Innern mit der Elegie beschäftigt war, wie er ja Ähnliches für andere Werke bekundet hat (vgl. S. 242). Aussöhnung hält Rückschau. Der erste Vers greift auf den Titel der Trilogie in Verbindung mit Werthers „Leiden“ zurück, um ebenso wie das Folgende eine möglichst enge Verknüpfung mit den vorangegangenen Teilen zu bewirken. Zitatweise werden nun auch einzelne Verse aufgegriffen und modifiziert in das Resumé eingebaut. Mit „Beklommnes Herz, das allzu viel verloren“ wird Strophe 12, Zeile 4 wieder aufgenommen, wo es heißt: „Im wüsten Raum beklommner Herzensleere“. Der Reim „verloren“ -„erkoren” weist in Umkehrung zurück auf den identischen Reim am Schluß von Abschnitt 1 der Werther-Kanzone und knüpft durch Gleichklang an den Reim „verloren“ - „Pandoren“ der letzten Elegie-Strophe an. „Trüb ist der Geist, verworren das Beginnen“ variiert, ebenfalls in Umkehrung, die „verworrene Bestrebung“ und den „trüb[en] Blick“ der Zeilen 5 und 9 des zweiten Abschnitts von An Werther. „Die hehre Welt, wie schwindet sie den Sinnen! ” erinnert an des Dichters Absage an die „Welt“ mit ihrer weiten Erde und dem „Himmel hehr und groß“ (Strophe 22, v.3 und 4). Dennoch fällt auf, daß eine gewisse Distanz gewonnen wurde. In der letzten Strophe der Elegie kommt das Pronomen ‚ich’ bzw. seine deklinierten Kasus volle neunmal vor, aus dem Schlußgedicht bleibt es verbannt. Die Sprache ist ins Überpersönliche gehoben. Einmal wird mit „dir“ das Herz angesprochen, danach erscheint auch das Herz, in eine allgemeinere Sphäre transponiert, in der ‚dritten Person’. Die Musik, die nun erklingt, wird nicht definiert, sondern im Sprachklang und durch ihre Wirkung erfahrbar gemacht. Zu ihrer Darstellung setzt Goethe (Stro- 215 Hervorhebung E. H. 216 Ebd. Die Reihenfolge der Entstehung ist vertauscht! <?page no="100"?> 96 phe 2,2) seine süßeste Melodik ein (vgl. S. 36), Kombinationen von ‚l’ und ‚i’, in „verflicht“ und „Mil-li-onen“, um sie mit den volltönenderen ‚ö’-Lauten und den schärfer konturierten anlautenden ‚t’-Lauten zu begleiten. Die ‚e’-Sequenz mit ihrem Echo-Effekt in „Des Menschen Wesen“ hat in ihrer Monotonie etwas Lösendes, das sich über die vier ‚u’-Klänge bis in die untersten Seelengründe ausweitet, um dann, mit der sanfteren Alliteration des ‚d’ wieder aufzusteigen in die höheren Lagen des ‚i’ und ‚ü’. „Überfüllen” findet seine Steigerung in „fühlt“ der vorletzten Zeile der Strophe, während die letzte die Begleitung in Vers 2 zum Hauptthema ausbaut in einer wahren Feier des ‚ö’ und der ihm verwandten ‚e’-Laute mit den ausdrucksstarken Anschlägen der Dentalen: „Den Götterwert der Töne wie der Tränen“. Was sich hier ereignet, in der Bedeutung, die das Gedicht an dieser Stelle innehat, ist nicht Echo einer Musik von außen, es ist der Seele eigenster Gesang, der, erfahren als Inspiration, „hervorschwebt“ aus den Tiefen ihrer Trauer und Bedrängnis. Er bringt den Trost der Tränen - anderer Tränen als jenen der Verzweiflung - und aus ihnen erwächst Lösung und Erweckung. Es ist das Auge - und nicht das Ohr! - das in Tränen die Töne „fühlt“ und „im höhern Sehnen“ Ausschau hält nach der Erscheinung der Geliebten. Hinter der Oberfläche der Verse zeichnet sich, umrißhaft und leuchtend, die Gestalt des Orpheus ab, als des Prototyps all jener Dichter, die die tote Geliebte im Lied beweinen und feiern. Orpheus, zunächst (Strophe 1) trauernd und einsam, zum Klang der Leier den Tod Eurydikes beklagend, wie Vergil ihn darstellt: ipse cava solans aegrum testudine amorem te, dulcis coniunx, te solo in litore secum, te veniente die, te decedente canebat. 217 Er aber schlug, sein krankes Herz zu trösten, die Leier, dich, sein holdes Gemahl, dich sang er, einsam am Strande, dich, wenn der Tag sich erhob, sang dich, wenn er scheidend sich neigte. Daß er sie den Mächten des Totenreichs mit seinem Gesang entwinden konnte, indem er selbst diese Unerbittlichen für einen kurzen Augenblick zu erweichen vermochte, solche Intensität des Liebens ist der Gehalt des „höhern Sehnens“ des neueren Dichters, wie es ja schon vorher immer wieder zur Sprache kam, wo es um Trennung ging (An Werther, 4. Abschnitt, letzter Vers; Abschnitt 5; Elegie, Strophe 5 und Strophe 19 bis Schluß). Die mythische Dimension ist bei Goethe auf menschliches Maß eingedämmt, nur mit dem „Götterwert“ von Tönen und Tränen ist angedeutet, daß da ein Einbruch in eine andere Sphäre vor sich geht oder aus einer anderen. Orpheus ist eine Identifikationsfigur für Goethe, nur richtet sich sein Blick nicht nach unten, sondern nach oben: Bei Tag der Wolken formumformend Weben! Bei Nacht des Sternenheeres glühend Leben! 217 Vergil, Georg. IV. 464, a. a. O., S. 204 u. 205. <?page no="101"?> 97 Mit reinen Saiten wag’ emporzudringen, Du wirst der Sphären ewige Lieder singen. 218 Ein anderer späterer Vierzeiler, der als mögliches Motto zur Elegie gedeutet wurde, 219 verweist verhalten auf den thrakischen Sänger als Identifikationsfigur: Es spricht sich aus der stumme Schmerz, Der Äther klärt sich blau und bläuer, Da schwebt sie ja, die goldne Leier, Komm alte Freundin, komm ans Herz. 220 Wieder im Anschauen des nächtlichen Firmaments findet der Trauernde jetzt Trost im Anblick der Leier des Orpheus, die nach seinem Tode die Musen als Sternbild an den Himmel setzten 221 und die der Dichter in der Nachfolge seines Urbilds sich zugehörig weiß. In den Sternsagen des Eratosthenes ist es Hermes, der sie an das Himmelsgewölbe fügte. Von dort komme sie zu dem, der sie zu spielen vermag. 222 Keinem der großen, in die Elegie „eingespiegelten“ Italiener erwächst in ihrer, der Tränen und Seufzer so vollen, Lyrik (vgl. S. 51 und S. 33 f.) aus der Hingabe an den Schmerz solch eine Neubelebung der ganzen Existenz, wie der Ausklang der Trilogie sie kundgibt. Alle Kräfte der Seele - Wahrnehmung, Gefühl, Willen - finden wir im „Herzen“ im wörtlichsten Sinne verkörpert und, darüber hinaus, vergeistigt in der Opferbereitschaft des Dankes: „Sich selbst erwidernd willig darzutragen“. (Auch hier wieder die Lautmusik, entsprechend der Goetheschen Sprachsymbolik, wie auch schon im vorangehenden und vorbereitendenVers mit seiner Assonanz der Diphthonge und Alliteration: „Zum reinsten Dank der überreichen Spende“.) Was in dieser Strophe auf zwei Ebenen vorgestellt wird, ist sowohl Ereignis wie Eigenzitat, wenn das „Herz […] merkt […] daß es noch lebt und schlägt und möchte schlagen“. Der Gehalt der Strophen 8-12 der Elegie, ausgehend vom zentralen „Und nur noch schlägt, für alles Ihr zu danken“, findet hier Widerhall und Steigerung. Von den „wechselnden Gestalten“, in denen sich die Geliebte im Herzen „regt“, „So tausendfach und immer, immer lieber“, bis zur „Hoffnungslust zu freudigen Entwürfen, / Entschlüssen, rascher Tat“: es ist alles Ihr Wirken und Ihr Werk. „Wenn Liebe je den Liebenden begeistet, / Ward es an mir aufs lieblichste geleistet; / Und zwar durch Sie! “ Ihrer Inspiration verdankt der Dichter seine Kunst. Er hat es seinem Tasso in den Mund gelegt: Was auch in meinem Liede widerklingt Ich bin nur Einer, Einer alles schuldig! Es schwebt kein geistig unbestimmtes Bild Vor meiner Stirne, das der Seele bald Sich überglänzend nahte bald entzöge. Mit meinen Augen hab ich es gesehn, 218 Aus: Gedichte zu symbolischen Bildern: FA 2, S. 689. 219 FA 2, S. 1242: Marienbad 1823 (Motto für die ‚Marienbader Elegie’? ) Dornburg 1828. (Hans Tümmler, Versuch der Datierung und Einordnung eines Goetheschen Vierzeilers, in: GJb. 1983., S. 247 f.) 220 FA 2, S. 736. 221 Hyginus, Poetica astronomica II, 7. Vgl. auch Horaz, C. IV, 3, 17 f. 222 Vgl. Werner Keller, Goethes dichterische Bildlichkeit, München 1972. S. 67 und Fußnote. <?page no="102"?> 98 Das Urbild jeder Tugend, jeder Schöne Was ich nach ihm gebildet das wird bleiben, […] Es sind nicht Schatten die der Wahn erzeugte, Ich weiß es sie sind ewig, denn sie sind. 223 Über das Werk hinaus jedoch gewährt ihm das Erlebnis der Inspiration zugleich auch die Erfahrung der Anteilnahme der Geliebten, ihrer liebenden Präsenz: „das Doppelglück der Töne und der Liebe“; das heißt sowohl Musik und Liebe - in eins verschmolzenes Gefühl - als auch harmonischer Zusammenklang der Töne, einerseits, und, andererseits, liebende Einung zweier Seelen. Daß dieses Doppelglück ewig fortdauern möge, wird zutiefst gewünscht, aber in seiner konjunktivischen Form des Ausdrucks zugleich als irreal erfahren, was den Gedanken an die abermals verlorene Eurydike nahelegt. Auf jeden Fall aber zählt es zu jenen ‚Ewigen Augenblicken’, die immer wieder aufglänzen und die die Elegie festhält in Versen wie: So warst du denn im Paradies empfangen Als wärst du werth des ewig schoenen Lebens; oder Wir heißen’s: fromm seyn! - Solcher seligen Höhe Fühl ich mich theilhaft wenn ich vor Ihr stehe. Am Schluß der Dichtung, in die er ein langes Leben und Schaffen zugleich mit verwandten Spiegelbildern aus Literatur und Mythos einzubringen suchte wie eine große Ernte, um es derjenigen darzubringen, der er für alles Dank wußte, wünscht sich der Dichter ewigen Bestand dieser Glückserfahrung. Wenn Goethe „ewig“ sagt, meint er die Sphäre des Heiligen. 224 In ihr will er auch die „Töne“, hier also die Kunst, aufgehoben wissen. Dementsprechend schwebt die Musik ja auch hervor „mit Engelschwingen“. Assoziiert man bei „Engelschwingen“ unwillkürlich das klanglich ähnliche ‚Engelzungen’, so findet man Goethes Kombination von „Liebe“ und „Töne“ bestätigt und weiß sich hingewiesen auf das Paulus- Wort: Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz, oder eine klingende Schelle. Und wenn ich weissagen könnte, und wüßte alle Geheimnisse, und alle Erkenntnis, und hätte allen Glauben, also, daß ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht; so wäre ich nichts. […] Die Liebe höret nimmer auf, so doch Weissagungen aufhören werden, und die Sprachen aufhören werden, und die Erkenntnis aufhören wird. […] 225 223 Torquato Tasso, v. 1092-1104; FA 5, S. 764. 224 Siehe z. B. Alexis und Dora, „Ewig sagtest du leise. Da schienen unsere Tränen, / Wie durch göttliche Luft, leise vom Auge gehaucht.“ FA 1, S. 119, v. 101. 225 1. Kor. 13, 1. 2 und 8 in der Übersetzung Martin Luthers. <?page no="103"?> 99 Im Gegensatz hierzu soll bei Goethe der „Götterwert der Töne“, der göttliche Wert der musikalischen Töne und, im Falle des Dichters, der Sprache und ihrer Musik, gerettet werden in die jenseitige Welt - ‚ewig bleiben’ - zusammen mit der Liebe, aus der er erwachsen ist. 226 Schon einmal in der Trilogie hat Goethe sich gegen Paulus gewandt, als es für den Dichter darum ging, „Den Frieden Gottes“ in Einklang mit der „Vernunft“ zu sehen (vgl. S. 58 ff.), die er in seine Religiosität zutiefst einbezogen wußte. Das Gleiche wie zuvor für Vernunft und Erkenntnis, nämlich göttlichen Ursprung, postuliert er nun für die Sphäre des Ästhetischen in Nachfolge Plotins, 227 die sich auch in der poetischen Übersetzung eines seiner Lehrsätze ausspricht: Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, Die Sonne könnt’ es nie erblicken. Läg’ nicht in uns des Gottes eigne Kraft, Wie könnt’ uns Göttliches entzücken? 228 In solchem Sinne hält Goethe dem „tönenden Erz“ des Apostels den „Götterwert der Töne“ entgegen, der, mitbedingt durch die Liebe und in innigster Verbundenheit mit ihr, mit ihr auch fortbestehen soll. Das Metrum der vorletzten Zeile von Aussöhnung ist dazu angetan, den Bezug zu Paulus noch zu unterstreichen. In dem parenthetisch gesetzten Wunschsatz zeigt sich (was bei flüchtigerem Lesen leicht überhört werden kann) durch die metrische Hebung eine stärkere Akzentuierung des „daß“: „O daß es ewig bliebe! “ Hier wird auf etwas Vorausgesetztes angespielt, nämlich auf das Paulus-Wort: „die Liebe höret nimmer auf“, und diesmal mit positiver Resonanz. Daß es tatsächlich ewig bleibe, ist zunächst noch undifferenziertes Wunschgefühl und erfährt erst allmählich seine Definition. Trotz der Irrealität des Optativs wird das Vorausgesetzte als verbindlich erachtet, zugleich aber auch, in gewohnter Weise, modifiziert, in diesem Fall erweitert: Wenn es so ist, daß „die Liebe nimmer aufhöret“, dann gilt dies auch für die mit ihr im „Doppelglück“ verbundene Kunst. Das „hohe Glück“, von dem die Stanze spricht, das Glück der Erkenntnis des Guten, Wahren und Schönen, verdankt der Dichter, wie er es auch hier, in Aussöhnung, wieder ausspricht, der Geliebten und ihrer beiderseitigen Liebe. All das sollte ewigen Bestand haben. Der zuvor bekräftigte göttliche Wert der Töne liegt in ihrem Ursprung aus der Wahrheit und der ihr innewohnenden Schönheit begründet, der „ewigen Schöne“, von der Strophe 2 spricht. Ganz deutlich folgt Goethe hier der Lehre Plotins, der in seiner Abhandlung Über das Schöne zeigt, wie der Mensch durch die Betrachtung des Schönen allmählich zurückgeführt werde zu Gott, dem Urheber dieses Schönen oder höchsten Guten 229 . Aussöhnung ist, wie schon gesagt, ein resümierendes Gedicht. Es stellt die Entstehung von Dichtung überhaupt dar, aber vor allem, entsprechend seinem Ort im 226 Im Sinne Plotins, Enn. III, 5. 227 Enneade I, 6. 228 Zahme Xenien III, FA 2, S. 645. Vgl. Komm. S. 1182 v.a. zu Plotin (aus Enn. VI 9) als Vorlage zu Goethes Xenion. 229 Friedrich Creuzer, Skizze der Philosophie Plotins in: Die Philosophie des Neuplatonismus, Wege der Forschung, Bd. CDXXXVI, hrsg. von Clemens Zintzen, Darmstadt 1977. S. 11. <?page no="104"?> 100 Anschluß an die Elegie, von ihrer Entstehung. Was im Vorspruch vorweggenommen ist, darf hier auf letzte Erfüllung zurückblicken. Aus der „Qual“ ist ein Werk erwachsen, das Goethe überaus teuer war und das er, was den großen Mittelteil betrifft, schon rein äußerlich vor allen anderen auszeichnete (vgl. S. 15). Es ist sein Dank an die Geliebte und zugleich ihre Erhöhung, wird sie doch den berühmten verherrlichten „lieben Frauen der Dichterwelt“ 230 und des Mythos an die Seite gestellt. Der Dank betrifft die von ihr inspirierten Werke, nicht zuletzt dieses jüngste, das er seinem neu durchlebten Leid abgerungen hat. Daß es gelungen ist, unter höchster Anstrengung und mit folgendem körperlichen Zusammenbruch, aber eben trotz alledem doch gelungen ist, die Liebe eines ganzen Lebens in Bekenntnis und Spiegelung in all ihren Wandlungen und Facetten auf kleinstem Raum zusammenzufassen, um es ihr „darzureichen“, das begründet den Titel Aussöhnung für den Schluß, der sich anfügt. Gemeint ist die Aussöhnung des Dichters mit seinem Schicksal, mit dessen Akzeptanz. - Nur so ist dieser Titel verständlich. 230 Sonette II, Freundliches Begegnen, v. 6 f. FA 2, S. 250. In diesem Zusammenhang erscheint es wichtig, auf die besondere Bedeutung des Attributs „lieben“ hinzuweisen. Denn es schließt die von ihren Dichtern gefeierten Geliebten der Antike aus, mit einziger Ausnahme von Lycoris. Catulls Clodia („Lesbia“), Tibulls Plania („Delia”) und Properzens Hostia („Cynthia”): „lieb“ waren sie nicht! <?page no="105"?> 101 3. Pandora Die Schlußstrophe der Elegie konzentriert Liebe und Trennungsschmerz in höchster Intensität auf einen Brennpunkt: den Namen „Pandora“. Hinter dem Schleier der Allegorie verbirgt sich eine geliebte Gestalt, die Trauer und Hoffnung eines langen Lebens beherrschte, wie im Rahmen dieses höchst persönlichen Gedichts niedergelegt werden sollte. Die Antike überliefert die Pandora-Mythe in zwei Hauptvarianten. Nach der einen, wohl der älteren, durch Babrios auf uns gekommenen 1 , ist Pandora eine von Prometheus aus Erde und Wasser geformte und von Athene belebte Gestalt, in die sich sein Bruder Epimetheus verliebt und die er heiratet. Die andere, weitaus öfter genannte Variante, die auf Hesiod 2 zurückgeht, zeigt Pandora als Kunstfigur aus der Werkstatt des Hephaistos, der sie auf Wunsch seines Vaters Zeus anfertigte. Von großer Schönheit und reichlichst ausgestattet von olympischen Gottheiten - Πανδώρα , die ‚Allbegabte’, aber auch die ‚Allgebende’ - soll sie das Mittel der Strafe sein, die Zeus dem Prometheus und den Menschen zugedacht hat für seinen um der Sterblichen willen verübten Raub des Feuers. Pandora wird, nachdem Hermes sie zur Erde gebracht hat, von Prometheus abgewiesen, aber vom Bruder Epimetheus zur Frau genommen. In seinem Hause öffnet sie ein verhängnisvolles Gefäß, in dem alle Übel gespeichert waren, die fortan die Menschen bedrängen sollten. Einzig die (wohl trügerische) Hoffnung 3 kann Pandora festhalten. Nach Babrios 4 beherbergte das Gefäß, genau umgekehrt, gespeichert das Gute, das nun, vom Menschen aus Wißbegierde freigesetzt, unrettbar verloren ist. 5 Als Symbolfigur entspricht Pandora der biblischen Eva 6 ; der Pithos, jener gefährliche Behälter, der die Neugierde reizt, dem Baum der Erkenntnis. 1. Das Achilleis-Fragment In solch negativem Sinne - Pandora als Ursache allen Unheils - hat Goethe diese Symbolgestalt nur ein einziges Mal in seine Dichtung eingebracht. Im Dialog zwischen Achilles und Pallas Athene seines Eposfragments Achilleis 7 von 1799, das an den Schluß der Ilias ansetzt, läßt der Dichter den Helden mit Bitterkeit das Schicksal des Menschen reflektieren. Achilles, damit beschäftigt, ein gigantisches Grab- 1 Vgl. Dora und Erwin Panofsky, Die Büchse der Pandora, Bedeutungswandel eines mythischen Symbols, Sonderband der Edition Pandora. Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Peter D. Krumme, hrsg. von Helga und Ulrich Raulff, Frankfurt a. Main 1992. 2 Hesiod, erg. 60 ff., theog. 571 ff. (Werke und Tage und Theogonie) vgl. auch Panofsky a. a. O., S. 17 ff. 3 Vgl. O. Lendel, Die Pandorasage bei Hesiod, Würzburg 1957. 4 Babrios, griechischer Fabeldichter, 2. Jrht. n. Chr. 5 Babrii Fabulae Aesopeae, 58, hrsg. von O. Crusius, Leipzig 1897. S. 53 f. 6 Vgl. L. Séchan, Pandore, L’Eve grecque. In: Bulletin de l’association Guillaume Budé 23 (1929), S. 3-36. H. Türck, Pandora und Eva. Menschwerdung und Schöpfertum im griechischen und jüdischen Mythus, Weimar 1931. 7 Achilleis, entstanden in den Jahren 1797-99; FA 8, S. 884 ff. <?page no="106"?> 102 mal für seinen gefallenen Freund Patroklos zu errichten, hat eben aus dem Munde der Göttin von seinem eigenen kurz bevorstehenden Tode erfahren, dem Tod in einem Krieg, der um einer Frau willen geführt wird: Wahrlich, das kurze Leben, es wäre dem Menschen zu gönnen Daß er es froh vollbrächte, vom Morgen bis an den Abend Unter der Halle sitzend und Speise die Fülle genießend, Auch dazu den stärkenden Wein, den Sorgenbezwinger, Wenn der Sänger indes Vergangnes und Künftiges brächte. Aber ihm ward so wohl nicht jenes Tages beschieden, Da Kronion erzürnt dem klugen Iapetiden 8 , Und Pandorens Gebild Hephaistos dem König geschaffen; Damals war beschlossen der unvermeidliche Jammmer Allen sterblichen Menschen, die je die Erde bewohnen, Denen Helios nur zu trüglichen Hoffnungen leuchtet, Trügend selbst durch himmlischen Glanz und erquickende Strahlen. Denn im Busen des Menschen ist stets des unendlichen Haders Quelle zu fließen geneigt, des ruhigsten Hauses Verderber. Neid und Herrschsucht und Wunsch des unbedingten Besitzes 9 […] Lächelnd versetzte darauf die Göttin Pallas Athene: Laß dies alles uns nun beseitigen! Jegliche Rede, Wie sie auch weise sei, der erdegeborenen Menschen, Löset die Rätsel nicht der undurchdringlichen Zukunft. 10 Die Göttin widerspricht Achilles nicht geradezu, sondern relativiert seine Worte mit dem Hinweis auf die Eingeschränktheit menschlichen Denkens. Insofern bleibt auch diese einmalige abschätzige Erwähnung Pandoras bei Goethe nicht unangefochten bestehen. 2. Das Dramenfragment Prometheus Aber wie so anders klangen die Verse aus seinem zur Zeit des ‚Sturm-und-Drang’ (1773) entstandenen, Fragment gebliebenen Drama Prometheus, das in der wohl ältesten griechischen Tradition steht, also Pandora als Geschöpf des Prometheus darstellt und in diesem Sinne, unter dem Einfluß der mittelalterlichen Version des Fulgentius, Vorläufer hat in Calderons Festspiel La Estatua de Prometeo (1679) wie auch in einem Operntext von Voltaire (1766) und in Wielands Lustspiel Traumgespräch mit Prometheus (1770). In den genannten Stücken gewinnt die Gestalt der Pandora eine immer positivere Ausdeutung im Sinne einer ihr zuerkannten kulturfördernden Wirkung auf die Menschen. 11 Goethe läßt den Prometheus des frühen Dramenfragments in sein Geschöpf all das Gute hineinbannen, das ihm je im Erleben der Natur geworden war: 8 Prometheus, der Sohn des Titanen Iapetos. 9 Ebd., v. 587 ff., S. 904. 10 Ebd., v. 612 ff. 11 Vgl. Elisabeth Frenzel, Stoffe der Weltliteratur, 6. Aufl. Stuttgart 1984, S. 587 ff. <?page no="107"?> 103 Und du Pandora! Heiliges Gefäß der Gaben alle Die ergötzlich sind. Unter dem weiten Himmel Auf der unendlichen Erde, Alles was mich je erquickt von Wonnegefühl. Was je des Schattenskühle Mir Labsal ergossen, Der Sonne Liebe jemals Frühlingswonne, Des Meeres laue Welle Jemals Zärtlichkeit an meinen Busen angeschmiegt, Und was ich je für reinen Himmelsglanz Und Seelenruhgenuss geschmeckt. Das all! all! - Meine Pandora. 12 Der Prometheus, der sich hier an sein Meisterwerk wendet, das noch der Beseelung durch Minerva bedarf, um lebendig zu werden, - er könnte geradezu Ganymed heißen. Und nicht umsonst hat Goethe im späteren Arrangement seiner Gedichte Prometheus, den ursprünglich als Schluß des Fragments vorgesehenen Monolog („Bedecke deinen Himmel, Zeus“) mit der Ganymed-Hymne zusammengestellt. In den oben zitierten Versen erscheint Pandora nur positiv, wird selbst zum Gefäß, zum „heiligen Gefäs der Gaben alle / Die ergötzlich sind“, welche sie in ihrer Person sammelt und wieder ausstrahlt. Wie könnte sie sonst diesem ekstatischen Anruf entsprechen! Die Elegie wird, fünfzig Jahre später, von Pandoras „gabeseligem Munde“ sprechen und die Trennung von ihr als tödlich bezeichnen. Einzig unter diesem Aspekt einer möglichen Trennung wird sie, die „Verliehene“, zur Bedrohung. Schon in der frühen Dichtung spielt der Dichter mit dem Namen Pandoras. Die Übersetzung von Παν taucht, emphatisch wiederholt, im bruchstückhaften Gestammel des letzten Verses wieder auf: „Das all! all! - Meine Pandora.“ Der Name läßt zwei Deutungen zu und wurde auch seit je so verstanden: ,die (von den Göttern) mit allem Begabte‘ oder ,die alles Gebende‘ (dies vielleicht ursprünglich euphemistisch gemeint). Goethe spielt mit beiden Möglichkeiten. Als Prometheus sammelt er seine innigsten und beglückendsten Naturerfahrungen und bannt sie hinein in die eine, geliebte, von ihm gebildete Gestalt als in einen Brennpunkt alles Guten und Schönen. 3. In tausend Formen Über vier Jahrzehnte später, 1815, wird dieser Prozeß umgekehrt erlebt werden. Nun ist die Geliebte ausgegossen in die Natur, sie läßt sich nicht mehr festhalten, nur „erkennen“ an ihren Wesensmerkmalen, sie ist Teil der Elemente Erde, Wasser, Feuer, Luft und der Sphären des Lebendigen und Göttlichen. Gemeint ist das Schlußgedicht aus dem Buch Suleika des West-Östlichen Divan. Es hat keinen Titel, doch läßt sich leicht erraten, daß sich hinter dem immer wiederkehrenden „All-“ 12 Prometheus, FA 4, S. 412. <?page no="108"?> 104 der vielen Apostrophen nicht nur das arabische ‚al-’, sondern, in erster Linie, das „ Παν -“ versteckt: In tausend Formen magst du dich verstecken, Doch, Allerliebste, gleich erkenn’ ich dich, Du magst mit Zauberschleyern dich bedecken, Allgegenwärtige, gleich erkenn’ ich dich. An der Cypresse reinstem, jungen Streben, Allschöngewachsne, gleich erkenn’ ich dich, In des Canales reinem Wellenleben, Allschmeichelhafte, wohl erkenn’ ich dich. Wenn steigend sich der Wasserstrahl entfaltet, Allspielende, wie froh erkenn’ ich dich. Wenn Wolke sich gestaltend umgestaltet, Allmannigfaltige, dort erkenn’ ich dich. An des geblümten Schleyers Wiesenteppich, Allbuntbesternte, schön erkenn’ ich dich. Und greift umher ein tausendarmger Eppich, O! Allumklammernde, da kenn’ ich dich. Wenn am Gebirg der Morgen sich entzündet, Gleich, Allerheiternde, begrüß’ ich dich, Dann über mir der Himmel rein sich ründet, Allherzerweiternde, dann athm’ ich dich. Was ich mit äußerm Sinn, mit innerm kenne, Du Allbelehrende, kenn’ ich durch dich; Und wenn ich Allahs Namenhundert nenne, Mit jedem klingt ein Name nach für dich. 13 Das Gedicht ist natürlich ein wahrhaft ‚west-östliches’. Dennoch gibt es uns in seinem orientalischen Gewand des Ghasels mit der Symbolik der Bilder nachträglich einen Schlüssel zu besserem Verständnis des früher (1807/ 8) entstandenen Festspiels Pandora, das, eingewirkt in den Sinnzusammenhang der Elegie, auch dem antiken Mythenkreis entspricht. (Dazu mehr an seiner Stelle.) Abgesehen davon ist das Gedicht auch an sich besonders wichtig und trägt dazu bei, mit seiner vieldeutigen Aussage, die ihrerseits wieder Erhellung aus anderen Gedichten fordert, die Gestalt der Geliebten in ihrer ambivalenten Wirkung zu umreißen. Verborgenheit herrscht auf mehr als einer Ebene, denn nicht nur die Geliebte verbirgt sich hier in den Gegenständen der Natur, auch ihr Name taucht, wie schon angedeutet, bei jedem neuen „Erkennen“ wieder auf, im Sprachspiel gleichermaßen verhüllt wie offenbar. Elfmal erscheint in den sechs Strophen die Vorsilbe „All-“, die sich, wie gesagt, als παν erkennen läßt. Und, als wäre es damit noch nicht genug, verzeichnet das Tagebuch am Entstehungstage: „Beynahmen der Allgeliebten“. Gerade diese letzte Bezeichnung wird sich in der Elegie wiederfinden, wo es 13 In tausend Formen, West-östlicher Divan von 1819, Buch Suleika, FA 3/ 1, S. 101 f.; Entstehung 16. 3. 1815 (FA 3/ 2, S. 1304). <?page no="109"?> 105 in Strophe 13 mit Bezug auf sie heißt: „In Gegenwart des allgeliebten Wesens“ (S. 57), Worte, die der Umschreibung tiefsten religiösen Erlebens vorangehen. Ähnlich sind auch die Namen, mit denen das Divan-Gedicht die Geliebte anruft, bei all seiner anscheinend spielerischen Leichtigkeit, Anklänge an die religiöse Sphäre, hier, dem Kontext gemäß, die islamische. Die Namen erinnern an die Attribute Allahs, die durchwegs mit dem arabischen Artikel ‚al’ beginnen. Katharina Mommsen hat sich in ihrem sehr gelehrten und interessanten Buch Goethe und die arabische Welt 14 mit der Namengebung dieses Gedichts beschäftigt: Am Entstehungsdatum, dem 16. März 1815, notierte Goethe im Tagebuch als provisorischen Titel Beinamen der Allgeliebten (WA III 5, 153), während er Ende Mai 1815 die Verse mit der Überschrift „Allgegenwärtige“ versah; (im Wiesbadener Register: WA I 6, 430; AA 3, 6: Paralip. 3 Nr. 94). Beide tentativen Bezeichnungen deuten in dieselbe Richtung: durch einen - oder mehrere - „Beinamen“ verherrlicht der Dichter seine Geliebte mit Anklängen an den muslimischen Rosenkranz. In der Aufzählung J. v. Hammers hatte Goethe den Beinamen „der Allgegenwärtige“ an 49. Stelle gefunden. Die ihm stets gegenwärtige Suleika wird demnach sowohl in V. 4 als auch in der provisorischen Überschrift des Gedichts mit einem der Attribute Allahs geschmückt. Eine Frau so auszuzeichnen, stellte allerdings eine Kühnheit dar, zumal Goethe zusätzliche Beinamen für die Geliebte erfindet, die den neunundneunzig Attributen des muslimischen Rosenkranzes schon dadurch gleichen, daß sie wie diese mit der Silbe „All“ beginnen. 15 Katharina Mommsen, die weder von der Elegie noch dem Prometheus-Fragment ausgeht, beruft sich in ihrer spinozistischen Deutung jedoch auf das Festspiel: Schon vor der Divan-Epoche hatte der Dichter ein „Pandora“ benanntes Innbild weiblicher Schönheit als „Allbegabte“ [! ] (Pandora, v. 650 WA I 50, 328) besungen in Versen, die dem Suleika-Lob in vieler Hinsicht verwandt sind. Pandora erscheint im Preislied des Epimetheus „in tausend Gebilden“ (V. 673) der divina natura - wie Suleika später „in tausend Formen“. 16 Gerade die zur Chiffre gewordene „Tausend” hätte eigentlich die Verbindung zur Elegie Amyntas (vgl. S. 110) verraten können und damit auch das ganz persönliche, biographische Substrat, das als Urform immer zunächst gemeint ist, ehe es transparent wird für weitere Phasen einer Metamorphose. Wenn also, dementsprechend, der uns in der Elegie gegebene Frauenname „Pandora“ hier die im Medium der Sprache sich abzeichnende Urform vertritt, finden wir ihn metamorphosiert und spezifiziert wieder in den Zusammensetzungen mit „All-“, die das arabische ‚-al’ der neunundneunzig ,schönen Namen’ Gottes 17 phonetisch aufnehmen. Will Goethe, indem er sie zum „Namenshundert“ aufrundet, den Namen der Geliebten einbinden in den „Muslimischen Rosenkranz“, ebenso wie der Name „Allah“ im Gedicht die elf Apostrophen der Geliebten zur mythischen Zahl Zwölf 14 Katharina Mommsen, Goethe und die arabische Welt, Frankfurt a. Main 1988. 15 Ebd., S. 312. 16 Ebd., S. 313. 17 Ebd., S. 305. <?page no="110"?> 106 ergänzt? Hier bereits einer dieser „sehr ernsten Scherze“? 18 (Die im deutschen christlichen Katechismus, hauptsächlich im Alten Testament, verankerten Attribute Gottes mit ‚All-’, wie ‚allwissend’, ‚allgütig’ sind hier, mit Ausnahme von ‚allgegenwärtig’, völlig ausgespart.) Das Gedicht wurde ohne Überschrift veröffentlicht. Suleika ist nicht deckungsgleich mit Pandora; Suleika ist eine der „tausend Formen“, in denen die aus der Vergänglichkeit irdischer Existenz entrückte, ewige Geliebte sich dem Liebenden zu erkennen gibt, um zugleich transparent zu werden für die Sphäre des Göttlichen. Die Dinge der Außenwelt des Gedichts In tausend Formen, in denen sich die „Allerliebste“ „versteckt“, sind ungeachtet des heiteren Tons der Verse in ihrer Symbolik auf mannigfache Weise ambivalent. So ist die Zypresse nicht nur, wie immer wieder in der orientalischen Dichtung, Sinnbild für die schöne Gestalt einer Frau, sondern auch, wie in der christlichen Tradition, Sinnbild für Tod und Leben. Der Antike galt sie als Baum der Trauer 19 oder sie stand in Bezug zu den Göttern der Unterwelt 20 , an deren Eingang sie auch wächst. Andererseits symbolisiert sie wegen der Beständigkeit ihres Grüns und ihrer Langlebigkeit für Christen den Lebensbaum und deutet auf ein Leben nach dem Tode. Von alters her pflanzte man sie auf Gräber, wie auch frühchristliche Sarkophage mit ihrem Bild geschmückt wurden. In diesem Zusammenhang wird man auch nicht umhin können, an die mächtige Zypresse 21 aus Torquato Tassos Befreitem Jerusalem zu denken, die den Helden Tancred, und mit ihm den lesenden Knaben Wilhelm Meister, so sehr erschüttert. Beim Ausführen seines Auftrags, sie zu fällen, muß Tancred erschauernd erfahren, wie aus ihr die Stimme der geliebten feindlichen Kriegerin Chlorinde dringt, die er selbst in nächtlichem Zweikampf unwissentlich getötet hat. So erlebt es mit ihm der junge Wilhelm Meister: Aber wie ging mir das Herz über, wenn in dem bezauberten Walde Tancredens Schwert den Baum trifft, Blut nach dem Hiebe fließt, und eine Stimme ihm in die Ohren tönt, daß er auch hier Chlorinden verwunde, daß er vom Schicksal bestimmt sei, das was er liebt überall unwissend zu verletzen! 22 Diese Stelle, sowie die vorausgegangene Beschreibung des Todes des heldenhaften Mädchens, hält eine Schlüsselposition im Roman, indem sie in absoluter Umkeh- 18 An Wilhelm von Humboldt, 15. März 1832, (hier bezogen auf Faust II). HA Briefe 4, S. 481. 19 Vgl. Ovid, Metamorphosen 10, 126 ff.; Goethe, Italienische Reise, 2. Dez. 1786: „Über die Zypresse, den respektabelsten Baum, wenn er recht alt und wohl gewachsen ist, gibt’s genug zu denken.“ MA 15, S. 173. 20 Vgl. z. B. Vergil, Aeneis 3, 64. 21 Vgl. Torquato Tasso, Das befreite Jerusalem, übersetzt von Emil Staiger, München 1978. XIII, 38. 39; S. 485: In eine Gegend wie ein Rundtheater / Kam er zuletzt, die nicht bewachsen war. / Nur ragte, hoher Pyramide ähnlich, / Inmitten eine mächtige Zypresse. / Ihr wandte er sich zu, und in der Rinde / Sah er verschiedne Zeichen eingegraben, / Wie jene, die Ägypten einst, das alte, / Geheimnisvolle, statt der Schrift verwendet. / / 39. Doch zwischen fremden Zeichen fand er auch / Arabische, die er zu lesen wußte: / „O der du in des Todes Tal den Fuß / Zu setzen wagtest, unerschrockner Krieger, / Ach, wenn du nicht so grausam bist wie tapfer, / So schone der entlegnen Ruhestätte. / Sei gnädig den des Lichts beraubten Seelen. / Der Lebende soll nicht mit Toten kämpfen.“ 22 WMLJ 1, 7; FA 9, S. 378. <?page no="111"?> 107 rung (wie so oft bei Goethe! ) die spätere Lebensrettung Wilhelms durch die „schöne Amazone“ vorwegnimmt und Licht wirft auf seine weitere Beziehung zu Natalie. 23 Auch die Zypresse des Divan-Gedichts gehört zwei Reichen an. Sie wurzelt in der Erde, aber strebt, „rein“ und „jung“, zum Himmel auf. In zartester Weise deutet Goethe das traditionell ambivalente Symbol, indem er gerade auch die ‚äußere’ Schönheit des Wuchses, das Tertium comparationis zur „Allgegenwärtigen“, dem Empor- und Fortstreben zuschreibt. Das Wasser ist seiner Natur nach ambivalent, vom erquickenden Tau bis zur reißenden Sturmflut erweist es sich als Spender von Leben und Tod. Ursprung aller Dinge nennt es Thales. Aphrodite, Liebes- und Fruchtbarkeitsgöttin, entstammt dem Meer, der kastalische Quell beflügelt den Geist zur Dichtkunst, aber, grauenerregend, endet am Ufer der Styx alles persönliche Leben, der Lethetrunk löscht Erinnerung und Individualität. In diesen und unzähligen anderen Symbolen finden die Griechen die menschliche Existenz im Wasser gespiegelt. Von der Sintflut bis zum Wasser der Taufe durchzieht das Bild in seiner Dichotomie vielfältigst die Bücher der Bibel. Auch bei Goethe finden wir im Werk das Wasser in all seinen Aggregatzuständen symbolisch vertreten - als Nebel, Tau, Reif und Eis, als Wolke, Schnee und Regen, in allen Formen bewegter und stehender Gewässer in reichster Nuancierung der ganzen Skala seiner metaphorischen Ausdrucksmöglichkeiten. Dennoch fällt auf, wie oft der Tod durch Ertrinken, als mögliche oder bezwungene Gefahr, wie auch als reales Geschehen, immer wieder in den Werken auftaucht. Man denke an die Elegie Alexis und Dora 24 , an die Balladen Der Zauberlehrling 25 und Johanna Sebus 26 oder an Wilhelm Meisters für sein ganzes Leben bedeutsames Jugenderlebnis des ertrunkenen Freundes, für das er erst ganz spät, im Brief an Natalie, 27 Worte zu finden vermag. Es ist jedoch ausschlaggebend für Wilhelms lang gehegten Vorsatz, den Arztberuf zu erlernen, wodurch er zuletzt seinen Sohn Felix vor dem Wassertod retten kann. 28 In den Wahlverwandtschaften ist es der nach dem Ufereinbruch vom Hauptmann gerettete Knabe 29 , der das Thema anschlägt, andeutungsweise kehrt es wieder, wenn der Hauptmann die ausgeglittene Charlotte aus dem Wasser ebendesselben künstlich angelegten gefährlichen Teiches trägt 30 , in welchem später ihr und Eduards Kind ertrinken und damit Ottilies Schicksal besiegeln wird. Ganz stark tritt es hervor in der in den Roman eingeschobenen Novelle von den Wunderlichen Nachbarskindern 31 , deren glücklicher Ausgang durch Charlottes Trauer nach dem Anhören der Geschichte offensichtlich widerlegt wird. Die Liste, die durchaus keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann, sei abgeschlossen mit dem ertrunkenen und durch Götterwillen wieder zum Leben 23 WMLJ 4, 9; FA 9, S. 598. 24 FA 2, S. 174, v. 151 ff. 25 Ebd., S. 141 ff. 26 Ebd., S. 271 ff. 27 WMWJ 2, 11; FA 10, S. 547 ff. 28 Ebd. 3, 18; FA 10, S. 744 f. 29 WV 1, 15; FA 8, S. 369 f. 30 Ebd. 1, 12; FA 8, S. 357 f. 31 Ebd. 2, 10; FA 8, S. 476 f. <?page no="112"?> 108 erweckten Jüngling Phileros aus dem Festspiel Pandora, auf das noch ausführlich zurückzukommen sein wird. Das Wasser - „Vom Himmel kommt es, / Zum Himmel steigt es / Und wieder nieder zur Erde muß es“ 32 - kennen wir als Goethes Symbol für die Seele, wie diese beiden Welten zugehörig. Die Divan-Gedichte zeigen es in seinen künstlichsten Formen, Kanal und Fontäne, auf vorgeschriebener, auferlegter Bahn. Die Fontäne bringt die Umkehrung des Zypressen-Themas: nun ist das Aufsteigen Zwang, und das eigentliche Wesen, das „spielende“, entfaltet sich letzlich erst im Fallen. Es ist die Sehnsucht nach Freiheit, die sich, so oder so, einen Weg sucht. Existentiell betrachtet, sind die Werte austauschbar. Oben und Unten haben ihren Sinn nur aus der Gegenüberstellung, das ‚eigentliche’ Wesen erweist sich einmal im Steigen, einmal im Fallen. Tod und Leben erscheinen relativiert. Das Gleiche gilt auch für das „reine Wellenleben“ des Kanals, an dem die „Allschmeichelhafte“ erkannt wird, die das gefahrenträchtige andere Element so verlockend macht, wie es die Ballade Der Fischer darstellt. Auch hier die Umkehrung der Werte von Oben und Unten in den Worten der Wasserfrau: „Hinauf in Todesglut“ und weiter in der dritten Strophe: Labt sich die liebe Sonne nicht, Der Mond sich nicht im Meer? Kehrt wellenatmend ihr Gesicht Nicht doppelt schöner her? Lockt dich der tiefe Himmel nicht, Das feucht verklärte Blau? Lockt dich dein eigen Angesicht Nicht her in ew’gen Tau? 33 Wie wenig es Goethe bei der Dichtung dieser Ballade um die Erzählung einer Nixensage ging, hat er gelegentlich einer Betrachtung über zeitgenössische Kunst Eckermann gegenüber geäußert: Da malen sie zum Beispiel meinen Fischer und bedenken nicht, daß sich das gar nicht malen lasse. Es ist ja in dieser Ballade bloß das Gefühl des Wassers ausgedrückt, das Anmutige, was uns im Sommer lockt, uns zu baden; weiter liegt nichts darin, und wie läßt sich das malen! 34 Wieder einmal Goethesches ‚Understatement’! Die Verse: „Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm; / Da wars um ihn geschehn“ sagen nur zu deutlich, was gemeint war. Vom Bild der Wolke, Wasser in seiner wandelbarsten, flüchtigsten Form, wurde im Zusammenhang mit Strophen 7 bis 9 der Elegie (vgl. S. 47 ff) bereits gesprochen. Ein kurzer beglückender Augenblick - „So sahst du Sie in frohem Tanze walten“ - bringt für den Dichter die Tote ins Leben zurück. In dem großen Gedicht Euphrosyne inszeniert Goethe das Umgekehrte. Hier zeigt die junge (und vorgeblich vom Dichter als lebend angenommene) Schauspielerin Christiane Becker in 32 Gesang der Geister über den Wassern, FA 2, S. 284 f. 33 FA 1, S. 303. 34 Eckermann, 3. November 1823; a. a. O., S. 66. <?page no="113"?> 109 Wolkengestalt ihren Tod an. Ihrer langen und ergreifenden Rede gebietet Hermes Psychopompos, der Führer der Seelen zum Orkus, letztlich Einhalt und ihr versagt die Stimme. Denn aus dem Purpurgewölk, dem schwebenden, immmer bewegten, Trat der herrliche Gott, Hermes, gelassen hervor. Mild erhob er den Stab und deutete; wallend verschlangen Wachsende Wolken, im Zug, beide Gestalten vor mir. 35 Ein Seelenführer ganz anderer Art, einer, der Lebende ins Reich des Todes lockt und gewaltsam entführt, erscheint ebenfalls in Wolkengestalt. Für den Vater ist der Erlkönig ein „Nebelstreif“, dessen subjektive Bedrohlichkeit für das Kind ihm nur zu spät dämmert. Die Antwort auf die Frage nach dem objektiven Sachverhalt bleibt dem Leser überlassen. 36 - Die Wolke verflüchtigt sich oder regnet lebenspendend ab. Der Blick richtet sich wieder zur Erde, die sich blühend vor ihm breitet. Auch hier erkennt er die Geliebte am beblümten Rasen, der ihr als „Schleier“ dient, der sie verhüllt und deckt. Jene Stelle aus den Wahlverwandtschaften kommt in den Sinn, wo Eduard erstmals die Veränderungen sieht, die Charlotte rund um die Kirche vorgenommen hat, indem sie die Gräber einebnen und - so dürfen wir wohl ergänzen - mit Rasen überdecken ließ. 37 Ähnliches gilt für das im Gedicht folgende Bild, den Efeu. 38 Die Griechen verbanden ihn mit Dionysos, seinen Thyrsos schmückt oft eine umschlingende Ranke, die Mänaden trugen Efeukränze, denen man wegen der Kühle der Blätter eine rauschhemmende Wirkung zuschrieb. Deshalb war die Pflanze zugleich ein Symbol wildester Lebensfreude und Sinnenlust und vernunftspendender Ernüchterung. Darüber hinaus galt sie auch als Sinnbild der Freundschaft, weil sie in sich allein keinen Halt findet und sich anschmiegen muß. 39 Bei den Römern gewinnt sie zunehmend den Rang eines Schmucks für Dichter. 40 Die Christen deuteten sie schon früh, ähnlich wie die Zypresse, wegen des immerwährenden Grüns als Sinnbild ewigen Lebens, sie zierten Sarkophage mit ihren Blättern und pflanzten sie auf Gräber. 41 Wieder handelt es sich hier um ein Symbol ambivalenter Signifikanz. Was Goethe selber zum Sinnbild „Efeu“ dachte, ehe er es im Schlußgedicht des Suleika-Buches einsetzte, hat er an zwei sehr unterschiedlichen Stellen festgehalten. Da ist erstens der Vierzeiler aus der Sammlung Sprichwörtlich zu nennen, in dem der eine Aspekt des auch bei Goethe, und auf seine eigene Weise, ambivalenten Symbols zum Ausdruck kommt: 35 Euphrosyne, FA 2, S. 193. 36 FA 2, S. 107. 37 FA 8, S. 283. 38 „Eppich” schon zu Goethes Zeit meist durch Epheu ersetzt. Vgl. DWb. unter „Eppich“, Bd. 1., Sp. 680. 39 Vgl. Pauly-Wissowa, RE Schlagwort „Epheu“. 40 Verg. Ecl. 7, 25; 8, 11 ff.; Horaz C. 1,1,29 f.; Ovid, Met. 5, 338. 41 Gerd Heinz-Mohr: […] „Als Hinweis auf treue Verbundenheit und ewiges Leben ist auch die besonders häufige Darstellung von Efeublättern auf frühchristlichen Sarkophagen und Katakombenfresken zu verstehen. Der Efeu bedeutet, daß die Seele lebt, wenn auch der Körper tot ist. […]” a. a. O., S. 77 f. <?page no="114"?> 110 Efeu und ein zärtlich Gemüt Heftet sich an und grünt und blüht. Kann es weder Stamm noch Mauer finden, Es muß verdorren, es muß verschwinden. 42 Das kleine Gedicht richtete sich ganz auf die Uneigenständigkeit des „zärtlichen Gemüts“. Die Aussagen des zweiten Verspaars sind durchwegs einem pronominalen Subjekt im Singular mit neutralem Genus zugeordnet. Für den weggelassenen (auch bei Goethe sprachlich durchwegs maskulinen) Efeu ließe sich der über ihn vermittelte Sachverhalt botanisch auch gar nicht nachweisen. „Efeu“, hier seiner syntaktischen Kohärenz beraubt, wird zur Chiffre für Verlassenheit, Hilfsbedürftigkeit und Schwäche. 43 Dies ist der eine Aspekt, den, wie später gezeigt werden soll, eine andere Pflanze weit besser vertritt. Der andere Aspekt, Überlebenswille, Mächtigkeit, Bedrohlichkeit, erweist sich in der Elegie Amyntas 44 . Der an seiner Liebe leidende Titelheld weist den Rat des Arztes Nikias zurück, indem er sich mit jenem vom Efeu ganz erdrückten Apfelbaum in seinem Garten vergleicht, der um Verschonung vor dem lebensrettenden Messer fleht: O, verletze mich nicht! den treuen Gartengenossen, Dem du, als Knabe, so früh, manche Genüsse verdankt. O, verletze mich nicht! du reißest mit diesem Geflechte, Das du gewaltig zerstörst, grausam das Leben mir aus. Hab’ ich nicht selbst sie genährt, und sanft sie herauf mir erzogen? Ist, wie mein eigenes Laub, nicht mir das ihre verwandt? Soll ich nicht lieben die Pflanze, die, meiner einzig bedürftig, Still, mit begieriger Kraft, mir um die Seite sich schlingt? Tausend Ranken wurzelten an, mit tausend und tausend Fasern senket sie fest mir in das Leben sich ein. Nahrung nimmt sie von mir; was ich bedürfte, genießt sie, Und so saugt sie das Mark, sauget die Seele mir aus. Nur vergebens nähr’ ich mich noch; die gewaltige Wurzel Sendet lebendigen Safts, ach! nur die Hälfte hinauf. Denn der gefährliche Gast, der geliebteste, maßet behende Unterweges die Kraft herbstlicher Früchte sich an. Nichts gelangt zur Krone hinauf; die äußersten Wipfel Dorren, es dorret der Ast über dem Bache schon hin. Ja, die Verräterin ist’s! sie schmeichelt mir Leben und Güter, Schmeichelt die strebende Kraft, schmeichelt die Hoffnung mir ab. Sie nur fühl’ ich, nur sie, die umschlingende, freue der Fesseln, Freue des tötenden Schmucks, fremder Umlaubung mich nur. 45 Nahtlos schließt sich hieran Amyntas’ eigene Bitte an Nikias, den „Arzt des Leibs und der Seele”, den er in seinem Liebesleid um Rat gefragt hat, aber sein Mittel nicht annehmen wird: 42 FA 2, S. 396. 43 ‚Efeu’ hier vermutlich stellvertretend für ‚Liane’, wie später zu zeigen. 44 FA 1, S. 632 f. und FA 2, S. 194 f. Für den Namen Amyntas siehe Theokrit 7,2 und 131; Torquato Tasso, Aminta. Vgl. auch J. W. Goethe, Gedichte mit Erläuterungen von Emil Staiger, Zürich 1949. Bd.1, S. 499. 45 v. 21 ff. <?page no="115"?> 111 Halte das Messer zurück! o Nikias, schone den Armen, Der sich in liebender Lust, willig gezwungen, verzehrt! Süß ist jede Verschwendung; o, laß mich der schönsten genießen! Wer sich der Liebe vertraut, hält er sein Leben zu Rat? 46 Diese bereits 1797 gedichteten Distichen nehmen ausführlich vorweg, was in den beiden Zeilen des Divan-Gedichtes von 1815, aufs engste zusammengezogen, mittels der Chiffre ‚tausend’ auf sie zurückverweist: Und greift umher ein tausendarm’ger Eppich, O Allumklammernde, da kenn’ ich dich. Es ist das erste und einzige Mal in diesem Gedicht, daß dem Vokativ ein „O“ vorangeht, daß das ‚Erkennen’ der früheren Verse durch das vertiefte „Kennen“ ersetzt ist. Bewegung und Erfahrung werden fühlbar, vielleicht gepaart mit Furcht. Hier bricht das Todesmotiv am stärksten durch. In diesem Zusammenhang liegt es nahe, beim Bild des Morgenrots, mit dem die folgende Strophe anhebt, an ein vorgestelltes Erwachen nach der Nacht des Todes zu denken. Über die Sonne, ja sogar die untergehende, als Garanten der Kontinuität des individuellen Lebens auch nach seinem scheinbaren Ende, wurde schon gesprochen (vgl. S. 39 f.). In eben diesem Sinn erscheint sie auch in dem später noch eingehend zu betrachtenden Gedicht Der Bräutigam 47 , in dem die Aufforderung zu hoffen kaum ernstlich einem sich täglich wiederholenden Naturereignis gelten kann: Die Sonne sank und Hand in Hand verpflichtet, Begrüßten wir den letzten Segensblick, Und Auge sprach, in’s Auge klar gerichtet: Von Osten, hoffe nur, sie kommt zurück. 48 Solche Hoffnung findet in Elegie Strophe 12 der nunmehr allein Zurückgelassene im Bild eines jenseitigen Sonnenaufgangs: Nun dämmert Hoffnung von bekannter Schwelle, Sie selbst erscheint in milder Sonnenhelle. Und, wie hier, folgt im Divan-Gedicht unmittelbar auf das Morgenrot das Erlebnis einer Unio mystica: Wenn am Gebirg der Morgen sich entzündet, Gleich, Allerheiternde, begrüß’ ich dich; Dann über mir der Himmel rein sich ründet, Allherzerweiternde, dann athm’ ich dich. Kein weiteres Bild nach dem Morgenrot; der Himmel, „rein“, leer, bildet die Folie für die Begegnung von Geist zu Geist und deren gegenseitige Durchdringung. 46 Ebd., v. 43 ff. 47 S. 138 ff. 48 FA 2, S. 702, hier wiedergeg. wie bei der Erstveröffentlichung in der Zeitschrift Chaos, s. Kapitel 18. <?page no="116"?> 112 Auch hier veranschaulicht die Physis der Sprache das „Ereignis“: die „Allerheiternde“ wandelt sich, indem sie als Atemluft in den Geliebten einströmt und ihn erfüllt, zur „Allherzerweiternden“. Die zweite der beiden ähnlich lautenden, ja sich fast reimenden Bezeichnungen hat sich gegenüber der ersteren um einige Buchstaben erweitert und versinnbildlicht die Erfüllung des Geliebten in seinem tiefen Atemzug mit etwas, das sich erdgebundener Imagination am leichtesten noch als Hauch, Einhauch, eben als ‚Inspiration’, darstellt. Aber sie erweitert nicht nur das Herz, wie die nächste, die Schlußstrophe festhält: Was ich mit äußerm Sinn, mit innerm kenne, Du Allbelehrende, kenn’ ich durch dich. Und wenn ich Allahs Namenhundert nenne, Mit jedem klingt ein Name nach für dich. Als „Allbelehrende“ wendet Sie sich auch an den Verstand des Freundes, sie schärft seine Wahrnehmung nach außen und vertieft zugleich seine Innenschau. Damit vollzieht sich die höchste Form des ‚Kennens’, von dem hier so oft die Rede ging, die seiner Einbindung in den Bereich des Göttlichen; denn „der Name bleibt doch immer der schönste, lebendigste Stellvertreter der Person“. 49 4. Pandora. Ein Festspiel Die Vorwegnahme des Gedichts In tausend Formen hilft, die große Pandora-Dichtung von 1807 50 besser zu verstehen. Den Anstoß für dieses „Festspiel“ gab die Bitte der Herausgeber der Wiener Zeitschrift Prometheus um einen Beitrag. 51 Der ursprüngliche Titel war Pandoras Wiederkunft, dem der nur schematisch vorhandene und nicht ausgeführte zweite Teil des Dramas entsprechen sollte. Er wurde durch Die Wahlverwandtschaften verdrängt. Eckermann beruft sich in diesem Zusammenhang auf Goethes Diktum, „auch wäre das Geschriebene recht gut als ein Ganzes zu betrachten.“ 52 Daran will sich diese knappe Interpretation ausrichten, die im übrigen, von ihrem Ausgangspunkt, der Trilogie der Leidenschaft, ihren Stellenwert bezieht und, ohne andere Deutungen 53 grundsätzlich ausschließen zu wollen, auf ihn bezogen bleibt. Im Festspiel nimmt Goethe die von Hesiod 54 überlieferte Version der Mythe auf, kehrt sie ins Positive und führt mit dem Stichwort des Pandora-Namens aus der Elegie die Reihe seiner Identifikationsfiguren - Tasso, Petrarca, Dante, Gallus - bis in eine mythische Vorzeit weiter zurück, bis zu Epimetheus, der um seine vor langen Jahren entschwundene Gattin Pandora trauert. Auch er ein Dichter: denn seine Sprache verläßt, im Gegensatz zu der seines von 49 WMWJ 3, 13, FA 10, S. 711. 50 Pandora. Ein Festspiel, FA, 6, S 661 ff. 51 Vgl. FA 6, S.1227. 52 21. Oktober 1823; a. a. O., S. 55. 53 Vgl. z. B. Wilhelm Emrich, Goethes Festspiel „Pandora“, in: GJb., N.F., Bd. 24, 1962, hrsg. von Andreas Wachsmuth, Weimar 1962. S. 33 ff. Ferner: Gottfried Diener, Pandora. Zu Goethes Metaphorik, Bad Homburg v.d. H. / Berlin / Zürich 1968. Oder: J. P. Stern, On Goethe’s Pandora, in: London German Studies II, ed. by J.P. Stern, University of London 1983. S. 31 ff. 54 Hesiod, Theogonie, 570 ff.; Werke und Tage, 50 ff. <?page no="117"?> 113 Tagesanbruch an stets rastlos tätigen Bruders Prometheus, immer wieder das strenge Maß des jambischen Trimeters, sozusagen ihrer beider Alltagssprache, um in anderen Metren Pandoras Preis zu singen oder seiner Trauer um sie freien Lauf zu lassen. Er begibt sich zur Ruhe nach leidvoll und sehnsüchtig verbrachter Nacht, wenn der andere mit seinen Schmieden sein Tagwerk beginnt. In seinem Monolog am Anfang des Werks sagt Epimetheus: […] Nicht sondert mir entschieden Tag und Nacht sich ab, Und meines Namens altes Unheil trag’ ich fort: Denn Epimetheus nannten mich die Zeugenden, Vergangnem nachzusinnen, Raschgeschehenes Zurückzuführen, mühsamen Gedankenspiels, Zum trüben Reich gestalten-mischender Möglichkeit. So bittre Mühe war dem Jüngling auferlegt, Daß ungeduldig in das Leben hingewandt Ich unbedachtsam Gegenwärtiges ergriff Und neuer Sorge neubelastende Qual erwarb. So flohst du, kräft’ge Zeit der Jugend, mir dahin, Abwechselnd immer, immer wechselnd mir zum Trost, Von Fülle zum Entbehren, von Entzücken zu Verdruß. Verzweiflung floh vor wonniglichem Gaukelwahn, Ein tiefer Schlaf erquickte mich von Glück und Not, Nun aber, nächtig immer schleichend wach umher, Bedaur’ ich meiner Schlafenden zu kurzes Glück, Des Hahnes Krähen fürchtend, wie des Morgensterns Voreilig Blinken. Besser blieb’ es immer Nacht! 55 (v. 7-25) Als Phileros, Sohn des Prometheus, auftaucht auf dem Weg zur Liebsten, ein Lied (voll der Anklänge an die Lyrik des jungen Goethe) 56 auf den Lippen, weiß Epimetheus nicht, daß dieser Weg den Jüngling zu seiner Tochter Epimeleia führen wird; dennoch erfüllt ihn eine dunkle Vorahnung drohenden Unheils. Vergeblich warnt er den Jungen. Wieder allein, setzt er seinen Monolog fort: Fahr hin, Beglückter Hochgesegneter, dahin! Und wärst du nur den kurzen Weg zu ihr beglückt, Doch zu beneiden! Schlägt dir nicht des Menschenheils Erwünschte Stunde? zöge sie auch schnell vorbei. So war auch mir! so freudig hüpfte mir das Herz, Als mir Pandora nieder vom Olympos kam. Allschönst und allbegabtest regte sie sich hehr Dem Staunenden entgegen, forschend holden Blicks, Ob ich, dem strengen Bruder gleich, wegwiese sie. Doch nur zu mächtig war mir schon das Herz erregt, Die holde Braut empfing ich mit berauschtem Sinn. Sodann geheimnisreicher Mitgift naht’ ich mich, Des irdenen Gefäßes hoher Wohlgestalt. Verschlossen stand’s. Die Schöne freundlich trat hinzu, 55 FA 6, S. 664. 56 Ebd., S. 665. <?page no="118"?> 114 Zerbrach das Göttersiegel, hub den Deckel ab. Da schwoll gedrängt ein leichter Dampf aus ihm hervor Als wollt’ ein Weihrauch danken den Uraniern, Und fröhlich fuhr ein Sternblitz aus dem Dampf heraus, Sogleich ein andrer; andre folgten heftig nach. Da blickt’ ich auf, und auf der Wolke schwebten schon Im Gaukeln lieblich Götterbilder, buntgedrängt; Pandora zeigt’ und nannte mir die Schwebenden: Dort siehst du, sprach sie, glänzet Liebesglück empor! Wie? rief ich, droben schwebt es? Hab ich’s doch in Dir! Daneben zieht, so sprach sie fort, Schmucklustiges Des Vollgewandes wellenhafte Schleppe nach. Doch höher steigt, bedächtig ernsten Herrscherblicks, Ein immer vorwärtsdringendes Gewaltgebild. Dagegen, gunsterregend strebt, mit Freundlichkeit Sich selbst gefallend, süß zudringlich, regen Blicks, Ein artig Bild, Dein Auge suchend, emsig her. Noch andre schmelzen kreisend in einander hin, Dem Rauch gehorchend, wie er hin und wieder wogt, Doch alle pflichtig, deiner Tage Lust zu sein. Da rief ich aus: Vergebens glänzt ein Sternenheer, Vergebens rauch-gebildet wünschenswerter Trug! Du trügst mich nicht, Pandora, mir die einzige! Kein anders Glück verlang’ ich, weder wirkliches Noch vorgespiegeltes im Luftwahn. Bleibe mein! (v. 81-119) Hier ist die Kürze der Verbindung schon angedeutet. Was, von Epimetheus kaum registriert, wirklich vor sich geht, ist seine Weihe zum Dichter (vgl. Vergil, Ecl. VI, 64). Die Rauchgebilde verkörpern Archetypen der Poesia perennis, „alle“ seien sie „pflichtig“, seiner „Tage Lust zu sein”. Nach ihnen hascht die Menge vergebens, wie die anschließenden Verse es schildern, wobei Pandora selber den „muntern Luftgeburten” zugeordnet erscheint. Warum sonst würde Epimetheus sein eigenes Verhalten kontrastiv hervorheben? Ich aber zuversichtlich trat zur Gattin schnell Und eignete das gottgesandte Wonnebild Mit starken Armen meiner lieberfüllten Brust. Auf ewig schuf da holde Liebesfülle mir Zur süßen Lebensfabel jenen Augenblick. (v. 128-131) Wieder erweist sich die Transparenz einer metaphysisch mehrschichtigen Gestalt. Pandora, im Dialog der Brüder (v. 604 ff.) durchaus auch als Physis und Materie verstanden und gepriesen, wird hier zum „Wonnebild“ entkörpert, hinter dem die Umrisse der Muse deutlich werden. Die Flüchtigkeit des Besitzes jedoch muß Epimetheus erleben: Aus dem Lied, mit dem er sich in den morgendlichen Schlaf singt, tönen die Trauer und Mutlosigkeit des Verlassenen. Längst ist ihm Pandora entschwunden, und selbst der Kranz, den sie zurückließ, zerfällt ihm trotz all seiner Versuche, ihn zusammenzuhalten. Der Kranz - Schmuck der Braut wie des Grabes, des Siegers wie des Opfers, der Muse und des Dichters - Rundform ohne Anfang, ohne Ende, ist wieder eines jener in den Bereichen von Leben und Tod angesiedelten Symbole, an denen die Geliebte erkannt wird: <?page no="119"?> 115 Jener Kranz, Pandorens Locken Eingedrückt von Götterhänden, Wie er ihre Stirn umschattet, Ihrer Augen Glut gedämpfet, Schwebt mir noch vor Seel’ und Sinnen, Schwebt, da sie sich längst entzogen, Wie ein Sternbild über mir. Doch er hält nicht mehr zusammen; Er zerfließt, zerfällt und streuet Über alle frischen Fluren Reichlich seine Gaben aus Schlummernd O wie gerne bänd’ ich wieder Diesen Kranz! Wie gern verknüpft’ ich, Wär’s zum Kranze, wär’s zum Strauße, Flora-Cypris, deine Gaben! Doch mir bleiben Kranz und Sträuße Nicht beisammen. Alles lös’t sich, Einzeln schafft sich Blum’ und Blume Durch das Grüne Raum und Platz. Pflückend geh’ ich und verliere Das Gepflückte. Schnell entschwindet’s. Rose, brech’ ich deine Schöne, Lilie du, bist schon dahin! Er entschläft. (v. 132-154) Ganz verwandt nach Gehalt und Stimmung ist ein frühes Gedicht Goethes, das - Erster Verlust betitelt - den Verlust buchstäblich in den immer um einen Vers kürzer werdenden Strophen selbst erleidet und nachvollzieht: E RSTER V ERLUST . Ach! wer bringt die schönen Tage, Jene Tage der ersten Liebe, Ach! wer bringt nur Eine Stunde Jener holden Zeit zurück! Einsam nähr’ ich meine Wunde, Und mit stets erneuter Klage Traur’ ich um’s verlorne Glück. Ach! wer bringt die schönen Tage, Jene holde Zeit zurück! 57 Die letzte Strophe führt durch ihre gesteigerte Kürze den Vorgang noch weiter, indem sie in der Wiederholung die erste Strophe auf zwei Verse reduziert. Zugleich aber kehrt sie an den Anfang zurück, wodurch eine kanonartige Rundform erreicht ist. Das Gedicht kreist nun ewig in sich selber und hört nie auf, den Verlust nachzuleben. Trauer ohne Ende ist in dieser kleinen Form gestaltet. Epimetheus kommt nicht so weit, solch einen Kranz zu binden, ihm zerfließt das Werk unter den Händen. 57 FA 1, S. 282. <?page no="120"?> 116 Im Gegensatz zu dem allnächtlich ergebnislos sich abquälenden Bruder, ist für Prometheus der Tag die Zeit des Wachens und des Tuns. Noch vor dem Morgenrot schwingt er die Fackel (sein Element ist das Feuer), um die Schmiede unter seinen Geschöpfen zu ihrem Werk zu ermuntern. Sie statten die Krieger mit Waffen aus, fertigen aber auch Flöten für die Hirten. Insgesamt erscheinen sie als rauhes Volk, dem Prometheus noch keinerlei Recht und Gesetz auferlegt hat: „Der barsch Besiegte / Habe sich’s! ” (v. 946 f.) Was aber hat dieser rastlos tätige, ganz in seinem Tagewerk aufgehende Prometheus, dessen Rolle im „Festspiel“ nicht geringer ist als die des sich in Trauer verzehrenden Bruders, mit Pandora zu tun? Auf den ersten Blick, wenig. Wir erfahren, daß er sie weggewiesen hatte (v. 89), ehe sie zu Epimetheus kam. Ihm, Prometheus, hatten die Götter, entsprechend dem Hesiodischen Mythos, Pandora gesandt, „verliehen“, wie es in der Elegie in Identifikation des Dichters mit Prometheus heißt, wobei Prometheus ja offensichtlich die „Prüfung“ bestanden, zumindestens das Gefäß nicht geöffnet hat. Daß aber die Begegnung auch an ihm nicht spurlos vorbeigegangen ist, wird zuerst offenbar, als er beim Anblick Epimeleias, Pandoras und des Epimetheus Tochter, völlig hingerissen erscheint: Das Götterkind, die herrliche Gestalt, wer ist’s? Pandoren gleicht sie, schmeichelhafter scheint sie nur Und lieblicher; die Schönheit jener schreckte fast. (v. 569-571) Aus dem nun einsetzenden langen, größtenteils stichomythischen Dialog der Brüder geht hervor, daß trotz ihrer benachbarten Bereiche Prometheus nichts von Epimetheus’ Verbindung mit Pandora wußte („In deinen Hort verbargst du jene Gefährliche? “). Andererseits beweist er eine bis ins Detail gehende technische Kenntnis ihres Schmucks und ihrer Kleidung, über die, umgekehrt, der ausschließlich mit Pandoras Schönheit, Ausdruck und Anmut befaßte Bruder erstaunen müßte, zumal wenn von Pandoras Gürtel die Rede ist: PROMETHEUS. Gereihte Gaben Amphitritens trug der Hals. Dann vielgeblümten Kleides Feld, wie es wunderbar Mit Frühlings reichem buntem Schmuck die Brust umgab. EPIMETHEUS. An diese Brust mich Glücklichen hat sie gedrückt! PROMETHEUS. Des Gürtels Kunst war über alles lobenswert. EPIMETHEUS. Und diesen Gürtel hab’ ich liebend aufgelöst! PROMETHEUS. Dem Drachen, um den Arm geringelt, lernt’ ich ab, Wie starr Metall im Schlangenkreise sich dehnt und schließt. 58 In der, wie angenommen, kurzen Spanne von Begegnen und raschem „Hinwegweisen“ hätte Prometheus kaum Zeit gefunden, sich neben vielem anderen die mannigfaltigen Motive des Saums von Pandoras Oberkleid (vgl. v. 638 ff.) für immer anzueignen, geschweige denn die Mechanik ihres abgelegten Gürtels zu studieren! Es bleibt eigentlich nichts anderes übrig, als zu vermuten, daß auch Prometheus ein Verlassener ist, ein Verlassener allerdings mit zwiespältigeren Gefühlen als sein Bruder, an den er die Frage richtet: „Nicht lange wohl blieb wankelmütig sie dir getreu? “ (v. 580) Prometheus hätte allen Grund, sie der Untreue 58 v. 623-630. <?page no="121"?> 117 zu verdächtigen, da ihre Verbindung mit Epimetheus, wenn ihm auch in Einzelheiten nicht bekannt, nach seiner eigenen erfolgt sein muß. Epimetheus jedoch verlor Pandora allem Anschein nach durch den Tod. Hier findet sich der Leser vor einem Widerspruch, denn weder als Kunstfigur des Hephaistos, wofür Prometheus sie hält, noch als „Uranione, Heren gleich und Schwester Zeus“ im Sinne des Epimetheus (v. 603 f.), wäre sie im irdischen Verstand sterblich gewesen. Und doch lassen die Andeutungen keinen Zweifel zu. Zunächst Epimetheus’ Bericht der Trennung: Der Ferngewichnen folgt’ ich fröhlich rufend nach; Sie aber, halb gewendet nach dem Eilenden, Warf mit der Hand ein deutlich Lebewohl mir zu. Ich stand versteinert, schaute hin; ich seh’ sie noch! (Hier stockt die Rede. Einrückung der nächsten Zeile zu einem neuen Absatz markiert die Pause.) Vollwüchsig streben drei Zypressen himmelwärts, Wo dort der Weg sich wendet. Sie, gewandt im Gehn, Darzeigte vorgehoben nochmals mir das Kind, Das unerreichbar seine Händchen reichend wies; Und jetzt, hinum die Stämme schreitend, Augenblicks Weg war sie! Niemals hab’ ich wieder sie gesehn. PROMETHEUS. […] Nicht tadl’ ich deiner Schmerzen Glut, Verwitweter! Wer glücklich war, der wiederholt sein Glück im Schmerz. EPIMETHEUS. Wohl wiederhol’ ichs! Immer jenen Zypressen zu, Mein einz’ger Gang blieb’s. Blickt’ ich doch am liebsten hin, Allwo zuletzt sie schwindend mir im Auge blieb. Sie kommt vielleicht, so dacht’ ich, dorther mir zurück, Und weinte quellweis’, an mich drückend jenes Kind, An Mutterstatt. Es sah mich an und weinte mit, Bewegt von Mitgefühlen, staunend, unbewußt. - So leb’ ich fort, entgegen ewig verwaister Zeit, […] 59 (v. 720-741) Das ambivalente Symbol der Zypresse (vgl. S. 106) stellt nicht den einzigen Hinweis auf den Tod Pandoras dar. In dem zweiten der nun folgenden liedhaften Klagen beruft sich Epimetheus auf Minos, einen der drei Totenrichter im Orkus: „Wie es auch streng Minos verfügt, / Schatten ist nun ewiger Wert.” Darüber hinaus vermittelt aber das ganze Gedicht im stockenden Rhythmus seiner Choriamben die Erfahrung einer ‚Katabasis’, erinnert an Orpheus, der in der Unterwelt Eurydike sucht: Mühend versenkt ängstlich der Sinn Sich in die Nacht, suchet umsonst Nach der Gestalt. Ach! wie so klar Stand sie am Tag sonst vor dem Blick. Schwankend erscheint kaum noch das Bild; 59 FA 6, S. 686 f. <?page no="122"?> 118 Etwa nur so schritt sie heran! Naht sie mir denn? Faßt sie mich wohl? - Nebelgestalt schwebt sie vorbei, Kehret zurück, herzlich ersehnt; Aber noch schwankt’s immer und wogt’s, Ähnlich zugleich andern und sich; Schärferem Blick schwindet’s zuletzt. Endlich nun doch tritt sie hervor! Steht mir so scharf gegen dem Blick! Herrlich! So schafft Pinsel und Stahl! - 60 Blinzen des Augs scheuchet sie fort! Ist ein Bemühn eitler? Gewiß Schmerzlicher keins, ängstlicher keins! Wie es auch streng Minos verfügt, Schatten ist nun ewiger Wert. Wieder versucht sei’s, dich heran Gattin zu ziehn! Hasch’ ich sie? Bleibt’s Wieder, mein Glück? - Bild nur und Schein! Flüchtig entschwebt’s, fließt und zerrinnt. 61 (v. 789-812) Von daher wird das vorangegangene Gedicht als eine Modifikation des Orpheus- Mythos erkennbar, in welcher das Abwenden des Blicks nicht als Bedingung für die dauernde Wiedergewinnung der Geliebten erscheint, sondern als angeratene Schutzhaltung für denjenigen, dessen liebende Rückschau auf die Verlorene nach ihrem Verlust sich als stärker erweisen mag als seine Kraft, dem Sog des Todes zu widerstehen: Wer von der Schönen zu scheiden verdammt ist, Fliehe mit abegewendetem Blick! Wie er, sie schauend, im Tiefsten entflammt ist, Zieht sie, ach! reißt sie ihn ewig zurück. Frage dich nicht in der Nähe der Süßen: Scheidet sie? scheid’ ich? Ein grimmiger Schmerz Fasset im Krampf dich, du liegst ihr zu Füßen, Und die Verzweiflung zerreißt dir das Herz. Kannst du dann weinen und siehst sie durch Tränen, Fernende Tränen, als wäre sie fern: Bleib! Noch ist’s möglich! Der Liebe, dem Sehnen Neigt sich der Nacht unbeweglichster Stern. Fasse sie wieder! Empfindet selbander Euer Besitzen und euren Verlust! Schlägt nicht ein Wetterstrahl euch aus einander Inniger dränget sich Brust nur an Brust. Wer von der Schönen zu scheiden verdammt ist, Fliehe mit abegewendetem Blick! 60 Ganz ähnliches Wunschdenken findet sich in der ‚Urschrift K’, Strophe 4, v. 2 f. zur Elegie, wo es heißt: „O könnt’ ich wie vom Stein die Bilder drucken / Welch eine liebe Sammlung würd es geben“. Siehe Goethe, Elegie von Marienbad, hrsg. von Jürgen Behrens / Christoph Michel, Frankfurt / Leipzig 1991, S. 24. 61 FA 6, S. 688 f. <?page no="123"?> 119 Wie er, sie schauend, im Tiefsten entflammt ist, Zieht sie, ach! reißt sie ihn ewig zurück! (v. 761-780) Im fallenden Metrum der Daktylen findet seine Klage den gemäßen Ausdruck. Die Orpheus-Mythe 62 ist hier in die Oberwelt verlegt, „der Nacht unbeweglichster Stern“ (der Polarstern) ersetzt die kurzfristig erweichten Mächte der Unterwelt, im „Wetterstrahl“ findet sich das Dröhnen des Avernus, das Eurydike wieder zurücktreibt nach unten und Orpheus zurückkehren läßt, allein entronnen dem Bannkreis des Todes. Epimetheus, zwar als Titan unsterblich, ist seiner Macht anheimgefallen. Er muß nun ewig trauernd zwischen Tod und Leben existieren, und nur sein Gesang rettet ihn vor völliger Umnachtung. In der Gestalt des Cornelius Gallus (vgl. S. 82 f.) hat Goethe beide Lebensformen, die des Dichters und die des Tatmenschen, vereint gefunden, wie in sich selber. In Tasso und Antonio ließ er sie getrennt erstehen und ebenso, ins Titanisch-Mythische gesteigert, in den beiden ungleichen Brüdern Epimetheus und Prometheus, deren bewußte Wachzustände sich jedoch, genau wie Nacht und Tag, in die vierundzwanzig Stunden eines Tagesablaufs teilen, so als lösten beide Existenzformen, auf eine Person konzentriert, einander ab: in totaler Hingabe an den Schmerz einerseits und andererseits in seiner Bewältigung durch Arbeit. Diese beiden Verhaltensweisen, die einem gemeinsamen Grund entspringen, nennt Prometheus selbst, da er sich seinem schlafenden Bruder nähert: Du aber einz’ger Mitgeborner, ruhst du hier? Nachtwandler, Sorgenvoller, Schwerbedenklicher. Du dauerst mich und doch belob’ ich dein Geschick. Zu dulden ist! Sei’s tätig oder leidend auch. (v. 313-316) Ein autobiographisches Zeugnis, wenn es dessen bedarf, für die Wesensverwandtschaft Goethes sowohl mit seiner Prometheusals auch der Epimetheusfigur liegt in einem Brief an Knebel vor: […] Das Bedürfniß meiner Natur zwingt mich zu einer vermanichfaltigten Thätigkeit, und ich würde in dem geringsten Dorfe und auf einer wüsten Insel eben so betriebsam seyn müßen um nur zu leben. Sind denn auch Dinge die mir nicht anstehen, so komme ich darüber gar leichte weg, weil es ein Artikel meines Glaubens ist, daß wir durch Standhaftigkeit und Treue in dem gegenwärtigen Zustande, ganz allein der höheren Stufe eines folgenden werth und, sie zu betreten, fähig werden, es sey nun hier zeitlich oder dort ewig. 63 Die Verflechtung von Eurydike- und Pandora-Mythe hat sich als wichtiges Kompositionselement für die Trilogie der Leidenschaft erwiesen. Aber das Festspiel birgt noch sehr viel mehr dergleichen. Am 21. Oktober 1823 sprach Eckermann mit Goethe über Pandora: Ich sagte ihm, daß ich bei dieser schweren Dichtung erst nach und nach zum Verständnis durchgedrungen, nachdem ich sie so oft gelesen, daß ich sie 62 Vgl. Vergil, Georg. IV, 485-509. 63 An Carl von Knebel, 3. Dezember 1781; HA Briefe, Bd. 1, S. 376. <?page no="124"?> 120 nun fast auswendig wisse. Darüber lächelte Goethe. „Das glaube ich wohl“, sagte er, „es ist alles wie ineinander gekeilt.“ Ich sagte ihm, daß ich wegen dieses Gedichts nicht ganz mit Schubarth zufrieden, der darin alles das vereinigt finden wolle, was im Werther, Wilhelm Meister, Faust und Wahlverwandtschaften einzeln ausgesprochen sei, wodurch doch die Sache sehr unfaßlich und schwer werde. „Schubarth“, sagte Goethe, „geht oft ein wenig tief; doch ist er sehr tüchtig, es ist bei ihm alles prägnant.“ 64 Nicht ohne Rührung liest man, wie Goethe Schubarth verteidigt, weil er sich zumindest teilweise offenbar verstanden fühlt. Die Schrift Zur Beurtheilung Goethes 65 ist eine enthusiastische, aber unscharfe und wortreiche Abhandlung mit moralisch-religiöser Tendenz. Sie stellt das Verhältnis von Mensch, Gott und Natur in den von Eckermann genannten Werken heraus, zieht Verbindungs- und Entwicklungslinien, ohne sie jedoch recht zu begründen, und sieht in Pandora („in einem anderen, zweyten Sinne Allgabe Goetheschen Vermögens“ 66 ) eine Synthese des Vorangegangenen. Goethe nahm die uneingeschränkte Begeisterung Schubarths wohlwollend auf und schrieb (1818 zur ersten Auflage) sogar einen pädagogisch ermunternden Dankesbrief an den „Jüngling“, den dieser dann auch seinem zweiten Band voranstellte. Goethe sagt darin unter anderem: Verharren Sie beim Studium meines Nachlasses: dies rate ich, nicht weil er von mir ist, sondern weil Sie darin einen Komplex besitzen von Gefühlen, Gedanken, Erfahrungen und Resultaten, die auf einander hinweisen, wie Sie schon selbst so freundlich und einsichtig dargestellt haben. […] 67 Entsprechungen von Motiven, Symbolik, Ethik und psychologischen Einsichten sind bei Goethe ja nicht zu übersehen, doch macht das Wort „ineinandergekeilt“, das Eckermann sogleich an Schubarth denken ließ, aufhorchen. Vergleichsweise sei eine Stelle aus den Tag- und Jahresheften 1807 68 angeführt, wo es heißt: „Pandora sowohl als die Wahlverwandtschaften drücken das schmerzliche Gefühl der Entbehrung aus, und konnten also nebeneinander gar wohl gedeihen.“ 69 Bezüglich des Romans sagt Goethe im voraufgehenden Absatz: „der Stoff war allzubedeutend, und zu tief in mir gewurzelt, als daß ich ihn auf eine so leichte Weise [sc. als Novelle für die Wanderjahre] hätte beseitigen können.“ 70 In beiden genannten Fällen ist die Metapher für das eigene poetische Schaffen dem Reich des Organischen entnommen, wofür es noch zahllose weitere Beispiele gäbe. „Ineinander gekeilt“ hat daneben etwas Gewaltsames: es deutet auf Dinge hin, die zu einem Ganzen zusammengefügt sind, ohne ursprünglich zusammenzugehören und nur durch äußeren Druck und innere Spannung zur Einheit gelangen konnten. 71 64 Eckermann I, 21. Okt. 1823; a. a. O., S. 55. 65 Karl Ernst Schubarth (1796-1861), Zur Beurtheilung Goethes mit Beziehung auf verwandte Literatur und Kunst, Erster Bd. Wien 1818; Zweite, vermehrte Auflage, Breslau 1820. 66 Schubarth, Bd. 1, 2. Aufl. S. 11 ff. 67 8. Juli 1818. HA Briefe 3, S. 434. 68 FA 17, S. 215, Abs. 683. 69 Hervorhebungen E. H. 70 Tagu. Jahreshefte1807, FA 17, S. 215. 71 Eine vergleichsweise ähnliche Metapher aus dem Bereich des Metallhandwerks wandte Goethe jedoch auch hinsichtlich seiner Paria-Trilogie an, von der er sagte, sie komme ihm selber vor „wie <?page no="125"?> 121 Für solch eine Synthese fällt etwas wie ein Schlüssel in dem früher zitierten Lied des Epimetheus auf Pandoras Kranz (vgl. S. 115): O wie gerne bänd ich wieder Diesen Kranz! Wie gern verknüpft’ ich, Wär’s zum Kranze, wär’s zum Strauße Flora-Cypris, deine Gaben! Die Trauer über das nicht Gelungene, Niegelingende, die sich so vehement ausspricht, läßt leicht eine seltsame Verfugung übersehen, nämlich die Personalunion zweier Gottheiten, die im antiken Mythos absolut nichts miteinander zu tun haben: einerseits Flora, eine sehr alte bodenständige italische Vegetationsgöttin des frühen Jahres, und andererseits Aphrodite, durch die Wahl des Beinamens Kypris betont als dem griechischen Kulturkreis zugehörig vorgestellt, nicht etwa als römische Venus. (Botticellis Primavera-Gemälde, auf dem Flora und Venus miteinander auftreten, hat Goethe nicht gekannt.) Frei verfügt er über den Mythos. Wie er Epimetheus Züge des Orpheus annehmen läßt, oder, umgekehrt, die beiden Titanenbrüder unter gewissen Aspekten (vgl. S. 124) als eine Person erscheinen lassen kann, so schafft er sich aus disparaten Komponenten eine allegorische Figur, um erste, frühlingshafte Liebe zu verkörpern, deren Gaben Blumen sind und Gedichte. Nach eben diesem wie selbstverständlich demonstrierten Muster verfährt Goethe mit der variierenden Mythentradition der Kinder der beiden Brüder. Im Festspiel hat Prometheus einen Sohn, Phileros; Epimetheus hat zwei Töchter: Epimeleia, die in seiner Nähe lebt und ihn umsorgt, und Elpore, die Pandora mit sich genommen hat. Elpore geistert nun als reizendes Sternenwesen durch die Träume des Vaters und auch der Menschen, um sie, wenn auch flüchtig und ohne reale Folgen, zu trösten. Sie scheint jenen Rauchgestalten aus dem ominösen ‚Pithos’ zugehörig, wie es ja auch schon ihr Name andeutet, denn die Hoffnung (griech. Elpis oder Elpore) war es ja, die entsprechend dem Mythos als einzige den Menschen verblieb, je nach Auslegung heilsam oder gefährlich. Im Mythologischen Lexikon des „Magister Hederich“ 72 , dessen „unnachahmliche Naivität“ Goethe festhält 73 , (eine der frühen Ausgaben besaß er), konnte er unter dem Stichwort „Epimetheus“ (Paragraph 4) nachlesen: Seine Gemahlinn war benannte Pandora, mit welcher er die Pyrrha, nachherige Gemahlinn des Deucalions, zeugete. Apollod. lib.I.c.7.§ 2. Andere legen ihm außer der noch die Prophasis und Metamelea zu Töchtern bey. Pindar. Pyth. E. epod.a. v. 7.c. Allem Ansehen nach sind dieß nur ein Paar erdichtete moralische Personen. 74 Der nächste Paragraph nennt „die andere Tochter des Epimetheus, die Prophasis oder „kahle (leere) Entschuldigung“ 75 . Sie wird von Goethe durch Elpore, die eine aus Stahldrähten geschmiedete Damaszenerklinge“, zu Eckermann, 10. November 1823; a. a. O., S, 68. 72 Hederich, a. a. O. 73 Robert Steiger, Goethes Leben von Tag zu Tag, 3. Bd., Zürich 1984. (Gespräch mit F.A. Wolf.) 28. Mai 1795. 74 Hederich, Sp. 1014, § 4. 75 Ebd., Sp.1015, § 6. <?page no="126"?> 122 ‚Hoffnung’, ersetzt, während er Metamelea in Epimeleia verwandelt und so aus der ‚Reue’ 76 die ‚Sorge, Fürsorge’, werden läßt. Lateinisch kannte er den Namen ‚Sorge’ = Cura aus Herders Versübersetzung einer Fabel des Hyginus (Cura, 220), die wie die Mythe von Prometheus, allerdings in ganz allegorischer Weise, ebenfalls die Entstehung des Menschengeschlechts behandelt. 77 In solcher Thematik findet sich der Name Pyrrha für die Tochter des Epimetheus bei Ovid. 78 Einen Hinweis auf ‚Epimeleia’ als sogenannten ‚sprechenden Namen’, zusammen mit einem leisen Nachklang der ursprünglichen Namensform „Metamelea“, findet man noch angedeutet in den Versen: Teurer Vater! Hat Epimeleia Sorg’ um dich getragen manche Tage, Sorge trägt sie leider um sich selbst nun, Und zur Sorge schleicht sich ein die Reue. (v. 558-561) Für ‚Phileros’ als Namen von Prometheus’ Sohn gibt es im tradierten Mythos keinen Anhaltspunkt. Bei der Bedeutungsschwere aller übrigen Namen des Stücks muß man annehmen, daß auch dieser nicht ganz zufällig gewählt, bzw. erfunden wurde. Wilamowitz deutet ihn im Zuge seiner Interpretation des nur als Schema vorliegenden zweiten Teils im Zusammenhang mit Platon und der Akademie. 79 Doch liegt es m.E. in Anbetracht von des Jünglings Schicksal näher, ‚Phileros’ als zwiefachen Hinweis auf Werther zu verstehen. Der Name ‚Werther’ wurde schon einmal als mögliche variierende Übersetzung von ‚ φίλος ’ festgestellt (vgl. S. 29) und damit zugleich als Anspielung auf Lessings Philotas und den Opfertod des Trägers dieses Namens. ‚Phileros’, das ist einer, der die Liebe oder den Eros liebt, der beflügelt ist von dem ekstatischen Lebensgefühl, das der Gott verleiht. ‚Eros’, dieser zweite Teil des Namens, bestärkt die Deutung auf Werther hin, wenn man ihn im Sinne des dritten Abschnitts des Gedichtes An Werther und der ΕΛΡΙΣ -Stanze von Urworte. Orphisch versteht (vgl. S. 37 f.): als Gefühl, das bisher ausgeströmt in die Natur, in den Kosmos, nun ein Ziel gefunden und sich auf ein geliebtes Du konzentriert hat. Solcherart gestimmt und aufs äußerste gespannt, erscheint Phileros als ein noch über Tasso hinaus „gesteigerter Werther” (vgl. S. 79). Seine eigene absolute Hingabebereitschaft verbrieft ihm in seinen Augen das Recht totaler Besitznahme des geliebten Objekts - tot oder lebendig. In seiner Sinnesverwirrung macht er Ernst mit Werthers Anwandlungen, den Rivalen oder die Geliebte oder sich selbst zu ermorden. Er tötet alle drei. Er tut es unbesonnen, unter dem Eindruck vermeintlicher Untreue des Mädchens, gleichsam unter dem Zwang einer höheren Gewalt, und wirkt darum umso tragischer. Epimeleia, mehr noch verletzt an der Seele als an ihrem blutenden Nacken, sucht sühnend den Tod in den Flammen des Brandes, den die Stammesgenossen des getöteten Hirten aus Rache gelegt haben. Prometheus spricht ein Todesurteil über seinen Sohn aus, läßt ihn aber dann laufen mit den Worten: „Bereuen magst du oder dich bestrafen selbst.“ (v. 448) 76 S. ebd., § 5. 77 Vgl. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Goethes Pandora. In: GJb. Bd. 19, 1898, S. 7, Anm. 1. 78 Met. 1, 384-392 ; a. a. O., S. 24 u. 25. 79 Vgl. Wilamowitz, a. a. O., S. 15. <?page no="127"?> 123 In seiner Erwiderung rechtet Phileros mit dem Vater, klagt die Geliebte an, in der er plötzlich Pandora sieht, aber eine Pandora der übelsten Art („Sie bildet’ Hephaistos mit prunkendem Schein, / Da webten die Götter Verderben hinein.“ (v. 472 f.)), um dann nach wilden Anschuldigungen in die Klage auszubrechen: O! sag mir, ich lüge! O sag, sie ist rein! Willkommner als Sinn soll der Wahnsinn mir sein. Vom Wahnsinn zum Sinne welch glücklicher Schritt! Vom Sinne zum Wahnsinn! Wer litt was ich litt? Nun ist mir’s bequem dein gestrenges Gebot, Ich eile zu scheiden, ich suche den Tod. Sie zog mir mein Leben ins ihre hinein, Ich habe nichts mehr um lebendig zu sein. (v. 481-488) Der antike Fuß des Amphibrachys, in dem Goethe verschiedene Aspekte intensivsten Lebens ausdrückt , weist, hier gepaart mit modernem Reim, auf die Zeitlosigkeit der Situation. Keiner der beiden Väter greift rettend in das Schicksal der Kinder ein. Es ist, als ob sie in dem Drama, das unter ihren Augen abläuft, die entscheidenden Momente ihrer eigenen Jugend, in eins gerafft, wieder durchlebten: den Beginn grenzenloser Enttäuschung über die geliebte Frau, beziehungsweise ebenso grenzenloser Trauer über ihren Verlust. Kaum hat Epimeleia danach ihren großen Klagegesang vollendet, verfallen beide Väter in Reminiszenzen an Pandora, als wäre es nicht Pandoras Kind, das da in den Tod läuft, sondern eine flüchtige Traumgestalt wie Elpore, Epimeleias Schwester. Oder wie der Schatten Werthers, mit dem sich der alternde Dichter der Trilogie konfrontiert sieht. Wie Phileros Werthers Ebenbild ist, lassen die Väter Aspekte des älteren Goethe erkennen. Dementsprechend schreibt er selber seinem vertrauten Freund Zelter: Leider komme ich mir wie eine Doppelherme vor, von welcher die eine Maske dem Prometheus, die andere dem Epimetheus ähnlicht. 80 Die beiden Allegoriegestalten sind koexistent im Dichter und lösen einander ab wie Tag und Nacht, als „zwei Seelen“, die „in meiner Brust“ wohnen 81 und in unterschiedlicher Weise Vergangenes zu bewältigen trachten. So hat Goethe-Prometheus 1778 über Goethe-Phileros eine öffentliche Verurteilung ausgesprochen, als er sich in seinem Lustspiel Triumph der Empfindsamkeit als Andrason über den Werther-Roman lustigmachte. 82 Zugleich aber hat Goethe-Epimetheus in eben dieses Stück sein ergreifendes Monodram Proserpina 83 , jene Klage des verlassenen Mädchens im Totenreich, „freventlich” 84 eingeschoben und sich mit dem melancholischen Prinzen identifiziert, der in seiner Gesinnung unerschütterlich beharrt. 80 Brief vom 26. Juni 1811. 81 Vgl. u. a. das ‚Parzenlied’ in Iphigenies großem Monolog, V,4, v. 1726; FA 5, S. 605 f.; Ballade, FA 2, S. 447; Hochzeitlied, ebd., S. 114. 82 An Zelter, 26. Juni 1811; HA Briefe 3, S. 159 f. Vgl. Andreas Wachsmuth, Prometheus und Epimetheus im Selbstverständnis Goethes. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 7. Jg. (1963), S. 234. 83 Faust I, v. 1112. 84 V. Akt; FA 5, S. 111. <?page no="128"?> 124 Für alle drei männlichen Gestalten des „Festspiels“ heißt das Zentrum, um das sie kreisen, Pandora. Selbst Phileros, der sie ja nie gesehen haben kann, glaubt in seiner verstoßenen Freundin, von deren Familie und Abstammung er nichts weiß, Pandora zu erblicken. So fragt er Prometheus: Sag, ist es Pandora? Du sahst sie einmal, Den Vätern verderblich, den Söhnen zur Qual. (v. 471 f.) In dieser Frage treffen wir auf eine Schlüsselstelle des Stücks. Wenn Phileros von „Vätern“ spricht, dann kann er höchstens seinen eigenen Vater meinen, denn Epimetheus’ Ehe mit Pandora ist an diesem Punkt der Entwicklung der Handlung noch nicht einmal Prometheus bekannt, und auch Epimeleia hat offensichtlich nichts über ihre Abstammung verraten. 85 Wenn Phileros des weiteren von „Söhnen“ spricht, kann er wohl nur an sich selbst denken, denn sowohl im Stück als auch im Mythos ist nur von einem Sohn des Prometheus die Rede. So muß es sich zumindest bei „Söhnen“ um einen ,emphatischen Plural’ handeln und bei „Vätern“ implicite dementsprechend auch, womit auf der Ebene des Subtextes die Einheit der beiden Titanenbrüder angedeutet ist. Phileros erscheint klar abgehoben von den aus Ton geschaffenen Geschöpfen seines Vaters. Für ihn gilt eine strengere Ethik und Rechtssprechung als für jene, von denen Prometheus sagt: Entwandelt friedlich! Friede findend geht ihr nicht. Denn solches Los dem Menschen wie den Tieren ward, Nach deren Urbild ich mir beßres bildete, Daß ein’s dem andern, einzeln oder auch geschart, Sich widersetzt, sich hassend aneinander drängt, Bis ein’s dem andern Übermacht betätigte. Drum faßt euch wacker! Eines Vaters Kinder ihr. Wer falle? stehe? kann ihm wenig Sorge sein. (v. 292-299) Mit Phileros hingegen verfährt er ganz anders, da er den Wütenden an der weiteren Verwundung Epimeleias hindert. Ich halte dich! - An diesem Griff der starken Faust Empfinde wie erst Übeltat den Menschen faßt, Und Übeltäter weise Macht sogleich ergreift. Hier morden? Unbewehrte? Geh zu Raub und Krieg! Hin, wo Gewalt Gesetz macht! Denn wo sich Gesetz, Wo Vaterwille sich Gewalt schuf, taugst du nicht. Hast jene Ketten nicht gesehn, die ehernen? Geschmiedet für des wilden Stieres Hörnerpaar, Mehr für den Ungebändigten des Männervolks. Sie sollen dir die Glieder lasten, klirrend hin Und wieder schlagen, deinem Gang Begleitungstakt. Doch was bedarf’s der Ketten? Überwiesener! Gerichteter! Dort ragen Felsen weit hinaus Nach Land und See, dort stürzen billig wir hinab 85 Ebd., S. 65 ff. wie auch S. 98 ff. <?page no="129"?> 125 Den Tobenden, der, wie das Tier, das Element, Zum Grenzenlosen übermütig rennend stürzt. Er läßt ihn fahren. Jetzt lös’ ich dich. Hinaus mit dir ins Weite fort! Bereuen magst du oder dich bestrafen selbst. (v. 431-448) Wilhelm Emrich erklärt die Diskrepanz in der Rechtsprechung des Prometheus damit, daß die Anwendung von Gewalt für ihn ausschließlich dort angebracht sei, wo sie dem Fortschritt diene und den Besitz mehre. 86 Doch scheint es näherliegend, die maßlose Reaktion des Vaters der völlig unvermittelten Begegnung mit Epimeleia zuzuschreiben, die der Pandora so sehr gleicht und, darüber hinaus, der Sonderstellung, die Phileros ganz offensichtlich einnimmt. An ihn werden höhere Ansprüche gestellt. Deutlich erscheint er schon durch Sprache und Versmaße abgehoben vom Chor der Schmiede und Hirten mit ihren zweifüßigen daktylischen Versen oder auch dem der Krieger mit ihren jambischen Monometern. Der Chor repräsentiert, auch wo sich Einzelstimmen aus ihm lösen, jeweils ein Kollektiv, dessen Sprache einfach und dessen Bewußtseinshorizont beschränkt ist. In Phileros’ schwingenden Rhythmen dagegen, die weder auf Anapäste noch Daktylen festzulegen sind, und seiner von stärksten Emotionen durchpulsten Sprache drückt sich die Erlebenskraft einer hochdifferenzierten Persönlichkeit aus. Sein Instrument ist die Leier, im Gegensatz zu den Hirten mit ihren Rohrpfeifen und Flöten. Lieblich, horch! zur feinen Doppellippe Hat der Hirte sich ein Blatt geschaffen, Und verbreitet früh schon durch die Auen Heitern Vorgesang mittägiger Heimchen. Doch der saitenreichen Leier Töne Anders fassen sie das Herz, man horchet, Und wer draußen wandle schon so frühe? Und wer draußen singe goldnen Saiten? Mädchen möcht’ es wissen, […] (v. 503-511) So beschreibt Epimeleia den Beginn ihrer ersten Begegnung mit Phileros, dessen Anderssein und höhere Kunst sie gebannt wahrnimmt als etwas, das ihr gemäß ist, wie denn auch ihr eigener großer Monolog, dem diese Verse entstammen, von starkem und zugleich zartem Empfinden wie von bestrickender Melodik getragen sind; so tönt immer wieder das traurige Echo von „unendlich“ - „endlich“ auf in den klagenden Trochäen: Ach! warum, ihr Götter, ist unendlich Alles alles, endlich unser Glück nur! Sternenglanz und Mondes Überschimmer, Schattentiefe, Wassersturz und Rauschen Sind unendlich, endlich unser Glück nur. (v. 498-502) Wie Phileros sich essentiell von anderen Männern unterscheidet, so unterscheidet sich Epimeleia von ihren Geschlechtsgenossinnen, über die Epimetheus seinem 86 Tag- und Jahreshefte, bis 1780. FA 17, S. 13. <?page no="130"?> 126 Bruder sagt: „Du formtest Frauen, keineswegs verführerisch. / […] Den Mann vorausgedenkend, sie zur Dienerin“ (v. 591 und 593), worauf Prometheus ihm erwidert: „So werde Knecht, verschmähest du die treue Magd.“ Epimetheus unterdrückt seinen Widerspruch. Aber ganz in seinem Sinne nennt Phileros die verletzte Geliebte „die Gebieterin, die mir befahl“ (v. 454) Sie ist so völlig verschieden von allen anderen Frauen, daß einzig der Name „Pandora“ ihr gemäß sein kann (v. 471). Diese beiden exzeptionellen Wesen treibt ein Mißverständnis in den Tod. Da ist keiner, der versuchen würde, es aufzuklären, keiner, der sie zurückhielte auf ihren einsamen letzten Wegen. Epimeleia kehrt noch einmal wieder, um Hilfe für die Menschen in Feuersnot zu holen, sie stößt ihre Schreckensrufe hervor in einem Metrum, das im Deutschen kaum vorkommt, dem ‚Jonicus a minore’ 87 , der die Dringlichkeit der Lage und die Beklemmung vor dem Schrecknis wiederzugeben imstande ist, wie kein anderes: Meinen Angstruf, Um mich selbst nicht: Ich bedarf’s nicht; Aber hört ihn! Jenen dort helft, Die zu Grund gehn: Denn zu Grund ging Ich vorlängst schon. […] Das Gehäg stürzt, Und ein Wald schlägt Mächt’ge Flamm’ auf. Durch die Rauchglut Siedet Balsam Aus dem Harzbaum. […] An das Dach greift’s, Das entflammt schon. Das Gesparr kracht! Ach! es bricht mir Übers Haupt ein! Es erschlägt mich In der Fern’ auch! […] Lieb und Reu treibt Mich zur Flamm’ hin, Die aus Liebsglut Rasend aufquoll. (v. 833-873) Das Element, dem Epimeleia handlungsmäßig und symbolisch deutlich zugeordnet erscheint, ist das Feuer. Aus der von ihr verursachten „Liebsglut“ erwächst die Feuersbrunst, in der sie helfend und sühnend ihren Untergang sucht. Aber auch schon vorher, im ersten Lied des Phileros, wird mit ihrem Bild die rote Farbe, die 87 Vgl. v. 67. <?page no="131"?> 127 Farbe des Feuers, verbunden, wenn Epimeleia die von Eos’ „glühendem Schein“ geröteten Teppiche mit ihren „röteren Wangen“ noch übertrifft (v. 37 ff.), eine Vorstellung, auf die Epimeleia selber in ihrem großen Klagegesang wieder zurückkommt, die also von besonderer Bedeutung sein muß: „Eos wohl wird meine Wange röten, / Nicht an seiner; “ (562 f.). Bei Apollodoros 88 heißt die einzige Tochter von Pandora und Epimetheus Pyrrha. Pyrrhos ( πυρῤός , abgeleitet von πũρ , Feuer), bedeutet ‚feuerfarben’, ,feuerrot’. Goethe hat also beide Mythenstränge (Pandora und die Große Flut) „ineinander gekeilt“ 89 . Hinter dem von ihm selbst bereits abgeänderten allegorischen Namen einer mythischen Person wird die frühere Gestalt sichtbar (wie im Festspiel ja auch der ursprüngliche Charakter der personifizierten Hoffnung als der eines dämonischen Wesens gewahrt bleibt). Pyrrha schiene als Name angemessener für eine Tochter des Prometheus, dessen Symbol im Mythos wie auch im Festspiel ja tatsächlich das Feuer ist. Der Chor der Schmiede preist das Feuer zu Prometheus’ Verherrlichung, dem Anfang wie Ende des Liedes gilt, dessen Refrain sogar noch ein drittes Mal (v. 317 ff.) anklingt: Zündet das Feuer an! Feuer ist oben an. Höchstes er hat’s getan, Der es geraubt. Wer es entzündete, Sich es verbündete, Schmiedete, ründete Kronen dem Haupt. […] Rasch nur zum Werk getan! Feuer, nun flammt’s heran, Feuer schlägt oben an; Sieht’s doch der Vater an, Der es geraubt. Der es entzündete, Sich es verbündete, Schmiedete, ründete Kronen dem Haupt. (v. 168-217) Nur am Rande sei hier auch vermerkt, daß die vergeblichen nächtlichen Bemühungen des Epimetheus, einen Kranz zu vollenden, in der erfolgreichen Schmiedekunst des Bruders, dem die Rundform der Krone gelingt, ein positives Pendant haben. (Corona wie στέφανος - sowohl Kranz als Krone.) Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß der von Goethe erfundene Name Phileros semantisch wie psychologisch auf Werther hinweist. Das Gleiche gilt auch für den Schicksalsablauf des Jünglings und seinen selbstgewählten Tod mindestens bis zu diesem Schritt. 88 Wilhelm Emrich, Goethes Festspiel Pandora, in: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft, Neue Folge, Bd. 24, 1962, S. 38 f. 89 Hierzu, wie zur Metrik des Festspiels Pandora insgesamt, siehe: Robert Petsch, Die Kunstform von Goethes ‚Pandora’. In: Die Antike, 6, 1930, S. 33 ff. Ferner: Gotthard Feustel, Zu Goethes Verskunst im Pandorafragment. In Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jahrgang 12, 1963. <?page no="132"?> 128 Auch hier ist Goethe dem Mythos gefolgt, wobei er diesmal auch nicht zusammengehörige Erzählungen in modifizierter Form „ineinander gekeilt“ hat: In der mythologischen Tradition finden wir einen einzigen namentlich genannten Sohn des Prometheus. Er heißt Deukalion, als seine Mutter wird von einigen Pandora, von andereren Klymene genannt. 90 Ovid läßt eine Najade erzählen, wie Deucalion, von Liebe zu Pyrrha entbrannt, vom Leukadischen Felsen sprang; die Najade empfiehlt Sappho, dasselbe zu tun, um sich von ihrem Liebesleid nach der Trennung von Phaon zu befreien. Unversehrt wie er würde sie den Wassern entsteigen. Dies die Stelle aus Ovids Heroides, Sapphos Brief an Phaon: constitit ante oculos naias una meos. constitit et dixit: quoniam non ignibus aequis ureris, Ambracia est terra petenda tibi. Phoebus ab excelso, quantum patet, adspicit aequor - Actiacum populi Leucadiumque vocant. Hinc se Deucalion Pyrrhae succensus amore misit et inlaeso corpore pressit aquas. nec mora, versus amor fugit lentissima mersi pectora. Deucalion igne levatus erat. hanc legem locus ille tenet. pete protinus altam Leucada nec saxo desiluisse time! 91 Vor meinen Augen stand eine Najade allein: Stand da und sprach: „Weil in unerwiderter Liebe Flammen du glühest, such du Abracien auf. Dort blickt Phoebus von hoch herab auf die Weite des Meeres Welches ‚bei Actium’ heißt oder ‚Leukadisches’ auch. Hier sprang Deukalion, entzündet von Liebe zu Pyrrha, ab in das Meer und doch schlug er dort unverletzt auf. Augenblicklich verließ die Liebe den Untergetauchten, Da ward Deucalions Brust schnell von dem Feuer befreit. Solches Gesetz verbirgt jener Ort. Drum eile zur Insel Leucas und fürchte dich nicht, abzuspringen vom Fels! 92 Für Sappho erwies sich der Felsensprung als tödlich. Seither kehrt er als Topos immer wieder, z. B. in der besprochenen Zehnten Ekloge Vergils (vgl. S. 82 f.), wo Gallus eine solche Möglichkeit erwägt 93 , oder in Torquato Tassos Aminta 94 , wo ein ähnlicher Sprung jedoch zu einer glücklichen Vereinigung mit der spröden Geliebten führt. Auch von daher will der Vers der Elegie „Laßt mich allein am Fels, in Moor und Moos“ verstanden sein, in dem Goethe durch die beiden Nomina am Schluß, auf Gallus weisend, das Wort ,mors’ (Tod) phonetisch andeutet. Für Werther ließ sein Autor durch die Wahl des Mittels keine Chance des Überlebens offen. Für den Dichter selber galten die von Eos nach Phileros’ Felsensprung gesprochenen Worte: „Denn ihn läßt die Lust zu leben nicht den Jüngling untergehn.“ (v. 998 f.) Wie nahe Goethe in seiner Jugend dem Suizid war, kann man in 90 Vgl. Hederich, Sp. 898. 91 Ov. Her. XV, v. 163-172. 92 Übersetzung E. H. 93 Verg., ecl. 10, v. 14. 94 Torquato Tasso, Aminta, IV. <?page no="133"?> 129 Dichtung und Wahrheit nachlesen. 95 (Vgl. S. 389 ff.) Wieder gilt es Schichten ein- und derselben Persönlichkeitsstruktur zu erkennen, deren jede für die jeweils hinter ihr liegende transparent wird (vgl. S. 56): hinter Phileros scheint Werther auf, hinter Werther der junge Goethe und hinter beiden, neu geboren, Deukalion. Die Reihe ist jedoch nicht zu Ende. Aber was sich nun ereignet, wird zuletzt nur durch die Worte der Eos kundgetan, die sie an Prometheus richtet, der wach genug ist, ihr längeres Verweilen wahrzunehmen. Was sich nun vor seinen (und unseren) Augen vollzieht, machte die ursprünglich vorgesehene Fortsetzung des Festspiels redundant. Das heißt mit anderen Worten, die Verjüngung und Apotheose des Epimetheus, die der zweite Teil vorsah, vollzieht sich in der Vergöttlichung des Phileros-Deukalion. Seine Verbindung mit Epimeleia-Pyrrha tritt an die Stelle der von Goethe ursprünglich geplanten durch Priester geweihten Hochzeit von Epimetheus und Pandora. Nur durch insgeheime Identität ist dies möglich, sowie auch der alte Goethe immer noch Werther sein konnte, hatte er doch „immer noch einen Rest jener Leidenschaft im Herzen“. 96 Epimeleia hatte versucht, ihre Mitmenschen vor der Feuersbrunst zu retten, ehe sie sich in die Flammen stürzte, nun erschallen am Ende ihre Hilferufe für den ertrinkenden Geliebten aus dem Munde der Eos. Wie Klärchen dem Egmont, ist sie ihm im Tode vorausgeeilt, um ihm beizustehen. Eos verhält sich anders als sonst. Prometheus erkennt es und stellt sie zur Rede: Was hältst du deinen Fuß zurück, du Flüchtige? Was fesselt an dies Buchtgestade deinen Blick? Wen rufst du an, du Stumme sonst, gebietest wem? Die Niemand Rede stehet, diesmal sprich zu mir! (v. 975-978) Das Wunder geschieht, Eos antwortet. Sie selber weist auf das Außergewöhnliche der Gelegenheit hin: Jugendröte, Tagesblüte, Bring’ ich schöner heut als jemals Aus den unerforschten Tiefen Des Okeanos herüber. (v. 959 ff.) Nun aber gibt Eos das Wort weiter an Epimeleia-Pyrrha, die ,Sorgende’, die ‚Feuerrote’, die sich hinter ihr offenbart und die Siedler der Bucht zu des Freundes Hilfe herbeiruft. Durch ihren Sühnetod in den Flammen hat Epimeleia sich in die Sphäre des Göttlichen erhoben und kann in das Geschick des Geliebten eingreifen. Der von Goethe nur semantisch-symbolisch vermittelte Name Pyrrha deutet, wie bereits gesagt, eher auf eine Tochter des Prometheus als des Epimetheus, und entsprechend ruft sie nun auch Prometheus mit „Vater“ an (v. 528). Zugegeben, daß dies gleichermaßen im Hinblick auf Phileros gemeint sein kann, doch besteht immerhin Ambiguität und die scheint bewußt eingesetzt, um die beiden Titanenbrüder, wiederum verhüllt, als eine Gestalt 97 zu präsentieren, eine Gestalt, die 95 DuW 3, 13; FA 14, S. 634 ff. 96 Eckermann III, 1. Dezember 1831; a. a. O., S. 764. 97 Vgl. Wilhelm Emrich, Goethes Festspiel „Pandora“, GJb. N.F. Bd. 24, Weimar 1962. S. 41 f. <?page no="134"?> 130 beides ist, tatkräftiger Schöpfer und sinnender Geist, wobei im Sohn das epimetheische Geistprinzip deutlicher ausgeprägt erscheint (was vom griechischen Mythos her noch zu korrigieren sein wird). Teils bejaht, teils verurteilt, verkörpert der Sohn eine noch ungespaltene Vor-Form beider Existenzen, der des Tags und der der Nacht, ehe die vermeintliche Katastrophe seines Untergangs einerseits durch extravertierte Hyperaktivität, andererseits durch eine bis zum Autismus gesteigerte Introversion ausgelöst wird. Es handelt sich also bei den drei männlichen Hauptfiguren um eine psychische Trias. Dies geht ganz konform mit Goethes Überzeugung. Denn: Jedes Lebendige ist kein Einzelnes, sondern eine Mehrheit; selbst insofern es uns als Individuum erscheint, bleibt es doch eine Versammlung von lebendigen, selbständigen Wesen, die der Idee, der Anlage nach gleich sind, in der Erscheinung aber gleich oder ähnlich, ungleich oder unähnlich werden können. Diese Wesen sind teils ursprünglich schon verbunden, teils finden und vereinigen sie sich. Sie entzweien sich und suchen sich wieder und bewirken so eine unendliche Produktion auf alle Weise und nach allen Seiten. 98 Dies gilt wie für die Natur auch für die Kunst: Freuet euch des wahren Scheins, Euch des ernsten Spieles: Kein Lebendiges ist Eins, Immer ist’s ein Vieles. 99 Das Fest, das Eos-Epimeleia nun beschreibt, darf Prometheus in innerer Schau miterleben, indem er der Rede der Himmlischen folgt. Auf einer Bühne kann das irdischer Zeit enthobene Geschehen der gottgewollten Wiedergeburt, Metamorphose und Vergöttlichung des Phileros, nicht dargestellt werden: Spielen rings um ihn die Wogen, Morgendlich und kurz beweget; Spielt er selbst nur mit den Wogen, Tragend ihn, die schöne Last. Alle Fischer, alle Schwimmer, Sie versammeln sich lebendig Um ihn her, nicht, ihn zu retten; Gaukelnd baden sie mit ihm. Ja Delphine drängen gleitend Zu der Schar sich, der bewegten, Tauchen auf und heben tragend Ihn, den schönen aufgefrischten. Alles wimmelnde Gedränge Eilet nun dem Lande zu. (v. 1000-1013) Der aus den Fluten wiederersteht, ist ein Gewandelter. Mythische Gestalten werden bildhaft aufgerufen, um seiner Erscheinung gerecht zu werden: 98 Ideen über organische Bildung, Die Absicht wird eingeleitet, 1806-1807); FA 24, S. 392. 99 Epirrhema, FA 2, S. 498. <?page no="135"?> 131 Und an Leben und an Frische Will das Land der Flut nicht weichen; Alle Hügel, alle Klippen Von Lebend’gen ausgeziert! Alle Winzer, aus den Keltern, Felsenkeltern tretend, reichen Schal’ um Schale, Krug um Krüge Den beseelten Wellen zu. Nun entsteigt der Göttergleiche, Von dem ringsumschäumten Rücken Freundlicher Meerwunder schreitend, Reich umblüht von meinen Rosen, Er ein Anadyomen 100 , Auf zum Felsen. - Die geschmückte Schönste Schale reicht ein Alter, Bartig, lächelnd, wohlbehaglich, Ihm, dem Bacchusähnlichen. (v. 1014-1030) Alle zur Schilderung zitierten Gestalten haben mit der Dichtkunst zu tun. Erstmals wird des Dichter-Sängers Arion aus Lesbos (7. Jhdt. v. Chr.) gedacht, der, von verräterischen Matrosen und Sklaven auf See mit dem Tod des Ertrinkens bedroht, durch seinen Gesang rettende Delphine herbeilockte und mit ihrer Hilfe heil ans Ufer gelangte. 101 „Göttergleich“ und „bacchusähnlich“ ist vor allem Orpheus, der selbst die Weihen des Dionysos empfangen und ein ähnliches Schicksal wie der Gott erlitten hat. Nach seinem Tod durfte er die Wiedervereinigung mit der geliebten Gattin erfahren. 102 Unversehens verwandelt sich die Identifikationsfigur des Orpheus in den Gott der Wiedergeburt selbst, der sich mit Thyrsus, Pantherfellen und Beckenklang festlich offenbart. ,Eos’, die „Flüchtige“, „Stumme sonst“, kann nicht enden: Klirret Becken! Erz ertöne! Sie umdrängen ihn, beneidend Mich um seiner schönen Glieder Wonnevollen Überblick. Pantherfelle von den Schultern Schlagen schon um seine Hüften, Und den Thyrsus in den Händen, Schreitet er heran ein Gott. Hörst du jubeln? Erz ertönen? Ja, des Tages hohe Feier, Allgemeines Fest beginnt. (v. 1031-1041) 100 Ein aus dem Meer Auftauchender; fem. ‚Anadyomene’, vor allem Beinamen der Aphrodite. 101 Vgl. Herodot. I, 24; Hyg. Fabulae CXCIV. Nacherzählt in Acerra Philologica, Das erste Hundert 93; a. a. O., S. 182: „[…] Siehe da trägt sich eine wunderliche Geschicht zu: Es kömpt ein Meerschwein herangeschwommen, nimbt den Arionem auff seinen Rücken und führt ihn unverletzt / lebendig und gesund / mit solchem seinem Zierrath und Habit nicht ferne von Corintho an Land.“ 102 Ovid, Met. XI, v. 61-66. <?page no="136"?> 132 Nun aber nach einem mürrischen Einwand des Prometheus gegen Feste, geäußert in seiner gewohnten Sprechweise, dem jambischen Trimeter, ändert Eos plötzlich das Versmaß ihrer Rede. Sie wechselt vom vierhebigen Trochäus, angewandt auch im Lied der Elpore (v. 348 ff.), hinüber zum fünfhebigen, in dem Epimeleias Klagegesang (v. 491 ff.) abgefaßt ist. Rein quantitativ zeigt sich darin keine große Veränderung, die Metren sind eng verwandt, und doch ist ein deutlicher Einschnitt markiert. Der Fluß der Rede verlangsamt sich, gestaut durch eine Vielzahl von Diäresen, der Rhythmus nimmt sich nach den hektisch vorgetragenen vorangegangenen Versen feierlich und getragen aus. Epimeleia, im nun Folgenden als handelnde Person beschrieben, hat ihren Bericht beendet und das Wort weitergegeben. Eos aber, die am Anfang wie am Ende der unter ihrem Namen laufenden Rede sehr wohl ,ich’ zu sagen weiß, wird ebenfalls in der ,dritten Person’ genannt, wenn - im Gegensatz zur eben erfolgten Schilderung der Ereignisse auf der Erde - ihr Blick als nach oben gerichtet hervorgehoben wird. Auf die Frage, wer sich jetzt mit der Kunde der Erfüllung an den Titanen wende, bietet das Gedicht In tausend Formen den Schlüssel: Wenn am Gebirg der Morgen sich entzündet, Gleich, Allerheiternde, erkenn ich dich, (vgl. S. 104.) Mit dem Hinweis auf die „Gabe“ am Ende ihrer Rede gibt sich Pandora selbst zu erkennen: Manches Gute ward gemein den Stunden; Doch die gottgewählte, festlich werde diese! Eos blicket auf in Himmelsräume, Ihr enthüllt sich das Geschick des Tages. Nieder senkt sich Würdiges und Schönes, Erst verborgen, offenbar zu werden, Offenbar um wieder sich zu bergen. Aus den Fluten schreitet Phileros her, Aus den Flammen tritt Epimeleia; Sie begegnen sich, und eins im andern Fühlt sich ganz und fühlet ganz das andre. So, vereint in Liebe, doppelt herrlich, Nehmen sie die Welt auf. Gleich vom Himmel Senket Wort und Tat sich segnend nieder, Gabe senkt sich, ungeahnet vormals. (v. 1045-1059) Nun ereignet sich etwas Seltsames: Prometheus hat eine Wandlung erfahren. Das zeigt sich zunächst einmal am Gang seiner Sprache. Zwar ist er bereits vorher zweimal vom Jambischen Trimeter abgewichen, das eine Mal in der Nachfolge seines Bruders, der Epimeleias Warnruf vor dem Feuer in seiner Reaktion wieder aufnimmt in Maß und Rhythmus (v. 874 ff.), und das erste Mal schon, indem er dem Marschlied der ausziehenden Krieger respondiert (v. 940 ff.). In beiden Fällen handelt es sich um kürzeste Zeilen, die von seiner eigenen Sprechweise völlig verschieden sind. Nie ändert er sie spontan wie Epimetheus, der zu jeder Stimmung den besten metrischen Ausdruck findet. Im Gegensatz zu ihm und auch zu den Frauengestalten des Stücks sprach er bisher nur in steigenden Versmaßen. Nun aber gleitet er hinein in das fallende Metrum der fünfhebigen Trochäen und <?page no="137"?> 133 erweist damit Einklang mit der Sprecherin. Der kritische und melancholische Ton, mit dem er das von ihm geschaffene Geschlecht der Menschen charakterisiert, entspricht weit mehr der Haltung seines Bruders als seiner sonst bekundeten eigenen. Hier manifestiert sich die Identität mit Epimetheus. Diese in der Sprache erwiesene Einheit von Prometheus-Epimetheus und seine Unio mystica mit Pandora, in Ruhe und Einsamkeit erlebt und vollzogen, ist ein Abglanz dessen, was jenseitig und außerzeitlich vor sich geht. Im jugendlichen Helden, der sich durch seinen Sühnetod von aller Schuld befreit hat, konnte die gespaltene Persönlichkeit des Alten zurückfinden zu ihrem ursprünglichen heilen Selbst. Der in Hinblick auf die Menschen ausgesprochene Wunsch gilt auch in eigener Sache: Möchten sie Vergang’nes mehr beherz’gen, Gegenwärt’ges, formend, mehr sich eignen, Wär’ es gut für alle; solches wünscht’ ich. (v.1073-1075) Der stets vorausdenkende Prometheus hat die vergangenheitsbewußte epimetheische Rückschau mit dem eigenen Formwillen verbunden. Die Synthese vollzieht sich in der Erkenntnis und Akzeptanz der Identität nun auch mit der vergöttlichten Jünglingsgestalt, die jenseits des Irdischen mit der Geliebten die Feier des „Hieros Gamos“ begeht. Das letzte Wort hat nun wirklich Eos selbst, die, dieses Mal ohne metrische Absetzung, nach Pandoras Rede, ihren Abschied nimmt: Länger weil’ ich nicht, mich treibet fürder Strahlend Helios unwiderstehlich. Weg vor seinem Blick zu schwinden zittert Schon der Tau, der meinen Kranz beperlet. Fahre wohl du Menschenvater. - Merke: Was zu wünschen ist, ihr unten fühlt es; Was zu geben sei, die wissen’s droben. Groß beginnet ihr Titanen; aber leiten Zu dem ewig Guten, ewig Schönen, Ist der Götter Werk, die laßt gewähren. (v. 1076-1085) Großer Beginn wird den Titanen von Eos zuerkannt. Zugleich aber rät sie auch zur Annahme göttlicher Führung, Mahnung an den offenbar nun einsichtig gewordenen Prometheus. (Die trotzige Haltung der frühen Prometheus-Hymne ist damit zurückgenommen.) Bei der Gestaltung des Phileros hat Goethe Erzählungen des Mythos, die von Prometheus’ Sohn Deukalion berichten, teils ausgebaut, teils aufs äußerste verkürzt und in dieser Form auch wieder „ineinander gekeilt“. Den Sprung vom Felsen aus unglücklicher Liebe zu Pyrrha (vgl. S. 128) hat er motiviert, den Geretteten mit dem legendären Dichter der Frühzeit Arion, ja selbst mit Dionysos, dem Urheber des Dramas, symbolisch identifiziert. Die andere Erzählung kommt weniger durch den Ablauf ihrer Handlung zur Wirkung als durch aus ihr herausgefilterte Teilaspekte, die, symbolisch intensiviert, in das Festspiel eingebracht wurden. Es ist die Geschichte von der Großen Flut. 103 103 Ovid, Met. I, v. 262 ff., a. a. O. S. 22 ff. <?page no="138"?> 134 Im Stück hören wir nichts davon, daß die Freveltaten der Menschen Zeus so sehr erzürnten, daß er beschloß, sie alle zu vernichten. Wir erfahren hier auch nichts darüber, daß Deukalion und Pyrrha 104 die einzigen Menschen waren, die sich aus der großen, von Poseidon im Auftrag seines Bruders Zeus über die Erde geschickten Flut auf den Gipfel des Parnassos retten konnten und, von Zeus als schuldlos befunden 105 , überleben durften: Und die Wasser zogen sich zurück. Bei Ovid lesen wir dann: Redditus orbis erat. quem postquam vidit inanem et desolatas agere alta silentia terras, Deucalion lacrimis ita Pyrrham adfatur obortis: „o soror, o coniunx, o femina sola superstes, quam commune mihi genus et patruelis origo, deinde torus iunxit, nunc ipsa pericula iungunt, terrarum, quascumque vident occasus et ortus, nos duo turba sumus; possedit cetera pontus. haec quoque adhuc vitae non est fiducia nostrae certa satis; terrent etiamnunc nubila mentem. quis tibi, si sine me fatis erepta fuisses, nunc animus, miseranda, foret? quo sola timorem ferre modo posses? quo consolante dolores? namque ego (crede mihi) si te quoque pontus haberet, te sequerer, coniunx, et me quoque pontus haberet. o utinam possem populos reparare paternis artibus atque animas formatae infundere terrae! nunc genus in nobis restat mortale duobus (sic visum est superis) hominumque exempla manemus.” 106 Wiedergeschenkt der Erdkreis. Deucalion sieht seine Leere, sieht die Erde verödet in tiefstem Schweigen liegen, und zu Pyrrha spricht er so unter quellenden Tränen: „Schwester und Gattin, Frau, die einzig übriggeblieben, die mir gemeinsam Geschlecht, vom Vatersbruder die Abkunft, dann das Lager verband und jetzt die Gefahr schon verbindet: Volk für die Erde, soweit der Abend und Morgen sie anblickt, sind wir beide allein, das Übrige schlangen die Fluten. Auch zur Stunde noch dürfen wir nicht vertraun, daß das Leben sicher uns sei, und jetzt noch schrecken Wolken den Sinn uns. Wie wohl wär dir zu Mut, du Ärmste, wenn du dem Unheil ohne mich wärest entrissen? Wie könntest allein du das Bangen tragen? Und wer wohl wäre dein Tröster dann in der Trauer? Denn, dies glaube mir! ich, wenn auch du vom Meere verschlungen, folgte, o Gattin, dir nach, daß auch ich vom Meere verschlungen. O, vermöchte ich doch, mit den Künsten des Vaters die Völker wiederzuschaffen, könnt’ ich geknetete Erde beseelen! 104 Mit Hinweis auf Dionysios in Acerra Philologica, Das fünfte Hundert, 57; a. a. O., S. 375. 105 Ovid, Met. I, v. 322. Non illo melior quisquam nec amantior aequi vir fuit, / aut illa metuentior ulla deorum. - „Besser als er kein Mann, es liebte keiner das Rechte / höher als er, und keine war gottesfürchtger, als sie war.“ A. a. O., S. 22, 23. 106 Ovid, Met. I, v. 348-366. A. a. O., S. 22 ff. und 23 ff. <?page no="139"?> 135 Nunmehr steht auf uns beiden allein der Sterblichen Stamm - so haben die Götter beschlossen - wir bleiben als Zeugen von Menschen! “ 107 In der Not ihrer Einsamkeit wenden sie sich an das Orakel der Themis auf dem Parnaß, worauf ihnen der Rat zuteil wird, mit verhülltem Haupt und entgürtetem Gewand die Gebeine der Großen Mutter, das heißt, wie sie erraten, Steine, hinter sich zu werfen. Aus den Würfen des Mannes entstehen nun Männer, aus denen der Frau Frauen. Auf diese Weise schaffen sie eine neue Generation von Menschen. Die zwei Aspekte, die Goethe aus dieser Mythe herausdestilliert hat, sind einerseits das Wasser, das er von der sogenannten ,Deukalischen Flut’ übrigläßt, und andererseits das Gewimmel der Menschen, das von Eos-Epimeleia zur Rettung oder eigentlich Begrüßung des Phileros herbeigerufen wird: Und an Leben und an Frische Will das Land der Flut nicht weichen; Alle Hügel, alle Klippen Von Lebend’gen ausgeziert! Alle Winzer aus den Keltern Felsenkellern tretend, reichen Schal’ um Schale, Krug um Krüge Den beseelten Wellen zu. (v. 1014-1021) Der aus der Mythe übernommene Aspekt einer nicht-sexuellen Zeugung erklärt auch die Bezeichnung „Anadyomen“ (v. 1026), die in solcher männlichen Form als Epitheton gar nicht existiert, da ,Anadyomene’, die Schaumgeborene, einzig als Beiname der Aphrodite vorkommt. Die Qualität der Schönheit hätte die Ähnlichkeit mit Dionysos allein schon gesichert, die Anspielung auf Aphrodite deutet hier auch auf Fruchtbarkeit. Vor allem aber steht der Name Anadyomen für den, der aus dem Wasser gerettet, schaumgeboren - wiedergeboren, emporsteigt, ebenso wie Epimeleia-Pyrrha ihrerseits aus dem Feuer heil hervorgeht: Aus den Fluten schreitet Phileros her, Aus den Flammen tritt Epimeleia; Sie begegnen sich, und eins im andern Fühlt sich ganz und fühlet ganz das andre. So, vereint in Liebe, doppelt herrlich Nehmen sie die Welt auf. (v. 1052-1057) Die Hineinnahme der Motive der Wasser- und Feuerprobe, gleich denen in Mozarts Zauberflöte, auf die wiederholt hingewiesen wurde 108 , ist unverkennbar. Unversehens verwandelt sich das nach allen Fährnissen wiedervereinte Paar in Tamino und Pamina in ihrer ganzen Glorie. 107 Ebd., S. 22 ff. 108 Vgl. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Goethes Pandora, GJb. Bd. 19, Frankfurt a. M. 1898. S 9. - Walther Migge, Nachwort, in: dtv-Gesamtausgabe, Band 11, S. 320. - Ursula Dustmann, Wesen und Form des Goetheschen Festspiels, Diss. Köln 1963, S. 23. <?page no="140"?> 136 Wie stark Goethe Tamino und Pamina als Archetyp eines zur Einheit gefundenen Paares erlebt hat, zeigen die folgenden Verse aus Hermann und Dorothea, in denen Hermann von einem Besuch in der Nachbarschaft erzählt: Hörte die Töchterchen singen, und war entzückt und in Laune. Manches verstand ich nicht, was in den Liedern gesagt war; Aber ich hörte viel von Pamina, viel von Tamino. Und ich wollte doch auch nicht stumm sein! Sobald sie geendet, Fragt’ ich dem Texte nach, und nach den beiden Personen. Alle schwiegen darauf und lächelten; aber der Vater Sagte: nicht wahr, mein Freund, Er kennt nur Adam und Eva? Niemand hielt sich alsdann, und laut auf lachten die Mädchen, 109 Hans-Albrecht Koch, der diese Stelle in seinem Nachwort zu Goethes Singspielen zitiert, folgert daraus, wie sehr bekannt die Figuren der Oper damals (1796, d. h. fünf Jahre nach der Uraufführung in Wien) bereits gewesen sein mußten, wenn jemand, der von ihnen nichts wußte, verlacht werden konnte. Er weist auch auf die Deutung der beiden Gestalten als Inbegriff des Menschenpaares, da ja Tamino und Pamina mit Adam und Eva gleichgesetzt würden. 110 Was es aber Besonderes mit dieser Deutung auf sich habe, erfahren wir nicht. Zu Goethes Beschäftigung mit der Zauberflöte später mehr. Die Linie, die von der Interpretation der Trilogie der Leidenschaft im Zeichen Pandoras hierher geführt hat, ist deutlich bestimmt durch eine Reihe von Schicksalspunkten, die an den Gestalten der im Festspiel ausgeformten oder angedeuteten Menschenschöpfungsmythen hervortreten: Liebe, Prüfung, Versagen, Schuld, Sühne, Vergebung und Versöhnung bzw. Wiedervereinigung. In der biblischen Erzählung erfolgt die Prüfung durch göttliches Verbot einerseits und andererseits durch die Einflüsterung der Schlange, die Wissen verheißt. Eva erliegt der Neugier und verleitet Adam zum gemeinsamen Sündenfall, aus dem Schuld und Strafe, Vertreibung und Tod, aber auch schließlich die Entstehung des Menschengeschlechts resultieren. Im Festspiel sind es nicht Epimetheus noch auch Prometheus, die den Pithos öffnen, sondern auch wieder die Frau. Ihre Kinder, als Deukalion und Pyrrha, die einzigen Überlebenden der großen Flut, werden auch hier, in mythischer Ausdeutung, zu Stammeltern des Menschengeschlechts. Neben vielem anderen sind auch in die Zauberflöte Mosaiksteinchen des biblischen Schöpfungsberichts eingegangen wie die geschiedenen Reiche von Licht und Finsternis oder die Schlange, die jedoch gleich von Anfang an außer Kraft gesetzt wird. Statt dessen kommt die Verführung Paminas zum Verbotenen durch ihre eigene Mutter, und der Sündenfall der Tochter besteht in der Annahme des Dolches zur Ermordung Sarastros. Ein Schatten hiervon muß auch auf den ihr verbundenen Tamino fallen, wenn dies auch nicht ausgesprochen wird. Vielleicht sind deshalb die Prüfungen, denen sich beide zur Einweihung in den Orden unterziehen müssen, so lebensgefährlich schwer. Die bejahte Sühne tilgt hier die Schuld und das Paar wird zuletzt in Glanz und Herrlichkeit durch Sarastro und die Priester verbunden. 109 Herrmann und Dorothea, 2. Ges., v. 222-229: FA 8, S. 823 f. 110 Koch, a. a. O., S. 318. <?page no="141"?> 137 Als Folie ist diesem geistbeseelten Paar ein völlig irdisches beigegeben, dem in der Oper mindestens ebenso viel Zeit eingeräumt ist: die beiden Paradiesvögel Papageno und Papagena. Ohne Anspruch auf ein höheres geistiges Leben und ohne willig ertragene Prüfung wird auch ihnen auf ihrer Ebene das ersehnte Glück zuteil. Ebenso gelten in Goethes Festspiel Pandora geringere ethische Forderungen für die Menschen aus Prometheus’ Werkstatt als für die gezeugten Kinder Phileros und Epimeleia (vgl. S. 124 f.). Dieses Paar nimmt die Prüfungen durch Wasser und Feuer auf sich wie Tamino und Pamina, um dann in einer gesegneten Stunde vereint in die Sphäre des Göttlichen erhoben zu werden - ein Geschehen, in das ihre Eltern Prometheus-Epimetheus und Pandora zutiefst einbezogen sind und verjüngt mit ihnen einswerden in gemeinsamer Apotheose. <?page no="142"?> 138 4. Der Bräutigam Das so überschriebene Gedicht 1 hat mit manchem anderen von Goethes bedeutenden Gedichten gemein, daß er es jahrelang in Wort und Schrift unerwähnt ließ. Es wurde erst vier oder fünf Jahre nach seiner Entstehung 1829 in der von seiner Schwiegertochter herausgegebenen, privat gedruckten Literaturzeitschrift Chaos publiziert; und dies anonym. (Alles dort Veröffentlichte erschien entweder anonym oder unter Pseudonym.) Zusätzlich zur einzigen Handschrift 2 existiert weder eine Reinschrift noch eine Druckvorlage. Goethe nahm das Gedicht auch nicht auf in die Ausgabe letzter Hand. Man rechnete es früher, entsprechend dem Zeitpunkt der Veröffentlichung, den Dornburger Gedichten zu, doch hat Lieselotte Blumenthal in ihrer eingehenden Analyse des Manuskripts 3 seine Entstehung mit großer Wahrscheinlichkeit für das Jahr 1824 angesetzt, es also in zeitliche Nähe zur Elegie gerückt. Sie verwies auch nachdrücklich auf die Existenz des Titels in der Handschrift; er fehlt in der Weimarer Ausgabe, die sich ansonsten an der Drucklegung in Chaos orientierte, wo jedoch die Interpunktion von der des Manuskripts abweicht. Der hier wiedergegebene Text folgt der Drucklegung in Chaos mit den nachträglich korrigierten Versen 4 und 5, für die ein eigenes Manuskript vorliegt 4 , sowie der Zeichensetzung. D ER B RÄUTIGAM Um Mitternacht, ich schlief, im Busen wachte Das liebevolle Herz, als wär’ es Tag: Der Tag erschien, mir war als ob es nachte, Was ist es mir, soviel er bringen mag. Sie fehlte ja, mein emsig Thun und Streben, Für sie allein ertrug ich’s durch die Gluth Der heißen Stunde, welch erquicktes Leben Am kühlen Abend! lohnend war’s und guth. Die Sonne sank und Hand in Hand verpflichtet Begrüßten wir den letzten Segensblick, Und Auge sprach, in’s Auge klar gerichtet, Von Osten, hoffe nur, sie kommt zurück. Um Mitternacht der Sterne Glanz geleitet Im holden Traum zur Schwelle, wo sie ruht. O sey auch mir dort auszuruhn bereitet, Wie es auch sey das Leben, es ist gut. 5 1 FA 2, 702. 2 B 493 der Sammlung Hirzel, Universitätsbibliothek Leipzig. 3 Lieselotte Blumenthal, Goethes Gedicht „Der Bräutigam“. In: GJb., N.F., 14./ 15. Bd. 1952 / 53, Weimar 1953. S. 108 ff. 4 Goethe-Schiller-Archiv Weimar, bei den Manuskripten zum 3. Akt von Faust II, vgl. L. Blumenthal, a. a. O., S. 120 ff. 5 Chaos I, 3: a. a. O., S. 10. <?page no="143"?> 139 Das Gedicht hat Anlaß zu sehr vielen Interpretationen gegeben 6 , doch soll im folgenden kein Versuch gemacht werden, sie im einzelnen zu referieren, wie dies ja auch sonst nur geschieht, wenn Gedanken aufgegriffen werden. Im Sinne von L. Blumenthal soll die Deutung des Gedichts, wenn auch mit anderer Schlußfolgerung, aus seiner nicht nur zeitlichen Nähe zur Elegie unternommen werden. Die fünfhebigen Jamben führen, wenn auch nicht in Stanzenform, sondern in vierzeiligen Strophen, das Metrum von Elegie und Aussöhnung weiter. Hier ist der jeweils zweite und vierte Reim durchwegs stumpf, ein Versausklang, der auch in der Elegie vorkommt, jedoch nur in der ersten und den beiden letzten Strophen. Die bedeutsamsten Symbole der Elegie sind auch hier wieder vertreten: die Sonne, gerade auch wieder die untergehende (Vers 9) und hernach die im Osten aufgehende, als Gleichnis für den Fortbestand der Menschenseele nach dem Tod. Denn ein naturgesetzlich festgelegtes täglich ablaufendes Ereignis müßte man nicht erst erhoffen, wie der zuletzt zitierte Vers es ausspricht; kongruent dazu Elegie 12,5: „Nun dämmert Hoffnung von bekannter Schwelle“. Ebenso begegnet uns hier auch das Auge wieder (vgl. S. 99 f.), Sinnbild menschlicher Wechselbeziehung und Organ, das Innen und Außen verbindet. Wenn in Aussöhnung (2,5) das Auge, nicht das Ohr, „den Götterwert der Töne“ „fühlt”, so „spricht“ es im Bräutigam-Gedicht von der ewigen Dauer des Bündnisses. Der „Segensblick“ der Sonne weist auf die innere Verwandtschaft von Sonne und Auge, die Goethe ja in der Nachfolge Plotins festgehalten hat. Darüber hinaus zeigt sich aber die ‚Sonnenhaftigkeit’ des Auges auch darin, daß es sich zuzeiten der Umwelt entzieht. Dennoch geht, wenn der Mensch schläft, sein Leben weiter, möglicherweise intensiver sogar und für „das liebevolle Herz“ ersprießlicher, als bei Tag. So sagt es die erste Strophe, und so führt es die letzte fort, indem sie Vers 1, „Um Mitternacht“, wieder aufnimmt und in diese Zeit der Sonnenferne und der geschlossenen Lider die Wanderung zur Geliebten legt, hin „zur Schwelle, wo sie ruht“. Das Sinnbild der Schwelle - „Nun dämmert Hoffnung von bekannter Schwelle“ - kann in der Elegie (Str. 12,5) nur den Tod bedeuten. Dementsprechend meint die „Schwelle, wo sie ruht“ in dem späteren Gedicht nichts anderes als das Grab. (Hätte Goethe, wenn er es anders gewollt hätte, nicht fast gleichlautend, ‚Stelle’ oder irgendein Wort setzen können? ) Das Ruhen der Geliebten, das eigene erhoffte Ausruhen an ihrer Seite, kann zunächst nur als Todesruhe verstanden werden, wie der Beginn der Totenmesse sie erbittet: „Requiem aeternam dona eis et lux perpetua luceat eis“, wobei, in diesem Sinne betrachtet, Goethes aus der heidnischen Antike geschöpfte Deutung der Sonne als Symbol ewigen Lebens ihre Bestätigung findet im Bild der „lux perpetua“ der christlichen Liturgie. „O sey auch mir dort auszuruhn bereitet“, dieser Wunsch rückt den Schlußabsatz der Wahlverwandtschaften ins höchst Persönliche: So ruhen die Liebenden neben einander. Friede schwebt über ihrer Stätte, heitere verwandte Engelsbilder schauen vom Gewölbe auf sie herab, und welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen. 7 6 U. a. zum Beispiel L. Blumenthal, a. a. O., S. 110 ff. oder Walter Müller-Seidel, Die Geschichtlichkeit der deutschen Klassik, Literatur und Denkformen um 1800; Stuttgart 1983, S. 266 ff. 7 FA 8, S. 529. <?page no="144"?> 140 „Wie es auch sey […]“ - der Wunsch wird im Augenblick relativiert. Goethe wußte, daß seinem Leichnam ein Platz in der Fürstengruft zu Weimar bestimmt war. Der Punkt, auf den es ihm wirklich ankam, ist anderswo zu suchen. Darauf soll später näher eingegangen werden. Nicht nur Metrik, Sprachmusik und Symbolik des Bräutigam-Gedichts knüpfen eng an die Elegie an, auch thematisch sind beide Dichtungen eng verbunden. In beiden spricht ein Liebender in der Ich-Form vom Verlust der Geliebten, beschwört Stunden vergangenen Glücks und hofft auf spätere Wiedervereinigung, wobei, wenn man nicht genau hinhört, das kleinere Gedicht mehr auf das Diesseits, weniger auf die Transzendenz gerichtet zu sein scheint. Vieles, das die Elegie wörtlich ausspricht oder durch Zitat einbezieht, wird von ihm, aufs engste verkürzt, wiedergebracht. So verkörpert der Bräutigam beide Aspekte der mittels „Pandora“ ‚eingespiegelten’ Epimetheus-Prometheus-Gestalt. „Der Tag erschien, mir war als ob es nachte“, das könnte Epimetheus sagen. Und anderseits: „[…] mein emsig Thun und Streben / Für sie allein ertrug ichs durch die Glut / Der heißen Stunde“: hier kommt Prometheus zu Wort! Da wie dort werden Grundhaltungen und Stimmungen festgehalten, die dem einen oder dem anderen von ihnen gemäß sind. Und wenn der Trauernde der Elegie klagt: Nun bin ich fern! Der jetzigen Minute, Was ziemt denn der? Ich wüßt es nicht zu sagen: Sie bietet mir zum Schönen manches Gute, Das lastet nur, ich muß mich ihm entschlagen: 8 so führt der Bräutigam die Klage fort: „Sie fehlte mir“ 9 nimmt „Nun bin ich fern“ (19,1) wieder auf. Und wenn er Hoffnung schöpft aus der Erinnerung: Die Sonne sank und Hand in Hand verpflichtet Begrüßten wir den letzten Segensblick, Und Auge sprach, in’s Auge klar gerichtet, Von Osten, hoffe nur, sie kommt zurück. dann entsprechen seine Verse der einstigen Zuversicht von Elegie 3,3: Der Abendkuß, ein treu verbindlich Siegel So wird es auch der nächsten Sonne bleiben. Solche Parallelität von Situations- und Stimmungsgehalten ist bereits bei der Betrachtung von Aussöhnung aufgefallen (vgl. S. 95). Dies würde darauf hindeuten, daß Goethe, ehe er den nachträglichen Gedanken 10 faßte, die Elegie als Mittelstück in eine Trilogie zu setzen, ihr zunächst das Bräutigam-Gedicht nachfolgen lassen wollte. Auch würde dies die bisher nicht befriedigend geklärte römische Zwei in der oberen linken Ecke der Manuskriptseite erklären, für die, laut L. Blumenthal, ein Pendant weder im Goethe- und Schiller-Archiv im Umkreis der entsprechenden Jahre, noch in der Weimarer Ausgabe die Beschreibung eines ähnli- 8 Elegie, Str. 19. 9 Diese Varianten in Chaos. Hervorhebungen E.H. 10 Vgl. Eckermann III, 1. Dezember 1831; a. a. O., S. 764. <?page no="145"?> 141 chen Falles gefunden werden konnte. 11 (Demgegenüber mutet ihr eigener Erklärungsvorschlag der Ziffer als Markierung einer geplanten Zuordnung des Gedichts zum zweiten Heft des fünften Bandes von Kunst und Altertum 12 nicht überzeugend an, da Goethe es ja so lange sekretiert hielt.) Auf der Rückseite des Manuskripts stehen vier Strophen des zweiten Lynceus- Liedes (Faust II, v. 9289-9304), auf deren Datierung die Ermittlung der Entstehungszeit von Der Bräutigam beruht. 13 Dieser wie immer auch zufällige oder lose Zusammenhang mit Lynceus, dem Türmer, weckt die Erinnerung an sein anderes Lied aus dem 5. Akt von Faust II, das ähnlich schließt wie das Bräutigam-Gedicht: Ihr glücklichen Augen, Was je ihr gesehn, Es sei, wie es wolle, Es war doch so schön! 14 Dies sind Worte, die sogleich durch die entsetzte Schilderung der Katastrophe um Philemon und Baucis revidiert werden müssen. Im Bräutigam-Gedicht ist solche Revision schon vorweggenommen. Erinnerung und nächtliches Traumgeschehen können den Gram nicht aufwiegen. Wie ist es dann möglich, daß das Leben dennoch „gut“ genannt werden kann? Die vielumrätselte Stelle löst sich auf, wenn man sie im Lichte der vorangegangenen Symbolik betrachtet und in Sinnzusammenhang mit der Elegie. Bei den Versen: O sey auch mir dort auszuruhn bereitet, Wie es auch sey das Leben es ist gut. erlaubt das Fehlen von Kommata in der Schlußzeile des Manuskripts die Zuordnung des Nebensatzes sowohl zum vorangegangenen Wunsch als auch zur nachfolgenden Aussage über das Leben und gilt, wohl mit bewußt eingesetzter Ambiguität, in jeder der beiden Richtungen: Bezogen auf den Wunsch, neben der Geliebten zu ruhen, drückt das „Wie es auch sey“ die letztliche Unwesentlichkeit seiner Erfüllung aus; mit „Leben“ verbunden, wird die Aussage „wie es auch sei“, gewichtiger. „Gut“ kann das Leben entsprechend der Logik des Gedichts jedoch nur sein, wenn es, wie jenes der erinnerten gemeinsamen Abende, ein Leben ist mit der Geliebten. Hier wird eine Metamorphose erfahrbar: Aus dem „Wie es auch sey“, das sich eben noch auf die Grabstätte und den Tod zu beziehen schien, entwickelt sich, wie der Schmetterling aus dem Kokon, die Idee eines Lebens jenseits des Todes, das, „wie es auch sey“, „gut“ sein wird. Dementsprechend trägt das Wort „Leben“ zwischen all den übrigen einsilbigen Wörtern und auch durch seine metrische Position im Vers einen ganz starken Akzent und kündet so als Jubelruf von künftiger ewiger Gemeinsamkeit mit der Geliebten. Nicht nur Versmaß, Sinngehalt und Symbolik bekunden die enge Zugehörigkeit des Gedichts zur Elegie. Es hilft auch, ein weiteres, bisher nicht besprochenes Glied in der von Goethe aufgerufenen Kette von Dichter-Spiegelbildern aus der 11 Vgl. L. Blumenthat, a. a. O., S. 119. 12 Ebd. S. 120. 13 Ebd. S. 116. 14 Faust II, V, v. 11300 ff: FA 7/ 1, S. 436. <?page no="146"?> 142 abendländischen Tradition zu erkennen. Das Bräutigam-Gedicht erscheint als Nachtrag (man denke an die römische Zwei im Manuskript), aber auch als ein Schlüssel zum Vorhergegangenen. „Ich schlafe, aber mein Herz wacht“, diese Worte aus dem Hohen Lied 5,2 werden in den ersten beiden Versen in leichter Variation zitiert, worauf auch alle Kommentare, zugleich mit einem Verweis auf den 4. Teil von Dichtung und Wahrheit, aufmerksam machen. Wie Müller-Seidel aufgezeigt hat, finden sich auch Parallelen in der Motivik zwischen dem Hohen Lied und Goethes Gedicht, z. B. das abendliche Ausruhen nach einem arbeitsreichen Tage. 15 Goethe hat 1775, im Zusammenhang mit Herders eingehender Beschäftigung mit dem Hohen Lied 16 , eine eigene Übersetzung ins Deutsche verfaßt. 17 Im Oktober schrieb er an Merck: „Ich hab das Hohelied Salomons übersezt welches ist die herrlichste Sammlung liebes Lieder die Gott erschaffen hat.“ 18 Diese aus Vulgata und dem Hebräischen erstellte Übertragung weicht, abgesehen von etlichen Auslassungen und der durch Wortumstellungen stärker rhythmisierten Sprache, wenig vom Lutherischen Text ab. Doch gibt es Ausnahmen, so z. B. Verse 6, 12 f., die bei Luther lauten: Kehre wieder, kehre wieder, o Sulamith, kehre wieder, kehre wieder, daß wir dich schauen. Was sehet ihr an Sulamith? Den Reigen zu Mahanaim. Goethe übersetzt hier: „[…] Daß wir dich sehen. Seht ihr nicht Sulamith wie einen Reihen Tanz der Engel? “ ‚Mahanaim’, eine Dualform, bedeutet ‚Zwei Lager’ oder ‚Zwei Heere’; sein Gebrauch als Ortsname, den Luther einsetzt, erklärt sich aus 1. Mose 32, 2.3: Jakob aber zog seinen Weg; und es begegneten ihm die Engel Gottes. Und da er sie sah, sprach er: Es sind Gottes Heere; und hieß dieselbige Stätte Mahanaim. Herder schreibt in seiner Erklärung des Hohen Liedes zu der oben daraus zitierten Stelle: […] Tanz, Tanz wie der Reigen der Engel, der himmlischen Kriegsheere: mir ist kein Lied bekannt, wo der Tanz so veredelt, so idealisirt wäre. Der Chor ruft ihr zu, daß sie sich wende, sich ihnen wieder zuwende und schaun laße. „Was wollet ihr schaun an Sulamith? “ antwortet sie im Schwunge der Kunst. „Den Tanz der Mahanaim! “ singet der Chor zurück und es erschallet ein Freudenlied, wo jeder Zug nur aus diesem Bilde Leben und Bewegung hernimmt, oder er stünde todt da. 19 15 Walter Müller-Seidel, Zur Geschichtlichkeit der deutschen Klassik, Literatur und Denkformen um 1800. Stuttgart 1983, S. 270 f. 16 Herders Sämmtliche Werke, hrsg. von Bernhard Suphan, Bd. 8, Berlin 1892. S. 485-658. 17 WA I 37, S. 301 ff. 18 An Johann Heinrich Merck, 7. Okt 1775; HA, Briefe I, S. 196. 19 J.G. Herder, Lieder der Liebe, Erstveröffentlichung 1793 anonym erschienen, Leipzig, Weygandsche Buchhandlung, 1878. In Herders Sämmtlichen Werken Bd. 8, S. 485-658, die daraus zit. Stelle: S. 520. <?page no="147"?> 143 Offensichtlich hat Goethe das Bild der tanzenden Sulamith ‚eingespiegelt’ in die siebente Strophe der Elegie, die in diesem und anderem Zusammenhang nochmals (wie auch später wieder) vor Augen gestellt werden soll (vgl. S. 46 ff): Wie leicht und zierlich, klar und zart gewoben, Schwebt, Seraphgleich, aus ernster Wolcken Chor, Als glich es Ihr, am blauen Aether droben, Ein schlanck Gebild aus lichtem Duft empor; So sahst du Sie in frohem Tanze walten Die lieblichste der lieblichsten Gestalten. Wie gewohnt, begnügt sich Goethe auch hier nicht, eine überlieferte Stelle unverändert zu übernehmen. In der Sprachfigur der Hyperbel wird die „seraphgleiche“ Geliebte in ihrer Verschmelzung mit Sulamith, noch über die Seinsweise der Engel, der „lieblichsten Gestalten“, hinaus, gesteigert zu deren „lieblichster“. Die äußerst ungebräuchliche Fügung der beiden aufeinander bezogenen Superlative erweist sich als Fingerzeig und findet so ihre Erklärung. Noch eine andere, sehr wichtige Stelle der Elegie übernimmt ein Bild aus dem Hohen Lied. Es ist das große Treuebekenntnis (Elegie, 10,1 f.; vgl. S. 48) aus der gewaltigen über zwei Strophen hinströmenden Periode: In’s Herz das fest wie zinnenhohe Mauer Sich Ihr bewahrt und Sie in sich bewahret, Unschwer läßt sich hier eine Anspielung auf die Aussage der Brüder im letzten Kapitel des Hohen Liedes erkennen, die sich mit den möglichen Verhaltensweisen der kleinen Schwester befaßt, wenn dereinst um sie geworben wird: Unsere Schwester ist klein und hat keine Brüste. Was sollen wir unserer Schwester tun, wenn man nun um sie werben wird? Ist sie eine Mauer, so wollen wir silbernes Bollwerk darauf bauen! Ist sie eine Tür, so wollen wir sie festigen mit cedernen Bohlen. 20 In seiner eigenen Übersetzung ließ Goethe die letzten sechs Verse (8, 8-14) weg und mit ihnen die zitierte Stelle. In der Elegie hat er sie andeutungsweise nachgetragen mit dem Bild der „zinnenhohen Mauer“, aber nun für sein eigenes Herz, als Gleichnis für dessen Unzugänglichkeit, (im Gegensatz zu dem Bild der Tür, die unpassierbar gemacht werden muß). 21 Mehr hierzu etwas später. Zwischen Goethes Übersetzung des Hohen Liedes und der Niederschrift des Bräutigam-Gedichts verging ungefähr ein halbes Jahrhundert, in dessen Verlauf die biblische Dichtung ihn immer wieder beschäftigte. 22 Im Zusammenhang der Interpretation des Gedichts ist die folgende, dem Artikel Hebräer entnommene Stelle 20 Luther-Text 8, 8 und 9. Zur Übersetzung „Zinne“ statt „Bollwerk“ siehe u. a. Helmer Ringgren und Artur Weiser in: Das Alte Testament, Deutsch, Bd. 16/ 2. Das Hohelied / Klagelieder / Das Buch Esther übersetzt und erklärt. Göttingen 1958. S. 35. 21 Zur Interpretation dieser Verse siehe u. a. K. Budde, Erklärung des Hohelieds, in: Die Fünf Megillot, Freiburg 1898. S. 45 f. - Othmar Keel, Das Hohelied. In: Zürcher Bibelkommentare, hrsg. von Hans Heinrich Schmid und Siegfried Schulz, Zürich 1986. S. 252 f. 22 Müller-Seidel, a. a. O., S. 270 ff. <?page no="148"?> 144 aus Noten und Abhandlungen zum Divan besonders wichtig. Hier heißt es zunächst über die Bibel im allgemeinen: Da wir von orientalischer Poesie sprechen, so wird nothwendig der Bibel, als der ältesten Sammlung, zu gedenken. Ein großer Theil des alten Testaments ist mit erhöhter Gesinnung, ist enthusiastisch geschrieben und gehört dem Felde der Dichtkunst an. Nach einer kurzen Würdigung seiner einstigen persönlichen Belehrung durch Herder und Eichhorn und einem Streiflicht auf das Buch Ruth kommt Goethe auf das Hohe Lied zu sprechen: Wir verweilen sodann einen Augenblick bey dem hohen Lied, als dem zartesten und unnachahmlichsten was uns von Ausdruck leidenschaftlicher, anmuthiger Liebe zugekommen. Wir beklagen freylich daß uns die fragmentarisch durcheinander geworfenen, übereinander geschobenen Gedichte keinen vollen reinen Genuß gewähren, und doch sind wir entzückt uns in jene Zustände hinein zu ahnden, in welchen die Dichtenden gelebt. Durch und durch wehet eine milde Luft des lieblichsten Bezirks von Canaan; ländlich trauliche Verhältnisse, Wein-, Garten- und Gewürzbau, etwas von städtischer Beschränkung, sodann aber ein königlicher Hof mit seinen Herrlichkeiten im Hintergrunde. Das Hauptthema jedoch bleibt glühende Neigung jugendlicher Herzen, die sich suchen, finden, abstoßen, anziehen, unter mancherley höchst einfachen Zuständen. Mehrmals gedachten wir aus dieser lieblichen Verwirrung einiges herauszuheben, aneinander zu reihen; aber gerade das Räthselhaft-Unauflösliche giebt den wenigen Blättern Anmuth und Eigenthümlichkeit. Wie oft sind nicht wohldenkende, ordnungsliebende Geister angelockt worden irgend einen verständigen Zusammenhang zu finden oder hinein zu legen, und einem folgenden bleibt immer dieselbige Arbeit. 23 Im Gegensatz zu Herder, für den, in einer Sammlung von Liebesliedern (Lieder der Liebe der Titel seiner Arbeit) König Salomo und Sulamith das liebende Paar bilden, spricht Goethe von einem „königlichen Hof mit seinen Herrlichkeiten im Hintergrunde“. Doch konnte er, wie er sagt, das „Rätselhaft-Unauflösliche“ nicht entwirren, als das sich die Dichtung ihm darbot, wenn er ihr auch dramatische Vorgänge entnimmt. 1820 hielt er ein Buch in Händen, das die Situation in gewissem Maße änderte. Der junge Theologe Friedrich Wilhelm Carl Umbreit hatte das Lied der Liebe, das älteste und schönste aus dem Morgenlande, „neu übersetzt und erklärt“ 24 und Goethe ein Exemplar gesandt. Auf ihn beruft er sich auch in seiner Einleitung, wiewohl ziemlich allgemein: Auf das hohe Lied scheint […] recht eigentlich zu passen, was Göthe im westöstlichen Divan von der Eigentümlichkeit des ganzen Buches aller Bücher sagt: „daß es uns deshalb gegeben sey, damit wir uns daran wie an einer zweiten Welt, versuchen, uns daran verirren, aufklären und ausbilden mögen.” Das 23 FA 3/ 1, S. 140 f. 24 Friedrich Wilhelm Carl Umbreit, Lied der Liebe, Göttingen 1820. <?page no="149"?> 145 sey unser Wahlspruch für die von neuem gewagte Wanderung durch das alte Paradies der Liebe! - 25 Umbreit meint das Hohe Lied als Drama entdeckt zu haben. 26 Dabei spricht sich bereits Origenes in seiner allegorischen Deutung für diese Form aus 27 . Aber auch in deutschen Landen gab es schon vor Umbreit Versuche, das Hohe Lied als „geistliches Singspiel“ darzustellen. 28 Neu ist die Kombination von dramatischer Form und (im Gegensatz zum gängigen geistlich-mystischen) zu einem „natürlichen“ Verständnis, das im wesentlichen auf Herder zurückgeht, auf den Umbreit sich auch beruft. 29 Bei Umbreit läuft die Handlung folgendermaßen ab: Ein schönes Mädchen, das die Weinberge seiner Brüder zu hüten hat, wird von König Salomo geraubt und von einem geliebten Hirten getrennt, dem sie jedoch trotz Hochzeit mit dem König die Treue zu bewahren weiß, ehe sie wieder zu ihm zurückkehren darf. Der Autor hält Salomo nicht für den Dichter, sondern vermutet, daß der Verfasser ihn als Mittel, sozusagen als Prüfstein der Treue, einsetzt: Wenn er, der größte Meister in der Kunst der Liebe, der mächtige Herrscher über Pracht und Üppigkeit und über alles, was die Stunde nur bethören kann, das schöne Hirtenmädchen von dem Heißgeliebten auf der Flur der Heimat nicht zu trennen und sich geneigt zu machen wußte: wer sonst vermöchte es? Die Unzerstörbarkeit der wahren Liebe war also hoher Gegenstand der dichterischen Begeisterung. Und wie hätte nun gar der stolze Salomo selbst sein vergebliches Bemühen, eine Lilie des Thales in seinen königlichen Garten zu verpflanzen, durch ein Gedicht verewigen mögen? 30 Das zuletzt Vertretene ist nicht unbedingt schlüssig. Goethe geht darauf auch nicht ein, als er das Buch in durchaus lobender Weise in Kunst und Altertum 31 anzeigt. Dennoch treten bei aufmerksamem Lesen klare Divergenzen zutage. Zunächst hält Goethe es für wichtig festzuhalten, daß der Impuls zu Umbreits Auslegung von seinen eigenen, im Divan niedergelegten Gedanken kam, ein Umstand, den Umbreit unerwähnt läßt, obwohl er ja Goethe aus demselben Text zur Bibel im allgemeinen zitiert. Ferner meldet Goethe zwischen den Zeilen Kritik am gezeichneten Handlungsablauf an. Wegen ihrer Bedeutung für das Verständnis des Bräutigam-Gedichts sei die Anzeige, wie sie auf die Angabe von Autor, Titel etc. folgt, in Gänze hierher gesetzt: Im Divan wird der Versuch, in diese Fragmente Zusammenhang zu bringen, zwar wohlgemeint, aber unausführbar genannt. Mich dünkt aber, der Versuch 25 Ebd., S. 3. 26 Ebd. S. 61 und 63. 27 Wilhelm Rudolph, Kommentar zum Alten Testament, Das Buch Ruth, Das Hohe Lied, Die Klagelieder, Gütersloh 1962. S. 94. 28 Ebd., S. 95. 29 Umbreit, S. 7 f. 30 Ebd., S. 68. 31 FA 20, S. 654 ff. <?page no="150"?> 146 ist diesmal glücklich gelungen, und zwar weil er auf die im Divan angegebene Zerstückelung gegründet ist. Um sich im Weiteren von Umbreit zu distanzieren, ohne ihm jedoch öffentlich zu schaden, greift Goethe zu einem Kunstmittel: er zitiert den Autor aus dem Zusammenhang (allerdings mit genauer, und hier einziger, Angabe der Stelle), wobei der Einleitungssatz in Diktion und Formulierung das im Druck hervorgehobene Zitat in Frage stellt: Nämlich als Gegenstand des Ganzen nimmt der Verfasser an: Nur Wonne und Entzücken im vollen Genuße der sinnlichen Gegenwart (pagina 33). Der Abschnitt von Umbreits Abhandlung, dem das Zitat entnommen wurde, ist bemüht, die völlig andere Einstellung zum Erotischen, die von späterer Zeit gänzlich verschiedenen ethischen Maßstäbe des Orients darzulegen und die damalige, vorchristliche Vorstellung von Liebe scharf auch gegen die zeitgenössische romantische abzuheben. So schreibt Umbreit in diesem Zusammenhang: […] Wer eine idealische Liebe der vorchristlich-morgenländischen Poesie zu kennen begehrt, begebe sich in den Myrrhenhain des hohen Liedes. Alles, was man schwärmerische Schwermut nennt, die der Liebe des neueren Europas ihren Grundzug giebt, ist da nicht zu finden. Kein Mondenschein, der durch trübes Gewölk auf die schlummernden Blumen der Erde fällt; kein melancholisch-süßer Nachtigallengesang durch die Stille der Nacht; kein rührender Kampf der Vernunft mit dem Herzen; keine großmüthige Aufopferung zu Gunsten der Geliebten; keine Freude am süßen Schmerz der Entbehrung. Nur Wonne und Entzücken im vollen Genusse der sinnlichen Gegenwart. Das Gefühl der Liebe insofern es auf Begehr und Besitz eines bewunderten Gegenstandes des anderen Geschlechtes sich bezieht, ist da ganz und unvermischt mit einem anderen Gefühle. 32 Goethe fährt in seiner Anzeige des Buches nun so fort, als bezöge sich das Zitierte auf die Handlung. Dies sein mehr oder weniger geheimer Schachzug, um seine Zusammenfassung zu relativieren und den Autor teilweise ad absurdum zu führen: Der besondere Inhalt ist: Ein junges schönes Hirtenmädchen, während es von seinen Brüdern zur Hüterin eines Weinbergs gestellt war, wird in Salomo’s Frauengemach entführt. Der König liebt die schöne Schäferin unaussprechlich und bestimmt sie zu seiner ersten Gemahlin. Aber das Mädchen hat ihre Liebe schon einem jungen Hirten auf den Fluren der Heimat gewidmet. Bei ihm ist sie im Wachen und Träumen, und der Geliebte sehnt sich nach ihr. Nichts hilft es, daß Salomo sie zur ersten Königin einweiht, sie mit aller Pracht und höchsten Liebkosungen umgibt. Sie bleibt kalt, und der König muß sie in ihre Täler wieder ziehen lassen. Die sich wiederfindenden Liebenden besiegeln den Bund ewiger Treue ihrer Herzen unter dem Apfelbaume ihrer ersten süßen Zusammenkunft. Die Anlage und Ausführung ist dramatisch, alle Beteiligten äußern sich unmittelbar, jedes auf seinem Ort, seiner Lage, seinen Neigungen 32 Umbreit, a. a. O., S. 51 f. <?page no="151"?> 147 und Wünschen gemäß. Und so löst sich der epische Unzusammenhang doch in einem Zusammenhange auf. Goethe deutet an, daß Schrecknisse in dem ganzen Geschehen bei Umbreit nicht genannt werden. Entführung in den Harem, Trennung der Liebenden, Zwangsheirat, all dies scheint den Interpreten nicht zu berühren, wird aufgehoben durch den vorausgewußten glücklichen Ausgang des Dramas. Ohne Abstrich jedoch, wenn auch äußerst knapp und nüchtern, faßt Goethes Schlußparagraph zusammen, was sich in Umbreits Ergießungen folgendermaßen liest: Wenn […] der occidentale Ästhetiker, praktisch gebildet an den Werken des classischen Altertums, [das Hohe Lied] seinem critischen Blicke unterwirft, so wird er mit wahrem Entzücken bei dem lebendigen und treuen Ausdruck des heiligen Naturfeuers verweilen, auf dessen wallendem Strome die Herzen der Liebenden sich unaufhaltsam entgegen eilen. Er wird dabei vielleicht gar seine Griechen und Römer vergessen. Aber die Liebenden sind getrennt. Der junge Hirte haucht die Töne der Sehnsucht nach der geraubten fernen Geliebten, im Thale der freien Natur, bei den Heerden, die er hütet, aus. Die entführte Hirtinn preißt im Kreise der Genossinnen des königlichen Gemachs den Seelenfreund der Heimat und wünscht sich zu ihm. Die weit getrennten Liebenden reden mit einander und geben sich Antwort. Wie dringen aus dem tiefen Hirtenthale Worte der Liebe und Sehnsucht zur fernen Höhe des königlichen Gemachs? 33 Den äußeren Ablauf der Handlung scheint Goethe zu akzeptieren, desgleichen die telepathische Kommunikation zwischen den Liebenden. Aber konnte er selber wirklich ihre glückliche Vereinigung annehmen? Mußte er, der Bibelkundige, nicht wissen, daß Salomo, der echte Salomo - Goethe hebt den Namen im Druck hervor - das Mädchen nicht hätte „ziehen lassen“ und schon gar nicht „müssen“. Man kann nicht umhin, an Salomos Verhalten zu denken, als seine Mutter ihn bat, seinem Halbbruder Adonia nach Davids Tode Abisag zurückzugeben. 34 Abisag war, wie man sich erinnert, König David, also dem Vater Salomos, in seinem hohen Alter zur Nebenfrau bestellt worden, damit sie ihn nachts wärme. 35 Nach König Davids Tod hoffte Adonia, daß Abisag zu ihm zurückkehren dürfe. Aber was tat Salomo? Er ließ, zweifellos auch aus politischer Motivation, Adonia erschlagen. 36 Noch viel weniger hätte er Sulamith, eine ihm selbst vermählte Frau, die alle sechzig Königinnen, achtzig Kebsweiber und zahllosen Jungfrauen an Schönheit übertraf 37 , ziehen lassen, es sei denn, sie wäre, wie Goethe sagt, „kalt geblieben“ und zwar in einem allerletzten Sinne. „Denn Liebe ist stark wie der Tod und Eifer ist fest wie die Hölle. Ihre Glut ist feurig und eine Flamme des Herrn.“ (Hld. 8,6.) In der Anzeige von Umbreits Arbeit mußte Goethe, wie distanziert auch immer, hinsichtlich des Handlungsablaufs die Meinung des Autors wiedergeben. Im Bräutigam-Gedicht spricht er seine eigene aus. Doch ist mit Umbreits vorgeblicher Hilfe 33 Ebd., S. 64 f. 34 1 Kön. 2, 19-21. 35 1 Kön. 1, 1-6. 36 1 Kön. 2, 22-25. 37 Hld. 6, 4-8. <?page no="152"?> 148 das Modell des „Bräutigams“ entworfen, also des von der „Braut“ des Hohen Liedes in Wahrheit geliebten Mannes, in dem sich nun wieder ein ‚Spiegelbild’ des Dichters erkennen läßt. Das Gedicht basiert fast zur Gänze auf dem Hohen Lied. Das Zitat daraus in seinen ersten beiden Versen wurde bereits erwähnt (vgl. S. 155), wie auch der Umstand, daß dieselben Worte in Dichtung und Wahrheit aufscheinen. Im letzteren Falle sind sie eingesetzt, um Goethes Beziehung zu „Lili“ zu charakterisieren: Es war ein Zustand von welchem geschrieben steht: „ich schlafe aber mein Herz wacht“; die hellen wie die dunklen Stunden waren einander gleich, das Licht des Tages konnte das Licht der Liebe nicht überscheinen und die Nacht wurde durch den Glanz der Neigung zum hellsten Tage. 38 In beiden Fällen ‚arbeitet’ Goethe mit dem Bibelwort und gibt ihm, entsprechend dem Sinnzusammenhang, in den er es stellt, unterschiedliche Bedeutungen. Im Gedicht folgt er, mit einer Ausnahme, auf die noch zurückzukommen sein wird, der Aussage des Hohen Liedes, die einem Traumerlebnis gilt: dem schlafenden Menschen zeigt sein Herz im Traum seine eigentliche Existenz, seine wahre Zugehörigkeit, im Gegensatz zur ungeliebten Realität. Die Autobiographie hingegen macht den Schlaf zur Metapher; hier umgreift er das gesamte Leben, „die hellen wie die dunklen Stunden“, und das für Goethe sonst so wichtige Erlebnis der Polarität bleibt ausgeklammert. Alles wird diffus, die gesamte Existenz nimmt die Form des Traumes an, der völlig unreflektiert abrollt oder eher: abrollen würde, wäre da nicht auch das wache Herz, das in den in Dichtung und Wahrheit eingeschobenen 39 und etlichen anderen Lili-Gedichten zu Wort kommt, wie vor allem auch in den Briefen an Auguste von Stolberg, die die qualvolle Ungemäßheit seiner beschränkenden und dennoch bedingt bejahten gegenwärtigen Existenz ausdrückten. 40 Eine bei aller Positivität der Aussage ähnlich doppelbödige Stelle im gleichen Buch von Dichtung und Wahrheit, auf die im Zusammenhang mit dem Bräutigam- Gedicht immer hingewiesen wird, reflektiert den Zustand in psychologischer und soziologischer Perspektive: Es war ein seltsamer Beschluß des hohen über uns Waltenden daß ich in dem Verlaufe meines wundersamen Lebensganges doch auch erfahren sollte wie es einem Bräutigam zu Mute sei. Ich darf wohl sagen daß es für einen gesitteten Mann die angenehmste aller Erinnerungen sei; es ist erfreulich sich jene Gefühle zu wiederholen die sich schwer aussprechen und kaum erklären lassen. Der vorhergehende Zustand ist durchaus verändert; die schroffsten Gegensätze sind gehoben, der hartnäckigste Zwiespalt geschlichtet; die vordringliche Natur, die ewig warnende Vernunft, die tyrannisierenden Triebe, das verständige Gesetz welche sonst in immerwährendem Zwist uns bestritten, alle diese treten nunmehr in freund- 38 DuW IV., 17; FA 14, S. 762. 39 Ebd., S. 749 ff. 40 J. W. Goethe, Briefe an Auguste Gräfin zu Stolberg, a. a. O.: Frankfurt, 26. Januar 1775, S. 9 f.; 13. Februar 1775, S. 11 f.; 7- 10. März 1775, S. 13 ff.; 19.- 25. März 1775, S. 17 f.; 15. und 26. April, S. 19; 25. und 31. Juli 1775, S. 20 f.; 3. August 1775, S. 22 ff.; 14.-19. September 1775, S. 26 ff.; Frankfurt 20. September - Weimar 22. November 1775. <?page no="153"?> 149 licher Einigkeit heran und bei allgemein gefeiertem frommen Feste wird das Verbotene gefordert und das Verpönte zur unerläßlichen Pflicht erhoben. 41 Solche Harmonisierung innerer und äußerer Gegensätze entspricht jedoch nur sehr bedingt dem für den Brautstand gültigen bürgerlichen Normbewußtsein des 18. Jahrhunderts. Sie könnte in vollem Umfang höchstens für den eigentlichen Tag der Hochzeit gelten oder für die Ehe. Aber so weit kam es ja nicht in der Beziehung zu Lili. Was Goethe hier mit dieser allgemeinen Betrachtung im Sinn hat, ist unklar; sie paßt nicht in den Rahmen des übrigen Berichts und hat wohl zur Verstimmung von Lilis Nachkommenschaft über das 17. Buch von Dichtung und Wahrheit mit beigetragen. 42 Möglich wäre es, daß Goethe hier eine der Mariane-Erfahrung in Wilhelm Meisters Lehrjahren analoge Situation andeuten wollte. Schließlich wurde ja auch die Begebenheit der im Freien verbrachten Nacht, die in diesem Roman (wie auch schon vorher in der Theatralischen Sendung) eine so wichtige Rolle spielt und katastrophale Folgen mit sich bringt 43 , biographisch verankert. 44 Ein anderer Mann also, der das Verhältnis störte? Oder eher der Versuch, aus einer unrettbaren Situation das Beste zu machen? Tatsächlich paßt die Schilderung der Verlobtenbeziehung, wie sie in der zitierten Stelle durchgeführt ist, zum Teil eher auf den Bräutigam des Hohen Liedes in Goethes Sicht. Auch die feierlichen Eingangsworte vom „seltsamen Beschluß des hohen über uns Waltenden” weisen auf etwas hin, das weit über den auslösenden Anlaß der von außen überraschend bewerkstelligten Verbindung von Goethe und Lili 45 hinausgeht. Die Goethe-Umbreit-Goethesche Interpretation des ‚Liedes der Liebe’ sieht den Bräutigam als tragische Figur. Dementsprechend geht, nach einer Preisung Lilis und ihrer Vorzüge (und einer Leerstelle im Manuskript), der Text in Dichtung und Wahrheit auch folgendermaßen weiter: „Es ist schon längst mit Grund und Bedeutung ausgesprochen: auf dem Gipfel der Zustände hält man sich nicht lange.” Aber war es in der Tat ein Gipfel ? Das Singspiel Erwin und Elmire 46 , das Goethe Lili mit einem kleinen Gedicht 47 widmete, wie auch die vielfach emotional ambivalente Lyrik, die sie inspirierte, sprechen dagegen. Der glückliche Ausgang des Singspiels wird in Dichtung und Wahrheit zurückgenommen mit dem Zitat eben jener Arie, die Erwins tiefe Verzweiflung ausdrückt. Bildet sie im Stück den Wendepunkt hin zur seligen Vereinigung der Liebenden, so vermittelt sie im 19. Buch das Ende der Beziehung. 48 Für die Werher-Situation, die dem schon 1773 begonnenen Stück 49 in Wirklichkeit zugrundeliegt, schien damals noch ein glücklicher Ausgang denkbar und erhofft. Das Singspiel bleibt durchaus gegenwartsbezogen. In Stella 50 hingegen erscheint in der Titelheldin eine verklärte Lili. Hier öffnet sich der Blickwinkel auf die Ver- 41 DuW IV, 17; FA 14, S. 765 f. 42 Vgl. Graf Ferdinand Eckbrecht von Dürckheim, Lilli’s Bild. Nördlingen 1879. S. 10 ff. 43 WMLJ 1, 17. 18; FA 9, S. 426 ff. 44 DuW, a. a. O., S. 762 ff. 45 DuW IV, 17; FA 14, S. 765. 46 Erste Fassung, FA 4, S. 503 ff. 47 Ebd. Den kleinen Strauß. 48 Vgl. DuW IV, 19; FA 14, S. 830 ff. 49 FA 4, S. 954. 50 Erste Fassung, FA 4, S. 531 ff. <?page no="154"?> 150 gangenheit hin. Der geringe tatsächlich erlebte Zeitabstand ist hier auf Jahre vermehrt. Aus weit zurückliegender Vergangenheit taucht eine andere Frau auf, mit älteren Rechten auf den zwischen ihr und Stella hin- und hergerissenen Liebhaber Fernando: seine Ehefrau Cezilie mit der gemeinsamen Tochter Luzie, die durch eine Verkettung unglücklicher Umstände ins Elend geraten und dadurch für ihn unauffindbar geworden waren. Einer Entscheidung ist Fernando nicht fähig, und ‚Ménage à trois’, vorgeschlagen von der Älteren, scheint dem Dichter die einzig mögliche Lösung des Konflikts, ehe er das Stück in zweiter Fassung 51 1806, also fast dreißig Jahre später, bei der Erstaufführung in Weimar, mit Stellas und Fernandos unabgesprochener Selbsttötung als Tragödie enden läßt. 1776 schickte Goethe ein Exemplar des bereits im Druck erschienenen Schauspiels (in der frühen Fassung, natürlich) an Lilis Adresse. Auf dem ersten Blatt waren folgende Verse eingetragen: 52 Im holden Tal, auf schneebedeckten Höhen War stets dein Bild mir nah; Ich sah’s um mich in lichten Wolken wehen, Im Herzen war mir’s da. Empfinde hier, wie mit allmächt’gem Triebe Ein Herz das andre zieht - Und daß vergebens Liebe Vor Liebe flieht. 53 Es sind kryptische Verse. Was sollte Lili ihnen entnehmen? In der Vorgeschichte des Stücks verlor Fernando seine Ehefrau Cezilie, ‚flieht’ dann vor Stella, um seine Frau zu suchen, und kommt, da Zufall oder Schicksal sie alle zur gleichen Zeit am selben Ort (konform den ‚drei Einheiten’ der griechischen Tragödie) zusammenführt, zu keiner Entscheidung, ein Verhalten, das sich im dramatischen Ablauf des Zusammentreffens der Beteiligten, zusammengedrängt auf engsten Zeitraum, in Kreisbewegung wiederholt. Schließlich bringt Ceziliens großmütiger Vorschlag einer harmonischen Dreierbeziehung gemäß der Sage vom Grafen von Gleichen eine höchst ungewöhnliche Lösung. Dichtung und Wahrheit holt wie mit einem Fernrohr eine sehr kleine Zeitspanne aus dem Leben des Dichters aus der Distanz eines halben Jahrhunderts zurück. Bei dem Versuch, dieses Blickfeld in engstem Rahmen möglichst scharf abzuleuchten, bleibt der Scheinwerfer auf Lili zentriert. Das aus nur kurzer zeitlicher und räumlicher Distanz vollendete Drama Stella hingegen rollt, wie bereits angedeutet, eine andere Problematik auf, die sich, wie alles in Goethes Dichtung, persönlicher Erfahrung verdankt. Der hier verarbeitete Lebensausschnitt ist erweitert und bezieht die Schlüsselfigur aus der Vergangenheit mit ein. Es gibt aber einen Text, der nun das Drama selbst sowie sein biographisches Umfeld aus der Distanz etlicher Jahrzehnte, mit erweitertem Radius, wenn auch weniger klar umrissen, abspiegelt. Es ist die Novelle Nicht zu weit aus den Wanderjahren. 54 51 FA 6, S. 519 ff. 52 Vgl. Ernst Beutler, Essays um Goethe II, Wiesbaden 1947, S. 159. 53 FA 1, S. 176. 54 WMWJ 3, 10; FA 10, S. 675 ff. Hier, wie im folgenden, wird auf die 2. Fassung der Wanderjahre (von 1829) Bezug genommen. <?page no="155"?> 151 Die in den Roman eingeflochtenen Novellen lassen sich fast alle als imaginierte, von den realen Verhältnissen abweichende Lebensentwürfe Goethes lesen, also potentiell-autobiographisch. So wäre es gewesen, wenn … Mit der Heranziehung einer solchen Deutung sollen andere Methoden der Interpretation der Meister- Romane, wie die mythologische, die psychologische oder eine Hermeneutik auf der Spur von Allegorie und Symbol, durchaus nicht ausgeschaltet sein. Sie alle haben, je nach der Tiefenperspektive des Blicks, bei der Vielschichtigkeit des Textes ihre Berechtigung. Da aber nach Goethes eigener Aussage von ihm nichts geschrieben wurde, das er nicht erlebt, wenn auch nicht genau so, wie er es erlebt habe (vgl. S. 5), erscheint es legitim, aus den metamorphosierten Gebilden der Phantasie auf die allen Dichtungen gemeinsame Matrix der Vita zu schließen, was dann auch hilft, dunkle Stellen in anderen Texten besser zu verstehen. Hinweise hierfür gibt der Dichter selber. Als ein Beispiel unter anderen möge dienen, wie er im Bericht über die Beziehung zu Friederike Brion das Märchen von der Neuen Melusine 55 erwähnt, das er schon damals seinen Sesenheimer Freunden erzählt haben will. 56 Es ist die in die Wanderjahre eingeflochtene märchenhafte Geschichte eines leichtsinnigen jungen Mannes, der durch Zufall und Zauberei der Gemahl einer Zwergenprinzessin wird und eine Weile in winziger Gestalt zunächst fröhlich, dann mit wachsender Unzufriedenheit ihr Leben teilt, bis es ihm eines Tages gelingt, den Zauberring an seinem Finger durchzufeilen und abzuwerfen, um so wieder seine normale Statur zurückzugewinnen und damit auch einer verpflichtenden Idealvorstellung von sich selbst gerecht zu werden. 57 Ob Goethe tatsächlich schon in seiner Straßburger Zeit, in Voraussicht oder erst rückblickend mit der Ironie des Alters, dieses Märchen als Allegorie für die Vorstellung einer reizvollen, aber auf Dauer unerträglichen Gefangenschaft in der Sesenheimer Enge ersonnen hat, ist in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung. Hier interessiert die Parallele biographischer Potentialität zu der Novelle Nicht zu weit. Der Titel geht auf „Ne quid nimis! “ zurück, die Übersetzung von ‚ Μηδὲν ἄγαν ’, einer Inschrift am Apollo-Tempel zu Delphi 58 . Wieder wird ein kurzfristiges Liebesverhältnis in der Phantasie weitergesponnen zur Ehe, diesmal mit Lili 59 . Sie heißt hier Albertine und weist alle jene Züge auf, die den jungen Goethe an Lili zugleich bezauberten und leiden machten: Gewandtheit und Bedürfnis, sich ständig in großen geselligen Zirkeln zu bewegen und gefeiert zu finden. Als Statthalter in eine entlegene Provinz ‚verbannt’, versucht ihr Ehemann Odoard mit allen Mitteln, ihr die Entfernung aus der Residenz erträglich zu machen. Odoard, kultiviert, intelligent, auch militärisch geschult und überaus begabt, Weltmann und Dichter - Goethes Idealbild seiner selbst - zog sich die Versetzung in die weitab 55 FA 10, S. 633 ff. 56 DuW II, 10; FA 14, S. 485 f. 57 FA 10, S. 655 ff. 58 Erstmals lateinisch nachgewiesen bei Terenz, Andria 61; vgl. Klaus Bartels, Veni, Vidi, Vici, Geflügelte Worte aus dem Griechischen und Lateinischen, 9. Aufl., Darmstadt 1992. S. 110. 59 Anna Elisabeth Schönemann, später verh. von Türckheim, die als „Lili“ in Goethes Dichtung eingegangen ist. Sie unterzeichnete ihre Briefe, mit einer einzigen am genannten Ort geführten Ausnahme, nicht als Lili, sondern als Lise oder Elise. (Siehe Heinz Amelung, Hrsg., Goethes Lili in ihren Briefen, Insel-Bücherei Nr. 255, Leipzig, ohne Jahreszahl. <?page no="156"?> 152 liegende Provinz durch den Verdacht einer Neigung zu einer jungen, am fürstlichen Hofe lebenden auswärtigen Prinzessin, Sophronie, zu, die man gerne mit dem Erbprinzen verheiraten wollte. „Man fand, [Odoard] habe sie in einem Gedichte unter dem Namen Aurora 60 allzu leidenschaftlich gefeiert.“ Aber auch er war auf Widerhall bei ihr gestoßen, äußerte sie doch unvorsichtig ihren Gespielinnen gegenüber, „sie müßte keine Augen haben, wenn sie für solche Vorzüge blind sein sollte“. Durch seine Heirat mit Albertine wurde der Verdacht zunächst beschwichtigt, später jedoch von heimlichen Gegnern wieder aufgeregt, bis er schließlich zu Odoards ‚Verbannung’ führte. So weit die Vorgeschichte. Die eigentliche Handlung ist auf den Abend von Albertines Geburtstag beschränkt. Zu Hause herrscht festliche Erwartung; große Beleuchtung, köstliche Speisen, Verkleidung der Kinder, die Gedichte auswendig gelernt haben, all dies von Odoard bis ins kleineste eingerichtet zur Feier seiner Frau, die ihren Geburtstag mit ‚Hausfreund’ und Freundin bis dahin auf einem auswärtigen Fest verbracht hat. Der Abend war der Familie zugedacht gewesen, aber: sie kommt nicht. 61 Man erinnert sich an Goethes Erzählung im 17. Buch von Dichtung und Wahrheit, wie Lili anläßlich ihres Geburtstags von ihm und ihrem Offenburger Freundeskreis vergeblich erwartet wurde, und ihre späte Absage für den Tag und Zusage für den Abend Goethe dann bewog, ein kleines Stück zu schreiben mit dem Titel Sie kommt nicht, 62 in dem alle Gratulanten mit verteilten Rollen ihre Enttäuschung aussprechen, bis dann Lilis Erscheinen den Höhepunkt des kleinen Dramas bringen sollte. In der Realität scheint der Tag einen glücklichen Ausklang gefunden zu haben. Nicht so in der Novelle, wo sich Odoards Erregung bis zum höchsten steigert und er schließlich nachts das Haus verläßt. Unvermutet wechselt der Erzähler von der ‚dritten Person’ in die Ich-Form 63 : In dem angesehensten Gasthofe sah’ ich unten Licht, klopfte am Fenster und fragte den herausschauenden Kellner mit bekannter Stimme: ob nicht Fremde angekommen oder angemeldet seien? Schon hatte er das Tor geöffnet, verneinte beides und bat mich hereinzutreten. Ich fand es meiner Lage gemäß das Märchen fortzusetzen, ersuchte ihn um ein Zimmer, das er mir gleich im zweiten Stock einräumte; der erste sollte, wie er meinte, für die erwarteten Fremden bleiben. Er eilte, einiges zu veranstalten, ich ließ es geschehen und verbürgte mich für die Zeche. So weit war’s vorüber; ich aber fiel wieder in meine Schmerzen zurück, […] 64 Mittlerweile muß es Mitternacht geworden sein, Geisterstunde. Es kommen tatsächlich drei Fremde an, drei Frauen, denen Odoard nach einiger Verzögerung auch begegnet: eine ältere, eine junge, eine Zofe. 60 Vgl. Faust II, v. 10057-66; FA 7, S. 391 f. (Siehe auch S. 269). 61 WMWJ 3, 10; FA 10, S. 675 ff. 62 DuW IV, 17; FA 14, S.758 f. 63 Als wichtiger Identifikationshinweis von Herder anhand des Vicar of Wakefield hervorgehoben (DuW II, 10; FA 14, S. 467) und von Goethe auch angewandt in Ballade (FA 2, S. 447 f.). 64 WMWJ 3, 10; FA 10, S. 677. <?page no="157"?> 153 Welch’ ein Zusammentreffen! Welch’ ein Anblick! Die sehr Schöne tat einen Schrei und warf sich der ältern um den Hals, der Freund erkannte sie beide, er schrak zurück, dann drängt’ es ihn vorwärts, er lag zu ihren Füßen und berührte ihre Hand, die er sogleich wieder losließ, mit dem bescheidensten Kuß. Die Sylben Au-ro-ra! erstarben auf seinen Lippen. 65 Hier bricht die Handlung um Odoard ab, der Erzähler wendet sich Albertinens Erlebnissen zu. Die Novelle gilt allgemein als fragmentarisch, war von Goethe auch so geplant. 66 Dies mutet seltsam an, bis man erkennt, daß die Gesellschaft, die in dem nächtlichen Geschehen heraufbeschworen wird, fast das ganze Personal von Stella darstellt und mit ihm auch die Handlung des Schauspiels, in die Odoard als Fernando selber eintritt. Viele kleine Details weisen unmißverständlich auf eine Einspiegelung von Stella in die Novelle, so der Gasthof als Ort der Handlung, die Nebenrollen von Postillon, Kellner, Bedientem, bis hin zu Speisen („Bouillon“), die verzehrt werden sollen. Vor allem aber ist die Charakterisierung der Hauptpersonen unverkennbar ein Signal für ihre Identifizierung als Cezilie, Stella und Luzie, welch letztere sogar denselben Namen trägt wie im Stück. Was sich wie eine Gespenstergeschichte anläßt, könnte eine realistische Erklärung finden, wenn man den „angesehensten Gasthof“ als Theater versteht, in dem eine nächtliche reale oder imaginierte Stella-Probe abläuft. Auf der Ebene der potentiellen Biographie (wie auch im realen Leben) wäre eine solche Inszenierung kein weit hergeholter Gedanke für den Theaterdirektor Goethe, der sich als Odoard der Novelle nun erfährt in seiner Rolle als Fernando. (Ein durch Sehnsucht intensiviertes rein mentales Erleben ist gleichfalls plausibel.) Mit dem Abbruch der Novellenhandlung an dem Punkt des Wiedererkennens ist eine Entscheidung markiert, die nun zu den beiden bestehenden variierenden Schlüssen des Stücks eine dritte fügt: zu Ungunsten Stella-Albertines, da sich Fernandos Bindung an Cezilie-Sophronie-‚Aurora’, die Frau mit den (in der Novelle nicht geltend gemachten) älteren Rechten, als die stärkere erweist. Denn Albertine erfährt in dem nun ausschließlich ihr gewidmeten folgenden Teil der Novellenhandlung Zurücksetzung auch von anderer Seite: Der ihr von Odoard zugebilligte „Hausfreund” verrät im ersten Schrecken eines Wagenunfalls, der Albertines verspätete Heimkehr verursacht, seine wahre Liebe zu ihrer Freundin Florine, die er umsorgt, während Albertine sich selbst überlassen bleibt, zunächst am Unfallort und schließlich auch zu Hause. Als Goethe 1830, unmittelbar nach dem Empfang der Nachricht vom Tod seines Sohnes in Rom, an die Ausarbeitung des 17. Buches von Dichtung und Wahrheit ging, lag ihm wohl nichts daran, das wahre Ausmaß der Problematik seiner Beziehung zu Lili klarzulegen. Weder wollte er sie über Gebühr belasten - war er ja doch von ihr bezaubert gewesen -, noch andererseits seine eigene lebenslange Bindung in Worten offenlegen. In Stella und Nicht zu weit! (S. 150 f.) hatte er, auf seine Art, mit großem zeitlichen Intervall, bereits mitgeteilt, was er mitteilen wollte. Von daher fällt denn ein neues Licht auf das bereits in Gänze zitierte Widmungsgedicht in Lilis Exemplar der Stella, (vgl. S. 150): „Empfinde hier, wie mit 65 Ebd. S. 682 f. 66 Kommentar FA 10, S. 1230 zitiert Paralipomenon 5/ WA LV: „Fragment Man wage nicht zu viel”. <?page no="158"?> 154 allmächt’gem Triebe / Ein Herz das andre zieht, / Und daß vergebens Liebe / Vor Liebe flieht.“ Lili konnte diese Verse auf sich beziehen, aber die Aussage betraf eine andere. Dabei ist die Ambiguität noch insofern intensiviert, als „vor Liebe“ zwiefach verstanden werden kann: als zu „flieht“ gehöriges Präpositionalobjekt oder als kausales Adverbiale: ‚aus Liebe’, was für Odoards Heirat mit Albertine zutreffen würde. Als Ergebnis aus dem bisher Gesagten dürfte klar geworden sein, daß Elisabeth Schönemann mit der Braut des Bräutigam-Gedichts nicht gemeint gewesen sein kann. In der Novelle Wer ist der Verräter 67 hat Goethe seine damalige Situation persifliert. Es war ihm möglich, weil die tragikomische Erzählung, wieder ein autobiographischer Text, einen guten Ausgang nimmt: Lucidor liebt die stille Lucinde, soll sich aber nach dem Wunsch der Väter mit der übermütigen Julie verbinden, die ihrerseits jedoch einem anderen zugetan ist. Seine lauten Monologe in einsamen Stunden, in denen er seiner Bedrängnis freien Lauf läßt, werden belauscht und geben Veranlassung für einen Streich, der ihm gespielt wird in Form einer fingierten, von ihm durchaus nicht gewollten Verlobung mit dem ungeliebten Mädchen Julie. Dies leitet schließlich einen Lernprozeß ein, aus dem er selbständiger und mit mehr Eigenverantwortlichkeit hervorgeht. Vor allem aber problematisiert die Novelle das Dilemma des Dichters, der seine Erlebnisse und Gefühle für sich behalten möchte, während sie doch das eigentliche und unverzichtbare Substrat seiner Dichtungen darstellen: Erst sich im Geheimniss wiegen, Dann verplaudern früh und spat. Dichter ist umsonst verschwiegen, Dichten selbst ist schon Verrath. 68 Was verrät das Bräutigam-Gedicht außer dem in der Sprache der Symbolik Ausgedrückten? (Vgl. S. 138 ff.) In Anlehnung an die mittels Umbreits Schrift erstellte Deutung des Hohen Liedes durch Goethe, wie auch an die Novelle Nicht zu weit! läßt sich die Gestalt des „Bräutigams“ umreißen: Er ist ein Mann, der seinem wahren Glück entsagen mußte, aber der ‚Braut’ eine über alle irdischen Belange hinausgreifende, geheime Zugehörigkeit bewahrt, bis zu ihrem Tod und über ihren Tod hinaus, in ständiger Bemühung um geistige Kommunikation mit ihr. Die „Verräter”-Novelle betrachtet solche Haltung ironisierend von außen; Nicht zu weit! erlaubt, sie andeutungsweise mit dem Dichter von innen zu erleben. Seine Bezeichnung definiert den „Bräutigam“ als Partner der „Braut“ des Hohen Liedes, auf dem das Gedicht ja gründet. Im Hohen Liede selber kommt die Bezeichnung nicht vor, hier heißt der Jüngling durchwegs „Freund“. Im Gedicht bezieht er also seine existentielle Definition von der Geliebten, der ‚Braut’. Aber daran nicht genug. Die erste Zeile bereits nimmt einen Ausspruch von ihr auf, „Ich schlafe, aber mein Herz wachet“, aber es eignet ihn dem liebenden Mann zu. Ebenso spricht sie das Wort vom „kühlen Abend“: „Bis der Tag kühl wird, und die Schatten weichen, kehre um, und sei gleich einem Reh, mein Freund, […]“ (Hld. 2,17). Der Bräutigam des Gedichts nimmt ihre Worte auf und er träumt ihre Träume. Denn 67 WMWJ 1, 9; FA 10, S. 363 ff. 68 Hatem, FA 3/ 1, S. 417. <?page no="159"?> 155 der Traum vom nächtlichen, vergeblichen Besuch an der Schwelle der Liebsten ist ihr Traum: Ich schlafe, aber mein Herz wachet. Da ist die Stimme meines Freundes, der anklopfet: tue mir auf, meine Schwester, meine Freundin, meine Taube, meine Fromme; denn mein Haupt ist voll des Taues, und meine Locken voll Nachttropfen. (Hld. 5,2.) […] Und da ich meinem Freunde aufgetan hatte, war er weg und hingegangen. Da ging meine Seele heraus nach seinem Wort. Ich suchte ihn, aber ich fand ihn nicht; ich rief, aber er antwortete mir nicht. (Hld. 5,6.) Im weiteren Verlauf wird Sulamiths Traum zum Alptraum. Der „Bräutigam“ jedoch nennt seinen Traum „hold“, da er ihn „zur Schwelle, wo sie ruht“, 69 führt, obwohl oder gerade weil ihr Grab gemeint ist. Mit dem Wunsch, an ihrer Seite „auszuruhn“, ist eine letztwillige Verfügung getroffen, die nach dem Leben, wenn schon nicht während des Lebens in gemäßer Form möglich, eine tiefe innere Verbundenheit offenbaren sollte. Sie ist auf eine Art abgefaßt, daß Zeit vergehen mußte, ehe das Geschriebene aufgefunden (vgl. S. 475) und das Gemeinte verstanden werden würde. Möglicherweise ist es auch nur als eine, wenn auch vielsagende, Geste zu verstehen, denn das Proviso „Wie es auch sei“, über das bereits gesprochen wurde, macht die Verfügung nicht bindend. Die Vereinigung, auf die es wirklich ankommt, vollzieht sich in der Sphäre der Transzendenz. Und selbst die gegenwärtige Existenz bezieht ja die Geliebte bereits ein. Der Bräutigam nimmt nicht nur ihre Worte auf, träumt nicht nur ihre Träume weiter, er lebt mit seinem Leben auch ihres mit, so die Elegie: In’s Herz das fest wie zinnenhohe Mauer Sich Ihr bewahrt und Sie in sich bewahret, Für Sie sich freut an seiner eignen Dauer, Nur weis von sich wenn Sie Sich offenbaret; Sich freyer fühlt in so geliebten Schrancken Und nur noch schlägt für alles Ihr zu danken. Mit dem Symbol der „zinnenhohen Mauer“ aus Kapitel 8,9 des Hohen Liedes (vgl. S. 143), ist abermals die enge Zusammengehörigkeit von Elegie und Bräutigam- Gedicht dokumentiert. Auch hier geht es um die im Hohen Lied verankerte Charaktereigenschaft und Haltung des Mädchens, die der Liebende aber sich selber zuweist, um das Bekenntnis einer lebenslangen, verborgenen Treue abzulegen. Trilogie der Leidenschaft und Der Bräutigam zielen deutlich darauf ab, einer Geliebten zu huldigen, um die schon der junge Goethe in der Gestalt Werthers trauerte, später in der Rolle Torquato Tassos so wie als Harfner Augustin in den Lehrjahren. Andeutungsweise wird sie mit Thisbe gleich gesetzt und mit deren später Nachfahrin Julia aus Shakespeares Tragödie, jugendlichen Bräuten, die mit dem 69 Werner Keller (Goethes Gedicht Der Bräutigam und die Aldobrandinische Hochzeit. In: German.- Roman. Monatsschrift, N.F., Bd. 18/ 2, 1968, S. 152-171) weist in diesem Zusammenhang auf die Kopie eines antiken Freskos einer Hochzeitsszene hin, der sogenannten ‚Aldobrandinischen Hochzeit’, die eine Wand im Weimarer Goethe-Haus ziert und die Goethe überaus wichtig war. <?page no="160"?> 156 ‚benachbarten’ Freund einen durch elterliches Unverständnis und unglückliche Zufälle verursachten frühen Tod fanden. (Vgl. S. 22 f.) Werther-Romeo stirbt stellvertretend für seinen Dichter, doch dessen wahre Julia stirbt in Person. Wie Sulamith, wie Lycoris, Beatrice und Laura gehörte sie einem anderen Manne an. Vermutlich erfuhr der wie Werther eifersuchtskranke Dichter erst nach ihrem Tod vom vollen Ausmaß ihrer Gegenliebe, ähnlich wie Wilhelm Meister nach dem Tod Marianens. 70 Entsprechend seinem späten Wort für junge Dichter (vgl. S. 61 f.) gab er sich aber nicht lebenslang seinem Schmerz hin, sondern bezog die Tote in sein Leben ein, gewärtig einer Selbstoffenbarung ihrerseits, ob er die nun durch andere Frauen erfuhr, in Wolkenbildungen wahrnahm oder über literarische Werke erlebte, mittels welcher er mit ihr kommunizierte. „Ich bin nur Einer, Einer alles schuldig“ (Tasso, vgl. S. 97), sein ganzes Werk ist also auch ihr Werk. „Zu vielen bildet Eine sich hinüber, / So tausendfach, und immer, immer lieber.“ (Elegie, Strophe 8). Sie befeuert ihn „zu freudigen Entwürfen, / Entschlüssen, rascher Tath” (Strophe 11). „Wenn Liebe je den Liebenden begeistet / Ward es an mir aufs lieblichste geleistet; / / Und zwar durch Sie! “ - Sie wächst mit ihm und über ihn hinaus, wie die Epiphanie der Strophen 13 bis 17 es darstellt. Wenn „Sie Sich“ entzieht, bricht er zusammen wie Orpheus in seiner großen Klage um Eurydike, nachdem er sie zum zweiten Male verloren hatte (vgl. S. 96 f.), oder wie Cornelius Gallus nach dem Verlust von I.ycoris. Goethe feiert sie unter dem Namen Pandora, wie Odoard die ihm versagte Prinzessin unter dem Namen Aurora. Das Festspiel verschmilzt Pandora am Schluß mit Eos, ( , ´ E ως , lat. Aurora) zu einer Gestalt (vgl. S. 199). Die Elegie offenbart „Sie“, die ihm verliehene ,Pandora‘, als den Inbegriff seines Lebens und stellt sie den anderen gefeierten Frauen der überlieferten Dichtung zur Seite. Der „Bräutigam“ hat die abgeschiedene ‚Braut’, hier in der Gestalt von Sulamith, samt deren Sehnsüchten, Träumen und Schmerzen, ganz verinnerlicht - in einer selbstdefinierten, beharrlichen, für Diesseits und Jenseits gültigen Treue. 70 WMLJ 7, 8; FA 9, S. 859 ff. <?page no="161"?> 157 5. Namen, Parechese und Paronomasie, Buchstaben Setze mich wie ein Siegel auf dein Herz und wie ein Siegel auf deinen Arm. Denn Liebe ist stark wie der Tod […] (Hld. 8,6). Um wieder auf die Trilogie der Leidenschaft zurückzukommen: Ihre einzelnen Teile sind miteinander verklammert, nicht nur durch das Motto, sondern auch mit einem gemeinsamen Siegel versehen durch das Reimwort „verloren“ an gewichtiger Stelle. (Vgl. S. 17.) Zum Bleiben ich, zum Scheiden du erkoren, Gingst du voran - und hast nicht viel verloren. So schließt Abschnitt 1 des Gedichts An Werther (siehe auch S. 18). Von hier aus spannt sich ein Bogen zur letzten Strophe der Elegie: Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren, Der ich noch erst den Göttern Liebling war; Sie prüften mich verliehen mir Pandoren, Wie ein Echo nach dem knappen Intervall nimmt bereits die erste Strophe von Aussöhnung den Reim wieder auf, aber in Umkehrung (vgl. S. 95) gegenüber der Stelle im Werther-Gedicht: Die Leidenschaft bringt Leiden! - Wer beschwichtigt Beklommnes Herz das allzu viel verloren? Wo sind die Stunden, überschnell verflüchtigt? Vergebens war das Schönste dir erkoren! Das „nicht viel“, das Werther durch seinen Tod entgangen ist, wird konfrontiert mit dem „allzu viel“ desjenigen, der die Katastrophe immer neu durchleben muß: den Verlust des „Schönsten“, das den allegorischen Namen „Pandora“ trägt. Es ist bereits wiederholt auf Goethes Musizieren mit symbolträchtigen Lautverbindungen hingewiesen worden (vgl. u. a. S. 35 ff.). Hier nun geht es um den Zusammenklang von ‚o’ und ‚r’, jener Chiffre, die man herausdestillieren kann aus den bedeutungsschweren wiederholten Reimpaaren mit „verloren“, bei deren einem der Name von „Pandoren“ das zwiefach gesetzte „erkoren“ vertritt. In Goethes Dichtung finden sich immer wieder Namen, die mit „Dor“ beginnen. Vor allem wird man an Herrmann und Dorothea denken sowie an die Elegie <?page no="162"?> 158 Alexis und Dora. Das Gedicht Nachgefühl gipfelt im Namen „Doris“ 1 . Aber auch schon ein frühes Gedicht aus der Annette-Sammlung hebt an: „Ich sah, wie Doris bei Damoeten stand“ 2 , ein anderes, ebenfalls frühes, spricht von „Dorilis“ 3 . Doch auch ohne das vorangehende ‚D’, also nicht gebunden an das Etymon δῶρον , spielt ‚or’ 4 eine wichtige Rolle als Klangkomponente von Namen, so z. B. der beiden Leonoren in Tasso. Mit „Chlorinde“ (vgl. S. 106) durchzieht es, verbatim oder unterschwellig, die Lehrjahre. In „Florine“, aber vor allem dem Decknamen „Aurora“ markiert es in zweierlei Zusammenhängen der Novelle Nicht zu weit (vgl. S. 151 ff.) jeweils eine heimlich geliebte Frau. „Or“ ist nicht auf Frauennamen, wie den der implizierten Lycoris, beschränkt. Ebenfalls ohne Nennung taucht es in der Trilogie, zweimal mit dem Torquato Tasso-Zitat auf (vgl. S. 31 f), mit „Orest“ (vgl. S. 55 f.), mit „Horaz“ (vgl. S. 62 ff.), mit Cornelius Gallus (vgl. S. 81 ff.), mit „Orpheus“ (vgl. S. 96 f.) - durchwegs Identifikationsfiguren. ‚Or’ in seinen verschiedentlichen Verbindungen ist als Leitmotiv zu verstehen oder auch in dem Sinne, wie Komponisten Notenbuchstaben in ihre Werke einzuwirken pflegen, um geheime Bezüge dem Kundigen zu vermitteln. Von Petrarca konnte Goethe paronomastische Spiele lernen, oder parechetische, dort wo das Etymon dem reinen Klangspiel weicht, wie in „l’aura“, „l’auro“, „l’oro“ (vgl. S. 61). Aber Goethe geht auch hier über seinen Lehrmeister hinaus, er hält sich nicht an Nomina, sondern wirkt das Destillat der beiden Buchstaben in möglichst viele Wörter ein, sogar und mit Vorliebe in Adverbien und Präpositionen. Im ersten Abschnitt des Gedichts An Werther erscheint es neben dem erwähnten Reimpaar „erkoren“ - „verloren“ in „hervor” (z. 2) und „voran“ (letzte Zeile), im dritten Abschnitt im Reimpaar „Flor“ - „empor“. Die Elegie führt das Spiel weiter: „Himmelsthor“ „empor“ (1, v. 5 und 6); „Pforte“ (4, v. 6); „Vorwurf, Sorgenschwere“ (5, v. 5), „Chor“ „empor“ (7, v. 2 und 4), „dort“, „dort“ (8, v. 3 und 4); „Pforten“ (9, v. 1). In Strophe 15, die inhaltlich stark an Petrarca gemahnt, tritt an markanter Stelle fünfmal das Wort „vor“ auf, angekündigt bereits im letzten Vers der vorangegangenen Strophe: „wenn ich vor Ihr stehe“. Vor Ihrem Blick, wie vor der Sonne Walten, Vor Ihrem Atem, wie vor Frühlingslüften, 5 Zerschmilzt, so längst sich eisig starr gehalten, Der Selbstsinn tief in winterlichen Grüften; Kein Eigennutz, kein Eigenwille dauert, Vor Ihrem Kommen sind sie weggeschauert. 1 FA 1, 648 f. 2 FA 1, S. 72. 3 „Stirbt der Fuchs, so gilt der Balg”, FA 1, S. 279. 4 Zur Buchstabenkombination ‚or’ vgl. auch Manfred Koch, Namen in Wilhelm Meisters Lehrjahre in Germanisch-Romanische Monatsschrift, Neue Folge, Bd. 47 (1997), hrsg. von Conrad Wiedemann, Heft 4. S. 410. 5 Mit „Frühlingslüften“ ist hier auch noch semantisch auf Petrarcas ‚(l’)aura’ verwiesen. <?page no="163"?> 159 Und nochmals „vor“ in der folgenden Strophe (v. 5) nach „Morgende“ (v. 4), ferner deuten „Fort“ (20, v. 1), „Moor“ (22, v. 2); , „forscht“ (22, v. 5) voraus auf „verloren” - „Pandoren“ der letzten Strophe. In Aussöhnung findet sich nach dem erwähnten Reimpaar „verloren“ - „erkoren“ in Vers 5 noch „hervor“ in der folgenden Strophe. All dies ist ein Fingerzeig. Wie sich erweisen wird, ging die Chiffre, abgesehen von ‚Pandora’, ursprünglich auch von einem Namen aus, der sie in sich birgt. Die spontane Niederschrift von Versen der Elegie während der Rückfahrt nach Weimar 6 schließt nicht aus, daß Goethe sich mit dem Stoff der Dichtung nicht schon jahrzehntelang innerlich beschäftigt hätte, wie er es für andere Gedichte im Aufsatz Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort 7 von 1823, dem Entstehungsjahr der Elegie, bekundete. Unter all den vielen Wörtern, die in assoziativer Anlehnung an Petrarca, sprachspielerisch ins Italienische oder Lateinische übersetzt, ‚or’ enthalten, wäre Herz (‚cuore’, ‚cor’) am häufigsten vertreten. Sechsmal erscheint es in der Elegie, zweimal in Aussöhnung. Dies ist kaum ein Zufall. Auch dürfte es kein Zufall sein, daß in der gesamten Trilogie ganz bestimmte Konsonanten, vielfach in Mischung, gehäuft im Anlaut auftreten. Es geht nicht an, sie allein auf Alliteration als Stilmittel festzulegen, denn bei den zahlreich vorhandenen zusammengesetzten Wörtern kämen hierfür oft zwei oder sogar mehr anlautende Konsonanten in Frage. Auch beschränken sich solche Buchstabenfolgen meist nicht auf einen Vers, sondern wirken aus der Horizontale auch noch vertikal weiter, so daß ein Netz alliterativer Bindungen mit antizipatorischem wie retrospektivem Bedeutungsbezug entsteht. Die am häufigsten als Anlaut besonders wichtiger Wörter auftretenden Konsonanten sind: - ‚f’(german. ‚v’ als klangidentisch mitgerechnet), hierfür soll später eine Erklärung versucht werden. - ‚g’ (in Vorrangstellung), - ‚l’, - ‚s’ bzw. ,sch’ - ‚w’ (in Vorrangstellung). - ‚t’, Mit Ausnahme von ‚s’ und ‚sch’, auf die ebenfalls noch zurückzukommen sein wird, sind es Konsonanten, mit denen die Namen ‚Wolfgang’ und ‚Goethe’ gebildet sind. Um den Nachweis dieser Sprachmuster zu erbringen, müßte man die ganze Dichtung zitieren. Jedermann kann es selbst nachprüfen. Dennoch seien ein paar Beispiele herausgegriffen: Der erste Vers des Gedichts An Werther hebt bereits das ‚W’ der Initiale alliterierend hervor: „Noch einmal wagst du, vielbeweinter Schatten“; der erste Abschnitt führt die genannten Buchstaben in ihrer Gesamtheit im Anlaut ein. Der folgenden Abschnitt bringt ‚l’, ‚g’, ‚w’ und nochmals ‚g’ in starker Betonung. Der dritte ist ganz auf ‚g’, ‚w’ und ‚f’ gestimmt; ‚f’, ‚w’ und ‚sch’ charakterisieren den vierten, während der letzte wieder die betreffenden 6 Vgl. Christoph Michel in: Goethe, Elegie von Marienbad, Frankfurt a.M. 1991, S. 105. 7 FA 17, S. 596. <?page no="164"?> 160 Konsonanten in ihrer Gesamtheit bringt und als Pendant zur ‚w’-Alliteration des ersten Verses markant mit alliterierendem ‚g’ schließt: „Geb ihm ein Gott …“, aufgenommen in „Gab mir ein Gott …“ des Mottos. Für Elegie und Aussöhnung gilt das gleiche Buchstabenschema. Gewiß treten gelegentlich auch andere Alliterationsstrukturen auf, z. B. in Strophen 20 und 22, jedoch nie in annähernder Massiertheit. ‚S’ und ‚sch’ sowie ‚l’ gewinnen nun an Bedeutung, das letztere beispielsweise in Strophen 9 und 11, ‚s’ und ‚sch’ in der dazwischen liegenden Strophe 10, auf die, aus stets neuer Perspektive, immer wieder zurückzukommen ist. (Vgl. S. 49 und S. 143 f.) In’s Herz das fest wie zinnenhohe Mauer Sich Ihr bewahrt und Sie in sich bewahret, Für Sie sich freut an seiner eignen Dauer, Nur weis von sich wenn Sie Sich offenbaret, Sich freier fühlt in so geliebten Schrancken Und nur noch schlägt für alles Ihr zu danken. Ähnlich auch schon in Strophe 7: So sahst du Sie [wie Sulamith] in frohem Tanze walten, (vgl. S. 46 und S. 142 ff.); des weiteren in Strophe 12: Sie selbst erscheint in milder Sonnenhelle; oder in Strophe 16, Worte der ‚Herrin’ in der Persona Leuconoes: Die Sonne sanck und sah noch was mich freute. ‚T’ wiederum kommt in Aussöhnung, Strophe 2, zur stärksten Entfaltung: „Tön’ um Töne“ (v. 2) und in ihrem letzten Vers: „Den Götterwert der Töne und der Tränen.“(Vgl. S. 96.) Gewiß darf man nicht annehmen, daß solche eingearbeitete Buchstaben-Chiffren beim Entstehen der Dichtung völlig bewußt und zielgerichtet eingesetzt wurden. Sie entstehen, rätselhaft, wie bei allen großen Kunstwerken aus der zutiefst inneren Einheit von Form und Gehalt. Um zunächst bei den die Goethe-Namen mitformenden Konsonanten zu bleiben, so hätte er mit ihnen künftigen Diskussionen um ‚Autor-Ich’ bzw. ‚Narratives’ oder ‚Lyrisches Ich’ den Wind aus den Segeln genommen und die Dichtung mit den eigenen Namen gesiegelt! Nicht nur in seinen frühen Jahren war er, „nach Menschenweise, in <s>einen Namen verliebt“ 8 gewesen. So erinnert er sich noch in Dichtung und Wahrheit nicht ohne Groll an eine kleine Begebenheit zwischen sich und Herder. Herder hatte ihn in Versform um die Leihgabe gewisser Bücher ersucht und dabei so geschlossen: „Der von Göttern du stammst, von Goten oder vom Kote, / Goethe, sende mir […]“ Noch vier Jahrzehnte später merkt Goethe hierzu an: Es war freilich nicht fein, daß er sich mit meinem Namen diesen Spaß erlaubte: denn der Eigenname eines Menschen ist nicht etwa wie ein Mantel, der bloß um ihn her hängt und an dem man allenfalls noch zupfen und zerren kann, sondern ein vollkommen passendes Kleid, ja wie die Haut selbst ihm über und 8 DuW II, 7; FA 14, S. 305. <?page no="165"?> 161 über angewachsen, an der man nicht schaben und schinden darf, ohne ihn selbst zu verletzen. 9 Vielleicht war Goethe auch deshalb so betroffen, weil Herder den tatsächlichen etymologischen Ursprung des Namens nicht erkannt oder zumindest nicht genannt hatte. Denn neben vielen anderen Varianten wie Göde, Gödecke, Gödtke, Gohde, Gädtke u. a. m. geht der Name Goethe auf Godefrid (Gottfried) zurück. 10 Gottfried war aber, neben Johann, Herders eigener Vorname und hätte von ihm auch in der Weiterbildung der Kurzform im Nachnamen des Freundes erkannt und anerkannt werden müssen, so wie Goethe selbst in späten Jahren eines entfernten ‚Namensvetters’ gedenkt, der seine Verehrung für Pindar teilte. Ohne die etymologische Voraussetzung der Namensverwandtschaft wäre das folgende Distichon völlig unverständlich: G EDIKES P INDAR Wunderlich finden zuweilen sich menschliche Namen zusammen, Von Herrn Gedikes Hand liest man hier Pindarn verdeutscht. 11 Natürlich ist es auch nicht bloßer Zufall, daß Goethes erstes großes Drama eine Identifikationsfigur mit Namen Götz (= Gottfried) zum Protagonisten hat. Erst wenn man dieser etymologischen Gegebenheit nachdenkt, wird das Gedicht Beyname 12 aus dem Buch Hafis des West-östlichen Divan voll verständlich (vgl. S. 432). Ehe Hafis hier die an ihn gerichtete Frage nach seinem Beinamen beantwortet, spricht er dem neueren Dichter Lob und Erwiderung der Frage aus. Diese Erwiderung kann sich nur auf einen „Beinamen“ auch des westlichen Dichters beziehen, auch bei ihm auf den dritten Namen, der in jedem der beiden Fälle die besondere Bedeutung in sich birgt. ‚Hafis’ heißt ‚Der (den Koran) auswendig Wissende’. Auf die unveränderte Bewahrung des heiligen Vermächtnisses kommt es an: „Darum gab man mir den Namen.“ Mit dem Anspruch, Hafis ‚vollkommen zu gleichen’, bekennt sich Goethe mit der Deutung seines Nachnamens als ‚Gottfried’ unter Berufung auf „unsrer heilgen Bücher / Herrlich Bild“ zur ursprünglichen, unverfälschten Lehre Christi, des „Herrn“, mit seinem zentralen Anliegen des Friedens, im Gegensatz zu all den Mißständen, von denen die Geschichte der Christenheit und die Kirchengeschichte vielfach gezeichnet sind. 13 Das Bild des Herrn hat der Dichter in sich aufgenommen, so wie das Schweißtuch der Veronika das ‚wahre Bild’ (‚verum eikon’ 14 ) festhält. Man erinnere sich an Goethes Worte zu Kanzler von Müller, mit denen er sich als Christen im Sinne Christi bekennt (vgl. S. 58). So sagt es das Gedicht Beyname. […] 9 DuW II, 10; FA 14, S. 443 f. 10 Vgl. Hans Bahlow, Deutsches Namenslexikon, Familien- und Vornamen nach Ursprung und Sinn erklärt, München 1980, S. 181 f. (178). 11 FA 1, S. 590. 12 FA 3/ 1, S. 28. 13 Vgl. Zahme Xenien IX, „Glaubt nicht daß ich fasele, daß ich dichte“, FA 2, S. 737. 14 Volksetymologische Erklärung des griech. Namens Pherenike. <?page no="166"?> 162 D ICHTER Hafis, drum, so will mir scheinen, Möcht’ ich dir nicht gerne weichen: Denn wenn wir wie andre meynen, Werden wir den andern gleichen. Und so gleich ich dir vollkommen Der ich unsrer heil’gen Bücher Herrlich Bild an mich genommen, Wie auf jenes Tuch der Tücher Sich des Herren Bildniß drückte, Mich in stiller Brust erquickte, Trotz Verneinung, Hindrung, Raubens, Mit dem heitren Bild des Glaubens. „In stiller Brust“, allein und für sich, „erquickte“ sich der Dichter „mit dem heitern Bild des Glaubens” 15 , also nicht mit dem des gekreuzigten, sondern mit dem des lebendigen, ‚hilfreichen und guten’ 16 Herrn, dessen Lehre die Nächsten-, ja sogar die Feindesliebe fordert und dessen innigstes Segenswort an seine Jünger in dem Vermächtnis bestand: „Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch.“ 17 Als einen solchermaßen Gesegneten weiß sich der westliche Dichter, der nun seinerseitst seinen ‚ererbten’ Namen sich ganz zu eigen macht (ihn ‚erwirbt’ 18 ) und als für sich bindend erkennt. (Hier nun die nachgetragene weitere Erklärung zur Letter ‚f’ für -fried und Frieden.) Wendet man sich vor dem Hintergrund dieser Überlegungen nun wieder den Strophen 13 und 14 der Elegie zu (vgl. S. 57), erscheinen sie in einem wieder anderen Licht. Die Distanziertheit des Predigttons, die den Sprecher zunächst auszuschließen schien, enthüllt sich nun als Bescheidenheit, die das Wissen um die eigene Eingebundenheit beiseite läßt und nur von den anderen ausgeht, wobei freilich nach wie vor der Vernunft ihr Recht gewahrt bleibt. Der Dichter weiß also, wovon er spricht, wenn er den „Frieden Gottes“ mit „der Liebe heitern Frieden / In Gegenwart des allgeliebten Wesens“ vergleicht. Die Silbe „all“ - πᾶν - kennzeichnet Pandora. Pandora ist nicht nur ‚allbegabt’, sie ist auch „allgeliebt“ in einem „herrlichen Geflecht verschlungner Minnen“ (Str. 4, v. 2), das ehedem auseinanderbrach, nun aber, nach ihrem Tod, wiederhergestellt und geheiligt ist. Der Gottesfriede und der Friede, den ihr Erscheinen vermittelt, stehen in keinem Widerspruch. Deshalb kann auch das an den Herrn gerichtete Augustinuswort auf „Sie“ angewandt werden: „Inquietum cor nostrum, donec requiescat in te …“ Augustinus, Namensheiliger des 28. August und damit des Geburtstags Goethes (vgl. auch S. 31), und nach alter Sitte sein eigentlicher Namenspatron, wird hier nicht zuletzt um seines Namens willen aufgerufen, den der Dichter, neben „Gottfried“, als geheimes Siegel trägt. 19 Noch stärker erweisen 15 Vgl. Kommentar FA 3/ 2, S. 984. 16 Vgl. Das Göttliche, FA 1, S. 333. 17 Joh. 14, 27. 18 „Was du ererbt von deinen Vätern hast / Erwirb es um es zu besitzen.“ Faust I, v. 682 f. FA 7/ 1, S. 43. 19 In Briefen an Charlotte von Stein hat Goethe sich selbst zweimal „Gustel“ genannt. (15. oder 16. Januar 1776, 27. Februar 1776, WA IV,3, 18 und 34). Zu Goethes Zeit wurden Geburts- und <?page no="167"?> 163 sich Goethes paronomastische Bestrebungen in der folgenden Strophe (vgl. S. 57 und S. 161 f.), die wegen der hinzukommenden Ausdeutung nochmals vor Augen gestellt werden soll: In unsers Busens Reine wogt ein Streben Sich einem höhern, reinern, unbekannten, Aus Danckbarkeit freywillig hinzugeben, Enträthselnd sich den ewig ungenannten; Wir heißen’s: fromm seyn! - Solcher seligen Höhe Fühl ich mich theilhaft wenn ich vor Ihr stehe. Über die Kleinschreibung der Komparative bzw. der Partizipien wurde bereits ausführlich gesprochen (S. 59). Es geht also nicht um ein Abstraktum. Gemeint ist ganz konkret „ein Herz wie meins“ (das der Prometheus der Hymne 20 suchte, aber nicht fand), jedoch höher, reiner, unbekannt, dem die Hingabe gilt und dessen Enträtselung darin bestünde, dem „ewig ungenannten” einen Namen zu geben. „Wir heißen’s: fromm seyn! Solcher seligen Höhe / Fühl’ ich mich theilhaft wenn ich vor Ihr stehe“. Sie weiß er zu benennen und indem er Ihre Namen nennt, darf er Ihre durch den „Frieden Gottes“ bezeichnete Eigenschaft auch für sich in Anspruch nehmen. In dieser Einheit mit Ihr weiß er sich geläutert, befreit von „Selbstsinn“ und „Eigenwillen“, für Augenblicke zu Ihrer Sphäre erhoben, - in einer Teilhabe, beglaubigt durch die essentielle Aussagekraft ihrer beider Namen: Denn auch „Ihr“ ist der „Beiname“ Gottfried - ‚Frieden Gottes’ - ins Leben mitgegeben worden. Und darüber hinaus sind Ihr auch noch die Namen Friederike Christiana eigen, die genau jene Auslegung repräsentieren, die der als „Beiname“ verstandene gemeinsame Nachname durch den Dichter erfährt. Die Frömmigkeit, die Sie inspiriert, weist weiter zu einer hinter Ihr verborgenen göttlichen Wesenheit. Immer noch wurde ihr eigentlichster Name, ihr erster Vorname, nicht genannt. Er verbirgt sich hinter dem Decknamen Pandora, mit dem er die Chiffre ‚-or’ gemeinsam hat, die der Trilogie deutlich eingewirkt ist. Gewiß spielt bei diesem Widerhall des Namens auch eine Rolle, daß ‚l’oro’, ‚l’or’ (franz.) ‚Gold’ bedeutet und Gold in der Theorie der Alchimisten, mit der sich Goethe in seiner Jugend intensiv befaßt hatte 21 , das Herz symbolisiert. Achtmal erscheint in der Trilogie das Wort „Herz“ selbst. Die gedachte Übersetzung in eine romanische Sprache käme der Letter C entgegen, für die das Deutsche im Anlaut keine Möglichkeit bietet. Goethe teilte offensichtlich den Namen Cornelia in Cor- und -nelia, während man etymologisch-korrekt eher an eine Ableitung von ‚cornu’, Horn, denken müßte. Aber auch für ‚Cornea’ (Hornhaut des Auges), den Augenstern, wird sich metonymisch vielfacher Nachweis finden. Semantisch liefert hierzu auch das Griechische seinen Beitrag, denn neben ‚Mädchen’ und ‚Puppe’ (vgl. S. 191), bedeutet κόρη Namenstag individuell gefeiert, doch schien ihm die ursprüngliche Einheit beider Tage auch im Alter noch wichtig. Bertha Weber berichtet in ihren ‚Erinnerungen’, wie Goethe sie 1828 in Dornburg über ihr neugeborenes Töchterchen befragte: „Wie heißt das Kind? Warum wählten Sie nicht den Namen des Geburtstages, Bonaventura ist ein schöner Name und hat eine gute Bedeutung.“ In: Biedermann / Herwig, Gespräche 3/ 2, S. 350. 20 FA 1, S. 205, v. 27. 21 Vgl. Dichtung und Wahrheit II, 8; FA 14, S. 373 ff. <?page no="168"?> 164 auch Auge. - Kor-’, „cor“ (als ‚Herz’), und ‚or’ (franz. ‚Gold’) sind Goethes gesamter Dichtung neben ‚Dor-’ mannigfaltig eingearbeitet, gepaart mit alliterierenden Konsonanten aus dem Namen ‚Wolfgang’ wie auch aus dem Namen ‚Goethe’, der beiden Personen eignet, während ‚sch’ und ‚s’ allein auf „Sie“ deuten, auf Cornelia, die soror, die Schwester, die ihre Briefe gelegentlich auch mit „Sophie“ unterschrieb. 22 Nach der Eheschließung mit Johann Georg Schlosser trug sie dreieinhalb Jahre, bis zu ihrem frühen Tode 1777, seinen Nachnamen, der sich chiffriert, wie noch zu zeigen sein wird (vgl. S. 181 f.), vielfach in Goethes Werke eingewirkt findet. Letztlich läßt sich eine geheime Beziehung zwischen dem Namen Cornelia und Werthers Lotte zeigen, lautet der ihre doch unabgekürzt und in seiner offiziellen lateinisch-deutschen Form ‚Caroline’. ‚Caroline’ aber erweist sich als ein genaues Anagramm von ‚Cornelia.’ 23 In einem mannigfaltig verschlungenen Muster von Namenssemantik, Paronomasie, Chiffren und Stilformen wie Alliteration und Anagramm läßt die Trilogie der Leidenschaft (und nicht nur sie) jenes „herrliche Geflecht verschlungner Minnen“ erkennen, dem sie entsprang, und so entfaltet sie sich unserem Verständnis graduell zu einem Gebilde, das Raum und Zeit transzendiert. 22 Georg Witkowski, Cornelia, die Schwester Goethes, Frankfurt a. M. 1903. S. 60: „In ihren Briefen an Kestner unterzeichnete sie sich mehrmals mit dem Namen Sophie. „Sophie Goethe“ nennt sie auch Karoline Flachsland in einem Schreiben an Herder, so daß anzunehmen ist, ihr sei damals von den Freunden dieser Name an Stelle des ihrigen beigelegt worden oder sie habe ihn sich selbst gewählt, gewiß nach irgendeiner poetischen Lieblingsgestalt, vielleicht nach der Tochter des „Landpredigers von Wakefield“ [Oliver Goldsmith] oder nach der ihr in vielem ähnlichen Sophie der „Neuen Héloise“ [J. J. Rousseau]. Wahrscheinlich aber schwebte ihr als weibliches Ideal jene Sophie vor, deren Schicksale Sophie von La Roche in ihrem Erstlingswerk, der „Geschichte des Fräuleins von Sternheim“ 1771 geschildert hat. Ihre leidende Tugend, ihre Schönheit und Würde, ihre Bildung, Engelsgüte und Klugheit, ihre standhafte Treue lassen sie mit allen den bewunderten Eigenschaften Richardson’scher Heldinnen ausgestattet erscheinen.“ 23 Das Anagramm als ein in Goethes Dichtung sehr wichtiges Stilmittel, wird immer wieder zur Sprache kommen. <?page no="169"?> 165 6. „Vergangenheit und Gegenwart in Eins“ […] Ein Gefühl aber, das bei mir gewaltig überhandnahm, und sich nicht wundersam genug äußern konnte, war die Empfindung der Vergangenheit und Gegenwart in Eins. 1 Dieser allgemein gehaltenen Feststellung, die im weiteren Vorlauf des Textes, dem sie entnommen ist, im ergriffenen Erleben irgendeines alten Familienbildes gipfelt 2 , entspricht im ganz persönlichen Bereich die Schlußstrophe eines Hatem überschriebenen Divan-Gedichts aus dem Buch Suleika: Und so könnt ich alle loben, Und so könnt ich alle lieben: Denn so wie ich euch erhoben War die Herrin mit beschrieben. 3 „Mitbeschrieben“ „die Herrin“, zu deren erneuter Vergegenwärtigung „Bräunchen“, „Blondinchen“ oder die verschiedentlich gesenkten Augenlider der Dritten desselben Gedichts den Anlaß bieten, ohne daß jedoch ‚Ihre’ Vorrangstellung angetastet würde. Denn so vermerkt Dichtung und Wahrheit - wenn auch nicht mit der Gelassenheit der in den Versen ausgedrückten scheinbar lebensfrohen Diesseitsbezogenheit: […] Die erste Liebe, sagt man mit Recht, sei die einzige: denn in der zweiten und durch die zweite geht schon der höchste Sinn der Liebe verloren. Der Begriff des Ewigen und Unendlichen, der sie eigentlich hebt und trägt, ist zerstört, sie erscheint vergänglich wie alles Wiederkehrende. 4 Eine Ausnahme scheint Goethe jedoch für sich in dieser Hinsicht gemacht zu haben, da nämlich, wo er im Gefühl des Verlassen- oder Verratenseins eine andere Herrin aus „abgelebten Zeiten“ als mit der ersten wesensverwandt oder sogar identisch erleben konnte, als „Schwester oder Frau“: Charlotte von Stein, - eine Erfahrung, die er sich, im Sinne Charlottes, als Phänomen der Reinkarnation zu erklären suchte. 5 Dies galt vor allem für das erste Weimarer Jahrzehnt. Und auch da mit Einschränkung, wenn man z. B. an „die poetische Grille“ Triumph der Empfindsamkeit denkt, wo ihr sicher die Rolle der Königin zufällt. 6 Die drei zitierten Stellen sollte man im Gedächtnis behalten, wenn nun aus der Fülle des lyrischen Werkes einzelne Gedichte unterschiedlichen zeitlichen Ursprungs herausgegriffen werden. Sie sprechen dafür, daß das in der Trilogie der Leidenschaft und im Bräutigam-Gedicht von Goethe Niedergelegte bereits in Frühe- 1 DuW III, 14; FA 14, S. 678. 2 Ebd. S. 679. 3 West-östlicher Divan, FA 3, S. 388 f. 4 DuW III, 13; FA 14, S. 629. 5 Warum gabst du uns die Tiefen Blicke, FA I, S. 229. Siehe auch Brieffragment an Wieland, vom April 1776 (? ); HA, Briefe I, S. 212. 6 Siehe nächstes Kapitel. <?page no="170"?> 166 rem und auch im Späteren vorhanden ist. Eine Reihe von Gedichten ist deutlich als der Ewigen Geliebten zugehörig gekennzeichnet. Dies geschieht auf mannigfaltige Weise, zum Beispiel, indem sich in autobiographischen Schriften eine wörtliche Entsprechung zum lyrischen Text findet, ferner, wie bereits gezeigt, durch Paronomasie und Parechese; das Spiel mit den Chiffren -‚or’, ‚Dor’-‚ (‚dor’) oder ‚-kor’, Destillaten aus dem Pandora- oder Cornelia-Namen oder durch das Spiel mit Übersetzung der Anfangssilbe ‚Cor’ (Herz), mit Anagrammen von ‚Nelia’ wie auch den Teilen ‚Pan’-‚ ( παν , alles, ganz) und ‚-‚dora’ ( δῶρον , Gabe) des mythischen Namens, also Wörtern wie ‚alle’, ‚alles’, ,ganz’, wie Formen von ‚geben’ und semantisch ähnlichen Wörtern, ferner auch die Einbeziehung von vollständigen Namen, wovon später noch die Rede sein soll. Eine weitere Sigle, die Goethe in der Nachfolge Dantes und Petrarcas und deren Neunbzw. Sechszahlfeier zu Ehren ihrer verewigten Geliebten nun seinerseits als Cornelia zugeordnet erblickt, ist die Zahl Sieben, fiel doch ihr Geburtstag auf den 7. Dezember und ihr Tod in das Jahr 1777. Diesbezüglich durfte er sich auch selbst einbezogen wissen, da ja sein eigener Geburtstag, der 28. August, ein Vierfaches von Sieben aufweist und sein Geburtsjahr 49 sogar siebenmal die Sieben darstellt, gepaart mit der Jahrhundertzahl, der Siebzehn. Dazu später mehr. * * * Der Lieder-Sammlung von 1815 stellte Goethe das folgende Motto voran: Spät erklingt, was früh erklang, Glück und Unglück wird Gesang. 7 Damit wird die innere Einheit späterer Gedichte mit solchen bekundet, die bereits in der Breitkopf’schen Sammlung von 1768 8 veröffentlicht worden sind, wie z. B. das folgende: A N DIE U NSCHULD Schönste Tugend einer Seele, Reinster Quell der Zärtlichkeit! Mehr als Byron, als Pamele Ideal und Seltenheit! Wenn ein andres Feuer brennet, Flieht dein zärtlich schwaches Licht; Dich fühlt nur wer dich nicht kennet, Wer dich kennt der fühlt dich nicht. Göttin! In dem Paradiese Lebtest du mit uns vereint; Noch erscheinst du mancher Wiese Morgens eh die Sonne scheint. Nur der sanfte Dichter siehet Dich im Nebelkleide zieh’n; 7 FA 2, S. 11. 8 FA 1, S. 81 ff. <?page no="171"?> 167 Phöbus kömmt, der Nebel fliehet, Und im Nebel bist du hin. 9 Unschuld ist zu Hause im Paradies der Kindheit, das noch nicht erhellt und durchleuchtet wird vom voll erwachten Intellekt. Sie entspricht nicht einer von besserem Wissen bestimmten Tugendhaltung, wie sie Miss Byron oder Pamela auszeichnet, jene Gestalten aus Richardsons Romanen und Ideale der Goethe-Kinder. Die Qualität der Un-Schuld ist, wie ihr Name sagt, eine negierende, die Abwesenheit, das Nicht-Wissen von Schuld, also biblisch gesprochen, der Zustand im Paradiese vor dem Genuß der Frucht vom Baum der Erkenntnis. Das Attribut, das sie im Gedicht qualifiziert, gehört daher auch nicht der Kategorie des Ethischen, sondern des Ästhetischen an, ähnlich wie in der „Schönen Seele“ 10 , im „Schönen Gemüt“ 11 das Gute naturgemäß und selbstverständlich als Blüte seines psychischen Substrats vorhanden ist. Besser als jede Interpretation erklärt das Kernstück einer Kindheitsbeschreibung aus Dichtung und Wahrheit, was diesem und auch den folgenden Gedichten zugrunde liegt. […] Und so wie in den ersten Jahren Spiel und Lernen, Wachstum und Bildung den Geschwistern völlig gemein war, so daß sie sich wohl für Zwillinge halten konnten, so blieb auch unter ihnen diese Gemeinschaft, dieses Vertrauen, bei Entwickelung physischer und moralischer Kräfte. Jenes Interesse der Jugend, jenes Erstaunen beim Erwachen sinnlicher Triebe, die sich in geistige Formen, geistiger Bedürfnisse, die sich in sinnliche Gestalten einkleiden, alle Betrachtungen darüber, die uns eher verdüstern als aufklären, wie ein Nebel das Tal, woraus er sich emporheben will, zudeckt und nicht erhellt, manche Irrungen und Verirrungen, die daraus entspringen, teilten und bestanden die Geschwister Hand in Hand, und wurden über ihre seltsamen Zustände um desto weniger aufgeklärt, als die heilige Scheu der nahen Verwandtschaft sie, indem sie sich einander mehr nähernd, ins Klare treten wollten, nur immer gewaltiger aus einander hielt. Ungern spreche ich dies im Allgemeinen aus, was ich vor Jahren darzustellen unternahm, ohne daß ich es hätte ausführen können. Da ich dieses geliebte unbegreifliche Wesen nur zu bald verlor, fühlte ich genugsamen Anlaß, mir ihren Wert zu vergegenwärtigen, und so entstand bei mir der Begriff eines dichterischen Ganzen, in welchem es möglich gewesen wäre, ihre Individualität darzustellen; allein es ließ sich dazu keine andere Form denken als die der Richardsonschen Romane. Nur durch das genaueste Detail, durch unendliche Einzelnheiten, die lebendig alle den Charakter des Ganzen tragen und, indem sie aus einer wundersamen Tiefe hervorspringen, eine Ahnung von dieser Tiefe geben; nur auf solche Weise hätte es einigermaßen gelingen können, eine Vorstellung dieser merkwürdigen Persönlichkeit mitzuteilen; denn die Quelle kann nur gedacht werden, in sofern sie fließt. Aber von diesem schönen und frommen Vorsatz zog mich, wie von so vielen anderen, der Tumult der Welt zurück, und nun bleibt mir nichts übrig, als den Schatten jenes seligen Geistes nur, wie durch Hülfe eines magischen Spiegels, auf einen Augenblick heranzurufen. 9 FA 1, S. 91, siehe auch Kommentar, zumal bezüglich der den Romanen Richardsons entnommenen englischen Namen. 10 WMLJ 6; FA 9, S. 728 ff. 11 Xenien, Juli 1796, „Sucht ihr das menschliche Ganze? “; FA 1, S. 519. <?page no="172"?> 168 Sie war groß, wohl und zart gebaut und hatte etwas Natürlichwürdiges in ihrem Betragen, das in eine angenehme Weichheit verschmolz. Die Züge ihres Gesichts, weder bedeutend noch schön, sprachen von einem Wesen, das weder mit sich einig war, noch werden konnte. Ihre Augen waren nicht die schönsten, die ich jemals sah, aber die tiefsten, hinter denen man am meisten erwartete, und wenn sie irgend eine Neigung, eine Liebe ausdrückten, einen Glanz hatten ohne Gleichen; und doch war dieser Ausdruck eigentlich nicht zärtlich, wie der, der aus dem Herzen kommt und zugleich etwas Sehnsüchtiges und Verlangendes mit sich führt; dieser Ausdruck kam aus der Seele, er war voll und reich, er schien nur geben zu wollen, nicht des Empfangens zu bedürfen. 12 Der letzte Satz deutet wieder auf Pandora, die Gebende. Was Goethe über eine mögliche Darstellung „ihrer Individualität“ sagt, daß sich dafür „keine andere Form denken [ließ] als die der Richardsonschen Romane“, nämlich ein Roman in Briefform, daß er ferner diese Darstellung vor Jahren unternommen habe, ohne sie ausführen zu können (ohne ihr voll gerecht zu werden? ), ist ein Hinweis auf den tatsächlich geleisteten Werther-Roman. 13 Für einen Augenblick wird hier der Schleier gelüftet, den Goethe über die Tragik seiner jugendlichen Liebe geworfen hat, und hinter Werther und Lotte werden die Umrisse von Wolfgang und Cornelia deutlich, von denen er sonst mit allerlei aus der Wirklichkeit gegriffenen Tarnmanövern wie dem tatsächlichen Vornamen Lottes abzulenken suchte. In der Lyrik jedoch finden wir, mit anderem vermischt, das sonst Geheimgehaltene ausgesprochen und das persönliche Schicksal offengelegt, wie es sich, Gedicht für Gedicht, nacherleben läßt. Der Zeitpunkt der Entstehung des folgenden ist umstritten, scheint es doch in die vorgegebenen biographischen Kategorien nicht zu passen: A N DIE E RWÄHLTE Hand in Hand! und Lipp’ auf Lippe! Liebes Mädchen, bleibe treu! Lebe wohl! und manche Klippe Fährt dein Liebster noch vorbei. Aber wenn er einst den Hafen Nach dem Sturme wieder grüßt, Mögen ihn die Götter strafen, Wenn er ohne dich genießt. Frisch gewagt ist schon gewonnen, Halb ist schon mein Werk vollbracht! Sterne leuchten mir wie Sonnen; Nur dem Feigen ist es Nacht. Wär’ ich müßig dir zur Seite, Drückte noch der Kummer mich; Doch in aller dieser Weite Wirk’ ich rasch und nur für dich. 12 DuW II, 6; FA 14, S. 250 ff. 13 Vgl. Kurt R. Eissler, Goethe. Eine psychoanalytische Studie, Frankfurt a. M. 1983. Bd. 1. <?page no="173"?> 169 Schon ist mir das Tal gefunden, Wo wir einst zusammen gehn, Und den Strom in Abendstunden Sanft hinunter gleiten sehn. Diese Pappeln auf den Wiesen, Diese Buchen in dem Hain! Ach! und hinter allen diesen Wird doch auch ein Hüttchen sein. 14 Aber auch zu diesem Gedicht hält Dichtung und Wahrheit eine Erklärung bereit. Voran geht eine Schilderung von Spannungen mit dem Vater, der dem Sohn nicht die Wahl seiner Universität überlassen wollte. Der Sechszehnjährige fügt sich, vollzieht aber mit einem eigenen Plan für sein weiteres Leben die innere Loslösung, die der alte Dichter mit der Ironie der zeitlichen Distanz nachempfindet: […] Die heimliche Freude eines Gefangenen, wenn er seine Ketten abgelöst und die Kerkergitter bald durchgefeilt hat 15 , kann nicht größer sein, als die meine war, indem ich die Tage schwinden und den Oktober herannahen sah. Die unfreundliche Jahreszeit, die bösen Wege, von denen Jedermann zu erzählen wußte, schreckten mich nicht. Der Gedanke, an einem fremden Orte zu Winterszeit Einstand geben zu müssen, machte mich nicht trübe; genug ich sah nur meine gegenwärtigen Verhältnisse düster und stellte mir die übrige unbekannte Welt licht und heiter vor. So bildete ich mir meine Träume, denen ich ausschließlich nachhing, und versprach mir in der Ferne nichts als Glück und Zufriedenheit. So sehr ich auch gegen Jedermann von diesen meinen Vorsätzen ein Geheimnis machte, so konnte ich sie doch meiner Schwester nicht verbergen, die, nachdem sie anfangs darüber sehr erschrocken war, sich zuletzt beruhigte, als ich ihr versprach sie nachzuholen, damit sie sich meines erworbenen glänzenden Zustandes mit mir erfreuen und an meinem Wohlbehagen Teil nehmen könnte. 16 Über die Datierung des Gedichts gehen, wie gesagt, die Meinungen auseinander. 17 Sie ist nicht so wichtig, weil ja das Lebensgefühl, das es vermittelt, über Jahre anhielt und auch späterhin wieder heraufbeschworen worden sein konnte. Der Titel An die Erwählte ließe sich auch als ‚An die Erkorene’ lesen und würde somit in Verschlüsselung die Chiffre ihres Namens in sich bergen - entsprechend auch dem parechetischen Spiel mit ‚cor’ (‚Herz’). Der Plan einer späteren gemeinsamen Existenz würde auch die didaktische Manier der Briefe an die Schwester aus den Jahren in Leipzig erklären. Er, der nur um ein Jahr Ältere, bestimmt hier ihre Lektüre, korrigiert ihre Wortwahl und Orthographie, kritisiert ihren Stil! Darüber hinaus bittet er sie, […] das Jahr über das wir noch von einander seyn werden, so wenig als möglich zu lesen, viel zu schreiben; allein nichts als Briefe, und das wenn es seyn 14 FA 1, S. 646. 15 Vgl. Theatr. Sendung 1, 22; FA 9, S. 60 f.: „Ich komme mir vor wie ein Gefangener, der in einem Kerker lauschend seine Ketten abfeilt.“ 16 DuW II, 6. Buch. FA 14, S. 265 f. 17 Siehe Karl Eibl, Kommentar FA 1, S. 1212. (Zuordnung zu den 90er Jahren.) <?page no="174"?> 170 könnte, wahre Briefe an mich <es kann nicht sein, denn sie werden alle vom Vater zensiert>, die Sprachen immer fort zu treiben, und die Haushaltung, wie nicht weniger die Kochkunst zu studiren, auch dich zum Zeitvertreibe auf dem Claviere wohl zu üben, denn dieses sind alles Dinge, die ein Mädgen, die meine Schülerinn werden soll nohtwendig besitzen muß l: die Sprachen ausgenommen die du als einen besonderen Vorzug besitzest : l Ferner verlange ich daß du dich im Tanzen perfecktionirst, die gewöh[n]lichsten Kartenspiele lernst, und den Putz mit Geschmack wohl verstehest. Diese letzten Erforderniße werden dir von so einem strengen Moralisten wie ich bin, äuserst seltsam vorkomm zumal da mir alle dreye fehlen; allein sey ohne Sorgen, und lerne sie nur, den Gebrauch und den Nutzen davon sollst du schon erfahren; […] Wirst du nun dieses alles, nach meiner Vorschrift, getahn haben, wenn ich nach Hause komme; so garantire ich meinen Kopf, du sollst in einem kleinen Jahre, das vernünftigste, artigste, angenehmste, liebenswürdigste Mädgen, nicht nur in Franckfurt, sondern im ganzen Reiche seyn. […] Ist das nicht ein herrliches Versprechen! Ja, Schwester, und ein Versprechen, das ich halten kann und will. 18 Sie wird ihn schon richtig verstanden haben. (Ihre Briefe an den Bruder sind sämtlich ein Opfer des großen Autodafé geworden, das Goethe vor der Italienreise mit fast all seinen empfangenen Briefen veranstaltete 19 .) Die Situation, die das Gedicht Die Erwählte liedhaft vorstellt, wird mehr als zwei Jahrzehnte später (1796) zum Sujet einer Elegie im klassischen Stil: Alexis und Dora 20 , wobei das Motiv einer möglichen Untreue der Geliebten, im Lied gleich zu Anfang („Liebes Mädchen, bleibe treu! “) nur gestreift, hier den Schluß beherrscht. Die Distichen schildern den Moment des Abschieds auch als den der erstmals bewußt gewordenen Liebe. […] Alles deutet auf glücklichste Fahrt, der ruhige Schiffer Ruckt am Segel, gelind, das sich statt seiner bemüht; Alle Gedanken sind vorwärts gerichtet, wie Flaggen und Wimpel, Nur Ein Trauriger steht, rückwärts gewendet, am Mast, Sieht die Berge schon blau, die scheidenden, sieht in das Meer sie Niedersinken, es sinkt jegliche Freude vor ihm. Auch dir ist es verschwunden das Schiff, das deinen Alexis, Dir, o Dora, den Freund, dir, ach! den Bräutigam raubt. Auch du blickest vergebens nach mir. Noch schlagen die Herzen Für einander, doch, ach! nun aneinander nicht mehr. Nur Ein Augenblick war´s in dem ich lebte, der wieget Alle Tage, die sonst kalt mir verschwindenden, auf. Nur Ein Augenblick, war´s, der letzte, da stieg mir ein Leben, Unvermutet in dir, wie von den Göttern herab. (v. 5-18) […] In mich selber kehr ich zurück, da will ich im stillen Wiederholen die Zeit, als sie mir täglich erschien. 18 Leipzig, 12.-14. Oktober 1767. HA Briefe I, S. 49 f. 19 Vgl. Kanzler von Müller, Unterhaltungen mit Goethe, 18. Febr. 1830, a. a. O., S.183. 20 FA 1, S. 616 ff., Erstfassung, entstanden 1796. Vgl. hierzu Zweitfassung aus der Sammlung von 1815, FA 2, S. 174 ff. <?page no="175"?> 171 War es möglich, die Schönheit zu sehen und nicht zu empfinden? Würkte der himmlische Reiz nicht auf dein stumpfes Gemüt? Klage dich, Armer, nicht an! - So legt der Dichter ein Rätsel, Künstlich mit Worten verschränkt, oft der Versammlung ins Ohr, Jeden freut die seltne Verknüpfung der zierlichen Bilder, Aber noch fehlet das Wort, das die Bedeutung verwahrt, Ist es endlich gefunden, dann heitert sich jedes Gemüt auf, Und erblickt im Gedicht doppelt erfreulichen Sinn. Ach warum so spät, o Amor, nahmst du die Binde, Die du ums Aug’ mir geknüpft, warum zu spät mir hinweg? Lange harrte das Schiff, befrachtet, auf günstige Lüfte, Endlich strebte der Wind, glücklich, vom Ufer ins Meer. Leere Zeiten der Jugend! und leere Träume der Zukunft! Ihr verschwindet, es bleibt einzig die Stunde mir nur; Ja sie bleibt, es bleibt mir das Glück! ich halte dich Dora! Und die Hoffnung zeigt, Dora, dein Bild mir allein. (v. 21-38) […] Schöne Nachbarin! so war ich gewohnt dich zu sehen, Wie man die Sterne sieht, wie man den Mond sich beschaut, Sich an ihnen erfreut, und in dem ruhigen Busen Nicht der entfernteste Wunsch sie zu besitzen sich regt. Jahre! so gingt ihr dahin! Nur zwanzig Schritte getrennet Waren die Häuser und nie hab’ ich die Schwelle berührt. (v. 47-52) Dann wird, in der Erinnerung, die letzte Begegnung wieder erlebt, in der Dora zu ‚Pandora’, der ‚Allgebenden’ wird, indem sie Alexis reich mit Früchten aus ihrem Garten beschenkt und mit ihnen ein Körbchen füllt. Aber ich hob es nicht auf, ich ging nicht, wir sahen einander In die Augen und mir ward vor dem Auge so trüb. Deinen Busen fühlt ich an meinem! Den herrlichen Nacken! Ihn umschlang nun mein Arm, tausendmal küßt ich den Hals. Mir war dein Haupt auf die Schulter gesunken, nun knüpften auch deine Lieblichen Arme das Band um den Beglückten herum. Amors Hände fühlt ich, er drückt uns gewaltig zusammen, Und aus heiterer Luft donnert es dreimal. Da floß Häufig die Träne vom Aug’ mir herab, du weintest, ich weinte, Und für Jammer und Glück schien uns die Welt zu vergehn. Immer heftiger riefen die Schiffer, da wollten die Füße Mich nicht tragen, ich rief: Dora! und bist du nicht mein! Ewig! sagtest du leise. Da schienen unsere Tränen, Wie durch göttliche Luft, leise vom Auge gehaucht. Stärker rief´s in dem Gäßchen, Alexis! da sah mich der Knabe Durch die Türe und kam! Wie er das Körbchen empfing! Wie er mich trieb! Wie ich dir die Hand noch drückte! - zu Schiffe Wie ich gekommen? Ich weiß, daß ich ein Trunkener schien! (v. 89-106) Und in Alexis’ Zukunftsträumen wird aus der ‚allgebenden’ Dora nun Pandora, die ‚Allbegabte’: Zu der früher erbetenen Kette denkt er sich Geschenke für sie aus: O, so eile denn, Schiff, mit allen günstigen Winden! Strebe mächtiger Kiel, Trenne die schäumende Flut! <?page no="176"?> 172 Bringe dem fremden Hafen mich zu, damit mir der Goldschmied, Aus der Werkstatt, sogleich, reiche das himmlische Pfand; Wahrlich es soll zur Kette werden das Kettchen, o Dora! Neunmal umgebe sie dir, locker gewunden, den Hals, Außerdem schaff’ ich noch Schmuck, den mannigfaltigsten, goldne Spangen sollen dir auch reichlich verzieren die Hand, Da wetteifre Rubin und Smaragd, der liebliche Saphyr Stelle dem Hiazinth sich gegenüber, und Gold Halte die herrlichen Steine, in schöner Verbindung, zusammen. O! wie den Bräutigam freut einzig zu schmücken die Braut! Seh ich Perlen, so denk ich an dich, bei jeglichem Ringe Kommt mir der länglichen Hand schönes Gebild in den Sinn. Tauschen will ich und kaufen, du sollst das schönste von allem Wählen, ich widmete gern alle die Ladung nur dir. Doch nicht Schmuck und Juwelen allein verschafft dein Geliebter, Was ein häusliches Weib freuet, das bringt er dir auch. Feine wollene Decken, mit Purpursäumen, ein Lager Zu bereiten, das uns traulich und weichlich, empfängt. Stücke köstlicher Leinwand. Du sitzest und nähest und kleidest Mich und dich und auch wohl noch ein drittes darein. (v. 113-134) 21 Dann überfällt ihn die Angst, daß nach ihm ein anderer kommen und auch er sich der Liebe des Mädchens erfreuen könnte. Zeus möge „schrecklicher“ donnern nach gebrochenen Schwüren, sein Blitz aber nicht sie, sondern „diesen unglücklichen Mast“ treffen. Streue die Planken umher und gib der tobenden Welle Diese Waren und mich gib den Delphinen zum Raub. (v.153 f.) Delphine sind ja als rettende Freunde der Sänger und Dichter bekannt. So retteten, wie bereits im Zusammenhang mit Pandora gezeigt (vgl. S. 130 f.), nach antiker Tradition Delphine, angelockt durch seinen Gesang, Arion vor dem Ertrinken 22 . Nicht von ungefähr wurde Goethe selbst 1818 mit dem Beinamen ‚Arion’ zum Mitglied der Kaiserlich Leopoldinisch-Carolinischen Deutschen Akademie der Naturforscher ernannt. 23 Durch die Nennung der Delphine wird der angedeutete tragische Ausgang der Liebesgeschichte ins Spielerische abgebogen. Der Spruch an die Musen am Schluß stellt die scheinbare Ausgewogenheit der Emotionen wieder her: Nun, ihr Musen, genug! vergebens strebt ihr zu schildern, Wie sich Jammer und Glück wechseln in liebender Brust. Heilen könnet ihr nicht die Wunden, die Amor geschlagen Aber Linderung kommt einzig, ihr Guten, von euch. (v. 155-158) 21 Die drei letzten der zitierten Verse: unerfüllbares Wunschdenken oder bewußte Fährtenlegung in die falsche Richtung? 22 Acerra Philologica. (Vgl. hierzu S. 190 und Anm. 24.) 23 Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke, Artemis Gedenkausgabe, Zürich 1977. Bd. 18, zum 26. August 1818, S. 517. <?page no="177"?> 173 Daß es sich bei Alexis und Dora um ein höchst erotisches Gedicht handelt, läßt sich nicht leugnen. 24 Auch ist dieser Zug der Geschwisterbeziehung gewiß nicht völlig aus der Biographie auszuklammern, wie die verschiedentlich verbotenen ‚Passionen’ (im doppelten Sinn des Wortes) von Werther, Tasso, Epimetheus, dem Harfner Augustin und Eduard zu verstehen geben. In einem Gespräch über die Sophokleische Antigone, in welchem die Liebe zwischen Schwester und Bruder gestreift wurde, äußerte Goethe, er dächte, daß die Liebe von Schwester zur Schwester noch reiner und geschlechtsloser wäre! Wir müßten denn nicht wissen, daß unzählige Fälle vorgekommen sind, wo zwischen Schwester und Bruder, bekannter- und unbekannterweise, die sinnlichste Neigung stattgefunden. 25 Aber bald wendet sich an diesem Punkt die Aufmerksamkeit in eine andere Richtung, indem Goethe Sophokles dafür kritisiert, daß er Antigone ihre Opfertat für Polyneikes „nach den herrlichsten Gründen“ mit allzu vielen Argumenten begründen läßt: Sie sagt, daß sie das, was sie für ihren Bruder getan, wenn sie Mutter gewesen wäre, nicht für ihre gestorbenen Kinder und nicht für ihren gestorbenen Gatten getan haben würde! Denn, sagt sie, wäre mir ein Gatte gestorben, so hätte ich einen anderen genommen, und wären mir Kinder gestorben, so hätte ich mir von dem neuen Gatten andere Kinder zeugen lassen. Allein mit meinem Bruder ist es ein anderes. Einen Bruder kann ich nicht wieder bekommen, denn da mein Vater und meine Mutter tot sind, so ist niemand da, der ihn zeugen könnte. Dies ist wenigstens der nackte Sinn dieser Stelle, die nach meinem Gefühl in dem Munde einer zum Tode gehenden Heldin die tragische Stimmung stört und die mir überhaupt sehr gesucht und gar zu sehr als ein dialektisches Kalkül erscheint. - Wie gesagt, ich möchte sehr gerne, daß ein guter Philologe uns bewiese, die Stelle sei unecht. 26 K. R. Eissler, Psychoanalytiker freudischer Observanz, hat sich in seinem über 1800 Seiten unfassenden Buch Goethe. Eine psychoanalytische Studie 27 eingehend mit dem engen Verhältnis des jungen Goethe zu seiner Schwester beschäftigt und es unter dem Aspekt der Zwillingspsychologie untersucht. Er kommt, wie später klar zu erkennen sein wird, zu völlig anderen Ergebnissen als die hier erarbeiteten. Im jungen Goethe sieht er einen physisch und psychisch Beschädigten, der erst durch 24 Vgl. Albrecht Schöne, Götterzeichen, Liebeszauber, Satanskult, S. 55 ff. 25 Eckermann, III, 28. März 1827; a. a. O., S. 603 f. 26 Ebd., S. 606. 27 Kurt R.Eissler, Goethe, eine psychoanalytische Studie, in 2 Bdn. In Verbindung mit Wolfram Mauser und Johannes Cremerius hrsg. von Rüdiger Scholz, aus dem Amerikanischen (veröffentlicht 1963), übersetzt von Peter Fischer, Frankfurt a. Main, 1. Bd. 1983, 2. Bd. 1985. In eigener Sache möchte ich hier anmerken, daß ich nicht durch Eissler auf die Bindung Goethes an Cornelia aufmerksam wurde, sondern meine Erkenntnisse allein aus Goethes Schriften und seiner Rezeption der Werke anderer Dichter gewonnen habe. Dementsprechend bin ich zu völlig anderen Ergebnissen gelangt. <?page no="178"?> 174 seine ‚Therapeutin’ Charlotte von Stein Heilung und Überwindung der ‚inzestuösen’ Beziehung erlangte. Das nun folgende Gedicht ist bereits ein Lied der Trennung. Zuerst Ferne Lied überschrieben, erhielt es später den Titel An die Entfernte, der ein gewolltes Pendant zu An die Erwählte suggeriert, wobei in der adjektivischen Setzung des Partizips „Entfernte“ die ursprüngliche passive Semantik mitschwingt und einen dramatischen Vorgang durchblicken läßt. A N DIE E NTFERNTE . So hab’ ich wirklich dich verloren? Bist du, o Schöne, mir entflohn? Noch klingt in den gewohnten Ohren Ein jedes Wort, ein jeder Ton. So wie des Wandrers Blick am Morgen Vergebens in die Lüfte dringt, Wenn, in dem blauen Raum verborgen, Hoch über ihm die Lerche singt: So dringet ängstlich hin und wieder Durch Feld und Busch und Wald mein Blick; Dich rufen alle meine Lieder; O komm, Geliebte, mir zurück! 28 Ob das Gedicht noch eine reale Rückkehr der Geliebten erhofft, ob es retrospektiv eine frühere Seelenlage wieder heraufbeschwört oder ob es sich bereits, wie es später die Elegie exemplifiziert, an die Verstorbene wendet, läßt sich nicht feststellen. Nimmt man die erste oder zweite Möglichkeit zum Ausgangspunkt des weiteren Nachvollzugs von Goethes Erleben, so führt der Weg direkt zur Situation von Werther. Goethe hat in Dichtung und Wahrheit des öfteren eigene Lebensdaten auf eine leicht durchschaubare Weise gefälscht, um für aufmerksame Leser gerade durch Widersprüchlichkeiten erkennbare Verbindungslinien zwischen Zusammengehörigem zu ziehen, so auch bezüglich der Eheschließung Cornelias und des Romans. Die Autobiographie hält hierzu fest: […] Es ward ein sauberes Manuskript davon besorgt, das nicht lange in meinen Händen blieb: denn zufälligerweise<! > an demselben Tage, an dem Georg Schlosser sich mit meiner Schwester verheiratete und das Haus, von einer freudigen Festlichkeit bewegt, glänzte, traf ein Brief von Weygand aus Leipzig ein, mich um ein Manuskript zu ersuchen. Ein solches Zusammentreffen hielt ich für ein günstiges Omen, ich sendete den Werther ab, […]. 29 28 FA 1, S. 284. 29 DuW III, 13; FA, S. 641. <?page no="179"?> 175 Der Hochzeitstag fiel auf den 1. November 1773. Der Roman wurde jedoch erst im Februar 1774 in seiner ersten Fassung niedergeschrieben! Deutlicher konnte Goethe nicht werden, um auf einen Zusammenhang hinzuweisen! 30 1774 kam Werther heraus. Auf dem Vorsatzblatt eines Exemplars dieser Erstausgabe, von dem man nur weiß, daß es 1896 aus dem Besitz eines ‚Züricher Rechtsanwalts’ in das Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar gelangte 31 , ist von Goethes Hand folgende Widmung zu lesen: In jammervolle Seelenfreuden Sei bei des Armen Not entzückt, Ihm schuf sein Herz die bittre Leiden Deins mache Doron dich beglückt. 32 Weder der Kommentar der Weimarer Ausgabe noch auch Information aus dem dortigen Archiv können zur Identität des Verkäufers des Buches noch zum Vorbesitzer oder zum Adressaten der Widmung weiteren Aufschluß geben. Doch die Apostrophe „Doron“ (Gabe) und das doppelt (verbatim und implicite) angewandte Schlüsselwort „Herz“ innerhalb zweier Verse zeigen an, wem diese Widmung in der Erstausgabe des Buches galt. Nur so läßt sich die ganze Bitterkeit dieser Verse ermessen, welche die Beschenkte - wie ja zweifellos Cornelia - zutiefst treffen mußte. Ein anderes Gedicht, das die unterschiedliche seelische Verfassung von Liebendem und Geliebter ausdrückt, aber letzlich überwindet, ist Jägers Nachtlied, entstanden im Winter 1775. Hier die im Teutschen Merkur 1776 erstmals gedruckte Fassung: J ÄGERS N ACHTLIED Im Felde schleich ich still und wild, Lausch mit dem Feuerrohr, Da schwebt so licht dein liebes Bild Dein süßes Bild mir vor. Du wandelst jetzt wohl still und mild Durch Feld und liebes Tal, Und ach mein schnell verrauschend Bild, Stellt sich dir’s nicht einmal? Des Menschen der in aller Welt Nie findet Ruh noch Rast; Dem wie zu Hause, so im Feld Sein Herze schwillt zur Last. Mir ist es denk ich nur an dich Als säh’ den Mond ich an; 30 Vgl. K. R. Eissler 1, S. 158, in anderer Sicht. 31 WA I 5/ II, 359. 32 FA 1, S. 157, Kommentar zu ‚Doron’ ebd., S. 876: „Adressat unbekannt“. <?page no="180"?> 176 Ein stiller Friede kommt auf mich, Weiß nicht, wie mir getan. 33 Wie so manches andere von Goethes’ ‚Liedern’ ist auch dieses eine Kontrafaktur eines fremden Gedichts. 34 Der beibehaltenen musikalischen Weise wird ein veränderter Text „untergelegt“, der bei gleichbleibendem Metrum das Thema variiert, wobei etwas Neues entsteht. Weder der Begriff ‚Plagiat’ noch ‚Zitat’ treffen diesen Vorgang, eher handelt es sich um Umschmelzung vorhandenen Rohmaterials. Thümmels 35 Jägers Abendlied lieferte zu Goethes Gedicht eine ganze Menge: Melodie und Rhythmus, Situation und Vokabular. Eine Reihe von Wörtern, wie „Bild“, „mild“, „schweben“, „Mond“, „Friede“ erscheinen hier wie dort, doch sind sie bei Goethe symbolisch aufgeladen. Aus einer schwachen Opernarie wurde große Dichtung. Goethe kehrt die Situation um. Thümmels Jäger äußert seinen Liebesschmerz in rhetorischen Phrasen, die am Schluß seinen Tod an gebrochenem Herzen bzw. durch Suizid als bereits geschehen vorwegnehmen. Bei Goethe sind es die ersten beiden Verse, die ein Tötungsvorhaben andeuten. Das „Wild“, dem Thümmels „Jäger“ seine Ruhe beläßt, erscheint nun, verinnert zu „wild“ als Attribut des Sängers. Er selbst ist das Wild, dem das „Feuerrohr“ „gespannt“ (spätere Fassung) ist. Dazu kommt wiederum ein Spiel mit dem Namen. ‚Wolfgang’ bezeichnet einen, der ‚nach dem Wolfe geht’, einen Jäger also. Wenn das gejagte Objekt aber selbst einen Wolf darstellt, weil es sich in normaler Abkürzung so nennt 36 , dann sind Jagender und Gejagter ein und dieselbe Person, deren Gespaltenheit hier in den Attributen „still“ und „wild“ oder „still“ und „Wild“, je nach Betrachtung der Rolle, zum Ausdruck kommt. Es ist die Situation am Schluß des Werther-Romans, die hier noch einmal evoziert wird. Diesmal wird das böse Ende abgewendet durch eine seltsame spiegelbildartige Erscheinung: Das Ich und das ferne Du werden in zwillingshafter Parallelität miteinander konfrontiert: er „still und wild“, Sie „still und mild“; er „schleicht“, sie „wandelt“; ihr „Bild“ „schwebt ihm vor“; „stellt sich“ ihr denn nicht auch sein „Bild“? 37 Auf dieses Bild wird nun aller Schmerz projiziert mit seiner Ursache und ihren Auswirkungen. Dies geschieht mit äußerster Intensität und Konzentration. Die knappe Form dieser einen dritten Strophe, die all dies fassen muß, symbolisiert die emotionale Anspannung im machtvollen Herbeiwünschen einer seelischen Begegnung. Und wie später in der Elegie zu der toten, stellt sich hier eine Verbindung zur fernen Geliebten her. Ihre Vergegenwärtigung wird dem Anschauen des Mondes verglichen, der „Schwester von dem ersten Licht, / Bild der Zärtlichkeit in Trauer! “, wie ein anderes Gedicht 33 FA 1, S. 225. Leicht veränderte zweite Fassung, Jägers Abendlied, ebd., S. 300 f. 34 Vgl. hierzu u. a.: Woher sind wir geboren, entstanden vielleicht 1781, Erstdruck 1886 (FA 1, S. 245. Laut Kommentar eine Umformung von Versen Valentin Andreaes, S. 976); Nähe des Geliebten, Erstdruck 1795 (FA 1, S. 647 und Kommentar S. 1213); Nachtgesang, Erstdruck 1804 (FA 2, S. 58 und Komm. S. 936 f.); Gegenwart, entstanden 1812, Erstdruck 1815 (FA 2, S. 40 und Komm. S. 932). 35 Moritz August von Thümmel (1738-1817). Zu seinem Gedicht als Vorlage für das von Goethe siehe Emil Staiger, Goethe. Zürich/ Freiburg i.B. 1960. Bd. 1, S. 328. 36 Vgl. Kanzler F. von Müllers Aufzeichnung von Goethes Gespräch mit Marie Szymanowska vom 5. November 1823, in: Biedermann, Gespräche, Nr. 5317, III/ 1, S. 612. 37 Vgl. hierzu Erwin und Elmire, Erstfassung, FA 4, S. 517, v. 24 ff. <?page no="181"?> 177 anhebt. 38 „Friede“ ist das Signum ihrer Einwirkung, die durchaus als von außen kommend erfahren wird. Der Schlußvers zeigt dies klar: „Weiß nicht, wie mir getan.“ In beiden Versionen ist dieser Friede dem Ich wie dem Du zugesellt und zugleich auch der geheime Träger der impliziten Chiffre ‚fried’ im gemeinsamen Familiennamen einerseits und andererseits in Cornelias zweitem Vornamen Friederike. Über alle Unterschiede von Diktion und Form hinweg, gibt dieses frühe Gedicht einen Vorgang wieder, den die Trilogie der Leidenschaft mehrfach miterleben läßt und den das Gedicht Äolsharfen im Symbol der Regenbogenerscheinung zu fassen sucht (vgl. S. 34 f.): Trauer oder Verzweiflung als notwendige Voraussetzung eines telepathischen Erlebnisses. In diesem Sinn läßt sich auch Wandrers Nachtlied (Erstdruck 1780) deuten, dessen ursprünglicher Titel Um Frieden lautete, wobei ‚Gebet’ oder ‚Bitte’, vorangestellt, hinzuzudenken ist: Der du von dem Himmel bist Alle Freud und Schmerzen stillest, Den der doppelt elend ist Doppelt mit Erquickung füllest. Ach ich bin des Treibens müde! Was soll all die Qual und Lust. Süßer Friede, Komm ach komm in meine Brust! 39 Am 17. Juli 1777 schreibt Goethe den bereits im Zusammenhang mit Pandora zitierten Vierzeiler in einen Brief an Auguste Gräfin zu Stolberg: Alles gaben Götter die unendlichen Ihren Lieblingen ganz Alle Freuden die unendlichen Alle Schmerzen die unendlichen ganz. So sang ich neulich als ich tief in einer herrlichen Mondnacht aus dem Flusse stieg der vor meinem Garten durch die Wiesen fliest; und das bewahrheitet sich täglich an mir. Ich muss das Glück für meine Liebste erkennen, dafür schiert 40 sie mich auch wieder wie ein geliebtes Weib. Den Todt meiner Schwester wirst du wissen. Mir geht in allem alles erwünscht, und leide allein um andere. 41 Diese zunächst undurchsichtige Briefstelle vermittelt zusammen mit den Versen nichts Geringeres als einen Nachruf auf die im Vormonat verstorbene Schwester. Wenn ihn Fortuna („das Glück“) als „Liebste“ plage „wie ein geliebtes Weib“ und er unmittelbar darauf den Tod der Schwester erwähnt, so will das wohl so viel heißen, als daß nun auch das Glück für ihn gestorben sei. Die Todesnachricht hatte Goethe erst acht Tage nach Cornelias Hinscheiden über Frankfurt am 16. Juni erreicht. 38 FA 1, S. 94. 39 FA 1, S. 229 und Kommentar, S. 958. 40 In der älteren Bedeutung von ,plagen’, vgl. DWb. 14, Sp. 2575; die neuere Bedeutung von ‚kümmern’ gewöhnlich nur in Fragen oder negiert (Sp. 2576). 41 HA Briefe 1, S. 234. <?page no="182"?> 178 Schlosser hatte ihn nicht selber verständigt. Ohne Zweifel war ein zwischen beiden Männern seit geraumer Zeit bestehendes Spannungsverhältnis auch der Grund, warum Goethe Cornelia zehn Monate lang nicht mehr geschrieben hatte. 42 Immerhin hatte er Charlotte von Stein gebeten, sich ihrer anzunehmen 43 , und zumindest für einen Brief an ‚Gustgen’ Stolberg 44 aus der Frankfurter Zeit ist sein Wunsch nachweisbar, sie möge ihn für die Schwester abschreiben und ihr schicken. Doch mag dies durch mündliche Absprache mit den Goethe befreundeten Brüdern Stolberg in irgendeiner Form auch für die anderen Briefe gegolten haben: Es würde den überaus emotionalen Ton vieler Briefstellen verständlich machen, der sich gegenüber einem Mädchen, noch dazu einem adeligen, das Goethe nie persönlich kennen gelernt hat, kaum erklären läßt, auch nicht durch den Stil zeitgemäßer ‚Empfindsamkeit’. Die Vermutung liegt nahe, daß Auguste in die schwierige Situation in Emmendingen eingeweiht war und mithalf, einen gewissen Kontakt der Geschwister aufrechtzuerhalten, ohne Schlossers sogar öffentlich bekundetem Groll 45 neuen Stoff zu liefern. Nach Cornelias Tod stockte die Korrespondenz mit Auguste. Drei kurze Briefe liegen zwischen 1778 und 1782 noch vor, dann herrschte, sicher auch mitverursacht durch Goethes Entfremdung von den Brüdern Stolberg, Stille bis zu jenem bedeutsamen Austausch religiöser Überzeugungen von 1822 bzw. 1823, von dem schon die Rede war (vgl. S. 39 f.). Inwieweit ‚Gustgen’ verstand, was die ihr gesandten oben zitierten Verse andeuteten, läßt sich nur raten. In ihnen wird Cornelia unausgesprochen als Pandora gefaßt, hier nicht als die ‚Gebende’, sondern als die gemeinsam mit dem Bruder mit dem gefährlichen Geschick des Götterlieblings ‚Begabte’. (Vgl. S. 87 f.) Der Anfang des Vierzeilers mit „Alles gaben“, die zweimalige Wiederaufnahme von „alle“ und das gedoppelte „ganz“ an markantester Stelle lassen daran keinen Zweifel. Worauf sich zu diesem Zeitpunkt die „Freuden” beziehen, läßt sich nicht der Biographie, vielleicht aber dem Werk entnehmen. Irgendein Zeichen, eine Art Testament, mag Goethe zugekommen sein, das ihm Cornelias Ehe in einem neuen Lichte zeigte: nicht mehr als Verrat an den Plänen eines wie immer gearteten, gemeinsamen Lebens, sondern vielleicht als ein um des Bruders Zukunft willen geleistetes Opfer. Mutatis mutandis, findet der Tod der Schwester seinen poetischen Niederschlag im dramatischen Bericht vom Leiden Marianes, mit dem die alte Barbara dem unglücklichen Wilhelm Meister die Augen darüber öffnet, was seine eigenen Versäumnisse gegenüber der geliebten Frau betrifft, wobei die „Sibylle“ zugleich mit der Verzweiflung auch eine gewisse Befriedigung in ihm auslöst, als sich der Jüngling nun nicht länger von der Geliebten betrogen fühlen muß. 46 Pandora und Fortuna verschmelzen in der auf die Verse folgenden Briefstelle zu einer Gestalt, ambivalent, wie sie ja beide im Mythos erscheinen. Ein anderer Vierzeiler, den Goethe selber, wie auch den obigen, nie veröffentlicht hat, wurde 42 Lavater an Zimmermann, 14. Juni 1777 (Schriften der Goethe-Gesellschaft, 16, S. 350). Vgl. Georg Witkowski, Cornelia, die Schwester Goethes, Frankfurt a. M. 1903. S. 128 u. Kommentar. 43 Brief vom 20. Mai 1776. 44 HA Briefe1, S. 215 (s. S. 218). 45 Siehe Witkowski, a. a. O., S. 104. 46 WMLJ, 7, 8; FA 9, S. 854 ff. <?page no="183"?> 179 undatiert unter Notizen gefunden. Er umkreist ebenfalls den Pandora-Namen und die Ambivalenz ihrer Gestalt: Hast mir gegeben Alle das Leben Alle die Freuden Alle die Lust 47 Das Fehlen jeglicher Interpunktion macht hier eine zwiefache Interpretation möglich. Zunächst liest man die zweite, dritte und vierte Zeile als Objekte zum Prädikat in Vers 1. Die ungewöhnliche, ja inkorrekte Form „alle das Leben“ nimmt man dabei als poetische Lizenz in Kauf, obwohl sie befremdet. Die andere Möglichkeit sieht am Ende von Vers 1 einen Punkt vor. Das hieße dann: Du hast mir gegeben, jetzt gibst du mir nicht mehr. Die weiteren Zeilen stellen, so verstanden, elliptische Sätze dar, anaphorische Ausrufe, die in idiomatischer Diktion das Ende von „Leben“, „Liebe“ und „Lust“ bekunden. 48 Die Möglichkeit, das kleine Gedicht positiv als dankbares Gebet oder negativ als emphatische Bankrott-Erklärung eines Lebens zu verstehen, räumt ihm einen Rang ein, den es ohne diese Ambiguität nicht hätte. Ausgespart in dem nicht einmal ausgesprochenen ‚Du’, zeichnet sich hier wieder, parechetisch beschworen, die Silhouette Pandorens ab und führt in die Nähe von Werther. Während die positive Deutung nach den beiden ungereimten Zeilen noch eine Fortsetzung erwarten ließe, findet sich die negative gerade durch die Fragmentarität bestätigt oder, besser, faßt sie erst gar nicht als solche, sondern als das Ende schlechthin, dem nichts mehr hinzuzufügen ist. Der Vierzeiler gibt Einblick in Goethes Werkstatt. Die Ambivalenz, die in dem Divan-Gedicht In tausend Formen (vgl. S. 103 ff.) in den vielen Metaphern zum Ausdruck kommt, liegt hier in der Semantik eines einzigen Wortes begründet, das als übersetzter Teil eines chiffrierten Namens beides zugleich ist: dankbare Lebensbejahung und deren Aufhebung. Ein Epigramm aus Vier Jahreszeiten (aus dem Jahre 1800) führt das Thema weiter: Das ist die wahre Liebe, die immer und immer sich gleich bleibt, Wenn man ihr Alles gewährt, wenn man ihr Alles versagt. 49 Hier fällt die Fügung „immer und immer“ auf, während man eigentlich die Phrasis ‚immer und ewig’ gewärtigt hätte. Für die Dimension der Ewigkeit, so muß man jedoch schließen, wäre die Polarität aufgehoben und deshalb mußte das Wort ‚ewig’ zugunsten der blasseren Wiederholung zurückstehen. Daß ‚gewähren’ hier gleichsinnig die Stelle von ‚geben’ einnimmt, braucht nicht erst betont zu werden. Das in der Sammlung nächstfolgende Distichon variiert das Spiel um den Pandora-Namen und zieht es aus dem allgemeinen in den persönlichen Bereich: 47 FA 1, S. 191 und Kommentar, S. 910: Erstdruck WA. Unter Notizen, nicht zuzuordnen. 48 Zu Goethes Gebrauch von ‚alle’ im Sinne von ‚zuende gegangen’ siehe Goethe-Wörterbuch, Akademie-Verlag, Berlin. 49 FA 2, S. 241. <?page no="184"?> 180 Alles wünscht’ ich zu haben, um mit ihr Alles zu teilen; Alles gäb’ ich dahin, wär’ sie, die Einzige, mein. 50 Hier tauscht der Dichter die Position mit der Geliebten und versteht sich gewissermaßen als ,Pandoros’ - eine dreifach hypothetische Rolle, der nicht nur Zeit und Realität, sondern auch die Mythologie zuwiderlaufen. Vergangene Träume werden aufgenommen, irreale Verhältnisse durchdacht und im Sog der Sehnsucht neu belebt. Die nachgestellte Protasis des Konditionalsatzes wird zur schmerzlichen Beschwörung. Hinter ‚Pandoros’ zeichnet sich Orpheus ab. Inanspruchnahme des Partnernamens - Rolle und Name sind hier ja deckungsgleich - bedeutet ein besonders festes Band der Zugehörigkeit. So sind der Wechsel des Nachnamens der Frau bei der Eheschließung, wie er bis vor kurzem die Regel und gesetzlich vorgesehen war, oder der Austausch von Ringen mit dem eingravierten Namen des Partners Zeichen zur Besiegelung des Bundes. Wie merkwürdig muß es in diesem Zusammenhang Goethe erschienen sein, da ja sein Blick vielfach auf Präfigurationen seines und der Herrin Schicksals ausgerichtet war, in seiner Identifikationsfigur Gallus und dessen Liebster (vgl. S. 82 ff.) ein Paar zu finden, dessen Namen genau ins eigene Leben paßten: der liebende Mann mit dem Gens-Namen Cornelius, die geliebte, verlorene, betrauerte Frau, eingegangen in die Dichtung als Lycoris - ein Name, der wohl nicht etymologisch, aber phonetisch ‚cor’ in sich birgt und, vor allem, von λύκος , Wolf, abgeleitet ist (vgl. S. 92 f.). Indem Goethe dieses Paar in die Elegie einband, hat er dem Gedicht, über alle anderen Bezüge hinaus, ein symphronistisches Siegel eingearbeitet, das auf Wolfgang und Cornelia verweist. Vom Dichter als ‚Pandoros’ in „Ihrer“ Nachfolge führt eine weitere Linie zur Elegie, die damals (1797) noch in ferner Zukunft lag. Gemeint ist jene Stelle, wo Leuconoe, oder vielmehr aus ihrem ‚Mund’ die Herrin, den Dichter belehrt und ihm in zwei Strophen die Quintessenz von zwei Horaz-Oden vermittelt, sie dabei noch überbietend. Wie man sich erinnert (S. 62), befiehlt ihm Leuconoe, es ihr gleichzutun und (gemäß ihrem ‚Sprechenden Namen’) „froh verständig“ zu handeln. Mit anderen Worten: sie bekleidet ihn mit ihrem Namen. Hinter ihrer Gestalt jedoch verbirgt sich Pandora, die ihm in Wiedergabe des horazischen „omnis“ aus „Non omnis moriar“ (vgl. S. 66 ff.), die Unsterblichkeit nicht nur im Werk, wie Horaz sie erwartete, sondern auch als Persönlichkeit verspricht: Nur wo du bist sei alles, immer kindlich, So bist du alles, bist unüberwindlich. In diesen Versen, von denen bereits ausführlich in eschatologischer Hinsicht die Rede war (vgl. S. 66), hat ‚Geben’, ‚Teilen’, ‚Gewähren’ aufgehört; an ihre Stelle ist das ‚Sein’ getreten, das Sein, das „alles“ in sich schließt und fortwährt, unüberwindlich für den Tod. Genau dies wird in dem 1829 entstandenen Gedicht Vermächtnis festgehalten: Am Sein erhalte dich beglückt! Das Sein ist ewig, denn Gesetze 50 FA 1, S. 612. <?page no="185"?> 181 Bewahren die lebend’gen Schätze Aus welchen sich das All geschmückt. 51 Das Buchorakel, um ein weiteres Mal auf die Elegie zu sprechen zu kommen (vgl. S. 63 ff.), ‚mußte’ geradezu anfänglich auf die Oden Hor. C. 1,11 und 3,30 treffen, weil sie der Geliebten die Möglichkeit geben, auf die implizierten Fragen nach Leben und Tod zu antworten. Und indem „Sie“- als die literarische Figur Leuconoe - ihn an ihrem Namen teilhaben lassen möchte, tut sie dies in gleicher Weise mit dem Kennwort „alles“ in Ihrer allegorisch-mythischen Gestalt als Pandora, um ihn aus ihrer Sphäre zu belehren. * * * Vielleicht ist hier der Ort, in einem kurzen Exkurs noch von einem weiteren Code- Wort zu sprechen, nämlich vom Wort ‚schließen’ und seinem zugehörigen Umfeld, Schlüsselwörtern im allerwörtlichsten Sinne. In ihrer Funktion als mehrdeutige Chiffren nahmen sie wohl ihren Ausgang vom Namen Schlosser, den ja auch Cornelia nach ihrer Verheiratung mit Johann Georg Schlosser trug. Bezüglich seines Schwagers spielte Goethe ganz klar durchschaubar mit dem Namen, wenn er von ihm sagte: […] freilich hatte er als Mensch, Geschäftsmann, Schriftsteller gar vieles erlebt und erlitten, daher sein ernster Charakter sich in sich selbst verschloß 52 und jeder heitrern, glücklichen, oft hülfreichen Täuschung entsagte. 53 Oder Goethe beschreibt ihn als einen Mann, „welcher ernst und verschlossen, zuverlässig und schätzenswert, ihr [Cornelia] seine Neigung, mit der er sonst sehr kargte, leidenschaftlich zugewendet hatte.“ 54 Auch bei Schlossers Tod findet Goethe einen Zusammenhang mit dem Namen. So schreibt er an Schiller: Von Frankfurt erhalte ich die Nachricht, daß Schlosser gestorben ist. Die Franzosen und sein Garten sind die nächsten Ursachen seines Todes. Er befand sich in demselben, als jene sich Frankfurt näherten, er verspätete sich und fand das nächste Tor schon verschlossen, er mußte bis zu dem folgenden eilen, das weit entfernt ist, kam in eine sehr warme Stube, wurde von da ins Rathaus gerufen, worauf er in ein Fieber verfiel, das tödlich wurde und ihn in kurzer Zeit hinraffte. Unsere botanische Korrespondenz hat sich also leider zu früh geschlossen. 55 Das Code-Wort ‚schließen’ erhält durch Präfix oder Vorsilbe seine Qualität: so verheißt ‚erschließen’ oder ‚aufschließen’ normalerweise etwas Gutes; während ‚verschließen’, ‚abschließen’, ‚zuschließen’ auf Schlimmes deutet. Oft offenbart sich auf diese Weise ein ganz persönlicher Bezug zum Dichter. Wieder soll zuerst auf 51 FA 2, S. 685. 52 Hervorhebungen hier wie im Folgenden, E. H. 53 Belagerung von Mainz; FA 16, S. 611. 54 DuW III, 12; FA 14, S. 601 f. 55 An Schiller, 23. 10. 1799; Briefwechsel, S. 654. <?page no="186"?> 182 die Elegie verwiesen sein, auf ihre vierte und fünfte Strophe, weil die Chiffre auch hier das Verhältnis zur Herrin bekundet: Was soll ich nun vom Wiedersehen hoffen, Von dieses Tages noch verschlossner Blüte? ( Str. 1) Das Auge starrt auf düstrem Pfad verdrossen, Er blickt zurück, die Pforte steht verschlossen. (Str. 4) Und nun verschlossen in sich selbst als hätte Dies Herz sich nie geöffnet,[…] (Str. 5) Und dann im Gegensinne zum Schluß (Strophe 22), in der Verzweiflung, die alle Lebensfreude zunichte macht und den Dichter von den Freunden trennt, denen die Welt offensteht: Verlaßt mich hier, getreue Weggenossen! Laßt mich allein am Fels, in Moor und Moos; Nur immer zu! euch ist die Welt erschlossen, (Str. 23) 56 Die an vorletzter Stelle zitierten Elegie-Verse klingen wie eine Umkehrung des Aufschreis Werthers, dem bereits das schicksalsträchtige Wort geläufig ist: „Wehe! wehe! kein Lebewohl! - Solltest du dein Herz für mich verschlossen haben, um des Augenblicks willen, der mich ewig an dich befestigte? […] 57 Im „Monodram“ Proserpina klagt das geraubte Mädchen über sein Schicksal: Ist’s auf seinen düstern Augenbrauen, Im verschlossenen Blicke? Magst du ihn Gemahl nennen? Und darfst du ihn anders nennen? Liebe! Liebe! Warum öffnetest du sein Herz Auf einen Augenblick? Und warum nach mir, Da du wußtest, Es werde sich wieder auf ewig verschließen. 58 In dem Namen Clavigo, den Goethe aus dem spanischen ‚Clavijo’ abgeändert hat und in dem das lateinische clavis (= Schlüssel) steckt, verbindet er den Namen Schlosser mit einer Chiffre seines eigenen und gibt damit einen Hinweis auf den gespiegelten Doppelcharakter des lebenden Protagonisten als eines erzürnten Bruders einerseits und eines schuldhaft unzuverlässigen Verlobten andererseits, Rollen, die im Stück, scharf profiliert in den Antagonisten Carlos und Beaumarchais, auseinanderfallen. Per Chiffre (und nur so) sind sie heimlich auf Clavigo konzentriert, beides Rollen, die Goethe, wie später noch zu zeigen sein wird, vielleicht auch schon zur Zeit der Entstehung von Clavigo sich selber zuschrieb. 56 Vergleiche dazu: „Nur wenn das Herz erschlossen, / Dann ist die Erde schön. / Du standest so verdrossen / Und wußtest nicht zu sehn.“ (Zahme Xenien VIII; FA 2, S. 726). Komm.: Eigenhändig mit Datum 3. 8., Jahr abgeschnitten. 57 Werther-Fassung A und B; FA 8, S. 258 u. 259. 58 Der Triumph der Empfindsamkeit IV; FA 5, S. 100 f. <?page no="187"?> 183 Verzweifelt klagt sich der Herzog im Drama Die Natürliche Tochter nach dem vermeintlichen Tod Eugenies an, daß er ihn nicht auch in der Ferne fühlend miterlebt habe: […] Sinnlich und verstockt Ins Gegenwärtige verschlossen fühlt Der Mensch das nächste Wohl, das nächste Weh, Und Liebe selbst ist in der Ferne taub. 59 Mit ähnlicher Chiffre sieht Eugenie selber ihr Schicksal besiegelt, wobei das Leid in der sonst positiv besetzten Variante besonders grimmig durchbricht: So ward auch mir ein Schlüssel anvertraut: Verbotne Schätze wagt ich aufzuschließen Und aufgeschlossen hab ich mir das Grab. 60 Später wird sie der Hofmeisterin, die sie zur Ehe überreden will, erwidern: Der Gatte zieht sein Weib unwiderstehlich In seines Kreises abgeschloßne Bahn. Dorthin ist sie gebannt, sie kann sich nicht Aus eigner Kraft besondre Wege wählen, Aus niedrem Zustand führt er sie hervor, Aus höhern Sphären lockt er sie hernieder. Verschwunden ist die frühere Gestalt, Verloschen jede Spur vergangner Tage. Was sie gewann, wer will es ihr entreißen? Was sie verlor, wer gibt es ihr zurück? 61 In ihrem Lied „Heiß mich nicht reden, heiß mich schweigen“ singt Mignon zuletzt: Ein jeder sucht im Arm des Freundes Ruh, Dort kann die Brust in Klagen sich ergießen; Allein ein Schwur drückt mir die Lippen zu Und nur ein Gott vermag sie aufzuschließen. 62 Der weise Oheim der Lehrjahre resümiert einmal im Gespräch mit der „Schönen Seele“: „[…] wir sehen […], daß man nicht wohl tut, der sittlichen Bildung’ einsam, in sich selbst verschlossen nachzuhängen; […]“ 63 . In diesem Sinn hofft auch Natalie, durch Wilhelm, „das arme gute Herz [Mignons] wieder aufzuschließen“ 64 . Denn, wie es später in einem bereits erwähnten Zahmen Xenion heißen wird: „Nur wenn das Herz erschlossen / Dann ist die Erde schön.“ 65 59 Die Natürliche Tochter, v. 1466 ff.; FA 6, S. 348. 60 Ebd. v. 1924 ff., S.362. 61 Ebd., v. 2295 ff., S. 372. 62 FA 2, S. 321. 63 WMLJ VI, FA 9, S. 780 f. 64 Ebd. 8, 3; FA 9, S. 908. 65 Zahme Xenien VIII; FA 2, S. 726. <?page no="188"?> 184 Wie schon anhand des Namens „Clavigo“ gezeigt wurde, scheint der Name Schlosser chiffriert auch in Übersetzung auf. So heißt der unwillkommene Bewerber um Mariannes Hand in dem 1776 entstandenen Stück Die Geschwister 66 nicht zufällig Fabrice, ein Name, der auf das lateinische ‚faber, -bri’, (Schmied etc.) zurückgeht. Und in dem Singspiel Claudine von Villa Bella 67 (Erstfassung 1774/ 5) ist der Vorname der Protagonistin von lat. ‚claudere’, auch ‚cludere’, schließen, abgeleitet, der Nachname „Villa Bella“ steht für ‚Schloß’ (diesmal ausnahmsweise), das Gebäude. (Am Rande vermerkt: die Handlung läßt vermuten, daß mit dem Stück, in welchem sich zuletzt, entsprechend einem Brief Goethes, die sanfte „Claudine“ zu einer mutigen „Lucinde“ 68 wandelt, Cornelia die Mutprobe einer Rückkehr zum Dichter ‚durch die Blume’ nahegelegt werden sollte.) Man könnte in dieser Weise sehr lange fortfahren, doch soll noch jene Stelle aus Werther genannt sein, wo es heißt: „So viel ist gewiß, [Lotte] war fest bey sich entschlossen, alles zu thun, um Werthern zu entfernen“ 69 , ehe unter diese Auswahl von Beispielen der Schlußstrich gesetzt wird mit einer Stelle aus Wilhelms Brief aus den Wanderjahren an die ferne Natalie. Hier bringt sich der Dichter ganz persönlich ein mit Hilfe einer geheimen und zugleich offenbaren Sigle einer über Zeit und Raum hinweg gültigen Bindung: Was könnte mich von Dir scheiden! von Dir, der ich auf ewig geeignet bin, wenn gleich ein wundersames Geschick mich von Dir trennt und mir den Himmel 70 , dem ich so nahe stand, unerwartet zuschließt.[…] 71 66 FA 5, S. 11 ff. 67 FA 4, S. 589 ff. 68 An Joh. Friedrich Reichardt, 15. Juni 1789; HA Briefe 2, S. 118. Dazu anzumerken: ‚Lucinde’, mit Weglassung des ‚a’, semantisch und etymologisch korrekte anagrammatische Umbildung von ‚Claudine’. 69 Werther, Fassung B, FA 8, S. 219. 70 Auch ,Himmel’ ist ein Code-Wort, wie zu Beginn des Schlußkapitels gezeigt werden soll. 71 WMWJ 1, 1; FA 10, S. 23. <?page no="189"?> 185 7. Die Zahl Sieben. Harzreise im Winter In den Epigrammen, denen der Beiname ‚Venezianisch’ zugelegt wurde, aus der ersten Hälfte der Neunzigerjahre, steht an siebenter Stelle das bereits zitierte Distichon, das ebenfalls den Pandora-Namen umspielt: Eine Liebe hatt’ ich, sie war mir lieber als Alles! Aber ich hab’ sie nicht mehr! Schweig’, und ertrag’ den Verlust! 1 Es mag durchaus sein, daß diese Verse, wie Staiger meint, der verlorenen Liebe zu Italien gelten 2 , und vermutlich wollte Goethe sie zunächst von seinen Lesern auch so verstanden wissen, wozu z. B. das vierte Epigramm die nötige Voraussetzung liefert. Doch ist es auch hier, wie so oft bei Goethe, daß hinter der augenfälligen Bedeutung eben noch eine andere liegt, die, ohne die erste zu widerlegen, ihr an Signifikanz nicht nachsteht, ja sie darin übertrifft. Das Distichon nimmt in seiner epigrammatischen Kürze die Ausgangssituation des Festspiels Pandora vorweg. Hier klagt Epimetheus um seine verlorene Gattin, und Prometheus weist ihn zurecht: ein innerer Dialog oder eher ein Doppelmonolog, in dem jede Hälfte des geteilten Ich zu sich selber spricht, wie ja auch das Drama beide Gestalten als Aspekte einer Persönlichkeit faßt (vgl. S. 123 f.). Das Distichon ist aber auch von einem Sprachspiel geprägt. Wie Goethe in der Elegie mit Superlativen verfährt (vgl. S. 356 und S. 267), so gilt seine Aufmerksamkeit hier dem Komparativ! Die zwei Bedeutungen des Wortes „Liebe“: die Emotion und das geliebte Objekt einerseits und anderseits die gesteigerte Form von ‚lieb’, „lieber“, setzt er ein, um den Gehalt der Verse in dem Wortspiel einer absurden phonetischen Steigerung des Substantivs noch weiter zu veranschaulichen! Wenn man dem Distichon mit Staiger die erste Bedeutung unterlegt, fällt es nicht aus dem Rahmen der übrigen kritischen Epigramme. Die zweite Interpretation, die den vorangegangenen und folgenden Epigrammen nicht entspricht, wird durch die Position des Distichons an siebenter Stelle heimlich bekräftigt. Es würde zu weit führen (und einer eigenen Arbeit bedürfen), wollte man zeigen, daß viele der „Herrin“ geltende größere und kleinere Dichtungen Goethes in Hinblick auf Entstehungsbzw. Veröffentlichungsdatum und -jahr unter dem Zeichen der Zahl Sieben stehen. So wurde, wie erwähnt, das erste, auf Pandora deutende Gedicht, „Alles gaben Götter die unendlichen“ (vgl. S. 87), das sich im Brief an Auguste zu Stolberg auf den Tod der Schwester bezieht, mit dem Datum 17. Juli [7.] 1777 gezeichnet. Der großen Hymne Harzreise im Winter 3 drückte Goethe ebenfalls den Stempel der Sieben auf. Das dem Gedicht zugrundeliegende Datum des 7. Dezember wurde, entgegen den tatsächlichen biographischen Gegebenheiten, in der späteren Erläuterung anstelle des 10.12. eingesetzt. Umgekehrt wieder verschleierte er die historisch belegte Jahreszahl 1777. Dazu Genaueres: 1 FA 2, S. 210. 2 Emil Staiger in J.W. Goethe, Gedichte, Zürich 1949. Bd.1, S. 504 f. 3 FA 1, S. 322 ff. <?page no="190"?> 186 1820, dreiundvierzig Jahre nach Entstehung der Hymne, schrieb Goethe, angeregt durch die ihm zugesandte Interpretation des Rektors Carl Friedrich Ludwig Kannegießer 4 , eigene Erläuterungen 5 zu dem, wie er sagt, „abstrusen Gedicht“. In ihnen erklärt er die äußeren Umstände der Reise; die geheimen Beweggründe läßt er bis auf einige Andeutungen jedoch verhüllt. Die Schlußworte seiner Erläuterungen ermutigen zu weiterer Interpretation: Mein werter Commentator wird […] mit eignem Vergnügen ersehen, wie er so vollkommen zum Verständniß des Gedichtes gelangt sey, als es ohne die Kenntniß der besonders vorwaltenden Umstände möglich gewesen; er findet mich an keiner Stelle mit ihm in Widerstreit, und wenn das Reelle hie und da das Ideelle einigermaßen zu beschränken scheint, so wird doch dieses wieder erfreulich gehoben und ins rechte Licht gestellt, weil es auf einer wirklichen, doch würdigen Base emporgehoben worden. Giebt man nun aber dem Erklärer zu, daß er nicht gerade beschränkt seyn soll alles was er vorträgt aus dem Gedicht zu entwickeln, sondern daß er uns Freude macht, wenn er manches verwandte Gute und Schöne an dem Gedicht entwickelt, so darf man diese kleine gehaltreiche Arbeit durchaus billigen und mit Dank erkennen. Das Gedicht ist so vielschichtig, daß Goethe neben Kannegießers frommer Paraphrase auch ganz andere Interpretationsansätze hätte bejahen können, wie denjenigen Albrecht Schönes, der das Gedicht aus der alttestamentarischen bzw. antik-römischen Befragungspraxis der Orakel zu erklären weiß 6 , oder auch den ihn anfechtenden Artikel Jochen Schmidts, der die Verse in Form und Gehalt völlig auf Pindar bezogen sieht. 7 Begrüßt hätte er auch den Nachvollzug der Reise durch Wolf von Engelhardt, der den Akzent auf Goethes naturwissenschaftliche und bergbautechnische Interessen legt. 8 Jede dieser Sichtweisen hat auf ihrer Ebene ihre Berechtigung, und doch wäre noch eine weitere ihnen zur Seite zu stellen. Hierzu noch etwas aus dem einleitenden allgemeinen Teil der Erläuterungen: Was von meinen Arbeiten durchaus, und so auch von den kleineren Gedichten gilt, ist, daß sie alle, durch mehr oder minder bedeutende Gelegenheit aufgeregt, im unmitteltbaren Anschauen irgend eines Gegenstandes verfaßt worden, deßhalb sie sich nicht gleichen, darin jedoch übereinkommen, daß bey besondern äußeren, oft gewöhnlichen Umständen, ein Allgemeines, Inneres, Höheres dem Dichter vorschwebte. Weil nun aber demjenigen, der eine Erklärung meiner Gedichte unternimmt jene eigentlichen, im Gedicht nur angedeuteten, Anlässe nicht bekannt seyn können, so wird er den innern, höhern, faßlichern Sinn vorwalten lassen; ich habe auch hiezu, um die Poesie nicht zur Prose herabzuziehen, wenn mir 4 Siehe Wolfgang Herwig, Karl Ludwig Kannegießer, Über Göthes ,Harzreise im Winter’, [Prenzlau 1820.] In: GJb, N.F., Bd. 24, Weimar 1962. S. 224 ff. 5 Rezension von Kannegießers Über Goethes Harzreise im Winter in Über Kunst und Altertum III / 2 (1821) FA 21, S. 131 ff.; Zitat S. 138 f. 6 Vgl. Albrecht Schöne, Götterzeichen Liebeszauber Satanskult, S. 7 ff. 7 Jochen Schmidt, Goethes Bestimmung der dichterischen Existenz im Übergang zur Klassik. ‚Harzreise im Winter’. In DVjS 1983, Heft 4, S. 613 ff. 8 Wolf von Engelhardt, Goethes Harzreise im Winter 1777. In: GJb., 104. Bd. der Gesamtfolge, Weimar. 1987. S. 192 ff. <?page no="191"?> 187 dergleichen zur Kenntniß gekommen, gewöhnlich geschwiegen. Das Gedicht aber welches der gegenwärtige Erklärer gewählt, die Harzreise, ist sehr schwer zu entwickeln, weil es sich auf die allerbesondersten Umstände bezieht; […] In meinen biographischen Versuchen würde jene Epoche eine bedeutende Stelle einnehmen. Die Reise ward Ende November 1776 gewagt. Ganz allein, zu Pferde, im drohenden Schnee, unternahm der Dichter ein Abenteuer, das man bizarr nennen könnte, von welchem jedoch die Motive im Gedicht selbst leise angedeutet sind. Es gilt also dem nachzugehen, „was man bizarr nennen könnte“, was jedoch in des Dichters Augen nicht wirklich bizarr ist. Zweimal spricht die Stelle von Andeutungen, bezüglich der „eigentlichen Anlässe“, der „Motive“. Die Aufforderung, über sie nachzudenken, ist offensichtlich. Ihr soll Folge geleistet werden, wobei äußere, ohnehin gut dokumentierte, Umstände nur so weit herangezogen werden, als sie zum unmittelbaren Verständnis nötig sind. Auch Verschleierungen, bestimmt für die Zeitgenossen, können zu Hinweisen werden. Die Jahreszahl der Harzreise hat Goethe nicht von ungefähr inkorrekt angegeben, wenn er sie um ein Jahr vordatierte. Umgekehrt trägt die älteste der erhaltenen Niederschriften durch Goethes Sekretär Seidel den Titel: Auf dem Harz im Dezember 1778 9 . 1777 blieb ausgespart; zugleich aber wurde ein Ereignis des Weimarer Hofes, gewissermaßen als historischer Anhaltspunkt, in das Gedicht eingearbeitet, nämlich die große, vom Herzog mit seinem Gefolge veranstaltete Jagd, um schädliche Wildschweine zu bekämpfen. Auch Goethe, anfänglich mit dabei, kehrte nach seinen eigenen Unternehmungen wieder zur Jagdgesellschaft zurück: zu den „Späte[n] Rächer[n] des Unbills, / Dem schon Jahre vergeblich / Wehrt mit Knütteln der Bauer“. Die Reise wurde am 29. November 1777 gemeinsam angetreten, dann trennten sich die Wege. Goethe, bemüht, sich Kenntnisse des Bergbaus anzueignen, besichtigte Bergwerksstollen und Höhlen 10 , wobei er um ein Haar umgekommen wäre, und besuchte in Wernigerode inkognito einen jungen Mann, der sich, in tiefer Depression ratsuchend, bereits zweimal schriftlich an den Dichter des Werther gewandt hatte. Die Erwähnung dieser Episode in den Erläuterungen läßt sich durch einen eingehenden, in die Campagne in Frankreich eingeschobenen Bericht 11 aufschlußreich ergänzen. Die Kühle, mit der hier wie dort die Gestalt Plessings behandelt wird, macht es unglaublich, daß wirklich er oder er allein mit dem einsamen Unglücklichen des Gedichts gemeint sein kann. Die erste persönliche Begegnung hob die ursprünglich zwiespältigen Gefühle Goethes gegenüber Plessings Briefen nicht auf und bewog ihn auch nicht, sich zu erkennen zu geben als der, der er war. Die Frage: „Aber abseits, wer ist’s? “, die die fünfte Strophe einleitet, läßt sich eher beantworten, wenn wir auch eine zweite Datumsverfälschung der Erläuterungen bedenken. Goethe hat hier seine Besteigung des Brockens um drei Tage vorverlegt, wenn er schreibt: 9 Vgl. Schöne, a. a. O., S.18. 10 Vgl. W. v. Engelhardt, a. a. O., S. 195 f. 11 FA 16, S. 535 ff. <?page no="192"?> 188 Ich stand wirklich am siebenten Dezember in der Mittagsstunde, grenzenlosen Schnee überschauend, auf dem Gipfel des Brockens, zwischen jenen ahnungsvollen Granitklippen, über mir den vollkommen klarsten Himmel, von welchem herab die Sonne gewaltsam brannte,[…] 12 Tatsächlich fand das Ereignis erst am 10. Dezember statt, wie es auch Goethes Tagebuch festhält sowie der Brief an Charlotte von Stein dieses Tages. 13 Der 7. Dezember war Cornelias Geburtstag, ein Datum, das Goethe nicht irrtümlich falsch eingesetzt hätte. Wie im Falle des Werther-Manuskripts (vgl. S. 174), will er hier für den anteilnehmenden Leser einen Zusammenhang erkennbar machen. Die Aussage des Dichters, es mache ihm Freude, wenn der Erklärer „manches verwandte [! ] Gute und Schöne“ (man denke an die „Gute-Schöne“ 14 der 1820 allerdings noch lange nicht existenten zweiten Fassung der Wanderjahre! ) „an dem Gedicht entwickelt“ 15 , ermuntert geradezu, für diese Hymne, einmal den umgekehrten Weg zu gehen und, anstatt wie sonst den Gedichten Hinweise auf das Leben zu entnehmen, von der Biographie her auf das Gedicht zu schließen. Schon fünf Monate nach dem Tode Cornelias verlobte sich Johann Georg Schlosser mit Johanna Fahlmer, der langjährigen Freundin und dem sogenannten „Tantchen“ des Jacobi-Kreises wie der Goethe-Geschwister. Keine zwei Wochen vor Antritt der Reise schreibt Goethe an seine Mutter: Sagen kann ich über die seltsame Nachricht Ihres Briefs gar nichts. Mein Herz und Sinn ist zeither so gewohnt dass das Schicksaal Ball mit ihm spielt dass es für’s neue es sey Glück oder Unglück gar kein Gefühl mehr hat. Mir ists als wenn in der Herbstzeit ein Baum gepflanzt würde, Gott gebe seinen Seegen dazu, dass wir dereinst drunter sizzen Schatten und Früchte haben mögen. Mit meiner Schwester ist mir so eine starcke Wurzel die mich an der Erde hielt abgehauen worden, dass die Äste, von oben, die davon Nahrung hatten auch absterben müssen. Will sich in der lieben Falmer wieder eine neue Wurzel, theilnehmung und befestigung erzeugen, so will ich auch von meiner Seite mit euch den Göttern dancken. Ich bin zu gewohnt von dem um mich iezzo zu sagen: das ist meine Mutter und meine Geschwister pppppp. Was euch betrifft so seegnet Gott, denn ihr werdet auf’s neue erbaut in der Nähe und der Riss ausgebessert.[…] 16 Mit dem Zitat des Jesus-Wortes (Matth.12,49 f.) gab Goethe seine innere Lösung von seinen Eltern zu verstehen. Seltsamerweise ist gerade dieser Brief erhalten geblieben, während andere aus eben dieser Zeit, die nach dem Tode der Mutter wieder in seinen Besitz gelangt waren, vernichtet wurden. Acht Tage vor dem Brief an die Mutter hatte Goethe schon in einem Schreiben an Charlotte von Stein die Metapher vom verletzten Baum, hier in gegenläufiger Richtung, auf sich angewandt: 12 FA 1, S. 1038. 13 Tagebuch vom 10. Dezember 1777; FA 29, S. 121 und HA Briefe 1, S. 246. 14 Meist die „Schöne-Gute“, gelegentlich auch in Umkehrung, so WMWJ 3, 13; FA 10, S. 701. 15 Im Zusammenhang mit Harzreise im Winter: FA 21, S. 139. 16 An die Mutter, 16. November 1777. HA Briefe 1, S. 240. <?page no="193"?> 189 Gestern von Ihnen gehend hab ich noch wunderliche Gedancken gehabt, unter andern ob ich Sie auch wircklich liebe oder ob mich Ihre Nähe nur wie die Gegenwart eines so reinen Glases freut, darin sichs so gut bespiegeln lässt. Hernach fand ich dass das Schicksaal da es mich hierher pflanzte vollkommen gemacht hat wie mans den Linden thut man schneidet ihnen den Gipfel weg und alle schöne Aeste dass sie neuen Trieb kriegen sonst sterben sie von oben herein. Freylich stehn sie die ersten Jahre wie Stangen da. […] 17 Dies also war die Verfassung, in der Goethe sich befand, als er in den Harz aufbrach. Einen Teil seiner selbst fühlte er abgestorben. Zum Schmerz über den Tod der Schwester war noch die Verbitterung über Schlossers allzu schnelle neue Verbindung gekommen, die dem Leid, das ihr Tod verursacht hatte, Hohn zu sprechen schien. Goethes Verhältnis zu ihm und seiner Familie blieb lange absolut distanziert. Dies galt gleichermaßen auch für Cornelias überlebende jüngere Tochter, die er nie kennenlernte; die ältere war, achtjährig, im Sterben gelegen, als sich Goethe 1779 auf der Durchreise in Emmendingen aufhielt, ohne das Haus zu betreten. Nach außen hin ließ sich Goethe im Weimarer Kreise kaum etwas von seiner inneren Bedrängnis anmerken. Die Tagebucheintragungen jener Zeit sprechen, neben den Sitzungen im „Conseil“, von Tänzen, Kirchweihen, Konzerten und gesellschaftlichen Ereignissen. In die unmittelbare Zeit vor und nach der Harzreise fällt die Beschäftigung 18 mit der „dramatischen Grille“ Triumph der Empfindsamkeit 19 , mit deren Aufführung der Geburtstag der Herzogin Luise im folgenden Januar gefeiert werden sollte. 20 In dem freundlich-satirischen Stück, das parallel zur Hymne Harzreise im Winter entstand, werden zwei männliche Figuren einander gegenübergestellt: der König Andrason, ein lebenstüchtiger, munterer Mann, dessen kräftig-maskulines Wesen schon in seinem Namen 21 vorgebildet erscheint, und Prinz Oronaro (von lat. ornare, schmücken, verzieren? - ein Name jedenfalls mit der Chiffre ‚Or’ gekennzeichnet), der sich eine transportable künstliche Naturwelt geschaffen hat, in der er, fernab der Wirklichkeit, empfindsam und ästhetisierend sogar auf Reisen, sein eigentliches Dasein führt: ein Paar, wie es drei Jahrzehnte später urtümlicher in Prometheus und Epimetheus in Erscheinung treten wird. Die Königin Mandandane (‚ne mandanda’, anagrammatisch in etwas fragwürdigem Latein ‚eine, die nicht verheiratet werden soll’ 22 ) steht völlig im Banne des angereisten Prinzen und spielt mit großer Hingabe von ihm gedichtete „Monodramen“, dramatische Monologe. 23 Er hingegen hegt und hütet heimlicherweise in einem Kasten ihr Ebenbild, eine lebensgroße Puppe. 17 An Charlotte v. Stein, 8. Nov. 1777; HA Briefe 1, S. 239 (Nr. 180). 18 Schöne, a. a. O., S. 45 und Anm. 68. 19 FA 5, S. 69 ff. 20 Edwin Redslob, Schicksal und Dichtung, Berlin / New York 1985, S. 100. 21 ἀνήρ , δρός , der Mann. 22 mandare filiam viro (Plautus, Men. 5, 2, 32). 23 Zum Monodrama siehe Gero v. Wilpert, Goethe-Lexikon, S. 715 f. <?page no="194"?> 190 Goethe konnte in dem in seiner Kindheit verwendeten ‚Lesebuch’, der Acerra Philologica (‚Philologisches Weihrauchkästchen’) 24 , ein antikes Vorbild für seinen Prinzen finden. Eine der vielen kleinen ‚Historien’ des Buches berichtet von einem Athener Jüngling, der sich in ein hölzernes Standbild verliebte und sich, weil er es nicht mit sich nehmen durfte, unter Tränen und Treueschwüren das Leben nahm. 25 Mit dem „Triumph“, den der Titel des Stückes proklamiert, setzt es den Prinzen, über die Handlung hinaus, nicht nur in Gegensatz zu König Andrason, sondern - in gewohnter Weise - auch zu der genannten ‚Historie’, König und Prinz suchen auf einem Berg, unabhängig voneinander, wegen der ziemlich verwirrten Situation Rat bei einem nicht weiter definierten Orakel, dessen wundersame, in holprige Distichen gefaßten Sprüche großes Rätselraten auslösen. Während die lebendige Mandandane ein überaus ergreifendes Monodrama Proserpina aufführt, in dem sie die Schrecknisse von Kores Entführung in den Orkus und der von Pluto, dem König dieser Unterwelt, erzwungenen Heirat so lebensecht erfährt, daß sie ihren eigenen Mann mit dem Verhaßten verwechseln kann, wird andererseits die leblose Mandandane in Abwesenheit des Prinzen von vorwitzigen Hoffräulein und dem König entdeckt und gemäß einem der Orakelsprüche entlarvt; der „leinerne Sack“, den die Puppe in sich birgt, „verleiht“ nun „seine Geweide“: Häcksel und Bücher wie Rousseaus Neue Heloise, Die Leiden des jungen Werthers und ähnlich Empfindsames. (Die komische Wirkung auf der Bühne muß groß gewesen sein: „Armer Werther! “ - einer der Kommentare der Mädchen. Das „Monodram“, auf der anderen Seite, entfaltet echte und tiefe Tragik. Viel später äußerte Goethe, er habe es in die Komödie „freventlich eingeschaltet.“ 26 Seine Entstehungszeit ist unklar. Es könnte schon 1776 auf den Goethe übermittelten Wunsch Glucks begonnen worden sein, der das Andenken seiner verstorbenen Nichte mit der Vertonung einer Nänie ehren wollte. Ich schließe mich jedoch der Meinung von Edwin Redslob 27 an, der in Proserpina Goethes Totenklage für die Schwester sieht. Auch wäre sie als erbetener Trost für Gluck völlig ungeeignet gewesen. Goethe bedeutete das Monodrama viel. 1815, also fast vier Jahrzehnte nach seiner Entstehung, wird er es mit großem szenischen Aufwand zur Aufführung bringen und Zelter darüber berichten: Meine Proserpina habe ich zum Träger von allem gemacht, was die neuere Zeit an Kunst und Kunststücken gefunden und begünstigt hat: 1) heroische, landschaftliche Dekoration; 2) gesteigerte Rezitation und Deklamation; 3) Hamiltonisch-Händelsche Gebärden; 4) Kleiderwechslung; 5) Mantelspiel und sogar 24 Acerra Philologica, initiiert von Peter Lauremberg, erlebte von 1633 an viele immer wieder vermehrte Ausgaben (FA 14, S. 1083). Goethe nennt sie in DuW I, 1 (FA 14, S. 41) unter den bei seinem Schulunterricht verwendeten Büchern. Die hier zitierte „Newe und vermehrte“ Ausgabe von 1666 erschien ohne Nennung des ursprünglichen Autors, Cleve 1666. 25 Ebd., Das andere Hundert, 37, S. 662. 26 Tag und Jahreshefte zu 1823, Abs. 8; FA 17, S. 13. 27 Edwin Redslob, Schicksal und Dichtung, Goethe-Aufsätze, darunter: Goethes Monodram ‚Proserpina’ als Totenklage für seine Schwester, Berlin / New York 1985. S. 78 ff. <?page no="195"?> 191 6) ein Tableau zum Schluß, das Reich des Pluto vorstellend, und das alles begleitet von der Musik, die du kennst […] 28 . „Freventlich“ eingefügt oder nicht - das „Monodram“ ist von eminenter Wichtigkeit für den Triumph der Empfindsamkeit, die „dramatische Grille“, die Goethe offenbar weder als Lustspiel oder Komödie noch als Posse kennzeichnen wollte. Was für Gründe der Hofetikette auch immer offiziell dafür gesprochen haben mögen, Proserpina in das Stück einzubauen 29 , ohne dieses von hohem Pathos getragene Gedicht bräche die Dramaturgie des Ganzen zusammen, die einen Balanceakt von Tändelei und Tragik darstellt. Über den absurden, aber schöpferischen Prinzen würde der Stab gebrochen. Trotz der Komik, mit der er gezeichnet ist, ist in ihm ja die eigentliche Hauptperson des Stückes zu sehen. 30 Die Monodramen, die die Königin spielt, sind evidenterweise seine Dichtungen, und wie er auf Mandandane als Aufführende sein eigenes Innenleben überträgt, so stattet er sie auch mit dem Äußeren seiner Puppe aus. Ihr Kleid, so kann man nicht umhin zu schließen, wurde dem der Puppe nachgearbeitet, nicht umgekehrt. Im Verschmelzen mit ihrer Rolle im „Monodram“ wird Mandandane zu Kore ( Κóρη , das Mädchen), als welche Persephone (lat. Proserpina) vor Plutons Überfall im Mythos erscheint. Die „Puppe“, im Stück ohne andere Benennung, trägt dennoch verhüllterweise den gleichen Namen, denn ‚Kore’ ( κóρη ) heißt in weiterer Bedeutung auch ‚Puppe’. Der verschlüsselte Anklang an ‚Cornelia’ muß nach allem bisher Gesagten nicht mehr betont werden. Wichtig ist ebenfalls, daß das „Monodram“ anspielt auf jene ergreifende Elegie des Properz 31 , in der er Cornelia, die Gattin von Lucius Aemilius Lepidus Paullus und Stieftochter des Augustus, aus dem Totenreich sprechen läßt. Unserem heutigen Empfinden wäre es wohl angemessener, wenn ihre sehr ausführliche Berufung auf ihre ruhmreichen Ahnen und auf ihren untadeligen Lebenswandel nicht aus ihrem eigenen ‚Munde’ käme. Doch unter Römern ist es für die Tote bei der Darstellung ihres Lebens und ihrer Sorge um Mann und Kinder durchaus legitim, auf den Adel ihrer Herkunft und ihrer Gesinnung hinzuweisen. Desine, Paulle, meum lacrimis urgere sepulcrum: panditur ad nullas ianua nigra preces; cum semel infernas intrarunt funera leges, non exorato stant adamante viae. te licet orantem fuscae deus audiat aulae: nempe tuas lacrimas litora surda bibent. vota movent superos: ubi portitor aera recepit, obserat herbosos lurida porta rogos. sic maestae cecinere tubae, cum subdita nostrum detraheret lecto fax inimica caput. quid mihi coniugium Paulli, quid currus avorum profuit aut famae pignora tanta meae? 28 An Zelter, 17. Mai 1815. FA 34, S. 453 f. 29 Redslob, a. a. O., S. 103 f. 30 Vgl. Goethes Tagebucheintragung vom 15. November 1777: „Oronaro gelesen“; FA 29, S. 111. 31 Sextus Propertius, IV, 11. <?page no="196"?> 192 non minus inmites habuit Cornelia Parcas, et sum, quod digitis quinque legatur, onus. damnatae noctes et vos, vada lenta, paludes, et quaecumque meos implicat unda pedes, inmatura licet, tamen huc non noxia veni: det pater hic umbrae mollia iura meae! aut si quis posita iudex sedet Aeacus urna - in mea sortita vindicet ossa pila, assideant fratres, iuxta et Minoida sellam Eumenidum intento turba severa foro: Sisyphe, mole vaces, taceant Ixionis orbes, fallax Tantaleo corripere ore liquor, Cerberus et nullas hodie petat improbus umbras et iaceat tacida laxa catena sera - ipsa loquor pro me. si fallo, poena sororum infelix umeros urgeat urna meos. 32 Paulus, laß ab, mein Grab mit Tränen dauernd zu netzen! Öffnet doch keinem Gebet je sich das finstere Tor; Trat der Tote einmal ins Reich der Unterweltssatzung, Ist ihm verschlossen der Weg durch unerbittlichen Stahl. Mag auch der Gott des dunkelen Reichs dein Bitten vernehmen, Bleibt das Gestade doch taub, schlürft deine Tränen nur ein. Himmlische rührt ein Gebet; doch empfing der Ferge sein Geldstück, Schließt auch das Tor, das so fahl, das überwachsene Grab. Traurig verhieß das der Tuba Klang, als die feindlichen Fackeln, An das Lager gelegt, leise ergriffen mein Haupt. Was hat die Ehe mit Paulus genützt, was der Ahnen Triumphe Oder der Pfänder soviel für meinen eigenen Ruf! Fand ich, weil ich Cornelia bin, die Parzen drum milder? Schau doch, ich bin eine Last, schon eine Hand hebt mich auf. O du Nacht, die verwünscht, du Sumpf, trübfließend Gewässer, Und was an Wogen es sei, was meine Füße bespült, Kam ich auch vor der Zeit, ich kam doch, mit Schuld nicht beladen: Pluto, gib milden Spruch für meinen Schatten deshalb! Oder wenn an der Urne ein Aiakos waltet als Richter, Er verfahr’ gegen mich, und er bestell’ das Gericht! Seien die Brüder dabei, und am Throne des Minos dann fälle Streng vor dem Volke die Schar der Eumeniden den Spruch! Sisyphos ruh von der Last, Ixions Rad möge stillstehn, Laß dich, du trügerisch Naß, fassen von Tantalos’ Mund! Keinerlei Schatten soll heut der garstige Kerberos schrecken, Still sei der Riegel, es lieg’ lose die Kette dabei! - Selber sprech’ ich für mich; und lüg’ ich, die Strafe der Schwestern, Der unselige Krug, drücke die Schultern mir dann! 33 Goethe läßt seine Proserpina wie die Cornelia der Properz-Elegie ihr Schicksal beklagen. Hier nimmt jedoch nicht, wie beim antiken Dichter, eine liebevolle Gat- 32 Properz IV, 11, v. 1-28; Properz Gedichte. Lateinisch und Deutsch, übers. von Rudolf Helm, Berlin 1986. S. 240 ff. 33 Ebd., S. 240 ff. <?page no="197"?> 193 tin und Mutter Abschied von den Ihren, sondern ein verzweifeltes junges Mädchen hadert mit dem finstern Gemahl, der sie geraubt und in den Orkus entführt hat. Wenige Verse aus dem langen Gedicht mögen Entsprechungen zur antiken Elegie darstellen: […] O Mädchen! Mädchen! Die ihr, einsam nun, Zerstreut an jenen Quellen schleicht, Die Blumen aufles’t, Die ich, ach Entführte! Aus meinem Schoße fallen ließ, Ihr steht und seht mir nach, wohin ich verschwand! Weggerissen haben sie mich, Die raschen Pferde des Orcus; Mit festen Armen Hielt mich der unerbittliche Gott! Amor! ach Amor floh lachend auf zum Olymp - Hast du nicht, Mutwilliger, Genug an Himmel und Erde, Mußt du die Flammen der Hölle Durch deine Flammen vermehren? - Herunter gerissen In diese endlose Tiefen! Königin hier! Königin? Vor der nur Schatten sich neigen! Hoffnungslos ist ihr Schmerz! Hoffnungslos der Abgeschiedenen Glück, Und ich wend’ es nicht. Den ernsten Gerichten Hat das Schicksal sie übergeben; Und unter ihnen wandl’ ich umher, Göttin! Königin! Selbst Sklavin des Schicksals! Ach das fliehende Wasser Möcht’ ich dem Tantalus schöpfen, Mit lieblichen Früchten ihn sättigen! Armer Alter! Für gereiztes Verlangen gestraft! - In Ixions Rad möcht’ ich greifen, Einhalten seinen Schmerz! Aber was vermögen wir Götter Über die ewigen Qualen! Trostlos für mich und für sie, Wohn’ ich unter ihnen und schaue Der armen Danaiden Geschäftigkeit! Leer und immer leer, <?page no="198"?> 194 Nicht Einen Tropfen Wassers zum Munde, Nicht Einen Tropfen Wassers in ihre Wannen! Leer und immer leer! Ach so ist’s mit dir auch, mein Herz! Woher willst du schöpfen ? - und wohin? 34 Dann tauchen vor ihrem inneren Auge die Gefilde der Seligen auf, und gleich darauf wieder der grimmige Gatte mit „seinen düstern Augenbrauen“, dem „verschlossenen Blick“. Sie versetzt sich in die Lage ihrer verzweifelten Mutter Ceres, die nicht weiß, wo sie nach der Tochter suchen soll, und betet zu ihrem Vater Jupiter, daß er sie rette. Ahnungslos ißt sie ein paar Körner eines Granatapfels, den sie an einem Baume findet: Damit bricht sie die ihr völlig unbekannte Bedingung einer möglichen Rettung. Die Parzen rufen ihr zu: Du bist unser! Ist der Ratschluß deines Ahnherrn: Nüchtern solltest du wiederkehren; Und der Biß des Apfels macht dich unser! Königin, wir ehren dich! 35 Nun kommt nur mehr Fluch und Haß von ihren Lippen: […] Fern! weg von mir Sei eure Treu und eure Herrlichkeit! Wie haß’ ich euch! Und dich, wie zehnfach haß’ ich dich - Weh mir! ich fühle schon Die verhaßten Umarmungen! […] Wie haß’ ich dich, Abscheu und Gemahl, O Pluto! Pluto! Gib mir das Schicksal deiner Verdammten! Nenn’ es nicht Liebe! - Wirf mich mit diesen Armen In die zerstörende Qual! 36 Dazwischen erschallt immer wieder der Chor der Parzen: „Unser! unser! hohe Königin! “ Proserpinas flehentliches Gebet zu ihrem Vater Jupiter bleibt unerhört. In der nun folgenden Bühnenanweisung heißt es: „Andrason erscheint bei den Worten Abscheu und Gemahl etc. Mandandane richtet die Apostrophe an ihn und flieht vor ihm mit Entsetzen. Er erstaunt, sieht sich um, und folgt ihr voller Verwunderung.“ In der „dramatischen Grille“ ist die leblose Kore unzweifelhaft der weibliche Prototyp, ihr gehört die wahre Neigung des Prinzen, was zur Lösung des dramatischen Knotens führt; denn bei einer Konfrontation der beiden einander aufs Haar 34 Der Triumph der Empfindsamkeit IV; FA 5, S. 99 f. 35 Ebd., S. 104. 36 Ebd., S. 105 f. <?page no="199"?> 195 gleichenden Figuren mit ihm bekennt sich der Prinz eindeutig zur Puppe. Königin Mandandane wendet sich, bestürzt über diese Niederlage, wieder ihrem Gatten Andrason zu. Nicht umsonst heißt der „Cavalier“, dem in der Theaterwelt des Prinzen die Regie übertragen ist, Merkulo, also ‚Kleiner Merkur’. Merkur aber ist der ‚Psychopompos’, der Führer zum Totenreich. Und genau dort spielt das „Monodram“, das auf mythischer Ebene mit der Geschichte der ‚Kore’ wohl auch die Vorgeschichte der ‚Puppe’ bringt und mit den grauenhaften Gegebenheiten der Unterwelt die Erfahrung einer widerstrebend eingegangenen Ehe verbindet. Mit gegebener Einschränkung könnte man sagen, daß das Personal der „dramatischen Grille“ in seiner Charakteristik bereits die Hauptpersonen der so viel späteren Wahlverwandtschaften vorwegnehme. Entspricht der tüchtige, lebensnahe Andrason dem Hauptmann, so der „empfindsame“ Prinz einem immer lebensabgewandter und todessüchtiger werdenden Eduard. Die markante Gestalt der Königin wird später durch Charlotte vertreten sein, und das, laut Orakel, „greiflich Gespenst“ 37 , die Puppe, wenigstens zum Schluß hin, durch Ottilie in ihrem gläsernen Sarg. Wie der Hauptmann und Eduard als Teilaspekte einer Persönlichkeit erscheinen (worauf der ursprünglich identische Name beider, Otto, hinweist), so gilt dies gleichermaßen für König und Prinz, die ebenfalls beide ihren Dichter repräsentieren. In strengster Geheimhaltung und ohne spielerische Manier tun diese beiden in Goethes eigener Gestalt nun tatsächlich jenen Gang zum Orakel, den das Stück parodistisch behandelt, - bei der lebensgefährlichen Brockenbesteigung vom Dezember 1777. Am 16. Juni hatte Goethe nach Erhalt der Nachricht vom Tod seiner Schwester, an Charlotte von Stein geschrieben: Um achte war ich in meinem Garten fand alles gut und wohl und ging mit mir selbst, mit unter lesend auf und ab. Um neune kriegt ich Briefe dass meine Schwester todt sey. - Ich kann nun weiter nichts sagen. G 38 . Mit demselben Datum vermerkt das Tagebuch: „Brief des Todts m. Schwester. Dunckler zerrissner Tag.“ 39 * * * H ARZREISE IM W INTER Dem Geier gleich, Der auf schweren Morgenwolken Mit sanftem Fittich ruhend Nach Beute schaut, Schwebe mein Lied. Denn ein Gott hat Jedem seine Bahn Vorgezeichnet, 37 FA 5, S. 74, 75, 110. 38 HA Briefe 1, S. 233. 39 WA III 1, S. 40. <?page no="200"?> 196 Die der Glückliche Rasch zum freudigen Ziel rennt: Wem aber Unglück Das Herz zusammenzog, Er sträubt vergebens Sich gegen die Schranken Des ehernen Fadens, Den die doch bittre Schere Nur Einmal lös’t. In der Balance der Worte „Dem Geier gleich“, mit ihrer Assonanz und Alliteration drückt sich sprachlich das Gleiten des Vogels und die Ausgewogenheit aus, mit der die verschiedenen Geschicke im Lied, das über den dunklen Wolken des Schicksals schwebt, gestaltet werden sollen. Beide Lose sind die des Dichters, wie die beiden Flügel den einen Vogel tragen, wobei die Bezeichnung „Geier“ übrigens ganz undifferenziert einem Greifvogel gilt. Nach der beiden Gestalten gewidmeten langen zweiten Strophe trennen sich im Lied mit seiner Überschau die Wege der so verschiedenen Aspekte der einen Persönlichkeit. Der „Glückliche“ rennt zum freudigen Ziele - auf der Rennbahn des Lebens, „Wem aber Unglück / Das Herz zusammenzog, Er sträubt vergebens / Sich gegen die Schranken / des ehernen Fadens, / den die doch bittre Schere / nur Einmal lös’t.“ Diesem Traurigen wollte der Dichter ursprünglich ein Siegel aufdrücken, denn in einer früheren Fassung des Gedichts hieß es: „das Herz zusammenschloß“ 40 , womit Chiffren Ihres Namens andeuten, wer gemeint ist. Der Dichter beklagt zu diesem Zeitpunkt nicht nur den Tod der Schwester, sondern vermutlich auch die Sinnlosigkeit seines apathischen Verzichts auf sie. In Dickichts-Schauer Drängt sich das rauhe Wild, Und mit den Sperlingen Haben längst die Reichen In ihre Sümpfe sich gesenkt. Für die anderen ist ein Jagdtag vorbei, Nachtquartier wird bezogen. Der Glückliche hat es gut. Denn: Leicht ist’s folgen dem Wagen, Den Fortuna führt, Wie der gemächliche Troß Auf gebesserten Wegen Hinter des Fürsten Einzug. Nun aber kommt der Andere in den Blick: Aber abseits, wer ist’s? Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad, Hinter ihm schlagen 40 FA 1, S. 1041: 322,13 zusammenzog H 4 : Korrigiert aus: zusammenschloß. Vgl. WA I.2. 308. <?page no="201"?> 197 Die Sträuche zusammen. Das Gras steht wieder auf, Die Öde verschlingt ihn. Das wäre ein möglicher Ausgang des Abenteuers. Nun schaltet sich jedoch das Dritte ein, das Verbindende, das über den beiden Hälften steht und von hoch oben die Lage überblickt. Es wird aus seinem rein registrierenden Verfolgen der Lage zur Anteilnahme bewegt: Ach wer heilet die Schmerzen Des, dem Balsam zu Gift ward? Der sich Menschenhaß Aus der Fülle der Liebe trank! Erst verachtet, nun ein Verächter, Zehrt er heimlich auf Seinen eignen Wert In ung’nügender Selbstsucht. Die Quelle des Leids ist in Charadenform genannt worden. Jetzt zielt das Lied auf die näheren, „die allerbesondersten Umstände“ des Erleidens. Vielleicht mag ja auch von Plessing die Rede sein, so wie der Eigenkommentar zu verstehen gibt, dennoch geht es hier primär um die Tragödie des Dichters selbst. Die „Fülle der Liebe“ kann sich nicht auf die anfänglich positiven Stellen zu Schlosser 41 in Cornelias Briefen beziehen, sondern gilt der für den Bruder geleisteten Opfertat ihrer Eheschließung, zu der sie wahrscheinlich aus mehrfachen Gründen, auch, um ihm seine volle Freiheit zu geben, von den Eltern gedrängt worden war. Sie habe sich, er dürfe wohl sagen, „bereden“ lassen 42 , heißt es in der Autobiographie. Erst nach ihrem Tod scheint Goethe das volle Ausmaß ihrer Entscheidung - „die Fülle der Liebe“ - klargeworden zu sein. In der Ananke-Strophe von Urworte. Orphisch und ihrer Erklärung wird er später seine ganze Bitterkeit, seinen „Menschenhaß“, über die Ehe als Institution ausschütten (vgl. S. 27). ‚Verachtung’ seitens Schlosser galt dem Dichter, weil er argwöhnte, Goethe habe ihm das Herz seiner Frau entwendet. 43 Doch brauchte er es ihm nicht erst zu entwenden! Zum „Verächter“ wurde Goethe nun aber selber angesichts der überschnellen neuen Verbindung seines Schwagers, die seinen eigenen, unter falschen Voraussetzungen geleisteten Verzicht auf eine, wie auch immer äußerlich gestaltete, wenn auch zweifellos sogenannt ‚platonisch’ gedachte, gemeinsame Existenz der Geschwister nachträglich so völlig sinnlos erscheinen lassen mußte. In einem geschwisterlichen, d. h. zölibatären Verhältnis wäre Cornelia niemals so früh zu Tode gekommen. Später, in Dichtung und Wahrheit, spricht er diesen Gedanken verschleiert aus: […] in ihrem Wesen lag nicht die mindeste Sinnlichkeit. Sie war neben mir heraufgewachsen und wünschte ihr Leben in dieser geschwisterlichen Harmonie fortzusetzen und zuzubringen. Wir waren, nach meiner Rückkunft 41 Georg Witkowski, a. a. O., S. 84. 42 DuW IV, 18; FA, 14, S. 791. Dazu später mehr. 43 Vgl. Witkowski, a. a. O., S. 104 f. <?page no="202"?> 198 von der Akademie, unzertrennlich geblieben, im innersten Vertrauen hatten wir Gedanken, Empfindungen und Grillen, die Eindrücke alles Zufälligen in Gemeinschaft. […] 44 Aufrichtig habe ich zu gestehen, daß ich mir, wenn ich manchmal über ihr Schicksal phantasierte, sie nicht gern als Hausfrau, wohl aber als Äbtissin, als Vorsteherin einer edlen Gemeine gar gern denken mochte. Sie besaß alles was ein solcher höherer Zustand verlangt, ihr fehlte was die Welt unerläßlich fordert. 45 Schwer leidend und depressiv schon zuvor, starb Cornelia vier Wochen nach der Geburt ihres zweiten Kindes. Im nachhinein hat Goethe wahrscheinlich begriffen, daß er sie hätte retten müssen, ehe es zu spät war, anstatt korrekt und ‚moralisch’ ihre Ehe zu respektieren und selbst in einer anderen Beziehung Ersatz und Trost zu suchen. - „Verstrickt in solche Qualen halbverschuldet“ (wie es fast ein halbes Jahrhundert später das Gedicht An Werther bezeichnen wird), begab sich der Dichter auf seinen einsamen Abstecher zu Bergwerkszechen (dem offiziellen und stichhaltigen Grund seiner Absentierung von der herzoglichen Jagdgesellschaft) und zur heimlichen Besteigung des Brocken, was in Anbetracht des Winters und der damaligen Straßenverhältnisse eine lebensgefährliche Unternehmung war. Hatte der überblickende Genius den Seelenzustand des Unglücklichen in der sechsten Strophe umrissen, so greift er nun in der folgenden aktiv ein, indem er sich an die Gottheit wendet: Ist auf deinem Psalter, Vater der Liebe, ein Ton Seinem Ohre vernehmlich, So erquicke sein Herz! Öffne den umwölkten Blick Über die tausend Quellen Neben dem Durstenden In der Wüste 46 Das Lied ist zum Gebet geworden. Die Rettung, die es erfleht, ist seiner eigenen Wesensart gemäß: Himmelsmusik, die der Verzweifelnde begreift. Auf solche Weise hält das Läuten der Osterglocken, und in ihnen der Gesang der Engel, Faust „Vom letzten, ernsten Schritt zurück.“ 47 Aber nicht nur den Strauchelnden bedenkt der Geist der Überschau, auch für den Munteren, Tätigen, den Jäger samt seinen Gefährten mit ihren durchaus irdischen Aktivitäten erbittet er Segen. Die Persönlichkeit besteht weiter in der Mehrheit ihrer Aspekte: Der mit den Jägern aufbrach und Teil ihrer Gruppe ist, - auch ihn segnet das „Lied“ in seinen Brüdern. Der du der Freuden viel schaffst, Jedem ein überfließend Maß, 44 DuW IV, 18; FA 14, S. 790. 45 Ebd., S. 791. 46 Zu den Anklängen an Bibelstellen siehe Bernd Leistner, Goethes Gedicht ,Harzreise im Winter’. In: Impulse, Folge 4, Berlin / Weimar 1982. S. 70 ff. 47 Faust I, Nacht; v. 781 f. <?page no="203"?> 199 Segne die Brüder der Jagd Auf der Fährte des Wilds Mit jugendlichem Übermut Fröhlicher Mordsucht, Späte Rächer des Unbills, Dem schon Jahre vergeblich Wehrt mit Knütteln der Bauer. Sogleich aber wird das Augenmerk wieder auf den Unglücklichen gelenkt. Ohne Goethes Erläuterungen wäre es schwierig, die nun folgende neunte Strophe zu verstehen: Hier ist der Ort zu bemerken, daß man sich bey Auslegung von Dichtern immer zwischen dem Wirklichen und Ideellen zu halten habe. In der siebenten Strophe <der sechsten im Druck> heißt Liebe das unbefriedigte, dem Menschen zwar innewohnende, aber von außen zurückgewiesene Bedürfniß; in der achten Strophe ist unter Vater der Liebe das Wesen gemeint, welchem alle übrigen die wechselseitige Neigung zu danken haben; hier in der zehnten ist unter Liebe das edelste Bedürfniß geistiger, vielleicht auch körperlicher Vereinigung gedacht, welches die Einzelnen in Bewegung setzt und, auf die schönste Weise, in Freundschaft, Gattentreue, Kinderpietät und außerdem noch auf hundert zarte Weisen befriedigt und lebendig erhält. 48 (Es muß offen bleiben, ob Goethe bei seiner Numerierung der Strophen mit Absicht gegen seine eigene Einteilung verstößt und die lange zweite Strophe in zwei teilt; es wäre möglich, daß er, indem er die sechste Strophe zur siebenten werden läßt, ihr nachträglich das Siegel geheimer Relevanz aufdrücken wollte. Anderseits wird mit der Aufspaltung von Strophe 2 die Kluft zwischen den beiden Lebensbahnen vergrößert, was nicht im Sinne des gedachten einen Individuums wäre.) Hier nun also die neunte Strophe, die „zehnte“ der Erläuterungen, auf die sich die letzte Definition von „Liebe“ bezieht: Aber den Einsamen hüll’ In deine Goldwolken, Umgib mit Wintergrün, Bis die Rose wieder heranreift, Die feuchten Haare, O Liebe, deines Dichters! Was hier unmerklich vor sich gegangen ist, bedeutet die Erhörung des Gebets, die Wunscherfüllung für den Traurigen. Während wir noch die Gottheit angesprochen wähnen, wendet sich das Wort bereits, in nicht festzumachendem Wandel, an die als Person gegenwärtig erlebte „Liebe“, die Geliebte, die Goethe jedoch in seiner Erläuterung hinter den verschiedenen Definitionen der Emotion ‚Liebe’ verbirgt. Es ist ihre erste im Vers festgehaltene Epiphanie, wie sie später in Gedichten und Dramen immer wieder vorkommt. Bereits in dieser frühen Ode wird Sie mit Eos (Aurora) assoziiert, wie Pandora am Schluß des Festspiels oder im Gedicht In tausend Formen (vgl. S. 103 ff.) und wie später in der Elegie (Strophe 12, vgl. S. 54). 48 FA 21, S. 136. <?page no="204"?> 200 Die „Goldwolken“ der Morgenröte sind ihr Signum, aber auch das „Wintergrün“ - Pflanzen wie Immergrün oder Efeu - die man auf Gräber setzt (vgl. S. 109). Mit solchem Wintergrün bekränzt, will der Dichter an Ihrer Existenz teilhaben, „Bis die Rose wieder heranreift“ - nicht, bis sie wieder ‚erblüht’. Solches „Reifen“ erfordert viel mehr Zeit als die Spanne von Dezember bis Juni. Der Geist der Abgeschiedenen ist ihm nahe. Überwältigt erfährt er ihren Schutz und ihre Führung; zugleich erlebt er sie als Teil der Naturgewalten: Mit der dämmernden Fackel Leuchtest du ihm Durch die Furten bei Nacht, Über grundlose Wege Auf öden Gefilden; Mit dem tausendfarbigen Morgen Lachst du in’s Herz ihm; Mit dem beizenden Sturm Trägst du ihn hoch empor; Winterströme stürzen vom Felsen In seine Psalmen, Und Altar des lieblichsten Danks Wird ihm des gefürchteten Gipfels Schneebehangener Scheitel, Den mit Geisterreihen Kränzten ahndende Völker. Was der Dichter erhofft und erstrebt hat, eine Begegnung, vielleicht eine Aussöhnung mit der Toten, ist ihm zur inneren Erfahrung geworden. Für ihn war es der Durchbruch ins Totenreich. Nicht abwärts bahnte er sich den Weg wie Orpheus, er erklomm einen Gipfel. Es macht keinen Unterschied in der Sache. Ehe Faust sich zu den ihm unheimlichen „Müttern“ begibt, die Rückholung Helenas ins Leben vorzubereiten, wird ihm Mephistopheles sagen: „Versinke denn! Ich könnt’ auch sagen: steige! / ’s ist einerlei.“ 49 Worauf es ankommt, ist der unbezähmbare Wille, der bereit ist, das Leben einzusetzen und das „Schaudern“ 50 zu meistern. In der Öde wird die Hilfe des „Vaters der Liebe“ erfleht, vorgestellt als Trostwort eines göttlichen „Psalters“ - Sinnbild der Musik der Sphären und der Naturgewalten. Erweckt singt der ‚neue’ Orpheus dann „seine Psalmen“ zur Begleitung von „Sturm“ und „Winterströmen“, um seine ungeheure Glückserfahrung zu ertragen. Bezeugt und besiegelt wird sie durch den „lieblichsten Dank“, den er auf dem sagenumwobenen und „gefürchteten Gipfel“ darbringt, „Den mit Geisterreihen / Kränzten ahndende Völker.“ Da ist es nun ausgesprochen, was ihn hinauftrieb. Gemeint ist mit diesem Vers natürlich nicht das Hexen- und Teufelswesen, das Faust in der „Walpurgisnacht“ auf dem Brocken mitmacht, sondern viel ältere heidnische Kulte, die später umgedeutet wurden. Das gleich einem Oratorium 49 Faust II, v. 6275. 50 Ebd., v. 6271 ff. <?page no="205"?> 201 gestaltete dramatische Gedicht Die erste Walpurgisnacht wird später davon Zeugnis ablegen. 51 Zum Punkt der „Geisterreihen“ schreibt Wolf von Engelhardt: […] Der Dichter knüpft hier an seine Lektüre des am 1. November (1777) gekauften Buches von Zückert an. Das erste Kapitel handelt „Von dem Brokken oder Brockenberge“. Nach einer ausführlichen Beschreibung des Berges geht der Autor auf „Gespenster- und Teufelsgeschichten“ ein und beschreibt „ungeheure Steingerüste“ auf dem Gipfel, von denen das eine „Hexen- oder Teufelsaltar“, das andere „des Teufels Kanzel“ genannt wird. Diese Steine hätten „denen heidnischen Deutschen, und wie einige meinen, denen betagten Weibern zu Altären gedient, um welche sie zu gewissen Zeiten ihre heiligen Versammlungen gehalten, und worauf sie ihren Göttern die im Krieg gefangenen Menschen opferten.“ Hierzu zitiert Zückert eine Abhandlung, in der diese Steingerüste „als ein Werk der mühsamsten Menschenkunst“ erklärt werden. In Goethes Nachlaß hat sich eine kurze Aufzeichnung erhalten, in der er gerade diese Passage aus Zückerts Buch notiert hat. 52 In Goethes eigener Interpretation folgt auf die Verse: „Den mit Geisterreihen / Kränzten ahndende Völker.“ nachstehender Absatz: Ein wichtiger, völlig ideell, ja phantastisch erscheinender Punct, über dessen Realität der Dichter schon manchen Zweifel erleben mußte, wovon aber ein sehr erfreuliches Document noch in seinen Händen ist. 53 Diese Worte gelten einer Erfahrung auf dem Gipfel in der Mittagssonne. Welches Dokument Goethe meint, ist unklar. Doch vielleicht führt ein Schlußparagraph zur besprochenen vorletzten Strophe näher an eine mögliche Lösung heran: „Die herrliche Erscheinung farbiger Schatten, bey untergehender Sonne, ist in meinem Entwurf der Farbenlehre im 75.§ umständlich beschrieben.“ Schlägt man den nach, so liest man: Auf einer Harzreise im Winter stieg ich gegen Abend vom Brocken herunter, die weiten Flächen auf- und abwärts waren beschneit, die Heide von Schnee bedeckt, alle zerstreut stehenden Bäume und vorragenden Klippen, auch alle Baum- und Felsenmassen völlig bereift, die Sonne senkte sich eben gegen die Oderteiche hinunter. Waren den Tag über, bei dem gelblichen Ton des Schnees, schon leise violette Schatten bemerklich gewesen, so mußte man sie nun für hochblau ansprechen, als ein gesteigertes Gelb von den beleuchteten Theilen widerschien. Als aber die Sonne sich endlich ihrem Niedergang näherte, und ihr durch die stärkeren Dünste höchst gemäßigter Strahl die ganze mich umgebende Welt mit der schönsten Purpurfarbe überzog, da verwandelte sich die Schattenfarbe in ein Grün, das nach seiner Klarheit einem Meergrün, nach seiner 51 FA 2, S. 137 ff. 52 Wolf v. Engelhardt, GJb. 104, 1987, S. 203 und hierzu Anmerkung 37, ebd.: Brocken v. Zückert. Naturgesch. des Unterharzes von dem selben S. 19. Denso hält Teufelskanzel und Teufelsaltar für mühsames Menschenwerk pp. (WA II, 13, S. 411; LA II, 7). Zückert zitiert: J. Chr. Sprengel, Das Altertum der großen Steingerüste auf dem Brocken in Monatliche Beiträge zur Naturkunde, hrsg. v. Joan Daniel Denso, 6. Stück, Berlin 1752. S. 528-532. 53 FA 21, S. 137. <?page no="206"?> 202 Schönheit einem Smaragdgrün verglichen werden konnte. Die Erscheinung ward immer lebhafter, man glaubte sich in einer Feenwelt zu befinden, denn alles hatte sich in die zwei lebhaften und so schön übereinstimmenden Farben gekleidet, bis endlich mit dem Sonnenuntergang die Prachterscheinung sich in eine graue Dämmerung, und nach und nach in eine mond- und sternhelle Nacht verlor. 54 So hielt Goethe seine Erfahrung beim Abstieg ca. dreißig Jahre später in ungeminderter Intensität fest. Aber noch am selben Abend schrieb er für Charlotte von Stein: […] Nachts gegen 7. Was soll ich vom Herren sagen mit Federspulen, was für ein Lied soll ich von ihm singen? im Augenblick wo mir alle Prose zur Poesie und alle Poesie zur Prose wird. Es ist schon nicht möglich mit der Lippe zu sagen was mir widerfahren ist und wie soll ichs mit dem spizzen Ding hervorbringen. Liebe Frau. Mit mir verfährt Gott wie mit seinen alten heiligen, und ich weis nicht woher mir’s kommt. Wenn ich zum Befestigungs Zeichen bitte dass möge das Fell trocken seyn und die Tenne nass so ists so, und umgekehrt auch 55 , und mehr als alles die übermütterliche Leitung zu meinen Wünschen. Das Ziel meines Verlangens ist erreicht, es hängt an vielen Fäden, und viele Fäden hängen davon, Sie wissen wie simbolisch mein Daseyn ist - - - Und die Demuth die sich die Götter zu verherrlichen einen Spas machen, und die Hingebenheit von Augenblick zu Augenblick, die ich habe, und die vollste Erfüllung meiner Hoffnungen. Ich will Ihnen entdecken l: sagen Sie’s niemand : l dass meine Reise auf den Harz war, dass ich wünschte den Brocken zu besteigen, und nun liebste bin ich heut oben gewesen, ganz natürlich, ob mirs schon seit 8 Tagen alle Menschen als unmöglich versichern. Aber das Wie, von allem, das warum, soll aufgehoben seyn wenn ich Sie wieder sehe. Wie gerne schrieb ich iezt nicht. Ich sagte: ich hab einen Wunsch auf den Vollmond! Nun Liebste tret ich vor die Thüre hinaus da liegt der Brocken im hohen herrlichen Mondschein über den Fichten vor mir und ich war oben heut und habe auf dem Teufels Altar 56 meinem Gott den liebsten Danck geopfert. […] 57 Er war gewiß, eine Botschaft empfangen zu haben. Die Natur hatte ihn mit allen ihren Gaben bedacht, seit er mittags auf dem Gipfel stand, über sich „den vollkommen klarsten Himmel, von welchem herab die Sonne gewaltsam brannte“ 58 . Offensichtlich betrachtete er schon in seiner Jugend gewisse Naturereignisse als ihm ganz persönlich gegönnte Zeichen, so wie er es auch noch im hohen Alter tat und z. B. im Dornburger Gedicht Dem aufgehenden Vollmonde 59 festhielt. (Vgl. auch S. 593 f.) Solche Projektionen oder Ahnungen sind kongruent mit der Vorstellung, die Goethe sich von der Existenz der Seele nach dem Tode machte. Auf kosmische 54 Farbenlehre, Didaktischer Teil, Physiolog. Farben, Abs. 75; WA II 1, S. 35 f. 55 Richter 6, 36-40. 56 Felsformation auf dem Brocken. 57 An Charlotte von Stein, 10. Dezember 1777. HA Briefe 1, S. 246. 58 Vgl. Brief an Merck, 5. August 1778. HA 1, S. 253. 59 FA 2, S. 700. <?page no="207"?> 203 Dimensionen ausgedehnt, hat er sie im Gedicht Weltseele 60 als Auftrag an die Freunde dargestellt. Eins mit der schaffenden Natur, greift das Individuum, nach diesem Leben kometengleich sich bahnbrechend, in den Schöpfungsprozeß ein, neue Erden erstehen zu lassen und Seinsformen zu bestimmen, vom Stein bis zum ersten Menschenpaar. Verglichen mit solchen Visionen, muß Einflußnahme auf Licht und Witterung ein Leichtes scheinen! In der Schlußstrophe der Harzreise haben sich solche Ahnungen - Erfahrungen? - erstmals dichterisch geformt niedergeschlagen. Du stehst mit unerforschtem Busen Geheimnisvoll offenbar Über der erstaunten Welt, Und schaust aus Wolken Auf ihre Reiche und Herrlichkeit, Die du aus den Adern deiner Brüder Neben dir wässerst. Wer ist hier angesprochen? Ist es ein Selbstgespräch des Dichters? Ist der Brocken gemeint? - der Brocken als Sinnbild für das lyrische Ich? Oder für Gott? Im einen oder anderen Sinn deuten die Kommentatoren und Interpreten diese Strophe. Und doch bleibt sie rätselhaft. Auch Goethes Eigenkommentar verhüllt mehr, als er aussagt: Hier ist leise <warum eigentlich „leise“? > auf den Bergbau gedeutet. Der unerforschte Busen des Hauptgipfels wird den Adern seiner Brüder entgegen gesetzt. Die Metalladern sind gemeint, aus welchen die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit gewässert werden. Eine vorläufige Anschauung dieser wichtigen Geschäftstätigkeit sich zu verschaffen, welches ihm auch gelang, veranlaßte zum Teil das seltsame Unternehmen, wovon das gegenwärtige Gedicht allerdings mysteriöse, schwer zu deutende Spuren enthält. […] Das Folgende ist Geplauder, berechnet, die Aufmerksamkeit vom verräterischen letzten Nebensatz abzulenken. Wie immer, erweist es sich als sinnvoll, die Verse selbst sprechen zu lassen. Jedes einzelne Wort zählt. Warum, zum Beispiel, heißt es in Vers 3 dieser Strophe „Über der erstaunten Welt“? - Den Berg sieht sie wohl Tag für Tag, und der Dichter ist in solcher Höhe kaum wahrnehmbar für sie. Dann gibt die adverbiale Bestimmung „mit unerforschtem Busen“ zu denken. Ursprünglich lautete sie bekanntlich „unerforscht die Geweide“ 61 . Dies wurde für den Druck getilgt zugunsten der poetischeren und passenderen Wendung, vermutlich aber auch, weil eine zunächst angestrebte Verbindungslinie zu Triumph der Empfindsamkeit letztlich doch vermieden werden sollte. Im Stück spricht der oftmals wiederholte, auf die Puppe bezügliche Orakelspruch von „Geweiden“, die hier nun allerdings ausgiebig erforscht werden. („Wenn wird ein greiflich Gespenst von schönen Händen entgeistert, / Und der leinene Sack seine Geweide verleiht, / […]“) 62 Die 60 FA 2, S. 84. 61 WA I. 2. 308. 62 FA 5, S. 74, 75, 110. <?page no="208"?> 204 Geweide des Puppenkörpers, wir wissen es, bestehen aus Häckseln und Büchern. Aber woraus bestehen die „Geweide“, der „unerforschte Busen“, die Gesinnungen, der so ganz anderen und dennoch analogen Gestalt auf dem Gipfel? 63 Noch ein Wort zur geänderten Formulierung. Indem Goethe für den Druck der Hymne verräterische Anspielungen tilgte, während eine Reihe von unveränderten Abschriften 64 im Freundeskreis kursierte, behielt er die mögliche Erkenntnis eines Hinweises auf Triumph der Empfindsamkeit seiner näheren Umgebung vor und bewahrte sie damit zugleich für spätere Zeiten auf (wie er auch in ähnlichem Kontext auf dem korrigierten, aber nicht zerstörten Manuskript mit „zusammenschloß“ verfuhr). Die Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen Hymne und Stück macht klar, daß die an das Du der „Liebe“ gehaltene Apostrophe keineswegs vor dem Schlußabschnitt unterbrochen wird, sondern weiterhin an ‚Sie’ gerichtet bleibt. Nach wie vor spricht hier der Geist der Überschau, der Genius oder eben das „Lied“, in dem er sich manifestiert. Oben angelangt, findet sich der Bergwanderer nun mit ihm auf einer Höhe und sieht nun selbst aus der Vogelperspektive unter sich „ein unbewegliches Wogenmeer nach allen Seiten die Gegend überdecken“. 65 Was dann geschieht und was vielleicht auch die „erstaunte Welt“ durch einen Spalt in der Wolkendecke mitverfolgen konnte, hat die Elegie aufgezeichnet und zwar, bedeutungsvollerweise, in ihrer siebenten Strophe. Auf sie ergab sich, nicht von ungefähr, schon mehrfach ein Bezug (vgl. S. 46 ff. und S. 143). Aber an dieser Stelle erfuhr sie, gewiß noch viele Jahrzehnte nicht geformt, aber zutiefst erlebt, ihren Ursprung. Und deshalb gehört sie nochmals hierher: Wie leicht und zierlich, klar und zart gewoben Schwebt, Seraphgleich, aus ernster Wolken Chor, Als glich es Ihr, am blauen Aether droben, Ein schlank Gebild aus lichtem Duft empor; So sahst du Sie in frohem Tanze walten Die lieblichste der lieblichsten Gestalten. Der Dichter muß das „Luftgebild“ (Strophe 8) das ihm, einsam und losgelöst wie er selbst, über Wolken begegnet, in leidenschaftlichen Bezug zu sich gesetzt haben. „Geheimnisvoll offenbar“ ist ihm das Wesen, das „aus Wolken“ auf die „Reiche und Herrlichkeit“ der Welt blickt, aus jener anderen Sphäre, an der er „Momente“ lang teilhaben darf, ehe er sich „ins Herz zurück! “ verweisen muß, weil das ‚Luftgebild’ sich auflöst. Und noch etwas ist geschehen. Denn „neben“ dem getrösteten Einsamen sieht der Genius nun auch den Anderen stehen, den Jäger, den Glücklichen - zwei Brüder. Aber auch Ihre Brüder. Sie gehören wie Oronaro und Andrason in die Kategorie des gedoppelten Spiegelbilds. Das Stück macht den Prinzen wohl zur komi- 63 Die tatsächliche ‚Geweideschau’ im Stück läßt Schöne unberücksichtigt, wenn er altrömische Orakelpraktiken der Haruspices mit den kindlichen Orakelspielen der Mädchen am Hofe von Andrasons Schwester vergleicht (a. a. O. S. 46). W. von Engelhardt weist auf das Vorkommen des damals bereits veralteten Worts „Geweide“ in Triumph der Empfindsamkeit, als einzigem anderen Ort bei Goethe, hin. 64 Vgl. Schöne zu Abschriften, Manuskript und Drucken, a.a.O, S. 16 ff. 65 FA 21, S. 137. <?page no="209"?> 205 schen Figur, aber dennoch nicht zum Verlierer. Der „Triumph“ ist schließlich seiner. Er bleibt sich und seiner leblosen Herzensdame treu. Ein nicht datierter einzelner Hexameter aus Goethes Nachlaß könnte ihn rechtfertigen: Eines, das lebt und eines ist tot, doch lebet das Tote. 66 Die Syntax dieses Verses bestätigt, ja übertrifft seine Aussage. Dem Lebenden ist ein Nebensatz zugewiesen, dem Toten zwei Hauptsätze. Hier vertauscht die Sprache die Rollen von Leben und Tod, um die Aussage zu stützen. In ähnlicher Weise symbolisch muß Goethe die Erfahrung der farbigen Schatten beim Abstieg vom Brocken gewertet haben, ist doch ‚Schatten’, über den optischen Begriff hinaus, Bezeichnung des Leblosen, Abgeschiedenen. Wenn der Inbegriff des Toten die ganz spezifischen Farben des Lebens, Grün und Purpur, anzunehmen vermag, so hat dies tiefste Bedeutung, verweist auf ein waltendes geistiges Prinzip dahinter. Dann kann auch der Wasserdunst einer Wolke Kleid eines geistigen Wesens sein, das sich sterblichen Augen offenbaren möchte. Dann wird die ganze Welt durchlässig, durchsichtig für eine andere hinter ihr. Es ist die platonische Lehre, die hier zur lebendigen Erfahrung wird, oder auch die aus dem Neuplatonismus hervorgegangene „Entsprechungslehre“ bei Swedenborg 67 , die Goethe schon in jungen Jahren beeinflußt hat. Dies machte insgesamt das große Glückserlebnis dieses Tages aus. In beiden Welten angesiedelt sein zu dürfen, war das erstrebte Ziel von nun an. Es ging bei Goethes eigenem ‚Gang zum Orakel’ nicht um einen Schiedsspruch in dem Zwiespalt von „Regieren! ! “ 68 oder Dichten 69 , sondern um die Verbindung dieser beiden Existenzformen! Es ging nicht länger um eine Entscheidung zwischen der lebenden Geliebten und der toten, sondern um die Erkenntnis, ihnen beiden angehören zu können. Es ging um Akzeptanz und Koordination auch der eigenen Dualität oder gar Trinität, den Genius mitgerechnet. Mit der Darstellung der hier vollzogenen und später immer wieder schwer erkämpften Integration der Pesönlichkeit geht Goethe wiederum über das Modell eines ihm nun vorschwebenden Textes hinaus. Um welchen Text es sich handelt, ist mit dem Vers „Auf ihre Reiche und Herrlichkeit“ angegeben. Mit Recht verweisen alle Kommentare und Interpretationen hier auf Matth. 4, 8. Darüber hinaus jedoch stellt der Vers mit seiner Konnotation den Schlüssel zum Verständnis des ganzen Gedichts dar und bestätigt die Auslegung, zu welcher diese Seiten gelangt sind. Außerdem wirft er auch, in einem Vorgang, den Goethe später „wiederholte Spiegelung“ nennen wird, Licht auf seine eigene Auffassung der Evangeliumsepisode. In der Harzreise verfolgt das „Lied“, der Genius, die Lebenswege des „Einsamen“ und des „Glücklichen“, die in Gemeinschaft die Persönlichkeit des Dichters 66 BA, Bd. 4: Gedichte, Nachlese und Nachlaß, S. 560, dazu Anmerkung: vielleicht 1805. 67 Vgl. Emanuel Swedenborg, Himmel und Hölle. Beschrieben nach Gesehenem und Gehörtem. Erste vollständige Taschenausgabe, London 1758. Aus der lateinischen Urschrift übersetzt von Dr. J.F. I. Tafel, hrsg. von F. Pochon. Bern / Biel / Zürich, kein Erscheinungsjahr. (Der lat. Text lag in der Anna Amalia-Bibliothek vor. Titel der Urschrift: De coelo et ejus mirabilibus et de inferno ex auditis et visis. Londini MDCCLVIII) § 105 f., S. 66 f. 68 Tagebuch, 8. Oktober 1777. 69 Schöne, a. a. O., S. 33 f. <?page no="210"?> 206 bilden. Die tiefere Sympathie des übergeordneten Prinzips ist deutlich mit dem Ersteren. Der Gefährdete „in der Wüste“ soll erquickt, getränkt, in Goldwolken gehüllt werden. Ihm gilt alle Sorge und Beobachtung. Segen soll jedoch auch der Andere erhalten, der einer ist aus den „Brüder[n] der Jagd / Auf der Fährte des Schweins 70 [wie es ursprünglich hieß 71 ] / Mit jugendlichem Übermut / Fröhlicher Mordsucht“ (v. 53 - 55), einer der „Reichen“, die „In ihre Sümpfe sich gesenkt“ haben (v. 22 f.). „Wer seine Bequemlichkeit aufopfert“, schreibt Goethe in seinen Erläuterungen, „verachtet gern diejenigen, die sich darin behagen“. Der Glückliche wird eher negativ gesehen. Da am Ende der Hymne aus Matthäus zitiert wird, liegt es nahe, auch hier an eine Stelle aus diesem Evangelium zu denken, nämlich an 19, 23. 24: Jesus aber sprach zu seinen Jüngern: Wahrlich ich sage euch: Ein Reicher wird schwer ins Himmelreich kommen. Und weiter sage ich euch: Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher ins Reich Gottes komme. <„Nadelöhr“ hieß ein kleines Tor in der Stadtmauer um Jerusalem.> Indem Goethe den Reichen und Glücklichen, im Einklang mit dem Bibelwort, etwas abqualifiziert, den Einsamen in der Wüste dagegen aufwertet, zieht er eine Parallele zu Matth. 4, 1-10, wo man Jesus mit dem ‚Teufel’ (hebräisch: Satan = Widersacher) konfrontiert findet: nicht als „Dürstenden“, wohl aber als Hungernden „in der Wüste“, nach vierzigtägigem Fasten. Dahin geführt hatte Jesus der „Geist“, von welchem im vorangehenden Kapitel (3,16) berichtet wird, Jesus habe „den Geist Gottes gleich als eine Taube herabfahren und über ihn kommen“ sehen. Hier wie dort tritt der Geist in, wenn auch sehr unterschiedlicher, Vogelgestalt auf. Es ist der Geist, der Jesus in die Wüste führt, „auf daß er von dem Teufel versucht werde“. Jesus geht gelinde um mit dem Widersacher, der ihm zunächst Wunder abverlangt. Aber Jesus will um seiner selbst willen keine Wunder wirken und belehrt den anderen, indem er ihn auf die Schrift verweist, was diesem auch einzuleuchten scheint. Er ist also kein allzu verworfener Teufel, und immerhin läßt sich Jesus so weit mit ihm ein, sich von ihm „in die heilige Stadt“, „auf die Zinne des Tempels“, ja hernach noch „auf einen sehr hohen Berg“ führen zu lassen, wo der Teufel ihm „alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit“ zeigt, mit dem Versprechen, sie ihm zu schenken, falls Jesus ihn anbeten wolle. Jesus aber weist ihn ab, indem er ihm nochmals die Schrift zitiert, was den anderen denn auch überzeugt. „Da verließ ihn der Teufel“, so heißt es des weiteren, „und siehe, da traten die Engel zu ihm und dienten ihm.“ (4,11) Hier hat deutlich ein innerer Kampf stattgefunden. Jener Teil der Persönlichkeit, den es nach Brot, Ruhm, Besitz und Macht verlangte, strebte den Primat an über den asketischen, weltabgewandten, gottgeweihten, der Politiker über den Heiligen in Jesus. Der Erstere verlor den Kampf, bei dem niemand zugegen war als der „Geist“, welcher der Tradition zufolge den Evangelisten ihren Bericht eingab. 70 Vgl. dazu Matth. 8, 28-32. 71 FA 1, Komm., S. 1042. <?page no="211"?> 207 Nach diesem Modell wurde offensichtlich die Hymne konzipiert. Doch läßt Goethe es auch hier, wie gesagt, bei einer bloßen Adaption des Textes nicht bewenden. Er wandelt ihn ab und wandelt ihn um. So werden die beiden Kontrahenten im Gedicht nicht miteinander im Streitgespräch, sondern auf separaten Bahnen gezeigt. Sie trennen sich nicht am Ende, sondern finden einander zur Koexistenz. Der Welt wird keine Absage erteilt, im Gegenteil, die „Liebe“, die als einer der „Engel“, als „lieblichste der lieblichsten Gestalten“ (vgl. S. 143), erfahren wird, „wässert“ die [weltlichen] „Reiche und Herrlichkeit“ „aus den Adern ‚Ihrer’ Brüder neben“ sich. Das Bild des Wässerns für Ihre belebende Wirkung entspricht Ihrer Erscheinung in Gestalt einer Wolke. Denn wenn die beiden versöhnten Brüder von nun an ihr ‚Herzblut’ geben werden, die Welt zu bereichern, so wird es Ihr Werk sein. „Wenn Liebe je den Liebenden begeistet / Ward es an mir aufs lieblichste geleistet; / / Und zwar durch Sie! “ (El., Str. 11) Und um Goethes Wort vom „Bergbau“ aufzugreifen, auf den in der letzten Strophe der Harzreise „leise“ gedeutet sei: der eine wird sich, neben vielen anderen Tätigkeiten im Dienste des Staates um die Bergwerke des Herzogtums bemühen, auch um die alte Silbermine von Ilmenau, der andere wird in die Schächte seines Innern steigen und aus diesen Schätzen die Welt beschenken. Mit seiner Adaption der Evangeliumsstelle suchte Goethe sie in seinem Gedicht psychologisch zu interpretieren und die Situation auf sich zu beziehen. Es hat ihn jedoch zutiefst verletzt und schließlich neben anderem zum totalen Bruch mit Lavater geführt, als er erfuhr, daß dieser langjährige Freund auf einer Illustration zu seinem Epos Jesus Messias dem „Satan“, der Jesus in der Wüste versucht, Goethes Gesichtszüge hatte geben lassen. 72 Goethe wußte etliche Jahre nichts davon 73 . Es waren nämlich auch Bücher ohne Kupferstiche veröffentlicht worden, andererseits kamen die Stiche 1786 und 1787 auch gesondert heraus, wovon Goethe Kenntnis erhielt, so vermutlich auch von Lavaters Erläuterungen zu dem betreffenden Kupfer: Diese von drey Evangelisten beschriebene Geschichte der Versuchung oder Prüfung unsers Herrn durch den Satan hat, wie keine, das Schicksal gehabt, von Auslegern, Dichtern und Mahlern auf die unwürdigste Weise mißhandelt zu werden. Sobald man annimmt, daß der Satan in Lichtengelsgestalt zu unserm Herrn gekommen, so bekommt die Geschichte eine würdige Vorstellbarkeit. Ohne Verstellung oder ein Inkognito auf Seite des Versuchers hat die Geschichte keine Haltung. Hier erscheint Er so, daß er ein Engel des Lichts heißen kann, obgleich, wie ich glaube, das Feinsatanische von der Seite wenigstens so zum Vorschein kommt, daß ich dieß viermahl umgearbeitete Stück von Hrn. Usteri, Schellenberg, Lips, Leypold in Ansehung dieser Figur meisterhaft nennen mögte. 74 72 Vgl. Wolf von Engelhardt, GJb. 104. Bd., 1987, S. 208 u. Anm. 61 und 62. Vgl. zum Folgenden: Anton Kippenberg, Goethe, Dittmar und Lavater, mit einer Tafel, Jb. der Sammlung Kippenberg, 10. Bd., 1935, Leipzig 1935. 73 1786 jedenfalls wußte Goethe von dem Kupferstich, wie aus einem Gespräch mit dem Maler Dittmar hervorgeht; vgl.. Kippenberg a. a. O., S. 144. 74 Lavaters Erläuterungen zu dem betreffenden Kupferstich, als Tafel VIII im ersten Bande von Lavaters Werk „Jesus Messias“. Oder die Evangelien und die Apostelgeschichte, in Gesängen, 1. Bd., 1783. <?page no="212"?> 208 Hierzu die Anmerkung Anton Kippenbergs: Wohl eine Anspielung Lavaters auf 2. Corinther 11, V. 13 und 14: „Denn solche falsche Apostel und trügliche Arbeiter verstellen sich zu Christi Aposteln. Und das ist auch kein Wunder; denn er selbst, der Satan, verstellet sich zum Engel des Lichts.“ 75 Der Kopf Christi trägt auf dem genannten Kupferstich die durch Tradition und Konvention geprägten Züge. Es macht im Endeffekt keinen Unterschied, ob Lavater die Harzreise im Winter zu Gesicht bekommen hatte oder ob er, wie von Engelhardt annimmt, mit dem Stein, den der „Engel des Lichts“ Christus hinhält, auf Goethes Hinwendung zu den Naturwissenschaften, d. h. auf seine Abwendung von der herrschenden christlichen Weltansicht, abzielte, „nach der in Berg und Gestein nichts Göttliches anerkannt werden darf“. 76 Indem Lavater das Luziferische in Goethe zu erkennen glaubte und es, ohne jegliches Gegengewicht verabsolutiert und ins Übermenschliche gesteigert, dem göttlichen „Herrn“ als „Satan“ gegenüberstellte, bewies er solches Unverständnis für Goethes Haltung, daß der es auf keinerlei Auseinandersetzung ankommen ließ, als Lavater 1786 durch Weimar kam und bei Goethe wohnte. Goethe berichtet an Charlotte von Stein: […] Kein herzlich, vertraulich Wort ist unter uns gewechselt worden und ich bin Haß und Liebe auf ewig los.[…] Ich habe auch unter seine Existenz einen grosen Strich gemacht […]. 77 Hätte ein toleranterer, weniger selbstgerechter und weniger prominenter Christ als Lavater Goethe eine derartige, auf ihn abzielende, Auslegung von Matth. 4,1 privat vorgelegt, er hätte sie nicht so bitter aufgenommen. In einem Brief an Charlotte von Stein greift er sogar die Worte des Versuchers auf, um sie auf sich selber zu beziehen, wenn er ihr schreibt: „erlaube wenn ich zurückkomme daß ich dich nach meiner Art auf den Gipfel des Felsens führe und dir die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit zeige.“ 78 Denn die „Lichtengelsgestalt“, also Lucifer, wie er im Sinne des jungen Goethe, gemäß der hermetischen Schöpfungslehre, am Ende des achten Buches von Dichtung und Wahrheit dargestellt ist 79 , kann durchaus als Verwandter des Prometheus der gleichnamigen Hymne gelten. Aber gerade dieser „Prometheus“ hatte seinem Dichter, als er ohne dessen Wissen anonym veröffentlicht worden war, schon genügend Aufregung und Sorge gebracht. 80 Wäre ein fiktiver Zeichner oder Interpret jedoch noch einen Schritt weiter gegangen, hätte er die Episode in der Wüste auf eine rein menschliche Ebene gerückt und auch der Jesus-Gestalt Goethes Züge geliehen, so hätte dieser in seiner Art der Frömmigkeit kaum etwas dagegen einzuwenden gehabt, glaubte er doch an ein in jedem Men- 75 Siehe: Kippenberg, a. a. O., S. 132-154, Abb. S. 148. 76 Vgl. auch W. v. Engelhardt, Goethe im Gespräch mit der Erde (2003), S. 46. 77 21. Juli 1786; HA Briefe, Bd. 1, S. 517. 78 12. April 1782; HA Briefe 1, S. 393. Vgl. W. v. Engelhardt a. a. O., S. 207. 79 Vgl. DuW II, 8 ; FA 14, S. 382 ff. 80 Vgl. DuW III, 15; FA 14, S. 696 f. <?page no="213"?> 209 schen keimhaft angelegtes und zu entwickelndes Göttliches. 81 Sehr viel später wird er in der Rolle des Muslimen seine Überzeugung zur Person Jesu aussprechen: Jesus fühlte rein und dachte Nur den Einen Gott im Stillen; Wer ihn selbst zum Gotte machte Kränckte seinen heilgen Willen. 82 In den Rahmen einer solchen Anthropologie und Christologie paßt auch die Form, welche die „Engel“ des Evangeliumstextes (Matth. 4,11) annehmen, wenn ein ehemals irdisches, nun verewigtes Wesen ihren Stand erreicht. Hier käme Swedenborg zu Wort, für den die Engel sich aus den Geistern abgeschiedener Menschen entwickelt haben und in ständiger Weiterbildung zu immer höheren Graden aufsteigen 83 . Man denke dabei an die „älteren“ und „jüngeren Engel“ in der Bergschluchten-Szene am Schluß von Faust II 84 , deren Szenario ebenfalls aus Swedenborg zu belegen ist: „Die Geisterwelt erscheint wie ein Tal zwischen Bergen und Felsen, das da und dort sich einsenkt und ansteigt.“ 85 Solch eine Landschaft trifft auch auf den Brocken und seine Umgebung zu und paßt zu ‚Ihrer’ Erscheinung über den Wolken als „Luftgebild“, als „lieblichste der lieblichsten Gestalten“ aus dem ‚Reigen der Mahanaim’. 86 81 Siehe Das Göttliche, FA 2, S. 303. 82 Süsses Kind, die Perlenreihen (West-östlicher Divan, Nachlaß), FA 3/ 1, S. 509. 83 Emanuel Swedenborg, Himmel und Hölle, a. a. O., § 311, S. 210 ff. 84 Vgl. ebd., § 429, S. 311 und dazu Faust II, Bergschluchten, Wald, Fels, FA 7/ 1, S. 456: „Heilige Anachoreten Gebirg auf verteilt, gelagert zwischen Klüften“; 1, S. 456. 85 Emanuel Swedenborg, a. a. O., § 411, S. 311. 86 Vgl. S. 142. <?page no="214"?> 210 8. Sonette Um wieder auf die Zahl Sieben zurückzukommen: Dreißig Jahre nach der Harzreise im Winter 1 schrieb Goethe im Dezember 1807 und Januar 1808 seinen Sonetten- Zyklus 2 , (siebzehn Gedichte mit der traditionell festgelegten Zahl von je vierzehn, also zweimal sieben, Versen), von dem im Zusammenhang mit der neunten Strophe der Elegie bereits die Rede war (vgl. S. 48 ff.). Als Goethe ihn 1815 veröffentlichte, nahm er die beiden letzten Gedichte aus, die er dann erst in der Ausgabe letzter Hand 1827 im Druck erscheinen ließ. „Noch einige sind im Hinterhalte; sie bleiben zurück, weil sie die nächsten Zustände nur allzu deutlich bezeichneten.“ So halten es die Tag- und Jahreshefte, Abschnitt 1807, 3 fest. Eben diese beiden Sonette sind „Schlüssel“ zu den übrigen. Epoche, Sonett XVI, (vgl. S. 50) nimmt Petrarcas Stilmittel auf, die Feier der Herrin an einen bestimmten Tag zu knüpfen. Die Nennung jenes Karfreitags, an dem Petrarca Laura erstmals erblickte, fällt in seinen Werken wiederholt, zuweilen, wie bereits festgehalten (vgl. S. 53), mit voller Angabe des Datums. Dies gilt auch für die Wiederkehr des Tages. 4 Das dritte Gedicht des Canzoniere schildert die Begebenheit selbst. Rückblickend heißt es in dem oben wiedergegebenen Sonett CCXI (vgl. S. 51): Mille trecento ventisette, a punto su l’ora prima il di sesto d’aprile, nel laberinto intrai, né veggio ond ’esca. 5 Für das Jahr 1348 wird das Datum von Lauras Tode festgehalten: Sai che ’n mille trecento quarantotto il di sesto d’aprile, in l’ora prima, del corpo uscio quell’anima beata. 6 Wieder ist es der 6. April, ein Tag der Trauer, wie es ja schon der des ersten Anblicks der Geliebten gewesen war. Goethe setzt in seinem Sonett Epoche Petrarcas Trauerdatum jenen eigenen Festtag entgegen, der ihm seinerseits „Mit FlammenSchrift […] innigst eingeschrieben“ war: „Advent von Achtzehnhundertsieben“. ‚Adventus’ heißt ‚Ankunft’. Gemeint sind letzlich doch nicht die vorweihnachtlichen vier Wochen des Kirchenjahres oder ein einzelner Sonntag aus ihnen, sondern gemeint ist - Vers 14 spricht es aus - „der Herrin Ankunft“: Cornelias Geburtstag. Er ver- 1 Mit Dichtungen, die in der dazwischenliegenden Zeit entstandenen sind, befassen sich nachfolgende Kapitel. 2 FA 2, S. 250 ff. 3 WA I. 36. 392. 4 Z. B. Canz. LXI, a. a. O., S. 106 u. 107; CLVII, S. 262 u. 263; CCCLXIV, S. 530 u. 531. 5 „Tausend dreihundert sechs und zwanzig eben, / Am sechsten Tag Aprils in erster Stunden, / Trat ich ins Labyrinth, draus kein Entrinnen.“ (Canz. CCXI, v. 12 f; S. 325.) 6 „Tausend dreihundert acht und vierzig, wehe! / Am sechsten Tag Aprils, in erster Stunden, / Ist seinem Leib der sel’ge Geist entflogen.“ (Canz. CCCXXXVI, 11 f., S. 490 u. 491. Vgl. Auch Triumph des Todes, 1, v. 133 ff., S. 608 u. 609.) <?page no="215"?> 211 birgt sich hinter den bereits genannten kirchlichen Bezügen. An diesem 7. Dezember wäre Cornelia siebenundfünfzig Jahre alt geworden. Ihr Tod hatte sich im Juni 1807 zum dreißigsten Male gejährt. Um Mißverständnissen, die sich auf dieses Jahr selbst gründen könnten, zu begegnen, sagt das zweite Quartett: „Ich fing nicht an, ich fuhr nur fort zu lieben“: Ich fing nicht an, ich fuhr nur fort zu lieben Sie, die ich früh im Herzen schon getragen, Dann wieder weislich aus dem Sinn geschlagen, Der ich nun wieder bin an’s Herz getrieben. Der Widerspruch löst sich auf, sobald man gelten läßt, daß Goethe aufgrund gewisser äußerer oder auch charakterlicher Ähnlichkeiten mancher Frauen mit der toten Geliebten (vgl. S. 165) die Annahme hegte, er könne, über die persönliche Beziehung zu ihnen hinaus, auch eine Brücke ins Jenseits schlagen. Durch ihren Mund oder aus ihren Briefen vermeinte er die Worte der Herrin empfangen zu können und „übersetzte“ 7 sie dann in seine Verse. Als liebevoll gehegte Fiktion, Hoffnung oder - Erlebnis war der Kontakt mit ihr gegeben und hat sich in dem Zyklus Sonette niedergeschlagen. Deshalb ist in unserem Zusammenhang zumeist nicht die Untersuchung nötig, ob es Bettine, Sylvie oder Minchen war, die für dieses oder jenes Gedicht Pate gestanden hat. Sie alle wurden ihm vermutlich zum Medium für den Austausch mit der Einen. Am 7. Dezember 1807 muß ihm die Gewißheit Ihrer Nähe wieder beglückend stark gewesen sein. Dem düsteren Karfreitag Petrarcas setzt er Dantes „Maifest“ entgegen, die erste Begegnung der Kinder Dante und Bice (später ,Beatrice’ in ihrer beider neuntem Lebensjahr, das mit der Neunzahl 8 ausschlaggebend wurde für den Beginn einer Vita Nova, eines „Neuen Lebens“ und seiner Liebe für Zeit und Ewigkeit. Doch stets erscheine, fort und fort, die frohe, Süß, unter Palmenjubel, wonneschaurig, Der Herrin Ankunft mir, ein ew’ger Maitag. Wie von Petrarca (vgl. S. 72) konnte er das Verbergen der Geliebten hinter einer anderen Frau auch von Dante lernen. Im 5. Kapitel der Vita Nova lesen wir: Und es begab sich eines Tages, daß sie, die Lieblichste, dort war, wo von der Himmelskönigin verkündet wird, und ich auf einem Platze mich befand, von wo ich meine Wonne sehen konnte. In grader Linie zwischen ihr und mir inmitten saß eine Edeldame, hold von Angesicht; die blickte oft nach mir, verwundert ob meines Schauens, das sie zum Ziel zu haben schien, und da bemerkten wieder Viele ihre Blicke. Und so sehr wurde darauf Acht gegeben, daß, als ich fortging, hinter mir ich sagen hörte: „Sieh nur, wie der durch diese Frau so elend worden! “ Und da sie ihren Namen nannten, begriff ich, daß sie von jener sprachen, die mitten in der graden Linie gesessen hatte, die von der holden Beatrice aus 7 Brief an Bettine vom 9. Januar 1808. HA Briefe III, S. 61, Schluß: „Schreiben Sie bald daß ich wieder was zu übersetzen habe.“ 8 Dante Alighieri, La Vita Nova, Das Neue Leben, deutsch von Else Thamm, Tempel-Verlag, Leipzig (ohne Jahreszahl). S. 2. <?page no="216"?> 212 in meinen Augen endigte. Das tröstete mich sehr, denn sicher war ich nun, daß ich an jenemTag mit meinem Schauen den Andern mein Geheimnis nicht verraten hatte. Und alsogleich beschloß ich, jene holde Frau als Vorwand für die Wahrheit zu benutzen und wußte das in kurzem so gut einzurichten, daß alle, die über mich gesprochen hatten, nun sicher glaubten, mein Geheimnis ganz zu kennen. Durch diese Frau verbarg ich’s Jahr und Tag; und um die Andren es noch sichrer glauben zu machen, verfaßte ich ein paar Reimereien auf sie, die hier aufzuführen, nicht in meiner Absicht liegt, oder doch nur so weit, als sie sich auf die holdeste Beatrice beziehen; so lasse ich lieber alle und schreibe eifrig das davon, was ihr zum Preise gereichen kann. 9 Konnte Dante den Rat geben, wie sich das Geheimnis der wahren Liebe vor der Welt verbergen lasse, so will Petrarca, im Gegenteil, die Herrin selber in anderen erblicken, wenn er sein Gedicht XVI mit dem Terzett beschließt: cosi, lasse, talor vo cerchand’io donna, quanto e possibile, in altrui la disiata vostra forma vera. Der Vergleich mit dem alten Mann dieses Sonetts, der nach Rom aufbricht, um dort auf dem Schweißtuch der Veronika die Züge Christi erblicken zu dürfen, bringt eine religiöse Note in diese Verse an die „Herrin“, deren Vergegenwärtigung durch „andere“ in Verinnerung äußerer Eindrücke gesucht werden sollte. Bei Goethe wird die Geliebte in der Elegie hinter der Maske der Leuconoe diese Haltung geradezu fordern (vgl. S. 62): Drum thu wie Ich und schaue, froh verständig, Dem Augenblick in’s Auge! Kein Verschieben! Begegn’ ihm schnell, wohlwollend wie lebendig, Im Handeln sey’s, zur Freude, sey’s dem Lieben; „Drum thu wie ich“ - das läßt durchblicken, daß Sie mit „dem Lieben“ nicht nur den Angesprochenen, sondern auch, in der neutralen Form, sich selber meint, daß Sie sich als Partner einer Begegnung über das Medium einer dritten Person denkt, in deren Augen-Blick und in gemeinsamer Einstimmung auf ihn, sich die überzeitlich Liebenden im Geiste finden könnten. „Drum thu wie ich“ läßt sich eigentlich nicht anders verstehen. Das Gedicht Wiederfinden aus dem Buch Suleika hält solch einen Moment der Begegnung fest, ehe es ihn auf kosmische Dimensionen mythisch ausweitet: Ist es möglich! Stern der Sterne, Drück’ ich wieder dich ans Herz! Ach! was ist die Nacht der Ferne Für ein Abgrund, für ein Schmerz! Ja du bist es! meiner Freuden Süßer, lieber Widerpart; Eingedenk vergangner Leiden, Schaudr’ ich vor der Gegenwart. 10 9 Ebd., S. 11 f. 10 FA 3/ 1, S. 96; FA 2, S. 490. <?page no="217"?> 213 Es liegt in der Natur der Epiphanie, daß sie nicht von Dauer ist. Dem Glücksmoment mischen sich die Erinnerung vergangener Entbehrung und die Vorwegnahme der nach der Begegnung doppelt bitteren künftigen Trennung bei. Daher das Zurückschrecken „vor der Gegenwart“, wobei „Gegenwart“ durchaus doppeldeutig beides meinen kann: den Zeitaspekt und Ihre Anwesenheit. Auch in der Formulierung „wonneschaurig“ des Sonetts Epoche klingt mit dem Oxymoron Ambivalenz an. Doch hier drückt der Optativ den Versuch aus, den Augenblick zu einem ewigen zu machen, zu einem „ewigen Maitag“. Beruft sich das erste der beiden lange sekretierten Sonette auf den Festtag der Geliebten unter dem Gesichtspunkt, sie Dantes Beatrice und vor allem Petrarcas Laura zur Seite zu stellen und sie zugleich mit Hilfe der Zahl Sieben zu identifizieren, so spielt das zweite, Charade, unter dem Deckmantel einer anderen, mit ihrem Namen. Wieder ist es die Chiffre ‚Herz’ für ‚Cor’, die sie bezeichnet. Goethe verbrachte im Spätherbst 1807 in Jena viel Zeit in der Gesellschaft Zacharias Werners, der ihn mit seinen Sonetten zu erneutem eigenen Dichten in dieser Form anregte. 11 Einem Charade betitelten Sonett Werners mit der Auflösung „Herzlieb“ 12 (dem Nachnamen der Pflegetochter im Hause Frommann, wo man sich traf), stellte Goethe seine eigene Charade gleichen Themas zur Seite: C HARADE Zwei Worte sind es, kurz, bequem zu sagen, Die wir so oft mit holder Freude nennen, Doch keineswegs die Dinge deutlich kennen, Wovon sie eigentlich den Stempel tragen. Es tut gar wohl in jung und alten Tagen Eins an dem andern kecklich zu verbrennen; Und kann man sie vereint zusammen nennen, So drückt man aus ein seliges Behagen. Nun aber such’ ich ihnen zu gefallen Und bitte mit sich selbst mich zu beglücken; Ich hoffe still, doch hoff’ ich’s zu erlangen: Als Namen der Geliebten sie zu lallen, In Einem Bild sie beide zu erblicken, In Einem Wesen beide zu umfangen. Spielerisch, wie viele der Sonette sich an der Oberfläche geben, wird hier der Name Herzlieb in seine beiden Komponenten aufgelöst, sogleich aber ihre eigentliche Herleitung in Frage gestellt. Ihre sprachliche Zusammenfügung drückt „seliges Behagen“ aus. Das kann ‚Herzlieb’, aber auch ‚Herz-Lieb’ und auch ‚Lieb Herz’ bedeuten. „Mit sich selbst“ soll die Geliebte ihn „beglücken“: diese Hoffnung paßt in keiner, wie immer auch gedachten Weise auf die achtzehnjährige Wilhelmine, Ziehtochter im Frommannschen Hause, wo der Freundeskreis sich häufig traf. Dementsprechend wird das Hoffen auch exemplifiziert: Das zweite Terzett bekun- 11 Hans-Jürgen Schlütter. Goethes Sonette, in Goethezeit, a. a. O., Bd. 1, S. 83 ff. 12 Ebd., S. 94 f. <?page no="218"?> 214 det eine Realität, die hinter den Worten aufscheint und, bei vertiefter Wesensschau, das ‚sichtbare’ Objekt durchstrahlt. Vers 12 spielt mit der Ambiguität der grammatischen Zahl: Stehen die Wörter „Namen“ und „Geliebten“ im Singular oder im Plural? Geht es hier um den „Namen“ der einen „Geliebten“ oder um die „Namen“ von zweien? Und worauf bezieht sich das gedoppelte „beide“ in den Versen 13 und 14? Sind noch immer ‚Herz’ und ‚Lieb’ gemeint oder sind sie nicht schon längst metamorphosiert zu einer Doppelheit der Geliebten, die beide ein symbolträchtiger Name bezeichnet, offenkundig die eine, in geheimer Chiffrierung dagegen die andere, die Unsichtbare. - In diesem Sinne ist das Rätsel selbst gedoppelt. Könnte der vorletzte Vers noch zur sinnfälligeren Deutung ermuntern, so weist der letzte, in dem das „Bild“ vor dem „Wesen“ verblaßt ist, auf die zweite Lösung. Charade verbirgt und enthüllt eine Metamorphose, die sich in Spiegelung im Bereich der Sprache abzeichnet, ganz im Sinne von Goethes Verständnis der Symbolik. Das „Bild“ trägt den „Stempel“ der sie prägenden Idee, zu der sich die Erscheinung gewandelt hat, wobei „die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt.“ 13 Das magische Nennen aus gesteigerter Empfindung („seligem Behagen“) erschafft sich in dem Bild ein Gegenüber, (noch kein Du), in welchem das erstmals im Gedicht auftauchende „Ich“ (v. 9) ein Echo wecken möchte. Ein Pygmalion der Sprache steht entzückt vor seiner Schöpfung wie der Prometheus in Goethes dramatischem Fragment vor der von ihm gebildeten Pandora (vgl. S. 102 f.) - und ersehnt ihre Beseelung. Die Verwandlung des Bildes zum lebendigen Du, dem man „gefallen”, das „mit sich beglücken“ kann, wird ‚gesucht’, ‚erbeten’, ‚still erhofft’, aber im Gedicht nicht aktualisiert. Es bleibt bei der Hoffnung, die sich allerdings zum Schluß ekstatisch steigert. In dem immer noch erhofften, nicht ‚erlangten’, Zustand wird das „Nennen“ zum „Lallen“, da die Sprache nun versagt angesichts der gebannten Wahrnehmung der Verdoppelung, der Animation des Bildes, das für die Idee transparent wird. Letztlich Verstummen in der intentionalen Vorwegnahme einer unio mystica, die sich außerhalb der Zeit vollzieht. Tendenziell zeigt sich hier dieselbe Kongruenz von erstrebter und erlebter Realität, die Faust am Ende seines Lebens zu den Worten hinreißen wird: Im Vorgefühl von solchem hohen Glück Genieß ich jetzt den höchsten Augenblick. 14 Diese Duplizität der Erlebnisebenen prägt sich in den meisten Sonetten des Zyklus aus; erst die beiden zwanzig Jahre zurückgehaltenen Schlußgedichte erschließen sie einem tieferen Verständnis, ähnlich wie Trilogie der Leidenschaft, entstanden im letzten Lebensjahrzehnt des Dichters, als wesentlicher Schlüssel zur gesamten Dichtung gelten kann. Das italienische Sonett in seiner zweigeteilten Form von Quartetten und Terzetten kommt dem Gedanken der zwiefachen Erlebnisebene 13 „Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild, und so, daß die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt und, selbst in allen Sprachen ausgesprochen, doch unaussprechlich bliebe.“ Sprüche in Prosa, FA 13, S. 207 (2. 72. 2); H 1113. 14 Faust II, v. 11585 f; FA 7/ 1, S. 446. <?page no="219"?> 215 entgegen. Die Lautsymbolik des dem Zyklus seit 1815 vorangestellten Mottos unterstreicht die bekundete Zielsetzung: Liebe will ich liebend loben, Jede Form sie kommt von oben. 15 Wieder häufen sich ‚i’- und ‚l’-Laute zur Wiedergabe innigen Gefühls. Doch schon in der ersten Zeile tritt eine Transformation ein: „Liebe“ und „liebend“ werden musikalisch zu „loben“ variiert, womit das beherrschende ‚o’ des zweiten Verses erstmals anklingt und einstimmt auf die besinnliche Getragenheit des zweiten Teils des Mottos. Da aber das ‚Loben’ der „Liebe“ „liebend“ vollzogen wird, verschmelzen die beiden Verben begrifflich zu einer harmonischen Einheit, die auf der einen Seite das Ich mit seinem ‚Willen’, auf der anderen Seite die „von oben“ kommende Form, in der sich das Lob aussprechen soll, einbegreift und auf das innigste verquickt im Zusammenklang von Liebe und religiöser Gestimmtheit. Es ist schwer vorstellbar, daß Goethe hier nicht an den Vers aus Schillers Glocke: „Doch der Segen kommt von oben“ gedacht haben sollte. Erich Trunz schreibt in seinem Kommentar zu den Sonetten am Schluß des einleitenden Abschnitts: Goethe hat sich über seine „Sonette“ fast nirgendwo geäußert. Es gibt gelegentlich Briefstellen über ihre Einordnung in die „Werke“ und über Vorlesen des einen oder anderen, aber nichts, was den Gehalt betrifft. Auch die „Annalen“ schweigen. Nur eine einzige Äußerung gibt es, die ins Wesentliche führt. Und die bekam niemand zu lesen. Es ist die Partie des Manuskripts zu den „Annalen“, Abschnitt 1807, die, man weiß nicht, aus welchen Gründen, im Druck fortblieb und erst in der Weimarer Ausgabe, Bd. 36, 1893 ans Licht trat. Und auch hier waltet Goethes verhaltene, andeutende, ja bewußt verhüllende Art. Der Abschnitt lautet: „Anfangs Dezembers kam Werner nach Jena, und man kann nicht leugnen, daß er Epoche in unserm Kreise gemacht […]. Mit großer Wahrheit und Kraft las er vor, wodurch denn seine trefflichen Sonette noch höhern Wert erhielten und besonders die rein menschlich leidenschaftlichen großen Beifall gewannen. Es war das erste Mal seit Schillers Tode, daß ich ruhig gesellige Freuden in Jena genoß; die Freundlichkeit der Gegenwärtigen erregte die Sehnsucht nach dem Abgeschiedenen, und der aufs neue empfundene Verlust forderte Ersatz. Gewohnheit, Neigung, Freundschaft steigerten sich zu Liebe und Leidenschaft, die wie alles Absolute, was in die bedingte Welt tritt, vielen verderblich zu werden drohte. In solchen Epochen jedoch erscheint die Dichtkunst erhöhend und mildernd. <die Forderung des Herzens erhöhend, gewaltsame Befriedigung mildernd.>. 16 Und so war diesmal die von Schlegel früher meisterhaft geübte, von Werner ins Tragische gesteigerte Sonettenform höchst willkommen.[…] 17 Erich Trunz hat die Stelle aus der Weimarer Ausgabe übernommen (wie sie gleichlautend auch in der Jubiläumsausgabe steht). Karl Eibl jedoch griff bei Texten aus dem Nachlaß grundsätzlich auf die Handschriften zurück, und da zeigte sich, daß die ursprünglichen Herausgeber einen Buchstaben geändert haben. Es muß hier in 15 Zum ‚Sonettenstreit’ siehe FA 2, S 408 und Komm., S. 1019. 16 Die in spitze Klammern gesetzten Wörter wurden von Trunz unterdrückt. Auf sie ist später noch zurückzukommen. 17 HA 1, S. 635 f. <?page no="220"?> 216 Wahrheit heißen: „die Freundlichkeit des Gegenwärtigen“. 18 Man empfand es offenbar als Skandalon, daß Zacharias Werner in einem Atem mit Schiller genannt werden sollte. Doch läßt sich die Stelle auch umfassender deuten, wenn man die beiden substantivierten Adjektive als Neutra versteht, als ‚das Gegenwärtige’ und ‚das Abgeschiedene’, von höherer Ebene betrachtet: eben als „die bedingte Welt“ und „das Absolute“. Die zuletzt zitierten Worte lesen sich wie eine Interpretation des ersten Sonetts, das, den Zyklus programmatisch einleitend, an der Darstellung bewältigter Emotionen die Sonettenform poetologisch darlegt. I M ÄCHTIGES Ü BERRASCHEN . Ein Strom entrauscht umwölktem Felsensaale Dem Ozean sich eilig zu verbinden: Was auch sich spiegeln mag von Grund zu Gründen, Er wandelt unaufhaltsam fort zu Tale. Dämonisch aber stürzt mit einem Male - Ihr folgen Berg und Wald in Wirbelwinden - Sich Oreas, Behagen dort zu finden, Und hemmt den Lauf, begrenzt die weite Schale. Die Welle sprüht, und staunt zurück und weichet, Und schwillt bergan, sich immer selbst zu trinken: Gehemmt ist nun zum Vater hin das Streben. Sie schwankt und ruht, zum See zurückgedeichet; Gestirne, spiegelnd sich, beschaun das Blinken Des Wellenschlags am Fels, ein neues Leben. Wenn oben (S. 211) gesagt wurde, es sei nicht von wesentlicher Bedeutung, welchen der Frauen aus Goethes Freundeskreis die einzelnen Sonette galten, so macht Bettine Brentano (später verh. Arnim) hier in gewisser Hinsicht eine Ausnahme, weil Goethe sich von einzelnen Stellen ihrer an ihn gerichteten Briefe zu einer Reihe von Sonetten inspirieren ließ, aber nicht zu so vielen, wie sie mit im Nachhinein gedichteten eigenen Briefen in Goethes Briefwechsel mit einem Kinde 19 glauben machen wollte. Bettine teilte die Verehrung für Goethe mit ihrem Bruder Clemens und dessen Freund Achim von Arnim, ihrem späteren Ehemann. Nach dem Tode ihrer Eltern stieß sie im Haus der Großmutter Sophie von La Roche auf Briefe, die Goethe in den Jahren 1772-1775 geschrieben hatte und in denen auch von einer Liebe zu ihrer Tochter Maximiliane, Bettines Mutter, leise die Rede war. Nach deren Heirat mit Peter Anton Brentano, 1774, war diese Beziehung abgebrochen. Bettine schrieb, wie sie am 10. Juni 1806 Arnim mitteilte, dreiundvierzig der schönsten Briefe Goethes ab. Deshalb konnte sie später Goethe ihr „einzig Erbtheil meiner 18 FA 2, S. 977. WA (1893) bringt die Stelle innerhalb des Lesarten-Apparats für 1807, ohne weiteren Zusatz. Vgl. WA I. 36. 391. 19 Bettine von Arnim (geb. Brentano), Goethes Briefwechsel mit einem Kinde (1835), a. a. O., Bd. 2, S. 375 ff. <?page no="221"?> 217 Mutter“ nennen. 20 Im April 1807 verbrachte sie auf der Durchreise mit Schwester und Schwager einen Tag in Weimar und besuchte Goethe, ein weiterer Besuch im Kreise von viel Verwandtschaft und mit Arnim fiel in den November desselben Jahres. Bettine verehrte und liebte Goethe, der ihrer Leidenschaftlichkeit mit zarter Zurückhaltung begegnete, aber zweifellos zunächst von ihr angetan war, wenn auch seine Briefe an sie eher dünn gesät waren. Ihre Freundschaft mit seiner Mutter begrüßte er - nicht zuletzt, weil ihm Berichte über seine Jugend für die Abfassung von Dichtung und Wahrheit willkommen waren. Am 9. Januar 1808 beschließt er einen Brief an sie mit den hier z.T. bereits zitierten Worten: „Adieu mein artig Kind! Schreiben Sie bald daß ich wieder was zu übersetzen habe.“ 21 Dies bezog sich auf die Sonette. Schon vorher hatte er ihr zwei von ihnen (das erste und das siebente der endgültigen Zählung) in einem Brief an seine Mutter mitgeschickt.“ 22 Das Allererste, was ihm von Bettinens Hand, nach ihrem ersten Besuch in Weimar, vor Augen gekommen war, muß ihn zutiefst frappiert haben. Das war circa ein halbes Jahr vor Entstehung der Sonette gewesen. Da las er: Liebe Liebe Tochter! Nenne mich ins Künftige mit dem mir so theuren Nahmen Mutter du verdienst ihn so sehr - so ganz und gar - Mein Sohn sey dein innig geliebter Bruder - dein Freund - der dich gewiß liebt, und pp. Solge Worte schreibt mir Göthes Mutter; zu was berechtigen mich diese? - Auch brach es loß wie ein Damm in meinem Herzen. Ein Menschenkind das allein steht auf einem Fels, von allen Winden und reißenden Ströhmen umbraußt, seiner selbsten ungewiß, hin und her schwankt auf schwachen Füsen, wie die Dorne und Distlen um es her; so bin ich! so war ich da ich meinen Herrn noch nicht erkannt hatte; Nun wend ich mich wie die Sonnenblume nach meinem Gott; und kann ihm mit dem von seinen Strahlen glühenden Angesicht beweisen, daß er mich durchdringt. O Gott! darf ich auch? und bin ich nicht alzu kühn? Und was will ich denn? Erzählen wie die herrliche Freundlichkeit mit der Sie mir entgegen kamen, jetzt in meinem Herzen wuchert; alles andre Leben mit Gewallt erstickt? wie ich immer muß hinverlangen, wo mir’s zum erstenmal wohl war? das alles hilft nichts die Worte Ihrer Mutter! Ich bin weit entfernt zu glauben daß ich den Antheil besitze den ihre Güte mir zumißt aber diese haben mich verblendet, und ich mußte zum wenigsten den Wunsch befriedigen, daß Sie wissen mögten, wie mächtig mich die Liebe in jedem Augenblick zu Ihnen hinwendet; Auch darf ich mich nicht scheuen diesem Gefühl mich hinzugeben, denn ich war’s nicht die mir es ins Herz pflanzte. Ist es denn mein Wille, wenn ich plötzlich aus dem augenblicklichen Gespräch hinübergetragen bin, zu Ihren Füsen […], dann fang ich an zu plaudern wies meinen Lippen behagt, die Antwort aber, die ich mir in Ihrem Nahmen gebe, spreche ich mit Bedacht aus, mein Kind! mein artig gut Mädgen! Liebes Herz! sag ich zu mir, und wenn ich denn bedenk daß Sie vielleicht wirklich es sagen könnten wenn ich so vor Ihnen stände, dann schaudre ich vor Freude und Sehnsucht zusammen. O wie viel hundertmal träumt man! und träumt besser als einem je wird. 20 Dieselbe, Originaler Briefwechsel. An Goethe, um Weihnachten 1810, a. a. O., S. 715. 21 Ebd., S. 586. 22 Ebd., ohne schriftlichen Zusatz für Bettine, S. 582. <?page no="222"?> 218 Muthwillig und übermütig bin ich auch zuweilen und preiße den Mann glücklich, den die Bettine so sehr sehr liebt dann lächeln Sie und bejahen es in freundlicher Großmuth. Weh mir, wenn dieß alles nie Wahrheit wird, dann wird mein Leben das herrlichste vermissen Ach ist der Wein nicht die Schönste und heiligste unter den Göttlichen Gaben? Diesen werd ich vermissen, und werde das andre nur gebrauchen, wie hartes geistloses Wasser das nicht Nach Mehr schmeckt. Wie kann ich mich denn trösten? mit dem Lied etwa „Im Arm der Liebe ruht sichs wohl, wohl auch im Schoos der Erde“ oder „Ich wollt ich läg und schlief, Zehntausend Klafter tief“? Ich wollt ich könnte meinen Brief mit einem Blick in Ihre Augen schließen, schnell würde ich Vergebung der Kühnheit heraus lesen, und diese noch mit einsieglen, ich würde denn nicht ängstlich sein, über das kindische Geschwäz, das mir doch so ernst ist; O Sie wissen wohl, wie über mächtig, wie voll süßen Gefühls das Herz oft ist, und die kindische Lippe kann das Wort nicht treffen: den Ton kaum; der es wiederklingen macht. 23 Der Brief schließt mit dem Datum des 15. Juni, wurde also eine Woche nach Cornelias dreißigstem Todestag abgefaßt und einen Tag vor der Wiederkehr des Tages, an dem die traurige Nachricht Goethe erreichte. Eine Antwort von seiner Seite existiert nicht. Er mag Bettines Erguß mit gemischten Gefühlen aufgenommen haben. Vermutlich hat ihn die Rollenzuweisung an ihn als einen Bruder Bettinens seitens seiner Mutter zunächst befremdet. Man erinnere sich an den bitteren Brief, den er ihr anläßlich Schlossers vorschneller Verlobung mit Johanna Fahlmer, vier Monate nach Cornelias Tode, geschrieben hatte (vgl. S. 188 f.). An demselben Tag hatte er auch ein Schreiben an seine künftige Schwägerin gerichtet, worin es heißt: […] Daß du meine Schwester seyn kannst, macht mir einen unverschmerzlichen Verlust wieder neu, also verzeihe meine Thränen bei deinem Glück.[…] 24 Das Wort der Mutter - es ist authentisch, der Brief an Bettine vom 1. Juni 1807 ist vorhanden 25 - muß ihn über das Persönliche hinaus auch deshalb seltsam berührt haben, weil er es bei ihrer Bibelfestigkeit als Abwandlung und Umkehrung von Joh. 19, 27, also als „Siehe, deine Schwester“ erkennen mußte, also auch als indirekte Forderung an ihn selbst. Bettines stürmische Liebesbezeugungen, die von ihm in keiner Weise außer durch seine Werke und seine Briefe an ihre verstorbene Großmutter angeregt waren, mußten ihm auch seine Freundschaft mit ‚Maxe’ La Roche zurückrufen, jener anderen Frau, in der man, abgesehen von Charlotte Buff, die ‚wahre’ Gestalt hinter Werthers Lotte vermutet hat. In wenigen Monaten sollte Bettine eine ähnliche Rolle zufallen. Aber darüber hinaus vermitteln einige Sonette auch den Eindruck (wie noch zu zeigen sein wird), daß er sie als Medium verstand oder imaginierte, durch welches ihm, ohne daß sie es wußte, Kommunikation mit Cornelia zuteil wurde. Bettine selbst spricht ja auch am Schluß ihres Briefes von dem „Wort“, dem „Ton“, der ihr „Herz“ wie- 23 Bettine von Arnim, a.a.O., Bd. 2, Originaler Briefwechsel, An Goethe, 15. Juni 1807, S. 575 ff. 24 Goethe an Johanna Fahlmer, 16. Nov. 1777; FA 29, S. 110. 25 B. v. A., a.a.O., Bd. 2, S. 825. Zitat aus dem (authentischen) Brief der Mutter Goethes vom 13. 6. 1807. Vgl. Briefe aus dem Elternhaus, hrsg. von Wolfgang Pfeiffer-Belli, Zürich 1960, S. 857. <?page no="223"?> 219 derklingen mache und den sie nicht „treffen“ könne. Letztlich mögen für ihn auch ihre Anspielungen auf Todessehnsucht in diese Richtung gewiesen haben. In ihrem vierten Brief (Ende November/ Anfang Dezember 26 ), von dem noch mehrfach die Rede sein wird, muß ihm die Doppelrolle, die Bettine für ihn spielte, besonders stark zu Bewußtsein gekommen sein. Was dachte er, als er las: Ist dem zu helfen der die Augen einmal ins Leben aufgeschlagen hat? Er ist gebohren, und muß die Welt anschauen mit Schlechtem und Rechtem, bis in den Tod. Selig wer beym ersten Blick gleich das herrlichste erblickt und es so fest anblickt daß kein Lärm und fremder Schein ihn abzuwenden vermag, bin ich zu tadeln Herr meiner Seele, soll von Liebe nicht die Rede seyn? so muß ich wahrlich verstummen, denn ich weiß nichts anders. Spricht hier die himmlische Geliebte, die auch ihn schon als Kind in der Wiege entzückte? 27 Oder ist es noch das unbändige junge Mädchen, das im nächsten Moment sagen wird, sie sei ihm „von Gott gegeben […], als ein Damm, über welchen Dein Herz nicht mit dem Strohm der Zeit schwimmen soll, sondern ewig jung in Dir bleibt und ewig geübt in der Liebe.“ Zum zweiten Mal erscheint das Bild des Dammes in Bettinens Briefen, hier so verschieden von dem Dammbruch in ihrem Herzen, den die Worte von Goethes Mutter bewirkt hatten (vgl. S. 217) und dem gegenüber sie sich als hilflos empfand, aber dennoch auch in ihrem eigenen Element. Ohne Zweifel hat Bettine den Anstoß zum ersten Sonett mit dem Titel Mächtiges Überraschen gegeben. Dennoch sollte, wie so oft, die Chiffre „Or“ in ihrem parechetischen Aspekt zu denken geben. Oreaden sind Bergnymphen. Gewaltsame Umgestaltung der Landschaft durch Bergrutsch und Entwurzelung von Bäumen ist eigentlich sonst nicht ihre Sache. Ein wahres Gegenstück zu der Oreas des Sonetts läßt Goethe in der Klassischen Walpurgisnacht auftreten. Diese Oreas zieht eine scharfe Trennungslinie zwischen ihrem eigenen Wesen und dem Spuk gewaltsam neu entstandener vulkanischer Berge: OREAS (vom Naturfels). Herauf hier! Mein Gebirg ist alt, Steht in ursprünglicher Gestalt. Verehre schroffe Felsensteige, Des Pindus letztgedehnte Zweige. Schon stand ich unerschüttert so, Als über mich Pompejus floh. Daneben das Gebild des Wahns Verschwindet schon beim Krähn des Hahns. Dergleichen Märchen seh’ ich oft entstehn Und plötzlich wieder untergehn. 28 Hat hier Goethe die Oreas-Gestalt des Sonetts im Nachhinein relativieren wollen, indem er sie mit ihrer Urform konfrontiert und ihr Benehmen als ‚mächtig überraschende’ Abweichung von ihrer eigentlichen Natur zu verstehen gibt? Ihr dämonischer Einbruch in das ruhige Fließen des Stromes bis hin zum Rückstau erschafft schließlich einen See: 26 Dies., ebd., S. 581. 27 Ebd., S. 698. 28 Faust II, v. 7811 ff. Verweis in Komm. FA 2, S. 980. <?page no="224"?> 220 Die Welle sprüht, und staunt zurück und weichet, Und schwillt bergan, sich immer selbst zu trinken; Gehemmt ist nun zum Vater hin das Streben. In auferlegter, nur leichten Wellenschlag am Ufer gewährender Beruhigung, ereignet sich, in Verquickung von Unten und Oben, die Anteilnahme himmlischer Wesen am Strome : Gestirne, spiegelnd sich, beschaun das Blinken Des Wellenschlags am Fels, ein neues Leben. Das lyrische Ich erlebt sich als Wasser und weiß die Gestirne beseelt - Petrarca, der die Augen Lauras als Sterne feiert, ist nicht fern. 29 Das „Blinken“ der Wellen reflektiert das Licht der Gestirne, der Spiegel des Sees nimmt sie auf - zu ‚einem neuen Leben’. Damit ist auch Dante wieder einbezogen. „Ein neues Leben“, das ist der Anbruch der Epoche, von der das so überschriebene ‚Schlüssel’-Sonett XVI spricht: höchst persönliche Glückserfahrung und Preisung. Zugleich aber erinnert bereits das erste Sonett an Dantes Vita Nova 30 mit ihren Gedichten über seine Liebe zu Beatrice, denen er jeweils ihre Entstehungsgeschichte voranstellt und dabei auch bekennt, diese Liebe hinter dem Deckmantel einer anderen Frau verborgen gehalten zu haben (vgl. S. 211 f.). Dies freilich zu Beatrices Lebzeiten. Bei Goethe verbinden sich die beiden Gestalten: eine irdische wird transparent für die himmlische. Es ist wichtig zu sehen, daß die Vita Nova in dem programmatischen ersten Sonett ihren Platz gefunden hat. Was dieses erste Sonett im Bilde einer dämonisch-aufgewühlten und schließlich befriedeten Landschaft ausdrückt, stellt das zweite im menschlichen Bereich dar. Dem Mächtigen Überraschen wird ein Freundliches Begegnen zur Seite gestellt: II F REUNDLICHES B EGEGNEN Im weiten Mantel bis ans Kinn verhüllet Ging ich den Felsenweg, den schroffen, grauen, Hernieder dann zu winterhaften Auen. Unruh’gen Sinns, zur nahen Flucht gewillet. Auf einmal schien der neue Tag enthüllet: Ein Mädchen kam, ein Himmel anzuschauen, So musterhaft wie jene lieben Frauen Der Dichterwelt. Mein Sehnen war gestillet. Doch wandt’ ich mich hinweg und ließ sie gehen, Und wickelte mich enger in die Falten, Als wollt’ ich trutzend in mir selbst erwarmen; Und folgt ihr doch. Sie stand. Da war’s geschehen! In meiner Hülle konnt’ ich mich nicht halten, Die warf ich weg, Sie lag in meinen Armen. 29 Vgl. Canz. a. a. O., CCXXI, v. 10 f.; a. a. O., S. 336 u. 337 und CLVII, v. 10 f.; S. 262 u. 263. 30 Vgl. Horst Rüdiger, Petrarca in der deutschen Literatur in Beihefte zum Euphorion, 8. Heft, darin Horst Rüdiger und Willi Hirdt, Studien über Petrarca, Boccaccio und Ariost in der deutschen Literatur, Heidelberg 1976. S. 27. <?page no="225"?> 221 Der gewaltigen Diastole, die der Strom erfährt, indem er sich zum See ausweitet, entspricht hier das Abwerfen des Mantels, der „bergan“ gedrängten Rückstauung des Wassers die Kursänderung des Wanderers, der dem Mädchen folgt. Dieses Mädchen hat jedoch nichts von der Dämonie der Oreas des Sonetts, es strömt Ruhe aus: „ein Himmel anzusehen“. 31 „Musterhaft“ ist sie „wie jene lieben Frauen der Dichterwelt“. Goethe verwendet das Wort ‚musterhaft’ meist im Sinne von ‚paradigmatisch’, also ohne ethische Färbung. 32 Hier aber wird deutlich Bezug genommen auf bestimmte Frauen, deren Betragen tatsächlich vorbildlich war, so wie ihre Dichter befanden. Die Sonettform schließt hier Dichterfreundinnen der Antike aus. Der Verweis auf Beatrice und Laura ist deutlich. Daß schon das Erscheinen, das Vorübergehen der jungen Frau genügte, des Dichters „Sehnen“ zu stillen, bekundet, daß er es als ‚Befestigungszeichen’ 33 , als Antwort eines ‚selbstinszenierten’ Orakels, betrachtete. Der innere Kampf gegen eine nähere Begegnung, wie ihn das erste Terzett beschreibt, unterstreicht diese Haltung, die es sich an dem Omen genug sein lassen mochte; ebenso das „doch“ im nächsten Vers: „Und folgt ihr doch. Sie stand. Da war’s geschehen! “ Drei kurze Sätze, die klar durch Punkte und Diäresen und die auf sie folgenden Pausen getrennt sind. Im mittleren Kolon vollzieht sich etwas, das nur in Goethes eigener Schreibweise erkennbar wird, wie sie hier - und ohne andere Lesarten! - die Weimarer Ausgabe wiedergibt, oder die des Deutschen Klassiker Verlags: Das Pronomen „ihr“ hat einen kleinen Anfangsbuchstaben, das andere, „Sie“, muß Großschreibung haben wegen des vorangegangenen Punktes, doch das „Sie“ im letzten Vers ist mit Majuskel geschrieben, obwohl es auf ein Komma folgt. Dieses letzte „Sie“ fällt außerdem in eine metrische Senkung, der es mit seiner starken Betonung entgegenwirkt und damit das Versmaß aus dem gewohnten Fluß bringt, wie es mit der Route und der inneren Einstellung des Mannes geschah. Das Erfassen einer Verwandlung vollzieht sich stumm im mittleren Kolon von Vers 12, noch nicht nachvollziehbar für den Leser, denn hier ist das Pronomen ja noch ambivalent. Doch danach „war’s geschehen“. Wir werden Zeugen einer Epiphanie. Ein „Gestirn“ des ersten Sonetts hat menschliche Gestalt angenommen. „Ist es möglich, Stern der Sterne, / Drück’ ich wieder dich ans Herz? “ wird es später heißen. Aber in der Furcht vor neuerlicher Trennung wird es auch heißen: „Eingedenk vergangner Leiden, / Schaudr’ ich vor der Gegenwart.“ 34 Und genau diese Sorge war Ursache des anfänglichen Zögerns und ist Thema des nächsten Sonetts: III K URZ UND GUT Sollt’ ich mich denn so ganz an Sie gewöhnen? Das wäre mir zuletzt doch reine Plage. Darum versuch’ ich’s gleich am heut’gen Tage, Und nahe nicht dem vielgewohnten Schönen. 31 Vgl. Canz. XC, a. a. O., S. 156 u. 157. 32 Brief an Charlotte von Stein vom 10. und 11. Dezember 1777; HA Briefe 1, S. 246. 33 Siehe Goethe-Wörterbuch, z. B. „Musterhaft in Freud und Leid“ (West-östlicher Divan). 34 West-östlicher Divan, Buch Suleika; FA 3/ 1, S. 96. <?page no="226"?> 222 Wie aber mag ich dich mein Herz versöhnen, Daß ich im wichtgen Fall dich nicht befrage? Wohlan! Komm her! Wir äußern unsre Klage In liebevollen, traurig heitren Tönen. Siehst du, es geht! Des Dichters Wink gewärtig Melodisch klingt die durchgespielte Leier, Ein Liebesopfer traulich darzubringen. Du denkst es kaum und sieh! das Lied ist fertig; Allein was nun? - Ich dächt’ im ersten Feuer Wir eilten hin, es vor ihr selbst zu singen. Das groß geschriebene „Sie“ des ersten Verses wird nur verständlich, wenn man erkennt, daß die Gewöhnung an die Herrin „zuletzt“ zur reinen Plage werden muß, wenn der vorausgeahnte künftige Entzug der Verbindung über den Dichter hereinbricht. Durch solches Gefühl geleitet, versucht er nun, sich zu wappnen, indem er die Gesellschaft des lebenden Mädchens meidet und auf seine Vermittlung verzichtet. Doch die mit „mein Herz“ angesprochene Unsichtbare scheint dieser Entschluß verletzt zu haben, zumal sie gar nicht gefragt wurde. Mag sein, sie könnte glauben, ein Kontakt würde so nicht mehr möglich sein. Nun will der Dichter sie versöhnen und mit ihr „gemeinsam“ das Abschiedslied an die Freundin komponieren. Nach einigem Zaudern und mit seinem Zuspruch kommt das Lied zustande, ein Klagelied, ein letztes Liebesopfer. Ihre Nähe wird nun doch, gegen allen Vorsatz, gesucht: „Ich dächt’ im ersten Feuer / Wir eilten hin, es vor ihr selbst zu singen.“ Wir haben die Entstehung eines Sonetts miterlebt: mit Beginn des zweiten Terzetts ist „das Lied“ fast „fertig“. Das „Feuer“, das hier brennt, ist, wie das ganze Sonett zeigt, keines der Leidenschaft, eher eines der Freude über das gelungene Gedicht oder die gewonnene Unabhängigkeit. Das Lied ist ein Abschiedslied. Der Dichter will es „vor ihr selbst“ singen - oder meint er: ‚selber vor ihr singen’? Syntax und Wortstellung lassen beide Bedeutungen zu. Im Vers jedoch trägt „selbst“ einen so starken metrischen Akzent, daß alle die drei vorangehenden einsilbigen Wörter, „ihr“ inbegriffen, daneben verblassen. „Selbst“ ist nahe an „singen“ gestellt und deutet somit auf den Dichter, dem die Nähe des „vielgewohnten Schönen“ nun nicht mehr gefährlich zu werden droht; denn was ihn an sie band, ihre mediale Wirksamkeit, von der sie gewiß nicht wußte, ist, jedenfalls vorderhand, nicht länger Voraussetzung für die Kommunikation mit der Herrin. Das nächste Gedicht bekräftigt diesen Befund, und von nun an kommt der Dichter in den meisten weiteren Sonetten auch ohne Vermittlung aus. IV D AS M ÄDCHEN SPRICHT Du siehst so ernst, Geliebter! Deinem Bilde Von Marmor hier möcht’ ich dich wohl vergleichen; Wie dieses gibst du mir kein Lebenszeichen; Mit dir verglichen zeigt der Stein sich milde. Der Feind verbirgt sich hinter seinem Schilde, Der Freund soll offen seine Stirn uns reichen. <?page no="227"?> 223 Ich suche dich, du suchst mir zu entweichen; Doch halte Stand, wie dieses Kunstgebilde. An wen von beiden soll ich nun mich wenden? Sollt’ ich von beiden Kälte leiden müssen? Da dieser tot und du lebendig heißest. Kurz! um der Worte mehr nicht zu verschwenden, So will ich diesen Stein so lange küssen, Bis eifersüchtig du mich ihm entreißest. Dem Gedicht liegt eine Episode zugrunde, die Goethe im Apil 1907 mit Bettine in der Weimarer Bibliothek erlebt hatte und auf die sich auch zwei Stellen in ihren Briefen beziehen. 35 Aber innerhalb des Zyklus geht es nicht wirklich um eine biographische Notiz, sondern um die Weiterführung einer poetischen Darstellung psychischer oder transzendentaler Erfahrungen. Wäre es ihm nicht wichtig gewesen, eine Entwicklung zu zeigen, so hätte Goethe die Sonette, zusätzlich zu den Titeln, nicht noch mit Numerierung versehen. (Die Sonette der großen italienischen Vorbilder haben keine Titel! ) Die Entzauberung, der das Mädchen anheimfiel, nachdem es seinen Doppelaspekt verloren hatte, zeigt sich im Verhalten des Geliebten, dem „sie“ eine gleiche, ja größere Härte und Kälte vorwirft, als sein marmornes Abbild aufweise. Dabei geschieht eine seltsame Verkehrung der Verhältnisse: nun ist es plötzlich der Dichter, der verdoppelt erscheint. Aus den naiven Fragen des Mädchens muß er Kritik nicht nur an seinem Mangel an Gefühl heraushören, sondern, darüber hinaus im stillen, auch an seinen geheimen jenseitigen Bezügen, die ihn den Werbungen gegenüber unberührt lassen. Das „Kunstgebilde“ steigert sich im Empfinden des Mädchens zur Person, wenn sie fragt: An wen von beiden soll ich mich nun wenden? Sollt’ ich von beiden Kälte leiden müssen? Da dieser tot und du lebendig heißest! Sie sagt „dieser“, nicht „dieses“. ‚Ohne es zu wissen’, hält sie dem Manne den Spiegel seines eigenen Verhaltens vor, gibt es instinktiv wieder, wobei sie an die Stelle des denkenden und liebenden Geistwesens, das er mit ihrer Hilfe zurückzuholen gewohnt war, den leblosen Stein setzt. So wird das Tote im Bilde noch gesteigert. Mancherlei vermittelt der Dichter dem Leser mit diesem Sonett. Statt seine eigenen Gefühle darzustellen, läßt er das Mädchen auf sie reagieren, das seine Abwendung merkt und unter ihr leidet. Im Verständnis des Dichters für diese Notlage liegt implizite Selbstkritik. Vor allem aber gibt er hier auf verschlüsselte Art, in einem komplexen Prozeß von Spiegelung, Umkehrung und Transformation, aber immerhin in Worten und nicht nur mit Buchstaben, einen Hinweis auf das Problem der Doppelheit der Person, das in den „Sonetten“ - und gewiß nicht nur da - sein zentrales Anliegen ist. Hatte Prinz Oronaro noch mit allen Mitteln versucht, die Verlebendigung der Toten durch sein eigenes Tun, durch die Anpassung 35 Vgl. Komm. zu Sonett IV, S. 252, FA 2, S. 981. <?page no="228"?> 224 der lebenden Mandandane an sie, zu erreichen, so wird in den Sonetten die Initiative von der Transzendenz erwartet: die Herabkunft der Idee ins Bild, erhofft, erfühlt, vermißt und neu erfahren. * * * Die nächsten drei Sonette sind autobiographischer Natur. Eine Einzelhandschrift des ersten befand sich im Besitz von Wilhelmine Herzlieb, datiert mit „Jena, 13. Dezember 1807“. 36 V W ACHSTUM Als kleines artges Kind, nach Feld und Auen Sprangst du mit mir, so manchen Frühlingsmorgen. „Für solch ein Töchterchen, mit holden Sorgen, Möcht’ ich als Vater segnend Häuser bauen! “ Und als du anfingst in die Welt zu schauen, War deine Freude häusliches Besorgen. „Solch eine Schwester! und ich wär’ geborgen: Wie könnt’ ich ihr, ach! wie sie mir vertrauen! “ Nun kann den schönen Wachstum nichts beschränken; Ich fühl’ im Herzen heißes Liebetoben. Umfass’ ich sie, die Schmerzen zu beschwichtgen? Doch ach! nun muß ich dich als Fürstin denken: Du stehst so schroff vor mir emporgehoben; Ich beuge mich vor deinem Blick, dem flüchtgen. Bei Betrachtung des ersten Quartetts sollte man sich von dem Gedanken lösen können, daß hier ein Erwachsener mit dem kleinen Mädchen in die Gegend wandert; es sind zwei Kinder, die da ‚springen’ und der „Frühlingsmorgen“ meint die Jugend genauso, wie die „Knabenmorgen Blütenträume“ 37 der ersten Prometheus- Fassung die Träume der Jugend bedeuten. ‚Vater-Mutter-Kind’-Spiele haben die Goethe-Kinder wohl auch wie alle Kinder gespielt, und die „Häuser“, die der ältere Bruder „mit holden Sorgen“ baut, bestanden zunächst wohl aus Bausteinen oder gehörten zum Puppenspiel. Im zweiten Quartett sind die Kinder größer geworden, „häusliches Besorgen“ ist nun an ihr. „Solch eine Schwester! “ wäre der Wunsch fürs ganze Leben. „Wie könnt’ ich ihr, ach! wie sie mir vertrauen! “ Mit dem Heranwachsen wächst auch die Liebe. In einer Abschrift des Sonetts lautet der Titel Wachsende Neigung. Die Strophe mutet an wie eine kurzgefaßte Variante des Einakters Die Geschwister, vor dem Einsetzen der vermeintlichen Dreiecksproblematik. 38 Die Frage „Umfass’ ich sie? “ findet im Gedicht keine Antwort, doch geht sie wohl der einmaligen und tragischen Umarmung voran, wie sie Werther, Tasso, Lehrjahre und Wahlverwandtschaften schildern. Die Geliebte hat sich entzo- 36 WA I. 2. 301. 37 FA 1, S. 204, v. 50. 38 Vgl. FA 5, S. 9 ff. <?page no="229"?> 225 gen, durch Heirat, Abreise, Fortweisung, Tod, ehe das zweite Terzett das historische Präsens des ersten zur Gegenwart wandelt. Nun kann das Du nicht mehr erlebt, es „muß […] gedacht“ werden: „als Fürstin“, „schroff emporgehoben“. „Ich knie nur vor deinem Blick, dem flücht’gen“ 39 , so lautet der letzte Vers mit seinem hagiographischen Aspekt in Goethes eigenhändiger Version. Leidenschaft hat sich zu Verehrung gewandelt. Das sechste Sonett führt das Thema der Trennung weiter, indem es sich, ähnlich wie das besprochene sechzehnte, mit Petrarca auseinandersetzt. Hier das entsprechende italienische Gedicht: XCI La bella donna che cotanto amavi, subitamente s’è da noi partita, et per quel ch’io ne speri al ciel salita; sì furon gli atti suoi dolci soavi. Tempo è da ricovrare ambo le chiavi del tuo cor, ch’ella possedeva in vita, et seguir lei per via dritta expedita: peso terren non sia più che t’aggravi. Poi che se’ sgombro de la maggior salma, l’altre puoi giuso agevolmente porre, sallendo quasi un pellegrino scarco. Ben vedi omai s ì come a morte corre ogni cosa creata, et quanto all’alma bisogna ir lieve al periglioso varco. Die schöne Herrin, der mit treuen Minnen Du zugetan, ist schnell von uns geschieden, Gestiegen, hoff’ ich zu des Himmels Frieden; So süß, so lieblich war ihr Tun und Sinnen. Zeit ist’s, die Schlüssel wieder zu gewinnen Zum Herzen dein, die sie besaß hienieden, Und graden Wegs zu folgen ihr. Ermüden Darf fürder dich kein irdisches Beginnen. Denn bist der größern Bürde du entladen, Kannst leicht du von dir werfen all die andern, Und aufwärts als ein ledger Pilger wallen. Du siehst, wie bald dem Tode muß verfallen, Was lebt, und wie es zu den finstern Pfaden Der Seele not tut, frei und leicht zu wandern. 40 39 WA I. 2. 301. 40 Canz. XCI, a. a. O. S. 156 u. 157. <?page no="230"?> 226 Goethe wandelt das Thema „Entsagen“, so auch der Titel seines Sonetts auf einer Abschrift 41 ; ins Positive: VI R EISEZEHRUNG . Entwöhnen sollt’ ich mich vom Glanz der Blicke, Mein Leben sollten sie nicht mehr verschönen. Was man Geschick nennt, läßt sich nicht versöhnen, Ich weiß es wohl und trat bestürzt zurücke. Nun wußt’ ich auch von keinem weitern Glücke; Gleich fing ich an von diesen und von jenen Notwend’gen Dingen sonst mich zu entwöhnen: Notwendig schien mir nichts als ihre Blicke. Des Weines Glut, den Vielgenuß der Speisen, Bequemlichkeit und Schlaf und sonstige Gaben, Gesellschaft wies ich weg, daß wenig bliebe. So kann ich ruhig durch die Welt nun reisen: Was ich bedarf, ist überall zu haben, Und Unentbehrlichs bring ich mit - die Liebe. Der grundsätzliche Unterschied zu Petrarca besteht darin, daß Goethes Blickrichtung nicht auf den Tod, sondern auf die Welt hin tendiert: Nicht „aufwärts als ein ledger Pilger (zu) wallen“, noch, was das zu leistende Sterben betrifft, „zu den finstern Pfaden […] frei und leicht zu wandern“, ist das Ziel der Entsagung, die Goethe vorschwebt. Statt „graden Wegs“ Ihr „folgen“ zu wollen, sieht er in seiner Askese ein Mittel, das ihn der Welt öffnet, ohne ihn in innere Abhängigkeit geraten zu lassen, wie das zweite Terzett beteuert. Keine lebensabgewandte Askese also, sondern ein gelassenes ‚Reisen’ ohne örtliche Bindung. Das Motiv der ‚schönen Augen der Herrin,’ das den gesamten Canzoniere durchzieht 42 , greift Goethe ebenfalls auf und wandelt es ins ganz Persönliche: „Entwöhnen sollt’ ich mich vom Glanz der Blicke“. Die Synekdoche wird im sechsten Buch von Dichtung und Wahrheit ihre Entschlüsselung finden (vgl. S. 168), wo Goethe, wie man sich erinnert, sagt: […] Ihre Augen waren nicht die schönsten, die ich jemals sah, aber die tiefsten, hinter denen man am meisten erwartete und, wenn sie irgend eine Neigung, eine Liebe ausdrückten, einen Glanz hatten ohnegleichen. Das erste Quartett mit seiner zwiefachen Form von ‚sollen’ spielt auf die Heirat der geliebten Frau an, Verzicht war nun ethisches Gebot. Für einen ganz kurzen Moment jedoch taucht hinter der Negierung eines versöhnbaren Geschicks, hinter dem „Ich weiß es wohl“ und dem ‚bestürzten Zurücktreten’, etwas wie Hoffnung vor der endgültigen Resignation auf. Das zweite Quartett berichtet vom freiwilligen Verzicht auch auf notwendige Dinge des Lebens. „Notwendig schien mir nichts 41 Siehe WA I. 2. 301. 42 Z. B. Canz. XXX, v. 19, a. a. O., S. 56 u. 57; LXI, v. 4, S. 106 u. 107; CCCXX, v.10, S. 456 u. 457; CCCXXXI, v. 37, S. 480 u. 481. <?page no="231"?> 227 als ihre Blicke.“ - eine ähnliche Haltung wie sie das antike Wort: ‚Navigare necesse est, vivere non est necesse’, zum Ausdruck bringt, indem es dem Lebensinhalt den Vorrang einräumt gegenüber dem Leben selbst. Das erste Terzett führt den Gedanken weiter: die bescheidenen Bedürfnisse des Körpers erscheinen als leicht zu befriedigen und der Umgang mit anderen Menschen unwesentlich. Das zweite Terzett tauscht das Präteritum gegen das Präsens aus. Was hier gesagt wird, gilt für jetzt und später; nun wird auch die Bindung an einen bestimmten Ort negiert: „Was ich bedarf, ist überall zu haben“. Metaphorisch wie konkret verstanden, steht das Reisen für Losgelöstheit: von der ‚Welt’ wie vom Wohnort. Damit sind alle Bande abgetan, aber „ruhig“ und ohne Weltverachtung. Dann nach allem Verzicht, aller Entsagung und dem Abstreifen aller Bindungen plötzlich der letzte Vers, auf den das ganze Sonett hinzustreben scheint und in dem es gipfelt: „Und Unentbehrlichs bring ich mit - die Liebe.“ Der Vers läßt Raum für zwei Interpretationen: einmal, daß die Liebe, die der Dichter fühlt, mit der Intensität ihrer ‚Trauer’ und Sehnsucht die Voraussetzung dafür darstellt, daß die ‚notwendigen Blicke’ aus der Transzendenz sich ereignen können. In der anderen Deutung - und sie läuft auf fast das Gleiche hinaus - bezeichnet „die Liebe“, die Geliebte selbst, mit einer Namensform wie die der „Guten-Schönen“ der Wanderjahre. Die Elegie wird sechzehn Jahre später beide Möglichkeiten in eins fassen, sie beide bestätigen, und sich dabei mit dem Zitat von der „FlammenSchrift“ insgeheim auf das damals noch nicht veröffentlichte Sonett Epoche beziehen, wenn es in Strophen 9 und 10 heißen wird: So klar beweglich bleibt das Bild der Lieben, Mit FlammenSchrift in’s treue Herz geschrieben. In’s Herz das fest wie zinnenhohe Mauer Sich Ihr bewahrt und Sie in sich bewahret, Für Sie sich freut an seiner eignen Dauer, Nur weiß von sich, wenn Sie Sich offenbaret, Sich freyer fühlt in so geliebten Schranken Und nur noch schlägt für alles Ihr zu danken. In einem Moment solcher Offenbarung kulminiert das nächste Sonett, das siebente. Der erwähnte vierte (originale) Brief Bettines mit einer Stelle voller Sehnsuchts- und Abschiedsstimmung, die die Landschaft einbezieht, muß Goethe den eigenen Weg ins Exil wieder haben durchleben lassen. 43 VII A BSCHIED . War unersättlich nach viel tausend Küssen Und mußt mit Einem Kuß am Ende scheiden, Nach herber Trennung, tiefempfundnem Leiden War mir das Ufer, dem ich mich entrissen, Mit Wohnungen, mit Bergen, Hügeln, Flüssen, So lang’ ich’s deutlich sah, ein Schatz der Freuden; Zuletzt im Blauen blieb ein Augenweiden An fernentwichnen, lichten Finsternissen. 43 FA 2, S. 982. <?page no="232"?> 228 Und endlich, als das Meer den Blick umgrenzte, Fiel mir zurück in’s Herz mein heiß Verlangen; Ich suchte mein Verlornes gar verdrossen. Da war es gleich als ob der Himmel glänzte; Mir schien, als wäre nichts mir, nichts entgangen, Als hätt’ ich alles, was ich je genossen. Der Ausgangspunkt ist hier derselbe wie im vorangegangenen Sonett: die Trennung von der Geliebten. Gab Reisezehrung die innere Situation wieder, mit Indifferenz gegenüber den Örtlichkeiten der ‚Reise’, so verbindet Abschied die Trennung von der ‚Lieben’ mit dem Fortgang aus der Heimat, vom „Ufer“, dem der Dichter sich ‚entreißen’ mußte. Goethe hat sich sein Exil selbst auferlegt, als er die Freie Reichsstadt Frankfurt mit ihrem Bürgerstolz und ihrer Weltoffenheit gegen das abgelegene und provinzielle kleine Weimar vertauschte. Was ihn in seinem Entschluß, für immer da zu bleiben, zumindestens mitbestimmte, läßt sich bei einem Dichter, der die Erlebnisgrundlage seiner Schöpfungen nicht müde wurde zu betonen, aus den Werken erraten. Von der Novelle Nicht zu weit aus den Wanderjahren war bereits ausführlich die Rede (vgl. S. 151 ff.). Der Grund für Odoardos Verbannung in die weit entlegene Provinz lag in seinem Liebesverhältnis zu einer Prinzessin. Auch Eduard in den Wahlverwandtschaften verläßt sein Haus, um Ottilie dort die Möglichkeit einer Bleibe zu schaffen. Ähnlich mag Goethe in Bezug auf Cornelia und das Elternhaus gedacht haben, als ihre Depression nach dem Umzug von Karlsruhe nach Emmendingen immer mehr zunahm. 44 Glücklich war sie jedoch ohne den Bruder auch in Frankfurt nie gewesen. 45 Daß er darüber hinaus um seiner selbst willen einen anderen Wohnort suchte, wird klar, wenn man bedenkt, daß er den Eltern die Hauptverantwortung für die „gätliche” Verbindung 46 Cornelias mit Schlosser zuschreiben mußte. Es gibt für all dies, außer Andeutungen in den Schriften, keine Beweise. Nur daß Goethe in verbannten Dichtern wie Ovid oder dem Perser Abu Ismael Tograi 47 , den das Schicksal nach Zaura (Bagdad) verschlagen hatte, Identifikationsfiguren sah, spricht dafür, daß auch er sich als Exul empfand. Das Sonett scheint angeregt von einer Briefstelle Bettines: […] So wie der Freund Anker löst nach langer Zögerung und endlich scheiden muß; ihm wird die lezte Umarmung was ihm hundtert Küße und Worte waren, ja mehr noch, ihm werden die Ufer die er in der Entfernung ansieht, was ihm der lezte Anblick war, Und wenn nun endlich auch das blaue Gebirg verschwindet, so wird ihm seine Einsamkeit, seine Erinnerung alles, so ist das treue Gemüth beschaffen das Dich lieb hat, das bin ich! 48 Bettine bezieht sich hier deutlich auf die Idylle Alexis und Dora (vgl. S. 170), wobei sie für sich die Rolle des Alexis annimmt, war sie es ja gewesen, die von Weimar 44 Witkowski, Cornelia, die Schwester Goethes, S. 95 ff. 45 Dichtung und Wahrheit II, 8; FA 14, S. 368 f. 46 Ebd., IV, 18; FA 14, S. 791. 47 Katharina Mommsen, Goethe und die Arabische Welt, S. 545. 48 Vgl. Bettine v. Arnim, Der originale Briefwechsel, Ende Nov. oder Anfang Dez. 1807; a. a. O., B2, S. 581. <?page no="233"?> 229 abreiste. Diese Spiegelung seiner eigenen, ein Jahrzehnt zuvor veröffentlichten Dichtung mußte Goethe anrühren. Er griff sie auf, um in dem Sonett die Trennung von der Geliebten, das Verlassen des heimischen Ufers und schließlich ihren Tod in eins zu fassen. Ja, er geht noch weiter und nimmt ins Gedicht auch noch die zweite große Abreise seines Lebens auf, die nach Italien („Und endlich, als das Meer den Blick umgrenzte“), die ihn ganz auf sich selber zurückwarf. In dieser Einsamkeit und Losgelöstheit „Fiel mir zurück in’s Herz mein heiß Verlangen; Ich suchte mein Verlornes gar verdrossen.“ Dies ist nun der Weg der Introversion, gegenüber Erinnerungsanstößen von außen, der zu einer Begegnung führt. Nur aus trüber Stimmung kann sie erwachsen. Im Dialoggedicht Äolsharfen wird ‚Ihre’ Botschaft ja lauten: „Schmückt Iris denn des Himmels Bläue? / Laß regnen, gleich erscheint die Neue, / Du weinst! Schon bin ich wieder da.“ Im Sonett ereignet sich das Analoge: „Da war es gleich als ob der Himmel glänzte“. Der „Als-ob“-Satz zeigt, daß der Himmel nicht ‚wirklich’ glänzte, der Glanz kommt von innen und steigert sich aus der Verleugnung des Verlustes und deren emphatischer Wiederholung im gedoppelten „nichts“ zur Seligkeit der Teilhabe: „Als hätt’ ich alles, was ich je genossen.“ Die Formulierung verbleibt im Irrealis. Das Erlebnis läuft der Realität zuwider und hat dennoch seine Richtigkeit. Für einen kurzen Moment außerhalb von Zeit und Raum, für einen ‚Ewigen Augenblick’, ist - angedeutet durch „alles“ - Pandora zurückgekehrt. Den drei autobiographischen Sonetten folgen drei Briefgedichte der „Liebenden“. Es ist also nicht „das Mädchen“, das sich hier äußert, wie im vierten Sonett. Für diese Gedichte gaben einzelne Stellen aus Bettines Brief vom November/ Dezember den Anstoß 49 , doch werden sie einer fiktiven Korrespondentin buchstäblich ‚zugeschrieben’, als deren Inspiration interpretiert und zum Sonett „übersetzt“. Acht Jahre später wird Goethe bekanntlich Verse von Marianne von Willemer 50 ebenso deuten und seinem Divan integrieren. Von der Harzreise im Winter an bis zur Helena-Tragödie, von jungen Jahren an bis ins Alter, ja bis zum Ende seines Lebens, sucht er voll Hoffnung die Kommunikation, den Dialog mit der Verlorenen. Die drei Sonette ‚aus Ihrer Feder’ sind das genaue Herz-Stück des Zyklus: sieben Gedichte gehen ihnen voran, sieben folgen. ‚Ihre’ Worte sind also doppelt gerahmt von ihrer Zahl. VIII D IE L IEBENDE SCHREIBT Ein Blick von deinen Augen in die meinen, Ein Kuß von deinem Mund auf meinem Munde, Wer davon hat, wie ich, gewisse Kunde, Mag dem was anders wohl erfreulich scheinen? Entfernt von dir, entfremdet von den Meinen, Führ’ ich stets die Gedanken in die Runde, Und immer treffen sie auf jene Stunde, Die einzige; da fang’ ich an zu weinen. 49 Siehe hierzu, FA 2, S. 983 f. 50 Das Gedicht Ach! um deine feuchten Schwingen (Buch Suleika, Goethe, FA 3/ 1, S. 95) stammt nach ihrer eigenen Aussage von Marianne von Willemer (vgl. FA 3/ 2, S. 1277 f.); siehe auch Was bedeutet die Bewegung (FA 3/ 1, S. 93) und Komm. FA 3/ 2, S. 1265. <?page no="234"?> 230 Die Träne trocknet wieder unversehens: Er liebt ja, denk’ ich, her in diese Stille, Und solltest du nicht in die Ferne reichen? Vernimm das Lispeln dieses Liebewehens; Mein einzig Glück auf Erden ist dein Wille, Dein freundlicher zu mir; gib mir ein Zeichen! „Kunde“ von „Blick“ und „Kuß“ hat die Briefschreiberin, gar noch „gewisse“ - aus eigener Erfahrung. Das zweite Quartett gibt als einzige Stelle etwas Einblick in die persönliche Situation der Schreiberin: „Entfernt von dir, entfremdet von den Meinen“, kreisen ihre Gedanken beständig um die Vergangenheit. „Jene Stunde, / Die einzige“ scheint die ganze Tragik ihres Lebens in sich zu bergen: „Da fang’ ich an zu weinen.“ Sie bezieht sich offenbar auf die Anfangsverse des vorangegangenen Sonetts, in dem der Dichter von dem „Einen Kuß“ vor der Trennung spricht. Zweifellos findet in beiden Gedichten jene schicksalsschwere Umarmung ihren lyrischen Niederschlag, die, episch und dramatisch gestaltet, dem Verhältnis von Werther und Lotte, von Tasso und der Prinzessin, wie auch von Wilhelm und der schönen jungen Gräfin, den tragischen Ausgang bringt (vgl. S. 44). Das Briefsonett nimmt jedoch eine tröstliche Wendung: „Er liebt ja, denk’ ich, her in diese Stille“. Absolut sicher ist die Verfasserin trotz der „gewissen Kunde“ dennoch nicht, aber sie gewinnt Mut, auch in „die Ferne <zu> reichen“, wiewohl noch in Form einer Frage an sich selbst. Dann aber, im zweiten Terzett, wendet sie sich wieder direkt an den Liebsten. Die Innigkeit ihres Gefühls bezeugt sich auch hier in den gehäuften i-Lauten (v. 12). Zum Träger wird ihm ein „Wehen“ wie in der Ode an den Westwind oder in Äolsharfen. Und nun die Botschaft aus dem Jenseits selbst, mit ihrer feierlichen Diktion: „Mein einzig Glück auf Erden …“. Dieses „Glück“ beschränkt sich auf seinen „freundlichen Willen“ zu ihr, also auf seine seelische Bereitschaft zum Kontakt, für die sie ein „Zeichen“ erbittet. Noch kam es zu keinem neuen Zeichen, doch hat nun die „Liebende“ Lust daran gefunden, sich weiter zu äußern. Sie sagt nicht selbst von sich, daß sie ‚schreibe’, denn die Titel der Sonette, in der dritten Person abgefaßt, können nicht von ihr selber stammen. Sie „wendet sich zum Papier“, wie das nun folgende Sonett formuliert, es ist aber wohl das Briefpapier Bettinens, auf dem der Adressat etwas wie ‚écriture automatique’ glaubt finden zu können. Bettine beginnt ihren (bereits auszugsweise zitierten) Spätherbstbrief mit den Worten: „Warum muß ich denn wieder schreiben? […}zu sagen hab ich nichts damals hatte ich auch nichts zu sagen, aber ich hatte dich anzusehen und innig froh zu seyn, und war Bewegung in meiner ganzen Seele.“ 51 Goethe ‚übersetzt’: IX D IE L IEBENDE ABERMALS Warum ich wieder zum Papier mich wende? Das mußt du, Liebster, so bestimmt nicht fragen: Denn eigentlich hab’ ich dir nichts zu sagen: Doch kommt’s zuletzt in deine lieben Hände. 51 Brief v. Nov. oder Dez. 1807; a. a. O., Bd 2, S. 580 f. <?page no="235"?> 231 Weil ich nicht kommen kann, soll was ich sende Mein ungeteiltes Herz hinüber tragen Mit Wonnen, Hoffnungen, Entzücken, Plagen: Das alles hat nicht Anfang, hat nicht Ende. Ich mag vom heut’gen Tag dir nichts vertrauen, Wie sich im Sinnen, Wünschen, Wähnen, Wollen Mein treues Herz zu dir hinüber wendet, So stand ich einst vor dir, dich anzuschauen Und sagte nichts. Was hätt’ ich sagen sollen? Mein ganzes Wesen war in sich vollendet. Grundton dieses Sonetts ist die Negation: „Das mußt du, Liebster, so bestimmt nicht fragen: “ „Denn eigentlich hab’ ich dir nichts zu sagen: “; „Weil ich nicht kommen kann“; „Ich mag vom heut’gen Tag dir nichts vertrauen“; „Und sagte nichts.“ - Aus all dieser Negierung heben sich, spiegelbild-symmetrisch gegeneinander angeordnet, zwei parallel laufende Bögen empor: die Verse 6 und 7 sowie die Verse 10 und 11: Mein ungeteiltes Herz hinüber tragen Mit Wonnen, Hoffnungen, Entzücken, Plagen: und Wie sich im Sinnen, Wünschen, Wähnen, Wollen Mein treues Herz zu dir hinüber wendet, In jedem der beiden Verspaare spricht eine Zeile vom Herzen und die andere von seinem Erleiden oder Tun. Geradezu überdeutlich setzt ‚Sie’ dabei Petrarkische Stilmittel 52 ein: die Reihung asyndetisch nebeneinandergestellter Substantive bzw. Gerundien zur Vermittlung von Emphase und weitergeführter Paronomasie, wie Petrarca sie anwendet, wenn er sich statt auf „lauro“ (Lorbeer) auf „Daphne“ bezieht. Die fiktive Verfasserin des Briefsonetts spielt mit ‚Cor’ auf ihren Namen an und gibt sich so zu erkennen. Aber darüber hinaus deutet sie mit Hilfe der stilistischen Figur der nominalen Häufung auch auf jene Frau, die zuerst unter Umdeutung und Verschleierung ihres Namens in die Weltliteratur eingegangen ist, und zieht so eine Parallele zwischen sich und Laura. Goethe wird dies im Sonett Epoche bestätigen. Von den „lieben Frauen der Dichterwelt“ sprach ja auch schon das Zweite Sonett. In diesem Brief-Sonett ‚bezeugt’ nun ‚Sie’ ihrerseits eine lebenslange, über den Tod hinaus währende Liebe und sie tut dies anhand des berühmten analogen Falls, aber ohne Nennung. Was ihm im Leben versagt war, die Vereinigung mit der Geliebten, das hoffte Petrarca nach seinem Tode zu erlangen (zumindest, ehe ihn im Alter religiöse Zweifel an der Legitimität solch einer intensiven Bindung an ein menschliches Wesen quälten 53 ). Die Verstorbene erscheint in seinen Träumen, um ihn zu trö- 52 Siehe u. a. Canz. CXLVIII, v. 1-4, a. a. O., S. 252 u. 253; CLVI, v. 9, S. 260 u. 261; CLXXX, v. 8, S. 284 u. 285; CCXII, v. 13, S. 324 u. 325. Vgl. Hugo Friedrich a. a. O., S. 227. 53 Canz. CCCLXIV, S. 498 u. 499; CCCLXV, S. 512 u. 513; CCCLXVI, S. 532 ff. u. 533 ff. <?page no="236"?> 232 sten 54 oder ihm die künftige Verbindung anzukündigen. 55 Die Liebende in Goethes Sonetten-Zyklus tut nichts dergleichen. Ihr ist daran gelegen, ihr „ungeteiltes Herz“, ihr „treues Herz“ zu bekunden, eine Beteuerung, die ihr angesichts einer vielleicht nicht genügend offenliegenden Vergangenheit wichtig zu sein scheint, denn sie muß sie wiederholen. Verbunden mit „Herz“ betrifft Wiederholung auch das Wort „hinüber“ („hinüber tragen“, „zu dir hinüber“) und unterstreicht die Bedeutsamkeit dieser indirekten Standortsbestimmung, die der doppelte Bezug auf Petrarca noch vertieft. So verstanden, erhält ein Alltagssatz wie „Weil ich nicht kommen kann,[…]“ etwas Abgründiges und zugleich unendlich Rührendes. Das zweite Terzett spricht eine Liebe aus, die im Blickaustausch mit dem Geliebten Genüge, ja Erfüllung findet, jetzt wie „einst“. X S IE KANN NICHT ENDEN Wenn ich nun gleich das weiße Blatt dir schickte, Anstatt daß ich’s mit Lettern erst beschreibe, Ausfülltest du’s vielleicht zum Zeitvertreibe Und sendetest’s an mich, die Hochbeglückte. Wenn ich den blauen Umschlag dann erblickte; Neugierig schnell, wie es geziemt dem Weibe, Riß’ ich ihn auf, daß nichts verborgen bleibe; Da läs’ ich was mich mündlich sonst entzückte: Lieb Kind! Mein artig Herz! Mein einzig Wesen! Wie du so freundlich meine Sehnsucht stilltest Mit süßem Wort und mich so ganz verwöhntest. Sogar dein Lispeln glaubt’ ich auch zu lesen, Womit du liebend meine Seele fülltest Und mich auf ewig vor mir selbst verschöntest. Sonett X bringt den Versuch der „Liebenden“, ihre mediale Schreiberin auszuschalten. Das weiße Blatt müßte eigentlich genügen; als Träger ihrer Gedanken und Gefühle scheint es genauso zu taugen wie „mit Lettern […] beschriebe(n)“: das Briefschreiben wird deutlich abgewertet, wobei ihr aber andererseits an einer schriftlichen Antwort von seiner Seite doch sehr gelegen ist. Im dritten Sonett war es der Dichter, der mit seinem Abschiedslied unter Beteiligung des angesprochenen „Herzens“ sich aus den Banden der irdischen Freundin zu lösen unternahm. Hier sucht die „Liebende” den unmittelbaren Kontakt, nimmt aber dennoch auf, was Bettine in ihrem ersten Brief (vgl. S. 217) an Goethe geschrieben hat: „[…] die Antwort aber, die ich mir in Ihrem Nahmen gebe spreche ich mit Bedacht aus, mein Kind! mein artig gut Mädgen! Liebes Herz! sag ich zu mir, und wenn ich denn bedenk daß Sie vielleicht wirklich es sagen könnten wenn ich so vor Ihnen stände, dann schaudre ich vor Freude und Sehnsucht zusammen […]“. 54 Canz. CCLXXIX, S.416 u 417; CCCXLII, S. 496 u. 497. 55 Canz. CCCII, S. 438 u. 439. <?page no="237"?> 233 Trotz der formulierten Möglichkeitsform scheint Goethe Bettine tatsächlich diese Kosenamen gegeben zu haben. Am 4. August schreibt sie an Savigny über ihren Besuch bei ihm: […] Ach wie lieb war er; guter Savigny, wie wohl tat mirs, wenn er mich gutes Kind nannte oder meine Seele! mein innig Herz, wenn er mir versicherte, daß ich durch mein mutwillig Geschwätz und auch durch meine Rührung Saiten in ihm berührte, die lange nicht wieder geklungen hätten! 56 Die Ebenen erscheinen hier nicht klar getrennt, vielleicht galten die Kosenamen auch mit für die andere, die bloß vier Jahre älter wurde, als Bettine jetzt war. In ihrem fast zwei Monate zuvor geschriebenen Brief an Goethe gibt sich Bettine die Namen selbst - vielleicht aus Diskretion - und hält die Szene, die sich wohl wirklich ereignet hat, in der Möglichkeitsform. Und so greift Goethe sie auf, um sie seiner fiktiven Korrespondentin in den Mund zu legen, mit wiederum leicht variiertem Vokabular. Die ganze Handlung des Sonetts ist gedacht, der Potentialis bleibt die Form der Diktion auch dort, wo eine Stelle aus einem weiteren Brief Bettinens aufgegriffen wird, die sich ohne Zweifel auf Reales bezieht, auf den Augenblick, da sie im „blauen Couvert“ zwei der von ihr inspirierten Sonette (I und VII) zugesandt erhält. […] da brachte man mir das blaue Couvert, und ich brach auf, und fand mich darin in Göttlichem Glanz wiedergebohren und zum erstenmal glaubte ich an meine Seeligkeit. 57 Im Sonett ist alles imaginiert, selbst die emotionale Reaktion beim vorgestellten Empfang des erhofften Briefes kommt nicht spontan: „Neugierig schnell, wie es geziemt dem Weibe, / Riß’ ich ihn auf,“ - das klingt eher nach Akzeptanz einer Rolle, die man sich auferlegt hat. Und doch verbergen sich unter all den konjunktivisch gefaßten Spekulationen auch reale Erfahrungen. Sie stecken in Nebensätzen nach „Da las ich“: „was mich mündlich sonst entzückte: “ (und nun die liebevollen Namen) oder „Wie du so freundlich meine Sehnsucht stilltest / Mit süßem Wort und mich so ganz verwöhntest.“ Das zweite Terzett geht nach demselben Muster vor. Von dem potential formulierten Aussagesatz hängen abermals zwei Nebensätze ab, die sich wieder auf das gesprochene Wort („dein Lispeln“) beziehen und damit den Rahmen des imaginierten Lesens sprengen und die grammatisch ambivalenten schwachen Verbalformen als Indikative erkennbar machen: Sogar dein Lispeln glaubt’ ich auch zu lesen, Womit du liebend meine Seele fülltest Und mich auf ewig vor mir selbst verschöntest. In ihrer Vorstellung nimmt die „Liebende“ die zärtlichen Namen auf, die Ihr von jeher vertraut sind, und weiß, daß sie Ihr gelten. Über einen Umweg sind sie wieder zu ihr gelangt. Auf dem „weißen Blatt“ ist aus ihrem Vorstoß zu einem unver- 56 Bettine an ihren Bruder Clemens Brentano um den 4. 8. 1807, a. a. O., S. 828 (Der lebensgeschichtliche Kontext). 57 Bettine an Goethe, am 21. Dezember 1807; ebd. S. 584. <?page no="238"?> 234 mittelten Kontakt ein Sonett entstanden, das wohl Briefstellen Bettines einbezieht, aber dessen Kernstück nur ‚Ihr’ selber zugehört - ob noch aus alter Zeit oder weil im Dichter ‚Saiten berührt worden waren, die lange nicht wiedergeklungen hatten’, ist dabei nicht wesentlich, es läuft auf das Gleiche hinaus. Die zeitlichen Ebenen verschmelzen miteinander, ebenso die psychischen, denn der formulierende Dichter lebt sich ganz in die Gedanken- und Gefühlswelt der Geliebten ein, er greift seine eigenen Worte aus ihrer Seele auf und gibt sie ihr gedichtet zurück. Die Intensität ihrer Vorstellung in der seinen und sein Gestalten, die Einbeziehung der Dritten und die gleichzeitige Lösung von ihr im Rückgriff auf eine Vergangenheit, in der es sie noch nicht gab, sein Rollengedicht, in dem „Sie“ spricht und ihn und seine Worte herbeibeschwört; dies alles ist so sehr ineinander verflochten, daß es sich logisch nicht auflösen läßt: Es gilt die Begegnung und Durchdringung von Sphären, Diesseitigem und Jenseitigem, für welche die an „Sie“ gerichteten zärtlichen Namen das Zeichen sind - das „Zeichen“, um welches sie ihn am Schluß des ersten Briefsonetts gebeten hat. Die (nicht von allen Ausgaben respektierte) Hervorhebung im Druck bekundet seine außergewöhnliche Bedeutung. Zudem verklammert es vorangegangene Sonette mit diesem zehnten und mit folgenden. Mit „Lieb Kind“ wird der Bezug zu Sonett V hergestellt, d. h. zur Kindheit und Jugend, dies auch mit „Mein artig Herz! “, welch letzteres aber vor allem die Antwort ist auf Ihr emphatisch bekundetes „ungeteiltes“ und „treues Herz“ in Sonett IX. Dessen letzter Vers „Mein ganzes Wesen […]“ findet seinen Widerhall in „Mein einzig Wesen! “, dessen Ausschließlichkeit ‚Ihre’ Treuebeteuerung erwidert. Es mag schon sein, daß hier der Name Herzlieb hereinspielt, wie Karl Eibl vorschlägt 58 , doch wenn es so ist, dann als vordergründige Chiffre, auch wenn Goethe Minchen, wie er zweimal in Briefen sagt, „mehr als billig geliebt“ hatte 59 , aber was mag da wohl „billig“ heißen? Vielleicht: mehr als ihr eigentlich persönlich zukam? Und ob Goethe wohl wußte, daß ihre noch vor ‚Wilhelmine’ rangierenden Taufnamen ‚Christiane Friederike’ lauteten, also in umgekehrter Reihenfolge wie zweiter und dritter Vorname der Schwester? Das zwölfte Sonett wird, im Sinne der Auflösung des ‚Schlüssel’-Gedichts Charade, die Richtung weisen. Zunächst jedoch findet man das elfte Sonett dazwischengeschoben, das mit seiner selbstironischen Haltung und seinem satirischen Ton die bedrängte Lage seines Dichters ins Lächerliche zieht: XI. N EMESIS Wenn durch das Volk die grimme Seuche wütet, Soll man vorsichtig die Gesellschaft lassen. Auch hab’ ich oft mit Zaudern und Verpassen Vor manchen Influenzen mich gehütet. Und obgleich Amor öfters mich begütet, Mocht’ ich zuletzt mich nicht mit ihm befassen. So ging mir’s auch mit jenen Lacrimassen, Als vier- und dreifach reimend sie gebrütet. 58 FA 2, S. 984. 59 An Christiane v. Goethe, 6. November 1812 und an Zelter, 15. Januar 1813; vgl. Emil Staiger, Goethe, Bd. 2, S. 441. <?page no="239"?> 235 Nun aber folgt die Strafe dem Verächter, Als wenn die Schlangenfackel der Erynnen Von Berg zu Tal, von Land zu Meer ihn triebe. Ich höre wohl der Genien Gelächter; Doch trennet mich von jeglichem Besinnen Sonettenwut und Raserei der Liebe. Das Sonett leitet eine allerdings nicht ohne Unterbrechung verlaufende Serie von wiederum insgesamt drei Gedichten ein, die sich mit der Sonettform befaßt (XI, XIV, XV). Warum Nemesis gerade an dieser Stelle steht, läßt sich schwer ergründen, es sei denn, man nähme an, Goethe wollte mit dem jäh geänderten Ton die drei Briefe der „Liebenden“ als Einheit abgrenzen. Andererseits hat er hier auf distanzierte, nicht ausgesprochene, aber doch faßbare Weise nun ‚seinerseits’ eine Parallele zwischen sich und Petrarca gezogen. Schon die beiden ersten Verse spielen darauf an, daß Petrarca 1361 Mailand wegen der dort wütenden Pestepidemie verließ. Klarer wird der Bezug, wenn man das „Auch“ in Vers 3 mit „ich“ zusammenliest: „Auch hab’ ich […] Vor manchen Influenzen mich gehütet“, ein Vergleich, der komisch wirkt und in dem zugleich das im Plural mögliche Wortspiel von ‚Influenza’ und ‚Influenz’ anklingt. Der nächste analoge Punkt im Register der Abwehr betrifft Amor, der bei Petrarca, wie einst in Dantes Vita Nova, als ständiger Begleiter des Dichters auftritt, als Seelenfreund, und, in den späten Gedichten von Petrarcas Canzoniere auch gelegentlich als Verräter. 60 Goethe beansprucht hier, noch weiter gegangen zu sein und sich zugleich mit Amor auch von einer typischen Art der Liebeslyrik distanziert zu haben, eben dem Sonett. Das Stichwort liefert ihm das Drama Lacrimas von Wilhelm von Schütz, das August Wilhelm Schlegel 1803 herausgab und das im Übermaß romanische Strophenformen einsetzt 61 , aber nicht nur Sonette, wie man aus Vers 8 schließen müßte. Im pejorativen Plural verbirgt sich abermals ein Wortspiel, denn „Lacrimassen“ läßt sich auch als Zusammenziehung von ‚lacrima’ (Träne) und Massen lesen und sich so wieder, kritisch, auf Petrarca beziehen, dessen lebenslange Verzweiflung, wie man sich erinnert, das Sonett Epoche bedauert: Petrarcas Liebe, die unendlich hohe, War leider unbelohnt und gar zu traurig, Ein Herzensweh, ein ewiger Karfreitag; Zu viel der Tränen also. (Man denke an das Wort für junge Dichter; (vgl. S. 61 f.) „Lacrimassen“ zielt auch auf Petrarca ab, nicht nur auf Schütz! Der „Verächter“ hatte, wahrscheinlich schon 1800, als Antwort auf A. W. Schlegels Gedichte, die die Sonettform pflegten, seinerseits ein polemisches Sonett geschrieben, in dem er diese Form in Frage zog, dies aber zwei Jahre später durch ein weiteres Sonett (Natur und Kunst 62 ) relativierte. Das erste der beiden Sonette erschien erst 1807 und wurde von Gegnern der Form journalistisch ausgewertet 63 , was Goethe ärger- 60 Canz.,CCCLXIII, S. 530 u. 531; CCCLXIV ebd.; CCXI, S. 324 u. 325. 61 Karl Eibl, in seinem Komm., FA 2, S. 984. 62 FA 2, S. 838. 63 Schlütter, a. a. O., S. 67 ff. <?page no="240"?> 236 te. 64 Folgend nun das frühere Gedicht, für welches er sich im Zyklus sozusagen selbst bestraft: D AS S ONETT . Sich in erneutem Kunstgebrauch zu üben, Ist heil’ge Pflicht, die wir dir auferlegen: Du kannst dich auch, wie wir, bestimmt bewegen Nach Tritt und Schritt, wie es dir vorgeschrieben. Denn eben die Beschränkung läßt sich lieben, Wenn sich die Geister gar gewaltig regen; Und wie sie sich denn auch gebärden mögen, Das Werk zuletzt ist doch vollendet blieben. So möcht’ ich selbst in künstlichen Sonetten, In sprachgewandter Maßen kühnem Stolze, Das Beste, was Gefühl mir gäbe, reimen; Nur weiß ich hier mich nicht bequem zu betten, Ich schneide sonst so gern aus ganzem Holze, Und müßte nun doch auch mitunter leimen. 65 Die hyperbolisch in großem Stil angelegte „Strafe“ des Sonetts Nemesis trifft sowohl die Absage an die Liebe als auch die Absage an die belächelte Kunstform, die sich nun beide in ihr Gegenteil verkehren und zur Besessenheit ausarten. So jedenfalls sieht es das Ich des Elften Sonetts. Wer ist es eigentlich, der sich hier in einem von den übrigen Gedichten des Zyklus völlig abweichenden Ton so grimmig gebärdet? Wenn man bedenkt, daß das Festspiel Pandora im selben Jahr entstanden ist, liegt die Antwort nahe: Hier kommt Prometheus zu Wort, der das ihm von Nemesis auferlegte Joch erzürnt auf sich nimmt, wie er auch im Festspiel unter anderem Einfluß gelegentlich von seinem eigensten Versmaß, dem Jambischen Trimeter, abweicht (vgl. S. 132 f.). Kein anderes Sonett hat so viele Anspielungen an die griechische Mythologie („Nemesis“, ‚Erinnyen’ „Genien“, von Eros, abgesehen, der ja als „Amor“ auch den Italienern zugehört). Prometheus mit seinem antiken Umfeld läßt aber auch erraten, daß Epimetheus nicht weit sein kann, Epimetheus, der in schwierigen Metren dichtet und sein Leben ganz der Trauer um die Geliebte geweiht hat. Als Pandoros (vgl. S. 180) erscheint er, christlich eingekleidet, im nächsten Sonett. XII C HRISTGESCHENK Mein süßes Liebchen! Hier in Schachtelwänden Gar mannigfalt geformte Süßigkeiten. Die Früchte sind es heil’ger Weihnachtszeiten, Gebackne nur, den Kindern auszuspenden! 64 FA 2, S. 1019. An Zelter, 22. Juni 1808, HA Briefe 3, S. 75. 65 FA 2, S. 408. <?page no="241"?> 237 Dir möcht’ ich dann mit süßem Redewenden Poetisch Zuckerbrot zum Fest bereiten; Allein was soll’s mit solchen Eitelkeiten? Weg den Versuch, mit Schmeichelei zu blenden! Doch gibt es noch ein Süßes, das vom Innern Zum Innern spricht, genießbar in der Ferne, Das kann nur bis zu dir hinüber wehen. Und fühlst du dann ein freundliches Erinnern, Als blinkten froh dir wohlbekannte Sterne, Wirst du die kleinste Gabe nicht verschmähen. Zweifellos gab Petrarcas Canzone CCV 66 die Anregung zu diesem Sonett, das mit dem Wort „süß“ spielt, wie jenes im Übermaß mit „dolce“, doch ist Goethe im übrigen eigene Wege gegangen. Denn über diesen rein oberflächlichen Bezug hinaus haben die beiden Gedichte nichts miteinander zu tun. Als Weihnachtsgedicht hat es die Zahl XII zugeordnet bekommen. Dezember ist der zwölfte Monat, und zweimal zwölf macht vierundzwanzig. Christgeschenke beschäftigen den Dichter, deren Hauptcharakteristikum Süße ist. Backwerk stellt er dem „süßen Liebchen“ vor, aber als etwas doch eher für Kinder. Für die Liebste möchte er „mit süßem Redewenden“ (mit Sonetten? ) „Poetisch Zuckerbrot zum Fest bereiten“. Aber auch dieser Gedanke wird gleich verworfen. Hallt das Murren des Anderen aus dem letzten Sonett vielleicht nach? „Allein was soll’s mit solchen Eitelkeiten? / Weg den Versuch, mit Schmeichelei zu blenden! “ Die Eitelkeit ist eine doppelte, die vermutete der Liebsten, der die Schmeichelei gelten soll und die eigene, die blenden möchte. Beide werden als fehl am Platz durchschaut. Und nun wieder der Umschlag nach der Sonettfuge. Immer immaterieller wird die Gabe, vom Werk der Hände zum Werk der Feder und letztlich zum stummen Hinströmenlassen des Gefühls, die Sprache „vom Innern zum Innern“: nur das kann bis zu ‚Ihr’ „hinüber wehen“. Keines „weißen Blattes“ bedarf es mehr. Der Liebende nimmt das zwiefache „hinüber“ aus ihrem zweiten Brief auf und auch das „Liebeswehen“ aus dem ersten (v. 12). Er hat ihre Botschaft ‚vernommen’, wie schon vorher ihre Bitte um ein „Zeichen“, und vertraut nun darauf, daß es an ihr ist, „ein freundliches Erinnern“ zu fühlen, d. h., daß sie ‚er-innern’, in ihr Inneres aufneh- 66 Canz. CCV: Dolci ire, dolci sdegni et dolci paci, / dolce mal, dolce affanno et dolce peso, / dolce parlare, et dolcemente inteso, / or di dolce òra, or pien di dolce faci: / / alma, non ti lagnar, ma soffra et taci, / et tempra il dolce amaro, che n’à offeso, / col dolce honor che d’amar quella ài preso / a cui io dissi: Tu sola mi piaci. / / Forse anchor fia chi sospirando dica, / tinto di dolce invidia: Assai sostenne / per bellissimo amor quest’al suo tempo. / / Altri: O Fortuna agli occhi miei nemica / perché non la vid’io? perqué non venne / ella più tardi, over io più per tempo? Süß Zorn und Unmut, süß ein friedlich Neigen, / Süß mir die Bürde, Kummer süß und Bangen, / Süß jedes Wort, mit süßer Lust empfangen, / Drin süße Hauch’ und süße Gluten steigen. / / Nicht klag’, o Seele; duldend mußt du schweigen, / Mildern das bittre Süß, das uns befangen, / Mit süßer Ehr’, aus Lieb’ hervorgegangen / Zu ihr, zu der ich sprach: Dein bin ich eigen! / / Vielleicht kommt einer noch und rufet schmachtend / In süßem Neid: „Wohl viel hat übernommen / Für schönste Liebe der zu seinen Zeiten! “ / / Und andrer: „O Geschick, mein Aug’ umnachtend! / Daß ich sie nicht gesehn! Daß sie gekommen / Nicht später, oder ich nicht mehr beizeiten! “ A. a. O., S. 310 u. 311. Die deutsche Übersetzung hat gegenüber dreizehn Formen von ‚dolce’ nur elf von ‚süß’. <?page no="242"?> 238 men, wird, was ihr jenseits aller Worte zuweht. Die Verbindung, die diese „kleinste Gabe“ ermöglicht ist so, „Als blinkten froh dir wohlbekannte Sterne“: ein seliges Ineinanderversenken liebevoller Blicke oder Augensterne. Diese stärkste Süße läßt Petrarcas Spielerei mit dem Wort verblassen. Wenn es in „Christgeschenk“ nicht zuletzt auch darum geht, wahre Gefühlstiefe dem „Versuch, mit Schmeichelei zu blenden”, entgegenzuhalten - Kritik, die Petrarca miteinschließt - so wendet sich das folgende Sonett XIII nun selber spielerisch gegen ein bitterernst gemeintes Gedicht des Italieners, das Goethe bei grundsätzlicher Akzeptanz vielleicht doch etwas zu pathetisch und pedantisch klang. Es handelt sich um Canz. LXI (Benedetto sia ’l giorno, „Gesegnet sei mir Jahr und Tag“), welches im Zusammenhang mit Strophe 9 der Elegie schon erwähnt und zitiert wurde (S. 52 f.). Goethes Polemik richtet sich hier gegen das erste Terzett, dessen erneute Vergegenwärtigung an dieser Stelle nützlich scheint: Benedette le voci tante ch’io chiamando il nome de mia donna ò sparte, e i sospiri, et le lagrime, e ’l desio: Gesegnet auch die vielen Wort’, in denen Ich meiner Herrin Namen rings geehret! Und alle Seufzer, alle Wünsch’ und Tränen! Goethe nimmt Petrarcas Seligsprechung der vielen der Herrin gewidmeten Worte auf und verkehrt sie scherzend in ihr Gegenteil - in Vorwürfe und Selbstanklagen: XIII W ARNUNG Am jüngsten Tag, wenn die Posaunen schallen Und alles aus ist mit dem Erdeleben, Sind wir verpflichtet Rechenschaft zu geben Von jedem Wort, das unnütz uns entfallen. Wie wirds nun werden mit den Worten allen, In welchen ich so liebevoll mein Streben Um deine Gunst dir an den Tag gegeben, Wenn diese bloß an deinem Ohr verhallen? Darum bedenk, o Liebchen! dein Gewissen, Bedenk im Ernst wie lange du gezaudert, Daß nicht der Welt solch Leiden widerfahre. Werd’ ich berechnen und entschuld’gen müssen, Was alles unnütz ich vor dir geplaudert; So wird der jüngste Tag zum vollen Jahre. Ob Goethe diesem Sonett mit seinen unheilschwangeren Spekulationen absichtlich die Position 13 eingeräumt hat? Zum Ton des Ganzen würde es passen, der etwas, was sich dem Dichter in Michelangelos Fresken der Sixtinischen Kapelle in äußerster Dramatik dargestellt hat 67 , zum Rahmen einer verspielten Liebeswer- 67 Vgl. Italienische Reise. 3. Dez. 1786; MA 15, S. 174. Goethes Hinweis auf Michelangelos Fresken des Jüngsten Gerichts in der Sixtinischen Kapelle. <?page no="243"?> 239 bung macht. Darüber hinaus stellt das Sonett das ihm offenkundig zugrundeliegende Jesus-Wort (Matth. 12. 36) insofern auf den Kopf, als es die Sinnlosigkeit des unnütz gesprochenen Wortes nicht von der Haltung des Redenden abhängig macht, sondern von der Wirkung auf den Angesprochenen - totale Umkehrung herkömmlicher Vorstellungen als Folie für die Umkehrung der beiden Terzette von Canz. LXI! Vielleicht lieferte die Klangassoziation von „Lacrimassen“ (XI) und „Lacrimosa dies illa“ 68 die Anregung für die Einbeziehung des Jüngsten Tages in den Zyklus. Wenn die Sequenz aus dem Requiem tatsächlich dabei mitschwang, dann hat Goethe noch eine weitere Gegenposition eingenommen, indem er sich von der Frage „Quid sum miser tunc dicturus? “ 69 gerade nicht betroffen zeigt. Das Sonett ist ein poetischer Spaß. Doch wie so manchen scherzhaften Äußerungen Wahres und Unausgesprochenes zugrundeliegt, läßt sich auch hier etwas wie eine leise zweite Stimme durchfühlen, die „im Ernst“ das lange vergebliche Warten auf Widerhall beklagt und, ernst genommen, wieder auf das metaphysische Spannungsfeld hinverweist. Die Sonette XIV und XV sind Dialog-Gedichte, wie auch der Canzoniere sie mitunter aufweist. 70 Beide befassen sich mit der Kunstform des Sonetts als Gefäß für das Gefühl des Dichters. Hatte Das Sonett (S. 235), ebenfalls ein verkanntes Dialog- Gedicht, zuerst zeitgenössischen Befürwortern der Form ironisch Stimme verliehen, während das Ich des Dichters sich in den Terzetten reserviert und skeptisch hierzu äußert, so verhalten sich XIV und XV des Zyklus genau umgekehrt: hier ist den „Zweifelnden“, zu denen auch ,Das Mädchen’ zu rechnen ist, mehr Raum gegeben als der Gegenstimme, in der sich der Dichter zu erkennen gibt und nun leidenschaftlich für die Form Partei ergreift. Die beiden Gedichte unterscheiden sich gemeinsam von den übrigen des Zyklus durch das Fehlen eines Titels, an dessen Stelle die Rollenzuweisung der Verse getreten ist, die später nochmals vor den Terzetten bzw. vor dem zweiten Terzett erfolgt. Beide Gedichte müßten eigentlich auch die Überschrift Das Sonett tragen, greifen sie doch Dialogform und Gehalt ihres polemischen Vorgängers auf, um sie zu einem doppelten Widerruf einzusetzen. XIV D IE Z WEIFELNDEN Ihr liebt, und schreibt Sonette! Weh der Grille! Die Kraft des Herzens, sich zu offenbaren, Soll Reime suchen, sie zusammenpaaren; Ihr Kinder, glaubt, ohnmächtig bleibt der Wille. Ganz ungebunden spricht des Herzens Fülle Sich kaum noch aus: sie mag sich gern bewahren; Dann, Stürmen gleich, durch alle Saiten fahren; Dann wieder senken sich zu Nacht und Stille. 68 Sequenz aus der Requiem-Messe v. 6; siehe auch Komm. FA 2, S. 984 zu 256, Z. 7. 69 Faust I, Dom, v. 3825. 70 U. a. Canz. XV, S. 22 u. 23; CCL, S. 368 u. 369; CCLXXIX, S. 416 u. 417; CCCLXII, S. 528 u. 529. <?page no="244"?> 240 Was quält ihr euch und uns, auf jähem Stege Nur Schritt vor Schritt den läst’gen Stein zu wälzen, Der rückwärts lastet, immer neu zu mühen? D IE L IEBENDEN Im Gegenteil, wir sind auf rechtem Wege! Das Allerstarrste freudig aufzuschmelzen Muß Liebesfeuer allgewaltig glühen. In den „Zweifelnden“ kommt zunächst die frühere eigene Abwehrhaltung (Sonett, 1. Quartett) des Dichters zu Wort. Danach zeigen sie sich konziliant und räumen ein, daß sich (heutzutage) des „Herzens Fülle“ kaum noch „ganz ungebunden“ ausspreche; solle sie sich doch ruhig „bewahren“, wenn sie möchte. Doch hernach muß ein Gefühlssturm „durch alle Saiten fahren“, um dann aber auch wieder völlig verstummen zu können. Statt dessen nun die Gratwanderung zwischen den Extremen, der gebändigte Gang „auf jähem Stege“, bedroht vom Absturz, und immer wieder erneut begonnene Plage. Die „Liebenden“ aber sind unerschütterlich in ihrem Glauben, „auf rechtem Wege“ zu sein. Wer verbirgt sich nun aber hinter dieser Bezeichnung? Stünde das Sonett für sich allein und nicht eingebunden in den Zyklus, ließe sich antworten: liebende Dichter der Gegenwart, oder: Goethe in der Seelengemeinschaft mit Dante, Petrarca, Shakespeare. Innerhalb des Zyklus jedoch ist das Wort „liebend“ besetzt mit dem ‚Siegel’ der Verfasserin der Brief-Sonette. Sie spricht nun nicht mehr allein, der Dichter konnte sich ihr zugesellen. Geoffenbart wird dies an der unauffälligen, scheinbar unpersönlichen Stelle einer ästhetischen Kontroverse. Zum ersten und einzigen Mal sprechen die Liebenden gemeinsam, sprechen als „wir“. Und plötzlich wird die strenge Sonett-Form zur Metapher: Das Allerstarrste freudig aufzuschmelzen Muß Liebesfeuer allgewaltig glühen. Das „Allerstarrste“ aber ist die Todesschranke. Wie gefährlich solches Unterfangen sein kann, gibt das anschließende Gedicht zu verstehen: XV M ÄDCHEN Ich zweifle doch am Ernst verschränkter Zeilen! Zwar lausch’ ich gern bei deinen Sylbespielen; Allein mir scheint, was Herzen redlich fühlen, Mein süßer Freund, das soll man nicht befeilen. Der Dichter pflegt, um nicht zu langeweilen, Sein Innerstes von Grund aus umzuwühlen; Doch seine Wunden weiß er auszukühlen, Mit Zauberwort die tiefsten auszuheilen. D ICHTER Schau, Liebchen, hin! Wie geht’s dem Feuerwerker? Drauf ausgelernt, wie man nach Maßen wettert, Irrgänglich-klug miniert er seine Grüfte; <?page no="245"?> 241 Allein die Macht des Elements ist stärker, Und eh’ er sich’s versieht, geht er zerschmettert Mit allen seinen Künsten in die Lüfte. Voll Bedacht läßt Goethe das Mädchen mit den Worten „Ich zweifle doch“ beginnen und sich damit in die Reihe der „Zweifelnden“ einordnen. Damit ist sie ganz klar von der „Liebenden“ unterschieden: ein wesentlicher Punkt dieses Sonetts. Das Mädchen verschiebt nun die Thematik des Dialogs von der ästhetischen Ebene auf die der Ethik. Es kommt von außen und erfaßt nicht die Durchdringung der beiden Aspekte im Erleben der „Liebenden“, die sich „auf rechtem Wege“ wissen, wenn sie in der Bemeisterung der strengen Form den Brückenschlag über die trennende Kluft suchen. Das Mädchen leugnet nicht, daß ihm die „Sylbespiele“ Vergnügen machen; ironisch setzt es die Innigkeit bedeutende ‚il’-Chiffre ein! - ernstnehmen kann es das alles nicht, gearbeitet und ‚befeilt’ (im Gegensatz zu ‚gefühlt’), wie diese Verse sind. Redlichkeit des Herzens beweise sich also nur in Spontaneität. Damit gibt sie sich erneut als eine der „Zweifelnden“, also nicht als „Liebende“, zu erkennen. Über des Dichters Gefühlskälte hat sie sich bereits in Sonett IV beklagt. Nun geht sie aber noch weiter und will in der Anerkennung bei seiner Zuhörerschaft, also letztlich in der Eitelkeit des Dichters, das Motiv für den Umgang mit seinen Gefühlen erkennen. (Genau diesen Vorwurf hat jedoch, ohne ihre ‚Kenntnis’, das Sonett Christgeschenk im vorhinein widerlegt.) Er ziele auf Wirkung ab und ziehe sich selber aus der Affaire. Dabei nimmt sie ein von Goethe immer wieder behandeltes oder aus fremder Dichtung aufgegriffenes Thema auf: die Schmerzbewältigung durch poetische Gestaltung (vgl. S. 33; S. 75 ff.), um deren moralische Berechtigung zu hinterfragen. Sie tut dies vorsichtig genug und nicht ohne zärtliche Worte, aber es reicht aus, den „Dichter“ zu einer Replik in großangelegter, hyperbolischer Metaphorik zu provozieren. Was er ihr nun in den beiden Terzetten erwidert, in liebevoll didaktischer Manier, klingt wie ein Scherz und will zunächst auch so verstanden sein. Erst im Rahmen des gesamten Zyklus betrachtet, gewinnen die Verse einen hintergründig bedrohlichen Aspekt. Thema des Zyklus sind Durchbruchsversuche vom Tod getrennter Liebender aufeinanderzu. Insofern liegt der Vergleich des Dichters mit dem „Feuerwerker“ nahe, der mit seinen kunstvollen Feuerfontänen und -kaskaden leuchtende Zeichen hinauf zum Himmel und herab zur Erde bewirkt, im vollen Bewußtsein, daß bei all seiner Gewitztheit und der ausgeklügelten Technik seines Tuns die „Macht des Elements“, des „allgewaltig glühenden Liebesfeuers“ (Sonett XIV) unter Umständen „stärker“ sein und auch ihn vernichten könnte. Der „Dichter“ wußte, wovon er sprach. Ein Jahrzehnt zuvor hat er zwei Balladen geschrieben, in denen, bei aller bewußt eingesetzten Gegensätzlichkeit, die Vereinigung liebender Paare durch den Liebestod, die Hingabe des lebendigen an den jenseitigen - abgeschiedenen oder göttlichen - Partner erfolgt: Die Braut von Korinth 71 und Der Gott und die Bajadere 72 . 71 FA 1, S. 686 ff. 72 Ebd., S. 692 ff. <?page no="246"?> 242 In beiden Balladen oder „Romanzen“, wie Goethe sie auch nannte, geht es um „Liebesfeuer“, das zum tödlichen Feuer bzw. zum Weg der Vereinigung wird. Sie wurden ganz knapp hintereinander geschrieben, nach einer jahrzehntelangen Zeit des Austragens: Mir drückten sich gewisse große Motive, Legenden, uralt geschichtlich Überliefertes so tief in den Sinn, daß ich sie vierzig, fünfzig Jahre lebendig und wirksam im Innern erhielt; mir schien der schönste Besitz, solche werte Bilder oft in der Einbildungskraft erneut zu sehen, da sie sich dann zwar immer umgestalteten, doch ohne sich zu verändern, einer reineren Form, einer entschiednern Darstellung entgegenreiften. Ich will hievon nur Die Braut von Korinth, und den Gott und die Bajadere, den Grafen und die Zwerge, den Sänger und die Kinder und zuletzt noch den baldigst mitzuteilenden Paria nennen. 73 Die Niederschrift der beiden erstgenannten Balladen, die unter dem Aspekt des Opfers hier noch erwähnt werden (vgl. S. 254 f.), vollzog sich laut Tagebuch zwischen dem 4. und 5. bzw. 6. und 9. Juni 1797; die wenigen Tage umrahmen die zwanzigste Wiederkehr von Cornelias Todestag am 8. dieses Monats. 74 Die beiden Gedichte haben vielerlei Aspekte, kulturhistorische, religionskritische neben dem der offenkundigen Gruselgeschichte bzw. -legende. Worauf es Goethe ankam, war jedoch das Gemeinsame, zu welchem er seine „Paare in das Feuer und aus dem Feuer“ brachte, wie er an Schiller schrieb. 75 Das Feuer ist das zentrale Symbol. So spricht der Jüngling zu dem allmählich als tot geahnten Mädchen in Braut von Korinth: Heftig faßt er sie, mit starken Armen, Von der Liebe Jugendkraft durchmannt: Hoffe doch bei mir noch zu erwarmen, Wär’st du selbst mir aus dem Grab gesandt! Wechselhauch und Kuß! Liebesüberfluß! Brennst du nicht und fühlest mich entbrannt? Dieses Feuer ist todbringend. Am Ende spricht das Mädchen zur Mutter: Höre, Mutter, nun die letzte Bitte: Einen Scheiterhaufen schichte du; Öffne meine bange kleine Hütte, Bring’ in Flammen Liebende zur Ruh. Wenn der Funke sprüht, Wenn die Asche glüht, Eilen wir den alten Göttern zu. 76 Nun nach der griechischen die indische Szene: Hier wollen die Priester dem liebenden Mädchen den rituellen Flammentod der Witwe verwehren: 73 Siehe Goethes Aufsatz Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort, FA 24, S. 596. 74 Die Zeitangabe von „vierzig, fünfzig Jahren“, trifft hier nicht zu! 75 An Schiller, 10. Juni 1797, Briefwchsel, S. 307. 76 FA 1, S. 692. <?page no="247"?> 243 Höre deiner Priester Lehre: Dieser war dein Gatte nicht. Lebst du doch als Bajadere, Und so hast du keine Pflicht. Nur dem Körper folgt der Schatten In das stille Totenreich; Nur die Gattin folgt dem Gatten: Das ist Pflicht und Ruhm zugleich. Ertöne Drommete zur heiligen Klage! O, nehmet, ihr Götter! die Zierde der Tage, O, nehmet den Jüngling in Flammen zu euch. So das Chor, das ohn’ Erbarmen Mehret ihres Herzens Not Und mit ausgestreckten Armen Springt sie in den heißen Tod. Doch der Götter-Jüngling hebet Aus der Flamme sich empor, Und in seinen Armen schwebet Die Geliebte mit hervor. Es freut sich die Gottheit der reuigen Sünder; Unsterbliche heben verlorene Kinder Mit feurigen Armen zum Himmel empor. 77 Von immer neuem Ausgangspunkt aus wird das Thema einer postmortalen Vereinigung variiert, das im Werther-Roman erstmals anklang, dann in Klärchens Freitod und Egmonts Traum vor seiner Exekution aufschien und bei der Harzreise im Winter 1777 zweifellos als möglicher, dem Schicksal anheimgestellter, Ausgang des Unternehmens in die Lebenswirklichkeit des Dichters einbrach. Der Jahreswende von 1807 / 08 mit der Entstehungszeit der Sonette waren die Wahlverwandtschaften (1807) vorausgegangen mit ihrer Verlegung der Handlung ins zeitgenössische aristokratische Milieu, doch mit gleichem Ausgang für Ottilie und Eduard, bis hin zum vielfach Verlegenheit bereitenden Schlußabsatz, den als ironisch gemeint deuten durfte, wer mochte: So ruhen die Liebenden nebeneinander. Friede schwebt über ihrer Stätte, heitere verwandte Engelsbilder schauen vom Gewölbe auf sie herab, und welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen. 78 1807 war auch das Jahr des Festspiels Pandora, von dem im dritten Kapitel ja bereits ausführlich die Rede war (vgl. S. 112 ff.). In diesem Stück sucht, wie man sich erinnert, der Jüngling Phileros aus Verzweiflung über die vermeintliche Untreue seiner Geliebten und zur Sühne für die ihr zugefügte Verwundung den Tod. Ihre Tat begründend, folgt sie ihm nach: Die er liebt, soll Seiner wert sein! Lieb und Reu treibt 77 FA 1, S. 694 f. 78 FA 8, S. 529. <?page no="248"?> 244 Mich zur Flamm hin, Die aus Liebsglut Rasend aufquoll. (v. 868-873) Gegen Ende des Festspiels verkündet Eos dann das weitere Geschick der Liebenden: Aus den Fluten schreitet Phileros her, Aus den Flammen tritt Epimeleia; Sie begegnen sich, und eins im andern Fühlt sich ganz und fühlet ganz das andre. So vereint in Liebe doppelt herrlich, Nehmen sie die Welt auf, […](v. 1055-1060) Wie bei Phileros, so dürfen wir schließen, wäre auch bei dem von der zurückgestauten Gewalt seines Gefühls bedrohten Sonetten-„Dichter“ die Zerschmetterung als ein Übergang zu verstehen. Nur so erklärt sich der gelassene Ton von Sonett XV. Den seligen Zustand des Wiedersehens nimmt das Schlußsonett XVII in „stiller“ Hoffnung vorweg. Zugleich nennt es, in der Chiffrierung von ‚Herzlieb’ petrarkisch verschlüsselt und, in gewohnter Manier, mit dem Namen einer Mitlebenden getarnt, den Namen der Herrin, während Sonett XVI ebenfalls in petrarkischer, aber auch in Dantescher Tradition, die Ziffer ihrer Daten feiert. 1827, also fünfzig Jahre nach Cornelias Tod, erscheint erstmals der unverkürzte Zyklus, vervollständigt mit den beiden zurückgehaltenen Sonetten. Zugleich kommt, ebenfalls erstmals, die Trilogie der Leidenschaft als Ganzes heraus. Goethe hat somit der Trilogie, zusätzlich zu ihrer eigenen paronomastischen Kennzeichnung 79 , noch einen weiteren ‚Schlüssel’ mitgegeben, auf den sie sich zitatweise auch bezieht. Bei der Drucklegung der Elegie in der Ausgabe letzter Hand tilgte er jedoch die verräterischen Spuren von Groß- und Kleinschreibung, wie sie die als besonders kostbar behandelte und heiliggehaltene Reinschrift (vgl. S. 15) in reichem Maße aufweist. Bei den wenigen vergleichbaren Stellen des Sonetten-Zyklus geschah dies nicht und konnte daher Anstoß geben für Überlegung. Verknüpft mit der Trilogie, haben die Sonette teil an der kunstvollen Dokumentation eines halben Jahrhunderts leidvoller und freudvoller Durchbruchsversuche in die Sphäre der Transzendenz. In diesem Zusammenhang ist zu Sonett XVII in seiner Funktion als Schlüsselgedicht zum ganzen Zyklus noch einiges nachzutragen, das sowohl in Rückschau erhellend als auch erklärend für Kommendes sein möge. Ein offenkundiger Stilbruch in dem höchst durchgeformten Sonett gibt zu denken. Nach den überaus formellen ersten Versen des ersten Terzetts: „Nun aber such ich ihnen zu gefallen / Und bitte mit sich selbst mich zu beglücken“ und der unausgesprochenen, der ‚stillen’ Hoffnung, es (mit ich zu „ich’s“ verschmolzen) „zu erlangen“, kommt völlig unvermutet als verbale Antiklimax einer Wunscherfüllung das wenig schöne Wort „lallen“, das an dieser Stelle nicht als spontaner Ausdruck von Sinnenrausch und Sprachbenommenheit verstanden werden kann. 79 wie der Chiffre ‚-or’ in „erkoren“ - „verloren“ etc. oder - verbunden mit ihr und zugleich auch für sich stehend - der Name „Pandora“. <?page no="249"?> 245 Und natürlich steht das Wort nicht des Reimes wegen da. Goethe hätte leicht ein anderes Reimpaar finden können, hätte er gewollt. Die durchaus bewußte Wortwahl bekundet sich in Goethes früherer Verwendung von „lallen“. Max Morris hat in seinem Aufsatz Swedenborg im Faust 80 gezeigt, welch nachhaltigen Eindruck die Lektüre dieses Visionärs auf den jungen Goethe gemacht hat. Er belegt ihn mit vielen wörtlich übersetzten Zitaten aus Swedenborgs Arcana coelestia im Eingangsmonolog von Teil I, vor allem im Zusammenhang mit der Erdgeist-Erscheinung. Max Morris hat den Anstoß für seine Untersuchung bei Erich Schmidt gefunden, der in dem „Weisen“ von Vers 443 anstelle von Nostradamus (genannt in Vers 420) als wahrhaft gemeint Swedenborg erkannte, der jedoch sowohl aus historischen als auch thematischen Überlegungen nicht in das Faust-Szenario passen konnte. 81 Jetzt erst erkenn ich, was der Weise spricht: „Die Geisterwelt ist nicht verschlossen; Dein Sinn ist zu, dein Herz ist tot! 82 Dementsprechend führt Morris auch die beiden folgenden Verse: Auf, bade Schüler, unverdrossen Die ird’sche Brust im Morgenrot! “ mit vielen Zitaten belegt, auf die Aurora-Symbolik bei Swedenborg zurück, den Goethe in den Frankfurter gelehrten Anzeigen (37, 261) den „gewürdigten Seher unserer Zeiten“ nennt, rings um den die Freude des Himmels war, zu dem „Geister durch alle Sinnen und Glieder sprachen, in dessen Busen die Engel wohnten […].“ Und wieder Max Morris: Unter dem Einflusse Swedenborgs, der ja in den Arcana coelestia und in der Apokalypsis revelata endlose Bände mit seiner seltsamen Bibeldeutung gefüllt hatte und den er den gelehrten denkenden Theologen nennt, wird nun Goethe selbst zum Bibeldeuter. Von den „Zwo biblischen Fragen“ ist die zweite nichts anderes als die Anwendung Swedenborgscher Anschauungen zur Deutung des Evangeliums. „Was heißt mit Zungen reden? Vom Geist erfüllt, in der Sprache des Geists, des Geists Geheimnisse verkündigen […]“. Er redete die Sprache der Geister. 83 ‚Mit Zungen reden’ aber lautet im griechischen Original γλώσσαις λαλεῖν (glossais lalein). Max Morris erläutert weiter, man sehe „die zweite biblische Frage im Keime schon in der Swedenborg-Stelle der Frankfurter gelehrten Anzeigen: „daß er […] einmal Seeligkeit fühle und ahne, was sei das Lallen der Propheten, wenn unaussprechliche Wörter den Geist füllen 84 . Die Propheten haben jedoch nicht 80 Max Morris, Swedenborg in Faust, in Goethe-Studien, 1. Bd., Zweite veränderte Auflage. Berlin 1902. S. 29 f. 81 Erich Schmidt, Goethes Faust in ursprünglicher Gestalt. Weimar 1894. S. XXXVIII. 82 v. 443 ff.; FA 7/ 1, S. 35. 83 Vgl. hierzu Thomas Tillmann, Vom Sprechen zum Lallen. Glossolalie und Prophetie in Goethes „Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen“ in Goethe und die Bibel, hrsg. v. Johannes Anderegg und Edith Anna Kunz. Deutsche Bibelgesellschaft, Nehren 2005. S. 17-33. 84 Karl Eibl u. a., Der junge Goethe in seiner Zeit, Bd. 2, S. 411. <?page no="250"?> 246 ‚gelallt’ im Sinne des deutschen Wortes. Goethe folgt hier dem pietistischen Brauch, ursprüngliche Vokabeln biblischer Texte in der Muttersprache wiederzufinden und phonetisch dem Deutschen anzugleichen. Das „Lallen der Propheten“ steht für ein Sprechen aus höherer Eingebung. In diesem Verständnis, und nur so, gibt der Vers des XVII. Sonetts, „Als Namen der Geliebten sie zu lallen“, letzten Sinn, der die Erkenntnis der Präsenz der Geliebten durch ihre Nennung offenbar macht. Es geht hier also um inspiriertes Sprechen im Sinne Swedenborgs, um dessen loquela spirituum, d. h. um spontane Transformation von Ideen in Worte, in Friedrich Christoph Oetingers Übersetzung Swedenborgs aus dem Lateinischen, wie folgt, zu verstehen: […] die Sprache, die den Geistern eigen ist, [ist] eine Ideen-Sprache der Gedanken, welches eine Universal-Sprache ist. Wenn sie nun bei einem Menschen sind, so fließen die Begriffe ihrer Gedanken in die Worte, die bei dem Menschen sind, ein, und zwar so schicklich und angemessen, daß es die Geister nicht anders glauben, als diese Worte seien ihre eigenen Worte , und sie reden in ihrer eigenen Sprache, ob sie gleich in des Menschen Sprache reden. Hierüber habe ich mich oft mit den Geistern besprochen. Diese Gabe, die Sprache aller Menschen auf dem ganzen Erdboden so vollkommen zu verstehen, erlangen alle Seelen, die in jenes Leben hinüber kommen. Denn neben andern Eigenschaften, welche noch viel vortrefflicher sind, vernehmen sie alles, was der Mensch denkt. Daher kommts, daß die Seelen nach dem Tod des Leibs mit allen Menschen reden und umgehen können. Die Worte, womit sie reden, oder vielmehr, welche sie aus dem Gedächtnis des Menschen hervor nehmen und erwecken, und sichs zueignen, sind auserlesen und deutlich, haben einen vollen Verstand, sind vernehmlich ausgesprochen, lassen sich zur Sache gebrauchen, ja sie wissen auch eine bessere Wahl der Worte zu treffen, als ein Mensch, sie wissen die vielerlei Bedeutungen der Worte, welche sie dem Menschen in einem Augenblick beibringen, ohne darauf zu denken, deswegen, weil die Begriffe ihrer Sprache nur in diejenigen Worte, welche sich schicken, einfließen. Die Sache verhält sich fast eben so, wie wenn der Mensch redt, und sich nicht auf die Worte besinnt, sondern sich nur nach seiner Empfindung ausdrückt, alsdann fallen die Gedanken nach denselben schnell und von selbst in Worte ; denn das innere Gefühl ist es, das die Worte anbringt. Und in einem solchen innern, noch viel subtileren und besseren Gefühl besteht die Sprache der Geister, durch welches Gefühl der Mensch unwissender Weise eine Gemeinschaft hat. Demnach ist die Wortsprache die eigentliche Sprache der Menschen und des leiblichen Gedächtnisses derselben, die Ideen-Sprache aber ist die Geister- Sprache, und zwar des inneren Gedächtnisses des Geists. Dieses Gedächtnis besizen die Menschen unwissender Weise, weil das Gedächtnis besonderer und materieller Dinge alles wirkt, und das innere Gedächtnis benebelt, da doch der Mensch ohne sein inneres Geistes-Gedächtnis nichts denken kann. Aus diesem inneren Gedächtnis habe ich oft mit den Geistern nach ihrer Weise oder durch die Ideen-Sprache geredt, welches eine sehr reiche und allgemeine Sprache ist. Denn ein jedes Wort hat eine Idee von großer Ausdehnung, und man kann sehr viel reden, bis es ganz erklärt ist. 85 85 In: Friedrich Christoph Oetinger, Sämtliche Schriften, hrsg. von Karl Chr. Eberhard Ehmann. Eingel. und neu hrsg. von Erich Beyreuther, Stuttgart 1977. S. 26 f. <?page no="251"?> 247 Goethes Beschäftigung mit Swedenborg geht auf die Zeit seines engeren Kontaktes mit Susanne von Klettenberg und ihrem Kreis zurück, der sich mit Geheimwissenschaften befaßte, neuplatonische und hermetische Philosophie studierte sowie Alchimie trieb, bei prinzipiell pietistischer Grundeinstellung. 86 In Susanne von Klettenbergs Nachlaß findet sich auch eine Übersetzung von Swedenborgs De coelo. 87 Der Arzt Johann Friedrich Metz (1720-1782), der dem Kreis nahestand, bewirkte Goethes Heilung von seiner langwierigen Krankheit nach der Rückkehr aus Leipzig. Dies geschah mittels eines höchst geheimnisvollen Salzes, dem Goethe seine Rettung zuschrieb 88 , - eine Erfahrung, die sein Engagement für den ganzen Umkreis der okkulten Wissenschaften noch vertiefte. Max Morris nimmt an, daß Swedenborgs Einfluß auf Goethes Denken seinen Höhepunkt in den Jahren 1772 / 73 hatte und daß die vielen Stellen aus Goethes Werken und Briefen späterer Zeit, die der Essay auch anführt 89 , bildlich oder poetisch zu verstehen seien. Dies trifft zum Teil zu. Doch hat sich Goethe jedenfalls noch 1776 Oetingers deutsche Übersetzung aus Swedenborgs Werken bestellt, aus der die zitierte Stelle stammt. 90 Morris stellt auch fest, daß das Walten Swedenborgscher Anschauungen bei der Darstellung von Fausts Verklärung längst bemerkt sei und sich z. B. in Loepers Kommentar bereits die wesentlichsten Stellen zusammengetragen fänden. Der Vollständigkeit halber führe er sie mit einigen neu beigebrachten Zügen zusammen an. 91 Dennoch wollte oder konnte er nicht die Möglichkeit akzeptieren, daß der alte Goethe Swedenborg gegenüber seine positive Einstellung bewahrt hatte, dem, wohl nicht mehr wie dem frühen, „bei Betrachtung dieses Geisteruniversums junges heiliges Lebensglück durch Nerv und Ader rann.“ 92 Für Morris war es letztlich nur ein poetischer Kunstgriff, mit dem der Greis „milde lächelnd” das Ende seines Faust-Dramas an den Anfang knüpfte. Aber es war mehr als das. Goethe hat sein Leben lang um eine Überschreitung der dem Menschen gesetzten Grenzen gerungen. Doch ging er, je älter er wurde, desto vorsichtiger mit dem Enthüllen dieses Tatbestandes um. Zu allem bisher Dargestellten stehe hier noch ein Beispiel aus den späten Jahren des Dichters, welches zeigt, wie sehr ihm Swedenborgs Lehre geläufig war, nach der die Seelen abgeschiedener Menschen oder „englische Geister“ (ihre nächsthöhere Entwicklungsstufe) über die Seelen Lebender mit dem Diesseits kommunizieren können, hier nun nicht mit „Lallen“, sondern in Gesang. Fanny Mendelssohn, die Schwester des Komponisten, die ja auch selber komponierte, erbat sich 1827 einen Liedertext von Goethe. Persönlich kannte er sie nicht, doch willfahrte er ihrem Wunsch mit den folgenden Versen, die im Original keinen Titel trugen und erst in späteren Ausgaben Für Fanny Mendelsohn überschrieben erschienen. 86 DuW II, 8; FA 14, S. 369 ff. und Rolf Christian Zimmermann, a. a. O. I, S. 45 ff. 87 Vgl. Lappenbergs Reliquien, S. 75 ff. bei Max Morris, Swedenborg im Faust, Euphorion, 6. Jahrgang 1899. Wien u. Leipzig 1899. S. 505. 88 DuW II, 8; FA 14, S. 372 ff. 89 Goethe-Studien, S. 38 ff. 90 WA IV. 3. 115. 91 Morris, Goethe-Studien 1, S. 38. 92 Ebd., S. 40 f. <?page no="252"?> 248 Wenn ich mir in stiller Seele Singe leise Lieder vor: Wie ich fühle, daß sie fehle, Die ich einzig mir erkor; Möcht ich hoffen, daß sie sänge, Was ich ihr so gern vertraut, Ach, aus dieser Brust und Enge Drängen frohe Lieder laut! 93 Das kleine Gedicht lebt ganz aus Kontrasten. Es beginnt pianissimo und schwillt ab der zweiten Hälfte crescendo an zum Fortissimo des Schlusses. Ein anderer Kontrast zeigt sich in der gegenläufigen Bewegung des vokalischen Abfallens von „fühle“ zu „fehle“, ein weiterer zwischen dem emphatischen Hendiadyoin für die gepreßte Brust und dem Gesundungserlebnis im strömenden Gesang. Im Nebensatz „daß sie fehle“ liegt eine Erinnerung an das gleichfalls aus Kontrasten entwikkelte Bräutigam-Gedicht 94 mit seinem „Sie fehlte mir“. Und wie in diesem letztgenannten Gedicht der Umschlag aus einem doppeldeutigen Wort des letzten Verses entspringt, so geschieht es auch hier: Syntaktisch gesehen, ist „drängen“ zweifellos der potentiale Konjunktiv des Verbs „dringen“, dennoch klingt unüberhörbar der Indikativ des verwandten Verbs „drängen“ mit, ja er überlagert in seiner Dynamik klanglich die ursprüngliche Bedeutung. Damit aber ist, den logischen Fesseln des Konditionalsatzes entschwebend, die Erfüllung der noch vorsichtig geäußerten Hoffnung der zweiten Gedichthälfte gegeben, wie sie sich auch im kompositorisch angelegten Fortissimo von „frohe Lieder laut“ enthüllt und entfaltet. Wem diese Hoffnung gilt, darüber ist kein Zweifel gelassen. Sie, „Die ich einzig mir erkor“, ist bezeichnet und mit ihrer Chiffre benannt. ‚Ihr’ Gesang soll mitschwingen in der Stimme der Sängerin, in Aufnahme dessen, was ihr mit dem kleinen Lied - und darüber hinaus - anvertraut wird. Dem Dichter wird die Glückserfahrung, wieder eine Botschaft abgesandt zu haben, die ihm Anteilnahme und Nähe der jenseitigen Freundin gewiß macht. Wieder ist hier eine Unio mystica angedeutet, hinweg über alle Unsicherheit und Zweifel, und in ihr das eigene Einstimmen des Dichters in jubilierenden Gesang. Zugleich aber wird auch, zwanzig Jahre nach Entstehung der Sonette, die Konstanz der Sinneshaltung jener, wie auch früherer, Zeit offenkundig. 93 FA 2, S. 820. 94 Vgl. S. 138 ff. <?page no="253"?> 249 9. Das geopferte Mädchen Gewisse Topoi scheinen in Goethes Dichtung immer wieder auf, so u. a. die Gegenüberstellung zweier extrem gegensätzlicher Charaktere, die begründete oder aber rätselhafte Trennung liebender Paare, das bedrohte Kind und, vorrangig, das geopferte Mädchen. Beim deutschen Wort ‚Opfer’ ist eine grundlegende semantische Unterscheidung notwendig, nämlich die zwischen lat. ‚sacrificium’ und ‚victima’, Vollzug und Objekt des Vollzugs, Begriffe, die sich zuweilen verbinden und ineinander übergehen, wie beim Sühneopfer, das sich bis zum Opfer des Lebens steigern kann oder bei dem von jemandem freiwillig auf sich genommenen Liebesopfer für andere. Alle Aspekte finden sich bei Goethe, oft mit tödlichem Ausgang. Dem bis zur Vollständigkeit nachzugehen, würde ein eigenes Buch beanspruchen, deshalb möge ein knapper Überblick genügen. Der junge Goethe konnte mit dem Sujet noch lässig umgehen, wie in Götter, Helden und Wieland 1 (1773), jener satirischen Komödie, in der ein moderner, als weichlich empfundener Wieland gegen einen antik-kräftigen Euripides ausgespielt wird, ein Stück, das Lenz ohne Goethes Wissen drucken ließ, in der Absicht, ihm zu schaden. 2 Goethe geht es hier mehr um eine Stilfrage, als um das Thema selbst. Die Handlung bei Euripides (vgl. S. 290): Alkestis, die Gemahlin Admets, des Königs von Pherai, der sein Leben verwirkt hat, wenn nicht ein anderer Mensch an seiner Statt stürbe, ist als einzige bereit, das Leben hinzugeben, und stirbt auch wirklich für ihn. Daß das Drama dennoch zu einem guten Ende kommt, da Herakles im Kampf mit der Todesgöttin die junge Frau dem Leben zurückerobert, mag den satirischen Umgang mit dem Sujet für den damaligen ‚Sturm und Drang’-Dichter ermöglicht haben. Marie in Clavigo 3 (1774) muß als Opfer von Clavigos Karriere-Denken und den Einflüsterungen seines Freundes Carlos, seines ‚Mephistopheles’, gesehen werden. Unschuldig geht sie am Wankelmut und Opportunismus ihres Verlobten zugrunde. Anders Gretchen 4 : sie wird durch Faust und nun den echten Mephisto, aber auch die kupplerische Nachbarin Marthe, in übergroße Schuld verstrickt. Von Faust zunächst verlassen und vergessen, d. h. geopfert, tötet sie ihr Kind und fällt in die Hände einer grausamen Justiz. Wahnsinnig und zugleich wissend, verweigert sie die von Faust und Mephisto ermöglichte Flucht und Rettung aus dem Kerker und nimmt den Tod als Sühneopfer auf sich. Damit hat sie sich Rettung in höherem Sinne errungen. Wieder anders das Schicksal Proserpinas, des ‚Mädchens’ Kore, das Vater Zeus seinem Bruder zugesprochen hat und das, beim Blumenpflücken überrascht, von 1 FA 4, S. 425 ff. 2 Tag- und Jahreshefte, 1807; Biographische Einzelheiten, (Besuch in Sesenheim 1779) FA 17, S. 354 f. 3 FA 4, S. 443 ff. 4 Erstmals in Faust, Frühe Fassung (vor 1775), in Faust, ein Fragment (zwischen 1776 und 1786), endlich in Faust I (abgeschlossen 1806). <?page no="254"?> 250 Pluton der Mutter geraubt und als seine Gemahlin und Königin ins Totenreich entführt wird. In Goethes Monodrama Proserpina (1777; vgl. S. 193 f.) wird ihr, anders als im Mythos, nicht einmal periodische Befreiung zuteil. Sie ist ‚victima’ schlechthin. Goethes Klärchen in Egmont 5 (1775-1786) kämpft mit dem Helden für die Befreiung der Niederlande vom spanischen Joch und geht dem Geliebten im Tod voraus. Sie hat ihr Leben für die Befreiung ihres Landes geopfert, wie in Egmonts Traum angedeutet, zugleich aber auch für eine künftige Vereinigung mit ihm. In Euripides’ Drama Iphigenie in Aulis, der Vorgeschichte von Goethes Iphigenie auf Tauris, überlebt die Titelheldin ihre Opferung. An ihre Stelle legt die Göttin Artemis eine Hirschkuh zur Schlachtung auf den Altar und entrückt das Mädchen während der vom Vater Agamemnon zunächst beschlossenen, mit List durchgesetzten und später vergeblich verhinderten Opferhandlung. Doch war Iphigenie dann nach innerem Kampf dahin gelangt, sich für die Ehre der Griechen und die Bestrafung Troias aufzuopfern und willig in den Tod zu gehen. Unerwartet findet sie sich auf Tauris wieder, bei Euripides wie auch bei Goethe. 6 Auf ihrem Bewußtsein lasten Verbrechen und Blutschuld ihres ganzen Geschlechts, weiter gesteigert noch durch Orests Bericht von den Ermordungen der Eltern. Nun wäre es fast an ihr gewesen, den Bruder und seinen Freund Pylades auf des Königs Geheiß der Göttin opfern zu müssen. Flucht durch List scheint möglich. Bei Euripides werden die Flüchtigen von den Taurern entdeckt und nur durch das Einschreiten der Göttin Athene im letzten Moment gerettet. Bei Goethe riskiert Iphigenie beider Leben und ihr eigenes, indem sie König Thoas, dem sie ja Dank schuldet und der sich unter ihrem Einfluß zu humanerer Sinnesart gewandelt hat, den Fluchtplan offenbart. Sie bekennt sich zur Wahrheit. Und wird als potentielles Opfer ein zweites Mal gerettet. Das klar ausgesprochene Wort hat über List und Trug gesiegt. Unausgesprochen von Iphigenie (wie vor allem auch vom Dichter), vollzieht sich im Hintergrund noch ein weiteres Opfer. Iphigenie hat das Wort des Königs, sie ziehen zu lassen, falls jemand aus ihrer Familie je nach Tauris käme und sich so die Möglichkeit für sie ergäbe, in die Heimat zurückzukehren. Darauf hätte sie sich berufen können, hätte nicht zunächst die Annahme bestanden, daß Orests Rettung vor den ihn verfolgenden Erinnyen von der Rückbringung des Artemis- Standbilds nach Griechenland abhänge. Erst als Orest von sich aus erkennt, daß der Orakelspruch Apollons nicht dessen Schwester Artemis, sondern seine eigene Schwester Iphigenie betreffe, die Statue also gar nicht geraubt werden müsse, zumal er selbst sich ja bereits geheilt findet, erst da erinnert Iphigenie den König an sein Versprechen. Priorität vor ihrer eigenen Rückkehr nach Griechenland aus dem Land der Barbaren hatte die Heilung des Bruders und wurde durch das ihm gegenüber geübte Schweigen, trotz Lebensgefahr, gewährleistet. (Das meinte Goethe wohl, als er sein Drama ironisch „ganz verteufelt human“ 7 nannte! Mit dem Teufel hatte das wenig zu tun.) 5 Iphigenie auf Tauris, Prosafassung (1779); FA 5, S 151 ff.; Versfassung (1786), ebd., S. 553 ff. 6 Iphigenie auf Tauris (Versfassung 1786). FA 5, S. 553 ff. 7 An Schiller, 19. Jan. 1802. Briefwechsel, S. 750. <?page no="255"?> 251 Mit der Natürlichen Tochter 8 (1799-1803) hat Goethe seine eigene Iphigenie in Aulis geschrieben. 9 Er verschmolz die Memoiren der französischen Aristokratin Stéphanie-Louise de Bourbon-Conti 10 mit dem antiken Topos. Indem er den handelnden Personen des Dramas generell Namen versagte und nur der Protagonistin einen Namen, und gerade den mit „Iphigenie“ etymologisch verwandten Namen Eugenie, verlieh, hob er das Geschehen ins Typische, Zeitlos-Mythische. Darüber hinaus gibt auch noch der Titel einen weiteren Hinweis: Haben die griechischen Namen Iphigenie und Eugenie die Silbe ‚gen’ gemeinsam, die sich von von γίγνομαι , γενόμενος (ich entstehe), bzw. γένος , (Geburt, Stamm, auch Sprößling) herleitet, so bringt der Titel Die natürliche Tochter 11 das semantische Äquivalent zu ‚gen’ mit der Silbe ‚nat’ von nascor, nasci, natus sum, (ich werde geboren, entstehe). Deutlich sollte mit diesen Wechselbezügen von etymologischer bzw. semantischer Verwandtschaft der Stammsilben in den Namen wie im Titel auf eine symphronistische Identität der beiden Protagonistinnen der Dramen mehrfach hingewiesen werden. Was die dramatis personae der Natürlichen Tochter betrifft, so teilte Goethe die Gestalt des Agamemnon in Zwei, in den Herzog als liebenden und geliebten Vater Eugenies und in den von ihr verehrten König, der nicht davor zurückschreckt, das Mädchen zu opfern. Darauf spielt Goethe heimlich an, wenn er Eugenie vor der Einsicht in jenes ihr Schicksal bedingende, unheilvolle Dokument immer beide in einem Atem nennen läßt. 12 Nachdem sie es dann über sich gewonnen hat, den Brief anzusehen und „Des Königs Hand und Siegel! “ 13 an ihm entdecken mußte, zeigt sich auch eine Veränderung in ihrem Verhältnis zum Vater, wenn sie sich nun in ihrer völligen Ratlosigkeit an den unbekannten Mönch wendet mit den Worten: „Mein Vater! laß den ach! mir nun versagten, / verkümmerten, verbotnen Vaternamen / Auf dich, den edlen Fremden übertragen.“ 14 Damit sind die beiden Figuren, Vater und König, unwahr, aber in ihren Augen auf eine reduziert, die dem Agamemnon des griechischen Modells entspricht. Andererseits scheint in der einen Gestalt der Eugenie, neben dem Schicksal Iphigenies, nun seinerseits verdoppelt, auch das von deren Schwester Elektra 15 auf. - Auch sie ein ‚geopfertes Mädchen’. Bei Euripides wird Elektra von der Mutter Klytämnestra und ihrem Geliebten Ägisthos aus dem Palast vertrieben und einem Mann niederen Standes vermählt, um sie samt ihrer Nachkommenschaft unbedeutend, das heißt, ungefährlich zu machen. Der heimkehrende Orest findet sie in großer Armut, mit geschorenem Haar, Wasser tragend, da sie sich bereitwillig mit dem Gatten in die schwere Arbeit 8 FA 6, S. 301 ff. 9 Sigurd Burckhardt, „Die natürliche Tochter“: Goethes „Iphigenie in Aulis“? in Germanisch-Romanische Monatsschrift, N.F., Bd. X, Heft 1, Januar 1960 (XLI. Bd. der Gesamtreihe) S. 12-34, sieht das Drama wesentlich, aufgrund seiner Form, nicht seines Gehalts, als Teil einer „Blankvers- Trilogie“, gebildet zusammen mit Iphigenie und Tasso (S. 12). 10 Stéphanie-Louise de Bourbon-Conti, Memoires historiques, écrits par elle-mème, Paris 1798. 11 Vom lat. nata naturalis (die leibliche Tochter). 12 v. 2107, v. 2493 f., v. 2579. 13 v. 2595. 14 v. 2682 ff. 15 Euripides, Elektra, v. 19-44. vgl. Hederich, Sp. 979. <?page no="256"?> 252 des Landmannes teilt, dankbar, daß er die Unberührtheit der Königstochter achtet. Die standeswidrige Ehe, als verhängte Alternative zur Deportation zu den Inseln, das ist der Punkt, in welchem das Elektra-Schicksal in die Handlung der Natürlichen Tochter eingebracht ist. Vor die Wahl gestellt, „nach den Inseln“ geschickt zu werden, die Krankheit und sicheren Tod bedeuten würden (und hier die Stelle der Insel Tauris einnehmen), oder unter ihrem Stand zu heiraten, entschließt sich Eugenie, nach wiederholter vergeblicher Hilfesuche bei Vertretern aller Stände der Gesellschaft, einem großherzigen Mann, dem bürgerlichen Gerichtsrat, ihre Hand zu reichen und damit auf den vorher so sehr ersehnten Rang einer Prinzessin zu verzichten. Dies tut sie aber erst, als der Mönch, den sie als „Orakel“ für ihre Entscheidung eingesetzt hat, ihr furchtbare Bedrängnis in Form einer Flutkatastrophe für das Vaterland vorausgesagt hat, sodaß die Inseln im Vergleich geradezu als wohltätiger Rettungsort erscheinen. Zuletzt sein Rat: „Du aber fliehe, die ein guter Geist / Verbannend segnete. Leb wohl und eile! “ 16 Nun bestürmt ein neuer Gedanke das verlassene Mädchen: Vom eignen Elend leitet man mich ab Und fremden Jammer prophezeit man mir. Doch wär’ es fremd? was deinem Vaterland Begegnen soll. Dies fällt mit neuer Schwere Mir auf die Brust! Zum gegenwärt’gen Übel Soll ich der Zukunft Geistesbürden tragen? So ist’s denn wahr! was, in der Kindheit schon, Mir um das Ohr geklungen. Was ich erst Erhorcht, erfragt und nun zuletzt, sogar Aus meines Vaters, meines Königs Mund Vernehmen mußte. Diesem Reiche droht Ein jäher Umsturz. […] Und solche Sorge nähm’ ich mit hinüber? Entzöge mich gemeinsamer Gefahr? Entflöhe der Gelegenheit, mich kühn Der hohen Ahnen würdig zu beweisen, Und jeden, der mich ungerecht verletzt, In böser Stunde hilfreich zu beschämen. Nun bist du Boden meines Vaterlands Mir erst ein Heiligtum, nun fühl’ ich erst Den dringenden Beruf mich anzuklammern. Ich lasse dich nicht los und welches Band Mich dir erhalten kann, es ist nun heilig. […] Die Größe der Gefahr betracht’ ich nicht, Und meine Schwäche darf ich nicht bedenken, Das alles wird ein günstiges Geschick, Zu rechter Zeit, auf hohe Zwecke leiten. Und wenn mein Vater, mein Monarch mich einst Verkannt, verstoßen, mich vergessen, soll Erstaunt ihr Blick auf der Erhaltnen ruhn, 16 Nat. Tochter, v. 2813. <?page no="257"?> 253 Die das, was sie im Glücke zugesagt, Aus tiefem Elend, zu erfüllen strebt. 17 Hierin gleicht sie nun auch wieder der opferbereiten Heldin Iphigenia bei Euripides, zu der sich das zunächst fassungslos entsetzte Mädchen in Aulis gewandelt hat. Wenn Eugenie am Schluß von Goethes Stück dem Gerichtsrat, der sie „im Verborgnen“ „als reinen Talisman“ ‚verwahren’ 18 soll, zuruft: „Hier meine Hand, wir gehen zum Altar“, so impliziert dies in ihrem Fall eine vergleichbare Opfertat, hat sie doch das spontane, rettende Angebot des edlen Mannes zunächst ausgeschlagen. Der Traualtar wird zum Altar des Opfers - auch für den Entsagung gelobenden Mann. Wenn Goethe den Denkwürdigkeiten der Stéphanie-Louise de Bourbon-Conti mit zwei weiteren Dramen folgen wollte, um so eine Trilogie zu schaffen 19 , wie er in den Annalen festhält, so ist dies vielleicht einem seiner gelegentlichen Tarnversuche zuzuschreiben. Hingegen hatte er, wie er mehrfach erwähnt, schon lange zuvor eine Iphigenia in Delphi im Sinn. Zusammen mit Eugenie oder Die natürliche Tochter 20 und Iphigenie auf Tauris hätte dies eine Iphigenien-Trilogie ergeben. So schreibt er am 16. Februar 1787 aus Italien: Tät’ ich nicht besser Iphigenia in Delphi zu schreiben, als mich mit den Grillen des Tasso herum zu schlagen, und doch habe ich auch dahinein schon zu viel von meinem Eignen gelegt, als daß ich es fruchtlos aufgeben sollte. 21 Aber auch noch 1817, also dreißig Jahre später, schreibt Goethe in einem Brief an Zelter: Durch die guten Worte, womit Du Iphigenien so treulich ehrest, sei mir gleichfalls gelobt und gepriesen. Die wundersame Entstehung der zweiten Redaktion schildert die Italienische Reise. Iphigenie auf Delphi wird wohl ungeschrieben bleiben. Es ist eine Notiz da, daß die alten Tragiker diesen Gegenstand behandelt haben, der mich notwendig reizen mußte, weil ich in das Atreu[s]sche Haus mich so eingesiedelt hatte. Eine zyklische Behandlung hat viele Vorteile, nur daß wir Neuern uns nicht recht darin zu finden wissen. 22 In der Italienischen Reise gibt Goethe unter dem Datum des 19. Oktober 1786 eine kurze Inhaltsangabe des nicht ausgeführten Stücks: […] Von Cento herüber wollte ich meine Arbeit an Iphigenia [auf Tauris] fortsetzen, aber was geschah, der Geist führte mir das Argument der Iphigenia von Delphi vor die Seele, und ich mußte es ausbilden. So kurz als möglich sei es hier verzeichnet: 17 Ebd., v. 2815-2864. 18 Ebd., v. 2852 f. 19 Vgl. Tag- und Jahreshefte 1803; FA 17, S. 113. 20 Unter diesem Titel erlebte das Stück seine Uraufführung am 2. 4. 1803. Vgl. FA 6, S. 1118. 21 MA 15, Goethe, Italienische Reise, Sonderausg, hrsg. von Andreas Beyer und Norbert Miller in Zusammenarbeit mit Christof Thoenes, München 1992. S. 203. 22 Briefwechsel zwischen Zelter und Goethe, 23. Februar 1817, 1. Bd., S. 594. <?page no="258"?> 254 Electra, in gewisser Hoffnung, daß Orest das Bild der Taurischen Diana nach Delphi bringen werde, erscheint in dem Tempel des Apoll, und widmet die grausame Axt, die so viel Unheil in Pelops Hause angerichtet, als schließliches Sühnopfer dem Gotte. Zu ihr tritt, leider, einer der Griechen, und erzählt wie er Orest und Pylades nach Tauris begleitet, die beiden Freunde zum Tode führen sehen und sich glücklich gerettet. Die leidenschaftliche Electra kennt sich selbst nicht, und weiß nicht ob sie gegen Götter oder Menschen ihre Wut richten soll. Indessen sind Iphigenie, Orest und Pylades gleichfalls zu Delphi angekommen. Iphigeniens heilige Ruhe kontrastiert gar merkwürdig mit Electrens irdischer Leidenschaft, als die beiden Gestalten wechselseitig unerkannt zusammentreffen. Der entflohene Grieche erblickt Iphigenien, erkennt die Priesterin welche die Freunde geopfert, und entdeckt es Electren. Diese ist im Begriff mit demselbigen Beil, welches sie dem Altar wieder entreißt, Iphigenien zu ermorden, als eine glückliche Wendung dieses letzte schreckliche Übel von <den> Geschwistern abwendet. Wenn diese Szene gelingt, so ist nicht leicht etwas Größeres und Rührenderes auf dem Theater gesehen worden. Wo soll man aber Hände und Zeit hernehmen, wenn auch der Geist willig wäre! 23 Ein drittes Mal also sollte Iphigenie hier, und zwar mittels des geweihten Beils, geopfert werden, um, im letzten Augenblick gerettet, einem sicheren Tod zu entgehen. Die Vorlage findet sich bei Hyginus, Fab. 122 24 . Alle Varianten von Opferung und Geopferter fühlte sich Goethe offenbar bewogen darzustellen. Wenden wir uns nun nochmals dem Festspiel Pandora 25 zu (1808; vgl. S. 223) Hier finden sich wiederum zwei Aspekte des Opfer-Themas durchgeführt: Phileros greift zum Schwert, um Epimeleia für ihre vermeintliche Untreue zu strafen. An Seele und Körper zutiefst verwundet, lehnt sie jede Hilfe für sich ab und sucht Rettung für die von einer Feuersbrunst bedrohten Mitmenschen, ehe sie Phileros in seinen vom Vater auferlegten Tod folgt. In den Romanen Goethes wird uns das Thema des geopferten bzw. sich opfernden Mädchens später wiederbegegnen. Vorderhand sei nur noch kurz auf den gleichen Topos in Gedichten hingewiesen, wobei andere bereits behandelte Aspekte notwendig ausgeklammert bleiben müssen. Die Gedichte entdecken das Thema immer wieder quer durch Zeit und Raum. In der Braut von Corinth (1797) 26 , dem Korinth des frühen Christentums, erscheint einem Jüngling seine tote Verlobte, die, von der Mutter aufgrund eines Gelübdes zum Klosterleben bestimmt, daran zugrundeging: Nun soll ein gemeinsamer Scheiterhaufen den Weg zu den „alten Göttern“ öffnen. (Vgl. S. 242) Unmittelbar neben die Darstellung solcher selbstischen Opferung der Tochter durch die Mutter, stellte Goethe die Ballade Der Gott und die Bajadere (1797). Hier folgt die indische Tänzerin, aus eigenem Antrieb, entgegen dem Gebot der Priester, ihrem plötzlich ‚verstorbenen’ göttlichen Gast in das Feuer, um ihrer wahrhaft 23 MA 15, S. 124 f. 24 Hederich, Sp. 1365. 25 FA 6, S. 661 ff. 26 Die Vorlage fand Goethe bei Johannes Praetorius, Anthropodemus Plutonicus, Magdeburg 1668. VII, S. 278 ff. Die christliche Motivik und die bedrohliche Gestalt der Mutter wurden von Goethe in die Handlung der Quelle interpoliert. <?page no="259"?> 255 ersten großen Liebe durch das Selbstopfer genugzutun - und findet sich in seinen Armen zum Himmel getragen. Die „Kantate“ Johanna Sebus (1809) leitete Goethe ein mit der Überschrift: „Zum Andenken der Siebzehnjährigen Schönen Guten aus dem Dorfe Brienen die am 13. Januar 1809 bei dem Eisgange des Rheins und dem großen Bruche des Dammes von Cleverham Hülfe reichend unterging.“ Die erklärende Widmung umschreibt Johannas Opfer des eigenen Lebens für andere. Die Konzeption des Gedichts als Kantate deutet auf seinen geistlichen Aspekt, auf die Verwirklichung christlicher Nächstenliebe bis hin zum Opfer des eigenen Lebens. In der Paria überschriebenen indischen Trilogie (Erstdruck 1824) tötet ein erzürnter Ehemann seine schuldlose Frau, die der Sohn in ungestümer Hast dem Leben zurückgibt, indem er grauenhafterweise auf dem Richtplatz ihren Kopf auf den Körper einer Verbrecherin aufsetzt. Das Gebet des Paria zum „Großen Brama“ (im ersten Teil der Trilogie) um ein Mittlerwesen zu ihm hin, auch für die niedrige Paria-Kaste der ‚Unberührbaren’, hat mit dem schrecklichen Geschehen Erhörung gefunden, wie aus dem Dank an die Gottheit, dritter Teil der Trilogie, hervorgeht - also dreifache Opferung der edlen Frau: durch den Ehemann, den Sohn und den Gott. Das Thema läßt Goethe nicht los. Auch in der späten Helena-Tragödie in Faust II scheint es wieder auf, in der drohenden Rede der Phorkyas, wie es schon, als zukünftiges Geschehen angekündigt, bei Euripides in der Rede des Menelaos vorliegt: Nach Argos kommend, wird die Schlimme schlimmen Tod Erleiden, wie sie’s würdig ist, und alle Fraun Bescheidne Sitte lehren: leicht ist dieses nicht; Doch wird das Ende dieser Frau den Torensinn Der andern schrecken, wären sie auch schlimmer noch! 27 In verschiedenen Traditionssträngen des Mythos wird einerseits Iphigenie, andererseits Helena (beides zu finden in Hederichs Mythologischem Lexikon) in einem Nachleben auf der Insel Leuke in Ehe mit Achill verbunden. 28 Daß Iphigenie mit dem ahnungslosen Achilleus verheiratet werden sollte, war ja die List gewesen, mit der Agamemnon Gattin und Tochter nach Aulis lockte. In Helena, andererseits, soll Achill sich verliebt haben, als er sie auf der Stadtmauer Trojas erblickte. 29 Doch gibt es noch eine andere Parallele zwischen den beiden Frauen. Unter Berufung auf Plutarch weist Hederich darauf hin, daß Helena „dereinst das Loos getroffen, für die Lacedaemonier bey wütender Pest geopfert zu werden, allein ein Adler [habe] das Opfermesser genommen, und auf eine unfern weidende junge Kuh geleget, welche sodann anstatt ihrer geopfert worden. Plutarch. Parall. minor. c. 34.” 30 27 Eur., Die Troerinnen, vgl. Euripides, Sämtliche Tragödien in zwei Bänden. Nach der Übersetzung von J. J. Donner, a. a. O., Bd. 2, S. 450. 28 Hederich, Sp. 1365 und 1222. 29 Ebd., Sp. 1223. 30 Ebd., Sp. 1224. <?page no="260"?> 256 In der weder an Zeit noch Raum gebundenen Welt, in die Faust Helena aus der Unterwelt heraufgeholt hat, macht Mephistopheles-Phorkyas, in Gestalt der „Schaffnerin“ und Hüterin des Palasts des Menelaos, Helena glauben, Menelaos werde sie zur Strafe für ihr Entweichen mit Paris töten. Dies ist die List, mit der Phorkyas sie überreden kann, in Fausts Palast Zuflucht zu suchen. So wird es möglich, daß Goethes Helena, das Ideal klassischer Schönheit, auch zu einer mythisch gesteigerten Vertreterin des geopferten Mädchens werden kann. Es ist wohl wahr, altersmäßig und nach ihren Ehen mit Menelaos, mit Paris und Deiphobos (den Geisterbund mit Achill nicht mitgerechnet), kann sie kaum als Mädchen gelten. Doch Goethe selbst hat dieses Argument entkräftet, wenn er den weisen Chiron hinsichtlich ihrer Person in der Klassischen Walpurgisnacht sagen läßt: Ganz eigen ist’s mit mythologischer Frau, Der Dichter bringt sie, wie er’s braucht zur Schau: Nie wird sie mündig, wird nicht alt, Stets appetitlicher Gestalt, Wird jung entführt, im Alter noch umfreit; G’nug, den Poeten bindet keine Zeit.“ 31 Zudem ist auch die angeblich geplante Opferung durch Menelaos 32 anfechtbar; im Mythos ist sie als vollzogen nicht verankert, und auch in Goethes Stück beruht die Annahme ja lediglich auf den Warnungen von Phorkyas-Mephistopheles, durch die er Helenas Flucht bewerkstelligt. Alles ist unsicher in diesem Stück, die Lokalität schwankt ebenso wie die ineinandergeschobenen Zeiträume - eine „Phantasmagorie“ 33 eben. Aber dennoch: wie grausig-real die vorgestellten Anordnungen für die Opferung der Königin aus dem Munde der Phorkyas: Dem Tragaltar, dem goldgehörnten, gebet Platz, Das Beil, es liege blinkend über dem Silberrand, Die Wasserkrüge füllet, abzuwaschen gibt’s Des schwarzen Blutes greuelvolle Besudelung. Den Teppich breitet köstlich hier am Staube hin, Damit das Opfer niederkniee königlich, Und eingewickelt, zwar getrennten Haupts, sogleich Anständig würdig aber doch bestattet sei. 34 Vorangegangen ist dieser Schreckensinszenierung die seelische Zermürbung der Königin, welcher Phorkyas ihre Fehltritte vorhielt, bis sie die Besinnung verlor. 35 Die Moralpredigt kommt von einem „Bösen Geist“, genau wie bei Margarete im Dom („Wie anders, Gretchen, war dir’s / […].“ 36 ), die ebenfalls über den Vorwürfen in Ohnmacht sinkt. Faust konnte sein Unrecht an Gretchen nicht mehr gutmachen und sie vor dem Beil retten. Bei Helena gelingt die ‚Rettung’ unter wie auch immer phantastischen Umständen. 31 Faust II, v. 7428-7433. 32 Vgl. Apollons Rede in Euripides, Orestes, v. 1625 ff., Übersetzung Donner, a. a. O. Bd. 2, S. 298. 33 Siehe Brief an Wilhelm von Humboldt, 22. Oktober 1826; HA Briefe 4, S. 205. 34 Faust II, v. 8939-8946. 35 Ebd.,v. 8868-8881. 36 Faust I, v. 3776 ff. <?page no="261"?> 257 Goethes langjährige Faszination von ihrer Gestalt bezeugt ein Brief vom Mai 1827: Wie ich im stillen langmütig einhergehe werden Sie an der dreitausendjährigen Helena sehen, der ich nun auch schon sechzig Jahre nachschleiche, um ihr einigermaßen etwas abzugewinnen. 37 Schon im März 1827 hatte er an Zelter geschrieben: […] Vierzehn gedruckte Bogen meines vierten Bandes liegen auch schon vor mir; der nächste Transport bringt die Helena, welches fünfzigjährige Gespenst endlich im Druck zu sehen mir einen eignen Eindruck machen wird. 38 Zum „Gespenst“ war ihm Helena 1777 geworden. Zelter, der Vertraute, bekam die korrekte Jahresanzahl zu lesen und konnte sich’s wohl deuten. Die Hoheit, mit der Goethe dieses bereits im historischen Faust-Stoff tradierte „Gespenst“ bekleidet, deutet auf eine geheime Verschmelzung Helenas mit Iphigenie, wie ja auch der Mythos in differenten Traditionen eine gewisse Analogie ihres Schicksals merken und jede der beiden Frauen eine geplante Opferung durchmachen läßt, um jede für sich schließlich im jenseitigen Ambiente der Insel Leuke dem Achill in Ehe zu verbinden. Man könnte daran Anstoß nehmen, daß außerhalb der Dichtung keine verbale Stellungnahme seitens Goethe zum Thema der Geopferten, das er so oft behandelte, bekannt ist. Er äußerte sie jedoch nicht mit Worten, sondern mit der „Tat“, indem er nicht müde wurde, die Situation der Leidenden immer neu zu gestalten und damit auch selber zu durchleben. Damit legte er seinen Finger auf eine Wunde, die, wie noch zu zeigen sein wird, für ihn noch lange nicht abgetan war. 37 An Nees von Esenbeck, 24. Mai 1827; HA Briefe 4, S. 234. 38 An Zelter, 29. März 1827. Briefwechsel, Bd. 2, S. 559, Zit. 561. <?page no="262"?> 258 10. Helena Wie stark persönlichstes Erleben alle Allegorik und Symbolik des Helena-Aktes durchwirkt, läßt schon die erste Begegnung von Faust und Helena merken. Faust begrüßt sie mit Entschuldigungen für den versäumten feierlichen Empfang. Seine Sprache, fünfhebige Jamben, versucht sich ihrem Jambischen Trimeter anzugleichen, bleibt aber geschraubt und formell. 1 An seiner Seite führt er gefesselt Lynkeus, den Türmer, der Helenas und ihrer Frauen Herannahen nicht rechtzeitig gemeldet hat. Helena ist es nun anheimgegeben, über sein verwirktes Leben zu entscheiden. Es ist nur vom Verbrechen der versäumten Meldung die Rede. Aber, unausgesprochen, muß sich zwischen Lynkeus und der Königin unendlich mehr abspielen. Denn Lynkeus war in ihre Entführung als Kind von zehn (oder sieben 2 ) Jahren verwickelt gewesen. Ohne Namensnennung hat sich Chiron in der Klassischen Walpurgisnacht auf diese Begebenheit bezogen. Wer die treibende Kraft hinter dem Raub war, läßt die Mythologie offen, Theseus oder, in seinem Auftrag, die Brüder Idas und Lynkeus oder die beiden in eigener Unternehmung mit Theseus als Beistand, oder auch noch andere, bei Hederich facettenreich und in vielen Varianten nachzulesen. 3 Der Schock der Wiederbegegnung, gepaart mit Bewunderung, muß Lynkeus so völlig aus der Fassung gebracht haben, daß er sein Horn vergaß. Auch jetzt, vor dem Angesicht der Königin, fällt er aus der dramatischen Rolle; nicht Jamben, ihm, dem Griechen, angemessen, kommen aus seinem Munde, sondern in vierhebigen Trochäen ein gereimtes Lied: Laß mich knieen, laß mich schauen, Laß mich sterben, laß mich leben, Denn schon bin ich hingegeben Dieser gottgegebnen Frauen. Harrend auf des Morgens Wonne, Östlich spähend ihren Lauf, Ging auf einmal mir die Sonne Wunderbar im Süden auf. Zog den Blick nach jener Seite, Statt der Schluchten, statt der Höh’n Statt der Erd und Himmelsweite, Sie die Einzige zu spähn. Augenstrahl ist mir verliehen Wie dem Luchs auf höchstem Baum, Doch nun mußt’ ich mich bemühen Wie aus tiefem düsterm Traum. 1 v. 8850 f.; vgl. hierzu: Eckermann, 17. März 1830; a. a. O., S. 404. 2 v. 7415 ff. 3 Hederich, Sp. 1218, § 4 ff. <?page no="263"?> 259 Wüßt’ ich irgend mich zu finden? Zinne? Turm? geschloßnes Tor? 4 Nebel schwanken, Nebel schwinden Solche Göttin tritt hervor! Aug’ und Brust ihr zugewendet Sog ich an den milden Glanz, Diese Schönheit wie sie blendet Blendete mich Armen ganz. Ich vergaß des Wächters Pflichten, Völlig das beschworne Horn, Drohe nur mich zu vernichten, Schönheit bändigt allen Zorn. 5 Lynkeus und Faust gehören zusammen wie Tasso und Antonio 6 , wie Nereus und Proteus, wie Epimetheus und Prometheus, Erscheinungsformen ein und derselben Persönlichkeit, einander schroff gegenübergestellt als feindliche oder zumindestens als einander wesensfremde Brüder. In diesem Fall versucht jeder seine eigene Sprache zu sprechen. Wenn erst Faust völlig zu seiner natürlichen Sprechweise zurückgekehrt sein wird und sie Helena zu sprechen lehrt, tritt Lynkeus, jedenfalls in diesem dritten Akt von Faust II, nicht mehr in Erscheinung: beide Aspekte der einen Persönlichkeit haben dann wieder zusammengefunden. Spuren solcher Zusammengehörigkeit zeigen sich auch in Lynkeus’ Lied, das die morgendliche Wachheit des Prometheus mit der sinnverwirrten Glut des Epimetheus verbindet. Vom Entwurf her erscheint Faust in seinem Unterfangen, eine Tote ins Leben zurückzuholen, als ein „Zweiter Orpheus“. 7 Aber Faust ist nicht als Sänger konzipiert. Auch deshalb wird Lynkeus, auf der Argonautenfahrt nach dem Goldenen Vließ der Gefährte des ersten Orpheus, herangezogen, um die Überwältigung durch das Gefühl lyrisch auszudrücken. Durch die Namensgebung des Sohnes ist Faust als zweiter Achill, durch das Beisein von Lynkeus als zweiter Orpheus beglaubigt, wie auch Manto im entscheidenden Moment Faust mit Orpheus gleichsetzt. 8 Lynkeus’ erstes Lied trägt Züge von Goethes persönlichster Liebesdichtung. Das Symbol der aufgehenden Sonne in kosmischer Anomalie deutet auf die Macht der Geliebten über Sinne und Seele des Harrenden: mit Helena als Morgenröte Aurora, geht die Sonne im Süden auf! In den Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten VI bestimmt sich die Himmelsrichtung nach der Blickrichtung im Tode: „[…] / Wohin mein Auge spähend brach, / Dort ewig bleibt mein Osten.“ 9 Und wieder sind es, in des Lynkeus Lied, Nebel, die die Gestalt freigeben, wieder ist die Rede vom Glanz der Augen, dem einzigen Glanz, der „angesogen“ werden kann. Die Chiffre ‚or’ klingt an, erstmals in Strophe 5 in den Reimwörtern, dann nochmals ebenso in der Klimax des Schlusses. 4 Bezüge auf das Bräutigam-Gedicht und Elegie (Str.10) in Hinblick auf das Hohe Lied. Man beachte auch die eingesetzten Chiffren, hier und in der letzten Strophe. 5 v. 9218-9245. 6 Vgl. Tasso, v. 1704-1710; FA 5, S. 782 f. 7 Faust II, II, Peneus, v. 7493 f. 8 v. 7493 f. 9 FA 2, S. 697. <?page no="264"?> 260 Die erste Strophe unterscheidet sich von den folgenden durch das Reimschema a b b a und die durchwegs weiblichen Reime. In der Abweichung vermittelt sie die Verwirrung, die die neuerliche Begegnung mit Helena in Lynkeus auslöst, ehe er sein seelisches Gleichgewicht wiedererlangt. Wenn er sich „Dieser gottgegebnen Frauen“ „hingegeben“ fühlt, scheint hinter der Zeus-Tochter Helena das Geschenk der Götter, Pandora, auf, eine Impression, die sein nach seiner Begnadigung an Helena gerichtetes zweites Lied 10 noch weiter verstärkt. Alle seine im Krieg erbeuteten Schätze trägt er da vor sie hin, während er acht Strophen lang von deren grausamem Erwerb spricht. Das Metrum ist nun steigend, mit durchwegs paarweisen männlichen Reimen, die kurzen Sätze jagen einander, zumeist in Parataxe, dem rauhen Inhalt angepaßt. Hier bekundet sich das prometheische Element nun auch in Lynkeus. In den folgenden Strophen wird der Ton sanfter, die Sprache fließender: Und Haufen Goldes waren mein, Am herrlichsten der Edelstein: Nun der Smaragd allein verdient Daß er an deinem Herzen grünt. Nun schwanke zwischen Ohr und Mund Das Tropfenei aus Meeresgrund; Rubinen werden gar verscheucht, Das Wangenrot sie niederbleicht. Und so den allergrößten Schatz Versetz’ ich hier auf deinen Platz, Zu deinen Füßen sei gebracht Die Ernte mancher blut’gen Schlacht. So viele Kisten schlepp’ ich her, Der Eisenkisten hab’ ich mehr; Erlaube mich auf deiner Bahn Und Schatzgewölbe füll’ ich an. Denn du bestiegest kaum den Thron, So neigen schon, so beugen schon Verstand und Reichtum und Gewalt Sich vor der einzigen Gestalt. Das alles hielt ich fest und mein, Nun aber lose, wird es dein, Ich glaubt’ es würdig, hoch und bar. Nun seh’ ich, daß es nichtig war. Verschwunden ist was ich besaß, Ein abgemähtes welkes Gras: O gib mit einem heitern Blick Ihm seinen ganzen Wert zurück! 11 10 v. 9273-9332. 11 v. 9305-9332. <?page no="265"?> 261 Feiert das erste Lynkeus-Lied Helena mit Chiffre und Symbolik, die in Goethes Lyrik die Herrin bezeichnen, so konzentriert sich das zweite auf deren mythischallegorische Gestalt, auf Pandora. Helena wird hier zur All-Beschenkten und zuletzt auch zur All-Gebenden 12 , die mit einem Blick den nichtig gewordenen Schätzen ihren Wert zurückgeben kann. Daß sie, anders als Gretchen, als Eugenie, sich nicht von dem Zauber der Juwelen betören läßt, wird aus Fausts stellvertretender Reaktion klar: Entferne schnell die kühn erworbne Last, Zwar nicht getadelt, aber unbelohnt. wie auch aus Lynkeus’ schmollender Antwort auf Fausts Befehle, die mit den folgenden Versen schließt und seinen endgültigen Abgang aus der Helena-Handlung markiert: Vor der herrlichen Gestalt Selbst die Sonne matt und kalt, Vor dem Reichtum des Gesichts Alles leer und alles nichts. 13 Beschäftigte Lynkeus in den vorangegangenen Versen jener Aspekt des Pandora- Namens, der dem Geben oder Begabt-Werden gilt, so feiert er hier, in Umkehrung, mit dem Wort „Alles“ die überwältigende Macht ihres Seins. Das Nichtigwerden der Schätze erhält hier kosmische Dimensionen, und auch hier, so muß man schließen, kann Helena-Pandora durch freundliche Rückstrahlung die Wiederherstellung der verblaßten Welt bewirken. Lynkeus nahm die Befehle Fausts mit Verdruß entgegen, denn nun will auch der schenken, wenn er nach den beiden oben zitierten Versen fortfährt: Schon ist Ihr alles eigen was die Burg Im Schoß verbirgt, Besondres Ihr zu bieten Ist unnütz. Geh und häufe Schatz auf Schatz Geordnet an. Der ungeseh’nen Pracht Erhabnes Bild stell auf! Laß die Gewölbe Wie frische Himmel blinken, Paradiese Von lebelosem Leben richte zu. Voreilend ihren Tritten laß beblümt An Teppich Teppiche sich wälzen, ihrem Tritt Begegne sanfter Boden, ihrem Blick, Nur Göttliche nicht blendend, höchster Glanz. 14 Schon einmal sind uns bei Goethe künstliche Paradiese vorgekommen, und zwar in der „dramatischen Grille“ Triumph der Empfindsamkeit von 1777, entstanden also fast fünfzig Jahre früher. Da ist es Prinz Oronaro, der seine Räumlichkeiten in artifizielle Landschaften umgestalten läßt und selbst auf seinen Fahrten eine „Reisenatur“ mit sich führt. Davon weiß sein Diener Merculo zu erzählen: 12 Vgl. S. 101. 13 v. 9352 ff. 14 Akt II, v. 9335 - 9345; vgl. hierzu FA 5, S. 83. <?page no="266"?> 262 Inzwischen, meine schöne Damen, hat der Prinz […] den Entschluß gefaßt, durch tüchtige Künstler sich eine Welt in der Stube zu verschaffen. Sein Schloß ist daher auf die angenehmste Weise ausgeziert, seine Zimmer gleichen Lauben, seine Säle Wäldern, seine Kabinette Grotten, so schön und schöner als die Natur; […] 15 Das innerste Geheimnis dieser künstlich erschaffenen Welt ist der Kasten mit der Puppe, die für den Prinzen stärkere Lebendigkeit besitzt als die ihr gleichende Königin - trotz deren leidenschaftlichen Bemühens um eine Identifikation mit ihr in der Maske der Proserpina. Im Festspiel Pandora sind die beiden Gestalten - Puppe und lebendige Frau - in eins verschmolzen. Für Prometheus ist Pandora eine von den Göttern nachträglich zum Leben erweckte Kunstfigur: „Hephaisten selbst gelingt sie nicht zum zweitenmal! “, ein Wort, das ihm den Tadel seines Bruders Epimetheus einträgt: Auch du erwähnest solchen Ursprungs Fabelwahn? Aus göttlich altem Kraftgeschlechte stammt sie her: Uranione, Heren gleich und Schwester Zeus. 16 Trotzdem erscheint Pandora nur in der Erinnerung der beiden bis auf ihre jenseitigen Worte in der Maske der Eos. Sie bleibt unsichtbar. Helena hingegen läßt keinen Zweifel an ihrer lebensvollen Präsenz, entgegen allem Wissen um den Sachverhalt, daß Faust sie aus dem Totenreich heraufgeholt hat. Es bedarf auch keines Blutes oder roten Weins, sie zum Sprechen zu bringen. Sie lebt, atmet, fürchtet, lernt, liebt und leidet. Aber ein Hauch von Spuk ist dennoch auch um sie: PHORKYAS. Doch sagt man, du erschienst ein doppelhaft Gebild, In Ilios gesehen und in Ägypten auch. HELENA. Verwirre wüsten Sinnes Aberwitz nicht gar. Selbst jetzo, welche denn ich sei, ich weiß es nicht. PHORKYAS. Dann sagen sie: aus hohlem Schattenreich herauf Gesellte sich inbrünstig noch Achill zu dir! Dich früher liebend, gegen allen Geschicks Beschluß. HELENA. Ich als Idol, ihm dem Idol verband ich mich. Es war ein Traum, so sagen ja die Worte selbst. Ich schwinde hin und werde selbst mir ein Idol. 17 In Helena verknüpfen sich viele Fäden. Hinter den Allegorien und in der Symbolik offenbart sich der vielleicht wichtigste Aspekt von Goethes Biographie, seine eigene immer wieder versuchte Rückholung der toten Geliebten. Die ursprünglich vorgesehene Fortführung des Festspiels, Pandorens Wiederkunft 18 , hier ist sie geleistet. Helena ist Pandora. Sie ist umflossen vom Licht der aufgehenden Sonne, sie wird zur Allbeschenkten und Allgebenden. Aber in ihrer Bedrohtheit steht sie 15 FA 5, S. 83. 16 Pandora, v. 601-603. 17 Faust II, v. 8872-8881. 18 Siehe Schema zur Fortsetzung. FA 6, S. 697 ff. Vgl. S. 112. <?page no="267"?> 263 auch für Kore, Iphigenie, Eugenie, und selbst für Gretchen. Hinter ihr aber schimmert auf geheimnisvolle Weise die Gestalt der Schwester auf. Die ihr dargebrachten materiellen Güter können Helena nicht berühren. Lynkeus bleibt unbedankt. Und doch hat er bei ihr einen tiefen Eindruck hinterlassen - mit der Sprache seiner Lieder. Fausts Huldigung übergeht sie so gut wie ganz, denn ihre Gedanken sind anderweitig beschäftigt: Vielfache Wunder seh’ ich, hör’ ich an, Erstaunen trifft mich, fragen möcht’ ich viel. Doch wünscht’ ich Unterricht, warum die Rede Des Manns mir seltsam klang, seltsam und freundlich. Ein Ton scheint sich dem andern zu bequemen, Und hat ein Wort zum Ohre sich gesellt, Ein andres kommt, dem ersten liebzukosen. 19 Im Weiteren erleben wir nun innigste Kommunikation, Vereinigung in der Sprache als einem Lernprozeß, in dessen Verlauf die Griechin Helena in ihr offensichtlich eigenstes Element zurückzufinden weiß, in die deutsche Hochsprache; darin liegt, auf einer höchst persönlichen Ebene, der Nukleus des Helena-Stückes: HELENA. So sage denn, wie sprech’ ich auch so schön? FAUST. Das ist gar leicht, es muß vom Herzen gehn. Und wenn die Brust von Sehnsucht überfließt, Man sieht sich um und fragt - HELENA. Wer mitgenießt. FAUST. Nun schaut der Geist nicht vorwärts, nicht zurück, Die Gegenwart allein - HELENA. Ist unser Glück. FAUST. Schatz ist sie, Hochgewinn, Besitz und Pfand; Bestätigung wer gibt sie? HELENA. Meine Hand. 20 Mittels der Unterschiedlichkeit des sprachlichen Ausdrucks und Könnens wird hier das Problem der verschiedenen Seinsformen demonstriert und überwunden. Dreimal findet Helena das passende Reimwort - die Drei ist eine magische Zahl 21 - damit ist der Seelenbund sprachsymbolisch besiegelt. 22 Aber das Vorwärtsdrängen der Verse, eben zu jedem erwarteten Reimwort hin, macht leicht überhören, daß es hier, über ein sprachliches Liebesspiel hinaus, um des Dichters eigenste Praktik und Erfahrung geht, daß hier eine Methode vorgeführt wird, die sich sonst 19 v. 9365-9372. 20 Vgl. v. 9377-9384. 21 Vgl. Faust I, v. 1531. 22 Vgl. Ernst Beutler, Goethe Faust, 2. Aufl., Wiesbaden 1948. S. 616 unten u. f. <?page no="268"?> 264 nur aus ihren Resultaten erschließen läßt. Der Beginn einer neuen Epoche wird in diesem Dialog anschaulich gemacht. Anfänglich wurde die verewigte Geliebte in der Wolkenerscheinung erblickt, später in der Morgenröte, im umschlingenden Efeu, als Stern. Stumm gibt sie ihre Meinung durch das Buchorakel zu verstehen. Zum direkten Dialog kommt es erst, als sie in Swedenborgischer Manier als ‚Geist’ aus dem Mund oder der Feder einer lebendigen Frau zu kommunizieren beginnt. Der Rat, den sie als Leuconoe in der Elegie erteilt 23 , bezieht sich auf die Möglichkeit geistigen Kontakts mit Hilfe anderer Frauen. Aber der so Belehrte versteht noch nicht. Ein wahrer Dialog kommt zum angenommenen Zeitpunkt, der lange vor der Entstehung der Elegie zu suchen sein muß, noch nicht zustande. Erst im Sonetten-Zyklus und später im Buch Suleika 24 meldet sich die Herrin persönlich zu Wort. Faust und Helena, aus jeglicher Chronologie herausgehoben, legen letztlich (1827) das Geheimnis ihrer Methode offen. Dabei hat das Reimen eine doppelte Funktion. Es signalisiert, wie bereits gesagt, auf sprachlicher Ebene die gelungene Verbindung zwischen verschiedensten Existenzbereichen. Zugleich aber lenkt es formal die Aufmerksamkeit des Lesers oder Hörenden durch sein gespanntes Vorwärtsstreben zum fälligen Reimwort vom eigentlich vermittelten Gehalt des Gesagten ab. Erschien die Geliebte der Elegie als Lehrende, so findet sich Helena in der Rolle der Belehrten. Lynkeus’ lyrische Bekenntnisse haben sie ergriffen. Seine ekstatische Hingabe an ihre Person, die sie in den ‚liebkosenden’ Reimen seiner Lieder als in einem Echo wiederfindet, weckt ihren Wunsch, „auch so schön“ zu sprechen. Daß das Schöne bei Goethe nie für sich allein existiert, sondern seinen Ursprung aus dem Guten und Wahren nimmt, bezeugt Fausts Antwort: „Es ist gar leicht, es muß vom Herzen gehn.“ Das heißt auf der Ebene der Handlung, die Worte müßten echtem und tiefem Gefühl entspringen. Doch bleibt da ein Zweifel. Gute Reime hängen nicht von der Authentizität des Gefühls, auch nicht vom Wahrheitsgehalt der Aussage ab. Schließlich weiß Mephisto trefflich zu reimen. Verstehen wir aber das ‚schöne Sprechen’ als Chiffre der persönlichen Sphäre für transzendente Kommunikation, dann lautet die Antwort, es müsse ganz aus dem Herzen, aus der Sprecherin selber kommen, weshalb es (für sie) „gar leicht“ sei. Auch der anschließende Dialog stimmt nur sehr bedingt zur Situation des Stükkes: „Denn wenn die Brust von Sehnsucht überfließt, / Man sieht sich um und fragt -“ „Wer mitgenießt.“ Faust, am Ziel seiner Sehnsucht angelangt, muß sich wahrlich nicht erst „umsehn“, und Helena, die sich eben vor einem schaurigen Untergang gerettet glaubt, wird sich kaum in koketten Antworten gefallen. Auf der persönlichen Ebene von Dichter und Herrin jedoch geben die Worte Sinn. Sie entsprechen genau der im Sonetten-Zyklus realisierten Methode. Die ‚Frage’ gilt der lebenden Frau, deren rezeptive und kreative Begabung wie ihre seelische Gestimmtheit sie befähigen, unbewußt zur Vermittlerin jenseitiger Liebesbotschaften zu werden, wobei auch ihr eine Glückserfahrung zuteil wird. Die Initiative liegt bei der ‚Toten’, das Fragen beim Lebenden, bis ihm die Gewißheit kommt, 23 Vgl. S. 63 f. 24 „Was bedeutet die Bewegung? “ und „Ach, um deine feuchten Schwingen,“ sind von Goethe überarbeitete Gedichte Marianne von Willemers. FA 3/ 1, S. 93 und 95 und Kommentar S. 1265 und 1277. <?page no="269"?> 265 daß hinter den Worten von Bettina, Minchen, oder später Marianne noch ein anderes Wesen steht, das inspiriert. War es nicht, zum Beispiel, seltsam, daß ihm seine eigene Mutter das Mädchen Bettine, das er bis dahin nie gesehen hatte, als Schwester empfahl 25 , obwohl sie wissen mußte, wie irritiert er solch eine Gleichstellung aufnehmen mußte? 26 Auf jeden Fall brachte die kurze Spanne der jeweiligen, wie immer gearteten Beziehung für die Beteiligten Glück und Bereicherung, und obendrein noch, ob sie sich nun dessen bewußt waren oder nicht, ‚Unsterblichkeit’ im säkularen Sinn. Deshalb auch die Vervollständigung der Frage mit „Wer mitgenießt“. Immer waren aber ‚Genuß’ und Glück in der Gegenwart von kurzer Dauer. Doch dieser kurze Zeitraum der Liebesverwirklichung ist voll intensivsten Lebens. „Nun schaut der Geist nicht vorwärts nicht zurück, / Die Gegenwart allein“ - „Ist unser Glück.“ Voraus oder zurückzudenken, was soll’s, wenn die Gegenwart alle Zeiten in sich schließt, wie im Gedicht Vermächtnis niedergelegt: „Dann ist Vergangenheit beständig, / Das Künftige voraus lebendig, / Der Augenblick ist Ewigkeit.“ 27 Die Faust in den Mund gelegten Worte zur Gegenwart: „Schatz ist sie. Hochgewinn, Besitz und Pfand“, die zunächst tautologisch anmuten, veranschaulichen die Idee einer Verschmelzung der Zeiten, indem sie sie metaphorisch ins Materielle transponieren. Ein „Schatz“ entstammt zumeist vergangenen Tagen, ist geheimnisvoll vorhanden, verborgen, gehütet, vielleicht entdeckt und gehoben. Auf einen „Hochgewinn“ jedoch zielt man, ob in Spiel oder Geschäft, bewußt ab; manchmal fällt er einem aber auch in den Schoß; seine Zeit ist das Jetzt, das sich ihn zueignet, ihn zum „Besitz“ macht, der in die Zukunft reicht und sie mitgestaltet. Das „Pfand“, das einmal später eingelöst werden soll, deutet auf Fortdauer und Anspruch über den Tag hinaus. Es bedarf der Beglaubigung. „Bestätigung wer gibt sie? “ fragt Faust nun nach, und Helena weiß die Antwort und den passenden Reim: „Meine Hand.“ Auch diese Antwort ist wieder bedeutungsgeladen, so spielerisch sie klingt. Zunächst, im Kontext, meint „Hand“ Handschlag, Beglaubigung des Pfandes; des weiteren weist sie auf den Ehebund, wie auch der Verlauf des Stückes nahelegt. Letztlich bedeutet „Hand“ die persönliche Handschrift, den Stil, die unverwechselbare Eigenart, die sich im Geschriebenen niederschlägt. Le style c’est l’homme. Aber was für ein „Pfand“ könnte die aus dem Totenreich ins Leben heraufgeholte Helena bezw. die Geliebte ‚bestätigen’, wenn nicht eines, das erst in einer jenseitigen Welt eingelöst würde? Dies entspricht auch genau der Abfolge der Symbolwörter „Schatz“, „Hochgewinn“, und „Besitz“, zu denen es die abschließende Klimax darstellt. Eingehüllt in Schichten von Metaphorik, Allegorik und Polysemie finden wir hier Goethes ganz persönliche Erwartungshaltung niedergelegt, der die Glückserfahrung des Augenblicks zugleich auch Zusage und Gewähr eines ewigen Bundes bedeutete. Nach dem kommentierenden Chorlied setzt sich der Dialog fort, wie Helena und Faust nie wieder miteinander sprechen werden. Die Verse sind nun gleichmä- 25 Vgl. S. 217. 26 Vgl. S. 188. 27 FA 2, S. 685, v. 28-30. <?page no="270"?> 266 ßig auf beide aufgeteilt, weiterhin fünfhebige Jamben, aber Helena beherrscht nun das Reimen und ist so hingerissen von diesem neuen Können, daß ihr die eigenen Endreime nicht mehr genügen und sie Binnenreime einflicht, die, anders als wenn die Doppellangzeilen zu Vierzeilern aufgebrochen wären, den Gang der Rede nicht hemmen, sondern beflügeln. Im Reim, der Sprache der einander ‚liebkosenden’ Wörter, spiegeln sich die körperlichen Zärtlichkeiten „Schulter an Schulter, Knie an Knie, / Hand in Hand“, wie der Chor kritisch angemerkt hat. In der neuentwickelten Sprache versucht Helena, sich über das Rätsel ihrer Existenz ins klare zu kommen: Ich fühle mich so fern und doch so nah, Und sage nur zu gern: da bin ich! da! Die Form der Verse ist vollendet, die Aussage naiv wie die eines Kindes, das freudig sein Versteck preisgibt und sich ganz dem Glück des Gefundenseins überläßt. Das „Da bin ich! da! “ ist deutlich Antwort auf einen Ruf. Und erst jetzt scheint Faust - scheint auf der erinnerten privaten Ebene dem Dichter - das Geschehen in seinem vollen Umfang zu dämmern und die bedeutungsschwere Gleichzeitigkeit von „fern“ und „nah“ aufzugehen. Zutiefst ergriffen, stammelt er in der von ihr geprägten Sprachform: Ich atme kaum, mir zittert, stockt das Wort, Es ist ein Traum, verschwunden Tag und Ort. Was im ersten Dialog Theorie geblieben ist, wird nun überwältigende Erfahrung, die den Boden unter den Füßen wegzieht. Die Kategorien von Zeit und Raum haben hier keine Gültigkeit mehr. Auch Helena betont wiederum ihre Desorientiertheit: Ich scheine mir verlebt und doch so neu, In dich verwebt, dem Unbekannten treu. Galt „fern“ und „nah“ ihrem Verhältnis zum Raum, so betreffen „verlebt“ (im Sinn von ‚abgelebt’, abgeschieden) und „neu“ die Zeit, die nicht faßbar ist. Fausts Chiron gegenüber geäußerter Wunsch: „So sei auch sie durch keine Zeit gebunden! / Hat doch Achill auf Pherae sie gefunden, / Selbst außer aller Zeit.“ 28 , hat dieses Herausgehobensein vorweggenommen, auch in Hinblick auf den Raum, der durch doppelt falsche, von Chiron nicht korrigierte Ortsangabe 29 als örtlich - wenn auch nicht mythologisch! - belanglos abgetan wird. Nur durch ihr Gefühl weiß sich Helena determiniert: „In dich verwebt, dem Unbekannten treu.“ Für einen Augenblick läßt der Dichter die Geisterfrau völlig aus der Rolle fallen. „Verwebt“, das entspricht Helena so wenig, wie andererseits Pherai, die Stadt von Admet und Alkestis, der Insel Leuke entspricht. Aber entstiegen der allereigensten Sphäre des Dichters, kann sich die Geliebte durchaus als in ihn „verwebt“ bezeichnen, von Ursprung und Ahnen her seinem Leben eingewirkt, ja durch die Mutter Textor 30 28 v. 7434-36. 29 Vgl. Katharina Mommsen, Natur- und Fabelreich in Faust II, Berlin 1968, S. 130 f. 30 Textor, lat., Weber. <?page no="271"?> 267 selbst dem Namen nach ‚verwoben’! Die Treue blieb bestehen, auch wenn der Geliebte für sie in den Jahrzehnten ohne vertrauten Umgang zu einem „Unbekannten“ werden konnte. Die Antwort, die nun folgt, will alle Antinomien auf sich beruhen lassen und setzt Erfahrung gegen Logik, was sich auch in dem tautologischen Superlativ ausspricht: Durchgrüble nicht das einzigste Geschick! Dasein ist Pflicht, und wär’s ein Augenblick. Wieder ist hier ein Echo auf das Gespräch mit Chiron spürbar. […] Welch seltnes Glück: Errungene Liebe gegen das Geschick! Und sollt ich nicht, sehnsüchtigster Gewalt, Ins Leben ziehn die einzigste Gestalt? 31 Was sich für den Sprecher dieser Verse noch getrennt gegenüber stand: „Liebe gegen das Geschick“ und „die einzigste Gestalt“, das hat nun in der Synthese „das einzigste Geschick“ zusammen gefunden und nimmt die weitere allegorische Handlung sprachsymbolisch vorweg. Goethes logisch unhaltbare Superlative haben immer etwas Eschatologisches an sich und Signalcharakter. 32 Das „einzigste Geschick“ weist der folgenden Zeile besondere Bedeutung zu. Nicht ‚Dasein’ im Sinne von ‚Existenz’ ist gemeint mit dem, was „Pflicht“ ist, sondern ganz konkret ‚Da-Sein’ im Sinne von Helenas Selbsterfahrung, ihrem „Da bin ich! da! “. Dieses Da-Sein ist überaus flüchtig und fragil, seine Dauer vielleicht nur ein „Augenblick“ außerhalb von Raum und Zeit, ein ewiger Augenblick, der sich diskursivem Denken entzieht und sich möglicherweise allein erfüllt in einem Blick von Auge zu Auge, in dem eine Grenzüberschreitung erfahren 33 und das Da-Sein eines jenseitigen Wesens geradezu als „Pflicht“ gefordert wird, weil das Leben des Fordernden davon abhängt. (Faust zu Chiron: „Ich lebe nicht, kann ich sie nicht erlangen.“ 34 ) Dem Zuschauer, fast auch dem Leser des Stücks, wird keine Zeit gelassen, diesen Geheimnissen nachzudenken. Phorkyas bricht brüsk in die Idylle ein und lenkt die Aufmerksamkeit von der persönlichen Sphäre weg, indem sie (oder er) parodistischen Spott über die Reimerei ergießt, um sogleich von der sprachlichen Ebene zur mythologischen überzuwechseln, auf der Faust, angeblich von Menelaos mit dem Heer verfolgt, sich nun auch noch in der Rolle des Paris findet, nachdem er die des Achill und des Orpheus schon längst auf sich vereint hat: des ‚besten’ Manns der Antike, des begabtesten und zuletzt auch noch des schönsten. Die neuerlich drohende Opferung Helenas wird nicht vergessen: „Dieser gleich ist am Altare / Neugeschliffnes Beil bereit.“ 35 31 v. 7436 ff. 32 Vgl. z. B. „letztesten“, Elegie, v. 52. Dazu S. 49 f. 33 Vgl. S. 64 f. 34 v. 7445. 35 v. 9433 f. <?page no="272"?> 268 Die Allegorie nimmt nun ihren Fortgang und treibt ihr Spiel mit Zeit und Raum in grandioser Weise, ungeachtet der Tatsache, daß Goethe Wilhelm von Humboldt gegenüber die im Stück beobachtete Einhaltung der aristotelischen Einheiten betonte! 36 Als „Phantasmagorie“ ist das Drama wohl dennoch keinen kategorialen Denkmustern unterworfen und schafft sich die Begriffe um. Wenn „3000 Jahre“ als „Zeiteinheit […] im höheren Sinne“ gelten können, warum dann nicht die ganze Peloponnes als örtliche Einheit? Warum dann nicht Helenas Heimkehr nach Sparta und Lord Byrons Tod in Missolunghi als Abläufe einer Handlung? Das Traumspiel verfährt nach eigenen Regeln, zieht ungeheure Zeiträume zusammen, läßt in Windeseile ein Kind geboren werden, das in Minuten zum Jüngling heranreift, um dann, schuldhaft und glorreich zugleich, sein „Ikaros“-Schicksal zu vollenden. Die Allegorie projiziert das Geheimnis der punktuellen metaphysischen Kommunikation des Dialogs ins Überdimensional-Biologische, das Persönliche ins Historische im Bild der kurzen glückhaften Verbindung von Antike und Moderne in der deutschen Klassik, deren vielversprechendes romantisches Erbe tragisch scheitert. Sprachsymbolisch findet der Vorgang in einem fortschreitenden Überwiegen gereimter Verse seinen Ausdruck, bis zuletzt auch der Chor, der am längsten widerstand, „diesem Schmeichelton geneigt“ (v. 9688) wird, um wenig später im fallenden Maß fünfhebiger, gereimter Trochäen die große Nänie auf Euphorion-Byrons Untergang zu singen, die zugleich auch den Abschied von der neuen Sprache bedeutet. Die Rückkehr ins Geisterreich als entpersönlichte Naturwesen, die die trojanischen Frauen als ihr kommendes Geschick vorauserleben, bedingt auch eine Rückkehr zu antiken Metren. Ebenso legt Helena, ehe sie sich ihrem Kind zuliebe selber opfert, ihre letzten Worte, wieder in den ihr ursprünglich gemäßen Jambischen Trimeter. Nur Mephistopheles-Phorkyas, in der Antike nicht beheimatet, weiß noch Reime zu sprechen (v. 9955 ff.). Faust ist verstummt. Wieder, wie nach dem tragischen Ende des ersten Teils, bleibt seine Trauer ausgespart. Er wird erst wieder Worte finden, wenn er, von Helenas Mantel und Schleier ins „Hochgebirg“ getragen, wörtlich und metaphorisch, Boden unter den Füßen hat. Und als Nachklang des Abschieds, spricht nun auch er in jambischen Trimetern. Wie Phorkyas am Schluß des Helena-Aktes Kothurne, Maske und Schleier ablegt und sich als Mephistopheles zu erkennen gibt, so tritt Goethe nun am Beginn von Akt IV in eigener Person hinter Faust hervor, um in antikem Maß ein Wolkenerlebnis mit Worten zu begleiten: Auf sonnbeglänzten Pfühlen herrlich hingestreckt, Zwar riesenhaft, ein göttergleiches Fraungebild, Ich seh’s! Junonen ähnlich, Leda’n, Helenen, Wie majestätisch lieblich mir’s im Auge schwankt. Ach! schon verrückt sich’s! formlos breit und aufgetürmt, Ruht es in Osten, fernen Eisgebirgen gleich Und spiegelt blendend flüchtger Tage großen Sinn. Doch mir umschwebt ein zarter lichter Nebelstreif Noch Brust und Stirn, erheiternd, kühl und schmeichelhaft. Nun steigt es leicht und zaudernd hoch und höher auf, 36 22. Oktober 1826; HA Briefe 4, S. 205 f. <?page no="273"?> 269 Fügt sich zusammen. - Täuscht mich ein entzückend Bild, Als jugenderstes, längstentbehrtes höchstes Gut? Des tiefsten Herzens frühste Schätze quollen auf, Aurorens Liebe, leichten Schwung bezeichnet’s mir, Den schnellempfundnen, ersten kaum verstandnen Blick, Der, festgehalten, überglänzte jeden Schatz. Wie Seelenschönheit steigert sich die holde Form, Löst sich nicht auf, erhebt sich in den Äther hin, Und zieht das Beste meines Innern mit sich fort. 37 Hier verflicht Goethe das Brockenerlebnis von 1777 mit dem neugeschauten Wolkenbild, das, beide Figuren, Helena und „Aurora“, „die lieblichste der lieblichsten Gestalten“, in eins verschmelzend, die früh Geliebte umkleidet mit der Schönheit und Hoheit der antiken Heroine 38 , ehe er sie wieder zu ihrer allereigensten Anmut und Zartheit zurückkehren läßt. Mit der Veröffentlichung des Stückes feierte der Dichter die fünfzigste Wiederkehr Ihres Todesjahres - oder, wenn man will, ihrer Verklärung. Doch am Himmel, nicht in einem unterirdischen Arkadien, erlebt er nun ihre Präsenz. Die letzten Verse deuten voraus auf die Wegbereiterin zu „höhern Sphären“ am Schluß des gesamten Dramas 39 . 37 IV, Hochgebirg, v. 10048-10066; FA 7/ 1, S. 391 f. 38 Dementsprechend findet sich auch in Paralipomenon 179, WA I. 15. 238, der Hinweis: „Die Wolke steigt halb als Helena nach Süd Ost, halb als Gretchen nach Nordwesten.“ 39 Vgl. Konrad Burdach, Das religiöse Problem in Goethes Faust in Euphorion, Bd. 33, Stuttgart 1932, S. 73 f. <?page no="274"?> 270 11. Andere Grenzüberschreitungen in Faust II 1. Der Kaiser Die „Antecedenzien der Helena“, die Bezeichnung, die Goethe den beiden ersten Akten von Faust II gab 1 , spielen mit verschiedentlichen Vorstellungen eines Durchbruchs in eine jenseitige Welt, wie Goethe sie in antiker, christlicher und orientalischer Tradition vorfand. In keinem Fall gelangen diese Modelle zur dramatischen Darstellung, sie bleiben an das gesprochene Wort des Berichtes, der Instruktion oder Rückschau, an Andeutung mythischer Begebenheiten oder Hinweis auf Literatur gebunden. Im Vergleich dieser ‚Modelle’ läßt sich eine fortschreitende Tendenz hin zu Verschweigen und Verstummen nachweisen, ja bis hin zu einem lediglich aus der Aktstruktur erahnbaren Nachvollzug einer analogen Märchen- Handlung. Dabei scheint in jedem dieser Fälle direkt oder indirekt die bedeutungsgeladene Gestalt einer Frau auf, der Helenas, aber auch anderer. Im ersten Akt von Faust II findet sich der Protagonist erstmals mit Bildern aus dem griechischen Mythos konfrontiert, wie sie, vermischt mit Allegorien menschlicher Tugenden und Laster, der Mummenschanz vorbeiziehen läßt, dazwischen zeitgenössisches Ballett am Hofe Maximilian I. oder eher, einer fiktiven Kaisergestalt, bar aller historischen Züge. Die Moiren, die Schicksalsgöttinnen, treten auf im bunten Karnevalstreiben, aber sie geben sich entschärft, Furien entlarven sich und begeben sich damit ihrer gefährlichen Wirkung. Mit dem tableauhaften Auftritt der Siegesgöttin, hoch oben auf einem Elefanten, den die Vernunft führt - Furcht und Hoffnung angekettet - steigert sich die festliche Stimmung. Dennoch bleibt alles vergleichsweise blaß, bis Mephistopheles und Faust eine ganz neue Intensität in den Umzug bringen und der ratlose Herold, dessen Aufgabe es wäre, die einzelnen Bilder erklärend zu begleiten, bekennen muß: Doch ich fürchte durch die Fenster Ziehen luftige Gespenster, Und von Spuk und Zaubereien Wüßt ich euch nicht zu befreien. 2 Statt des schwerfälligen Elefanten sausen Geisterpferde oder -drachen heran und bringen Faust als Plutus, Gott des Reichtums. Wieder gehört, parallel gesetzt zu Furcht und Hoffnung, ein gegensätzliches Paar zum Ensemble: Geiz (Mephistopheles) und Verschwendung, doch sind sie nicht in Ketten, ja der Knabe Lenker („Bin die Verschwendung, bin die Poesie.“) führt sogar den Wagen des Plutus, ehe er sich verabschiedet. Die Art jedoch, wie diese „Allegorien“ (vgl. v. 5531 f.) mit Schmuck und Perlen, Gold und Flämmchen die Menge betören und letztlich mit dem Hereinbrechen des „großen Pan“ und seinem Gefolge von Nymphen, Faunen, Gnomen und 1 Tagebuch, 17. Dezember, 1826, WA III. 10, S. 283. 2 v. 5500-03. <?page no="275"?> 271 Satyrn eine Feuersbrunst auslösen, das sprengt ihre kategorialen Grenzen. Selbst wenn sich zuletzt alles als Gaukelspiel entpuppt, die Emotionen, Angst vor dem Feuer, Furcht um das Leben des Kaisers in seiner Rolle als „großer Pan“, den die Flammen zu verzehren scheinen, diese Emotionen sind real - panischer Schrekken. Volle sechs Male erscheint in dieser Szene der Name Pan mit dem Attribut ‚groß’ 3 , einem in der Antike dem Gott üblicherweise nicht zugelegten Epitheton. Konnotativ schwingt in der Verbindung eine oft zitierte Stelle aus Plutarch mit. Es ist jene Anekdote, die berichtet, wie Schiffer in der Zeit des Tiberius von der Insel Paxis her den Klageruf „Der große Pan ist tot! “ 4 vernahmen, dem spätere Jahrhunderte eine christliche Deutung geben wollten. 5 Aus der Mummenschanz- Situation erwächst viel. Zum einen hat der Kaiser im Rausch der Stunde seine Unterschrift zur Erstellung des Papiergeldes gegeben (v. 6066-6075), die sich später als katastrophal erweisen wird. Vor allem aber hat er sich mit dem, zumindest vermeintlichen, Tod konfrontiert gefunden, auch wenn er am nächsten Morgen euphorisch über den Vorfall spricht. Sein Thronsaal hatte sich ihm zum Unterwelt-Ambiente gewandelt. Auf Fausts Frage: „Verzeihst du Herr das Flammengaukelspiel? “ berichtet er über seine Erfahrungen: Ich wünsche mir dergleichen Scherze viel. - Auf einmal sah ich mich in glühender Sphäre: Es schien mir fast als ob ich Pluto wäre. Aus Nacht und Kohlen lag ein Felsengrund, Von Flämmchen glühend. Dem und jenem Schlund Aufwirbelten viel tausend wilde Flammen, Und flackerten in Ein Gewölb zusammen. Zum höchsten Dome züngelt es empor, Der immer ward und immer sich verlor. Durch fernen Raum gewundner Feuersäulen Sah ich bewegt der Völker lange Zeilen: Sie drängten sich im weiten Kreis heran Und huldigten, wie sie es stets getan. Von meinem Hof erkannt’ ich ein und andern; Ich schien ein Fürst von tausend Salamandern. 6 Das Stichwort liefert der Name Pluto, lateinische Form des griechischen ‚ Πλούτων ’, nur durch Endung und Akzent von ‚Plutus’ ( Пλοũτος ) unterschieden und dem Ohr oder flüchtigem Lesen im Deutschen leicht verwechselbar. Plutus, der Gott des Reichtums, beherrschte die Szene geraume Zeit. Vom Gott der Unterwelt, von Pluton, ist hier nun die Rede. Es handelt sich um verschiedene Gottheiten, obwohl ja ihr Zuständigkeitsbereich, die Tiefe, Wohnort der abgeschiedenen Seelen, bzw. ihrer beider Zubehör, Lager der im Boden verborgenen Schätze, einerseits Samen der Ackerfrucht, andererseits Gold und Edelgestein, schon in der Antike zu Ver- 3 v. 5804, Bühnenanweisung vor v. 5872, v. 5875, v. 5920, v. 5926, v. 6067. 4 Plutarch, De def. orac. 29, 30. Hederich, Sp. 1867. 5 Euseb., Präp. Ev. V, 17 (Hederich, ebd.). 6 v. 5987-6002. <?page no="276"?> 272 wechslung oder unscharfer Trennung der beiden Gottheiten führte. 7 Im Falle des genannten Verses ist deutlich von Pluton oder Hades die Rede, als der sich der Kaiser in den Flammen erfährt. Aber wie in diesem Mummenschanz Plutus, der Gott des Reichtums, einer griechisch-asiatischen Welt entsprungen scheint, das „gesunde Mondgesicht“ prangend unter dem „Schmuck des Turbans“ (v. 5563 ff.), so vermischen sich in der Vision des Kaisers antik-heidnische, christliche und orientalische Züge. Aufgetreten als „großer Pan“, erlebt er sich des weiteren als griechische Gottheit, doch die Unterwelt in der er sich findet, entspricht keiner antiken Schilderung, ist nicht sumpfig oder von dunklen Gewässern durchflutet. Das Flammenreich, dessen züngelndes Element „zum höchsten Dome“ emporwächst, entstammt eschatologischen Vorstellungen des Christentums, ist das Fegefeuer. Das Symbol des Salamanders bestärkt diese Vorstellung. Der Glaube, der Salamander könne im Feuer leben, ja es sogar löschen, geht auf die Antike zurück 8 und hielt sich weiter im Mittelalter. Emblematisch vertritt das Amphibium das Element des Feuers. Der Spruch ,Ich lebe darin und lösche es aus‘ zum Bild eines Salamanders inmitten von Flammen, war die Devise Franz I. von Frankreich (l515-47) 9 . In der Symbolik der mittelalterlichen Kunst steht der Salamander für den Gerechten, der, Peinigungen standhaltend, ,den Frieden seiner Seele und das Vertrauen auf Gott nicht verliert,‘ aber auch allgemein für die Seele im Fegfeuer. 10 Das „Flammengaukelspiel“ - ein „Scherz“, in den Worten des Kaisers, aber zweifellos für ihn ein ‚sehr ernster Scherz’ 11 - gab ihm die Erfahrung einer Nekyia, eines Kontakts mit dem Totenreich, in der synkretistischen Ausprägung seiner eigenen Vorstellungswelt gemäß. Von einem Regenten der Lebenden wurde er zum Beherrscher der Toten, wie es schon in seiner Bezeichnung als „großer Pan“, also eines als ‚tot’ Bekundeten, angelegt war. Er erlebte sich als „Fürst von tausend Salamandern“, deren menschliches Wesen in Form von „Völkern“ oder auch identifizierbaren Individuen, wie Angehörigen seines Hofes, außer Frage steht. Erst diese Vision einer erfahrbaren Transzendenz bringt den Kaiser auf die Idee, von Faust die Beschwörung von Helena und Paris zu fordern. Doch wie Goethe so gern vorgeht, läßt er den ‚roten Faden’ zunächst durch anderes Geschehen überlagern. Die Papiergeldszene, die neue und völlig verschiedene Probleme aufwirft, lenkt die Aufmerksamkeit in andere Richtung. Goethe liebt zu motivieren. Daß er, im Gegensatz zu Schiller, zu viel motiviere, habe seine Stücke vom Theater entfernt, sagte er zu Eckermann. „Meine Eugenie ist eine Kette von lauter Motiven, und dies kann auf der Bühne kein Glück machen.“ 12 Später wird er, auch in den epischen Werken, zurückhaltender im Motivieren, wird Glieder in der Kette des Handlungsablaufs z. B. der Wanderjahre dem Leser zu finden überlassen oder durch Themenwechsel dem Interesse entziehen. Oft bleiben entscheidende Gelenkstellen im Dunkel. Wie wir die tatsächliche Sanktionierung des Papiergeldes durch die Unterschrift des Kaisers nur aus ihren 7 Vgl. Der Kleine Pauly, Bd. 4, Sp. 957, 23. 8 Aristoteles, Historia Animalium 552 B, Plinius X. Auch in Acerra Philologica, Das dritte Hundert 88; a. a. O., S. 509 f. 9 Vgl. Gerd Heinz-Mohr, Lexikon der Symbole, a. a. O. S. 251. 10 Ebd. 11 Vgl. Goethe an Wilhelm von Humboldt, 15. März 1832; HA Briefe 4, S. 481, Z. 16 ff. 12 Eckermann, 18. Januar 1825, a. a. O., S. 143. <?page no="277"?> 273 Folgen ersehen, so erfahren wir auch erst durch Fausts Forderung an Mephistopheles, Helena und Paris herbeischaffen zu helfen, von seinem dem Kaiser gegebenen diesbezüglichen Versprechen, und auch dies zunächst nur durch Zitieren Dritter, wenn er sich an Mephistopheles wendet: Ich aber bin gequält zu tun, Der Marschalk und der Kämmrer treibt mich nun. Der Kaiser will, es muß sogleich geschehn, Will Helena und Paris vor sich sehn; Das Musterbild der Männer, so der Frauen, In deutlichen Gestalten will er schauen. Geschwind ans Werk ich darf mein Wort nicht brechen. MEPHISTOPHELES. Unsinnig war’s leichtsinnig zu versprechen. (v. 6181-6188) Die wichtige Unterredung zwischen Faust und dem Kaiser bleibt im Dunkel. Kein Zweifel, daß sich der Kaiser dabei auf seine jenseitige Erfahrung berief und Faust, der sie als Plutus mit seinem Feuerspiel ja bewirkt hatte, in die Enge trieb. Vielleicht ging es dem Kaiser im Grunde gar nicht so sehr um die beiden genannten antiken Gestalten, als vielmehr um eine Bestätigung seines Erlebnisses, sozusagen als Garanten für dessen Realität, die er mit plausibler, unverfänglicher Begründung, wachen Sinnes wahrhaben möchte. In der Tradition des Faust-Stoffes gibt es auch andere beschworene Exponenten des Geisterreichs. Hierzu Ernst Beutler in seinem Kommentar zu Faust: Vielleicht kannte Goethe auch das Spruchgedicht von Hans Sachs: Ein wunderbarlich Gedicht keyser Maximiliani von einem nigromanten. Das Gedicht, datiert 1564, behandelt in 178 Versen, was das Faustbuch von 1587 im 33. Kapitel von Karl V. in Innsbruck erzählt. Im Faustbuch erscheinen Alexander der Große und seine Gattin Roxane, bei Hans Sachs Hektor, Helena und Maria von Burgund, des Kaisers einstige Gattin. Eins tags dem keyser obgenannt Auch gen hof kam ein nigromant, Ein schwartzkünstner, der sich anzeiget Dem keyser, der im wurd geneiget, Wie er im kundt herbringen than Drey geist drey namhafter person, Ob die geleich vor langen jarn Mit tode abgeschiden warn, Mit aller form, gstalt und geberden, Wie sie hetten gelebt auff erden. Als zuletzt die verstorbene Gemahlin des Kaisers erscheint, heißt es: Und die lieb thet sein hertz vergwalten, Und mocht sich lenger nit enthalten, Fuhr auff mit hertzlichem verlangen Und wolt mit armen sie umbfangen, Und schrey gar laut: Das ist die recht, Von der mein hertz all freud empfecht! In dem der geist bald schwind und rund <?page no="278"?> 274 Mit eim gräusch auß dem kreis verschwund, Mit eim dampf und lautem gebrümmel; Auch wurd vor dem saal ein gedümmel, Deß der keyser erschrak zu-hand. 13 In ähnlicher Erregung wird Faust nach den Schemen von Helena und Paris fassen und ebenfalls eine Explosion auslösen (v. 6560 ff.). Es ist anzunehmen, daß Goethe mit Sachsens Werken genügend vertraut war, um das Gedicht zu kennen 14 , und die Emotionen dieses Kaisers, die er selber wohl nachvollziehen konnte, in seinem Faust zum Tragen kommen ließ. Mit der neuerdings vollzogenen Einspiegelung eines älteren Dichters bekommt die Verzauberung Fausts durch Helena, über die rein erotische Bestrickung hinaus, eine zusätzliche Tiefendimension, und ein biographisches Element wäre hier, wie so oft, in die Dichtung eingegangen. 2. Der Gang zu den Müttern Wie des Kaisers Abstieg ins Totenreich nur im subjektivierten Bericht vorgeführt wird, so verbleibt auch Fausts Vordringen zum Bereich der Mütter nur durch das gesprochene Wort festgehalten, teils vorweggenommen in Warnung und Instruktion des Mephistopheles, teils von Faust erinnert. Der Vorgang selbst entzieht sich der dramatischen Darstellung und verharrt, bei aller Eindrücklichkeit der beschworenen Bilder im Geheimnisvollen, Numinosen. Goethe berief sich hinsichtlich der „Mütter“ auf eine Stelle bei Plutarch 15 und auf seine eigene Erfindungsgabe. 16 Trotzdem muß er noch aus einer anderen Quelle geschöpft haben, die notwendig auch Mephistopheles mit seiner Beheimatung im jüdisch-christlichen Vorstellungsbereich zugänglich war, denn, obwohl der seine Unzuständigkeit für die Antike statuiert 17 , weiß er dennoch „ein Mittel“, das er dem ungeduldig drängenden Faust zögernd zuletzt preisgibt: Ungern entdeck’ ich höheres Geheimnis. Göttinnen thronen hehr in Einsamkeit, Um sie kein Ort noch weniger eine Zeit, Von ihnen sprechen ist Verlegenheit. Die Mütter sind es! FAUST. aufgeschreckt. Mütter! MEPHISTOPHELES. Schauderts dich? FAUST Die Mütter! - Mütter! - ’s klingt so wunderlich. MEPHISTOPHELES. Das ist es auch. Göttinnen, ungekannt Euch Sterblichen, von uns nicht gern genannt. Nach ihrer Wohnung magst ins Tiefste schürfen; 13 Ernst Beutler in: Goethe, Faust und Urfaust, Wiesbaden 1948, S. 569 so wie Anm. zu v. 6563, S. 581. 14 Vgl. das Gedicht Erklärung eines alten Holzschittes vorstellend Hans Sachsens poetische Sendung, FA 1, S. 357 ff. 15 Plut. Marcellus 22. Vgl. Gottfried Diener, Fausts Weg zu Helena. A.a.O., S.67; desgl. Wilhelm Emrich, Die Symbolik von Faust II, Frankfurt a. M. 1964; S. 212 ff. 16 Eckermann, 10. Januar 1830, a. a. O., S.384. 17 v. 6209 f.; siehe hierzu auch die Laboratoriumsszene im 2. Akt, v. 6970 ff. <?page no="279"?> 275 Du selbst bist Schuld daß ihrer wir bedürfen. FAUST. Wohin der Weg? MEPHISTOPHELES. Kein Weg! Ins Unbetretene, Nicht zu Betretende; ein Weg ans Unerbetene, Nicht zu Erbittende. Bist du bereit? - Nicht Schlösser sind, nicht Riegel wegzuschieben, Von Einsamkeiten wirst umhergetrieben. Hast du Begriff von Öd’ und Einsamkeit? 18 Nachdem Faust die Frage emphatisch mit einem Rückblick auf sein Leben bejaht hat, fährt Mephisto in seiner Belehrung fort: Und hättest du den Ozean durchschwommen Das Grenzenlose dort geschaut, So sähst du dort doch Well auf Welle kommen, Selbst wenn es dir vorm Untergange graut. Du sähst doch etwas. Sähst wohl in der Grüne Gestillter Meere streichende Delphine, Sähst Wolken ziehen, Sonne, Mond und Sterne; Nichts wirst du sehn in ewig leerer Ferne, Den Schritt nicht hören den du tust, Nichts Festes finden wo du ruhst? 19 Und weiter: Ein glühnder Dreifuß tut dir endlich kund Du seist im tiefsten, allertiefsten Grund. Bei seinem Schein wirst du die Mütter sehn, Die einen sitzen, andre stehn und gehn, Wie’s eben kommt. Gestaltung, Umgestaltung, Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung, Umschwebt von Bildern aller Kreatur. Sie sehn dich nicht, denn Schemen sehn sie nur. Da faß ein Herz, denn die Gefahr ist groß Und gehe grad auf jenen Dreifuß los, Berühr ihn mit dem Schlüssel! 20 Die Frage drängt sich auf, woher Mephisto sein Wissen bezieht. In Johann Spies’ Historia von D. Johann Fausten (1587) 21 weiß der Teufel, hier Mephistopholes genannt, genau Auskunft zu geben über Rang und Funktion der Engel und Erzengel, war er ja ehemals selber einer der ihren. Goethes „Mütter“ jedoch deuten auf ein „höheres Geheimnis“, ein Geheimnis der Gottheit, das der Teufel „ungern“ enthüllt: „Von ihnen sprechen ist Verlegenheit.“ Hat Goethe das Mythologem wirklich erfunden - denn die Stelle bei Plutarch gibt außer der bloßen Erwähnung von Muttergottheiten und ihrem Heiligtum bei Engyum in Sizilien nichts her - oder hat er, zumindest eine Anregung noch anderswoher bezogen? 18 v. 6212-17. 19 v. 6239-48. 20 v. 6283-93. 21 Hrsg. von Richard Benz (Reclams Universalbibliothek, Nr. 1515). <?page no="280"?> 276 In Friedrich Christoph Oetingers bereits erwähntem Werk Swedenborg und Anderer irdische und himmlische Philosophie, das Goethe sich nach Weimar kommen ließ, findet sich ein Zitat aus Jakob Böhmes Schriften (S. 7): In dem Buch von der Menschwerdung (Cap.2, § 4) redet J. B. also: „Gott als der ursprüngliche Schöpfer hat in sich sieben Mütter, daraus die prima materia entstehet: alle sieben sind ein einig Wesen; keine ist die erste, keine die letzte; sie haben keinen andern Anfang, als die Eröffnung des ewigen Willens. Der ewige Wille muß attrahirend sein, sonst können sich die sieben Mütter nicht offenbaren; ist er aber attrahirend, d. i. begehrend, so geschieht diß durch Imaginirung in sich selbst, (nicht durch spiegelhafte Repräsentation) dadurch findet er in sich die sieben Mütter oder besser die Sieben Gestalten, da keine die andere, auch keine ohne die andere ist; jede gebiert die andere, wir aber müssen sie getheilt betrachten in der Zahl Sieben.“ 22 Die originäre Schrift, aus der Oetingers Exzerpt stammt, war Goethe, wenn nicht dem Wortlaut, so gewiß dem Gehalt nach, aus seiner Zeit im Klettenbergischen Kreise bekannt, dessen theologische und und alchimistische Studien in einem Schrifttum wurzelten, das Böhmes Gedankengut rezipiert und weitergegeben hatte. Böhmes Namen erwähnt Goethe nur ein einziges Mal, indem er ihn vergleichsweise heranzieht, um seine eigene Erfahrung der plötzlichen Bereicherung und Vertiefung seines Kunstverständnisses deutlich zu machen, als ihm in Italien ein Übermaß an Kunstwerken aus Antike und Renaissance überwältigend entgegentrat: Viele bedeutende Büsten versetzen mich in die alten herrlichen Zeiten. Nur fühle ich leider, wie weit ich in diesen Kenntnissen zurück bin, doch es wird vorwärts gehen, wenigstens weiß ich den Weg. Palladio hat mir ihn auch dazu, und zu aller Kunst und Leben geöffnet. Es klingt das vielleicht ein wenig wunderlich, aber doch nicht so paradox, als wenn Jakob Böhme, bei Erblikkung einer zinnernen Schüssel, durch Einstrahlung Jovis, über das Universum erleuchtet wurde. 23 Wie es ihm so oft beliebt, lenkt Goethe nach diesem aufschlußreichen Vergleich die Aufmerksamkeit des Lesers im unmittelbar Folgenden wieder auf andere Gegenstände. Das als Paradoxon definierte und etwas abgewertete Erlebnis Böhmes - heute würde man es eine ‚Epiphanie’-Erfahrung nennen - mußte überaus stark auf Goethes Vorstellungskraft gewirkt haben, daß es ihm als das passende Analogon zu seiner eigenen Weiterentwicklung in den Sinn kam, inmitten der Flut von neuen Eindrücken und nach Jahren anderer Okkupation seines Interesses. Seltsam ist, daß die Erwähnung Böhmes in einem Paragraphen erfolgt, der mit einer scharfen Absage an die mittelalterliche Baukunst endet, an eine Welt also, in der Böhme mehr beheimatet war als in der Epoche, in die sein Leben tatsächlich fiel. Dennoch fand Goethe zur Vermittlung seiner Bewußtseinserweiterung offenbar kein besseres Beispiel für diejenigen, die wissen sollten, was er meinte. 22 Friedrich Christoph Oetinger, a. a. O., S.12. Siehe hierzu Ulrich Gaier, Goethe, Faustdichtungen, Stuttgart 1999. Bd. 2 (Kommentar I) S. 640 f. 23 Ital. Reise, 8. Oktober 1786; MA 15, S. 103. <?page no="281"?> 277 Abraham von Franckenberg berichtet in seiner Lebensbeschreibung Jakob Böhmes, wie Böhme […] anno 1600, als im 25. Jahre seines Alters, zum andernmal vom Göttlichen Licht ergriffen, und mit seinem gestirnten Seelen-Geiste durch einen gählichen Anblick eines Zinnernen Gefäßes (als des lieblich Jovialischen Scheins) zu dem innersten Grunde oder Centro der geheimen Natur eingeführet; Da er als in etwas zweifelhaft, um solche vermeinte Phantasei aus dem Gemüte zu schlagen zu Görlitz vor dem Neyßtore (allwo er an der Brücken seine Wohnung gehabt) ins Grüne gegangen, und dort nichts destoweniger solchen empfangenen Blick je länger je mehr und klarer empfunden, als daß er vermittelst der angebildeten Signaturen oder Figuren, Lineamenten und Farben, allen Geschöpfen gleichsam in das Herz und in die innerste Natur hineinsehen können […], wodurch er mit großen Freuden überschüttet, stille geschwiegen, Gott gelobet, seiner Haus-Geschäfte und Kinder-Zucht wahrgenommen, und mit jedermann fried- und freundlich umgegangen, und von solchem seinem empfangenen Lichte, und innern Wandel mit GOtt und der Natur, wenig oder nichts gegen jemanden gedacht. 24 Der Bericht sei, zur Anekdote verkürzt, in pietistischen und Herrnhuter Kreisen häufig nacherzählt worden; daß Goethe sich näher mit Jakob Böhme beschäftigt habe, gehe aus dem Zitat nicht hervor, so die Herausgeber. 25 Der Gang zu den Müttern scheint dem zu widersprechen. 26 Es fällt auf, daß Goethe in seiner Erfahrung des Einbruchs neuer Erkenntnisse im Vergleich mit der Böhmes das Wort „wunderlich“ verwendet: „Es klingt das vielleicht ein wenig wunderlich […]“ und desgleichen Faust, da er zum erstenmal die Mütter nennen hört: „Die Mütter! Mütter! - ’s klingt so wunderlich.“, wobei Mephistopheles ihm beipflichtet: „Das ist es auch.“ Fausts Reaktion auf die Nennung der „Mütter“, teils Schauder, teils distanziert-kritische Abwehr, mag durchaus Goethes eigene Antwort auf Böhmes krauses Denken gewesen sein, ob er es nun, über die oben zitierte Stelle hinaus, im Wortlaut oder aus der hermetischen Literatur von Böhmes Nachfolgern kannte. Noch ein weiteres Mal bekennt Faust sein Grauen: FAUST. schaudernd Den Müttern! Trifft’s mich immer wie ein Schlag! Was ist das Wort das ich nicht hören mag? MEPHISTOPHELES. Bist du beschränkt, daß neues Wort dich stört? Willst du nur hören was du schon gehört? Dich störe nichts wie es auch weiter klinge, Schon längst gewohnt der wunderbarsten Dinge. 27 Der kundige Mephisto korrigiert Fausts „wunderlich“ zu „wunderbar“. (Mag sein, daß Goethe hier mit der Einblendung eines früheren Ausspruchs, der einen Wendepunkt in seinem Leben kommentierte und ihm daher wohl präsent war, eine Anspielung auf Böhme geben wollte, die sich später, gesteigert, noch wiederholen 24 Goethe, Italienische Reise, MA, Bd. 15, Komm. zu S. 103, S. 861. 25 Ebd. 26 Vgl. Julius Richter, Jakob Boehme und Goethe, in Jb. des Freien Deutschen Hochstifts, MCMXXXIV/ V, hrsg. von Ernst Beutler, Frankfurt am Main. S. 3-33. 27 v. 6265-70. <?page no="282"?> 278 soll.) Faust, der Mephistos Tadel nicht aufgenommen zu haben scheint, fährt, wie in Auseinandersetzung mit sich selbst, monologisch fort: Doch im Erstarren such ich nicht mein Heil, Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil; Wie auch die Welt ihm das Gefühl verteure, Ergriffen, fühlt er tief das Ungeheure. 28 Am 10. Januar 1830 vermerkt Eckermann Goethes Vorlesen der Mütter-Szene: Das Neue, Ungeahndte des Gegenstandes sowie die Art und Weise, wie Goethe mir die Szene vortrug, ergriff mich wundersam <! >, so daß ich mich ganz in die Lage von Faust versetzt fühlte, den bei der Mitteilung des Mephistopheles gleichfalls ein Schauer überläuft. Ich hatte das Dargestellte wohl gehört und wohl empfunden, aber es blieb mir so vieles rätselhaft, daß ich mich gedrungen fühlte, Goethe um einigen Aufschluß zu bitten. Er aber, in seiner gewöhnlichen Art, hüllte sich in Geheimnisse, indem er mich mit großen Augen anblickte und mir die Worte wiederholte: Die Mütter! Mütter! - ’s klingt so wunderlich! „Ich kann Ihnen weiter nichts verraten“, sagte er darauf, „als daß ich beim Plutarch gefunden, daß im griechischen Altertume von Müttern als Gottheiten die Rede gewesen. Dies ist alles, was ich der Überlieferung verdanke, das übrige ist meine eigene Erfindung. Ich gebe Ihnen das Manuskript mit nach Hause, studieren Sie alles wohl und sehen Sie zu, wie Sie zurecht kommen. Ich war darauf glücklich bei wiederholter ruhiger Betrachtung dieser merkwürdigen Szene und entwickelte mir über der Mütter eigentliches Wesen und Wirken, über ihre Umgebung und Aufenthalt, die nachfolgende Ansicht. Der Hinweis auf Plutarch vis à vis Mephistos Feststellung: „Das Heidenvolk geht mich nicht an, / Es haust in seiner eignen Hölle“, nötigt Eckermann keine Frage ab. Der nächste Absatz versucht eine Paraphrase der Verse 6239-48: Könnte man sich den ungeheuren Weltkörper unserer Erde im Innern als leeren Raum denken, so daß man Hunderte von Meilen in einer Richtung darin fortzustreben vermöchte, ohne auf etwas Körperliches zu stoßen, so wäre dieses der Aufenthalt jener unbekannten Göttinnen, zu denen Faust hinabgeht. Sie leben gleichsam außer allem Ort, denn es ist nichts Festes, das sie in einiger Nähe umgibt; auch leben sie außer aller Zeit, denn es leuchtet ihnen kein Gestirn, welches auf- oder unterginge und den Wechsel von Tag und Nacht andeutete. An diesem Punkt wandelt sich plötzlich der Stil. Unverkennbar setzt hier Goethe selber fort, indem er in Eckermanns Rolle schlüpft, wie Mephisto in den Mantel des Faust in den Szenen mit dem Schüler bzw. Baccalaureus (v. 1846 ff. und v. 6616 ff.): So, in ewiger Dämmerung und Einsamkeit beharrend, sind die Mütter schaffende Wesen, sie sind das schaffende und erhaltende Prinzip, von dem alles ausgeht, was auf der Oberfläche der Erde Gestalt und Leben hat. Was zu atmen aufhört, geht als geistige Natur zu ihnen zurück, und sie bewahren es, bis es 28 v. 6271-74. <?page no="283"?> 279 wieder Gelegenheit findet, in ein neues Dasein zu treten. Alle Seelen und Formen von dem, was einst war und künftig sein wird, schweift in dem endlosen Raum ihres Aufenthaltes wolkenartig hin und her; es umgibt die Mütter, und der Magier muß also in ihr Reich gehen, wenn er durch die Macht seiner Kunst über die Form eines Wesens Gewalt haben und ein früheres Geschöpf zu einem Scheinleben hervorrufen will. Die ewige Metamorphose des irdischen Daseins, des Entstehens und Wachsens, des Zerstörens und Wiederbildens ist also der Mütter nie aufhörende Beschäftigung. Und wie nun bei allem, was auf der Erde durch Fortzeugung ein neues Leben erhält, das Weibliche hauptsächlich wirksam ist, so mögen jene schaffenden Gottheiten mit Recht weiblich gedacht, und es mag der ehrwürdige Name Mütter ihnen nicht ohne Grund beigelegt werden. Freilich ist dieses alles nur eine poetische Schöpfung; allein der beschränkte Mensch vermag nicht viel weiter zu dringen, und er ist zufrieden, etwas zu finden, wobei er sich beruhigen möchte. Wir sehen auf Erden Erscheinungen und empfinden Wirkungen, von denen wir nicht wissen, woher sie kommen und wohin sie gehen. Wir schließen auf einen geistigen Urquell, auf ein Göttliches, wofür wir keine Begriffe und keinen Ausdruck haben und welches wir zu uns herabziehen und anthropomorphisieren müssen, um unsere dunkelen Ahndungen einigermaßen zu verkörpern und faßlich zu machen. So sind alle Mythen entstanden, die von Jahrhundert zu Jahrhundert in den Völkern fortlebten, […] An dieser Stelle, so scheint es, nimmt wieder Eckermann die Feder, ehe der Eintrag schließt: „und ebenso diese neue von Goethe, die wenigstens den Schein einiger Naturwahrheit hat und die wohl den besten gleichzustellen sein dürfte, die je gedacht worden.“ Faust wird den gefährlichen Weg oder Nicht-Weg zu den Müttern antreten. Was dies bedeutet, findet sich verschlüsselt in Mephistos Rat: „Versinke denn! Ich könnt’ auch sagen: steige! / ’S ist einererlei.“ Hier geht es um mystische Versenkung oder ekstatische Erhebung, jedenfalls um ein Transzendieren in eine Sphäre, in der die Kategorien von Raum und Zeit keine Gültigkeit haben, ein Eintauchen in die schöpferischen Kräfte der Gottheit, das die Sinne verwirren und das Leben kosten kann. Rein von der Sprache her betrachtet, ist es ein Gegenstück zum biblischen Ausdruck „zu den Vätern versammelt werden“ (1. Mose 25,8) 29 oder ‚ad patres’ gehen, das heißt: sterben. Was immer der Schlüssel, mit dem Mephisto Faust ausgestattet hat, bedeuten mag, vielleicht den Schüssel zu hermetischem Schrifttum - er birgt Gefahr in sich. Mephistopheles hat einmal schon vor der Gefahr gewarnt (v. 6291). Nun schickt er dem Versunkenen (oder Erhobenen) noch einen Stoßseufzer und eine amüsierte Frage nach: Wenn ihm der Schlüssel nur zum besten frommt! Neugierig bin ich ob er wieder kommt? 30 Faust kommt wieder. Priesterlich gekleidet „steigt“ er auf die Bühne „herauf“. Wenn er nun seine Beschwörungsformel, wie es in der Regieanweisung heißt: 29 Vgl.Wahlverwandtschaften, II, 2, aus Ottiliens Tagebuch; FA 8, S. 403: „[…] Zu den Seinigen versammelt werden, ist ein so herzlicher Ausdruck.“ 30 v. 6305 f. <?page no="284"?> 280 „großartig“ spricht, so heißt das noch lange nicht, daß die ganze Szene nun wieder als Gaukelspiel gedacht ist. Es geht nicht an, bühnentechnische Überlegungen zur Laterna Magica in die Handlung hineinverlegen zu wollen. 31 Faust spricht „großartig“, denn: „Nur die Lumpe sind bescheiden; / Brave freuen sich der Tat.“ 32 Wer in Goethes Sprache eingelesen ist, weiß, daß die Worte, die Faust spricht, ehe er den Weihrauchnebel erzeugt, unzweideutig echt und feierlich gemeint sind, von Faust, wie auch vom Dichter selbst im Sinne einer Verbildlichung schöpferischer Kräfte: In eurem Namen, Mütter, die ihr thront Im Grenzenlosen, ewig einsam wohnt, Und doch gesellig. Euer Haupt umschweben Des Lebens Bilder, regsam, ohne Leben. Was einmal war, in allem Glanz und Schein, Es regt sich dort; denn es will ewig sein. Und ihr verteilt es, allgewaltige Mächte, Zum Zelt des Tages, zum Gewölb der Nächte. Die einen faßt des Lebens holder Lauf, Die andern sucht der kühne Magier auf; In reicher Spende läßt er, voll Vertrauen, Was jeder wünscht, das Wunderwürdige schauen. 33 Dies klingt ganz stark an das ‚Prooemion’ an, das die Gedichte der Abteilung Gott und Welt der Sammlung von 1827 einleitet und den christlichen Bekreuzigungssegen „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“ paraphrasiert und zugleich interpretiert: Im Namen dessen der Sich selbst erschuf! Von Ewigkeit in schaffendem Beruf; In Seinem Namen der den Glauben schafft, Vertrauen, Liebe, Tätigkeit und Kraft; In Jenes Namen, der, so oft genannt, Dem Wesen nach blieb immer unbekannt: So weit das Ohr, so weit das Auge reicht Du findest nur Bekanntes das Ihm gleicht, Und deines Geistes höchster Feuerflug Hat schon am Gleichnis, hat am Bild genug; Es zieht dich an, es reißt dich heiter fort, Und wo du wandelst schmückt sich Weg und Ort: Du zählst nicht mehr, berechnest keine Zeit, Und jeder Schritt ist Unermeßlichkeit. 34 In Fausts Beschwörungsworten erinnert nicht nur die ‚Namen’-Formel an das Prooemion. In beiden Gedichten finden wir ein Eintauchen in die schöpferische Sphäre der Gottheit angedeutet, in der die „Bilder“, jenseits von Raum und Zeit, 31 Siehe Albrecht Schöne in FA 7/ 2, S. 473 und 479 ff. 32 Rechenschaft, v. 71 f.; FA 2, S. 94. 33 v. 6427-38. Die Steigerung von ‚wunderlich’ zu ‚wunderbar’ und, letztlich, ‚wunderwürdig’ könnte als verschlüsselter Hinweis auf Jakob Böhme zu deuten sein. 34 FA 2, S. 489. <?page no="285"?> 281 ihr eigenes Leben haben und als Gleichnisse dem „höchsten Feuerflug“ des menschlichen Geistes zugänglich werden können. Ursprünglich hieß es im Faust-Text: „Die einen faßt des Lebens holder Lauf, / Die andern sucht getrost der Dichter auf“. 35 Wozu es der Kühnheit des Magiers bedarf, das darf der Dichter „getrost“ tun kraft seines Amtes und der Gabe, zu schaffen wie die Natur und das heißt letztlich, ähnlich wie Gott selbst, der sich in ihrem Wirken offenbart. Aber noch ist Faust nicht so weit, noch weiß er Bilder nicht zu halten, denn auch geistige Gebilde treten nicht fertig ‚ins Leben’, sondern müssen, von der Zeugung und ihrem Heranwachsen an, als sich entwickelnde Gestalten aufgefaßt - „ausgetragen“ werden. Das gelingt Faust mit Helena erst nach der „Klassischen Walpurgisnacht“, in der er nach seinem Traum sogar ein zweites Mal ihre Zeugung miterlebt 36 (v. 7275-7306), ehe Chiron ihm ihre Kindheit lebendig machen wird. Der erste und unvorbereitete Anblick Helenas in ihrer vollendeten Gestalt wirft Faust buchstäblich um und bewirkt eine koma-artige Abkehr vom äußeren Leben. Erst in ihrem eigenen, dem antiken Umfeld wird er wieder zu sich kommen. Der Gang zu den Müttern bleibt insofern wirksam, als er ihn gelehrt hat, sich außerhalb von Raum und Zeit zu bewegen. Ganz klar wird dies an der Gestalt des Homunkulus demonstriert. Homunkulus stellt einen Aspekt von Fausts geistiger Existenz dar und zwar sein historisches Wissen. Homunkulus ist die Allegorie einer Wissenschaft, die sich als abgekapselt, unfertig und unzulänglich begreift. Erst indem er sich selber aufgibt, hingibt an die aphroditengleiche Gestalt der Galathea, um mitsamt seiner schirmenden Glashülle an ihrem Wagen zu zerschellen, bricht er Bahn für die Herrschaft des Eros und bereitet den Weg für Fausts erfolgreichen Gang in den Orkus. Erst wenn das diskursive Denken abtritt zugunsten eines mythologischen, oder eher zugunsten eines Eintauchens in ein Reich der Potentialität, wird die Verlebendigung eines abgeschiedenen Wesens möglich. Das ahnt auch Homunkulus, wenn er bei der Landung auf den Pharsalischen Feldern zu Mephistopheles, über den noch immer schlafenden Faust hinweg, sagt: […] setz’ ihn nieder Deinen Ritter, und sogleich Kehret ihm das Leben wieder, Denn er sucht’s im Fabelreich. FAUST den Boden berührend Wo ist sie? HOMUNCULUS Wüßten’s nicht zu sagen, Doch hier wahrscheinlich zu erfragen. In Eile magst du, eh’ es tagt, Von Flamm’ zu Flamme spürend gehen: Wer zu den Müttern sich gewagt Hat weiter nichts zu überstehen. 37 35 Paralipomenon I H57. FA 7/ 2, S. 623. 36 v. 6903-20. 37 v. 7052-61. <?page no="286"?> 282 3. Cornelia, die Frau des Pompeius Die Grenzüberschreitungen ins Purgatorium und ins Reich der Mütter vollziehen sich, wie bereits gesagt, nicht in der dramatischen Ausführung, sondern gespiegelt in narrativer Sprache. Unbeschrieben und bloß angedeutet, finden sie sich darüber hinaus zu Beginn und am Ende der Faust-Handlung der Klassischen Walpurgisnacht. Hinter Erichthos Monolog muß bekanntlich ihre grausige Totenbeschwörung aus dem Sechsten Buch von Lukans Bellum civile (oder Pharsalia) 38 mitverstanden werden. Die Hexe, die mit schaurigem Ritual und ekelerregenden Mitteln einen am Tage gefallenen Soldaten vom Tode zurückholt, um dem Sohn des Pompeius Magnus den Ausgang der Schlacht vorherzusagen, welche auf den Pharsalischen Feldern zwischen seinem Vater und Caesar für den nächsten Tag bevorstand, erscheint bei Goethe in einem milderen Licht, als eine weise, ja sogar rücksichtsvolle Frau: Zum Schauderfeste dieser Nacht, wie öfter schon, Tret’ ich einher, Erichtho, ich die düstere; Nicht so abscheulich wie die leidigen Dichter mich Im Übermaß verlästern… Endigen sie doch nie, In Lob und Tadel… Überbleicht erscheint mir schon Von grauer Zelten Woge weit das Tal dahin, Als Nachgesicht der sorg- und grauenvollsten Nacht. Wie oft schon wiederholt sich’s! Wird sich immerfort In’s Ewige wiederholen… Keiner gönnt das Reich Dem Andern, dem gönnt’s keiner der’s mit Kraft erwarb Und kräftig herrscht. Denn jeder, der sein innres Selbst Nicht zu regieren weiß, regierte gar zu gern Des Nachbars Willen, eignem stolzen Sinn gemäß … Hier aber ward ein großes Beispiel durchgekämpft, Wie sich Gewalt Gewaltigerem entgegenstellt, Der Freiheit holder tausendblumiger Kranz zerreißt, Der starre Lorbeer sich ums Haupt des Herrschers biegt. Hier träumte Magnus früher Größe Blütentag, Dem schwanken Zünglein lauschend wachte Cäsar dort! Das wird sich messen. Weiß die Welt doch wem’s gelang. Wachfeuer glühen, rote Flammen spendende, Der Boden haucht vergoßnen Blutes Widerschein, Und angelockt von seltnem Wunderglanz der Nacht, Versammelt sich hellenischer Sage Legion. Um alle Feuer schwankt unsicher, oder sitzt Behaglich, alter Tage fabelhaft Gebild … Der Mond, zwar unvollkommen, aber leuchtend hell, Erhebt sich, milden Glanz verbreitend überall; Der Zelten Trug verschwindet, Feuer brennen blau. Doch! über mir! welch unerwartet Meteor? Es leuchtet und beleuchtet körperlichen Ball. Ich wittre Leben. Da geziemen will mirs nicht 38 Lukan, Pharsalia VI, v. 430-830; (Verwendete Ausgabe: Housman, Oxford 1938). <?page no="287"?> 283 Lebendigem zu nahen, dem ich schädlich bin; Das bringt mir bösen Ruf und frommt mir nicht. Schon sinkt es nieder. Weich’ ich aus mit Wohlbedacht! 39 Mit dem Schluß des Monologs bringt Goethe etwas wie eine Rehabilitierung Erichthos 40 : da sie um die Schädlichkeit ihres Wesens für Lebendiges weiß, zieht sie sich zurück, wenn auch weniger um der Ankömmlinge willen, als um sich selbst vor neuerlicher Schmähung ihres Namens und Beunruhigung ihres Innern zu bewahren. Der neue Blick auf die Nekromantin schließt jedoch nicht die gleichzeitige Verurteilung ihrer Methode der Kommunikation mit der Geisterwelt aus, der Rückbannung der abgeschiedenen Seele in den toten Leib. Erichtho hat ihren Lukan - die anderen „leidigen Dichter“ wie Ovid oder Dante 41 zählen da weniger - genau gelesen. Daß diese thessalische Hexe ihr Auftreten als literarische Figur kritisch reflektiert, gelassen und distanziert, trägt einerseits zu einem positiveren Charakterbild bei und bietet andererseits dem Leser eine pikante ironische Pointe. 42 Die ungewöhnlich häufig gesetzten Auslassungspunkte geben daher den ausgesparten Gedanken eine zwiefache Bedeutsamkeit. Erichthos historische Reflexionen erweisen sie, gleich ihrem Dichter Lucan, als Anhängerin des Pompeius, des Verteidigers der Freiheit Roms. Dennoch weiß sie seine Glorifizierung sowie die verzerrte Darstellung Caesars für sich zurechtzurücken, fänden die Dichter doch nie ein Ende mit Lob und Tadel! Das betrifft sie selber wie Pompeius und den späteren Diktator. Damit äußert sich historische Kenntnis und ebenso Vertrautheit mit Lukans Werk über das sechste Buch hinaus, die Ellipse gilt den zahllosen Geschichtsfälschungen bzw. uminterpretierten Passagen der Pharsalia 43 und betont ex negativo die eigenständige Existenz der Sprecherin außerhalb der diskriminierenden Verse. Trotz der kritischen Distanz folgt sie dem Dichter, wo es um die ganz private Sphäre von Pompeius’ Leben geht: „Hier träumte Magnus früher Größe Blütentag“. Der Traum ließ Pompeius in der Nacht vor der Schlacht seinen Triumph als römischer Feldherr von 79 nochmals durchleben, den er sich nach Siegen in Africa erkämpfen mußte, zu jung für einen Triumph in Anbetracht seiner fünfundzwanzig Jahre und ohne die notwendige vorherige Bekleidung eines Amtes. „[…] mag sein“, sagt Lukan, „daß am Ende seines Glücks seine sorgenschweren Gedanken zurück zu frohen Zeiten flüchteten, mag sein, daß der Traum in gewohntem Umgang das Gegenteil der Bilder prophezeite […], mag sein, daß Fortuna ihm, weil er die Heimat fürderhin nicht wiedersehen durfte, Rom auf diese Weise gönnte.“ 44 Wie Erichtho um den Traum des Pompeius weiß, so hat sie auch Kenntnis von den anderen Vorgängen der „sorg- und grauenvollsten Nacht“, die der Schlacht vorausging. „Wie oft schon wiederholt sich’s! Wird sich immerfort / In’s Ewige wieder- 39 v . 7005-39 . 40 Ovid, Her., XV, 139. In einigen MSS („erictho“, „ericto“, „hericto“ anstelle von „Enyo“). 41 Divina Com. Inferno IX, 22 ff. 42 Vgl. die Stellungnahme des Euripides zu Wielands Alzeste in Goethes früher Farce Götter, Helden und Wieland in: Der junge Goethe in seiner Zeit, hrsg. von Karl Eibl, Frankfurt 1998. Bd 1, S. 366 ff. 43 Siehe Lucanus, Bellum civile / Der Bürgerkrieg, herausgegeben und übersetzt von Wilhelm Ehlers. München 1973; Erläuterungen, S. 507 ff. 44 Lucanus, Bellum civile. (Pharsalia) VII, 19-24; ebd., S. 292 f. <?page no="288"?> 284 holen …“ - das gilt den Vorbereitungen für die Schlacht und den nicht endenden Machtkämpfen, aber auch - und hier berührt Goethe ohne Worte das Thema, das ihn selbst lebenslang beschäftigt hat, - die Trennung von Liebenden durch den Tod. Es ist anzunehmen, daß das Drama, das sich, nach Lukan, in jener Nacht im Zelt des Pompeius abspielt, zumindestens ebenso sehr zur Wahl von Ort und Zeit der Klassischen Walpurgisnacht geführt hat, wie historisch-politische Überlegungen und der Vorgang der Totenbeschwörung. Die Auslassungspunkte an dieser Stelle von Erichthos Monolog wie auch an anderen, deuten auf viel Gedachtes und Unausgesprochenes. Das besonders klein gehaltene, endungslose Wort „sorg-“ gibt das Stichwort für Phars. V, v. 734 ff. mit der flektierten Form von ‚cura’ im zweiten Vers: nocte sub extrema pulso torpore quietis dum fovet amplexu gravidum Cornelia curis pectus et aversi petit oscula grata mariti, umentes mirata genas percussaque caeco volnere non audet flentem deprendere Magnum. Als Cornelia im Halbschlummer am Ende der Nacht ihres Gatten sorgenschwere (von Sorgen schwere) Brust herzlich umfing und, während er sich abwandte, seine lieben Lippen suchte, war sie von der Nässe seiner Wangen betroffen und fühlte dunkel einen Stich, wagte aber nicht, Magnus beim Weinen zu ertappen. 45 Pompeius, der seine Gattin Cornelia über alles liebte, hatte beschlossen, sie vor den Gefahren der bevorstehenden Entscheidungsschlacht zu bewahren, und Anstalten getroffen, sie auf das sichere Lesbos bringen zu lassen. Er hatte es aber bis zu diesem Augenblick nicht über sich gebracht, es ihr auch mitzuteilen. Nun bricht seine unumstößliche Maßnahme über die Ahnungslose herein. Sie wehrt sich, möchte bei ihm bleiben und versucht mit all ihrer Überredungskunst, ihn zudem von der Unklugheit seines Vorgehens zu überzeugen. Dennoch weiß sie, daß sie ihn nicht umstimmen kann, und beide ahnen in Resignation den für Pompeius katastrophalen Ausgang der Schlacht voraus. Tatsächlich wird Lesbos ihm nach seiner Flucht den Tod bringen 46 , wie Cornelia befürchtet, wenn sie nach vielen Klagen und Anklagen sagt: hoc precor extremum: si nil tibi victa relinquent tutius arma fuga, cum te commiseris undis, quolibet infaustam potius deflecte carinam; litoribus quaerere meis. sic fata relictis exiluit stratis amens tormentaque nulla volt differre mora, non maesta pectora Magni sustinet amplexu dulci, non colla tenere, extremusque perit tam longi fructus amoris, praecipitantque suos luctus neuterque recedens sustinuit dixisse vale vitamque per omnem 45 A. a. O., S. 234 f. Die Übersetzung hat im Text für „Magnum“ „den großen Mann“, hier jedoch wohl Eigenname. 46 Acerra Philologica, Das dritte Hundert 85; a. a. O., S.505 ff. <?page no="289"?> 285 nulla fuit tam maesta dies; nam cetera damna durata iam mente malis firmaque tulerunt. 47 „Hier meine letzte Bitte: wenn ein verlorener Waffengang dir keinen anderen Ausweg läßt als Flucht und du dich dem Meer vertraust, so steuere dein Unglücksschiff zu jedem anderen Ziel; an meinem Strand wird man dich suchen.“ Nach diesen Worten sprang sie außer sich vom Lager fort und wollte ihre Martern keinen Augenblick verschieben. Sie brachte es nicht über sich, Pompeius’ kummervolle Brust und seinen Hals zärtlich im Arm zu halten: da wurde die letzte Ernte jahrelanger Liebe vertan, da wollten sie rasch zu ihrer Trauer kommen, da vermochte keiner, sich umzuwenden und Lebewohl zu sagen, da wurde dieser Tag zum traurigsten in ihrem ganzen Leben; denn das fernere Ungemach zu tragen, waren ihre Herzen nunmehr leidgehärtet und stark genug. 48 Es ist anzunehmen, daß Goethe, zumal bestärkt durch den Namen Cornelia, bei allen äußeren Unterschieden in den Versen Lukans eine Parallele zum eigenen Erleben fand, möglicherweise zum letzten Abschied in Emmendingen 1775, als die Schwester ihn vielleicht bat, sie mitzunehmen bei seiner geplanten Flucht vor dem Vater - für Pompeius ging die Gefahr von seinem ehemaligen Schwiegervater Caesar aus - und sie aus ihrer unglücklichen Ehe zu retten, was er wohl ablehnte. In frühen Jahren hatten sie beide ein Leben zu zweit im Sinn gehabt (vgl. S. 197 f.), nun aber war sie gebunden. Was sich am Beginn seiner ersten Schweizer Reise damals in Emmendingen zutrug, läßt sich höchstens aus Schlossers Schriften und seiner bitteren Reaktion auf den Besuch des Schwagers 49 vorsichtig umreißen. Daß sich auch die neuzeitliche Cornelia als ‚im Stich gelassen’ fühlte, als „dimissa“ 50 , wie ihre antike Namensschwester, läßt sich zeigen. 51 Zwei Jahre später war sie tot. Gewiß anders als bei Lukan, aber auch hier ein Abschied auf immer. „Wie oft schon wiederholt sich’s! Wird sich immerfort / In’s Ewige wiederholen …“ Am Tag der letzten Trennung schrieb Goethe in sein Tagebuch ein Gedicht, das er später verändert und mit dem Titel Auf dem See 52 veröffentlichte. (Vgl. S. 45.) Wenn darin „Goldne Träume“ ‚wiederkommen’ und abgewiesen werden müssen: „Weg du Traum so gold du bist“, so war offenbar in seinem Innern doch noch nicht alles entschieden. Es wäre ja nicht das erstemal, daß Goethe in der großen Literatur der Vergangenheit Parallelen zu seinem eigenen Leben suchte. Denn: „Mittheilungen durch Analogien halt ich für so nützlich als angenehm […].“ (Vgl. S. 6.) Und: 47 V, v. 787-98. 48 Phars. V, v. 787-798; a. a. O., S. 238 f. 49 Dazu mehr im Divan-Kapitel S. 465 ff. 50 Phars. V, v. 765. 51 S. Goethe, Briefe an Frau v. Stein in zwei Bänden, Deutsche Buchgemeinschaft, Berlin. S. 39: zwischen 19. und 21. Mai 1776: „Hier einen Brief von meiner Schwester. Sie fühlen wie er mir das Herz zerreißt. Ich hab schon ein paar von ihr unterschlagen um Sie nicht zu quälen. Ich bitte Sie flehentlich nehmen Sie sich ihrer an, schreiben Sie ihr einmal, peinigen Sie mich daß ich ihr was schicke“. 52 FA 1, S. 169. <?page no="290"?> 286 Wer lange in bedeutenden Verhältnissen lebt, dem begegnet freilich nicht alles, was dem Menschen begegnen kann, aber doch das Analoge und vielleicht einiges, was ohne Beispiel war. 53 Bei all den gedankenschweren und aufschlußreichen Pausen in Erichthos Monolog - ihre tradierte grausige Nekromantik, wiewohl abgemildert zur Kenntnis gebracht, gibt Goethes Dichtung keine Chance als mögliches Mittel zur Rückführung Helenas ins Leben. Erichtho weiß sich den Menschen verderblich und zieht sich nach des Dichters Willen zurück, um nicht wieder zu erscheinen. 4. Manto Im Gegensatz zu Erichtho, der „Düsteren“, „Schädlichen“, erscheint Manto, bei welcher Chiron Faust zum Ende seiner Suche absetzt, als heilendes Wesen, als Lichtgestalt, in Chirons Worten, als „die liebste mir aus der Sibyllengilde“ (was Goethe mit seiner eigenen Chiffrensprache der gehäuften „i“ und „il“-Phoneme noch emphatisch verstärkt). Bekanntlich hat Goethe Manto zu einer Tochter Äskulaps gemacht, während der Mythos sie als Tochter des thebanischen Sehers Teiresias kennt, was Goethe wohl bewußt war, wie ein Paralipomenon festhält. 54 Einzig als Tochter des Teiresias kann die Bezeichnung „Sibylle“ für Manto gelten, wie er im Mythos für sie verankert ist. Goethe brauchte eine Sibylle, eine der Weissagung mächtige Frau, als Führerin Fausts in die Unterwelt, wie ja auch Vergil den Aeneas seine Nekyia mit der Hilfe der Cumäischen Sibylle bestehen läßt. 55 Daß Goethe Manto dennoch zu einer Tochter des göttlichen Arztes Asklepios macht, hat in erster Linie nicht den Grund, den man gewöhnlich annimmt, daß sie den wahnsinnigen Faust mit seinen „verrückten Sinnen“ (v. 7484) heilen solle. Doch davon etwas später. Beide mythischen Gestalten, Asklepios und Teiresias, haben etwas gemeinsam: Sie sind aufs innigste mit dem Schlangensymbol verquickt. Teiresias trifft auf seinem Weg auf zwei sich paarende große Schlangen und verletzt sie mit seinem Stab, woraufhin er in eine Frau verwandelt wird und sieben Jahre als Frau lebt; im achten sieht er die Schlangen wieder und wiederholt den zaubermächtigen Hieb. So wird er wieder zum Manne. Weil er nun die Liebe in beiden Gestalten erfahren habe, ziehen ihn Jupiter und Juno bei Gelegenheit eines ehelichen Geplänkels über die Frage zu Rate, wer von beiden mehr Lust empfinde: Mann oder Frau? Teiresias bezeichnet die Frau und bestätigt so Jupiters Meinung. Juno straft ihn mit Blindheit, worauf Jupiter ihn mit der Sehergabe zu trösten sucht; so Ovid. 56 Stab und Schlange sind aber auch das Wahrzeichen des heilenden Gottes Asklepios oder Aesculapius, wie er bei den Römern heißt. Sein Vater Apollon hat ihn 53 ‚Aus Makariens Archiv’, Schluß der Aphorismen; FA 10, S. 773. Siehe auch: FA 13, 1.355 (H 798), S. 55. 54 H P99B, 15, FA I, 7/ 1, S. 631, Z. 27. 55 Aen. VI. 56 Met. 3, v. 316-38. Vgl. Acerra Philologica, Das dritte Hundert, 90; a. a. O., S. 512. <?page no="291"?> 287 mit der eigenen ärztlichen Kunst begabt, beim weisen Kentauren Cheiron hat er gelernt. Seine Heilkraft war so groß, daß er Tote zum Leben erwecken konnte. Dies wollte Zeus nicht zulassen und traf ihn mit seinem Blitz. Kultstätten hatte er in Kos und Epidauros, später in Pergamon. Ovid erzählt, wie eine Abordnung von Furcht getriebener Römer, als eine Seuche Rom heimgesucht hatte, nach Epidaurus kam und im Heiligtum Rat suchte. Der Gott erschien einem der Männer im Traum, wallenden Bartes und den ländlichen Stab in der Linken, und versprach, mit nach Rom zu kommen. „Pone metus! veniam simulacraque nostra relinquam. hunc modo serpentem, baculum qui nexibus ambit, perspice et usque nota visu, ut cognoscere possis! vertar in hunc, sed maior ero tantusque videbor, in quantum verti caelestia corpora debent.“ „Fürchte dich nicht! Ich komme, verlasse diese Gestaltung. Sieh die Schlange dir an, die hier den Stab mir umwindet. Merke ihr Bild, damit du es wiederzukennen vermagst, in diese werd’ ich mich wandeln, doch größer und so euch erscheinen, wie einem Leibe, in den ein Gott sich verwandelt, es ansteht.“ 57 Natürlich wollen die Einwohner von Epidauros den Gott nicht gerne ziehen lassen. Ein Zeichen wird erbeten: Postera sidereos Aurora fugaverat ignes: incerti, quid agant, proceres ad templa petiti conveniunt operosa dei, quaque ipse morari sede velit, signis caelestibus indicet, orant. vix bene desierant, cum cristis aureus altis in serpente deus praenuntia sibila misit adventuque suo signumque arasque foresque marmoreumque solum fastigiaque aurea movit pectoribusque tenus media sublimis in aede constitit atque oculos circumtulit igne mirantes. territa turba pavet; cognovit numina castos evinctus vitta crines albente sacerdos, et „deus est! deus est; animis linguisue favete. quisquis ades! “ dixit „sis, o pulcherrime, visus utiliter populosque iuves tua sacra colentes! “ quisquis adest, iussum veneratur numen, et omnes verba sacerdotis referunt geminata piumque Aeneadae praestant et mente et voce favorem. Adnuit his motisque deus rata pignora cristis et repetita dedit vibrata sibila lingua. tum gradibus nitidis delabitur oraque retro flectit et antiquas abiturus respicit aras adsuetasque domos habitataque templa salutat. Inde per iniectis adopertam floribus ingens 57 Met. 15, 658-62. Publius Ovidius Naso, Metamorphosen. In deutsche Hexameter übertragen und hrsg.von Erich Rösch, 12, Aufl., München / Zürich 1990. <?page no="292"?> 288 serpit humum flectitque sinus mediamque per urbem tendit ad incurvo munitos aggere portus. 58 Schon hat die Röte des Morgens die funkelnden Sterne vertrieben, zweifelnd noch, was zu tun, versammelt der Rat sich am prächtgen Haus des begehrten Gottes und bittet, er mög’ durch ein himmlisch Zeichen bedeuten den Sitz, wo er selbst zu weilen verlange. Kaum ist die Bitte getan, da läßt als Schlange mit hohem güldenem Kamme der Gott ein bedeutendes Zischen vernehmen, macht durch sein Kommen sein Bild, den Altar, die Flügel der Tür, den marmorbelegten Boden, den goldenen Giebel erbeben: und bis zur Höhe der Brust sich mitten im Tempel erhebend, reckt er sich auf und blickt umher mit funkelnden Augen. Bleich vor Schrecken das Volk. Der Priester, umwunden sein würdig Haar mit der weißen Binde, erkennt die Gottheit und ruft: „Der Gott ist’s, der Gott! O wahrt eure Herzen und wahrt eure Zungen! Mögest, wer du auch seist, o Hehrster, zum Heil du erschienen sein und helfen dem Volk, das deinem Dienste sich widmet! “ Jeder am Orte verehrt, so wie er geheißen, die Gottheit und wiederholt des Priesters gedoppelten Ruf. Die Aeneas- Enkel bezeugen mit Mund und Sinn ihre fromme Verehrung. Ihnen nickte der Göttliche zu, und - ein Pfand der Gewährung - stößt er, den Kamm aufsträubend und züngelnd, ein zwiefach Gezisch aus, gleitet die schimmernden Stufen hinab: dann kehrt er das Antlitz rückwärts und schaut, zum Abschied bereit, auf den alten Altar und grüßt die vertraute Behausung, den Tempel, in dem er gewohnt hat, windet in mächtigen Bögen darauf sich über den freien blumenbestreuten Grund und strebt durch die Mitte des Ortes hin zu dem durch den Bogen des Dammes gesicherten Hafen. 59 Das Stab-Schlangen-Motiv erscheint nochmals und gesteigert, wenn bei der Landung in Rom „sich die Schlange erhebt, den Hals um die Höhe des Mastes / windet und nach einem Sitz, der ihr gezieme, sich umblickt“ 60 . Sie findet ihn auf der Tiberinsel und setzt, wieder in Gestalt eines Himmlischen, als Heilbringer der Not der Seuche ein Ende. Diesen göttlichen Arzt gibt Goethe nun seiner Manto zum Vater, entgegen der mythischen wie mythologischen Tradition, obwohl ihr Name und ihr Status als Sibylle sie als Tochter des Teiresias ausweisen. Offenbar hat ihn die Schlangensymbolik dazu veranlaßt. Bei Teiresias erscheinen Schlange und Stab als einander entgegengesetzte Elemente, bei Asklepius sind sie zu einer Einheit integriert. Es scheint, daß es Goethe darum ging, Manto als Erbin sowohl der seherischen Begabung des einen, als auch der ärztlichen Kunst des anderen Vaters darzustellen, die beiden Gestalten also in ihr zu einem Seher-Arzt zu verbinden. Vielleicht spann er auch den Mythos weiter, wie er ja des öfteren verfährt. Seltsamerweise weist die antike Tradition, die ja wahrlich mit Genealogien nicht geizt, keine Mutter für Manto auf. Hat Goethe sich diesen Umstand zunutze gemacht und Manto der sie- 58 Met. 15, 665-90. 59 A. a. O., S. 589. 60 Ebd.,Vers 736 ff.; Übersetzung, a. a. O., S. 593. <?page no="293"?> 289 benjährigen weiblichen Phase des Teiresias entstammen lassen, die ja laut Mythos nicht ohne sexuelles Erfahrungswissen ablief? Wie auch des öfteren sonst, mag Goethe hier über den Mythos frei verfügt haben. Offenbar wollte er auf Manto als Tochter des Teiresias nicht verzichten, er bedurfte ihrer aber als Sibylle und wohl auch ihres Namens wegen als einer ‚Weissagenden’, ‚Orakelmächtigen’ ( μαντεύειν , einen Orakelspruch verkünden). Und darüber hinaus ist auch sie ein ehemals geopfertes Mädchen. Denn als die ‚Epigonen’ Theben eroberten, wurde sie gefangen und zusammen mit allerlei Dingen nach Delphi gesandt, ins Heiligtum Apolls, dem man für den Fall des Siegs das Beste versprochen hatte, was sich in der Stadt finden würde. 61 Wäre es Goethe allein um eine Tochter des Arztes Asklepios gegangen, bei der Faust ‚Heilung’ finden sollte, hätte sich z. B. Hygieia viel eher angeboten, doch war eben die Verschmelzung der beiden genannten mythischen Gestalten offenbar der springende Punkt. Als Tochter des Teiresias und als eine Apollon geweihte Jungfrau, begleitet Manto bei Statius den blinden Vater an die Pforte des Tartarus, um den Ausgang der Schlacht um Theben zu erkunden. 62 Ihr obliegt es, die Vorgänge zu melden, die Toten nach Gestalt und Kleidung zu beschreiben, wenn sie nahen. 63 Leidenschaftlich unterbricht sie die Beschwörungsergüsse des blinden Vaters, da sein Rufen nun Erfolg zeitigt: audiaris, genitor, vulgusque exsangue propinquat. pandatur Elysium chaos, et telluris opertae dissilit umbra capax, silvaeque et nigra patescunt flumina, liventes Acheron eiectat harenas. 64 Höre doch, Vater, ein blutloses Volk kommt näher und näher. Chaos des Jenseits dringt vor, aus geborstenem Erdreich Bricht ein gewaltiger Schatten, und Wälder und finstere Flüsse Zeichnen sich ab, Acheron wirft schwärzlichen Sand hoch. Unerschrocken gibt sie ihren Bericht, bis der Vater mit seinem inneren Auge die Dinge wahrnimmt. Als des Teiresias Tochter hat Manto also Erfahrung mit der Unterwelt. Symmetrisch stehen am Anfang und am Ende von Fausts Weg durch die Klassische Walpurgisnacht Kenntnisse des Totenreichs, personifiziert in ihren Wissensträgerinnen. Aber während Erichtho, die bei Lukan einen Leichnam zum Sprechen bringt, als Helferin bei Fausts Rückholung der Helena für Goethe nicht in Frage kam, wird Mantos jugendliches Vorgehen bei der Erweckung halblebendiger Unterweltsschemen als Methode fruchtbar. Goethe geht eben noch einen Schritt weiter, indem er sie auch zur Tochter Äskulaps macht. Denn als solche bezeichnet sie der weise Chiron, ehe er Faust bei ihr absetzt: Nun trifft sich’s hier zu deinem Glücke; Denn alle Jahr, nur wenig Augenblicke, Pfleg’ ich bei Manto vorzutreten, Der Tochter Äskulaps; im stillen Beten 61 Apollod. 111,7,3; Hederich, Spalte 1520. 62 Vgl. Faust II, Klass. Walpurgisnacht, v. 7451-7454; (auch schon Faust I, Vor dem Tor, v. 1034- 1055). 63 Ebd., v. 519-543; S. 544 und 545. 64 Ebd., v. 518 ff. <?page no="294"?> 290 Fleht sie zum Vater: daß, zu seiner Ehre, Er endlich doch der Ärzte Sinn verkläre, Und vom verwegnen Totschlag sie bekehre … Die liebste mir aus der Sibyllengilde, Nicht fratzenhaft bewegt, wohltätig milde; Ihr glückt es wohl, bei einigem Verweilen, Mit Wurzelkräften dich von Grund zu heilen. Darauf Faust: Geheilt will ich nicht sein, mein Sinn ist mächtig; Da wär’ ich ja wie andre niederträchtig. (v. 7448-60) Bei den Versen in Chirons Rede, die die Ärzte betreffen, fällt auf, daß sie nicht gleich den anderen paarweise gereimt sind, sondern eine dritte Zeile, wie zu spezieller Emphase, nochmals den Reim aufnimmt. Die drei Punkte danach ermuntern zusätzlich zum Nachdenken. Impliziert ist offenbar die genaue Antithese: Menschliche Ärzte bringen Lebende „verwegen“ zu Tode 65 , wohingegen der ärztliche Gott mit seiner Kunst heilen und selbst Tote wieder lebendig machen kann. Der Erbin solcher Gaben, als einer Tochter Äskulaps, in deren Bereich Faust „das Heil der edlen Quelle“ suchen soll, empfiehlt Chiron ihn nun als einen, der „asklepischer Kur vor andern wert“ ist. 66 Manto versteht den geheimen Sinn des Hinweises und begreift auch, daß Faust gar ‚nicht geheilt sein will’. Sie nimmt sich seiner an, ohne ihm auch nur Zeit zu lassen, aus der Heilquelle zu trinken. Die „Kur“ soll nicht ihm selber gelten. Was aber unter der „asklepischen Kur“ zu verstehen sei, das hat Goethe schon etwas früher im Gespräch Fausts mit Chiron angedeutet, indem er Faust die Insel Leuke mit der Stadt Pherae verwechseln läßt (vgl. S. 266). Katharina Mommsen hat diesen Irrtum als gewollten Bezug zur Alkestis-Mythe nachgewiesen, die Goethes Zeitgenossen aus Literatur und Oper durchaus präsent war. 67 Admetos, der König von Pherai muß sterben, wenn nicht ein anderer Mensch an seiner Statt den Tod auf sich nimmt. 68 Alkestis, seine Frau, bringt das Opfer aus Liebe zu ihm, nachdem selbst seine alten Eltern sich nicht für ihn vom Leben trennen wollten. Der Tod der Königin steht nun bevor, wenn im euripideischen Drama, dessen allererste Prologverse schon Asklepios gegolten hatten, das Volk von Pherai um seine Königin trauert, und der Chor singt: Wohl keiner kann - wo er hin Steuern mag im Schiffe: Ob zum Lykierland, Oder in Ammons Gefild In die trockene Wüste - Ihre Seele, der Armen, 65 Vgl. Faust II, Klass. Walpurgisnacht, v. 7451-7545; (auch schon Faust I, Vor dem Tor, v. 1034- 1055). 66 v. 7487. 67 Katharina Mommsen, Natur- und Fabelreich in ‚Faust II’, Berlin 1968. S. 130 ff. 68 Davon war schon im Zusammenhang mit Goethes früher Farce Götter, Helden und Wieland die Rede. (Vgl. S, 249.) <?page no="295"?> 291 Erretten, denn das grause Geschick Naht schnell. An welchen Priester, sagt, Soll ich mich wenden, wo Götteraltäre flammen? Wenn einer nur lebend noch Weilte im Sonnenlichte, Phoibos’ Sohn: sie entrönne Aus den Gefilden der Nacht Und den Pforten des Hades. Denn er weckte die Toten, Bevor die Wetterflamme, des Zeus Glutpfeil ihn niederschmetternd traf. Doch wo soll ich nun schöpfen des Lebens Hoffnung? 69 Während Alkestis mit dem Tode ringt, erscheint Herakles als Gast. Um ihn nicht abweisen zu müssen und das Gesetz der Gastfreundschaft zu verletzen, verhehlt ihm Admet den tragischen Sachverhalt und läßt den Freund festlich bewirten. Erst nach dem Tode seiner Frau befällt Admet das ganze Ausmaß seines Verlustes. Nun erst erfährt auch Herakles die Lage des Hauses. In seinem Herzen Dankbarkeit für die gewährte Gastfreundschaft, Verdruß über das Verschweigen des Unglücks und, vor allem, Schmerz über den Tod der Alkestis, macht er sich auf, sie zurückzuholen. Dies gelingt ihm denn auch in einem gewaltigen Ringkampf mit Thanatos. Als Unbekannte und Verschleierte will er Alkestis dem König übergeben, was der Trauernde jedoch lange ablehnt, ehe er sie endlich erkennt. Dann herrscht die Freude in Pherai. So weit in nuce die euripideische Alkestis. Als 1773 Wieland ein Singspiel Alceste 70 mit der Musik Anton Schweitzers auf die Weimarer Bühne gebracht und damit großes Lob geerntet hatte, schrieb Goethe im selben Jahr, also noch nicht in Weimar, den satirischen Einakter Götter, Helden und Wieland 71 , in welchem er Euripides und seine Dramengestalten gegen Wieland auftreten läßt und ihn wegen seines an den Tag gelegten Unverständnisses dem Griechentum gegenüber lächerlich macht. In späteren Jahren suchte sich Goethe mit ‚Veranlassung durch andere’ zu entschuldigen und sich von dem in einer „Weinlaune niedergeschriebenen Jugendstreich“ zu distanzieren. Im Zusammenhang mit Faust kommt es zunächst darauf an zu sehen, wie Goethe schon seit jungen Jahren mit der Gestalt des Asklepios als eines Totenerweckers vertraut war, wenn er in seinem satirischen Stück den Euripides persönlich über sein Drama ausführen läßt: EURIPIDES. Und auf der Schwelle begegnet dir Apollo die freundliche Gottheit des Hauses, die ganz voll Liebe zum Admet, ihn erst dem Todt entreisst, und nun o Jammer sein bestes Weib für ihn dahingegeben sieht. Er kann nichts weiter retten, und entfernt sich wehmütig dass nicht die Gemeinschafft mit Todten seine Reinigkeit beflecke. Da tritt herein schwarzgehüllt, das Schwert ihrer heimtückischen Macht in der Faust die Königinn der Todten, die Geleiterinn zum Orkus, das unerbittliche Schicksaal, und schilt auf die gütig verwei- 69 Eurip. Alkestis v. 113 ff; Euripides, Übersetzung J. J. Donner, Stuttgart 1958. Bd. 1, S. 8f. 70 Christoph Martin Wieland, Werke, hrsg. von Fritz Martini und Hans Werner Seiffert, München 1967. 3. Bd., S. 77 ff. 71 Vgl. S. 249. <?page no="296"?> 292 lende Gottheit, droht schon der Alzeste und Apoll verlässt das Haus und uns. Und wir mit dem verlassenen Chor seufzen: ach dass Eskulap noch lebte, der Sohn Apollos, der die Kräuter kannte und ieden Balsam, sie würde gerettet werden. Denn er erweckte die Todten: aber er ist erschlagen von Jupiters Blitz, der nicht duldete dass er erweckte vom ewigen Schlaf die in Staub gestreckt hatte nieder sein unerbittlicher Rathschluss. ALZESTE. Bist du nicht ganz entrückt gewesen in die Phantasie der Menschen, die aus ihrer Väter Munde vernommen hatten, von einem so wunderthätigen Manne, dem Macht gegeben war über den allmächtigen Todt. Ist dir nicht da Wunsch, Hoffnung Glaube aufgegangen: Käme einer aus diesem Geschlechte! Käme der Halbgott seinen Brüdern zu hülfe. EURIPIDES. Und da er nun kommt, nun Herkules auftritt, und ruft sie ist todt! Todt! hast sie weggeführt, schwarze grässliche Geleiterinn zum Orkus, hast mit deinem verzehrenden Schwerdte abgeweihet ihre Haare. Ich bin Jupiters Sohn, und traue mir Krafft zu über dich. An dem Grabe will ich dir auflauschen, wo du das Blut trinckst der abgeschlachteten Todtenopfer, fassen will ich dich Todesgöttin, umknüpfen mit meinen Armen die kein Sterblicher und kein unsterblicher löst, und du sollst mir herausgeben das Weib, Admetens liebes Weib, oder ich binn nicht Jupiters Sohn. 72 Seltsam mutet an, wie in Goethes früher Farce die Macht, Leben zu retten, unversehens von Äskulap auf Herkules ausgedehnt wird: „Käme einer aus diesem Geschlechte! Käme der Halbgott […].“ Asklepios ist durch seinen Vater Apollon ein Enkel des Zeus, Herakles ist Sohn des Zeus. Das Persönliche, das Wissen, die Heilkraft, tritt jedoch hier in den Hintergrund, zugunsten einer übermenschlichen Kraft, fähig, den Tod zu besiegen. Auch Chiron stammt aus dem Göttergeschlecht, auch er ein Kronide und Halbbruder des Zeus. Manto erkennt ihn am Klang seines Schritts. Doch der Plural gilt beiden Gästen: „Von Pferdes Hufe / Erklingt die heilige Stufe, / Halbgötter treten heran.“ Darauf Chiron: „Ganz recht! Nur die Augen aufgetan! “ Von Manto erkannt 73 und von Chiron bestätigt, erscheint Faust hier eingereiht in die Gilde antiker Übermenschen göttlichen Ursprungs. Dies ist der eine Grund, warum sie bereit ist, ihn in die Geheimnisse „asklepischer Kur“, nämlich der Rückholung Toter, einzuweihen: „Den lieb ich der Unmögliches begehrt.“ Der andere Grund kann aus ihrer Vorgeschichte als Tochter des Teiresias erahnt werden. Als Dankesgabe, als Opfer, in der Erfüllung eines Gelübdes, wurde sie ja nach dem Sieg der Epigonen nach Delphi verbracht und einem eigenen Leben entzogen. Deshalb kann sie Persephone mit dem Blick eines verwandten Schicksals betrachten und, offenbar aus freundschaftlicher Kenntnis, wissen: „In des Olympus hohlem Fuß / Lauscht sie geheim verbotnem Gruß.“ Als Kore, als das geraubte Mädchen, nicht als fürchterliche Beherrscherin der Unterwelt, wird sie hier vorgestellt. Deshalb weiß sich Manto ihrer Hilfe sicher, wenn es um die Rückholung Helenas geht, in ihrer Sicht wohl eine der immer und immer wieder geopferten Schicksalsgenossinnen. Da liegt auch der Gedanke an Eurydike nahe: Hier hab’ ich einst den Orpheus eingeschwärzt, Benutz es besser, frisch! beherzt! 72 Der junge Goethe in seiner Zeit. (Hrsg. Karl Eibl) Bd. 1, S. 370 ff. 73 Vgl. Beutler in Goethe, Faust und Urfaust, zu v. 7450, S. 597. <?page no="297"?> 293 Nun kommt es ganz allein auf Fausts gewaltigen Willen, seine Tatkraft und seinen Mut an. Das Orpheus-Schicksal mit der erschütternden Tragik des doppelten Verlusts der Eurydike verblaßt hier zum bloßen Paradigma. Nicht in Orpheus’ Nachfolge sieht Manto Faust, sondern in der Nachfolge des Herakles mit seiner gelungenen Rückholung von Alkestis. Damit wurden aber für den Dichter die ursprünglich geplanten großen Reden Fausts 74 oder Mantos 75 in der Unterwelt letzlich irrelevant und überflüssig. Denn wo Herakles auftritt, zählen nicht Worte. Dies verbindet ihn mit Faust, wenn der schon zu einem frühen Zeitpunkt Kritik an Luthers Übersetzung des Beginns des Johannes-Evangeliums übt: Geschrieben steht: „im Anfang war das Wort! “ Hier stock’ ich schon! Wer hilft mir weiter fort? Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen, Ich muß es anders übersetzen, Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin. Geschrieben steht: im Anfang war der Sinn. Bedenke wohl die erste Zeile, Daß deine Feder sich nicht übereile! Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft? Es sollte stehn: im Anfang war die Kraft! Doch, auch indem ich dieses niederschreibe, Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe. Mir hilft der Geist! Auf einmal seh’ ich Rat Und schreibe getrost: im Anfang war die Tat! (v. 1224-37) Bei wiederholtem Lesen des Dialogs, der während Fausts Ritt auf Chirons Pferderücken abgehalten wurde, läßt sich erraten, daß Faust auch vom Gedanken an Herkules besessen ist. Anfangs liest man darüber weg, wenn Faust nach Chirons Ablehnung seiner Schmeichelworte ausruft: So wirst du mir denn doch gestehn Du hast die Größten deiner Zeit gesehn, Dem Edelsten in Taten nachgestrebt, Halbgöttlich ernst die Tage durchgelebt. Doch unter den heroischen Gestalten Wen hast du für den Tüchtigsten gehalten? (v. 7359-64) Dem „Tüchtigsten“, dem Tatkräftigsten, wurde nachgefragt. Chiron charakterisierte hierauf eine ganze Reihe der Argonauten namentlich und in ihrem Zusammenwirken, womit Faust sich jedoch nicht zufrieden gibt: „Von Herkules willst nichts erwähnen? “ Es ist eine prekäre Frage. Denn er mußte, bei all den Details aus Chirons Leben, die er in seiner Eulogie vor ihm ausgebreitet hat, wissen, daß Herakles dieses Leben unwillentlich auf das grimmigste gestört hat, als aus seinem Köcher ein mit dem Blut der lernäischen Schlange vergifteter Pfeil ihm versehentlich auf das Bein des Freundes fiel. Die Wunde blieb unheilbar und unendlich schmerzhaft, eigentlich tödlich, - nur daß Chiron als Sohn des Kronos unsterblich war. Herakles konnte nichts tun, seine Qual zu lindern, als ihm später durch Jupiters 74 Eckermann, 15. Januar 1827, Schluß. 75 FA 7/ 2, S. 547: Paralipomenon H P 157, FA 7/ 1, S. 664. <?page no="298"?> 294 Einwilligung zu ermöglichen, seine, Chirons, Unsterblichkeit dem geretteten Prometheus zu überlassen. So kam Chiron ins Totenreich. Doch der Göttervater versetzte den Bruder als Sternbild an den Himmel, wo er nun seinerseits als ‚Schütze’ seine ewigen Kreise zieht. Die also mit gutem Grund so zögerlich formulierte Frage Fausts provoziert einen Gefühlsausbruch in dem sonst so gelassenen Kentauren: FAUST. Von Herkules willst nichts erwähnen? CHIRON. O weh! errege nicht mein Sehnen … Ich hatte Phöbus nie gesehn, Noch Ares, Hermes, wie sie heißen, Da sah ich mir vor Augen stehn Was alle Menschen göttlich preisen. […] Den zweiten zeugt nicht Gäa wieder, Nicht führt ihn Hebe himmelein; Vergebens mühen sich die Lieder, Vergebens quälen sie den Stein. (v. 7381-94) Kein Wort über die Taten des Herkules, keine Klage über das eigene Leid, nur Lob der herrlichen Erscheinung. Das gibt Faust nun Gelegenheit, das Gespräch auf Helena zu lenken. Nachdem er schon zweimal ihrer Zeugung teilhaft geworden war (v. 6903 ff. und 7271 ff.), saugt er nun in Chirons Worten die Schilderung ihres kindlichen Zaubers in sich ein. Und in dieser Verwirrung passiert ihm der ‚Versprecher’ mit „Pherä“: „Hat doch Achill auf Pherä sie gefunden“. Der Gedanke an die Rückholung der Alkestis durch Herkules ist die ganze Zeit über nicht aus seinem Unterbewußtsein gewichen. Wie Achill will er Helena besitzen und wie Herkules kämpfen mit den Mächten des Todes. Chiron spürt seinen Rang, aber sieht in ihm einen Kranken. Manto hingegen erfaßt die Gewalt seiner Sehnsucht, als Seherin weiß sie wohl auch von seiner Mutprobe im Gang zu den Müttern. Sie nimmt ihn auf der Stelle ernst und geleitet ihn dorthin, woher keine weitere Kunde zu uns dringt: im ganzen Drama kein Bericht über Erlebtes wie im Falle des Kaisers, keine Vorwegnahme von Künftigem oder Aufrufung in Rückschau wie in Hinblick auf die Mütter, keine Andeutung und vielsagende Aussparung wie bei Erichtho - das Verstummen ist total. Doch daß etwas Gewaltiges stattgefunden haben muß, das wird sich, wie zuvor aus Helenas magischer Erscheinung als Bild, nun aus ihrer bewirkten Inkarnation ergeben. 5. Asem und die Geisterkönigin Die dramaturgische Gelenksstelle bleibt im Dunklen. Aber sie weitet sich aus zu konkreten 76 Vorstellungsmöglichkeiten, wenn man ein Diktum Goethes beherzigt, nach welchem die Form so gut verdaut sein will als der Stoff; „ja, sie verdaut sich viel schwerer.“ 77 Wie sehr dies für Stil und Metrum gilt, läßt sich aus Pandora erse- 76 Katharina Mommsen, Goethe und 1001 Nacht, Berlin 1960. S. 185 ff. 77 FA 13, Sprüche in Prosa 6. 29. 20; (H. 1083) S. 389. <?page no="299"?> 295 hen. Im Fall der Rückgewinnung der Helena geht es um die dramaturgische Form. Katharina Mommsen hat in ihren mit Goethe befaßten Werken 78 den starken Einfluß nachgewiesen, den die Welt des Orients auf sein Schrifttum hatte - weit über den West-östlichen Divan hinaus - angefangen von dem frühen Singspiel Die Laune des Verliebten bis hin zu den Alterswerken. In ihrer Tübinger Dissertation Goethe und 1001 Nacht widmet die Autorin über hundert Seiten der Untersuchung von Faust II in Hinblick auf Anklänge an einzelne Märchen, die in Motivik, Symbolik, Handlungsablauf oder Anspielungen im Drama gespiegelt erscheinen. Bei Betrachtung der jenseitigen Welt in Faust II richtet sich das Interesse vorrangig auf Strukturelemente des Handlungsablaufs, die, aus 1001 Nacht übernommen, das Geschehen der Klassischen Walpurgisnacht mitbestimmen: In 1001 Nacht ist der „lange Weg“ ein häufig angewendetes Erzählschema von ähnlicher Beliebtheit wie etwa die Erzählschablone des Schatzhebens. Das Objekt, das der Held einzuholen geht, kann sein ein Zaubergegenstand von höchstem Wert oder aber eine geliebte Frau, meistens eine Prinzessin, oft auch ein geliebtes übermenschliches Wesen, eine Fee, oder eine Geister-Fürstin. Der letzte Fall ist es, der uns hier angeht. Er entspricht thematisch der Helena- Handlung 79 . Im 10. Band der Breslauer Ausgabe der Märchen, den Goethe am 5. und 6. Mai 1825 las - er hatte ihn soeben vom Verleger erhalten - findet sich eine Version dieses Erzählschemas von besonderer Schönheit: die Geschichte Asem und die Geisterkönigin. 80 Der lange Weg, den hier der Held zu gehen hat, zeigt schon im Prinzipiellen Merkmale des Wegs von Faust zu Helena. Auch Asem hat sich in eine übermenschliche Schönheit verliebt, eine Geisterprinzessin. Auch er muß, nachdem er sie schon einmal erobert hat, erleben, daß sie ihm wieder entschwindet. Danach gilt es, sie zum zweitenmal zu finden und einen über alle Raum- und Zeitbegriffe langen Weg zurückzulegen: seine Geliebte befindet sich nun bei der mächtigen Königin eines Geisterreichs, aus deren Gewalt Asem sie nur mit größten Anstrengungen befreien kann. In ganz ähnlicher Weise muß Faust zu der Königin des Schattenreiches, Persephoneia, vordringen, um Helena zum zweitenmal zu erlangen. Gerade dieser zweite Weg Fausts - er beginnt etwa mit der Leda-Vision im „Laboratorium“ und endigt bei Manto, die ihn zu Persephoneia geleiten wird - weist in seiner Struktur deutliche Anlehnung an die Asem-Geschichte auf. 81 Scheherezade füllt viele Nächte, indem sie die Wechselfälle von Asems Schicksal erzählt: wie er sich als Jüngling einem bösen Zauberer verkauft, von ihm getäuscht und dem sicheren Tode preisgegeben wird. Davongekommen wie durch 78 s. u. a. Bibliographie S. 619. 79 K. Mommsen, Goethe und 1001 Nacht, S. 23 f. 80 Hinweis von K. Mommsen auf S. 232, Anm. 1: „BrA 10, 269-321. Vgl. Insel-Ausg. 5, 315-503. Der Held heißt dort nicht Asem, sondern Hasan von Basra und ist Juwelier, nicht Färber <BrA Abkürzung f. Breslauer Ausg.> - Näheres über die Geschichte und ihre zum großen Teil indischen Motive bei Oestrup, a. a. O. S. 59 ff. und bei Littmann, Anhang zur Insel-Ausg. 6, 692 f.“ Zur Geschichte und Sammlung der 1001 Nacht-Erzählungen, ihrer Rezeption in Europa und den verschiedenen Übersetzungen siehe Wiebke Walter, Einführung in 1001 Nacht, München und Zürich 1987. 81 Ebd. S. 232. <?page no="300"?> 296 ein Wunder, gerät er an einen prächtigen Palast, der von zwei Töchtern eines Geisterfürsten bewohnt wird. Eine von ihnen gewinnt er zu seiner „Schwester“. Im Garten wird er verbotenerweise Zeuge einer Badeszene von Mädchen, die aus der Luft wie Vögel angeflogen gekommen waren - Töchter des Geisterkönigs. In eine von ihnen, die Schönste, verliebt er sich, so daß er ohne ihren Besitz nicht mehr weiterleben zu können glaubt. Um ihn zu retten, rät ihm seine ‚Schwester’, beim nächsten Besuch der Ersehnten ihr Flügelgewand (oder ihren Gürtel) zu rauben, um ihr die Rückkehr in ihr Land zu verwehren. Er folgt diesem Rat und gewinnt die zunächst Verzweifelte und Widerstrebende nach längerer Frist zur Frau, kehrt mit ihr zu seiner Mutter zurück und lebt mit ihr und den beiden gezeugten Söhnen offenbar glücklich in seiner Heimatstadt, bis ihn die Sehnsucht nach der ‚Schwester’ und das ihr gegebene Versprechen, sie zu besuchen, zu einer Reise und damit längerer Abwesenheit bewegt. Das Zaubergewand soll die Mutter wohlverwahrt halten, ein Gespräch, das die Gattin mitanhört. Bewogen von Sehnsucht nach den Ihren und gekränkt durch die Trennung von ihrem Gemahl, nimmt sie nun bei günstiger Gelegenheit das Zauberkleid an sich, um mit den Kindern zu entfliehen. Schon außer Reichweite, nennt sie den Namen ihres fernen Inselziels. Bei seiner Rückkunft ist Asem wahnsinnig vor Schmerz über den Verlust. Aus einer Ohnmacht wieder zu sich gekommen, […] faßte er auf der Stelle den Entschluß, seine Frau aufzusuchen, […] und sollte er ihretwegen auch die ganze Erde durchlaufen. Vergeblich stellte man ihm vor, die Entfernung der Inseln Waak al Waak von Balsora wäre so groß, daß man nicht weniger als hundert und fünfzig Jahre bedürfte, um die Reise dahin zu vollenden, er bestand hartnäckig auf seinem Vorsatz, und nichts konnte ihn davon abwendig machen. 82 Es würde zu weit führen, die vielen Stationen von Asems Reise hier auch nur andeutungsweise zu berühren. Wichtig ist zu vermerken, wie er von einer Reihe von Geistwesen beraten und weitergereicht wird, bis er letztlich an sein Ziel kommt. „Geisteroheime“ und vor allem, eine sehr häßliche alte Frau spielen dabei eine wichtige Rolle. Die Begegnung mit der Geliebten steht im Zeichen höchster Gefahr für beide Teile. Aber das „Unmögliche“ wird erkämpft und Asem kehrt mit Frau und Söhnen zu guter Letzt wieder in seine Heimat zurück, um zufrieden mit ihnen weiterzuleben. In großen Zügen sowie in unzähligen kleinen Details, die auch durchaus die Chronologie durchbrechen können, folgt Goethe in der Klassischen Walpurgisnacht dem Handlungsschema von Asem und die Geisterkönigin, aber auch dem eines sehr ähnlichen Märchens, nämlich Habib und Dorrat-al-Gawas 83 , in dem es ebenfalls um die Erringung einer Geisterprinzessin geht. Aus letzterem scheint Goethe auch Anregungen zu Mephistopheles’ Schilderung des Wegs zu den Müttern im ersten Akt geschöpft zu haben. In beiden Erzählungen, die Goethe, ohne jegliche Erwäh- 82 Ebd., S. 237. 83 Tausend und Eine Nacht. Arabische Erzählungen. Zum erstenmal aus einer Tunesischen Handschrift ergänzt und vollständig übersetzt von Max. Habicht, F. H. von der Hagen und Karl Schall, Bd 1 - 15. Breslau 1825. (Hier zit. BrA) Bd.12, S. 82-115. <?page no="301"?> 297 nung in sein Drama „hineingeheimnißt“ 84 hat, holt der Held eine Geisterfrau, die er einmal gesehen, bzw. zur Gattin gehabt hat und ohne die er nicht mehr leben kann, aus einem Zwischenreich zu sich. In den Märchen ist nirgendwo von einem Totenreich die Rede. Zu einem ebensolchen Zwischenreich wird die Unterwelt für Faust. Goethe deutet ohne Worte die Geisterreiche zum Totenland um und gibt dadurch im selben Vorgang der Unterwelt die Aura eines Zwischenbereichs, der näher am Leben liegt als der antike Orkus. Was in den Märchen den Stoff für Erzählungen vieler Nächte liefert, erscheint im Faust ins Antik-Griechische übersetzt, zusammengedrängt auf eine einzige „Nacht“, wobei das Epitheton „klassisch“ sie sowohl von der „christlichen“ Walpurgisnacht absetzt als auch von der orientalischen Märchenwelt von Tausendundeiner Nacht. Doch was ist „klassisch“ an dieser ‚Walpurgisnacht’? Die Götter-oder Mischwesen, die uns in ihr begegnen, sind fast durchwegs vor-olympisch, die großen Götter treten nicht auf. Als ‚klassisch’ im Sinne der Hoch-Zeit des Griechentums könnte nur die Schlacht auf den Pharsalischen Feldern gelten, die sich wohl in klassischer Zeit zutrug, aber mit den dargestellten Ereignissen, von Erichtho abgesehen, nichts zu tun hat. Sie jedoch gab Goethe die Möglichkeit, die letzte Nacht von Pompeus und Cornelia ohne Worte in das Bewußtsein seiner Leser einzubringen. - Und selbst da könnte man noch einwenden, daß Lukan, ein ‚silberner’, ein nach-klassischer Poet war. 84 Lily Braun, Im Schatten der Titanen, Berlin-Grunewald (110.-130. Tausend), S. 98. <?page no="302"?> 298 12. Śakuntalā . Indisches Vor-Bild In den Themenbereich der Grenzüberschreitung gehört auch das Drama ´ Sakuntal ā des indischen Dichters K ā lid ā sa aus dem 5. Jahrhundert, von dessen epischer Dichtung Meghad ū ta (Der Wolkenbote) im Zusammenhang mit der Elegie bereits die Rede war (vgl. S. 47). Goethe lernte das Drama 1791 kennen, als Johann Georg Forster ihm seine Übersetzung (noch in Abschrift) zusandte. Forster hatte es aus dem Englischen übersetzt, soweit ihm der Text in der Übersetzung von Sir William Jones 1 vorlag, der es mit der Hilfe eines Brahmanen aus Sanskrit und Prakrit auf dem Umweg über das Lateinische übertragen hatte. Jones’ nicht ganz vollständige Übersetzung erschien erstmals 1789 in Kalkutta und bereits ein Jahr später in London, wo Forster sie fand und begeistert, vermutlich mit Absicht, in ein etwas antiquiert anmutendes Deutsch übertrug. Schon 1790 veröffentlichte Schiller einige Seiten, Teile aus dem dritten Akt, in seiner Zeitschrift Thalia. 2 Am 1. Juni 1791 legte Goethe eine Abschrift des folgenden Epigramms einem Brief an den ihm sowohl als Forster befreundeten Friedrich Heinrich Jacobi bei. Will ich die Blumen des frühen, die Früchte des späteren Jahres, Will ich was reizt und entzückt, will ich was sättigt und nährt, Will ich den Himmel, die Erde mit Einem Namen begreifen; Nenn ich Sakontala dich und so ist alles gesagt. 3 Ehe auf diesen Text und die mehrfachen Druckvarianten näher eingegangen werden soll, ist es nötig, einen Blick auf den Inhalt des Dramas zu werfen, dessen Prolog Goethe ja bekanntlich zum Vorspiel auf dem Theater seines Faust anregte. Die Schreibung der Namen folgt im wesentlichen der von Forster verwendeten Umschrift (also z. B. „Sakontala“ statt der phonetisch korrekten ‚ ´ Sakuntal ā ’). Am Text, wie er Goethe vorlag, soll keinerlei philologische Kritik geübt werden. Nur im Titel Sakontala oder der entscheidende Ring würde man das englische „fatal ring“ doch lieber als „Schicksalsring“ übersetzt sehen - ein Terminus, den Forster wohl vermieden hat, um das Drama davor zu schützen, in die Kategorie der damals gängigen Schicksalstragödien eingereiht zu werden. Denn wenn auch der Ring, an dessen Anblick die Aufhebung eines Fluches geknüpft ist, eine wichtige Funktion im Drama zu erfüllen hat, so ist er eigentlich nur der äußere Exponent psychischer Vorgänge, die eben doch Schicksal bedeuten. Als ihr Symbol will der Ring verstanden sein. Nur von Handlung und Gehalt der sieben Akte kann hier gesprochen werden, da Forsters Übertragung ja die originäre, in Teilen metrische, Form nicht überliefern konnte, abgesehen von ganz wenigen Stellen wie z. B. den Trochäen 1 William Jones (1746-1794, ab 1783 geadelt) englischer Jurist, hervorragender Philologe und Orientalist, fungierte als Richter am ‚Supreme Court’ in Kalkutta. 2 Sakontala oder der entscheidende Ring, ein indisches Schauspiel in Georg Forsters Werke, Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, bearbeitet von Gerhard Steiner, Bd. 7: Kleine Schriften zu Kunst und Literatur, Sakontala, hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1963. 3 FA 1, S. 702; WA I. 4. 134; Beilage von Schreiberhand im Brief an Friedrich Jacobi vom 1. Juni 1791. Aus dem Besitz des Freien Deutschen Hochstifts, Frankfurter Goethe-Museum (in WA I 5/ 2. 341 leicht verändert). Hervorhebung von Goethe. <?page no="303"?> 299 des Segensspruchs des ‚Bramen’ zu Beginn des Prologs, der dann, von Theaterdirektor und Schauspielerin übernommen, im Dialog über die Wahl der Jahreszeit und des Stückes thematisch zum ersten Akt überleitet. Da stürmt nun ein junger Königssohn auf der Jagd in Verfolgung einer Gazelle in den geheiligten Bezirk einer Einsiedelei, die, mitten in tiefem Wald gelegen, dem halb göttlichen Weisen Kanna 4 untersteht. Hier darf kein Tier verletzt werden, und der fromme Duschmanta 5 fügt sich sofort dem Einspruch eines der Einsiedler. Ungesehen an seinem Ort im Gebüsch, wird nun Duschmanta Zeuge des Gesprächs von drei Mädchen, die die Bäume und Blumen des Waldes aus ihren Krügen wässern. Es ist Sakontala mit ihren beiden Freundinnen, die sie liebevoll umsorgen. Sie, die Lieblichste, fühlt sich einer blühenden Liane verschwistert. Später erfahren wir, daß sie eines Fürsten und einer göttlichen Nymphe Kind ist, dem Einsiedler Kanna zur Pflege übergeben, der sie mit seiner Frau Gautami in seiner Familie aufzog, entsprechend den strengen Regeln des Büßerhains, in Verrichtung heiliger Dienste und Sorge für Pflanzen und hilflose Tiere. Ihr Mantel ist aus Baumrinde gewebt, ihr Armschmuck aus Lotosfasern geflochten. Sie selbst gleicht einer Blume des Waldes: so empfindet es Duschmanta in seinem Versteck, von wo aus er das kindliche Gespräch der Mädchen verfolgt 6 : SAKONTALA. (vorwärts sehend). Jener Amrabaum, meine Lieben, winkt mit den Fingerspizen seiner Blätter, die der Wind leise bewegt: er will uns ein Geheimnis ins Ohr säuseln. Ich muß ihm näher treten. (Sie nähern sich alle dem Baum.) PRIYAMWADA. O meine Sakontala, laß uns ein Weilchen hier im Schatten bleiben. SAKONTALA. Warum nun eben hier? PRIYAMWADA. Weil der Amrabaum mit dir vermählt zu seyn scheint, die du in voller Anmuth der blühenden Winde gleichst, welche sich um ihn schlängelt. SAKONTALA. Du heißest mit Recht Priyamwada, du Freundlich-sprechende! DUSCHMANTA. (bei Seite). Sie spricht wahr. Glüht nicht ihre Lippe wie ein zartes Blumenblatt? Ihre Arme die biegsamen Stengel! Jugendliche Schöne, wie der Blüthenglanz, in allen ihren Zügen! ANUSUYA. Sieh, meine Sakontala, wie jene frische Mallika, die du Wanadosini, Ergözen des Hains, genannt hast, den süßen Amra sich zum Bräutigam erwählt. SAKONTALA. (tritt hinzu und betrachtet es mit Freude), Wie reizend ist diese Jahreszeit, welche das Vermählungsfest der Pflanzen feiert! (Bleibt staunend stehen.) 7 Eine Pflanze, gleichzeitig mit Sakontala von Kanna auferzogen, ihre „Schwester“, „prangt, wiewohl es nicht ihre Blüthezeit ist, über und über mit lieblichen Blumen von der Wurzel bis zum Wipfel.“ Alles Anzeichen für eine bevorstehende glück- 4 Eigentlich: ‚Ka ņ va’. 5 Eigentlich: ‚Du ş yanta’ mit der Bedeutung: ‚der schwer Zugängliche’. 6 Das Folgende wird in durchlaufender Zeilenschreibung wiedergegeben, obwohl Forster seiner - im Deutschen ja bereits dritten - Übersetzung die ursprünglich teilweise Form von Versen erhalten wollte, ohne jedoch solche metrisch spürbar zu machen. 7 Sakontala, S. 298. <?page no="304"?> 300 bringende Hochzeit. Eine kindhafte Erotik schwebt überall in der Luft, und Duschmanta ist hingerissen von der Anmut der zauberhaften Prinzessin im Büßergewand. Ihr Hilferuf, von einer sie umkreisenden Biene verursacht, aber von ihm mißdeutet, ruft ihn endlich auf den Plan, um sie zu schützen. Vorerst hält er es jedoch für besser, sich nicht gleich als Königssohn zu erkennen zu geben. Sakontala ist von dem Fremden sofort angetan. Zarteste Neigung wächst in beiden heran zu einer großen verzehrenden Leidenschaft. Als Duschmanta auf Bitten der Einsiedler gegen Dämonen zu Felde zieht, macht die Trennung beide krank vor Sehnsucht. Kanna ist abwesend, um an einem fernen Orte bevorstehendes Unheil von seinem Liebling Sakontala abzuwehren. Und hier spielt nun doch wieder das Schicksal mit, denn gerade seine Abwesenheit bringt, wie sich später herausstellen wird, Verhängnis über sie. Da der Prinz nach der Hauptstadt zurückberufen wird, vollziehen Einsiedler die Weihehandlungen einer informellen, aber sozial wie religiös gültigen Heirat in Abwesenheit des Pflegevaters Kanna, des einzigen Quasi- Verwandten, den Sakontala besitzt: also ohne rechtskräftige Zeugenschaft einer eigenen Sippe. Duschmanta reist nun ab mit dem Vesprechen, Sakontala bald zu holen. Zuvor schenkt er ihr einen kostbaren Ring mit seinem Namenszug. Ganz dem Schmerz über die Trennung von ihrem Gemahl hingegeben, überhört Sakontala das Einlaßbegehren eines hochgestellten Mannes, den sie in Vertretung Kannas hätte gastlich empfangen müssen. Eine ihrer Freundinnen hört den Fluch, den er nun über Sakontala verhängt: zur Strafe solle der König sie vergessen. Erklärungen und Bitten der Freundin Anusuya bewirken nichts. „Unwiderruflich,“ spricht er, „ist mein Wort, doch dann verschwinden seine Zauber, wenn ihr Gatte seinen Ring erblickt.“ Mit diesem Spruch verschwand er. Im Vertrauen auf den Ring und um Sakontalas Trauer nicht noch zu vermehren, geloben die Mädchen einander Stillschweigen über den Vorfall. Monate vergehen. Sakontala ist schwanger. Der König hat nicht mehr von sich hören lassen. Sakontala verharrt in stummem Gram. Nur aus dem Munde der Freundinnen vernimmt man Klagen und auch Besorgnis wegen des Fluchs. Als Kanna endlich von seiner Pilgerfahrt zurückkehrt, wird ihm eine göttliche Offenbarung zuteil. Indem er den Ort betrat, wo das heilige Feuer lodert, hörte er eine Stimme vom Himmel, die in göttlichen Rhythmen sprach: […] Wisse frommer Brame, deine angenommene Tochter hat von Duschmanta einen Lichtstral des Ruhms empfangen, zur Herrschaft der Erde bestimmt; wie das Holz Sami geschwängert wird mit geheimnisreichem Feuer. 8 Kanna verfügt nun Sakontalas unverzüglichen Aufbruch nach der Residenz des Königs. Wie im Aschenputtel-Märchen liegt unter Bäumen, von Nymphen gewoben, ein kostbares Gewand für Sakontala bereit. Unter vielen Tränen vollzieht sich der Abschied, von Kanna, den Freundinnen, die sie an den Ring erinnern, falls der König sie vergessen hätte, bei welchem Gedanken sie erbebt. Nachdem sie von den geliebten Pflanzen und Tieren Abschied genommen hat, begibt sie sich nun, 8 Ebd., S. 334. <?page no="305"?> 301 von Trennungsschmerz und dunklen Vorahnungen erfüllt, in Begleitung von Kannas Gemahlin Gautami und zweien seiner Schüler auf den Weg. Wir finden sie wieder in einem Palast des Königs und erfahren aus dem Munde seiner Umgebung viel zu seinem Ruhm, hören von rastloser Arbeit für sein Volk, seiner Selbstlosigkeit, seiner unbedingten Gerechtigkeit. Im Dialog zwischen Duschmanta und einem seiner Freunde, einem sehr weltlich gesinnten Brahmanen, einer Art „Lustiger Person“ oder Hofnarr, der dem König ohne Umschweife die Wahrheit sagt und dem dieser vertraut, wird klar, daß Duschmanta eine ihn eifrig umwerbende Königin von sich fernhält. Ein sehnsuchtsvolles Lied, das sie für ihn aus einem entlegenen Zimmer singt, erfüllt ihn mit Traurigkeit: Was ists, daß ich so traurig werde, bei dem bloßen Liede über die Abwesenheit? Bin ich doch von keinem Gegenstande meiner Neigung wirklich getrennt! Diese schwermüthige Stimmung bei sonst glücklichen Menschen, wenn sie schöne Gestalten erblicken und harmonische Töne hören, entsteht vielleicht gar aus einer dunklen Erinnerung verflossener Freuden, ist eine Spur unserer Verbindungen in einem vorigen Zustande unseres Daseyns! (Sizt nachsinnend und traurig.) 9 In diesem Augenblick werden ihm „zwei geistliche Männer und einige Weiber“ gemeldet, die von ihrem Aufenthalt im Walde gekommen seien, um ihm eine Botschaft von Kanna zu bringen. Duschmanta wundert sich: „Wie? fromme Einsiedler in Gesellschaft von Weibern? “ Der König vollzieht zunächst ein Ritual im Freien, dann empfängt er die Gruppe und, nach längerem Austausch von Höflichkeiten, hört er die „Befehle“ Kannas, die ihm nun der eine Schüler vermittelt: „Die Ehverbindung zwischen dir und diesem Mädchen, meiner Tochter, bestätige ich mit zärtlicher Achtung; denn du bist berühmt als der ehrenvolleste der Menschen und meine Sakontala ist die Tugend selbst in menschlicher Gestalt. In Zukunft wird die Lästerzunge nicht mehr Brahma vorwerfen, daß er ungleiche Ehen duldet; er hat eine Braut und einen Bräutigam vereint, von gleich vortreflicher Art. Weil sie nun schwanger von dir ist, so nimm sie auf in deinen Pallast, daß sie mit dir vereint, die Pflichten erfülle, welche die Religion auferlegt.“ 10 Hierauf bittet Gautami, die Pflegemutter Sakontalas, um das Wort und spricht dem König von der ohne verwandtschaftliche Zeugenschaft vollzogenen Hochzeitsfeier. „Welch seltsames Abentheuer! “ ist die verwirrte Reaktion Duschmantas. Der Schüler Kannas wiederholt die Worte, noch kann er an sich halten. Er gibt dem König zu verstehen, eine Ehefrau sei noch so ehrbar, so würde die Welt doch Arges von ihr denken, wenn sie nur bei ihren väterlichen Verwandten wohne. „Hier bittet jetzt die rechtmäßige Gattin, und demüthig bitten ihre Angehörigen, sie werde geliebt oder nicht, daß sie ihre Tage zubringen möge in der Wohnung ihres Gemahls.“ Worte gehen hin und her, Gautami entschleiert Sakontala, um der Erinnerung des Königs nachzuhelfen. Aber obwohl er von ihrer Schönheit 9 Ebd., S. 345. 10 Ebd., S. 347. <?page no="306"?> 302 angerührt ist, weist er jede Verbindung mit ihr zurück. Schließlich wendet er sich an den Schüler: Heiliger Mann, ich sinn’ und sinne wieder, aber meiner Heirath mit diesem Frauenzimmer entsinn’ ich mich nicht. Darf ich die Würde meines Kschetrastamms verläugnen und in meinen Pallast ein junges Weib aufnehmen, die von einem andern Gatten schwanger ist? Nun beginnt der Schüler zu schelten und dem König versteckt mit Kannas Macht zu drohen. Zuletzt ist die Reihe an Sakontala, ihren Standpunkt klarzumachen, erst spricht sie leise zu sich selbst, dann zu Duschmanta: Ist seine Liebe dahin, was hilfts, daß ich die Erinnerung an mich in ihm zurückrufe? Doch, wenn meine Seele zur Quaal bestimmt ist, so sei’s; ich will sprechen. - O mein Gemahl! (Pause.) Oder, bezweifelst du noch die richtige Anwendung dieses heiligen Namens - o Purus Sohn! ziemt es dir, der mich liebte im heiligen Hain mit ausschweifender Leidenschaft, daß du mich heute mit bitterm Spott verläugnest? Nun wird der König zornig, vermutet Tücke und gewollte Schändung seines Rufs hinter ihrer Rede. Und erst jetzt will sie sich des Ringes bedienen: Ist es bloßer Fehler des Gedächtnisses, so will ichs dir wieder geben, indem ich dir deinen eigenen Ring zeige, worauf dein Name gegraben ist. 11 „Trefflich ersonnen! “ höhnt der König. Sie besieht ihren Finger. „Weh mir! ich habe keinen Ring,“ bricht es nun aus ihr hervor. Gautami weiß die Stelle zu bezeichnen, an der Sakontala den Ring verloren haben muß, als sie sich Wasser über den Kopf goß im Teiche Satschitirtha, nahe dem Ort Sakrawatara. Doch der König bleibt ungerührt. Einmal noch versucht es Sakontala im guten und erinnert ihn an eine kleine Begebenheit mit einem Rehkälbchen, das Duschmanta tränken wollte, das aber nur von ihrer Hand das Wasser nahm. Als Duschmanta sie nun verspottet, gießt sie ihre ganze Verbitterung und ihren fassungslosen Zorn über ihn aus. Der Streit erreicht seinen Höhepunkt, beide Parteien glauben, ja, wissen sich im Recht. Die heiligen Männer weigern sich, Sakontala wieder mit nach Hause zu nehmen, wie auch der König ablehnt, sie aufzunehmen - beides aus Sittenstrenge und Frömmigkeit! Dann findet Duschmantas Priester einen Ausweg, das junge Weib möge bis zur Niederkunft in seinem Hause wohnen, denn: Weise Sterndeuter haben dem König versichert, daß er eines ruhmvollen Fürsten Vater werden soll, dessen Herrschaft gränzen wird an das Meer gegen Aufgang und Niedergang. Wird nun die Tochter des heiligen Mannes einen Sohn gebähren, an dessen Händen und Füssen die Zeichen weit ausgebreiteter Herrschaft sich offenbaren; so will ich ihr, als meiner Königin huldigen, und sie in die königlichen Zimmer führen; wo nicht, so kehre sie zu gesezter Zeit zu ihrem Vater zurück. 12 11 Ebd., S. 349 f. 12 Ebd., S. 352 f. <?page no="307"?> 303 Der König stimmt zu, der Priester gebietet Sakontala, ihm zu folgen. „O Erde, milde Göttin, gieb mir einen Plaz in deinem Schooße! “ Damit geht Sakontala weinend mit dem Priester ab, allein gelassen selbst von den Ihren. Nicht viel später melden Stimmen im Hintergrund ein „wundervolles Ereignis“. Der Priester erscheint wieder und berichtet dem König: Als Kannas Schüler abgereiset waren, stand Sakontala, beklagte ihr hartes Schicksal, breitete ihre Arme aus, und weinte: da - - […] Da stieg ein Lichtkörper, in weiblicher Gestalt, hernieder bei Apsarastirtha, wo man die Nymphen des Himmels verehrt; umfieng sie schnell und verschwand. „Zauberei“, meint der König und tut die Sache ab. Doch mit sich allein und vor sich selbst räumt er dann doch die Möglichkeit eines Irrtums ein. Umsonst suche ich mich auf die Hochzeit mit des Einsiedlers Tochter zu besinnen; und doch ist mein Herz so unruhig, daß ich ihrer Geschichte beinah Glauben beimessen möchte. 13 Wieviel Zeit vergangen ist, ehe nun der bereits sechste Akt mit einer Burleske à la Shakespeare einsetzt, bleibt unklar. Jedenfalls machen sich nun zwei Beamte und ein Aufseher über einen armen Fischer her, den sie als Dieb beschimpfen und mißhandeln: einen Ring des Königs mit dessen Namenszug habe er gestohlen. Als man den Mann beim versuchten Verkauf ertappte, wurde er gefaßt, und nun droht ihm die Todesstrafe trotz seiner Beteuerung, er habe den Ring in einem Fisch gefunden. Der Fall kommt vor den König. Der verfügt nicht Strafe, sondern Belohnung. Da ist nun also der Ring wieder, der ‚Schicksalsring’, und der Fundort des gefangenen Fisches deckt sich mit der von Gautami bezeichneten Stelle. Kannas Schüler hat vor seinem Abgang dem König „Elend“ prophezeit, das bricht nun über ihn herein. Dem Zuschauer offenbart es der Dichter zunächst durch äußere Dinge: ein Frühlingsfest wird verboten, der König trägt Trauer, ein Kämmerer beschreibt seine Erscheinung: O wie majestätisch ist doch eine edle Gestalt in jeder Kleidung! Unser Fürst selbst in der Hülle der Betrübnis flößt Ehrfurcht ein. Vergnügen, Schmuck, Geschäfte hat er verlassen; er ist hager geworden, und seine Armspange gleitet hinab bis an das Handgelenk; seine Lippen sind zersprungen von heissen Seufzern; offen starren seine Augen von langwierigem Kummer und von Schlaflosigkeit: dennoch blendet mich der Tugendglanz, den sein Antliz, wie ein schön geschliffener Diamant, von sich stralt. 14 Bei allen Vorgängen und Gesprächen gibt es eine heimliche Zeugin, die Waldnymphe Misrakesi, eine Freundin von Sakontalas Mutter, die schon bei der Auffindung des Ringes irgendwie ihre Hände mit im Spiel hatte und nun mit leichtherzig freundlichen Kommentaren die Verzweiflungsstimmung bei Hofe ein wenig mildert. Der König ist vollständig verstört, die Erinnerung hat ihn eingeholt. Von Liebe für Sakontala ganz erfüllt, wird sein Herz von Reue und ewig wiederholten 13 Ebd., S. 353. 14 Ebd., S. 359. <?page no="308"?> 304 Selbstvorwürfen zerrissen. Dem närrischen Freund Madhawya 15 enthüllt er schließlich seine Seele und erwartet Hilfe von diesem weltweisen Brahmanen: DUSCHMANTA. (nach langem Sinnen). O mein Freund, lehre mich ein Mittel gegen diese Qualen. MADHAWYA. Welcher neue Schmerz peinigt dich? So sollte der Tugendhafte nie sich härmen; der heftigste Sturm erschüttert kein Gebirge. DUSCHMANTA. Wenn ich an die Lage deiner Freundin Sakontala denke, die ich tief betrüben mußte, indem ich sie verlies, dann bleibt mir kein Trost mehr übrig. Sie wollte den Bramen und der Matrone folgen: Bleib! rief der Schüler des Weisen, den man verehrte wie den Weisen selbst. […] Da blickte sie mich noch einmal an, mich, ihren Verräther, und ein Strom von Zähren floß über das himmlische Antliz. - - O die bloße Vorstellung ihres Schmerzes brennt mich wie ein vergifteter Wurfpfeil. 16 Duschmanta hat Sakontalas Gemälde in Auftrag gegeben, die Malerin bringt es herbei, es dient ihm nun dazu, die unvergleichliche Schönheit Sakontalas seinem Freund Punkt für Punkt vor Augen zu führen. Misrakesi, die heimlich anwesende Nymphe, bestätigt bei sich die große Ähnlichkeit des Bildes mit Sakontalas Mutter, ihrer geliebten Freundin. Wir dürfen vermuten, daß sie auch hier in irgendeiner Form heimlich Einfluß nimmt. Je länger der König jedoch das Bild betrachtet, desto weniger scheint es ihn zu befriedigen: Das Bild ist noch unendlich unter dem Original; nur ergänzt meine lebhafte Phantasie seine Mängel und giebt mir auf diese Art eine Vorstellung der Liebenswürdigkeit meiner Erwählten. Immer neue Änderungen und Zusätze fordert er für das Gemälde, um sich den Augenblick des ersten Kennenlernens zurückzurufen. Von den Hügeln im Hintergrund und dem Malinistrom mit seinen Flamingos bis zu einzelnen Bäumen und Antilopen um die Einsiedelei, alles soll auf das Gemälde. Und daran nicht genug: Die Künstlerin hat die Sirischablume vergessen, deren Stängel hinter dem weichen Ohre steckt, und deren Staubfäden zum Teil auf ihrer Wange schweben. Im Busen muß ein Straus von zarten Fasern, aus den Wasserlilienstängeln, wie Stralen des herbstlichen Mondes, ruhen. 17 Jedes Detail von Sakontalas Umgebung und ihrer Erscheinung will er sich im Bilde neu erschaffen. Er steigert sich so weit hinein in diese Kunstwelt, daß er sich über die Biene erzürnt, vor der sich das gemalte Mädchen zu fürchten scheint. Vom Freund in die Realität zurückgeholt, klagt der König: Ich geniesse das Entzücken ihres Anblicks, an welchem meine Seele hängt, und du grausamer Erinnerer mußt mir sagen, daß es nur ein Bild ist? (Weint.) 18 15 Korrekter: ‚M āţ havya’, bedeutend ‚der dem Kloster M. Zugehörige’. 16 Ebd., S. 361. 17 Ebd., S. 365. 18 Ebd., S. 366. <?page no="309"?> 305 Die ganze Zeit über hat Misrakesi, die Nymphe, die Trauer des Königs mit Aufmerksamkeit und wachsender Befriedigung heimlich verfolgt und für sich kommentiert. Ihr letzter Zweifel ist getilgt, da nun Duschmanta in seinen Klagen fortfährt. Warum pflege ich des unabläßigen Grams? Die Dauer dieser Unruhe raubt mir den Umgang mit meiner Holden im Traum und meine Thränen lassen mich ihr Bild sogar nicht deutlich sehen. MISRAKESI. (bei Seite). Dieses Leiden beweiset seine Unschuld; er verließ sie gewis nicht bei gesunden Sinnen. Dann reißt eine Reihe von äußeren Geschehnissen den König aus seiner Lethargie. Zunächst gilt es, das Gemälde vor der vermiedenen und eifersüchtigen Königin zu retten, eine Aufgabe, die dem etwas widerstrebenden Freund Madhawya zufällt. Bis auf die Burgmauer will er mit dem Bild flüchten. Die Aktion der Königin wird jedoch durch eine Amtshandlung vereitelt, vor der sie das Feld räumt. Ein reicher Kaufmann, der noch keine Kinder hatte, ist verunglückt. Sein Vermögen von vielen Millionen fällt, wenn der König es befiehlt, an die königliche Schatzkammer. DUSCHMANTA. […] O wie gros ist das Unglück, kinderlos zu sterben! Bei so grossem Reichthum muß er gleichwohl viele Frauen gehabt haben. Laß fragen, ob eine von ihnen schwanger sei. Es stellt sich wirklich heraus, daß eine von ihnen schwanger ist, und der König tritt sofort von seinen Erbansprüchen zurück. Nun weitet sich sein Schmerz über den Verlust Sakontalas aus zur Verzweiflung über den Verlust seines ungeborenen Kindes. Seine eigene Kinderlosigkeit fällt ihm schwer auf die Seele: Meine rechtmäßige Gattin, die ich unwürdig verließ, thront in meiner Seele; ach, sie wäre der Ruhm meines Hauses gewesen; sie hätte mir vielleicht einen Sohn gegeben, glänzend wie das köstlichste Erzeugnis der fruchtbaren Erde. […] Mit mir endigt sich Purus Stamm, der bisher so fruchtbar und tadellos blieb; wie der Fluß Saraswati sich in einer Gegend verliert, die seiner göttlichen Fluthen unwürdig ist. (Er sinkt in Ohnmacht.) 19 Von lauten Hilferufen wird der König jäh aus seiner Ohnmacht geweckt. Sie kommen von dem Freund Madhawya, der oben auf der Mauer, nicht von der Königin, sondern von einem Dämon angegriffen, um sein Leben zittert. Zornergrimmt eilt Duschmanta, ihm Beistand zu leisten, spannt seinen Bogen - und findet den Brahmanen unversehrt neben Matali, dem Götterboten, dem Wagenlenker des Gottes Indra. In dessen Namen trägt Matali ihm nun auf, in den Krieg gegen ein Riesenvolk zu ziehen, das Indra allein nicht besiegen könne. „So besteige nun mit mir Indras Wagen, fasse deinen Bogen, und eile zum gewissen Siege.“ Zuvor will der König aber noch wissen, warum sein armer Freund bedroht wurde. Darauf Matali: 19 Ebd., S. 368 f. <?page no="310"?> 306 Ich merkte, daß du, ich weis nicht warum, sehr schmerzlich betrübt warst, und wünschte deine Kräfte hervorzurufen, indem ich dich in Harnisch brachte. Das Feuer lodert, wenn man Holz darauf wirft; die gereizte Schlange schießt mit dem Kopfe nach dem Widersacher; und der Mann, der Ruhm erringen kann, strengt seine Kräfte an, wenn man seinen Muth aufregt. 20 Mit einem Auftrag an seinen Freund, der der Sicherheit des Volkes gilt, steigt Duschmanta zu Matali in den Wagen. Damit endet der sechste Akt; im siebenten und letzten finden wir Duschmanta wiederum in des Gottes Indra Wagen mit dessen Lenker Matali - hoch über den Wolken. Zwischen beiden Luftfahrten liegt des Königs Sieg über das Volk der Riesen, das der große Donnerer allein nicht hätte unterwerfen können. Gefragt, „auf welcher Bahn der Winde“ sie reisten, antwortet Matali: Dies ist der Weg, der zum dreifachen Flusse führt, der höchsten Zierde des Himmels, der Weg, der jene Gestirne in Kreisen wälzt, indes sie ihre Stralen verbreiten. Es ist die Richtung des sanftwehenden Lüftchens, das die schwebenden Gestalten der Götter emporträgt; Dann durchbrechen sie die Wolkenschicht und Duschmanta blickt entzückt, da der Wagen langsam niedergeht, auf die immer deutlicher sich abzeichnende Landschaft des „Erdballs“. DUSCHMANTA. Sage mir, Matali, wie heißt das Gebirge dort, das wie ein Abendgewölk erfrischende Ströme hinabgießt und zwischen den Meeren des Aufgangs und Niedergangs den goldenenGürtel bildet? MATALI. Hemakuta heißt es, das Gebirge der Gandharwas; nirgends enthält das Weltall eine schönere Stätte, wo glücklicher Erfolg die Andacht der Frommen krönt. - Kasyapa, Vater der Unsterblichen, Herrscher der Menschen, Maritschis Sohn, der vom Selbstständigen entsprang, - Kasyapa wohnt dort mit Aditi, seiner Gemahlin, selig in heiliger Abgeschiedenheit. 21 Während Matali des Königs Ankunft dem Götterpaar meldet, wird Duschmanta eines Kindes ansichtig, das mit einem jungen Löwen spielt, sehr zum Mißfallen seiner beiden Wärterinnen, die das Löwenbaby wieder seiner Mutter zurückgeben wollen. Es entsteht ein Wortgeplänkel, aus dem der Mut des Knaben ersichtlich wird. Die beiden Frauen bitten den König um Hilfe, das Kind dazu zu bringen, von dem Tier abzulassen. Mit freundlicher Ermahnung gelingt dies dem König, den der Anblick des Knaben mehr und mehr mit Entzücken, aber auch mit Trauer über seine eigene Kinderlosigkeit erfüllt. Es ergeben sich zur Verwunderung der Wärterinnen seltsame Auffälligkeiten, so die Ähnlichkeit der Hände des Kindes mit denen des Königs, die Unwirksamkeit eines schützenden Amuletts, das Fremde bei Berührung sofort als Schlange bedrohen müßte, vor allem jedoch die spontane große Zuneigung, die beide füreinander empfinden. Dann plötzlich fällt der Name Sakontala. Hand in Hand mit dem Knaben tritt der König vor dessen Mutter - Hoffnung, Zweifel und Furcht im Herzen. Nun folgt die große Anagnorisis- Szene: 20 Ebd., S. 372. 21 Ebd., S. 374 f. <?page no="311"?> 307 DUSCHMANTA. (zwischen Freude und Wehmut). Ach! erblick’ ich die unvergleichliche Sakontala im unscheinbaren Trauergewand? - Ihr abgehärmtes Gesicht trägt die Spur von strenger Büssung; vereinzelt fällt die geflochtene Haarlocke über ihre Schulter, und mit vollkommen reinem Gemüthe erträgt sie die lange Abwesenheit ihres Gatten, dessen Unfreundlichkeit alle Gränzen überstieg. SAKONTALA. (die ihn sieht und noch zweifelt). Ist das der Sohn meines Herrn 22 , dem Reue und Leid die Wange bleichten? - Wo nicht, wer ists, der mit seiner Berührung die Hand meines Kindes besudelt, wofür sein Amulet es bewahrt haben sollte? KNABE (läuft auf sie zu). Mutter, hier ist ein Fremder, der nennt mich seinen Sohn. DUSCHMANTA. O Geliebteste, ich habe dich grausam mishandelt; allein die zärtlichste Liebe hat meine Grausamkeit verdrängt; ich flehe dich an um Erinnerung und Verzeihung. SAKONTALA (bei Seite). Getrost, mein Herz! - (Laut.) Ich werde mich höchst glücklich schäzen, wenn des Königs Zorn vorüber ist. - (Bei Seite.) Es muß der Sohn meines Herrn seyn. DUSCHMANTA. Des Himmels Güte, du Liebenswürdigste deines Geschlechts, läßt dich wieder vor mir stehen, dem des Zaubers Finsternisse das Gedächtnis verdunkelten; wie der Stern Rohini, am Ende der Mondfinsternis sich wieder zu seinem geliebten Monde gesellt. […] KNABE. Mutter, wer ist der Mann? […] (Sie weint.) DUSCHMANTA. Verbanne, Einziggeliebte, aus deinem Gemüthe das Andenken meiner hartherzigen That. Ein schrecklicher Wahnsinn hatte sich meiner Seele bemächtigt; mit der besten Absicht handelt man so, wenn finstere Täuschung die Oberhand behält; wie der Blinde, wenn ein Freund sein Haupt mit einem Blumenkranz schmückt, ihn für eine Schlange hält und thörig von sich wirft. (Er fällt ihr zu Füssen.) SAKONTALA. Steh auf, mein Gemahl! - Mein Glück ward auf lange Zeit unterbrochen; doch jezt folgt auf Betrübnis Freude, denn meines Herrn Sohn liebt mich noch. - (Er steht auf.) Wie ward das Andenken der Unglücklichen dem Sohne meines Herrn wiedergegeben? DUSCHMANTA. Wenn der Pfeil des Jammers ganz aus meiner Brust gezogen ist, will ich dir alles erzählen; jezt ist der Seelenschmerz zum Theil besänftigt, drum laß mich erst die Thräne wegwischen, die von deiner zarten Wimper fällt, und mit ihr das Andenken an alle Thränen, die du über meinen Wahnsinn vergossen hast.[…] 23 Die Wiedererkennung wiederholt sich im kleinen, da Sakontala den Schicksalsring an Duschmantas Hand erblickt. Die Fragen, die sich daraus ergeben, unterbricht Matali, indem er Duschmanta vor das Götterpaar lädt. Kasyapa und Aditi - Personifikationen des unendlichen Raums und des Tages, zollen dem König Dank für die Hilfe, die er ihrem Sohn Indra, Himmelsverkörperung und Gott des Gewitters, gegen die Riesen geleistet und so für ihn den Sieg errungen hat. Matali und Duschmanta werfen sich vor den Gottheiten nieder, die Segenssprüche über den König sprechen. Noch lange möge er hinfort die Welt beherrschen, lange ein Krie- 22 Der Titel bezieht sich vermutlich auf eine Gottheit. 23 Ebd., S. 380 ff. <?page no="312"?> 308 ger sein, „des Wagen unzerschmettert bleibe im Treffen“. Dann geht es um Sakontala, die mit ihrem Sohn vor den Gottheiten niederfällt. Auch über ihnen werden Segenssprüche ausgesprochen. Es folgt, indem sich nun alle zusammen setzen, ein persönliches Gespräch, wobei Kasyapa mit dem Lob seiner drei Gäste beginnt. In ihm werden sich alle Rätsel um Schuld und Verzweiflung lösen. Nun bricht es aus Duschmanta hervor: O göttliches Wesen, nun ich das vorige Ziel meiner heissesten Wünsche erlangt habe, stehe ich durch deine Gnade auf dem Gipfel irdischer Glückseligkeit, und dein Segen sichert ihre Dauer. - - Zuerst erscheint die Blume, darnach die Frucht; zuerst sammlen sich die Wolken, dann fällt der Regen; dies ist die stete Ordnung der Ursachen und Wirkungen. So auch, wenn deine Güte vorangeht, folgt ihr Glückseligkeit nach. […] Maritschis hehrer Sohn, diese deine Handmagd heirathete ich nach der Ordnung Gandharwas, und nach einiger Zeit führten sie einige ihrer Angehörigen nach meinem Pallast, allein ein Wahnsinn raubte mir mein Gedächtnis; ich versties sie und beleidigte dadurch den ehrwürdigen Kanna, der zu deiner göttlichen Nachkommenschaft gehört. Späterhin, da ich diesen entscheidenden Ring erblickte, entsann ich mich meiner Liebe und meiner Heirath; allein noch erfüllt mich der ganze Vorgang mit Verwunderung. Eine seltsame Unwissenheit verfinsterte meine Sinne und verwirrte meine Seele; […] KASYAPA. Klage dich nicht länger eines Verbrechens an, mein Sohn, welches du unwissend, mithin schuldlos begiengst. Jetzt höre mich - - 24 Nun enthüllt die Gottheit die Zusammenhänge der ganzen tragischen Verwicklung in allen Einzelheiten und Duschmanta darf aufatmen: „So ist mein Name rein von Schande.“ Sakontala weiß noch das letzte fehlende Glied der verkettenden Umstände beizutragen, indem sie zu dem Schluß kommt, ihre Freundinnen hätten ihr wohl aus übergroßer Liebe den Fluch verheimlicht. Darauf der Gott: Du weißt die ganze Wahrheit, meine Tochter. Zürne nicht länger deinem Herrn. Er verwarf dich, als die Macht des Zaubers sein Gedächtnis geschwächt hatte, und sobald die Finsternis zerstreut war, erwachte seine eheliche Liebe. So der Spiegel, dessen Oberfläche verunreinigt wird; er wirft kein Bild zurück; giebt man ihm aber seinen Glanz wieder, so zeigt er vollkommen ähnliche Züge. 25 Duschmanta stimmt zu: „Diese Bewandtnis hatte es wirklich mit mir.“ Dann richtet sich die Aufmerksamkeit des Gottes auf das Kind. Er selbst habe bei dessen Geburt die Zeremonien verrichtet, die im Veda vorgeschrieben seien. Großes ist ihm prophezeit: Wisse auch, daß ihn seine Heldentugend zur Herrschaft erhöhen wird, von einem Meer zum andern. Ehe er über den Ozean des sterblichen Lebens hinwegschifft, wird er herrschen, ohne Gleichen in der Schlacht, über diese Erde mit ihren sieben Halbinseln; und wie er jetzt Serwademana heißt, weil er schon in seiner Kindheit die reissendsten Thiere zähmt, so wird er in reiferen Jahren den Namen Bhereta erlangen, denn er wird die Welt erhalten und ernähren. 26 24 Ebd., S. 383. 25 Ebd., S. 384. 26 Ebd. <?page no="313"?> 309 Die Göttin erinnert nun an Kanna, den weisen Pflegevater Sakontalas, und errät damit deren innigsten Wunsch. Ein Götterbote wird ausgesandt, ihm die Botschaft der glücklichen Wendung im Schicksal der jungen Familie zu überbringen. Dann gilt ein letzter Segensspruch Kasyapas dem König: In Zukunft möge der Gott des Luftkreises in reichlichen Regenschauern Überfluß herabsenden auf dein liebendes Volk! Mögen vielfältige Opfer dir des Donnerers Freundschaft erhalten! Durch unzählig gewechselte Dienstleistungen zwischen Euch beiden, werde den Einwohnern beider Welten gegenseitiges Glück zu Theil! […] Welche fernere Gunst kann ich dir noch erzeigen? 27 Darauf Duschmanta: Giebt es noch Gnade, die diese übertrift? - - Ein jeder König strebe nach dem Wohl seines Volks! Sereswati, die Göttin freier Künste, werde von allen Lesern des Weda verehrt; und Siwa […], ewig mächtig und selbstständig, wende ab von mir den Schmerz einer abermaligen Geburt in dieser vergänglichen Welt, dem Schauplatz von Verbrechen und Strafen! Damit ist das letzte Wort gesprochen. „Alle gehen ab.“ * * * Forsters Übersetzung des Dramas, das er ohne die englische Vorlage, aber mit dem „Vorbericht des englischen Übersetzers“ und mit einem eigenen Glossar versehen, veröffentlichte, wurde ein durchschlagender Erfolg zuteil. Schiller hatte, wie ja bereits gesagt, sofort etliche Seiten als Probe in Thalia abgedruckt, Herder pries es in seinen Zerstreuten Blättern und schrieb, da das Buch schnell vergriffen war, ein Vorwort zur zweiten Auflage. Hier steht auch seine Feststellung, in der er mit Schiller übereinstimmte: „Eine Menge erhabener sowohl als zarter Vorstellungen finden sich hier, die man bey einem Griechen vergebens suchen würde […]“. 28 Goethes Dank an Forster ist verlorengegangen. Forster erwähnt ihn sowie das beiliegende Epigramm, das auch er erhalten habe, in einem Brief an Jacobi. Das Konzept eines späteren Briefes Goethes an Forster ist vorhanden. 29 1792 lieh sich Goethe von Forster, laut dessen Postbuch, Jones’ englische Übersetzung, die ihn in seinem positiven Urteil über Forsters Arbeit befestigte. Lebenslang blieb ihm das Drama wichtig. Im zweiten Buch seiner Italienischen Reise, für das er 1815 bis 1817 seine alten Briefe redigierte, findet sich unter dem Datum des 1. März (1787, Neapel) eine Stelle, die manchem Goethe-Philologen Kopfzerbrechen gemacht hat. Es handelt sich um einen vergleichenden Hinweis auf das Drama Sakontala, das er zum Zeitpunkt seines Aufenthalts in Neapel noch nicht gekannt haben konnte. Man spekulierte, der Abschreiber habe möglicherweise im Originalbrief nur die Abkürzung „S.“ gefunden und statt des gemeinten ‚Spinoza’ versehentlich „Sakontala“ gesetzt. Daß jedoch Goethe die Stelle mit Bedacht in 27 Ebd., S. 385. 28 Herder, Sämmtliche Werke, XXIX, Berlin 1889. S. 666. 29 An Johann Georg Adam Forster, 25. Jun 1792; WA IV. 9. 313. Siehe auch Leitzmann, Zu Goethes Briefwechsel mit Georg Forster in Vierteljahrsschrift für Literaturgeschichte 6 (1893). S. 152-156. <?page no="314"?> 310 den viel früheren Text interpolierte, geht aus einem sehr ähnlich lautenden Brief von 1830 hervor, auf den noch zurückzukommen sein wird. Ähnlich wie Goethe die ‚Epiphanie’-Erfahrung Jakob Böhmes mit der zinnernen Schüssel als Gleichnis für eine eigene Erleuchtung gebrauchte (vgl. S. 276 f.), so setzt er im folgenden das Drama ein, um eine ganz bestimmte Erfahrung einer menschlichen Beziehung in ihrem vollen Gewicht zu vermitteln. […] Wer hat es nicht erfahren, daß die flüchtige Lesung eines Buches, das ihn unwiderstehlich fortriß, auf sein ganze Leben den größten Einfluß hatte und schon die Wirkung entschied, zu der Wiederlesen und ernstliches Betrachten kaum in der Folge mehr hinzutun konnte. So ging es mir einst mit „Sakontala“, und geht es uns mit bedeutenden Menschen nicht gleicherweise? Der erwähnte späte Brief ging an Antoine Léonard de Chézy, einen französischen Orientalisten, seit 1814 Professor für Sanskrit in Paris. Chézy hatte Goethe seine Prachtausgabe von K ā lid ā sas ´ Sakuntal ā im Urtext mit französischer Übersetzung (Paris 1830) gesandt. Als Motto hatte de Chézy Goethes Epigramm Sakontala auf das Titelblatt seiner Ausgabe gesetzt. Goethe antwortete: Sie werden nicht zweifeln, verehrter Mann, daß ich mit dankbarem Herzen die schöne Gabe empfing, die Sie mir auf das geneigteste zudachten. […] Jetzt […] darf [ich] aussprechen, welch ein ganz vorzügliches Geschenk Sie mir durch die Übersetzung der Sa kuntal a verliehen haben. Das erste Mal als ich dieses unergründliche Werk gewahr wurde, erregte es in mir einen solchen Enthusiasmus, zog mich dergestalt an, daß ich es zu studieren nicht unterließ, ja sogar zu dem unmöglichen Unternehmen mich getrieben fühlte, es, wenn auch nur einigermaßen, der deutschen Bühne anzueignen. Durch diese wenngleich fruchtlosen Bemühungen bin ich mit dem höchst schätzbaren Werke so genau bekannt geworden, es hat eine solche Epoche in meinem Lebensgange bestimmt, es ist mir so eigen geworden, daß ich seit dreißig Jahren weder das Englische noch das Deutsche je wieder angesehen habe. Nun aber begrüßt Ihre unmittelbare durchstudierte Übersetzung mich in hohen Jahren, wo der Stoff eines Kunstwerks, welcher sonst den Anteil meistens bestimmt, für die Betrachtung fast Null wird, und man der Behandlung allein, aber in desto höherem Grade, Ehre zu geben sich befähigt fühlt. Soll ich meine Betrachtungen hier im kurzen zusammenfassen: Ich begreife erst jetzt den überschwenglichen Eindruck, den dieses Werk früher auf mich gewann. Hier erscheint uns der Dichter in seiner höchsten Funktion, als Repräsentant des natürlichsten Zustandes, der feinsten Lebensweise, des reinsten sittlichen Bestrebens, der würdigsten Majestät und der ernstesten Gottesbetrachtung; zugleich aber bleibt er dergestalt Herr und Meister seiner Schöpfung, daß er gemeine und lächerliche Gegensätze wagen darf, welche doch als notwendige Verbindungsglieder der ganzen Organisation betrachtet werden müssen. Dieses alles wird uns nun erst recht eingänglich durch die anmutige, in so hohem Grade gebildete französische Sprache, und es ist uns im Augenblick zumute, als wenn wir alles Heitere, Schöne, Kräftige, was wir jemals in diesem Idiom vernommen, nochmals anklingend empfänden. Ich könnte noch lange fortfahren und gar manches Bedeutende hier anknüpfen; allein ich will abbrechen und nur noch wiederholt versichern: daß Ihre Sa kuntal a unter die schönsten Sterne zu rechnen ist, die meine Nächte vorzüglicher machen als meinen Tag. <?page no="315"?> 311 Ich schreibe Gegenwärtiges in der Sprache, in der ich am sichersten Gedanken und Empfindungen ausdrücke. Ich würde es tun, wenn ich auch nicht vermuten müßte, daß das schöne, von Ihnen so zart und bedeutend ausgesprochene Verhältnis zu einer werten, schmerzlich vermißten Gattin, die zu den Unsern gehörte, Sie auch mit unsrer Sprache, unsrer Art und Wesen näher befreundet habe. Dankbar, hochachtungsvoll verpflichtet J. W. v. Goethe 30 Goethes Lob gilt vornehmlich dem Werk des indischen Dichters und der französischen Sprache. Zur philologischen Exaktheit sich zu äußern, war er nicht befähigt, aber auch zu Stil und poetischer Qualität der Übersetzung im einzelnen bleibt jede Beurteilung aus. Im Prosateil des West-östlichen Divan spricht er über die drei verschiedenen Arten des Übersetzens. 31 Auch hierbei wird Sakontala zur Veranschaulichung herangezogen: Die erste [Art des Übersetzens] macht uns in unserm eigenen Sinne mit dem Auslande bekannt, eine schlicht-prosaische ist hiezu die beste. Denn indem die Prosa alle Eigenthümlichkeiten einer jeden Dichtkunst völlig aufhebt und selbst den poetischen Enthusiasmus auf eine allgemeine Wasser-Ebne niederzieht, so leistet sie für den Anfang den größten Dienst, weil sie uns mit dem fremden Vortrefflichen, mitten in unserer nationellen Häuslichkeit, in unserem gemeinen Leben überrascht und, ohne daß wir wissen wie uns geschieht, eine höhere Stimmung verleihend, wahrhaft erbaut. […] Eine zweyte Epoche folgt hierauf, wo man sich in die Zustände des Auslandes zwar zu versetzen, aber eigentlich nur fremden Sinn sich anzueignen und mit eignem Sinne wieder darzustellen bemüht ist. […] <Danach> erlebten wir den dritten Zeitraum, welcher der höchste und letzte zu nennen ist, derjenige nämlich, wo man die Uebersetzung dem Original identisch machen möchte, so daß eins nicht anstatt des andern, sondern an der Stelle des andern gelten solle. Diese Art erlitt anfangs den größten Widerstand; denn der Übersetzer der sich fest an sein Original anschließt giebt mehr oder weniger die Originalität seiner Nation auf, und so entsteht ein Drittes, wozu der Geschmack der Menge sich erst heranbilden muß. Hier folgt ein zufriedener Überblick über Übersetzungen europäischer Dichtung verschiedener Epochen und das Bedauern, daß für so manche orientalische Dichtung die erstgenannte Form einer Prosa-Übersetzung, deren Lektüre zunächst den Hauptsinn aufschließen sollte, noch vermißt werde. […] wir erfreuten uns am Geschichtlichen, Fabelhaften, Ethischen im Allgemeinen und vertrauten uns immer näher mit den Gesinnungen und Denkweisen, bis wir uns endlich damit völlig verbrüdern könnten. Man erinnere sich des entschiedensten Beyfalls den wir Deutschen einer solchen Uebersetzung der Sakontala gezollt, und wir können das Glück was sie gemacht gar wohl jener allgemeinen Prosa zuschreiben, in welche das Gedicht aufgelöst worden. Nun aber wär’ es an der Zeit uns davon eine Uebersetzung der dritten Art zu geben, die den verschiedenen Dialecten, rhythmischen, 30 HA Briefe IV, S. 401. 31 West-östlicher Divan 1819, Übersetzungen, FA 3/ 1 S. 280 ff. <?page no="316"?> 312 metrischen und prosaischen Sprachweisen des Originals entspräche und uns dieses Gedicht in seiner ganzen Eigenthümlichkeit aufs neue erfreulich und einheimisch machte. Da nun in Paris eine Handschrift dieses ewigen Werkes befindlich, so könnte ein dort hausender Deutscher sich um uns ein unsterblich Verdienst durch solche Arbeit erwerben. 32 In einem Entwurf zum geplanten Kapitel Indische Dichtungen zum Prosa-Teil des West-östlichen Divan von 1817 oder 1818 spricht Goethe ebenfalls von dem Drama: Vor allen wird Sakontala von uns genannt, in deren Bewunderung wir uns Jahrelang versenkten. Weibliche Reinheit, schuldlose Nachgiebigkeit, Vergeßlichkeit des Mannes, mütterliche Abgesondertheit, Vater und Mutter durch den Sohn vereint, die allernatürlichsten Zustände, hier aber in die Regionen der Wunder, die zwischen Himmel und Erde wie fruchtbare Wolken schweben, poetisch erhöht, und ein ganz gewöhnliches Naturschauspiel, durch Götter und Götterkinder aufgeführt. 33 1792 veröffentlichte Herder in seinen Zerstreuten Blättern 34 eine enthusiastische Rezension mit dem Titel Über ein morgenländisches Drama 35 und schickte sie auch mit einer Widmung an Forster. Als Motto setzte er Goethes Epigramm, und zwar in einer Fassung, die von der an Jacobi und wohl auch der an Forster (im verloren gegangenen Brief ) abweicht: Willt du die Blüthe des frühen, die Früchte des späteren Jahres, Willt du was reizt und entzückt, willt du was sättigt und nährt, Willt du den Himmel, die Erde mit Einem Namen begreifen - Nenn’ ich Sakontala Dich, und so ist alles gesagt. Goethe 36 Das Epigramm preist das indische Drama und mit ihm seinen Übersetzer, und so wurde es auch immer verstanden. Diese erste Bedeutung soll unangetastet bleiben, wenn sich auch bei genauerer Betrachtung jeder der beiden Fassungen (vgl. S. 298) ein weiterer Sinnzusammenhang offenbart. Die Herausgeber der Weimarer Ausgabe übernahmen zwar von der Ausgabe letzter Hand die von Herder gebrachte Version, für die es keine handschriftliche Vorlage gibt, halten jedoch gleichzeitig fest: Die Distichen auf Sakontala sind hier (4.122) nach der Fassung abgedruckt, in der sie Herder in der 4. Sammlung seiner Zerstreuten Blätter dem Aufsatz Über ein morgenländisches Drama als Motto vorangestellt hat. (In v.1 ist Blüthen in Blüthe zu ändern.) Worauf diese Fassung beruht, ob etwa auf einer Goetheschen Niederschrift, ist unbekannt. Daß Goethe die in der ersten Niederschrift (Brief an Jacobi) gebrauchte 1. Person der drei ersten Zeilen, mit der die Person 32 West-östlicher Divan, FA 3/ 1, S. 282. 33 WA I. 42 / 2. 50 f. 34 Herder, a. a. O., Zerstreute Blätter, 4. Sammlung, Bd. 16, S. 84-106. 35 Herder, ebd., s. hierzu WA I.5/ 2. 83: aus Lesarten rekonstruierbar die oben zitierte, am 1. Juni 1791 an F. H. Jacobi von Goethe selber mitgesandte Abschrift mit „Will ich […]“. 36 Bei Herder (wie Anm. 34). <?page no="317"?> 313 des Verbs in der letzten Zeile übereinstimmt, in die 2. Person geändert und so eine klare Construction in eine weniger klare verwandelt haben sollte, ist nicht sehr wahrscheinlich. Die alterthümliche Form Willt, die allerdings auch im Prometheus vorkommt […] ist gleichfalls auffallend. Die Herausgeber des Nachlasses haben sie in das übliche Willst geändert. So dürfte es wohl geraten sein, die Distichen in der Form zu drucken, in der sie der Dichter an Jacobi beigegeben hat (Briefe 9. 271). 37 Goethe selbst scheint an der von Herder gebrauchten Variante jedoch nichts auszusetzen gehabt zu haben, denn als er Jones’ englische Übersetzung des Dramas am 26. 6. 1792 an Forster zurückschickte, schrieb er ihm: „Sakontala kommt auch mit Danke zurück, was Herder darüber gesagt, werden Sie mit Vergnügen gelesen haben.“ 38 Forster besaß ja das Epigramm, vermutlich in derselben Version, die auch Jacobi erhalten hatte. Hätte Herder, was die Herausgeber der Weimarer Ausgabe anzudeuten scheinen, eigenmächtig so viel verändert, wäre dies nicht ohne Hinweis von Seiten Goethes hingenommen worden. Gemeinsam ist beiden Fassungen der Fluß der, abgesehen von den notwendig katalektischen Füßen, rein daktylischen Verse. Die einzige Ausnahme bildet das Wort „Einem“, das als Spondeus, also mit zwei langen Silben, gesetzt ist und dadurch besonderes Gewicht erhält. Die Großschreibung des Wortes, wie häufig bei Goethe, verstärkte Betonung markierend, wurde von den meisten Ausgaben der üblichen Orthographie geopfert. Dies gilt auch für das Pronomen „Dich“ im letzten Vers, das durch seine Position vor der Diärese des Pentameters sich ebenfalls als stark herausgehoben erweist. „Willt du“ mit jeweils folgender Kürze vierfach gesetzt, macht die Daktylen flüssiger und steigert dadurch noch die eben erwähnte Schwerung des einen, einzigen, Spondeus „Einem“. Auch diese Form wurde, wo die Variante mit der zweiten Person im Druck erschien 39 , meist in „Willst du“ abgeändert, denn mit der älteren, vom modernen Sprachgebrauch abweichenden Form läßt sich eine fiktive Person, also die Allgemeinheit, nicht gut anreden. Aber nun spricht der Dichter offenbar Sakontala selber in der letzten Zeile an - die meisten Ausgaben 40 setzten den Namen zwischen Kommata - und ändern damit innerhalb vierer Verse den Adressaten des Gedichts. Damit wäre die „weniger klare Construction“, von der die Weimarer Ausgabe spricht, nun tatsächlich gegeben, bei dem prägnanten und pointierten Charakter der epigrammatischen Diktion durchaus ein Makel. Nun läßt sich aber das Epigramm auch anders lesen. In diesem Fall ist die in der älteren, vertraulicheren Form angeredete Person weder eine potentiell-allgemein vorgestellte (also etwas wie ‚man’), noch auch das Drama 41 , sondern die geheime Geliebte eines ganzen Lebens. (Davon später noch mehr.) Sie nennt der Dichter Sakontala, „und damit ist alles gesagt.“ Keine doppelten Kommata, die den Namen abtrennten, keine Anführungsstriche oder sonstige Kennzeichnung, die sich auf einen Titel bezögen. Das durch Großschreibung und Position stark betonte „Dich“ ist nicht Apposition, als welche es von den 37 I. 4/ 2. 340. 38 WA IV. 9. 313. 39 Siehe WA I. 5/ 1. 83. 40 Nicht jedoch von Karl Eibl in FA oder z. B.von Karl Heinemann in Goethes Werke, Leipzig 1900. 41 FA druckt den Namen kursiv. <?page no="318"?> 314 meisten Editoren verstanden wird, sondern Objekt des Satzes: ‚Ich nenne Dich Sakontala’. Die Protagonistin des Dramas und die Geliebte werden in einem Namen verbunden. Daß diese Interpretation ‚stimmig’ ist, läßt sich durch die andere Variante zeigen. Keine der beiden Versionen ist je von Goethe selbst handschriftlich sanktioniert oder durch persönliche Veröffentlichung als gültige gekennzeichnet worden. Das meiste des hier Festgehaltenen betrifft auch die zuerst zitierte Version, in der an Stelle des vierfachen „Willt du“ ein vierfaches „Will ich“ gesetzt ist. Sie gibt Goethe die Möglichkeit, die von ihm zum Ausdruck von Gefühlen der Liebe und Zärtlichkeit gebrauchten sprachmusikalischen Chiffren ‚il’ und ‚li’ einzusetzen. Daß Goethe die beiden Wörter gebunden sprach, geht schon daraus hervor, daß er den Hiatus grundsätzlich, selbst in Briefen, vermied, was aus zahllosen Elisionen zu ersehen ist. Das „ich“ erscheint durch Bindung verschmolzen mit dem vorangehenden l, hat teil an der so geschaffenen Chiffre „li“ und ihrer Botschaft. Spiegelbildhaft vorweggenommen ist sie durch das „il“ von „Will“; mit ihr bildet sie in der Doppelfigur ein musikalisches Thema, das, immer wiederkehrend, das Epigramm durchzieht und auf sich einstimmt, quasi als klangliches Pendant zu der vertraulichen Form „Willt du“ der anderen Version. Metrisch bleibt „ich“ jedoch bei seinem fünffachen Vorkommen unbetont gegenüber dem stark hervorgehobenen „Dich“. Hätte Goethe übrigens an Stelle dieses „Dich“ ‚dir’ gesetzt, hätte die von den späteren Schulmeistern abgetane „unklare Construction“ der „Willt du“- Version leicht vermieden werden können. Aber eine solche war es eben doch nicht! Wie sehr beide Versionen gültig sind und nebeneinander Bestand haben sollen, zeigt schon die Tatsache, daß Goethe selbst keiner von ihnen den Vorzug gab, indem er sie in eine seiner Gedichtsammlungen aufnahm. (Angesichts der Wichtigkeit, die das Drama für ihn hatte, muß dies erstaunen.) Die gewollte Parallelisierung läßt sich auch unschwer aus dem Gehalt des Textes ermitteln. Der Dichter leiht sich Worte aus Duschmantas Rede vor der Gottheit in der Stunde der Erfüllung: „Zuerst erscheint die Blume, darnach die Frucht.“ Mit ihnen beginnt der Bau der Periode, die sich durch das ganze Epigramm spannt. Der erste Hexameter greift den Wortlaut auf, der Pentameter paraphrasiert und interpretiert ihn, indem er das Jahr der Vegetation symbolisch zum Menschenleben ausweitet und dabei die leidvolle Erfahrung in der Diärese verschweigt. Duschmanta sagt des weiteren: „Zuerst sammlen sich die Wolken, dann fällt der Regen.“ Die feuchtigkeitsträchtigen Wolken bringen dem tropischen Land Kühlung und deuten voraus auf den Regen, der es erquickt und fruchtbar macht. Auch hierfür gelten bereits Goethes „Himmel“ und „Erde“, auch wenn sie sich vor allem auf Duschmantas weitere Worte beziehen: „dies ist die stete Ordnung der Ursachen und Wirkungen. So auch,“ setzt er seine Rede an die Gottheit fort, „wenn deine Güte vorangeht, folgt ihr Glückseligkeit nach.“ 42 „Himmel“ bedeutet ja zweierlei, Firmament und Paradies. Beides trifft zu im Zusammenhang des Dramas. Das fünffach gesetzte „ich“ nimmt die Worte Duschmantas auf, verwandelt sie seinem Sprecher an, macht ihn zu ein- und derselben Person mit dem König, 42 Georg Forster, a.a.O., Bd. 8, S. 383. <?page no="319"?> 315 nennt in Identifikation mit Duschmanta die Geliebte Sakontala „und so ist alles gesagt.“. Dieses „alles“ trägt im Vers eine ganz starke Betonung. Es deutet auch hier wieder auf Pandora in Goethescher Sicht: Pandora mit all ihren guten Gaben und dem unendlichen Schmerz, den ihr Verlust mit sich bringt. 43 Ihr Name symbolisiert ja schon seit dem Prometheus-Fragment von 1773 eine starke Liebesbindung (vgl. S. 102 f.). In K ā lid ā sas Drama konnte Goethe sein eigenes und seiner Liebsten Schicksal „gespiegelt“ finden. Das Epigramm seinerseits spiegelt wiederum das Drama im Sinne des Experiments mit den beiden einander gegenübergestellten Spiegeln, wobei das Bild, je ferner und kleiner es erscheint, entsprechend an Leuchtkraft gewinnt (vgl. S. 13). In dem streng rechtlich denkenden und frommen König, der die einzig geliebte Frau aus eben dieser Gesinnung in seinem Wahn im Stich läßt, konnte Goethe sich selbst wiederfinden. In Sakontala läßt sich das ‚geopferte Mädchen’ unschwer erkennen. Ihren Namen gibt er der Geliebten. Dieser Name klingt an einen Vogelnamen an. Die Entdeckung dieser Bedeutung in Forsters Glossar 44 muß ihn seltsam angemutet haben, war ihm doch wohl bewußt, daß Cornelia dem Factotum (Lehrer, Schreiber und Kopist) im Goethe-Hause, Philipp Seidel, den er später als Sekretär nach Weimar mitnehmen sollte, bei ihrer Heirat zum Abschied ein Petschaft schenkte - kaum eine zufällige Gabe: Es zeigt das Bild eines Vogels, der einem geöffneten Käfig entfliegt, und trägt die Inschrift: „La liberté fait mon bonheur.“ 45 Ob sie es vorher selbst in Verwendung gehabt hatte oder nicht - jedenfalls war es dazu angetan, den Ausdruck ihres Seelenzustands zu übermitteln, ein Symbol, das der Befreiung aus dem Zwang des elterlichen Hauses galt, dem dann aber, nach ihrem Tode, für Goethe die gesteigerte Bedeutung einer Befreiung aus der unglücklichen Ehe zugewachsen sein muß. Auf sein eigenes Leben bezogen, hat Goethe Sakontalas Entrückung durch die Lichterscheinung im Moment der tiefsten Verzweiflung notwendig als Tod begriffen. Im Drama wird Sakontala einer lieblichen Liane verglichen, die den Amra- Baum umschlingt. 46 Wenn Goethe diesen Gedanken aufgreifen und fortspinnen wollte, mußte er eine Symbolpflanze einsetzen, die dem europäischen Raum gemäß ist, der Lianen kaum kennt. Er tat dies in einem Vierzeiler, (entstanden zwischen 1812 und 1815), der in dieser Arbeit schon einmal, jedoch in anderem Zusammenhang, mit der Elegie Amyntas, besprochen wurde (vgl. S. 109 f.): Efeu und ein zärtlich Gemüt Heftet sich an und grünt und blüht. Kann es weder Stamm noch Mauer finden, Es muß verdorren, es muß verschwinden. An der angegebenen Stelle wurde bereits darauf hingewiesen, daß das neutrale Personalpronomen, das sich, weiterführend, auf den einleitenden Satz bezieht, das erstgenannte Subjekt „Efeu“ nicht vertritt, obwohl dem Efeu als Symbolfigur 43 Pandora, v. 777 ff.: Wer von der Schönen zu scheiden verdammt ist, / Fliehe mit abgewendetem Blick! / Wie er, sie schauend, im Tiefsten entflammt ist, / Zieht sie ach! reißt sie ihn ewig zurück. 44 A. a. O., S. 419. 45 Vgl. Ernst Beutler, Am Großen Hirschgraben, S. 228. 46 Sakontala, S. 298. <?page no="320"?> 316 die Veranschaulichung des existentiellen Vorgangs übertragen ist. Dazu kommt, daß der botanische Sachverhalt nicht recht zu stimmen scheint; Efeu kann sich sehr wohl auch über den Boden verbreiten, zudem sind seine Dolden mehr als unscheinbar angesichts des immergrünen Laubs, das unsere Vorstellung beherrscht. Das Verb „blüht“ am Versende als Klimax nach „grünt“ fordert geradezu den vorrangigen Eindruck einer Blüte. Wenn man nun das Metrum betrachtet, so zeigt sich, daß es sich nicht festlegen läßt und daß es im Sinne des Rhythmus durchaus möglich wäre, „Efeu“ durch ‚Liane’ zu ersetzen und damit tropische Blütenpracht zu assoziieren. So ließe sich dieses kleine Gedicht auf Sakontala deuten, deren „Schwester“-Pflanze dem Amra-Stamm vermählt wird, während sie selber, aus der Heimat entfernt, vom Ehemann verbannt und aus dem Palast vertrieben wird, ohne „Stamm“ oder „Mauer“, die ihr Halt bieten könnten. Nehmen wir also an, daß Goethe an Stelle von „Efeu“ ‚Liane’ dachte, dann ergibt sich bei Silbenvertauschung als weiterer Schritt das Anagramm ‚Nelia’, und wie von selbst stellte sich das Schlüsselwort ‚Cor’ gedanklich an die Stelle von „zärtlich Gemüt“. Wiederum ein Platztausch - und der Singular wäre erklärt, der sich trotz zweier Subjekte durch sämtliche Verse hin erhält. So erweisen sich die beiden Nomina als Einheit, wie auch die Herrin mit der lianengleichen Sakontala in eins verschmolzen wird. Der Vierzeiler entpuppt sich so als Gegenstück zum Epigramm, das Sakontalas Namen zu Ihrem macht und damit alles gesagt wissen will. Bei solchen schlußfolgernden Gedankengängen darf man sich auf Goethes Wort berufen, das er 1821 im Zusammenhang mit Kannegießers Interpretation der Harzreise im Winter äußerte, nämliche „daß (der Erklärer) nicht gerade beschränkt sein soll alles, was er vorträgt, aus dem Gedicht zu entwickeln, sondern, daß er uns Freude macht, wenn er manches verwandte <! > Gute und Schöne an dem Gedicht entwickelt.“ (Vgl. S. 186.) Mit Sakontalas Entrückung (oder wie immer man es nennen mag) ist die Geschichte der beiden Liebenden nicht zuende. Duschmanta findet Sakontala wieder nach einer lebensbedrohenden Schlacht. Er erscheint vor ihr als ein Lebender, aber fliegt ein Lebender über Wolken dahin? Auch Mutter und Kind scheinen lebendig genug und doch befinden sie sich im Reich erhabenster Gottheiten. K ā lid ā sa stellt den Ablauf der Begebenheiten vor uns hin, aber er rührt nicht an das Geheimnis. Realismus und Phantastik der Schilderung bestehen nebeneinander. Das Ambiente des Anfangs des Stückes gleicht dem des Schlusses. Nur finden wir alles auf eine höhere Ebene emporgehoben: nicht mehr ein sakraler Waldbezirk bildet hier das Umfeld, sondern ein heiliges Gebirge; an die Stelle des halbgöttlichen, weisen Einsiedlers Kanna und seiner Gemahlin ist das Götterpaar Kasyapa und Aditi getreten, wobei der Name ‚Kasyapa’ gelegentlich auch auf Kanna angewandt wurde; selbst die beiden liebevollen Kinderfrauen entsprechen den beiden Freundinnen Sakontalas aus ihrer alten Heimat. Wie die Nymphe Menaka das Neugeborene dem menschlichen Einsiedlerpaar zur Pflege übergeben hat, so bringt sie die Verlassene später in den Palast der Göttin, deren „Haushalt sie angehört“. Himmel und Erde sind einander frappant ähnlich, stehen in direkter Verbindung miteinander, eine klare Abgrenzung zwischen ihnen läßt sich nicht wahrnehmen. Starb Sakontala in Wahrheit, als die „Lichterscheinung“ (ein Blitz? ) auf sie traf? Ist das Paradies, aus dem sie der König zurückholt, ein erträumtes, <?page no="321"?> 317 oder mußte er selber erst im Kriege fallen, ehe er dahin gelangen konnte? Betreffen die Glücksverheißungen eine spätere Reinkarnationsexistenz oder das gegenwärtige reale Leben, wie es den Anschein hat? All dies bleibt offen. Die Grenzen sind durchlässig. Himmel und Erde durchdringen einander, uns bleibt zu raten, wo irdisches Leben aufhört und paradiesisches beginnt. <?page no="322"?> 318 13. Das Nußbraune Mädchen Symphronismus „Jedes Existierende ist ein Analogon alles Existierenden […]“ 1 . Diese Erkenntnis wird Wilhelm zuteil, als ihn Natalie in den „Saal der Vergangenheit“, eigentlich eine Krypta, führt: Wilhelm konnte sich nicht genug der Gegenstände freuen, die ihn umgaben. Welch ein Leben, rief er aus, in diesem Saale der Vergangenheit! man könnte ihn eben so gut den Saal der Gegenwart und der Zukunft nennen. So war alles und so wird alles sein! Nichts ist vergänglich, als der Eine der genießt und zuschaut. Hier dieses Bild der Mutter, die ihr Kind ans Herz drückt, wird viele Generationen glücklicher Mütter überleben, nach Jahrhunderten vielleicht erfreut sich ein Vater dieses bärtigen Mannes, der seinen Ernst ablegt, und sich mit seinem Sohne neckt. So verschämt wird durch alle Zeiten die Braut sitzen, und bei ihren stillen Wünschen noch bedürfen, daß man sie tröste, daß man ihr zurede; so ungeduldig wird der Bräutigam auf der Schwelle horchen, ob er hereintreten darf. […] Es war eine Welt, es war ein Himmel, der den Beschauenden an dieser Stätte umgab, und außer den Gedanken, welche jene gebildeten Gestalten eregten, außer den Empfindungen, welche sie einflößten, schien noch etwas anderes gegenwärtig zu sein, wovon der ganze Mensch sich angegriffen fühlte. 2 In den Wanderjahren lernt Wilhelm die prinzipielle Weiterführung solcher Bildbetrachtung kennen, als er sich in der „Pädagogischen Provinz“, vom „Ältesten“ geleitet, nun abermals mit Werken der Bildenden Kunst konfrontiert findet. Hier wendet Goethe wieder seine längst gewohnte Sichtweise an, um sie weiter zu vertiefen: „Es ist hier,“ sagte der Älteste, „wo wir diejenige Religion überliefern, die ich euch der Kürze wegen die ethnische genannt habe. Der Gehalt derselben findet sich in der Weltgeschichte, so wie die Hülle derselben in den Begebenheiten. An der Wiederkehr der Schicksale ganzer Völker wird sie eigentlich begriffen.“ „Ihr habt,“ sagte Wilhelm, „wie ich sehe, dem israelitischen Volk die Ehre erzeigt und seine Geschichte zum Grunde dieser Darstellung gelegt, oder vielmehr ihr habt sie zum Hauptgegenstande derselben gemacht.“ - „Wie ihr seht,“ versetzte der Alte: „denn ihr werdet bemerken, daß in den Sockeln und Friesen nicht sowohl synchronistische als symphronistische Handlungen und Begebenheiten aufgeführt sind, indem unter allen Völkern gleichbedeutende und gleiches deutende Nachrichten vorkommen. So erblickt ihr hier, wenn in dem Hauptfelde Abraham von seinen Göttern in der Gestalt schöner Jünglinge besucht wird, den Apoll unter den Hirten Admets oben in der Friese; woraus wir lernen können, daß wenn die Götter den Menschen erscheinen, sie gewöhnlich unerkannt unter ihnen wandeln.“ 3 1 Betrachtungen im Sinne der Wanderer, FA 10, S. 575 (H 554). 2 WMLJ 8, 5; FA 9, S. 921 f. 3 WMWJ 2, 2; FA 10, S. 424 f. <?page no="323"?> 319 Das jedoch, worauf es hier über das Offensichtliche hinaus ankommt, bleibt unausgesprochen, nämlich die Problematik einer abverlangten Opferung eines geliebten Menschen - im Falle Abrahams von Jahwe im letzten Augenblick verhindert, im Falle Admets durch das Eingreifen des Herakles (vgl. S. 292) rückgängig gemacht. Nur an dieser einen Stelle gebraucht Goethe das Wort ‚symphronistisch’. Es bedeutet, ebenso wie ‚analog’, gleichsinnig, ist aber umfassender. ‚Logos’ bedeutet ‚Wort’, ‚Sinn’, ‚Verstand’; ‚ φρήν ’, heißt zunächst ‚Zwerchfell’, des weiteren ebenfalls ‚Sinn’ und ‚Verstand’, darüber hinaus aber auch ‚Seele’, ‚Einsicht’ und ‚Geist’. Gegenüber dem vorwiegend rationalen Aspekt der Analogie, umfaßt Symphronismus also auch die Dimension des Emotionalen, der Stimmung, des Unausgesprochenen. Symphronismus deutet auf die verborgene Quintessenz von Gegebenheiten, wobei er die von Goethe immer wieder gepriesenen Qualitäten der Analogie einschließt. So ließ Goethe schon in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten die einsichtige Baronesse sagen: „Ich liebe mir sehr Parallelgeschichten. Eine deutet auf die andere hin und erklärt ihren Sinn besser als viele trockene Worte.“ 4 Die Rahmenerzählung der Wanderjahre 5 In solchem Sinne ist Śa kuntal ā von großer Wichtigkeit besonders für die Wanderjahre. Die Problemstellung der Rahmenerzählung des Romans scheint Goethe dem ihm so lieben indischen Drama entnommen zu haben, das ja, andererseits, mit seinem Vorspiel auf dem Theater auch zu jenem des Faust die Anregung gab. 6 Nicht umsonst nennt Goethe die Protagonistin der Rahmenerzählung, neben vielen anderen bekannten und geheimeren Namen, „Nußbraunes Mädchen“ und weist so hin auf ihr indisches Vorbild mit seinem ähnlichen Schicksal, wie zu zeigen versucht werden soll; ein Punkt daraus sei jedoch vorweggenommen: Wie Sakontala in ein himmlisches Ambiente entrückt wird, wo sie dem „Haushalt“ einer Göttin angehört, so findet das Leben des nußbraunen Mädchens sein Ziel im heiligen Bereich Makariens. Makarie wird von Juliette und Hersilie und Lenardo, mit denen sie korrespondiert, „Tante“ genannt. Μακαρία bedeutet ‚Seligkeit’. Tante heißt griechisch ‚ θεῖα ; ‚ θεῖος ’ als Adjektiv bedeutet aber auch ‚göttlich’. Fremdsprachlich verschlüsselt meint Theia also beides, die ‚Tante’ wie auch die ‚Göttliche’ 7 , welch Letzteres ihrer großen Weisheit und Güte, seelischen Heilkraft und schließlich ihrer Integration in kosmisches Geschehen durchaus entspricht. Vor allem wird sie auch mehrfach die „Heilige“ 8 genannt. Ihr Bereich ist ähnlich ambivalent diesseitig und jenseitig wie der von Aditi und Kasyapa im indischen Drama. Die Korrespondenz zwischen den einzelnen Mitgliedern von Makariens Kreis bereitet die Geschichte des Nußbraunen Mädchens vor 9 und eröffnet die Rahmenerzählung des Romans. 4 FA 9, s. 1058 unten. 5 Wilhelm Meisters Wanderjahre wird hier nach der 1829 veröffentlichten Version zitiert. 6 Vgl. Ulrich Gaier, a. a. O., Bd. 2, Komm. I, S. 24. 7 So wörtlich für Makarie WMWJ 3,14; FA 10, S. 726, Z. 2. 8 WMWJ 3,14; FA 10, S. 725, Z. 14 und Z. 21. 9 Ebd., 1, 6; FA 10, S. 333 ff. <?page no="324"?> 320 Die Handlung in Ablauf und Deutung Lenardo, von einer langen Reise in die Heimat zurückgekehrt, ist zutiefst beunruhigt über das Schicksal eines jungen Mädchens, das seinerzeit mit seinem Vater von Haus und Hof vertrieben werden sollte, um die überfällige Pachtschuld flüssig zu machen, mit deren Hilfe der reiche und unzugängliche Gutsbesitzer und Oheim die große Bildungsreise des Neffen zu finanzieren gedachte. Schon als Kind nannte man sie „das nußbraune Mädchen“ seiner bräunlichen Gesichtsfarbe wegen. Des Mädchens Vater war, so Lenardo in seinem Bericht an Wilhelm, von Art der Stillen im Lande, aber nicht, wie seines Gleichen, dabei klug und tätig; wegen seiner Frömmigkeit und Güte zwar geliebt, doch wegen seiner Schwäche als Haushalter gescholten. 10 Die Tochter, die nach dem Tod der Mutter den Haushalt führte, war noch „viel zu jung, um entschieden einzugreifen.“ 11 Die letzte Begegnung mit ihr beherrscht nun, wenn auch nicht völlig wahrheitsgemäß und vollständig berichtet, Lenardos Erinnerung: „Ich hatte meine Reise im Sinn, und die Mittel dazu mußt’ ich billigen. Alles war bereit, das Packen und Loslösen ging an, die Augenblicke drängten sich. Eines Abends durchstrich ich noch einmal den Park, um Abschied von den bekannten Bäumen und Sträuchern zu nehmen, als mir auf einmal Valerine in den Weg trat: denn so hieß das Mädchen; das andere war nur ein Scherzname, durch ihre bräunliche Gesichtsfarbe veranlaßt. Sie trat mir in den Weg.“ Lenardo hielt einen Augenblick nachdenkend inne. „Wie ist mir denn? “ sagte er: „hieß sie auch Valerine? Ja doch,“ fuhr er fort; „doch war der Scherzname gewöhnlicher. Genug, das braune Mädchen trat mir in den Weg und bat mich dringend, für ihren Vater, für sie, ein gutes Wort bei meinem Oheim einzulegen. Da ich wußte, wie die Sache stand, und ich wohl sah, daß es schwer, ja unmöglich sein würde, in diesem Augenblick etwas für sie zu tun, so sagte ich’s ihr aufrichtig, und setzte die eigne Schuld ihres Vaters in ein ungünstiges Licht.“ „Sie antwortete mir darauf mit so viel Klarheit und zugleich mit so viel kindlicher Schonung und Liebe, daß sie mich ganz für sich einnahm und daß ich, wäre es meine eigene Kasse gewesen, sie sogleich durch Gewährung ihrer Bitte glücklich gemacht hätte. Nun waren es aber die Einkünfte meines Oheims; es waren seine Anstalten, seine Befehle; bei seiner Denkweise, bei dem was bisher schon geschehen, war nichts zu hoffen. Von jeher hielt ich ein Versprechen hochheilig. Wer etwas von mir verlangte, setzte mich in Verlegenheit. Ich hatte mir es so angewöhnt abzuschlagen, daß ich sogar das nicht versprach, was ich zu halten gedachte. Diese Gewohnheit kam mir auch diesmal zu statten. Ihre Gründe ruhten auf Individualität und Neigung, die meinigen auf Pflicht und Verstand, und ich leugne nicht, daß sie mir am Ende selbst zu hart vorkamen. Wir hatten schon einigemal dasselbe wiederholt, ohne einander zu überzeugen, als die Not sie beredter machte, ein unvermeidlicher Untergang, den sie vor sich sah, ihr Tränen aus den Augen preßte. Ihr gefaßtes Wesen verließ sie nicht ganz; aber sie sprach lebhaft, mit Bewegung, und indem ich immer noch 10 WMWJ 1, 11; FA, S. 394. 11 Ebd. <?page no="325"?> 321 Kälte und Gelassenheit heuchelte, kehrte sich ihr ganzes Gemüt nach außen. Ich wünschte die Szene zu endigen; aber auf einmal lag sie zu meinen Füßen; hatte meine Hand gefaßt, geküßt, und sah so gut, so liebenswürdig flehend zu mir herauf, daß ich mir in dem Augenblick meiner selbst nicht bewußt war. Schnell sagte ich, indem ich sie aufhob: ich will das Mögliche tun, beruhige dich mein Kind; und so wandte ich mich nach einem Seitenwege. Tun Sie das Unmögliche! rief sie mir nach. - Ich weiß nicht mehr was ich sagen wollte, aber ich sagte: ich will, und stockte. Tun Sie’s! rief sie auf einmal erheitert, mit einem Ausdruck von himmlischer Hoffnung. Ich grüßte und eilte fort. 12 Im Trubel der Abreise unternahm Lenardo etliches, sein Versprechen einzulösen. Ehe er sich an den Oheim wenden wollte, hoffte er, durch dessen Geschäftsträger Hilfe für die Bedrängten zu erlangen; doch der Mann war zunächst nicht aufzufinden, und als dies endlich glückte, wies er Lenardo auf die völlige Hoffnungslosigkeit des Vorhabens hin, den Oheim umzustimmen. Er würde sich nur dessen Unwillen zuziehen, ohne etwas erreicht zu haben. Lenardo berichtet weiter: „Ich ließ mich mit meinem Gesuch zurückschrecken, jedoch nicht ganz. Ich drang in ihn, da doch die Ausführung von ihm abhänge, gelind und billig zu verfahren. Er versprach alles, nach Art solcher Personen, um für den Augenblick in Ruhe zu kommen. Er ward mich los; der Drang, die Zerstreuung wuchs! ich saß im Wagen und kehrte jedem Anteil, den ich zu Hause haben konnte, den Rücken.“ „Ein lebhafter Eindruck ist wie eine andere Wunde; man fühlt sie nicht, indem man sie empfängt. Erst später fängt sie an zu schmerzen und zu eitern. Mir ging es so mit jener Begebenheit im Garten. So oft ich einsam, so oft ich unbeschäftigt war, trat mir jenes Bild des flehenden Mädchens, mit der ganzen Umgebung, mit jedem Baum und Strauch, dem Platz, wo sie knieete, dem Weg den ich einschlug mich von ihr zu entfernen, das Ganze zusammen wie ein frisches Bild vor die Seele. Es war ein unauslöschlicher Eindruck, der wohl von andern Bildern und Teilnahmen beschattet, verdeckt, aber niemals vertilgt werden konnte. Immer erneut trat er in jeder stillen Stunde hervor, und je länger es währte, desto schmerzlicher fühlte ich die Schuld, die ich gegen meine Grundsätze, meine Gewohnheit auf mich geladen hatte, obgleich nicht ausdrücklich, nur stotternd, zum erstenmal in solchem Falle verlegen.“ „Ich verfehlte nicht in den ersten Briefen unsern Geschäftsmann zu fragen, wie die Sache gegangen. Er antwortete dilatorisch. Dann setzte er aus, diesen Punkt zu erwidern; dann waren seine Worte zweideutig, zuletzt schwieg er ganz. Die Entfernung wuchs, mehr Gegenstände traten zwischen mich und meine Heimat; ich ward zu manchen Beobachtungen, mancher Teilnahme aufgefordert; das Bild verschwand, das Mädchen fast bis auf den Namen. Seltener trat ihr Andenken hervor, und meine Grille, mich nicht durch Briefe, nur durch Zeichen, mit den Meinigen zu unterhalten, trug viel dazu bei, meinen frühern Zustand mit allen seinen Bedingungen beinahe verschwinden zu machen. Nur jetzt, da ich mich dem Hause nähere, da ich meiner Familie, was sie bisher entbehrt, mit Zinsen zu erstatten gedenke, jetzt überfällt mich diese wunderliche Reue - ich muß sie selbst wunderlich nennen - wieder mit aller Gewalt. Die Gestalt des Mädchens frischt sich auf mit den Gestalten der Meinigen, und ich fürchte nichts mehr als zu vernehmen, sie sei in dem Unglück, in das ich sie gestoßen, zu Grunde gegangen: denn mir schien mein Unterlassen 12 Ebd., S. 395 f. <?page no="326"?> 322 ein Handeln zu ihrem Verderben, eine Förderung ihres traurigen Schicksals. Schon tausendmal habe ich mir gesagt, daß dieses Gefühl im Grunde nur eine Schwachheit sei, daß ich früh zu jenem Gesetz: nie zu versprechen, nur aus Furcht der Reue, nicht aus einer edlern Empfindung getrieben worden. Und nun scheint sich eben die Reue, die ich geflohen, an mir zu rächen, indem sie diesen Fall statt tausend ergreift, um mich zu peinigen. Dabei ist das Bild, die Vorstellung, die mich quält, so angenehm, so liebenswürdig, daß ich gern dabei verweile. Und denke ich daran, so scheint der Kuß, den sie auf meine Hand gedrückt, mich noch zu brennen.“ 13 Wilhelm, dem die Aufgabe zugeteilt wird, Lenardo seiner Familie wieder zuzuführen, kann ihn über das Schicksal Valerinens beruhigen. Sie lebe „vergnügt“ als „Gattin eines wohlhabenden Gutsbesitzers“, so äußert sich auch Lenardos Tante, Makarie. Ein Besuch auf dem benachbarten Gute bestätigt dies zwar, nur war die mit Spannung von einer Ausfahrt Zurückerwartete nicht die Gesuchte. „[…] wie erstaunte, wie erschrak Lenardo, als er sie aussteigen sah. Sie war es nicht, es war das nußbraune Mädchen nicht. […]“ 14 „Ich soll, so scheint es,“ sagte Lenardo [später, als sich die Freunde allein sahen], „meine Qual nicht los werden. Eine unglückliche Verwechslung des Namens, merke ich, verdoppelt sie. Diese blonde Schönheit habe ich oft mit jener Braunen, die man keine Schönheit nennen durfte, spielen sehen; ja ich trieb mich selbst mit ihnen, obgleich so vieles älter, in den Feldern und Gärten herum. Beide machten nicht den geringsten Eindruck auf mich; ich habe nur den Namen der einen behalten und ihn der andern beigelegt. Nun finde ich die, die mich nichts angeht, nach ihrer Weise über die Maßen glücklich, indessen die andere, wer weiß wohin, in die Welt geworfen ist.“ […] Wilhelm, der wohl einsah, daß ohne Nachricht von dem nußbraunen Mädchen Lenardo sich in der peinlichsten Lage befinde, brachte das Gespräch auf frühere Zeiten, auf Gespielen, auf’s Lokal, das er selbst kannte, auf andere Erinnerungen, so daß Valerine zuletzt ganz natürlich darauf kam des nußbraunen Mädchens zu erwähnen und ihren Namen auszusprechen. Kaum hatte Lenardo den Namen Nachodine gehört, so entsann er sich dessen vollkommen; aber auch mit dem Namen kehrte das Bild jener Bittenden zurück, mit einer solchen Gewalt, daß ihm das Weitere ganz unerträglich fiel, als Valerine mit warmem Anteil die Auspfändung des frommen Pachters, seine Resignation und seinen Auszug erzählte, und wie er sich auf seine Tochter gelehnt, die ein kleines Bündel getragen. Lenardo glaubte zu versinken. 15 Wenn Wihelm nun seine Hilfe bei der Auffindung des Nußbraunen Mädchens zusagt, so geschieht dies unter vielerlei Bedingungen und Vorkehrungsmaßnahmen. Er beschwört Lenardo, bei allem was Ihnen wert und heilig ist, sich und den Ihrigen und mir, dem neuerworbenen Freund, zu Liebe, keine Annäherung, es sei unter welchem Vorwand es wolle, zu jener Vermißten sich zu erlauben; von mir nicht zu verlangen, daß ich den Ort und die Stelle, wo ich sie finde, die Gegend, wo ich sie 13 Ebd., S. 397 f. 14 Ebd., S. 402. 15 Ebd., S. 403 f. <?page no="327"?> 323 lasse, näher bezeichne oder gar ausspreche: Sie glauben meinem Wort, daß es ihr wohlgeht und sind losgesprochen und beruhigt. 16 Daß Wilhelm hier kraft irgendeiner höheren Weihe zu sprechen scheint, entzieht sich Lenardos Einsicht. Lenardo lächelte und versetzte: „Leisten Sie mir diesen Dienst und ich werde dankbar sein. Was Sie tun wollen und können, sei Ihnen anheim gegeben und mich überlassen Sie der Zeit, dem Verstande und wo möglich der Vernunft.“ „Verzeihen Sie“, versetzte Wilhelm; „wer jedoch weiß, unter welchen seltsamen Formen die Neigung sich bei uns einschleicht, dem muß es bange werden, wenn er voraussieht, ein Freund könne dasjenige wünschen, was ihm in seinen Zuständen, seinen Verhältnissen notwendig Unglück und Verwirrung bringen müßte.“ „Ich hoffe“, sagte Lenardo, „wenn ich das Mädchen glücklich weiß, bin ich sie los.“ 17 Hier hat sich Lenardo im Ton vergriffen, wenn er das sakrale „losgesprochen“ aus Wilhelms Worten an eine idiomatische Redewendung anklingen läßt. Er will um jeden Preis als nicht allzu involviert verstanden sein, verrät sich aber gerade durch seine vorgegebene Distanziertheit. Wie so oft bei Goethe, tritt erst in einer viel später erscheinenden Stelle der volle Tatbestand (oder Zusammenhang) zutage. So auch hier, wenn Lenardo, vermutlich nach Jahren, Wilhelm gegenüber bekennt: „Sie erinnern sich gar wohl, mein Bester, in welchem wundersamen, leidenschaftlichen Zustande Sie mich den ersten Augenblick unserer neuen Bekanntschaft getroffen; ich war versunken, verschlungen in das wunderlichste Verlangen, in eine unwiderstehliche Begierde, es konnte damals nur von der nächsten Stunde die Rede sein, vom schweren Leiden, das mir bereitet war, das mir selbst zu schärfen ich mich so emsig erwies. Ich konnte Sie nicht bekannt machen mit meinen früheren Jugendzuständen, wie ich jetzt tun muß, um Sie auf den Weg zu führen, der mich hierher gebracht hat.“ 18 Hier geht es wesentlich um Lenardos technische Begabung, und nur wie nebenbei kommt sein damaliger Seelenzustand zur Sprache. Doch ist es eben diese Begabung fürs Technische, die ihn zuletzt selber auf die Spur der Vermißten bringt. Manches andere aus Lenardos früher Zeit mag ähnlich verborgen geblieben sein. Gegen Ende des Romans, da Lenardo die Gesuchte gefunden und sie in Makariens Kreise eine würdige Stelle eingenommen hat, ohne sich zunächst mit Lenardo enger verbinden zu wollen, werden sein Charakter und sein Schicksal zum Thema für Makarie, den Astronomen und Angela - eine Runde, deren Diesseitigkeit oder Jenseitigkeit sich nicht festlegen läßt. […] Lenardo’s Inneres glaubten sie deutlich vor sich zu sehen, er ist für den Augenblick beruhigt, der Gegenstand seiner Sorge wird höchst glücklich; Makarie hatte für die Zukunft auf jeden Fall gesorgt. Nun hatte er das große Geschäft mutig anzutreten und zu beginnen, das Übrige dem Folgegang und Schicksal 16 Ebd., S. 408. 17 Ebd., S. 408 f. 18 Ebd., 3, 4; FA 10, S. 614. <?page no="328"?> 324 zu überlassen. Dabei konnte man vermuten, daß er in jenen Unternehmungen hauptsächlich gestärkt sei durch den Gedanken, sie dereinst, wenn er Fuß gefaßt, hinüber zu berufen, wo nicht gar selbst abzuholen. 19 (Was es mit dem „Auswandern“, von dem im Roman so oft die Rede ist, tatsächlich auf sich hat, wird nie klar dargelegt! ) Die Erzählung vom Nußbraunen Mädchen demonstriert, wie das Schicksal Duschmantas auch in einer Zeit, in der Flüche oder verhängnisvolle Ringe keinerlei Relevanz haben, durchaus wiederholbar sein kann. Das Vergessen wird psychologisch motiviert mit jahrelanger Abwesenheit von gewohnter Umgebung, mit den immer neuen Eindrücken, die eine große Reise mit sich bringt, und nicht zuletzt mit dem Wunsch nach Ablösung: „Ich wollte die Welt sehen und mich ihr hingeben und wollte für diese Zeit meine Heimat vergessen,“ 20 wie es in dem Brief „Lenardo an die Tante“ heißt. Aber der Anstoß von außen fehlt nicht ganz. An die Stelle des erzürnten Brahmanen mit seiner Verwünschung tritt ein finanzmächtiger, furchteinflößender Oheim, der sich von einmal gefaßten Beschlüssen nicht abbringen läßt. Die Rückkunft des Reisenden in den Kreis seiner Familie entspricht dem wiedergefundenen Ring mit dem Namen des Besitzers als auslösendem Moment des Erinnerns, das Schuldbewußtsein, Reue und Verzweiflung weckt. Die Gefühle sind hier wie dort die gleichen, hier im Roman wie auch, so können wir entsprechend Goethes Identifikation mit dem indischen König im Sakontala-Epigramm folgern, in des Dichters eigenem Leben. In letzterem Fall hat vermutlich irgendein Schriftstück eine Erschütterung mit sich gebracht, wie sie Wilhelm beim Lesen der Briefe Marianes nach dem séance-artigen nächtlichen Treffen mit der alten Barbara durchlebt. 21 Der Geschichte des Nußbraunen Mädchens, so wie sie den Roman durchzieht, entspräche eigentlich ein Titel weit besser, der sich auf den Protagonisten bezöge, denn der wahre ‚Held’ des Geschehens ist hier ein ‚Neuer’ Duschmanta. Seine Sakontala nimmt nur dort Gestalt an, wo sie in seiner Erinnerung, seinem „Tagebuch“ und schließlich bei seiner Wiederbegegnung mit ihr, aufscheint. Nur ganz zuletzt, bei ihrer Berufung an die Stelle Angelas (= des Engels) in den heiligen Bereich Makariens, ist unabhängig von ihr die Rede. 22 Einschub: Die neue Melusine Ein Gegenstück zur Handlung um das Nußbraune Mädchen bildet das Märchen von der Neuen Melusine. 23 Es ist mit der Romanhandlung selbst kaum verknüpft - eine von zwei in der Ich-Form eher leichtfertig erzählten Begebenheiten aus dem Leben „St. Christophs“, des „Garnträgers“. In diesem Märchen, das Goethe bereits in Sesenheim erzählt haben will,“ 24 spielt nun wirklich ein Ring, ein Zauberring, eine 19 Ebd., 3,14; FA 10, S. 733. 20 Ebd., 1, 6; FA 10, S. 333. 21 WMLJ 7, 8; FA 9, S. 853 ff. 22 WMWJ 3, 14; FA 10, S. 731. 23 Ebd., 3, 6; FA 10, S. 633 ff. 24 DuW II, 10, FA 14, S. 485. <?page no="329"?> 325 tragende Rolle. Es ist der Ring, der einer Zwergenprinzessin gelegentlich zu normal menschlicher Statur verhilft und andererseits den munteren jungen Mann, mit dem sie auf der Reise zusammengetroffen ist, mit seiner Einwilligung zum Zwerglein schrumpfen läßt, damit eine Heirat der beiden möglich wird. Vorbehalte gibt es auf beiden Seiten des Paares. Auch ist der Wunsch nach einer für den Bestand des Zwergenreiches nötigen Schwangerschaft der Prinzessin durch einen Mann aus Menschenland bereits erfüllt. Sowohl seine Verliebtheit als auch Furcht vor Soldaten (Ameisen) aus dem königlichen Palast, den er vorher als zierliches Kästchen ahnungslos im Auftrag der Schönen getragen hat, bewegen den zögernden, nun winzigkleinen Jüngling letzlich doch zur Ehe. Aber es dauert nicht lange, bis er seiner Kleinheit überdrüssig wird. Alles um mich her war meiner gegenwärtigen Gestalt und meinen Bedürfnissen völlig gemäß, die Flaschen und Becher einem kleinen Trinker wohl proportioniert, ja wenn man will, verhältnismäßig besseres Maß als bei uns. Meinem kleinen Gaumen schmeckten die zarten Bissen vortrefflich, ein Kuß von dem Mündchen meiner Gattin war gar zu reizend, und ich leugne nicht, die Neuheit machte mir alle diese Verhältnisse höchst angenehm. Dabei hatte ich jedoch leider meinen vorigen Zustand nicht vergessen. Ich empfand in mir einen Maßstab voriger Größe, welches mich unruhig und unglücklich machte. Nun begriff ich zum ertenmal, was die Philosophen unter ihren Idealen verstehen möchten, wodurch die Menschen so gequält sein sollen. Ich hatte ein Ideal von mir selbst und erschien mir manchmal im Traum wie ein Riese. Genug, die Frau, der Ring, die Zwergenfigur, so viele andere Bande machten mich ganz und gar unglücklich, daß ich auf meine Befreiung im Ernst zu denken begann. <Eine allegorisch-psychologische Umkehrung des Themas anhand des Ringes> Weil ich überzeugt war, daß der ganze Zauber in dem Ring verborgen liege, so beschloß ich ihn abzufeilen. Ich entwendete deshalb dem Hof-Juwelier einige Feilen. […] Ich hielt mich tapfer an die Arbeit; sie war nicht gering: denn das goldene Reifchen, so dünn es aussah, war in dem Verhältnis dichter geworden, als es sich aus seiner ersten Größe zusammen gezogen hatte. Alle freien Stunden wendete ich unbeobachtet an dieses Geschäft und war klug genug, als das Metall bald durchgefeilt war, vor die Türe zu treten. Das war mir geraten: denn auf einmal sprang der goldne Reif mit Gewalt vom Finger und meine Figur schoß mit solcher Heftigkeit in die Höhe, daß ich wirklich an den Himmel zu stoßen glaubte und auf alle Fälle die Kuppel unseres Sommerpalastes durchgestoßen, ja das ganze Sommergebäude durch meine frische Unbehülflichkeit zerstört haben würde. Da stand ich nun wieder, freilich um so vieles größer, allein, wie mir vorkam, auch um so vieles dümmer und unbehülflicher. 25 In diesem Märchen stellt sich das Erleben rein als das des Mannes dar, was zum Teil in der Form der Ich-Erzählung begründet ist. Doch scheint keine Erwägung des Seelenzustands der Verlassenen die Entscheidung in irgendeiner Weise berührt zu haben. Die Flucht geschieht heimlich, ohne Abschied, ohne Brief, und auch die nun mit Gold gefüllte Schatulle, die noch eine Weile weiterhilft, wird ohne Gewissensbisse mitgenommen. Der Ich-Erzähler erscheint, wie ein Zerrspiegelbid des 25 WMWJ. 3, 6; FA 10, S. 655 f. <?page no="330"?> 326 abreisenden Lenardo, als einer, der mit dem Leben anderer leichtfertig umgeht und sich über die Folgen keine grauen Haare wachsen läßt. Und doch: seine Handlungsweise entspricht einem „Ideal“ seiner eigenen Person, das ihm vorschwebt und das nicht zu verwirklichen ihm als Unrecht vorkommen müßte. Wem steht es letzten Endes zu, abgesehen von der Form, in der es geschah, ihn zu verurteilen, wenn er sich von einer ihm ungemäß und unnatürlich erscheinenden Lebensweise befreit, statt auf dem als falsch erkannten Weg zu beharren und, dank einem einmal begangenen Fehler, seine Tage sorglos und angenehm, aber in Schuld gegenüber der Verantwortung dem eigenen Leben gegenüber hinzubringen? Dies ist zumindest ein Aspekt, unter dem der ganze immer wiederkehrende Komplex der verlassenen Frau, von der Marie in Clavigo und Gretchen im Faust bis hin zum Nußbraunen Mädchen auch zu betrachten wäre. Nur ist selbst im Fall des Märchens von der Neuen Melusine dieser Aspekt schon von Anfang her relativiert, wenn der inzwischen reifer gewordene Garnträger St. Christoph in einleitenden Worten seiner Erzählung vorausschickt, daß ich eine [Geschichte] zu erzählen habe, welche die bisherigen weit übertrifft, und die, wiewohl sie mir schon vor einigen Jahren begegnet ist, mich noch immer in der Erinnerung unruhig macht, ja sogar eine endliche Entwicklung hoffen läßt. 26 Worte, die erst bei wiederholtem Lesen der Geschichte volle Bedeutung gewinnen. Mit dem Märchen wird Lenardo in ironischer Übertreibung und Verfremdung sein eigenes früheres Verhalten vorgeführt, was ihn einerseits entlastet, andererseits anregen muß, über die völlige Aussparung der Folgen der Flucht des Helden: die Gefühle der Frau, ein verlassenes Kind - nachzudenken und damit sein Gewissen noch weiter zu schärfen. Was war schließlich das kleine Bündel, das das Nußbraune Mädchen beim Auszug getragen hat? - Wie Duschmanta findet Lenardo die von ihm so sehr Vermißte wieder - und auch wie er im Gebirge, wo sie, ‚verwitwet’, mit ihrem alten Vater lebt und eine Art von Handwerksgenossenschaft mit viel Umsicht und Verantwortungsgefühl für die Spinner und Weber ihres Tales leitet. Den Betrieb hat sie von ihrem verstorbenen Gatten oder Bräutigam - die Bezeichnungen wechseln - geerbt. Sie erzählt Lenardo ihre Geschichte, wobei die kritischste Zeit nach der Vertreibung auch gestreift wird. Das gegenseitige Erkennen bleibt längere Zeit zurückgehalten wie im indischen Drama oder in den Anagnorisis-Szenen der griechischen Tragödie. Lenardos Verwunderung, „wie sie in dieser rauhen Gegend, bei einem so mechanischen Geschäft, zu solcher Bildung habe gelangen können? “, bringt sie zum Sprechen. Sie versetzte, mit einem allerliebsten, beinahe schalkhaften Lächeln vor sich hinsehend: „ich bin in einer schönern und freundlichern Gegend geboren, wo vorzügliche Menschen herrschen und hausen, und ob ich gleich als Kind mich wild und unbändig erwies, so war doch der Einfluß geistreicher Besitzer auf ihre Umgebung unverkennbar. Die größte Wirkung jedoch auf ein junges Wesen tat eine fromme Erziehung, die ein gewisses Gefühl des Rechtlichen und 26 Ebd., 3, 6; FA 10, S. 633. <?page no="331"?> 327 Schicklichen, als von Allgegenwart göttlicher Liebe getragen, in mir entwickelte. Wir wanderten aus“, fuhr sie fort - das feine Lächeln verließ ihren Mund, eine unterdrückte Träne füllte das Auge - „wir wanderten weit, weit, von einer Gegend zur andern, durch fromme Fingerzeige und Empfehlungen geleitet; endlich gelangten wir hierher, in diese höchst tätige Gegend; das Haus, worin Sie mich finden war von gleichgesinnten Menschen bewohnt, man nahm uns treulich auf, mein Vater sprach dieselbe Sprache, in demselben Sinn, wir schienen bald zur Familie zu gehören. 27 Die Erzählerin trat an die Stelle der verstorbenen Tochter des Hauses und übernahm deren Namen Susanne. Eine Ähnlichkeit der Gesinnung, in religiöser und ethischer Hinsicht freier und eigenständiger als die der Familie, verband sie nach und nach mit dem Sohn des Hauses in einem rein geistigen Verhältnis, das er nach einem unvorhergesehenen Schicksalsschlag knapp vor seinem Tode durch Eheschließung besiegelte, um ihr die Nachfolge in sein Erbteil zu sichern. Dann starben die Eltern aus Gram über den Tod des Sohnes, der alte Vater der Erzählerin erlitt einen Schlaganfall. Nun war es an „Frau Susanne“, das Unternehmen allein weiterzuführen und gerecht für alle Mitarbeitenden zu sorgen. Dies ist also die Lage, in der Lenardo sie findet. Da ist der gelähmte, der Sprache nicht mehr mächtige Vater, und da sind zwei Mädchen, die Frau Susanne untergeben sind, und auch ein „Kind“, das sich um den Vater kümmert - ein Personal, ähnlich dem im letzten Akt des indischen Dramas. Die Erkennung wird durch den alten Vater eingeleitet, der hier die Gottheit vertritt und der, wie durch überirdische Kräfte beseelt, wieder über den Gebrauch seiner Glieder und der Sprache verfügt, da er Lenardo erblickt. Lenardo in seinem Tagebuch: „O Gott“, rief er, „der Junker Lenardo! er ist’s, er ist es selbst! “ Ich konnte mich nicht enthalten ihn an mein Herz zu schließen; er sank in den Stuhl zurück, die Tochter eilte hinzu, ihm beizustehen; auch sie rief: „Er ist’s! Sie sind es Lenardo! “ 28 Schon allein die Anwesenheit Lenardos im Haus, und umso mehr die Wiedererkennung, scheint eine mystische Erhebung, ja Verklärung in dem Kranken ausgelöst zu haben. Lenardo weiter in seinem Tagebuch: Sonntag, den 21. Mittag kam beinahe herbei, eh’ ich die Freundin wieder ansichtig werden konnte. Der Hausgottesdienst, bei dem sie mich nicht gegenwärtig wünschte, war indessen gehalten; der Vater hatte demselben beigewohnt und, die erbaulichsten Worte deutlich und vernehmlich sprechend, alle Anwesenden und sie selbst bis zu den herzlichsten Tränen gerührt. „Es waren“, sagte sie, „bekannte Sprüche, Reime, Ausdrücke und Wendungen, die ich hundertmal gehört und als an hohlen Klängen mich geärgert hatte; diesmal flossen sie aber so herzlich zusammengeschmolzen, ruhig glühend, von Schlacken rein, wie wir das erweichte Metall in der Rinne hinfließen sehen. Es war mir angst und bange er möchte sich in diesen Ergießungen aufzehren, jedoch ließ er sich ganz munter 27 Ebd., 3, 13; FA 10, S. 703 f. 28 Ebd., S. 708. <?page no="332"?> 328 zu Bette führen; er wollte, sagte er, sich sammeln und den Gast, sobald er Kraft genug fühle, zu sich rufen lassen.“ 29 Der Abend bringt die Entscheidung: Ein Kind, das indessen bei’m Vater geblieben war, bat mich zu eilen, der gute Mann sei unruhig. Wir traten hinein; heiter, ja verklärt saß er aufrecht im Bette. „Kinder“, sagte er, „ich habe diese Stunden im anhaltenden Gebet vollbracht, keiner von allen Dank- und Lobgesängen David’s ist von mir unberührt geblieben und ich füge hinzu, aus eignem Sinne mit gestärktem Glauben: Warum hofft der Mensch nur in die Nähe, da muß er handeln und sich helfen, in die Ferne soll er hoffen und Gott vertrauen.“ Er faßte Lenardo’s 30 Hand und so die Hand der Tochter, und beide ineinander legend sprach er: „das soll kein irdisches, es soll ein himmlisches Band sein; wie Bruder und Schwester liebt, vertraut, nützt und helft einander, so uneigennützig und rein wie euch Gott helfe.“ 31 Der Symphronismus zu Śa kuntal ā ist offensichtlich und spricht für sich selbst. Was zu denken gibt, sind die Abweichungen von der „eingespiegelten“ Vorlage. Während im indischen Drama eine geliebte Ehefrau vergessen und verstoßen wird, scheint es sich in Lenardos Fall, wenn wir ihm glauben dürfen, eher um eine Kinderfreundschaft zu handeln, jedenfalls um keine Liebesbeziehung im eigentlichen Sinne. Aber dürfen wir ihm glauben? - Muß man nicht annehmen, daß die übergroße Reue und Unruhe, doch noch einen anderen Nährboden hatte, als allein schlechtes Gewissen? Wie anders wäre der Unmut zu erklären, den Lenardo erfaßt, als er hört, Wilhelm habe die Verbindung zwischen Frau Susanne und dem Sohn des Hauses beschleunigt? 32 Unter den Lesarten findet sich eine Stelle, die diese Vermutung bestätigt; hier stellt Lenardo, nachdem er das Nußbraune Mädchen gefunden hat, Wilhelm zur Rede: […] und trotz Ihrer klugen Sorgfalt kam ich doch auf die Spur. Sie haben die gute Schöne selbst gesehen, ihren Zustand genau kennen gelernt und ihn doch nicht richtig beurteilt. Nur der Liebende fühlt und entdeckt was die Geliebte wünscht und bedarf, er weiß es ihr aus dem tiefsten Herzen heraus zu empfinden. […] 33 Später jedoch, da er die Lage besser überblickt, muß er dem Freunde recht geben. 34 Bedenken gegen eine Verbindung Lenardos mit dem Nußbraunen Mädchen bestehen bei allen jenen, denen eine tiefere Einsicht in die Lage zugebilligt werden darf. Da ist zunächst Wilhelm mit seiner umständlichen und feierlichen Erklärung der Bedingungen, unter welchen er die Suche auf sich zu nehmen bereit war. Da ist der sterbende Vater mit seinem Gebot eines „himmlischen Bandes“: „wie Bruder und Schwester liebt, vertraut, nützt und helft einander“. Warum wird ein „irdi- 29 Ebd., S. 712. 30 Hier und im folgenden noch zweimal spricht der Tagebuchschreiber Lenardo von sich in der dritten Person. 31 WMWJ 3, 13; S. 717 f. 32 WMWJ 3, 13; FA 10, S. 709. 33 WA, Lesarten zu I. 25. 68: I. 25 / II. 134. 34 WMWJ 3, 13; FA 10, S. 709. <?page no="333"?> 329 sches Band“ versagt? - In Makariens Kreise wird der Fall besprochen, ohne daß man zu einem klaren Ergebnis käme. Eine vordergründige Erklärung, wie z. B. die eines bestehenden Standesunterschiedes, wird dabei nicht gegeben. […] Man beachtete näher den seltenen Fall der sich hier hervortat: Leidenschaft aus Gewissen. Man gedachte zugleich anderer Beispiele einer wundersamen Umbildung einmal gefaßter Eindrücke, der geheimnisvollen Entwickelung angeborner Neigung und Sehnsucht. Man bedauerte daß in solchen Fällen wenig zu raten sei, würde es aber höchst rätlich finden sich möglichst klar zu halten, und diesem oder jenem Hang nicht unbedingt nachzugeben. 35 Von „angeborener“ Neigung ist hier die Rede, und darauf kommt es an. Selbst die Schöne-Gute, wie sie zuletzt heißt, scheint einer Verbindung mit Lenardo, zumindestens für die nähere Zukunft, abhold. Sie verlangt, da sie sich nun, wie man es nennt, „Makarien zur Seite“ fügt, daß Wilhelm sie abhole; gewisse Umstände sind noch zu berichtigen und sie legt bloß einen großen Wert darauf, daß er das was er doch eigentlich angefangen auch vollende. Er entdeckte sie zuerst, und ein wundersam Geschick trieb Lenardo auf seine Spur; und nun soll er, so wünscht sie, ihr den Abschied von dort erleichtern und so die Freude, die Beruhigung empfinden, einen Teil der verschränkten Schicksalsfäden selbst wieder aufgefaßt und angeknüpft zu haben. Nun aber müssen wir, um das Geistliche, das Gemütliche zu einer Art von Vollständigkeit zu bringen, auch ein Geheimeres offenbaren, und zwar folgendes: Lenardo hatte über eine nähere Verbindung mit der Schönen-Guten niemals das Mindeste geäußert; im Laufe der Unterhandlungen aber, bei dem vielen Hin- und Widersenden war denn doch auf eine zarte Weise an ihr geforscht worden, wie sie dies Verhältnis ansehe, und was sie, wenn es zur Sprache käme, allenfalls zu tun geneigt wäre. Aus ihrem Erwidern konnte man sich so viel zusammensetzen: sie fühle sich nicht wert einer solchen Neigung wie der ihres edlen Freundes, durch Hingebung ihres geteilten Selbst zu antworten. Ein Wohlwollen der Art verdiene die ganze Seele, das ganze Vermögen eines weiblichen Wesens; dies aber könne sie nicht anbieten. Das Andenken ihres Bräutigams, ihres Gatten und der wechselseitigen Einigung beider sei noch so lebhaft in ihr, nehme noch ihr ganzes Wesen dergestalt völlig ein, daß für Liebe und Leidenschaft kein Raum gedenkbar, auch ihr nur das reinste Wohlwollen und in diesem Falle die vollkommenste Dankbarkeit übrig bleibe. Man beruhigte sich hiebei, und da Lenardo die Angelegenheit nicht berührt hatte, war es auch nicht nötig, hierüber Auskunft und Antwort zu geben. 36 Das Geschehen im göttlichen Bereich des indischen Dramas spiegelt sich im Roman einerseits in einer erhaben-irdischen Szene und anderseits in einer in die Zukunft verlegten, erhofften endgültigen Vereinigung im himmlischen Bereich Makariens, d. h. auch, der Seligkeit, wie der Name sagt. Die Frage drängt sich auf, warum alle betroffenen Personen sich widerspruchslos einem geheimnisvoll vorwaltenden Gebot der Entsagung fügen. Das Rätsel bleibt unbesprochen, seine Auflösung jedoch angedeutet. 35 Ebd., 3, 14, FA 10, S. 733. Vgl. hierzu WMLJ 6; FA 9, S. 790, Bekenntnisse einer Schönen Seele: „[…] es mußte mir jemand angeboren sein, wenn er mir meine Sorgfalt abgewinnen wollte.“ 36 WMWJ, 3, 14; S. 731 f. <?page no="334"?> 330 Namen Was aufmerken läßt, ist die Anzahl der wechselnden Namen, die das Nußbraune Mädchen im Laufe der Geschichte erhält (als einzige Gestalt des Romans außer Jarno, der sich selber in „Montan“ umbenennt). Diese Abfolge kann nicht zufällig sein und ermuntert zum Nachdenken. Der eigentliche Name des Mädchens tritt in den Hintergrund gegenüber einem „Scherznamen“ 37 , der jedoch nie ausgesprochen wird. „Nußbraunes Mädchen“ ist ja als Name zum täglichen Umgang nicht brauchbar. Doch läßt sich annehmen, daß es einer bibelfesten Generation nicht fern lag, dabei an die sonngebräunte Sulamith des Hohen Liedes zu denken: Ich bin schwarz, aber gar lieblich, ihr Töchter Jerusalems, wie die Hütten Kedars, wie die Teppiche Salomos. Sehet mich nicht an, daß ich so schwarz bin; denn die Sonne hat mich so verbrannt. Meiner Mutter Kinder zürnten mit mir. Sie haben mich zur Hüterin der Weinberge gesetzt; aber meinen eigenen Weinberg habe ich nicht behütet. 38 Sulamith wird von ihren Geschwistern oder Halbgeschwistern in die Weinberge verbannt, der Sonnenglut preisgegeben und um ihren eigenen Weinberg, um ihre Rechte, gebracht. Ihre Schönheit ist Thema durch das ganze Hohe Lied, darüber hinaus wird sie mit Engeln verglichen: „Was sehet ihr an Sulamith? Den Reigen von Mahanaim! “ (Vgl, S. 142 f.) Um die erotischen Bezüge des Hohen Liedes zu vermeiden, mag man nach einem christlichen Äquivalent für den Namen Sulamith Ausschau gehalten haben und so auf die heilige Melania gestoßen sein. Der Name bedeutet ‚die Schwarze’, (von griech. μέλας, μέλαινα , αν ). Die Heilige stammte, wie eine weniger bekannte ältere, ebenfalls ‚heilige’ Verwandte gleichen Namens, aus dem Geschlecht der Valerier, daher hieß sie mit ‚vollem’ Namen Melania Valeria. 39 ‚Meline’ als „Scherzname“ und Deckname für Sulamith macht die seltsame Verwechslung mit Valerine plausibel, zu der sich ja Hersilie in ihrem Brief bezüglich der „Inen“ äußert. 40 Dies wäre, in der Gedankenkette rückwirkend, ein Schritt zur Erklärung des Irrtums: Nußbraunes Mädchen - Sulamith - Melania Valeria - (Valerine) - Meline 41 . Aber zurück zum Hohen Lied: Meine Schwester, liebe Braut, du bist ein verschlossener Garten, eine verschlossene Quelle, ein versiegelter Born. 42 Wie sehr die Geliebte des Hohen Liedes als Spiegelsymbol für Goethes Lebenshintergrund von Bedeutung ist, wurde anhand des Bräutigam-Gedichtes bereits ausführlich dargelegt. (Vgl. S. 138 ff.) Rund um die Gestalt des Nußbraunen Mädchens lassen sich verschiedene Sphären interpretatorischer Gegebenheiten erkennen, die sich wie Hüllen um 37 Ebd. 1,11, S. 395. 38 Hld. 5.6. 39 Erna und Hans Melchers, Die Heiligen, a. a. O., S. 836. 40 WMWJ 1, 6; FA 10, S. 337. Siehe auch Goethes Tagebucheintragung bereits vom 4. August 1807: „Einleitung der Geschichte der Inen in Briefform.“ WA III. 3, 253. 41 Diese letztere Form des Namens war gebräuchlich; so hieß z. B. eine Schwester Bettines. 42 Hld. 4,12. Hervorhebungen E. H. <?page no="335"?> 331 einen Kern legen, und zugleich mit ihm und miteinander untrennbar verschmolzen sind. Da ist zunächst eben die Sphäre der Romanfigur, des einstigen Kindes ‚Meline’, die mit der des Mädchens Sulamith aus dem Hohen Lied in eins verfließt - beide Gestalten aus ihrem Heim vertrieben, in einem Fall durch Geschwister, im anderen…? Hier schimmert bereits die Region eines anderen Nußbraunen Mädchens herein, die der Sakontala. Die Bilder schieben sich über- und ineinander: das Kind Sulamith-Meline, die „wilde Hummel von Brünette“, 43 im Spiel mit den Freundinnen wie Sakontala; dann verzweifelt bittend wie sie; endlich, wie sie, von einem mit Vergessen geschlagenen Freund im Stich gelassen. Konnte, wie gesagt, der „Scherzname“ bisher nur erschlossen werden, so fällt der eigentliche Name des nußbraunen Mädchens im Roman nur höchst selten. Entweder wird mittels letzterer Wendung von ihr gesprochen (einmal auch vom „braunen Mädchen“ 44 ) oder aber der irrtümlich eingesetzte Name Valerine tritt in Lenardos Erzählung an die Stelle des richtigen. Der aber lautet Nachodine 45 . Er ist weder antiker Mythologie oder Geschichte entlehnt, noch verzeichnet ihn der christliche Kalender. Goethe hat ihn selbst gebildet, bzw. durch die Endung romanisiert, und ihm zugleich eine Schlüsselfunktion erteilt, wiederum mit Bezügen auf mehreren Ebenen. Es ist Peter Horwaths Verdienst, der Semantik der Wurzel ‚ahod bzw. nachod’ in slawischen Sprachen nachgegangen zu sein. 46 Er verweist zunächst darauf, daß die bisherige Forschung den Namen mit der böhmischen Stadt Nachod in Zusammenhang gebracht hat, die für ihre Baumwollindustrie bekannt war, was der Romanhandlung mit Einschränkung entspricht. 47 Nachod ist jedoch nur einer von vielen Orten, die mit Spinnen und Weben zu tun hatten. Danach befaßt er sich mit dem Wort selber und findet folgende Bedeutungen: ‚nachodinie’ (poln.) bedeutet ‚eine Frau aus Nachod’; nachodzi ć (poln.) heißt ‚flehen’; ‚nahodile’ (tschech.) zufällig; ‚náhoda’ (tschech.) heißt Zufall; ‚nachádzat’ und ‚nachodit’ (slovak.) entspricht finden, entdecken; ‚nahoditi’ (serb.) = finden; ‚nahodinka’ und ‚nahodka’ (h = ch ) (serb. und russ.) Findling, Waise, Straßenkind. 48 Daraus zieht er für den Roman folgende Schlüsse: Die „Wanderjahre“ kennen eine Flehende, es ist die Rede von einer Vermißten (I/ 11, S. 143 und S. 144) und von einem glücklichen Fund (III/ 13, S. 418)! Wilhelm schreibt in bezug auf Nachodine: Endlich … kann ich sagen, sie ist gefunden. (vgl. II/ 6, S. 225) 49 Darüber hinaus vermutet Horwath autobiographische Zusammenhänge und verweist mit dem Blick auf das Gedicht Gefunden auf „Christiane, die wie durch Zufall in einer Parkanlage in das Privatleben Goethes als Flehende und Gefundene eintrat.“ 50 43 WMWJ 1, 6; FA 10, S. 337. 44 WMWJ 1, 11; FA 10, S. 395. 45 WMWJ 1, 6; FA 10, S. 337 und 1, 11; S. 404. 46 Peter Horwath, Zur Namengebung des „nußbraunen Mädchens“ in „Wilhelm Meisters Wanderjahren“. In: GJb. N.F. 89 (1972), S. 297-304. 47 Ebd., S. 301 Anm. 5: „[… ] Zu Nachod und seinem Schloß siehe auch Zedler Bd. 23, S. 228 f.“ 48 Horwath, a. a. O., S.301 f. 49 Horvath, a. a. O., S. 302. Anm. 1 des Autors: Die dem Text eingefügten Zahlen beziehen sich auf „Wilhelm Meisters Wanderjahre“, hrsg. von Trunz, HA, 6. Aufl., Bd. 8. 50 Horvath, S. 303. <?page no="336"?> 332 Während Horwath bei seiner Namensdeutung den ganzen Verlauf des Romangeschehens, bzw. Goethes Begegnung mit Christiane als einer Erwachsenen, im Sinn hat, scheint es jedoch plausibler, daß der Name, den das Kind ja schon bei der Taufe erhielt, eher auf die Umstände seiner Herkunft verweist. So gesehen, gewinnen die Nomina ‚nahodinka’, ‚nahodka’ an Signifikanz. Nicht zufällig nennt man sein Kind „Findling“ oder „Waise“, was durch die französische Endung des Namens verschleiert wird. Es liegt nahe, daß das pietistisch-fromme Paar sich eines Kindes angenommen hat, das von seinen Eltern verlassen worden war oder dessen Geburt mit Rücksicht auf die Gesellschaft verheimlicht wurde. In den Lehrjahren finden sich solche Beispiele; so wuchs Mignons Mutter Sperata als Tochter eines dem Vater befreundeten Paares auf, weil sich die leiblichen Eltern wegen ihres vorgerückten Alters des Spätlings schämten, der ihnen, wie zuvor anderen, Spott eintragen konnte. 51 Oder aber die illegitime Geburt Theresens wird vertuscht und der Gattin des Vaters zugeschrieben, die dann aus ihrer Einwilligung dazu großen materiellen Vorteil zieht. 52 Dies sind gewiß nicht die einzigen Fälle. Was Nachodine anlangt, so kommt hier wieder das ‚Modell Sakontala’ zum Tragen, denn auch Sakontalas Geburt verdankt sich einem Fehltritt: ein allzu frommer Fürst sollte von Göttern auf die Probe gestellt werden, indem sie die reizende Fee Menaka zu ihm schickten. Seine Tugend hielt nicht stand, und Menaka übergab später ihr Kind dem weisen Einsiedler Kanna und seiner Frau - eine Art „Findling“ also auch Sakontala. 53 Nachodine mag ihren Namen der Überlegung verdanken, daß er unter Umständen als Chiffre einer für eine spätere Zeit vielleicht als begrüßenswert vorgestellten, von der offiziellen Version abweichenden, Abstammung dienen könnte. Seine Verdrängung durch den „Scherznamen“ Meline sah die Gesellschaft vermutlich nicht ungern, weil der richtige das Geheimnis zur Unzeit preisgeben konnte, zumal „die wilde Hummel von Brünette“ schon an sich aus dem Rahmen des pietistischen Elternhauses fiel. In diesem Zusammenhang könnte auch „ein vor Zeiten berühmtes gräfliches Geschlecht in Böhmen“ 54 von Interesse sein. Zedler, das von Goethe benutzte Lexikon, führt unter anderem ein Mitglied der Familie auf, das Goethe aus der Geschichte seiner Vaterstadt bekannt gewesen sein dürfte: Im Jahr 1618 war Georg von Nachod Kämmerer und Oberster bey Ferdinand, damals König von Böhmen und nachherigem Römischen Kayser, und begleitete denselben zur Römischen Königs-Wahl nach Frankfurth am Main, wie nicht weniger im Jahr 1622 zum Reichs-Tage nach Regensburg. In eben diesem Jahre 1622 wurde Adam Lutschak von Nachod das Königreich Böhmen verbothen. 55 Vielleicht sollte der Name des Nußbraunen Mädchens, über die Semantik „Findling“ hinaus, auch noch auf Herkunft aus einem aristokratisches Milieu schließen lassen. 51 WMLJ 8, 9; FA 9, S. 963. 52 Ebd., 8, 6; S. 940 f. 53 Sakontala, a. a. O. s. 302. 54 Siehe Zedler, Bd. 23, S. 228 f. 55 Ebd. <?page no="337"?> 333 Rezension zeitgenössischer Romane Ohne die Überlegungen zum sogenannten „Scherznamen“ und zum tatsächlichen Taufnamen des Nußbraunen Mädchens hätte der Titel eines der drei Romane, die Goethe zusammen 1806 rezensierte 56 , nicht besondere Aufmerksamkeit wecken können. Das Buch, das bereits 1804 anonym bei Unger in Berlin erschienen war, trägt den Titel Melanie, das Findelkind 57 . Ob Goethe wußte, daß Helene Friederike Unger, die Frau seines Berliner Verlegers Johann Friedrich Unger, die Autorin war, ist nicht mit Sicherheit festzustellen. Jedenfalls war sie es gewesen, die 1799 die Bekanntschaft mit Zelter einleitete, indem sie Goethe dessen Vertonungen einer Reihe seiner Gedichte zusandte. 58 Auch unterhielt Goethe immer Beziehungen zu Berlin, so ist zu vermuten, daß ihm ihre Autorschaft nicht unbekannt war. Das gleiche gilt auch für den anderen besprochenen Roman aus ihrer Feder: Bekenntnisse einer schönen Seele, von ihr selbst geschrieben - auch wenn Goethe in seiner Rezension einen Mann als Autor annimmt oder anzunehmen vorgibt. (Möglicherweise hatte dies aber auch mit ihrer eigenen Verschleierungstaktik zu tun. Es scheint, daß sie in letzterem Fall die Mitarbeit von Paul Friedrich Buchholz, der in dem Verlag ihres Mannes angestellt war, entweder tatsächlich in Anspruch nahm oder aber vortäuschte. 59 ) An allen drei Romanen - der dritte, Wilhelm Dümont, geschrieben von Elisabeth Friederike Caroline Paulus unter dem Pseudonym Eleutherie Holberg 60 - findet Goethe eine Menge Gutes, kritisiert aber scharf den (übrigens äußerst bewundernden) Umgang mit seinen eigenen Werken seitens der Autorinnen. Mit der Familie Paulus, die in Jena und später in Heidelberg lebte, war Goethe befreundet. Die persönlichen Beziehungen zu den beiden Autorinnen könnten der Grund gewesen sein, der ihn zur Rezension der gewiß nicht bedeutenden Bücher bewog. Immerhin scheint es, daß er sich des Titels von Ungers Roman Melanie, das Findelkind bedient hat, um ihn in seinem eigenen viel später veröffentlichten Roman als symphronistischen Schlüssel zur Geschichte des Nußbraunen Mädchens zu verwenden, konnte er ja von der Annahme ausgehen, daß alles von ihm Verfaßte auch späterhin Beachtung finden würde. Gemeinsam ist beiden Protagonistinnen der Ungerschen Romane, daß sie schuldlos in der Welt herumgestoßen werden. Gleich Ungers Melanie, ist vermutlich auch Goethes Meline, wie schon durch die Semantik ihres eigentlichen Namens Nachodine angedeutet, ein „Findelkind“ - ‚geopferte Mädchen’ sind sie beide. Letzteres trifft auch auf den dritten Roman zu, in welchem ein sehr junges Mädchen in die Ehe mit einem viel älteren Mann getrieben wird, der sich später als äußerst tückisch erweisen wird. Die Melanie aus Ungers Roman, als Säugling unbestimmter Herkunft abgegeben an der Pforte eines fürstlichen Hauses, wird von der Familie aufgenom- 56 FA 19, S. 282 ff. 57 Berlin 1804. 58 Vgl. Goethes Brief an Friederike Helene Unger vom 13. Juni 1796, HA Briefe 2, S. 223. 59 Vgl. dazu Susanne Zantop in ihrem Nachwort zum Nachdruck der Bekenntnisse einer schönen Seele. Von ihr selbst geschrieben. <Berlin 1806> In: Frühe Frauenliteratur in Deutschland, hrsg. von Anita Runge, Bd. 9 (1991), S. 385 ff. 60 Eleutherie Holberg (Elisabeth Friederike Caroline Paulus), Wilhelm Dümont. Ein einfacher Roman, Lübeck 1805. <?page no="338"?> 334 men und wächst zugleich mit der Prinzessin heran, bis unglückliche Zwischenfälle ihr Geschick verändern und das schutzlose Mädchen sich immer neu einer mitleidlosen Welt ausgeliefert findet. Ihrem starken Charakter getreu, kämpft sie sich tapfer durch, bis sich ihr Schicksal zum Guten wendet und sie als illegitime Tochter eben jenes Fürsten ausweist, an dessen Schwelle ihr seltsamer Lebensweg begann. Nochmals Namen Nehmen wir den symphronistischen Schlüssel an, den uns Goethe hier aus der Rezension eines mittelmäßigen und unter anderen Umständen gewiß vergessenen Romans anbietet, dann erlaubt dies Rückschlüsse auf die Herkunft des Nußbraunen Mädchens mit seinem Scherznamen Meline. Sie führen uns zurück zu Wilhelm Meisters Lehrjahren, zu Wilhelms neuerlichem Zusammentreffen mit der Gräfin, die durch seine Umarmung zu Schaden gekommen war 61 und später, in so sehr „veränderter Gestalt“, ihm wieder begegnet. 62 Schon vorher hatte er von Jarno erfahren, daß die Gräfin leidend sei, und auch daß der Graf entschlossen war, sein Vermögen der Familie zu entziehen, um es der Brüdergemeinde zuzuwenden, 63 wobei wir der Echtheit seiner religiösen Motive mißtrauen dürfen. Hatte er nicht Wilhelm tückisch nach dem Leben getrachtet? (Dies verriet Nataliens Äußerung zu dem Überfall: „Und leidet er nicht um unsertwillen? “ 64 ) Ist die in der Darstellung immer ironisierte Figur des Grafen identisch mit dem harten Oheim, der den frommen, aber untüchtigen Pächter und mit ihm das Nußbraune Mädchen vertreibt? Und wer weiß, aus welchen heimlichen Motiven? Vorher jedenfalls wächst sie im Kreise von Lenardo und den Seinen auf, auch wenn sie, die „wilde Hummel von Brünette“, als Tochter eines Mitglieds eben jener vom Grafen begünstigten Brüdergemeinde gilt, (die ein Bindeglied zwischen den beiden Meister-Romanen darstellt.) Wenn sehr viel später Nachodine, nun längst die „Schöne-Gute“, verlangen wird, „daß Wilhelm sie abhole“, beweist sie seltsamen Einblick in die Verhältnisse: „Gewisse Umstände sind noch zu berichtigen und sie legt bloß einen großen Wert darauf, daß er das was er doch eigentlich angefangen auch vollende.“ Stand er also, wie man schließen kann, als Erzeuger am Beginn ihres Lebens, so wäre es demnach auch an ihm, sie als Geist, der er ja nun ist, zu Makarie, d. h. in die ‚Seligkeit’, zu geleiten. Stammt die Melanie aus Ungers Roman von einem fürstlichen Vater ab, so mag man für Nachodine, in Anbetracht des aristokratischen Milieus, in dem sie aufwuchs, die gräfliche Mutter annehmen. Über die Vergangenheit der schönen, jungen Gräfin wissen wir wenig mehr, als was ihre Tante in den Bekenntnissen einer Schönen Seele im Sechsten Buch der Lehrjahre von ihr sagt 65 , und das ist eher 61 WMLJ 3, 12; FA 9, S. 562. 62 Ebd., S. 960. 63 Ebd., S. 809. 64 WMLJ 4, 6; FA 9, S. 590. 65 WMLJ 6, FA 9, S. 791. <?page no="339"?> 335 bedenklich. Auch mag eine anzügliche Anspielung der kundigen Philine etwas verraten. 66 Die Eltern von „Baron“ Lenardo bleiben für uns im Dunkel. Eine nahe Verwandtschaft zwischen Nachodine und ihm ist jedenfalls denkbar, die allseitigen Bedenken gegen ihre Verbindung im Leben wären erklärt und so auch verständlich, warum im Kreise Makariens von „angeborener Neigung und Sehnsucht“ gesprochen wird. Vor allem aber gewinnen die bereits an der Schwelle des Todes geäußerten Worte des mystisch verklärten Vaters eine tiefere Bedeutung. Die Verschlüsselung seines Gebotes der gegenseitigen Hilfeleistung liegt in dem Wörtchen „wie“: „wie Bruder und Schwester“. Hätte er statt dessen ‚als’ gesetzt, träte der Tatbestand klar zutage. So viel zum Namen „Nachodine“. Ein weiteres Mal tritt er zugunsten eines anderen in den Hintergrund. In der neuen Umgebung, in der die Vertriebene Zuflucht gefunden hatte, nennt man das „Nußbraune Mädchen“ nach einer verstorbenen Tochter, und so heißt es nun Susanne, was Lenardo einen Aufschrei des Erstaunens über „den wunderlichen Namen“ 67 entlockt. „Es ist“, versetzte sie, „der dritte, den man mir aufbürdet, ich ließ es gerne zu, weil meine Schwiegereltern es wünschten, denn es war der Name ihrer verstorbenen Tochter, an deren Stelle sie mich eintreten ließen, und der Name bleibt doch immer der schönste, lebendigste Stellvertreter der Person.“ 68 Augenblicklich wartet Lenardo mit einem vierten auf, so daß man nicht dazu kommt, über das Diktum nachzudenken, das ja die Sprecherin höchst persönlich mitbetrifft, ließ (und läßt) sie es doch gerne zu, daß man sie so nennt. Demgemäß kann sie sich mit dem Namen identifizieren, er wurde nun auch für sie selber „der schönste, lebendigste Stellvertreter der Person“. Die Geschichte von der Susanna und Daniel 69 zählt wohl zu den apokryphen biblischen Texten, dennoch kann man sie als allgemein bekannt voraussetzen, wurde doch eine Stelle daraus, ‚Susanna im Bade’, immer wieder von Malern zum Sujet genommen. Daß die schöne, tugendhafte, von den beiden hochgestellten Richtern ergebnislos erpreßte und hernach schuldlos verleumdete Frau um ein Haar zu Tode gekommen wäre, bleibt dabei stets eher im Hintergrund. Bereits auf dem Weg zur Hinrichtung, wird sie durch Daniels beherztes und kluges Eingreifen gerettet, während die verruchten Richter und das Volk auf das Zeugnis der beiden Verleumder hin die Unschuldige gnadenlos geopfert hätten. Eltern, Kinder und Verwandte kommen mit ihr aus dem Hause, um sie auf dem letzten Weg zu begleiten, von ihrem Ehemann hören wir jedoch nichts. Für Spätere ist Susanna zur Symbolgestalt der Reinheit und Keuschheit geworden. Ihr Name (hebr. Schoschanna) bedeutet ‚Lilie’, in jüdischer Tradition ein Symbol der Schönheit, in christlicher, darüber hinaus, auch der Reinheit und Unschuld. Für Jesus selbst versinnbildlicht diese Blume in der Unbekümmertheit ihrer Schönheit die Distanz zu kleinlichen Alltagssorgen und das Vertrauen auf Gott: 66 WMLJ 3,12; FA 9, S. 561. 67 WMWJ 3, 13; FA 10, S. 711. 68 Ebd. 69 Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der deutschen Übersetzung D. Martin Luthers, Berlin 1899. Die Apokryphen, S. 157 ff. <?page no="340"?> 336 „Und warum sorget ihr für die Kleidung? Schauet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, daß auch Salomo selber in seiner Herrlichkeit nicht bekleidet gewesen ist wie derselben eine.“ 70 Lenardo benennt, wie schon erwähnt, Frau Susanne neu. Ihm ist sie die „Schöne- Gute“ - so auch dem Erzähler an den wenigen Stellen, wo außerhalb von Lenardos mündlicher oder schriftlicher Aussage auf sie Bezug genommen wird. Solche deutende ‚Übersetzung’ von ‚Susanne’ ist dem Bewußtsein der bibelkundigen Romanfiguren gemäß. Im Sinne der „Stellvertreter“-Funktion des Namens müßte sie, selbst bei Auferlegung von außen, dem Wesen der Trägerin entsprechen. Das Prologgedicht zu den Wanderjahren Aber es gibt noch eine weitere Ebene der Deutung, da nämlich, wo Goethes sprach-alchimistisches Spiel einsetzt und er sich gleichsam mit einem Extempore an den aufmerksamen Leser wendet. (Unverhohlen tut er dies in den Wahlverwandtschaften, wo jede der Hauptfiguren in irgendeiner Form die Silbe „Ott“ (ott) im Namen trägt.) Bei ‚Susanne’ jedoch geht es, umgekehrt, um die Zusammenführung von Heterogenem, Identifikationsfiguren, von denen bereits ausführlich die Rede war. In Silbenchiffren fügen sie sich aneinander, jeweils vertreten durch die beiden ersten Buchstaben ihres Namens: Sulamith, die „Schwester und Braut“ des Hohen Liedes, und Sakontala 71 , die verkannte und verlassene Angelobte. Daß eine solche Entschlüsselung nicht abwegig ist, zeigen Verse, die der Ausgabe der ersten Fassung der Wanderjahre (1821) vorangestellt wurden: Und so heb’ ich alte Schätze Wunderlichst in diesem Falle, Wenn sie nicht zum Golde setze, Sind’s doch immerfort Metalle, Man kann schmelzen, man kann scheiden, Wird gediegen, läßt sich wägen, Möge mancher Freund mit Freuden Sich’s nach seinem Bilde prägen. Auf die Sprache angewandt, kann solch ein chemo-physikalischer Prozeß die Isolierung einzelner Silbenelemente bedeuten und ihre Verschmelzung zu einer neuen Verbindung, die die wesentlichen Merkmale ihres Ursprungs auf das innigste verquickt. In den beiden ersten Versen wendet sich der Dichter an den Leser und weist mit dem beginnenden „Und“ auf eine vorangegangene Tätigkeit, die weitergeführt wird. Die „alten Schätze“ bedeuten literarische Kostbarkeiten, die er in die Welt seines Romans einbezieht und - zugleich mit einem Lächeln - die Frauengestalten in ihnen, da das Wort „Schatz“ auch noch eine zärtliche Konnotation hat. „Wunderlichst in diesem Falle“ ist jedenfalls die Schatzhebung - „wunderlich“ auch nach Lenardo, wie oben zitiert, der Name Susanne. Metalle stellen 70 Matth. 6, 28.29. 71 In Goethes von Georg Forster übernommener Schreibung. <?page no="341"?> 337 sie auf jeden Fall dar, auch wenn die alchimistische Umsetzung zu Gold nicht stattfände. Doch, wie sich zeigen wird, findet sie statt. Das „Man“ im fünften Vers scheint sich mit der Aufforderung zu „schmelzen“, zu „scheiden“ an den Leser zu wenden und also aktiv an der Umwandlung mitzuwirken. Doch dann kommt im sechsten Vers ein klarer Umschlag. Das Objekt der alchimistischen Operation erweist sich plötzlich als Stoff, der „gediegen“ geworden ist und wert, sich „wägen“ zu lassen, d. h. Stoff, der sich, entsprechend dem Traum aller Alchimisten, in Gold verwandelt hat. Grammatisch gesprochen, verwandeln sich die beiden zunächst als transitiv verstandenen Verben in absolut gebrauchte; ihr im Satz supponiertes Objekt nimmt in der stufenweisen Läuterung Gestalt an in der Verschmelzung zweier literarischer Figuren. Sprachlich manifestiert sich diese Klimax in Alliteration und Assonanz, die erst an diesem Punkt des Prozesses in den letzten beiden Versen auftreten. Doch die Epiphanie der Frauengestalt hält nur einen Augenblick an, der letzte Vers bezieht sich wieder auf ein Objekt, auf das Gold, das jeder Gleichgesinnte zum Bild seiner Liebsten formen soll. Möge mancher Freund mit Freuden Sich’s nach seinem Bilde prägen. Ähnliche sprach-alchimistische Abläufe wie in diesem kleinen Gedicht finden sich in Goethes Versen ja sehr häufig. Was den „wunderlichen“ Namen Susanne anlangt, so vereinigt er in nuce Wesenszüge von Schicksal und Persönlichkeit zweier literarischer Frauengestalten, in denen Goethe, wie man sah, Präfigurationen der von ihm geliebten Frau erblickte, Sulamith und Sakontala. Die biblische Trägerin des vollen Namens teilte das Schicksal der unschuldig Verstoßenen mit ihnen. Zugleich leitet sie durch ihre Schönheit und Reinheit, die die Namenssemantik ‚Lilie’ noch unterstreicht, über zu einer weiteren Bezeichnung des Nußbraunen Mädchens als der „Guten-Schönen“ oder vor allem der „Schönen-Guten“. Zunächst ist jedoch die Endsilbe ‚-ne’ noch näher zu bedenken. Wenn der Dichter hier chiffriert den Schwesternamen eingebracht hat, ist er wieder nach seiner höchst persönlichen Aufteilung von ‚Cornelia’ in ‚Cor’ und ‚Nelia’ (vgl. S. 163) vorgegangen. Auf ‚Nelia’ als Anagramm von ‚Liane’, einer Symbolpflanze für Sakontala, wurde bereits hingewiesen (vgl. S. 316). In zwei äußerst kurzen Fragmenten des jungen Goethe taucht die Abkürzung „Nelly“ 72 auf; aus ihnen läßt sich kaum ein biographischer Bezug ableiten; oder doch? - Im Brief Arianne an Wetty, einem kurzen Romanfragment von 1770, lesen wir: Nelly war mein süses Mädgen, das einzige das ich je geliebt habe, aber gewiss meine Freundinn, unsre gestohlnen freundschafftlichen Augenblicke in der dämmernden kleinen Stube, haben mich überzeugt, dass ich Netten verzeihen muss wenn sie mich in den Armen eines andern vergisst. 73 Der Name scheint geläufig genug, um annehmen zu lassen, daß auch die Schwester als Mädchen nicht immer mit der vollen Form gerufen wurde. Man könnte 72 Die Kurzform „Nelly“ findet sich in Goethes früher Prosa: im Dramenfragment Der Tugendspiegel von 1767 in Der junge Goethe in seiner Zeit, Bd. 1, S. 19 f. und im Brief Arianne an Wetty (1770) ebd., Bd. 2, S. 266 ff. 73 Ebd., S. 267. <?page no="342"?> 338 einwenden, dass ‚Nelly’ vom Englischen her auch für ‚Helen’ (Helene) oder ‚Eleanor’ (Eleonore) stehen könnte, doch selbst dies würde, wie wir wissen, auf dem Umweg über Faust II oder Wandrer und Pächterin bzw. Tasso, wieder zu Cornelia zurückführen. Die Sprachalchimie des Dichters „verschmilzt“ im Namen ‚Susanne’ chiffriert Schicksal und Wesen der literarischen Gestalten mit dem der Schwester im wahrsten Sinne des Wortes. Der nächste Schritt im Roman, wie auch im Gedicht vorgezeichnet, „scheidet“ nach alchimistischem Sprachgebrauch. Er zieht die geistige Quintessenz aus dem Namen, dessen Semantik das Bild der Lilie aufruft, das Symbol für das Schöne und Gute. Und „Schöne-Gute“ wird ja denn auch zum endgültigen Namen des Nußbraunen Mädchens. Der letzte Schritt im Prolog-Gedicht zu den Wanderjahren zeigt das ‚Gediegen- Werden’, das ‚Sich-Wägen-Lassen’. Angesichts der Metallsymbolik weist dies auf die höchste Reinheit der Substanz, auf das eine, das wichtigste Element, mit dessen Erscheinen das Ziel des Alchimisten erreicht war: das metallische Äquivalent des organischen Schönen und Guten: das Gold. Damit wäre sprachalchimistisch die Chiffre ‚or’ und, dementsprechend weiterführend, auch ‚cor’ (vgl. S. 166) wieder eingebracht. Die Griechen hatten für die Kombination des Schönen ( κάλλον ) mit dem Guten ( ἀγαθóν ) die Prägung καλλοκἀγαθία , Kallokagathie, wobei durch ‚Krasis’ das Wort καί (kai, und) mit ἀγαθός ( α gathós) verschmolzen ist. Goethe hingegen eliminiert das Kappa zugunsten eines Bindestrichs, der im Deutschen bei enger Verknüpfung doppelte Großschreibung, also Gleichgewichtigkeit, ermöglicht. Dies ganz im Sinne seines Epigramms von 1793: Unterschieden ist nicht das Schöne vom Guten, das Schöne Ist nur das Gute, das sich lieblich verschleiert uns zeigt. 74 Dies faßt genau Goethes Vorstellung von einer „Schönen Seele“, bei der das Gute so sehr zur Natur eines Menschen geworden ist, daß es keiner Vorschriften und Regeln von außen mehr bedarf und das Handeln vom Zartgefühl des Gewissens bestimmt wird. So äußert Sakontala kein Wort des Vorwurfs in Anbetracht des erlittenen Leids, wenn sie den reumütig zu ihren Füßen liegenden Duschmanta, der sie im himmlischen Bereich wiederfindet, „zu Ihren Armen […] empor“ hebt 75 . Und auch das Nußbraune Mädchen wird dies für Lenardo tun, wenn nun er dereinst zu Makarie kommen wird, sie von dort „abzuholen“. „Auswandern“, „Abholen“ Es waren die ‚Himmlischen’ des Romans, die beschlossen hatten, daß sie sich „Makarien zur Seite füge“, das heißt im irdischen Verstande: daß sie sterbe. Sie solle Angelas (des Engels) Stelle einnehmen und „Makariens Archiv“ verwalten, also statt mit Textilien mit ewigen Texten arbeiten. Sie „übergibt dem Gehülfen ihr 74 FA 1, S. 704. 75 Elegie, Str. 1, v. 6. Vgl. Sakontala, 7. Akt, a. a. O., S. 381. <?page no="343"?> 339 ganzes Besitztum“ 76 , damit scheint alles zum Besten der Zurückbleibenden (oder Hinterbliebenen) geordnet, dabei stellt sie für sich nur die eine (bereits zitierte) Bedingung, nämlich, daß Wilhelm sie abhole, „ihr den Abschied von dort erleichter[e] und so die Freude, die Beruhigung empfind[e], einen Teil der verschränkten Schicksalsfäden selbst wieder aufgefaßt und angeknüpft zu haben.“ 77 Dies ist eine Stelle mit Schlüsselfunktion. Daß gerade „Wilhelm sie [aus dem irdischen Bereich] abholen“ solle, nach dessen, zunächst noch im Dunklen belassenem, Besuch die Unglücksfälle in der Familie sich häuften, gibt zu denken. Wie man sich erinnert, stirbt nicht nur der schwerkranke Bräutigam kurz nach der von Wilhelm vorangetriebenen Eheschließung; auch seine Eltern sterben aus Gram über den Verlust des Sohnes, und der Vater des Nußbraunen Mädchens erleidet einen Schlaganfall. 78 Wilhelm, der „Reisende“, der „wahrscheinlich unter geborgtem Namen“ 79 bei der Familie eingekehrt war, wird später von Lenardo an der Handschrift eines Blattes erkannt, das der Gast zurückgelassen hat. Daß Wilhelm als Geist es war, der in einem für ihn als Medium fungierenden Menschen auftrat und sich in der Handschrift, dem ‚Geist’ des Schriftstücks, zu erkennen gab, ist kaum zu übersehen. In welcher Form Nachodines Übergang in Makariens Bereich vor sich geht, erfahren wir nicht, jedoch, daß man hernach „zart an ihr geforscht“ habe, wie sie über eine nähere Verbindung mit Lenardo denke. Jedoch lehnte sie für die Gegenwart mit Hinweis auf das Andenken ihres Bräutigam-Gatten eine solche Verbindung ab. 80 Hätte sie anders entschieden, hätte man wohl auch ihn in jene Region geholt, wo die biologischen Gesetze keine Gültigkeit mehr haben, wie an anderer Stelle die problemlose Verbindung von Hilarie mit Flavio zeigt. 81 Dementsprechend läßt ja auch Lenardo durchblicken, daß er „in jenen Unternehmungen hauptsächlich gestärkt [sein würde] durch den Gedanken, sie dereinst […] abzuholen.“ 82 Man muß annehmen, daß in den Wanderjahren das Wort ‚auswandern’ gleichzusetzen ist mit ‚sterben’, wobei dieser Umstand sehr sorgfältig durch eine realistische Darstellung von äußeren Umständen sowie durch ironische Brechung in der Schilderung der nachfolgenden Gegebenheiten verschleiert wird. Parallel dazu kann man in Goethes letztem, bereits umfänglicher zitierten, Brief an Auguste Gräfin Bernstorff 83 lesen, wie er sich das Leben in der jenseitigen Welt vorstellte: Und so bleiben wir wegen der Zukunft unbekümmert! In unseres Vaters Reiche sind viel Provinzen und, da er uns hier zu lande ein so fröhliches Ansiedeln bereitete, so wird drüben gewiss auch für beyde gesorgt seyn; […] 76 WMWJ 3, 14; FA 10, S. 731. 77 Ebd. 78 Ebd., 3, 13; S. 707. 79 Ebd., S. 706. 80 Ebd., 3, 14; FA 10, S. 732. 81 Ebd., S. 721 f. 82 Ebd., S. 733. 83 Siehe S. 39 f. <?page no="344"?> 340 Ganz selten nur, und dann unanschaulich, taucht im Roman der Begriff des Ziellandes der meisten ‚Auswanderer’ auf: Amerika. Nach seinen Buchstaben betrachtet, ergibt das Wort als genaues Anagramm ‚Makarie’; μακαρία aber heißt, wie ja bereits festgehalten, Seligkeit. 84 Damit weitet sich der Begriff eines irdischen Kontinents zum Symbol der Ewigkeit. 84 Zum Namen Makarie vgl. auch Armin Westerhoff, Zwischen Ganzheits-.und Differenzdenken in Von der Pansophie zur Weltweisheit, Goethes analogisch philosophische Konzepte, hrsg. von Hans-Jürgen Schrader und Katharine Weder in Zusammenarbeit mit Johannes Anderegg, Tübingen 2004, S. 142. Die beiden Schlußstrophen aus Schäfers Klagelied („Es stehet ein Regenbogen / Wohl über jenem Haus! / Sie aber ist weggezogen, / Und weit in das Land hinaus. / / Hinaus in das Land und weiter, / Vielleicht gar über die See. / Vorüber, ihr Schafe, vorüber! / Dem Schäfer ist gar so weh.“ FA 1, S. 56 f.) vermitteln vielleicht schon den Doppelaspekt von ‚Auswandern’: von ‚Amerika’ und dem Anagramm ‚Seligkeit’. <?page no="345"?> 341 14. Makarie Das Nußbraune Mädchen hat sein ‚Amerika’, seinen Ort der ‚Seligkeit’, gefunden. Es ist ein sehr exklusiver Ort, nur gelegentlich zugänglich. Erst mußte der Platz eines Engels, der Dame Angela, frei werden, und es ist wohl kein Zufall, daß die Schöne-Gute gerade hier ihre Bleibe findet. ‚Makarie’, in anagrammatischer Verschlüsselung das Zielland der Auswanderung, und zugleich einer postmortalen seligen Existenz, wird faßbar in der Gestalt einer „wunderwürdigen“ Frau. Der erste Eindruck, den Wilhelm von ihrer Umgebung und ihr selbst empfängt, ist tableauhaft, gleicht einem Altarbild: Angela, so nannte man die durch Gestalt und Betragen einnehmende Schöne, verkündigte sodann die Ankunft Makariens; ein grüner Vorhang zog sich auf, und eine ältliche, wunderwürdige Dame ward auf einem Lehnsessel von zwei jungen, hübschen Mädchen hereingeschoben, wie von zwei andern ein runder Tisch mit erwünschtem Frühstück. 1 Reichen hier Engel einer thronenden Heiligen die Hostie zur Kommunion? Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch die Erwähnung der „ringsumher gehenden massiven eichenen Bänke“ (Chorgestühl? ) und „ritterlicher Bilder über dem Getäfel“, 2 alles eher Ausstattung eines Kirchenraums als eines Salons. In diesem sakralen Umfeld erhält Wilhelm den Auftrag von Makarie, ihren Neffen Lenardo aus seiner Gewissensnot zu retten. Zuvor hatte er von Angela auch noch einiges über Makariens geistige Teilhabe an den Gestirnen erfahren. 3 Gegen Schluß des Romans ist diesem Umstand ein eigener Text gewidmet 4 , der sie als Visionärin darstellt, die unbekannten kosmischen Räumen entgegenstrebt und den Bereich unseres Sonnensystems mehr und mehr hinter sich läßt. Makarie, die ‚Selige’, Makarie als „Tante“, griechisch θεῖα , auch die ‚Göttliche’, sie trägt zugleich, semantisch, den Ehrungstitel der Bergpredigt, mit dem neunmal in der Version der Vulgata die Armen, die Leid Tragenden, die Sanftmütigen, die nach Gerechtigkeit Hungernden, die Barmherzigen, die Friedfertigen, die Verfolgten […] gepriesen werden (Matth. 1-11). Aber da ist noch ein anderer Aspekt dieses Namens. Goethe hat sich lebenslang mit Euripides beschäftigt, vornehmlich mit den Frauengestalten. In seiner frühen Auseinandersetzung mit Wieland ging es um Alkestis (vgl. S. 291 f.), später hat er in seiner Iphigenie auf Tauris ein Ethos Gestalt werden lassen, das sich der Wahrheit und einer Menschlichkeit verpflichtet weiß, die über alle Grenzen von Kultur und Religion hinausreicht. Mit der Natürlichen Tochter schuf er seine Iphigenie in Aulis (vgl. S. 351). Auch seine Helena trägt deutlich Züge des namensgleichen euripideischen Dramas (vgl. S. 257 f.). Alle diese aus Euripides übernommenen Gestalten haben eines gemeinsam: sie sind Geopferte. Also nimmt es nicht wunder, wenn 1 WMWJ 1, 10; FA 10, S. 379. 2 Ebda. 3 Ebd., S. 389 ff. 4 Ebd., S. 734 ff. <?page no="346"?> 342 Goethe in seinem Roman diesen Topos wieder aufgreift, um einer Figur ein Denkmal zu setzen, sie in antiker Manier auf seine Art unter die Gestirne zu versetzen, die aus eigenem Antrieb den Opfertod wählte, um ihre bedrohten Brüder zu retten. Euripides stellt uns in seinem Drama Die Herakliden, dessen Vollständigkeit umstritten ist, die verzweifelte Lage der Kinder des Herakles in Athen vor Augen. König Eurystheus von Argos, der im Sinne Heras dem Herakles seine zwölf übermenschlichen Aufgaben auferlegt hatte, verfolgt nach dessen Tod nun seine Kinder, die potentiellen späteren Rächer: „Die Söhne, die der Väter Kränkung nie / Vergessen“. 5 Jede Stadt, die sie aufnimmt, bedroht er mit Krieg, und so ziehen sie, geführt von ihrem greisen Verwandten und Lehrer Iolaos und der Großmutter Alkmene, durch die Lande, auf der Suche nach einer Bleibe, werden aber allerorten vertrieben. König Demophon in Athen ist bereit, ihnen beizustehen. Aber auch hierher verfolgt sie der Bote des feindlichen Königs und will sie zum sicheren Tode in die Heimat zurückbeordern. Krieg steht bevor, wenn sie sich nicht fügen. Da verkündet ein Orakel den Athenern, daß ihnen Sieg gewährt würde, wenn der Persephone „ein Mädchen aus dem besten Stamm“ geopfert würde. Für seine eigene Familie und die Familien anderer Hochgestellter lehnt der König ein solches Ansinnen ab: „Wer ist so unvernünftig, daß er selbst / Das liebste Kind aus seinen Händen gibt? “ 6 Dazu Iolaos: […] Kein Vorwurf trifft den Willen dieses Manns, Der seiner Bürger Kinder schont. Mein Dank Bleibt dieser Stadt bestehen, gleich, ob mir Die Götter dies verhängen oder nicht. Für euch, ihr Kinder, weiß ich keinen Rat. Das letzte Heiligtum ist schon bekränzt, Die letzte Gottheit von uns angefleht. Man treibt uns fort, in unsern sichern Tod. Mir selbst bedeutet ja das Sterben nichts, Nur daß es wohl die alten Feinde freut. Um euch, ihr Kinder, klag und weine ich, Und um Alkmenes greises Ahnenhaupt. (v. 435-446) 7 […] Hier tritt nun Makaria aus dem Tempel, wo sie mit den anderen Mädchen in der Obhut der Großmutter geweilt hat, und wendet sich an den treuen Lehrer: […] Ich hörte, Iolaos, dein Gestöhn Und komme ohne Auftrag unsrer Schar, Und doch vielleicht auch nützlich, voller Angst Um meine Brüder, um für sie und mich Zu hören, ob zum alten Unglück nicht Ein neues kam, daß dir das Herz zerriß. (v. 478-483) 5 Euripides, Herakl., v. 468; Euripides, übersetzt von Ernst Buschor, Die Kinder des Herakles, a. a. O., Bd. 2, S. 37 ff. 6 Ebd., Herakl. v. 413 f.; S. 35. 7 A. a. O., S. 34-37. <?page no="347"?> 343 Iolaos antwortet ihr: Mein Kind, du schönster Sproß des Herakles - Nicht erst seit heute sing ich dieser Lob - Schon sahn wir vor uns einen guten Weg Und wieder ward er schlimmstes Hindernis. Der Fürst erfuhr von einem Seherspruch: Demeters Tochter Kore will nicht Stier, Nicht Kalb, nur edlen Menschenkindes Blut Für unsre Rettung und der Stadt Athen. Das macht uns ratlos: seine Kinder will Er nicht verlieren noch der Bürgerschaft. Er sagts nicht deutlich, aber sagt es doch; Wir müssen einen Ausweg finden, sonst Bleibt uns nur Aufbruch in ein andres Land. Denn so nur rettet er das eigene. (v. 484-497) 8 Nach zwei Versen Frage und Antwort folgt nun der große Monolog Makarias: Dann fürchte keine Feindeslanze mehr! Ich selber, Alter, ungefordert steh Bereit zum Tod, bereit zum Opfergang. Was sagen wir, wenn unserthalb die Stadt Sich allerschwerste Sorge auferlegt Und wir, aus reiner Todesangst, die Not Abwälzen, wo man Rettung bringen kann? Niemals! Wir wären des Gelächters wert, Wenn wir bittflehend seufzen und dabei, Als Kinder jenes Vaters, die wir sind, Uns feig erweisen, wie kein Edler tut? Fällt diese Stadt - was nie geschehen soll - Und wir geraten in der Feinde Hand, So ziemt es einer Tochter großen Manns, Nicht minder in den freien Tod zu gehn. Vertreibt man wieder uns in fremdes Land, Errötend hört ich solche Reden an: „Was wollt ihr hier mit eurem Bettelzweig Und eurer Lebensgier? Schert euch davon! Das feige Pack wird nicht von uns beschützt.“ Auch wenn die Knaben sterben und ich selbst Am Leben bleibe (mancher schon verriet So seine Lieben), ist mein Glück vorbei. Wer nimmt das Waisenmädchen noch zur Frau, Erwünscht sich Kinder noch aus meinem Schoß? Weit besser Tod als solche Kläglichkeit! Sie ziemt vielleicht für eine andre Frau, Die nicht auf meiner stolzen Stufe steht. - Führt diesen Leib an seinen Scheideort, Bekränzt ihn nach Belieben, weiht ihn ein! Besiegt die Feinde! Dieses Leben gibt sich euch Gewollt und nicht gesollt! Ich sag es laut: 8 Ebd., S. 36-39. <?page no="348"?> 344 Mir und den Brüdern geh ich in den Tod! Ich fand den schönsten Fund: Ganz ohne Gier Nach Leben scheid ich ruhmvoll aus der Welt. (v. 500-534) 9 Hier schaltet sich der Chorführer mit seinem Kommentar ein: O welche hohe Rede aus dem Mund Des Mädchens, das den Brüdern sterben will! Wer spräche je ein größres Wort als sie, Wer wagte jemals eine größre Tat? (v. 535-538) Und wieder der väterliche Freund: Mein Kind, du stammst aus keinem andren Quell Als aus dem Samen jenes großen Geists: Des Herakles, und jedes Wort von dir Ist groß wie er, doch jammert mich dein Los. Ich weiß noch andren, noch gerechtren Rat: Ruf alle deine Schwestern hier heraus, Dann soll das Los entscheiden, welche stirbt. Es ist nicht recht, daß du es auf dich nimmst. (v. 539-546) Darauf Makaria: Des Loses Wurf ist nicht nach meinem Sinn, Ist ohne Dank, so sprich nicht mehr davon! Wenn ihr es wollt und gern entgegennehmt, Geb ich mein Leben frei in eure Hand, Doch unterwerf ichs keinem fremden Zwang. (v. 547-551) Und wieder Iolaos: O wie dies Wort das erste übersteigt, Das schon vollkommne, wie du Tat mit Tat Und Rede mit der Rede neu besiegst. Ich sag nicht Ja noch Nein zu diesem Tod, Nur daß er deinen Brüdern Rettung bringt. (v. 553-557) Makaria findet noch Kraft, den Freund zu trösten: Ich hör dein weises Ja. Mein Blut befleckt Dich nicht, hab keine Angst, ich sterbe frei. Geh mit mir. Alter! Laß von deiner Hand Mich sterben, hülle meinen Leib ins Kleid! Ich breche auf zum harten Opfergang, Wenn wirklich ich des Vaters Tochter bin. (v. 558-563) Iolaos wehrt ab: „Ich kann nicht Zeuge deines Endes sein.“ Sie darauf: „So bitte diesen König, daß ich nicht im Arm / Von Männern sterbe, nur im Frauenarm.“ Nun tritt der König näher und schaltet sich ein: 9 Ebd., S. 38-41. <?page no="349"?> 345 So sei es, ärmstes Kind! Ich muß ja selbst Das Letzte tun für deinen Totenschmuck Aus vielem Grund, ob deines hohen Sinns Und der Gerechtigkeit: von allen Fraun Der Welt bist du die größte Dulderin. Wenn du ein Wort an diese und den Greis Noch richten willst, so tus und folge mir! (v. 567-573) Sie nimmt nun Abschied: Leb wohl, mein Greis, leb wohl und lehre mir Die Knaben hier, mach sie so klug wie du Es bist, nicht klüger, dieses ist genug. Stirb nicht, bewahre jene vor dem Tod! Du bist der Vater, zogst uns alle auf Und siehst, wie ich den eignen Hochzeitstag Im Tod hingebe für der Knaben Heil. Ihr Brüder, die ihr hier zugegen seid, Lebt glücklich, alles werde euch zuteil, Wovon mein Herz im Tod sich trennen muß. Ehrt mir den Alten, ehrt Alkmene auch, Die alte Vatersmutter dort im Haus, Und diese Fremden! Schenkt ein Gott euch einst Die Heimkehr und das Ende eurer Not, Denkt an das Grabmal eurer Retterin. Das schönste muß es sein. Ich sparte nicht, Als ich euch half und ging im Tod voran! Statt Kindern und statt Jugend sei es dann Mein Kleinod - wenn der Tote es noch zählt. Ich hoffe, er vergißt, und Sterbliche Sind dort die Sorgen los, sonst weiß ich nichts, Wohin noch einer zielt: das Sterben gilt Doch als der Leiden stärkster Gegentrank. (v. 574-596) Ein letztes Wort richtet Iolaos an sie, ehe der König sie wegführt und er selbst zusammenbricht : O aller Frauen größte Seele, sei Gewiß, daß du im Leben und im Tod Auch aller Ehren Krone trägst! Leb wohl! […] (v. 597-600) 10 Der Chor meditiert über die Unausweichlichkeit des Schicksals. Dann würdigt die Gegenstrophe Opfer und Geopferte: Trag, was die Götter dir gaben, nicht leichthin, nicht allzu erbittert! Strahlend fiel das Todeslos Auf dieses ärmste Kind: Für die Brüder, fürs Land 10 Ebd. S. 40-45. <?page no="350"?> 346 Hat sie leuchtenden Ruhm erworben. Ohne Müh keine Taten. Des Vaters würdig Und würdig der alten Geschlechter Fiel ihr dies Los. Ehrst du solche im Tod, So steh ich dir bei. (v. 618-628) 11 Gleich einem Naturgesetz bringt das Opfer auch den angestrebten Erfolg. Die Athener erringen einen grandiosen Sieg, an dem auch ein mit neuer Jugendkraft beflügelter Iolaos mitwirken konnte. Die Kinder sind gerettet und über den feindlichen König Eurystheus fällt die alte Alkmene das Todesurteil. Verglichen mit den anderen Dramen des Euripides, sind die Herakliden (oder deutsch Die Kinder des Herakles) ein kurzes Stück, das, wie gesagt, zuweilen für unvollständig angesehen wird. 12 Eine große Lobpreisung der Makaria, wie man sie nach dem Sieg und der Rettung der Geschwister doch erwarten müßte, ist nicht vorhanden. Es läßt sich denken, daß Goethe, der sich immer wieder mit seinen Vorgängern mitdenkend, erweiternd oder widersprechend auseinandersetzte und so z. B. auch die Fragmente des euripideischen Phaethon inhaltlich rekonstruiert hat 13 , nun auf andere und seine Weise eine Verherrlichung der jungen Heldin nachtragen wollte. Das Alter, das er ihr zumißt, der „wunderwürdigen ältlichen Dame“, mag, als ein Extempore für den Leser, ein Hinweis auf ihre literarische Zugehörigkeit zur klassischen Antike gedacht sein. In der ersten und einzigen vorgeführten Begegnung mit Wilhelm wird sie wie eine christliche Heilige präsentiert, sozusagen von Goethe heiliggesprochen und dies auch wörtlich so gegen Schluß der Romanhandlung, in der Szene mit den beiden „Sünderinnen“, wo sie zweimal vom Erzähler als „Heilige“ bezeichnet wird. Zumindestens vom äußeren Verlauf her ähnelt das Schicksal der antiken Makaria dem christlicher Märtyrerinnen, und auch die Opferbereitschaft und das absolute Vetrauen in das göttliche Gebot ist ihnen und ihr gemeinsam. Dazu kommt noch etwas: Bei ihrem Abschied wendet sich Makaria an Iolaos mit den Worten: „Leb wohl, mein Greis, leb wohl und lehre mir / Die Knaben hier, […] Stirb nicht, bewahre jene vor dem Tod! / Du bist der Vater […]“. Und zu den Geschwistern sagt sie: „Ihr Brüder, die ihr hier zugegen seid, / Lebt glücklich, alles werde euch zuteil, / Wovon mein Herz im Tod sich trennen muß. / Ehrt mir den Alten, ehrt Alkmene auch, / Die alte Vatersmutter[…]“ (vgl. S. 345). Es ist schwierig, hier nicht an die Worte Jesu zu denken, die er vom Kreuz an seine Mutter und Johannes richtet. 14 Und gewiß könnte der Ausspruch Jesu auf Makaria zutreffen: „Niemand hat größere Liebe denn die, daß er sein Leben 11 Ebd., S. 46-47. 12 Hierzu Bolko Hagens Zwischenbemerkung in: Euripides, übers. von J.J. Donner, a. a. O., Bd. 1, S. 381: „[In der Gegenstrophe, nach Schlußvers 629] scheint ein zweites Strophenpaar ausgefallen zu sein, in dem Makaria verherrlicht wurde. Möglicherweise ist hier durch eine spätere Bühnenbearbeitung ein ganzes Epeisodion verlorengegangen, in dem ein Bote oder Demophon über den Verlauf von Makarias Opfertod berichtete und Alkmene den Tod der Enkelin beklagte („sie würdigten Makarias edles Sterben und gingen in den Kampf, als sie gewahrten, daß der Feind nahe sei“, heißt es in der antiken Vorbemerkung). […]“. 13 FA 21, S. 413 ff. 14 Joh. 19, 26. 27. <?page no="351"?> 347 läßt für seine Freunde.“ 15 Goethes Makarie verkörpert die Höchstform menschlicher Existenz. Antike und christliche Heilsvorstellungen sind dabei in eins verschmolzen, basierend auf der, in ihrer reinsten Form, gemeinsamen Ethik eines über Raum und Zeit hinweg gültigen Humanismus seitens der Verfolgten. Inthronisiert Goethe Makarie einerseits als Heilige in einem christlich verstandenen Kosmos, so versetzt er sie auch nach antikem Vorbild einer Apotheose zu den Sternen 16 , ohne daß dies für sie im griechischen Mythos nachzuweisen wäre. In Goethes Augen durfte demnach für die Zeus-Enkelin gelten, was für die Zeus- Tochter Helena recht war, wie Apollon am Schluß des Orestes-Dramas, Frieden stiftend, verkündet: So zieht nun eures Weges und ehrt Den Frieden, die holdeste Göttin! Ich Will Helena führen zum Sitze des Zeus: Am leuchtenden Sternpol schweb ich empor, Wo, Hebe, Herakles’ Weibe gesellt, An Heras Seite sie fortan thront Als Gottheit, stets durch Opfer geehrt, Mit dem Zwillingsgestirn, mit den Söhnen des Zeus Durchs Meer die Schiffer geleitend. (v. 1682-1690) 17 Hier ist anzumerken, daß Goethe, genau wie Euripides in seinem Helena-Drama, in Helena eine schuldlos Vertriebene sah (vgl. S. 364), deren äußerer Schönheit notwendig auch sittlicher Adel entsprechen mußte: […] ein Dichter, Stesicheros, wird mit Blindheit geschlagen, weil er sie unwürdig dargestellt und so verdiente sich nach vieljähriger Kontroverse Euripides gewiß den Dank aller Griechen, wenn er sie als gerechtfertigt, ja sogar als völlig unschuldig darstellte und so die unerläßliche Forderung des gebildeten Menschen, Schönheit und Sittlichkeit im Einklang zu sehen, befriedigte. 18 Die ihm schon seit Kindheit vertraute Vorstellung einer Beziehung zwischen Menschen und Gestirnen 19 blieb immer lebendig in Goethe. „So sagte er einst bei Wielands Tode“, wie Johannes Daniel Falk im Tagebuch berichtet, […] er sähe nicht ein, warum Wielands Seele nach ihrem Abscheiden nicht einen höheren Wirkungskreis im Bereich der schaffenden Kräfte ergreifen und z. B. einem werdenden Stern, einem Komet, sein Gepräge aufdrücken sollte. 20 15 Joh. 15, 13. 16 WMWJ 1, 10; FA 10, S. 39. 17 Euripides, übers. nach J.J. Donner, a. a. O., Bd. 2, S. 299 f. Vgl. dazu auch v. 1633-1637. 18 Vgl. Euripides, Ion, v. 238-241 und Platon, Phaidros 243 B. 19 Bettine von Arnim, Goethes Briefwechsel mit einem Kinde II, 24. November 1810; a. a. O., Bd. 2, S. 380. 20 Johannes Daniel Falk (1768-1826) aus dem Nachlaß hrsg. von Georg Mlynek, Stuttgart 1964, S.158. <?page no="352"?> 348 Ein mythischer Bericht, wonach der Mond Aufenthaltsort abgeschiedener Seelen sei,. findet sich bei Plutarch. 21 Makarie, die Selige, im Roman als „Heilige“, ja auch als „Göttliche“ 22 bezeichnet, lebt nächtlich im Weltall als Stern unter Sternen: Makarie befindet sich zu unserem Sonnensystem in einem Verhältnis, welches man auszusprechen kaum wagen darf. Im Geiste, der Seele, der Einbildungskraft hegt sie, schaut sie es nicht nur, sondern sie macht gleichsam einen Teil desselben; sie sieht sich in jenen himmlischen Kreisen mit fortgezogen, aber auf eine ganz eigene Art; sie wandelt seit ihrer Kindheit um die Sonne, und zwar, wie nun entdeckt ist, in einer Spirale, sich immer mehr vom Mittelpunkt entfernend und nach den äußeren Regionen hinkreisend. Wenn man annehmen darf, daß die Wesen, in sofern sie körperlich sind, nach dem Zentrum, in sofern sie geistig sind, nach der Peripherie streben, so gehört unsere Freundin zu den geistigsten: sie scheint nur geboren um sich von dem Irdischen zu entbinden, um die nächsten und fernsten Räume des Daseins zu durchdringen. Diese Eigenschaft, so herrlich sie ist, ward ihr doch seit den frühesten Jahren als eine schwere Aufgabe verliehen. […] 23 Makarie, die Romanfigur, in ihrer Erscheinung als gütige und geistreiche Aristokratin des 18. Jahrhunderts, wird transparent für die mythische Gestalt der antiken Heldin, entsprechend Goethes Methode der Wiederholten Spiegelung. Dies ist umso wirksamer, als wir hinsichtlich der Biographie der meist im Verborgenen wirkenden Makarie des Romans, „der schweigsamsten aller Frauen“ 24 kaum etwas erfahren. Ihre große Anteilnahme am Schicksal Lenardos und des Nußbraunen Mädchens läßt eine analoge Situation in ihrem eigenen und eigentlichsten Leben annehmen, deren intensivstes Bild im Sinne der Wiederholten Spiegelung im archetypischen Geschehen der Antike zu suchen wäre. Gerechtfertigt erscheint ein solcher Gedanke, wenn man sich die nachstehende Aufzeichnung Riemers vor Augen hält und dem hinsichtlich des Gedichts Gesagten auch für die Prosa Gültigkeit zubilligt: Wie er früher seine Person versteckt unter einen andern Namen, so läßt er auch seine Gedichte zuweilen rätselhaft, nach seiner Maxime: „ein Gedicht müsse etwas Rätselhaftes haben“, und vermeidet, Freunden sogar die Aufklärung zu geben, ohne welche das Gedicht selbst nur halbverständlich und daher nur halbgenossen bleibt. Damit wollte er den Scharfsinn und die Erfindungskraft der andern aufregen und ihnen die Freude bereiten, durch selbstgefundenes Verständnis des Ganzen sich selbst produktiv zu erscheinen; obschon er übrigens zugab, daß nicht bloß die Alten Erklärung und Noten bedürften, auch die Neuern. […] 25 21 Plutarch, De facie in orbe lunae, 942 D-945 E; Deutsche Übersetzung: Plutarch, Das Mondgesicht, eingeleitet, übersetzt und erläutert von Herwiig Görgemanns, Artemis, Zürich 1968. S. 66 ff. 22 WMWJ 3, 14; FA 10, S. 726. 23 Ebd., S. 734. 24 WMWJ 2, 5; FA 10, S. 493. 25 Friedrich Wilhelm Riemer, a. a. O., S. 113. Vgl. hierzu: „Denn bei den alten lieben Toten / “ FA 2, S. 390 u. Kommentar mit Verweis auf Brief an Schiller vom 17. 5. 1795, ebd. S. 1013. <?page no="353"?> 349 Solches Denken und Weiterdenken hat Goethe auch seinerseits auf Werke von ihm verehrter Dichter angewandt. Augenfällig ist zuvörderst seine kreative Beschäftigung mit Hamlet in den Lehrjahren oder auch die erwähnte strukturelle und poetische Rekonstruktion des euripideischen Phaethon aus den überlieferten Fragmenten - in wahrer Aneignung des Stoffes über den traditionellen Brauch philologischer, mythologischer und historischer Anmerkungen hinaus. Psychologie und die an eigener Erfahrung entzündete Phantasie sind immer mit im Spiel. Dementsprechend mußte für Goethe bezüglich der Herakliden die Frage naheliegen, wie es denn, trotz des entlastenden Seherspruchs und der in seiner Folge gewonnenen Schlacht sowie der günstigen Wendung für den gesamten Staat Athen, um die Söhne des Herakles bestellt war, als sie ihr Wohlergehen dem Selbstopfer der Schwester zu danken hatten. (Für die Schwestern galt dies weniger, weil sie für den feindlichen König als mögliche Rächer nicht gefährlich schienen.) Wie aber wurde der älteste jener ansonsten nicht namentlich genannten Herakles-Söhne, um die es hier geht, wie wurde Hyllos - im Stück eine stumme Rolle - fertig mit dem Tod der Schwester, die, ein wenig jünger, ihm altersmäßig am nächsten stand, Leidensgenossin vieler Jahre? Goethe mußte Makarie als Gegenstück zu Antigone erscheinen, die er „die schwesterlichste der Seelen“ nennt. 26 Antigone opfert sich für den toten, wie Makarie für den lebenden Bruder, wenn auch nicht, zumindestens nicht expressis verbis, für den einen allein. Ihn trifft keine persönliche Verantwortung, denn in den Tagen des Mythos sind von den Göttern verordnete Menschenopfer bindend. Dennoch gilt sicher auch für Hyllos, den schuldlos Schuldiggewordenen, das Wort des Harfners, daß die „himmlischen Mächte“ „den Armen schuldig werden“ lassen, um ihn dann seiner „Pein“ zu ‚überlassen.’ 27 Aber nichts dergleichen kommt in den Herakliden zur Sprache. Kein Sturm des Entsetzens bricht los über den Entschluß der opferwilligen Makaria, selbst die Einwände des alten, liebreichen Verwandten und Lehrers klingen hilflos. Ging es nicht Alkestis ebenso, als sie sich für den Gatten opferte? Aber hernach zeigt uns Euripides Admets große Trauer und Reue und, daraus entspringend, ihre Rückkunft. 28 Doch kein Vater Herakles steigt nun auch für Makaria zum Orkus hinab, sie zurückzuholen. (Er ist längst auf den Olymp entrückt und selig mit Hebe verbunden! ) Der zu erwartende Dankes-Hymnos oder ein bekundeter Vorsatz, der Toten entsprechend ihrem Wunsch ein Grabmal zu setzen, wenigstens eine Lobpreisung für die geleistete Rettung - all dies bleibt aus. Daher auch, wegen seiner Kürze, die Annahme, daß das Drama nicht vollständig auf uns gekommen sei. 29 Obwohl in Goethes Tagebüchern, Briefen und Gesprächen nichts dergleichen nachzuweisen ist, dürfen wir doch annehmen, daß er mit großem Bedacht Gestalt und Namen für jene Vollendung menschlicher Möglichkeiten gewählt hat, in der sein Roman gipfelt. Hier nimmt sie die Stelle ein, die die „Mater gloriosa“ am Schluß von Faust II innehat. In Makarie, der „Heiligen“, der „Göttlichen“, finden 26 Euphrosyne v. 135; FA 1, S. 638. 27 FA 2, S. 323. 28 Euripides, Alkestis v. 878-888; v. 895-902; v. 910-923; v. 935-960. 29 Vgl. Gustav Adolf Seeck in Euripides, griechisch - deutsch, übersetzt von Ernst Buschor, Bd. 2, S. 272 u. S. 280, Anm. 629. <?page no="354"?> 350 sich alle jene geopferten Mädchen oder Frauen, zur Höchstform gesteigert, wieder, denen ein großer Teil von Goethes Schaffen gewidmet ist (vgl. S. 249 ff.). Wenn man Goethes Intention, die Leser weiterdenken zu lassen, wahrnimmt, müßte auch der im Drama nur schattenhaft gezeichnete, sprachlose Hyllos zu Makarie hinzugedacht werden, dessen Gewissensqualen, jedenfalls nach Goethes Empfinden, denen Wilhelm Meisters gleich sein müßten, da er von Marianes Tod erfährt 30 , oder jenen vor uns verhüllten, welche Faust zwischen den beiden Teilen der Tragödie durchzustehen hat. In Lenardo, dem Makarie ihre ganz besondere Neigung und Fürsorge widmet, muß die „Heilige“ einen wie auch immer matten Widerschein ihres ‚eigenen’ und der Brüder prototypischen Schicksals erkennen. Und nicht umsonst wird gerade Wilhelm Meister die Aufgabe zuteil, die „verschlungenen Schicksalsfäden“ zu entwirren. Entsprechend dem Prinzip der „Wiederholten Spiegelung“ mit seiner Schlüsselfunktion, spiegeln sich hier die Schicksale ineinander ab und die Bilder werden immer prägnanter, je entfernter sie aufscheinen (vgl. S. 13). Gestalten eigener Schöpfung Goethes finden sich metamorphisiert und intensiviert zu solchen anderer Dichter, schließlich zu mythischen Archetypen. Und an irgendeinem Punkt der Steigerung scheinen auch Konstellationen aus des Dichters eigenem Leben auf, als „offenbares Geheimnis“, dessen Ergründung uns anheimgestellt ist. Betrachten wir die Gestalt der Makarie in ihrer Vergöttlichung, dann taucht, in der an Goethe geschulten symphronistischen Sicht, im Zusammenhang mit dem ‚Nußbraunen Mädchen’ die indische Gottheit Aditi auf, bei der Śa kuntal ā ein Refugium findet. Wie bereits angedeutet, entspricht sie vor allem der Mater Gloriosa, an deren Knie sich Büßerinnen schmiegen, Gretchen unter ihnen. In den Wanderjahren sind es die „Sünderinnen“ Philine und Lydie, die die „Heilige“ segnet und liebevoll heilt. Sie gehört als Stern dem kosmischen Himmel an, wie die Mater Gloriosa, die an dem Doctor Marianus vorbeischwebt, dem metaphysisch-christlichen: Hier ist die Aussicht frei, Der Geist erhoben. Dort ziehen Fraun vorbei, Schwebend nach oben. Die Herrliche mitteninn, Im Sternenkranze, Die Himmelskönigin, Ich seh’s am Glanze. entzückt Höchste Herrscherin der Welt Lasse mich, im blauen Ausgespannten Himmelszelt, Dein Geheimnis schauen. […] Jungfrau, rein im schönsten Sinn, Mutter, Ehren würdig, Uns erwählte Königin, Göttern ebenbürtig. (v. 11989-12012) 30 WMLJ 7, 8; FA 9, S. 859 ff. <?page no="355"?> 351 Hier kommt erstmals eine heidnische Note in die Preisung des Doctor Marianus, die sich im folgenden noch steigern wird, wenn er „auf dem Angesicht anbetend“ seinen ekstatischen Zuruf vollendet: Blicket auf zum Retterblick Alle reuig zarten, Euch zu seligem Geschick Dankend umzuarten. Werde jeder bessre Sinn Dir zum Dienst erbötig; Jungfrau, Mutter, Königin, Göttin bleibe gnädig. 31 Die so Gefeierte läßt es geschehen. Die christliche Himmelskönigin ursprünglich irdischer Herkunft wird als „höchste Herrscherin der Welt“ transparent für die „Göttin“; das „ausgepannte Himmelszelt“ wird zum Mantel der Isis 32 : […] zu Sais las man an dem Fuße ihrer Bildsäule in dem Heiligthume des Tempels der Minerva, welche man mit ihr für einerley hielt: „Ich bin das All, das gewesen ist, das noch ist, und das seyn wird; und meinen Mantel hat noch kein Sterblicher aufgedeckt. 33 Rätselhaft bleibt zunächst, warum die im Entwurf vorgesehenen, an Gretchens Anrufung der Himmelskönigin anschließenden Verse, die das Christuskind in die Glorie einbeziehen sollten, nicht vollendet und in den endgültigen Text aufgenommen wurden. Als Paralipomenon blieben sie erhalten: Verweile, weile! Den Erdball zu Füßen Im Arme den Süßen Den göttlichsten Knaben Von Stern[en] umkränzet Vom SternAll entsteigst du 34 Isis mit dem Horus-Knaben im Arm war zu Zeiten des römischen Kaiserreichs ein in der Bildenden Kunst häufig dargestelltes Sujet, das in der Kunstgeschichte als Vorläufer der Madonnenbilder angesehen wird. Eine Einbeziehung der Isis in die göttliche Erscheinung konnte also kein Grund für die Eliminierung des Kindes aus dem Text sein. Anders verhält es sich mit Makarie. Wollte Goethe auch ihr einen Anteil an der höchsten und heiligsten Frauengestalt verleihen, so mußte das Kind in der Szene ausgespart bleiben. Die Nennung der „Sterne“ und des „SternAlls“, die ebenfalls auf sie hätten hindeuten können, fielen aber zugleich mit den ersten 31 Siehe Komm., FA 7/ 2, S. 812. „Göttin“ aber bereits bei Petrarca, Canzoniere, Zweiter Teil, CCCLVI, „Or tu, Donna del ciel, tu nostra Dea“; a. a. O., S. 538 / 539. 32 Isis ist eine wichtige Symbolgestalt bei den Freimaurern, denen auch Goethe, wenn auch vielleicht vorwiegend aus politischen Gründen, angehörte. Zu Mozarts Zauberflöte und der häufigen Aufführung der Oper durch Goethe als Theaterleiter sowie zu seiner Fortsetzung des Librettos (vgl. S. 373). 33 Hederich, Sp.1377, Plut. l.c.c.10. 34 FA 7/ 1, S. 735. <?page no="356"?> 352 vier Versen fort, so daß man nur aus der offensichtlich bewußt gesetzten ‚Leerstelle’ des fehlenden Kindes auf die Absicht schließen kann, Makarie auch hier der höchsten Glorie teilhaftig werden zu lassen. Was sich zunächst als Parallelsetzung der beiden heiligsten Frauengestalten in Goethes letzten großen Werken, der Mater Gloriosa und der Makarie, darstellt, offenbart sich als ihre Einswerdung und zugleich als ihre gemeinsame Verschmelzung mit Isis zu einer Trias 35 weiblicher Vollkommenheit in drei kulminierenden Aspekten der liebenden Frau: der von Geschwisterliebe beflügelten, bis in den Tod opferbereiten „Jungfrau“, deren Farbstrahl wie in einem geschliffenen Prisma hinüberspielt zur anderen ebenfalls opferwilligen Jungfrau, deren ‚Glorie’ und hoher Rang als „Mutter“ in der Sohnesliebe gründet, und weiter, mit abermals verändertem Kolorit, zur weisen und barmherzigen „Königin“, der liebevollen Mutter und zugleich auch liebenden Schwester und Gattin. Die drei Gestalten finden sich geeint im Aspekt des Göttlichen, im „Sternenkranze“ himmlischen Lichtes. 35 Vgl. die Trias von Eos, Elpore und Pandora am Schluß von Pandora (S. 132). <?page no="357"?> 353 15. Wandrer und Pächterin Zunächst klingt es ungerechtfertigt, dieses Gedicht 1 , über dessen Entstehungsdatum nichts bekannt ist und dessen Erstdruck in das Jahr 1804 fällt 2 , in Zusammenhang mit der Geschichte des Nußbraunen Mädchens zu bringen, stammt doch die veröffentlichte erste Fassung der Wanderjahre aus dem Jahr 1821. Doch reichen die Anfänge einer Fortsetzung von Wilhelm Meisters Lehrjahre bis in das Jahr 1797 oder 1798 zurück. 3 Zudem findet sich, wie schon in anderem Kontext festgestellt, ein Eintrag zur Abfassung „der Geschichte der Inen“ bereits 1807 (vgl. S. 330) im Tagebuch, also in relativer zeitlicher Nähe zur Veröffentlichung von Wandrer und Pächterin. Kann es sein, daß Goethe mit dem eher unpoetischen Wort ‚Pächterin’ zukünftigen Lesern einen, wenn auch nicht völlig präzisen, Hinweis auf die „Tochter des Pachters“ geben wollte, über die Lenardo in seinem Brief an die Tante auch schon in der ersten Fassung der Wanderjahre Aufschluß erbittet? Da heißt es, noch mit Namensverwechslung: „Was ist aus Valerinen geworden? der Tochter des Pachters, den unser Onkel kurz vor meiner Abreise, zwar mit Recht, aber doch dünkt mich mit ziemlicher Härte austrieb.“ Der Gesprächspartner der „Pächterin“ wird im Gedicht nicht mit Namen genannt, seine Bezeichnung ist eine, die auf den Dichter selber hinweist, war doch „Wanderer“ in den Frankfurter Jahren ein von den Freunden Goethe verliehener Name, da er ständig zwischen Darmstadt oder Offenburg und seiner Heimatstadt unterwegs war, wie er in Dichtung und Wahrheit berichtet. 4 Einer ganzen Reihe von Gedichten wie Wandrers Sturmlied oder Wandrers Nachtlied wird dieser Name auch seitens des Dichters selbst mitgegeben als Bezeichnung für das lyrische Ich. Das Gedicht Wandrer und Pächterin hat die Gestalt eines Dialogs zwischen zwei Personen, „Er“ und „Sie“, wobei die Sprechenden sich strophenweise abwechseln, vierzehnmal im ganzen, so daß auf jeden der beiden Partner sieben Strophen kommen. Da ist sie wieder, die ominöse Zahl. Zusammen mit dem Namen „Wandrer“ läßt dies aufhorchen. Das Versmaß ist ein in Goethes Schaffen seltenes: fünfhebige Trochäen 5 , der fallende Rhythmus streng durchgehalten, bis in die durchwegs weiblichen Endreime, was dem Gespräch metrisch eine starke Zügelung auferlegt und, bei aller anscheinenden inhaltlichen Munterkeit, den Charakter des Getragenen verleiht. Die metrische Form solch strenger Observanz finden wir reimlos auch im Festspiel Pandora (vgl. S. 132 ff.), im großen Monolog der Epimeleia 6 , der anhebt mit den Versen: 1 FA 2, S. 129 ff. 2 Zu einem vermuteten Zusammenhang mit anderen Schriften Goethes siehe Kommentar FA 2, S. 955 f. 3 Vgl. Komm., FA 10, S. 778. 4 Dichtung und Wahrheit III, 12; FA 14, S. 567. 5 Das Metrum findet sich z. B. auch, jedoch mit unterschiedlichem Reimschema, im Vermächtnis altpersischen Glaubens aus dem Buch des Parsen, West-östlicher Divan, FA 3/ 1, S. 122 ff. 6 Pandora, v. 491 ff.; FA 6, S. 679. <?page no="358"?> 354 Einig, unverrückt, zusammenwandernd Leuchten ewig sie herab, die Sterne, und in dem es später heißt: Ach warum, ihr Götter, ist unendlich Alles alles, endlich unser Glück nur! Sternenglanz, ein liebereich Beteuern, Mondenschimmer, liebevoll Vertrauen, Schattentiefe, Sehnsucht wahrer Liebe Sind unendlich, endlich unser Glück nur. (v. 522-527) Und ferner, mit Ausnahme des emphatisch verlängerten zweiten der zitierten Verse, in den Worten Eos-Pandoras (vgl. S. 132) gegen Schluß des Stückes: Manches Gute ward gemein den Stunden; Doch die gottgewählte, festlich werde diese! Eos blicket auf in Himmelsräume, Ihr enthüllt sich das Geschick des Tages. […] Aus den Fluten schreitet Phileros her, Aus den Flammen tritt Epimeleia; Sie begegnen sich, und eins im andern Fühlt sich ganz und fühlet ganz das andre. (v. 1045-1055) Was hier gefeiert wird, ist ein Treffen der Liebenden nach ihrem irdischen Tod in Wasser und Feuer. Diese Verse sind 1807, also später entstanden als unser Gedicht, aber sie geben rückwirkend mit ihrer Form eine Ahnung davon, was in Wandrer und Pächterin vor sich geht. Auch an die trochäischen Langzeilen der Braut von Korinth wie der anderen, von Goethe neben sie gestellten, Ballade Der Gott und die Bajadere ist hier zu denken. „Die Form“, sagt Goethe, „will so gut verdauet seyn als der Stoff; ja, sie verdaut sich viel schwerer.“ 7 Und: „Den Stoff sieht Jedermann vor sich, den Gehalt findet nur der der etwas dazu zu tun hat, und die Form ist ein Geheimnis den meisten.“ 8 Die Form, die dem Dialoggedicht ganz genau entspräche, habe ich nirgends sonst bei Goethe gefunden, nirgends Strophen in fünfhebigen Trochäen mit durchwegs weiblichem Endreim und dem Reimschema a b b a. Am nächsten, aber eben mit abweichendem Reimschema und anderem Rhythmus, kommt ihr in der lyrischen Dichtung das große, in einem Brief von 1776 an Charlotte von Stein geschickte, aber an das Schicksal gerichtete und erst aus dem Nachlaß veröffentlichte Gedicht „Warum gabst du uns die Tiefen Blicke“ 9 , in dem es um ein Rückerinnern geht, um ein, den Reinkarnationsglauben Charlottes aufgreifendes, Gleichnis eines Rücktauchens in ein früheres Leben, in welchem die Liebenden einander viel näher angehört hatten als in dem gegenwärtigen Zustand, der nur als ein matter Abglanz der „abgelebten Zeiten“ erfahren wird: 7 Sprüche in Prosa, FA 13, S. 389, 6. 29. 20; H 1083. 8 Ebd., S. 31, 1.177; H 289. 9 FA 1, S. 229. <?page no="359"?> 355 […] Sag was will das Schicksal uns bereiten? Sag wie band es uns so rein genau? Ach du warst in abgelebten Zeiten Meine Schwester oder meine Frau. […] Und von allem dem schwebt ein Erinnern Nur noch um das ungewisse Herz Fühlt die alte Wahrheit ewig gleich im Innern Und der neue Zustand wird ihm Schmerz. Und wir scheinen uns nur halb beseelet Dämmernd ist um uns der hellste Tag. Glücklich daß das Schicksal das uns quälet Uns doch nicht verändern mag. Mit dem letztzitierten Gedicht hat Wandrer und Pächterin noch in verstärktem Maße gemein, daß Fuß- und Wortende fast überall zusammenfallen, so daß der Fluß der Verse kaum je durch Zäsuren gestaut bzw. beschleunigt wird. Diese überaus getragene, ja stellenweise geradezu schleppende, Diktion steht in Widerspruch zu dem zunächst alltäglich erscheinenden Inhalt des Dialogs: E R Kannst du, schöne Pächt’rin ohne gleichen, Unter dieser breiten Schattenlinde, Wo ich Wandrer kurze Ruhe finde, Labung mir, für Durst und Hunger, reichen? Was aussehen könnte wie eine höfliche, ja galante, Bestellung in einem Gastgarten - wäre, wie gesagt, der Rhythmus nicht eine Gegenanzeige -, macht in mancher Hinsicht nachdenklich. Der Gast stellt sich vor mit „ich Wandrer“, und an diese Bezeichnung knüpfen sich nicht nur autobiographische, sondern auch mythologische Bezüge, wie etwas später gezeigt werden soll. Die „kurze Ruhe“ gemahnt an ein anderes Gedicht, an Verse aus dem Abschiedslied Mignons, in dem sie singt: „Ich eile von der schönen Erde / Hinab in jenes feste Haus. / Dort ruh’ ich eine kleine Stille / “ […] 10 , aber auch an das ominöse „Warte nur, balde / Ruhest du auch“ aus <Wandrers Nachtlied II> 11 , das Goethe als junger Mann an die hölzerne Wand der Hütte auf dem Kickelhahn schrieb und das er, als er es nach mehr als einem halben Jahrhundert, im Jahr vor seinem Tode, dort wiederfand, laut las und dann die beiden letzten Verse wiederholte - mit Tränen auf den Wangen. 12 Die „kurze Ruhe“, kontrastierend zur ‚requies aeterna’ und hindeutend auf eine folgende ‚vita activa’? In diesem Zusammenhang wird plötzlich auch die „Schattenlinde“ ungewiß. Wächst sie in einem Schattenreich gleich demjenigen, in dem Faust mit Helena Hochzeit feiert? (Obwohl ja die Linde kein eigentlich 10 „So laßt mich scheinen, bis ich werde“, FA 2, S. 322. 11 Eigentlich: Ein Gleiches, ebd., S. 65. Hier fällt das innerhalb der acht Verse einmal groß- und einmal kleingeschriebene Personalpronomen ‚du’ auf, wobei mit dem letzteren der Dichter sich selber anspricht. 12 Johann Christian Mahr zum 26. August 1831, in Biedermann / Herwig, Goethes Gespräche, a. a. O., Bd. 4, S. 811. <?page no="360"?> 356 ‚chthonischer’ Baum ist wie z. B. die Weide. Doch auch dazu später mehr.) In dem vielschichtigen Gedicht ist alles an der Oberfläche völlig einsichtig und zugleich unterschwellig voller Hinweise auf mannigfaltige Zusammenhänge. Auf seine Bitte um Labung wird dem Wanderer folgende Antwort: Willst du Vielgereis’ter hier dich laben, Sauren Rahm und Brot und reife Früchte, Nur die ganz natürlichsten Gerichte, Kannst du reichlich an der Quelle haben. Die Frau weiß ihn anzureden, sie nennt ihn einen „Vielgereisten“, indem sie seine Selbstbezeichnung als „Wandrer“ variiert; πολύτροπος , ‚vielgereist’, aber auch ‚vielerfahren’, deutet auf Odysseus, dem dieses Epitheton gleich im ersten Vers der Odyssee zugelegt wird, wo Johann Heinrich Voss es mit ‚vielgewandert’ übersetzt. Aber es trifft auch auf Menelaos zu, der im Helena-Drama des Euripides nach siebenjähriger Irrfahrt seine Gemahlin in Ägypten wiederfindet. Daß es von allen Speisen, die der Pächterin zur Verfügung stehen müßten, ausgerechnet „saurer Rahm“ sein soll, den sie ihm mit dem Brot anbietet, ist wohl erstaunlich. Es kommt aber gleich darauf etwas wie ein Schlüssel. Immer nämlich, wenn Goethe ungewöhnliche oder seltsam qualifizierte Steigerungsstufen anwendet, gilt es aufzumerken. In der Elegie ist von „der lieblichsten der lieblichsten Gestalten“ und von einem „letztesten“ Kuß die Rede - Superlative, die es eigentlich gar nicht geben dürfte und die Goethe dennoch oder eben gerade deshalb einsetzt. (Vgl. S. 49 f. u. 267.) „Ganz natürlichst“ ist eine Fügung, die keinen Sinn gibt, der Superlativ kann durch „ganz“ nicht noch gesteigert werden. Wenn er trotzdem hier steht, hat er zunächst die Funktion, auf eine große Besonderheit der „Gerichte“ hinzuweisen. Wenn wir uns über den „Rahm“ in Hinsicht seiner Semantik verwundern, kann er uns vielleicht mit dem Klang seines Wortes weiterhelfen: „Rahm“ und „Brot“näher konnte der Dichter im Deutschen phonetisch nicht an das griechische ἄμβροτος (ámbrotos, unsterblich) herankommen und damit an das von ihm abgeleitete ‚Ambrosía’, das Unsterblichkeit bedeutet und zugleich auch die Speise der Götter benennt. (Später, im letzten Kapitel, wird sich noch ein weiterer wichtiger Bezug auftun.) Die „reifen Früchte“ - sie sind nun wieder semantisch zu fassen und nehmen so die Stelle des Nektars ein. Die Quelle deutet auf das elysische Ursprungsland von Götterspeise und Göttertrank, deren Genuß Unsterblichkeit gewährt. Der Wanderer selbst ist jedenfalls nicht erstaunt über solche „Labung“. Ihn beschäftigt zudem noch etwas anderes: Ist mir doch, ich müßte schon dich kennen, Unvergeßne Zierde holder Stunden! Ähnlichkeiten hab’ ich oft gefunden; Diese muß ich doch ein Wunder nennen. Nun entwickelt sich eine Anagnorisis-Szene, ganz im antiken Stil und auch wie in der Geschichte des Nußbraunen Mädchens: der Anblick allein gewährt nicht die Gewißheit, daß man im wiedergefundenen wirklich den nahen, geliebten Menschen vor sich hat. Die „Pächterin“ jedoch, ihrer Sache sicherer als der Wanderer, wehrt den Gedanken an ein „Wunder“ ab: <?page no="361"?> 357 Ohne Wunder findet sich, bei Wandrern, Oft ein sehr erklärliches Erstaunen. Ja, die Blonde gleichet oft der Braunen; Eine reizet eben wie die andern. Wollte man glauben, in der letzten Zeile die Erklärung für den Grund des Erstaunens gefunden zu haben, beließe man es bei einer koketten Banalität. Zudem ist auch die Unstimmigkeit des Reimes „Wandrern“-„andern“ ein Anzeichen für die Fragwürdigkeit der Aussage. Goethe hat jedoch selber bereits in den 1800 veröffentlichten Weissagungen des Bakis einen einschlägigen Hinweis gegeben: Zweimal färbt sich das Haar; zuerst aus dem Blonden ins Braune, Bis das Braune sodann silbergediegen sich zeigt. Halb errate das Rätsel! so ist die andere Hälfte Völlig dir zu Gebot, daß du die erste bezwingst. 13 Es ist durchaus möglich, daß das in dem Epigramm genannte „Rätsel“ sich auf das Dialog-Gedicht bezieht, dessen Entstehungszeit ja nicht festliegt. Die Lösung wäre dann „Wandrer“ als erster Hälfte und „Pächterin“ als zweiter. Und auch für eine solche Heranziehung könnte man sich auf eines der Epigramme aus den Weissagungen berufen. Nicht Zukünftiges nur verkündet Bakis; auch jetzt noch Still Verborgenes zeigt er, als ein Kundiger, an. Wünschelruten sind hier, sie zeigen am Stamm nicht die Schätze; Nur in der fühlenden Hand regt sich das magische Reis. 14 Das zuerst zitierte Epigramm thematisiert die Identität der Person 15 über die verschiedenen Lebensalter hinweg. Dies ist insofern relevant, als der „Wandrer“ und „Vielgereiste“ nicht Zeuge des sukzessiven Wandels sein konnte, der sich während der Trennung vollzogen hat, daher seine anfängliche Ratlosigkeit hinsichtlich der gleichzeitigen Veränderung und Vertrautheit in der Erscheinung der Frau, die er offensichtlich viele Jahre nicht gesehen hat. („Still Verborgenes“ tritt allmählich an den Tag, wenn man die „Wünschelrute“ von ihrem „Stamm“, der Sammlung der Weissagungen, ablöst und sich von ihren Ausschlägen leiten läßt, die nun eine Folge von Bildern aufrufen.) Die Erinnerung des Wanderers intensiviert sich: Heute nicht, fürwahr, zum erstenmale Hat mirs diese Bildung abgewonnen! Damals war sie Sonne vieler Sonnen, In dem festlich aufgeschmückten Saale. (Eine frühere Fassung hatte „Sonne aller Sonnen“.) Erst aus der Reaktion auf diese Worte in der nächsten Strophe wird hervorgehen, daß die aufgerufenen Bilder einem Märchen entstammen, einem ‚scherzhaft’ aufgerufenen Gleichnis. 13 Nr. 22, FA 2, S. 234. 14 Nr. 3, ebd. S. 230. 15 Im Sinne der ΔΑΙΜΩΝ -Stanze der Urworte. Orphisch. (Vgl. S. 26 f.) <?page no="362"?> 358 Das Märchen, zu dem man hier hingeführt wird, liegt mir nur in einer Veröffentlichung von 1842 vor, also aus einer Zeit zehn Jahre nach Goethes Tod, in der Zeitschrift für Deutsches Altertum, herausgegeben von Moriz Haupt. 16 1843 wurde es von den Brüdern Grimm, stilistisch stark verändert, in die 5. Auflage ihrer Sammlung der Kinder- und Hausmärchen als Nr. 186 unter dem Titel Die wahre Braut aufgenommen. Bei Haupt ist die Geschichte bloß als Ein Märchen aus der Oberlausitz betitelt. Goethe muß eine andere Quelle dafür gehabt haben. Weimar liegt nicht so weit ab von der Lausitz, und Märchen wandern. Doch ist es durchaus möglich, daß er es noch aus seiner Kindheit, aus den Märchenerzählungen seiner Mutter, kannte. Es verbindet zwei Themenkreise der Märchen, nämlich einerseits den des Mädchens, das unter einer bösen Gewalt, meist der Stiefmutter, zu leiden hat, und andererseits den des vom Geliebten gewaltsam getrennten, verlassenen oder vergessenen Mädchens. Prototyp der Verbindung der beiden Topoi stellt im europäischen Raum das Märchen von Amor und Psyche dar, welches das Herzstück von Apuleius’ Roman Der goldene Esel 17 bildet. So findet sich die eifersüchtige Venus, die ihre Schwiegertochter Psyche quält oder erniedrigt, beispielsweise wieder in der bösen Königin des Schneewittchen-Märchens oder in der Stiefmutter bzw. den hartherzigen Schwestern von Aschenputtel. Venus ist es, die bei Apuleius eine lange Trennung der Liebenden bewirkt, wie sie im Märchen von der Jungfrau Maleen der grausame Vater über sie verhängt. In der Geschichte jedoch, die in das Gedicht Wandrer und Pächterin ganz offensichtlich hineinspielt, ist es der Geliebte, der die Braut vergißt, so wie es im indischen Drama Ś akuntal ā geschieht, nur daß hier keinerlei erwähnte Ursache vorliegt. Das Märchen soll hier nun, kurz zusammengefaßt bzw. auszugsweise, in der von Moriz Haupt überlieferten Version erzählt werden, wobei die Orthographie der heutigen angepaßt, d. h. vor allem, die Kleinschreibung der Substantive nicht übernommen, die Zeichensetzung jedoch, mit ganz wenigen Ausnahmen, belassen wurde. Es war einmal ein schönes Mädchen, das hieß Helene, ihre Mutter war früh gestorben, und die Stiefmutter, die sie bekommen hatte tat ihr alles gebrannte Herzeleid an. Helene gab sich alle Mühe ihre Liebe zu gewinnen, sie verrichtete die schweren Arbeiten die ihr auferlegt wurden fleißig und unverdrossen, aber die böse Stiefmutter blieb in ihrem harten Herzen ungerührt und verlangte immer mehr von ihr, denn weil Helene so emsig und unermüdlich war daß sie immer beizeiten mit ihrer Arbeit fertig wurde, so glaubte sie, was sie ihr auferlegt habe sei noch zu leicht und zu gering gewesen und sann auf neue Aufgaben. Die waren aber bald unlösbar. So verlangte sie, daß Helene zwölf Pfund Federn in einem Tag abschleißen sollte und drohte mit harten Strafen, wenn sie abends die Arbeit nicht getan fände. Als Helene verzweifelt weint, erscheint eine gute Fee und tut die Arbeit für sie. Das gleiche geschieht, als Helene am andern Tag mit einem Löffel einen Teich ausschöpfen sollte. Wiederum hilft ihr die gute Fee. Zuletzt befiehlt die Stiefmutter Helene, „bis zum Abende ein schönes Schloß zu 16 Zeitschrift für Deutsches Altertum, hrsg. von Moriz Haupt, Leipzig 1842. Bd. 2, S. 481 ff. 17 Apulejus, Metamorphosen, ,Der goldene Esel’, übers. v. August Rode, hrsg. v. Horst Rüdiger, illustriert v. Hans Erni, Manesse Verlag 1960. <?page no="363"?> 359 bauen das sogleich bezogen werden könne und an dem nichts fehle, weder Küche noch Keller noch irgendetwas.“ Und abermals erscheint tröstend die Fee, schickt Helene zur Ruhe, und am Abend steht ein prächtiges Schloß da. Aber die Stiefmutter freute sich nicht, sondern suchte nach einem Fehler, dessentwegen sie das Mädchen strafen könnte. Als sie auch noch den Keller prüfen wollte, fiel, als sie die Treppe hinabstieg, die schwere Falltüre auf sie, so daß sich die böse Frau zu Tode stürzte. Nun war Helene selber Herrin des Schlosses und lebte in Ruhe und Frieden. Bald kamen viele Freier die von ihrer großen Schönheit gehört hatten. Unter ihnen war auch ein Königssohn mit Namen Lassmann, und dieser erwarb sich die Liebe der schönen Helene. Eines Tages saßen beide vertraulich vor dem Schlosse unter einer hohen Linde beisammen und Lassmann sagte Helenen daß er von ihr zu seinen Eltern reisen müsse, um ihre Einwilligung zu seiner Heirat sich zu holen, und bat sie unter der Linde seiner zu warten: so bald als möglich schwor er ihr zurückzukehren. Helene küßte ihn zum Abschied auf den linken Backen und bat ihn solange er von ihr entfernt sein werde sich von niemand auf diesen Backen küssen zu lassen. Unter der Linde wolle sie ihn erwarten. Helene baute felsenfest auf Lassmanns Treue und saß ganze drei Tage lang vom Morgen bis zum Abende unter der Linde. Als aber ihr Bräutigam immer noch nicht kam, geriet sie in schwere Sorge und beschloß sich auf den Weg zu machen und ihn zu suchen. Sie nahm von ihrem Schmucke so viel sie konnte, auch von ihren Kleidern nahm sie drei der schönsten, eins mit Sternen, das andere mit Monden, das dritte mit lauter Sonnen von reinem Golde gestickt. Weit und breit wanderte sie durch die Welt, aber nirgend geriet sie auf eine Spur ihres Bräutigams. Am Ende verzweifelte sie ihn zu finden und gab ihr Suchen auf, aber nach ihrem Schlosse wollte sie doch nicht heimkehren, weil ihr dort ohne ihren Bräutigam alles öde und verlassen vorkommen mußte: lieber wollte sie in der Fremde bleiben. Sie vermietete sich bei einem Bauer als Hirtin und vergrub ihren Schmuck und ihre schönen Kleider an einem verborgenen Orte. So lebte sie nun als Hirtin und hütete ihre Herde indem sie an ihren Bräutigam dachte. Sie gewöhnte ein Kälbchen von der Herde an sich und hatte an ihm ihre Freude, fütterte es aus ihrer Hand und richtete es ab vor ihr nieder zu knieen wenn sie zu ihm sprach: „Kälbchen, knie nieder Und vergiß deiner Ehre nicht, wie der Prinz Lassmann die arme Helene vergaß, Als sie unter der grünen Linde saß.“ Nach einigen Jahren, die sie so verlebte, hörte sie, die Tochter des Königs in dem Lande wo sie jetzt wohnte werde ein Königssohn mit Namen Lassmann heiraten. Darüber freuten sich alle Leute, aber Helenen überfiel ein noch viel größerer Schmerz, als sie bisher erlitten hatte, denn sie hatte immer noch auf Lassmanns Treue vertraut. Nun traf es sich daß der Weg zur Königsstadt nicht weit von dem Dorfe vorbei ging, wo Helene sich als Hirtin verdungen hatte, und so geschah es oftmals, wenn sie traurig ihre Herde hütete, daß Lassmann an ihr vorüber ritt ohne sie zu beachten, indem er ganz in Gedanken an seine Braut versenkt war. Da fiel es Helenen ein, sein Herz auf die Probe zu stellen und zu versuchen, ob es <?page no="364"?> 360 nicht möglich sei, ihn wieder an sie zu erinnern. Nicht lange darauf kam Lassmann wieder einmal vorüber; da sprach Helene zu ihrem Kälbchen: „Kälbchen, knie nieder Und vergiß deiner Ehre nicht, wie der Prinz Lassmann die arme Helene vergaß, Als sie unter der günen Linde saß.“ Als Lassmann ihre Stimme hörte, da war es ihm als solle er sich auf etwas besinnen, aber hell wurde ihm nichts, und deutlich hatte er auch nicht die Worte vernommen, da Helene nur leise und mit zitternder Stimme geredet hatte. So war auch ihr Herz viel zu bewegt gewesen als daß sie hätte acht geben können welchen Eindruck ihre Worte machten, und als sie sich faßte, war Lassmann schon wieder weit von ihr, doch sah sie noch, wie er langsam und nachdenklich ritt, und deshalb gab sie sich noch nicht ganz verloren. In diesen Tagen sollte in der Königsstadt mehrere Nächte hindurch ein großes Fest gegeben werden. Darauf setzte sie ihre Hoffnung und beschloß dort ihren Bräutigam aufzusuchen. Als es Abend war machte sie sich heimlich auf, ging zu ihrem Verstecke und legte das Kleid das mit goldenen Sonnen geziert war und ihr Geschmeide an, und ihre schönen Haare, die sie bisher unter einem Tuche verborgen hatte, gab sie nun frei. So geschmückt ging sie in die Stadt zum Feste. Als sie eintrat, da wandten sich aller Augen auf sie, alles verwunderte sich über ihre Schönheit, aber niemand wußte wer sie war. Auch Lassmann war von ihrer Schönheit wie bezaubert, ohne zu ahnen dass er einst mit diesem Mädchen ein Herz und eine Seele gewesen war. Bis zum Morgen wich er nicht von ihrer Seite und nur mit Mühe konnte sie in dem Gedränge ihm entkommen als es Zeit war heim zu kehren. Lassmann suchte sie überall und erwartete sehnlich die nächste Nacht, wo sie versprochen hatte sich wieder einzufinden. Am anderen Abende begab sich die schöne Helene wiederum so zeitig sie konnte auf den Weg. Diesmal hatte sie das Gewand an, das mit lauter silbernen Monden geziert war und einen silbernen Halbmond trug sie über ihrer Stirne. Lassmann war froh sie wieder zu sehen, sie schien ihm noch viel schöner zu sein als gestern und die ganze Nacht tanzte er allein mit ihr. Als er sie aber nach ihrem Namen fragte, antwortete sie, sie dürfe ihn nicht nennen wenn er nicht erschrecken solle. Darauf bat er sie inständig den nächsten Abend wieder zu kommen, und dies versprach sie ihm. Am dritten Abend war Lassmann vor Ungeduld frühzeitig in dem Saale und wandte kein Auge von der Tür. Endlich kam Helene in einem Gewande das mit lauter goldenen und silbernen Sternen gestickt war und von einem Sternengürtel festgehalten wurde; ein Sternenband hatte sie um ihre Haare geschlungen. Lassmann war noch mehr als zuvor von ihr entzückt und drang in sie mit Bitten sich ihm endlich zu erkennen zu geben. Da küßte Helene ihn schweigend auf den linken Backen, und nun erkannte Lassmann sie auf einmal wieder und bat voll Reue um ihre Verzeihung, und Helene, froh ihn wiedergewonnen zu haben, ließ ihn nicht lange darauf warten. <Offenbar hatte er sich, entgegen dem Versprechen, doch auf die linke Wange küssen lassen.> Es erschien sinnvoll, das Märchen in so langen Passagen selbst sprechen zu lassen, denn diese Vorlage für Wilhelm Grimm ist schwer greifbar, und gewiß viel näher an der Version, die Goethe gekannt haben muß, verglichen mit der ausgeschmückten in der Märchensammlung. Zudem haben die Brüder Grimm in ihrer Variante die Namen der Protagonisten weggelassen und das Märchen romantisch heraus- <?page no="365"?> 361 geputzt. Indem man es aber so authentisch wie möglich sprechen läßt, offenbart es gerade in seiner Naivität seinen poetischen Zauber. Auch der gütige und großherzige Charakter des Mädchens zeigt sich so am klarsten. Ich habe bisher keinen anderen Nachweis dafür, daß Goethe sich mit diesem Märchen näher beschäftigt hat, als die Evidenz der aus ihm geschöpften, im Gedicht verarbeiteten Bilder. Da ist immer wieder die Linde, vielleicht auch der „Raam“, jetzt semantisch verstanden als Gabe der ‚Rinderhirtin’, vor allem wichtig aber ist das allmähliche Rückerinnern des Bräutigams, ferner die Schöne im sonnenbestickten Kleid als „Sonne vieler (oder sogar aller) Sonnen“ in der ersten Wiederbegegnung nach Jahren. Und da ist zudem noch der Name Helene, den auch die Pächterin trägt, wie sich erst gegen Schluß des Gedichts herausstellt. In der folgenden Strophe spricht „Sie“ wörtlich von einem „Märchenscherz“. Das heißt, die beiden Gesprächspartner sind in die Rollen der Märchengestalten geschlüpft, wodurch sie sonst schwer Auszusprechendes ausdrücken können. Nun geht ihr aber seine ‚Erinnerung’ an die Ballnacht nicht tief genug in die Vergangenheit zurück: Freut es dich, so kann es wohl geschehen, Daß man deinen Märchenscherz vollende: Purpurseide floß von ihrer Lende, Als du sie zum erstenmal gesehen. Sie erinnert den Gast an die tatsächlich erste Begegnung im Schloß. Die „Purpurseide“ läßt sich aus dem Märchen nicht belegen, ist aber von vergleichbar kostbarer Art wie die bestickten Gewänder und deutet auf das Attribut hochgestellter Personen, was die zehnte Strophe bestätigen wird. Jener erste Besuch ging ohne Anwesenheit Dritter vor sich und hatte daher, wie das Erstaunen in der Antwort zeigt, auch keinerlei Zeugen. Damit wächst des Wanderers Akzeptanz des Vergangenen - hier noch immer auf der Ebene des Märchens: Nein, fürwahr, das hast du nicht gedichtet! Konnten Geister dir es offenbaren; Von Juwelen hast du auch erfahren Und von Perlen, die ihr Blick vernichtet. 18 Wieder findet sich in den Weissagungen des Bakis ein Doppeldistichon analoger Thematik, das zugleich auch auf die Existenzform des Mädchens als Hirtin hinweisen könnte: Einsam schmückt sich, zu Hause, mit Gold und Seide die Jungfrau; Nicht vom Spiegel belehrt, fühlt sie das schickliche Kleid. Tritt sie hervor, so gleicht sie der Magd, nur einer von allen Kennt sie; es zeiget sein Aug’ ihr das vollendete Bild. 19 Daß der Wanderer nun aufgehört hat, an der gemeinsamen Vergangenheit zu zweifeln, gestattet ihr, zum erstenmal, zögerlich-scheu in der dritten Person, etwas über ihre Gefühle verlauten zu lassen. Nun ist das Eis gebrochen: 18 Vgl. Pandora, v. 621-623. 19 Nr. 10; FA 2, S. 232. <?page no="366"?> 362 Dieses Eine ward mir wohl vertrauet: Daß die Schöne, schamhaft zu gestehen, Und in Hoffnung, wieder dich zu sehen, Manche Schlösser in die Luft erbauet. Da ist nun auch das Bild des Schlosses eingebracht - im Märchen, wenn auch in kürzester Zeit hervorgezaubert, dennoch ein ‚reales’ Gebäude, das jedoch sehr schnell an Wichtigkeit verliert. In dieser Strophe aber wird das Schloß zum Luftschloß, umso irrealer noch in seiner Pluralität. Damit wird der metaphorische Charakter des Bisherigen offenbar und der „Märchenscherz“ als solcher entlarvt, ohne daß er jedoch deshalb als Gleichnis an innerer Wahrheit verlöre. Wie so oft bei Goethe, hat dieses Gedicht mehrere Verständnisebenen, die ineinanderspielen. Eine Verbindungschiffre leitet jetzt über zu dem von nun an vordrängenden Symbolbereich: es ist der Name Helene. Die Bilder der Märchenebene und jene der sich nun wieder vordergründig abzeichnenden anderen, nämlich der griechischen Antike, schieben sich ineinander, ohne einander zu widersprechen. Helene wird zu Helena (im Griechischen ja auch meist Ἑλένη ) - die „Schöne“ wird zur Schönsten. (Und könnte der Name Lassmann, der tatsächlich auf Ladislaus zurückgeht, nicht vielleicht gerade in diesem Märchen durch verniedlichende Umdeutung entstanden sein aus der in der Antike ebenfalls häufig verwendeten kontrahierten Form „Menelas“, um dann, naiv eingedeutscht, zu etwas wie ‚Männe-lass’ zu werden? Durch Silbenverstellung und regionale Anpassung wäre dann die gängige Form „Lassmann“ zustande gekommen.) Erstmalig spricht der Wanderer, der ‚Vielgereiste’, nun über sein eigenes Leben. Es klingt wie ein Schuldbekenntnis, unverkennbar ist Resignation in den Worten, die seinen früheren Unternehmungen gelten. Etwas jedoch wie eine ‚Ende gut, alles gut’-Verheißung schwingt in den beiden letzten Versen mit: Trieben mich umher doch alle Winde! Sucht’ ich Ehr’ und Geld auf jede Weise! Doch gesegnet, wenn, am Schluß der Reise, Ich das edle Bildnis wieder finde. Der ganz persönliche Ton des Bekenntnisses verschleiert zunächst die Tatsache, daß die beiden Gesprächspartner hier bereits unmerklich in ihr anderes Rollenverhältnis geschlüpft sind, angedeutet in dem Vers „Trieben mich umher doch alle Winde! “, was auf einen Befahrer der Meere schließen läßt. Nun erfolgt der vom Dichter durch den gleichen Namen von Pächterin und Märchenbraut vorbereitete Umschlag - hin zur griechischen Antike, zu dem von Goethe favorisierten Helena-Drama des Euripides, in dem man Menelaos begegnet als einem Schiffbrüchigen, der nun allerdings nicht mehr „Ehr’ und Geld“ (Gold) 20 sucht wie im Homer- Zitat des Gedichts, sondern Rettung: Ich Armer irre durch des Meeres blaue Flut So lange schon, wie ich berannte Trojas Burg. Und heimzukommen drängt es mich ins Vaterland. 20 Homer, Odyssee III, v. 301 f., übertragen von J.H.Voss: „Allda fuhr Menelaos bei unverständlichen Völkern / Mit den Schiffen umher, viel Gold und Schätze gewinnend.” A. a. O., S. 473. <?page no="367"?> 363 Doch würdigen mich die Götter dieses Glückes nicht. Schon segelt ich um alle Öden Libyens Und ungastliche Buchten, und bin ich dann nah Dem Vaterlande, rafft ein Sturm mich wieder fort: Nie schwellt ein Wind mein Segel, der mich heimwärts trägt. (v. 399-407) 21 Die Anagnorisis-Entwicklung in Wandrer und Pächterin läuft mit jener bei Euripides konform. Das Erinnerungsbild nimmt allmählich reale Form an. Wie hier schon mehrfach hervorgehoben, vollzieht Euripides in seinem Drama eine Ehrenrettung seiner Titelheldin, indem er die echte Helena als nach Ägypten entrückt darstellt, während Paris, dem ihr Besitz durch sein Urteil zugunsten Aphrodites zugefallen war, sich in Wahrheit mit einem Trugbild begnügen mußte, ein Umstand, der sich dem Ressentiment der gekränkten Hera verdankte und der sowohl dem Paris selbst als auch den um Helena kämpfenden Streitmächten völlig unbekannt geblieben war. Als nun Menelaos in seiner sieben- oder gar zehnjährigen Irrfahrt schiffbrüchig nach Ägypten verschlagen wird, verbirgt er die von Troja heimgeholte vermeintliche Gattin in einer Grotte, begegnet aber auf seiner Suche nach Hilfe der echten Helena, der wahren Gemahlin, die, hierher entrückt, treu und voll Bangen um sein Leben, eine Vereinigung mit ihm herbeisehnt. In der folgenden Stichomythie spielt sich eine Szene ab, in der ein König, wie jener im viel späteren Ś akuntal ā -Drama, wenn auch aus anderen, doch gleichfalls verblendet-moralischen Gesichtspunkten, seine rechtmäßige Ehefrau von sich weist: MENELAOS. Wer bist du? Welche Züge zeigst du meinem Blick? HELENA. Wer du? Denn so zu fragen hab ich gleichen Grund. MENELAOS. Nie sah ich eine Fraungestalt ihr ähnlicher! HELENA. O Gott - denn Freunde wiedersehn ist Götterglück! MENELAOS. Du stammst aus Hellas? Oder bist du heimisch hier? HELENA. Aus Hellas; aber nenne mir auch dein Geschlecht. MENELAOS. Nie sah ich eine Helena so gleich wie dich. HELENA. Du gleichst so ganz Menelaos: mir versagt das Wort! MENELAOS. Den ärmsten aller Männer hast du recht erkannt. HELENA. auf ihn zueilend, Oh, spät kommst du in deines Weibes Arm zurück! MENELAOS. Welch eines Weibes? Rühre nicht an mein Gewand! HELENA. Die Tyndareos, mein Vater, dir zur Ehe gab. MENELAOS. Lichtgöttin, send uns gute Geister, Hekate! HELENA. Kein Nachtgespenst der Wegegöttin siehst du hier. MENELAOS. Doch bin ich einer, zweier Frauen Gatte nicht. HELENA. Welch andre Gattin hast du dir denn angetraut? MENELAOS. Sie birgt der Fels: vom Phrygerlande bring ich sie. HELENA. Zur Gattin hast du keine sonst, als mich allein. MENELAOS. Bin ich bei Sinnen, oder ist mein Auge krank? HELENA. So glaubst du, mich erblickend, nicht dein Weib zu sehn? MENELAOS. Gleich ist dein Aussehn, doch die Meine bist du nicht. HELENA. Schau! Was bedarf’s noch? Kann ein Zeugnis klarer sein? MENELAOS. Du bist ihr ähnlich, sicher: das bestreit ich nicht. HELENA. Wer anders kann’s dich lehren als dein eigner Blick? MENELAOS. Ich habe schon ein andres Weib, das macht mich irr. 21 Euripides, Helena, v. 403-407, nach der Übersetzung von J. J. Donner, Bd.1, S. 260 f. <?page no="368"?> 364 HELENA. Nicht ich, mein Abbild war es, das nach Troia kam, MENELAOS. Doch wer erschafft Gestalten, die lebendig sind? HELENA. Der Äther sandt ein gotterschaffnes Weib dir zu. MENELAOS. Und welche Gottheit schuf es? Wunderbares Wort! HELENA. Hera, zum Tausche, daß mich Paris nicht empfing. MENELAOS. Wie warst du hier denn und zugleich in Ilion? HELENA. Die Namen sind an manchem Ort, die Körper nicht. MENELAOS. Laß mich! Des Leides bracht ich schon genug mit mir. HELENA. Du willst mich lassen und entführst das leere Bild? MENELAOS. Leb wohl und Heil dir, daß du so Helena gleichst! HELENA. O Gram! Den Gatten fand ich kaum, und er entflieht! MENELAOS. Dem schweren Leid vor Troja glaub ich mehr denn dir. HELENA. Weh mir: wem ward ein größres Unglück je als mir? Die Liebsten fliehn, verlassen mich: ich kehre nie Nach Griechenland, in meiner Ahnen Land zurück! (v. 557-596) Die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung und der Akzeptanz des Wahrgenommenen gleicht der im Märchen. In diesem Augenblick erscheint ein Bote - „Der Alte“ - und bringt Aufklärung: DER ALTE. Menelaos, lange suchend find ich endlich dich: Ich irrte rings durch dieses fremde Land, gesandt Von deinen Freunden, die du dort gelassen hast. MENELAOS. Was ist geschehen? Plündern euch Barbaren aus? DER ALTE. Ein Wunder, dessen Größe nie das Wort erreicht. MENELAOS. Sprich! Neuigkeiten bringst du deiner Eile nach. DER ALTE. Nun denn: du trugst die tausendfachen Mühn umsonst. MENELAOS. Du klagst um alte Leiden: was begab sich denn? DER ALTE. Hinauf, in Ätherhöhen, unsichtbar entrückt, Schwand deine Gattin und verbirgt im Himmel sich, Nachdem sie jene Grotte, wo wir sie verwahrt, Verlassen, also sprechend: „Armes Phrygervolk Und Volk Achaias, meinethalb, durch Heras Trug, Starbt ihr im Feld Skamanders, wähnend, Helena Besitze Trojas Paris, der sie nie besaß. Ich aber, nun ich ausgeharrt die lange Zeit, Die mir bestimmt mein Schicksal, kehre nun zurück Zum Himmel, meinem Vater. Sie, die nichts verbrach, Die Tyndaride trug umsonst den bösen Ruf.“ […] MENELAOS. Dies war es also! Was sie sprach, ist wahr und stimmt Zu dieses Mannes Worten! Lang ersehnter Tag, Der dich, Geliebte, wiederbringt in meinen Arm! HELENA. O liebster du der Männer, lang, Menelaos, war Die Zeit, doch eben ist die Freude eingekehrt! ( v. 597-626) Mit dem euripideischen Drama als metaphorischem Hintergrund läßt sich verstehen, was sich in der Vorstellung des „Bildnisses“ verbirgt, das der Wanderer aufgerufen hat und auf das die „Pächterin“ nun in ihrer Antwort emphatisch Bezug nimmt: Nicht ein Bildnis, wirklich siehst du jene Hohe Tochter des verdrängten Blutes; <?page no="369"?> 365 Nun im Pachte des verlaßnen Gutes Mit dem Bruder freuet sich Helene. Sie nimmt nun die antike Rolle als ‚wirkliche’ Helena auf, um sich zu rechtfertigen. Denn auf dem „Bildnis“ lasten die Vergehen von Untreue und Verrat, wenn auch auferlegt von höherer Gewalt. Zuerst muß dies im Sinne des antiken Dramas klargestellt werden. Die „Hohe Tochter des verdrängten Blutes“ trifft auf Helena zu, denn Zeus in Schwanengestalt hat sie ja mit Leda gezeugt und nicht ihr vermeintlicher Vater Tyndareos, immerhin auch ein König. Die Rechtfertigung bringt zugleich den Umschlag in die Aktualität mit sich. Eine neue Ebene beginnt sich nun leise abzuzeichnen, ohne daß die früheren dadurch weniger Gültigkeit besäßen; sie bleiben, wie ja auch der Name bekundet, vorhanden, so wie ja alles, was in einem Gedicht einmal ausgesprochen ist, nie völlig seine Gültigkeit verlieren kann. Die zwei letzten Verse der Antwort treffen auf die antike Helena nicht mehr zu, eher noch auf die Helene des Märchens, die ebenfalls, selbst in ihrer Rolle als Hirtin („Pächterin“), in Auftreten und Umgangsformen eine Abkunft aus ‚hohem’ Stande nicht verleugnen kann; die „Hohe Tochter des verdrängten Blutes“ will man auch ihr gern glauben - nicht umsonst trug sie (bei Goethe) ein Gewand aus „Purpurseide“. Doch von einem Bruder war im Märchen nie die Rede. Die antike Helena andererseits hat wohl zwei Brüder von derselben Mutter, die Dioskuren, die aber in das Bild nicht passen, weil sie bei ihrem ständigen Wechsel zwischen Ober- und Unterwelt nirgends länger verharren, geschweige denn ein Gut erarbeiten könnten. Was diese Umgebung betrifft, so scheint der Wanderer jetzt erstmals verschärfte Aufmerksamkeit auf sie zu richten: Aber diese herrlichen Gefilde Kann sie der Besitzer selbst vermeiden? Reiche Felder, breite Wies’ und Weiden, Mächt’ge Quellen, süße Himmelsmilde. Die hier geschilderte Landschaft ist eine elysische, wie wir sie bei Homer finden, wenn er den Meergreis Proteus dem Menelaos seine Zukunft voraussagen läßt: Aber dir bestimmt, o Geliebter von Zeus, Menelaos, Nicht das Schicksal den Tod in der rossenährenden Argos, Sondern die Götter führen dich einst an die Enden der Erde, In die elysische Flur, wo der bräunliche Held Radamanthys Wohnt und ruhiges Leben die Menschen immer beseligt: (Dort ist kein Schnee, kein Winterorkan, kein gießender Regen, Ewig wehn die Gesäusel des leiseatmenden Westes, Welche der Ozean sendet, die Menschen sanft zu kühlen), Weil du Helena hast und Zeus als Eidam dich ehret. 22 Die Frage, wieso „diese herrlichen Gefilde […] der Besitzer selbst vermeiden“ könne, beantwortet die „Pächterin“ nun auf eine Art, aus der der Wechsel der Ebenen zur Aktualität völlig ersichtlich wird. Die Gegenwart schiebt sich nun über die märchenhaften und mythischen Bezüge, die Personen legen ihre Masken ab, das Gespräch handelt von realen und in die Gegenwart wirkenden Zuständen: 22 Od. IV, v. 561-569, übertragen von Johann Heinrich Voss, a. a. O., S. 494. <?page no="370"?> 366 Ist er doch in alle Welt entlaufen! Wir Geschwister haben viel erworben. Wenn der Gute, wie man sagt, gestorben, Wollen wir das Hinterlaßne kaufen. Für Abgeschiedene muß ein Mensch, der nach einer schweren Krise sich aus Todesnähe gerettet hat, ein „in alle Welt Entlaufener“ sein. Nun aber will es ein Gerücht, er sei „gestorben“. Die dritte Zeile ist doppeldeutig: die Phrase „wie man sagt“ kann sich auf eine vage Nachricht, ein ‚On-dit’, vom Tode des Besitzers, also auf einen berichteten Sachverhalt, beziehen, sie kann aber auch die Bedeutung des Wortes „gestorben“ in Frage stellen, das die Pächterin mit Befangenheit verwendet, um sich dem Sprachgebrauch des Neuankömmlings anzupassen. Nach dem Tode des Besitzers sähen sich die „Geschwister“ in der Lage, zu offiziellen Inhabern des angestammten, „verlaßnen Gutes“ zu werden. Wieder eine Doppeldeutigkeit: „verlassen“ vom „Besitzer“? wie Strophe 9 nahelegt, oder aber, wie die zehnte Strophe sich deuten läßt, von der „Hohen Tochter des verdrängten Blutes“ selbst verlassen, wenn sie, wie Sulamith oder das Nußbraune Mädchen des angestammten Gutes verlustig ging. Nicht umsonst wird nun der Besitzer „der Gute“ genannt: ein Laut verändert - und es ist ‚Goethe’. 23 Wenn diese Deutung stimmt, hat also der Dichter in diesem Gedicht mit dem vorhergegangenen Tod des „Wandrers“ seinen eigenen Tod vorweggenommen: Wohl zu kaufen ist es, meine Schöne! Vom Besitzer hört’ ich die Bedinge; Doch der Preis ist keineswegs geringe, Denn das letzte Wort, es ist: Helene! Mit dem ersten Vers bestätigt der Wanderer die Kunde vom eigenen Tode und verbirgt sich zugleich spielerisch hinter einem fingierten anderen „Besitzer“, wie die letzte Strophe klar macht. Daß das Gut, um welches es hier geht, kein materielles sein kann, ergibt sich aus der Transzendenz der ganzen Absprache. Das Gut mit all seiner geschilderten Schönheit einer elysischen Landschaft stellt sich als Symbol der Werke des Dichters dar. Nun endlich kann die geheime Sachwalterin, vielfache Adressatin und Gegenstand der Poesie Goethes, ihren Anspruch geltend machen, der zugunsten so vieler anderer Frauen bisher zurückgestellt wurde. Nun kann sie, die „Hohe Tochter des verdrängten Blutes“, in ihre Rechte eintreten. Das „verdrängte Blut“ gilt der mütterlichen Linie, also der Familie Textor, der sich Goethe selber mehr zugehörig fühlte, als der väterlichen, nannte er sich doch, nicht ganz berechtigt, einen Frankfurter Patriziersohn, den die Erhebung in den Adelsstand nicht als etwas Besonderes anmuten konnte 24 . Der in Anspruch genommene Stand konnte ihm nicht von seiten des Vaters Johann Caspar Goethe zukommen, war der doch Sohn eines als Hugenotte aus Frankreich geflüchteten Schnei- 23 Vgl. dazu Goethes anderes Spiel mit seinem Namen im Divan-Gedicht Hatem, FA 3/ 1, S. 87 u. 3/ 2, S. 240. 24 Eckermann III, 26. Sept. 1827; a. a. O., S. 647 f.: „[…] Als man mir das Adelsdiplom gab, glaubten viele, wie ich mich dadurch möchte erhoben fühlen. Allein, unter uns, es war nichts, gar nichts! Wir Frankfurter Patrizier fühlten uns immer dem Adel gleich, und als ich das Diplom in Händen hielt, hatte ich in meinen Gedanken eben nichts weiter, als was ich längst besessen.“ <?page no="371"?> 367 ders, der in Frankfurt die Wirtin des Gasthofs „Zur Goldenen Gans“ ehelichte - nach damaligen Standesbegriffen keine hohe Herkunft. Wenn Goethe sich in Rom unter dem Namen „Weber“, der Übersetzung von ‚Textor’, eingeführt hat, so bekundet sich darin seine Verbundenheit mit der Familie mütterlicherseits, die in der Freien Reichsstadt Frankfurt die höchsten Amtsträger stellte. „Blut“, im allerwörtlichsten Sinne, mußte auch noch einer anderen Existenzform der beiden Liebenden Platz machen. Der vierte Vers ist ambivalent: geht es bei „Wort“ um die Person oder um den Namen „Helene“? - Ganz gelüftet wird das Geheimnis aber immer noch nicht; der Name der mit Faust lebenslang gesuchten und beschworenen Helena bleibt bestehen als letzter verhüllender Schleier. Für „Helene“ wie für ‚Cornelia’ kann als Kurzform ‚Nelly’ gelten (vgl. S. 337). Zugleich drängen andere Gestalten der Dichtung mit herein, so die vorgebliche Tochter des vertriebenen „Pachters“, das ‚Findelkind’ Nachodine, Kind der verstoßenen Gräfin (vgl. S. 334). In der so seltsamen Wendung von den „ganz natürlichsten Gerichten“ in der zweiten Strophe tritt mit ihren Gaben (unausgesprochenes Reimwort zu „laben“ und „haben“) auch wieder Pandora in den Blick, indem sie sich mit „pan“ (‚alles’, ‚ganz’, in charakteristisch ungewöhnlichem Sprachgebrauch (vgl. S. 356 f. ) zu erkennen gibt, Sie, die bei Goethe nicht Kunstfigur der Götter, sondern ebenfalls eine „Hohe Tochter des verdrängten Blutes“ ist, nämlich der Titanen. Bei Pandora, genau wie bei der euri