Bedeutung und Deutung des Todes Jesu im Neuen Testament
Ein theologischer Essay
1116
2011
978-3-7720-5425-9
978-3-7720-8425-6
A. Francke Verlag
Martin Stiewe
François Vouga
Christus ist für uns gestorben. Das grundlegende Bekenntnis des christlichen Glaubens schien dem Apostel Paulus und den Evangelien nicht nur vernünftig und verständlich, sondern sie verkündigten es als befreiende und sinngebende gute Nachricht für die Universalität der Menschheit. Dieser Essay will die Klarheit und Relevanz ihrer Interpretation des Todes Jesu unabhängig von ihrer für die Moderne nicht mehr plausiblen Überfrachtung durch die Theologie des Mittelalters (Anselm von Canterbury) verstehen und so ein nachvollziehbares Verständnis des Christentums ermöglichen.
<?page no="0"?> A . F R A N C K E V E R L A G T Ü B I N G E N U N D B A S E L Martin Stiewe / François Vouga Bedeutung und Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament Ein theologischer Essay <?page no="1"?> Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie Band 19 · 2011 Herausgegeben von Eve-Marie Becker, Jens Herzer, Friedrich W. Horn, Oda Wischmeyer und Hanna Zapp <?page no="3"?> Martin Stiewe / François Vouga Bedeutung und Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament Ein theologischer Essay A. Francke Verlag Tübingen und Basel <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISSN 1862-2666 ISBN 978-3-7720-8425-6 <?page no="5"?> Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 ERÖFFNUNG: Das christliche Evangelium als Wort des Kreuzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1 Sinn, Ziel und Aufbau dieses Essays . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 2 Die Rationalität des Evangeliums des Todes und der Auferstehung Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2.1 Die Torheit des Kreuzes als die Rationalität der Weisheit . . . . . 21 2.2 Das Kreuz als Rationalität der persönlichen Anerkennung (Blaise Pascal) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2.3 Als Kontrapunkt: Claudio Monteverdi, „ Crucifixus “ (unter Mitarbeit von Manfred Hermann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.3.1 Der „ Crucifixus “ und die Seconda practica . . . . . . . . . . . . . 26 2.3.2 Kompositorische Stilmittel und Textdeutung . . . . . . . . . . . 27 3 Die Bedeutung des Todes Jesu und die Konstituierung des Individuums als Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 3.1 Das Kreuz als Entscheidung für den einen Gott . . . . . . . . . . . . . . 30 3.2 Das Kreuz als Entdeckung des Selbst (Alexander Sinowjew) . . 32 ERSTER TEIL: Bedeutung und Deutungen des Todes Jesu in den Evangelien - und ihre Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Die Passionsankündigungen in den synoptischen Evangelien als Einführung in die Interpretation des Todes Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 1 Der Tod Jesu im Markusevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1.1 Markus 8,31-38; 10,45; 14,22-25 und die Passionsgeschichte . . . 43 1.1.1 Die Osterbotschaft als Anfang des Evangeliums . . . . . . . . 43 1.1.2 Kreuzigung und Tod Jesu als Offenbarung Gottes . . . . . . 44 1.1.3 Der Tod Jesu als Konfrontation des göttlichen und des menschlichen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 1.1.4 Der Menschensohn ist gekommen, um seine Seele als Lösegeld zu geben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 1.1.5 Das Blut des Bundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 5 <?page no="6"?> 1.2 Als Kontrapunkt: Anselm von Canterbury, Cur Deus homo . . 51 1.2.1 Der Versuch, den Glauben rational zu verstehen . . . . . . . 52 1.2.2 Die stellvertretende Genugtuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 1.2.3 Fides quaerens intellectum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 1.3 Ertrag: Der Tod Jesu als Lösegeld - die Problematik der Theologie des stellvertretenden Opfers Christi . . . . . . . . . . . . . . . . 55 1.3.1 Die Stellvertretung Jesu als theologiegeschichtliche Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 1.3.2 Diskontinuitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 1.3.3 Der Tod Jesu als Systemwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2 Der Tod Jesu im Matthäusevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 2.1 Matthäus 23,13-39 und die Passionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . 59 2.1.1 Das Evangelium als Offenbarung des göttlichen Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 2.1.2 Die Passion des Wortes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 2.1.3 Die menschliche „ Heuchelei “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2.1.4 Der Tod Jesu als Unterscheidung von Gerechtigkeit und „ Heuchelei “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 2.2 Als Kontrapunkt: Johann Sebastian Bach, Matthäuspassion . . . 67 2.2.1 Die Architektur der Matthäuspassion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 2.2.2 „ Aber Jesus schrie abermal laut und verschied “ : Text und Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 2.3 Ertrag: Der Tod Jesu als Offenbarung der Vorsehung und Barmherzigkeit Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 2.3.1 Die Matthäuspassion in der lutherischen Tradition . . . . . 73 2.3.2 Bach als Interpret der matthäischen Deutung des Todes Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 3 Der Todes Jesu im lukanischen Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3.1 Lukas 23,26-49 und Apostelgeschichte 6,1-7,60 . . . . . . . . . . . . . . . 79 3.1.1 Geburt und Auferstehung Jesu sind die Heilsereignisse, nicht sein Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3.1.2 Die Passionsgeschichte als Begründung der Aufforderung zur Buße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3.1.3 Die Passion als Martyrium des Gerechten . . . . . . . . . . . . . . 84 3.2 Als Kontrapunkt: Pierre Teilhard de Chardin, Le milieu Divin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 3.2.1 Das Kreuz als Wegrichtung der geistigen Evolution des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 3.2.2 Heilsgeschichte und Universalgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . 88 3.3 Ertrag: Der Tod Jesu als Offenbarung der Wirklichkeit . . . . . . . . 88 3.3.1 Tod und Auferstehung Jesu als Deutung der Weltgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 3.3.2 Die historische Relevanz des Todes und der Auferstehung Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 6 Inhalt <?page no="7"?> 3.3.3 Hypothese: Tod und Auferstehung Jesu als Offenbarung der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 4 Der Tod Jesu im Johannesevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 4.1 Johannes 3,14; 8,28; 12,32 und die Passionsgeschichte . . . . . . . . . 91 4.1.1 Die Offenbarung der Sendung und der Rückkehr des Sohnes zum Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 4.1.2 Der Prolog als Bekenntnis der Menschwerdung und der Herrlichkeit des Wortes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 4.1.3 Die Passionsgeschichte als Vollendung der Offenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 4.1.4 Der Tod Jesu als Rückkehr zum Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 4.1.5 Der Tod Jesu als Erhöhung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 4.2 Als Kontrapunkt: Sören Kierkegaard, Einübung im Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 4.2.1 Kierkegaard und das Johannesevangelium . . . . . . . . . . . . . 103 4.2.2 Die drei Möglichkeiten des Ärgernisses . . . . . . . . . . . . . . . . 104 4.2.3 Das Kreuz Jesu und das Wesen des Christentums . . . . . . 105 4.2.4 „ Von der Hoheit her will Er alle zu sich ziehen “ . . . . . . . 105 4.3 Ertrag: Die Offenbarung der Wahrheit als Paradox . . . . . . . . . . . 106 4.3.1 Der Tod Jesu als Verherrlichung des Vaters und des Sohnes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 4.3.2 Die Erhöhung des Lammes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 4.3.3 Hypothese: Die Erhöhung des Sohnes als Offenbarung der Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Ergebnis: Der Tod Jesu in den Evangelien - Vielfalt der Interpretationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 ZWEITER TEIL: Interpretationen des Todes und der Auferstehung Jesu bei Paulus - und ihre Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Einführung: Ist Christus für unsere Sünden oder für uns gestorben? Traditionelle Vorstellungen und paulinische Interpretation (1 Korinther 11,23-26 und 15,3-5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 1 Der Konsens: Tod und Auferstehung Jesu als Zentrum des Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 2 Der Dissens: Gestorben für unsere Sünden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 3 Hypothese: Von der Wiederherstellung des Bundes zur neuen Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 1 Die Offenbarung der Gerechtigkeit als Erlösung . . . . . . . . . . . . . . . . 121 1.1 Die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes: Römer 3,21-26 . . . . 121 Inhalt 7 <?page no="8"?> 1.1.1 Das Evangelium der umsonst geschenkten Gnade Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 1.1.2 Der Tod Jesu als die absolute Singularität der Offenbarung Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 1.1.3 Der nichtsakrifizielle Sinn der kultischen Sprache . . . . . . 124 1.2 Als Kontrapunkt: René Girard, Die Gewalt und das Heilige . . 125 1.2.1 Die gesellschaftliche Notwendigkeit eines stellvertretenden Opfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 1.2.2 Der Tod Jesu als Ende der Opferritualisierung . . . . . . . . . . 128 1.2.3 Die nichtsakrifizielle Deutung des Todes Jesu . . . . . . . . . . 129 1.3 Ertrag: Die Gerechtigkeitstheologie des Paulus als Befreiung von der Opfertheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 1.3.1 Der Tod Jesu als Begründung der Universalität . . . . . . . . . 130 1.3.2 Der Tod Jesu als Aufhebung der Unterscheidung von „ heilig “ und „ profan “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 1.3.3 Hypothese: Vom Opfersystem des Tausches zur Offenbarung der „ Umsonstheit “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 2 Das Kreuz als Offenbarung der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 2.1 Die Offenbarung Gottes als Unterscheidung von Person und Eigenschaften (Galater 1,10-17; 2,14-21; 3,10-14) . . . . . . . . . . . . . . 134 2.1.1 Die Berufung des universalen Apostels . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 2.1.2 Christus hat uns losgekauft vom Fluch des Gesetzes . . . 137 2.1.3 Gekreuzigt mit Christus - die Neuschöpfung des „ Ichs “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 2.2 Als Kontrapunkt: Sofia Gubaidulina, In Croce (unter Mitarbeit von Manfred Hermann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 2.2.1 Das religiöse Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 2.2.2 Die Komposition „ In Croce “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 2.3 Ertrag: Das Kreuz als neue Schöpfung eines inneren Klangraums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 2.3.1 Das Kreuz als Veränderung des Verhältnisses zu sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 2.3.2 Das Kreuz als Strukturierung der persönlichen Zeit . . . . 148 2.3.3 Hypothese: Das Kreuz als Offenbarung der bedingungslosen Anerkennung der Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 3 Das Wort des Kreuzes als Veränderungskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 3.1 Die Torheit des Evangeliums als Weisheit Gottes (1 Korinther 1,10-3,4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 3.1.1 Das Kreuz als Torheit Gottes (1 Korinther 1,17-25) . . . . . . 152 3.1.2 Das Kreuz als Weisheit Gottes (1 Korinther 2,6-16) . . . . . . 155 3.2 Als Kontrapunkt: Martin Luthers Theologie des Kreuzes . . . . . 159 3.2.1 Heidelberger Disputation (1518) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 3.2.2 „ Von der Freiheit eines Christenmenschen “ (1520) . . . . . . 160 3.2.3 Große Galatervorlesung (1531/ 1535) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 8 Inhalt <?page no="9"?> 3.3 Ertrag: Das Kreuz als therapeutische Paradoxie und die Offenbarung der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 3.3.1 Das Kreuz als Paradoxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 3.3.2 Das Kreuz als Neubegründung der Rationalität . . . . . . . . 163 4 Das Kreuz als Versöhnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 4.1 Christus als Versöhnung: 2 Korinther 5,18-21 . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 4.1.1 Der versöhnte Apostel der Versöhnung . . . . . . . . . . . . . . . . 167 4.1.2 Die Notwendigkeit der indirekten Kommunikation . . . . . 169 4.1.3 Christus starb, damit alle in eine neue Schöpfung verwandelt werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 4.1.4 Tod und Auferstehung Jesu als Versöhnung . . . . . . . . . . . . 171 4.1.5 Die apostolische Einladung zur Versöhnung . . . . . . . . . . . . 173 4.2 Als Kontrapunkt: Karl Barth - Das Kreuz Jesu Christi und das Kreuz des Christen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 4.2.1 Das Kreuz im Rahmen der Versöhnungslehre . . . . . . . . . . 175 4.2.2 Die „ Würde des Kreuzes “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 4.3 Ertrag: Das Kreuz als absolute Singularität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 4.3.1 Das Kreuz als Offenbarung einer notwendigen Versöhnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 4.3.2 Die Versöhnung als Entscheidung für den wahren und lebendigen Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 4.3.3 Die Stellvertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Ergebnis: Das Kreuz und die Herrschaft des Gekreuzigten . . . . . . . . . 183 1 Der Begriff des Kreuzes im Neuen Testament . . . . . . . . . . . . . . . . 183 2 Die Herrschaft des Gekreuzigten über Tote und Lebende . . . . . 186 DRITTER TEIL: Bedeutung und Deutungen des Todes Jesu in der Zeit nach Paulus und in der Apokalypse - und ihre Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 1 Der Tod Jesu im Hebräerbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 1.1 Der Tod Jesu als Zugang zum himmlische Heiligtum (Hebräer 9,1-10,39) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 1.1.1 Hermeneutische Voraussetzungen der allegorischen Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 1.1.2 Die hohepriesterliche Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 1.1.3 Der erste Bund als Abbild des neuen Bundes . . . . . . . . . . . 194 1.1.4 Der irdische Tempel als Abbild des himmlischen Tempels 195 1.1.5 Der himmlische Tempel als Bild des ganzen Kosmos . . . 196 1.1.6 Die Metaphorik des Blutes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Inhalt 9 <?page no="10"?> 1.2 Als Kontrapunkt: Jehan Calvin - das Kreuz als Versöhnungswerk Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 1.2.1 Der Ausgangspunkt aller Dogmatik: die Erkenntnis Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 1.2.2 Der Gehorsam Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 1.2.3 Die Verurteilung Jesu durch Pontius Pilatus . . . . . . . . . . . . 201 1.2.4 Das Sterben Christi als Reinigungsopfer . . . . . . . . . . . . . . . . 201 1.2.5 Die doppelte Wirkung des Todes Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 1.3 Ertrag: Die Deutung des Todes Jesu als Erlösung und als theologische Opferkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 1.3.1 Christus als Prophet, König und Priester . . . . . . . . . . . . . . . 203 1.3.2 Die Ablehnung des Opfergedankens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 2 Der Tod Jesu im ersten Petrusbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 2.1 Der Tod Jesu als gewaltloses Zeugnis der Dissidenz Gottes (1 Petrus 1,17-21; 2,21-25; 3,18-22) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 2.1.1 Die Erwählung als Interpretament des Glaubens . . . . . . . 206 2.1.2 Leiden als Offenbarung der Hoffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 2.1.3 Die Situation der Christen als der Erwählten . . . . . . . . . . . 208 2.1.4 Die Leiden Jesu als Vorbild der christlichen Dissidenz . . 209 2.1.5 Die christologische Interpretation der Gottesknechtslieder im Buch Jesaja . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 2.1.6 Die Leiden und die Herrlichkeit Christi als Paradigma der universalen Veranwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 2.1.7 Schlussbemerkung zum Leiden im 1. Petrusbrief . . . . . . . 213 2.2 Als Kontrapunkt: Paul Tillich - die Frage nach dem „ Neuen Sein “ und der Sinn des Christus-Symbols . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 2.2.1 Systematische Theologie als moderne Apologetik . . . . . . . 214 2.2.2 Die Korrelationsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 2.2.3 Die Frage nach dem „ Neuen Sein “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 2.2.4 Die Frage nach der Erlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 2.2.5 Das Christus-Symbol - sein geschichtlicher Charakter . . 217 2.2.6 Das Christus-Symbol - sein paradoxer Charakter . . . . . . . 217 2.2.7 Christus als Träger des „ Neuen Seins “ . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 2.2.8 Inkarnation als Paradoxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 2.2.9 Die Grundfrage nach dem „ wesenhaften Menschsein “ . . 219 2.3 Ertrag: Leiden und Herrlichkeit Christi als apologetisches Paradigma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 2.3.1 Die Korrelation zwischen kultureller Frage und evangelischer Antwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 2.3.2 Die Suche nach dem Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 2.3.3 Die Antwort durch die Offenbarung der Leiden und der Herrlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 10 Inhalt <?page no="11"?> 3 Der Tod Jesu in der Apokalypse des Johannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 3.1 Der Tod Jesu als aktives und passives Bekenntnis (Apokalypse 5,1-14; 12,10-20; 19,11-16) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 3.1.1 Tod und Auferstehung Jesu in der Architektur der Apokalypse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 3.1.2 Der Auftrag des Auferstandenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 3.1.3 Die Erlösung durch das Blut Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 3.1.4 Das Blut als Metonymie des bekennenden Zeugnisses . . 232 3.1.5 Mit Christus die Seele dahingeben und siegen . . . . . . . . . . 234 3.2 Als Kontrapunkt: Olivier Messiaen, Et expecto resurrectionem mortuorum (unter Mitarbeit von Christof Pülsch) . . . . . . . . . . . . . . . 237 3.2.1 Der theologische Ansatz und die Architektur des Werkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 3.2.2 „ Aus der Tiefe rufe ich zu dir; Herr, höre meine Stimme! “ (Psalm 130,1-2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 3.2.3 „ Christus, von den Toten auferstanden, stirbt nicht mehr; der Tod hat keine Macht mehr über ihn “ (Römer 6,9) . . 241 3.2.4 „ Die Stunde kommt, in der die Toten die Stimme Gottes hören werden “ (Johannes 5,25) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 3.2.5 „ Sie werden verherrlicht auferstehen, mit einem neuen Namen - im fröhlichen Konzert der Sterne und im Jubel der Gottessöhne “ (1 Korinther 15,43; Apok 2,17; Hiob 38,7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 3.2.6 „ Ich hörte etwas wie die Stimme einer großen Schar. . . “ (Apokalypse 19,6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 3.3 Ertrag: Visionen des Todes und der Auferstehung Jesu . . . . . . . 243 3.3.1 Tod und Auferstehung Jesu als Offenbarung der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 3.3.2 Die kosmische Relevanz des Todes und der Auferstehung Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 3.3.3 Das Bekenntnis des Todes und der Auferstehung Jesu als öffentlicher Gottesdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Ergebnis: Die kreative Vielfalt der Interpretationen als Form der Einheit des Christentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 1 Die große Konvergenz: Theologie als Interpretation des Todes Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 2 Der Konflikt der Interpretationen des Todes Jesu als Form der gegebenen Einheit des Christentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Inhalt 11 <?page no="12"?> ZUSAMMENFASSUNG: Der Tod Jesu und das Wesen des Christentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 1 Bedeutung und Deutungen des Todes Jesu: Systematische Darstellung der neutestamentlichen Interpretationen . . . . . . . . . . . 255 1.1 Die Notwendigkeit der Interpretation des Todes Jesu nach Ostern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 1.2 Die Vielfalt der neutestamentlichen Interpretationen des Todes Jesu. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 1.3 Die Vielfalt der neutestamentlichen Bilder und Motive . . . . . . . 256 1.4 Typologie der neutestamentlichen Interpretationen des Todes Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 2 Bedeutung und Deutungen des Todes Jesu: Systematische Darstellung der theologiegeschichtlichen Interpretationen . . . . . . 262 2.1 Die Denknotwendigkeit des Kreuzestodes Jesu: Anselm von Canterbury . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 2.2 Das Kreuz Jesu als die von Gott geschenkte Gerechtigkeit: Martin Luther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 2.3 Das Kreuz als Zeichen den Gehorsams: Jehan Calvin . . . . . . . . . 263 2.4 Das Paradox des Kreuzes: Sören Kierkegaard . . . . . . . . . . . . . . . . 264 2.5 Das Kreuz als Mittelpunkt des Universums: Pierre Teilhard de Chardin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 2.6 Das Kreuz als Zeichen der Erhöhung des Menschen: Karl Barth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 2.7 Die kulturtheoretische Interpretation des Kreuzes: René Girard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 2.8 Das „ Neue Sein “ der Erlösten: Paul Tillich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 3 Die Bedeutung der Verkündigung des Todes Jesu . . . . . . . . . . . . . . 267 3.1 Die notwendige Vielfalt und Offenheit der Deutungen . . . . . . . 267 3.2 Die Bedeutung des Todes Jesu als neuer Schöpfung . . . . . . . . . . 268 3.3 Die Bedeutung des Todes Jesu als Grund des christlichen Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Diskographische Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Anhang: Übersichten zum Aufbau von Bachs Matthäuspassion und von Gubaidulinas „ In Croce “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Bibelstellen (Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 12 Inhalt <?page no="13"?> Vorwort „ Jesus Christus ist für uns gestorben. “ Diese zentrale Aussage des christlichen Bekenntnisses erscheint oft als schwer nachvollziehbar. Welche klare und allgemein verständliche Interpretation des Todes Jesu kann nicht nur in Predigt und Unterricht verkündigt und gelehrt werden, sondern ermöglicht auch ein einleuchtendes Verständnis des Glaubens an Gott? Der paradoxe Charakter der Verkündigung des Kreuzes wurde nicht erst in der Neuzeit entdeckt. Paulus selbst bezeichnet das Kreuz als Torheit und Stein des Anstoßes. Paradox ist darüber hinaus, dass die paulinische Sicht des Kreuzes nicht nur die Grundlage des Denkens der frühen Christen und der christlichen Theologie wurde, sondern auch, dass sie die Aufklärung des Abendlands geprägt hat: Die Geschichte der Menschenrechte, die westlichen Vorstellungen von Demokratie und die fortschreitende Säkularisierung gehen - teil explizit, teils indirekt - auf das Gottes- und Menschenverständnis zurück, das sich nach christlichem Verständnis in Tod und Auferstehung Jesu offenbart hat. Zugestanden: Die moralische Autorität der Verkündigung Jesu, wie sie Matthäus in der Bergpredigt zusammengefasst hat, scheint eine völlig ausreichende Grundlage für ein humanistisches Programm zu liefern und konsensfähiger zu sein als der Glaube an die Auferstehung Jesu Christi und die erlösende Bedeutung seines Todes. Wir wissen aber, dass ein in der Tradition der Bergpredigt verwurzelter Humanismus diesen Begründungszusammenhang vergessen und sich schnell in Zynismus verwandeln kann. Der christliche Glaube gründet auf der Botschaft von der Auferstehung des gekreuzigten Jesus von Nazareth. Deshalb erweist sich die Deutung des Todes Jesu als Prüfstein für die Wahrheit des Christentums. Das Anliegen dieses Buches ist es, eine theologische Interpretation der neutestamentlichen Deutungen des Todes Jesu zu entwerfen. Die Frage, die uns leitet, ist nicht historisch motiviert, sondern betrifft die Relevanz der Deutungen. Deswegen befassen wir uns nicht primär mit der Vorgeschichte der verwendeten Metaphern und Motive, sondern vielmehr mit dem Dialog, den die Theologiegeschichte mit ihnen führt. Die Vorstellungen der Evangelien, der apostolischen Briefe und der Apokalypse des Johannes sind uns ja nicht unabhängig von ihrer Rezeptionsgeschichte zugänglich. Wir können sie kaum lesen, ohne an das Deutungsmodell Anselms von Canterbury und die Formulierungen der Katechismen zu denken oder die Matthäuspassion Johann Sebastian Bachs mitzuhören. Die Begleitung der Exegese durch Verweise auf ausgewählte Stimmen aus Theologie und Kultur, die wir jeweils als Kontrapunkt zur Exegese einführen, hat folglich für uns eine doppelte kritische Funktion: Sie soll auf die Rezeptionsgeschichte der neutestamentlichen Deutungsmodelle aufmerksam machen, aber auch die spezifischen Aussagen der kanonischen Texte von ihrer Rezeptionsgeschichte unterscheiden. 13 <?page no="14"?> Der Aufbau des Buches folgt der Architektur des neutestamentlichen Kanons, weil wir einen systematisch-theologischen und keinen literarkritischen oder historischen Blickwinkel gewählt haben. Wir sind zwei Freunden dankbar, die uns die Möglichkeit gegeben haben, die theologiegeschichtliche Perspektive auf die Musik zu erweitern. Manfred Hermann (Rheinfelden) verdanken wir die Interpretation des „ Crucifixus “ von Claudio Monteverdi und der Komposition „ In Croce “ von Sofia Gubaidulina, Christof Pülsch (Bielefeld) die Vorstellung des Werkes von Olivier Messiaen „ Et expecto resurrectionem mortuorum “ . Die Zuhörer, Teilnehmer und Gesprächspartner der Vorlesungen, die wir bis zum Wintersemester 2008/ 09 an der Kirchlichen Hochschule Bethel gemeinsam gehalten haben und die sich seit Ostern 2009 in eine theologische Werkstatt der Stiftskirchengemeinde Schildesche verändern mussten, haben die Entstehung dieses Buches intensiv begleitet. Zu nennen sind unter vielen anderen Dr. med. Horst Beckmann, Ellen Beckmann-Obelgönner, Prof. Dr. Karin Bornkamm, Dietrich Heine, Harm Kuper, Jochen Reinhardt, Ludwig Rohden, Andrea Rudolph, Bruno Südhölter, Dr. med. Wilhelm Schwindt und Annette Wittenbrink. Christina Schäfer, Marie-Luise Hußmann und Roland Bruckhaus haben verschiedene Fassungen des Manuslripts durchgelesen. Allen sei gedankt! Bielefeld/ Rheinfelden, Ostern 2011 Martin Stiewe und François Vouga 14 Vorwort <?page no="15"?> ERÖFFNUNG: Das christliche Evangelium als Wort des Kreuzes <?page no="17"?> Die Verkündigung des Todes und der Auferstehung Jesu bilden sowohl den Grund des christlichen Glaubens als auch den zentralen Inhalt des Neuen Testaments: Die Osterbotschaft bekennt den Gekreuzigten als den Sohn Gottes und den auferstandenen Herrn. Sie muss als der Grund des christlichen Glaubens verstanden werden, weil die Wahrheit des Evangeliums aus der Erkenntnis folgt, die sich am Kreuz Jesu und in den Erscheinungen des Auferstandenen offenbart hat. Die Predigt Jesu, wie sie Matthäus in der Bergpredigt programmatisch zusammengefasst hat, wird in ihrem existentiellen Anspruch von vielen Menschen anerkannt, weil sie sich ihm kaum entziehen können. Dieses Empfinden nimmt den Mann aus Nazareth als einen der großen moralischen Lehrer in der Geschichte wahr. Die qualitative Distanz aber, die den Tod Jesu vom Tod etwa des Sokrates unterscheidet, hängt für die christliche Botschaft daran, dass Sokrates nicht auferstanden ist. Der Tod des Sokrates hat in seiner Singularität einen paradigmatischen Charakter für die Geschichte des kritischen Denkens im Abendland, während die Osterbotschaft das Kreuz Jesu in die absolute Singularität der Offenbarung Gottes verwandelt. - Die Osterbotschaft stellt der christlichen Theologie die intellektuelle Aufgabe, Tod und Auferstehung Jesu als die Möglichkeit der Erkenntnis Gottes und der Selbsterkenntnis des Menschen zu verstehen. Nicht nur die Apostelbriefe legen das Evangelium als die befreiende Botschaft des Kreuzes aus, auch die vier kanonischen Evangelien stellen die Worte und Taten des gekreuzigten und auferstandenen Gottessohns in den Mittelpunkt. ERÖFFNUNG: Das christliche Evangelium als Wort des Kreuzes 17 <?page no="18"?> 1 Sinn, Ziel und Aufbau dieses Essays Der Sinn dieses Essays ist es, sich mit der Kernaussage des Neuen Testaments zu befassen, also mit der Botschaft, dass der gekreuzigte Jesus von Nazareth von den Toten auferweckt worden ist, dass sich Gott am Kreuz Jesu offenbart hat und dass die Bedeutung des Todes Jesu das Selbstverständnis des christlichen Glaubens bestimmt. Wir stellen drei grundsätzliche Fragen, die eng miteinander verbunden sind: - Wenn wir glauben, dass Jesus von Gott auferweckt worden ist, worin besteht dann der Sinn seines Todes? Die Schriften des Neuen Testaments verkündigen, dass Jesus „ für uns “ gestorben ist. Was meinen sie damit und welche Bedeutung hat der Tod Jesu für das Leben der Menschen? Darauf geben die Schriften des Neuen Testaments keine einheitliche Antwort. Sie versuchen vielmehr, Sinn und Relevanz des gewaltsamen Todes Jesu je für sich zu formulieren. Das erste Ziel dieses Essays ist es, die verschiedenen Interpretationen des Todes Jesu und ihre Bedeutung für den christlichen Glauben zu verstehen. - Die dramatische Geschichte der letzten Tage Jesu und seiner Erhöhung zum Vater, aber auch die Motive des leidenden Gerechten, des gewaltsamen Todes des Propheten und die mit dem Martyrium Jesu verbundenen symbolischen Vorstellungen des Loskaufs, der Erlösung und der Nachfolge im Tragen des eigenen Kreuzes sind in der Theologie und Kultur des Abendlands vielfältig aufgenommen worden. Zahlreiche dieser späteren Entwürfe haben die neutestamentlichen Deutungen rezipiert, aber auch neue Deutungen entwickelt. Das zweite Ziel dieses Esssays ist es deshalb, klassische Interpretationen des Todes Jesu in ihrem Bezug auf das Neue Testament zu Wort kommen zu lassen - von Anselm von Canterbury und der Kreuzestheologie Martin Luthers bis zu Olivier Messiaen, von Johann Sebastian Bach bis zu Karl Barth, Pierre Teilhard de Chardin und Paul Tillich. Unsere Fragen lauten hier: Wie sind die neutestamentlichen Deutungen des Todes Jesu in der Geschichte der christlichen Theologie, in der abendländischen Philosophie und in der Musik aufgenommen worden? Welche Reflexionen haben sie veranlasst und wie bestimmen sie unser heutiges Verständnis des Todes Jesu? - Inwiefern bleiben die neutestamentlichen Interpretationen des Todes Jesu und ihre geschichtlichen Rezeptionen in unserer technisch-naturwissenschaftlichen und postmodernen Zeit relevant? Das dritte Ziel dieses Essays ist es zu verstehen, welche Konsequenz die Feststellung, dass die Wahrheit des Evangeliums auf der Verkündigung des Todes und der Auferstehung Jesu gründet, für die Selbstdefinition der menschlichen Existenz und des Christentums hat. 18 ERÖFFNUNG: Das christliche Evangelium als Wort des Kreuzes <?page no="19"?> Die drei Teile dieses Buches verbinden jeweils die Auslegung neutestamentlicher Texte mit Aspekten ihrer Rezeption: - Der erste Teil befasst sich mit den Interpretationsansätzen des Todes Jesu in den vier kanonischen Evangelien. - Der zweite und zentrale Teil ist den Interpretationensansätzen der paulinischen Hauptbriefe gewidmet. - Der dritte Teil setzt sich mit drei originellen, theologisch profilierten Entwürfen auseinander, die ihren Platz am Ende des neutestamentlichen Kanons gefunden haben: dem Hebräerbrief, dem 1. Petrusbrief und der Apokalypse des Johannes. Sie bieten jeweils eine eigenständige systematische Interpretation des Todes Jesu, die sich nicht auf die Deutungsmodelle der Evangelien und der Paulusbriefe zurückführen lässt. Die Ergebnisse der Analysen werden jeweils systematisiert und in Thesen zusammengefasst. 1 Sinn, Ziel und Aufbau dieses Essays 19 <?page no="20"?> 2 Die Rationalität des Evangeliums des Todes und der Auferstehung Jesu Die Verkündigung des Todes und der Auferstehung Jesu bildet den Inhalt, die Mitte und den Grund des Neuen Testaments. Jeder Kanon setzt aber eine Auswahl voraus: Der Prozess der Kanonbildung sammelt einen vielfältigen und repräsentativen Strauß von Texten und Werken, denen eine Autorität zuerkannt wird und die als Maßstab eines religiösen oder kulturellen Erbes gelten sollen. Der neutestamentliche Kanon hat sich um die Paulusbriefe und die vier Evangelien gebildet, während andere frühchristliche Schriften nicht rezipiert wurden. Diese Auswahl setzt theologische Entscheidungen voraus oder hat sie zur Konsequenz. Adolf von Harnack, der die Logienquelle für die treueste Überlieferung hielt, weil sie die Predigt Jesu authentisch und ohne Überlagerung durch den hellenistisch-spekulativen Mythos des Todes und der Auferstehung vermittele, befindet sich mit dieser Position in Kontinuität zu einer aufklärerischen Tradition, die der angeblichen Irrationalität der theologischen Deutungen des Todes Jesu die moralische Vernunft seiner Predigt, wie sie in der Bergpredigt (Mt 5 - 7) zu lesen sei, entgegenstellte. In diesem Essay vertreten wir als zentrale These die Rationalität des christlichen Überzeugungssystems, das die neutestamentlichen Theologien (mit Variationen) als Vertrauen auf die befreiende Verkündigung des Todes und der Auferstehung Jesu formuliert haben. Mit dem Begriff der Rationalität meinen wir zweierlei: - den logischen Charakter des auf der Verkündigung des Todes und der Auferstehung Jesu gegründeten Selbstverständnisses der menschlichen Existenz und der daraus folgenden Deutung der Wirklichkeit und - den plausiblen Charakter des Evangeliums des Kreuzes als Interpretation der historischen Bedeutung der Person Jesu von Nazareth einerseits und als Deutung der menschlichen Existenz andererseits. Die Aufgabe, die Logik der neutestamentlichen Interpretationen des Todes Jesu zu verstehen, rational nachzuvollziehen und aufzuzeigen, gehört zur intellektuellen und geistigen Verantwortung der Theologie. Der Verdacht, der christliche Glaube sei irrational und gründe auf einem sacrificium intellectus hat eine lange Tradition. Er bestimmte bereits die kritische Beurteilung des Christentums durch die aufgeklärten Eliten der hellenistisch-römischen Gesellschaft und wurde Jahrhunderte später durch die spekulativen Deutungsmodelle des Mittelalters noch unterstützt. Doch solchen Versuchen steht die Rationalität der hermeneutischen Deutungen der Paulusbriefe und der Evangelien entgegen. 20 ERÖFFNUNG: Das christliche Evangelium als Wort des Kreuzes <?page no="21"?> 2.1 Die Torheit des Kreuzes als die Rationalität der Weisheit Die Erscheinung des Christentums in der Antike als Schule, Philosophie und Religion eines gekreuzigten Gottes wurde von den Vertretern der römischen Intellektuellen aus mehreren Gründen unterschätzt und verachtet. In ihren Augen war das Christentum a) eine unkritische Lehre - den Christen wurde vorgeworfen, die modernen und vernünftigen Grundlagen der Religion zu verleugnen; b) eine anachronistische und antiaufklärerische Lehre - den Christen wurde vorgeworfen, die Grundlagen des pluralistischen Konsenses der hellenistisch-römischen Globalisierung abzulehnen; c) eine irrationale Lehre - den Christen wurde vorgeworfen, ihre Lebenseinstellung und ihr konkretes Verhalten mit der Ablehnung der traditionellen und bewährten Götter zugunsten der Beziehung zu einem „ gekreuzigten Sophisten “ zu begründen. Viele Texte könnten hier zitiert werden: Epiktet, Dissertationes 4,7; Marc Aurel, Selbstbetrachtungen 11,3; Tacitus, Annalen 15,44,3; Plinius d. J., Briefe 10,96 und 10,97; Galen, De pulsum differentis 2,4; 3,3. In diesem Zusammenhang fällt die kurze Beschreibung der Christen durch den Satiriker Lukian von Samosata (ca. 125 - 192) besonders auf, weil sie die vermeintlich irrationale und naive Verhaltensweisen der Christen auf ihre Entscheidung für den Gekreuzigten und gegen die „ griechischen Götter “ zurückführt. Diese Charakterisierung entspricht zum großen Teil den Selbstdefinitionen des christlichen Glaubens, die wir bei Paulus finden. Nach ihm haben sich die Christen von den „ nichtigen “ Göttern abgewandt, um dem lebendigen und wahren Gott zu dienen (1 Thess 1,9-10). Wenn es viele Götter und Herren im Himmel und auf Erden gibt, so gibt es doch für die Christen nur „ einen Gott, den Vater, von dem alle Dinge sind und wir auf ihn hin, und einen Herrn, Jesus Christus, durch den alle Dinge sind und wir durch ihn “ (1 Kor 8,4-6). Lukian von Samosata 1 : „ Die Unglückseligen (die Christen) sind überzeugt, dass sie überhaupt unsterblich seien und ewig leben werden, im Hinblick worauf sie den Tod verachten und die meisten sich freiwillig opfern. Dann hat ihr erster Gesetzgeber sie überzeugt, dass sie einander Brüder seien, wenn sie einmal übergetreten sind und die griechischen Götter verleugnet haben, jenen ihren gekreuzigten Sophisten aber verehren und nach seinen Gesetzen leben. Sie verachten also alles gleichermaßen und halten es für Gemeingut, da sie solche Ansichten ohne genauen Beweis übernommen haben. Falls ein geschickter Gauner, der die Verhältnisse auszunützen imstande ist, zu ihnen kommt, wird er in kurzem sehr reich und lacht den naiven Leuten ins Gesicht. “ 1 Lukian von Samosata, Das Ende des Peregrinus 13. Text in: K. Mras, Die Hauptwerke des Lukian, Tusculum-Bücherei, 2. Aufl., München 1980, 476 - 478. 2 Die Rationalität des Evangeliums 21 <?page no="22"?> Dass die christliche Botschaft für die kultivierten und aufgeklärten Vorstellungen des Hellenismus eine unbegreifliche Torheit und ein Skandal sein würde, hatte bereits Paulus gesagt und begründet. Der erste intellektuelle Denker des Christentums versuchte programmatisch, das Evangelium des Kreuzes nicht nur innerhalb des - auch des hellenistischen - Judentums zu verkündigen, sondern es als die gute Nachricht für alle Menschen in die hellenistischen und römischen Städte zu bringen. Ihm war die Notwendigkeit bewusst, Griechen und Barbaren (Röm 1,14) von der Bedeutung des Todes Jesu rational verstehbar zu überzeugen. Die Rationalität und die Relevanz des Evangeliums wurden von ihm nicht auf einer spekulativen Ebene - spekulative Aussagen seien logisch unentscheidbar, hatten bereits die Skeptiker mit Recht betont - , sondern auf der Ebene des Verhältnisses des Menschen zu sich selbst, zu anderen und zu seiner Welt aufgezeigt. Aus der Selbstdefinition der christlichen Existenz und aus der daraus folgenden Rationalität ergaben sich notwendigerweise eine intellektuelle Auseinandersetzung mit der griechischen Tradition, eine religiöse Auseinandersetzung mit dem römischen Weltethos, aber auch eine grundsätzliche Auseinandersetzung über das Wesen des Menschen. Die Rezeption des Evangeliums in Korinth veranlasste Paulus, das Verhältnis der apostolischen Predigt zur hellenistischen Kultur zu reflektieren. Er erklärte den Korinthern, dass das Wort des Kreuzes als Torheit erscheinen müsse, wenn es seinen Sinn und seine befreiende Kraft nicht verlieren solle (1 Kor 1,18-25). Die paulinische Argumentation beseitigte jedes mögliche Missverständnis. Paulus meinte nämlich nicht, dass der Glaube irrational sei und ein sacrificium intellectus verlange. Das Wort des Kreuzes war für ihn vielmehr die Weisheit überhaupt und für jeden, der glaubte (1 Kor 2,6-16), die Kraft Gottes zur Veränderung und Befreiung. Das Wort des Kreuzes stellte also für Paulus eine Paradoxie der Kommunikation dar: Die Weisheit Gottes erscheint notwendigerweise als Torheit, weil das Evangelium die Befreiungskraft Gottes und nicht des Menschen ist und den Anspruch erhebt, die menschliche Vernunft von der Illusion zu befreien, sich durch eigene Verstehensmöglichkeiten, durch Selbstbeherrschung und Vollkommenheitsstreben selbst zu erlösen. Das Wort vom Kreuz offenbart die Selbsttäuschung des menschlichen Denkens und das faktische Scheitern seines Anspruchs, die Wirklichkeit zu erkennen. Das Christentum schloss sich mit dieser Position einer traditionellen Kritik am Rationalismus an. Der antike Rationalismus ging davon aus, die Wirklichkeit sei als schöne Komplexität gegeben. Die Menschen müssten nur versuchen, sie rational zu verstehen. Das Christentum dagegen forderte dazu auf, auf die Gnade Gottes (und nicht auf die eigenen Fähigkeiten) zu vertrauen und in diesem Vertrauen Freiheit und Hoffnung zu gewinnen. Die Kontinuität der paulinischen Kreuzestheologie mit dem historischen Jesus zeigt sich sowohl im Verständnis Gottes als auch im Verständnis des Menschen als evident. Wenn die Herrschaft Gottes dadurch symbolisiert wird, dass Jesus mit den Zöllnern und Sündern aß und trank (Lk 7,31-35) und jeder bedingungslos und unabhängig von seinen Zugehörigkeiten, seinen Loyalitäten und seiner Moral an seinem Tisch als willkommen empfangen wurde, 22 ERÖFFNUNG: Das christliche Evangelium als Wort des Kreuzes <?page no="23"?> und wenn Gott den Gekreuzigten, der vor den Menschen alles verloren hatte, was ein Mensch verlieren kann, und als durch das Gesetz verflucht galt (Gal 3,13), als seinen Sohn anerkennt (Gal 1,12.16), dann offenbart er sich als der himmlische Vater, der Person und Eigenschaften unterscheidet. Das „ Ich “ des Menschen besteht nicht in Eigenschaften, die religiöse und oft auch soziale Klassen definieren. Es besteht in seiner von Gott bedingungslos anerkannten Subjektivität. 2.2 Das Kreuz als Rationalität der persönlichen Anerkennung (Blaise Pascal) Blaise Pascal (1623 - 1662) gilt als bedeutender Interpret der Rationalität und Wahrheit des Evangeliums. In überlieferten Fragmenten, die eine Apologie des Christentums werden sollten (Pensées = Gedanken), gibt er eine indirekte Deutung des Todes und der Auferstehung Jesu. Er argumentiert auf der gleichen existentiellen Ebene wie Paulus. Geändert haben sich der rhetorische Stil und die gewählte Gattung. Auch der Kommunikationszusammenhang hat sich verschoben. Die diskursive Reflexion des Apostels, der die Christenheit (die Heiligen in Korinth und alle, die in der Welt den Namen Christi bekennen, 1 Kor 1,2), zu einem besseren Verständnis des von ihm gepredigten Evangeliums des Kreuzes führen wollte, wird von Pascal in dem Versuch wieder aufgenommen, kritischen, skeptischen und atheistischen Lesern die Wahrheit des Evangeliums aufzuzeigen: - Pascal verzichtet in seiner Argumentation auf jede spekulative Beweisführung. Er weiß, dass er in der Natur kein zwingendes Argument finden kann, um von der Dreieinigkeit Gottes oder von der Unsterblichkeit der Seele zu überzeugen. Für ihn ist evident, dass selbst mathematische Beweise, die aus der Wahrheit der Zahlen die Existenz einer grundlegenden Wahrheit, die man Gott nennen könnte, ableiten würden, für das Heil des Menschen bedeutungslos wären. - Die Form der Argumentation ist weder explizit theologisch noch deduktiv. Die Beweisführung setzt keine transzendente Offenbarung als Prämisse voraus, aus der anthropologische Thesen gefolgert werden könnten. Sie besteht vielmehr in einer ironischen Hinterfragung möglicher existentieller Haltungen und Selbstdefinitionen des menschlichen Subjekts. Blaise Pascal, Pensées 2 : „ Was ist das Ich? Wenn sich ein Mensch ans Fenster setzt, um die Vorübergehenden zu beobachten, und ich gehe an ihm vorbei, kann ich dann sagen, dass er sich 2 Blaise Pascal, Oeuvres complètes, hg. von L. Brunschvicg/ E. Botroux, Paris 1908 - 1923, Br. 323 = MSL 688. 2 Die Rationalität des Evangeliums 23 <?page no="24"?> ans Fenster gesetzt hat, um mich zu sehen? Nein, denn er denkt nicht an mich im Besonderen. Aber der, welcher jemanden um seiner Schönheit willen liebt, liebt der ihn? Nein; denn die Pocken, welche die Schönheit töten, ohne die Person zu töten, werden bewirken, dass er ihn nicht mehr liebt. Und wenn man mich um meines Urteils, meines Gedächtnisses willen liebt, liebt man dann mich? Nein! Denn ich kann diese Eigenschaften verlieren, ohne mich selbst zu verlieren. Wo ist also dieses Ich, wenn es weder im Leibe noch in der Seele ist? Und wieso liebt man den Leib und die Seele, wenn nicht um dieser Eigenschaften willen, die nicht das sind, was das Ich konstituiert, da sie vergänglich sind? Könnte man denn die seelische Substanz einer Person abstrakt lieben und unabhängig von den Eigenschaften, die sich darin befinden? Das ist unmöglich und wäre ungerecht. Man liebt also nie jemanden, sondern immer nur Eigenschaften. Man mache sich also nicht mehr lustig über die, welche sich um ihrer Ämter und Aufgaben willen ehren lassen, denn man liebt die Menschen nur um ihrer Eigenschaften willen. “ Die im inneren Dialog leichte und in der darauf folgenden Lehre unüberhörbare Ironie Pascals führt zwei Unterscheidungen ein, die für die Bedeutung des Todes Jesu und seine neutestamentlichen Deutungen von großer Bedeutung sind: - Die erste Unterscheidung stellt allgemeinen Zugehörigkeiten und anonymen Kategorien die Singularität des „ Ichs “ gegenüber. In der Beobachtung des Vorübergehenden und im Denken an mich im Besonderen drücken sich zwei Betrachtungsweisen aus, die in deutlicher Opposition zueinander stehen. Der Mensch wird entweder als Mitglied einer Klasse und als Träger ästhetischer und moralischer Qualitäten oder als eine nichtaustauschbare und auf andere Eigenscbaften nicht rückführbare Subjektivität wahrgenommen. Das heißt in unserem Zusammenhang: Gott, der den Gekreuzigten als seinen Sohn offenbart hat, indem er ihn von den Toten auferweckte, offenbart sich als der Vater, der sich nicht durch allgemeine und besondere Tugenden, sondern durch die Anerkennung des „ Ichs “ in seiner Singularität definiert. - Die Unterscheidung zwischen der allgemeinen Betrachtung und der Anerkennung der Singularität des „ Ichs “ ist mit einer zweiten Unterscheidung verbunden. Sie betrifft die Definition und das Selbstverständnis des „ Ichs “ . Die Ironie Pascals zielt auf eine Definition, die die Identität des Menschen unabhängig von seinen leiblichen und seelischen Eigenschaften anerkennt. Die Person lässt sich nicht auf feststellbare Eigenschaften reduzieren; denn sie kann diese Eigenschaften verlieren. Selbstverständlich liebt man eine Person erst dann, wenn man sie in ihrer Singularität ( „ im Besonderen “ ) und nicht im ihren allgemeinen Eigenschaften wie Schönheit, Urteilsfähigkeit und Gedächtnis liebt. Via negationis nimmt der ironische Satz Pascals, es sei unmöglich, eine Person unabhängig von ihren Eigenschaften zu lieben, die paulinische These der Gerechtigkeit Gottes auf, nach der die Bedeutung des Todes Jesu eben darin besteht, dass Gott jeden 24 ERÖFFNUNG: Das christliche Evangelium als Wort des Kreuzes <?page no="25"?> Menschen durch Vertrauen und nicht aufgrund seiner Werke und Eigenschaften rechtfertigt (Röm 3,21-26; Gal 2,14-21). Paulus war fest davon überzeugt, dass der Schöpfer ein sachgemäßes vertrauensvolles Verhältnis zum „ Ich “ des Menschen herstellt, indem er jede Person unabhängig von ihren Eigenschaften, also auch unabhängig von der Eigenschaft, zum Volk der Erwählung, des Bundes und der Beschneidung zu gehören, anerkennt. Der Gott des Gekreuzigten ist kein Gott allgemeiner Eigenschaften, sondern der Gott der Person in ihrer Singularität und deshalb auch in ihrer Universalität. 2.3 Als Kontrapunkt: Claudio Monteverdi, „ Crucifixus “ (unter Mitarbeit von Manfred Hermann) In der Reflexion der Paulusbriefe und der Evangelien erscheinen Tod und Auferstehung Jesu als die absolute Singularität einer Offenbarung, die zu einer neuen Erkenntnis Gottes und des Menschen zwingt. Nur noch ansatzweise - in der Gethsemani-Szene (Mk 14,32-42) und im Zitat von Psalm 22,2 (Mk 15,34) - wird das subjektive Verhältnis Jesu zu seinem Tod erwähnt. Auch die Beteiligung der Begleiter wird nur in der Außenseiterperspektive erzählt. Wahrscheinlich bieten die „ Selbstgespräche “ Augustins den ersten Beleg für die Rückprojizierung des durch das Evangelium von Tod und Auferstehung Jesu begründeten Bewusstseins des „ Ichs “ auf die Person Jesu und seine Passion. Augustin reflektiert die emotionale Beteiligung an der Selbsthingabe Jesu. Dieses Moment der persönlichen Beteiligung der Glaubenden an der Leidenserfahrung des Gekreuzigten spielt später in der Barockzeit in Johann Sebastian Bachs Johannes- und (noch deutlicher) in der Matthäuspassion eine zentrale Rolle, doch kann der gleiche Sachverhalt schon im „ Crucifixus “ der Selva morale e spirituale von Claudio Monteverdi aufgezeigt werden. Monteverdi 3 trat 1590 als Sänger und Violonist in die Dienste des Herzogs von Mantua, wo er über 20 Jahre blieb. Nachdem er sich ab 1594 Cantore nennen konnte, wurde er 1601 Kapellmeister. Nach dem Tod des Herzogs trat Monteverdi 1613 als Nachfolger des verstorbenen Giovanni Gabrieli das angesehene Amt des Kapellmeisters an San Marco in Venedig an. Dort komponierte er neben geistlichen Werken weiterhin Opern und Madrigale, die sich großer Beliebtheit erfreuten. Man geht davon aus, dass Trauer um den Tod seines Sohnes und seiner Frau sowie eine verheerende Pestepidemie ihn veranlasste, sich 1632 zum Priester weihen zu lassen. Er stellte sein kompositorisches Schaffen zunächst weitgehend ein. Nicht zuletzt die Eröffnung des Opernhauses in Venedig fachten Monteverdis Begeisterung für das Komponieren aber erneut an. Beinahe zwanzig Jahre nach dem Erscheinen 3 Quellen zu Monteverdi und und der Selva morale e spirituale: Silke Leopold, Kontrapunkt und Textausdruck, in: Funkkolleg Musikgeschichte, 1987. Studienbegleitbrief 4, 25 - 43; Programmheft zur Konzertreihe „ Von Perotin bis Paert “ mit Texten von Marco Agostini und Magdalene Zuther, 2009. 2 Die Rationalität des Evangeliums 25 <?page no="26"?> des siebten Madrigalbuchs veröffentlichte er 1638 das achte Buch und 1642 eine seiner bekanntesten Opern: „ L ’ incoronazione di ’ Poppaea “ . Aus dieser Zeit (1640/ 41) stammt der „ Crucifixus “ als Teil einer umfangreichen Sammlung geistlicher Werke unter dem Titel „ Selva morale e spirituale “ (SV 252 - 288). Sie enthält 37 Kompositionen mit unterschiedlichen Besetzungen von a cappella über basso contimuo mit ein bis zwei obligaten Instrumenten bis zur großen konzertanten Besetzung. Neben Texten in lateinischer Sprache werden auch italienische Texte vertont. Der Chorsatz „ Crucifixus “ wurde zu besonderen Feiertagen in die gesungene Messe eingefügt. 2.3.1 Der „ Crucifixus “ und die Seconda practica Die Vertonung des Crucifixus folgt den Prinzipien der „ Seconda practica “ . Monteverdi hat diese Bezeichnung im Vorwort zu seinem fünften Madrigalbuch (1605) geprägt. Zwei Jahre später lässt er seinen Bruder Giulio Cesare ergänzende Erläuterungen zu dieser Praxis in der Ausgabe des sechsten Madrigalbuchs veröffentlichen. 4 „ Der alten Kunst hat mein Bruder den Namen ‚ Prima practica ‘ gegeben, (. . .) und die moderne hat er ‚ Seconda practica ‘ genannt (. . .). Unter ‚ Prima practica ‘ versteht er jene, die sich um die Vollkommenheit des Tonsatzes dreht, die den Tonsatz nicht für den Beherrschten hält, nicht für den Diener, sondern für den Herrn der Rede (. . .). ‚ Seconda practica ‘ (. . .) bezeichnet er als jene Kunst, die sich um die Vollkommenheit der Melodie dreht, die den Tonsatz als Beherrschten und nicht als Beherrscher ansieht, die die Rede zur Herrin des Tonsatzes macht, und deshalb hat er sie ‚ zweite ‘ und nicht ‚ neue ‘ Praxis genannt. In der „ Prima practica “ stand die Qualität des Tonsatzes, verkörpert durch die Regeln des Kontrapunkts, im Zentrum, der Text war ihm untergeordnet. In der „ Seconda practica “ hat der Ausdruck des Textes Vorrang vor den strengen Regeln des Tonsatzes. Satztechnische Freiheiten sind zugunsten der Textausdeutung möglich. Dabei werden die Regelüberschreitungen im Allgemeinen nur an Stellen mit gesteigertem Ausdruck platziert. Monteverdi betont, dass es sich nicht um eine neue Lehre, die die alte abschaffen wolle, handele, sondern um eine weitere, eben die zweite Praxis. Das heißt, dass die Lehre vom Kontrapunkt weiterhin die Basis oder das Fundament des Komponierens bildet. Zur Präzisierung sei angefügt, dass nicht die Regelübertretung allein die „ Seconda practica “ ausmacht. Der Vorrang des Textes vor dem Tonsatz kann auch in regelkonformen Kompositionen möglich sein. Das ist relevant für Monteverdis Vertonung des „ Crucifixus “ . Mit dem Vorrang des Wortes vor dem Tonsatz geht eine Neubewertung des emotionalen Gehalts der Worte einher. Monteverdi gewährt dem Gefühl einen gewaltigen Raum. Er spricht von „ mouvere “ (bewegen), wenn es um den 4 Dichiarazione della lettera stampata nel quinto libro de suoi madregali - Erläuterung des im 5. Madrigalbuchs gedruckten Briefes, in: Claudio Monteverdi: Scherzi musicali a tre voci. Venezia 1607. 26 ERÖFFNUNG: Das christliche Evangelium als Wort des Kreuzes <?page no="27"?> Zweck der Musik geht. Über seine Oper „ Orfeo “ schrieb er selbst: „ Orfeo berührte und bewegte die Zuhörer. . . “ 5 . 2.3.2 Kompositorische Stilmittel und Textdeutung In der Gesamtanlage lässt sich die Komposition in zwei Teile gliedern. In beiden Teilen werden jeweils zwei Textstellen in spezifischer Weise musikalisch gestaltet: „ Crucifixus etiam pro nobis “ und „ sub Pontio Pilato “ umfassen einen ersten Teil, „ passus “ sowie „ et sepultus est “ einen zweiten. Erster Teil crucifixus etiam pro nobis: Diese Textzeile wird mit einer für die Barockzeit typischen musikalischen Figur vertont, dem „ Passus duriusculus “ . 6 In Halbtonschritten verläuft die Melodie über eine Quarte abwärts. Dieser chromatische Quartgang bildet unharmonische Verhältnisse oder in der Sprache Christoph Bernhards, eines Schülers von Heinrich Schütz, „ falsche Relationen “ (relationes non harmonicae). Er eignet sich besonders für die Darstellung des Affekts der Trauer und des Schmerzes. Über die bloße Affektdarstellung hinaus kommt es zu einer weiteren Bedeutung dieser Tonfolge: Beim Gang durch die Halbtonschritte gehören manche Töne nicht zu einer diatonischen Tonleiter 7 ; sie sind also nicht leitereigen, sondern chromatisch. Sie sind als Abweichung von der diatonischen Ordnung zu verstehen und meinen in ihrem Bedeutungskern ein Abweichen von der göttlichen Ordnung: „ Die Stimme <weicht ab> von der Ordnung der Diatonik. Und so kann diese Figur, indem sie in ihrer Engschrittigkeit einen traurigen Affekt ausdrückt, zugleich konkret das <Abweichen> von der Ordnung und im christlichen Sinn das Abweichen von der Ordnung Gottes, also das Begriffsfeld der Sünde musikalisch bezeichnen “ 8 Insgesamt lässt Monteverdi „ crucifixus etiam pro nobis “ sechsmal in polyphoner Engführung erklingen. Indem er zwei Einsätze (erster und dritter Einsatz) direkt aneinanderreiht, entsteht ein chromatischer Abgang über eine Oktave, eine für die damalige Zeit außergewöhnlich spannungsreiche musikalische Gestaltung. Gleiches gilt für den zweiten und dritten sowie für den 5 Zitiert nach: Claus Spahn, in: DIE ZEIT, 25. 1. 2007. 6 Der Passus duriusculus kann als eine spezielle Ausprägung eines Lamentobasses aufgefasst werden. Dieser wird in der Musik häufig zur Darstellung der Trauer und der Klage verwendet, entsprechend der Wortbedeutung von lamentare = klagen, weinen. Die folgende Darstellung der musikalisch-rhetorischen Bedeutung des Passus duiriusculus folgt im Wesentlichen Hans Heinrich Eggebrecht in: Musik im Abendland: Prozesse und Stationen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 1991, 348 f und 376 f. 7 Diatonische Tonleitern teilen die Oktave in fünf Ganz- und zwei Halbtonschritte, wie zum Beispiel Dur und Moll. Die diatonische Tonleiter unterscheidet sich von der chromatischen Tonleiter, die nur aus Halbtonschritten besteht. 8 Hans Heinrich Eggebrecht, a. a. O. 348. 2 Die Rationalität des Evangeliums 27 <?page no="28"?> vierten und fünften Einsatz. Durch die anhaltende Chromatik wirken die harmonischen Bezüge immer wieder indifferent, fast schwebend. Es ist so, als suche man als Hörer Halt, der, kaum hat man ihn gefunden, wieder entgleitet. So vertont Monteverdi das Geschehen um den Kreuzestod Jesu im Affekt des Schmerzes und reiht ihn in den Bereich der Abkehr von einer Ordnung, in das Sündhafte, ein. Bereits in dieser Anfangspassage zeigt sich, wie Monteverdi den Tonsatz als Diener für den Textausdruck heranzieht. 9 sub Pontio Pilato: Die Vertonung ist mit der Textzeile „ crucifixus . . . “ polyphon verbunden. Zur motivischen Gestaltung wählt Monteverdi einen signalartigen Aufschwung über eine Quinte. Er kann als Hinweis auf die erhöhte Position des römischen Statthalters verstanden werden. Zum Ende des ersten Teils wird der kontrapunktische Satz mit vielen Engführungen verdichtet. Gleichzeitig wird eine harmonische Spannung aufgebaut: Sie wird vorbereitet durch den wiederholten Einsatz von Vorhalts- und Durchgangsdissonanzen. Über der letzten Vertonung von „ Pilato “ erzeugt Monteverdi dann mit einem dominantisch wirkenden Klang (Akkord über dem Ton a mit kleiner Septime g) eine Hörerwartung, die sich am Modell einer Klausel oder Kadenz im Sinn einer formelhaften Schlussbildung orientiert. Jedoch: Anstelle eines regelhaften Akkords über d als logischer Fortführung der dominantischen Wirkung setzt er die Komposition mit einem a-Moll-Klang fort. Er täuscht also den Hörer und bricht den erwarteten harmonischen Verlauf ab. Der Bruch mit der erwarteten Fortführung ist auch ohne den Verweis auf die musikalische Fachsprache deutlich vernehmbar. Will Monteverdi uns damit zeigen, dass mit dem Kreuzestod Jesu kein Ende markiert ist? Will er mit der Verweigerung des formelhaften Abschlusses darauf verweisen, dass der Tod Jesu nicht endgültig ist und nach ihm noch etwas anderes folgen wird? Unabhängig von einer möglichen semantischen Bedeutung unterstützt diese Wendung eine fast dramatische Wirkung auf den Zuhörer. Er kann hörend wahrnehmen, wie etwas aus dem Lot geraten ist. Die Abkehr von der Ordnung, wie bereits beim Passus duriusculus beschrieben, findet hier ihre Fortführung. Zweiter Teil passus: Das von Monteverdi für die Vertonung verwendete Motiv erinnert in seiner melodischen Führung an ein Seufzermotiv. In der Reinform ist ein Seufzermotiv ein Sekundschritt, häufig abwärts, mit einer Akzentuierung der ersten Note. Es dient der musikalischen Darstellung des Affekts des Schmerzes und 9 Die beschriebenen kompositorischen Mittel genügen Monteverdi zur musikalischen Darstellung des Ausdrucksgehalts des Textes. Er bedient sich nicht zusätzlicher Dissonanzen oder offensichtlicher Regelüberschreitungen. 28 ERÖFFNUNG: Das christliche Evangelium als Wort des Kreuzes <?page no="29"?> des Leides. In der vorliegenden Komposition ist die Form des Seufzermotivs bei „ passus “ verlängert durch eine Schaukel- oder Drehbewegung, die die Melodie zuerst nach oben und dann eine Sekunde unter den Ausgangston führt. Es scheint so, als ob Monteverdi mit dieser Verlängerung der Darstellung des Leidens Jesu mehr Gewicht verleihen will. Auch der Tonsatz zielt auf diesen Affekt. Meist wird das Motiv bei „ passus “ imitatorisch zwischen zwei Stimmen geführt. Dabei kommt es zu Dissonanzen. Sie finden erst über den Umweg der oben erwähnten Verlängerung des Seufzermotivs eine Auflösung. et sepultus est: Ähnlich wie im ersten Teil werden auch hier die beiden Textzeilen durch die musikalische Gestaltung ineinander verwoben. „ Et sepultus est “ folgt, entsprechend der Handlung der Grablegung, einer Abwärtsbewegung. Die Stimmen für diese Textzeile werden häufig homorhythmisch und parallel geführt. Sie stehen somit in einem Kontrast zur Praxis der Polyphonie in den übrigen Abschnitten der Komposition. Es kommt zu einer Beruhigung des musikalischen Geschehens. Monteverdi unterscheidet also kompositorisch zwischen der Darstellung des Leidens Jesu und der Grablesung des toten, leblosen Körpers. Er fördert damit die eindringliche Wirkung der Musik auf den Zuhörer. Sie wird zum Schluss weiter gesteigert durch die dem Bild der Grablegung entsprechende Abwärtsbewegung des gesamten Tonsatzes. Ein Quintklang in tiefer Lage, vorbereitet mit einer Vorhaltsdissonanz, beschließt die Komposition. Die eingangs erläuterte dienende Funktion des Tonsatzes zur Darstellung des Textausdrucks durchzieht die kompositorische Gestaltung der Crucifixus- Vertonung. Der Passus duriusculus, die Vorenthaltung einer formelhaften harmonischen Schlussbildung, die Dissonanzbildung, das verlängerte Seufzermotiv, die homorhythmische Parallelführung von Stimmen und die Abwärtsbewegung am Ende zeigen, wie Monteverdi den Schmerz und das Leiden Jesu sowie die Grablegung musikalisch verdeutlicht und den Hörer in den Affekt mit einbezieht. Ein bisher nicht genanntes Detail verstärkt den von Monteverdi beabsichtigten Ausdruck: Die Stimmverteilung sieht keinen Sopran vor. Die vier Stimmen sind Alt, Tenor, Quinto bzw. zweiter Tenor und Bass. Diese Verteilung hält die Komposition in einer eher dunklen Tonfärbung, die dem äußeren Geschehen des Kreuzestodes Jesu und den damit verbundenen Affekten des Leides, der Klage und der Trauer entsprechen. Monteverdis Musik zielt auf die Affekte: „ . . . hier bricht es durch, die affektgeborene Musik, die aus dem Menschen kommt und ihn meint, den fühlenden, seelisch erregbaren, den emotional erwachten Menschen. “ 10 10 Hans Heinrich Eggebrecht, a. a. O. 279. 2 Die Rationalität des Evangeliums 29 <?page no="30"?> 3 Die Bedeutung des Todes Jesu und die Konstituierung des Individuums als Subjekt Eine kritische, das heißt zunächst selbstkritische, Auslegung der neutestamentlichen Deutungen des Todes Jesu setzt eine konsequente Auseinandersetzung mit der theologischen Rezeptionsgeschichte voraus. In der Tradition der westlichen Theologie sind die neutestamentlichen Deutungen lange Zeit nach einem bestimmten Deutungsmuster gelesen worden, das von Anselm von Canterbury in seinem Traktat „ Cur Deus homo “ systematisch ausgeführt wurde. Es interpretiert den Tod Jesu als die Wiederherstellung eines durch die Sünde gestörten Zustands. Auch Luther und Calvin griffen auf dieses Deutungsmuster zurück. Der Tod Jesu Christi, von dem die neutestamentlichen Deutungen in einem offenen Sinn bekennen, dass Jesus „ für uns “ , in unserem Interesse, gestorben ist, wurde seit Anselm fast automatisch als Stellvertretung für die sündige Menschheit interpretiert. In ähnlicher Weise wurde die Symbolik des Blutes als Metaphorik einer Opfertheologie gedeutet. Jede Analyse der neutestamentlichen Texte steht deshalb auch vor der Aufgabe, die Konformität der Auslegungstraditionen mit den neutestamentlichen Deutungen zu überprüfen, um die Relevanz der kanonischen Entwürfe besser zu verstehen. In diesem Essay vertreten wir die These, dass die neutestamentlichen Deutungen die Bedeutung des Todes Jesu keineswegs auf die Wiederherstellung der religiösen Ordnung beschränken. Tod und Auferstehung Jesu werden vielmehr als die absolute Singularität, die das Leben der Menschen fundamental verändert, erlebt und verstanden. Diese Veränderung nennt Paulus „ neue Schöpfung “ (2 Kor 5,17; Gal 6,15). Sie betrifft auch das Verhältnis des „ Ichs “ zu sich selbst. Als Verkündigung des Todes und der Auferstehung Jesu bedeutet das „ Kreuz “ die gute Nachricht einer bedingungslosen Anerkennung durch Gott. Sie unterscheidet die Person von ihren Eigenschaften und die innere, geistige Geschichte und Befindlichkeit des Einzelnen von jeder feststellbaren Äußerlichkeit. Sie gründet das „ Ich “ als eine Subjektivität, die sich ihres Verhältnisses zu sich selbst bewusst ist, neu. 3.1 Das Kreuz als Entscheidung für den einen Gott Das Kreuz setzt eine Unterscheidung zwischen den Göttern voraus. Das Bekenntnis zu der Offenbarung Gottes in der absoluten Singularität des Todes und der Auferstehung Jesu impliziert, dass sich dieser Gott nicht in den offenen Pantheon der Religionen einfügen lässt (1 Thess 1,9-10). Dieser Ausschließlichkeitsanspruch des christlichen Glaubens erschien den Zeitgenossen als unzeitgemäß und schwer verständlich. Lukian von Samosata vertrat, wie wir gesehen haben, eine verbreitete Reaktion der Eliten, wenn er diesen 30 ERÖFFNUNG: Das christliche Evangelium als Wort des Kreuzes <?page no="31"?> Anspruch als ein Symptom der Unaufgeklärtheit der Christen erklärte. Seine kurze Beschreibung zeigt jedoch ein durchaus zutreffendes Verständnis des Christentums: - Das Ereignis der Begegnung mit dem gekreuzigten Jesus Christus bestimmt die Existenz der Christen. - Aus diesem Ereignis folgt eine existentielle Haltung der Freiheit von sich selbst und der Nächstenliebe. - Dieses Ereignis verlangt und setzt eine Abgrenzung gegen die Götter. Der sachliche Konsens zwischen Lukian und der Selbstdefinition des christlichen Glaubens weist auf das geistig Neue im Christentum hin. Von außen und von innen wird der christliche Glaube als eine Unterscheidung zwischen den Göttern wahrgenommen und als die Entscheidung für einen einzigen Gott verstanden. Die kritische Auseinandersetzung der Paulusbriefe mit dem Problem des Monotheismus beweist die schöpferische Kraft der zugrundeliegenden theologischen Entscheidung. 1 Korinther 8,4-6 (4) Wir wissen, dass es keinen Götzen in der Welt gibt und dass es keinen Gott gibt, es sei denn der Eine. (5) Denn - auch wenn es sogenannte Götter gibt sowohl im Himmel als auch auf Erden, - wie es viele Götter und viele Herren gibt, (6) - aber für uns gibt es einen Gott und Vater, von dem her alles ist und wir auf ihn hin, und einen Herrn Jesus Christus, durch den alles ist und wir durch ihn. Der Gedankengang besteht insofern aus einer Paradoxie, als er die Logik des konsensfähigen Monotheismus der hellenistischen Judentums und des aufgeklärten Hellenismus umdreht. Für Paulus ist die Existenz des einen Gottes nicht die Prämisse des Bekenntnisses, sondern es ist umgekehrt: Das subjektive Bekenntnis, dass es „ für uns “ nur einen Gott und Vater und einen Herrn gibt, begründet die Entscheidung, nicht an die anderen Götter zu glauben. Die paulinische Argumentation verschiebt die Reflexion von einer metaphysischen auf eine religionskritische und auf eine existentielle Ebene: - Die monotheistische Weltanschauung wird als Illusion enttarnt. Selbst wenn es als selbstverständlich gelten könnte, dass es nur einen Gott gibt, muss empirisch festgestellt werden, dass durch den allgemeinen Sprachgebrauch zahlreiche Götter und Herren konstituiert werden und in der Tat Macht ausüben. Die Gottesoffenbarung am Kreuz impliziert eine notwendige Unterscheidung zwischen dem Gott, der Jesus von den Toten auferweckt hat, und den im Leben der Menschen wirksamen Fiktionen von Göttern. 3 Die Konstituierung des Individuums als Subjekt 31 <?page no="32"?> - Die Christen haben sich existentiell entschieden: „ Für uns gibt es nur den Einen. “ Die Prämisse besteht im Bewusstsein, dass es im Himmel und auf Erden viele Götter gibt, denen niemand gleichzeitig dienen kann. Die Folge dieser Entscheidung gegen die Götter und für den einen wahren Gott ist die Entstehung des „ Ichs “ als eines individuellen, sich seiner selbst bewussten Subjekts. - Das Entweder-Oder zwischen Gott und den Göttern ist selbstverständlich nicht neu, wie die Oszillation der alttestamentlich-jüdischen Tradition zwischen Monotheismus und Monolatrie zeigt: - Für den Monotheismus gibt es nur einen Gott. Neben dem Gott Israels gibt es keinen anderen Gott. - Zwar gibt es für die Monolatrie, der Verehrung jeweils eines Gottes, eine Vielzahl möglicher Götter, aber der Gott Israels ist „ eifersüchtig “ . Sein Verhältnis zu Israel schließt andere Götter aus. - Neu ist, dass dieses Entweder-Oder nicht durch die Zugehörigkeit zu einem Volk der Erwählung oder zu einem Bund vorgegeben wird, sondern durch das Kreuz eine individuelle und subjektive Entscheidung universal ermöglicht wird. Die Entscheidung für den einen Gott und gegen die anderen Götter konstituiert das Individuum als persönliches Subjekt: Die Exklusivität des Gekreuzigten stellt einen geistigen Fortschritt gegenüber dem aufgeklärten Monotheismus der Antike dar, weil die Entscheidung für den einen Gott im individuellen Gewissen getroffen wird. Dieser Vorgang begründet die eigene Identität. 3.2 Das Kreuz als Entdeckung des Selbst (Alexander Sinowjew) In diesem Essay vertreten wir die These, dass sich die Bedeutung des Todes Jesu nicht auf die befreiende Verwandlung des Einzelnen in ein bedingungslos anerkanntes „ Ich “ beschränkt, sondern dass die „ neue Schöpfung “ eine neue Defintion des Menschen enthält. In seiner Auseinandersetzung mit den Thesen Louis Dumonts über die Entstehungsgeschichte des Individuums 11 lehnt sich Jean-Pierre Vernant 12 an Michel Foucault an 13 , um eine Unterscheidung von drei Begriffen vorzuschlagen, die drei Stufen der Entdeckungsgeschichte der Subjektivität beschreiben: - Der Begriff des Individuums hebt einzelne Figuren hervor, die die menschliche Befindlichkeit paradigmatisch vertreten, indem sie personifizierte Leidenschaften, Werte und Tugenden darstellen. 11 Louis Dumont, Homo hierarchicus. Essai sur le système des castes, Paris 1966; Homo aequalis 1: Genèse et épanouissement de l ’ idéologie économique, Paris 1977. 12 Jean-Pierre Vernant, L ’ individu, la mort, l ’ amour et l ’ autre en Grèce ancienne, Paris 1989, 211 - 232. 13 Michel Foucauld, Histoire de la sexualité III: Le souci de soi, Paris 1984, 56 f. 32 ERÖFFNUNG: Das christliche Evangelium als Wort des Kreuzes <?page no="33"?> - Der Begriff des Subjekts kennzeichnet den Einzelnen, der in seinem eigenen Namen zu Wort kommt, sich in der ersten Person Singular ausdrückt, sich dadurch abgrenzt und seine Identität gegenüber anderen behauptet. - Der Begriff des Ichs kennzeichnet das Subjekt, das sich seiner selbst insofern bewusst geworden ist, weil es sich von sich selbst distanzieren kann, um die Geschichte seines individuellen geistigen Lebens in ihrer Einzigartigkeit reflektieren zu können. Jeder Stufe dieser Wahrnehmung der Subjektivität des Einzelnen entspricht eine neue literarische Gattung. Der Entdeckung des Individuums entspricht die Entstehung der Biographie als Darstellung der äußeren Handlungen eines Menschen Die Sprache des Subjekts ist die Autobiographie. Die beiden Gattungen der Bekenntnisse und der persönlichen Tagebücher belegen die Erscheinung des Ichs. Klassisch wird die Entdeckung des Individuums mit der homerischen Epik, die Entdeckung des Subjekts mit der griechischen Lyrik (Sappho) und die Entdeckung des Ichs mit den Confessiones Augustins in Verbindung gebracht. Das neue Selbstbewusstsein der Subjektivität, das die Offenbarung Gottes am Kreuz hervorruft, verlangt vom Subjekt eine Entscheidung zwischen den Göttern und ermöglicht die Unterscheidung zwischen Person und Eigenschaften. Die Erscheinung des Ichs in einem modernen Sinn ist freilich nicht erst mit den „ Confessiones “ Augustins gegeben, sondern bereits im apostolischen Verständnis des Todes Jesu und in der Verkündigung Jesu Christi als des Gekreuzigten angelegt. Die Aktualität der Offenbarung des Todes und der Auferstehung Jesu für die Entstehung des „ Ichs “ hat der Logiker und ehemalige russische Dissident Alexander Sinowjew (1922 - 2006) in einem fiktiven Dialog reflektiert. Er stellte 1978 die Gottesfrage im Rahmen einer Auseinandersetzung mit dem realexistierenden Kommunismus, den er als allgemeines Paradigma für Gesellschaften betrachtete, die ihre religiösen und kulturellen Wurzeln verloren und sich dem Zynismus, dem Opportunismus und der Instrumentalisierung des Menschen ausgeliefert haben. Alexander Sinowjew 14 : Apropos Gott „ Der christliche Gott ist ein besonderer Gott unter allen übrigen, denn nur mit ihm wurde die westliche Zivilisation als eine besondere soziale Organisation einer Vielheit von Individuen geschaffen, die ein Bewusstsein ihres Ichs besitzen. In diesem Sinne haben die Menschen, als sie Gott erdachten (das heißt: eben diesen Gott erdachten), sich als sich selbst genügende Wesen erdacht. 14 Alexander Sinowjew, Lichte Zukunft. Roman, detebe 21 133, Zürich 1983. Russische Originalausgabe Lausanne 1978. 3 Die Konstituierung des Individuums als Subjekt 33 <?page no="34"?> . . . Ich möchte glauben, aber ich kann es nicht. Ich berücksichtige ihn (Gott) in meinen Handlungen nicht als eine reale Gegebenheit, aber ich bin bemüht, mich so zu verhalten, als ob er alles sähe, und ich möchte nicht, dass ich mich vor ihm schämen muss. In kritischen Augenblicken bitte ich ihn um Hilfe und hoffe auf Ihn. Überhaupt ist für mich die Frage nach Gott kein naturwissenschaftliches Problem. Es ist viel eher ein Problem meiner eigenen Geistigkeit, ein Problem meines Ichs, meines Gewissens, wenn wir es so nennen wollen. Ich meine, dass für viele diese Frage genauso aussieht. Der Marxismus lehnt die Religion ab. Das ist sein Recht. Man kann die Religion durch staatliche Maßnahmen liquidieren. Aber man kann nicht das Faktum einer geistigen Haltung vernichten, die früher einmal zur Entstehung der christlichen Religion geführt hat, ohne zugleich die Auffassung des Menschen von sich selbst als eines an sich gültigen Werts zu vernichten. Die Anerkennung Gottes ist für mich gleichbedeutend mit dem Wissen um die Existenz eines Gewissens in mir. “ 34 ERÖFFNUNG: Das christliche Evangelium als Wort des Kreuzes <?page no="35"?> ERSTER TEIL: Bedeutung und Deutungen des Todes Jesu in den Evangelien - und ihre Rezeption <?page no="37"?> Die Passionsankündigungen in den synoptischen Evangelien als Einführung in die Interpretation des Todes Jesu Tod und Auferstehung Jesu bilden das inhaltliche Zentrum der vier kanonischen Evangelien. Die vier Erzählungen interpretieren die Worte und Taten Jesu von dem doppelten Ereignis der Kreuzigung und der Auferstehung her. Ihre dramatisierende Architektur ist auf die Passionsgeschichte hin orientiert. Die Deutung des Todes Jesu bildet jeweils den Schlüssel für das Verständnis des einzelnen Evangeliums. Die literarische Gattung des Evangeliums ist dadurch entstanden, dass Matthäus, Lukas und Johannes die Darstellungsform, die das Markusevangelium gefunden hatte, übernahmen. Die schriftstellerische und theologische Leistung des Verfassers des Markusevangeliums besteht darin, das Bekenntnis des Todes und der Auferstehung Jesu zu einer theologisch kohärenten Darstellung des Weges Jesu ausgeweitet zu haben. Das Markusevangelium (Mk 1,1.15; 13,10; 14,8) unterscheidet sich von den Spruchsammlungen fundamental dadurch, dass die befreiende Tätigkeit Jesu (Exorzismen, Heilungen) und die Notwendigkeit seines Todes mit der Verkündigung seiner Auferstehung her (Mk 16,5 - 7) zusammengebracht werden. Bedeutung und Deutungen des Todes Jesu in den Evangelien zeigen sich nicht nur in der Erzählung des Prozesses, der Kreuzigung und des Todes Jesu, sondern in der gesamten literarischen Gestaltung. Die Passionsgeschichte wird im Lauf der dramatischen Darstellung durch verschiedene Prolepsen (Vorwegnahmen späterer Ereignisse) vorbereitet: - Konflikte, die zu Todesbeschlüssen führen (Mk 3,6; 12,1-12; 14,1-2), ergeben sich bereits in den ersten Tagen der öffentlichen Tätigkeit Jesu. - Die Evangelien verstehen diese Konflikte als Ausdruck einer Logik des Unglaubens, die sich in der Nähe der Gottesherrschaft bemerkbar macht und zum gewaltsamen Tod Johannes des Täufers und Jesu führt (Mt 11,12; Mt 11,16-19/ / Lk 7,31-35; Mt 23,13,13-36/ / / Lk 11,37- 51; Mk 6,14-29; 9,11-13). - Auf die Erscheinungsformen dieser Logik antwortet Jesus mit der Deutung seines Auftrags (Mk 10,45; 14,22-25). Die drei Ankündigungen des Todes und der Auferstehung Jesu bei den Synoptikern (Mk 8,31/ / Mt 16,21/ / Lk 9,22; Mk 9,30-32/ / Mt 17,22-23/ / Lk 9,44; Mk 10,32-34/ / Mt 20,18-19/ / Lk 18,31-33) haben im Johannesevangelium ihre Entsprechung in je drei Ankündigungen der Erhöhung Jesu (Joh 3,14; 8,28; 12,32) und seiner Rückkehr zum Vater (Joh 7,33-36; 8,21-22; 13,31-33). Sie alle sind tragende Elemente der Architektur der Evangelien und bereiten die verschiedenen Interpretationen des Todes Jesu vor. 37 <?page no="38"?> Die erste Passionsankündigung kündigt die wesentlichen Momente des Leidens, der Verwerfung, des Todes und der Auferstehung Jesu an. Sie stellt die Akteure vor, die in der Passionsgeschichte die Hauptrollen spielen werden, und erklärt - zum ersten und letzten Mal - die Notwendigkeit der Passion, des Todes und der Auferstehung Jesu. Markus 8,31 Er (Jesus) fing an, sie zu belehren, dass der Menschensohn muss viel leiden und verworfen werden - von den Ältesten - und von den Hohenpriestern - und von den Schriftgelehrten und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen. Matthäus 16,21 Von nun an fing Jesus an, seinen Jüngern zu zeigen, dass er muss - nach Jerusalem aufbrechen - und viel leiden von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten - und getötet werden - und am dritten Tag auferweckt werden. Lukas 9,22 Er (Jesus) sagte, dass der Menschensohn muss - viel leiden - und verworfen werden von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten - und getötet werden - und am dritten Tag auferweckt werden. In den drei synoptischen Evangelien bezieht sich die Notwendigkeit des Geschehens sowohl auf die Leiden, bei Markus und Lukas auch auf das Verworfenwerden, und den Tod Jesu als auch auf die Auferstehung nach drei Tagen (Markus) oder am dritten Tag (Matthäus und Lukas). Gegenübergestellt werden die Handlungen der Ältesten, Hohenpriester und Schriftgelehrten und die Kraft Gottes, der Jesus auferwecken wird (Matthäus und Lukas), oder die Kraft Jesu, der auferstehen wird (Markus). Als unvermeidlich offenbart sich an Karfreitag und Ostern nicht ein speka- 38 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="39"?> lutiver Plan - als ob in Tod und Auferstehung Jesu ein seit Ewigkeit vorgeschriebener Handlungsablauf abgespielt würde - , sondern die Unvereinbarkeit von „ menschlichem “ und „ göttlichem “ Denken. Das Matthäusevangelium fügt zu den drei Momenten des Leidens, des Todes und der Auferweckung am dritten Tag einen weiteren Hinweis hinzu: Jesus Christus muss nach Jerusalem aufbrechen. Der Name Jesus Christus, der den in den Passionsankündigungen sonst üblichen Titel des Menschensohns ersetzt, und die Ortsangabe (Jerusalem) stellen einen engen Zusammenhang mit der Passion her. Die Offenbarung Jesu als des Gottessohns und des Königs in der Szene der Kreuzigung wird vorweg in den Invektiven an die Schriftgelehrten und Pharisäer (Mt 23,13-36) erklärt. Die Erklärung mündet in die Klage und die Ankündigung des Gerichts über Jerusalem. Die Lösung des Konflikts zwischen dem Evangelium der Gerechtigkeit und der menschlichen Selbsttäuschung über den Willen Gottes muss notwendigerweise in Jerusalem stattfinden, wo die falsche Prophetie enthüllt und die wahre Prophetie offenbar werden wird. Die Wiederholung in der zweiten Passionsankündigung erfüllt zunächst die Funktion einer Bestätigung. Sie führt in ihrer Kürze den Gedankengang aber weiter, indem sie die Gegenüberstellung der Verwerfung Jesu und seiner Auferstehung bzw. Auferweckung durch das neue Motiv der Auslieferung des Menschensohns in die Hände der Menschen interpretiert: - Der Menschensohn wird in die Hände der Menschen ausgeliefert werden. - Er wird getötet werden (Markus und Matthäus). - Er wird auferstehen (Markus) bzw. auferweckt werden (Matthäus). Markus 9,31 Denn er (Jesus) lehrte seine Jünger, und er sagte zu ihnen, - dass der Menschensohn in die Hände der Menschen ausgeliefert wird - und dass sie ihn töten werden - und dass er, getötet, nach drei Tagen auferstehen wird. Matthäus 17,22 b-23 a Der Menschensohn wird in die Hände der Menschen ausgeliefert werden (23) und sie werden ihn töten, und am dritten Tag wird er auferweckt werden. Lukas 9,44 b Denn der Menschensohn wird in die Hände der Menschen ausgeliefert werden. Markus und Matthäus betonen nicht den Kontrast, sondern die Kontinuität zwischen Ausgeliefertwerden und Tod Jesu und dem Osterereignis: Jesus ist auferstanden (Markus) oder von Gott auferweckt worden (Matthäus), nicht obwohl, sondern weil er selbst seine Seele in die Hände der Menschen dahingegeben hat. Die Unvereinbarkeit zwischen dem menschlichen und Die Passionsankündigungen in den synoptischen Evangelien 39 <?page no="40"?> dem göttlichen Denken, die bereits in der ersten Passionsankündigung die Notwendigkeit des Todes Jesu begründete, findet hier ihren Sinn. Das Ausgeliefertwerden Jesu bedeutet nicht den Sieg der Menschen, sondern belegt die Wahrheit seiner Worte als Offenbarung Gottes: - Wer seine Seele dahingibt und sie nicht retten will, rettet sie (Mk 8, 34-38/ / 15,29-32). - Die Passion des prophetischen Wortes enthüllt die Botschaft der falschen Propheten, die den Gottessohn töten. Das Lukasevangelium trennt die Ankündigung der Auslieferung Jesu von der Ankündigung seiner Auferweckung am dritten Tag. Der Hinweis auf die Nähe seines Todes begründet zwar die Dringlichkeit, seine Worte zu hören und sich an sie zu erinnern. Die Trennung von Tod und Auferstehung setzt aber eine Deutung des Todes Jesu voraus, die unabhängig von der Auferstehung stehen kann und weder eine theologische noch eine soteriologische Bedeutung hat. Dem entspricht der Verlauf der Passionsgeschichte, wie sie das Lukasevangelium darstellt und wie sie die Missionsreden der Apostel in der Apostelgeschichte zu verstehen geben: Die römischen Behörden, die Juden oder die Chefs des Volkes haben den Gesandten Gottes aus menschlichem Versagen (Lk 23,6-12), aus Unkenntnis oder wegen der Härte ihres Herzens gekreuzigt und getötet (Apg 2,23-36; 3,15.17; 4,10; 5,30; 7,52 usw.), und Gott hat ihn dann auferweckt (Apg 2,24.32; 3,15; 4,10; 5,30 usw.). Diese Interpretation sieht Ostern nicht in der Kontinuität zum Karfreitag, sondern als seine Aufhebung. Der dramatische Fortschritt, den die dritte Passionsankündigung in den Erzählungen des Markus- und des Matthäusevangeliums bringt, besteht weniger in der theologischen Interpretation als in der Präzision der Beschreibung, die die beiden Teile des Prozesses vor dem Hohen Rat (Mk 14,53-65) und vor Pilatus (Mk 15,1-15) programmatisch unterscheidet. Der Menschensohn wird den Hohepriestern und Schriftgelehrten übergeben werden, die ihn zum Tod verurteilen und den Heiden ausliefern werden. Die Auflistung der Misshandlungen bezieht sich auf die Szenen der Verspottung im Prätorium (Mk 15,16-20 a) und während der Kreuzigung (Mk 15,20 b-32). Markus 10,32 b-34 (32 b) Und nehmend wiederum die Zwölf zu sich fing er an, ihnen zu sagen, was ihm geschehen sollte: (33) „ Siehe, wir gehen nach Jerusalem hinauf, und der Menschensohn wird ausgeliefert werden den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten, und sie werden ihn zum Tod verurteilen, 40 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="41"?> und sie werden ihn den Heiden ausliefern, und sie werden ihn verspotten und bespucken und peitschen und töten, und nach drei Tagen wird er auferstehen “ . Matthäus 20,18-19 (18) Siehe, wir gehen nach Jerusalem hinauf, und der Menschensohn wird ausgeliefert werden den Hohenpriestern und Schriftgelehrten, und sie werden ihn zum Tod verurteilen, (19) und sie werden ihn den Heiden ausliefern, um verspottet und bespuckt und gepeitscht zu werden, und am dritten Tag wird er auferweckt werden. Lukas unterscheidet sich hier wieder deutlich von Markus und Matthäus. Er konzentriert sich nicht auf die klare Unterscheidung der beiden Verhöre vor dem jüdischen und vor dem heidnischen Gericht, sondern führt als heilsgeschichtliche Deutung ein theologisches und hermeneutisches Thema ein, das in den Ostererzählungen (Lk 24,25-27; 24,44-47) und in den Missionsreden der Apostelgeschichte eine entscheidende Rolle spielen wird: die Kontinuität von Passion und Auferstehung mit den als Christuszeugnis ausgelegten Schriften der alttestamentlichen Propheten. In der Passion erfüllt sich alles, was die Propheten über Christus geschrieben haben. Genau so wenig wie auf dem Weg nach Emmaus (Lk 24,44-47) und bei der letzten Unterweisung der Jünger vor der Himmelfahrt Jesu (Lk 25,44-47) verweist Lukas hier auf präzise Stellen. Seine Aussage lautet: Von Ostern her sind die Leiden und die Auferstehung Jesu als Erfüllung der Schrift zu verstehen. Die Schrift ist als Christuszeugnis zu lesen. Lukas 18,31-33 (31) Siehe, wir gehen nach Jerusalem hinauf, und es wird alles vollendet werden, was durch die Propheten geschrieben worden ist über den Menschensohn. (32) Denn er wird den Heiden ausgeliefert und verspottet und misshandelt und bespuckt werden. (33) Und, gepeitscht, werden sie ihn töten, und am dritten Tag wird er auferstehen. Die Passionsankündigungen in den synoptischen Evangelien 41 <?page no="42"?> Die Passionsankündigungen haben programmatischen Charakter. Sie bieten noch keine Deutung des Todes und der Auferstehung Jesu, aber kündigen sie an und bereiten die Darstellung der Passionsgeschichte vor. Trotz der Parallelität der Konstruktion (die drei Passionsankündigungen geben den Rhythmus des Weges Jesu nach Jerusalem an) und trotz der inhaltlichen Gemeinsamkeiten der synoptischen Texte führen sie in drei verschiedene Interpretationen des Todes Jesu ein: Auf der Basis eines parallelen Handlungsablaufs und gemeinsamer Stoffe bieten die Redaktionen der synoptischen Evangelien drei profilierte Versuche, die Bedeutung des Todes Jesu zu verstehen. 42 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="43"?> 1 Der Tod Jesu im Markusevangelium 1.1 Markus 8,31-38; 10,45; 14,22-25 und die Passionsgeschichte Als der zweite Schriftsteller des frühen Christentums - der erste ist Paulus - hat Markus das Evangelium in der Form einer dramatischen Erzählung der Verkündigung, der Selbsthingabe und der Auferstehung Jesu konzipiert. Darin liegt seine literarische, aber auch seine theologische Bedeutung. Die Bearbeitung der Überlieferungen und Traditionen in einer Darstellung, die Stoffe auswählt, sie zwischen einem Anfang und einem Ende in einen sinngebenden Kontext einordnet und ihnen dadurch eine gewisse Eindeutigkeit verleiht, setzt eine individuelle und klare Interpretation voraus. Der Versuch, nach dem Markusevangelium die Bedeutung des Todes Jesu zu verstehen, konzentriert sich auf einige zentrale Stellen: - Das Ende und das Ziel der gesamten Erzählung ist die Geschichte der Kreuzigung, desTodes und der Auferstehung Jesu (Mk 15,21-41 und 16,1-8). - Der zentrale „ Knoten “ des Evangeliums, auf den die Szene der Kreuzigung und die Osterbotschaft zurückverweisen, ist der Dialog, der der ersten Passionsankündigung folgt (Mk 8,31-32 und 8,33-37). Zwei weitere Interpretationen, in denen Jesus selbst seinen Tod deutet, sind die Selbsthingabe seiner Seele als Lösegeld (Mk 10,45) und die Deutungsworte des Abendmahls (Mk 14,22-25). 1.1.1 Die Osterbotschaft als Anfang des Evangeliums Das Markusevangelium verkündigt einen Anfang, den es als Anfang der guten Nachricht Gottes vorstellt (Mk 1,1). Die gute Nachricht besteht in der Verheißung der Herrschaft Gottes über die Gegenwart ( „ Die Zeit ist erfüllt, und die Gottesherrschaft ist nahe geworden “ , Mk 1,15 a) und in der Einladung, sich zu verändern und das Vertrauen auf Gott und seine Gegenwart zu setzen ( „ Verändert euer Denken und habt Vertrauen zum Evangelium! “ , Mk 1,15 b). Die Zusammenfassung der Worte und Taten Jesu in dem Ereignis eines Anfangs folgt aus einer Vision, die die gesamte Lebensgeschichte Jesu von seinem Tod und seiner Auferstehung her betrachtet. Die dramatische Gestaltung der Erzählung lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf die zentrale Bedeutung des Todes und der Auferstehung Jesu. Tod und Auferstehung sind der Schlüssel für das Verständnis des Weges Jesu. Auffällig ist die zielgerichtete Verlangsamung der Erzählung: Eine unbestimmte Zeit der Predigt in Galiläa wird in Mk 1 - 10 zusammengefasst, während sich die zweite Hälfte der Erzählung auf die letzten Tage in Jerusalem, auf Passion, Tod und Auferstehung Jesu konzentriert (Mk 11, 43 <?page no="44"?> 1-16,8). Mk 11 - 13 (114 Verse) berichtet über die drei ersten Tage (Mk 11, 12.13.19.27), die Jesus zusammen mit seinen Jüngern in Jerusalem verbringt, und Mk 14,1-16,8 schildert die letzten anderthalb Tage: Abendmahl, Gethsemani, Verhaftung, Prozess, Kreuzigung, Tod, Begräbnis und Auferstehung (127 Verse). Auffällig sind in diesem Zusammenhang die Prolepsen, die im Lauf der Erzählung auf den Tod (Mk 3,6; 10,39.45; 14,23-25), auf die Auferstehung (Mk 9,9; 14,28) und auf Tod und Auferstehung Jesu (Mk 8,31-33; 9,30-32; 10,32-34) verweisen. Die Osterberichte beschränken sich (in der kurzen, älteren Fassung des Markusevangeliums) auf die Inszenierung (Mk 16,1-5), die Verkündigung (Mk 16,6-7) und die Auswirkung der Osterbotschaft (Mk 16,8). Die Hauptaussage ist, dass Jesus von Nazareth als der Gekreuzigte lebt. Sodann bestätigt die Osterbotschaft die Verheißung, dass der auferstandene Gekreuzigte den Jüngern nach Galiläa vorausgehen wird (Mk 16,7 = Mk 14,28). Jesus kann nicht im Grab liegen, weil er in Galiläa auf die Jünger wartet. Die Aussendung nach Galiläa ist gleichzeitig Prolepse auf eine nicht erzählte Erscheinung des Auferstandenen und Rückblick auf Mk 1 - 9 als auf die Zeit, in der sich der Auferstandene im Weg des irdischen Jesus offenbart hat. 1.1.2 Kreuzigung und Tod Jesu als Offenbarung Gottes Der Bericht der Kreuzigung und des Todes Jesu ist das Drama der Offenbarung Gottes (Mk 15,20 b-39). Die markinische Erzählung setzt sich aus vier Elementen zusammen: - Ein lapidarer, fast telegrafischer Bericht reiht die Ereignisse kommentarlos mit „ und “ aneinander. - Die drei Momente der Kreuzigung, der Verdunkelung des Himmels und des Todes Jesu werden auf die drei Uhrzeiten der dritten, der sechsten und der neunten Stunde bezogen (9.00 Uhr in Mk 15,15, 12.00 Uhr und 15.00 Uhr in Mk 15,33). - Anspielungen und Zitate aus Klagepsalmen deuten den Tod Jesu als Leiden des Gerechten Gottes (Ps 69,22 in Mk 15,23.36, Ps 22,8 in Mk 15,29 und Ps. 22,2 in Mk 15,34). Die theologische Interpretation des Markusevangeliums besteht im Verweis auf den Spott der Spaziergänger, der Hohenpriester und Pharisäer sowie der Mitgekreuzigten über das „ Tempelwort “ Jesu, mit dem Jesus seine Auferstehung ankündigt ( „ in drei Tagen “ , Mk 15,29 und 14,58). Zugleich verweist das Evangelium auf das Zentrum der Lehre Jesu (Mk 15,30-32 und Mk 8,34-38): Markus 15,29-32 (29) Und die Spaziergänger lästerten ihn, den Kopf schüttelnd und sagend: „ Ha, der du den Tempel niederreißt und in drei Tagen aufbaust, 44 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="45"?> (30) steige vom Kreuz herab und rette dich selbst. “ (31) Ebenso sagten die Hohenpriester, zusammen mit den Schriftgelehrten untereinander spottend: „ Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten. (32) Der Christus, der König Israels, steige jetzt vom Kreuz herab, damit wir sehen und glauben. “ Und die mit ihm Gekreuzigten verhöhnten ihn. Die ironische Aufforderung, Jesus möge vom Kreuz herabsteigen und sich selbst retten (Mk 15,29-32), kontrastiert mit der Einladung Jesu, auf Gott zu vertrauen (Mk 11,22), das eigene Kreuz auf sich zu nehmen und die Seele nicht dadurch zu verlieren, dass man sie retten will (Mk 8,34-35). Die Darstellung des Markusevangeliums gibt dem Leser zu verstehen, dass die Hohenpriester und Schriftgelehrten hätten sehen sollen, dass Jesus darauf verzichtet, vom Kreuz herabzusteigen und seine Seele zu retten. Gerade deshalb hätten sie glauben sollen. Markus 8,34-38 (34) Und nachdem er die Leute mit seinen Jüngern herangerufen hatte, sagte er zu ihnen: „ Wenn jemand mir nachfolgen will, verleugne er sich selbst, und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir! (35) Denn wer seine Seele retten will, wird sie verlieren; wer seine Seele verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen wird sie retten. (36) Denn was nützt es einem Menschen, die ganze Welt zu gewinnen, und seine Seele zu verlieren? (37) Denn was wird ein Mensch geben als Tausch für seine Seele? (38) Denn wer sich meiner und meiner Worte schämt in diesem ehebrecherischen und sündigen Geschlecht, auch der Menschensohn wird sich dessen schämen, wenn er kommt in der Herrlichkeit seines Vaters mit den heiligen Engeln “ . Die Ironie, mit der das Markusevangelium das negative Bekenntnis der Spaziergänger (Mk 15,30), Hohenpriester, Schriftgelehrten (Mk 15,31-32 a) 1 Der Tod Jesu im Markusevangelium 45 <?page no="46"?> und der Mitgekreuzigten (Mk 15,32 b) darstellt, erklärt Bedeutung und Sinn des Todes Jesu. Jesus baut den neuen Tempel auf (Mk 15,30 = Mk 14.59), indem er sein Vertrauen auf seinen Vater setzt und nicht vom Kreuz herabsteigt. Er rettet sich selbst (Mk 15,31 = Mk 8,34-38), indem er seine Seele als Geschenk Gottes empfängt und dahingibt. Als Folge des Todes Jesu zerreißt der Vorhang des Tempels (Mk 15,38). Die symbolische Bedeutung dieses Motivs wird im Markusevangeliums durch die Szene der Tempelreinigung vorbereitet (Mk 11,15-18). Der zerrissene Vorhang gibt dem Tempel seine vom Evangelium als ursprünglich erklärte Funktion zurück, indem er ihn als Haus des Gebets für die universale Menschheit öffnet ( „ für die Völker “ , Mk 11,17). Die Trennung zwischen „ heilig “ und „ profan “ wird aufgehoben und durch die neue, für jeden einzelnen relevante Unterscheidung von Unglauben und Gottvertrauen ersetzt. Der Hauptmann sieht, dass Jesus „ so verschied “ (Mk 15,39). Das heißt im Kontext des Markusevangeliums, dass Jesus seine Seele dahingab, ohne sie retten zu wollen, indem er vom Kreuz hinabgestiegen wäre. Der Hauptmann erkennt ihn als den wahren Gottessohn an und tritt als der Vertreter des Evangeliums hervor. Seine Stimme ( „ In Wahrheit war dieser der Sohn Gottes “ ) korrespondiert der Stimme Gottes, die Jesus als den „ geliebten Sohn “ vorgestellt (Mk 1,9-11) und verkündigt hatte (Mk 9,1-13). Der Tod Jesu erhält den Sinn einer doppelten Offenbarung: Jesus ist der Sohn Gottes, weil er auf Gott vertraut hat und seine Seele nicht retten wollte, und Gott ist der Vater, auf den die Jünger Jesu ihr Vertrauen setzen sollen (Mk 11,22: „ Habt Glauben an Gott! “ ). 1.1.3 Der Tod Jesu als Konfrontation des göttlichen und des menschlichen Denkens Die Ironie der Spaziergänger, Hohenpriester und Pharisäer, die Jesus lästern, und die Ironie des Markusevangeliums, die ihr Missverständnis offenbart, verweisen auf einen Konflikt der Interpretationen, der durch die Passionsankündigungen im Voraus gedeutet wird (Mk 8,31-33; 9.30 - 32; 10,32-34). Die erste Ankündigung des Todes Jesu erklärt nicht nur, dass der Menschensohn viel leiden, sterben und auferstehen wird, sondern auch, dass er es tun muss. Der Tod und die Auferstehung Jesu folgen einer Notwendigkeit: Markus 8,31-33 (31) Er fing an, sie zu belehren, dass der Menschensohn muss viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und von den Hohenpriestern und von den Schriftgelehrten und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen. Und er verkündigte das Wort offen. 46 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="47"?> (32) Und Petrus, ihn beiseite nehmend, fing an, ihn zu bedrohen. (33) Und, nachdem er sich umgedreht und seine Jünger angesehen hatte, bedrohte er Petrus und sagte: „ Geh hinter mich, Satan! Denn du denkst nicht die Dinge Gottes, sondern die der Menschen “ . Die Notwendigkeit des Sterbens Jesu ist im Markusevangelium weder rein anthropologisch noch rein theologisch begründet. Sie wäre rein anthropologischer Ordnung, wenn die Kreuzigung die immanente Folge menschlicher, moralischer oder politischen Ungerechtigkeit wäre, und sie wäre rein theologisch, wenn sie in einem geheimnisvollen Gottesplan vorherbestimmt worden wäre. Die Notwendigkeit des Todes und der Auferstehung Jesu ist jedoch gleichzeitig anthropologisch und theologisch oder, genauer formuliert, sie ergibt sich aus einer Konfrontation zwischen göttlichem und menschlichem Denken, die unvermeidlich ist, sobald das Evangelium verkündigt wird: - Die Notwendigkeit des Sterbens Jesu ist theologisch begründet: Jesus löst den Konflikt zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Denken durch die Verkündigung der Herrschaft Gottes über die Gegenwart aus. - Sie ist anthropologisch begründet: Bereits am Schluss der ersten Auseinandersetzungen Jesu mit den Schriftgelehrten und Pharisäern und den Johannesjüngern beschließen die Hohenpriester und Pharisäer, Jesus zu töten, weil er die Seelen lebendig mache (Mk 3,6). In der Fortsetzung der Erzählung können dann die Leser des Evangeliums verstehen, dass sich die Menschen über die Aussage ärgern, dass sie sich das Leben nicht selbst geben können: Die Evidenz des Evangeliums, dass dem Menschen seine Seele nicht gehört, ist dem Unglauben - dem menschlichen Denken - unerträglich. - Zugleich ist die Konfrontation wiederum theologisch begründet: In der Logik des göttlichen Denkens versucht Jesus nicht, den Tod am Kreuz zu vermeiden, sondern gibt seine Seele selbst dahin und offenbart dadurch die Wahrheit seiner Sendung. Markus fasst zusammen: Der Menschensohn ist gekommen, um sein Leben für viele dahinzugeben (Mk 10,45). Der Dialog zwischen Petrus und Jesus (Mk 8,32-33) begründet die Notwendigkeit des Leidens und Sterbens Jesu ( „ muss “ , Mk 8,31). Sie folgt aus dem universalen Konflikt zwischen dem Satan, der die Logik des menschlichen Denkens personifiziert, und dem göttlichen Denken (Mk 8,33). Das menschliche Denken besteht in der Vorstellung, die eigene Seele retten zu müssen. Doch gerade dadurch wird der Mensch seine Seele verlieren. Das göttliche Denken dagegen besteht im Vertrauen (Mk 11,22), in dem der Mensch die Seele dahingeben kann, wie es der Gottessohn tun wird, und sie - wie es die Stimme Gottes auf dem Berg der Verklärung angedeutet hatte (Mk 9,1-13) und wie es die Osterbotschaft verkündigen wird - dadurch rettet. 1 Der Tod Jesu im Markusevangelium 47 <?page no="48"?> Sowohl die Ankündigungen des Todes und der Auferstehung Jesu (Mk 8, 31-22; 9,30-32; 10,32-34) als auch die Darstellung der Kreuzigung und des Todes Jesu (Mk 15,31 b-41) interpretieren den Tod Jesu als die doppelte Offenbarung Gottes: - als die Offenbarung des Sohnes Gottes, der die Möglichkeit des Vertrauens auf Gott verkündigt und durch den Verzicht, seine Seele retten zu wollen, bezeugt, und - als die Offenbarung der Logik des menschlichen Denkens als des Widerstands gegen das göttliche Denken. Die Wundererzählungen, Dämonenaustreibungen und Heilungen Jesu beschreiben im Markusevangelium die tiefgreifende Veränderung von der existentiellen Haltung des menschlichen Denkens zur existentiellen Haltung des göttlichen Denkens. An zwei Stellen kommt die Möglichkeit dieses Systemwechsels diskursiv zum Ausdruck: - Jesus ist gekommen, „ um seine Seele als Lösegeld für viele zu geben “ (Mk 10,45). - Sein Blut ist als „ Blut des Bundes für viele “ vergossen worden (Mk 14,24). 1.1.4 Der Menschensohn ist gekommen, um seine Seele als Lösegeld zu geben Nach der ausdrücklich soteriologischen Deutung des Todes Jesu im Markusevangeliums ist der Menschensohn gekommen, um seine Seele als Lösegeld für viele dahinzugeben (Mk 10,45). Markus 10,41-45 (41) Als die Zehn es hörten, fingen sie an, sich über Jakobus und Johannes zu ärgern. (42) Und Jesus, der sie zu sich gerufen hat, sagt zu ihnen: „ Ihr wisst, dass die, die die Völker zu regieren scheinen, ihre Macht über sie ausüben und dass die Großen unter ihnen über sie Gewalt üben. (43) So ist es nicht in und unter euch, sondern wer groß unter euch werden will, werde euer Diener, (44) und wer unter euch der Erste sein will, werde der Knecht aller. (45) Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um bedient zu werden, sondern um zu dienen und seine Seele als Lösegeld für viele zu geben “ . Die Vorstellung des Lösegelds gehört zu einer sozialökonomischen Welt: Eine bestimmte Geldsumme (lateinisch: peculum) war der Betrag, mit dem ein Sklave seine Freiheit von seinem Besitzer erkaufen konnte. 48 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="49"?> Im übertragenen Sinn der Metapher in Mk 10,45 sind wir die Sklaven ( „ für viele “ ist inklusiv und nicht exklusiv gemeint), der Menschensohn ist der Geldgeber, seine Seele, die er dahingibt, ist das peculum, und die bisherigen Besitzer, von denen wir befreit werden, sind im engeren Kontext die illusorische Hoffnung, die Seele durch Belohnungen (Mk 10,35-40) oder durch das Ausspielen vermeintlicher Machtverhältnisse (Mk 10,42) zu retten. Im weiteren Kontext des Evangeliums personifizieren Satan (Mk 1,12-13; 8,33) und die Dämonen, bei denen Menschen Zuflucht suchen (Mk 1,23-28; 5,1-20; 7,24-30; 9,14-29), das menschliche Denken (Mk 8,33) als Macht, mit deren Hilfe der Mensch hofft, seine Seele retten zu können, und von der er abhängig wird. Jesus ist gekommen, um uns von den Mächten des menschlichen Denkens zu befreien, die uns gefangen halten: von der Versklavung durch uns selbst und von unserer Selbstbezogenheit. Im Zusammenhang des Markusevangeliums ist das christologische Bekenntnis, dass Jesus gekommen ist, um zu dienen und seine Seele als Lösegeld für viele zu geben (Mk 10,45), die Ergänzung des anderen programmatischen Satzes, dass er gekommen ist, um die Sünder - und nicht nur die Gerechten - zu sich zu rufen (Mk 2,17). Drei Gedanken werden miteinander verbunden: - Das Kommen Jesu hat seinen Sinn in der Befreiung und Veränderung der Menschen, zu denen er gesandt worden ist. Der Begriff der „ Sünder “ (Mk 2,17) und die Erwähnung der „ Vielen “ betonen die Bedingungslosigkeit und die Universalität seines Auftrags. - Die therapeutische Wirkung der Lehre und der Wunder Jesu besteht in der Erlösung von den Abhängigkeitsverhältnissen, die die Menschen als „ Besessene “ und „ Sünder “ mit Mächten hergestellt haben, von denen sie hofften, Identität und Rettung zu bekommen. Die universale Einladung, den Willen, die Seele zu retten, aufzugeben, um sie als Geschenk zu empfangen und dadurch zu retten, ermöglicht die Veränderung der Einstellung des Subjekts zu sich selbst: Gott ist nahe, sodass es Zeit ist, im Vertrauen auf ihn - und nicht im Vertrauen auf sich selbst oder auf die Dämonen - zu leben (Mk 1,14-15; 11,22). - Jesus gibt seine Seele als Lösegeld für die Menschen, indem er den Preis für die befreiende Kraft des Evangeliums bezahlt: Er muss sterben, weil die Möglichkeit der Befreiung die Ängste und Widerstände des menschlichen Denkens auslöst (Mk 3,6; 8,31), und er gibt seine Seele dahin, weil jeder, der seine Seele um des Evangeliums willen und aus Vertrauen auf Gott verliert, sie gewinnen wird (Mk 8,34-38). 1.1.5 Das Blut des Bundes Die zweite ausdrücklich soteriologische Deutung des Todes Jesu findet sich bei Markus in den Einsetzungsworten des Abendmahls (Mk 14,22-25). Der Kontext stellt die letzte Tischgemeinschaft Jesu als Passamahl dar (Mk 14, 12-21). 1 Der Tod Jesu im Markusevangelium 49 <?page no="50"?> Markus 14,22-25 (22) Und als sie aßen, nehmend Brot, nachdem er den Segen gesprochen hatte, brach er es und gab es ihnen und sagte: „ Nehmt! Dies ist mein Leib. “ (23) Und nehmend einen Kelch, nachdem er das Dankgebet gesprochen hatte, gab er ihn ihnen, und sie tranken daraus, alle. (24) Und er sagte ihnen: „ Das ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird. (25) Wahrlich sage ich euch, dass ich von der Frucht des Weinstocks nicht mehr trinken werde, bis zu jenem Tag, wenn ich davon neu trinken werde im Gottesreich “ . Der Vergleich der Einsetzungsworte mit der parallelen Fassung, die Paulus im 1. Korintherbrief ausdrücklich als eine ihm bereits überlieferte Tradition zitiert ( „ Ich habe vom Herrn bekommen, was ich euch weitergegeben habe “ , 1 Kor 11,23-25), lässt vermuten, dass auch das Markusevangelium in christlichen Gemeinden bekannte Formulierungen einarbeitet. Eine eindeutige Unterscheidung zwischen vormarkinischen Motiven und markinischen Interpretamenten lässt sich aber kaum begründen: Die markinische Redaktion ist im Zusammenhang des gesamten Evangeliums zu lesen. Die Einsetzungsworte unterscheiden zwei Momente: Die erste symbolische Geste besteht im Brechen und Geben des Brotes, das Jesus nach dem Segen genommen hat (Mk 14,22). Die zweite Geste besteht in der Danksagung, im Nehmen und Geben des Kelches, aus dem alle anwesenden Jünger trinken, in der Deutung des Kelches als Blut des Bundes (Mk 14,23) und in einer Erklärung Jesu, die gleichzeitig auf seinen Tod und auf das Gottesreich verweist (Mk 14,24). Die zweite Geste ist keine bloße Wiederholung der ersten, sondern ihre Begründung. Die Gemeinschaft, die durch das Brechen und Geben des Brotes entsteht, gründet auf dem Bund, den der Kelch symbolisiert. Der Bund wird dadurch geschlossen, dass Jesus seine Seele dahingeben wird, wie er den Jüngern das Brot und den Kelch reicht. Die beiden symbolischen Handlungen des Nehmens und Gebens des Kelches und des Trinkens aus dem Kelch deuten den Tod Jesu als Offenbarung des Bundes Gottes. Auffällig ist, dass Markus von keinem „ neuen “ Bund spricht, wie es die von Paulus übernommene ältere Formulierung tut, sondern vom Bund generell. An Stelle eines Verweises auf den alttestamentlichen Bund, dem ein „ neuer Bund “ gegenübergestellt würde (Jer 31,31-33; 1 Kor 11,23-26), wird bereits der Anfang des Evangeliums (Mk 1,1), in dem die verändernde Kraft Gottes deutlich wird (Mk 1,14-15), als „ der “ Bund gekennzeichnet. Worin besteht der Bund? Er besteht in der Verkündigung der Gottesherrschaft, das heißt in der Verheißung der Herrschaft Gottes über die Gegenwart und in der daraus folgenden Aufforderung, auf Gott zu vertrauen.(Mk 1,14-15). Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang der Tod Jesu? Er wird als Beglaubigung des Bundes des gegenseitigen 50 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="51"?> Vertrauens zwischen Gott und Mensch interpretiert, der mit „ vielen “ geschlossen wird. Die Metonymie (der übertragene Gebrauch eines Begriffes) des Blutes verweist auf die Notwendigkeit des Todes Jesu, auf die Konfrontation des göttlichen Denkens mit dem menschlichen Denken und auf die Freiheit des Sohnes, seine Seele im vollen Vertrauen auf den Vater dahinzugeben. „ Für viele “ ist wie in Mk 10,45 inklusiv und nicht exklusiv gemeint. Die Symbolik des „ Blutes des Bundes “ deutet den Tod Jesu als den Preis - das Lösegeld (Mk 10,45) - für den Bund, den Gott durch die Verkündigung seiner befreienden Gegenwart und durch die Aufforderung, dem Evangelium zu glauben (Mk 1,14-15), schließt. Durch den Begriff des Bundes wird der Verzicht des Sohnes, die Seele retten zu wollen und vom Kreuz herabzusteigen (Mk 15,30-32), als die Gabe Gottes interpretiert, die die Wahrheit des Evangeliums am Kreuz offenbart (Mk 15,30-32/ / Mk 8,34-37). Der Bund und die Einladung zum Vertrauen auf Gott geben die Möglichkeit einer doppelten Teilhabe: am Vertrauen des Sohnes - das Brot symbolisiert seinen Leib (Mk 14,22) - und an der Gemeinschaft der Heiligen. Die Interpretation des Evangeliums als des Bundes, den Gott mit der gesamten Menschheit schließt, ist mit der Verheißung verbunden, gemeinsam mit Jesus in der Gottesherrschaft vom neuen Wein zu trinken. Damit ist zunächst die nachösterliche Gemeinschaft mit dem Auferstandenen (Mk 16,7) und dann das endzeitliche Kommen des Menschensohns (Mk 13) im Blick. Der Bund, der zwischen Gott und der universalen Menschheit besiegelt wird, stellt nicht eine Möglichkeit der Sinngebung der Existenz unter anderen Möglichkeiten dar, sondern „ die “ Wahrheit vor Gott und in Ewigkeit. Im Zusammenhang des Markusevangeliums bedeutet die Deutung des Todes Jesu als „ Blut des Bundes “ die Wirklichkeit der Befreiung. Der Systemwechsel, den das Subjekt vollzieht, ist im Vertrauen Jesu Wirklichkeit geworden. Der Tod Jesu bewirkt als Kraft der Veränderung im Subjekt des Menschen den Übergang von den menschlichen Gedanken zu den göttlichen Gedanken. 1.2 Als Kontrapunkt: Anselm von Canterbury, Cur Deus homo Die markinische Deutung des Todes Jesu als Selbsthingabe des Sohnes Gottes, der seine Seele „ für viele “ dahingegeben hat, fand ihre systematische Weiterführung bei Anselm von Canterbury. Sein Traktat „ Cur Deus homo “ (Warum Gott Mensch wurde) hat die westliche Theologiegeschichte lange geprägt. Der Traktat hat keinen exegetischen Charakter. Sein Anliegen ist ein anderes: Im Zusammenhang des philosophisch-spekulativen Denkens des Mittelalters definiert Anselm den Tod Jesu als das wesentliche Moment der Versöhnung Gottes mit den Menschen, um auf dieser Grundlage für Gläubige und Ungläubige die notwendige Wahrheit des christlichen Glaubens plausibel zu machen. Das Wesen der christlichen Botschaft besteht für ihn in dem einzigen Ereignis, das die Menschheit von ihrer Schuld erlösen konnte: in der Selbsthingabe des menschgewordenen Gottes. 1 Der Tod Jesu im Markusevangelium 51 <?page no="52"?> Der Entwurf Anselms stimmt mit dem Markusevangelium in dem Versuch überein, die christliche Botschaft und das Christentum von der absoluten Singularität des Todes Jesu her zu verstehen und den notwendigen und ausreichenden Charakter dieses Todes für die Erlösung der Menschheit aufzuzeigen. Beide Ansätze verbinden: - die Interpretation des Todes Jesu als Zentrums des christlichen Glaubens, - das Bekenntnis des erlösenden Charakters des Todes Jesu, - die Interpretation des Todes Jesu als Selbsthingabe des Sohnes, - die Deutung dieser Selbsthingabe mit Begriffen der Logik. 1.2.1 Der Versuch, den Glauben rational zu verstehen Die Aussagen des Markusevangeliums, dass Jesus sterben musste (Mk 8,31) und mit seinem Tod am Kreuz sein Leben als „ Lösegeld für viele “ dahingegeben hat (Mk 10,45), wurde von Anselm aufgenommen, weiterentwickelt und systematisiert. Anselm unternimmt in seinem Traktat den Versuch, die Notwendigkeit der Menschwerdung und des Todes Jesu rational zu beweisen. Die Beweisführung soll nicht nur Christen, sondern auch Nichtchristen überzeugen. Sie nimmt die Form eines Dialogs mit einem fiktiven Gesprächspartner, Anselms Schüler Boson, an. Mit wenigen Prämissen, denen auch Juden und Moslems zustimmen können (die Welt als Schöpfung, der eine Gott, die Verfallenheit der menschlichen Natur an die Sünde und die Bestimmung des Menschen zur Seligkeit) unternimmt es Anselm, mit den Mitteln der formalen Logik (probat rationibus necessariis) nachzuweisen, dass eine Rettung der Menschheit ohne Christus unmöglich ist. Er begründet seine Thesen weder exegetisch noch historisch und argumentiert auch nicht mit einer Kontingenz der Geschichte Jesu und der Schrift, sondern allgemein mit einer Kette notwendiger kausaler Verbindungen (ex necessitate, ratione), um herauszuarbeiten, dass eine Rettung der Menschen ohne Christus denkunmöglich ist. Anselm wurde 1033 oder 1034 in Aosta geboren, reiste früh durch Burgund und Frankreich, legte 1060 die Mönchsgelübde ab und wurde 1063 Prior eines Klosters in der Normandie, das enge Kontakte nach England pflegte. Seit 1070 Erzbischof von Canterbury kämpfte er im Investiturstreit für die Unabhängigkeit der Kirche von König und Adel. Er starb 1109. Neben Gebeten und Meditationen hat Anselm zahlreiche Traktate verfasst. 1 Bereits das „ Monologion “ (Selbstgespräch), 1076, und das „ Proslogion “ (Anrede), 1077 - 78, das ursprünglich den bezeichnenden Titel „ Fides quaerens intellectum “ trug, widmeten sich der Aufgabe, den Glauben rational zu 1 Zwischen dem Proslogion und Cur Deus homo erschienen: De grammatico; De veritate arbitrii (1080 - 1085? ), De casu diaboli (1085 - 1090? ) und Epistola de incarnatione verbi (1ß02 - 1094). Nach Cur Deus homo folgten: De conceptu virginali et de originali peccato (1099 - 1100); De processione Spiritus Sancti (1102); Epistola de sacrificio azymi et fermentati, De sacramentis ecclesiae (1106 - 1107) und De concordia (1107 - 1108). 52 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="53"?> verstehen und für die Vernunft durch ontologische Beweise der Existenz Gottes einleuchtend zu begründen. Zusammen mit dem Spätwerk „ Cur Deus homo “ (1094 - 1098) sind diese Schriften als Anselms geistiges Vermächtnis anzusehen. Mit diesen bedeutenden Werken wurde er der „ Vater der Scholastik “ . Die Bedeutung der Schrift „ Cur Deus homo “ liegt in der systematischen und logischen Entfaltung eines soteriologischen Verständnisses der Menschwerdung und des Todes Jesu als der stellvertretenden Genugtuung Gottes für die Sünden der Menschheit. Menschwerdung und Tod Jesu bilden für Anselm die zentralen Momente einer Heilsökonomie. Die sündige Menschheit ist zwar fähig, Reue zu empfinden (contritio cordis) und ihre Schuld zu bekennen (confessio oris), aber nicht, die verletzte Ehre Gottes durch Genugtuung (satisfactio operis) wiederherzustellen. Nur Jesus Christus als der menschgewordene Gott ist in der Lage, die notwendige Genugtuung stellvertretend für die Menschheit zu leisten. Man kann Anselms Gedankengang so zusammenfassen: In Christus hat Gott sein Leben als Lösegeld dahingegeben. Gott hat uns gerettet, indem er sich an unserer Stelle für die Erfüllung des Gotteswillens geopfert hat. 1.2.2 Die stellvertretende Genugtuung In „ Cur Deus homo “ 2 geht Anselm von der Prämisse aus, dass die Botschaft von der Versöhnung des Menschen mit Gott durch den Kreuzestod Jesu Christi wahr ist. Jede Wahrheit muss jedoch nach Anselm denknotwendig sein. Sonst kann sie nicht verstanden werden. Also muss auch für das Versöhnungswerk Christi am Kreuz die Denknotwendigkeit nachgewiesen werden. Dazu bedient sich Anselm eines ontologischen Arguments: Wir können nur dann etwas als Gott bezeichnen, wenn wir nichts anderes denken können, das größer wäre. Etwas Größeres als Gott können wir aber nicht denken (id quo maius cogitari nequit). Die Argumentation erfolgt unter dieser gedanklichen Voraussetzung in folgenden Schritten: - Es ist denknotwendig, dass die von Gott geschaffenen und mit Vernunft begabten Menschen den göttlichen Willen tun sollen. - Die Menschheit hat jedoch durch ihre Sünde fundamental gegen den erklärten Willen Gottes verstoßen und damit das Ziel der Schöpfung, die Gemeinschaft mit Gott, verfehlt. Diese Sünde wird vererbt - hier folgt Anselm Augustin. - Die Sünde muss beseitigt werden. Das kann nach allgemeinen (vor allem auch germanischen) Rechtsgrundsätzen nur durch Bestrafung des Täters oder durch Genugtuung geschehen: „ Necesse est ut omne peccatum satisfactio aut poena sequator “ (Es ist notwendig, dass auf jede Sünde Genugtuung oder Strafe folgt). 3 2 Anselm von Canterbury, Cur Deus homo, lateinisch-deutsch, hg. von F. S. Schmitt, Darmstadt, 5. Aufl. 1993. 3 A. a. O. I, 15. 1 Der Tod Jesu im Markusevangelium 53 <?page no="54"?> - Der Mensch kann eine Genugtuung aber nicht leisten, weil er sich aus dem unseligen Zusammenhang der Sünde nicht selbst befreien kann. Seine Sünde ist zu schwer, weil sie die Ehre Gottes verletzt. Anselm gibt dem Leser angesichts möglicher Einwände zu bedenken: Nondum considerasti quanti ponderis sit peccatum (du hast noch nicht bedacht, wie schwer die Sünde wiegt). 4 Der Mensch ist satisfaktionsunfähig und muss folglich mit der Strafe der ewigen Verdammnis rechnen. - Um den Menschen vor seiner verdienten Strafe zu bewahren und um ihm das Ziel der Schöpfung, die Gemeinschaft mit Gott, neu zu ermöglichen, hat Gott in seiner unendlichen Güte die unumgängliche Genugtuung im Leiden und Sterben Jesu selbst geleistet. Die freiwillige, unschuldige Lebenshingabe Jesu Christi ist die Sühne für die Sünde der Menschen. Auch wenn dies ein Paradox ist, ist es rational verstehbar, weil eine andere Möglichkeit der Erlösung nicht vorstellbar ist. ist. Der Sinn der Menschwerdung Gottes in Jesus von Nazareth muss deshalb logisch zwingend in der stellvertretenden Genugtuung gesehen werden. Durch seine stellvertretende Genugtuung (satisfactio vicaria) im Leiden hat Christus ein unvergleichliches und unendliches Verdienst (meritum) erworben, dessen Heilsbedeutung darin besteht, dass es die Menschen aus ihrer Verfallenheit an die Sünde erlöst und allen Glaubenden die Gemeinschaft mit Gott neu ermöglicht. Anselm sieht die Mitte der göttlichen Sendung Jesu in seiner Passion. Er vertritt eine ausgesprochene Inkarnations- und Kreuzestheologie und versteht sie soteriologisch. Die notwendige Genugtuung durch das unschuldige Sterben Jesu Christi am Kreuz ist die Mitte seiner Theologie. 1.2.3 Fides quaerens intellectum Von seinem ontologischen Ansatz aus, der uns philosophisch nicht mehr nachvollziehbar erscheint, hat Anselm eindrucksvoll versucht, den Sinn des Leidens und Sterbens Jesu verstehbar auszusagen und die Leser seines Werkes auf dem Weg des Verstehens mitzunehmen. Diese Argumentation ist theologiegeschichtlich vor allem aus drei Gründen bemerkenswert: Im intellektuellen Rahmen der Scholastik arbeitet Anselm den Tod Christi am Kreuz als die notwendige Bedingung für die Erlösung des Menschen heraus. Die christliche Botschaft der Erlösung des Menschen durch den Tod des menschgewordenen Gottessohnes steht für Anselm nicht nur in keinem Widerspruch zu den durch die Vernunft erkennbaren Evidenzen, sondern ihr Wahrheitsgehalt ergibt sich zwingend nach den Erkenntnissen und Schlussfolgerungen der formalen Logik. Anselm stellt möglichen Zweifeln an der Wahrheit des christlichen Glaubens ein rationales Überzeugungssystem entgegen. Die Überlegenheit des Christentums, die er logisch begründen will, muss in einer wesentlichen 4 A. a. O. I, 21. 54 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="55"?> Aussage bestehen. Anselm sieht sie in der Bedeutung der Menschwerdung Gottes und des Todes Jesu als der Wiederherstellung des sachgemäßen Verhältnisses zwischen Gott und Mensch. Sein apologetisches Interesse veranlasst ihn, diese Kernaussage als vernünftig nachweisen zu wollen. Die soteriologische und christologische Argumentation Anselms betont sowohl die Unmöglichkeit, dass sich der Mensch selbst vor der ewigen Verdammnis retten kann, als auch die umsonst geschenkte Erlösung durch die Menschwerdung und Selbsthingabe des Gottessohnes am Kreuz. 1.3 Ertrag: Der Tod Jesu als Lösegeld - die Problematik der Theologie des stellvertretenden Opfers Christi Die Argumentation, die Anselm in „ Cur Des homo “ entfaltet, setzt weder den Text des Markusevangeliums noch eine darauf beruhende theologische Reflexion voraus. Der Dialog mit Boson nimmt zwar Bezug auf die Evangelien, unter anderem auf die Taufe Jesu (Mt 3,17) und das Gebet Jesu in Gethsemani (Mt 26,39.42). Es fällt jedoch auf, dass Anselm nie auf das markinische Motiv des Lösegelds oder Loskaufs (Mk 10,45; vgl. 1 Tim 2,6) verweist, um seine These exegetisch zu begründen. Die rationale Logik der Beweisführung und der Anspruch, nicht nur Gläubige, sondern auch Ungläubige und Zweifler zu überzeugen, schließen von vornherein die Verwendung von Schriftzitaten als Autoritätsargumenten aus. 1.3.1 Die Stellvertretung Jesu als theologiegeschichtliche Definition In der Theologiegeschichte des westlichen Christentums hat sich Anselms Interpretation des Todes Jesu durch ihre logische Konsistenz sehr lange Zeit durchgesetzt. Auch die Reformatoren und die reformatorischen Katechismen haben sie weitgehend übernommen, weil bei Anselm die zentrale Bedeutung des Kreuzestodes Jesu Christi als notwendiger und ausreichender Genugtuung gegenüber dem gerechten Gott jede Mitwirkung des Menschen an seiner Erlösung grundsätzlich ausschließt. Symptomatisch für die Rezeption dieses Deutungsmodells ist die Auslegung des zweiten Artikels des Apostolikums durch Martin Luther im Kleinen Katechismus (1529). Während im Apostolikum das Leiden Jesu unter Pontius Pilatus, die Kreuzigung, der Tod und der Hinabstieg in das Reich des Todes ohne Deutung nebeneinander aufgelistet werden, kommentiert Luther in seiner persönlich gehaltenen Erklärung den Tod Jesu als stellvertretendes Leiden und Sterben und deutet diese Stellvertretung als die Erlösung: „ Ich glaube, dass Jesus Christus, wahrhaftiger Gott, vom Vater in Ewigkeit geboren, und auch wahrhaftiger Mensch, von der Jungfrau Maria geboren, sei mein Herr, der mich verlornen und verdammten Menschen erlöset hat, erworben, gewonnen von allen Sünden, vom Tode und von der Gewalt des Teufels; nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem heiligen, teuren Blut und mit seinem unschuldigen Leiden und Sterben; damit ich sein eigen sei 1 Der Tod Jesu im Markusevangelium 55 <?page no="56"?> und in seinem Reich unter ihm lebe und ihm diene in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit, gleichwie er ist auferstanden vom Tode, lebet und regieret in Ewigkeit. “ 5 In dieser Formulierung oszilliert das christologische Zentrum zwischen zwei Vorstellungen, die assoziativ miteinander verbunden werden: der Vorstellung der Erlösung als eines Herrschaftswechsels und der Vorstellung der Erlösung durch eine Stellvertetung, die allerdings nicht, wie bei Anselm, die Funktion der Genugtuung, sondern der Sühne erfüllt. 6 - Ein erster Gedanke Luthers besteht in der Aufnahme der bei Markus stark betonten Vorstellung des Evangeliums als einer Befreiung von Mächten, die im Kleinen Katechismus als Tod und Teufel personifiziert werden. Indem Jesus Christus am Kreuz stirbt, ermöglicht er den Wechsel vom Machtbereich von Sünde, Tod und Teufel in den Machtbereich des Auferstandenen, in dem Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit herrschen. - Der zweite Gedanke findet in christologischen Formulierungen des 1. Petrusbriefs (1 Petr 1,18-19; 2,24) einzelne Bausteine für die Interpretation des Todes Jesu als eines stellvertretenden Opfers. Die Verbindung zwischen dem Tod Jesu und unserer Erlösung wird durch ein Äquivalent zu der markinischen Metapher des Lösegelds hergestellt. Christus hat unschuldig gelitten und ist unschuldig gestorben, „ damit ich sein eigen sei “ . Die logische Notwendigkeit ergibt sich aus der Entsprechung zwischen dem unschuldigen Leiden und Sterben Jesu Christi und der damit erworbenen Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit der Glaubenden. 7 Luthers Erklärung des zweiten Artikels des Apostolikums gehört zu einer theologischen Tradition, die den Tod Jesu von der philosophisch-theologischen Systematik Anselms in „ Cur Deus homo “ her versteht. Die Formulierungen verweisen auf Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen Anselms Gottesverständnis und dem Denken, das im Markusevangelium zu erkennen ist. 5 Vgl. BSLK 511. 6 In den Erläuterungen zum ersten und dritten Artikel hebt Luther in anderer Weise die bedingungslose Großzügigkeit der Barmherzigkeit Gottes und die umsonst geschenkten Gaben des heiligen Geistes hervor. 7 Auch der Heidelberger Katechismus hat die Satisfaktionslehre Anselms übernommen. Die betont vorangestellte erste Frage „ Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben? “ geht von der Frage der Heilsgewissheit aus und antwortet, dass Jesus Christus „ für alle meine Sünden vollkommen bezahlt hat “ . In der Erläuterung des Lehre von Gott dem Sohn werden in Frage 37 Tod und Leiden Jesu ganz ähnlich wie bei Luther interpretiert: „ Was verstehst du unter dem Wort ‚ gelitten ‘ ? Jesus Christus hat an Leib und Seele die ganze Zeit seines Lebens auf Erden, besonders aber an dessen Ende, den Zorn Gottes über die Sünde des ganzen Menschengeschlechts getragen. Mit seinem Leiden als dem einmaligen Sühnopfer hat er unseren Leib und unsere Seele von der ewigen Verdammnis erlöst und uns Gottes Gnade, Gerechtigkeit und ewiges Leben erworben. “ Vgl. Evangelisches Gesangbuch, Ausgabe für die Evangelische Kirche im Rheinland, die Evangelische Kirche von Westfalen und die Lippische Landeskirche, o. J. (EG), 1331, 1238. 56 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="57"?> 1.3.2 Diskontinuitäten Die entscheidende Diskontinuität zwischen der markinischen Interpretation des Kreuzes und der soteriologischen Systematik Anselms besteht im theologischen Verständnis der Selbsthingabe des Sohnes Gottes und in der Bedeutung der aus der Ökonomie und dem Strafrecht entlehnten Begriffe des Lösegelds und der Genugtuung. Sowohl Markus als auch Anselm setzen diese Begriffe als Interpretamente ein. Anselm versteht den Tod Jesu als Stellvertretung. Die Begleichung der menschlichen Schuld gegenüber Gott durch den Tod seines Sohnes stellt die Ehre Gottes wieder her. Für den Menschen bedeutet sie die Wiederherstellung der Gemeinschaft mit Gott und die Rettung vor der ewigen Verdammnis. Für Markus dagegen folgt der Tod Jesu logisch aus der befreienden Verkündigung des Evangeliums. Der Tod Jesu ist der unvermeidliche Preis, den der Gottessohn den Mächten zahlt, die die Menschen in der Situation der Blindheit, Taubheit und Besessenheit gefangen halten. Diese Aussage unterstreicht die Wahrheit der Verheißung, dass jeder, der seine Seele als Geschenk Gottes empfängt und dahingibt, sie rettet (Mk 8,34-38). Sie hat bei Markus einen paradigmatischen Charakter. Die markinische Metapher des Lösegelds interpretiert den Tod Jesu als die Machtergreifung der Herrschaft Gottes und als die in ihr begründete wechselseitige Anerkennung von Gott und Mensch. Der Tod Jesu befreit den Menschen in den Bereichen, die ihn vorher von Dämonen abhängig sein ließen und zur Verwechslung von Gott und Mensch geführt hatten, und symbolisiert und ermöglicht eine reale und in ihrer Bedeutung universale Veränderung. Er löst einen Systemwechsel aus, der durch die Selbsthingabe des Gottessohns exemplarisch beglaubigt wird. Bei Anselm bedeutet der Tod Jesu primär die Wiederherstellung der ursprünglichen Heilsordnung. Die Vorstellung einer notwendigen Wiederherstellung der Ehre Gottes, die die Argumentation Anselms leitet, und das markinische Verständnis des Todes Jesu als Anfang eines universalen Herrschaftswechsels lassen sich nicht harmonisieren. Die Gegenwart der Gottesherrschaft aktualisiert sich im Markusevangelium in der Verkündigung einer neuen Zeit, die eine fundamentale Veränderung des Denkens, nämlich den Übergang vom menschlichen Denken zum göttlichen Denken, ermöglicht. Der Tod Jesu bedeutet für Markus das Ende der Bestimmung der menschlichen Existenz durch das System von Ursache und Wirkung und damit die - menschlich-immanent unmögliche - tiefgreifende Veränderung von Seele und Körper: Blinde sehen, Taube hören und Besessene verhalten sich vernünftig. Diese Logik des umsonst geschenkten Evangeliums verträgt sich nicht mit der Prämisse Anselms, der die Bedeutung des Todes Jesu in ein rationales System von Ursache und Wirkung einordnet. Die Erkenntnis Gottes und die Erkenntnis des Menschen sind untrennbar miteinander verbunden. Diese anthropologisch-theologische Korrelation vertreten sowohl Anselm als auch Markus. Anselm argumentiert im Rahmen einer spekulativen Metaphysik, die Gott als Basis einer objektiven Weltordnung betrachtet, ein kosmisches Drama von Schöpfung und Sündenfall 1 Der Tod Jesu im Markusevangelium 57 <?page no="58"?> voraussetzt und die Erlösung als Wiederherstellung der ursprünglichen Weltordnung interpretiert. Dagegen beginnt das Markusevangelium mit der absoluten Singularität des Anfangs einer befreienden Gottesherrschaft. Markus steht für die Diagnose einer existentiellen Situation des Menschen und für die durch Kreuz und Auferstehung bestätigte universale Verkündigung Jesu, die den Menschen auffordert, sich durch Vertrauen auf Gott befreien zu lassen. Anselm denkt metaphysisch, Markus existentiell. 1.3.3 Der Tod Jesu als Systemwechsel Im Anschluss an die markinische Interpretation vertreten wir die Auffassung, dass der Tod Jesu als Einladung zum Vertrauen auf Gott zu verstehen ist. Der Glaube, der auf das im Tod Jesu am Kreuz zum Ausdruck kommende Vertrauen des Sohnes auf seinen Vater im Himmel seinerseits vertraut und dieses Vertrauen im eigenen Leben existentiell übernimmt, ist auf rationale oder metaphysische Erklärungsversuche wie die Satisfaktionstheorie Anselms nicht angewiesen und kann auf sie verzichten. Ein solcher Glaube bekennt mit Markus die absolute Singularität des Todes Jesu und seine paradigmatische Bedeutung. Er versteht die Kreuzigung Jesu als Offenbarung der Wahrheit und als Verheißung, die Seele als Geschenk Gottes zu empfangen und frei hinzugeben, weil niemand verlieren kann, was er nicht selbst besitzt. 58 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="59"?> 2 Der Tod Jesu im Matthäusevangelium 2.1 Matthäus 23,13-39 und die Passionsgeschichte Matthäus versteht den Tod Jesu in einem Zusammenhang, der sich nicht wie bei Markus an der Aufforderung zu glauben, sondern an dem sachgemäßen Verständnis des Willens Gottes orientiert. Tod und Auferstehung Jesu schließen eine kontroverse Auseinandersetzung über die Auslegung des Gesetzes ab, die Jesus und die Schriftgelehrten und Pharisäer einander gegenüberstellt: - Der Tod Jesu offenbart die „ Heuchelei “ der Schriftgelehrten und Pharisäer, die sich als falsche Propheten erweisen. - Die Theophanie vor dem leeren Grab offenbart den Sieg Gottes über den Tod (Mt 28,1-15). - Die Erscheinung des Auferstandenen vor seinen Jüngern bezeugt seine Herrschaft im Himmel und auf Erden (Mt 28,16-20). Unser Versuch, die Bedeutung und die Deutung des Todes Jesu bei Matthäus zu verstehen, konzentriert sich auf zwei zentrale Stellen: - auf das Ende der dramatischen Auseinandersetzung Jesu mit der „ Heuchelei “ : Die Geschichte der Kreuzigung ist die Passion des Wortes (Mt 27,39-44), - auf die Vorausdeutung des Todes Jesu in den Invektiven, in denen Jesus die „ Heuchelei “ der Schriftgelehrten und Pharisäern entlarvt (Mt 23, 13-36). 2.1.1 Das Evangelium als Offenbarung des göttlichen Willens Die Redaktion des Matthäusevangeliums bestand in der Erweiterung des Markusevangeliums durch die Voranstellung einer Kindheitsgeschichte (Mt 1 - 2) und durch den Einbau von neuen Redenstoffen, die zum Teil Matthäus und Lukas gemeinsam sind. Daraus ergaben sich eine andere Architektur des Evangeliums und eine neue theologische Kohärenz. Sie lassen ein eigenständiges Verständnis der Bedeutung des Todes Jesu erkennen. Der Struktur des Matthäusevangeliums liegt eine historische Logik zugrunde, die das Drama der Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Pharisäern inszeniert: Der Vorbereitung (Mt 1,1-4,11) und der Darstellung der Gerechtigkeit Gottes (Mt 4,12-11,1) folgen der hermeneutische Konflikt (Mt 11,2-16,12), die Unterweisung der christlichen Gemeinde (Mt 16,13-20,34) und die Ankündigung des Gerichts über Israel - über das pharisäische Judentum - und die Völker (Mt 21,1-25,46). In das Gerüst der Erzählung sind fünf Reden eingebaut: - Die Bergpredigt verkündigt die Gerechtigkeit Gottes (Mt 5 - 7). - Die Missionsrede definiert den Auftrag der Jünger (Mt 10). 59 <?page no="60"?> - Die Gleichnisrede erklärt das Unverständnis des pharisäischen Judentums (Mt 13). - Die vierte Rede strukturiert das Gemeindeleben (Mt 18). - Die eschatologische Rede stellt die Gegenwart unter die Perspektive der Verheißung der Gottesherrschaft und des Gerichts (Mt 24 - 25). Worte und Taten Jesu werden nicht einfach nebeneinander gestellt, obwohl die Redenstoffe überwiegend aus der Logienquelle stammen und der erzählerische Rahmen durch das Markusevangelium vorgegeben ist. Der innere Zusammenhang von Worten und Taten ist nicht nur im ersten Teil des Evangeliums (Mt 5 - 7: die Worte des eschatologischen Propheten; Mt 8 - 9: die Taten des eschatologischen Propheten; Mt 10: Worte und Taten der Jünger; Mt 11 bildet den Übergang zum zweiten Teil = Mt 12 - 16,12), sondern auch im Rahmen der Passionsgeschichte evident. Die Invektiven Jesu (Mt 23,13-39) sind die prophetische Ankündigung und Vorausdeutung seines gewaltsamen Todes. Vorbild für die matthäische Verknüpfung von Worten und Taten Jesu ist die prophetische Tradition, auf die das Evangelium explizit Bezug nimmt und mit deren Hilfe der hermeneutische Konflikt der Interpretationen zwischen Jesus und den Schriftgelehrten und Pharisäern erklärt wird. Zum einen erfüllt sich in Jesus die alttestamentliche Prophetie, wie es sowohl der Aufbau der Vorgeschichte (M 1 - 4) als auch die Erfüllungszitate ausdrücklich zeigen sollen. Zum anderen ist Jesus der Mittelpunkt der Auseinandersetzung über die wahre und die falsche Prophetie (vgl. Mt 16,12). Mit sachbedingter Ausnahme von Mt 18 enden alle Reden mit einem Verweis auf die Prophetie: Mt 7,15-27 warnt vor falschen Propheten. Mt 10,40-42 sendet die Jünger als Propheten aus. Mt 13,52-57 berichtet von der Ablehnung Jesu in seiner Heimat und definiert die Aufgabe der wahren Propheten. Die apokalyptische Vision in Mt 25,31-46 fasst Mt 23 - 25 zusammen. Für das Matthäusevangelium sind Christentum und Judentum keine schroff gegenüberstehenden Größen. Die Pharisäer und die Jünger Jesu bilden vielmehr zwei Schulen der jüdischen Auslegungstradition, die je ihre Schriftgelehrten haben (Mt 13,52; 23,34) und sich in einem Konflikt der Interpretationen befinden. Innerhalb der matthäischen Selbstdefinition des Christentums schließt der christliche Glaube die Zugehörigkeit zum Judentum keineswegs aus. Die beiderseitige Abgrenzungslinie besteht in der Gesetzesauslegung als Interpretation des Willens Gottes. 2.1.2 Die Passion des Wortes Die matthäische Darstellung der Kreuzigung und des Todes Jesu folgt im Wesentlichen der markinischen Vorlage. Ausnahmen bilden die Neuformulierung der Lästerungen des Gekreuzigten (Mt 27,39-44) und das neue Motiv der apokalyptischen Ereignisse, die den Tod Jesu kommentieren (Mt 27,51-54). Diese beiden Veränderungen verschieben die Perspektive der Erzählung und rücken neue Themen ins Zentrum: Die Geschichte der Kreuzigung und des Todes Jesu gestaltet sich als die Offenbarung der Gottessohnschaft Jesu, der als 60 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="61"?> der wahre Prophet des himmlischen Vaters erscheint (Mt 27,39-44 und 27, 51-54), und als der Sieg Gottes über den Tod (Mt 27,51-54 und 28,1-3). Die Invektiven Jesu gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer (Mt 23,13-39), die Matthäus der eschatologischen Rede und der Passionsgeschichte unmittelbar voranstellt und die den Tod Jesu ankündigen, liefern eine doppelte Erklärung des anthropologischen Grundes dieses Todes und der Bedeutung des Sieges Gottes in Tod und Auferstehung Jesu. Die Lästerungen der Spaziergänger, der Hohenpriester, Schriftgelehrten und Ältesten setzen sich nicht mit der existentiellen Haltung, die Jesus am Kreuz offenbart - er rettet seine Seele, indem er Gott vertraut und nicht vom Kreuz herabsteigt (Mt 15,29-32) - , sondern mit seiner Identität als Sohn Gottes auseinander: Matthäus 27,39-44 (39) Die Spaziergänger lästerten ihn, den Kopf schüttelnd, (40) und sagten: „ Der du den Tempel niederreißt und in drei Tagen aufbaust, rette dich selbst, wenn du der Sohn Gottes bist, und steige vom Kreuz herab! “ (41) Ebenso sagten die Hohenpriester, zusammen mit den Schriftgelehrten und Ältesten spottend: (42) „ Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten. Er ist der König Israels. Er steige jetzt vom Kreuz herab, und wir werden an ihn glauben! (43) Er hat sein Vertrauen auf Gott gesetzt, damit er ihn erlöse, wenn er ihn lieb hat. Denn er hat gesagt: Ich bin der Sohn Gottes “ . (44) Ähnlich verhöhnten ihn auch die Verbrecher, die mit ihm zusammen gekreuzigt waren- Die redaktionellen Motive, die Matthäus in die markinische Erzählung einfügt, verwandeln die Ironie in indirekte Bekenntnisse. In der ganzen Szene - bis zum Ruf von Psalm 22,2: „ Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? “ (Mt 27,46) - schweigt Jesus, während die Spaziergänger, Hohenpriester, Schriftgelehrten und Ältesten an seiner Stelle ununterbrochen reden. Der Konditionalsatz der Spaziergänger (Mt 27,40) „ Wenn du der Sohn Gottes bist . . . “ erinnert an die beiden ersten Versuchungen Jesu durch den Teufel (Mt 4,1-11; Mt 4,3 und 4,6), und das Zitat von Psalm 22,9 ( „ Er hat sein Vertrauen auf Gott gesetzt, damit er ihn erlöse, wenn er ihn lieb hat “ , Mt 27,43) klingt wie ein Echo der zweiten Versuchung: „ Seine Engel ruft er für dich herbei, und sie werden dich auf Händen tragen, damit dein Fuß nicht an einen 2 Der Tod Jesu im Matthäusevangelium 61 <?page no="62"?> Stein stoße “ (Mt 4,6 = Ps 91,11-12). Jesus hat zwar gesagt, dass er der Sohn Gottes ist (Mt 27,43), aber die Personen, die über ihn und für ihn reden, beschränken sich nicht auf die Wiederholung seiner Worte: Genauso wie der Teufel in der Versuchungsgeschichte nehmen sie ihn - wahrhaftig oder fingiert - beim Wort, sodass ihre ironische Anerkennung der Autorität Jesu die Form eines Bekenntnisses annimmt: „ Er ist der König Israels “ (Mt 27,42). Jesus schweigt, und die Menschen, die sich um ihn herum bewegen, sprechen an seiner Stelle. Die von Matthäus aufgebaute Parallelität zwischen der Versuchungs- und der Kreuzigungsgeschichte gibt für das Verständnis des Todes Jesu die notwendige Orientierung. Vor dem Kreuz ist nicht umstritten, ob Jesus der Gottessohn ist, sondern, was das bedeutet. Die Gottessohnschaft offenbart sich in der Weigerung Jesu, seine Autorität, den Willen Gottes auszulegen und Gottes Gerechtigkeit zu verkündigen, als Macht zu missbrauchen. Die klare Unterscheidung zwischen der wahren und der falschen Prophetie und zwischen der Gerechtigkeit und der „ Heuchelei “ lässt sich mit der Verwandlung von Steinen in Brot (Mt 4,4), mit der Instrumentalisierung Gottes (Mt 4,5-7), mit der Machtübernahme (Mt 4,8-19) und mit einem Abstieg vom Kreuz nicht vereinbaren. Das kosmisch-apokalyptische Beben, das das symbolische Zeichen des zerrissenen Vorhangs begleitet (Mt 27,51/ / Mk 15,38) und den Tod Jesu kommentiert (Mt 27,51-54), bereitet ein zweites Beben (Mt 28,2) und die Theophanie vor dem leeren Grab vor (Mt 28,2-3): Gott offenbart Jesus als seinen Sohn und kündigt seinen Sieg über den Tod an: Matthäus 27,51-54 (51) Und siehe, der Vorhang des Tempels riss entzwei von oben bis unten, und die Erde bebte, und die Felsen barsten, (52) und die Gräber taten sich auf, und viele Leiber entschlafener Heiliger wurden auferweckt. (53) Und, aus den Gräbern nach seiner Auferstehung herausgekommen, traten sie in die heilige Stadt ein und erschienen vielen. (54) Der Hauptmann und die, die mit ihm Jesus bewachten, als sie das Erdbeben sahen und was geschehen war, fürchteten sich sehr und sagten: „ In Wahrheit war dieser der Sohn Gottes! “ . Der Hauptmann erkennt nicht die Wahrheit, dass jeder, der seine Seele als Gabe empfängt und dahingibt, sie rettet, sondern die durch kosmische Zeichen offenbarte Gottessohnschaft Jesu. Die Oszillation der Zeit zwischen Tod und Auferstehung Jesu lässt bereits den Tod Jesu als den Sieg Gottes über den Tod erscheinen. Zu den Zeichen, die den Tod Jesu unmittelbar begleiten, gehört die Auferweckung vieler Heiliger 62 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="63"?> (Mt 27,52). Erst nach der Auferstehung Jesu verlassen sie ihre Gräber und erscheinen vielen in Jerusalem (Mt 27,53). Der Hauptmann sieht schon jetzt, was geschehen ist (Mt 27,54). 2.1.3 Die menschliche „ Heuchelei “ Die matthäische Deutung des Todes Jesu wird in den sieben Invektiven (Mt 23,13-36) und der sie abschließenden Klage über Jerusalem (Mt 23, 37-39) vorbereitet. Der dramatische Kontrast zwischen den Invektiven Jesu und seinem Schweigen in der Szene der Kreuzigung (Mt 27,39-44) stellt die beiden Seiten der Passion des prophetischen Wortes heraus. Die Wahrheit wird durch die Worte Jesu ausgesprochen und durch sein Schweigen - und indirekt durch die Worte der anderen - bekräftigt. Der Tod Jesu ist nichts anderes als die Bestätigung und die Verifikation seines Wortes. Die Menschen bringen Jesus um, weil sie nicht ertragen, dass sein Wort wahr ist, und bekennen gerade damit, dass es wahr ist. Matthäus findet in der deuteronomistischen Tradition des Geschicks der Propheten und speziell in der Person Jeremias das Vorbild für den logischen Zusammenhang zwischen dem prophetischen Wort und der Passion Jesu. Im Protest und im gewaltsamen Tod Jesu erfüllt sich die Geschichte der Propheten und Jeremias (Mt 2,17, 16,14; 27,9). Der Leidenschaft des Wortes (Mt 23,13-36) folgt die Passion des Wortes (Mt 27,39-44). Der Tod Jesu wird als Folge der Aufdeckung der „ Heuchelei “ der Schriftgelehrten und Pharisäer begriffen. Die Invektiven Jesu sprechen nicht gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer, sondern zu ihnen. Die Funktion der Invektiven besteht nicht in einer Disqualifizierung oder Verurteilung, sondern in der Veränderung. Die Rede Jesu nimmt eine Form an, die in Jes 5 vorlag. Eine Sammlung von Weherufen (Jes 5,8-23/ / Mt 23,13-33) endet mit einem Gerichtsurteil (Jes 5,24/ / Mt 23,34-36: „ deshalb “ ), das den angesprochenen Schriftgelehrten und Pharisäern nach Tod und Auferstehung Jesu eine neue Chance gibt: Zu ihnen werden Missionare geschickt werden (Mt 23,34-36). Die matthäischen Begriffe der „ Heuchler “ (Mt 6,2.5.16; 7,5; 15,7; 22,18; 23,13.29; 24,51) und der „ Heuchelei “ (Mt 23,28) sind weder subjektiv noch moralisch gemeint. Sie bezeichnen und offenbaren eine objektive Selbsttäuschung, die Mittel und Zweck verwechselt und die anderen Menschen ohne böse Absichten faktisch betrügt. Die Schriftgelehrten und Pharisäer sind überzeugt, die Gerechtigkeit Gottes zu verstehen und zu praktizieren. Sie sind jedoch „ Heuchler “ , weil sie 1. die Wahrheit verschleiern (Mt 23,13), sich 2. mit der Arroganz von Experten täuschen (Mt 23,15), 3. den Sinn ihres Tuns verloren haben (Mt 23,16-22), 4. die geistige Grundlage des menschlichen Lebens und der ethischen Verantwortung übersehen (Mt 23,23-24), 5. die subjektive Aufrichtigkeit und die Wahrheit vergessen (Mt 23.25 - 33), 6. einer technokratischen Illusion erliegen, indem sie die Mittel für den Zweck halten (Mt 23,27-28), und 7. Leben und Tod vertauschen und sich mit dem allen historisch und politisch betrügen: 2 Der Tod Jesu im Matthäusevangelium 63 <?page no="64"?> Matthäus 23,13-33 I. (13) Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, Heuchler, weil ihr die Himmelsherrschaft verschließt vor den Menschen! Ihr kommt nämlich nicht hinein und lasst die, die eintreten wollen, nicht hineingehen. II. (15) Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, Heuchler, weil ihr umherzieht über das Meer und das Festland, um einen einzigen Proselyten zu machen, und wenn er es geworden ist, macht ihr ihn zu einem Sohn der Hölle, doppelt so schlimm wie ihr. III. (16) Wehe euch, blinde Wegführer, die ihr sagt: „ Wer beim Tempel schwört, das ist nichts, wer jedoch beim Gold des Tempels schwört, der ist verpflichtet “ . (17) Toren und Blinde, was ist denn größer, das Gold oder der Tempel, der das Gold geheiligt hat? (18) Und: „ Wer schwört beim Altar, das ist nichts, wer jedoch beim Opfer schwört, das auf ihm ist, ist verpflichtet. “ (19) Blinde, was ist denn größer, das Opfer oder der Altar, der das Opfer heiligt? (20) Wer also beim Altar schwört, der schwört bei ihm und bei allem, was darauf ist. (21) Und wer beim Tempel schwört, der schwört bei ihm und bei dem, der ihn bewohnt. (22) Und wer beim Himmel schwört, der schwört beim Thron Gottes und bei dem, der auf ihm sitzt. IV. (23) Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, Heuchler, weil ihr die Minze verzehntet, den Dill und den Kümmel; doch das Schwerwiegendere des Gesetzes lasst ihr fahren: das Recht, die Barmherzigkeit und die Treue. Dies wäre aber nötig gewesen zu tun und jenes nicht zu lassen. (24) Blinde Wegführer, die ihr die Mücke aussiebt, das Kamel aber hinunterschluckt. V. (25) Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, Heuchler, weil ihr das Äußere des Bechers und der Schüssel reinigt, innen sind sie voll von Raub und Maßlosigkeit. 64 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="65"?> (26) Blinder Pharisäer, reinige zuerst das Innere des Bechers, damit auch sein Äußeres rein werde. VI. (27) Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, Heuchler, weil ihr geweißten Gräbern gleicht, die von außen zwar schön erscheinen, innen aber voll sind mit Totengebeinen und aller Unreinheit. (28) So scheint auch ihr von außen zwar den Menschen gerecht, innen aber seid ihr voll von Heuchelei und Gesetzlosigkeit. VII. (29) Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, Heuchler, weil ihr die Gräber der Propheten baut und die Grabmale der Gerechten schmückt (30) und sagt: „ Wenn wir gewesen wären in den Tagen unserer Väter, wären wir nicht ihre Teilhaber am Blut der Propheten geworden “ . (31) Damit bezeugt ihr euch selbst, dass ihr Söhne derer seid, die die Propheten getötet haben. (32) Auch ihr erfüllt nur das Maß eurer Väter. (33) Schlangen, Brut von Giftschlangen, wie wollt ihr dem Gericht der Hölle entfliehen? Die Schriftgelehrten und die Pharisäer werden nicht deshalb zu „ Heuchlern “ erklärt, weil sie anderes sagen oder tun, als sie denken, sondern weil sie anderes sagen und tun, als sie zu tun und zu denken meinen. Ihre „ Heuchelei “ bezeichnet keine subjektive Absicht, die Menschen in die Irre zu führen, sondern vielmehr die objektive Situation der Selbsttäuschung. Gegenstand des Zornes Jesu ist die Illusion, in der sich die „ Heuchler “ befinden. Sie besteht in einem falschen Verhältnis zu Gott, aber auch zu sich selbst, zu anderen Menschen und zum Ablauf der Geschichte. Sie äußert sich in einer doppelten Verneinung (Mt 23,29-33): - in einer zeitlichen Verneinung ( „ wenn wir in der Zeit unserer Väter gelebt hätten, hätten wir nicht . . . “ ) und - in einer örtlichen Verneinung ( „ wenn wir dort gewesen wären, hätten wir nicht . . . “ ). Diese doppelte Verneinung macht die tatsächliche Kontinuität der Schriftgelehrten und Pharisäer mit den Vätern aus, die die Propheten getötet haben. Sie erweisen sich als „ Heuchler “ , weil sie sich an einem anderen Ort und in einer anderen Zeit befinden, als sie selbst meinen. In Wahrheit werden sie Jesus ebenso töten, wie ihre Väter die Propheten getötet haben, und sie werden es wie ihre Väter aus der Überzeugung tun, die Gerechtigkeit Gottes und die wahre Prophetie gegen die falsche Prophetie zu vertreten. Die „ Heuchelei “ bildet eine Kontinuität der Selbsttäuschung, die Väter und Söhne miteinander verbindet. Sie findet ihren Ausdruck in der subjektiven Verneinung dieser Kontinuität. Deshalb gleichen die „ Heuchler “ geweißten Gräbern, die zwar von außen schön aussehen, innen aber voll mit Gebeinen und Unreinheit sind (Mt 23,27). 2 Der Tod Jesu im Matthäusevangelium 65 <?page no="66"?> Jesus stirbt als wahrer Prophet, indem er durch seinen schweigsamen Tod die Selbsttäuschung der Schriftgelehrten und Pharisäer erneut offenbart. Anders formuliert: Sein Tod offenbart jenen Tod, den die Verwechslung von wahrer und falscher Prophetie und von Gerechtigkeit und „ Heuchelei “ gleichzeitig verbreitet und verbirgt. 2.1.4 Der Tod Jesu als Unterscheidung von Gerechtigkeit und „ Heuchelei “ Die Unterscheidung zwischen Gerechtigkeit und „ Heuchelei “ macht den Zusammenhang der Invektiven (Mt 23,13-36) mit dem Tod Jesu deutlich. Sie steht als Programm bereits in der Mitte der Bergpredigt. Die Seligpreisungen derer, die die Gerechtigkeit suchen und der Gerechtigkeit wegen verfolgt werden (Mt 5,6.10), bereitet die Einladung zu einer Gerechtigkeit vor, die die Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer übertrifft (Mt 5,20) und sich von der Gerechtigkeit der „ Heuchler “ , die ihre Gerechtigkeit vor den Menschen tun (Mt 6,1), fundamental unterscheidet: Die Gerechtigkeit der Bergpredigt kann nur im Vertrauen auf die Großzügigkeit der Vorsehung des himmlischen Vaters gefunden werden (Mt 6,33). Das Matthäusevangelium definiert die „ Heuchelei “ als eine fehlgeleitete Form der Gerechtigkeit. Die Selbsttäuschung, die die Schriftgelehrten und Pharisäer zu falschen Propheten macht (Mt 23,13-36), ergibt sich aus der Verwechslung von Gott und den Menschen: Genauso wie die Gerechten geben die matthäischen „ Heuchler “ Almosen (Mt 6.2 - 4), beten (Mt 6,5-15) und fasten (Mt 6,16-18). Sie denken, es vor Gott zu tun, tun es aber vor den Menschen, um von ihnen gesehen und mit Anerkennung belohnt zu werden. Aus der Verwechslung folgt eine doppelte existentielle Fehlleistung: Die Gerechtigkeit als persönliche Anerkennung des himmlischen Vaters, der in das Verborgene sieht, verwandelt sich in die Suche nach öffentlicher und berechenbarer Belohnung des frommen Verhaltens: - Die Ich-Du-Beziehung zwischen Gott und Mensch und zwischen den Menschen wird in ein System des Tausches einbezogen. Dieses System instrumentalisiert die Personen. Die „ Heuchler “ denken wie die Heiden, dass viele Worte die Gebetserhörung sichern (Mt 6,5-8). - Die persönliche Beziehung, die auf der Anerkennung des Subjekts beruht, wird durch ein System untergraben, das bestimmte Eigenschaften des Menschen in den Vordergrund stellt. Die Unterscheidung zwischen Gerechtigkeit und „ Heuchelei “ definiert nicht Normen und Werte, aus denen praktische Empfehlungen abgeleitet werden könnten, sondern zwei existentielle Grundhaltungen: Die Gerechtigkeit besteht in der bedingungslosen Anerkennung der Personen, die „ Heuchelei “ dagegen - als unglückliche Variante der Suche nach Gerechtigkeit - in der Identitätsfindung aufgrund von Eigenschaften. Der matthäischen Gerechtigkeit und der „ Heuchelei “ der Schriftgelehrten und Pharisäer entsprechen kontradiktorische Vorstellungen von der Vollkommenheit (Mt 5,17-20 und 48). Der Abgrenzung aufgrund von Eigenschaften 66 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="67"?> (Nächste und Feinde, Mt 5,43; Brüder und Fremde, Mt 5,47) setzt Jesus die Vollkommenheit der universalen Fürsorge Gottes entgegen, der bedingungslos die Sonne über Böse und Gute aufgehen und es auf Gerechte und Ungerechte regnen lässt (Mt 5,45-46), der die Vögel des Himmels ernährt und die Blumen des Feldes schmückt (Mt 6,25-34). Die Einladung, Kinder des himmlischen Vaters zu werden, beruht auf der umsonst geschenkten Gerechtigkeit Gottes. Sie definiert Vollkommenheit als das Ende aller Vollkommenheitsideale. Die überreiche Gerechtigkeit (Mt 5,20) besteht in dem Übergang vom System des Tausches zum Geist des Vertrauens ( „ Ihr werden vollkommen sein wie euer himmlischer Vater vollkommen ist “ , Mt 5.48) und gründet sich auf die Übergroßzügigkeit der Vorsehung Gottes, die sich in der Schönheit der Schöpfung erkennen lässt. Sein Tod offenbart Jesus als den Gottessohn und den wahren Propheten, der Gesetz und Propheten - als Ausdruck des Willens Gottes nicht auflöst, wie es die „ Heuchler “ tun, sondern erfüllt: Jesus hat den Willen Gottes in der Intention des himmlischen Vaters ausgelegt und getan (Mt 5,17) - Jehan Calvin spricht in der „ Evangelien-Harmonie “ 8 (1555) von der Intention und dem Ziel des Gesetzgebers. Die gewaltsame Tötung Jesu enthüllt das Gewaltpotential der „ Heuchelei “ , die sich in der Verwechslung der Gerechtigkeit Gottes mit dem menschlichen System des Tausches und in der Selbsttäuschung der Schriftgelehrten und Pharisäer aktualisiert (Mt 23,13-36). Die Kommentare, die im Matthäusevangelium die Kreuzigung Jesu begleiten, und die Theophanie, die seine Auferstehung verkündigt, offenbaren die Wahrheit seines Wortes. 2.2 Als Kontrapunkt: Johann Sebastian Bach, Matthäuspassion In der Matthäuspassion gelingt es Johann Sebastian Bach (1685 - 1750), dem Leiden und Sterben Jesu eine ergreifende musikalische Form zu geben. Bach, zunächst als Organist in Mühlhausen und Weimar, dann als Hofkapellmeister in Köthen tätig, war seit 1723 Thomaskantor in Leipzig. Die Matthäuspassion dürfte das bekannteste Großwerk Bachs sein. Die autographe Partitur der Matthäuspassion bezieht sich auf die zweite und dritte Aufführung, die am 30. März 1736 in der Thomaskirche in Leipzig stattfand. Eine erste Fassung ist wahrscheinlich zunächst 1727 für die Karfreitagsliturgie komponiert worden. Die Matthäuspassion ist dann sicher 1729 gespielt worden. Das Werk besteht wie die Johannespassion aus zwei Teilen, zwischen denen die Predigt gehalten werden sollte. In der Johannespassion wird die Handlung nach der Verleugnung des Petrus (Joh 18,27) und vor dem Dialog Jesu mit Pilatus (Joh 18,28) unterbrochen, in der Matthäuspassion nach der Verhaftung Jesu (Mt 26,56) und vor dem Prozess (Mt 26,57). 8 Deutsche Übersetzung des lateinischen Textes: Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift, hg. von Otto Weber, Neue Reihe, Bd. 12, 1. und 2. Teil, Neukirchen-Vluyn 1965. 2 Der Tod Jesu im Matthäusevangelium 67 <?page no="68"?> Zwei Sequenzen bilden den ersten Teil: - Erste Sequenz: Bethanien, die Ankündigung des Verrats und das Abendmahl (Mt 26,1-35 = NBA 9 2 - 17). - Zweite Sequenz: Gethsemani und die Flucht der Jünger (Mt 26,36-56 = NBA 18 - 29). Drei Sequenzen bilden den zweiten Teil: - Dritte Sequenz: Falsche Zeugnisse und die Verleugnung des Petrus (Mt 26,57-27,14 = NBA 30 - 44). - Vierte Sequenz: Jesus vor Pilatus (Mt 27,15-30 = NBA 45 - 54). - Fünfte Sequenz: Golgotha und - als Epilog - die Grablegung (Mt 27, 31-66 = NBA 55 - 67). 2.2.1 Die Architektur der Matthäuspassion Die dramatische Kontinuität ist durch die Erzählung des Matthäusevangeliums gegeben (Mt 26,1-27,66): Der Evangelist erzählt und erteilt den verschiedenen Protagonisten das Wort, soweit sie Matthäus im direkten Stil reden lässt: Judas, den zwei Zeugen, den zwei Mägden, dem Hohenpriester, Pilatus, seiner Frau, den verschiedenen Gruppen der Jünger, der Menge des Volkes und den Zeugen der Kreuzigung. Die Chöre, die Rezitative und die Arien des Librettos von Picander (= Christian Friedrich Henrici), die im Wesentlichen von den Solisten vorgetragen werden, und die Choräle, die Bach wahrscheinlich selbst ausgewählt hat, kommentieren das Drama und erklären seine Bedeutung durch Verkündigung, Meditation und Gebet. Die Umrahmung der dramatischen Handlung Die Architektur der Matthäuspassion ist - in ihrer Endfassung - durch die kompositorisch und theologisch originelle Wechselwirkung bestimmt, die Bach zwischen dem Text des Evangeliums, dem Libretto Picanders und den Chorälen aufbaut. Auffällig ist die dramatische Umkehrung der erwarteten Grundperspektive: Die Choräle treten in den Vordergrund und konstituieren die tragende Struktur der Passion. Deutlich ist dabei die Schlüsselrolle, die „ O Haupt voll Blut und Wunden “ in dem gesamten Aufbau übernimmt. Der Choral wird nicht nur fünfmal - und davon einmal mit zwei Strophen - , sondern auch an den entscheidenden Stellen eingesetzt: nach der Einsetzung des Abendmahls (NBA 15) und nach der Ankündigung der Verleugnung des Petrus (NBA 17) im ersten Teil der Passion, zweimal während des Prozesses (NBA 44 mit den Worten von „ Befiehl du deine Wege “ und 54) und dann unmittelbar nach dem Tod Jesu (NBA 62) im zweiten Teil. 9 Matthäus-Passion, endgültige Fassung von 1736, Neue Bach Ausgabe, II,3, Kassel 1972. 68 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="69"?> Aus der Umkehrung der Perspektive ergibt sich folgende Konstruktion: - Die Chöre sind als Zeugen, als Zuhörer und als Adressaten des Evangeliums die Hauptfiguren der Passion geworden, wie es bereits die katechetische Logik des Eingangschors programmatisch inszeniert. - Der Evangelist, der durch die Chöre eingeführt wird, steht hinter ihnen. - Die Personen, denen er das Wort erteilt, stehen hinter ihm. Die Matthäuspassion stellt sich nicht als eine Darstellung der Passionsgeschichte vor, sondern vielmehr als dramatische Komposition der existentiellen Haltungen, die sich vor der Passionsgeschichte definieren und die Selbsthingabe Jesu möglich machen. Die von Bach konzipierte Architektur verwandelt Interpreten und Zuhörer in die eigentlichen Hauptakteure der Passion. Das Drama spielt sich nicht zwischen Jesus und seinen Gesprächspartnern ab, sondern in den Musikern, Sängern und der versammelten Gemeinde. Die Rollenverteilung der Chöre Die Matthäuspassion ist für zwei Chöre geschrieben (zwei vollständige Chöre und zwei vollständige Orchester). Jedes Orchester begleitet seinen Chor. In der Regel werden die beiden Chöre getrennt geschrieben, aber auch doppelt eingesetzt, wenn Chor und Orchester I und Chor und Orchester II gemeinsam singen und spielen. Eine Ausnahme bilden die Choräle, die Bach nur einmal für die beiden Chöre und Orchester schreibt. Die dramatische und theologischen Rollen sind klar verteilt: - Die Choräle werden einchörig gesungen: Chor I = Chor II. - Chor I ist Vertreter und Verkündiger des Evangeliums. - Chor II ist Adressat und Zuhörer. Diese didaktische Rollenverteilung erfährt auffällige Ausnahmen: - Chor II tritt als Gesprächspartner des Chores I auf, wenn durch die Erzählung die theologische Form verlangt wird: Mt 26,61 (die Hohenpriester und die falschen Zeugen); Mt 26,73 (die Umstehenden, die in der Szene der Verleugnung Petrus als Galiläer erkennen); 27,49 (die Übrigen: „ Halt! Lass sehen, ob Elias kommt und ihm helfe “ ); . - Chor I und Chor II sind überall dann versammelt, wenn sich die Menge, die Hohenpriester und die Ältesten des Todes Jesu schuldig machen: Mt 26,5 (die Hohenpriester sagen: „ Nicht am Fest, damit kein Aufruhr im Volk entsteht! “ ); 26,66 (der Hohe Rat: „ Er ist des Todes schuldig! “ ); 26,68 (Jesus wird im Hohen Rat geschlagen: „ Christus, offenbare uns: Wer ist es, der dich geschlagen hat? “ ); 27,4 (die Hohenpriester und die Ältesten zu Judas: „ Was geht das uns an? Sieh du zu! “ ); 27,21 (die Menge sagt: „ Barrabas “ ); 27,22 (alle sagen zu Pilatus: „ Gekreuzigt soll er werden! “ ); 27,23 ( „ Gekreuzigt soll er werden! “ ); 27,25 (das Volk: „ Sein Blut komme komme über uns . . .). - Das Bekenntnis des Hauptmanns (Mt 27,54: „ Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen! “ ) wird einchörig (= als Choral der Gemeinde) geschrieben. In diesem in Bachs Matthäuspassion zentralen Augenblick wird der 2 Der Tod Jesu im Matthäusevangelium 69 <?page no="70"?> Zuhörer ausdrücklich und programmatisch als handelnde Person in die Passionsgeschichte einbezogen. Im als Kirchenchoral komponierten und gesungenen Bekenntnis des Hauptmanns (NBA 63 b) findet die von Bach konzipierte Architektur ihr sinngebendes musikalisches und theologisches Zentrum. Der Glaube, die Zweifel, die Ängste, die Fragen und die Überzeugungskraft der versammelten Gemeinde (in der Sprache des Matthäusevangeliums: der Kirche) sind durch das Evangelium mit der Passion Jesu gegenwärtig geworden. 2.2.2 „ Aber Jesus schrie abermal laut und verschied “ : Text und Kommentar Die Szene des Todes Jesu (Mt 27,45-50 = NBA 61) und die drei Kommentare des Chorals „ O Haupt voll Blut und Wunden “ ( „ Wenn ich einmal soll scheiden . . . “ . NBA 62), der apokalyptischen Zeichen (Mt 27,51-54 = NBA 63 a) und des Bekenntnisses des Hauptmanns (Mt 27,54 = NBA 63 b) werden durch die Rhetorik der ganzen Passion als ihr Zentrum vorbereitet: - Die Rezitative des Evangelisten lesen die matthäische Erzählung vor. - Als Personen werden Jesus (NBA 61 a) und die beiden Chöre (NBA 61 b und 61 d) als Vertreter der beiden Gruppen der Dastehenden ( „ die anderen aber sprachen . . . “ ) eingeführt. - Zwei Choräle interpretieren unmittelbar den Tod Jesu: „ Wenn ich einmal soll scheiden “ (NBA 62) und das von Bach in einen Choral verwandelte Bekenntnis des Hauptmanns (Mt 27,54): „ Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen “ (NBA 63 b). 61 a Evangelist Und von der sechsten Stunde an war eine Finsteris auf das ganze Land bis zu der neunten Stunde. Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut und sprach: Jesus Eli, Eli, lama asabthani? Evangelist Das ist: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? 61 b Chor I Der rufet dem Elias! 61 c Evangelist Und bald lief einer unter ihnen, nahm einen Schwamm und füllte ihn mit Essig und steckete ihn auf ein Rohr und tränkete ihn. Die anderen aber sprachen: 61 d Chor II Halt! Lass sehen, ob Elias komme und ihm helfe! 61 e Evangelist Aber Jesus schrie abermal laut und verschied. 70 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="71"?> 62 Choral Chor I = Chor II Wenn ich einmal soll scheiden, So scheide nicht von mir. Wenn ich den Tod soll leiden, So tritt du dann herfür! Wenn mir am allerbängsten Wird um das Herze sein, So reiß mich aus den Ängsten Kraft deiner Angst und Pein. 63 a Evangelist Und siehe da, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stück von oben an bis unten aus. Und die Erde erbebete, und die Felsen zerrissen, und die Gräber täten sich auf, und stunden auf viel Leiber der Heiligen, die da schliefen, und gingen aus den Gräbern nach seiner Auferstehung und kamen in die heilige Stadt und erschienen vielen. Aber der Hauptmann und die bei ihm waren und bewahreten Jesum, da sie sahen das Erdbeben und was da geschah, erschraken sehr und sprachen: 63 b Chor I und II Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesem. Deutlich zeigt sich der Perspektivenwechsel der Matthäuspassion. Dem Bericht des Todes Jesu (Mt 27,45-50 = NBA 61) folgt der Kommentar des Chorals (NBA 62), der sich eigentlich nicht auf den Tod Jesu bezieht, den er nur indirekt und erst im letzten Vers erwähnt ( „ . . . reiß mich aus den Ängsten kraft deiner Angst und Pein “ ), sondern auf den eigenen Tod bezieht ( „ Wenn ich einmal soll scheiden “ ). Diese Verschiebung ist der Zielpunkt einer musikalischen und theologischen Deutung, die konsequent eine existentiale Interpretation der matthäischen Passionsgeschichte komponiert. Die für das Matthäusevangelium zentrale Frage nach dem Verständnis der Gerechtigkeit Gottes und die mit der Auslegungstradition der Schriftgelehrten und Pharisäer geführte hermeneutische Auseinandersetzung über die wahre Prophetie hat in der Matthäuspassion an Aktualität verloren. Bach inszeniert nicht die Passion des prophetischen Wortes, das die Wahrheit der menschlichen „ Heuchelei “ offenbart und durch seinen Tod besiegelt (Mt 23,13-39), sondern das Drama des Glaubens. Das Selbstverständnis des Glaubens, das in den Chorälen gestaltet wird, äußert sich zwar auch im Mitleid mit Jesus, dem die im Gebet versammelte Gemeinde Unterstützung und Trost bringen möchte. Doch vor dem Hintergrund der Passionsgeschichte bekennt der Glaube seine Hoffnung und seine Zuversicht: Er erklärt zunächst seine Dankbarkeit für die himmlischen Güter, die er vom Herrn bekommen hat, bekundet dann wie Petrus seinen Willen, ihn nicht zu verlassen, bittet die Vorsehung des Schöpfers und himmlischen Vaters darum, ihn nicht wie Judas in die Versuchung des Verrats zu führen, und ruft angesichts der Angst vor dem eigenen Tod den Gekreuzigten zur Hilfe. 2 Der Tod Jesu im Matthäusevangelium 71 <?page no="72"?> Die Matthäuspassion ist die Passionsgeschichte der christlichen Seele geworden, die sich selbst mit den Jüngern in der Gegenwart des Herrn versteht. Die dramatische Logik lässt sich an den Eckpunkten erkennen, die durch die Wiederholung des Chorals gesetzt werden: Die Dankbarkeit nach dem Abendmahl (NBA 15; 5. Strophe des Chorals): Erkenne mich, mein Hüter, Mein Hirte, nimm mich an! Von dir, Quell aller Güter, Ist mir viel Gut ’ s getan. Dein Mund hat mich gelabet Mit Milch und süßer Kost, Dein Geist hat mich begabet Mit mancher Himmelslust. Die klare Absichtserklärung, Jesus nicht zu verleugnen (NBA 17; 6. Strophe) Ich will hier bei dir stehen, Verachte mich doch nicht. Von dir will ich nicht gehen, Wenn dir dein Herze bricht. Wenn dein Herz wird erblassen Im letzten Todesstoß, Alsdann will ich dich fassen In meinem Arm und Schoß. Die Bitte nach dem Verrat des Judas um Schutz vor den Irrwegen der Versuchung (NBA 44 mit der Musik von „ O Haupt voll Blut und Wunden “ , aber mit den Worten von „ Befiehl du deine Wege “ ): Befiehl du deine Wege Und was dein Herze kränkt, Der allertreuesten Pflege Des, der den Himmel lenkt! Der Wolken, Luft und Winden Gibt Wege. Lauf und Bahn, Der wird auch Wege finden, Da dein Fuß gehen kann. Die Solidarisierung mit Jesus nach der Verspottungsszene und vor der Kreuzigung (NBA 54; 1. und 2. Strophe): O Haupt voll Blut und Wunden, Voll Schmerz und voller Hohn, O Haupt zum Spott gebunden Mit einer Dornenkron, O Haupt, sonst schön gezieret Mit höchster Ehr und Zier. Jetzt aber hoch schimpfieret, Gegrüßest seist du mir! Du edles Angesichte, Vor dem sonst schrickt und scheut Das große Weltgewichte, Wie bist du so bespeiet, Wie bist du so erbleichet! Wer hat dein Augenlicht, Dem sonst kein Licht nicht gleichet, So schändlich zugericht ’ ? 72 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="73"?> Die vertrauensvolle Bitte an den gekreuzigten und gestorbenen Herrn, in der Stunde des Todes von ihm nicht allein gelassen zu werden (NBA 62, 9. Strophe): Wenn ich einmal soll scheiden, So scheide nicht von mir, Wenn ich den Tod soll leiden, So tritt du dann herfür; Wenn mir am allerbängsten Wird um das Herze sein, So reiß mich aus den Ängsten Kraft deiner Angst und Pein! Als dramatische Darstellung der matthäischen Erzählung der Passion des Herrn hat Bach eine Matthäuspassion komponiert, die die Geschichte der Konflikte, der Kreuzigung und des Todes Jesu neu deutet. Die durch lutherische Frömmigkeit geprägten Choräle, vor allem von Paul Gerhardt, bilden den Rahmen, der die Architektur der Matthäuspassion bestimmt und zu einer neuen Interpretation der Handlung führt: - Der Gattung der Passionen entsprechend - verwiesen werden kann auf die Matthäuspassion von Heinrich Schütz - ist die dramatische Kontinuität durch den Evangelisten gegeben, der den matthäischen Bericht der Passionsgeschichte verliest. - Bach erneuert insofern die Form, indem er den matthäischen Text zum Hintergrund einer dramatischen Handlung werden lässt und die Passion der christlichen Existenz in der Gegenwart des Herrn in den Vordergrund rückt. 2.3 Ertrag: Der Tod Jesu als Offenbarung der Vorsehung und Barmherzigkeit Gottes Johann Sebastian Bach hat seine gottesdienstlichen Kantaten, seine Oratorien (das Osteroratorium und den Zyklus des Weihnachtsoratoriums) und seine Passionen als Auslegung, Verkündigung und Verinnerlichung der biblischen Texte geschrieben. Keine Interpretation entsteht frei von Voraussetzungen. So gehört zum Vorverständnis der Matthäuspassion Bachs die lutherische Theologie, in die sie verwoben ist. Auf diese Weise erklärt sich, dass der Text des Evangeliums mit Hilfe von Interpretamenten beleuchtet wird, die sich vom matthäischen Verständnis des Todes Jesu nicht ableiten lassen. Gleichzeitig findet das Werk jedoch eine argumentative Kohärenz in der theologischen Konvergenz der Kommentare des Librettos mit den zentralen Themen des Matthäusevangeliums. 2.3.1 Die Matthäuspassion in der lutherischen Tradition Man kann nicht übersehen, dass eine der Voraussetzungen der Matthäuspassion Bachs in der von der reformatorischen Tradition übernommenen 2 Der Tod Jesu im Matthäusevangelium 73 <?page no="74"?> Deutung des Todes Jesu Christi als eines stellvertretenden Opfers besteht. Dieses Interpretationsmodell ist nicht nur der matthäischen Darstellung der Passion, sondern dem ganzen Matthäusevangelium fremd. Es fällt auf, dass dieses Motiv in der Matthäuspassion in den Rezitativen und Chorälen des ersten Teils des Librettos bis zum Kommentar zur Gefangennahme Jesu immer wieder präsent wird, im zweiten Teil dagegen nicht mehr auftaucht. Die existentielle Verbindung mit dem Erlöser beruht für Bach darauf, dass Jesus als Unschuldiger unsere Sünden, Missetaten und Schuld getragen und sich an unserer Stelle geopfert hat: Ich bin ’ s, ich sollte büßen, An Händen und an Füßen Gebunden in der Höll ’ ! Die Geißeln und die Banden. Und was du ausgestanden, Das hat verdienet mein Seel. ’ 10 O Schmerz! Hier zittert das gequälte Herz! Wie sinkt es hin, wie bleicht sein Angesicht! Der Richter führt ihn vor Gericht, Da ist kein Trost, kein Helfer nicht. Er leidet alle Höllenqualen, Er soll für fremden Raub bezahlen. Ach, meine Liebe dir, Mein Heil, dein Zittern und dein Zagen Vermindern oder helfen tragen, Wie gerne blieb ich hier! 11 Was ist doch wohl die Ursach ’ solcher Plagen? Ach! Meine Sünden haben dich geschlagen. Ich, ach Herr Jesu, habe verschuldet, Was du erduldet. 12 O Mensch, bewein ’ dein Sünde groß, Darum Christus sein ’ Vaters Schoß Äußert und kam auf Erden: Von einer Jungfrau, rein und zart, Für uns er hie geboren ward, Er wollt der Mittler werden. Den Toten er das Leben gab, Und legt dabei all ’ Krankheit ab, Bis sich die Zeit herdrange, Dass er für uns geopfert würd ’ . 10 Choral von Paul Gerhardt, NBA 10. Vgl. auch Evangelisches Gesangbuch (EG), Nr. 84,4. 11 Rezitativ, Christian Friedrich Henrici = Picander), NBA 19 a. 12 Choral von Johann Heermann, NBA 19 b. Vgl.EG Nr. 81,3. 74 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="75"?> Trüg ’ unsrer Sünden schwere Bürd ’ Wohl an dem Kreuze lange. 13 2.3.2 Bach als Interpret der matthäischen Deutung des Todes Jesu Die Deutung des Todes Jesu als Stellvertretung findet sich bei Matthäus nicht. Zwar sieht auch er die befreiende Kraft der Lehre und der Selbsthingabe Jesu darin, dass der Herr für unsere Sünden gestorben ist, aber so, dass seine Auslegung des Gesetzes den Willen Gottes als die gute Nachricht der dem Menschen umsonst geschenkten Gerechtigkeit offenbart (Mt 5,17-48) und dass der unschuldige Tod Jesu als Hinrichtung des wahren Propheten die Wahrheit seines Wortes bezeugt (Mt 23,29-33). Zur dramatischen und theologischen Kraft der Matthäuspassion Bachs trägt bei, dass das Libretto, die Auswahl der Choräle und die musikalische Architektur die theologische Interpretation zum einen verstärken und zum anderen durch Verweise auf zentrale Themen der matthäischen Darstellung der Worte und Taten Jesu kommentieren. Das Thema der Schuldlosigkeit des gekreuzigten Gottessohns nimmt die wechselseitige Interpretation der Invektiven Jesu (Mt 23,13-36) und der Kreuzigung des gerechten Gottessohns (Mt 27,33-54) wieder auf: Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen, Dass man ein solch hart Urteil hat gesprochen? Was ist die Schuld, in was für Missetaten Bist du geraten? 14 Wer hat dich so geschlagen, Mein Heil, und dich mit Plagen So übel zugericht ’ ? Du bist ja nicht ein Sünder, Wie wir und unsere Kinder, Von Missetaten weißt du nicht. 15 Aus Liebe will mein Heiland sterben, Von einer Sünde weiß er nichts, Dass das ewige Verderben Und die Strafe des Gerichts Nicht auf meiner Seele bleibe. 16 Ach Golgatha, unsel ’ ges Golgatha! Der Herr der Herrlichkeit muss schimpflich hier verderben, Der Segen und das Heil der Welt 13 Choral von Sebald Heyden, NBA 29, Schlusschor des ersten Teils der Matthäuspassion. Vgl. EG Nr. 76,1. 14 Choral von Johann Heermann, NBA 3, Vgl. EG 81,3. 15 Choral von Paul Gerhardt, NBA 37. Vgl. EG 84,2. 16 Aria, Christian Friedrich Henrici = Picander, NBA 49. 2 Der Tod Jesu im Matthäusevangelium 75 <?page no="76"?> Wird als ein Fluch ans Kreuz gestellt. 17 Dem Schöpfer Himmels und der Erden Soll Erd ’ und Luft entzogen werden; Die Unschuld muss hier schuldig sterben 18 : Das gehet meiner Seele nah; Ach Golgatha, unsel ’ ges Golgatha: 19 Die Gerechtigkeit des Gottessohns, der die Schriftgelehrten und Pharisäer vor dem Missverständnis der „ Heuchelei “ warnt und sich am Kreuz in seinem Schweigen offenbart, wird bei Bach zum Vorbild des christlichen Gehorsams. Mein Jesus schweigt zu falschen Lügen stille, Um uns damit zu zeigen, Dass sein erbarmensvoller Wille Vor uns zum Leiden sei geneigt, Und dass wir in dergleichen Pein Ihm sollen ähnlich sein Und in Verfolgung stille schweigen. 20 Geduld, Geduld, Wenn mich falsche Zeugen stechen, Leid ’ ich wider meine Schuld Schimpf und Spott, Ei, so mag der liebe Gott Meines Herzens Unschuld rächen. 21 Die Frage des Pilatus, welches Verbrechen Jesus begangen habe (Mt 27,23), beantwortet die Matthäuspassion Bachs mit einem Bekenntnis, das die indirekte Selbstdarstellung des matthäischen Jesus wiederaufnimmt. Johannes der Täufer hatte vom Gefängnis aus Jesus fragen lassen: „ Bist du der, der kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten? “ In seiner Antwort verweist Jesus auf die Erfüllung der Worte des Propheten Jesaja (vgl. Mt 8,17): Matthäus 11,4-6 (4) Gegangen zu Johannes, verkündigt ihm, was ihr hört und seht: (5) Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden geheilt und Taube hören und Tote werden auferweckt und Arme hören das Evangelium. (6) Selig ist, wer nicht an mir Anstoß nimmt! Das Rezitativ der Matthäuspassion kombiniert nicht nur Mt 11,4-6 und Mt 8,17 ( „ Er nahm unsere Schwachheiten, und er trug die Krankheiten “ ), sondern erweitert die Perspektive auf die Lehre Jesu und die Tischgemeinschaften Jesu mit den Sündern: 17 Vgl. Gal 3,13. 18 Vgl. Röm 8,3. 19 Rezitativ, Christian Friedrich Henrici = Picander, NBA 59. 20 Rezitativ, Christian Friedrich Henrici = Picander, NBA 34. 21 Aria, Christian Friedrich Henrici = Picander, NBA 35. 76 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="77"?> Er hat uns allen wohlgetan; Den Blinden gab er das Gesicht, Die Lahmen macht er gehend, Er sagt uns seines Vaters Wort, Er trieb die Teufel fort; Betrübte hat er aufgericht ’ t; Er nahm die Sünder auf und an; Sonst hat mein Jesus nichts getan. 22 Die Matthäuspassion Bachs macht die Freundschaft Jesu mit den Zöllnern und Sündern zum hermeneutischen Schlüssel der Selbstdefinition des christlichen Glaubens - zugestandenermaßen in einem anderen Sprachregister als die matthäische Erzählung. Im Evangelium halten die Zeitgenossen Jesus für einen Fresser und Säufer, weil er mit den Zöllnern und Sündern isst und trinkt (Mt 11,16-19, vgl. Lk 7,31-34). Die von Matthäus und Lukas zitierte Kritik verweist auf das wesentliche Novum der Verkündigung Jesu: die Interpretation der Weisheit Gottes als bedingungsloser Anerkennung der Personen (Mt 11,19). Das Matthäusevangelium zieht die anthropologischen Konsequenzen aus der theologischen Grundaussage der Bergpredigt, die den Gotteswillen als das Ende der menschlichen Vollkommenheitsideale und als Befreiung vom System des Tausches auslegt. 23 Das Äquivalent dazu findet sich - allerdings in einer Sprache, die sich mehr an die Rezeption der paulinischen Theologie in der lutherischen Tradition des 17. und 18, Jahrhunderts anlehnt - an Schlüsselstellen der Matthäuspassion Bachs unmittelbar vor der Verleugnung des Petrus (Mt 26,74-75) und vor dem Tod Jesu Mt 27,45-50): Bin ich gleich von dir gewichen, Stell ’ ich mich doch wieder ein: Hat uns doch dein Sohn verglichen Durch sein Angst und Todespein. Ich verleugne nicht die Schuld, Aber deine Gnad ’ und Huld Ist viel größer als die Sünde, Die ich stets in mir befinde. 24 Sehet, Jesus hat die Hand Uns zu fassen ausgespannt; Kommt! - Wohin? In Jesu Armen Sucht Erlösung und Erbarmen, Suchet! - Wo? 22 Rezitativ, Christian Friedrich Henrici = Picander, NBA 48. 23 Exegetische Begründung in: Martin Stiewe/ Fran ς ois Vouga: Die Bergpredigt und ihre Rezeption als kurze Darstellung des Christentums, Exegetischer Essay mit Textmaterialien für Studium, Gemeinde und Schule, NET 2, Tübingen 2001. 24 Choral von Johann Rist, NBA 40. Vgl. EG 475,5. 2 Der Tod Jesu im Matthäusevangelium 77 <?page no="78"?> In Jesu Armen Lebet, sterbet, ruhet hier, Bleibet! - Wo? In Jesu Armen. 25 Die Begründung der Gesetzesauslegung Jesu, das heißt: seines Verständnisses des Gotteswillens, sieht Matthäus in der Betrachtung der Vorsehung Gottes, deren Barmherzigkeit für Gute und Böse, Gerechte und Ungerechte (Mt 5,43-48), für die Vögel des Himmels und die Blumen des Feldes unterschiedslos gilt (Mt 6,25-34). Auf diese Vorsehung zu vertrauen, fordert auch die Matthäuspassion Bachs auf: Befiehl du deine Wege Und was dein Herze kränkt Der allertreuesten Pflege Des, der den Himmel lenkt, Der Wolken, Luft und Winden Gibt Wege, Lauf und Bahn, Der wird auch Wege finden, Da dein Fuß gehen kann. 26 In ihrem zweiten Teil baut die Matthäuspassion ein Verhältnis der Gegenseitigkeit zwischen dem christlichen Glauben und dem Herrn auf. Sie setzt die gegenseitige persönliche Anerkennung dort voraus, wo das System des Tausches nur sachbezogene Verpflichtungen berücksichtigte. Durch die Befreiungstaten und die Selbsthingabe Jesu Christi sind die Glaubenden geheilt und zum Leben zurückgebracht worden, sodass sie jetzt persönliche Solidarität und Fürsorge für den Gekreutigten empfinden und bekunden. 27 Die Matthäuspassion Bachs verweist auf die zentrale Bedeutung, die der Tod Jesu im Matthäusevangelium einnimmt. Dort schließt der Tod Jesu die dramatische Auseinandersetzung Jesu mit den Schriftgelehrten und Pharisäern ab und offenbart die Wahrheit seiner Auslegung des Willens Gottes. Der entscheidende Beitrag der lutherischen Tradition, die die Dichtung von Picander (Christian Friedrich Henrici), die musikalische Architektur und die Auswahl der Choräle prägt, besteht in der existentialen Interpretation des Matthäusevangeliums. 25 Arie mit Chor, Christian Friedrich Henrici - Picander, NBA 60. 26 Choral von Paul Gerhardt, NBA 44. Vgl. EG 361,1. 27 Eingangschor des zweiten Teils, NBA 30; Arie nach dem Verrat des Judas „ Gebt mir meinen Jesum wieder! “ , NBA 42; Rezitativ und Arie nach der Verurteilung Jesu, NBA 51 und 52; Rezitativ mit Chor und der Schlusschoral, mit dem die Gemeinde von Jesus Abschied nimmt: „ Nun ist der Herr zur Ruh ’ gebracht “ und „ Wir setzen uns mit Tränen nieder/ und rufen dir im Grabe zu: / Ruhe sanfte, sanfte Ruh ’ , NBA 67 und 68. 78 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="79"?> 3 Der Todes Jesu im lukanischen Werk 3.1 Lukas 23,26-49 und Apostelgeschichte 6,1-7,60 Von der Geschichte seiner Redaktion her betrachtet besteht das Lukasevangelium wie das Matthäusevangelium in einer Erweiterung des Markusevangeliums. Lukas ergänzt dieses Evangelium - vielleicht mit einem gelegentlichen Seitenblick auf Matthäus - durch den Rahmen einer neuen Kindheitsgeschichte (Lk 1 - 2) und neuer Ostererscheinungen, die mit der Himmelfahrt Jesu abgeschlossen werden (Lk 24,50-53), durch Redenstoffe, die zum Teil bereits Matthäus gekannt und eingearbeitet hatte, und durch die Fortsetzung der Geschichte Jesu in einem weiteren Buch, das mit einer zweiten Erzählung der Himmelfahrt Jesu anschließt (Apg 1,1-14) und eine Darstellung der frühchristlichen Mission im Westen bietet, der Apostelgeschichte. Die Darstellung verfolgt das Ziel, dem christlichen Glauben durch eine Überprüfung der Quellen und durch eine Geschichtsschreibung, die das Evangelium in die Weltgeschichte einordnet, eine feste Grundlage zu sichern. Das lukanische Doppelwerk entwickelt die Vorstellung einer Heilsgeschichte, die Gott durch den Mund seiner Propheten, durch Jesus, den Gerechten, der in der Kraft Gottes gehandelt hat, und durch den Geist Gottes verwirklicht. Diese Heilsgeschichte hat ihr Zentrum im Kommen des Erlösers und in seiner Auferstehung von den Toten. Der ungerechte Tod Jesu erfolgt im Rahmen einer Geschichte des menschlichen Ungehorsams (Apg 7,1-53), die Lukas exemplarisch dokumentiert. Unser Versuch, Bedeutung und Deutung des Todes Jesu nach dem Lukasevangelium zu verstehen, konzentriert sich auf drei zentrale Themen: Die Verschiebung der befreienden Bedeutung Jesu von seinem Tod auf sein Kommen und seine Auferstehung: Lukas entfaltet eine historische und politische Deutung des Todes Jesu als Entlarvung der Ungerechtigkeit, die sich sowohl in der Geschichte Israels als auch in der Universalgeschichte zeigt. Die Darstellung einer Passionsgeschichte der Gerechten ist die Begründung der universalen Aufforderung, Buße zu tun (Lk 23,26-49). Die parallele Darstellung des Todes Jesu und der Steinigung des Stephanus (Apg 7,54-60) zeigt: Die Passion Jesu wird zum Vorbild des christlichen Martyriums. 3.1.1 Geburt und Auferstehung Jesu sind die Heilsereignisse, nicht sein Tod Für das lukanische Doppelwerk hat der Tod Jesu als solcher keine soteriologische Bedeutung. Die markinische Erklärung, dass Jesus nicht gekommen ist, um bedient zu werden, sondern um zu dienen und seine Seele als Lösegeld für viele zu geben (Mk 10,45), wird so umformuliert, dass jeder Hinweis auf 79 <?page no="80"?> eine Heilsbedeutung des Todes Jesu herausgenommen wird: „ Wer ist der Größere? Derjenige, der isst, oder derjenige, der bedient? Nicht derjenige, der isst? Ich bin in eurer Mitte als der, der dient “ (Lk 22,27). Das Heil ist mit Jesus verbunden, weil er als der Heiland gekommen ist, um die Menschen zu Bekehrung und Buße einzuladen. In der Kraft Gottes, die in ihm war (Lk 5,17), hat er Kranke und Besessene geheilt. Gott hat ihn auferweckt. Er hat Apostel und Zeugen gesandt und mit dem heiligen Geist ausgerüstet, damit sie im Namen Jesu weiter zu Bekehrung und Buße aufrufen, die Auferstehung Jesu verkündigen und in seinem Namen die Menschen taufen. Die Missionsreden der Apostelgeschichte fassen das lukanische Verständnis der Tätigkeit und Bedeutung Jesu zusammen. Sie enthalten vier grundlegende Aussagen: - Jesus ist von den alttestamentlichen Propheten angekündigt worden. - Jesus ist durch seine Zeichen und Wunder als Gesandter Gottes legitimiert worden. - Jesus ist von den Juden getötet/ gekreuzigt worden (Apg 2,23; 2,38; 3,15- 16; 4,10; 4,27-28; 7,52; 10,39; 13,28). - Jesus ist von den Toten auferweckt worden. Die Rollenzuschreibung erklärt Kreuzigung und Tod Jesu immanent und zu einem großen Teil politisch als den Höhepunkt des Unglaubens (Lk 13,3-33; 23,6-12) und lässt Gott erst an Ostern eingreifen (Apg 2,24.32; 3,15; 4,10-11; 5,30-32; 13,31). Sie unterscheidet sich deutlich von den Darstellungen des Markus- und des Matthäusevangeliums und ihren theologischen Interpretationen. Lukas teilt weder die Vorstellung des Markusevangeliums, dass Jesus als der Gottessohn am Kreuz seine Seele im Vertrauen auf Gott dahingibt, noch stellt er wie das Matthäusevangelium die Worte Jesu (Mt 23) und die Zeichen (Mt 27) heraus, die Jesus als den Sohn Gottes, den wahren Propheten und den Herrn im Rahmen einer hermeneutischen Auseinandersetzung über Bedeutung, Intention und Ziel des Gotteswillens offenbaren. Für Lukas belegt der Tod Jesu die Unheilsgeschichte einer menschlichen Unwissenheit, der Gott an Ostern ein Ende setzt, indem er Jesus durch die Auferweckung von den Toten als den Gerechten und den Lebendigen offenbart. Die lukanische Fassung der Einsetzungsworte des Abendmahls (Lk 22, 19-20), die Verwandtschaften sowohl mit der paulinischen (1 Kor 11,23-25) als auch mit der markinischen Tradition (Mk 14,22-25) aufweist, liefert keine Interpretation des Todes Jesu, wie es sowohl bei Paulus als auch bei Markus der Fall ist. Sie stellt vielmehr das Brechen des Brotes als symbolische Handlung vor, durch die Jesus in der Zeit seiner Abwesenheit in der Gemeinde vergegenwärtigt wird (Lk 22,19 und 24,30.35; Apg 2,42.46; 20,7). Die einmalige Becherhandlung - ohne Wiederholungsbefehl - wird als die Schließung des neuen Bundes mit den bei dem Mahl anwesenden Aposteln (Lk 22,20) dargestellt: Lukas 22,19-20 (19) Und er nahm ein Brot, dankte, brach es und gab es ihnen mit den Worten: „ Das ist mein Leib, 80 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="81"?> der für euch gegeben wird. Das tut zur Erinnerung an mich “ . (20) Und genauso den Becher nach dem Essen mit den Worten: „ Dieser Becher ist der neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird “ . Die Gründe für die Hinrichtung Jesu sind nach der lukanischen Darstellung historischer und politischer Natur: - Der politische Grund ist das menschliche Versagen der römischen Behörde (Lk 23,6-12). Pilatus und Herodes hätten sich wie später Gallio gegenüber Paulus verhalten sollen, der das römische Gesetz vom religiösen Gesetz der Juden korrekt und konsequent unterschied (Apg 18,12-17). - Der historische Grund ist der Ungehorsam Israels, der die gesamte Heilsgeschichte begleitet und in der Tötung des Gerechten seinen Gipfel erreicht (Apg 7,1-53). Die lukanische Darstellung des Judentums differenziert aber: Die Verantwortung tragen überwiegend die Hohenpriester und die Sadduzäer, die nicht an die Auferstehung der Toten glauben (Lk 20,27; Apg 4,1; 5,17; 23,6.7.8). Dagegen sind die Pharisäer, die an die Auferstehung glauben, die theologischen und objektiven Alliierten Jesu und der Christen (Lk 19,39; Apg 5,34; 23,6.7.8). Anders als Matthäus befreit sie Lukas von jeder Verantwortung für den Tod Jesu und für die Verfolgung der christlichen Missionare. Die Interpretation des Todes Jesu als Mord ist integraler Bestandteil des lukanischen Verständnisses der Heilsgeschichte: Die Propheten haben vorausgesagt, dass Jesus getötet werden würde (Apg 2,23; 4,27-28; Lk 24,25-27). Der Ungehorsam Israels ist der Anlass für die Erfüllung des Willens Gottes, der den Heiden das Heil verkündigen lässt (Lk 2,28-35; Apg 13,16-41.46 - 48; 28,25-28). 3.1.2 Die Passionsgeschichte als Begründung der Aufforderung zur Buße Die lukanische Darstellung der Kreuzigung und des Todes Jesu ist so gestaltet, dass sie vier Themen miteinander verbindet: - den ungerechten Tod des Gerechten Gottes, - der als der für die Zeugen vorbildliche Märtyrer stirbt, - die Aufforderung, Buße zu tun, und - die Vergebung der Sünden. Der erzählerische Rahmen der Kreuzigung und des Todes Jesu inszeniert die Vertreter des Volkes Israel. Ihr Auftreten wird vor der Kreuzigung durch die Klage Jesu über die Töchter Jerusalems (Lk 23,26-31) eingeführt und durch die Klage des Volkes nach dem Tod Jesu kommentiert (Lk 23,49): Lukas 23,26-31 (26) Und als sie ihn abführten, ergriffen sie einen gewissen Simon von Kyrene, der vom Feld kam, und legten ihm das Kreuz auf, es hinter Jesus 3 Der Todes Jesu im lukanischen Werk 81 <?page no="82"?> herzutragen. (27) Es folgte ihm eine große Menge des Volkes und der Frauen, die sich schlugen und ihn beklagten. (28) Zu ihnen gewandt sprach Jesus: „ Töchter Jerusalems, weint nicht über mich! Es sei denn, ihr weint über euch selbst und über eure Kinder. (29) Denn siehe! Es kommen Tage, an denen man sagen wird: Selig die Unfruchtbaren und die Leiber, die nicht geboren haben, und die Brüste, die nicht genährt haben! (30) Dann wird man anfangen, zu den Bergen zu sagen: Fallt über uns! und zu den Hügeln: Bedeckt uns! (31) Denn wenn man dies am grünen Holz tut, was wird dann mit dem dürren geschehen? “ Lukas 23,48 (48) Und als all die Volksscharen, die zusammengekommen waren zu diesem Schauspiel, das Geschehen sahen, schlugen sie sich an die Brust und kehrten heim. Zwei Szenen tragen zu der heilsgeschichtlichen Deutung der Kreuzigung bei: Nach den Darstellung des Lukasevangeliums und der Apostelgeschichte hat sich Israel des Todes des Gerechten, der als der Heiland Israels und dann auch der Völker gekommen war (Lk 2,25-35), schuldig gemacht. Es soll sich nun bekehren und Buße tun (Apg 2,27-41; 3,17-26; 4,10-12; 5,30-32; 7,51-53; 13, 16-41). Lukas hat einen Dialog zwischen den beiden mit Jesus gekreuzigten Übeltätern konzipiert, der die neue Mitte des gesamten Berichts über die Kreuzigung bildet (Lk 23,32-43). Für Markus und Matthäus waren die zwei Übeltäter blasse Statisten (Mk 15,32; Mt 27,44). Vor dem Kreuz sprachen nur die Spaziergänger, die Hohenpriester und Schriftgelehrten - und bei Matthäus auch die Ältesten (Mk 15,29-32; Mt 27,39-44). Lukas dagegen macht die Mitgekreuzigten zu Hauptfiguren seiner Darstellung. Der Dialog der beiden Männer verbindet eine apologetische und eine erbauliche Interpretation des Todes Jesu: - Lukas nennt die Mitgekreuzigten nicht mehr Verbrecher, weil dieser Begriff die Konnotation des antirömischen Widerstands tragen könnte, sondern neutraler Übeltäter. Damit vermeidet er, Kreuzigung und Tod Jesu mit politischen Bewegungen in Verbindung zu bringen, die sich gegenüber Rom illoyal verhalten. Jesus hat nichts gegen das römische Gesetz getan: Zwischen dem lukanischen Christentum und dem römischen Reich gibt es keinen Grund zum Konflikt (Apg 18,12-17! ). 82 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="83"?> - Als Übeltäter - Sünder - bekommen die Mitgekreuzigten eine exemplarische Funktion: Der eine Übeltäter bekehrt sich, tut die Buße, zu der Johannes der Täufer und Jesus aufgerufen hatten, und erhält die Vergebung, die beide verkündigt hatten (Lk 3,7-14; 5,32), der andere verkörpert die Möglichkeit der Ablehnung der Vergebung: Lukas 23,39-43 (39) Einer der gehängten Übeltäter schmähte ihn: „ Bist du nicht der Christus? Rette dich und uns! “ (40) Als Antwort sagte der andere ihm drohend: „ Fürchtest du nicht Gott, der du unter dem gleichen Urteil stehst? (41) Und wir zwar mit Recht; denn wir empfangen, was unserer Taten würdig ist. Dieser hat nichts Unpassendes getan. “ (42) Und er sagte: „ Jesus, gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst! “ (43) Und er sprach zu ihm: „ Amen, ich sage dir; heute wirst du mit mir im Paradies sein. “ Vor dem Hintergrund der Klage Jesu über die Töchter Jerusalems (Lk 23, 26-31), die die programmatische Funktion hatte, das Volk (und die Leser des Evangeliums) aufzufordern, sich zu bekehren und Buße zu tun, erscheint die Rollenverteilung völlig logisch. Der Vorschlag des ersten Übeltäters greift inhaltlich die Versuchung durch die Hohenpriester und Schriftgelehrten wieder auf (Mk 15,31-32; Mt 27,42): Jesus soll, wenn er der Christus ist, sich selbst und die beiden Mitgekreuzigten retten (Lk 23,39): Damit werden drei Themen angekündigt, die Lukas in der Antwort des zweiten Mitgekreuzigten ausführt: - Jesus ist der Christus. - Er ist der Retter der Sünder. - Er ist der Retter der Sünder, die Buße tun. Die Antwort nimmt die Form eines Bekenntnisses an: - Jesus ist der Christus, weil er der unschuldige Gerechte ist, der zu Unrecht verurteilt wurde ( „ Dieser hat nichts Unpassendes getan “ , Lk 23,41) und in der Kraft Gottes gehandelt und gepredigt hat ( „ Fürchtest du nicht Gott? “ Lk 23,41). - Er ist der Retter der Sünder, indem er die Vergebung der Sünden ausspricht und das ewige Leben verheißt ( „ Amen, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein “ , Lk 23.43). - Er ist der Retter der Sünder, die Buße tun: Exemplarisch bekennt der zweite Mitgekreuzigte seine Sünden. Er erkennt das Urteil über sich als gerecht an ( „ denn wir empfangen, was unserer Taten würdig ist “ , 3 Der Todes Jesu im lukanischen Werk 83 <?page no="84"?> Lk 23,41), bittet Jesus um Vergebung ( „ Jesus, gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst! “ , Lk 23,42) und erhält die Zusage der Vergebung und des Heils (Lk 23,43). 3.1.3 Die Passion als Martyrium des Gerechten Die Verspottungen (Lk 23,35-38), die Worte Jesu am Kreuz (Lk 23,34; 23,46 = Ps 31,6) und das Bekenntnis des Hauptmanns (Lk 23,47) umrahmen den Dialog der beiden Mitgekreuzigten und verschieben die Perspektive, die die markinische - und die matthäische - Darstellung leitete. Thema ist weder die existentielle Haltung der Freiheit und der Selbsthingabe, die bei Markus mit der Gottessohnschaft Jesu verbunden ist (Mk 15, 29 - 32), noch das Verständnis des Willens Gottes, das bei Matthäus die wahre Prophetie kennzeichnet (Mt 27,29-44), sondern die Offenbarung und die Anerkennung des Werkes und der Kraft Gottes im Zeugnis - im Martyrium - seines Messias und Gerechten. Der Spott kommt nicht von den Spaziergängern oder von den Hohenpriestern und Schriftgelehrten, sondern von drei klar differenzierten Gruppen: - von dem Volk Israel (Lk 23,35), - von den Oberen des Volkes (Lk 23,35), - von den Soldaten (Lk 23,36-37). Das Thema ist die Nichtanerkennung des Messias Gottes (Lk 23,35) durch sein Volk. Lukas unterscheidet aber die Gesamtheit des Volkes von seiner Führung: Das Volk schaut passiv zu, während die Oberen den Mann, den Gott erwählt hat, um sein Volk und die gesamte Menschheit zu richten (Lk 1,32-33; 2,29-35; Apg 17,31), verachten. Der Kommentar der Soldaten (Lk 23,36-37) und die Inschrift (Lk 23,38), die den Titel „ König der Juden “ ironisch wiederholt, unterstreichen von außen her die Distanz zwischen den jüdischen Vertretern und ihrem Gott. In der lukanischen Darstellung einigen sich die Oberen Israels und die römischen Soldaten, den Messias hinzurichten. Lukas 23,35-38 (35) Das Volk stand da, zuschauend. Es verhöhnten ihn auch die Oberen, indem sie sagten, „ Andere hat er gerettet, rette er sich selbst, wenn dieser der Christus Gottes, der Erwählte, ist. “ (36) Es verspotteten ihn auch die Soldaten, die dazu kamen, ihm Essig brachten (37) und sagten: „ Wenn du der König der Juden bist, rette dich selbst! “ (38) Es gab auch eine Inschrift über ihm: „ Der König der Juden, dieser “ . 84 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="85"?> Die von den römischen Soldaten und von den Oberen Israels verkannte Identität des Gerechten und Märtyrers Gottes wird zum Thema des Bekenntnisses. Der Hauptmann, der gesehen hat, was sich abgespielt hat, und die Worte am Kreuz (Lk 23,36 und 46), vor dem Kreuz (Lk 23,35-38) und im Umkreis des Kreuzes (Lk 23, 39 - 43) gehört hat, bekennt Jesus nicht als den Gottessohn (Mk 15,39; Mt 27,54), aber präzise als Gerechten: - Er preist Gott - und erkennt Jesus als Gerechten an (Lk 23,47). Das Thema ist die Anerkennung des Gekreuzigten als des Gesandten Gottes zu seinem Volk und den Völkern (vgl. Apg 3,14; 7,52): Lukas 22,47 Als der Hauptmann sah, was geschah, pries er Gott und sagte: „ Wahrhaftig, dieser Mensch war ein Gerechter “ . Lukas trifft eine neue Auswahl der Worte Jesu am Kreuz. In seiner Darstellung bestehen sie nicht im Gebet eines Klagepsalms ( „ Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen? “ , Ps 22; Mk 15,34; Mt 27,46), der bei Lukas ein Echo zum Gebet in Gethsemani (Lk 14,32-42) bildet und die Einsamkeit dessen, der seine Seele dahingibt, zum Ausdruck bringt, sondern in der vorbildlich erbaulichen Fürbitte des Gerechten für die Menschen, die ihn kreuzigen (Lk 23,34), und im Vertrauen zu Gott, in dessen Hände Jesus seinen Geist befiehlt (Lk 23,46): Lukas 23,34 Vater, vergib ihnen; denn die wissen nicht, was sie tun. Lukas 23,46 Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist! Der Verfasser des lukanischen Doppelwerks konstruiert einen unmittelbaren Parallelismus zwischen der Darstellung des Todes Jesu im Evangelium und der Erzählung vom Tod des ersten christlichen Märtyrers in der Apostelgeschichte (Apg 6,8-8,3). Durch diese literarische und theologische Parallelität erhält die von Lukas stilisierte Haltung Jesu den ausdrücklichen Charakter eines für die Geschichte des Christentums erbaulichen Vorbilds: - Lukas fügt das Tempelwort (Mk 14,58) in den Prozess des Stephanus kurz vor seinem Tod ein (Apg 6,14). - Stephanus wiederholt die letzten Worte Jesu. Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun! (Lk 23,34) Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht zu! (Apg 7,60) 3 Der Todes Jesu im lukanischen Werk 85 <?page no="86"?> Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist! (Lk 23,46) Herr Jesus, nimm meinen Geist auf! (Apg 7,59) Die lukanische Darstellung des Todes Jesu erzählt kein Heilsereignis, sondern das vorbildliche Vertrauen des Gerechten Gottes, der bis zum Ende seinem Vater im Himmel vertraut und als Paradigma für die Christen in Situationen der Verfolgung und des Martyriums vorgestellt wird. Die Hinrichtung des Gerechten hat ihre Ursachen im menschlichen Versagen des Pilatus und des Herodes, die ihren politischen Interessen gefolgt sind, und in der Verleugnung des Messias durch sein Volk. Das vorbildliche Verhalten Jesu, das durch den Parallelismus zwischen der Passionsgeschichte und der Komposition des ersten christlichen Martyriums in der Apostelgeschichte hervorgehoben wird, aktualisiert sich in der Fürbitte für die Verfolger und in seinem unbeirrbaren Vertrauen auf Gott, seinen Vater. Seine Gerechtigkeit bezeugt die Herrlichkeit Gottes, der ihn von den Toten auferwecken wird. 3.2 Als Kontrapunkt: Pierre Teilhard de Chardin, Le milieu Divin Eine ähnliche Perspektive, wie sie Lukas seinem Doppelwerk zugrundelegt, findet sich, allerdings in charakteristischer Veränderung, bei einem Denker des 20. Jahrhunderts. Pierre Teilhard de Chardin (1881 - 1955) versuchte, die im Evangelium mit Jesus Christus verbundene heilsgeschichtliche Entwicklung so zu denken und zu formulieren, dass sie dem modernen Menschen plausibel erscheint, weil sie sich mit dem naturwissenschaftlichen Weltbild und hier besonders mit dem Evolutionsgedanken vereinbaren lässt. Pierre Teilhard de Chardin war ein französischer Paläontologe, Anthropologe, Philosoph und Theologe. Als Paläontologe war er 1929 Mitentdecker des sog. Pekingmenschen und ein bekannter Wissenschaftler. Er gehörte dem Jesuitenorden an und sah seine Aufgabe in der Versöhnung des christlichen Glaubens mit den Naturwissenschaften. Seine Werke schienen zunächst im Widerspruch zur Lehre der römisch-katholischen Kirche zu stehen und konnten erst nach seinem Tod veröffentlicht werden. In dem bereits 1926/ 27 in Tientsin verfassten, aber erst posthum erschienenen Buch „ Der göttliche Bereich “ (Le milieu Divin) 28 führt Teilhard aus, inwieweit sich göttlicher Einfluss und menschliches Handeln nicht ausschließen. Ihm geht es darum, dass die Gnade Gottes nicht nur theoretisch anerkannt, sondern auch in unserer naturwissenschaftlich geprägten Zeit als lebendige Wirklichkeit erfasst wird. Kritisch stellt er die Frage: „ Kann der Christus der Evangelien, den man in den Dimensionen einer Mittelmeerwelt sich vorstellt und liebt, noch unser unvorstellbar groß gewordenen Universum umfassen und dessen 28 Deutsche Übersetzung: Pierre Teilhard de Chardin, Der göttliche Bereich. Ein Entwurf des inneren Lebens, Werke, Bd. 14, 3. Aufl., Olten und Freiburg 1963. 86 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="87"?> Mittelpunkt bilden? “ 29 In den Schlussfolgerungen des Buches findet sich ein Abschnitt „ Der Sinn des Kreuzes “ 30 . Hier beschreibt Teilhard die Herrlichkeit des Kreuzes als eine Art geistiger Evolution. 3.2.1 Das Kreuz als Wegrichtung der geistigen Evolution des Menschen Teilhard de Chardin beobachtete zutreffend, dass man die Bedeutung des Kreuzes auf sehr unterschiedliche Art zum Ausdruck bringen kann. Man könne Jesus den Gekreuzigten auf eine „ herausfordernde und misstönende Art “ verkündigen. Dann werde das Kreuz „ als ein Sinnbild der Traurigkeit, der Einschränkung und der Unterdrückung “ herausgestellt. Damit verschärfe man aber unnötig die Auseinandersetzung. Das Kreuz ist für Teilhard nicht in erster Linie ein Zeichen, dem widersprochen wird, sondern „ ein höchstes Ziel, das wir erreichen, wenn wir über uns selbst hinauswachsen “ . In der Verkündigung der Kirche werde häufig ein Vokabular verwandt, das nicht hilfreich sei. Worte wie Opfer und Sühne würden routiniert, leichtfertig und gedankenlos verwandt. Das klinge sehr christlich, doch werde dadurch der Eindruck erweckt, dass nur die Trauer über das Leiden Jesu Christi die angemessene Form der Anbetung sei. Das sei aber nicht die geforderte christliche Einstellung zum Leiden des Erlösers. Für Teilhard gibt das Kreuz einen aufsteigenden Weg vor und zeigt ein klares Ziel auch für Menschen auf, die sich mit dem Glauben schwer tun: „ Wer überzeugt ist, dass sich angesichts der unermesslichen menschlichen Unruhe ein Weg zu einem Ausgang öffnet und dass dieser Weg ansteigt, der hängt der Lehre des Kreuzes in ihrer allgemeinsten Form an. Das Leben hat ein Ziel. Daher schreibt es auch eine Wegrichtung vor, die tatsächlich durch die größte Anstrengung zur höchsten Vergeistigung führt. Wer immer diese wesentlichen Grundsätze annimmt, zählt zu den vielleicht entfernten und stillschweigend zugehörigen, aber wirklichen Jüngern des gekreuzigten Jesus. “ Vor allem darf nach Teilhard Jesus Christus nicht nur als Einzelner gesehen, sondern muss in seiner universalen Bedeutung für die Menschheit verstanden werden. „ In Christus verbirgt sich unter dem vorbildlichen Leben eines Einzelmenschen das folgende geheimnisvolle Drama: Der Herr der Welt führt als Element der Welt nicht nur das Leben eines Elementes, sondern darüber hinaus noch das ganze Leben des Universums, das Er auf Seine Schultern nehmen und Sich angleichen will, indem Er es selbst auskostet. “ Das Erlösungswerk Christi und der menschliche Fortschritt dürfen nach Teilhard nicht isoliert betrachtet, sondern müssen in Beziehung gesetzt werden. „ Christus am Kreuz ist zugleich Sinnbild und Wirklichkeit der unermesslichen jahrhundertealten Arbeit, die nach und nach den geschaffenen Geist hinaufhebt und ihn in die Tiefen des Göttlichen Bereichs zurückträgt. 29 A. a. O. 20. 30 A. a. O. 109 - 115. 3 Der Todes Jesu im lukanischen Werk 87 <?page no="88"?> Christus vertritt (in einem wahren Sinne) die Schöpfung, die, von Gott gestützt, den Hang des Seins hinaufsteigt. “ Das Kreuz - hier nimmt Teilhard die paulinische Dialektik von „ Torheit “ und „ Weisheit “ (1 Kor 3, 18 - 25) auf - hat infolgedessen zwei sich ergänzende Aspekte. Einerseits bedeutet auch für Teilhard das Kreuz den „ Bruch mit der Welt “ . Der Glaubende muss einen „ kritischen Punkt “ überwinden und sich in der wahrnehmbaren Welt für das „ Jenseits “ des Kreuzes entscheiden. Andererseits aber ist das Kreuz das Symbol für eine positive Entwicklung der Welt. Es ist „ die Vergeistigung des Gesetzes, das alles Leben beherrscht “ . „ Zu den Gipfeln, die für unser menschliches Auge vom Nebel verhüllt sind und zu denen das Kreuz uns einlädt, steigen wir auf einem Pfad hinan, der auch die Bahn des universellen Fortschrittes ist. Die königliche Bahn des Kreuzes ist ja der Weg der menschlichen Anstrengung, der auf übernatürliche Art ausgerichtet und verlängert wird. “ 3.2.2 Heilsgeschichte und Universalgeschichte Als Ergebnis hält Teilhard fest: „ Das Kreuz ist daher nicht etwas Unmenschliches, sondern etwas Übermenschliches. Wir begreifen, dass es seit dem Ursprung der heutigen Menschheit am Weg, der zu den höchsten Gipfeln der Schöpfung führt, aufgerichtet war. “ Das Anliegen Teilhards ist deutlich: Er möchte Heilsgeschichte und Universalgeschichte miteinander versöhnen. Die Heilsgeschichte ist nicht abgeschlossen, sondern wirkt in der Menschheitsgeschichte fort. Denn Jesus Christus ist nicht nur der Anfang (Punkt Alpha), sondern auch das Ziel (Punkt Omega) der universal verstandenen Entwicklung der Menschheit. Was Christen glauben, findet im Universum eine Entsprechung. Dieser Ansatz verlangt und setzt voraus, dass das, was Christen glauben, als ein geistiger Entwicklungsprozess gesehen wird und die Inhalte des Glaubensbekenntnisses auch naturwissenschaftlich plausibel sind. 3.3 Ertrag: Der Tod Jesu als Offenbarung der Wirklichkeit Pierre Teilhard de Chardin vertritt eine Interpretation, die den Kontrast zwischen der Negativität des Kreuzes Jesu und einer auf dem Osterglauben begründeten, zielgerichteten, positiven Heilsgeschichte überwinden möchte. Trotz einzelner Differenzen befindet sich diese Interpretation in der Kontinuität zu dem lukanischen Geschichtswerk. 3.3.1 Tod und Auferstehung Jesu als Deutung der Weltgeschichte Ein wichtiges Anliegen der lukanischen Geschichtsschreibung wird in Teilhards Ansatz, das Christentum mit dem naturwissenschaftlichen Zugang der Paläontologie zu der langzeitlichen Entwicklung des Lebens auf Erden zu verbinden, wiederaufgenommen. Es besteht in dem Versuch, die Ge- 88 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="89"?> schichte der Menschheit vom Kommen Jesu, von seinem Tod und seiner Auferstehung her zu deuten. Der lukanischen Theologie und dem Denken Teilhards ist die Vorstellung gemeinsam, dass Tod und Auferstehung Jesu die Geschichte einer Überwindung des Bösen bilden und dass diese Überwindung die entscheidende Etappe in der Richtung auf ein eschatologisches Ziel hin ist. Der Weg zum Ziel (zum Heil und zur Auferweckung der Toten) besteht für Lukas in der Verkündigung der Auferstehung Jesu und in der Einladung zur Buße und zur Taufe. Buße und Taufe sind die Voraussetzungen für die Vergebung der Sünden und für die Gabe des heiligen Geistes (Apg 2,38). Bei Lukas wird aber die Verheißung nicht wie bei Teilhard von der Vorstellung einer progressiven Vergeistigung (vom Punkt Alpha bis zum Zielpunkt Omega) bestimmt, sondern von dem Gedanken einer Heilsgeschichte, die Gott durch den Mund seiner Propheten, durch Jesus, der als der Gerechte in der Kraft Gottes gehandelt hat, und durch den heiligen Geist verwirklicht. Die Heilsgeschichte hat ihren Horizont in der Auferstehung der Toten. Der ungerechte Tod des gerechten Jesus erfolgt aufgrund einer Geschichte des Ungehorsams (Apg 7,1-53). Diese Geschichte des Ungehorsams erweist sich als Hindernis für die Heilsgeschichte. Sie wird dadurch überwunden, dass Gott den Gerechten auferweckt und den Aposteln durch seinen Geist die Heidenmission anvertraut (Apg 10,1-11,18). 3.3.2 Die historische Relevanz des Todes und der Auferstehung Jesu Der Verfasser des lukanischen Doppelwerks kennt theologische Traditionen des frühen Christentums, die den Tod Jesu soteriologisch interpretieren (Lk 22,19-20). Sein Anliegen besteht aber nicht in der Reflexion des Erlösungscharakters der Kreuzigung, sondern im Herausstellen der Relevanz der Kreuzigung für die Interpretation des Geschichte Israels und der universalen Menschheit. Lukas bettet die Geschichte Jesu insofern in die Geschichte Israels ein, als sich sein Doppelwerk als die Erzählung einer Epoche der Geschichte Israels vorstellt 31 . Die Ereignisse werden nicht nur als Erfüllung der heiligen Schriften, sondern konsequent als die Erfüllung der Heilshoffnungen Israels gedeutet (Lk 1 - 2 und Apg 2,16-28; 26,4-8). In diesem Zusammenhang wird der Tod Jesu als die exemplarische Offenbarung des hartnäckigen Ungehorsams (Apg 7, 51-53) genauso wie seine Auferstehung als die Singularität der Offenbarung der Heilsgeschichte Gottes ausgelegt. Wegen des Unglaubens, der die Geschichte Israels seit dem „ Goldenen Kalb “ (Apg 7,39-43) und Salomos Tempelbau (Apg 7,47-50) durchzieht, musste Jesus Christus die Passion und den Tod erleiden und in seine Herrlichkeit eintreten (Lk 24,26-27 und 24,44-48). Das zweiteilige Geschichtswerk des Lukas und das theologische Werk Teilhards verbindet der Versuch, die Heilsgeschichte mit ihrem Zentrum in Kreuz und Auferstehung Jesu auf die universale Geschichte der Menschheit 31 Michael Wolter, Das Lukasevangelium, HNT 5, Tübingen 2008, 26 - 27. 3 Der Todes Jesu im lukanischen Werk 89 <?page no="90"?> hin zu erweitern. Bei Lukas reicht der Stammbaum Jesu bis Adam zurück und schließt die gesamte Menschheit ein (Lk 3,23-38). Die Geschichte der Geburt Jesu beginnt mit einem Verweis auf die römische Politik. Das Edikt des Augustus (Lk 2,1-3) verleiht dieser Geburt sofort einen historischen und ökumenischen Rahmen. Die im Lukasevangelium und in der Apostelgeschichte erzählte Epoche findet Ende und Ziel in der fast bekenntnisartigen Erklärung, die die Begegnung Agrippas mit dem gefangenen Paulus abschließt: „ Beinahe überzeugst du mich, dass ich mich zu einem Christen mache “ (Apg 26,28). Die letzte Szene der Apostelgeschichte, die mit Jes 6,9-10 als Interpretament die Ablehnung der christlichen Verkündigung durch die überwältigende Mehrheit des Judentums in Rom - dem Zentrum der Welt - öffentlich macht (Apg 28,17-31) 32 , begründet programmatisch die zeitlich und geographisch unbegrenzte Bedeutung des Kommens Jesu, seines Todes, seiner Auferstehung und des apostolischen Zeugnisses. 3.3.3 Hypothese: Tod und Auferstehung Jesu als Offenbarung der Wirklichkeit In Anlehnung an die Interpretation des Todes Jesu im lukanischen Geschichtswerk und in der Theologie Teilhards vertreten wir die These, dass die soteriologische Relevanz des Todes Jesu erlaubt, die gesamte Menschheitsgeschichte von der Verkündigung des Todes und der Auferstehung Jesu her zu verstehen. Die Aufforderung zum Vertrauen auf das uns von Gott entgegengebrachte Vertrauen und die Einladung, vom menschlichen System des Tausches in die Logik des „ Umsonstheit “ Gottes hinüberzuwechseln, gewinnen dadurch ihre Gültigkeit, dass die durch sie vermittelte Wahrheit Gottes der gesamten Menschheits- und Weltgeschichte zugrunde liegt und zugute kommt. Das Kreuz befreit, weil es die Wahrheit der Wirklichkeit - Paul Watzlawick: die Wirklichkeit der Wirklichkeit - offenbart. 32 Eckhard Plümacher, Rom in der Apostelgeschichte, in: Geschichte und Geschichten. Aufsätze zur Apostelgeschichte und zu den Johannesakten, WUNT 170, Tübingen 2004, 135 - 169. 90 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="91"?> 4 Der Tod Jesu im Johannesevangelium 4.1 Johannes 3,14; 8,28; 12,32 und die Passionsgeschichte Das vierte Evangelium setzt wahrscheinlich die Darstellungen seiner drei kanonischen Vorgänger voraus und offenbart „ von oben her “ , was Markus, Matthäus und Lukas „ von unten her “ erzählt haben. Auf der Basis des schon vorgegebenen Aufrisses hat das Johannesevangelium die Form eines Offenbarungsbuchs angenommen, das die Worte Jesu in Dialogen und Reden entfaltet. Die synoptische Architektur des Weges Jesu von Galiläa nach Jerusalem verschwindet bei Johannes hinter einer visionären Schau. Sie wird beschrieben als das kosmische Drama des vom Himmel gesandten Gottessohns und seiner öffentlichen Offenbarung in der Welt (Joh 1 - 12) und seiner Rückkehr zum Vater durch Erhöhung und Verherrlichung (Joh 13 - 21), nachdem Jesus von seinen Jüngern Abschied genommen hat (Joh 14 - 17). Der Versuch, Bedeutung und Deutung des Todes Jesu im Johannesevangeliums zu verstehen, muss sich auf einige zentrale Stellen konzentrieren: - Der Hymnus, der das Buch eröffnet, entwirft eine theologische Darstellung der Menschwerdung und der Verherrlichung Jesu. Radikaler als Paulus, der im Hymnus des Philipperbriefs (Phil 2,6-11) vom Kreuzestod und der Erhöhung Jesu in einer Weise spricht, dass die Metapher der Erhöhung als Interpretament gebraucht wird, stellt Johannes den Tod Jesu als Rückkehr zum Vater dar. - Daraus folgt, dass die Darstellung der Verhaftung, des Prozesses, der Kreuzigung und des Todes Jesu (Joh 18 - 19) zwar die Form der Passionsgeschichte der ersten drei Evangelien aufnimmt, aber die souveräne Rückkehr des von Gott gesandten Sohnes zu seinem Vater inszeniert (Joh 19,16 b-30). - Dementsprechend ersetzt Johannes die drei synoptischen Ankündigungen der Passion, des Todes und der Auferstehung Jesu durch je drei Ankündigungen seiner Erhöhung (Joh 3,14; 8,28; 12,32) und seiner Rückkehr zum Vater (Joh 7,33-36; 8,21-22; 13,31-33). 4.1.1 Die Offenbarung der Sendung und der Rückkehr des Sohnes zum Vater Der Prolog (Joh 1,1-18) kündigt die zentrale Aussage des Evangeliums an: „ Das Wort ist Fleisch geworden (Joh 1,14 a), und wir haben seine Herrlichkeit gesehen “ (Joh 1,14 b). Dieser programmatischen Aussage im Prolog entspricht der Aufbau des Evangeliums: Das Thema des ersten Teils ist die Sendung (Joh 1,19-12,50), das Thema des zweiten Teils die Erhöhung des Sohnes, seine Verherrlichung und seine Rückkehr zum Vater (Joh 13,1-21,25). 91 <?page no="92"?> Das Johannesevangelium stellt Jesus als den Sohn dar, den der Vater in die Welt gesandt hat, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben erhalten (Joh 3,16). Gemeint ist, dass der Gottessohn in die Welt gekommen ist, um den Menschen die Möglichkeit einer neuen Geburt „ von oben her “ und damit ein neues Leben zu geben, das das Johannesevangelium das ewige Leben nennt und das in der Gemeinschaft des Vaters mit dem Sohn und in der Gemeinschaft des Sohnes mit seinen Jüngern besteht. Die Johannespassion interpretiert den Tod Jesu als die Rückkehr des Sohnes zum Vater. Die Erhöhung am Kreuz ist gleichzeitig die Erhöhung in die Herrlichkeit: Jesus kehrt zum Vater zurück, um alle Menschen zu sich und zu Gott zu ziehen und um in der himmlischen Herrlichkeit Wohnungen für die Jünger vorzubereiten (Joh 12,32; 14,1-4). Sowohl das Kommen des Sohnes in die Welt als auch die Rückkehr zum Vater sind gleichzeitig die Offenbarung des vom Himmel herabgekommenen Sohnes und des Vaters, der ihn gesandt hat (Joh 12,27-35; 13,31-35), und die Offenbarung des (End-) Gerichts über die Welt, die nicht geglaubt hat und nicht glaubt: Die Ablehnung des Lichtes offenbart die Finsternis der Welt (Joh 3,17-21). 4.1.2 Der Prolog als Bekenntnis der Menschwerdung und der Herrlichkeit des Wortes Der Hymnus, der das Johannesevangelium eröffnet (der „ Prolog “ , Joh 1,1-16), interpretiert in drei Strophen das Drama, das anschließend im Evangelium geschildert wird (Joh 1,19-21,25): die Sendung des Gottessohns in die Welt und seine Ablehnung durch ihren Unglauben. Die Dichtung sprengt den Rahmen der Erzählung, Sie entwickelt das christologische Denken weiter, das in den zeitlich früheren Hymnen des Philipperbriefs (Phil 2,6-11), des Kolosserbriefs (Kol 1,13-20) und des Epheserbriefs (Eph 1,3-14) entworfen worden war. Die Deutung des Todes und der Auferstehung Jesu als Erhöhung und Rückkehr des Sohnes zum Vater impliziert den himmlischen Ursprung Jesu, sodass seine Präexistenz, seine Aussendung in die Welt, seine Menschwerdung und Erhöhung (oder Verherrlichung) Interpretamente der Kreuzigung und der Osterbotschaft sind. Die erste Strophe des Hymnus (Joh 1,1-8) stellt die Person Jesu als den Logos, das Wort Gottes, vor. Die Ablehnung der absoluten Singularität des Kommens Jesu und seiner Erhöhung am Kreuz wird als die Weigerung der Welt interpretiert, den Logos Gottes, der sie geschaffen hat ( „ Ohne ihn ward nicht eines, das geworden ist “ , Joh 1,3), und in ihm das Leben und das Licht der Menschen (Joh 1,4) zu empfangen. Im Tod Jesu offenbart sich die Finsternis, die doch auf die Erscheinung des Lichtes angewiesen ist (Joh 1,5 a), als die Finsternis des Unverständnisses und des Unglaubens (Joh 1,5 b): Johannes 1,1-8 (1) Am Anfang war der Logos, und der Logos war bei Gott, Gott war der Logos. 92 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="93"?> (2) Er war am Anfang zu Gott hin. (3) Alles ist durch ihn geworden, und ohne ihn ward nicht eines, das geworden ist. (4) In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. (5) Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis nahm es nicht auf. (6) Es wurde ein Mensch, von Gott gesandt, mit Namen Johannes. (7) Er kam zum Zeugnis, damit er von dem Licht zeuge, damit alle durch ihn glauben. (8) Nicht er war das Licht, sondern damit er von dem Licht zeuge. Die zweite Strophe (Joh 1,9-15) nimmt die Themen der ersten auf und führt sie aus: Die Ablehnung des Logos Gottes, der jedem Menschen die Möglichkeit gibt, sich in Wahrheit zu verstehen (die absolute Singularität des wahren Lichtes erleuchtet jeden Menschen - universal, Joh 1,9), folgt aus der Unfähigkeit der Welt, ihren Ursprung anzuerkennen (die Welt erkannte den Logos nicht, durch den sie entstand, Joh 1,10). Asymmetrisch zum Unglauben der „ Seinen “ (Joh 1,11) bekennt das Gedicht die Veränderung, die alle erfahren, die den Logos empfingen: Sie haben eine neue Identität bekommen und sind dadurch Kinder Gottes geworden, dass sie von Gott neu gezeugt worden sind (Joh 1,12-13; vgl. von oben her neu geboren: Joh 3,3-5) Johannes 1,9-15 (9) Der Logos (nicht Johannes, sondern ein anderer, der kommt) war das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, in die Welt gekommen. (10) Er war in der Welt, und die Welt ward durch ihn, und die Welt erkannte ihn nicht. (11) Er kam in das Seine, und die Seinen empfingen ihn nicht. (12) Alle, die ihn empfingen, denen gab er die Autorität, Kinder Gottes zu werden, denen, die an seinen Namen glauben, (13) die nicht - aus Blut - oder aus Willen des Fleisches - oder aus Willen eines Mannes, sondern aus Gott gezeugt wurden, (14) Und der Logos wurde Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als Einziggeborenen vom Vater, voll Gnade und Wahrheit. (15) Johannes zeugt von ihm und hat gerufen: „ Der war (es), von dem ich sagte: Der nach mir kommt, wurde vor mir, denn er war als erster vor mir “ . Das Bekenntnis der Fleischwerdung des Logos ( „ Der Logos wurde Fleisch “ , Joh 1,14 a) und seiner Herrlichkeit ( „ Wir sahen seine Herrlichkeit “ , Joh 1,14 b) 4 Der Tod Jesu im Johannesevangelium 93 <?page no="94"?> bezieht die beiden gegensätzlichen Momente des Empfangens durch den Glauben und der Verwerfung durch die ungläubige Welt auf das doppelte Ereignis der Sendung des Sohnes und seiner Rückkehr zum Vater. Das Gedicht geht nicht vom Faktum der Kreuzigung zu ihrer Deutung über, sondern von einer Deutung, die die ganze Schöpfung und die Ewigkeit einbezieht, zu der Konkretisierung des kosmischen Dramas in der Geschichte des Todes Jesu und der Wiedergeburt der bekennenden Christen ( „ wir “ , Joh 1,14.16), die an den Sohn glauben (Joh 1,12-14). Die dritte Strophe (Joh 1,16-18) setzt den Gedankengang fort: Die Glaubenden, die nicht von Menschen, sondern vom himmlischen Vater gezeugt und neu geboren worden sind, stehen nicht mehr unter dem Gesetz, das Mose gegeben hat, sondern sind durch die Gnade Jesu Christi in die himmlische Gemeinschaft der Gegenwart Gottes aufgenommen worden. Das Oxymoron des „ einziggeborenen Sohnes “ (Joh 1,18) setzt das schlechthinnige Paradox des fleischgewordenen Logos voraus (Joh 1,14): Die Kreuzigung als Erhöhung und Rückkehr zum Vater offenbart den historischen Menschen Jesus von Nazareth als Gott, der als der Sohn in die Welt gesandt worden ist: Johannes 1, 16 - 18 (16) Denn aus seiner Fülle empfingen wir alle Gnade um Gnade. (17) Denn das Gesetz wurde durch Mose gegeben, die Gnade und die Wahrheit wurden durch Jesus Christus. (18) Gott hat niemand jemals gesehen. Der einziggeborene Sohn, der im Schoße des Vaters ist, er teilte ihn mit. Zwei Sequenzen in Prosa verlassen das Hauptthema der Offenbarung des Logos, um auf das Zeugnis Johannes des Täufers zu verweisen (Joh 1,6-8 und 15). Inhaltlich unterbrechen sie das Gedicht nicht, sondern bereiten seine wesentliche Aussage vor: Der Logos ist ein Mensch geworden, der weder mit Johannes dem Täufer (Joh 1,6) noch mit Mose (Joh 1,17 a), sondern mit dem Namen Jesus Christus, der am Ende der Komposition fällt (Joh 1,17 b), identifiziert wird. Das in dem Zeugnis Johannes des Täufers vorgegebene Ziel erklärt den Sinn der Menschwerdung und des Todes Jesu: Gott als das Licht zu offenbaren, damit alle glauben (Joh 1,7). 4.1.3 Die Passionsgeschichte als Vollendung der Offenbarung Die Johannespassion ist nur insofern eine Passionsgeschichte, als die Darstellung des Prozesses, der Kreuzigung, des Todes und der österlichen Erscheinungen Jesu (Joh 20 und 21) dem Muster der drei ersten Evangelien folgt. Die erzählte Geschichte ist aber im Grund keine Passionsgeschichte, weil sie nicht die Leiden Jesu erzählt, der dem menschlichen Denken ausgeliefert, als das prophetische Wort getötet und als der Gerechte Gottes ungerecht 94 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="95"?> verurteilt wird, sondern die souveräne Rückkehr des vom Himmel herabgekommenen Sohnes zu seinem Vater in den Mittelpunkt stellt: Johannes 10,17-18 (17) Deshalb liebt mich der Vater, weil ich meine Seele zur Verfügung stelle, damit ich sie wieder zurücknehme. (18) Niemand nimmt sie von mir, sondern ich stelle sie von mir aus zur Verfügung: - Ich habe die Vollmacht, sie zur Verfügung zu stellen, - und ich habe die Vollmacht, sie wieder zurückzunehmen. Dieses Gebot habe ich von meinem Vater bekommen. Die Dimensionen des Leidens, die die synoptischen Passionsschilderungen als Geschichte des Gehorsams und der Selbsthingabe des Menschensohnes kennzeichnen, fehlen in der Johannespassion. Symptomatisch für das johanneische Verständnis der Passion und des Todes Jesu ist die Neugestaltung der Gethsemani-Szene: Johannes 12,27-30 (27) Jetzt ist meine Seele erschüttert und was werde ich sagen? Vater, rette mich aus dieser Stunde? Aber dafür bin ich in diese Stunde gekommen! (28) Vater, verherrliche deinen Namen! Eine Stimme kam aus dem Himmel: „ Ich habe ihn verherrlicht und ich werde ihn wieder verherrlichen! “ (29) Die Menge, die da stand und hörte, sagte, es habe gedonnert. Andere sagten: „ Ein Engel hat mit ihm gesprochen “ . (30) Jesus antwortete und sagte: „ Nicht um meinetwillen erklang diese Stimme, sondern um euretwillen. “ Die rhetorische Frage, die die Szene eröffnet, nimmt einen kritischen Bezug auf die synoptische Erzählung (Mk 14,32-42/ / Mt 26,36-46/ / Lk 22,40-46). Der Gottessohn ist nicht in die Welt gekommen, um den Vater zu bitten, ihn vor der Erhöhung am Kreuz in den Himmel zu retten. Anders als im Markusevangelium ist die Stunde des Todes keine Stunde des Leidens und der Selbsthingabe (Mk 14,35; 15,34), sondern der Augenblick, in dem Gott seinen Namen und seinen Sohn verherrlicht, indem er die göttliche Herkunft Jesu offenbart. In der Darstellung der synoptischen Evangelien gehört das Gebet in Gethsemani zum intimen Bereich des Kampfes Jesu mit sich selbst: Jesus 4 Der Tod Jesu im Johannesevangelium 95 <?page no="96"?> zieht sich mit den drei vertrauten Jüngern (Petrus, Jakobus und Johannes, Mk 14,33) und dann allein zurück (Mk 13,35). Die johanneische Fassung verlegt jedoch die Gethsemani-Szene in die Öffentlichkeit: Die Erklärung des Vaters, der seinen Sohn verherrlichen wird (Joh 12,28), ist nicht für Jesus, sondern für die gesamte Menschheit bestimmt. Angekündigt wird die Offenbarung, die auf Golgotha stattfinden wird. Die johanneische Passionsgeschichte folgt äußerlich dem Handlungsablauf der drei ersten Evangelien: - Verhaftung Jesu (Joh 18,1-11), - Jesus vor Hannas und Kaiphas (Joh 18,12-24), - Verleugnung durch Petrus (Joh 18,25-27), - Dialog zwischen Jesus und Pilatus (Joh 18,28-19,16), - Kreuzigung und Tod Jesu (Joh 19,16-37), - Grablegung (Joh 19,38-42). Die einzelnen Szenen werden aber als verschiedene Stationen der Verherrlichung Jesu durch den Vater gestaltet: - Die Verhaftung wird in eine Offenbarung des Sohnes umgewandelt: Jesus stellt sich mit einem absoluten „ Ich bin “ vor (Joh 18,5.6.8, vgl. Joh 8,24.28), das auf die Selbstvorstellung Gottes in Jes 43,25 und auf die Theophanie in Ex 3,14 verweist und die Soldaten in Ohnmacht versetzt (Joh 18,6). - Der Prozess ist als doppelter Dialog gestaltet, den Pilatus mit den Juden (draußen) und mit Jesus (innen im Prätorium) führt (Joh 18,28-19,16). Der Dialog mit Pilatus ist parallel zu den Dialogen mit Nikodemus (Joh 3,1-11) und der Frau aus Samarien (Joh 4,4-26) aufgebaut: Die missverstandenen Aussagen Jesu und die erforderlichen Erklärungen zeigen die Distanz, die die göttliche Einheit des Vaters und des Sohnes von der irdisch-menschlichen Welt des Pilatus trennt. Jesus offenbart sich als der König einer Herrschaft, die nicht von dieser Welt ist, und als die Wahrheit (vgl. Joh 14,6). Die Johannespassion inszeniert nicht nur die Verhaftung Jesu, den Prozess und den Dialog mit Pilatus neu, sondern auch die Kreuzigung und den Tod Jesu. Im Zentrum der Darstellung der Kreuzigung steht die Offenbarung der Herrlichkeit des Gottessohns, dem niemand das Leben nimmt, sondern der es von sich aus zur Verfügung stellt und der die Vollmacht hat, es sowohl zur Verfügung zu stellen als auch zurückzunehmen (Joh 10,17-18), also frei darüber verfügen kann: - Johannes lässt die Episode mit Simon von Kyrene weg (Mk 15,20): Jesus trägt selbst sein Kreuz bis zum Ziel (Joh 19,17). - Im Johannesevangelium werden wie bei den Synoptikern zwei weitere Personen rechts und links von Jesus gekreuzigt. Das vierte Evangelium deutet aber das Motiv um: Hervorgehoben wird nicht die schlechte Gesellschaft, in der sich Jesus während seines Sterbens befindet, sondern seine herausgehobene Stellung. „ Jesus aber in der Mitte “ , das heißt: er wird in der Mitte der drei Gekreuzigten inthronisiert (Joh 19,18): 96 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="97"?> - Die Inschrift (titulus), die an das Kreuz geheftet wird (Jesus der Nazaräer der König der Juden), ist der Ausgangspunkt einer dramatischen Szene. Sie löst einen Konflikt zwischen den Hohenpriestern und Pilatus aus. „ König der Juden “ ist für die jüdischen Vertreter eine Selbstanmaßung Jesu ( „ dieser hat gesagt . . . “ , Joh 19,21), während Pilatus Jesus in den drei internationalen Sprachen als König der Juden öffentlich und universal proklamiert (Joh 19,19) und die Inschrift ausdrücklich bestätigt: „ Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben “ (Joh 19,22). Johannes 19,16 b-22 (16b) Da übernahmen sie Jesus. (17) Und sein Kreuz selbst tragend ging er hinaus zu dem Schädelstätte genannten Ort, der hebräisch Golgotha heißt, (18) wo sie ihn kreuzigten und mit ihm noch zwei andere, den einen zur Rechten und den anderen zur Linken, Jesus aber in der Mitte. (19) Pilatus hatte eine Inschrift geschrieben und an das Kreuz geheftet. Es stand geschrieben: „ Jesus der Nazaräer der König der Juden “ . (20) Diese Inschrift lasen viele der Juden, denn der Ort, wo Jesus gekreuzigt wurde, lag nahe bei der Stadt, und sie war hebräisch, römisch und griechisch geschrieben. (21) Da sagten zu Pilatus die Hohenpriester der Juden: „ Schreibe nicht: Der König der Juden, sondern dass dieser gesagt hat: Ich bin der König der Juden “ . (22) Pilatus sagte: „ Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben “ . Am Kreuz schweigt Jesus nicht, sondern ordnet als der Sohn, der zum Vater zurückkehrt, die Zukunft auf der Erde. Die Anwesenheit der Frauen (Joh 19,25/ / Mk 15,42) bietet den Rahmen für die Einsetzung des Jüngers, den Jesus liebte, zur autorisierten Bezugsperson der kreativen Erinnerung, durch die der erhöhte Gottessohn seinen Jüngern und den Glaubenden der kommenden Generationen gegenwärtig sein wird. - Jesus wird den Jüngern und den Glaubenden den Geist senden (Joh 20,22), der bei ihnen bleiben (Joh 14,15-17), sie an seine Worte erinnern (Joh 14,25-26); 16,26-27), sie in die ganze Wahrheit führen (Joh 16,12-15) und das Gericht über die Welt fortsetzen wird (Joh 16,7-11). - Jesus hinterlässt den Jünger, den er liebte, als seinen Vertreter (Joh 13, 21-26; 20,3-10; 21,20-23). Seine Sonderstellung verdankt der Jünger dem Umstand, dass Jesus ihn liebte, was im Sprachgebrauch des Johannesevangeliums bedeutet, dass Jesus ihm seine Gedanken offenbarte (Joh 13,34-35; 15,9-17). - Johannes deutet den Tod Jesu als den Augenblick des Abschieds des zum Vater zurückkehrenden Gottessohns. Der Lieblingsjünger wird 4 Der Tod Jesu im Johannesevangelium 97 <?page no="98"?> Jesus bei seiner Mutter als Sohn vertreten und zugleich als der Vertreter Jesu und Garant der Offenbarung in der Welt bleiben: Johannes 19,25-27 (25) Und es standen beim Kreuz Jesu seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die (Frau) von Klopas, und Maria die Magdalenerin. (26) Jesus, sehend seine Mutter und den Jünger, den er liebte, dastehen, sagt zu seiner Mutter: „ Frau, siehe, das ist dein Sohn! “ (27) Und darauf sagt er zu dem Jünger: „ Siehe, das ist deine Mutter! “ Und von dieser Stunde an nahm sie der Jünger zu sich. Der Tod Jesu wird weder als Selbsthingabe des Gottessohns, der darauf verzichtet, seine Seele retten zu wollen (Markus), noch als Passion des prophetischen Wortes (Matthäus) noch als Verurteilung des Gerechten Gottes (Lukas), sondern konsequent als Vollendung der Offenbarung des vom Himmel gekommenen Logos Gottes dargestellt. Jesus ruft nicht „ Mich dürstet! “ (Joh 19,28), weil er dürstet und leidet, sondern um sein Offenbarungswerk - und die Schrift - zur Vollendung zu bringen: Johannes 19,28-30 (28) Danach Jesus, wissend, dass alles schon vollendet war, damit die Schrift vollendet werde, sagte: „ Mich dürstet! “ (Ps 22,16) (29) Es stand ein Gefäß voll Essig. Und sie steckten einen mit Essig getränkten Schwamm auf einen Ysopzweig und reichten ihn Jesus zum Mund. (30) Als Jesus den Essig genommen hatte, sagte er: „ Es ist vollendet “ , und er neigte das Haupt und gab den Geist auf. 4.1.4 Der Tod Jesu als Rückkehr zum Vater Das Johannesevangelium enthält keine Passionsankündigungen (Mk 8,31-33; 9,30-32; 10,32-34), sondern drei Ankündigungen der Erhöhung des Sohnes (Joh 3,14; 8,28; 12,32) und drei Ankündigungen seiner Rückkehr zum Vater (Joh 7,33-36/ / 8,21-22/ / 13,31-33). Sie kündigen die Offenbarung des Gesandten Gottes als die Wahrheit an, die nicht von dieser Welt ist. Die Ankündigungen offenbaren die Zugehörigkeit des vom Himmel gesandten Gottessohns zu einer Welt „ von oben her “ , die sich auf den Erfahrungshorizont der 98 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="99"?> Gesprächspartner Jesu weder reduzieren noch zurückführen lässt. Die Ankündigungen variieren die gleiche Struktur: A. Jesus nimmt Abschied: Er wird weggehen. Seine Gesprächspartner werden ihn suchen. Wo er hingeht, können sie nicht nachkommen. B. Die Gesprächspartner versuchen, das Wort Jesu zu verstehen: Sie fragen nach dem Sinn und interpretieren „ von unten her “ , was „ von oben her “ gemeint war. C. Die Gesprächspartner wiederholen das für sie unverständliche Wort. Die erste Ankündigung der Rückkehr Jesu zum Vater (Joh 7,33-36) erklärt ausdrücklich die Bestimmung des Sohnes: Er wird in kurzer Zeit zu dem zurückkehren, der ihn gesandt hat. Johannes 7,33-36 A (33) Noch eine kurze Zeit bin ich mit euch, und ich gehe hin zu dem, der mich gesandt hat. (34) Ihr werdet mich suchen und nicht finden. Und wo ich bin, könnt ihr nicht hinkommen. B (35) Die Juden sagten unter sich: Wohin will dieser gehen, dass wir ihn nicht finden werden? Will er vielleicht in die Zerstreuung der Griechen gehen und die Griechen lehren? C (36) Was bedeutet dieses Wort, das er gesprochen hat: Ihr werdet mich suchen und nicht finden, und wo ich bin, könnt ihr nicht hinkommen? Dem literarisch konstruierten Missverständnis liegt eine doppelte Ironie zugrunde. Sie besteht einerseits darin, dass das Weggehen Jesu nicht horizontal auf der Erde, sondern vertikal von der Welt in den Himmel - transzendental - gemeint ist, aber andererseits auch darin, dass das Missverständnis der Juden einen prophetischen Charakter hat: In der Tat gehört die Verkündigung an die Griechen zu den Themen des Evangeliums (Joh 12,32). Die zweite Ankündigung der Rückkehr Jesu zum Vater (Joh 8,21-22) erklärt die Konsequenz für die Menschen, die nicht an den Sohn glauben: Wenn sie ihn nicht empfangen, werden sie in ihren Sünden sterben. Der Begriff der Sünden bezeichnet im Johannesevangelium die Verwechslung von Gott und Welt. Diese Verwechslung kennzeichnet den Unglauben als Ablehnung der Offenbarung (Joh 1,29; 8,21.24.34.46; 9,34.41; 15,22.24; 16,8.9; 19,11; 20,23). „ In der Sünde zu sterben “ meint nicht, in der Zeit des Lebens nicht geglaubt zu haben, sondern am ewigen Leben, das zu schenken der Sohn die Vollmacht hat (Joh 5,19-30), vorbeigegangen zu sein und im Tod - im Sinn vom Finsternis und Verzweiflung - zu bleiben: 4 Der Tod Jesu im Johannesevangelium 99 <?page no="100"?> Johannes 8,21-22 A (21) Ich gehe hin, und ihr werdet mich suchen und in eurer Sünde sterben. Und wo ich hingehe, könnt ihr nicht hinkommen B (22) Die Juden sagten: Will er sich also selbst töten, C denn er sagt: Wo ich hingehe, könnt ihr nicht hinkommen? Die doppelte Ironie besteht erneut darin, dass die Juden den Weggang Jesu horizontal missverstehen und dass ihr Missverständnis trotzdem auf die Wahrheit verweist: Jesus wird sich in der Interpretation des Johannesevangeliums tatsächlich dem Tod ausliefern, aber in dem Sinn, dass ihm niemand sein Leben nehmen kann, sondern dass ihm der Vater die Vollmacht gegeben hat, es dahinzugeben und zurückzunehmen (Joh 10,17-18), sodass gerade sein Tod seine Herkunft offenbaren und ihn - und den Vater - verherrlichen wird. Die dritte Ankündigung der Rückkehr zum Vater (Joh 13,33-38) folgt der Fußwaschung (Joh 13,1-20) und leitet die erste Abschiedsrede ein (Joh 14, 1-31). Die Form wird stark variiert: Das gegenseitige Liebesgebot (Joh 13, 34-35) bereitet den Ort der Präsenz des zum Vater erhöht werdenden Gottessohnes unter seinen Jüngern vor. Dem Missverständnis der Juden schließt sich das Missverständnis des Petrus an (Joh 13,36-38). Daran zeigt sich, dass die johanneische Darstellung nicht jüdisches Missverständnis und christliches (rechtes) Verständnis, sondern die irdisch-horizontale Wahrnehmung der Welt und die transzendente Gottesoffenbarung gegenüberstellt. Johannes 13,33-38 A (33) Kinder, noch eine kurze Zeit bin ich mit euch. Ihr werdet mich suchen, und, wie ich den Juden gesagt habe,.Wo ich hingehe, könnt ihr nicht hinkommen, auch euch sage ich es jetzt. (34) Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander liebt, wie ich euch geliebt habe, (35) Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe zueinander habt. B (36) Simon Petrus sagt zu ihm: - Herr, wohin gehst du? Jesus antwortet: - Wo ich hingehe, kannst du mir jetzt nicht folgen. Du wirst später folgen. (37) Petrus sagt zu ihm: - Herr, warum kann ich dir nicht jetzt folgen? Ich werde mein Leben für dich geben. C (38) Jesus antwortet: - Wirst du dein Leben für für mich geben? Wahrlich, ich sage dir, der Hahn wird nicht krähen, bis du mich dreimal verleugnet hast. 100 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="101"?> Beim dritten Mal besteht die doppelte Ironie darin, dass auch Petrus den Weggang Jesu horizontal missversteht, dass sein Missverständnis aber auf die Wahrheit verweist: Petrus wird zwar Jesus folgen können, aber erst dann, wenn Jesus vorher zum Vater zurückgekehrt ist, um die himmlischen Wohnungen vorzubereiten und die Menschen zu sich zu holen (Joh 14,1-4). Die Unterscheidung zwischen „ jetzt “ und „ später “ offenbart die ewige Distanz zwischen dem menschlichen Vermögen ( „ ihr könnt nicht “ , Joh 13,33; „ du kannst nicht “ , „ ich kann “ , Joh 13,34) und der neuen Identität, die durch die Zeugung und Geburt „ von oben her “ geschenkt wird. Johannes versteht den Tod Jesu als Heimgang zum Vater, der den Glaubenden den Zugang zur himmlischen Liebesgemeinschaft des Vaters und des Sohnes eröffnet. 4.1.5 Der Tod Jesu als Erhöhung Die erste Ankündigung der Erhöhung Jesu (Joh 3,14) nimmt explizit Bezug auf die Exodus-Geschichte: Wie der Blick auf die erhöhte Schlange Israel von seiner Sünde befreite und ihm das Leben neu schenkte (Num 21,4-9), so muss der vom Himmel gesandte Menschensohn am Kreuz erhöht werden, um den Glaubenden das ewige Leben zu geben: Johannes 3,14-15 Die Bildhälfte Das weltimmanente Zeichen Die Sachhälfte Die Gabe vom Himmel her (14) Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöhte, so muss der Menschensohn erhöht werden, (15) damit jeder, der an ihn glaubt, (16) ewiges Leben habe. Die ewige Distanz zwischen dem weltimmanenten Zeichen und der Gabe „ von oben her “ wird durch die Asymmetrie zwischen der alttestamentlichen Bildhälfte (was Mose getan hat) und der christologischen Sachhälfte (der Gottessohn schenkt jedem, der an ihn glaubt, das ewige Leben) hervorgehoben. Die Notwendigkeit der Rückkehr zum Vater nimmt das Motiv der ersten Passionsankündigung der Synoptiker auf: Der Menschensohn muss getötet werden und auferstehen (Mk 8,31). Der Grund besteht hier nicht in der Unvereinbarkeit von menschlichem und göttlichem Denken, sondern ergibt sich aus den soteriologischen Vorstellungen des Johannesevangeliums: Der Gottessohn ist in die Welt gesandt worden, um erhöht zu werden und alle Menschen zu sich und der Gemeinschaft mit Gott zu ziehen. Die zweite Ankündigung der Erhöhung Jesu (Joh 8,28) deutet seinen Tod als den Augenblick, in dem sich Gott selbst offenbart: Die Selbstvorstellung Jesu mit „ Ich bin “ ist eine unmissverständliche Identifizierung mit dem Gott, der sich Mose im Dornbusch offenbart hatte. Johannes 8,28 (28) Wenn ihr den Menschensohn Wenn ihr den Menschensohn 4 Der Tod Jesu im Johannesevangelium 101 <?page no="102"?> (am Kreuz) (zum Vater) erhöht haben werdet, erhöht haben werdet, dann werdet ihr erkennen, dass „ Ich bin “ (Ex 3,14) und nichts von mir aus tue, sondern rede, wie mich der Vater gelehrt hat. Die Distanz zwischen der Wahrnehmung der Welt und dem Verständnis „ von oben her “ wird in den Ankündigungen der Rückkehr des Sohnes erneut durch das literarische Mittel des Missverständnisses verdeutlicht (Joh 7,33-36; 8, 21-22; 13,33-35). Entsprechend bezeugt Johannes die Doppeldeutigkeit der Kreuzigung, die „ von unten her “ und „ von oben her “ betrachtet werden kann. Durch die Überblendung des innerweltlichen Zeichens der Erhöhung am Kreuz mit der Erhöhung zum himmlischen Vater erscheint die bevorstehende Kreuzigung als das Ereignis, das Jesus als den Gesandten Gottes offenbaren wird. Die dritte Ankündigung der Erhöhung Jesu „ von der Erde “ (Joh 12,31-33) verbindet die Heilszusage des Evangeliums unmittelbar mit der johanneischen Deutung des Todes Jesu. Die Rückkehr des Sohnes zu m Vater ist die notwendige und ausreichende Bedingung für die Verheißung der universalen Erlösung der Menschheit: Johannes 12,31-33 (31) Jetzt geschieht das Gericht dieser Welt, jetzt wird der Herrscher dieser Welt hinausgeworfen werden, (32) und ich, wenn ich von der Erde erhöht werde, werde ich alle zu mir ziehen. (33) Das sagte er, um zu bezeichnen, mit welchem Tod er sterben werde. Zum ersten Mal im Johannesevangelium wird die „ Erhöhung “ explizit als Bezeichnung des Todes Jesu verwandt. Die Überblendung in Joh 8,28 hat sich in eine diskursive Gleichung verwandelt. Der Tod Jesu als Erhöhung bekommt - wie in der ersten Ankündigung (Joh 3,14) - eine soteriologische Bedeutung. Das „ ewige Leben “ (Joh 3,14-16) und die „ Rettung der Welt “ , die das Ziel der Aussendung des Sohnes durch die Liebe Gottes waren (Joh 3,16 und 17), erhalten eine klare und in der Logik des Johannesevangeliums konsequente Definition: Der Tod Jesu gibt den Menschen die Möglichkeit, durch den Glauben an Jesus, der sich durch die Rückkehr zu seinem Vater als der Sohn Gottes offenbart hat, von dieser Welt ( „ von der Erde “ ) in die himmlische Gemeinschaft des Vaters und des Sohnes ( „ zu mir “ ) hineingezogen zu werden (Joh 12,32). Die doppelte Metapher des „ Von-Gott-gezeugt-seins “ (Joh 1,13) und der neuen Geburt „ von oben her “ (Joh 3,3.5) verweist auf die Gabe einer 102 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="103"?> neuen Identität. Der Glaubende hat seinen Ursprung nicht in der Welt. Er lebt zwar noch in der Welt, aber er existiert nicht mehr aus der Welt (Joh 17,9-19). 4.2 Als Kontrapunkt: Sören Kierkegaard, Einübung im Christentum Die zentrale Verheißung des johanneischen Offenbarers, der seine Erhöhung am Kreuz und zum Vater als die Bedingung und Ermöglichung des Zugangs des Menschen zu der Gemeinschaft mit Gott ankündigt, spielt eine entscheidende Rolle in Sören Kierkegaards Darstellung des christlichen Glaubens. Die moderne Interpretation des Johannesevangeliums ist durch die existentielle Philosophie Kierkegaards stark geprägt worden. 33 Kierkegaards Grundthese lautet: Die Selbstdarstellung Jesu als des fleischgewordenen Logos stellt den Verstand vor das schlechthinnige Paradox der Ewigkeit Gottes. Sie bewirkt Glauben oder löst das Ärgernis des Unglaubens und des Unverständnisses aus. 4.2.1 Kierkegaard und das Johannesevangelium Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard (1813 - 1855) 34 hatte Theologie studiert, um Pfarrer zu werden. Später, als Folge einer heftigen Auseinandersetzung mit leitenden Repräsentanten der dänischen Staatskirche, nahm er von diesem Wunsch Abstand und lebte bis zu seinem frühen Tod als Privatgelehrter und Schriftsteller. Für Kierkegaards Verständnis der Person Jesu ist seine Schrift „ Einübung im Christentum “ (1850) 35 charakteristisch. Sie erschien unter Pseudonym und geht auf Predigten zurück, die Kierkegaard 1848 in der Kopenhagener Frauenkirche (Frue Kirke) gehalten hatte. Die Überschriften der drei Teile beziehen sich jeweils auf einen speziellen Predigttext: Nr. 1: „ Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch Ruhe geben! “ (Mt 11,20); Nr. II: „ Selig, der sich nicht an mir ärgert! “ (M 11,6 par.); Nr. III.: „ Von der Hoheit her will Er (! ) sie alle zu sich ziehen “ (Joh 12,32). Kierkegaard kommt es in der Auslegung dieser Texte nicht auf die historischen Einzelheiten, sondern auf die christologische Aussage an. Er unterscheidet radikal den historischen Jesus und den Christus des Glaubens. Historisch genüge es, vom Leben Jesu zu wissen: „ Es war eine Leidensgeschichte “ . Dieses Wissen ist aber für Kierkegaard überaus wichtig. Die Hauptthese des Buches ist, dass Jesus während seiner irdischen Wirksamkeit bewusst inkognito gelebt habe. Aus dem „ Inkognito “ resultiere sein Leiden und Sterben. Der Christ dürfe also an der „ Knechtsgestalt “ Jesu nicht vorüber- 33 Vgl. Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK Meyer II, Göttingen 1941. 34 Zu Leben und Werk Kierkegaards vgl. Joakim Garff, Kierkegaard. Biographie. Aus dem Dänischen von Herbert Zeichner und Hermann Schmid, München 2005. 35 Sören Kierkegaard, Einübung im Christentum, in: Gesammelte Werke, übersetzt und herausgegeben von E. Hirsch, H. Gerdes, H. M. Junghans, Köln/ Düsseldorf 1950 - 1969, 1988 - 1995, 26. Abteilung. 4 Der Tod Jesu im Johannesevangelium 103 <?page no="104"?> gehen. Er müsse sich entscheiden, ob er sich über die Verborgenheit der wahren Bedeutung Jesu als des Gottessohns ärgern oder gerade in der Knechtsgestalt die göttliche Sendung und Hoheit des Erlösers anerkennen wolle. 4.2.2 Die drei Möglichkeiten des Ärgernisses Drei Möglichkeiten des Ärgernisses verstellen nach Kierkegaard den Weg zum Christus des Glaubens: Die erste Möglichkeit des Ärgernisses ergibt sich daraus, dass Jesus den allgemeinen religiösen Erwartungen nicht entspricht. Kierkegaard bezieht sich in seiner Argumentation auf Mt 15,1-12 ( „ Da traten seine Jünger zu ihm und sprachen: Weißt du, dass die Pharisäer sich geärgert haben, als sie das Wort hörten? “ ) und Mt 17,24-27 ( „ Jesus sprach zu ihm (Petrus): So sind die Kinder frei. Auf dass aber wir sie nicht ärgern, so gehe hin an das Meer und wirf die Angel, und den ersten Fisch, der herauffährt, den nimm; und wenn du seinen Mund auftust, wirst du einen Stater (ein Vierdrachmenstück) finden: denselbigen nimm und gib ihnen für dich und mich “ ). Während sich in Mt 15,1-12 das Ärgernis daraus ergibt, dass die Pharisäer in Jesus nur einen Menschen sehen, der mit dem Bestehenden zusammenstößt, entzündet sich in Mt 17, 24-27 das Ärgernis daran, dass Jesus zwar das vordergründige Ärgernis, die vorgeschriebene Tempelsteuer nicht gezahlt zu haben, durch die Zahlung des Betrags aus der Welt schafft, es aber durch ein Wunder tut, das zu einem Menschen nicht passt. Die zweite Möglichkeit des Ärgernisses besteht darin, „ dass ein einzelner Mensch redet oder handelt, als sei er Gott “ (Mt 11,6). „ Der Widerspruch, in dem die Möglichkeit des Ärgernisses liegt, ist der: ein einzelner Mensch, ein geringer Mensch sein - und dann so handeln, dass es auf das Gott-Sein weist . . . Der Möglichkeit des Ärgernisses kann man sich nicht entziehen, du musst durch sie hindurch, du kannst allein auf eine Weise ihrer ledig werden: damit, dass du glaubst. Darum spricht Christus: Selig, der sich nicht an mir ärgert “ . In diesem Zusammenhang beruft sich Kierkegaard auch auf Joh 6,61, eine Stelle, in der Jesus seinen Jüngern ausdrücklich - vorausgegangen ist das Wort vom Brot des Lebens - die Frage stellt: „ Ärgert euch das? “ Diese Stelle aktualisiert Kierkegaard in folgender Weise: „ Also dazumal waren diese Worte in dem Maße ein Ärgernis, dass sogar Jünger, viele Jünger, abfielen. Jetzt, in der Christenheit, sind sie kein Ärgernis mehr. Ja, versteht sich, einem wahren Christen sind sie kein Ärgernis, denn er glaubt. Indes, um gläubig zu werden, muss man bei der Möglichkeit des Ärgernisses durchs Tor gehen, und sie eben hat man in der Christenheit abgeschafft. “ Die dritte Möglichkeit des Ärgernisses beruht darauf, „ dass der, welcher sich für Gott ausgibt, sich als der geringe, arme, leidende, letztlich ohnmächtige Mensch erweist “ . Kierkegaard verweist auf Mt 13,55 ( „ Ist er nicht eines Zimmermanns Sohn? Heißt nicht seine Mutter Maria? Und seine Brüder 104 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="105"?> Jakobus und Joses und Simon und Judas? Und seine Schwestern, sind sie nicht alle bei uns? Und sie ärgerten sich an ihm. “ ) und Mt 26,31 f ( „ In dieser Nacht werdet ihr euch alle an mir ärgern. Petrus aber antwortete und sprach zu ihm: Wenn sich auch alle ärgerten, so will ich doch mich nimmermehr ärgern. “ ). Kierkegaard zieht daraus folgende Schlussfolgerung: „ Die Möglichkeit des Ärgernisses, welche des Glaubens Wehr und Schutzwaffe ist, ist in der Art zweisinnig, dass aller menschliche Verstand entweder auf die eine oder andre Weise dahin gelangen muss, stille zu stehen, anzustoßen - um dann entweder sich zu ärgern oder zu glauben. “ 4.2.3 Das Kreuz Jesu und das Wesen des Christentums Aus der Darstellung und Untersuchung des dreifach möglichen Ärgernisses ergibt sich bei Kierkegaard ein bestimmtes Verständnis der Person Jesu: Weil sich Gott in seinem freien und ewigen Entschluss dafür entschieden hat, im tiefsten Inkognito die Welt zu erlösen, umgibt Jesus von Nazareth „ die undurchdringlichste Unkenntlichkeit “ . Die Inkarnation Jesu ist ein Zeichen, das in sich - gottgewollt - einen Widerspruch enthält. Dass in dieser Person Gott Mensch wurde und zu den Menschen spricht, entzieht sich der menschlichen Einsicht. Der Widerspruch zwischen dem Gott-Sein und dem Mensch- Sein Jesu ist unauflösbar. Ein unmittelbarer Zugang zu der Person Jesu ist für den Menschen unmöglich. Angesichts dieses Sachverhalts liegt es in der Natur des Menschen, sich über die Unmöglichkeit objektiver und unmittelbarer Aussagen über Jesus zu ärgern. Der Mensch will den unendlichen qualitativen Abstand zwischen sich und Gott nicht wahr haben. Er kann Jesus und sein Leiden nicht begreifen. Das Ärgernis in seinen drei Erscheinungsformen liegt in der Natur der Sache und darf von der Kirche nicht bagatellisiert werden. Dass unmittelbare Aussagen über Jesus prinzipiell nicht möglich sind, verweist darauf, dass es ausschließlich auf den Glauben ankommt. Erst wenn der Mensch einen „ Sprung im Glauben “ vollzieht, erschließt sich ihm die Wahrheit über Jesus und seine göttliche Sendung. 4.2.4 „ Von der Hoheit her will Er alle zu sich ziehen “ Wir würden Kierkegaard missverstehen, in dem „ Sprung im Glauben “ eine heroische Möglichkeit für ein überdurchschnittliches Engagement und für religiöse Eliten zu sehen. Die Auslegung von Joh 12,32 (Nr. III der „ Einübung im Christentum “ ) zeigt im Gegenteil, dass Kierkegaard seine grundsätzlichen Gedanken als Zuspruch für Predigthörer verstanden hat: „ Es ist nun achtzehnhundert Jahre her, seit Er die Erde verlassen hat und aufgefahren ist in die Hoheit. Die Gestalt der Welt hat sich seit jener Zeit mehr als einmal verändert. Throne stiegen und stürzten, große Namen erstrahlten, erstarben; und im Kleinen in unserm alltäglichen Leben geschieht das Gewöhnliche, die Sonne geht auf und geht unter, der Wind wechselt, wie sein Umlauf es will, eben wird nach Neuem gefragt, das man bald wieder 4 Der Tod Jesu im Johannesevangelium 105 <?page no="106"?> vergisst, und dann wieder nach Neuem; aber von Ihm hört man in gewissem Sinne nichts. Und dennoch hat Er gesagt, dass Er von der Hoheit her alle zu sich ziehen will. Er ist also in der Hoheit nicht am Ruhen. Er ist am Arbeiten. Er schafft daran. Er sorgt darum, dass Er sie alle zu sich ziehe. Wunderlich! Doch ebenso siehst du ja um dich herum in der Natur die vielen Kräfte sich regen; aber die Kraft, die alle trägt, siehst du nicht, du siehst nicht Gottes Allmacht, und dennoch ist es ja ebenso ganz gewiss, dass auch Er am Arbeiten ist, dass - nur einen kurzen Augenblick ohne ihn, und die Welt ist ein Nichts. So ist auch Er, wiewohl in der Hoheit, allenthalben zugegen, daran schaffend, sie alle zu sich zu ziehen - ach, indessen da in der Welt weltlich von allem andern die Rede ist, so als wäre Er gar nicht da. “ Kierkegaard kam es darauf an, sich im Leiden und Sterben Jesu die Hoheit des zu seinem Vater in die Herrlichkeit zurückgekehrten Gottessohns glaubend zu vergegenwärtigen. 4.3 Ertrag: Die Offenbarung der Wahrheit als Paradox Das Johannesevangelium und Kierkegaard entwickeln eine Interpretation des Todes Jesu als Rückkehr des vom Himmel gesandten Sohnes zum Vater. Beide verkündigen die Erlösung als Gabe des menschgewordenen und erhöhten Wortes, das alle Menschen zu sich ziehen will. Übereinstimmend betonen sie die ewige Distanz, die Gott und die Welt trennt. „ Von unten her “ betrachtet erscheint der Tod Jesu im Johannesevangelium als Beseitigung eines Menschen, der die Theologie der Pharisäer und der Juden stören könnte: „ Es ist günstig, dass ein einzelner Mensch sterbe für das Volk und das ganze Volk nicht verloren gehe “ (Joh11,50). „ Von oben her “ gesehen besteht die prophetische Bedeutung dieses Wortes des Hohenpriesters Kaiphas jedoch in Folgendem: Jesus stirbt für die Völker in dem präzisen Sinn, dass in seinem Tod die Offenbarung Gottes in der Welt geschieht. Diese Offenbarung schenkt allen, die glauben, die Möglichkeit, Kinder Gottes zu werden (Joh 11,51-53). Für die Welt bleibt diese Offenbarung unverfügbar, sodass die Menschen vor der Alternative stehen, dem schlechthinnigen Paradox der Menschwerdung Gottes zu glauben oder weiter ungläubig zu bleiben. 4.3.1 Der Tod Jesu als Verherrlichung des Vaters und des Sohnes Sinngebend ist die Bezeichnung des Todes Jesu als Verherrlichung (Joh 11,4; 12,23). Johannes versteht die Kreuzigung als die „ Stunde “ , in der Jesus als der Gesandte Gottes, der Vater als der transzendente Gott und die Einheit von Vater und Sohn offenbart werden. Der Tod Jesu ist „ von oben her “ als die Verherrlichung des Sohnes durch den Vater zu verstehen: In der Erhöhung Jesu am Kreuz, die als die Erhöhung zu der göttlichen Hoheit verstanden wird, von der aus der Sohn alle Menschen zu sich und seinem Vater ziehen wird, offenbart Gott seinen Sohn, Jesus von Nazareth, als den fleischgewordenen Logos. Weil der Sohn seinen Ursprung in der Transzendenz Gottes und nicht in der Welt hat, kann ihn nur Gott 106 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="107"?> verherrlichen und ihn als seinen Gesandten bestätigen, wie es der johanneische Jesus erst den Juden und dann den Jüngern erklärt (Joh 8,54; 12,23-33; 16,14). Auch das Gebet Jesu, das die Abschiedsreden beschließt (Joh 17,1-26) und in dem er den Vater im Blick auf seinen Tod bittet, ihn zu verherrlichen (Joh 12,28; 17,1-5), erfüllt die Funktion einer Offenbarung. Jesus kann sich als den Weg, die Wahrheit und das Leben bezeichnen, weil ihn Gott als den Offenbarer bestätigen wird. Die Verherrlichung Jesu als des Sohnes bedeutet gleichzeitig die Verherrlichung Gottes als des himmlischen, für die Welt unverfügbaren Vaters, der Jesus in die Welt gesandt hat. Der Sohn offenbart den Vater im Augenblick der Selbsthingabe, die ihn in die göttliche Hoheit zurückführt (Joh 13,31; 17,4). Die Kreuzigung als die Erhöhung des Sohnes schenkt die Erkenntnis des himmlischen Vaters und den Zugang zu seiner Liebe, indem sich Gott als gegenwärtig und zugleich als der „ Ganz Andere “ offenbart. Mit der Erhöhung Jesu und seinem Abschied von den Jüngern ist aber die Zeit der Offenbarung nicht abgeschlossen. Es beginnt vielmehr eine neue Epoche, für die Jesus die Erhörung der Gebete seiner Jünger (Joh 14,13) verheißt und in der er weiterhin die Herrlichkeit Gottes offenbaren wird. Die absolute Singularität dieser Erhöhung und Verherrlichung ist die notwendige Voraussetzung für die Sendung des Geistes (Joh 7,39). Der Geist wird alle, die glauben, an die Worte Jesu erinnern und sie zu der ganzen Wahrheit führen (Joh 14,16.17.25 - 26; 15,26-27; 16,7-15). Mit der Erklärung, dass die Menschen, die an Jesus glauben, nach seiner Erhöhung den Geist erhalten werden - „ denn es gab noch keinen Geist, weil Jesus noch nicht verherrlicht worden war “ (Joh 7,39) - werden die Zeiten gleichzeitig unterschieden und miteinander verbunden: - Die Zeit zu glauben ist solange gegeben, wie der fleischgewordene Logos als das wahre Licht, das in die Welt gekommen ist (Joh 1,4-5.9), die Menschen erleuchtet. Der Paraklet (der Geist), der für die Zeit versprochen wird, in der sich Jesus nicht mehr in der Welt befinden wird, wird auch den künftigen Generationen die Möglichkeit der Gleichzeitigkeit mit dem Offenbarer geben. - Erst die Verherrlichung Jesu und die Aussendung des Parakleten geben die Möglichkeit, den irdischen Jesus rückblickend als den Gesandten Gottes zu erkennen, der nicht zu dieser Welt gehört und den Menschen das Leben bringt (Joh 12,16, vgl. Joh 2,22; 14,26). Das ganze Evangelium ist literarisch so gestaltet, dass die Zeichen, Dialoge und Reden Jesu als die Offenbarung des von Gott gesandten und zu ihm zurückgekehrten Erlösers dargestellt werden: „ Die Stunde kommt, und sie ist gegenwärtig “ (Joh 4,23; 5,25). Der Tod Jesu wird als die absolute Singularität der Gottesoffenbarung verstanden. Sie ermöglicht die Gleichzeitigkeit mit dem in Jesus fleischgewordenen Wort Gottes und damit das Leben als neue Zeugung und Geburt „ von oben her “ . 4 Der Tod Jesu im Johannesevangelium 107 <?page no="108"?> 4.3.2 Die Erhöhung des Lammes Die Deutung der Kreuzigung Jesu als Erhöhung und Stunde seiner Verherrlichung bildet in ihrer logischen Verknüpfung mit dem Bekenntnis zu der Sendung Jesu in die Welt als Fleischwerdung des Logos Gottes das thematische Zentrum des Prologs (Joh 1,1-18): Wer zum Vater im Himmel zurückkehrt, muss vom Himmel gekommen sein. Diese Deutung ist auch das Zentrum des Zeugnisses des Täufers, das den Hauptteil des Evangeliums programmatisch einführt (Joh 1,29-34): „ Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegträgt! “ (Joh 1,29). Die Metapher des Lammes bündelt mehrere Konnotationen aus dem Alten Testament und dem Judentum. Im Kontext des Evangeliums bereitet die Metapher die Darstellung der Kreuzigung des Gottessohns als Schächtung des wahren Passalammes vor (Joh 19,14): - In der Erhöhung Jesu am Kreuz findet die Erlösung des Volkes Israel - und die Versammlung der Kinder Gottes aus allen Völkern (Joh 11,51- 53) - statt. Hier wird „ von oben her “ das wahre Passa gefeiert, auf das das Passafest des Alten Testaments als weltliches Zeichen verweist. - Die Verherrlichung Jesu am Kreuz nimmt die Sünden der Welt hinweg, indem sie durch die Gabe der neuen Geburt „ von oben her “ den „ Sprung im Glauben “ (Kierkegaard) ermöglicht. Die Rückkehr des Lammes in den Himmel, seine Erhöhung und seine Verherrlichung offenbaren die Transzendenz Gottes. Dieser Vorgang lässt sich „ von unten her “ nicht verstehen und bildet das Ärgernis. Der Tod Jesu ist für Johannes und für Kierkegaard paradox, weil er sowohl die Ablehnung durch die Welt „ von unten her “ hervorruft, die die Offenbarung der Transzendenz nicht versteht oder sie als Fremdkörper, der nicht von dieser Welt ist, auch gar nicht verstehen kann, als auch einen Systemwechsel bewirkt, den Johannes als „ Von-Gott-gezeugt-werden “ (Joh 1,13) oder „ Von-oben-her-neugeboren-werden “ interpretiert. Das Ziel der johanneischen Offenbarung besteht in der Hoffnung, dass die Menschen glauben werden. Das Zeugnis Johannes des Täufers am Anfang (Joh 1,6-8) und die Absichtserklärung des Verfassers am Ende seines Evangeliums (Joh 20,30-31) geben die Intention wieder, die der Sendung des erhöhten Sohnes und der Sendung seiner Zeugen (Johannes des Täufers und der Evangelisten) gemeinsam ist: dass alle glauben. Johannes 1,6-8 Johannes 20,30-31 (6) Es wurde ein Mensch von Gott gesandt mit Namen Johannes. (7) Er kam zum Zeugnis, damit er von dem Lichtzeuge, damit alle durch ihn glauben. (8) Nicht er war das Licht, sondern damit er von dem Licht zeuge. (30) Jesus hat also noch viele andere Zeichen vor seinen Jüngern getan, die in diesem Buch nicht aufgeschrieben worden sind. (31) Dies ist geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus, der Gottessohn, ist und dass ihr, glaubend, das Leben habt in seinem Namen. 108 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="109"?> Der paradoxe Charakter der Offenbarung, wie ihn Kierkegaard herausgearbeitet hat, entspricht dem johanneischen Verständnis des Glaubens. Der christliche Glaube entsteht nach dem Johannesevangelium nicht aus den Plausibilitäten und Schlussfolgerungen einer Argumentation, die auf der Struktur der Wirklichkeit „ von unten her “ beruht. Die Offenbarung verweist vielmehr auf die - für das horizontale Denken der Welt unbegreifliche - Dimension der Vertikalität. Sie verlangt eine Entscheidung zwischen dem Verständnis „ von unten her “ und dem Verständnis „ von oben her “ und macht auf einen Ursprung aufmerksam, der nicht „ von dieser Welt “ ist. Das Johannesevangelium und Kierkegaard reflektieren und bekennen den Tod Jesu als die absolute Singularität einer Paradoxie der Kommunikation, durch die sich die Unermesslichkeit der Wahrheit und Liebe Gottes in der Welt offenbart. 4.3.3 Hypothese: Die Erhöhung des Sohnes als Offenbarung der Transzendenz Als Ergebnis unserer Interpretation der Deutung des Todes Jesu im Johannesevangelium und seiner Rezeption bei Kierkegaard vertreten wir die These, dass der Tod Jesu von der Osterbotschaft her als das schlechthinnige Paradox verstanden werden muss. Dieses Paradox konfrontiert die Illusion der Welt, Sinn und Identität in sich selbst zu besitzen, mit der absoluten Singularität eines Ereignisses, das sich der menschlichen Existenz und jeder Wirklichkeit, die durch die rationale Vernunft Gottes - den Logos - geschaffen worden ist, als neue Evidenz offenbart. 4 Der Tod Jesu im Johannesevangelium 109 <?page no="110"?> Ergebnis: Der Tod Jesu in den Evangelien - Vielfalt der Interpretationen Die Vielfalt der Deutungen des Todes Jesu in den vier Evangelien ergibt sich aus kreativen Versuchen, den Sinn der Kreuzigung Jesu von der Osterbotschaft her zu verstehen und die Kohärenz des gewaltsamen Endes auf Golgotha mit der Geschichte des irdischen Jesus und der Verkündigung seiner Auferstehung logisch zu denken. Die Diskrepanz zwischen den literarischen Verwandtschaften der Evangelien und der Eigenständigkeit ihrer theologischen Entwürfe ist auffällig. Die Evangelien formulieren vier profilierte Interpretationen des Todes Jesu, die sich auf keinen gemeinsamen Nenner zurückführen lassen. Die Interpretation des Todes Jesu erfolgt im Markusevangelium in der Form einer Theologie des Kreuzes. Indem Jesus darauf verzichtet, vom Kreuz herabzusteigen und seine Seele zu retten, offenbart er die Wirklichkeit des „ göttlichen Denkens “ , das zum grenzenlosen Vertrauen auf Gott auffordert. Markus stellt den Tod Jesu am Kreuz als das Befreiungsgeschehen dar, das die Menschen von ihrer Verzweiflung und ihren dämonischen Verstrickungen befreit und die Gemeinschaft mit Gott wiederherstellt. Auf der Basis des Markusevangeliums entwickelt Matthäus eine Theologie des Wortes. Jesus ist in die Welt gekommen, um den Willen des himmlischen Vaters im Sinn der Großzügigkeit der Gerechtigkeit und Vorsehung Gottes zu verkündigen. Die Auseinandersetzung Jesu mit den Schriftgelehrten und den Pharisäern warnt vor der Verwechslung der Gerechtigkeit mit menschlichen Vollkommenheitsidealen. Der Konflikt zwischen der wahren und der falschen Prophetie endet mit der Passion des Wortes. Die eschatologischen Ereignisse, die den Tod Jesu kommentieren, offenbaren bereits vor der Theophanie am leeren Grab den Sieg Jesu über den Tod. Nach der Darstellung des Lukasevangeliums wird den Menschen das Heil durch das Kommen Jesu, durch seine Aufforderung zur Buße, durch die Verheißung der Vergebung und durch seine Auferstehung, die in den Missionsreden der Apostelgeschichte die Auferstehung der Toten begründet, gebracht. Lukas entfaltet eine Theologie des Kommens und der Auferstehung des Messias. Der Tod Jesu als solcher hat in dieser Interpretation keine zentrale, theologisch und soteriologisch relevante Bedeutung. Die Kreuzigung des Gerechten, der in der Vollmacht und Kraft Gottes Heilungen und Wunder vollbrachte, enthüllt die Härte des menschlichen Herzens, die sich sowohl im Unglauben des Volkes und seiner Führer als auch im Versagen des Pilatus äußert. Die Kreuzigung ist der dramatische Augenblick, in dem das Volk aufgerufen wird, sich zu bekehren. Das Johannesevangelium entfaltet eine Theologie der Wiedergeburt. In ihr erhalten das Kommen Jesu in die Welt und sein Tod, der als Verherrlichung, Erhöhung und Rückkehr zum Vater verstanden wird, eine symmetrische 110 ERSTER TEIL: Der Tod Jesu in den Evangelien <?page no="111"?> Bedeutung. Das Wort Gottes offenbar sich in der absoluten Singularität des historischen Menschen Jesus von Nazareth, dessen Rückkehr zu Gott allen Menschen, die an ihn glauben, das ewige Leben in der Gemeinschaft des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes eröffnet. Der Glaube wird als die Gabe des „ Von-Gott-gezeugt-werdens “ bzw. „ Von-oben-her-neu geborenwerdens “ verstanden. Diese Gabe verleiht einen neuen, himmlischen Ursprung und eine neue Identität. Geburt und Tod Jesu werden von Ostern her als die Menschwerdung des Logos und seine Rückkehr zum Vater gedeutet. Sie geben den Glaubenden die Möglichkeit einer neuen Existenz. Literarischer Aufbau und dramatische Struktur der vier Evangelien geben der Passionsgeschichte und dem Tod Jesu den zentralen Platz und die Schlüsselfunktion für das Verständnis des christlichen Glaubens. Die Person Jesu hat ihre einzigartige Bedeutung von der Osterbotschaft her, die den Gekreuzigten als gegenwärtigen Herrn bekennt. Die Erklärungen, die die Verfasser der Evangelien formuliert haben, sind logisch nachvollziehbar. Sie setzen nicht in jedem Fall eine theologische oder soteriologische Bedeutung des historischen Ereignisses des Todes Jesu voraus. Die lukanische Darstellung des Todes Jesu als der Hinrichtung des Gerechten jedenfalls beschreibt diesen Tod als ein Ereignis, das - für sich allein genommen - weder für die Erkenntnis Gottes noch für für die Erlösung Relevanz hat. Der Glaubende lebt zwar zunächst noch in der Welt, aber nicht mehr von der Welt: - Der Tod Jesu bekommt erst dann eine theologische Relevanz, wenn er - wie im Matthäusevangelium, in dem er die Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Prophetie und zwischen göttlicher Gerechtigkeit und menschlicher „ Heuchelei “ begründet - als Offenbarung Gottes verstanden wird. - Soteriologische Bedeutung hat der Tod Jesu, weil mit ihm die Möglichkeit der Befreiung und Erlösung verbunden ist. Sowohl das Markusals auch das Johannesevangelium interpretieren den Tod Jesu als den Augenblick der Offenbarung Gottes und der Ermöglichung der Erlösung. Am Kreuz offenbart sich der Gottessohn, der seine Seele für viele dahingibt und alle Menschen zu sich ziehen wird. Die verschiedenen Deutungen des Todes Jesu in den vier Evangelien und der Apostelgeschichte lassen sich nicht logisch voneinander ableiten. Sie sind nicht deckungsgleich und können nicht in einer übergreifenden Dogmatik als wechselseitige Ergänzungen harmonisiert werden. Ihre Darstellungen und Deutungen sind teilweise konträr, aber ihre theologischen Aussagen sind logisch nicht kontradiktorisch, sodass sie sich logisch ausschließen würden. Sie bieten unterschiedliche Interpretationen des Todes Jesu, die sich aber durch ihr gemeinsames Verständnis des bedingungslosen Vertrauens Gottes zu den Menschen, der universalen Güte seiner Vorsehung und Liebe und in dem Verständnis der menschlichen Existenz gegenseitig verstärken. Ergebnis: Der Tod Jesu in den Evangelien - Vielfalt der Interpretationen 111 <?page no="113"?> ZWEITER TEIL: Interpretationen des Todes und der Auferstehung Jesu bei Paulus - und ihre Rezeption <?page no="115"?> Tod und Auferstehung Jesu bilden das Zentrum des paulinischen Denkens: Gott hat dem Apostel den Gekreuzigten als seinen Sohn offenbart (Gal 1, 12.16). Der auferstandene Herr hat sich von Paulus als dem letzten Zeugen der Ostererscheinungen sehen lassen (1 Kor 15,8 und 9,1). Die Offenbarung des Gekreuzigten als des Auferstandenen versteht Paulus nicht nur als das Ereignis seiner eigenen Berufung, sondern als die absolute Singularität des Evangeliums Gottes für alle Menschen. In der Selbsthingabe seines Sohnes am Kreuz hat Gott seine Gerechtigkeit offenbart (Röm 3,21-26). Die Botschaft des Heidenapostels besteht deshalb im „ Wort des Kreuzes “ (1 Kor 1,17-25) und in der Verkündigung des „ Gekreuzigten “ (1 Kor 2,1-5). Programmatisch halten wir fest: Paulus bekennt die Offenbarung, die „ in ihm “ stattgefunden hat, als den Augenblick, in dem er zum Heidenapostel berufen wurde (Gal 1,16-17). Diese Offenbarung bezeichnet er als Offenbarung Christi (Gal 1,12) bzw. als Gottes Offenbarung seines Sohnes (Gal 1,16-17). Offenbart wurde der gekreuzigte Jesus von Nazareth als der Auferstandene (Gal 1,16-17 und 3,13). Der Versuch, Bedeutung und Deutung des Todes Jesu in den Paulusbriefen zu verstehen, müsste sich an sich mit dem gesamten Korpus der vier Hauptbriefe (Römerbrief, 1. und 2. Korintherbrief, Galaterbrief) sowie mit dem Philipper- und dem 1. Thessalonicherbrief auseinandersetzen. Wir beschränken uns auf vier zentrale Stellen, in denen die Reflexion unter verschiedenen Aspekten eine klare Form annimmt: - Die Interpretation des Todes Christi: In der Hingabe des Sohnes als Sühne - präziser: als Geste der bedingungslosen Versöhnung - offenbart Gott seine Gerechtigkeit (Röm 3,21-26). - Die Erinnerung an die apostolische Predigt: Das Evangelium besteht im Wort des Kreuzes. Paulus hat in Korinth nichts anderes als Christus, nämlich den Gekreuzigten, verkündigt (1 Kor 1,10-3,4). - Die Auslegung der Offenbarung des Gekreuzigten: Der Tod Jesu hat die Menschen vom Fluch des Gesetzes erlöst. Sie hat Paulus vom Judaisten zum Heidenapostel verändert (Gal 2,14-21 und 3,10-14). - Der apostolische Auftrag: Das Amt des Apostels dient der Vergegenwärtigung der Versöhnung, zu der Christus durch seinen Tod und seine Auferstehung geworden ist (2 Kor 5,18-21). ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus 115 <?page no="116"?> Einführung: Ist Christus für unsere Sünden oder für uns gestorben? Traditionelle Vorstellungen und paulinische Interpretation (1 Korinther 11,23-26 und 15,3-5) Paulus betont den Offenbarungscharakter seiner Entdeckung des Evangeliums und seiner Berufung zum Heidenapostel. Weder haben Menschen ihn das Evangelium gelehrt noch wurde es ihm durch Menschen überliefert, sondern es wurde ihm durch göttliche Offenbarung mitgeteilt (Gal 1,10-12). Auch seinen apostolischen Auftrag erhielt Paulus von keinem Menschen, sondern von Christus und Gott dem Vater, der seinen Sohn von den Toten auferweckt hat (Gal 1,1-5). Mit der Betonung des Offenbarungscharakters seines Auftrags unterstreicht der Apostel auch die Unabhängigkeit des von ihm verkündigten Evangeliums von anderen frühchristlichen Überlieferungen. Gleichzeitig beansprucht er jedoch eine Kontinuität zu ihnen. Als grundlegend hat Paulus in Korinth weitergegeben, was er selbst empfangen hatte (1 Kor 11,23 und 15,3). Dabei verweist er auf die Einsetzungsworte des Abendmahls (1 Kor 11, 23-26) und auf die Erscheinungen des Auferstandenen in Galiläa und Jerusalem (1 Kor 15,3-7). Die Bezugnahme auf vorgegebene Traditionen setzt nicht die Abhängigkeit des von Paulus verkündigten Evangeliums von ihnen voraus. Im Blick ist vielmehr eine Glaubensgemeinschaft, die sich aus der Anerkennung der Überlieferung ergibt und den Apostel veranlasst, das liturgische Repertoire existierender Gemeinden - Damaskus, Antiochien? - den neu gegründeten Kirchen weiterzugeben. 1 Der Konsens: Tod und Auferstehung Jesu als Zentrum des Glaubens Dem paulinischen Verständnis des Evangeliums und den Formulierungen aus Liturgie und Bekenntnis, die der 1. Korintherbrief ausdrücklich zitiert und auf die vielleicht andere Briefe des Apostels anspielen (Röm 3,24-25; Phil 2,6-11), liegt ein Christentum zugrunde, das sich als Verkündigung und Vergegenwärtigung des Todes und der Auferstehung Jesu definiert. Die von Paulus übernommenen und redigierten Einsetzungsworte des Abendmahls (1 Kor 11, 23 b-25) verweisen auf gemeinsame Voraussetzungen: - Die Autorität der christlichen Botschaft beruht auf der Verkündigung des Todes und der Auferstehung Jesu und nicht auf der Akzeptanz einer Lehre. - Die Wahrheit des Christentums besteht in der befreienden Bedeutung und Auswirkung des Todes und der Auferstehung Jesu. Die von Paulus weitergegebene Formulierung der Einsetzungsworte des Abendmahls oder Herrenmahls zeigt eine enge Verwandtschaft mit der 116 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="117"?> Fassung, die der Verfasser des Markusevangeliums eine Generation später noch kannte und in die Passionsgeschichte seines Evangeliums aufgenommen hat (1 Kor 11,23 b-25/ / Mk 14,22-25). 1 1 Korinther 11,23-26 (23) Ich habe nämlich vom Herrn her empfangen, was ich euch auch überliefert habe: Der Herr Jesus in der Nacht, da er ausgeliefert wurde, nahm Brot (24) und, nachdem er gedankt hatte, brach er es und sprach: „ Dies ist mein Leib für euch; Tut dies zur Erinnerung an mich. “ (25) Ebenso auch den Kelch nach dem Essen, wobei er sprach: „ Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut. Dies tut, jedes Mal, wenn ihr trinkt, zur Erinnerung an mich. “ (26) Denn jedes Mal, wenn ihr dieses Brot esst und den Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt. Die von Paulus weitergegebene Tradition aktualisiert die Einsetzungsworte. Sie tut es nicht nur, indem sie auf die historische Begründung einer liturgischen Praxis verweist, sondern auch, weil die Wiederholung der symbolischen Handlung - Geste und Deutung - in der Gemeinde zum Ereignis wird, in dem der Bund Gottes mit den Glaubenden performativ eingesetzt wird. Das Brotwort deutet die Danksagung und das Brechen des Brotes als Begründung der Gemeinschaft der Glaubenden, denen Christus an dem Geschenk des Brotes und seines Leibes Anteil gibt. Die zwei symbolischen Gesten der Danksagung und des Brotbrechens, die zusammen mit ihrer Deutung ( „ Dies ist mein Leib für euch “ ) zur Erinnerung an den Herrn wiederholt werden sollen, konzentrieren die Bedeutung von Person und 1 Die wichtigsten Unterschiede der paulinischen zu der markinischen Fassung der Einsetzungsworte bestehen 1. in den Szenenangaben, die im dramatischen Rahmen der Passionsgeschichte nicht mehr notwendig sein werden ( „ in der Nacht, in der er ausgeliefert wurde “ und „ nach dem Essen “ , 1. Kor 11,23 b und 25); 2. in der Nichterwähnung der Geste der Weitergabe des Brotes (Jesus „ brach es und gab es ihnen und sagte . . . “ , Mk 14,22 a); 3. in der Verschiebung des „ Für euch “ -Motivs vom Kelchwort zum Brotwort ( „ Das ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird “ , Mk 14,24; „ Das ist mein Leib für euch “ , 1 Kor 11,24); 4. im Verweis auf den neuen Bund ( „ Das ist mein Blut des Bundes “ , Mk 14,24); 5. im Wiederholungsbefehl ( „ Tut dies jedes Mal, wenn ihr trinkt, zur Erinnerung an mich “ , 1 Kor 11,24 f), der den Platz der bei Markus abschließenden Verheißung übernimmt ( „ Wahrlich sage ich euch, dass ich von der Frucht des Weinstocks nicht mehr trinken werde bis zu jenem Tag, wenn ich davon neu trinken werde im Gottesreich “ , Mk 14,26). Einführung: Ist Christus für unsere Sünden oder für uns gestorben? 117 <?page no="118"?> Tätigkeit Jesu auf seinen gewaltsamen Tod. Sie deuten ihn als die Offenbarung der göttlichen Liebe und Hingabe. Sinngebend ist nicht das Essen, das unerwähnt bleibt (aber wohl implizit gemeint ist, wie die Formulierung „ jedes Mal, wenn ihr trinkt “ indirekt andeutet), sondern die aktive Geste des Austeilens und die passive Erfahrung des Ernährt- und Anerkanntwerdens, die den Glaubenden umsonst zuteil wird. Die Bestimmung „ für euch “ gewinnt in diesem Zusammenhang ihre evidente Bedeutung. Paulus und die von ihm zitierte Formel sagen selbstverständlich nicht, dass das Brot „ für eure/ unsere Sünden “ gebrochen und ausgeteilt wird. Die Vorstellungen eines Sühnopfers oder eines stellvertretenden Opfers sind dem logischen Gedankengang des Apostels fremd. Das Brot wird vielmehr „ für euch/ für uns “ gegeben, damit die, die es empfangen, leben, und es wird an die Glaubenden verteilt, damit sie einen Leib bilden. Christus hat sich selbst für das Leben der Glaubenden dahingegeben. 2 Das Kelchwort deutet die Teilhabe an der Gemeinschaft des Herrenmahls als den Abschluss eines Bundes, der - im Unterschied zu der markinischen Fassung der Einsetzungsworte - als der „ neue “ Bund bekannt wird. Anspielungen auf das „ Blut des Bundes “ (Ex 24,8) und auf die prophetische Verheißung eines neuen endzeitlichen Bundes (Jer 31,31) sind wahrscheinlich. Der neue endzeitliche Bund Gottes mit der um den Herrn versammelten Gemeinschaft beruft sich auf den Tod Jesu; die Deutung definiert den neuen Bund als „ Bund in meinem Blut “ . Dieser Bund wird durch den Umlauf und Empfang des Kelches, nicht des Blutes, geschlossen. Die symbolischen Handlungen des Brotbrechens und der Weitergabe des Kelches vergegenwärtigen die absolute Singularität des Todes Jesu und konstituieren den neuen Bund in der Gegenwart. 2 Der Dissens: Gestorben für unsere Sünden? Die von Paulus zitierten Überlieferungen und sein eigenes theologisches Denken definieren das Christentum vom Ereignis des Todes und der Auferstehung Jesu her, unterscheiden sich aber durch ihr Verständnis der dadurch erfolgten Befreiung. Für beide Verständnisse gründet sich die Autorität der christlichen Botschaft auf die Osterbotschaft und nicht auf die Lehre Jesu. Für beide aktualisiert sich die Wahrheit des Christentums in einer Befreiung, die durch die Vergegenwärtigung der absoluten Singularität des Todes und der Auferstehung Jesu geschieht. Die Befreiung besteht für Paulus in einer Veränderung, die als Herrschaftswechsel zu verstehen ist. Christus ist „ für uns “ gestorben, und die Glaubenden sind durch den Tod Jesu von der Herrschaft der Sünde (immer Singular und oft als Subjekt personifiziert) in die Herrschaft der Gerechtigkeit hinübergegangen. Dagegen besteht die Befreiung in den von Paulus zitierten Formeln in einer Entlastung, die den 2 Giuseppe Barbaglio, La Prima lettere ai Corinzi, Scritti delle origini cristiane 16, Bologna 1996, 591. 118 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="119"?> Bund wiederherstellt. Für Paulus ist Christus „ für unsere Sünden gestorben “ (1 Kor 15,3; Gal 1,4). Er ist der Erlöser, weil er uns von der Last unserer Sünden (Plural) durch seinen Tod befreit hat (1 Kor 15,1-8). 2.1. Paulus erinnert die Korinther an die Predigt, die sie verändert hat. Er definiert seine apostolische Rolle damit, dass er weitergegeben hat, was er selbst empfangen hatte, und fasst den Inhalt seiner Verkündigung mit dem Zitat aus einer frühchristlichen Tradition zusammen: „ Denn ich habe euch grundsätzlich weitergegeben, was ich auch empfing, dass Christus für unsere Sünden starb “ (1 Kor 15,3 a): 1 Korinther 15,3 b-8 (3 b) Christus starb für unsere Sünden nach den Schriften, (4) und er wurde begraben, und ist auferweckt worden am dritten Tag nach den Schriften, (5) und er hat sich sehen lassen dem Kephas, danach den Zwölfen, (6) danach hat er sich sehen lassen mehr als fünfhundert Brüdern auf einmal, von denen die meisten am Leben sind bis jetzt, einige aber sind entschlafen; (7) danach hat er sich sehen lassen dem Jakobus, dann allen Aposteln. (8) Zuletzt aber von allen hat er sich von mir sehen lassen. 2.2. Die Hauptaussagen dieses Glaubensbekenntnisses sind, dass Christus starb und dass er von Gott auferweckt wurde. Auffällig ist die Asymmetrie der Tempora. Der Tod wird als punktuelles Ereignis der Vergangenheit betrachtet, das seine Bedeutung von dem Ereignis der Auferstehung her bekommt. Formal werden die beiden Aussagen durch drei parallele Kommentare ergänzt: - Der erste Kommentar erläutert die soteriologische Bedeutung des Todes Christi, der für unsere Sünden gestorben ist (1 Kor 15,3 b), und erinnert an die Osterbotschaft, dass Christus von Gott am dritten Tag auferweckt worden ist (1 Kor 15,4). Die Interpretation des Todes Jesu als Sterben für die Sünden ist für Paulus untypisch. Sie setzt voraus, dass die Erlösung die Vergebung der vergangene Sünden meint. Wenn man die Formulierung im Zusammenhang mit den Einsetzungsworten des Herrenmahls sieht (1 Kor 11,23-25), kann man verstehen, dass Gott mit dem Tod Jesu einen neuen Bund schließt, wie es Jeremia angekündigt hatte (Jer 31,31-33), und dass dieser neue Bund Gottes die - dem Menschen Einführung: Ist Christus für unsere Sünden oder für uns gestorben? 119 <?page no="120"?> unmögliche - Möglichkeit gibt, den Bund zwischen Gott und den Menschen wiederherzustellen. Wie die Osterbotschaft das Ereignis des Todes Jesu zu einer Verkündigung der Vergebung macht, wird in der kurzen Form des Bekenntnisses nicht geklärt. - Der zweite Kommentar bekennt die Konformität des Todes und der Auferstehung Jesu mit der Schrift (1 Kor 15,3/ / 1 Kor 15,4). Der Gedanke ist selbstverständlich nicht, dass sich das Bekenntnis des erlösenden Todes Jesu und der Auferstehung von der Schrift ableiten ließe, sondern vielmehr, dass die absolute Singularität der Osterbotschaft in der Kontinuität des Gotteswillens steht und dass die Schrift als Verheißung, die sich im neuen Bund erfüllt, gelesen werden muss. - Der dritte Kommentar bestätigt die Verkündigung des Todes und der Auferstehung Jesu durch eine weitere Aussage, die den Wahrheitsanspruch betont: Wenn Christus begraben worden ist, ist er auch tatsächlich gestorben. Das Osterbekenntnis beruht darauf, dass Christus als der Auferstandene Zeugen erschienen ist, die benennbar sind: Petrus, den Zwölf und den Fünfhundert (1 Kor 15,56), dann Jakobus und den Aposteln, denen sich Paulus selbst als letzter anschließt (1 Kor 15,8). 3 Hypothese: Von der Wiederherstellung des Bundes zur neuen Schöpfung Die von Paulus aufgenommenen liturgischen und bekenntnishaften Formulierungen deuten den Tod des auferstandenen Herrn als den Abschluss eines neuen, endzeitlichen Bundes Gottes (Jer 31,31-33), Dieser Bund schenkt die notwendige Erlösung als Befreiung von den Konsequenzen der Übertretungen: - Vorausgesetzt werden die Unfähigkeit der Menschen, den Willen Gottes zu tun, und die Notwendigkeit, das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen von den Sünden zu befreien. - Verkündigt wird die Wiederherstellung des Bundes Gottes durch Tod und Auferstehung Jesu als das versöhnende Handeln Gottes. - Auf welche Weise der Tod Jesu die Versöhnung bringt, wird nicht erklärt. Die verändernde Kraft des paulinischen Evangeliums sprengt den bisherigen Rahmen der Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis. Die Paulusbriefe sprechen nicht von den Sünden als Übertretungen (Plural), sondern von der personifizierten Macht der Sünde (Singular), die den Willen und das Tun des Menschen gefangen hält und ihn zu einem in sich gespaltenen Subjekt macht. Ebenso sprechen sie von der Kraft der rechtfertigenden Gerechtigkeit Gottes, die uns von der Abhängigkeit von der Sünde befreit (Röm 6). Entsprechend schreibt Paulus nicht, dass Christus für die Sünden, sondern dass er „ für uns “ gestorben ist (Röm 5,8; 8,32; 2 Kor 5,14.15.21; Gal 2,20; 3,13; 1 Thess 5,10) und dass Gott die Glaubenden in eine neue Schöpfung verwandelt hat (2 Kor 5,17; Gal 6.15). 120 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="121"?> 1 Die Offenbarung der Gerechtigkeit als Erlösung Die an der zentralen Stelle des Römerbriefs überlieferte Formulierung, dass Gott Jesus Christus als Sühneort oder Sühnemittel hingestellt hat (Röm 3,25), bildet für Paulus den Ausgangspunkt der Interpretation des Todes Jesu. Die starke Präsenz der kulturellen Metaphorik ist nicht zu übersehen: Das Verb „ hinstellen “ , in der Septuaginta der technische Begriff für Sühneort oder Sühnemittel, und der Verweis auf das „ Blut “ bilden eine Kette von Begriffen, die entweder auf eine Opfertheologie oder auf die Feier des Großen Versöhnungstags (Lev 16) anspielen. Der Rückgriff auf die kultische Sprache setzt aber nicht notwendig eine opfertheologische Interpretation des Todes Jesu voraus. Die Bilder für sich genommen und die Symbolik des Blutes legen zwar eine Deutung nahe, die den Tod Jesu als absolute Singularität eines Opfers interpretiert. Die paulinische Interpretation folgt jedoch einer anderen Logik: Die symbolische Geste, mit der Gott am Karfreitag seinen Sohn für alle, die auf ihn vertrauen, hat sterben lassen, offenbart seine Gnade. Das Evangelium der Gerechtigkeit Gottes ist darauf begründet, dass Gott seine Gerechtigkeit gezeigt hat, indem er seinen Sohn am Kreuz bedingungslos für alle Menschen dahingegeben hat. Mit der Offenbarung der Vergebung der Sünden und mit der Rechtfertigung, die jede kultische Handlung ersetzt, hat Gott sich mit der Menschheit versöhnt. Die Interpretation des Todes Jesu mit der Metapher des Sühneorts oder des Sühnemittels setzt also keine opfertheologische Interpretation, sondern vielmehr ein sie ausschließendes Verständnis der befreienden Bedeutung dieses Todes voraus. Die literaturwissenschaftliche (und theologische) Reflexion René Girards über die anthropologische Bedeutung der Opfergedankens, auf die wir noch eingehen werden, unterstreicht die Relevanz der paulinischen Perspektive. 1.1 Die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes: Römer 3,21-26 Jesus ist „ für uns “ gestorben, weil die Verkündigung seines Todes und seiner Auferstehung die Gerechtigkeit Gottes offenbart. Die Erlösung in Jesus Christus hat in der absoluten Singularität der Offenbarung am Kreuz stattgefunden (Röm 3,24-26). Diese zentrale These des Römerbriefs beantwortet die Frage nach dem logischen Zusammenhang zwischen dem Evangelium Gottes und dem Ereignis des Todes und der Auferstehung Jesu: Christus hat uns dadurch erlöst, dass die Verkündigung seines Todes und seiner Auferstehung die umsonst geschenkte Gerechtigkeit Gottes offenbart. 121 <?page no="122"?> 1.1.1 Das Evangelium der umsonst geschenkten Gnade Gottes Paulus verkündigt die absolute Singularität eines Ereignisses, das die Wende der Universalgeschichte bedeutet: „ Jetzt aber “ schließt die unglückliche Situation ab, in der sich die ganze Menschheit (Röm 1,18-31) einschließlich Israels (Röm 1,32-3,4) befand. Sie bestand darin, Gott und seinen Willen erkennen zu wollen, ohne ihn als Gott anzuerkennen und seinen Willen zu tun (Röm 3,5-20). Die universale Geschichte der Verzweiflung, die aus der Unmöglichkeit entsteht, den Schöpfer von der Schöpfung zu unterscheiden und sich in Dankbarkeit als Gottes Geschöpf zu verstehen, wird dadurch unterbrochen, dass Gott die Logik seiner Gnade zu erkennen gibt und die Geschichte der Verzweiflung als Missverständnis beendet: Römer 3,21-26 (21) Jetzt aber ist ohne das Gesetz die Gerechtigkeit Gottes offenbart, - die von dem Gesetz und von den Propheten bezeugt wird, (22) - die Gerechtigkeit Gottes durch das Vertrauen von und auf Jesus Christus - für alle, die vertrauen. Denn es ist kein Unterschied. (23) Denn alle haben gesündigt und ermangeln der Ehre Gottes, (24) umsonst gerechtfertigt aus seiner Gnade durch die Erlösung in Jesus Christus, (25) den Gott als Sühneort hingestellt hat - in seinem Blut - durch das Vertrauen - zum Erweis seiner Gerechtigkeit durch die Vergebung der vorher geschehenen Sünden (26) in der Zeit der Langmut Gottes, - zum Erweis seiner Gerechtigkeit im jetzigen Augenblick, damit er selbst gerecht sei und den rechtfertige, der aus dem Vertrauen von und auf Jesus lebt. Das Subjekt der Offenbarung ist die Gerechtigkeit Gottes. Die in Jesus Christus offenbarte Gerechtigkeit Gottes wird dadurch gekennzeichnet, dass sie sich auf die Kontinuität mit der Verheißung berufen kann, dass sie im Vertrauen auf das Vertrauen Jesu geschieht und dass sie entsprechend für alle universal bestimmt ist. Sie wird durch drei Eigenschaften genau definiert (Röm 3, 21-22 a): - Gottes Gerechtigkeit geschieht unabhängig vom Gesetz (Röm 3,21-22). Sie setzt weder die Eigenschaften, die zum Tun des Gesetzes berechtigen (die Zugehörigkeit zum Bund Gottes), noch ein qualifiziertes Tun voraus. - Gottes Gerechtigkeit steht in Konformität mit den Aussagen der Schrift. „ Das Gesetz und die Propheten “ ist ein technischer Begriff, der ursprünglich den sich formenden alttestamentlichen Kanon bezeichnete (Jesus Sirach, Prolog 9 - 10). 122 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="123"?> - Gottes Gerechtigkeit wird universal allen, die auf die Gnade Gottes vertrauen, ohne Bedingungen geschenkt, weil es keinen Unterschied geben kann. Alle sind nämlich vor Gott disqualifiziert oder unqualifiziert, sodass alle auf die „ Umsonstheit “ seiner Gnade angewiesen sind (Röm 3,23). Der paulinische Begriff der Gerechtigkeit bezeichnet das angemessene Verhältnis zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer (Ferdinand Christian Baur 3 ) und zugleich die Kraft Gottes, die das sachgemäße Vertrauensverhältnis als neue Schöpfung herstellt: Gott rechtfertigt, aber die Gerechtigkeit Gottes ist keine Eigenschaft, sondern die Kraft der Veränderung (Röm 1,16-17) und der Befreiung (Röm 6,15-23). Die These des Römerbriefs gibt eine klare Definition: Gott ist gerecht, indem er alle rechtfertigt, die auf das Vertrauen, das in Christus offenbar geworden ist, vertrauen (Röm 3,26). 1.1.2 Der Tod Jesu als die absolute Singularität der Offenbarung Gottes Die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes als verändernder Kraft der Gnade ereignet sich in der Verkündigung des Todes und der Auferstehung Jesu. Tod und Auferstehung Jesu offenbaren, dass Gott seinen Sohn bedingungslos und umsonst als Versöhnungsort oder Sühnemittel geschenkt hat (Röm 3,24-25). Die kultische Opfermetaphorik des Großen Versöhnungstags wird zum Interpretament der Offenbarung Gottes umfunktioniert: Gott erweist sich durch seine großzügige Gnade als der, der seine Gerechtigkeit umsonst schenkt. Die logische Kontinuität der Argumentation beruht auf der Korrelation zwischen der Offenbarung des Gnadencharakters der Gerechtigkeit und der entsprechenden Definition des Glaubens als Vertrauen: - Gottes Gerechtigkeit hat sich als Gerechtigkeit durch Vertrauen offenbart (Röm 3,23). - Die Begründung besteht darin, dass alle durch Jesus Christus (Röm 3,24) umsonst gerechtfertigt werden. - Die Erlösung in Jesus Christus erfolgt dadurch, dass Gott seine Gerechtigkeit durch die Vergebung der Sünden und durch die Rechtfertigung aller, die vertrauen, aufgezeigt hat ( „ zum Erweis seiner Gerechtigkeit “ , Röm 3,25 b und 26). Es fällt auf, dass die versöhnende Auswirkung des Todes Jesu hier nicht als ein „ Sterben für unsere Sünden “ (1 Kor 15,3) oder als ein „ Sterben für uns “ , wie es eine opfertheologische Deutung voraussetzen würde, beschrieben wird. Die Erlösung durch die Hinstellung Jesu Christi als Sühneort oder als Sühnemittel geschieht ausdrücklich zum „ Erweis “ der Gerechtigkeit Gottes. Der paulinische Gedankengang ist klar und verlangt keine weitere Erklärung: Der Tod Jesu, auf den die Metonymie des Blutes verweist, ist eine pragmatische Handlung Gottes, 3 Ferdinand Christian Baur, Vorlesungen über neutestamentliche Theologie, hg.von Ferdinand Friedrich Baur, Leipzig 1864, 132 - 133. 1 Die Offenbarung der Gerechtigkeit als Erlösung 123 <?page no="124"?> der sich durch das bedingungslose Geschenk dieses Sterbens als der gerechte und rechtfertigende Vater offenbart und durch diese Offenbarung Vergebung und Rechtfertigung - im Sinn der neuen Schöpfung - schafft. 1.1.3 Der nichtsakrifizielle Sinn der kultischen Sprache Das Verb „ hinstellen “ und die Bezugnahme auf das „ Blut “ verweisen zwar in verschiedenen Zusammenhängen auf die Opfertheologie und die Feier des Großen Versöhnungstags. Sie gehören aber nicht zusammen. „ Hinstellen “ bezieht sich in der Septuaginta auf vegetarische Opfergaben (Ex 29,23; 40,23; Lev 24,8) und selbstverständlich nicht auf den Sündenbock, und die Isotopie, die die paulinische Argumentation zwischen der Metonymie des Blutes Jesu Christi und den beiden kulturellen Metaphern herstellt, befindet sich in einer offenbarungstheologischen Interpretation des Todes und der Auferstehung Jesu: - Die Hinrichtung Jesu von Nazareth wird als Offenbarung des Sohnes verstanden, den Gott als Beweis seiner Liebe dahingegeben hat. Das - im Sinn Kierkegaards - schlechthinnige Paradox der Formulierung „ Gott hat den gekreuzigten Jesus - sein Blut - als Christus hingestellt “ steht als Äquivalent zum „ Wort des Kreuzes “ (1 Kor 1,18) und zu der Rede von dem am Kreuz Verfluchten, den Gott als seinen Sohn offenbart hat (Gal 3,13 und 1,16). - Die Offenbarung des gekreuzigten Jesus als des Christus wird als Sühneort oder Sühnemittel gedeutet. Gott offenbart durch die Anerkennung seines gekreuzigten Sohnes die Bedingungslosigkeit seiner liebenden Gerechtigkeit. Der technische Begriff des „ Sühneorts “ oder „ Sühnemittels “ findet sich im gesamten Korpus der Paulusbriefe nur hier, die Bezeichnung des Todes Jesu mit der Metonymie des Blutes nur noch einmal im Römerbrief (Röm 5,9 verweist aber auf Röm 3,25) und im 1. Korintherbrief in den Einsetzungsworten des Abendmahls (1 Kor 10,16; 11,25 und in unmittelbarem Bezug darauf 1 Kor 11,27). Entweder hat Paulus in die Formulierung der zentralen These des Briefes Anspielungen auf traditionelle Begriffe des frühchristlichen Gottesdienstes eingebaut oder er zitiert und erweitert nach eigenen Vorstellungen eine Bekenntnisformel, die - wie das im 1. Korintherbrief zitierte Bekenntnis (1 Kor 15,3-7) - den Tod Jesu als endzeitliche Wiederherstellung des Bundes verkündigt. 4 Römer 3,24-25 (24) (Umsonst) gerechtfertigt (aus seiner Gnade) durch die Erlösung in Jesus Christus, (25) den Gott als Sühneort hingestellt hat - in seinem Blut (durch das Vertrauen) - zum Erweis seiner Gerechtigkeit durch die Vergebung der vorher geschehenen Sünden. 4 Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 1958, 49; 9. Aufl. durchgesehen und ergänzt von O. Merk¸ Tübingen 1984. 124 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="125"?> In beiden Fällen erscheint die paulinische Reflexion als eine Deutung der kulturellen Traditionen von der Offenbarungstheologie der bedingungslosen Gerechtigkeit Gottes her. Der Begriff „ Sühneort “ oder „ Sühnemittel “ ist ambivalent: Im allgemeinen Sprachgebrauch und in der hellenistisch-jüdischen Literatur meint der griechische Begriff Sühnegaben oder Versöhnungsmittel. In der Septuaginta bezeichnet der Begriff ausschließlich den auf der Bundeslade liegenden Deckel, der am Großen Versöhnungstag mit dem Blut des Opfertieres besprengt werden soll: Ex 25,16 LXX (= 25,17 TM), 17 (18). 18 (19). 19 (20). 20 (21). 21 (22). 31,7; 35,12; 38,5 LXX (37,6); 38,7 (37,8); 38,7 (37,8); 38,8 (37,9); Lev 16,2.2.13.14.14.15; Num 7,89; Am 9,1; Ez 43,14.17.20. Auffällig ist, dass in Röm 3,21-26 der Tod Jesu nicht als Opfer „ für die Sünden “ oder „ für uns “ , sondern als Offenbarung des radikalen Geschenkcharakters der Gerechtigkeit Gottes dargestellt wird. Paulus nimmt die kulturelle Metonymie auf und kehrt ihre Logik um, um Tod und Auferstehung Jesu als Offenbarung der ewigen Distanz zwischen der umsonst geschenkten Gerechtigkeit Gottes und der Gerechtigkeit aufgrund qualifizierender Eigenschaften, die den Bundesgedanken als Abgrenzung, die Existenz unter dem Gesetz und die Opferkulte regieren, zu betonen. Die Veränderungskraft der Gerechtigkeit Gottes, die die absolute Singularität des Todes und der Auferstehung Jesu offenbart, erweist sich zum einen in der Befreiung von der Vergangenheit durch die Vergebung der vergangenen Sünden und zum anderen in der Rechtfertigung, die jeden, der Gott vertraut, anerkennt und in eine verantwortliche Person verwandelt. Logisch geht die Offenbarung der bedingungslosen Gerechtigkeit Gottes als Kraft der Veränderung von den beiden Momenten der Vergebung der vergangenen Sünden und der neuen Schöpfung aus: - Die Rechtfertigung setzt die Vergebung voraus: Das Subjekt des Menschen wird von der Bestimmung durch die Vergangenheit befreit. - Die Rechtfertigung setzt aber auch eine neue Definition der Vergebung voraus, die sich nicht mehr auf eine Wiederherstellung des Status quo ante (zum Beispiel des Bundes) begrenzen lässt. 5 Das Subjekt des Menschen wird in eine neue, anerkannte und verantwortliche Person verwandelt. 1.2 Als Kontrapunkt: René Girard, Die Gewalt und das Heilige René Girard (geb. 1923 in Avignon) ist ein französischer Literaturwissenschaftler, der seit dreißig Jahren in Amerika lehrt. Er hat aus vergleichenden Untersuchungen (zu Dante, Hugo, Stendhal, Cervantes, Flaubert, Proust, Dostojewski, Camus, Sophokles, Euripides) die kulturtheoretische Hypothese 5 Ernst Käsemann, Zum Verständnis von Röm 3,24-26, in: Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 1960, 96 - 100. 1 Die Offenbarung der Gerechtigkeit als Erlösung 125 <?page no="126"?> entwickelt, dass die kulturelle, religiöse und politische Ordnung jeder menschlichen Gemeinschaft jeweils auf einem Opferkult beruht, der die Opferung eines sakralisierten Opfers, das stellvertretend für die in der Gesellschaft vorhandene Gewalt gestorben ist, rituell wiederholt. 1.2.1 Die gesellschaftliche Notwendigkeit eines stellvertretenden Opfers Jede Krise des Opferkults und der mit ihm verbundenen kulturellen Ordnung führt nach Girard zu der Notwendigkeit, ein neues stellvertretendes Opfer zu finden, in dessen Richtung die Gewalt, die sich in der Gesellschaft angesammelt hat und nicht mehr durch Ritualisierung gestillt werden kann, neu gelenkt werden kann. Die Sakralisierung, die aus diesem neuen Opfertod folgt, begründet eine neue gesellschaftliche Ordnung, bis sich der Zyklus der Gewalt wieder schließt. „ Betrachtet man die Opfertheologie, also die Selbstinterpretation des Opfers, nicht als die abschließende Opfertheorie, dann wird sogleich deutlich: Neben dieser Theologie und ihr im Prinzip untergeordnet - in Wirklichkeit aber wenigstens bis zu einem gewissen Punkt von ihr unabhängig - gibt es einen anderen religiösen Diskurs über das Opfer, bei dem es um dessen soziale Funktion geht und der viel mehr Interesse verdient “ . 6 Das Opfer hat eine stellvertretende Funktion, indem sich das gesamte Gewaltpotential, das die Ordnung der Gesellschaft bedroht, auf ein einzelnes Individuum konzentriert. „ Das Opfer tritt nicht an die Stelle dieses oder jenes bedrohten Individuums, es wird nicht diesem oder jenem besonders blutrünstigen Individuum geopfert, sondern es tritt an die Stelle aller Mitglieder der Gesellschaft und wird zugleich allen Mitgliedern der Gesellschaft von allen ihren Mitgliedern dargebracht. Das Opfer schützt die ganze Gemeinschaft vor ihrer eigenen Gewalt, es lenkt die ganze Gemeinschaft auf andere Opfer außerhalb ihrer selbst “ 7 . „ Der Antagonismus eines jeden gegen jeden macht Platz für die Gemeinschaft aller gegen einen einzigen “ 8 . “ „ Die Menschen wollen sich überzeugen, dass das ganze Übel auf die Verantwortung eines einzigen zurückzuführen ist, den es leicht sein wird, zu beseitigen “ . 9 Der Opferkult entsteht aus der Illusion, dass das Opfer die Gemeinschaft von der ihr innewohnenden Gewalt befreit und die religiös-soziale Ordnung, die ein friedliches Leben ermöglicht, wiederherstellt: „ Nachdem alle vorherigen Gewalttaten die Gewalt nur vermehrt haben, setzt wunderbarerweise die Gewalt gegen dieses Opfer jeder Gewalt ein Ende. Das religiöse Denken hat zwangsweise dazu geführt, sich nach der Ursache dieses außerordentlichen 6 René Girard, La violence et le sacré, Paris 1972, 22. Deutsche Übersetzung: Das Heilige und die Gewalt, Zürich 1987. Andere grundlegende Essays: Mensonge romantique et vérité romanesque, Paris 1961; Critique dans un souterrain, Lausanne 1976. 7 A. a. O. 21 f. 8 A. a. O. 116. 9 A. a. O. 118. 126 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="127"?> Unterschieds zu fragen . . . Diesem Opfer den glückbringenden Abschluss zuzuschreiben, scheint um so logischer, als die Gewalt, die gegen es ausgeübt wurde, gerade das Ziel hatte, die Ordnung und den Frieden wiederherzustellen . . . Dieses Opfer scheint also die am meisten übeltuenden und die am meisten wohltuenden Aspekte in seiner Person zu vereinigen . . . Es reicht nicht aus, wenn man sagt, dass das stellvertretende Opfer den Übergang von der wechselseitigen und destruktiven Gewalt zur gründenden Einmütigkeit ‚ symbolisiert ‘ . Es selbst sichert diesen Übergang und ist nur eins mit ihm. Das religiöse Denken hat zwangsläufig dazu geführt, das stellvertretende Opfer, das heißt das letzte Opfer, das Opfer, das unter der Gewalt leidet, ohne neue Vergeltungen auszuüben, als ein übernatürliches Geschöpf, das die Gewalt sät, um dann den Frieden zu ernten, als einen furchterregenden und geheimnisvollen Retter, der die Menschen krank macht, um sie dann zu heilen, zu betrachten . . . Als Anstifter der Gewalt und der Unordnung, solange er unter den Menschen lebt, erscheint der Held als eine Art Erlöser, sobald er ausgeschlossen worden ist, und dies geschieht immer noch durch die Gewalt “ . 10 Die Verewigung der durch das stellvertretende Opfer hergestellten Ordnung ist die Funktion des Religiösen: „ Als erstes haben wir die kathartische Funktion des Opfers ermittelt. Wir haben dann die Krise des Opferkultes als Verlust dieser kathartischen Funktion und aller kulturellen Unterschiede definiert. Wenn die einmütige Gewalt gegen das stellvertretende Opfer dieser Krise tatsächlich ein Ende setzt, dann wird offenkundig, dass sie am Anfang eines neuen Opfersystems stehen muss. Wenn das stellvertretende Opfer allein den Entstrukturierungsprozess unterbrechen kann, dann steht es am Anfang jeder Strukturierung . . . Wir haben . . . gute Gründe zur Annahme, es könnte sich bei der Gewalt gegen das stellvertretende Opfer um eine radikale Gründungsgewalt handeln, und zwar in dem Sinne, dass sie den Teufelskreis der Gewalt beendet und gleichzeitig einen neuen einleitet, nämlich den Kreis des Opferritus, der sehr wohl der Ritus der ganzen Kultur sein könnte. “ 11 „ Das Ritualopfer gründet auf einer doppelten Stellvertretung. Die erste ist die nie wahrgenommene Stellvertretung der Gesellschaft durch ein einziges ihrer Glieder; sie beruht auf dem Mechanismus des stellvertretenden Opfers. Die zweite, die einzige eigentlich rituelle Stellvertretung überlagert jene erste; sie setzt an die Stelle des Ursprungsopfers ein Opfer aus einer opferfähigen Kategorie. Das versöhnende Opfer gehört zur Gemeinschaft, das rituelle Opfer nicht; das muss so sein, denn der Mechanismus der Einmütigkeit spielt nicht automatisch zu dessen Gunsten. “ 12 Das rituelle Opfer „ ersetzt nie dieses oder jenes Mitglied der Gemeinschaft oder gar die ganze Gemeinschaft: es tritt immer an der Stelle des stellvertretenden Opfers. Wie das stellvertretende Opfer an die Stelle aller Mitglieder der Gemeinschaft gesetzt wird, so spielt die Stellvertretung des Opferkultes die Rolle, die wir ihr zugeschrieben haben: Sie 10 A. a. O. 126 f. 11 A. a. O.135. 12 A. a. O. 148. 1 Die Offenbarung der Gerechtigkeit als Erlösung 127 <?page no="128"?> schützt alle Mitglieder der Gemeinschaft vor der eigenen und gegenseitigen Gewalt, aber dies immer durch die Vermittlung des stellvertretenden Opfers “ 13 . 1.2.2 Der Tod Jesu als Ende der Opferritualisierung Die „ jüdisch-christliche Schrift “ , unter anderem die Passionsgeschichten der Evangelien und die paulinische Interpretation des Kreuzes, stellt nach Girard nun aber eine nichtsakrifizielle Deutung des Todes Jesu dar. Sie entlarvt anhand der Deutung, die Jesus im Matthäusevangelium seinem bevorstehenden Tod in den Invektiven an die Schriftgelehrten und Pharisäern gibt und die sich erneut in den Erzählungen des Todes Jesu findet, den Mechanismus der Gewalt. Der Tod Jesu stellt sich als Offenbarung einer Erkenntnis dar, die sowohl das Ende des Opferkults als auch die Aufforderung impliziert, die eigene Gewalt zu erkennen und mit Hilfe des universalen Liebesgebots ( „ Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! “ ) 14 zu überwinden. Der Ausgangspunkt dieser zweiten These Girards stützt sich auf drei miteinander verbundene Gesichtspunkte des Matthäusevangeliums: - die Wiederaufnahme von Hos 6,6 in Mt 9,13 und Mt 12,7: „ Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer “ ; - die Ankündigung und Vorausdeutung des Todes Jesu als Folge der „ Heuchelei “ , die von Girard - als ritualisierte Verdrängung des Stellvertretungsmechanismus der Gewalt analysiert wird (Mt 23,13.27-28.29-33); - den Bericht vom Tod Jesu, der diese Erkenntnis bestätigt und besiegelt (Mt 27). Nach Girard offenbaren die sieben Invektiven 15 die objektive „ Heuchelei “ der Selbsttäuschung (Mt 23,13-36). Die erste Invektive warnt vor dem Selbstbetrug, der in die Irre führt: Die Schriftgelehrten und Pharisäer meinen, Gotteserkenntnis zu besitzen und zu vermitteln, aber sie missbrauchen sie, weil sie den Mechanismus der Gewalt verkennen und verdrängen (Mt 23,13). Die Invektiven offenbaren, worin die Illusion der Schriftgelehrten und Pharisäer besteht: Die letzte Invektive verweist auf die Lüge, die die persönliche Verantwortung gegenüber der eigenen Zeit und dem eigenen Ort verdrängt (Mt 23,29-33), nachdem bereits die vorletzte Invektive mit der Metaphorik der geweißten Gräber die Verwechslung von Leben und Tod enthüllt hat (Mt 23,29-33). Beide Invektiven offenbaren den doppelten Mechanismus 13 A. a. O. 147. 14 Vgl. René Girard, Les malédictions contre les Pharisiens et l ’ interprétation évangélique, Bulletin du Centre protestant d ’ études, Genf 1975; Des choses cachées depuis la fondation du monde, Paris 1978 (Deutsche Übersetzung: Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses. Erkundungen zu Mensch und Gewalt mit Jean-Michel Oughourlian und Guy Lefort. Einführung von Ralf Miggelbrink. Aus dem Französischen von Elisabeth Mainberger, Freiburg 2009). 15 Zur Auslegung der Invektiven vgl. oben Kap. I/ 2 „ Der Tod im Matthäusevangelium “ , bes. 2.1.3. 128 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="129"?> der Ritualisierung der Gewalt. Die geweißten Gräber warnen vor der kultischen Selbsttäuschung, den Tod zu verbergen. „ Deshalb wirft Jesus den Schriftgelehrten und Pharisäern vor, die Gräber der Propheten zu bauen, die ihre Väter getötet haben. Sie verkennen den gründenden Charakter des Mordes. Indem man entweder bestreitet, dass die Väter getötet haben, oder indem man die Schuldigen verurteilt, um die eigene Unschuld zu beweisen, wiederholt man die gründende Geste, erhält man das Fundament, das die Wahrheit verdrängt; man will nicht wissen, dass die ganze Menschheit auf der Verdrängung der eigenen, auf immer neue Opfer projizierten Gewalt gegründet ist. “ 16 Die Erzählungen vom Prozess, von der Kreuzigung und vom Tod Jesu und die Geschichte der Steinigung des Stephanus (Apg 6,8-8,3) erklären oder verschleiern Mord und Martyrium nicht durch eine theologische Deutung, sondern enthüllen den Tod Jesu und den Tod des Stephanus als bloße Auswirkung der Mechanismen der Willkür und Ungerechtigkeit der menschlichen Gewalt. „ Die verbale Offenbarung des Gründungsmordes muss mit der Offenbarung in Taten, mit der Wiederholung dieses Mordes gegen denjenigen, der ihn offenbart und dessen Botschaft die Welt nicht hören will, in unmittelbare Verbindung gebracht werden. In der evangelischen Darstellung löst die Offenbarung in Worten einen kollektiven Willen aus, die Wahrheit zum Schweigen zu bringen, und dieser Wille konkretisiert sich in der Form des kollektiven Mordes, der den Gründungsmechanismus reproduziert und das Wort bestätigt, das er sich bemüht zu verdrängen. Die Offenbarung deckt sich insofern mit der gewaltsamen Opposition gegen jede Offenbarung, als es zunächst darum geht, diese lügnerische Gewalt, die die Quelle jeder Lüge ist, zu offenbaren. “ 17 Konsequenzen dieser Offenbarung sind nach Girard: - das Ende jedes sakralen Opferkults, der nur als Tarnung der Gewalt fungiert, - die Aufforderung, die eigene Gewalt nicht zu übersehen, sondern zu lernen, mit ihr umgehen, - die Hervorhebung der Universalität des Gebots der Nächstenliebe als Alternative zum doppelten Stellvertretungsmechanismus der Gewalt. 1.2.3 Die nichtsakrifizielle Deutung des Todes Jesu Nach Girard ist das Kennzeichen der neutestamentlichen Botschaft die nichtsakrifizielle Deutung des Todes Jesu. Jesus stirbt nicht als Opfer, sondern gibt sein Leben für die Menschen dahin. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass im Neuen Testament die Mechanismen, die zu der Kreuzigung Jesu führten, nicht mythisch und sakral verschleiert, sondern aufgedeckt werden: Weder die vorpaulinische Formel „ für unsere Sünden gestorben “ (1 Kor 15, 3; Gal 1,4) noch die paulinische Formulierung „ für uns/ für euch/ für die 16 René Girard, Des choses cachées, 186. 17 René Girard, Des choses cachées, 103. 1 Die Offenbarung der Gerechtigkeit als Erlösung 129 <?page no="130"?> Sünder gestorben “ (Röm 5,6.7.8; 8,32; 14,15; 2 Kor 5,14-15) setzen eine sakrifizielle Deutung des Todes Jesu voraus. Die paulinischen Interpretationen des Todes Jesu - 1. das „ Kreuz “ , das heißt die Verkündigung des Evangeliums des Todes und der Auferstehung Jesu als Torheit (1 Kor 1,17-25), 2. das „ Kreuz “ als die Verfluchung des Gekreuzigten, den Gott als seinen Sohn offenbart hat, durch das Gesetz (Gal 3,13), 3. das „ Kreuz “ als Erlösung durch die Offenbarung des Geschenkcharakters der Gerechtigkeit Gottes (Röm 3,24) und 4. das „ Kreuz “ als die Versöhnung, die uns alle in eine neue Schöpfung verwandelt (2 Kor 5,11-21) - setzen sämtlich Tod und Auferstehung Jesu in Verbindung zu der notwendigen Befreiung aller Menschen: Die befreiende Veränderung durch das Kreuz betrifft das Verhältnis jedes einzelnen zu Gott, zu sich selbst und zu anderen Menschen. Sie ereignet sich in den beiden Momenten der Selbstkritik (mitgekreuzigt mit Christus) und der Erneuerung (zu einem neuen Leben geboren, Röm 6,1-14). 1.3 Ertrag: Die Gerechtigkeitstheologie des Paulus als Befreiung von der Opfertheologie Der Verweis auf den Sühneort in Röm 3,24-26 ist die einzige paulinische Deutung des Todes und der Auferstehung Jesu mit Hilfe einer opferkultischen Symbolik (Ex 25; Lev 16). Die kultischen Vorstellungen, die den Tod Jesu mit Bildern der Opfersprache bezeichnen und deuten (Röm 3,25), werden aber in eine nichtopfertheologische Interpretation des Todes Jesu umgewandelt: Der Tod Jesu ist nicht Bestandteil der Aufrechterhaltung oder der Erneuerung der religiösen und sozialen Ordnung. Die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes bedeutet vielmehr einen Bruch in der universalen Menschheitsgeschichte (Röm 3,21: „ jetzt aber “ ) und eine Veränderung aller. Der Hinweis „ durch den Glauben “ (Röm 3,25) durchbricht die opferkultische Logik und kündigt die Kraft einer Gerechtigkeit an, die die Vergebung der vergangenen Sünden (Röm 3,25) mit der Berichtigung (J. Louis Martyn) 18 bzw. Rechtfertigung der Sünder (Röm 3,26) aufs engste verbindet. 1.3.1 Der Tod Jesu als Begründung der Universalität In der Argumentation Girards spielt der Römerbrief keine Rolle - und das paulinische Denken wird kaum erwähnt. Die Begründung der zweiten (theologischen) These Girards mit der Passionsgeschichte (Mt 23 und 27) und mit dem Martyrium des Stephanus (Apg 7) zeigt sowohl praktische Konvergenzen als auch grundsätzliche Differenzen zum paulinischen Denken auf. Eine erste zentrale Übereinstimmung liegt in der Verabschiedung von einer opfertheologischen Logik und in der antisakrifiziellen Deutung des Todes Jesu 18 J. Louis Martyn, Galatians, Anc B 33A, New York 1997. 130 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="131"?> am Kreuz. Verschieden sind aber Begründung und Bedeutung dieser Verabschiedung. Girard warnt vor der Lüge, den Tod Jesu so zu interpretieren, dass er das gemeinschaftliche Leben rette. Eine solche Lüge werde in bedeutenden literarischen Werken (Dostojewski, Camus, Dante, Hugo) 19 und vor allem in den Erzählungen der Evangelien enttarnt. Die „ vérité romanesque “ lasse die Wahrheit durchleuchten, wenn Jesus seinen Tod als Prozess der Stellvertretung angekündigt habe. Die Evangelien und die klassischen Autoren sollten so gelesen werden, dass sie weltimmanente Prozesse weltimmanent enthüllten. Für Paulus dagegen ist der Tod Jesu keine weltimmanente Enthüllung. Die Bedeutung dieses Todes entsteht vielmehr aus der absoluten Singularität - der Transzendenz - der Osterbotschaft. Sie offenbart die bedingungslose Gnade Gottes. Die Argumentation des Römerbriefs ist nicht kulturkritisch, sondern theologisch und anthropologisch. Die Offenbarung der Gerechtigkeit als der Wahrheit besteht in der Universalität und der Treue Gottes zu seiner bedingungslosen Gnade (Röm 15,8). Nur sie kann jeden Menschen umsonst rechtfertigen. Sie offenbart und verändert universal und singulär alle Menschen. Das paulinische Evangelium hat seine Relevanz nicht in der Enthüllung einer kulturellen Lüge, sondern in der Veränderung des Verhältnisses des Menschen zu Gott und zu sich selbst. Paulus interpretiert den Tod Jesu nicht als Umleitung der Gewalt oder als Verantwortung für eine gesellschaftliche Ordnung, sondern als die Erlösung von der Verzweiflung des Menschen, der sich vor Gott aufgrund seiner Eigenschaften rechtfertigen will, durch die Offenbarung der rechtfertigenden Gerechtigkeit und Gnade Gottes. Der Tod Jesu ist die Erlösung (Röm 3,24), weil es keinen Unterschied gibt (Röm 3,22 c), alle Menschen Sünder sind und der Ehre Gottes (Röm 3,23) ermangeln, kein Mensch vor Gott aufgrund seiner Eigenschaften gerecht werden kann (Röm 3,20 als Zusammenfassung von Röm 1,18-3,20) und die Gerechtigkeit Gottes die Menschen schon immer umsonst gerechtfertigt hat (Röm 3,21-22 a). 1.3.2 Der Tod Jesu als Aufhebung der Unterscheidung von „ heilig “ und „ profan “ Eine zweite zentrale Übereinstimmung zwischen Girards Hypothese und der Botschaft des Römerbriefs besteht in der Verabschiedung von der religiösen Unterscheidung zwischen „ heilig “ und „ profan “ . Die antisakrifiziellen Deutungen des Todes Jesu als Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes (Paulus) oder der Wahrheit der menschlichen Kultur (Girard) setzen beide als notwendige Implikation die Aufhebung der Unterscheidung zwischen Bereichen des Heiligen und des Profanen, wie sie kultische Handlungen und Ritualisierung herstellen, voraus. Verschieden sind aber auch hier die Gründe, mit denen Girard und Paulus diese Unterscheidung ablehnen, und ihre jeweilige Bedeutung. 19 René Girard, Critique dans un souterrain, Lausanne 1976. 1 Die Offenbarung der Gerechtigkeit als Erlösung 131 <?page no="132"?> Girard warnt davor, das Heilige als Tarnung für die Begründung der Gesellschaft auf den Mechanismen der Gewalt und für die Verschleierung ihrer todbringenden Kräfte einzusetzen. Die Trennung zwischen „ heilig “ und „ profan “ entstehe nicht aus Achtung für die Erscheinungsweise der Transzendenz, sondern verkläre die Opfer der rein menschlichen Gewalt. Die Erkenntnis, die durch die Erzählungen des Todes Jesu in den Evangelien gewonnen und vermittelt werde, verlange die Enttabuisierung des Heiligen und das Ende der Unterscheidung von „ heilig “ und „ profan “ . Im Römerbrief begründet der Tod Jesu Christi jedoch keine Reduktion der Transzendenz auf die Immanenz. Die Verkündigung des Todes Jesu als Offenbarung der Gnade Gottes setzt vielmehr voraus, dass sich die Transzendenz in der Kontingenz offenbart und dass Gott in einem radikal profanen Augenblick der Weltgeschichte gegenwärtig ist. Daraus folgt keine Entmythisierung des Heiligen, wie es Girards Aufklärung will, sondern die Irrelevanz einer sinnlos gewordenen Unterscheidung von „ heilig “ und „ profan “ . Eine direkte Konsequenz der paulinischen Interpretation findet sich in der Neudefinition eines vernünftigen Gottesdienstes: 20 Römer 12,1-3 (1) Folglich bitte ich euch, Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, - eure Körper als lebendiges, heiliges und Gott wohlgefälliges Opfer zu bringen, - euren vernünftigen Gottesdienst. (2) Werdet nicht den Denkmustern dieses Äons konform, (3) sondern verwandelt euch durch die Erneuerung eures Verstands, damit ihr unterscheidet, - was der Wille Gottes ist, - das Gute, - das Wohlgefällige, - das Vollkommene. Der Römerbrief nimmt an dieser Stelle erneut die kultische Sprache ( „ Opfer “ , „ Gottesdienst “ ) auf, um die verändernde Gegenwart der Barmherzigkeit Gottes in der Profanität des christlichen Alltags als rationalen (vernünftigen) Gottesdienst zu interpretieren. Die in Tod und Auferstehung Christi offenbarte Gerechtigkeit Gottes aktualisiert sich in der Erneuerung der Verstehensmöglichkeiten und in der Freiheit, jedoch nicht in der Wiederholung kultischer Handlungen. 20 Ernst Käsemann, Gottesdienst im Alltag der Welt. Zu Römer 12, in Exegetische Versuche und Besinnungen II. Göttingen 1964, 198 - 204. 132 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="133"?> 1.3.3 Hypothese: Vom Opfersystem des Tausches zur Offenbarung der „ Umsonstheit “ Die Erlösung in Jesus Christus (Röm 3,24) erfolgt nicht in einer sakrifiziellen Stellvertretung, sondern in der Offenbarung der umsonst vergebenden und rechtfertigenden Gerechtigkeit Gottes. Diese Offenbarung findet ihren tiefsten Ausdruck in einem Versöhnungszeichen, dem Kreuz. Es setzt sowohl das Ende jedes Opferkults als auch die Aufforderung an alle Menschen voraus, sich durch die Gerechtigkeit Gottes versöhnen zu lassen und von seiner Gnade zu leben. 1 Die Offenbarung der Gerechtigkeit als Erlösung 133 <?page no="134"?> 2 Das Kreuz als Offenbarung der Gerechtigkeit Die absolute Singularität des Ereignisses, das Paulus mit dem Begriff „ Kreuz “ bezeichnet - mit diesem Begriff ist die Verkündigung der Auferstehung des Gekreuzigten als Gottes Kraft der Veränderung gemeint - bedeutet gleichzeitig eine existentielle Wende und einen Bruch in der Menschheitsgeschichte. Die Geschichte wird in zwei Teile gebrochen. 21 Der Tod und die Auferstehung Jesu setzen dem bösen alten Äon ein Ende (Gal 1,4), und es entsteht eine neue Schöpfung (Gal 6,15). Die logische Verbindung zwischen der persönlichen und der universalen Dimension dieses neuen Anfangs liegt darin, dass Gott den Menschen als individuelles Subjekt bedingungslos anerkennt und als Person, die sich ihrer selbst bewusst ist, konstituiert. Wenn die Offenbarung, die in Paulus stattgefunden hat, Wahrheit ist und wenn sich in ihr Gott als der Vater offenbart hat, der die Person unabhängig von ihren Eigenschaften anerkennt, dann muss das, was für den Apostel gilt, für alle gelten. Die Bedeutung des Kreuzes ist also singulär und universal zugleich. Paulus versteht im Galaterbrief das „ Kreuz “ als Wende, die die persönliche Geschichte und die universale Zeit bestimmt. 22 „ Mit Christus bin ich gekreuzigt worden: Nicht mehr ich lebe, sondern in mir lebt Christus “ (Gal 2, 19 b-20 a). Dieses Bekenntnis gilt nicht nur als intime Aussage, sondern findet seine Relevanz in der Universalität des Angebots. 2.1 Die Offenbarung Gottes als Unterscheidung von Person und Eigenschaften (Galater 1,10-17; 2,14-21; 3,10-14) Die Botschaft des Apostels gründet auf einer göttlichen Offenbarung. Indem Gott den gekreuzigten, nach dem Gesetz verfluchten Jesus von Nazareth als seinen Sohn offenbart, offenbart er sich zugleich als der Vater, der die Menschen bedingungslos durch seine Gnade und nicht aufgrund menschlicher Eigenschaften rechtfertigt. Inhaltlich gehören zusammen: - der autobiographische Bericht von der Offenbarung, in der Gott Paulus zum Heidenapostel berufen hat (Gal 1,10-17), - die existentielle Darstellung des Todes und der Auferstehung Jesu als Befreiung von der Verzweiflung hin zur Logik der Gerechtigkeit als gegenseitiger Anerkennung und gegenseitigen Vertrauens, 21 Alain Badiou, Saint Paul. La fondation de l ’ universalisme. Les essais du collège international de Philosophie, Paris 1997. Deutsche (nicht immer vollständige) Übersetzung: Paulus. Die Begründung des Universalismus, Zürich und Berlin 2002. 22 J. Louis Martyn, Galatians, a. a. O.; François Vouga, An die Galater, HNT 10, Tübingen 1998. 134 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="135"?> - der autobiographische Bericht von der neuen Schöpfung des „ Ichs “ als des sich seiner selbst bewussten und verantwortlichen Subjekts (Gal 2, 14-21). 2.1.1 Die Berufung des universalen Apostels Der Grund des Evangeliums ist die Offenbarung Jesu Christi (Gal 1,12): Gott hat seinen Sohn in Paulus offenbart (Gal 1,16). Die Argumentation stellt die Menschen und Gott einander gegenüber: Der Apostel hat das Evangelium weder von Menschen empfangen (Tradition) noch von Menschen gelernt (Schule), sondern durch eine Offenbarung (Gal 1,12) erhalten. Deshalb ist sein Evangelium nicht menschlicher Art (Gal 1,11). Paulus ist kein Apostel, der von Menschen berufen worden wäre, sondern ist durch Jesus Christus und Gott den Vater, der Jesus von den Toten auferweckt hat (Gal 1,1), zum Apostel berufen worden. Die Form des autobiographischen Berichts ist programmatisch für eine wesentliche Aussage. Die These des Apostels, er sei Diener Christi und keines Menschen und sein Evangelium sei göttliche Offenbarung (A. Die Offenbarung, Gal 1,10-12), wird mit der Unterbrechung der Erfolgsgeschichte seiner Jugend (B. Paulus als Subjekt, Gal 1,13-14) durch Gott begründet, der sich als das Subjekt der Lebensgeschichte des Apostels offenbart hat (C. Gott hat sich als Subjekt offenbart, Gal 1,15-17). Galater 1,10-17 A Die Offenbarung (10) Will ich jetzt Menschen oder Gott gewinnen? Oder versuche ich, Menschen zu gefallen? Wollte ich noch Menschen gefallen, wäre ich nicht Diener Christi. (11) Denn ich teile euch mit, Brüder: Das von mir verkündigte Evangelium ist nicht menschlicher Art. (12) Denn weder empfing ich es von Menschen noch wurde es mich gelehrt, sondern (ich empfing es) durch eine Offenbarung Jesu Christi. B Paulus als Subjekt (13) Denn ihr habt von meinem früheren Wandel im Judaismus gehört, dass ich im Übermaß die Kirche Gottes verfolgte und sie zu vernichten suchte, (14) und ich machte Fortschritte im Judaismus, viele Altersgenossen in meinem Volk übertreffend, in höherem Maße Eiferer für meine väterlichen Überlieferungen. C Gott hat sich als Subjekt offenbart (15) Als es aber dem gefiel, der mich von meiner Mutter Leib an aussonderte und durch seine Gnade berufen hat, (16) seinen Sohn in mir zu offenbaren, damit ich ihn unter den Heiden verkündige, 2 Das Kreuz als Offenbarung der Gerechtigkeit 135 <?page no="136"?> habe ich mich alsbald nicht mit Fleisch und Blut beraten noch bin ich nach Jerusalem zu denen hinaufgezogen, die vor mir Apostel waren, sondern ich begab mich nach Arabien und kehrte wieder nach Damaskus zurück. Der frühere Lebenswandel des Apostels im „ Judaismus “ (einem bekennenden Judentum im Gegenüber zu der hellenistischen Globalisierung des Judentums) war eine vorbildliche Erfolgsgeschichte. Paulus war ein begabter und begeisterter Forscher in den väterlichen Überlieferungen (den jüdischen Gesetzen). Die Verfolgung der Kirche Gottes ist der Beleg für sein persönliches Engagement. Das Ende dieser „ glücklichen “ Zeit folgte aus keiner inneren Notwendigkeit, sondern aus einem unerwarteten Subjektwechsel vom „ Ich “ (Gal 1,13-14) zu Gott, „ der mich von meiner Mutter Leib an aussonderte “ (Gal 1,15-16). Zwei Geschichten liefen von Anfang an parallel, die Geschichte dessen, was das „ Ich “ des Paulus tat, und die Geschichte, die Gott mit diesem „ Ich “ schon vorbereitete, bevor das „ Ich “ geboren war, denken und handeln konnte. Der Subjektwechsel leitet keine eigentliche Bekehrungsgeschichte ein (Paulus ist zu demselben Gott bekehrt worden, der bereits vor der Bekehrung sein Gott war), sondern eine Berufungsgeschichte: Der Bericht kombiniert Motive aus Jer 1,4-10 und Jes 49,1-6 und lässt trotz der Formulierung „ in mir “ jedes psychologische Moment aus. Thema ist die Einheit der Offenbarung Gottes und der Berufung zum Heidenapostel: Gott hat Paulus von seiner Muter Leib an ausgesondert, um ihn zu berufen (Gal 1,15), und hat in ihm seinen Sohn offenbart, damit er ihn unter den Heiden verkündige (Gal 1,16). Der Sinn der Berufung erschöpft sich weder in der Offenbarung des Sohnes Gottes noch in der apostolischen Berufung des Paulus. Der Sinn der Wende zeigt sich vielmehr darin, dass Paulus den präzisen Auftrag erhält, Heidenapostel zu werden. Der Auftrag, Apostel für die universale Menschheit zu werden, setzt eine Revolution der Selbstdefinition des Judentums voraus. Die jüdische Identität, die für den Judaisten Paulus auf dem Bund und damit auf den beiden abgrenzenden Dimensionen der Erwählung und des Gesetzes gründete, wird durch die Offenbarung Gottes in eine universale Aussendung verwandelt, die die bisher identitätsstiftende Grenze zwischen dem Volk der Verheißung und den Heiden aufhebt. Paulus ist zum universalen Apostel berufen worden, weil Gott keinen Helden und auch keinen gesetzestreuen Gerechten als den Sohn Gottes offenbarte, sondern den Gekreuzigten, den Übertreter des Gesetzes, der mit Zöllnern und Sündern zusammensaß, aß und trank (Lk 7,31-35/ / Mt 11,16-19), den Lehrer und Stifter der dem Gesetz nicht mehr folgenden Kirche. Indem Gott den gekreuzigten Jesus als seinen Sohn und sich als Vater des Gekreuzigten offenbart, ergreift er Partei für die durch das Gesetz ausgegrenzten Heiden und wendet sich gegen den Erwählungsgedanken und das Gesetz, das allgemeine, qualifizierende und disqualifizierende, Eigenschaften, aber keine Singularität der Person und folglich keine Universalität kennt. 136 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="137"?> 2.1.2 Christus hat uns losgekauft vom Fluch des Gesetzes Die Interpretation des Kreuzes als Verfluchung (Gal 3,13) präzisiert den Sinn der autobiographischen Aussage „ Gott hat seinen Sohn in mir offenbart “ (Gal 1,16). Der Auferstandene (Christus, nicht Jesus) hat Paulus vom Fluch des Gesetzes befreit, weil sich Gott als Vater der Menschen, die jede sie qualifizierende Eigenschaft verloren hatten, bekannt hat und weil sich das Gesetz und die Vollkommenheitsideale als Instanzen, von denen der Mensch seine Identität beziehen wollte, selbst disqualifiziert haben, als sie den Gottessohn verfluchten. Das Verständnis des Kreuzestodes Jesu als Loskauf vom Fluch des Gesetzes legt die absolute Singularität der Offenbarung des Kreuzes als Systemwechsel aus. Dieser Systemwechsel befreit das Selbstverständnis des Menschen von der Herrschaft des Gesetzes, der Vollkommenheitsideale und der Verzweiflung und erschafft es in dem universalen Segen des Vertrauens neu. Die argumentative Form des Gedankengangs ist wieder programmatisch für die logische Denkstruktur. Die These, die den Tod Jesu als Befreiung vom System des Gesetzes und von der Verzweiflung darstellt (C. Die Offenbarung Gottes in Christus als Systemwechsel, Gal 3,13), wird durch den Verweis auf die Selbstdefinition dieses Systems im Gesetz vorbereitet. Sie zeigt die Unvereinbarkeit des bisherigen Systems mit der Logik des Vertrauens (B. Das System des Tausches und die Logik des Vertrauens sind unvereinbar, Gal 3,11-12). Das Ziel oder die Konsequenz der Offenbarung ist der Systemwechsel: Anstelle des Fluches und der Verzweiflung derer, die im System des Gesetzes lebten, gilt für die Universalität der Menschheit der Segen Abrahams und die Verheißung des Geistes - der neuen Schöpfung derer, die aus Vertrauen leben (Gal 3,10-14). Galater 3,10-14 A Das System des Gesetzes ist die Verzweiflung. (10) Denn alle, die aus Gesetzeswerken leben, stehen unter dem Fluch. Denn es steht geschrieben: „ Verflucht ist jeder, der nicht in allem bleibt, was im Buch des Gesetzes steht, um es zu tun “ (Dt 27,26). B Das System des Gesetzes und die Logik des Vertrauens sind unvereinbar. (11) (Schlussfolgerung) Dass im Gesetz niemand bei Gott gerecht wird, ist evident, denn (Obersatz) der Gerechte wird aus Vertrauen leben (Anspielung auf Hab 2,4), (12) aber (Untersatz) das Gesetz ist nicht aus Vertrauen, sondern: „ Wer die Gebote getan hat, wird in ihnen leben “ (Lev 18,5). C Die Offenbarung Gottes in Christus als Systemwechsel. (13) Christus kaufte uns vom Fluch des Gesetzes frei, indem er für uns zum Fluch geworden ist, denn es steht geschrieben: „ Verflucht ist jeder, der am Holz hängt “ (Dt 21,23), 2 Das Kreuz als Offenbarung der Gerechtigkeit 137 <?page no="138"?> D Das Ergebnis: Die Universalität des Segens. (14) damit zu den Heiden der Abrahamssegen in Jesus Christus käme, damit wir die Verheißung des Geistes empfingen durch das Vertrauen. Der Fluch kennzeichnet die Existenz unter dem Gesetz: „ Alle, die aus Gesetzeswerken leben, stehen unter dem Fluch “ (Gal 3,10). Der Begriff des Fluches definiert die Unmöglichkeit, mit den im Gesetz formulierten Abgrenzungen vor Gott und vor sich selbst eine persönliche Identität zu begründen: „ Denn es steht geschrieben: ‚ Verflucht ist jeder, der nicht in allem bleibt, was im Buch des Gesetzes steht, um es zu tun ‘“ (Gal 3,10 b = Dt 27,26). Der Fluch nimmt die beiden Formen der Verzweiflung an, die Sören Kierkegaard als ausweglose Alternative beschrieben hat: Verzweifelt man selbst sein wollen (und nicht die Gebote halten zu können) oder verzweifelt nicht man selbst sein wollen (und seine Identität in seinem Tun nicht finden zu können). 23 Die Existenz unter dem Gesetz ist entweder Fluch, weil der einzelne nicht über die Eigenschaften verfügt, die ihn zu einem angemessenen Verhältnis zu Gott qualifizieren könnten, oder der einzelne verfügt über diese Eigenschaften, aber allgemeine Eigenschaften können niemanden vor Gott rechtfertigen. In der Form eines klassischen Syllogismus zeigt die Argumentation die Evidenz der existentiellen Unvereinbarkeit des Systems des Gesetzes mit dem Vertrauen auf die Gerechtigkeit Gottes auf. Aus dem Gesetzesgehorsam als existentieller Haltung des Strebens nach Vollkommenheit kann die Gerechtigkeit vor Gott nicht entstehen (Schlussfolgerung, Gal 3,11 a), weil die neue Schöpfung der rechtfertigenden Gerechtigkeit Gottes nur als Geschenk und im Vertrauen empfangen werden kann (Obersatz, Gal 3,11 b). Paulus stellt durch die freie Anspielung auf den Propheten Habakuk (Hab 2,4) die Konformität dieser Erkenntnis mit den Aussagen der Schrift fest. Der Untersatz erklärt, warum die Systeme des Gesetzes und der umsonst geschenkten Gerechtigkeit nicht zusammen gelten können (Untersatz mit Zitat von Lev 18,5). Das Gesetz warnt nämlich selbst davor, dass jeder, der seine Gerechtigkeit vom Gesetzesgehorsam und von Vollkommenheitsidealen erwartet, seine Identität nicht von Gott erhalten (Lev 18,5) und folglich sein Leben in der Verzweiflung verlieren wird. Der Galaterbrief setzt später den Gedanken fort: „ Wenn ein Gesetz gegeben worden wäre, das Leben schaffen könnte, dann käme Gerechtigkeit aus dem Gesetz “ (Gal 3,21). Tod und Auferstehung Jesu geben die Möglichkeit der Befreiung, weil sie die Logik des Vertrauens in der umsonst geschenkten Gerechtigkeit Gottes offenbaren. Der Gedankengang fällt durch Klarheit und Einfachheit auf: Nach Aussage des Gesetzes ist Jesus verflucht: „ Verflucht ist jeder, der am Holz hängt “ (Dt 21,23). 23 Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, 1848. Gesammelte Werke, übersetzt und herausgegeben von E. Hirsch, H. Gerdes, H. M. Junghans, Köln/ Düsseldorf 1850 - 1969, 1986 - 1995, 24. und 25. Abteilung. 138 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="139"?> Nun ist aber nicht „ Jesus “ gekreuzigt und vom Gesetz verflucht worden, sondern „ Christus “ , den Gott als seinen Sohn offenbart hat (Gal 1,2), indem er ihn von den Toten auferweckt hat (Gal 1,2). Daraus folgt die Alternative: Entweder ist der Gekreuzigte nicht auferstanden - dann kann man weiter wie bisher denken, dass Gott hinter dem Gesetz steht - oder Gott hat sich durch das Ereignis des Todes und der Auferstehung Jesu als der Vater des Verfluchten offenbart. Hat sich Gott durch das Kreuz (durch Tod und Auferstehung Jesu) entgegen den Forderungen des Gesetzes und der Vollkommenheitsideale als der Vater des unter dem Fluch des Gesetzes stehenden Gekreuzigten offenbart, dann verändert sich nicht nur das Verständnis der Gerechtigkeit, sondern auch die Vorstellung davon, was der Existenz des Menschen Identität und Lebenssinn gibt. 24 In der Offenbarung des vom Gesetz verfluchten Jesus offenbart sich Gott als der Vater, der den Menschen als Person und nicht um seiner Eigenschaften willen rechtfertigt. Die Offenbarung Gottes, der den Menschen umsonst und unabhängig von seinen Eigenschaften (Herkunft, Vergangenheit, Geschlecht, Alter, Gesundheitszustand, Arbeit, Überzeugungen, Loyalitäten usw.) anerkennt, ist die neue Schöpfung eines „ Ichs “ , das sich als bedingungslos anerkannte Person frei und verantwortlich verstehen kann. Die gleiche Interpretation des Todes Jesu findet sich in einer kurzen Formulierung des Römerbriefs. Der Gedankengang ist parallel: Galater 3,13 Römer 8,3 Christus kaufte uns vom Fluch des Gesetzes frei, indem er für uns Fluch wurde, denn es steht geschrieben: „ Verflucht jeder, der am Holz hängt “ (Dt 21,23). (Gott tat) das dem Gesetz Unmögliche, weil es wegen des Fleisches schwach war. Gott verurteilte die Sünde im Fleisch, indem er seinen eigenen Sohn sandte - dem sündigen Fleisch ähnlich - um der Sünde willen. Die Offenbarung nimmt die Form einer Überlistung an: Genauso wie sich das System des Gesetzes durch die Verfluchung des Gottessohns schachmatt gesetzt hat (Gal 3,13), hat sich die Sünde - die Abhängigkeit des Menschen von seinem Bedürfnis, Identität und Existenzsinn verzweifelt in sich selbst zu suchen - als Sünde enttarnt. Das Kreuz stellt das Wunder dar, das einen - dem Menschen unmöglichen - Systemwechsel von der Verzweiflung zur Gerechtigkeit ermöglicht. Der Galaterbrief versteht das Kreuz als Inbegriff der bedingungslosen Anerkennung des Gottessohns in der Gestalt des Gekreuzigten und der Verkündigung der universalen Vaterseins Gottes. Der Römerbrief versteht den Tod des von Gott Gesandten als den Augenblick, in dem der 24 Vgl. in der Eröffnung zu diesem Essay den Abschnitt 2.2. „ Das Kreuz als Rationalität der persönlichen Anerkennung “ . 2 Das Kreuz als Offenbarung der Gerechtigkeit 139 <?page no="140"?> Missbrauch des Gesetzes und der guten Gaben Gottes durch die Macht der Sünde offenbar wird. Die Offenbarung des „ Kreuzes “ als Unterscheidung zwischen dem Gesetz und Gott, der uns „ vom Gesetz befreit “ hat (Gal 2,19/ / 3,13), hat zwei notwendige Konsequenzen: - Die Universalität des Evangeliums: Die Offenbarung des Gekreuzigten als des Gottessohns impliziert die Berufung des Apostels zur Heidenmission: Wird kein Mensch von Gott aufgrund von Eigenschaften gerechtfertigt, dann ist „ weder Jude noch Grieche, weder Sklave noch Freier, nicht Mann und Frau “ (Gal 3,28). - Die Konstituierung der individuellen Subjektivität: Die Einladung zum Vertrauen auf das Vertrauen, das in Christus offenbart wurde, ist die neue Schöpfung meines „ Ichs “ . Mein Wert besteht nicht mehr in meinen Eigenschaften, sondern darin, dass der Gottessohn in mir lebt (Gal 2,20 a). 2.1.3 Gekreuzigt mit Christus - die Neuschöpfung des „ Ichs “ Die Verkündigung des Kreuzes setzt das Bekenntnis zu der durch die Veränderungskraft des Evangeliums geschaffenen neuen Existenz voraus: „ Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir “ (Gal 2,20). Paulus ist zum Heidenapostel berufen, indem er mit Christus gekreuzigt worden ist (Perfekt, Gal 2,19 b). Die absolute Singularität des Todes Jesu besteht darin, dass eine Wende stattgefunden hat, die die Gegenwart bestimmt. Der Apostel analysiert eine Verwandlung, die einerseits die Intimität seiner persönlichen Geschichte und seines Verhältnisses zu sich selbst betrifft und andererseits das Paradigma eines universalen Angebots für jeden ist, der auf die bedingungslose Anerkennung durch Gott vertraut. Das „ Ich “ der neuen Schöpfung ist nicht allgemein, wie Gesetz und Vollkommenheitsideale allgemeine Anforderungen sind, sondern singulär, weil Paulus als einzelne Person durch Gott verwandelt worden ist, und andererseits universal, weil jeder, der das Evangelium hört, zum Vertrauen, das Gott am Kreuz offenbart hat. eingeladen wird. Nicht mehr das alte „ Ich “ lebt in Paulus, sondern ein neues, von Gott in der Offenbarung, des Todes und der Auferweckung Christi gegebenes „ Ich “ . Dieses neue „ Ich “ ist in der Erfahrung, mit Christus gekreuzigt zu sein, verwurzelt (B. Die Entdeckung des „ Ichs “ , Gal 2,19-20). Das Bekenntnis interpretiert die Erkenntnis, die Petrus und Paulus trotz ihrer Auseinandersetzung miteinander verbindet, dass der Mensch durch Vertrauen und nicht aufgrund von Gesetzeswerken gerechtfertigt wird (A. Die Gerechtigkeit als Unterscheidung von Person und Eigenschaften, Gal 2,15-18), und aktualisiert die neue Schöpfung (C. Die Herrschaft des Gekreuzigten, Gal 2,21). Galater 2,14-21 (14) Als ich aber sah, dass sie nicht geradewegs der Wahrheit des Evangeliums folgten, sagte ich zu Kephas vor allen: 140 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="141"?> „ Wenn du, der du ein Jude bist, nach heidnischer Art und nicht nach jüdischer Art lebst, wie willst du die Heiden zwingen zu judaisieren? “ A Die Gerechtigkeit als Unterscheidung von Person und Eigenschaften (15) Wir, Juden von Natur und nicht Sünder aus den Heiden, (16) wissend aber, dass ein Mensch nicht gerecht wird aufgrund der Gesetzeswerke, es sei denn durch das Vertrauen von und auf Jesus Christus, auch wir sind zum Vertrauen auf Jesus gekommen, damit wir gerecht werden aufgrund des Vertrauens von und auf Jesus Christus und nicht aufgrund der Gesetzeswerke; denn aufgrund der Gesetzeswerke wird kein Mensch gerecht werden. (17) Wenn wir jedoch noch als Sünder befunden werden, wenn wir danach streben, in Christus gerecht zu werden, ist dann Christus ein Diener der Sünde? Nein! (18) Denn wenn ich wiederaufbaue, was ich zerstört habe, dann stelle ich mich als Übertreter hin. B Die Entdeckung des „ Ichs “ (19) Denn ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe. - Ich bin mit Christus gekreuzigt. (20) - Nicht mehr ich lebe, sondern in mir lebt Christus. - Was ich jetzt im Fleisch lebe, lebe ich im Vertrauen auf den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich dahingegeben hat. C Die Herrschaft des Gekreuzigten (21) Ich setze die Gnade Gottes nicht außer Kraft. Denn wenn durch das Gesetz Gerechtigkeit kommt, dann ist Christus umsonst gestorben. Die österliche Deutung des Todes Jesu begründet die Gewissheit des Apostels, dass Gott über den Weg des persönlichen Vertrauens und nicht aufgrund der Gesetzeswerke rechtfertigt. Das sachgemäße Verhältnis zwischen dem Schöpfer und seinem Geschöpf besteht im gegenseitigen Vertrauen. Im Galaterbrief werden als „ Werke des Gesetzes “ die Beschneidung als Symbol der Zugehörigkeit zum Bund und zum erwählten Volk der Verheißungen (Gal 2,1-10; 5,1-12; 6,11-17) und die Trennung der juden- und heidenchristlichen „ Tische “ als Einhaltung der Reinheitsgebote genannt. Beides erfüllt die Funktion der Abgrenzung. Die Offenbarung Gottes bedeutet zum einen die Universalisierung der Erwählung: Die Abgrenzung durch die Eigenschaft, zum Volk einer besonderen Erwählung zu gehören, wird aufgehoben. Die Offenbarung bedeutet zum anderen, dass das Leben seinen Ursprung in einer bedingungslosen Anerkennung durch Gott und nicht in qualifizierenden oder disqualifizierenden Eigenschaften hat. Der Apostel bezieht seine Identität und den Sinn seiner Existenz aus dem Vertrauen und nicht mehr aus Gesetzeswerken. 2 Das Kreuz als Offenbarung der Gerechtigkeit 141 <?page no="142"?> Mit einer lapidaren Formulierung fasst Paulus die Veränderung zusammen: „ Ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben “ (Gal 2,19 a). Das Gesetz hat sich durch die Kreuzigung Jesu selbst aufgehoben. Die Erfahrung dieser Veränderung befreit den Apostel von dem Gesetz und den implizierten Abhängigkeitsverhältnissen. Der Tod Jesu bedeutet Tod und Auferstehung des Apostels, der seit der Offenbarung vor Damaskus von und für Gott lebt. Die Gegenüberstellung von Gesetz und Gott als zwei gegensätzlichen Mächten, die die Existenz des Menschen beherrschen, definiert das Selbstverständnis des neuen „ Ichs “ als neuer Schöpfung: - Paulus ist mit Christus gekreuzigt worden (Gal 2,19 b). Die Übertragung der Symbolik des Kreuzes auf die persönliche Lebensgeschichte des Apostels bedeutet die Unterscheidung von Person und Eigenschaften. - Nicht mehr Paulus lebt, sondern Christus lebt in ihm (Gal 2,20 a). Gemeint ist nicht ein Verzicht auf jede Subjektivität, sondern das Geschenk eines neuen Bewusstseins, das sich nicht über die Berufung auf bestimmte Eigenschaften konstituiert, sondern einen dankbaren und verantwortlichen Umgang mit den anvertrauten Eigenschaften ermöglicht. „ Es leben in mir nicht meine Eigenschaften, sondern ein durch die Kreuzesoffenbarung neu geschaffenes, anerkanntes, sich seiner selbst bewusstes und gegenüber Gott, den anderen Menschen und mir selbst verantwortliches Ich. “ Deshalb kann Paulus erklären (Gal 2,20 b), dass sein Alltag durch Vertrauen geprägt ist ( „ was ich im Fleisch lebe “ bedeutet einfach „ in der menschlichen Befindlichkeit “ ). Dieses Vertrauen beruht auf dem Vertrauen Jesu, der sich für den Apostel - und für alle, die auf Gott vertrauen - dahingegeben hat. Tod und Auferstehung Jesu werden in der Perspektive betrachtet, dass Jesus sein Vertrauen auf die bedingungslose Anerkennung Gottes gesetzt hat und damit Grund und Paradigma des Vertrauens geworden ist. Die neue Situation ist eine Aktualisierung des Todes Jesu. Eine Rückkehr in die alte Zeit würde nicht nur die Übertretung des Gotteswillens und eine Selbstverleugnung des neuen „ Ichs “ (Gal 2,17-18), sondern auch die Ablehnung der Offenbarung. (Gal 2,21) bedeuten. Eine solche Rückkehr würde voraussetzen, dass Jesus nicht auferstanden ist, dass sein Tod nichts geändert hat und dass das Gesetz und die Vollkommenheitsideale, die Jesus als Diener der Sünde zum Tod verurteilten, immer noch gelten (Gal 2,18). 2.2 Als Kontrapunkt: Sofia Gubaidulina, In Croce (unter Mitarbeit von Manfred Hermann) Sofia Asgatowna Gubaidulina wurde 1931 als Tochter einer russischen, orthodoxen Mutter und eines tatarischen, islamischen Vaters in Tschistopol in der damaligen Autonomen Tatarischen Sowjetrepublik geboren. Während ihrer Kindheit wurde sie stark religiös geprägt. Nach dem Studium (Klavier/ Komposition) am Konservatorium in Kasan war sie ab 1954 als freischaffende 142 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="143"?> Komponistin in Moskau tätig. Seit 1992 lebt sie in Appen-Unterglinde bei Hamburg. In der Sowjetunion geriet sie schon bald in Konflikt mit der offiziellen Kulturadministration. Ihre Werke distanzierten sich allzu deutlich von den Maximen des „ Sozialistischen Realismus “ . Doch kein Geringerer als Dmitrij Schostakowitsch bestärkte (als Vorsitzender einer Prüfungskommission) die Denk- und Arbeitsweise der jungen Künstlerin. „ Komponieren Sie weiter auf Ihrem falschen Weg! “ lautete der vieldeutige Rat des großen russischen Tonsetzers, der ein wichtiger Mentor der russischen Moderne war. 2.2.1 Das religiöse Werk „ Die Religion ist das Wichtigste im Leben der Menschen überhaupt. In unserem Jahrhundert besteht die Gefahr, dass wir die Religion verlieren . . . “ Der religiöse Kontext der Arbeiten Gubaidulinas wird seit den 1970er Jahren immer deutlicher. Sowohl die Werktitel als auch die kompositorische Gestaltung musikalischer Texturen dokumentieren die individuelle Suche nach spirituellen Bezügen und reflektieren sorgsam ihr Verhältnis zur christlichen Religion: De Profundis, für Bayan (1978) In croce, für Violincello und Orgel (1979) Offertorium, Konzert für Violine und Orchester (1980 - 1986) Die sieben Worte, für Violoncello, Bayan und Streicher (1982) Jauchzt vor Gott! , für Chor und Orchester Alleluja, für Chor, Knabensopran, Orgel und Orchester (1990) Johannes-Passion, für Solisten, zwei Chöre und Orchester (2000/ 2001) 2.2.2 Die Komposition „ In Croce “ Die Komposition „ In Croce “ für Violincello und Orgel ist zugleich einfach und kompliziert. Sie ist einfach, weil eine Kreuzstruktur die Komposition unverkennbar wesentlich bestimmt. Diese Kreuzstruktur hat die Komponistin folgendermaßen beschrieben: „ Die Orgel stellte ich mir in der gegebenen Kombination als mächtigen Geist vor, der manchmal auf die Erde herabsteigt, um seinen Zorn auszubreiten. Das Cello wiederum mit seinen nervösen Saiten entspricht gänzlich der menschlichen Seele. Der Kontrast zwischen den beiden entgegengesetzten Naturen löste sich spontan im Symbol des Kreuzes. Dafür hatte ich zur Verfügung: erstens die Durchkreuzung über die Register (die Orgel führt die untere Linie, das Cello die obere); zweitens die Gegenüberstellung des hellen, heiteren Klangs des einfachen Flageoletts als Glissando und des Ausdrucks der Chromatik. Der helle Klang am Beginn des Stückes wird von der Orgel übernommen. Die Linie geht von oben nach unten. Das Cello ist auf die expressive Chromatik konzentriert, die von unten nach oben führt. Am Ende des Stückes tauschen die Instrumente die Rollen: Das Cello erreicht die hellen 2 Das Kreuz als Offenbarung der Gerechtigkeit 143 <?page no="144"?> Flageoletttöne im oberen Register. Die Orgel dagegen steigt hinab in die Unterwelt des tiefsten Clusters. “ 25 Zugleich ist die Komposition aber kompliziert, weil die Prozesse des Sichkreuzens nicht linear verlaufen. Präziser als „ kompliziert “ wäre allerdings „ differenziert “ . Die Kreuzung, die in der Gegenüberstellung von Anfang und Ende des Stückes klar hervortritt, wird nicht linear vorangetrieben. Immer wieder kommt es zu einem Neuansatz; auch Passagen der Unordnung schieben sich zwischen den direkten Weg. Unordnung? Auch hier muss wieder genauer formuliert werden; denn genauso gut könnten diese Teile auch für eine neue Ordnung stehen. Dem formalen Zusammenhalt der Komposition dient ein musikalisches Motiv, das sich modifiziert durch das ganze Stück hindurchzieht und sowohl in der Orgel als auch im Cello erklingt. Es geht zurück auf die Threnodie, einen Trauer- oder Klagegesang, der in der Musik häufig an die Töne mi-fa (e-f) gebunden ist. „ In Croce “ weist zwei Varianten dieser Tonfolge aus: e-f und efis. Dieser Klagegesang ist eingebettet in dissonante Klänge, die neben der Chromatik die Komposition harmonisch bestimmen. Das Stück ist also atonal, eine Grundtonart ist nicht zu bestimmen. Gleichwohl bildet der Ton mi (e) ein tonales Zentrum über das ganze Stück hinweg. Die Harmonik ist also uneindeutig oder besser: mehrdeutig. Atonale Wirkungen überlagern sich. Erinnerungen an eine Tonalität wecken auch die „ Juchzer “ in der Orgel. Sie sind gestaltet als Auf- und Abwärtsbewegungen über die Töne eines Dur- Gleichklangs (Dreiklangsbrechungen) und treten in Kombination mit dem Threnodie-Motiv auf. Untermalt werden sie von einem ausgehaltenen dissonanten Akkord. Diese „ Juchzer “ geben in veränderter Form, ungefähr ab dem letzten Drittel des Stückes, in Girlanden im Cello über. Diese Girlanden haben keine exakte Tonhöhe: Sie sind im Notentext linienhaft dargestellt und improvisierend auszuführen. Nun können wir die Kreuzung näher beschreiben, von der in den einleitenden Worten die Rede war. Sie wird deutlich im Vergleich von Anfang und Ende des Stückes. Die tabellarische Form bedarf keiner weiteren Erklärung. 26 Cello und Orgel: Sind die beiden Instrumente gleichberechtigt oder hat eines für das andere eher eine begleitende Funktion? Nicht nur Gubaidulinas Ergänzung des Titels ( „ für Cello und Orgel “ ), in der sie das Cello vor der Orgel nennt, auch der Höreindruck und die nähere Beschäftigung mit dem Notentext lassen aus der Sicht der Autorin den Schluss zu, dass dem Cello eine vorrangige Stellung zukommt. 25 Zitiert nach: Michael Kurtz, Sofia Gubaidulina. Eine Biographie, Stuttgart 2001, 203 - 204. Vgl. Enzo Rostagno (Hg.), Gubajdulina, Bibliotheca di cultura musicale, Musica contemporanea, Torino 1991, 206 - 210. 26 In der Tabelle wird der Begriff Cluster verwendet. Darunter versteht man in der Musik eine Tontraube, einen Zusammenklang mehrerer Töne im Sekundärabstand oder in noch kleineren Tonabständen. 144 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="145"?> Beginn Ende Orgel Cello Cello Orgel Lage vorwiegend hohe Lage (mit punktueller Bewegung in mittlerer Lage) tiefe Lage vorwiegend hohe Lage (mit punktueller Bewegung in mittlerer Lage) tiefe Lage Notenwerte vorwiegend kleine Notenwerte vorwiegend große Notenwerte vorwiegend kleine Notenwerte ausgehaltener Cluster Bewegung und Motivik dynamisch, Threnodie versus Juchzer statisch (Klage versucht sich zu entfalten) dynamisch, Threnodie versus Girlande statisch, ausgehaltener Cluster Dynamik Piano Differenziert p < mf > f < ff > differenziert pp < f > pp < f > angedeutet, differenziert pp < > ———— Kontrast ———— — Kontrast vom Beginn umgekehrt — in modifizierter Form z. B. Cluster in Orgel, Girlanden in Cello, Dynamik Takt 6/ 8 Takt Am Ende ist die Taktstruktur aufgelöst, aufgehoben Beginn und Partiturziffer (PZ) 1 - 4: Eher flüchtig und unruhig bewegt wirken die sich immer wiederholenden Threnodie-Motive und die Juchzer in der Orgel. In Kontrast dazu scheint in kaum wahrnehmbarer Mikrointervallik (Vierteltonabstände) die Klage im Cello eingeschlossen, eingekapselt zu sein; ohne genaues Zuhören könnte man meinen, es handele sich um Liegetöne. Nach und nach erst gewinnt die Klage im Cello an Raum. In fortlaufenden neuen Ansätzen beginnt sie sich zu entfalten. PZ 5: So schwingt sich das Cello, fast überraschend, eine Septime nach oben und wieder zurück. PZ 6 - 13: Über eine längere Strecke kann man sich als Zuhörer unsicher fühlen und weiß nicht, wohin sich das Stück entwickeln wird. Bruchstücke und Neuansätze im Cello, dynamisch ausdifferenziert bis zum Fortissimo, über den durchgehenden Threnodie- und Juchzermotiven in der Orgel lassen das Stück zunächst stehen - die Orgel tastet sich vor, sucht nach ihren Möglichkeiten. PZ 14 - 22: Nach und nach entsteht über die Spitzentöne einzelner Auf- und Abwärtsbewegungen eine ansteigende chromatische Linie. Tremoli sorgen für eine gewisse Unruhe und Anspannung. In weit ausgreifenden Auf- und Abwärtsbewegungen und mit kleiner werdenden Notenwerten im Verbund mit der Vortragsbezeichnung „ molte expressiva “ nimmt das Cello immer mehr Raum ein und gewinnt an Ausdruckskraft. PZ 23: Zum ersten Mal kommt es zu einer Kreuzung der Tonhöhen zwischen Orgel und Cello, vorbereitet durch eine 2 Das Kreuz als Offenbarung der Gerechtigkeit 145 <?page no="146"?> Verschiebung des musikalischen Geschehens in der Orgel um eine Oktave nach unten (bereits ab PZ 18) und mit stetig ansteigender Tonhöhe im Cello. In zunehmender Intensität wird ein neuer Abschnitt erreicht, der sich vom bisher Gehörten unterscheidet. PZ 24: Die Orgel spielt bewegte Cluster „ senza metro “ : Nicht nur der bisher geltende 6/ 8-Takt und das damit verbundene Metrum sind aufgelöst. Auch der Bereich fester Tonhöhen ist verlassen, nur grafische Angaben und ein Verweis auf den „ ungefähren Tonumfang der Instrumente “ geben für den Interpreten Orientierung. Die Gestaltung der Dynanik mit Fortissimo verleiht dieser Passage Nachdruck. Handelt es sich hier um die Auflösung der Ordnung, wie der erste Höreindruck assoziieren kann? Oder verhält es sich gerade gegenteilig: Liegt eine neue Ordnung vor, die größere Freiheiten in sich birgt und für das Spiel und den Ausdruck genutzt werden kann? Aus der Sicht der Autorin würde hierzu passen, dass das Cello, parallel zu den Clustern in der Orgel, nach wie vor in festen Tonhöhen agiert. Dauernder Wechsel in der Dynamik zwischen mezzoforte und fortefortissimo/ (fff) sowie zwischen den Spielweisen auf „ ponticello “ 27 und „ normalem “ Spiel und quasi durch fehende Tremoli in steigenden und (vorwiegend) fallenden Linien, die durch enge Tonschritte charakterisiert sind, setzen einen Kontrapunkt zu den freien Passagen in der Orgel. PZ 26: Ein kontinuierliches, extremes Auseinanderstreben in den Tonhöhen zwischen Cello und Orgel, das nicht an feste Tonhöhen gebunden ist, beschließt diesen formalen Abschnitt. Im Anschluss daran übernimmt bis zum Ende des gesamten Stückes das Cello die Threnodie-Motive von der Orgel. PZ 27: Zunächst schreit es diese über Akkorden der Orgel in Fortefortissimo (fff) geradezu heraus. PZ 30: Nach jähem Abbruch erklingen erste girlandenartige Partikel im Cello. Man kann als Hörer den Eindruck haben, dass das Cello sich von einer neuen Freiheit in der Orgel anstecken ließ und sich suchend vorantastet. PZ 32 - 34: Dieses Suchen wird besonders deutlich in einer Solopassage des Cello mit pizzicato rubato und arco im Rageolett 28 , bei der das Cello zum einzigen Mal im gesamten Stück akkordisch spielt. Auf- und Abwärtsbewegungen auf engem Raum mit großen Intervallen sind zunächst bestimmend. PZ 35: Aus den bereits erwähnten Flageolett-Tönen heraus entwickeln sich zum ersten Mal ausgedehnte Girlanden im Cello. Tonhöhe und Bewegung sind im Notentext nur angedeutet. PZ 36: In diese Girlanden hinein ist in der Orgel der Beginn einer weitgespannten Abwärtsbewegung platziert. Diese verläuft diskontinuierlich, da sie immer wieder Neuansätze und aufsteigende Linien aufweist, insgesamt jedoch fallend ist. PZ 37 - 47: Im Gegensatz dazu spielt das Cello eine aufsteigende Linie, die als dramatischer Höhepunkt des Stückes aufgefasst werden kann. In einem Crescendo poco a poco bewegt sich das Cello von tiefer Tonlage stetig nach 27 Mit dem Bogen nahe am Steg. 28 Pizzicato: gezupft; rubato: freies Modifizieren des Tempos/ arco: mit Bogen/ flageolett: Die Saiten werden nicht niedergedrückt, nur leicht abgegriffen durch leichtes Aufsetzen des Fingers. Es entstehen hohe, dünne Töne. 146 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="147"?> oben. Die Motivik wird auf der gesamten Strecke bestimmt durch eine Abwandlung des Threnodie-Motivs. Wieder ist es die chromatische Anlage der Spitzentöne der einzelnen Phasen, die für kompositorische Geschlossenheit sorgt. Als Hörer hat man den Eindruck, dass das Fortschreiten durch diesen weitgespannten Tonraum schier nicht enden will. Immer wieder rückt das abgewandelte Threnodie-Motiv im Cello einen chromatischen Schritt nach oben. Man denkt und fühlt: „ Jetzt muss doch der Zielpunkt erreicht sein! “ - jedoch: man täuscht sich: Nochmals und nochmals wandert das Cello in chromatischen Schritten nach oben. Es ist, als ob die Komponistin den Zuhörer mitreißen will in ungeahnte Höhen, in bis dahin unerhörte Bereiche. Das vierfache Forte (ffff) und eine Generalpause markieren einen Einschnitt. Auch die Orgel erreicht diesen dramatischen Höhepunkt mit einem Fortefortissimo (fff). PZ 48: Der nun folgende und die gesamte Komposition abschließende Teil ist deutlich verändert. Über einen durchgehend ausgehaltenen Cluster in der Orgel greift das Cello immer wieder das Threnodie-Motiv auf. Es spielt dieses Motiv abwechselnd auf dem Griffbrett (sul tasto) und in herkömmlicher Spielweise. Zwischen den Threnodie-Motiven erklingen im Cello ausgedehnte Girlanden. Die extremen Höhen (bis zu e) im Verbund mit pianissimo und flageolett lassen den Celloklang unwirklich, gläsern wirken. Als Zuhörer kann man den Begriff der Entrückung assoziieren. Eine ausgedehnte Girlande beschließt die Komposition. Soll der Wechsel auf der letzten Note (e) vom flageolett zum senza flageolett und ein glissando durch den gesamten Tonraum bis in die tiefe Lage wieder zu einer gewissen Bodenhaftung beitragen? Vielleicht. Jedoch: Für den Hörer - vor allem auch nach mehrmaligem Hören - kann von dieser gesamten Schlusspassage eine transzendente Wirkung ausgehen. In der Wortbedeutung von „ Transzendent “ erschließt sich eine innere Weitung, die Ahnung von neuen Räumen. Ist die Komposition „ In croce “ eine Aufforderung, diese Räume zu suchen und auch zu betreten? Stehen die Kreuzstruktur und die Veränderungsprozesse in der Musik (s. o. den Vergleich von Anfang und Ende) stellvertretend für eine innere Wandlung? 2.3 Ertrag: Das Kreuz als neue Schöpfung eines inneren Klangraums Der autobiographische Bericht des Apostels im Galaterbrief und die musikalische Gestaltung der Zeit durch Sofia Gubaidulina in „ In Croce “ konstruieren einen persönlichen und universalen Kreuzweg, der die Form einer Wende oder Umkehr annimmt. Das Motiv des Kreuzes erscheint als Ereignis oder Prozess einer Singularität, die die Geschichte durch die Dimension der Transzendenz unterbricht und die Möglichkeit einer inneren Wandlung bezeugt. Die Dramatik verläuft parallel: Die Auseinandersetzung mit der Transzendenz (Paulus: mit der Offenbarung des Gekreuzigten als des Gottessohns) eröffnet den befreienden Prozess einer Entdeckung innerer Räume, die das geistige Leben des „ Ichs “ als selbstreflexives Subjekt konstituieren. Das Kreuz, das die 2 Das Kreuz als Offenbarung der Gerechtigkeit 147 <?page no="148"?> Unterscheidung von Person und Eigenschaften (Gubaidulina: die Unterscheidung von geistiger und irdischer Existenz) voraussetzt, wird als Offenbarung des geistigen Lebens des Einzelnen gedeutet. 2.3.1 Das Kreuz als Veränderung des Verhältnisses zu sich selbst Das hörende Vertrauen schafft einen inneren Klangraum durch die Unterscheidung im Subjekt selbst zwischen den feststellbaren Eigenschaften und der neuen Schöpfung der eigenen Person, die aus der bedingungslosen Anerkennung durch Gott entsteht. Das Kreuz offenbart das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst als den Raum, in dem sich seine Identität entscheidet, und zugleich als die Möglichkeit einer Selbstdistanzierung des Subjekts von sich selbst, das seine Identität nicht aus sich selbst, sondern aus der bedingungslosen Anerkennung durch Gott erhält. Nach dem Bericht, in dem Paulus seine Berufung zum Heidenapostel mit ihren Konsequenzen für seine persönliche Geschichte und Tätigkeit erzählt (Gal 1,10-2,21), verändert er die Perspektive. Er fragt die Galater, ob sie den heiligen Geist wegen ihres Gehorsams gegenüber dem Gesetz oder aus dem hörenden Vertrauen auf die Verkündigung des Kreuzes empfangen hätten. Die paulinische Interpretation des Kreuzes setzt die Anerkennung des Todes und der Auferstehung Jesu als absolute Singularität voraus: - Ein Ereignis, dessen Ursprung außerhalb des Subjekts liegt, verändert die Existenz in einer solchen Weise, dass Paulus die neue Situation als neue Schöpfung bezeichnet (2 Kor 5,17; Gal 6,15). - Diese Veränderung betrifft das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst. Das Subjekt gründet nicht mehr in sich selbst, sondern in der bedingungslos geschenkten Anerkennung durch Gott: Es wird umsonst von Gott gerechtfertigt (Röm 3,24). „ Aus dem Fleisch “ und „ aus dem Gesetz “ bezeichnen die Begründung des Verhältnisses des Subjekts auf sich selbst und seine Vollkommenheitsideale, während „ aus dem Geist “ bedeutet, dass der Geist Gottes die Wirklichkeit einer neuen Identität unabhängig von jeder Eigenschaft bewirkt. - Die Veränderung des Verhältnisses des Subjekts zu sich selbst ereignet sich im hörenden Vertrauen. Vertrauen meint in der logischen Struktur des paulinischen Denkens die zuversichtliche Dankbarkeit und die Anerkennung Gottes, der eigenen Person und der Mitmenschen. 2.3.2 Das Kreuz als Strukturierung der persönlichen Zeit Die in der Transzendenz - angemessener wäre der Begriff der Transdeszendenz als Bezeichnung der Offenbarung Gottes in der Person des gekreuzigten Jesus 29 - begründete Unterscheidung von Person und Eigenschaften gibt dem „ Ich “ die Möglichkeit der Gleichzeitigkeit mit sich selbst. Die Wende setzt eine 29 Der Begriff der Transdeszendenz, den wir Pierre-André Stucki verdanken, ist von Jean Wahl ausgeführt worden, um die Paradoxie der Offenbarung in der absoluten Singu- 148 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="149"?> neue Strukturierung der persönlichen, intimen Zeit des Subjekts im Verhältnis zu sich selbst: Die Gegenwart gründet weder auf der Herkunft und den früheren Handlungen noch auf der künftigen Erfüllung der Vollkommenheitsideale, sondern in der umsonst geschenkten Anerkennung durch Gott, der dem „ Ich “ die Möglichkeit der Gleichzeitigkeit mit sich selbst gibt. Die Berufung des Apostels zum Heidenapostel geschieht in einem Ereignis, das eine pragmatische Neugründung der Verhältnisses des Subjekts zu sich selbst konstituiert. Die Hinweise auf die Berufung des Apostels vermeiden jede intime oder anekdotische Aussage. Paulus spricht von einer Vision des Herrn (1 Kor 9,1) oder des Auferstandenen (1 Kor 15,8), von einem Erkenntnisfortschritt (Phil 3,4-11) oder von einer prophetischen Berufung. Der Begriff des Ereignisses zielt weder auf einen punktuellen noch auf den sichtbaren Charakter der Wende, sondern auf die sich offenbarende Macht der Veränderung. In der Sprache der Pragmatik der Kommunikation (George Bateson, Paul Watzlawick oder Maria Selvini-Palazzoli) könnte man sie als Systemwechsel oder als eine Veränderung zweiter Ordnung beschreiben. Die Konsequenz der Offenbarung Gottes als des universalen Vaters - und nicht als des Garanten allgemeiner Eigenschaften - ist die Gestaltung der persönlichen Zeit durch eine dreifache Unterscheidung, die die neu geschaffene Einheit des Subjekts als Gleichzeitigkeit mit sich selbst ausdrückt: - Das Subjekt erfährt, dass es sich nicht auf seine Eigenschaften reduzieren lässt. Eigenschaften können keine Identität konstituieren. „ Nicht mehr ich lebe. “ - Identität, Zeit und Sinn seines Lebens werden dem Subjekt im Kreuz Jesu Christi offenbart. In der Offenbarung des Gekreuzigten als des Gottessohns erfährt das Subjekt, dass es von Gott vorbehaltlos geliebt und umsonst anerkannt ist. „ Christus lebt in mir. “ - Die Unterscheidung von Person und Eigenschaften wertet die Eigenschaften insofern auf, als sie nicht mehr mit der verzweifelten Suche nach der persönlichen Identität überfrachtet sind, sondern als Gaben des Geistes Gottes dankbar angenommen und gebraucht werden. 2.3.3 Hypothese: Das Kreuz als Offenbarung der bedingungslosen Anerkennung der Person Wenn Gott den gekreuzigten Jesus, den das Gesetz als Übertreter verurteilt und verflucht hatte (Gal 3,13), als seinen Sohn anerkannt hat (Gal 1,12.16, aber auch 3,13), dann ist dreierlei deutlich: - Gott muss vom Gesetz, von jeder menschlichen Religion und allen Vollkommenheitsidealen unterschieden werden. - Dem Gesetz darf keine transzendente Bedeutung zuerkannt werden; denn kein Gesetz hat die Macht, das Leben zu geben (Gal 3,21). larität des Kreuzes oder der Menschwerdung des Wortes von allgemeinen Vorstellungen der Transzendenz zu unterscheiden. 2 Das Kreuz als Offenbarung der Gerechtigkeit 149 <?page no="150"?> - Die Transzendenz Gottes offenbart sich nicht in Verbindung mit dem Gesetz und menschlichen Vollkommenheitsidealen, sondern in Gottes bedingungsloser Anerkennung der Person unabhängig von ihren Eigenschaften. 150 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="151"?> 3 Das Wort des Kreuzes als Veränderungskraft Der 1. Korintherbrief beginnt und endet mit zwei symmetrischen Erinnerungen: Paulus hat in Korinth die Osterbotschaft, die ihm offenbart wurde, weitergegeben (1 Kor 15,1-11) und erklärt den Korinthern, die die Apostel für Träger der Weisheit halten, mit einem gewissen Humor, dass nicht er gekreuzigt worden sei (1 Kor 1,13), sondern in Korinth den gekreuzigten Christus verkündigt habe (1 Kor 1,17-3,4). In diesem Zusammenhang verweist der Ausdruck „ Wort des Kreuzes “ (1 Kor 1,18) auf eine doppelte Paradoxie: Für Paulus ist die Offenbarung Gottes in der Person des Gekreuzigten gegeben; er sieht die Auferstehung Jesu nicht als einen nachträglichen Sieg Gottes an, sondern deutet den Tod Jesu als den heilsamen Schachzug Gottes, mit dem er die menschliche Weisheit ins Stolpern brachte. Das Kreuz versperrt den Weg einer unmittelbaren Kontinuität zwischen der „ Weisheit der Welt “ und der „ Weisheit Gottes “ , um gerade auf diese Weise eine vernünftige und sachgemäße Wahrnehmung der Transzendenz zu ermöglichen. 30 Dieses Verständnis des Kreuzes als Paradoxie der Kommunikation setzt die im Kreuz - in dem von der Auferstehung her gedeuteten Tod Jesu - offenbarte Diskontinuität zwischen der Transzendenz Gottes und der Immanenz menschlicher Weisheit voraus. In der Heidelberger Disputation (1518) hat Martin Luther „ theologia crucis “ als terminus technicus verwandt und als Programm der „ theologia gloriae “ der Scholastik entgegengestellt. Der Begriff bietet ein präzises Interpretament für das paulinische Denken 3.1 Die Torheit des Evangeliums als Weisheit Gottes (1 Korinther 1,10-3,4) Die Erinnerung an das Evangelium als Wort des Kreuzes ist dialektisch strukturiert und aufgebaut: - Christus hat Paulus gesandt, um das Evangelium als Wort des Kreuzes zu verkündigen (1 Kor 1,17). - Das Wort des Kreuzes ist gleichzeitig menschliche Torheit und göttliche Kraft (1 Kor 1,18-25). Die Entstehung der Gemeinde in Korinth belegt die Wirksamkeit der schöpferischen Kraft Gottes, der in Torheit und Schwachheit existieren lässt, was vorher nicht war (1 Kor 1,26-31). 30 Die paulinische Interpretation des „ Kreuzes “ deutet Tod und Auferstehung Jesu als eine Paradoxie der Kommunikation, wie sie die pragmatische Analyse definiert hat: Paul Watzlawick, John Weakland, Richard Fisch, Change, Principles of Problem Formation and Problem Revolution, New York 1974; Mara Selvini Palazzoli, Luigi Boscolo, Gianfranco Cecchin, Giuliano Prata, Paradosso e controparadosso, Milano 1975. 151 <?page no="152"?> Die Schwachheit des Apostels hat ihren Sinn darin, dass er sein Vertrauen auf die Kraft Gottes und nicht auf eigene Weisheit setzt (1 Kor 2,1-8). - Das Wort des Kreuzes ist Weisheit (1 Kor 2,6-16). Paulus stellt die apostolische Botschaft nicht als elementare Philosophie (Weisheit) oder als eine Religion für intellektuell anspruchslose Menschen (Torheit) hin. Er setzt vielmehr voraus, dass die Kraft Gottes mächtiger als die stärkste Macht und das Evangelium klüger als die klügste Form der Erkenntnis ist. Das Wort des Kreuzes gründet die Erkenntnis Gottes und die Erkenntnis des Menschen auf der umsonst geschenkten Gnade als Wahrheit der Wirklichkeit. 3.1.1 Das Kreuz als Torheit Gottes (1 Korinther 1,17-25) Die Reflexion des Apostels über die Wahrheit des Evangeliums, seine Vermittlung und seine Rezeption bestimmt auch seine Ethik der dem Evangelium entsprechenden Kommunikation: Der Apostel darf nicht versuchen, die Menschen durch die klugen Argumente der menschlichen Weisheit zum Glauben zu überreden. Eine Botschaft, die auf den Prämissen und auf der durch menschliche Weisheit begründeten Struktur der Wirklichkeit beruhen würde, ginge unvermeidlich an der Bedeutung des Kreuzes vorüber (1 Kor 1, 18-25). Die Argumentation nimmt die Form einer Begründungskette an: - Der Apostel kann nicht in der Kontinuität der menschlichen Weisheit und gemäß ihren Kriterien reden; denn das Wort des Kreuzes verlangt einen Systemwechsel des Gottesverständnisses und des menschlichen Selbstverständnisses (1 Kor 1,18). - Die Schrift erklärt die Torheit des Kreuzes damit, dass Gott beschlossen hat, verrückt zu spielen, um die Weisheit der Weisen zu überlisten (1 Kor 1,19-20). - Die Überlistung der Weisheit gehört zu der Strategie Gottes. Sie verfolgt das Ziel, alle Menschen, die auf Gott vertrauen, zu retten. Die Überlistung war notwendig, weil der Versuch, die Weisheit Gottes nach den Kategorien der menschlichen Weisheit zu verstehen, zu einem tiefen Missverständnis führt: Die menschliche Weisheit vermag nicht, Gott als Gott zu erkennen (1 Kor 1,20). - Angesichts der Konsequenz dieses Missverständnisses und angesichts der von Gott beschlossenen Strategie, es zu beseitigen, kann der Apostel den Juden, die Wunder erwarten, und den Griechen, die Weisheit suchen, nur das Kreuz als befreiende und rettende Offenbarung Gottes verkündigen (1 Kor 1,22-24). - Die Begründung dafür, dass die „ Verrücktheit “ Gottes klüger und seine Schwachheit stärker als die Weisheit der Menschen ist, darf nicht quantitativ missverstanden werden, Sie verweist auf eine ewige Distanz, die die Notwendigkeit und die Möglichkeit der paradoxen Strategie Gottes erklärt. 152 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="153"?> 1 Korinther 1,17-25 (17) Denn Christus hat mich nicht gesandt zu taufen, sondern das Evangelium zu verkündigen, nicht in Weisheit der Rede, damit das Kreuz Christi nicht entleert wird. (18) Denn das Wort des Kreuzes ist eine Torheit für die Verlorengehenden, für uns aber, die gerettet werden, ist es Kraft Gottes. (19) Denn es steht geschrieben: „ Ich werde verderben die Weisheit der Weisen, und den Verstand der Verständigen werde ich vernichten “ . (20) - Wo ist ein Weiser, - wo ein Schriftgelehrter, - wo ein Forscher dieser Weltzeit? Hat nicht Gott die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht? (21) Denn - während in der Weisheit Gottes die Welt durch ihre Weisheit Gott nicht erkannt hat, hat es Gott gefallen, durch die Torheit der Verkündigung die Glaubenden zu retten. (22) - Während Juden Zeichen fordern und Griechen nach Weisheit streben, (23) verkündigen wir hingegen Christus, den Gekreuzigten, - für Juden ein Ärgernis, - für Griechen eine Torheit, (24) - denen aber, die Berufene sind, Juden sowohl als Griechen, Christus als Gottes Macht und Gottes Weisheit. (25) Denn das Törichte Gottes ist weiser als die Menschen, und das Schwache Gottes ist stärker als die Menschen. Die von Paulus geprägte Formulierung „ Wort des Kreuzes “ symbolisiert die Verkündigung der Auferstehung des Gekreuzigten als Inhalt der apostolischen Predigt. Sie interpretiert die Verkündigung der Osterbotschaft als Vergegenwärtigung der Veränderungskraft Gottes: Der Gekreuzigte hat sich sehen lassen (1 Kor 9,1; 15,5-8), und Gott hat den Gekreuzigten als seinen Sohn offenbart (Gal 1,16). Das „ Wort des Kreuzes “ ist als die befreiende Verkündigung der Auferstehung des Gekreuzigten eine Paradoxie der Kommunikation, die entweder Glauben oder Ärgernis auslösen muss: Die befreiende Kraft Gottes kann sich nicht als Veränderung offenbaren, indem sie die menschliche Weisheit quantitativ überragt, sie dadurch bestätigt und sich ihren Maßstäben unterwirft. Die Paradoxalität des Evangeliums setzt vielmehr die Evidenz der Weisheit der Welt außer Kraft, um der Rationalität der menschlichen Vernunft eine neue Basis zu verschaffen. Die Verkündigung kann nur die Form einer indirekten Kommunikation annehmen, weil sie kein vorhandenes Wissen von 3 Das Wort des Kreuzes als Veränderungskraft 153 <?page no="154"?> Gott durch neue Informationen ergänzt, sondern das bisherige Gottes- und Selbstverständnis in Frage stellt. Das Wort des Kreuzes wirkt sich entweder als göttliche Kraft oder als menschliche Torheit aus. Die Möglichkeit einer objektiven Betrachtung ist ausgeschlossen. Als Paradoxie der Kommunikation erhalten das Kreuz und das Wort des Kreuzes ihre Bedeutung durch die jeweilige Rezeption: Für diejenigen, die glauben und auf die im Kreuz offenbarte bedingungslose Anerkennung durch Gott vertrauen, ist das Kreuz Kraft Gottes. Für den Unglauben ist es Torheit: Von den Vollkommenheitsidealen der Weisheit der Welt her ist eine Offenbarung Gottes am Kreuz eines Menschen, der als Übertreter des Gesetzes - als das Gegenteil eines Märtyrers, der aus Gesetzestreue und, könnte man meinen, aus Treue zu Gott - verurteilt wurde, nicht zu begreifen. Der Gedanke ist logisch nicht: Es gibt von vornherein die Verlorenen und die Geretteten. Vielmehr ist es umgekehrt: Die einen gehen verloren, weil sie das „ Wort des Kreuzes “ als Torheit ablehnen, während die anderen gerettet werden, weil sie sich durch die Kraft Gottes verändern lassen. Die Interpretation des Kreuzes als therapeutische Verwirrstrategie Gottes - in Aufnahme des Zitats aus Jesaja (1 Kor 1,19 = Jes 29,14) spricht Paulus davon, dass Gott den Weisen, den Schriftgelehrten und den Forscher dieser Weltzeit entwaffnet (1 Kor 1,20) - setzt keine Irrationalität der Offenbarung, sondern einen Systemwechsel des rationalen Denkens voraus. Gott und der Mensch sind von der absoluten Singularität eines Ereignisses her zu verstehen, das durch kein Vorwissen und keine Expertise vorbereitet wurde: Gott überrascht jede Form der Weisheit der Welt. Der schöpferische Beschluss Gottes, die Weisheit der Welt durch das Paradox des Kreuzes als Torheit zu offenbaren, folgt aus der unglücklichen Geschichte des Verhältnisses zwischen der Weisheit der Welt und der Weisheit Gottes. Das Ziel der Strategie Gottes besteht in dem Willen, das Unverständnis der Welt für die Weisheit Gottes zu beseitigen, um die Menschen zu retten, indem ihnen das Evangelium die Möglichkeit gibt, ihr Vertrauen ausschließlich auf Gott zu setzen. Der Ausgangspunkt ist das menschliche Scheitern, Gott durch die Weisheit der Welt zu erkennen. Paulus setzt dabei voraus, dass die Weisheit der Welt Gott hätte erkennen können. Ebenso ist nach Paulus das Gesetz gegeben worden, um das soziale Leben zu gestalten, aber nicht, damit der Mensch versucht, aus dem Gesetz zu leben (Gal 3,19-21).Vorausgesetzt wird, dass die Welt ihre Weisheit missbraucht hat und dass eine Existenz aus den vom Gesetz geforderten Werken das Gesetz überfrachtet. Das Gesetz hat nicht die Macht, lebendig zu machen (Gal 3,11-12 und 21). Daraus folgt, dass die Weisheit und das Gesetz nicht mehr Wege der Gotteserkenntnis, sondern Hindernisse sind, Gott zu erkennen: - Die Strategie Gottes setzt das Kreuz als therapeutische Paradoxie der Kommunikation kreativ ein: Als das schlechthin Undenkbare ist das Kreuz der Stolperstein für die Weisheit der Welt und zugleich die sachgemäße Offenbarung Gottes, der die Menschen umsonst rettet (Präsens! ): 154 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="155"?> - Die Rettung aller, die vertrauen, ist ein Äquivalent der Rechtfertigung. Im glaubenden Vertrauen lässt sich der Mensch auf die umsonst geschenkte Gnade Gottes ein und erhält von ihr Sinn und Identität. Das „ Wort des Kreuzes “ ist Verkündigung der universalen Botschaft des Evangeliums Gottes. Kulturelle, soziale und religiöse Abgrenzungen werden insofern aufgehoben, als Juden und Griechen in ihrer existentiellen Haltung gleichgesetzt werden: Während die Forderung der Juden nach Zeichen und das Streben der Griechen nach Weisheit parallele, aber verschiedene Formen der Suche sind, die eigene Identität und den Sinn der eigenen Existenz aufgrund von Vollkommenheitsidealen und Eigenschaften zu finden, richtet sich die Verkündigung des Gekreuzigten in gleicher Weise an Juden und Griechen. 3.1.2 Das Kreuz als Weisheit Gottes (1 Korinther 2,6-16) Die Torheit des Kreuzes gründet die Rationalität auf die Offenbarung der Wahrheit und ist gerade deshalb Weisheit Gottes. Die Vergegenwärtigung des Todes und der Auferstehung Jesu als Paradoxie der Kommunikation Gottes gibt die Möglichkeit einer transzendenten Veränderung, die die einen vor der Weisheit der Welt und ihren Vollkommenheitsidealen rettet und von den anderen als Absurdität abgelehnt wird. Für die „ Vollkommenen “ ( „ wir “ , 1 Kor 2,6), die sich durch die „ Verrücktheit “ des Kreuzes haben retten lassen, offenbart sich die Wahrheit als das Geschenk des Geistes, während sie anderen als Unsinn erscheint. Die Teilung der Zuhörerschaft nimmt die Trennung zwischen den Verlorengehenden, die das Wort des Kreuzes für Torheit halten, und denen, die es als Kraft Gottes empfangen und gerettet werden (1 Kor 1,18), wieder auf. Die Argumentation verläuft in drei Schritten 31 : - Unter den „ Vollkommenen “ spricht Paulus von der Weisheit Gottes, die von der Weisheit der Welt nicht erkannt wird (1 Kor 2,6-8). - Das kann Paulus nur tun, weil ihm Gott durch seinen Geist die Wahrheit offenbart hat. - Paulus verkündigt nicht Lehren der menschlichen Weisheit, sondern Worte des Geistes, die nur von dem pneumatischen Menschen, aber nicht von dem psychischen Menschen verstanden werden (1 Kor 2,13-16). 1 Korinther 2,6-16 A Die Verkündigung des Kreuzes als Weisheit Gottes (6) Weisheit verkündigen wir unter den Vollkommenen, Weisheit weder dieser Weltzeit noch der Herrscher dieser Weltzeit, die überwunden werden. (7) Aber wir verkündigen eine Weisheit Gottes, eine in einem Geheimnis verborgene, die Gott vor aller Weltzeit zu unserer Herrlichkeit vorherbestimmt hat, 31 Giuseppe Barbaglio, La Prima lettera ai Corinzi, a. a. O. 167. 3 Das Wort des Kreuzes als Veränderungskraft 155 <?page no="156"?> (8) die keiner der Herrscher dieser Welt erkannt hat. Denn wenn sie sie erkannt hätten, hätten sie nicht den Herrn der Herrlichkeit gekreuzigt. B Die Erkenntnis der Weisheit Gottes als Gabe des Geistes (9) Aber wie es geschrieben steht: „ Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in kein Menschenherz Eingang gefunden hat, was Gott denen, die ihn lieben, vorbereitet hat “ , (10) das hat uns Gott offenbart durch den Geist. Denn der Geist durchdringt alles, auch die Tiefen Gottes. (11) Denn - wer unter den Menschen kennt den Menschen, es sei denn der Geist des Menschen, der in ihm ist? - So hat auch keiner Gott erkannt, es sei denn der Geist Gottes. (12) Wir haben nicht den Geist der Welt empfangen, sondern den Geist von Gott her, damit wir erkennen, was uns von Gott geschenkt worden ist. C Die Verkündigung der Weisheit Gottes als Gabe des Geistes (13) Und dies verkündigen wir nicht in Lehren der menschlichen Weisheit, sondern in Lehren des Geistes, Geistliches mit Geistlichem beurteilend. (14) - Der psychische Mensch nimmt das vom Geist Gottes nicht an. Denn ihm ist es Torheit, und er kann nicht erkennen, dass es geistlich beurteilt werden muss. (15) - Der pneumatische Mensch beurteilt alles, er selbst wird von niemandem beurteilt. (16) Denn wer hat die Gedanken des Herrn erkannt, der ihn beraten würde? Wir haben die Vernunft Christi. Die Argumentation setzt die Reflexion fort und unterscheidet drei verschiedene Kreise, die die Bedeutung des Todes und der Auferstehung Jesu widerspiegeln: - Den ersten Kreis bildet die universale Menschheit: Es gibt nicht mehr Juden und Griechen - die Juden, die Zeichen als Bestätigung ihres Gesetzesgehorsams erwarten, und die Nicht-Juden, die Weisheit suchen (1 Kor 1,22) - , sondern nur noch die Universalität singulärer Subjekte, denen die Paradoxalität des Kreuzes begegnet und die ihr Vertrauen auf Gott setzen und gerettet werden (1 Kor 1,24) oder aber Anstoß nehmen (1 Kor 1,23). 156 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="157"?> - Den zweiten Kreis bilden die Geretteten (1 Kor 1,18.24) und Vollkommenen. Ihre Bezeichnung als Vollkommene ist insofern paradox, als der Begriff der Vollkommenheit die Vorstellung einer Abstufung zwischen Anfängern und Fortgeschrittenen impliziert. Gemeint ist aber, dass Paulus eine esoterische, für bereits eingeführte und erprobte Zuhörer reservierte Weisheitslehre von der öffentlichen, für alle bestimmten Verkündigung des Kreuzes unterscheidet. Die durch die Argumentation vollzogene Unterscheidung (1 Kor 1,18-25) setzt - genauso wie die Bergpredigt Jesu (Mt 5,48) 32 - eine Neudefinition der Vollkommenheit voraus. Vollkommen sind die Zuhörer, die sich durch die Vergegenwärtigung des „ Wortes des Kreuzes “ retten (1 Kor 1,18) und berufen lassen (1 Kor 1,24): Ihre Vollkommenheit besteht präzise in der Befreiung von den Vollkommenheitsidealen. Sie wird durch die Paradoxalität der Offenbarung Gottes in der absoluten Singularität des Todes und der Auferstehung Jesu ermöglicht. - Für den dritten Kreis ist die Asymmetrie auffällig, die durch die Argumentation aufgebaut wird: Dem Kreis der „ Geretteten “ , „ Berufenen “ und „ Vollkommenen “ entspricht kein Kreis der „ Verlorengehenden “ , der Juden und der Griechen (1 Kor 1,22-23), die Anstoß nehmen. Die Logik der Universalität unterscheidet den offenen Kreis der Vollkommenen von dem Rest der ganzen Menschheit, der weiterhin unter die Verheißung des „ Wortes des Kreuzes “ gestellt wird. Der dritte Kreis besteht nicht aus den „ Verlorengehenden “ , sondern aus den „ Herrschern dieser Welt “ , die den Herrn nicht nur nicht erkannt, sondern gekreuzigt haben (1 Kor 2,8-9). Die Formulierung „ Herrscher dieser Welt “ findet ihr Äquivalent in Joh 12,31; 14,30; 16,11. 33 Sie meint nicht bestimmte historische Personen, die für den Tod Jesu die politische Verantwortung trugen, sondern personifiziert die Weisheit der Welt als Macht, die die Menschen in ihren Abhängigkeiten gefangen hält. Durch diese Unterscheidung erhält das Kreuz eine doppelte Bedeutung: Es symbolisiert die Enthüllung der todbringenden Kraft der menschlichen Weisheit - genauso wie es die Dimension des Gesetzes als Fluch offenbart (Gal 3,13) - und gleichzeitig die paradoxe Strategie Gottes, der beschlossen hat, die Universalität der Menschheit zur Vollkommenheit der bedingungslosen Anerkennung zu führen. Der ewigen Distanz zwischen der umsonst geschenkten Weisheit Gottes und den Vollkommenheitsidealen der menschlichen Weisheit entspricht die Distanz zwischen der durch den Geist Gottes geschenkten Erkenntnis und der Begrenztheit des menschlichen Geistes. Die Vergegenwärtigung des Kreuzes 32 Zur Argumentation vgl. Martin Stiewe/ François Vouga, Die Bergpredigt und ihre Rezeption als kurze Darstellung des Christentums, a. a. O. 33 Mauro Pesce, Paolo e gli archonti a Corinto. Storia della ricerca ed esegesi di 1 Cor. 2,6-8, Brescia 1977, spricht von Dämonen, was sicher richtig ist, wenn man Ernst Käsemanns Programm der Entmythologisierung folgt. Ausführliche Diskussion bei: Giuseppe Barbaglia, a. a. O. 170. 3 Das Wort des Kreuzes als Veränderungskraft 157 <?page no="158"?> in der apostolischen Predigt aktualisiert nicht nur die Offenbarung Gottes, sondern auch die Möglichkeit ihrer Wahrnehmung: - Das als Schriftzitat vorgestellte kleine Gedicht nimmt auf die Autorität des Gesetzes und der Propheten Bezug, um den qualitativen Unterschied zwischen den Gaben Gottes für alle, die ihn lieben und ihm vertrauen, und den Vorstellungsmöglichkeiten des Menschen (1 Kor 2,9) hervorzuheben: „ Was kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat und in kein Menschenherz Eingang gefunden hat, was Gott denen, die ihn lieben, bereitet hat . . . “ Die rhythmisch und poetisch sehr schöne Formulierung verbindet verschiedene Bilder aus dem Buch Jesaja (Jes 64,3; 65,16) und betont die für die menschliche Wahrnehmung undenkbare Dimension der Großzügigkeit Gottes: - Die im Zitat gelobte unvorstellbare Großzügigkeit Gottes hat sich in der absoluten Singularität des Kreuzes Jesu offenbart. Der Verweis auf den Geist ( „ Das hat uns Gott offenbart durch den Geist “ , 1 Kor 2,10 a) hat eine für den gesamten Gedankengang entscheidende Bedeutung. Die Botschaft der befreienden Bedeutung des Todes Jesu offenbart nicht nur die Logik der „ Umsonstheit “ , die die Weisheit Gottes kennzeichnet, sondern ermöglicht erst ihr Verständnis. Das Verstehen des Geschenks ist selbst ein Geschenk. - Die Interpretation der Gabe, die Weisheit Gottes zu erkennen, als Geschenk des Geistes verlangt eine erkenntnistheoretische Erklärung: Was bedeutet „ verstehen “ ? Die aufgestellte Regel, nach der allein der menschliche Geist den Menschen versteht und allein der Geist Gottes Gott erkennen kann (1 Kor 2,11), definiert die Aufgabe, auf die eigenen Evidenzen und Selbstverständlichkeiten zu verzichten, um die Kohärenz einer fremden Wahrnehmung der Wirklichkeit in ihrer eigenen Logik zu begreifen. Paulus variiert das in der Antike verbreitete Erkenntnisprinzip, dass Gleiches nur durch Gleiches erkannt wird, um rational zu zeigen, dass die Erkenntnis Gottes und des Menschen einen Systemwechsel des Denkens voraussetzt. Paulus hat die Gaben des Geistes und nicht die Gaben der Welt empfangen hat. Die Argumentation schließt mit der Wiederholung der Eingangsthese unter dem subjektiven Aspekt des Erkenntnisgewinns ab: Der Apostel verkündigt die Lehren des Geistes Gottes, das heißt die Weisheit Gottes, die sich in der Paradoxie des Kreuzes offenbart (1 Kor 1,17/ / 1 Kor 2,13). Der Weisheit der Welt erscheint sie als Torheit, weil der Mensch sie nur durch die Gabe des Geistes erkennen kann (1 Kor 1,18 a/ / 1 Kor 2,14). Für alle, die durch sie befreit werden, wirkt sie als erneuernde und neuschaffende Veränderungskraft (1 Kor 1,18 b/ / 1 Kor 2,15-16). 158 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="159"?> 1 Korinther 1,17 und 18 1 Korinther 2,13-16 Christus hat mich . . . gesandt,. . . das Evangelium zu verkündigen, - nicht in Weisheit der Rede, damit das Kreuz Christi nicht entleert wird. Und dies verkündigen wir - nicht in Lehren der menschlichen Weisheit, sondern in Lehren des Geistes, Geistliches mit Geistlichem beurteilend. Das Wort Gottes ist eine Torheit für die Verlorengehenden. Der psychische Mensch nimmt die Gaben des Geistes Gottes nicht an; - denn ihm sind sie Torheit. Für uns, die gerettet werden, ist das Wort des Kreuzes Kraft Gottes. Der pneumatische Mensch beurteilt alles, er selbst wird von niemandem beurteilt. - Denn wer hat die Gedanken des Herrn erkannt, der ihn beraten würde? In der Geschichte der Menschheit ist das Kreuz das paradoxe Zeichen der Offenbarung Gottes. Die christliche Botschaft, die den gekreuzigten Jesus Christus als den lebendigen Herrn der Herrlichkeit verkündigt, erscheint dem menschlichen Geist als Torheit, dem pneumatischen Menschen jedoch als die durch den Geist Gottes geschenkte einzigartige Möglichkeit, in Freiheit auf die umsonst geschenkte Gnade Gottes zu vertrauen. Ob das Kreuz - der von der Osterbotschaft her gedeutete Tod Jesu - Weisheit oder Torheit ist, bleibt für die Weisheit der Welt unentscheidbar. Die Frage verlangt eine existentielle Entscheidung, die durch die Paradoxie des Kreuzes ermöglicht wird: Das Vertrauen auf die bedingungslose Anerkennung Gottes erkennt sich selbst als Geschenk des Geistes. Wenn Gott alles umsonst schenkt, wer müsste ihn noch beraten? 3.2 Als Kontrapunkt: Martin Luthers Theologie des Kreuzes Martin Luther (1483 - 1546) hatte sich nach seinem Eintritt in das Erfurter Kloster der Augustinereremiten (1505) immer wieder die Frage gestellt, in welcher Weise der Mensch der göttlichen Gerechtigkeitsforderung entsprechen könne und welcher eigene Beitrag zu seiner ewigen Seligkeit von ihm verlangt werde. Nach seinem Studium der Theologie und der Promotion (1512) hielt Luther an der neugegründeten Universität Wittenberg exegetische Vorlesungen. Über die Auslegung des Römerbriefs kam er zu der Erkenntnis, dass es sich bei der von Gott geforderten Gerechtigkeit ausschließlich um die dem Menschen ohne irgendwelche Vorleistungen von Gott geschenkte Gerechtigkeit (iustiia Dei passiva) handele. Diese Erkenntnis wurde für ihn ein Schlüsselerlebnis. Bis zu seinem Tod vertrat Luther in Lehre, Predigt und Seelsorge eine ausgesprochene Kreuzestheologie. Sie ließ ihn nach den 95 Thesen über Buße und Ablass (1517) Exkommunikation und Reichsacht auf sich nehmen und zum Reformator werden. 3 Das Wort des Kreuzes als Veränderungskraft 159 <?page no="160"?> 3.2.1 Heidelberger Disputation (1518) Am 25. April 1518 tagte das Ordenskapitel der deutschen Augustinerkongregation auf Einladung des Generalvikars Johann von Staupitz in Heidelberg. Aus diesem Anlass fand am folgenden Tag im Hörsaal des Heidelberger Augustinerklosters eine lateinische Disputation 34 unter dem Vorsitz Luthers statt, zu der er Thesen aufgestellt hatte, die der Magister Leonhard Beyer verteidigte. Es handelte sich um 28 theologische und drei philosophische Thesen (conclusiones) mit den dazu gehörenden Beweisen (probationes). Sie wurden im Mai 1518 gedruckt. Inhaltlich beschäftigen sich die Thesen mit der Frage, ob und wie der Mensch in seinem Leben der göttlichen Gerechtigkeitsforderung entsprechen könne. Nach den Thesen Luthers ist eine Theologie, die davon ausgeht, dass der Mensch einen eigenständigen Beitrag zu seiner Gerechtigkeit leisten könne, eine theologia gloriae. Ihr stellt Luther die theologia crucis entgegen, die in der Ohnmacht des Kreuzes Jesu Christi die Gerechtigkeit schaffende Kraft Gottes erkennt und gläubig annimmt: - These XIX: Der ist nicht wert, ein Theologe zu heißen, der Gottes „ unsichtbares Wesen durch das Geschaffene erkennt und erblickt “ (Röm 1,20), - These XX: sondern nur der, der Gottes sichtbares und (den Menschen) zugewandtes Wesen durch Leiden und Kreuz hindurch (per passionem et crucem) erblickt und erkennt. - These XXI: Der Theologe, der Gottes unverborgene Herrlichkeit sucht (theologus gloriae), nennt das Übel gut und Gutes übel, der Theologe des Kreuzes (theologus crucis) nennt die Dinge beim rechten Namen. Die Begründung der Thesen enthält im Kern folgende Argumentation: Gott will im Leiden Jesu Christi erkannt und geglaubt werden. Es ist nicht möglich und hilft auch niemandem, Gott in seiner Herrlichkeit zu suchen. Vielmehr kommt alles darauf an, Gottes Heilshandeln in der Niedrigkeit und Schmach des Kreuzes Christi glaubend anzunehmen. 3.2.2 „ Von der Freiheit eines Christenmenschen “ (1520) Mit der klassischen Reformationsschrift „ Von der Freiheit eines Christenmenschen “ 35 reagierte Luther 1520 auf die Veröffentlichung der päpstlichen Bannbulle gegen ihn. In dieser Schrift, die sich an einen weiten Leserkreis wandte, in der Sprache also populär gehalten ist, wollte er „ die ganze Summe eines christlichen Lebens “ ziehen und hatte an den Anfang zwei Thesen gestellt, die in ihrer prägnanten Form die Dialektik sofort erkennen lassen: - „ Ein Christ ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. “ 34 F. Vogelsang, Luthers Werke in Auswahl, Bd. 5, Berlin 1955, 375 - 404; K. Aland, Luther deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, Bd. 1, Stuttgart/ Göttingen 1969, 378 - 394. 35 WA 7,20-38. Textwiedergabe nach: Karin Bornkamm/ Gerhard Ebeling (Hg), Martin Luther. Ausgewählte Werke, Bd. 1, Frankfurt/ Main 1982, 38 - 269. 160 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="161"?> - „ Ein Christ ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan. “ Diese beiden Thesen begründet Luther in 30 Punkten. Der zwölfte Punkt ist für unsere Thematik besonders interessant. Er führt aus, wie sich der gekreuzigte und auferstandene Christus mit dem Sünder identifiziert. Diese Identifikation beschreibt Luther unter Bezugnahme auf Eph 5 als eine Art ehelicher Verbindung zwischen dem Bräutigam Christus und der gläubigen Seele als Braut und knüpft mit diesem Bild an die mittelalterliche Brautmystik an 36 . Die zwischen Braut und Bräutigam bestehende Beziehung interpretiert Luther als „ fröhlichen Wechsel und Streit “ , ein bereits aus der Tradition stammendes Interpretament (admirabile commercium). 37 Deutlich kommt es Luther in dem wiedergegebenen Zitat darauf an, die Glaubensgewissheit zu stärken: „ Der Glaube gibt nicht nur soviel, dass die Seele dem göttlichen Wort gleich wird, aller Gnade voll, frei und selig, sondern vereinigt auch die Seele mit Christus als eine Braut mit ihrem Bräutigam. Aus dieser Ehe folgt, wie St. Paulus sagt, dass Christus und die Seele ein Leib werden (Eph 5,30). So werden auch beider Güter, Glück, Unglück und alle Dinge gemeinsam: das, was Christus hat, das ist der gläubigen Seele zu eigen. So hat Christus alle Güter und Seligkeit; die sind auch der Seele zu eigen. So hat die Seele alle Untugend und Sünde auf sich; die werden Christus zu eigen. Hier erhebt sich nun der fröhliche Wechsel und Streit. Weil Christus Gott und Mensch ist, der noch nie gesündigt hat, und seine Frommheit unüberwindlich, ewig und allmächtig ist, so macht er denn die Sünde der gläubigen Seele durch ihren Brautring - das ist der Glaube - sich selbst zu eigen und tut nichts anderes, als hätte er sie getan. So müssen die Sünden in ihm verschlungen und ersäuft werden; denn seine unüberwindbare Gerechtigkeit ist allen Sünden zu stark. So wird die Seele von allen ihren Sünden durch ihren Brautschatz geläutert, das heißt des Glaubens wegen ledig und frei und begabt mit der ewigen Gerechtigkeit ihres Bräutigams Christus. Ist nun das nicht eine fröhliche Wirtschaft, wo der reiche, edle, fromme Bräutigam Christus das arme, verachtete, böse Hürlein zur Ehe nimmt und sie von allem Übel entledigt, ziert mit allen Gütern? So ist es nicht möglich, dass die Sünden sie verdammen; denn sie liegen nun auf Christus und sind in ihn hinein verschlungen. So hat sie eine so reiche Gerechtigkeit von ihrem Bräutigam, dass sie abermals gegen alle Sünden bestehen kann - und wenn sie schon ihr auflägen. Darum sagt Paulus 1 Kor 15,57: ‚ Gott sei Lob und Dank, der uns eine solche Überwindung in Christus Jesus gegeben hat, in der der Tod samt die Sünde verschlungen ist ‘ . “ 36 Jens Wolff, Die drei Hauptschriften von 1520, in: Albrecht Beutel (Hg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 266 - 269. 37 Hans-Martin Barth, Die Theologie Martin Luthers. Eine kritische Würdigung, Gütersloh 2009, 271. 3 Das Wort des Kreuzes als Veränderungskraft 161 <?page no="162"?> 3.2.3 Große Galatervorlesung (1531/ 1535) Hatte Luther in der Heidelberger Disputation deutlich machen wollen, dass Gottes Liebe zu den Menschen nur am Kreuz Jesu Christi und auf keine andere Weise erkannt werden könne, so führt er in der Großen Galatervorlesung von 1531/ 1535 aus, dass die Rechtfertigung des Menschen auf der Stellvertretung Christi am Kreuz beruhe. 38 In der Auslegung von Gal 3,13 formuliert Luther: „ Wir dürfen uns nicht Christus als eine unschuldige und für sich seiende Person vorstellen, die nur für sich selber heilig und gerecht wäre . . . Sondern so hast du ihn wahrhaft, wenn du glaubst, dass diese reinste und unschuldigste Person dir vom Vater gegeben ist, damit sie Priester und Versöhner, ja allemal dein Knecht sei. “ Die Stellvertretung Christi zeigt sich für Luther daran, dass er unsere Sünden auf sich nimmt: „ Christus hat alle unsere Sünde auf sich genommen und ist für sie am Kreuz gestorben “ (Christus in sese recepit omnia peccata nostra et pro illis in cruce mortuus est). Die Übernahme der Sünden ist im Verständnis Luthers keine äußerliche Ersatzhandlung. Christus ist am Kreuz die Person des Sünders selbst. Gerade weil Christus am Kreuz unsere Person ist und im Namen Gottes für uns stirbt, überwindet er den Tod. „ Indem er glücklicherweise mit uns tauschte, hat er unsere sündige Person hinweggenommen und uns seine unschuldige und sieghafte Person gegeben. “ Der positive Sinn dieser Aussage ist die durch die Person Christi vermittelte Rechtfertigung vor Gott: „ Darum, wenn wir lehren, dass die Menschen durch Christus gerechtfertigt werden, dass Christus der Sieger über Sünde, Tod und ewige Verdammnis ist, so bezeugen wir zugleich, dass er von Natur aus Gott ist. “ Das Werk der Versöhnung am Kreuz ist für Luther „ ein Vollzug exklusiver Stellvertretung “ 39 . In dieser Hinsicht nimmt Luther Grundgedanken der Satisfaktionslehre Anselms von Canterbury auf, aber er trennt nicht wie Anselm die menschliche und göttliche Natur Christi. Dass der Glaubende Christus dient „ in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit “ , die Kreuzestheologie also auch eine ethische Komponente hat, hat Luther im Kleinen und Großen Katechismus in der Auslegung des zweiten Hauptstücks ausdrücklich festgehalten. 3.3 Ertrag: Das Kreuz als therapeutische Paradoxie und die Offenbarung der Wirklichkeit Das „ Kreuz “ und die apostolische Predigt des „ Wortes des Kreuzes “ setzen eine doppelte hermeneutische Entscheidung voraus. Paulus konzentriert die ganze Bedeutung der Geschichte Jesu von Nazareth auf das doppelte Ereignis 38 Martin Luther, In epistolam Pauli ad Galatas commentarius, 1531/ 35,WA 40,I; 432 - 452. Zur Übersetzung von Gal 3,12 vgl. A. Beutel (Hg.), Luther Handbuch, a. a. O., 376. 39 Luther Handbuch, a. a. O. 283. 162 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="163"?> seines Todes und seiner Auferstehung und fasst es mit dem Begriff des Kreuzes zusammen. Dieser Begriff kennzeichnet die Offenbarung Gottes in Jesus Christus als eine Paradoxie: Gott hat sich durch die Auferstehung des Gekreuzigten offenbart, sodass das „ Kreuz “ die paradoxe Offenbarung des paradoxen Gottes ist. 3.3.1 Das Kreuz als Paradoxie Der Begriff des Kreuzes, den Paulus im 1. Korintherbrief als Paradoxie der Kommunikation und als Offenbarung des paradoxen Gottes beschreibt und den Martin Luther in der Heidelberger Disputation als das Wahrheitskriterium des theologischen Denkens herausgestellt hat, verleiht dem von der Auferstehung her verstandenen Tod Jesu eine doppelte Bedeutung: Das Kreuz ist einerseits das Ereignis, in dem sich Gott der menschlichen Weisheit und Torheit offenbart. Andererseits zeigt es Gott als den, der für die Weisheit dieser Welt Torheit und radikale Infragestellung sein muss. Als Paradoxie der Kommunikation ist das Wort des Kreuzes eine therapeutische Handlung Gottes, die die menschliche Vernunft von der Illusion befreit, die göttliche Weisheit von der Weisheit der Welt her zu begreifen. Das Wort des Kreuzes bedeutet die klare Unterscheidung der Herrlichkeit Gottes von der religiösen Krönung der menschlichen Vollkommenheitsideale, des Gesetzes und der Vernunft durch den Stein des Anstoßes (Sören Kierkegaard: durch das schlechthinnige Paradox). Das Kreuz - das heißt die Offenbarung Gottes in der Person des Gekreuzigten - bringt sowohl die absolute Singularität der Strategie Gottes als auch die ewige Distanz zwischen göttlichem und menschlichem Denken zum Ausdruck. Das Kreuz darf jedoch nicht auf die kommunikative und befreiende Dimension einer Paradoxie der Kommunikation reduziert werden. Der Tod und die Auferstehung Jesu wären dann nur eine taktische Option gewesen. Das Kreuz muss vielmehr als die Offenbarung der Wahrheit Gottes und zugleich als Offenbarung der Wahrheit der menschlichen Existenz erkannt werden. Von der Auferstehung her betrachtet ist der Tod Jesu insofern paradox, als die absolute Singularität des Kreuzes die grundlegende „ Wirklichkeit der Wirklichkeit “ (Paul Watzlawick), die Identität des Menschen und den Sinn seiner Existenz offenbart. 3.3.2 Das Kreuz als Neubegründung der Rationalität Die doppelte Bedeutung des Kreuzes als strategische Paradoxie der Kommunikation Gottes und als Offenbarung der Paradoxalität der Wahrheit Gottes setzt die Notwendigkeit eines Systemwechsels und einer Neubegründung der menschlichen Rationalität voraus. Das Kreuz stellt eine Sprachform der Veränderung dar und befreit die menschliche Rationalität von der Weisheit der Welt - von allen Versuchen, persönliche Identität aufgrund von Eigenschaften zu bilden. Es begründet die menschliche Rationalität durch den Geist Gottes und seine Logik neu. 3 Das Wort des Kreuzes als Veränderungskraft 163 <?page no="164"?> Die Darstellungen des Kreuzes als Torheit (1 Kor 1,18-2,5) und als Weisheit (1 Kor 2,6-16) betonen die zwei Seiten derselben Offenbarung, die - wie Luthers Thesen zur Heidelberger Disputation und sein Traktat „ Von der Freiheit eines Christenmenschen “ - die beiden Dimensionen der Kritik der menschlichen Vernunft und ihrer Neubegründung miteinander verbinden: - Das Kreuz offenbart das Scheitern der menschlichen Vernunft, die Weisheit Gottes durch eigene Weisheit zu erkennen, anzuerkennen und zu verstehen (1 Kor 1,18-2,5). Es bedeutet damit das Ende jeder theologia gloriae. - Als Offenbarung der Weisheit und Wahrheit Gottes bietet das Kreuz die Grundlage einer sachgemäßen vernünftigen Erkenntnis Gottes und der menschlichen Wirklichkeit (1 Kor 2,6-16). Die Verkündigung des Kreuzes beruft alle, die auf Gott vertrauen, zur Freiheit. - Die beiden Seiten der paulinischen Darstellung des Kreuzes als Torheit (1 Kor 1,18-2,5) und als Weisheit (1 Kor 2,6-16) gehören insofern untrennbar zusammen, als erst die Verkündigung des Kreuzes die Möglichkeit des Vertrauens und des Verständnisses der Weisheit Gottes schafft. - Das Wort des Kreuzes ist Kraft Gottes für alle, die sich retten lassen, weil es eine Veränderung des Denkens und des menschlichen Selbstverständnisses ermöglicht. Gerade als Torheit gibt das Kreuz die Möglichkeit der Weisheit (1 Kor 1,18). Deshalb muss die Verkündigung des Evangeliums darauf achten, dass das Kreuz inhaltlich nicht entleert wird (1 Kor 1,17). - Der Unterschied zwischen der umsonst geschenkten Weisheit Gottes und den Vollkommenheitsidealen der menschlichen Seele (des psychischen Menschen) und der Systemwechsel vom psychischen Verständnis Gottes und des eigenen Selbst zu einem anderen, pneumatischen Verständnis setzen die Notwendigkeit der paradoxen Kommunikation voraus. Sie sprengt die Logik der psychischen Rationalität und ermöglicht den „ Sprung “ von einem Denksystem in das andere. Wer jedoch die Paradoxie der Torheit des Kreuzes entleert, nährt die Illusion, die Weisheit Gottes durch eine Optimierung der Weisheit der Welt zu erreichen. 164 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="165"?> 4 Das Kreuz als Versöhnung Der Begriff der Versöhnung als Interpretament der soteriologischen Bedeutung des Todes Jesu kommt im Neuen Testament nur in zwei Paulusbriefen vor: im Römerbrief (5,10-11 und 11,15) und im 2. Korintherbrief (5,18-20). Im Römerbrief findet man die Darstellung des Themas (Röm 5,10-11) und seine universale Ausrichtung (Röm 11,15). Paulus verweist auf den Tod Jesu als auf das Ereignis und das Mittel ( „ durch “ ), das die „ Feinde “ mit Gott versöhnt hat. Der Verweis auf die „ Feinde “ interpretiert im Rückblick die Befindlichkeit des Apostels und der Glaubenden vor der Versöhnung und nimmt die universale Situation der Menschheit unter dem Zorn Gottes wieder auf. Die Menschen haben die Möglichkeit der Gotteserkenntnis, die ihnen Gott gegeben hatte, missbraucht und die Apotheose der Schöpfung mit der Anerkennung des wahren Gottes verwechselt (Röm 1,18-31). Vor diesem Hintergrund versteht Paulus Tod und Auferstehung Jesu als die Beseitigung dieses Missverständnisses durch die Offenbarung der in dem Gekreuzigten umsonst geschenkten Gerechtigkeit Gottes (Röm 3,21-26) und die damit gegebene Möglichkeit der Versöhnung mit Gott: Römer 5,10-11 (10) Denn wenn wir, noch Feinde, mit Gott durch den Tod seines Sohnes versöhnt wurden, um so mehr, versöhnt geworden, werden wir in seinem Leben gerettet werden, (11) nicht nur (dies), sondern uns verlassend auf Gott durch unseren Herrn Jesus, durch den wir die Versöhnung bekommen haben. Die Perspektive der Universalität wird wieder aufgenommen. Der Apostel stellt fest, dass der Unglaube Israels der Universalität der Völker die Rettung gebracht hat. Israel kann vom Heil nicht ausgeschlossen werden, und Paulus, der als Heidenapostel berufen wurde, hat nicht darauf verzichtet, auch einige Angehörige seines Volkes zu überzeugen (Röm 11,11-14). Die Begründung fügt in den Gedankengang einen qualitativen Sprung ein: Römer 11,15 (15) Denn wenn ihre (= Israels) Verwerfung die Versöhnung der Welt (mit Gott) bedeutet, was (bedeutet) ihre Wiederaufnahme, wenn nicht das Leben aus den Toten? Das Vertrauen auf Gott, der seine Gerechtigkeit in Tod und Auferstehung Jesu offenbart hat, bedeutet die Versöhnung mit Gott. Diese Versöhnung ergibt sich nicht aus einer historischen Kontinuität, sondern ereignet sich im „ Sprung “ 165 <?page no="166"?> des glaubenden Vertrauens, der sowohl die Heiden (Röm 11,11-12) als auch die Juden, die glauben (Röm 11,15), vom Tod zum Leben führt. Im 2. Korintherbrief wird die Versöhnung mit zwei anderen zentralen Begriffen in Verbindung gebracht: Die Versöhnung besteht in einer Offenbarung, die die betrügerische Macht der Sünde entlarvt und das Subjekt des Menschen in „ Gerechtigkeit Gottes “ verwandelt: 2 Korinther 5,21 Lasst euch mit Gott versöhnen! (21) Den, der die Sünde nicht kannte, machte er für uns zur Sünde, damit wir Gerechtigkeit Gottes in ihm würden. Die Argumentation ist elliptisch. Der formale und inhaltliche Parallelismus zu verwandten Erklärungen (Röm 8,1; Gal 3,13) verdeutlicht den logischen Gedankengang. Gott sandte seinen Sohn in die Welt und offenbarte ihn nach seinem Tod am Kreuz als den Auferstandenen, um sich als Vater des Gekreuzigten und uns als von ihm bedingungslos anerkannte Personen zu erkennen zu geben. Damit hat er der Menschheit die Möglichkeit geschenkt, im Vertrauen auf seine Anerkennung und Gnade zu leben: - Der, der zur Sünde gemacht wurde, ist Jesus, der als Verfluchter am Kreuz hing (Gal 3,15). - Ihn hat Gott als den zu erkennen gegeben, der die Sünde nicht kannte, indem er ihn vom Tod auferweckt (Gal 1,1) und als seinen Sohn offenbart hat (Gal 1,12.26). - Die Offenbarung Gottes, des Vaters des Gekreuzigten, hat „ für uns “ eine befreiende Relevanz. - Die Relevanz besteht in der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes, der die Person neu schafft, indem er sie bedingungslos anerkennt und ihr die Möglichkeit des glaubenden Vertrauens schenkt. - In dieser Offenbarung und in dem durch sie hergestellten gegenseitigen Vertrauensverhältnis ereignet sich die Versöhnung. - „ Versöhnung “ ist kein kultischer Begriff, sondern gehört sowohl in der hellenistisch-römischen als auch in der jüdischen Welt zum Wortschatz der Freundschaft und der Politik. Der Begriff spielt eine zentrale Rolle in der „ Kirchlichen Dogmatik “ Karl Barths, der sie - wie Paulus - mit dem Kreuz und der Erhöhung Jesu in Verbindung setzt. 4.1 Christus als Versöhnung: 2 Korinther 5,18-21 Das Thema in 2 Kor 4,7-6,13 ist das Apostelamt als Vergegenwärtigung des Evangeliums. Reflektiert werden die Bedingungen der indirekten Kommunikation. Aufgabe und Verantwortung des Apostels bestehen darin, die Gleichzeitigkeit mit der Offenbarung des rechtfertigenden Gottes herzustellen. Der 166 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="167"?> Apostel soll so verkündigen, dass die Botschaft und nicht er selbst als Person überzeugt. Die Menschen sollen an das Evangelium der Kraft Gottes und nicht an die Eigenschaften des Apostels glauben. 4.1.1 Der versöhnte Apostel der Versöhnung Paulus stellt sich als Apostel der Versöhnung vor. Das Ereignis des Todes und der Auferstehung Jesu hat ihn mit Gott versöhnt und zur Verkündigung der Versöhnung Gottes mit der Menschheit berufen. Die Kontinuität zwischen der persönlichen Erfahrung und ihrer Verallgemeinerung in der apostolischen Predigt erscheint als Evidenz: Die Korinther sollen und können an der Entdeckung des Apostels teilhaben. Die argumentative Sequenz unterbricht aber gerade diese Kontinuität, um der Dimension der Transzendenz Platz zu machen. Die Möglichkeit einer Versöhnung mit Gott wird nicht durch die Entdeckung der Versöhnung und das daraus folgende neue Bewusstsein, sondern durch Gott gegeben: - Aus dem Bewusstsein, vor dem Gericht Gottes und nicht vor einem menschlichen Gericht zu stehen (2 Kor 5,1-10), folgt im Brief die notwendige Wiederaufnahme der Unterscheidung zwischen dem äußeren, sichtbaren „ Ich “ des Apostels und seinem inneren, allein Gott offenbaren und von seiner Gnade immer wieder erneuerten „ Ich “ (2 Kor 4,16-18). Mit dem Begriff des „ Sich-Rühmens “ unterscheidet Paulus noch einmal zwischen Gott, der dem Menschen eine neue Identität in einem gegenseitigen Vertrauensverhältnis schenkt, und den Heiden, die er als Apostel vom Evangelium überzeugen soll (2 Kor 5,11-13). - Der Grund dieser Unterscheidung liegt in einer neuen Erkenntnis des Menschen, die mit der neuen Schöpfung seines „ Ichs “ möglich geworden ist. Tod und Auferstehung Jesu haben die Möglichkeit eines neuen Verständnisses der eigenen Person gegeben. Die Konsequenz ist ein neues Verhältnis zu Christus, zu sich selbst und zu anderen Menschen, die der Glaubende nicht mehr „ nach dem Fleisch “ kennt und beurteilt. Er lebt nicht mehr von und für sich selbst und vor den Menschen, sondern von und für Christus, der für ihn starb und auferweckt wurde, sodass der Apostel in der Liebe Christi sieht und urteilt. - Der dritte Schritt der Argumentation wiederholt den zweiten und präzisiert ihn. Die neue Schöpfung und die daraus folgende neue Erkenntnis sind ausschließlich Gottes Gabe. Erst die Offenbarung des Todes und der Auferstehung Jesu hat den Apostel - und die Universalität der Menschheit - mit Gott versöhnt und ihn mit dem Dienst der universalen Verkündigung der Versöhnung (2 Kor 5,18-19) beauftragt: - Die Konsequenz der Versöhnung besteht in der Aufforderung an die Leser des Briefes, sich durch die in Tod und Auferstehung Jesu erfolgte Offenbarung mit Gott versöhnen zu lassen. Mit dieser Bitte erfüllt der Apostel den Auftrag Gottes (2 Kor 5,20-21/ / 2 Kor 5,11-13). 4 Das Kreuz als Versöhnung 167 <?page no="168"?> 2 Korinther 5,11-21 A Die Unterscheidung des äußeren und inneren „ Ichs “ des Apostels. (11) Nun, in der Erkenntnis der Furcht des Herrn, überzeugen wir Menschen, vor Gott sind wir aber offenbar geworden, und ich hoffe, auch in eurem Gewissen offenbar zu werden. (12) Wir empfehlen uns nicht wieder bei euch, sondern euch Gelegenheit gebend, euch für uns zu rühmen, damit ihr sie habt gegen die, die sich der Fassade und nicht des Herzens rühmen. (13) Denn wenn wir außer uns waren, dann für Gott, und wenn wir bei Sinnen sind, dann für euch. B Der Apostel ist mit Christus gestorben und eine neue Schöpfung geworden. (14) Denn die Liebe Christi beherrscht uns, wenn wir dies urteilen, dass einer für alle starb, also alle starben; (15) und er starb für alle, damit die Lebenden nicht mehr sich selbst leben, sondern dem, der für sie starb und auferweckt wurde. (16) Sodass wir von jetzt an niemand nach dem Fleisch kennen; wenn wir Christus nach dem Fleisch gekannt haben, aber wir kennen ihn nicht mehr so. (17) Sodass, wenn jemand in Christus ist, er neue Schöpfung ist: Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist entstanden. C Der durch Christus versöhnte Apostel im Dienst der universalen Versöhnung. (18) Alles kommt von Gott, der uns mit sich durch Christus versöhnte und uns den Dienst der Versöhnung gibt, (19) weil es Gott war, der in Christus die Welt mit sich selbst versöhnte, der ihnen (den Menschen) ihre Übertretungen nicht in Rechnung stellt und der in uns das Wort der Versöhnung einsetzte. D Die apostolische Aufforderung, sich von Gott versöhnen zu lassen. (20) Folglich reise ich als Gesandter für Christus, indem Gott durch uns ermahnt. Wir bitten für Christus: Lasst euch mit Gott versöhnen! (21) Den, der die Sünde nicht kannte, machte er für uns zur Sünde, damit wir Gerechtigkeit Gottes in ihm werden. 168 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="169"?> Die Argumentation begründet die Verantwortung des Apostels und die indirekte Kommunikation seiner Verkündigung mit zwei parallelen Interpretationen des Todes Jesu (2 Kor 5,14-15 und 2 Kor 5,21): 2 Kor 5,14-15 2 Kor 5,21 . . . dass einer für alle starb, also alle starben, (15) und er starb für alle, damit die Lebenden - nicht mehr sich selbst leben, - sondern dem, der für sie starb und auferweckt wurde. (21) Den, der die Sünde nicht kannte, machte er (Gott) für uns zur Sünde, damit wir Gerechtigkeit Gottes in ihm werden. 4.1.2 Die Notwendigkeit der indirekten Kommunikation Die Überzeugungsarbeit des Apostels kann nur die Form einer indirekten Kommunikation annehmen. Seine Predigt hat ihre Begründung in einer Offenbarung, die Versöhnung mit Gott bedeutet, und ihren Inhalt in der Aufforderung, sich mit Gott versöhnen zu lassen. Die indirekte Kommunikation trifft eine klare Unterscheidung zwischen dem inneren und dem äußeren „ Ich “ des Apostels (2 Kor 4,16-18; 2 Kor 12, 1-10): Die religiösen Erfahrungen des Apostels gehören nicht in die Öffentlichkeit, weil sie für die Vermittlung des Evangeliums irrelevant sind. Der Apostel ist kein religiöses Genie, das die Rolle eines Vermittlers zwischen Gott und dem Menschen zu übernehmen hätte, sondern nur ein Veranlasser, der den Weg zum Gekreuzigten als dem Vermittler Gottes eröffnen soll. Der Unterscheidung zwischen dem inneren und dem äußeren „ Ich “ des Apostels entspricht die Unterscheidung zwischen seinem Verhältnis zu Gott und seinem Verhältnis zu den Menschen (2 Kor 5,11 und 13): Sein Verhältnis zu Gott ist dadurch bestimmt, dass er im Glauben von der Gnade Gottes lebt, sein Verhältnis zu den Menschen dadurch, dass er sie mit der verändernden Kraft der Gnade Gottes und nicht mit seinem eigenen Glauben konfrontiert. Die Aufhebung dieser doppelten Unterscheidung kennzeichnet die falschen Apostel (2 Kor 5,12 b). Die Hoffnung des Apostels, im Gewissen der Adressaten offenbar zu werden (2 Kor 5,11), bedeutet keine Aufhebung der Unterscheidung zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit, sondern vielmehr, wie Paulus in der folgenden Begründung zeigen wird, ihre Bestätigung. Erst die neue Erkenntnis, die in der Liebe Christi gegeben wird, ermöglicht dem Glaubenden ein Verständnis seiner selbst und der anderen Menschen. Er urteilt nicht mehr „ nach dem Fleisch “ . Wenn sich die Korinther - und andere Leser des Briefes - durch die Argumentation des Apostels überzeugen lassen ( „ In der Erkenntnis der Furcht des Herrn überzeugen wir Menschen “ , 2 Kor 5,11), werden sie ebenfalls von Gott eine neue Identität bekommen und dadurch die Gelegenheit haben, Paulus zu verstehen (2 Kor 5,11) und die Wahrheit des Evangeliums, das er 4 Das Kreuz als Versöhnung 169 <?page no="170"?> verkündigt, ihrerseits zu bezeugen - angesichts anderer Apostel, die ihr Inneres preisgeben und sich „ der Fassade rühmen “ (2 Kor5,12). 4.1.3 Christus starb, damit alle in eine neue Schöpfung verwandelt werden Die christologische Anamnese definiert und begründet die Ethik der apostolischen Kommunikation. Diese Ethik besteht in dem Bewusstsein, durch die Liebe Christi neu geschaffen zu sein und deswegen neu zu leben und neu zu denken. Sie nimmt die traditionelle Überzeugung auf, dass Christus für alle starb (2 Kor 5,14 und 15): Der Tod Jesu wird als absolute Singularität wahrgenommen ( „ einer “ starb), und diese absolute Singularität erhält ihre Bedeutung von ihrer Auswirkung auf die Universalität der Menschen her ( „ für alle “ , 2 Kor 5,14 und 15). Paulus ergänzt dieses christologische und soteriologische Bekenntnis durch zwei paradoxe Erklärungen: - Die soteriologische Bedeutung des Todes Jesu besteht zunächst darin, dass „ alle starben “ . Zu erwarten wäre, dass Jesus für alle starb und folglich alle leben (2 Kor 5,14). - Sie besteht sodann darin, dass „ die Lebenden nicht mehr sich selbst leben, sondern dem, der für sie starb und auferweckt wurde “ . Zu erwarten wäre, dass die Toten - in metonymischem Sinn die Menschen, die noch unter dem Fluch des Todes stehen - durch den Tod und die Auferstehung Jesu in Lebende verwandelt werden (2 Kor 5,15). Die Paradoxie dieser beiden paulinischen Deutungen des Todes Jesu lässt sich durch die Parallelität der Formulierungen erklären: 2 Kor 5,14 2 Kor 5,15 Einer starb für alle, also alle starben, und er starb für alle, damit die Lebenden leben - nicht mehr sich selbst, - sondern dem, der für sie starb und auferweckt wurde. Die erste Erklärung der Folgen des Todes Jesu ist, dass „ alle “ gestorben sind. „ Sterben “ wird wie in Röm 6,1-14 im übertragenen Sinn für das Ende der alten Existenz unter der Macht der Sünde und des Todes gebraucht. Gemeint ist, dass „ alle “ insofern mit Christus gekreuzigt worden sind (vgl. Gal 2,19), als das Kreuz die universale Unmöglichkeit offenbart, vor Gott auf Grund von Eigenschaften weise (1 Kor 1,18-25) bzw. gerecht zu sein. Die zweite Erklärung des Todes Jesu ergänzt die erste durch die Betonung ihrer existentiellen Relevanz: Die Existenz der Lebenden (= der Geretteten, 1 Kor 1,18, = derjenigen, die glauben, 1 Kor 1,21, = der Berufenen, 1 Kor 1,24) ist durch einen Wechsel des Bezugs geprägt: Die Glaubenden sind nicht mehr auf 170 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="171"?> sich selbst und ihre Eigenschaften fixiert, sondern auf den Gekreuzigten und damit auf die Offenbarung der umsonst geschenkten Gnade Gottes ausgerichtet. Die Konsequenz des Todes Jesu und die Veränderung des Verhältnisses des „ Ichs “ zu sich selbst (2 Kor 5,14-15) ist zugleich eine Veränderung des Verhältnisses zu den anderen Menschen (2 Kor 5,16). Sie „ nach dem Fleisch “ zu kennen, meint, sie nach ihren Eigenschaften (2 Kor 5,12) zu beurteilen. Auffällig ist, dass eine symmetrische Aussage, die auf die Sichtweise der neuen Haltung nach dem Geist verweisen würde (etwa wie „ Von nun an erkennen wir nach dem Geist jeden als Person und unabhängig von seinen Eigenschaften an “ ) fehlt. Das Bekenntnis zu dem Gekreuzigten im Sinn von „ Wir kennen nicht mehr Jesus nach dem Fleisch als den Verfluchten, sondern Christus nach dem Geist als den Auferstandenen “ ist als der grundlegende Sonderfall der universalen Regel zu verstehen. Die Veränderung der Haltung zu sich selbst und zu anderen Menschen hat ihren Grund in der Veränderung des Verhältnisses zu Christus. Sie kann nur als der neue Schöpfungsakt Gottes verstanden werden (2 Kor 5,18). Der Begriff der neuen Schöpfung setzt eine doppelte Diskontinuität voraus: - Das neue Leben als gegenseitiges Vertrauensverhältnis lässt sich von nichts ableiten, es sei denn von der absoluten Singularität der Offenbarung Gottes im Kreuz Jesu in der Sicht von Ostern her. - Das neue Leben ist ein Geschenk der Gnade und Barmherzigkeit Gottes und lässt sich durch keine Genealogie erklären. Die neue Situation und das neue Verhältnis der gegenseitigen Anerkennung zwischen Gott und dem Subjekt des Menschen, aber zugleich auch zwischen dem Subjekt und seinem Selbst und zwischen dem Subjekt und den anderen Menschen wird durch nichts anderes vorbereitet als durch das Vertrauen des Gekreuzigten zu seinem Vater. 4.1.4 Tod und Auferstehung Jesu als Versöhnung Mit dem Begriff der neuen Schöpfung als bedingungsloser Begründung gegenseitiger Anerkennung zwischen Gott und Mensch drängt sich das Bild der Versöhnung als Evidenz auf. Wieder argumentiert Paulus mit zwei parallelen Formulierungen. Die erste bezieht sich auf die Berufung des Apostels, die zweite auf „ die Welt “ und damit auf die universale Dimension des Versöhnungshandelns Gottes. Die logische Verbindung zwischen den beiden Formulierungen bleibt grammatisch unklar. 40 In jedem Fall wird nicht die Versöhnung des Apostels als Paradigma für eine universale 40 Die Vulgata übersetzt: „ quoniam quidam “ ( „ da sowieso “ , „ weil ja “ ). Vgl. Georg Heinrici, Der zweite Brief an die Korinther, KEK I, Göttingen 1883, 179; E.-B. Allo, Saint Paul, Seconde épître aux Corinthiens, Etudes Bibliques 1937, 169 - 170; Maurice Carrez, La deuxième épître de saint Paul aux Corinthiens, CNT VIII, Genève 1986, 152: „ puisque en tout cas “ . 4 Das Kreuz als Versöhnung 171 <?page no="172"?> Versöhnung genommen, sondern die Berufung des Apostels wird der universalen Versöhnung mit Gott untergeordnet. 2 Kor 5,18 2 Kor 5,19 (18) Alles kommt von Gott, der versöhnte - uns mit sich - durch Christus, der uns den Dienst der Versöhnung gibt, (19) weil Gott es war, versöhnend - die Welt mich sich selbst - in Christus, ihnen (den Menschen) ihre Übertretungen nicht anrechnend und in uns das Wort der Versöhnung einsetzend. Das implizite Subjekt der neuen Schöpfung wird zweimal besonders hervorgehoben: „ Alles kommt von Gott “ (2 Kor 5,18) und „ Gott war es, der versöhnte “ (2 Kor 5,19). Entsprechend wird die Versöhnung als ein asymmetrischer Vorgang dargestellt: Gott als Subjekt der Versöhnung versöhnt nicht sich selbst mit der Welt und - im Dienst der Versöhnung mit der Welt - mit dem Apostel, sondern er versöhnt die Universalität der Menschheit und - im Dienst dieser universalen Versöhnung - den Apostel mit sich selbst. Die Feindschaft (Röm 5,10-11), die die Versöhnung nötig macht, ist nicht eine Feindschaft Gottes, sondern das Missverständnis der Menschen (Röm 1,18-31). Die Menschen müssen mit Gott versöhnt werden, nicht Gott, der immer schon durch Vertrauen gerechtfertigt hat, mit den Menschen. Die doppelte Einseitigkeit der Versöhnung, die von Gott als Subjekt ermöglicht wird und den Menschen die Möglichkeit gibt, sich mit Gott versöhnen zu lassen, wird mit einem doppelten Bezug auf Christus erklärt. „ Durch Christus “ verweist auf die Offenbarung des Todes und der Auferstehung Jesu (2 Kor 5,21), „ in Christus “ auf die Befreiung derer, die mit ihm gestorben und mit seiner Auferstehung als neue Schöpfung ins Leben gerufen worden sind, von der Macht der Sünde und des Todes (2 Kor 5,14-15). Gott hat die Möglichkeit der Versöhnung gegeben, indem er die „ Umsonstheit “ seiner Gerechtigkeit am Kreuz offenbarte und die Universalität der Menschheit zum Vertrauen einlud. Die Versöhnung setzt - wie die Rechtfertigung - die Vergebung voraus. Im Alten Testament erfüllt die ritualisierte Vergebung eine regulative Funktion innerhalb des Systems des Bundes. Der Bund Gottes mit seinem Volk konnte nur dadurch aufrecht erhalten bleiben, dass die Übertretungen vergeben werden können und dadurch das Volk in die Situation zurückversetzt wird, die Forderungen des Bundes - das Gesetz - zu erfüllen. Im Zusammenhang mit der Versöhnung als Rechtfertigung nimmt die Vergebung eine neue Bedeutung an, die nicht mehr konservativ im Sinn einer Aufrechterhaltung des Systems des Bundes und des Gesetzes verstanden wird, sondern zum Bestandteil des Systems der neuen Schöpfung wird. Ihre Bedingungslosigkeit gehört zur Versöhnung Gottes, der jeden, der sein Vertrauen auf die Anerkennung durch Gott setzt, von den Lasten der Vergangenheit befreit. 172 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="173"?> Die logische Verbindung zwischen der Selbstdefinition Gottes, der sich durch und in Christus als das Subjekt der universalen Versöhnung offenbart, und der Beauftragung des Apostels mit dem Dienst (2 Kor 5,18) und dem Wort (2 Kor 5,19) der Versöhnung wird nicht nur durch die kausale Verbindung zwischen den parallelen Formulierungen (Gott versöhnte den Apostel mit sich, weil er - Gott - es war, der die Welt mit sich versöhnte), sondern auch durch die wiederholte Deutung des Apostelamts als Verkündigung der universalen Versöhnung Gottes unterstrichen. 4.1.5 Die apostolische Einladung zur Versöhnung Als unmittelbare Konsequenz des göttlichen Entschlusses, die Welt mit sich selbst zu versöhnen und Paulus mit der Predigt der Versöhnung zu beauftragen, bittet der Apostel seine Leser, sich mit Gott versöhnen zu lassen. Der Inhalt der apostolischen Predigt besteht in der indirekten Mitteilung der Versöhnung, die Gott durch Tod und Auferstehung Jesu ermöglicht hat. Paulus reist als Botschafter „ für Christus “ . Gemeint ist, dass seine Verkündigung die Offenbarung Gottes in Tod und Auferstehung Jesu vergegenwärtigt. Das bedeutet, dass nichts anderes als die Bitte Gottes, sich mit ihm, dem Gott Jesu Christi, versöhnen zu lassen, laut werden soll. Paulus bittet seine Leser „ in Christus “ , das heißt als Interpret Gottes, der sich in Christus offenbart hat. Die Bitte des Apostels an die Völker, sich mit Gott versöhnen zu lassen, gibt den Inhalt seines Auftrags wieder, die Menschen zu überzeugen (2 Kor 5,11). Die Argumentation hält sich konsequent an die indirekte Kommunikation: Der von Gott gesandte Apostel teilt sich weder selbst mit noch stellt er sich als Vermittler hin. Er reist für Christus, indem er den Menschen die Gelegenheit gibt, von Gott die Versöhnung geschenkt zu erhalten. Die Darstellung der persönlichen Geschichte des Apostels ist insofern irrelevant, als der innere Mensch in ihm allein Gott gehört und Paulus die Leser des Briefes nur den äußeren Menschen erkennen lassen kann. Der Grund besteht in der Selbstoffenbarung Gottes, der seinen gekreuzigten Sohn gerechtfertigt hat, indem er ihn auferweckt und sich als den jeden Menschen umsonst und bedingungslos rechtfertigenden Vater offenbart hat. Wie in anderen vergleichbaren Formulierungen verbindet Paulus folgende Gesichtspunkte: - die Identität Jesu Christi als des vertrauenden und anerkannten Gottessohnes, - die Identität Jesu Christi als des Gekreuzigten, der von den Menschen als Sünder behandelt und vor dem Gesetz zum Fluch wurde, - die befreiende Beseitigung des Missverständnisses der Menschen, die Gott nicht als Gott erkannt und ihn mit ihren Vollkommenheitsidealen verwechselt hatten, durch die Offenbarung des scheinbaren Sünders und Verfluchten als des Sohnes Gottes (Gal 3,13; Röm 8,3; 2 Kor 5,21): 4 Das Kreuz als Versöhnung 173 <?page no="174"?> Gal 3,13 Röm 8,3 2 Kor 5,21 Christus Gott sandte seinen Sohn, Den, der Sünde nicht kannte, ist zum Fluch geworden, dem sündigen Fleisch ähnlich, machte Gott zur Sünde, hat uns vom Fluch befreit. und verurteilte die Sünde im Fleisch. damit wir Gerechtigkeit Gottes würden. Anders als die hermeneutische Formulierung des Galaterbriefs, der die Kreuzigung von Ostern her auslegt (Gal 3,13; vgl. Gal 1,12.16), fassen die beiden parallelen Erklärungen im Römerbrief und im 2. Korintherbrief die Geschichte des Todes und der Auferstehung Jesu als eine Handlung Gottes zusammen. Gott sandte seinen Sohn und verwirrte die Sünde im Menschen, indem er den Sohn als Sünder verkennen und von den Menschen kreuzigen ließ, damit die Sünde - das Vertrauen auf Vollkommenheitsideale und Eigenschaften - als Sünde offenbar wurde (Röm 8,3) und „ wir “ , das heißt: alle, die auf den Gott der bedingungslosen Anerkennung vertrauen, Gerechtigkeit Gottes würden. 4.2 Als Kontrapunkt: Karl Barth - Das Kreuz Jesu Christi und das Kreuz des Christen In Kontinuität zu Calvins Institutio wählt Karl Barth in seiner Dogmatik den Begriff der Versöhnung als Programm für seine Darstellung der Erlösung in Christus. Er nimmt die Argumentation des 2. Korintherbriefs auf und entfaltet Tod und Auferstehung Jesu als die gegebene Möglichkeit der Versöhnung zwischen Gott und „ uns “ . Dabei betont er die freie Initiative Gottes und die neue Existenz des Menschen unter dem Kreuz. Bei Barth erhält das „ Kreuz “ einen paradigmatischen Charakter: Was Gott in Christus vollzogen hat, wiederholt er in uns. Die - von Paulus abweichende - Vorstellung der Stellvertretung Christi ist bei Barth nur eine Art „ Nebenkrater “ . Karl Barth (1888 - 1968) studierte in Bern, Berlin, Tübingen und Marburg Theologie und war dann zunächst Redaktionssekretär bei der „ Christlichen Welt “ . Nach einer Zeit als Hilfsprediger in Genf übernahm er 1911 ein Pfarramt in Safenwil (Aargau). Hier entstand aus den Erfahrungen des Pfarramts sein Kommentar zum Römerbrief ( „ Der Römerbrief “ ), der 1919 in erster und 1922 in zweiter (völlig veränderter) Auflage erschien und die Programmschrift der Dialektischen Theologie wurde. 1921 wurde Barth als Honorarprofessor für reformierte Theologie nach Göttingen, 1925 als Professor für Dogmatik und neutestamentliche Theologie nach Münster und 1930 als Professor für systematische Theologie nach Bonn berufen. Als Hauptverfasser der „ Barmer Theologischen Erklärung “ (1934) wurde ihm von den Nationalsozialisten der Bonner Lehrstuhl aberkannt. Barth ging als Professor nach Basel. 1927 veröffentlichte Barth den ersten Band einer Dogmatik ( „ Die christliche Dogmatik im Entwurf “ ), an deren Stelle seit 1932 „ Die kirchliche Dogmatik “ (KD) trat, sein monumentales Hauptwerk. 174 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="175"?> 4.2.1 Das Kreuz im Rahmen der Versöhnungslehre Die Aussagen Barths über das Kreuz müssen innerhalb des Gesamtaufbaus der „ Kirchlichen Dogmatik “ gesehen werden. Deren erster Band beschäftigt sich mit den Prolegomena der Dogmatik und bietet inhaltlich eine Lehre vom Wort Gottes (KD I,1 und I,2). Der zweite Band enthält die Lehre von Gott (KD II,1und II,2), während der dritte Band die Lehre von der Schöpfung behandelt (KD III,1 bis 4). Der vierte Band umfasst die Lehre von der Versöhnung (KD IV,1 bis 3) und den posthum als Fragment veröffentlichten Teilband über die Lehre von der Taufe (KD IV,4). Als fünfter Band war von Barth die Lehre von der Erlösung geplant. Der Aufbau des Gesamtwerks folgt im Wesentlichen der traditionellen Anordnung des dogmatischen Stoffes. Barth stellt jedoch die Christologie betont in den Mittelpunkt und bezieht jeweils die Ethik in die Dogmatik ein. Kapitel und Paragraphen der „ Kirchlichen Dogmatik “ sind das ganze Werk hindurch fortlaufend nummeriert. Band IV erörtert zunächst den Gegenstand und die Probleme der Versöhnungslehre (Kap. 13). Die Kapitel 14 und 15 tragen die Überschriften „ Jesus Christus, der Herr “ und „ Jesus Christus, der Knecht als Herr “ . Das fünfzehnte Kapitel bietet folgenden Aufriss: - „ Die Erhöhung des Menschensohnes “ (§ 64) - „ Des Menschen Trägheit und Elend “ (§ 65) - „ Des Menschen Heiligung “ (§ 66) - „ Der Heilige Geist und die Erbauung der christlichen Gemeinde “ (§ 67) - „ Der Heilige Geist und die christliche Liebe “ (§ 68) Der hier vor allem heranzuziehende Paragraph 66 ( „ Des Menschen Heiligung “ ) hat folgende Unterteilung: - „ Rechtfertigung und Heiligung “ - „ Der Heilige und die Heiligen “ - „ Der Ruf in die Nachfolge “ - „ Die Erweckung zur Umkehr “ - „ Das Lob der Werke “ - „ Die Würde des Kreuzes “ . Inhaltlich argumentiert Barth von dem diesem Paragraphen vorangestellten Leitsatz aus: „ Die dem menschlichen Versagen zum Trotz im Tode Jesu Christi geschehene und in seiner Auferstehung kundgemachte Erhebung des Menschen ist als solche die Erschaffung von dessen neuer Existenzform als Gottes getreuer Bundesgenosse. Sie beruht ganz auf des Menschen Rechtfertigung vor Gott und ist wie diese nur in dem einen Jesus Christus, sie ist aber in Ihm mächtig und verbindlich für alle verwirklicht. Sie bezeugt sich, indem sie als seine Weisung unter ihnen wirksam ist: im Leben eines Volkes von Menschen, die kraft des an sie ergehenden Rufes in seine Nachfolge, ihrer Erweckung zur Umkehr, des Lobes ihrer Werke, ihrer Auszeichnung durch das ihnen auferlegte Kreuz noch als Sünder schon Gehorsam zu leisten, schon als Gottes Heilige sich aufzurichten die Freiheit haben - als vorläufige Darbringung der 4 Das Kreuz als Versöhnung 175 <?page no="176"?> Dankbarkeit, zu der die ganze Welt durch die Tat der Liebe Gottes bestimmt ist. “ 41 Der Leitsatz macht deutlich, dass Barth unter „ Kreuz “ hier das Kreuz der Christen in der Nachfolge Jesu Christi versteht, es also in den Zusammenhang der Heiligung des Menschen stellt. Zugleich bringt er zum Ausdruck, dass das Kreuz des Christen erst durch seine Einbeziehung in das Kreuz Jesu Christi möglich wird. Am Kreuz Jesu Christi wird der Mensch dazu „ erhöht “ und aufgerufen, nun seinerseits sein Kreuz auf sich zu nehmen und in dieser Weise Christus nachzufolgen. Aus dem Kreuz Jesu Christi ergibt sich folgerichtig die Kreuzesethik der Christen. 4.2.2 Die „ Würde des Kreuzes “ Barth redet erst an dieser Stelle der Dogmatik vom Kreuz, weil es einmal „ die Grenze der Heiligung als der dem trägen Menschen in der Kraft der Auferstehung Jesu Christi widerfahrenden Aufrichtung bezeichnet, den Punkt, an welchem dieses Geschehen über sich selbst hinausweist auf das neue Kommen Jesu Christi, auf die Auferstehung des Fleisches, auf das letzte Gericht, in welchem es zu einem Offenbarwerden der Heiligen als solchen, zur Aufhebung des Widerspruches zwischen dem, was sie noch und dem, was sie schon sind, kommen wird . . . “ Zum anderen wird vom Kreuz Christi her das menschliche Leben in das „ Licht der großen christlichen Hoffnung gerückt “ . Barth gibt dazu folgende Begründung: „ Wir reden von dem Kreuz, das jeder in Jesus Christus Geheiligte und also jeder Christ als solcher zu tragen bekommt, indem das Volk Gottes als solches es zu tragen bestimmt ist. Es ist klar, dass es mit dem Kreuz Jesu Christi selbst in nächster Beziehung steht. Das Kreuz ist die konkreteste Gestalt der Gemeinschaft zwischen Christus und den Christen. Wie Jesu Christi Erleiden seines Kreuzes seine, des einen Menschensohnes, des königlichen Menschen Krönung war und ist, so ist das von jedem Christen zu erleidende Kreuz seine Überkleidung mit der ihm als einem Christen zukommenden Auszeichnung, Ehre, Würde. Und diese Parallele hat ihren Grund in einem sachlichen, geschichtlichen Zusammenhang. Ohne das Kreuz Christi, des Meisters, gäbe es auch kein Kreuz der Jünger, der Christen. Damit, dass er sein Kreuz getragen und erlitten hat, sind sie geheiligt, in die Nachfolge gerufen, in die Umkehr versetzt, zum Tun guter Werke befreit. Und eben damit bekommen sie auch ihr Kreuz zu tragen und zu erleiden. Von seiner Erhöhung her, die in seinem Tod am Kreuz, als dem Tod des an unserer Stelle Verworfenen, vollendet ist, kommt es zu ihrer Aufrichtung, die dann ihre Grenze und ihr Ziel erreicht, dass auch sie ihr Kreuz zu tragen und zu erleiden bekommen. “ 42 Barth trifft hier eine wesentliche Abgrenzung. Die Beziehung zwischen dem Kreuz Christi und dem Kreuz der Christen ist einerseits eine „ unmittelbare Notwendigkeit “ , andererseits aber eine „ indirekte Beziehung “ . Denn die 41 Karl Barth, Die kirchliche Dogmatik, Bd. IV,2: Die Lehre von der Versöhnung, Zürich 1955, 564. 42 Ebd. 677. 176 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="177"?> Christen tragen ihr Kreuz nicht „ neben “ Jesus ( „ in Gleichheit ihres Kreuzes mit dem seinen “ ), sondern folgen „ seinen Fußstapfen “ (1 Petr 2,21): „ Das Kreuz Christi ist sein Kreuz, getragen und erlitten für Viele, aber nicht von diesen Vielen, geschweige denn von Allen und Jeden, sondern an ihrer Stelle von Ihm ganz allein. Er erleidet jene Verwerfung nicht nur als Verwerfung durch Menschen, sondern - von diesen vollstreckt - als Verwerfung durch Gott: als die Verwerfung, die alle Anderen vor Gott verdient haben, der sie verfallen müssten, damit sie sie nicht mehr treffe. “ 43 Die Verwerfung Jesu Christi am Kreuz - das ist der Ausgangspunkt der Argumentation - ist zugleich seine Erhöhung. Kraft dieser Erhöhung und ausschließlich in Entsprechung zu ihr kommt es auch zu der Erhöhung des erwählten und berufenen Menschen. Dieses Verhältnis ist unumkehrbar. Das ist die negative Abgrenzung. Ihr folgt die positive Abgrenzung. Die Heiligung des Christen „ durchkreuzt “ immer wieder seinen irdisch-geschichtlichen Lebensweg. Die participatio Christi wird von dem einzelnen Christen schmerzhaft erfahren, ist jedoch gerade Ausdruck der „ besonderen Gemeinschaft mit Christus “ : „ Es geht zwischen Christus und den Christen, zwischen seinem und ihrem Kreuz um Ähnlichkeit in großer Unähnlichkeit. Aber nun allerdings: um große, starke, offenkundige Ähnlichkeit. Im Blick auf sie ist eben von einer Würde ihres Kreuzes zu reden. Sie sind dadurch ausgezeichnet und geehrt, dass die Gemeinschaft mit Jesus, in die er selbst sie aufgenommen, sich endlich und zuletzt auch darin durchsetzt, dass ihr menschliches und damit auch ihr christliches Leben gezeichnet wird: so wie Bäume im Wald zum Fällen gezeichnet werden. “ 44 Daran schließt sich logisch die Frage an, ob und inwieweit man auch beim Kreuz der Christen, das vom Kreuz Christi her seine Prägung und Bestimmung hat, von Vollendung sprechen darf. Barth gibt darauf vier Antworten: Das Kreuz lehre erstens „ selbstverständliche Demut “ angesichts des eigenen Versagens. Es „ bricht über die Christen herein, um auch die höchsten Offiziere dazu zu erziehen, jeden Morgen als gemeine Soldaten von vorne anzufangen “ . Zweitens erwüchsen „ neuer Ernst und neuer Schwung “ der Kreuzesnachfolge nur aus der Dankbarkeit gegenüber dem Heilshandeln Gottes am Kreuz Christi. Drittens bewirke das Kreuz in dem einzelnen Christen eine „ mächtige Disziplinierung und damit Bestärkung seines Glaubens, seines Gehorsams, seiner Liebe “ . Der Christ werde durch das Kreuz „ in Zucht genommen “ und in seinem Glauben gestärkt. Viertens dürfe man beim Tragen des Kreuzes „ mit besonderer Vorsicht und Bescheidenheit “ dennoch von „ Bewährungen “ sprechen: „ Dass es in dieser Hinsicht versäumte Gelegenheiten gibt, ändert aber nichts daran: sein Kreuz ist dem Christen die Gelegenheit - und wenn er es auf sich nimmt und trägt, bestimmt nicht nur Gelegenheit, sondern Macht zur Bewährung und also zur Klärung und Vertiefung seiner christlichen Einsicht, zur Intensivierung seines christlichen Werkes. “ 45 Aus dem Tragen des Kreuzes 43 Ebd. 678. 44 Ebd. 684. 45 Ebd. 689. 4 Das Kreuz als Versöhnung 177 <?page no="178"?> strömen dem Christen in Situationen, in denen er „ in die Enge getrieben “ und „ an die Wand gedrückt “ ist, neue Stärke und neue Energie zu. Barth stellt die Frage, wie konkret man sich das dem Christen zum Tragen gegebene Kreuz vorstellen dürfe. Das Neue Testament verweise in diesem Zusammenhang auf die Verfolgung der Christen. Christliche Existenz sei damals ein „ von Repressalien bis hin zur physischen Vernichtung bedrohtes Unternehmen “ gewesen. Durch die geschichtliche Entwicklung sei später die Regel die Ausnahme geworden. Doch gebe auch heute das dem Christen aufgetragene Kreuz „ einen besonderen Anteil an der Zwiespältigkeit, Vergänglichkeit, Peinlichkeit und Dunkelheit “ des Lebens. Der Christ werde beim Kreuz auch an die „ Hinfälligkeit seines kreatürlichen Wesens “ denken: „ an Unfall und Gebrechen, Krankheit und Altwerden, an das Verlieren und Entbehren liebster Mitmenschen, an die Brüchigkeit, vielleicht Widrigkeit wichtigster menschlicher Relationen und Kommunikationen, an die Sorge um das tägliche Brot oder was man dafür hält, an die gewollten oder ungewollten Erniedrigungen und Beleidigungen, die sich Einer von seiner nächsten Umgebung her gefallen lassen muss, an den Mangel an freier Entfaltung, an dem der Andere vielleicht sein Leben lang krankt, an die Minderwertigkeit, in der ein Dritter bestimmten Aufgaben vielleicht tatsächlich gegenüber stehen mag, an die Teilnahme an den allgemeinen geschichtlichen Adversitäten des Saeculums, der sich jeweils keiner ganz entziehen kann - und schließlich schlicht an das auf uns Alle wartende Sterben . . . “ Der Christ lebe am Rand der Verzweiflung. Seine Not dürfe man nicht dialektisch umdeuten. Die Verzweiflung Christi habe in der Frage an Gott „ Warum hast du mich verlassen? “ ihren Gipfel erreicht. Das könne den Christen in seinen Verzweiflungen trösten: „ Was sind schon unsere Zweifel und Verzweiflungen, die schleichenden und die akuten, neben seiner derelictio: auch sie und gerade sie an unserer Stelle erlitten? Das heißt aber auch, dass wir in der Gemeinschaft mit ihm ernstlich damit zu rechnen haben, dass auch unser Kreuz diesen Charakter bekommen und vielleicht nie ganz verlieren möchte. “ 46 Barth schließt seine Ausführungen zur Würde des Kreuzes mit zwei Bemerkungen: - Erstens solle sich niemand wünschen, das Kreuz zu erleiden. „ Selbstgesuchtes Leiden hat mit der Teilnahme an der Passion Jesu Christi und also mit des Menschen Heiligung bestimmt nichts zu tun. Das in der Nachfolge Jesu zu tragende Kreuz kommt ohne des Christen Wünschen und Zutun. “ - Die tolerantia crucis sei zweitens kein Selbstzweck, sondern nur „ vorläufig “ . Die „ Krone des Lebens “ sei mehr als die Würde des Kreuzes. Das von dem Christen zu tragende Kreuz habe seine Zeit. Barth zitiert an dieser Stelle Paul Gerhardt: „ Christenkreuz hat sein Maße und wird endlich stillestehn. Wenn der Winter ausgeschneiet, tritt der schöne 46 Ebd. 693. 178 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="179"?> Sommer ein, also wird auch nach der Pein, wer ’ s erwarten kann, erfreuet. “ 47 4.3 Ertrag: Das Kreuz als absolute Singularität Der paulinische Ansatz, Tod und Auferstehung Jesu als die von Gott gegebene Möglichkeit, sich mit ihm versöhnen zu lassen (2 Kor 5,21), darzustellen, überrascht in mehrfacher Hinsicht: - Die Vorstellung der versöhnenden Dimension einer Kreuzigung widerspricht jeder politischen und religiösen Evidenz. - Der Gedanke der Notwendigkeit der Versöhnung eines tadellos gehorsamen Pharisäers mit Gott verblüfft: Die autobiographischen Berichte über die Vergangenheit des Apostels legen für diese Zeit kein Verlangen nach einer Versöhnung nahe (Phil 3,4-6; Gal 1,13-15). Die Interpretation des Todes Jesu als Versöhnung setzt nicht nur die Paradoxalität des apostolischen Wortes voraus, das das Kreuz als Offenbarung Gottes verkündigt (1 Kor 1,18-3,4), sondern auch den kritischen Rückblick auf eine religiöse Haltung und auf theologische Vorstellungen, die nun als Mangel an Gotteserkenntnis erscheinen und aufgegeben werden. 4.3.1 Das Kreuz als Offenbarung einer notwendigen Versöhnung Die Verkündigung des Todes und der Auferstehung Jesu ist insofern anstößig, als die Aufforderung, sich mit Gott versöhnen zu lassen, die Notwendigkeit einer Versöhnung mit Gott impliziert. Das Verständnis des Kreuzes als absoluter Singularität, durch die Gott die Möglichkeit der Versöhnung gibt, nimmt das Kreuz ipso facto auch als Offenbarung eines Missverhältnisses wahr. Diese Implikation bleibt in der Argumentation des 2. Korintherbriefs unerklärt, aber sie wird sowohl im Römerbrief als auch in der „ Kirchlichen Dogmatik “ Barths zum Thema. Die Gottlosigkeit der Menschen und die Notwendigkeit ihrer Versöhnung mit Gott bestehen für Paulus nicht in ihrem Atheismus, sondern in ihrem Missbrauch der Gotteserkenntnis, die ihnen Gott selbst gegeben hatte (Röm 1,19-20). Die Verwechslung von Schöpfer und Schöpfung, die aus der Ungerechtigkeit der Menschen entsteht (Röm 1,18 und 1,21-31), führt zu einer Selbsttäuschung, die der Apostel als die Situation einer existentiellen Verzweiflung analysiert. 48 Durch seine Anstrengungen, den göttlichen Willen zu 47 Aus dem Choral „ Sollt ich meinem Gott nicht singen? “ , EG Nr. 325,9. 48 Wir berufen uns auf die Definition Sören Kierkegaards in „ Die Krankheit zum Tode “ (1849), Sören Kierkegaard, Gesammelte Werke, übersetzt und herausgegeben von E. Hirsch, H. Gerdes, H. M. Junghans, Köln/ Düseldorf 1950 - 1969, 1986 - 1995, 24. und 25. Abteilung: 1. Die Krankheit zum Tode ist Verzweiflung. Verzweiflung ist eine Krankheit im Geist, im Selbst, und kann somit ein Dreifaches sein: verzweifelt sich nicht mehr bewusst sein, ein Selbst zu haben (uneigentliche Verzweiflung); verzweifelt nicht man selbst sein wollen; verzweifelt man selbst sein wollen. 2. Verzweiflung ist die Sünde. 4 Das Kreuz als Versöhnung 179 <?page no="180"?> erfüllen, entfernt sich der Mensch immer weiter von Gott, weil ihn die Macht der Sünde dazu verführt, seine Identität aufgrund seiner Eigenschaften zu konstruieren. Das Kreuz ist für Paulus die Offenbarung einer doppelten Notwendigkeit der Versöhnung: Obwohl sich Gott von den Menschen erkennen lässt, geben sie ihm nicht die Ehre. Sie glauben, ihm die Ehre zu geben, aber eigentlich verwechseln sie ihn mit den Mächten, denen sie in ihrer Gottlosigkeit dienen (Röm 1,18-31). Sie müssen sich mit Gott versöhnen lassen, weil ihre Verehrung der Götter, der „ Götzen “ , den Verlust der Erkenntnis des wahren und lebendigen Gottes verbirgt, der der „ Ganz Andere “ ist und umsonst rechtfertigt. Der Verlust der Gotteserkenntnis und die Feindschaft gegen den umsonst rechtfertigenden Gott führen den Menschen zum Verlust seines Selbst und in die Verzweiflung. 4.3.2 Die Versöhnung als Entscheidung für den wahren und lebendigen Gott Der Horizont der Versöhnung mit Gott besteht nicht in einer Diskussion mit dem Atheismus, sondern in der durch die Offenbarung des Kreuzes notwendigen Unterscheidung zwischen den Göttern. So sind die Thessalonicher von ihren Göttern zum wahren und lebendigen Gott übergegangen (1 Thess 1,9-12). Angriffe gegen die Religion bildeten in der Antike nur eine Randerscheinung. Sie sind im Wesentlichen schon die gleichen, die wir in der Religionskritik des 19. Jahrhunderts wiederfinden. Die Götter sind in der Sicht des Atheismus Projektionen, die die Güte oder die Katastrophen der Natur erklären sollen. Sie wurden erfunden, um das moralische Gewissen zu begründen. Die Mächtigen haben sie eingeführt, um die Menschheit zu unterdrücken. 49 Die antike Gesellschaft lebte in einer Welt, in der die Götter eng mit dem Alltag und der politischen Ordnung verbunden waren. Die notwendige Unterscheidung zwischen den Göttern war ein Hauptthema der alttestamentlichen Prophetie. Das Neue bei Paulus besteht im Unterscheidungskriterium - der durch die Offenbarung des Kreuzes gegebenen Erkenntnis Gottes und der Menschen - und nicht in einer neuen Religionsphilosophie: - Wenn Paulus auf seine eigene und auf die Geschichte der Galater zurückblickt, betrachtet er die Vergangenheit unter Göttern, die in Wahrheit keine sind, und die Vergangenheit unter dem Gesetz (Gal 4, 9-11) als Äquivalente. Dass die „ Götzen “ heidnische Götter waren und Die ist: vor Gott oder mit dem Gedanken an Gott verzweifelt nicht man selbst sein wollen, oder verzweifelt man selbst sein wollen. 49 Sextus Empericus, Gegen die Physiker I = Adversus Dogmaticos III, 49 - 53, listet die wichtigsten atheistischen Philosophen der Antike mit ihren jeweiligen Argumenten auf: Diagoras von Melos, Prodicus von Ceos, Theodoros der Atheist und Critias. Zur Diskussion vgl. Andreas Graeser, Die Philosophie der Antike II. Sophistik und Sokratik. Plato und Aristoteles, in: Geschichte der Philosophie II, München 1963 (2), 57 - 64. 180 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="181"?> das Gesetz das Gesetz des Gottes Israels ist, spielt keine Rolle. Entscheidend ist die Unterscheidung zwischen dem umsonst rechtfertigenden Gott, der sich in Christus offenbart hat, und allen anderen Göttern: - Paulus denkt nicht monotheistisch, sondern bekennt einen Gott, den er in Christus erkannt hat, weil sich dieser Gott ihm offenbart hat. Deswegen lehnt Paulus andere Götter ab. 1 Korinther 8,4-6 (4) Wir wissen, dass es keinen Götzen in der Welt gibt und dass es keinen Gott gibt, es sei denn der Eine. (5) Denn - auch wenn es sogenannte Götter gibt sowohl im Himmel als auch auf Erden, - wie es viele Götter und viele Herren gibt, (6) - aber für uns gibt es einen Gott und Vater, von dem her alles ist und wir auf ihn hin, und einen Herrn Jesus Christus, durch den alles ist und wir durch ihn. Der Gedanke ist nicht: „ Jeder weiß, dass es nur einen Gott gibt, sodass wir ihn als eine kulturelle oder religiöse Selbstverständlichkeit notwendig annehmen. “ Der Gedanke ist vielmehr: „ Die Welt ist voll mit Göttern und Mächten, die von den Menschen konstituiert und verehrt werden, aber wir bekennen nur den Einen, sodass wir nicht bereit sind, sie als Götter und Mächte anzuerkennen. “ Das kritische Vertrauensbekenntnis des Apostels entspricht der Jesustradition, die betont, dass niemand zwei Herren dienen kann. Die Notwendigkeit der Versöhnung meint für Paulus nicht die Bekehrung zum jüdischen Gott oder zu der christlichen Philosophie und Religion, sondern das Vertrauen zu dem einen Gott, der sich im Gekreuzigten als Befreiung von den menschlichen Vollkommenheitsidealen offenbart hat und dem Menschen die Veränderung des Verhältnisses zu Gott, zu sich selbst und zu den Mitmenschen ermöglicht. 4.3.3 Die Stellvertretung Paulus versteht die Notwendigkeit der Versöhnung nicht als Bedingung, sondern als Konsequenz der universalen Versöhnung (2 Kor 5,18-19). Die Logik ist klar: 1. Die Wahrheit Gottes besteht in der Versöhnung der Welt mit sich selbst (2 Kor 5,19). 2. Deshalb hat sich Gott in Christus als Gott, der die Menschen versöhnt, offenbart (2 Kor 5,19). 3. Deshalb hat Gott im Apostel das Wort der Versöhnung eingesetzt (2 Kor 5,19). 4 Das Kreuz als Versöhnung 181 <?page no="182"?> 4. Deshalb (2 Kor 5,19: „ weil “ ) hat Gott den Heidenapostel mit sich versöhnt und ihm den Dienst der Versöhnung übertragen (2 Kor 5,18). Damit begründet die Offenbarung am Kreuz eine doppelte Stellvertretung: - Paulus vertritt die Menschen, insofern die Offenbarung, die Gott „ in ihm “ gegeben hat (Gal 1,16), seine Berufung zum Apostel für die Universalität der Menschheit bedeutet. Als Adressat der Offenbarung wird Paulus zum Stellvertreter der Menschheit eingesetzt, indem ihm Gott seinen Sohn für uns alle offenbart. Die Kohärenz des Denkens ist rein logisch: Wenn sich Gott am Kreuz als der Vater der bedingungslosen Anerkennung der Menschen offenbart hat und seine Wahrheit darin besteht, die Person unabhängig von ihren Eigenschaften anzuerkennen, dann kann niemand von der Versöhnung ausgeschlossen werden. Die paulinische Deutung des Todes und der Auferstehung Jesu als Versöhnung Gottes setzt also die Universalität der Versöhnung voraus. 50 - Dadurch, dass Paulus Adressat der Offenbarung Gottes für uns wurde, ist er zum Stellvertreter Christi berufen worden. Der Tod Jesu als solcher hat jedoch keinen stellvertretenden Charakter. Die paulinische Deutung des Todes Jesu nimmt sogar die schärfste Form einer Nicht-Stellvertretung an: Jesus starb nicht an unserer Stelle, sondern er starb, damit wir uns durch die Befreiung von den Vollkommenheitsidealen der Sünde, des Fleisches und des Todes mit Gott und mit uns selbst versöhnten. Paulus schreibt nicht: Einer starb, damit wir leben, sondern: Einer starb, damit auch wir alle sterben. Paulus schreibt auch nicht: Er starb, damit wir nicht sterben müssen, sondern: Er starb, weil wir uns verändern und (der Sünde und dem Tod) sterben können. 50 Alain Badiou, Saint Paul. La fondation de l ’ universalisme, a. a. O. Wenn das Ereignis der Offenbarung Wahrheit ist, dann ist seine Bedeutung universal; denn es gibt keine Wahrheit, die nicht für alle gilt. 182 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="183"?> Ergebnis: Das Kreuz und die Herrschaft des Gekreuzigten Das Kreuz ist das Symbol des Christentums geworden. Der Gedanke, Jesus als den Gekreuzigten zu verkündigen und das Evangelium mit dem Begriff des Kreuzes zusammenzufassen, ist in der paulinischen Interpretation des Todes und der Auferstehung Jesu entstanden. Paulus erklärt den Korinthern, dass er nichts anderes mitteilen wolle als Christus und zwar den Gekreuzigten (1 Kor 2,2). Diese Art, Jesus Christus als den Gekreuzigten zu bezeichnen und zu bekennen, ist im Neuen Testament einzigartig. Sie findet sich mit Ausnahme der Darstellung der Kreuzigung und der Osterbotschaft im Markusevangelium (Mk 15,30-32; Mk 16,6) nur im Korpus der Paulusbriefe. 1 Der Begriff des Kreuzes im Neuen Testament Als Thesen können wir formulieren: - Der Begriff des Kreuzes ist das zentrale Interpretament des paulinischen Verständnisses des Todes und der Auferstehung Jesu Christi. - Der Begriff des Kreuzes ist im Frühchristentum das für Paulus typische Interpretament, das allein das Markusevangelium übernommen hat. Die These, das Kreuz sei das für Paulus typische Interpretament des Todes und der Auferstehung Jesu, impliziert natürlich nicht, dass die zeitlich späteren Evangelien und die anderen Schriften des Neuen Testaments das Substantiv „ Kreuz “ oder das Verb „ kreuzigen “ nicht verwendeten. Sie tun es aber, ohne den Tod Jesu mit einer theologischen Deutung zu verbinden: - Entweder beschreiben sie rein deskriptiv die Todesart Jesu. Im eigentlichen, nicht übertragenen Sinn bezeichnet das Verb „ kreuzigen “ in den Erzählungen der Evangelien 1 , in den Reden der Apostelgeschichte (Apg 2,36; 4,10) und in der Apokalypse (Apk 11,8) die konkrete Hinrichtung Jesu, während das Substantiv „ Kreuz “ nur in Mk 15,21/ / Mt 27,32/ / Lk 23,26, wenn Simon aus Kyrene das Kreuz tragen muss, in der Paränese des Hebräerbriefs (Hebr 12,2), im Johannesevangelium (Joh 19,17.19.26.31) und im Hymnus des Philipperbriefs (Phil 2,8) in einem ebenfalls rein deskriptiven Sinn vorkommt. - Oder der Sinn ist rein metaphorisch, wenn sich der Begriff des Kreuzes vom konkreten Ereignis des Todes Jesu gelöst hat, um in einem übertragenen Sinn auf allgemeine Leidenserfahrungen hinzuweisen. Der Ruf Jesu in die Nachfolge bezieht sich ausdrücklich auf ein Kreuz, das als das 1 Mt 20,19; 23,34; 26,2; 27,22.23.26.31.35.28; Mk 15,13.14.15.20.24.25.27; Lk 23,21.23.33; Joh 19,6.10.15.16.18.20.23.41. 183 <?page no="184"?> eigene „ Kreuz “ des jeweiligen Jüngers und nicht als das Kreuz Jesu definiert wird: „ Wer mir nachfolgen will, verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz und folge mir nach “ (Mk 8,34/ / Mt 16,2/ / Lk 9,23); „ Wer nicht sein Kreuz trägt und mir folgt, der kann nicht mein Jünger sein “ (Mt 10,38/ / Lk 14,27). Das Markusevangelium entfaltet als einzige Ausnahme im Neuen Testament eine andere theologia crucis: Jesus ist der Gekreuzigte, der seine Seele paradigmatisch gerettet hat, weil er sie nicht retten wollte und vom Kreuz nicht herabgestiegen ist (Mk 15,30.32, in Mt 27,40.42 ohne den theologischen Zusammenhang übernommen). In den Paulusbriefen wird das „ Kreuz “ zu einem theologischen terminus technicus, der das doppelte Ereignis des Todes und der Auferstehung Jesu als Offenbarung Gottes bezeichnet (1 Kor 1,17-18; Gal 5,11; 6,12.14; Phil 3,18; vgl. dann Kol 1,20; 2,14; Eph 2,16). Der Begriff „ Kreuz “ wird symbolisch gebraucht: Gemeint sind gleichzeitig die Todesart Jesu im eigentlichen und ihre christologische oder theologische Bedeutung als Offenbarung Gottes im übertragenen Sinn. Die gleiche symbolische Verbindung zwischen dem historischen Ereignis und seiner universalen Bedeutung kennzeichnet den paulinischen Gebrauch des Verbums „ kreuzigen “ (1 Kor 1,13.23; 2,2.8; 2 Kor 13,4; Gal 2,19; 3,1; 5,24; 6,14). Programmatisch ist die ausdrückliche Definition des auferstandenen Jesus als des Gekreuzigten (1 Kor 1,23; 2,2; Gal 3,1). Das Perfekt bezeichnet präzise einen Zustand, der seinen Ursprung in einem vergangenen Ereignis hat: Der Apostel erklärt, Christus, das heißt den auferstandenen Jesus, zu verkündigen. Die nähere Bezeichnung Jesu als des Gekreuzigten verweist paradox auf den Tod Jesu als Bestimmung der Herrlichkeit des Herrn, der sich als der Auferstandene hat sehen lassen (1 Kor 9,1; 15,5), des Sohnes, den der Vater offenbart hat (Gal 1,12.16). 1 Korinther 1,23 (23) Wir verkündigen Christus, den Gekreuzigten, für Juden ein Ärgernis, für Heiden eine Torheit. 1 Korinther 2,2 (2) Denn ich beschloss, nichts unter euch zu wissen, es sei denn Jesus Christus und ihn als den Gekreuzigten. Galater 3,1 (1) O ihr unverständigen Galater, wer hat euch bezaubert, denen Jesus Christus vor Augen gemalt wurde als Gekreuzigter! 184 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="185"?> Genauso paradox ist die Übertragung der symbolischen Bedeutung des Kreuzes auf die Befindlichkeit der Glaubenden, die sich durch die Vergegenwärtigung des Kreuzes in eine neue Schöpfung verwandeln lassen: Galater 5,24 (24) Die aber, die zu Christus Jesus gehören, haben das Fleisch gekreuzigt samt seinen Leidenschaften und Begierden. Galater 6,14 (14) Für mich soll es jedoch keinen anderen Grund geben, mich zu rühmen, als das Kreuz unseres Herrn Jesus Christus, durch das mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt. Als logische Konsequenz besteht die Selbstdefinition des christlichen Glaubens in dem Bekenntnis, mit Christus gekreuzigt worden zu sein, das heißt: mit Christus der alten Weltzeit (Gal 1,4) und der Macht der Sünde und des Fleisches gestorben zu sein, um mit Christus in ein neues Leben der Anerkennung und des Vertrauens hinein neu geboren zu werden. „ Mitgekreuzigt “ bezieht wieder die existentielle und die erlösende Bedeutung der Offenbarung Gottes auf das historische Ereignis des Todes Jesu: Römer 6,6 (6) Dies erkennend, dass unser alter Mensch mitgekreuzigt wurde, damit der Leib der Sünde zunichte gemacht werde. Galater 2,19 (19) Denn ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe. Ich bin mit Christus gekreuzigt. Wir fassen zusammen: Der paulinische Begriff des Kreuzes ist (mit Ausnahme von Phil 2,8) ein theologischer Begriff, der das historische Ereignis des Todes Jesu am Kreuz als das sinngebende Moment der Geschichte des Jesus von Nazareth mit der Offenbarung Gottes in der Auferstehung des Gekreuzigten symbolisch verbindet. Der Begriff des Kreuzes verweist weder nur auf den Tod Jesu noch nur auf Tod und Auferstehung Jesu, sondern stets auch auf die befreiende Kraft Gottes, der sich in Tod und Auferstehung Jesu offenbart hat. Das „ Kreuz “ verlangt eine Entscheidung, die entweder im Glauben oder im Anstoßnehmen besteht. Wenn das „ Kreuz “ das Evangelium der Offenbarung Gottes in Tod und Auferstehung Jesu ist, dann ist das „ Wort des Kreuzes “ (1 Kor 1,18) nichts anderes als die apostolische Predigt. Ergebnis: Das Kreuz und die Herrschaft des Gekreuzigten 185 <?page no="186"?> 2 Die Herrschaft des Gekreuzigten über Tote und Lebende In Röm 14,7-9 formuliert Paulus eine kurze Zusammenfassung seiner Kreuzestheologie, die die Dimensionen der bedingungslos anerkennenden Gerechtigkeit Gottes, der Paradoxie ihrer befreienden Veränderungskraft und der Versöhnung aller untereinander verbindet: Römer 14,7-9 (7) Denn niemand von uns lebt sich selbst und niemand stirbt sich selbst. (8) Denn wenn wir leben, leben wir dem Herrn, und wenn wir sterben, sterben wir dem Herrn. Darum, wenn wir leben und wenn wir sterben, sind wir des Herrn. (9) Denn dazu ist Christus gestorben und lebendig geworden, dass er über Tote und über Lebende herrsche. Der die gesamte Argumentation begründende Satz (Röm 14,9) deutet den Tod und die Auferstehung Jesu als den Weg, der ihn zu der Herrschaft über Tote und Lebende führte. Die christologische und soteriologische Formulierung erinnert an die Bekenntnisformel in 1 Thess 4,14: „ Wenn wir glauben, dass Jesus gestorben und auferstanden ist, dann wird Gott auch die Entschlafenen durch Jesus mit ihm führen. “ Hervorgehoben wird nicht die logische Kontinuität des Handelns Gottes, der Jesus auferweckt hat und alle, Tote und Lebende, mit Jesus zu sich entrücken wird (1 Thess 4,15-17), sondern die Herrschaft des gestorbenen und auferstandenen Christus. Diese Herrschaft folgt nicht aus der Erniedrigung bis zum Tod am Kreuz (Phil 2,6-11), sondern aus Tod und Auferstehung, die die Einsetzung des Herrn in die Herrlichkeit zum Ziel hatten: Christus ist dazu gestorben und wieder lebendig geworden, damit er über Tote und Lebende herrsche. Die Bedeutung von Tod und Auferstehung Jesu besteht also darin, dass die menschlich unüberwindbliche Abgrenzung zwischen Toten und Lebenden unter der Herrschaft des Gekreuzigten überwunden wird. 186 ZWEITER TEIL: Der Tod Jesu bei Paulus <?page no="187"?> Die Konsequenz der Versöhnung aller Lebenden und Toten unter der Herrschaft des Gekreuzigten besteht in dem bedingungslosen Vertrauen, das nicht einmal durch die Grenze zwischen Leben und Tod in Frage gestellt wird: Ob wir leben oder sterben, wir befinden uns im Herrschaftsbereich des auferstandenen Herrn (Röm 14,8 b). Das bedingungslose Vertrauen folgt ( „ darum “ , Röm 14,8 b) aus dem asymmetrischen Bekenntnis, dass keiner sich selbst lebt und niemand sich selbst stirbt (Röm 14,7-8 a): - Diese zweite Aussage sieht die Bedeutung der Herrschaft des Gekreuzigten darin, dass kein Christ im Tod allein gelassen ist. Mit dem Tod sind wir nicht der Einsamkeit ausgeliefert, sondern bleiben unter der Herrschaft des Herrn. Beide Dative „ sich selbst “ und „ dem Herrn “ vereinen die grammatikalischen Momente der Bestimmung, des Verhältnisses (dativus relationis) und des Mittels (dativus commodi). Vor, in und nach dem Tod bleiben Ursprung und Ziel der menschlichen Existenz die bedingungslose Anerkennung der Person durch die Liebe Gottes, die im Gekreuzigten offenbar geworden ist. - Dem objektiven und universalen Bekenntnis, kein Mensch werde vor, in und nach seinem Tod allein gelassen, wird das subjektive Bekenntnis der Glaubenden vorangestellt: Keiner „ von uns “ , die wir den Gekreuzigten als unseren Herrn bekennen, lebt sich selbst. Der Grund, aber auch die andere Seite des bedingungslosen Vertrauens, besteht in der Anerkennung der uns geschenkten Zeit als Gabe Gottes. Ergebnis: Das Kreuz und die Herrschaft des Gekreuzigten 187 <?page no="189"?> DRITTER TEIL: Bedeutung und Deutungen des Todes Jesu in der Zeit nach Paulus und in der Apokalypse - und ihre Rezeption <?page no="191"?> 1 Der Tod Jesu im Hebräerbrief Ein gemeinsamer Nenner der drei großen nachpaulinischen Entwürfe (Hebräer, 1. Petrusbrief und Apokalypse) besteht in der Symbolik des Blutes als Metonymie des Todes Jesu. In dieser Hinsicht ist der Hebräerbrief von besonderer Bedeutung, weil er die beiden kultischen Motive des Bundesschlusses (Ex 24,1-18) und des Großen Versöhnungstags (Lev 16,1-34) miteinander verbindet. Der Tod und die Erhöhung Jesu werden in Form einer opferkultischen Handlung dargestellt: Jesus ist das Opfer, das sein Blut dahingibt, und gleichzeitig der Hohepriester, der durch den Vorhang des Tempels hindurchschreitet (Hebr 6,19; 9,3; 10,20) und in das Allerheiligste der Gegenwart Gottes eintritt (Hebr 10.10). Die Deutungselemente holt der Hebräerbrief aus den kultischen Gesetzen des Alten Testaments. Als Priester nach der Ordnung Melchisedeks (Hebr 7,1-28 legt Gen 14,17-20 und Ps 110,4 aus) schließt Jesus als der zur Rechten Gottes erhöhte Sohn den im Buch des Propheten Jeremia von Gott angekündigten neuen Bund (Hebr 8,8-12 = Jer 31,31-34). Folglich finden die Worte des Mose und die kultischen Vorschriften, die in der Schrift zu lesen sind, ihre eigentliche Bedeutung im Werk Christi. Hier ist der Gedanke nicht, dass sich das Alte Testament im Evangelium erfüllt, sondern es ist umgekehrt so, dass der erste Bund, das irdische Heiligtum des Mose und der alttestamentliche Kult der Leviten Gleichnis, Schatten und Abbild des neuen Bundes sind (Hebr 10,1). Das Vorbild, nach dem die Stiftshütte und der Tempel eingerichtet werden sollten, ist die Vollkommenheit und Einmaligkeit Jesu, des himmlischen Hohenpriesters. 1.1 Der Tod Jesu als Zugang zum himmlische Heiligtum (Hebräer 9,1-10,39) Ein an die Paulusbriefe angelehntes Postskriptum (Hebr 13,22-25) definiert den Hebräerbrief als „ Wort der Ermahnung “ oder „ Wort des Trostes “ - gemeint ist ein Wort zur Erneuerung der Hoffnung (Hebr 13,22). Der Brief ist eine systematische Darstellung der christlichen Lehre in Form einer Predigtreihe. Dem paränetischen Teil (Hebr 10,19-13,21) werden vorangestellt: - Ein erster homiletischer Zyklus als Grundkurs: Jesus ist der Sohn Gottes (Textbasis: Ps 2,7; Hebr 1,6), der den Menschen, seinen Brüdern, die von Gott verheißene Ruhe bringt (Hebr 1,5-2,16), und zugleich der Hohepriester, der sie zu der Gnade und Barmherzigkeit Gottes führt (Hebr 2, 17-5,10). - Ein zweiter homiletischer Zyklus (Hebr 5,11-10,18), den der Verfasser als eine vollkommene Lehre für Fortgeschrittene ankündigt (Hebr 5,11-6,20). Die Interpretation des Todes Jesu ist das zentrale Thema der „ vollkommenen Lehre “ , die den Kern des Hebräerbriefs bildet (Hebr 7,1-10,18). Tod und 191 <?page no="192"?> Auferstehung Jesu werden mit Hilfe kultischer Vorstellungen gedeutet: Jesus ist der himmlische Hohepriester, der durch die einmalige Hingabe seines Blutes und durch seine Auferstehung den Vorhang des himmlischen Tempels zerrissen und uns den Zugang zu Gott und zu der himmlischen Ruhe eröffnet hat. 1.1.1 Hermeneutische Voraussetzungen der allegorischen Interpretation Die Interpretation der Erlösung als kultischer Handlung eines Hohenpriesters ist in der frühchristlichen Literatur ein völlig origineller Entwurf. Christliche Vorstufen der hohenpriesterlichen Christologie des Hebräerbriefs lassen sich nicht nachweisen. Neu sind: - die Vorstellung Jesu als des Hohenpriesters und - die systematische Deutung des Heilsereignisses mit den Kategorien des Opferkults. Zu den Voraussetzungen einer hohenpriesterlichen Christologie gehört eine ausreichende Entfernung von der geographischen, historischen und symbolischen Wirklichkeit des Tempelkults. Zum einen musste der Tempel nach seiner Zerstörung symbolisch neu besetzt werden. Zum anderen stammte Jesus aus keiner hohenpriesterlichen Familie und wird im Hebräerbrief dennoch als Hoherpriester bezeichnet. Die Texte über den Tempel bzw. die Stiftshütte können allegorisch ausgelegt werden, ohne dass eine Verbindung mit dem real nicht mehr existierenden Tempel hergestellt werden müsste. Voraussetzung der allegorischen Interpretation ist die Vorstellung, nach der die empirische Welt nur Abbild oder Schatten einer himmlischen, ewigen Wirklichkeit ist. Deshalb liegt der wahre Sinn der Texte nicht in ihrer literarischen oder historischen Bedeutung, sondern in ihrer allegorischen Auslegung, die die ewige und ursprüngliche Wahrheit wiederzufinden sucht. Die allegorische Auslegung ist ursprünglich in den stoischen und neuplatonischen Schulen entwickelt worden, um die in den Mythen enthaltene emotionale und logische Erkenntnis zu ermitteln. Im (alexandrinischen) hellenistischen Judentum, das die allegorische Methode mit der Auslegung der alttestamentlichen Texte verbunden hat, sind bereits alle hermeneutischen Voraussetzungen für eine christologische Allegorese (allegorische Exegese) vorhanden. So heißt es bei Philo: „ Dieser ausweglosen, kaum vertretbaren Auslegung (der historischen Auslegung) werden wir entgehen, wenn wir nach der auf eine Naturwahrheit abzielenden, allegorischen Erklärung der Stelle forschen. Denn wir dürfen behaupten, dass mit dem Hohenpriester kein Mensch gemeint ist, sondern der göttliche Logos, der an keinem Vergehen, weder freiwilligem noch unfreiwilligen, teilhat. Denn er kann weder durch seinen Vater, den Geist, noch durch seine Mutter, die Sinnlichkeit, befleckt werden, wie Mose sagt (Lev 21,11), weil er, glaube ich, unvergängliche und ganz reine Eltern hat: sein Vater ist Gott, der auch der 192 DRITTER TEIL: Der Tod Jesu in der Zeit nach Paulus <?page no="193"?> Vater des Alls ist, seine Mutter die Weisheit, durch die das All in Erscheinung trat. “ 1 1.1.2 Die hohepriesterliche Christologie Auf der Basis der hellenistisch-jüdischen Allegorese, die die Figur des Hohenpriesters als den göttlichen Logos deuten kann, ist die christliche Interpretation der Person Jesus von Nazareth nachvollziehbar. In einer ähnlichen Weise wie der Logos im programmatischen Anfang des Johannesevangeliums (Joh 1, 1-18) ist der Titel zum theologischen Interpretament geworden: Jesus ist der göttliche, eschatologische, himmlische Hohepriester: - Die Interpretation des Jesusereignisses mit der Figur des Hohenpriesters passt mit den Vorstellungen des Hebräerbriefs zusammen, nach denen Christus der Erlöser, aber zugleich der erste Erlöste ist (Hebr 13,20). - Der Prolog des Briefes (Hebr 1,1-4) kündigt die Einheit zwischen der Hohenpriester-. und der Vorbildchristologie an (Hebr 2,10; 12,2): Jesus ist erhöht (Hebr 1,3) und als erster von Gott in den Himmel hinaufgeführt worden (Hebr 3,20), nachdem er als Hoherpriester den Vorhang geöffnet hatte (Hebr 10,19-20). Inhaltlich besteht die „ vollkommene Lehre “ aus zwei homiletischen Teilen. Ihr erster Teil ist eine Predigt über Gen 14,17-20 und Ps 110,4: Christus ist der Hohepriester nach der Ordnung Melchisedeks (vgl. Philo, Leg III,79 - 83: 11 QMelch; Flavius Josephus BJ 6,438; AJ 1,177-182). Der zweite Teil ist eine Homilie über Ps 110,1; Jer 31,31-34; Lev 16; Ex 24,6-8 und Ps 40,7-9 LXX: Das Blut des Hohenpriesters schließt ein für allemal den neuen, himmlischen Bund Gottes. Die Reihenfolge ist erkennbar: - Vorankündigung des zweiten Themas und These (Hebr 6,19) - Vorankündigung des ersten Themas und These (Hebr 6,20) - Predigt über Gen 14,17-20 und Ps 110,4 (Hebr 7,1-28) - Homilie über Ps 110,4, Jer 31,31-34 und Ex 24,6-8 (Hebr 8,1-10,18) Christus ist der einmalige und ewige Priester nach der Ordnung Melchisedeks (Hebr 7,1-28). Zuerst wird auf Gen 14,17-20 und Psalm 110,4 Bezug genommen (Hebr 7,1-3). Die anschließende Predigt (Hebr 7,4-28) hat folgende Inhalte: - Melchisedek ist den Leviten überlegen (Hebr 7,4-10). - Das neue, ewige Priestertum (Hebr 7,17 bezieht sich auf Ps 110,4; „ Du bist Priester in Ewigkeit nach der Ordnung Melchisedeks “ ) setzt eine neue Ordnung und die Abschaffung der alten, nutzlos gewordenen Ordnung voraus (Hebr 7,11-19). - Das neue Priestertum ist durch einen Schwur Gottes bestätigt worden (Hebr 7,21 bezieht sich auf Ps 110,4: „ Der Herr hat geschworen und wird es nicht bereuen: Du bist Priester in Ewigkeit “ ; Hebr 7,20-25). - Jesus ist der vollkommene Priester für die Ewigkeit (Hebr 7,26-28). 1 Philo, fug 118 - 110. 1 Der Tod Jesu im Hebräerbrief 193 <?page no="194"?> 1.1.3 Der erste Bund als Abbild des neuen Bundes Die „ Hauptsache “ , das heißt die theologische Erklärung des Todes und der Auferstehung Jesu als Erlösung und Eröffnung des Weges zum Vater, folgt in Hebr 8,1. Der neue Bund ist geschlossen worden, als der himmlische Hohepriester mit seinem Blut durch den Vorhang (Hebr 6,19; 9,3; 10,20 = Verweis auf Lev 16,2.12) des himmlischen Tempels hindurchgegangen ist. Der irdischen und der himmlischen Handlung (Hebr 8,1.6) entsprechen jeweils der erste und der neue Bund (Hebr 8,7-13). Der mosaische Kult ist der Antitypus zu einem neuen Typus, der bereits Mose als Vorbild gezeigt worden war (Hebr 8,5 bezieht sich auf Ex 25,40). Das Thema wird in folgender Weise ausgeführt: Der alte, irdische Gottesdienst des Großen Versöhnungstags (Lev 16) ist Gleichnis (Hebr 9,9) für die gegenwärtige Zeit: Christus ist ein für allemal durch sein eigenes Blut in das Heiligtum eingetreten. Das Blut Christi, der sich durch den ewigen Geist selbst als tadelloses Opfer Gott dargebracht hat, reinigt unser Gewissen von den toten Werken, damit wir dem lebendigen Gott dienen (Hebr 9,14). Tod und Auferstehung Jesu werden als himmlischer und einmaliger Versöhnungstag interpretiert. Christus hat sich zu einer Erlösung dahingegeben, die den Gläubigen ein gutes Gewissen verleiht (Hebr 8,1-14). Durch seinen Tod ist Christus der Mittler des neuen Bundes, auf den das irdische Abbild des ersten Bundes verweist: „ Das ist das Blut des Bundes, den Gott für euch angeordnet hat “ (Hebr 9,20 = Ex 24,8). Die Argumentation arbeitet mit den Begriffen des „ Testaments “ , das erst nach dem Tod dessen, der es errichtet hat, wirksam wird, und des „ Bundes “ (Hebr 9,15-22). Nicht im irdischen Abbild des Allerheiligsten, in das der irdische Hohepriester jedes Jahr mit fremden Blut hineinging, ist Christus dahingegeben worden, sondern im himmlischen Tempel und nur einmal, um die Sünden vieler auf sich zu nehmen (Hebr 9,23-38). Was der erste Bund als Schatten und Bild nicht vermochte, hat Christus erreicht, indem er keine Opfer dargebracht, sondern sich selbst dahingegeben hat (Heb 10,5 =Ps 40,7; Hebr 10,19). Damit hat er den ersten Bund abgeschafft und den neuen Bund eingesetzt (Hebr 10,1-10). Anders als die Priester, die ihren Dienst täglich und vergeblich wiederholen müssen, ist Christus nach seinem Opfer zur Rechten Gottes erhöht worden (Hebr 10,12-13 verweist auf Ps 110,1). Seine Gabe ist die Vervollkommnung der Heiligen (Hebr 10,11-18 mit Zitat von Jer 31,31-34). Der Aufbau der Argumentation entspricht der christologischen These. Die Argumentation verläuft in Form einer Predigt: Von der Interpretation der Erhöhung des Sohnes her werden ausgewählte Texte des griechischen Alten Testaments (LXX) zitiert und ausgelegt. Vorausgesetzt ist zum einen, dass die Schrift und nicht die Praxis des Opferkults in Jerusalem die Basis der Reflexion bildet, und zum anderen, dass das Bekenntnis der absoluten Singularität des Todes und der Auferstehung Jesu ( „ ein für allemal “ , Hebr 7,27; 9,12; 10,10) die allegorische Auslegung begründet. Die alttestamentlichen Texte beschreiben eine irdische Wirklichkeit und formulieren ein Gesetz, das nur als Gleichnis, 194 DRITTER TEIL: Der Tod Jesu in der Zeit nach Paulus <?page no="195"?> als irdisches Abbild, als Schatten oder als Antitypus zu der himmlischen Wirklichkeit verstanden werden kann. Die Texte verlangen deshalb eine Auslegung, die in ihnen diesen Bezug erkennt und versteht. Der Sinn der Satzungen des mosaischen Kultes ist es also, den zweiten, neuen Bund Gottes (Hebr 8,8-12 = Jer 31,31-34) zu offenbaren. Der neue Bund wird geschlossen, indem sich Jesus als tadelloses Opfer darbringt und dadurch Jer 31,31-34 erfüllt ( „ Ich will meine Gesetze in ihren Sinn legen und sie ihnen ins Herz schreiben “ , Hebr 8,10 und 10,16). 1.1.4 Der irdische Tempel als Abbild des himmlischen Tempels Der Hebräerbrief kombiniert die allegorische Auslegung, die den himmlischen und den irdischen Tempel als Vorbild und Abbild gegenüberstellt, mit einer zweiten Metapher, die den himmlischen Tempel als Bild des Kosmos verwendet. 2 Die allegorische Auslegung setzt zwei Tempel und zwei Gottesdienste, den himmlischen und den irdischen, in Verbindung (Hebr 8,1-5; 9,11-12; 9,23). Der irdische Tempel ist das Abbild des himmlischen. Dabei werden gegenüber gestellt: - himmlisch/ irdisch, - eschatologische Ewigkeit/ vergängliche Gegenwart, - Wahrheit/ Schatten, - Urbild/ Abbild. Zum himmlischen Tempel gehören: - der himmlische Hohepriester, - die Vollkommenheit des Opfers, - die Einmaligkeit des Opfers ( „ ein für allemal “ , Hebr 7,27; 9,12; 10,10). Die Vorstellung des irdischen Tempels als Abbild des himmlischen findet ihre Verankerung und Begründung in Ex 25,40 (vgl. 1 Chron 28,19). Die hellenistisch-jüdische Exegese verwendete Ex 25,40, um die allegorische Interpretation zu legitimieren (Philo, Mos II,74), und identifizierte den himmlischen Tempel mit beliebigen geistigen und moralischen Begriffen (der menschlichen Seele, der Tugend, der Weisheit, der Macht Gottes usw.). Das christologische Anliegen des Hebräerbriefs besteht aber nicht darin, durch Allegorie die wahre Bedeutung des Tempels zu finden, sondern in der Gegenüberstellung der Befreiung, die in Tod und Auferstehung Jesu stattgefunden hat, und der Unfähigkeit jedes Opferkults, die Sünden zu tilgen (Hebr 10,1-4): Hebräer 10,1-4 (1) Denn da das Gesetz enthält nur einen Schatten der künftigen Güter, 2 George W. McRae, Heaventh Tempel and Eschatology in the Letter to the Hebrews, Semeia 12, 1978, 179 - 199. 1 Der Tod Jesu im Hebräerbrief 195 <?page no="196"?> nicht das eigentliche Bild der Dinge, kann es durch die Jahr für Jahr gleichen Opfer, die sie endlos darbringen, diejenigen, die damit vor Gott treten, niemals vollkommen machen. (2) Wenn es anders wäre, hätte man dann nicht aufgehört zu opfern? Dadurch, dass die Opfernden, einmal gereinigt, durch kein Sündenbewusstsein belastet wären. (3) Aber in ihnen geschieht nur Jahr für Jahr die Erinnerung an die Sünden. (4) Denn es ist unmöglich, dass das Blut von Stieren und Böcken Sünden hinwegnimmt. Die ewige Distanz, die den himmlischen Kult vom irdischen trennt, zeigt sich in der unterschiedlichen Wirklichkeit in Bezug auf die Befreiung von den Sünden. Während der Große Versöhnungstag jedes Jahr wiederholt werden muss und jedes Mal mit dem Opfer an die Sünden erinnert, ohne sie wegzunehmen (Hebr 10,2-8), zu beseitigen (Hebr 10,11) und die Gewissen entlasten zu können, hat der Sohn, der sich für immer zur Rechten Gottes gesetzt hat, ein einziges Opfer für die Sünden gebracht (Hebr 9,26-28; 10,12) und uns ein für allemal geheiligt (Hebr 10,19): Tod und Auferstehung Jesu haben erbracht, was Opfer und Opferkulte versprachen und nicht halten konnten. Weil die Sünden durch Tod und Auferstehung Jesu vergeben sind, muss für sie kein Opfer mehr dargebracht werden. Das Kommen des zur Rechten Gottes eingesetzten Sohnes schließt die Notwendigkeit jedes Opferkults aus (Hebr 10,18). Die Selbstdarbringung des Leibes Jesu Christi bedeutet die doppelte Befreiung von der Sünde und von dem durch die Sünde belasteten Gewissen. Sie ist kein Opfer, sondern muss als etwas ganz anderes verstanden werden. 1.1.5 Der himmlische Tempel als Bild des ganzen Kosmos Der Hebräerbrief kombiniert die allegorische Auslegung, die den himmlischen und den irdischen Tempel gegenüberstellt, mit einer zweiten Vorstellung, die den Tempel als Metapher für den gesamten Kosmos, Himmel und Erde, verwendet: - Nach dieser Vorstellung gibt es nur einen Tempel, der den gesamten Kosmos darstellt. - Sinngebend ist der Vorhang, der den himmlischen Bereich vom irdischen trennt. - Der Eingangsbereich vertritt den irdischen, diesseitigen Teil des Kosmos. - Das Allerheiligste verweist auf den Himmel als Raum der ewigen Gegenwart Gottes. Nach diesem zweiten Teil der Tempelmetaphorik besteht die kultische Handlung Jesu als des Hohenpriesters darin, dass er durch seinen Tod und seine Auferstehung durch den Vorhang gegangen ist und den Menschen, seinen Brüdern und Schwestern, den Zugang zu Gott eröffnet hat: 196 DRITTER TEIL: Der Tod Jesu in der Zeit nach Paulus <?page no="197"?> - Hebr 10,19-20: Die Erlösung besteht in dem freien Zugang der Erlösten zum Allerheiligsten. Sie beruht darauf, dass Jesus durch seinen Tod und seine Erhöhung den Weg zu Gott ermöglicht hat. - Hebr 9,24: Der Tempel, in den Jesus eingetreten ist, ist nicht der von Händen gebaute irdische Tempel, sondern der himmlische Tempel, der die irdische Welt als Tempel strukturiert. Das Allerheiligste ist der Himmel. Die Erde befindet sich vor dem Vorhang. - Hebr 6,19-20 kündigt das Thema von Hebr 7,1-10,19 an. Jesus ist als Erster durch den Vorhang in das Allerheiligste eingetreten. Tod und Erhöhung Jesu werden als Durchgang durch den Vorhang, der im Bild des Tempels den Himmel der unmittelbaren Gegenwart Gottes vom diesseitigen Bereich der Erde trennt, verstanden. Durch seinen Tod und seine Auferstehung hat Jesus, der in die Welt gesandte und zur Rechten Gottes erhöhte Sohn, den trennenden Vorhang für die Menschen geöffnet: - Der durch Tod und Auferstehung Jesu ermöglichte freie Zugang zu Gott bedeutet die Vergebung der Sünden und die Befreiung der durch die Sünden belasteten Gewissen. - Diese Veränderung wird mit der doppelten Symbolik der Reinigung und des Gewaschenwerdens (Hebr 10,22; vgl. Joh 13,10) beschrieben. Wie im Johannesevangelium werden Tod und Erhöhung Jesu als Einheit der Selbsthingabe und des Zugangs zur Gegenwart Gottes dargestellt. Der Tod Jesu bedeutet die Erhöhung zur Rechten Gottes und gleichzeitig, weil Jesus der „ Vorläufer “ und „ Wegbereiter “ ist, den Zugang der Glaubenden zu Gott (Hebr 10,19-25). Hebräer 10,19-25 (19) Also, Brüder, da wir freien Zugang haben zum Eingang in das Allerheiligste durch das Blut Jesu, (20) den er uns eröffnet hat als neuen und lebendigen Weg durch den Vorhang, das heißt durch sein Fleisch, (21) und (da wir) einen großen Priester über das Haus Gottes (haben), (22) lasst uns auftreten - mit wahrhaftigem Herzen - in der Fülle des Glaubens, gereinigt - in den Herzen - vom schlechten Gewissen und gewaschen - am Leib - mit reinem Wasser. (23) Lasst uns das Bekenntnis der Hoffnung festhalten ohne Wanken; denn treu ist der, der die Verheißung gegeben hat, (24) und lasst uns darauf achten, einander zur Liebe und guten Werken anzuspornen, (25) unsere Versammlungen nicht verlassend, wie es bei einigen Sitte ist, und einander ermahnend, und dies um so mehr, als ihr den Tag sich nahen seht. 1 Der Tod Jesu im Hebräerbrief 197 <?page no="198"?> Die Vorstellung, dass der Kosmos als Tempel strukturiert ist, war der Antike nicht fremd (vgl. z. B. Seneca, De beneficiis VII. 7,3; Philo, Spec. Leg. I. 66; Flavius Josephus, AJ 3180 - 181). Man stellte sich die Welt als einen vertikal gebauten Tempel vor. So heißt es bei Philo: „ Als das höchste und wahrhafte Heiligtum ist das ganze Weltall zu betrachten, das zum Tempelraum den heiligsten Bestandteil der Welt, den Himmel, hat, dessen Weihegeschenke die Sterne, dessen Priester die Unterdiener der göttlichen Kräfte, die Engel, sind. “ Durch die Kombination der allegorischen Auslegung mit dem Bild des Tempels als Metapher des ganzen Kosmos wird der Sohn als der Hohepriester eines ideellen, himmlischen und ewigen Tempels, der die ganze Welt einschließt, dargestellt. Der Sohn Gottes ist der Hohepriester des himmlischen Tempels (erste Metapher), der himmlische Tempel ist die Welt (zweite Metapher), und der Vorhang des Tempels trennt und verbindet Himmel und Erde. Die Erlösung besteht im Übergang zum Himmel, das heißt: im Weg durch den Vorhang hindurch (Hebr 6,19; 9,3; 10,20). Der Erlöser hat den Erlösten den Weg zum Himmel eröffnet (Hebr 10,20). 1.1.6 Die Metaphorik des Blutes Das Blut ist insofern ein zentrales Interpretament des Todes Jesu, als das Blut, mit dem am Großen Versöhnungstag das Allerheiligste besprengt wurde, zu den wesentlichen Elementen der hohenpriesterlichen Metaphorik gehört. Das Blut gehört zum Eintritt Jesu in das Allerheiligste (Hebr 9,12). Als Blut des neuen Bundes (Hebr 10,20; 13,20) reinigt es unser Gewissen von den toten Werken (Hebr 9,14, vgl. 12,24), gibt uns freien Zutritt zum Allerheiligsten (Hebr 10,19) und heiligt das Volk (Hebr 13,12). Die Interpretation des Todes Jesu mit den alttestamentlichen Vorstellungen des alten und des neuen Bundes (Hebr 9,15-23), des Großen Versöhnungstags (Hebr 8,1-10,10) und des Tempelkults (Hebr 10,11-18) setzt eine gedankliche Verbindung zwischen dem Blut der kultischen Opfer und dem Blut als Metonymie des Todes Jesu voraus. Die allegorischen Entsprechungen zwischen dem Blut des ersten Bundes (Hebr 9,20, vgl. 9,18.19.21.22) und dem Blut des zweiten Bundes (Hebr 10,20; 13,20) und zwischen dem Opfer des Großen Versöhnungstags (Hebr 9,7.25) oder des Tempelkults (Hebr 9,13; 10,4; 13,11) und der Selbsthingabe Jesu (Hebr 9,12.14; 10,19; 12,24; 13,12) sind durch die Symbolik des Blutes miteinander verbunden. Die Metonymie des Blutes als Interpretament des Todes Jesu meint im Hebräerbrief weder Opfer noch Stellvertretung: - Entscheidend für die Interpretation des Todes Jesu und für seine heilbringende Bedeutung ist, dass die Selbsthingabe des Sohnes als des Hohenpriesters des neuen Bundes keine stellvertretende, sondern vielmehr eine einführende Funktion hat. Der Sohn, der durch den Vorhang von der Erde in die Gegenwart Gottes hinüberging, ist der „ Archegos “ , der Anführer, der die Glaubenden, seine Brüder und Schwestern (Hebr 2,13), zur eschatologischen Ruhe des Heils, des Vertrauens und der Hoffnung führt (Hebr 2,10; 12,1). 198 DRITTER TEIL: Der Tod Jesu in der Zeit nach Paulus <?page no="199"?> - Der Weg des zur Rechten Gottes eingesetzten Sohnes durch den Vorhang geht durch den Tod. Der Tod Jesu wird wie in den Evangelien und den Paulusbriefen als Selbsthingabe interpretiert ( „ Es gibt keine größere Liebe als die, dass jemand seine Seele für seine Freunde gebe “ , Joh 15,13). Als Metonymie der Selbsthingabe des Lebens und vor dem Hintergrund des Großen Versöhnungstags als der Institution der Vergebung, die als alttestamentliches Abbild der Erlösung in Jesus Christus gelesen wird, verweist das Blut: - auf die Selbsthingabe des tadellosen Sohnes (Jer 3,31-34 in Hebr 8,10 und 10,13), - auf den neuen Bund (Jer 3,31-34 in Hebr 8,7-13 und 10,15-17), - auf den Durchgang durch den Vorhang des himmlischen Tempels (Hebr 6,19; 8,3; 10,20). - auf die Erhöhung des himmlischen Hohenpriesters zum Vater (Ps 110,4 in Hebr 8,1 und 10,12-13) - und a contrario auf die Einmaligkeit dieses Vorgangs, der jede - auch kultische - Wiederholung ausschließt. 1.2 Als Kontrapunkt: Jehan Calvin - das Kreuz als Versöhnungswerk Christi Das Versöhnungswerk Gottes im Kreuz Jesu, das allein und ohne menschliche Mitwirkung die Glaubenden befreit und rettet, ist das große gemeinsame Thema der Reformation. Das schließt jedoch nicht aus, dass die einzelnen Reformatoren in der Versöhnungslehre auch unterschiedliche Akzente gesetzt haben. Jehan Calvin (1509 - 1564) jedenfalls hat in der „ Institutio christianae religionis “ 3 , seinem großen Hauptwerk, einige Motive besonders hervorgehoben. Calvin 4 hatte Rechtswissenschaften in Orléans und Bourges studiert, den Lizentiatentitel erworben und das Studium bei den „ königlichen Lektoren “ in Paris fortgesetzt. Nach seiner Hinwendung zur Reformation gab er seine kirchliche Pfründe auf und wurde 1536 Lektor an St. Pierre in Genf, wo er sich darum bemühte, die Genfer Kirche im reformatorischen Geist neu zu ordnen, jedoch zunächst an Widerständen scheiterte und fliehen musste. Calvin ging daraufhin in die Freie Reichsstadt Straßburg und wirkte dort als Pastor der französischen Flüchtlingsgemeinde und als Lektor der Akademie, der späteren Universität. 1541 wurde er erneut nach Genf berufen, wo er bis zu seinem Tod wirkte, eine umfangreiche literarische Tätigkeit ausübte und Genf neben Wittenberg und Zürich zu einem reformatorischen Zentrum machte. 3 Die Institutio christianae religionis erschien 1534 mit einer Widmung an den französischen König Franz I. Das Werk wurde später stark erweitert und noch zu Lebzeiten Calvins in mehreren Auflagen einschließlich einer autorisierten französischen Übersetzung erneut aufgelegt. 4 Zu den biographischen Angaben vgl. Heiko A. Oberman, Zwei Reformationen, Berlin 2003, 245 - 248. 1 Der Tod Jesu im Hebräerbrief 199 <?page no="200"?> 1.2.1 Der Ausgangspunkt aller Dogmatik: die Erkenntnis Gottes Calvin stellt die gesamte Dogmatik unter das Thema der Gotteserkenntnis. Nachdem er in der letzten Fassung der Institutio von 1559 5 im ersten der insgesamt vier Bücher die Erkenntnis Gottes des Schöpfers dargestellt hat, handelt das zweite Buch von der Erkenntnis Gottes des Erlösers in Christus. 6 Im ersten Kapitel dieses zweiten Buches wird die Lehre von der Erbsünde ausgeführt. Die anschließenden Kapitel beschäftigen sich mit dem Menschen nach dem Sündenfall, mit seiner verloren gegangenen Freiheit und seiner Unfähigkeit zum Guten, sodass er nur in Christus seine Erlösung finden kann. Um der Hoffnung auf Erlösung willen ist nach Calvin bereits das alttestamentliche Gesetz gegeben worden. Deshalb finden sich an dieser Stelle der Institutio Auslegungen der einzelnen Gebote und Bemerkungen zu den Übereinstimmungen und Unterschieden zwischen Altem und Neuem Testament. Mit der Christologie im engeren Sinn beschäftigen sich die Kapitel 12 bis 17. Hier geht es um die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, das Mittleramt Christi, die zwei Naturen Christi und das dreifache (prophetische, königliche und priesterliche) Amt des Erlösers. Das 16. Kapitel trägt die Überschrift „ Wie Christus das Werk des Erlösers getan und uns das Heil erworben hat “ . Hier kommen Tod, Auferstehung und Himmelfahrt Christi zur Sprache. Im Rahmen dieses Kapitels wendet sich Calvin in den Abschnitten 5 bis 7 dem Gehorsam Christi im Besonderen zu. 7 1.2.2 Der Gehorsam Jesu Das Heilswerk Christi lässt sich nach Calvin nur dann angemessen verstehen, wenn der Gehorsam Christi in den Mittelpunkt gestellt wird. Das gilt generell: „ Fragt man nun, auf welche Weise Christus die Sünde getilgt, dem Streit zwischen uns und Gott ein Ende gemacht und uns die Gerechtigkeit erworben hat, die uns Gott wieder geneigt und gnädig macht, so ist darauf allgemein zu antworten: Er hat das durch den Gehorsam während seines ganzen Lebens für uns vollbracht. “ „ In besonderer Weise und eigentlich “ gilt diese Feststellung im Blick auf den Tod Jesu; „ Das müssen wir festhalten: Es konnte nur dann Gottes Gerechtigkeit im Opfer Genüge geschehen, wenn sich Christus aus eigener Entscheidung selbst verleugnete und sich Gottes Willen gehorsam unterwarf und gänzlich hingab. “ 8 5 Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion. Institutio christianae religionis, nach der Ausgabe von 1559 übersetzt und bearbeitet von Otto Weber, im Auftrag des Reformierten Bundes bearbeitet und neu herausgegeben von Matthias Freudenberg, Neukirchen-Vluyn 2008. 6 Das dritte Buch führt aus „ Auf welche Weise wir der Gnade Christi teilhaftig werden, was für Früchte uns daraus erwachsen und was für Wirkungen sich daraus ergeben “ . Das vierte Buch steht unter der Thematik „ Von den äußeren Mitteln oder Beihilfen, mit denen uns Gott zu der Gemeinschaft mit Christus einlädt und in ihr erhält “ . 7 Inst. II, 16, 5 - 7, a. a. O. 270 - 273. 8 Inst. II,16,5, a. a. O. 270. 200 DRITTER TEIL: Der Tod Jesu in der Zeit nach Paulus <?page no="201"?> 1.2.3 Die Verurteilung Jesu durch Pontius Pilatus Dass der Name Pontius Pilatus im Glaubensbekenntnis steht, ist für Calvin nicht nebensächlich, sondern von großer theologischer Bedeutung. Dieser Name halte nicht nur den historischen Ablauf des Sterbens Jesu in Erinnerung, sondern mache darauf aufmerksam, dass nur durch die Verurteilung Jesu durch Pilatus die erforderliche Genugtuung für die Sünde der Menschheit geschehen konnte: „ Dass der Statthalter mit Namen genannt wird, soll nicht nur die Glaubwürdigkeit des geschichtlichen Berichts unterstützen, sondern wir sollen dadurch lernen, was uns Jesaja sagt: ‚ Die Strafe lag auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt! ‘ (Jes 53,5). Denn zur Behebung der auf uns lastenden Verdammnis war es nicht ausreichend, dass Christus den Tod in irgendeiner beliebigen Gestalt erfahren hätte; sollte unsere Erlösung vollgültig zustande kommen, so musste es eine Todesart sein, bei der er unsere Verdammnis auf sich nahm, die Sühne für unsere Sünde selbst vollbrachte - und uns so von beidem, von Verdammnis und Sühnenotwendigkeit, befreite! Wäre er von Räubern erwürgt oder bei einem Volksaufstand im Tumult umgebracht worden, so hätte in diesen beiden Arten des Sterbens das wesentliche Merkmal der Genugtuung gefehlt. “ Es seien nicht nur die prophetischen Weissagungen in Jes 53,12 ( „ Er ist unter die Übeltäter gerechnet “ ; Mk 16,28) und Ps 69,5 ( „ Er bezahlt, was er nicht geraubt hat “ ), die sich im Sterben Jesu konkret erfüllt hätten. Pilatus selbst, der Jesus zum Tode verurteilt habe, spreche ihn ausdrücklich von jeder Schuld frei: „ Ich finde keine Schuld an ihm “ (Joh 18,38). Pilatus habe Jesus also gegen sein eigenes Rechtsempfinden verurteilt. Die ungerechte Verurteilung Jesu ist für Calvin die Voraussetzung unserer Lossprechung: „ Das also ist unsere Lossprechung: Auf das Haupt des Sohnes wird die Schuld gelegt, die doch uns der Strafe auslieferte! An dieses Eintreten Christi für uns sollten wir immer denken, damit wir nicht unser Leben lang zittern und in Angst sitzen - als ob Gottes gerechte Vergeltung, die doch der Sohn Gottes auf sich selbst genommen hat, uns noch immer drohte! “ 9 1.2.4 Das Sterben Christi als Reinigungsopfer Das Sterben Christi am Kreuz war ein „ Reinigungsopfer “ . In dieser Hinsicht folgt Calvin der kirchlichen Tradition. Der Glaubende finde „ in Christi Verdammung die Rechtfertigung, in dem Fluch, der auf ihm lag, den Segen. Deswegen preist Paulus den Sieg, den Christus am Kreuze errungen hat, gewaltig hoch - als wäre das Kreuz, das doch sonst voller Schmach war, zu einem Triumphwagen geworden “ . 10 Das von Christus vergossene Blut habe eine doppelte Bedeutung. Einmal rede die Schrift vom Blut Christi, um daran zu erinnern, dass Christus unsere „ Erlösung “ , unser „ Lösegeld “ und unser „ Gnadenstuhl “ ist. Doch das Blut 9 Inst. II, 16,5, a. a. O. 272. 10 Inst. II,16,6, a. a. O. 272. 1 Der Tod Jesu im Hebräerbrief 201 <?page no="202"?> Christi sei „ nicht allein als Sühnopfer geflossen “ , es ist für Calvin auch „ gewissermaßen ein Bad, in dem wir Reinigung von unserer Befleckung gefunden haben “ , eine Formulierung, die wohl an die christliche Taufe erinnert. 11 1.2.5 Die doppelte Wirkung des Todes Jesu Der Tod Christi am Kreuz hat für Calvin eine doppelte Wirkung. Sie besteht erstens in unserer Befreiung vom Tod: „ Denn durch sein Sterben hat er (Christus) bewirkt, dass wir nicht sterben, oder, was dasselbe ist, durch seinen Tod hat er uns das Leben erkauft! Nur darin ist er von uns ganz verschieden: Er hat sich in die Gewalt des Todes begeben, nicht um von diesem verschlungen zu werden, sondern um ihn, der doch uns zu verschlingen drohte, selbst zu verschlingen! Er hat sich dem Tod unterworfen, nicht um von seiner Macht erdrückt zu werden, sondern um ihn selbst zu Boden zu werfen, der doch uns allezeit drohte und schon über unseren Sturz frohlockte! Endlich ist er gestorben, um durch den Tod den zunichte zu machen, der des Todes Gewalt hat, das ist: den Teufel (Hebr 2,14), und um die zu erlösen, ‚ die durch Furcht des Todes im ganzen Leben Knechte sein mussten ‘ (Hebr 2,15)! Das ist die erste Frucht, die uns sein Tod gebracht hat. “ 12 Die zweite Frucht des Todes Christi besteht darin, dass er die Glaubenden in die Gemeinschaft seines Sterbens hineinzieht. Calvin verweist auf Gal 2,19; 6,14 und Kol 3,3. Paulus „ erklärt uns, dass in dem Tode Christi eine solche Kraft wohnt, die nun in allen Christenmenschen sichtbar werden muss, wenn sie den Tod Christi an sich nicht nutzlos und fruchtlos machen wollen “ . Der Befreiung vom Tod durch Christus entspricht die Nachfolge der Christen. 13 1.3 Ertrag: Die Deutung des Todes Jesu als Erlösung und als theologische Opferkritik Sowohl der Hebräerbrief als auch die Institutio Calvins setzen bei der Deutung des Todes Jesu ein Interpretament ein, das zu einem spezifischen Verständnis der christlichen Botschaft gehört und sich von jeder Form eines Opferkults entschieden abgrenzt: - Die im Alten Testament geforderten Opfer sind unfähig, eine Vermittlung zwischen den Menschen und Gott herzustellen. Mit dieser These heben die Argumentationen des Hebräerbriefs und Calvins den qualitativen Abstand zwischen der Erlösung in Christus und den zeremoniellen Geboten des Alten Testaments hervor. Calvin leitet daraus eine Polemik gegen die ritualisierte Wiederholung des Opfers Christi in der römischen Messe ab. 11 Ebd. 12 Inst. II,16,7, a. a. O. 273. 13 Ebd. 202 DRITTER TEIL: Der Tod Jesu in der Zeit nach Paulus <?page no="203"?> - Die Möglichkeit der Erlösung, die durch das Opfer Christi als Selbsthingabe des Sohnes Gottes gegeben wurde, liegt in der absoluten Singularität seiner Person. In seinem Tod und seiner Auferstehung offenbaren sich der souveräne und freie Entschluss Gottes, uns zu retten (Hebr 1,1-2; Institutio II,17,1), und der Gehorsam des von Gott gesandten Sohnes, der der Güte und Liebe Gottes entsprechend sein Leben dahingab und dadurch zum Vermittler zwischen den Menschen und Gott wurde (Hebr 10,7.9; Institutio II,17,2). Die kulturelle Logik des Opfers ist insofern unzulänglich, als die Erlösung ausschließlich auf die freie und einseitige Initiative Gottes zurückgeführt werden kann. Gott offenbart sich in der Erhöhung des Sohnes zu seiner Rechten (Hebr 1,1-4), und die Erkenntnis Gottes besteht für Calvin in dem Bekenntnis zu dem uns umsonst geschenkten väterlichen Wohlwollen, das durch keine Leistung bestimmt werden kann. Die Selbsthingabe des Sohnes offenbart den Geschenkcharakter der Erlösung. 1.3.1 Christus als Prophet, König und Priester Calvin entwickelt das dreifache Amt Jesu Christi als Prophet, König und Priester als Ausdruck der beiden Naturen des Erlösers: - Als Prophet ist Jesus Christus vom heiligen Geist zum Verkündiger und Zeugen der Gnade seines Vaters gesalbt worden (Institutio II,15,2). - Als König führt Jesus Christus die Glaubenden durch den heiligen Geist zum ewigen Leben und schützt sie in ihrer glaubenden Existenz (Institutio II,15,3-5). - Als Priester ist Jesus Christus der Vermittler, der uns den Zugang zu Gott gegeben hat (Institutio II,15,6 mit Verweis auf Hebr 7,1-10.18). Die Argumentation, mit der Calvin versucht, den Erlösungscharakter des priesterlichen Werkes Jesu Christi zu erklären, schließt sich der Vorstellung von der erforderlichen Genugtuung an, die die Reformatoren von Anselm von Canterbury übernommen haben. In den lateinischen und französischen Fassungen der Institutio von 1541 und 1560 modifiziert Calvin seine Interpretation des Todes Jesu: 14 - Die makellose Selbsthingabe Jesu hat ihre Bedeutung darin, dass der Sohn den Willen Gottes vollkommen erfüllt hat (Institutio von 1560, II,15,6). - Durch die vollkommene Erfüllung des Willens Gottes haben uns der Gehorsam und die Selbsthingabe Jesu nicht nur für immer mit Gott versöhnt, sondern darüber hinaus eine neue Gemeinschaft zwischen ihm und uns begründet. In Christus sind wir Priester geworden, sodass wir Zugang zum himmlischen Tempel und zu Gott bekommen haben. 14 Kritische Ausgabe: Jean Calvin, Institution de la religion chrestienne, édition critique avec introduction, notes et variantes publée par Jean.Daniel Benoit, 5 Bände: Livre premier, Livre second, Livre troisième, Livre quatrième, Cinquième volume glossaire, tables et références, Paris 1957 - 1963, Bibliothèque des textes philosophique. 1 Der Tod Jesu im Hebräerbrief 203 <?page no="204"?> Anders als bei Anselm hat der Tod Jesu nicht die Bedeutung, die durch die Sünde gestörte Ordnung wiederherzustellen, sondern die Veränderung unseres Verhältnisses zu Gott zu bewirken (Institutio von 1541, II,15,6). - Diese Veränderung ist aus der freien Entscheidung der Barmherzigkeit Gottes entstanden. Sie folgt nur insofern aus einer Leistung Jesu Christi, als sie ihre Ursache und ihren Ursprung in der Gnade Gottes selbst hat. Der Gedanke der Genugtuung birgt die Gefahr, dass die Souveränität der Gnade Gottes beeinträchtigt wird (Institutio von 1560, II,17,1). Der Gehorsam und die Selbsthingabe Jesu Christ sind für Calvin der Weg, den Gottes Gnade gewählt hat, um die Glaubenden mit ihm zu versöhnen und zu retten. 1.3.2 Die Ablehnung des Opfergedankens Während Calvin das souveräne Handeln Gottes in dem Erlösungswerk Christi herausstellt, sieht der Hebräerbrief in Tod und Erhöhung Jesu das Zentrum des neuen Bundes, der die Menschen von der Ineffizienz der darzubringenden Opfer befreit hat. Die Ausgangsfrage wird bereits im Prolog des Hebräerbriefs gestellt (Hebr 1,1-4). Sie bezieht sich auf die Suche nach einer Hoffnung, die auf Vertrauen und in einem von der Last der Sünden befreiten Gewissen beruht: Der Sohn, den Gott zum Erben von allem eingesetzt hat, durch den er die Äonen geschaffen hat, der als Abglanz seiner Herrlichkeit und Abbild seines Wesen erschienen ist und alles mit seinem kraftvollen Wort trägt, hat uns von den Sünden gereinigt (Hebr 1,2). Damit wird die Hauptthese angekündigt: Der Zugang zu Gott (Hebr 9,1-10,18) und zu der ewigen Ruhe (Hebr 1,5-4,14) wird durch die Erhöhung des Sohnes am Kreuz ermöglicht. Die Offenbarung der Erlösung durch den Tod Jesu befindet sich in einer diskontinuierlichen Kontinuität mit dem Alten Testament. Kontinuität und Diskontinuität werden gleich zu Beginn des Hebräerbriefs programmatisch hervorgehoben: „ Nachdem Gott in der Vergangenheit zu den Vätern durch die Propheten gesprochen hatte, sprach er in den letzten Tagen zu uns durch seinen Sohn “ (Hebr 1,1-2). Die allegorische Auslegung bietet eine hermeneutische Lösung, die sowohl die Entsprechung der Offenbarung des neuen Bundes zu der Schrift als auch ihren Qualitätsunterschied hervorhebt. Die Opfermetaphorik bildet insofern die sinngebende Kontinuität zwischen dem ersten und dem zweiten Bund, als Opfer Bestandteile jedes Bundesschlusses sind und die kultische Einrichtung des Großen Versöhnungstags (Lev 16) die Frage nach der Sündenvergebung in der Schrift beantwortet. Doch gerade diese Entsprechung offenbart die radikale Diskontinuität zwischen dem neuen und dem ersten Bund, zwischen der himmlischen, ewigen Erlösung durch die Erhöhung des Sohnes und ihrem machtlosen Abbild im alttestamentlichen Opferkult. Die allegorische Auslegung der Satzungen des Opferkults (Hebr 8,1-10,18) lehnt den Opfergedanken als durch Tod und Auferstehung Jesu überholt ab, 204 DRITTER TEIL: Der Tod Jesu in der Zeit nach Paulus <?page no="205"?> erklärt die Ablehnung mit der Unwirksamkeit der Opfer und begründet ihre Unwirksamkeit mit ihrer Unvereinbarkeit mit dem Willen Gottes (Hebr 10, 1-9). Die Argumentation des Hebräerbriefs beschränkt sich nicht auf die Aussage, dass sich Jesus für alle dahingegeben hat, sodass er den Glaubenden die Möglichkeit der Erlösung, der Befreiung von den Sünden und dem schlechten Gewissen, gegeben hat - mit der logischen Konsequenz, dass neue Opfer dadurch überflüssig geworden sind. Diese Aussage wird durch eine andere, theologische und anthropologische These begründet: Opfer sind nicht nur nach Tod und Erhöhung des Sohnes überflüssig geworden. Als weltimmanente Einrichtungen, die die Wirklichkeit nur als Schatten widerspiegeln, haben sie keine befreiende und versöhnende Wirkung: Der Opferkult ist Abbild und Schatten der himmlischen Erlösung. Er gehört zum ersten Bund, nicht zum neuen (Hebr 10,1). Was der Opferkult beansprucht, kann er nicht einlösen, wie es die Notwendigkeit, den Großen Versöhnungstag jedes Jahr zu wiederholen, belegt (Hebr 10,2-3). Die einzige positive Auswirkung der Opfer besteht in der Erinnerung an die Sünden (Hebr 10,3). Der Opferkult gehört zum ersten, nicht zum zweiten Bund. Er entspricht zwar den Anforderungen des Gesetzes, aber nicht dem Willen Gottes, der an ihm keinen Gefallen hat (Hebr 10,5-8). Der Wille Gottes zielt vielmehr auf die Auflösung des ersten Bundes. Durch die Selbsthingabe des Sohnes ist er überflüssig geworden. René Girard 15 sah im Hebräerbrief einen Beleg für die Rückkehr der Opfertheologie in das christliche Denken. Er verstand die Interpretation des Todes Jesu im Hebräerbrief als Verrat am Evangelium, das die todbringende Gewalt des Opfers und seiner Ritualisierung offenbart habe (Mt 23, 13-36). Dieser Auffassung widerspricht aber die Argumentation des Hebräerbriefs. Sie benutzt die Tempelmetaphorik und die Opfertheologie des Alten Testaments, um den Tod Jesu als Offenbarung eines Gottes herauszustellen, der keine Opfer will und durch die Selbsthingabe des Sohnes dem Opferkult ein Ende setzt. 15 Des choses cachées, a. a. O. 1 Der Tod Jesu im Hebräerbrief 205 <?page no="206"?> 2 Der Tod Jesu im ersten Petrusbrief Der erste Petrusbrief, die Prima Petri, argumentiert wie der Hebräerbrief und das Johannesevangelium mit der Symbolik des Blutes und verbindet sie mit dem Begriff der Leiden als Interpretation des Todes Jesu. Dem Leser fällt auf, dass der Brief aber daraus ebenso wenig wie die anderen Schriften des Neuen Testaments eine Opfertheologie entwickelt, die die Selbsthingabe Jesu als Stellvertretung verstehen würde. Das Blut Jesu als Metonymie für seine Leiden hat vielmehr einen paradigmatischen Charakter, wie es auch das Blut des Lammes in der Johannesapokalypse hat. Paradigma und Stellvertretung sind logische Gegensätze und formulieren kontradiktorische Deutungen des Todes Jesu. Wenn Jesus an unserer Stelle gelitten hätte, müssten wir nicht mehr seinen Spuren durch das Leiden folgen (1 Petr 2,21), und wenn die Glaubenden aufgefordert werden, als Gerechte für Ungerechte zu leiden, wie Jesus als der Gerechte für sie gelitten hat, als sie noch Ungerechte waren, dann hat er nicht an ihrer Stelle, sondern als Vorbild gelitten. 2.1 Der Tod Jesu als gewaltloses Zeugnis der Dissidenz Gottes (1 Petrus 1,17-21; 2,21-25; 3,18-22) Selbstverständnis und Selbstdefinition des christlichen Glaubens, wie sie in der Prima Petri systematisch ausformuliert werden, gründen auf der Überzeugung, von Gott erwählt worden zu sein: Die Christen sind die Erwählten (1 Petr 1,1; 2,9; vgl. 5,13), die von Gott zu einer neuen Hoffnung neu gezeugt (1 Petr 1,3), von den Heiden ausgesondert (1 Petr 2,11-12; 4,3), als heiliges Volk und als königliches Priestertum Gottes in der Welt berufen und als Haus Gottes erbaut sind (1 Petr 2,3-12). Die Erlösung besteht in der Erwählung. 2.1.1 Die Erwählung als Interpretament des Glaubens Die Erwählung folgt aus einem Beschluss Gottes, der ihn in seinem Vorherwissen vor der Grundlegung der Welt (1 Petr 1,2; vgl. 1,20) gefasst hat: Die Gegenwart ist durch eine Entscheidung bestimmt, die außerhalb der Weltgeschichte und vor ihrem Anfang getroffen wurde. Die Erwählung folgt aus einer Aussonderung, die einen Herrschaftswechsel einschließt. Der Begriff des Geistes Gottes verweist auf den Gabecharakter der Erwählung und auf die metaphorische Bedeutung der Heiligung. Die Metaphorik der Heiligkeit verweist auf die neue Zugehörigkeit der Christen zum Haus Gottes und auf das daraus folgende Fremdsein in der Welt (vgl. 1 Petr 3,15; 1,15-16; 2,5.9; 3,5). Die Christen sind durch ihre Erwählung in der Welt zu Dissidenten geworden. 206 DRITTER TEIL: Der Tod Jesu in der Zeit nach Paulus <?page no="207"?> Die Erwählung bewirkt, dass die Christen eine neue Motivation haben (vgl. 1 Petr 1,14.22). Sie gründet auf der Offenbarung der Leiden und der Auferstehung (1 Petr 1,3) oder der Herrlichkeit Jesu und besteht in der Nachahmung seines Vorbilds (1 Petr 1,3.10 - 12.17 - 21; 2,3-5.21 - 25; 3,18-22). „ Besprengung des Blutes “ ist im übertragenen Sinn und als Interpretament für den Gehorsam zu verstehen: Die Erwählten haben Anteil an den Leiden und an der Herrlichkeit Jesu Christi. 1 Petrus 1,1-2 (1) Petrus, Apostel Jesu Christi, den auserwählten Fremden der Diaspora von Pontus, Galatien, Kappadozien, Asien und Bithynien (2) - nach dem Vorherwissen Gottes des Vaters, - durch die Heiligung des Geistes, - zu Gehorsam und Besprengung des Blutes Jesu Christi, Gnade und Frieden werde euch reichlich zuteil! 2.1.2 Leiden als Offenbarung der Hoffnung Der Begriff, der den Tod Jesu konsequent interpretiert, ist der Begriff der „ Leiden “ (1 Petr 1,11; 4,13; 5,1). Entsprechend heißt es in den Bekenntnisformeln des Briefes nicht, dass Jesus gestorben ist, sondern, dass er gelitten hat (1 Petr 2,21.23; 3,18). Als „ Leiden “ wird der Tod Jesu nicht wie das „ Kreuz “ bei Paulus als die absolute Singularität eines einmaligen Ereignisses, sondern als das Paradigma für die unvermeidliche Konsequenz der inneren und äußeren Konflikte des Gerechten ausgelegt. Wie Jesus selbst Opfer der Ungerechtigkeit gewesen ist und sich dabei als der Gerechte offenbart hat, sollen die Erwählten seinen Spuren folgen (1 Petr 2,21). Die Leiden sind weder das Ende noch das Ziel des Lebens Jesu und der Erwählten. Den Leiden entspricht die Herrlichkeit. Sie drückt sowohl die Auferstehung Jesu als Offenbarung Gottes in der Geschichte und als Grund der Hoffnung (1 Petr 1,11, vgl. 1 Petr 1,3 u. 1,20) als auch die Parusie Jesu als die endgültige und unmissverständliche Offenbarung (1 Petr 4,13; 5,1) aus. Die doppelte Bestimmung durch die Leiden und durch die Herrlichkeit Jesu interpretiert die Situation der Christen als Erwählte und als Dissidenten. Es entsprechen sich die Leiden der Christen (1 Petr 5,9; 1 Petr 2,19.20; 3,14.17; 4,15.19; 5,19) und die Herrlichkeit der Christen (1 Petr 1,7; 5,4.10). Die Leiden und die Herrlichkeit Jesu sind Grund und Vorbild der Leiden und der versprochenen Herrlichkeit der Christen (1 Petr 2,18-25; 3,13-22 und 5,10). Sie sind der Grund, weil die Erwählung Verheißung der Herrlichkeit und 2 Der Tod Jesu im ersten Petrusbrief 207 <?page no="208"?> deswegen auch Leiden in der Welt bedeutet, das Vorbild, weil Jesus als Gerechter die Leiden offensiv (nicht reaktiv) ertragen hat und deshalb verherrlicht wurde und in seiner Parusie verherrlicht werden wird. Die Leiden sind kein Ideal der christlichen Existenz. Der 1. Petrusbrief vertritt keinen Dolorismus (Aufwertung des Leidens oder des Martyriums). Die inneren und äußeren Konflikte gehören zu den Notwendigkeiten, die die Existenz der Erwählten in einer Welt, in der sie Dissidenten und Fremde sind (1 Petr 2,11), prägen. Genauso wie Jesus durch das Fleisch getötet und durch den Geist auferweckt wurde (1 Petr 3,18), muss jeder Christ leiden, der von der Sünde befreit und deshalb in der Welt fremd ist (1 Petr 4,1). 2.1.3 Die Situation der Christen als der Erwählten Durch die Auferstehung Jesu hat sich Gott offenbart und allen, die glauben, eine lebendige Hoffnung gegeben. Der Tod Jesu wird im 1. Petrusbrief als die Summe der Leiden gedeutet, die Jesus im Konflikt zwischen seinem vorbildlichen Gehorsam und der Desorientierung der Welt in Kauf nehmen musste. Die Auferstehung offenbart die Leiden Christi als Grund und Vorbild für eine neue Existenzweise. 1 Petrus 1,17-21 (17) Und wenn ihr den als Vater anruft, der ohne Ansehen der Person nach eines jeden Werk richtet, so wandelt in Furcht während der Zeit eures Aufenthaltes in der Fremde, (18) wissend, dass ihr von eurer nichtigen, von den Vätern übernommenen Lebensweise losgekauft seid, nicht mit Vergänglichem, mit Silber oder Gold, (19) sondern mit dem kostbaren Blut Christi, - wie eines fehler- und makellosen Lammes, (20) - vor der Grundlegung der Welt ausersehen, - offenbar geworden am Ende der Zeiten für euch, (21) die ihr durch ihn an Gott glaubt, der ihn von den Toten auferweckt und ihm Herrlichkeit gegeben hat, sodass euer Glaube auch Hoffnung auf Gott ist. Die Erwählten sind von der nichtigen Lebensweise (von der Sinnlosigkeit des Lebens und der existentiellen Leere) ihrer heidnischen Erziehung befreit worden (1 Petr 1,18). Verursacher der Veränderung ist das Blut Christi (1 Petr 1,19). Die kultischen Begriffe (Blut, Lamm, fehlerlos, makellos) sind wie die Heiligkeitsmetaphorik (1 Petr 1,1-2) im übertragenen Sinn als ethische Begriffe zu verstehen. Sie deuten das konsequente Dissidententum des Auferstandenen und der Erwählten Gottes in der Welt. Das fehlerlose und deshalb vorbildliche Verhalten Jesu im Leiden bis zum Tod ist der Preis, der für die Befreiung der 208 DRITTER TEIL: Der Tod Jesu in der Zeit nach Paulus <?page no="209"?> Adressaten des Briefes (2. Pers. Plur.) von ihrer Orientierungslosigkeit, Sinnlosigkeit und Hoffnungslosigkeit bezahlt worden ist. Die Befreiung geschah durch die Offenbarung der Hoffnung. Offenbarung der Hoffnung war aber an sich nicht der Tod Jesu, sondern seine Auferstehung. Warum ist also das Blut Erlösung? Weil Gott den Gerechten auferweckt hat, der sich der Hoffnungslosigkeit der Welt nicht angepasst hatte, sondern als konsequenter Dissident dem Willen Gottes, der ihn vor der Grundlegung der Welt dazu ausersehen hatte, treu geblieben ist. Wozu ist er also von Gott im Voraus ausersehen worden? Um am Anfang des Endes der Zeiten, das heißt am Anfang der Geschichte des christlichen Glaubens, für die Erwählten durch seine Auferstehung (1 Petr 1,3) offenbar zu werden (1 Petr 1,20). Die Leiden haben folglich keinen positiven Wert an sich, sondern sind die notwendige Voraussetzung der Offenbarung der Herrlichkeit Christi. 2.1.4 Die Leiden Jesu als Vorbild der christlichen Dissidenz Der 1. Petrusbrief interpretiert die Leiden Christi als Grund und Vorbild einer existentiellen Haltung, die den Glaubenden Hoffnung und Orientierung gibt und ihnen den Weg der Gerechtigkeit als Strategie einer offensiven und radikalen Gewaltlosigkeit eröffnet. Die Adressaten des Briefes haben den Hirten und Hüter ihrer Seelen gefunden, weil Christus für sie gelitten hat und ihnen dadurch ein Vorbild hinterlassen hat, dessen Spuren sie sinnvollerweise folgen. 1 Petrus 2,21-25 (21) Denn dazu seid ihr berufen, weil auch Christus für euch gelitten hat, euch ein Vorbild hinterlassend, damit ihr seinen Spuren folgt; (22) - der keine Sünde getan hat und in dessen Mund kein Trug gefunden wurde, (23) - der geschmäht nicht wieder schmähte, - leidend nicht drohte, sondern es dem übergab, der gerecht richtet, (24) - der unsere Sünden selbst hinaufgetragen hat in seinem Leib auf das Holz, damit wir, den Sünden abgestorben, der Gerechtigkeit leben, - durch dessen Wunden ihr geheilt worden seid. (25) Denn ihr wart wie irrende Schafe, aber jetzt seid ihr hingewendet worden zum Hirten und Hüter eurer Seelen. Die Leiden Christi sind Grund ( „ weil “ = Subordination) und Vorbild ( „ auch “ = Koordination) für das Verhalten der Erwählten und Dissidenten Gottes 2 Der Tod Jesu im ersten Petrusbrief 209 <?page no="210"?> (1 Petr 2,21). Inwiefern sind die Leiden Christi Grund und Vorbild? Mit Bezug auf Jes 53,9 durch den offensiven Verzicht auf Vergeltung des Bösen. Im Gegensatz zu einem defensiven Verhalten, das das Tun des Gegenübers zum Maßstab des eigenen Verhaltens nimmt, definieren wir als offensiv eine Haltung, die sich in ihrem Verhalten nach eigenen Überzeugungen richtet und unabhängig vom Verhaltens des Gegenübers entscheidet. Die offensive Haltung der Gewaltlosigkeit setzt die bewusste Annahme des Leidens und die Übergabe des Gerichts an Gott voraus (1 Petr 2,22-23). Die empfohlene Gewaltlosigkeit besteht in der Nicht-Vergeltung des Bösen. Die Definition wird in Anlehnung an Jes 53,4 formuliert: Am Kreuz hat Jesus die Sünden und die Gewalt der Menschen nicht abgewiesen, sondern auf sich genommen. Der Gedanke ist nicht der einer Stellvertretung, sondern der Gedanke einer Nicht-Vergeltung: Hingenommen hat Jesus nicht die Verurteilung und die Bestrafung der Sünde, sondern die Sünde selbst. Jesus hat nicht mit Bösem auf Böses reagiert, damit wir (1. Pers. Plur.) für die Gerechtigkeit leben können (1 Petr 2,24). Nach Jes 53,5-6 hat Jesus die Adressaten des Briefes (2. Pers. Plur.) befreit, indem er ihrer Existenz eine neue Orientierung gegeben hat (1 Petr 2,25). 2.1.5 Die christologische Interpretation der Gottesknechtslieder im Buch Jesaja Der Reflexion des 1. Petrusbriefs über die Verantwortung der Christen in der Gesellschaft verdankt das Christentum die interpretative Verbindung zwischen der biblischen Figur des Gottesknechts mit der Passion Jesu und dem Sinn des christlichen Gehorsams. Diese Verbindung setzt eine Wechselwirkung voraus: Die Leiden und die Herrlichkeit Jesu werden von Jes 53 her verstanden. Entsprechend erhalten die Gestalt des Gottesknechts und der literarische Bestand der vier Gottesknechtslieder (Jes 42,1-9; 49,1-7; 50,4-11; 52,13-53,12) ihre Konsistenz durch die Identifikation mit der Passionsgeschichte Jesu: - Jesus war der leidende Gottesknecht (1 Petr 2,22-25), weil er keine Ungesetzlichkeit tat und kein Trug in seinem Mund war (Jes 53,9 LXX). - Er trug unsere Sünden (Jes 53,4LXX). Wir sind durch seine Wunden geheilt worden (Jes 53,5 LXX). - Alle irrten wir wie Schafe (Jes 53,6 LXX). Die hermeneutische Voraussetzung der christologischen Auslegung des Jesajabuchs wird bereits in der Danksagung erklärt: Der 1. Petrusbrief hält die Propheten für die Träger des Zeugnisses des heiligen Geistes von Christus und dem Heil (1 Petr 1,10-12) und liest folglich das Buch Jesaja und und die Geschichte der prophetischen Figur des Gottesknechts als Beschreibung und geistliche Interpretation der Leiden Jesu und der Leiden der Dissidenten. Die programmatische Aussage lautet in Anlehnung an das Buch Jesaja: Christus hat „ zu euren Gunsten “ und zu Gunsten der ganzen Menschheit (1 Petr 3,18-22) gelitten, indem er das Böse nicht mit Bösem beantwortet hat. Der Gottesknecht hat sein Leben für uns in dem präzisen Sinn dahingegeben, dass die durch die Leiden und die Auferstehung Jesu offenbarte Wahrheit 210 DRITTER TEIL: Der Tod Jesu in der Zeit nach Paulus <?page no="211"?> Gottes die Unterbrechung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs bedeutet: Schuldig waren „ wir “ , aber „ er “ hat die Auswirkungen unserer Taten trotz seiner Unschuld auf sich genommen, sodass das System der Entsprechung, nach dem wir die Konsequenzen unserer Taten tragen müssen, außer Kraft gesetzt wurde. Mit der offensiven Haltung, die sich in der Situation der Ungerechtigkeit gerecht verhält, hat Jesus die Möglichkeit der Gerechtigkeit geschaffen. Durch seine Wunden (seine Leiden) sind wir alle geheilt und aus der Orientierungslosigkeit gerettet worden (1 Petr 2,24): Die Verwandlung der Adressaten, die den Sünden gestorben sind und in einem neuen Leben für die Gerechtigkeit leben (1 Petr 2,24), konkretisiert sich im Übergang von der Verzweiflung der irrenden Schafe zur Hoffnung derer, die den Hirten und Hüter ihrer Existenz gefunden haben (1 Petr 2,25). Die Figur des Gottesknechts bietet eine plausible Verbindung zwischen der individuellen Singularität der ungerechten Leiden des Gerechten für die Ungerechten (vgl. 1 Petr 3,18) und der universalen Dimension eines Paradigmas: Die Geschichte des Gottesknechts erklärt, wie und wofür bekannt werden kann, dass „ auch “ Jesus für die Sünden gelitten hat und dass seine ungerechten Leiden gleichzeitig Begründung ( „ weil “ , kausal) und Paradigma des neuen Lebens sind ( „ auch “ , Koordination): Er hat uns geheilt und den Weg der Dissidenz eröffnet. Mit der offensiven Haltung des Gerechten, der unter der Ungerechtigkeit leiden musste, hat der Gottesknecht, der keine Sünde getan hat, in dessen Mund kein Trug gefunden wurde, der geschmäht nicht wieder schmähte und leidend nicht drohte (1 Petr 2,22-23), das politische Programm der offensiven Gewaltlosigkeit Christi und der Christen definiert. Die Interpretation des Todes Jesu als ungerechtes Leiden des gerechten Gottesknechts ist nicht nur eine neue Deutung des Todes und der Auferstehung Jesu, sondern auch eine Rezeption der alttestamentlichen Texte, die neu ausgelegt werden: Durch seine reale Menschwerdung in der historischen Person Jesus Christus gewinnt der Gottesknecht eine Bedeutung, die ihm Realität, Plausibilität und Relevanz verleiht: - Die Menschwerdung des Gottesknechts in Jesus Christus bereichert die literarische Gestalt einer anonymen prophetischen Figur mit einer persönlichen und historischen Konsistenz, die durch die Identifikation mit der Passion des Gottessohns gegeben wird. - Die Verkündigung des Todes und der Auferstehung Jesu als der Leidensgeschichte des Gottesknechts konstituiert eine Sinneinheit innerhalb des deuterojesajanischen Buches und der Gottesknechtslieder (Jes 42,1-9; 49,1-7; 50,4-11; 52,13-53,12). 2.1.6 Die Leiden und die Herrlichkeit Christi als Paradigma der universalen Veranwortung Christus ist Vorbild für die universale Verantwortung der Christen: Er ist als ein Gerechter für Ungerechte gestorben, damit die Adressaten des Briefes jetzt für Gott leben, aber auch, um die Seelen der Ungläubigen aus dem Tod zu holen. 2 Der Tod Jesu im ersten Petrusbrief 211 <?page no="212"?> 1 Petrus 3,18-22 (18) Weil auch Christus einmal für die Sünden gestorben ist, ein Gerechter für Ungerechte, damit er euch zu Gott hinführe, - getötet nach dem Fleisch, - lebendig gemacht nach dem Geist, (19) - in dem er, hingegangen, im Gefängnis gepredigt hat, zu den Geistern, (20) die einst ungehorsam waren, als die Langmut Gottes abwartete in den Tagen Noahs, während die Arche gebaut wurde, in der wenige, das heißt acht Seelen, durch das Wasser gerettet wurden, (21) - das als Taufe, sein Antitypus, auch euch jetzt rettet, nicht ein Ablegen der Unsauberkeit des Fleisches, sondern eine Bitte an Gott um ein gutes Gewissen durch die Auferstehung Jesu Christi, (22) - der zur Rechten Gottes (ist), aufgefahren in den Himmel, dem Engel, Autoritäten und Mächte unterworfen worden sind. Die Dissidenten müssen mit dem Risiko rechnen, als Gerechte für Ungerechte zu leiden. Auch Christus ist ja einmal für sie gestorben. „ Einmal “ verweist hier nicht auf die absolute Singularität des Todes Jesu (Hebr 9,26.27.28; 10,2), sondern auf seinen exemplarischen Charakter (vgl. Phil 4,16; 1 Thess 2,18). Die Umformulierung „ Christus hat für die Sünden gelitten “ (1 Petr 2,21; 4,1, vgl; 1 Petr 1,11) in „ er ist für die Sünden gestorben “ bereitet die Gegenüberstellung Tod/ Leben vor. In der irdischen Welt ist Christus gestorben und die Dissidenten leiden, aber Gott hat Jesus auferweckt und damit den Dissidenten Hoffnung gegeben (1 Petr 3,18). Die Kette der Relativsätze (1 Petr 3,19-20; 3,21; 3,22) begründet christologisch die neue Befindlichkeit und die universale Verantwortung der Christen als der erwählten Dissidenten Gottes: Erster Relativsatz: Die Logik der offensiven Gewaltlosigkeit Jesu ist durch den Geist gegeben. Christus hat die Seelen geholt, die nicht in der Arche Noahs gerettet worden waren. Die Szene ist parallel zu der Situation der Adressaten in der heidnischen Welt konstruiert. Die Anspielung auf die Tage Noahs ist als Synekdoche (Ersetzen eines Begriffs durch einen anderen) zu lesen: Die Zeitgenossen, die in der Arche nicht gerettet wurden, stehen für den Unglauben überhaupt. In dem Geist, der Christus lebendig gemacht hat, darf aber kein unerlöster Rest übrig bleiben (1 Petr 3,19-20). Zweiter Relativsatz: Wie die ungläubigen Seelen aus dem Wasser der Sintflut von Christus gerettet worden sind, sind die Christen aus dem Wasser der Taufe zur Hoffnung neu geboren worden (1 Petr 3,21). Dritter Relativsatz: Die Gegenüberstellung von Tod und Leben, aber auch von Fleisch und Geist (1 Petr 3,18 b) erhält ihre Relevanz dadurch, dass alle Mächte Christus unterworfen worden sind (1 Petr 3,22). 212 DRITTER TEIL: Der Tod Jesu in der Zeit nach Paulus <?page no="213"?> 2.1.7 Schlussbemerkung zum Leiden im 1. Petrusbrief Die Darstellung Christi als des Leidenden hat nicht die Funktion, das Leiden aufzuwerten, sondern vielmehr den Sinn, die Konfliktsituation des Leidens, in der sich die bekennenden Christen befinden, zu deuten und zu verarbeiten. Der Gedanke ist nicht: Alle, die zu den Erwählten gehören, sollen nach dem Leiden als nach einer geistigen oder ethischen Tugend streben. Der Sinn ist vielmehr: Die Dissidenten sollen wissen, dass sie die Erwählten Gottes sind. Dieses Wissen begründet ihre Hoffnung, und diese Hoffnung wird dadurch verstärkt, dass die Dissidenten ihre Erfahrung mit der Logik der Leiden Christi, der gelitten hat und verherrlicht wurde, deuten: - Das Verhältnis der Erwählten zur heidnischen Welt ist nicht elitär, sondern folgt aus ihrem Bewusstsein, Dissidenten in der Welt und für die Welt zu sein. - Die Aufgabe der Dissidenz ist durch die Erwählung Gottes definiert und begründet: Der Sinn der Erwählung besteht im Dienst Gottes für alle Menschen und in der tätigen und universalen Hoffnung, dass alle Menschen gerettet und das Leben haben werden (1 Petr 2,11-3,7; 3,13-16; 4,15-16). 2.2 Als Kontrapunkt: Paul Tillich - die Frage nach dem „ Neuen Sein “ und der Sinn des Christus-Symbols Der 1. Petrusbrief formuliert, wie wir gesehen haben, eine systematische Darstellung des christlichen Glaubens. Das doppelte Ereignis des Todes und der Auferstehung Jesu, das der Brief mit den Begriffen Leiden und Herrlichkeit interpretiert, wird als das singuläre Moment der Geschichte bekannt, in dem Gott die Menschen erwählt und ihnen Sinn, Orientierung und Hoffnung geschenkt hat. Ihre Erwählung macht die Glaubenden in der menschlichen Gesellschaft zu Fremdlingen (1 Petr 1,1; 2,11) und Dissidenten, weil ihre innere Haltung und Verhaltensweisen durch ihre neue Zugehörigkeit zum Haus Gottes (1 Petr 2,1-10) offensiv bestimmt werden. Diese konsequente Interpretation des Christentums lässt sich auf keinen anderen Lehrbegriff des neutestamentlichen Kanons zurückführen. Einzelne Aspekte des 1. Petrusbriefs sind in der Theologiegeschichte später wiederaufgenommen worden, wenn zum Beispiel Luther in seiner Erklärung des zweiten Artikels des Apostolikums im Kleinen Katechismus die Erlösung der Sünder „ nicht mit vergänglichem Silber, sondern mit dem kostbaren Blut Christi “ (1 Petr 1,18-19) herausstellt. 16 Anders als im 1. Petrusbrief steht bei Luther allerdings eine individuelle Deutung im Vordergrund. Auch wenn sich keine ausdrückliche Kontinuität feststellen lässt, fallen inhaltliche Konvergenzen zwischen der petrinischen Strategie der Dissidenz 16 Vgl. dazu im ersten Teil dieses Essays Kapitel 1.3.1 „ Die Stellvertretung Jesu als theologiegeschichtliches Problem “ . 2 Der Tod Jesu im ersten Petrusbrief 213 <?page no="214"?> und dem intellektuellen Projekt, das dem Denken Paul Tillichs zugrunde liegt, auf: - Gemeinsam ist das apologetische Anliegen, durch eine rationale Darstellung des Christentums und (im 1.Petrusbrief) durch die Kohärenz des dissidenten Verhaltens Nichtchristen von der Wahrheit des Christentums zu überzeugen. - Gemeinsam ist die Betonung des Glaubens als Sinngebung der Existenz und neues Sein. Beides verleiht dem Menschen seine wahre Indentität. - Gemeinsam ist die Begründung in einer Offenbarung Gottes, die ihr Zentrum im Paradox der Menschwerdung, des Todes und der Auferstehung Jesu hat. 2.2.1 Systematische Theologie als moderne Apologetik Paul Tillich (1886 - 1965) hat sich in seinem wissenschaftlichen Werk besonders mit den Beziehungen zwischen der Theologie und der Religions- und Kulturphilosophie beschäftigt. Dabei ging es ihm um die Überwindung der Widersprüche zwischen Religion und Kultur. Bei seiner wissenschaftlichen Arbeit wandte er eine für ihn typische Korrelationsmethode an, um die Übereinstimmungen zwischen Religion und Kultur herauszuarbeiten und von der christlichen Botschaft her zu interpretieren. In den Jahren 1951 bis 1963 entstand nach zahlreichen Veröffentlichungen als Spätwerk die „ Systematic Theology “ , die in deutscher Übersetzung als „ Systematische Theologie “ erschien und drei Bände umfasst. 17 In seinem Ansatz stellt Tillich das durch das Christus-Symbol repräsentierte „ Neue Sein “ des Menschen in den Mittelpunkt. Geboren wurde Tillich in Starzeddel (heute Starosiedle, Polen). Nach dem Besuch des Gymnasiums studierte er in Berlin, Tübingen, Halle und Breslau, promovierte in Breslau mit der Dissertation „ Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien “ 18 zum Doktor der Philosophie und in Halle mit der Arbeit „ Mystik und Schuldbewusstsein in Schellings philosophischer Entwicklung “ zum Lizentiaten der Theologie. Als Militärgeistlicher im Ersten Weltkrieg habilitierte er sich in Halle mit dem Thema „ Der Begriff des Übernatürlichen, sein dialektischer Charakter und das Prinzip der Identität, dargestellt an der supranaturalistischen Theologie vor Schleiermacher “ 19 . Anschließend lehrte Tillich als Professor für systematische Theologie in Marburg, Dresden, Leipzig und Frankfurt. Nachdem er 1933 von den Nationalsozialisten aus dem Dienst entlassen worden war, emigrierte er in die USA und lehrte am Union Theological Seminary in New York, seit 1955 an der Harvard-Universität und zuletzt an der Universität Chicago. 17 Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. I-III, Stuttgart 1963. 18 Breslau 1910. 19 Königsberg/ Neumark 1915. 214 DRITTER TEIL: Der Tod Jesu in der Zeit nach Paulus <?page no="215"?> 2.2.2 Die Korrelationsmethode In der Einleitung zum zweiten Band seiner Systematischen Theologie 20 , der sich vor allem mit der Christologie beschäftigt, erläutert Tillich noch einmal die von ihm angewandte Korrelationsmethode. Er wähle diese Methode, weil er den Anspruch, über Offenbarungswahrheiten zu verfügen, für „ arrogant “ halte. Die Korrelationsmethode bestehe für ihn in der wechselseitigen Beziehung von existentiellen Fragen und theologischen Antworten. Zwar sei die „ Substanz “ der theologischen Antworten „ unabhängig “ von den Fragen, auch erzeuge eine Frage nicht schon die Antwort, doch der Mensch könne sie aufnehmen und in seiner Antwort die „ Ernsthaftigkeit der existentiellen Situation “ berücksichtigen. Selbstverständlich könne auch diese Methode „ verfälscht “ werden und den Offenbarungscharakter der Antworten in Frage stellen. Das sei jedoch kein prinzipieller Einwand gegen die gewählte Methode. Auch die Theologie sei wie alle Bemühungen des menschlichen Geistes „ zweideutig “ . Eine neue Methode sei es außerdem nicht: „ Wir haben mit der Methode der Korrelation keine neue Antwort eingeführt, sondern vielmehr den Sinn der apologetischen Theologie herauszuarbeiten versucht. “ 2.2.3 Die Frage nach dem „ Neuen Sein “ Bevor Tillich das „ Christus-Symbol “ behandelt, erläutert er, worin in dieser Hinsicht die Frage besteht. 21 Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass sich jeder Mensch existentiell zu verwirklichen suche. Doch gerade hier sei die „ Entfremdung “ besonders deutlich. Tillich geht in diesem Zusammenhang auf die Auseinandersetzung zwischen Luther und Erasmus über den freien Willen des Menschen ein. Er gibt hier einerseits Erasmus, andererseits Luther recht. Erasmus habe die „ essentielle Willensfreiheit “ verteidigt und auf die „ moralische Verantwortlichkeit “ des Menschen hingewiesen, die aber von Luther gar nicht bestritten worden sei. Wenn der Reformator mit der „ Knechtschaft des Willens “ als „ universalem Faktum “ argumentiert habe, habe er eine „ religiöse Wahrheit “ im Blick gehabt, während Erasmus eine „ psychologische Wahrheit “ vertreten habe. Luther habe ausgeführt, dass das göttliche Gesetz nicht erfüllt werde, „ wenn es nicht freudig erfüllt “ werde. Er habe in seiner Schrift „ De servo arbitrio “ ausgeführt, dass „ alle Versuche, die existentielle Entfremdung zu überwinden “ , nur zu „ tragischem Misslingen “ führten. Der freie Wille, über den Luther und Erasmus gestritten hätten, sei philosophisch letztlich nichts anderes als „ unser Selbst “ . Um verantwortlich zu handeln, sei der Mensch auf ein „ Neues Sein “ angewiesen, das er aber von sich aus nicht erreichen könne. Ein wirklicher Gegensatz zu Erasmus sei das nicht: „ Die Vereinigung mit Gott muss vorangegangen sein. Nur ein Neues Sein kann neues Handeln schaffen. “ 20 Systematische Theologie, Bd. II, bes. 19 - 22. 21 Vgl. a. a. O. 87 - 106. 2 Der Tod Jesu im ersten Petrusbrief 215 <?page no="216"?> 2.2.4 Die Frage nach der Erlösung Um die in Christus geschehene Erlösung angemessen auszusagen, ist es nach der Korrelationsmethode notwendig, zunächst die entsprechende Ausgangsfrage im Menschen selbst zu formulieren. Geht das Sein dem Handeln voraus, trifft die Erlösung durch Jesus Christus auf die Hoffnung auf Erlösung. Konkret heißt das: „ Die Frage nach der Erlösung kann nur gestellt werden, wenn Erlösung - und sei sie noch so fragmentarisch - bereits am Werk ist. “ „ Die Frage nach dem Neuen Sein setzt die Gegenwart des Neuen Seins voraus, ebenso wie die Frage nach der Wahrheit die Gegenwart der Wahrheit voraussetzt. “ Für Tillich ist dieser „ theologische Zirkel “ eine „ Konsequenz des nichtdeduktiven, existentiellen Charakters der Theologie “ Infolgedessen sei es von großer Bedeutung, warum und in welchen Formen die Menschen überhaupt auf Erlösung hofften. Tillich untersucht die Wege, auf denen die Menschen unter großen Anstrengungen Erlösung suchen. An erster Stelle nennt er den „ legalistischen “ Weg. Unter Legalismus versteht Tillich die genaue Befolgung göttlicher Gebote. „ Wo . . . Gebote sind, da entsteht die Versuchung zum Legalismus. “ Dieser beeindrucke durch „ unbedingte Ernsthaftigkeit “ , aber „ die Unfähigkeit, die Wiedervereinigung des Existierenden mit dem Wesenhaften zu erreichen, nimmt ihm die Möglichkeit, zum Heilsweg zu werden “ . Ein zweiter Weg zur Erlösung sei der asketische Weg. Askese sei an sich „ ein notwendiges Element in jedem Akt moralischer Selbstverwirklichung “ , aber die - im Extremfall - „ völlige Negation der Endlichkeit “ versuche, sich über die Wirklichkeit zu erheben. Deshalb sei dieser Weg gleichfalls ein „ Irrweg “ Auch mystische Wege führten nicht weiter. Zwar sei das Mystische „ das Herz aller Religion “ ; denn „ eine Religion, die nicht sagen kann: ‚ Gott ist gegenwärtig ‘ , wird zu einem System moralischer und lehrhafter Regeln “ , aber der Versuch der Mystik, „ alle Sphären des endlichen Seins zu transzendieren “ , müsse notwendig scheitern. Auch sakramentale und „ doktrinelle “ Wege zum Beispiel im Katholizismus oder auch im lutherischen Protestantismus oder „ emotionale “ Wege wie im Pietismus seien letztlich Erscheinungsformen einer Suche nach Selbsterlösung. Wohl seien „ die persönliche Begegnung mit Gott und die Wiedervereinigung mit ihm das Herzstück aller echten Religion “ , aber hier zeige sich, „ dass das Negative von der Verkehrung des Positiven lebt “ . Tillich geht den verschiedenen religiösen Erlösungswegen nicht deshalb nach, weil er sie auf eine vergleichbare Stufe mit der Lehre der Kirche stellen möchte. Er unterscheidet sehr wohl die Erlösung in Jesus Christus von den Wegen einer Selbsterlösung. Alle bekannten Religionen - und auch bestimmte Erscheinungsformen der Kirche - hätten die Selbsterlösung des Menschen zum Ziel. Doch auch in ihrem Scheitern seien alle diese Wege für die christliche Dogmatik nicht bedeutungslos. Tillich findet in den im einzelnen ganz unterschiedlichen religiösen Erlösungswegen zwei auch für die christliche Dogmatik wichtige Ansatzpunkte: die „ Erkenntnis der eigenen Entfremdung “ und den „ Wunsch nach Erlösung “ . Anhand dieser Ansatzpunkte konstatiert Tillich das „ Wirken erlösender Kräfte im Menschen “ . Sowohl in den poly- 216 DRITTER TEIL: Der Tod Jesu in der Zeit nach Paulus <?page no="217"?> theistischen als auch in den geschichtlich wirksam gewordenen monotheistischen Religionen zeige sich das „ Verlangen nach einem Neuen Sein “ . Damit formulierten die religiösen Versuche des Menschen, Erlösung zu finden, eine Frage, auf die die christliche Botschaft zu antworten habe. Die Frage sei offensichtlich „ universal “ und ein ernstzunehmender kultureller Faktor. In ihr äußert sich für Tillich eine bereits vorhandene „ Offenbarungserfahrung “ . Sie müsse im Rahmen der Korrelationsmethode aufgegriffen werden, um verstehbar zu machen, worin die Bedeutung der Offenbarung in Christus bestehe. 2.2.5 Das Christus-Symbol - sein geschichtlicher Charakter Eine Korrelationsmethode steht in der Gefahr, dass die absolute Singularität des Christusereignisses zugunsten einer Vielzahl existentieller Fragen abgeschwächt wird. Dagegen schützt sich Tillich, indem er den geschichtlichen Charakter dieses Ereignisses herausstellt, freilich ohne den Kreuzestod Christi besonders zu betonen. Das Christentum verwende für das zentrale Ereignis seiner Geschichte ein bestimmtes geschichtliches Symbol, das Messias- oder Christus-Symbol. In ihm komme die „ Universalität der Erwartung des Neuen Seins “ zum Ausdruck. Das Christentum habe „ eine große Menge symbolischen Materials “ aus den sozialen Strukturen seiner Umwelt, besonders aus dem Spätjudentum, übernommen. Das Christus-Symbol sei aber streng geschichtlich gedacht. Der Messias „ rettet nicht Individuen auf einem Heilsweg, der sie aus der geschichtlichen Existenz herausführt, sondern er verwandelt die historische Szene selbst “ . Wenn das Christentum einen universalen Anspruch erhebe, behaupte es „ indirekt, dass die verschiedenen Formen, in denen das Verlangen nach dem Neuen Sein im Laufe der Zeit erschien, in Jesus als dem Christus erfüllt worden “ seien. Geschichtlich habe die Kirche in ihren Anfängen in der Gefahr gestanden, dass „ die horizontale Linie des Alten Testaments “ von der „ vertikalen Linie des Hellenismus “ verdrängt worden wäre. Die Kirche habe jedoch gegen die Gnosis den geschichtlichen Charakter des Christentums durchgehalten. 2.2.6 Das Christus-Symbol - sein paradoxer Charakter Wohl aus dem gleichen Grund wie bei seiner Betonung des geschichtlichen Charakters des Christus-Symbols setzt sich Tillich mit dem Begriff des „ Paradoxes “ auseinander, einem Begriff, den er - wie schon Kierkegaard - für die Interpretation des Christusgeschehens verwendet: „ Die christliche Behauptung, dass das Neue Sein in Jesus als dem Christus erschienen ist, ist paradox. “ Das Paradox dürfe jedoch nicht mit anderen Begriffen verwechselt werden. Die Aussage, dass Jesus der Christus sei, sei weder dialektisch noch irrational, weder als absurd noch als sinnlos zu verstehen. Das alles wären nach Tillich Fehlinterpretationen; denn die Erlösung in Christus richte sich „ gegen die Selbstbeurteilungen und gegen die Erwartungen des Menschen “ . „ Paradox ist, was der doxa, der Meinung widerspricht, die auf die alltägliche Erfahrung - sowohl ihre empirischen wie ihre rationalen Elemente - gegrün- 2 Der Tod Jesu im ersten Petrusbrief 217 <?page no="218"?> det ist. Das christliche Paradox steht gegen diese Meinung, die abgeleitet ist von der existentiellen Situation des Menschen, insbesondere den natürlichen Erwartungen in ihr. “ 2.2.7 Christus als Träger des „ Neuen Seins “ Christus ist für Tillich der „ Träger des Neuen Seins “ . Die traditionelle Dogmatik spreche an dieser Stelle von Christus als dem Mittler. Dieser Gedanke werde meist so gedeutet, dass Christus der Mittler zwischen Gott und den Menschen sei. Tillich interpretiert die Funktion, Mittler zu sein, jedoch so: „ Eine Brücke bilden über die unendliche Kluft zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen, zwischen dem Unbedingten und dem Bedingten “ . Das Mittlersein Christi sei keine „ dritte Wirklichkeit “ zwischen Gott und den Menschen: „ Der Erlöser befreit Gott nicht von der Notwendigkeit zu verdammen. Alles Vermitteln und Erlösen kommt von Gott selbst. Gott ist immer das Subjekt, nie das Objekt von Vermittlung und Erlösung. “ Christus „ repräsentiere “ Gott dem Menschen gegenüber, und zwar so, dass er das „ wesenhafte Menschsein “ repräsentiere. aber er repräsentiere nicht den Menschen gegenüber Gott. Ein ontologisches Verständnis der Mittlerschaft Christi lehnt Tillich entschieden ab. Der Mittler „ zeigt denen, die unter den Bedingungen der Existenz leben, was der Mensch essentiell ist und darum sein sollte “ . Hier nimmt Tillich den Begriff des Paradoxes wieder auf: „ Das Paradox der christlichen Botschaft besteht darin, dass in einem personhaften Leben das Bild wesenhaften Menschseins unter den Bedingungen der Existenz erschienen ist, ohne von ihnen überwältigt zu werden. Man könnte von wesenhafter Gott-Mensch-Einheit in der Existenz sprechen, aber die Klarheit des Gedankens ist besser gewährleistet, wenn man einfach von wesenhaftem Menschsein unter den Bedingungen der Existenz spricht. “ 2.2.8 Inkarnation als Paradoxie Von dem Paradox des Christus-Symbols her muss nach Tillich auch der Begriff der Inkarnation interpretiert werden. Dieser Begriff werde in der Regel herangezogen, um das Gründungsereignis des Christentums zur Sprache zu bringen. Die Antwort auf die Frage „ Wer ist das Subjekt der Inkarnation? “ laute meist: „ Gott “ oder „ Gott ist Mensch geworden “ . Diese Behauptung sei jedoch nicht paradox, sondern sinnlos, solange sie wörtlich genommen und nicht interpretiert werde. Inkarnation sei an sich ein Begriff aus dem Heidentum und könne auch polytheistisch als „ Transformation eines göttlichen Wesens in ein menschliches Wesen “ verstanden werden. Nur wenn man modifiziere und dem Prolog des Johannesevangeliums folge, dass der Logos Fleisch wurde, verstehe man den Begriff richtig. Es handele sich „ hier nicht um einen ‚ Verwandlungsmythos ‘ , sondern um die Botschaft, dass Gottes erlösende Teilnahme an der menschlichen Situation in einem personhaften Leben offenbar geworden ist “ . Man müsse den Begriff im Sinn des christlichen Paradoxes verwenden und ihn im Sinn des Neuen Seins verstehen und auslegen. 218 DRITTER TEIL: Der Tod Jesu in der Zeit nach Paulus <?page no="219"?> 2.2.9 Die Grundfrage nach dem „ wesenhaften Menschsein “ Das Paradox des Christus-Symbols stellt notwendigerweise eine Grundfrage. Tillich formuliert sie ganz ähnlich wie Teilhard de Chardin 22 : „ Wie soll man das Symbol des Christus verstehen angesichts der ungeheuren Dimensionen des Universums, der heliozentrischen Systeme der Planeten, des winzigen Teiles des Universums, auf dem sich die menschliche Geschichte abspielt, und der Möglichkeit anderer Welten, in denen göttliche Selbstmanifestationen stattfinden und aufgenommen werden können? “ Tillich sieht die Antwort entsprechend seinem Ansatz in dem „ Begriff des wesenhaften Menschseins, das unter den Bedingungen existentieller Entfremdung in einem personhaften Leben erscheint “ . Diese Antwort lasse sich „ vielleicht “ noch erweitern: „ Die Erwartung des Messias als Träger des Neuen Seins setzt voraus, dass ‚ Gott das Universum liebt ‘ , auch wenn er seine Liebe in der Erscheinung des Christus für den geschichtlichen Menschen allein aktualisiert hat. “ 2.3 Ertrag: Leiden und Herrlichkeit Christi als apologetisches Paradigma Das „ Christus-Symbol “ , wie es die systematische Theologie Paul Tillichs definiert, und die Singularität der Leiden und der Herrlichkeit Christi, wie sie die Prima Petri versteht, interpretieren mit unterschiedlichen Akzenten den Tod Jesu und seine Auferstehung als das Ereignis, in dem Gott sich selbst und das „ Neue Sein “ als wesenhaftes Menschsein offenbart. Beiden Ansätzen gemeinsam ist sowohl die existentielle Fragestellung als auch die Deutung der persönlichen Geschichte Jesu als des historischen Ereignisses, das die Wahrheit der menschlichen Existenz zu erkennen gibt. 2.3.1 Die Korrelation zwischen kultureller Frage und evangelischer Antwort Die „ Erkenntnis der eigenen Entfremdung “ , der „ Wunsch nach Erlösung “ und das durch die Erwählung Gottes und durch Leiden und Herrlichkeit Jesu Christi offenbarte „ Wirken erlösender Kräfte im Menschen “ (Tillich) bilden auch drei wesenntliche Momente des historischen Rückblicks, mit dem die Prima Petri die geistige Geschichte ihrer Adressaten zusammenfasst. Die Leiden, die die Befindlichkeit der Dissidenten kennzeichnen, dürfen nicht als Falsifizierung, sondern müssen als Bestätigung der Erwählung ausgelegt werden. Als Bürgerinnen und Bürger des Hauses Gottes und folglich als Fremde in der Welt der Heiden sollen sich die Christen darauf 22 Vgl. dazu im ersten Teil dieses Essays Kapitel 3.2: „ Als Kontrapunkt: Pierre Teilhard de Chardin, Le milieu Divin “ . 2 Der Tod Jesu im ersten Petrusbrief 219 <?page no="220"?> vorbereiten, in der Zeit ihres irdischen Lebens zu leiden, wie bereits Christus gelitten hat: 1 Petrus 4,1-2 (1) Da nun Christus im Fleisch/ nach dem Fleisch gelitten hat, wappnet euch auch mit derselben Einsicht; denn wer im Fleisch/ nach dem Fleisch leidet, ist zur Ruhe gekommen von der Sünde, (2) damit ihr die noch übrige Zeit im Fleisch lebt - nicht mehr den Begierden der Menschen, - sondern dem Willen Gottes. Die Argumentation folgt keiner asketischen Logik, als ob die Leiden die Sünden besiegen würden. Sie stellt vielmehr fest, dass die Leiden als Indiz für einen Herrschaftswechsel wahrzunehmen sind. Wer sich von der Macht der Sünde hat befreien lassen und sich durch die Sünde nicht mehr beunruhigen lässt, wird mögliche Konflikte mit der ungläubigen Welt ebenso wenig vermeiden, wie es Christus tat. Deshalb sollen sich die Dissidenten nicht verunsichern, beirren und entmutigen lassen, sondern dem Paradigma Christi folgen und sich mit der Einsicht wappnen, dass ihre Existenz vom Willen Gottes und nicht durch menschliche Willensäußerungen bestimmt wird. Die Ursache der Leiden besteht darin, dass die Dissidenten die konsensfähigen, aber trügerischen Antworten der gottlosen Welt auf die existentiellen Fragen gegen die Erwählung durch Gott getauscht haben. Sie haben die eigene Entfremdung erkannt und das Wirken der erlösenden Kräfte des Geistes erfahren. So konnten sie die Solidarität mit der Religion ihrer ehemaligen Freunde aufgeben und mit der eigenen Vergangenheit brechen. 1 Petrus 4,3-4 (3) Denn genug Zeit ist vergangen, dass ihr den Willen der Heiden getan habt, indem ihr dahingingt in - Schwelgereien, - Begierden, - Weinsucht, - Essgelagen, - Trinkgelagen - und frevelhaftem Götzendienst, (4) indem es sie befremdet, dass ihr nicht mehr mit ihnen in demselben Strom der Heillosigkeit lauft, und sie lästern. Vergangenheit und Gegenwart werden gegenübergestellt und entsprechen zwei alternativen Wegen zum Glück oder zum Heil. Die Empfänger des Briefes haben sich zum allgemeinen Unverständnis von den religiösen Antworten 220 DRITTER TEIL: Der Tod Jesu in der Zeit nach Paulus <?page no="221"?> abgewandt, die das soziale Leben der hellenistisch-römischen Gesellschaft gestalteten. Der „ Wille der Heiden “ und das Bild des gemeinsamen Mitlaufens im Strom der Heillosigkeit deuten sich wechselseitig: Die Teilnahme an den religiösen Festen bewirkte und sicherte die soziale und politische Einmütigkeit, sodass der Rückzug der Dissidenten als Ablehnung der gemeinsamen Werte und als persönlicher Loyalitätsbruch erscheinen musste. Der „ Lasterkatalog “ bekommt seinen Sinn vom letzten Glied der Kette: Verworfen wird nicht ein vermeintlich unmoralisches Verhalten, sondern ein falscher Gottesdienst - präziser: der Dienst der falschen Götter - und damit die illusorische Verarbeitung existentieller Fragen, die tatsächlich nur durch die Erlösung beantwortet werden können. Daher folgen Empfehlungen, nach dem Geist für Gott zu leben: (1 Petr 4,1-11): 1 Petrus 4,7-11 (7) Das Ende von allem ist nahe gekommen. Seid also weise und nüchtern zum Gebet! (8) - Vor allem habt inwendige Liebe zueinander; denn die Liebe deckt eine Menge von Sünden. (9) - Seid gastfrei untereinander ohne Murren! (10) - Wie jeder eine Gnadengabe bekommen hat, so dient damit einander als gute Ökonomen der vielfältigen Gnade Gottes. (11) - Wenn jemand spricht, wie Rede Gottes. - Wenn jemand Dienst leistet, aus der Kraft, die Gott gewährt. 2.3.2 Die Suche nach dem Sinn Die religiöse und existentielle Bedeutung des bisherigen Lebenswandels, den die Dissidenten des 1. Petrusbriefes für die Gnadengaben Gottes aufgegeben haben, ergibt sich aus der Parallelität der drei biographischen Skizzen des Briefes: 1 Petr 4,4 1 Petr 1,18 1 Petr 2,25 Ihr lauft nicht mehr mit den Heiden in demselben Strom der Heillosigkeit. Ihr seid von eurer nichtigen, von den Vätern überkommenen Lebensweise losgekauft worden. Ihr wart wie irrende Schafe, aber jetzt seid ihr hingewendet worden zum Hirten und Hüter eurer Seelen. Die heidnische Vergangenheit der Dissidenten wird parallel beschrieben: - als nichtige Lebensweise, das heißt als existentielle Leere (1 Petr 1,28), - als der Weg irrender Schafe, das heißt als Existenz in der Orientierungslosigkeit (1 Petr 2,25), - als Mitlaufen in einem kollektiven Strom der Heillosigkeit, das heißt auf einem religiösen Irrweg (1 Petr 4,4). 2 Der Tod Jesu im ersten Petrusbrief 221 <?page no="222"?> Der Übergang vom heidnischen zum christlichen Leben geht nicht von einer noch unbeantworteten Frage zu der Antwort über, sondern von einer Antwort aus, die in Wahrheit in die Sinnlosigkeit und Orientierungslosigkeit - Blaise Pascal hätte geschrieben: dans le divertissement - führte. Die Dissidenten haben sich nicht von einer Frage zu einer Antwort bekehrt. Sie haben sich vielmehr von einer religiösen Antwort, die auf den Wunsch des Menschen nach Erlösung hinweist, ihn aber nur sich selbst entfremdet, zu einer anderen, von der „ Normalität “ unvermeidlich abweichenden, Antwort bekehrt, die Gott vor der Grundlegung der Welt gegeben und in den Leiden und in der Herrlichkeit Christi offenbart hat. 2.3.3 Die Antwort durch die Offenbarung der Leiden und der Herrlichkeit Die Bedeutung des Todes und der Auferstehung Jesu besteht sowohl für den 1. Petrusbrief als auch für Tillich in der korrelativen Wahrnehmung der existentiellen Sinnfrage und der Offenbarung des „ Neuen Seins “ . Die Argumentation des Briefes ist klar: Gott, der Christus die Herrlichkeit gegeben hat, hat an Ostern die offensive Haltung der Selbsthingabe und Gewaltlosigkeit als Wahrheit und Sinn des Menschseins offenbart. Die Bereitschaft Jesu, als Gerechter für Ungerechte zu leiden, die Sünden der Menschheit an das Kreuz hinaufzutragen, ergeben die Möglichkeit und das Vorbild des „ Neuen Seins “ : 1 Petr 4,1-2 1 Petr 1,21 1 Petr 2,24 1 Petr 2,25 Christus als Mittler und Paradigma Da Christus im Fleisch/ nach dem Fleisch gelitten hat, wappnet euch mit derselben Einsicht, Durch Christus glaubt ihr an Gott, der ihn von den Toten auferweckt und ihm Herrlichkeit gegeben hat, Christus hat unsere Sünden selbst hinaufgetragen in seinem Leib an das Holz, Durch Christi Wunden seid ihr geheilt worden. Glaube, Hoffnung, Existenz durch und für die Gerechtigkeit und Behütet-Sein damit ihr die noch übrige Zeit im Fleisch nicht mehr den Begierden der Menschen, sondern dem Willen Gottes lebt. sodass euer Glaube auch Hoffnung auf Gott ist. damit wir, den Sünden abgestorben, der Gerechtigkeit leben. Denn ihr wart wie irrende Schafe, aber jetzt seid ihr hingewendet worden zum Hirten und Hüter eurer Seelen. 222 DRITTER TEIL: Der Tod Jesu in der Zeit nach Paulus <?page no="223"?> Die Aufgabe der Dissidenz ergibt sich aus der in Christus offenbarten transzendenten Begründung der persönlichen Identität. Freiheit und Verantwortung der Dissidenten verweisen auf eine Heimat, die der Welt fremd ist, weil sie nicht zu der Immanenz der religiösen, gesellschaftlichen und politischen Struktur der Wirklichkeit gehört. Die Deutung des Todes und der Auferstehung Jesu, die der 1. Petrusbrief stringent entfaltet, definiert die Wahrheit der menschlichen Existenz jenseits der kulturellen Konformitäten, der religiösen Konsense und der politischsozialen Gesetzmäßigkeiten der Anerkennung, aber auch jenseits der Vollkommenheitsideale der inviduellen Authentizität. Sie entwickelt als Konsequenz der Gottesoffenbarung in Christus eine Apologetik, die die Wahrheit der Verheißung Gottes bezeugt und eine Strategie entwirft, die auch diejenigen, die durch das Wort allein nicht überzeugt werden können (1Petr 3,1), von ihrer existentiellen Plausibilität überzeugen kann. 2 Der Tod Jesu im ersten Petrusbrief 223 <?page no="224"?> 3 Der Tod Jesu in der Apokalypse des Johannes Den Visionen der Apokalypse des Johannes und den Kompositionen von Olivier Messiaen, auf die wir anschließend eingehen werden, ist der Ansatz gemeinsam, in Bildern und Farben zu denken. In der brieflichen und narrativen Eröffnung der Apokalypse (Apok 1,1-11) berichtet Johannes, vom Menschensohn den Auftrag erhalten zu haben, die ihm gegebenen Offenbarungen in Form eines Buches aufzuschreiben und der universalen Kirche, die die sieben Gemeinden vertreten, mitzuteilen. Apokalypse 1,10-11 (10) Ich war im Geist am Tag des Herrn und hörte hinter mir eine große Stimme, wie von einer Trompete, die sagte: (11) „ Was du siehst, schreibe es in ein Buch und sende es den sieben Kirchen, nach Ephesus und nach Smyrna und nach Pergamon und nach Thyatira und nach Sardes und nach Philadelphia und nach Laodizea. “ Mit einem breiten Repertoire, das die prophetische Tradition und die jüdische Apokalyptik, aber auch die politische und religiöse Sprache des römischen Imperiums aufnimmt, stellt der Seher aus Patmos sein Werk ausdrücklich als die Inszenierung einer Argumentation vor. Die ihm mitgeteilte Offenbarung will „ zeigen “ (Apok 1,1). Die Argumentation nimmt die Form eines Buches mit einer Abfolge von Bildern an, die dramatisch darstellen, was in Kürze geschehen wird (Apok 1,1): - Die Visionen deuten die Weltgeschichte. Sie wird dadurch entschlüsselt, dass der Seher das Wort Gottes und das Zeugnis Christi bezeugt (Apok 1,2). - Die Weltgeschichte wird von Ostern her verstanden. Der Seher sieht sie so, wie sie die Visionen offenbaren und ihre Deutungen erklären: Das „ Lamm “ hat die Mächte der Verführung besiegt, und sein Zeugnis hat die Kraft, die Weltgeschichte zu deuten. Die Bilder und Visionen stellen unter verschiedenen, sich gegenseitig ergänzenden Aspekten die Wirklichkeit vom Gesichtspunkt der Herrschaft des erhöhten Menschensohns aus dar. - Da die Weltgeschichte ihren Sinn von Ostern her bekommt, offenbart sich das „ Blut des Lammes “ - als Metanymie für seinen Tod als Zeuge - als Wahrheitskriterium sowohl für das Verständnis des Todes Jesu als auch für das Selbstverständnis der bekennenden Zeugen. 224 DRITTER TEIL: Der Tod Jesu in der Zeit nach Paulus <?page no="225"?> 3.1 Der Tod Jesu als aktives und passives Bekenntnis (Apokalypse 5,1-14; 12,10-20; 19,11-16) Die Architektur der Apokalypse ist weder narrativ noch diskursiv. Der Tod und die Auferstehung Jesu bilden weder den Horizont und das angekündigte Ziel einer erzählerischen Kontinuität, wie es in den vier kanonischen Evangelien der Fall ist, noch konstituieren sie den logischen Begründungszusammenhang einer systematische Darstellung des christlichen Glaubens wie in den Paulusbriefen, im Hebräerbrief und im 1. Petrusbrief. Vielmehr strukturiert nach der ersten christologischen Vision, die den Auferstandenen als Auftraggeber des Buches erscheinen lässt (Apok 1,10-11.12-20), und nach dem Anfang der Thronvision, die dem Lamm die Autorität zuerkennt, die Weltgeschichte mit dem Wort Gottes zu deuten (Apok 4,1-5,14), das Motiv des Todes Jesu - das Blut des Lammes (Apok 1,5; 5,9; 6,10; 7,14; 12,11; 16,3-6; 17,6; 18,24; 19,13) - die verschiedenen Zyklen der visionären Bilder. 3.1.1 Tod und Auferstehung Jesu in der Architektur der Apokalypse Die Architektur der Johannesapokalypse besteht aus drei Visionenzyklen, die in einen brieflichen und narrativen Rahmen gestellt sind: 23 - Zu der Vision des Menschensohns (Apok 1,12-3,22) gehören als eine erste Siebenerreihe die sieben Schreibaufträge an die sieben Kirchen (Apok 2,1-3,22). Geschaut werden das bekennende Zeugnis der Kirchen und die Herrlichkeit des lebendigen Lammes. Der Auferstandene erscheint mit der Kraft seines Wortes und mit seiner Macht, die die Kirchen trägt und schützt. Er offenbart sich als der, der tot war, den Tod und das Reich des Todes besiegt hat und ewig leben wird. - Die Vision des Thrones (Apok 4,1-19,10) ist als Triptychon (dreiteiliges Altarbild) gebaut. In der Mitte stehen drei Visionen vom Sieg des Lammes und der Zeugen über den Drachen (Apok 12,1-14,4), links die Siebenerreihe der sieben Siegel, die die Siebenerreihe der sieben Posaunen mit einschließt (Apok 4,1-11,19), und rechts die Visionen und Deutungen vom Gericht und Fall Babylons und vom Sieg des Lammes (Apok 14,6-18,10). Das Triptychon enthält kein Programm der einzelnen Etappen eines apokalyptischen Weltendes und ist auch nicht als dramatische Darstellung einer fortlaufenden Geschichte gestaltet. Der gleiche Sachverhalt wird vielmehr unter verschiedenen Aspekten offenbart. Der lebendige Herr, der von den Toten auferstanden ist, offenbart die Mächte, die die Weltgeschichte bestimmen, unter anderem die Kraft des Wortes Gottes, des Lammes und der Märtyrer (Apok 6,1-4; 6,9-11; 7,1-17; 11,1-13), indem er das Buch mit den sieben Siegeln öffnet (Apok 4,1-11,19). Die Visionen zeigen symmetrisch das 23 Jaques Ellul, L ’ apocalypse. Architecture en mouvement, L ’ athéisme interrogé, Paris 1975; Neue Auflage: Essais bibliques 44, Genève 2009. Deutsche Übersetzung: Apokalypse: die Offenbarung des Johannes. Enthüllung der Wirklichkeit, Neukirchen-Vluyn 1981. 3 Der Tod Jesu in der Apokalypse des Johannes 225 <?page no="226"?> Gericht, das sich in den Zerstörungen auf der Erde und in der Verzweiflung der Menschen offenbart (Apok 8,1-9,21; 17,1-18,24), und den Sieg, den das Blut des Lammes und das Blut der bekennenden Zeugen über die Verführungen errungen haben (Apok 12,10-12; 19,1-10). Apok 4,1-11,19 Apok 12,1-14,5 Apok 14,6-19,10 Vision der sieben Siegel (2. Siebenerreihe), Offenbarung der Herrschaft Gottes über die Geschichte Vision des Sieges des Lammes und der Zeugen Vision, Deutung, Verkündigung des Gerichts, des Falls Babylons und des Sieges des Lammes Das Lamm darf die sieben Siegel öffnen und den Sinn der Geschichte offenbaren. Die sechs ersten Siegel (Apok 6,7-7,17 enden mit der Vision der Erwählten, Apok 7,1-17). Das siebte Siegel = die sieben Posaunen (3. Siebenerreihe, Apok 8,1-11,19, endet mit der Berufung des Sehers, Apok 10,1-11, der Vision der Macht der Zeugen, Apok 11,1-13, und der Offenbarung der Herrschaft Gottes, Apok 11,14-19). Vision des Kindes, der Frau und des Drachens (Apok 12,1-18) Vision des Drachens und der beiden Tiere (Apok 13,1-18) Vision der Erwählten (Apok 14,1-5) Die sieben Engel (die sieben Plagen, 4. Siebenerreihe, Apok 15,1-8) Die sieben Schalen (5. Siebenerreihe, Apok 16,1-21) Die Interpretationen des Engels: das Gericht (Apok 17,1-8) Die Verkündigung des Engels: der Fall Babylons (Apok 18,1-14) Die Liturgie: der Sieg des Lammes (Apok 19,1-10) - Die sieben Visionen der Gegenwart, der Krise und der neuen Schöpfung (Apok 19,11-22,5) bilden eine sechste Siebenerreihe, die die christologischen und ideologiekritischen Visionen (Apok 1,12-3,22 und 4,1-19,11) unter einem universalen und schöpfungstheologischen Aspekt wiederholt und zusammenfasst. Die drei ersten Visionen vom Sieg des Wortes Gottes nehmen die Öffnung des Buches mit den sieben Siegeln wieder auf (Apok 19,11-22/ / 6,1-8,5), die tausend Jahre variieren die Geschichte des Zeugnisses und des Sieges des Lammes und der Märtyrer (4. bis 6. Vision, Apok 20,1-15/ / 12,1-14,5), und die siebte Vision interpretiert den Sieg des Lammes und der bekennenden Zeugen als die Gabe einer neuen Schöpfung (Apok 21,1-22.5). Die drei Zyklen der Visionen und der sie kommentierenden Engelsbotschaften offenbaren die Wirklichkeit, indem sie das Ereignis des Todes und der Auferstehung Jesu als Ursprung, Auslöser und Anfang eines Offenbarungsprozesses deuten. Einerseits wird das Unglück der Menschen offenbart, die ihre Seele dem Drachen ausliefern. Anspielungen verweisen auf die „ weiche “ Ideologie der Globalisierung, mit der der Patriotismus des römischen Kaiser- 226 DRITTER TEIL: Der Tod Jesu in der Zeit nach Paulus <?page no="227"?> kults (Apok 13,1-10) und seine Propaganda (Apok 13,11-18) den Wohlstand der imperialen Pax Romana und den wirtschaftlichen Aufschwung (Apok 18,1-23) politisch und religiös bemänteln (Apok 17,1-18) 24 . Auf der anderen Seite erscheint die von dieser Illusion befreiende Herrschaft des Auferstandenen, der die Wahrheit des Wortes Gottes mit seinem Blut besiegelt hat. 3.1.2 Der Auftrag des Auferstandenen Der Seher wurde durch eine prophetische Berufung während einer Dienstreise auf Patmos zum Schriftsteller gemacht: Apokalypse 1,9-10 (9) Ich, Johannes, - euer Bruder - und Mitgenosse in Bedrängnis, in Herrschaft und im Ausharren auf Jesus, - auf die Insel Patmos gekommen wegen des Wortes Gottes und des Zeugnisses von und für Jesus. (10) Ich war im Geist am Tag des Herrn und hörte hinter mir eine große Stimme wie von einer Trompete, die sagte: (11) „ Was du siehst, - schreib es in ein Buch - und sende es den sieben Kirchen . . . “ In der ersten Vision, die sich unmittelbar an die Berufung anschließt, erscheint der lebendige Christus als Auftraggeber des Buches. Die Rollenvereilung ist damit klar: - Gott hat Johannes die Offenbarung zuteil werden lassen (Apok 1,1), Der erzählerische Rahmen bezeichnet Gott als den realen Autor der Visionen (Apok 22,8-9). Das Buch der drei Visionenzyklen und ihre Bilder sollen nicht nur das Kommen des treuen Zeugen, dem Herrlichkeit und Kraft in Ewigkeit gehören (Apok 1,7), vergegenwärtigen, sondern auch als die Stimme Gottes, des Pantokrators, gelesen oder besser: gesehen werden (Apok 1,8): - Den Auftrag, das Buch zu schreiben, erhält der Seher von einer Stimme, zu der er sich umdreht, um die redende Person zu sehen (Apok 1,11). 24 Auffällig ist der Kontrast zwischen der dramatischen Situation der Märtyrer in den beiden letzten Visionenzyklen (Apok 3,1-19,11 und 19,12-22,5) und der in den Sendschreiben vorausgesetzten Situation der Kirchen, die zwar in einer gewissen Unsicherheit leben (in Pergamon gab es einen Märtyrer, Apok 2,13), aber überwiegend durch die Lauheit der Überzeugung und die Kompromissbereitschaft gegenüber dem Heidentum, auf die die beiden alttestamentlichen Figuren Bileam und Isebel (Apok 2.14.20) und die Abgrenzung von den Nikolaiten (Apok 2.6.15) verweisen, bedroht sind. Vgl. dazu: Harald Ulland, Die Vision als Radikalisierung der Wirklichkeit in der Apokalypse des Johannes. Das Verhältnis der sieben Sendschreiben zu Apokalypse 12 - 13, TANZ 21, Tübingen 1997. Der Kontrast setzt keine staatliche Verfolgung, sondern vielmehr die Versuchung einer Anpassung an das gesellschaftliche Leben der römischen Globalisierung voraus, die der Visionär der Apokalypse als Abfall sieht. 3 Der Tod Jesu in der Apokalypse des Johannes 227 <?page no="228"?> Kennzeichnend für die Art des kommunikativen Denkens der Apokalypse in Bildern soll die Stimme nicht nur „ gehört “ , sondern „ gesehen “ werden: Der Seher wird aufgefordert zu schreiben, was er sieht (Apok 1,10): Die literarische Verschriftlichung der Stimme nimmt die fiktionale Sprache eines Bilderbuchs an. Wen vertritt aber die Metonymie der Stimme? Nicht sofort den Auferstandenen. Johannes sieht sieben Leuchter, die die sieben Kirchen darstellen, wie er später selbst erklärt (Apok 1,20), und in ihrer Mitte den Menschensohn (Apok 1, 12-13): Der erhöhte Christus erscheint zunächst im Kreis der Kirchen, von denen er sich dann aber unterscheidet, um sich Johannes vorzustellen (Apok 1,17-20) und ihn zu beauftragen, den Engeln, die im Bild die Kirchen vertreten, zu schreiben (Apok 2,1.8.12.18; 3,7.16). Die Visionen inszenieren die Wirkungen der Herrschaft des Auferstandenen und des Zeugnisses (Apok 11,1-21). Der Schriftsteller Johannes ist Zeuge des Wortes Gottes und des Zeugnisses des Lammes. Er teilt die Visionen, die er sieht und als Bilder in sein Buch einträgt, der universalen Kirche mit, damit das Buch als prophetische Schrift vorgelesen, gehört und aufbewahrt wird (Apok 1,2). Das Zeugnis des Sehers ist performative Handlung des geschlachteten und erhöhten Lammes, das als der Menschensohn in der Herrlichkeit die Kirchen in seiner Hand trägt (Apok 1,12-20). Apokalypse 1,12-20 (12) Und ich drehte mich um, um die Stimme zu sehen, die mit mir redete. Und umgedreht sah ich sieben goldene Leuchter (13) und in der Mitte der Leuchter einen gleich einem Menschensohn, - bekleidet mit einem Gewand bis zu den Füßen - und die Brust mit goldenem Gurt gegürtet, (14) - der Kopf und seine Haare waren weiß wie schneeweiße Wolle - und seine Augen wie Feuerflammen, (15) - seine Füße wie schimmerndes Erz in einem feurigen Ofen - und seine Stimme wie die Stimme vieler Wasser, - haltend in seiner rechten Hand sieben Sterne - und aus seinem Mund ein zweischneidiges scharfes Schwert hervorgehend - und sein Antlitz, wie die Sonne in ihrer Kraft strahlt. (17) Und als ich ihn sah, fiel ich zu seinen Füßen wie ein Toter. Und er legte auf mich seine Rechte und sagte: „ Fürchte dich nicht: Ich bin - der Erste und der Letzte, (18) - der Lebendige, - ich war tot und siehe, ich bin lebendig in Ewigkeit, - und habe die Schlüssel des Todes und des Totenreichs. 228 DRITTER TEIL: Der Tod Jesu in der Zeit nach Paulus <?page no="229"?> (19) Schreibe nun, was du siehst und was ist und was danach geschehen soll. (20) Das Geheimnis der sieben Sterne, die du in meiner Rechten sahst, und der sieben goldenen Leuchter: - Die sieben Sterne sind die Engel der sieben Kirchen - und die sieben Leuchter die sieben Kirchen. In der ersten Vision (Apok 1,12-3,22) erscheint der Menschensohn in seiner Herrlichkeit. Das Bild identifiziert die apokalyptische Figur der Endzeit (Dan 7,13) mit dem Lamm, das tot war und jetzt lebt (Apok 1,18), und bekleidet sie mit Motiven der endzeitlichen Theophanien (Apok 1,13-15): dem goldenen Gurt (Dan 10,5), dem weißen Kopf und den Haaren wie weißer Wolle (Dan 7,9), den Augen wie Feuerflammen (Dan 10,5), den Füßen wie schimmerndes Erz (Dan 10,6) und der Stimme wie viele Wasser (Ez 1,24; 43,2) 25 . In der Person des Menschensohns offenbart sich Gott. Aus der konventionellen Beschreibung und dem apokalyptischen Repertoire ragen die beiden Motive des zweischneidigen, scharfen Schwertes, das aus dem Mund des Menschensohns hervorgeht (Apok 1,16), und der sieben Kirchen, die der Menschensohn als pars pro toto für die gesamte Christenheit in seiner rechten Hand hält (Apok 1,16.20), heraus: - Die sieben Sterne in der rechten Hand des Menschensohns sind die sieben Engel der sieben Kirchen, wie der Menschensohn dem Seher unmittelbar erklärt (Apok 1,20). Die sieben Engel erscheinen insofern als eine Verdoppelung der Kirchen, weil sie sie im bildlichen Rahmen vertreten. Der Auftrag, ihnen zu schreiben (Apok 2,1-3,22), wiederholt und konkretisiert den Auftrag, den der Seher bereits erhalten hat: das, was er sieht, in ein Buch zu schreiben und es den sieben Kirchen zuzusenden (Apok 1,11). So stellen sich die sieben Schreibaufträge als die Durchführung des Themas dar, das die sieben Sterne und die sieben Leuchter symbolisieren: Die Gemeinden sind die Zeugen des auferstandenen Lammes, das sich ihnen offenbart, sie kennt, ermutigt, warnt und besuchen wird. - Das zweischneidige Schwert im Mund des Menschensohns kombiniert zwei verschiedene Bilder: die Kraft des Wortes Gottes (Jes 11,4 und 49,2), die die Mächte der Zerstörung zunichte macht, und die Zweischneidigkeit (Ps 149,6; Sir 21,3), die auf die Unmöglichkeit jeden Widerstands verweist. Durch den Mund des erhöhten Lammes offenbart sich die Wahrheit Gottes, der nichts und niemand widerstehen kann. Die Vision bildet den Rahmen für die Selbstoffenbarung des Auferstandenen (Apok 1,17-20), die den Auftrag für Johannes begründet: - Der Auferstandene stellt sich als die Personifizierung Gottes vor und verlangt eine Entscheidung gegen die anderen Götter. Er gibt sich als der 25 Zu den Einzelheiten s. R. H. Charles, The Revelation to St. John I, ICC Edinburgh 1920, 30 - 31. 3 Der Tod Jesu in der Apokalypse des Johannes 229 <?page no="230"?> Erlöser zu erkennen, neben dem es keinen anderen Gott gibt (Jes 44,6; 48,12): „ Ich bin der Erste und der Letzte “ (Apok 1,17). - Der Auferstandene ist der Lebendige, der herrscht und lebendig macht (Apok 1,18). - Der Auferstandene ist das Lamm, das geschlachtet wurde (Apok 1,18): „ Ich war tot und siehe, ich lebe in Ewigkeit. “ Die Betonung seines Todes und seines ewig gegenwärtigen Lebens identifiziert das geschlachtete Lamm mit dem erhöhten Menschensohn der Endzeit, der im Zeugnis des Sehers in seiner Herrlichkeit erscheint. - Der Auferstandene herrscht nicht nur über die Lebenden, sondern auch über die Toten. Er hat den Schlüssel des Todes und des Totenreiches (Apok 1,18). Damit unterscheidet ihn die Vision von den anderen Mächten und Herrschaften, die (wie das erste Tier in Apok 13,1-10) Anspruch auf den Körper und (wie das zweite Tier in Apok 13,11-18) auf die Seele erheben, aber nicht lebendig machen können. Der Tod und die Auferstehung Jesu begründen eine neue Struktur der Wirklichkeit, in der die Grenze zwischen Leben und Tod aufgehoben ist. Sie bedeuten eine Entmythisierung der Ideolatrie der politischen und religiösen Mächte dieser Welt, die zwar töten 26 , aber nicht lebendig machen können. Die Vision des Menschensohns macht Johannes zum Zeugen des Wortes Gottes und de Zeugnisses Jesu Christi (Apok 1,2). „ Jesu Christi “ ist Genetivus objectivus und subjectivus. Johannes schreibt, was er gesehen hat, nämlich den erhöhten Menschensohn, der durch sein Wort die Wahrheit der Geschichte offenbart. Indem Johannes es aufschreibt, vergegenwärtigt er das aktive und das passive Zeugnis des Lammes, das die Wahrheit des Wortes Gottes mit seinem Tod besiegelt hat. 3.1.3 Die Erlösung durch das Blut Jesu Von Anfang an, schon im Präskript, verweist Johannes auf die Heilsbedeutung des Todes Jesu (Apok 1,4-6). Die Segensformel, die wir aus dem Briefformular der Paulusbriefe kennen, teilt den sieben Kirchen Gnade und Friede von Gott und Jesus Christus mit. Johannes fügt an dieser Stelle einen Kommentar ein, wie es auch Paulus manchmal tat: - Christus wird als der treue Zeuge, als der Auferstandene und als der Herrscher über die Könige vorgestellt (Apok 1,5 a). - Anschließend wird er als der, der die bekennenden Christen liebt und „ uns von unseren Sünden erlöste “ , bekannt. Die Erklärung variiert eine traditionelle Formulierung, die bereits Paulus zitierte (1 Kor 15,3), und verbindet sie mit der Symbolik des Blutes ( „ mit seinem Blut “ , Apok 1,5) 26 Der Tod des Todes bedeutet die Entmachtung des totalitären Denkens und der totalitaristischen Systeme, wie Viktor Ullmann 1943 in Theresienstadt in der Oper „ Der Kaiser von Atlantis “ in Form der Groteske eindrucksvoll gezeigt hat: Der Streik des Todes nimmt dem Kaiser, der nicht mehr töten kann, die Macht. 230 DRITTER TEIL: Der Tod Jesu in der Zeit nach Paulus <?page no="231"?> und mit der neuen Identität, die Christus dem Verfasser und den Adressaten der Apokalypse ( „ uns “ , Apok 1,6) verliehen hat. Die drei Aspekte werden in der ersten Szene der Thronvision wie von einem Echo wiederaufgenommen: Das Lamm ist würdig, das Buch zu öffnen, weil es uns mit seinem Blut erkauft und zur Königsherrschaft und zu Priestern gemacht hat: Apokalypse 1,4-6 Apokalypse 5,9-10 (4) Johannes an die sieben Kirchen in der Asia: Gnade euch und Friede - von dem, der ist und war und kommt, - und von den sieben Geistern, die vor seinem Thron (sind), (5) - und von Jesus Christus, dem treuen Zeugen, dem Erstgeborenen von den Toten, dem Herrscher der Könige der Erde. Ihm, - der uns liebt - und der uns erlöste von unseren Sünden mit seinem Blut (6) - und uns machte zur Königsherrschaft, zu Priestern für Gott, seinen Vater, ihm die Herrschaft und die Macht in aller Zeiten Zeiten! (9) Und sie (die vier Ältesten) sangen ein neues Lied: „ Würdig bist du, das Buch zu nehmen und seine Siegel zu öffnen, weil du geschlachtet wurdest, und du hast erkauft - für Gott - mit deinem Blut aus jedem - Stamm - und (jeder) Sprache - und (jedem) Volk - und (allen) Nationen, (10) sie machtest du für unseren Gott - zur Königsherrschaft - und zu Priestern, und sie werden herrschen auf Erden. “ Die Isotopie der beiden Metaphern des Lammes, das geschlachtet wurde (Apok 5,6 und 9), und des Blutes ( „ mit seinem Blut “ , Apok 1,5/ / 5,9) sowie die Einsetzung der bekennenden Christen zur Königsherrschaft und zu Priestern (Apok 1,6/ / Apok 5,10) sind durch die Gottesoffenbarung am Sinai vorgegeben: „ Und nun, wenn ihr auf meine Stimme hört und meinen Bund haltet, so sollt ihr vor allen Völkern mein Eigentum sein; denn mein ist die ganze Erde. Ihr sollt mir eine Königsherrschaft von Priestern und ein heiliges Volk sein. Das sind die Worte, die du (Mose) den Israeliten sagen sollst (Ex 19,5 f). “ Das Blut des treuen Zeugen (Apok 1,5) und des Lammes (Apok 5,9) ist das Blut des Opfers, das die Priester für die Ausübung ihres Amtes reinigt. Das Ritual wird als Metapher verwendet, um die Heilsbedeutung des Todes Jesu als Erfahrung der Befreiung und Anfang einer neuen Verantwortung der bekennenden Kirchen zu interpretieren. Die Befreiung von den Sünden, die das Lamm mit seinem Tod erwirkt hat, definiert die Aufgabe der Kirchen, Das ist möglich, weil Jesus Christus der treue Zeuge, der Erstgeborene von den Toten und der Herrscher der Könige der Erde ist (Apok 1,5). 3 Der Tod Jesu in der Apokalypse des Johannes 231 <?page no="232"?> Die Argumentation des Buches kündigt die Begründungen der Heilsbedeutung des Todes Jesu an: Die Auferstehung Jesu und das Bekenntnis seiner Herrschaft qualifizieren seinen Tod als das von Gott bestätigte Zeugnis des Wortes Gottes. Sie geben dem Zeugnis des Todes Jesu seine transzendente Wahrheit und seine absolute Gültigkeit, unabhängig von den politischen und religiösen Machtverhältnissen. Das traditionelle Thema der Erlösung und des Loskaufs von den Sünden durch das Blut Jesu wird in der Thronvision durch neue Variationen der Blutmetaphorik interpretiert: Die Heilsbedeutung des Todes Jesu wird zunächst im Bild der Erwählten, die weiße Kleider tragen, weil sie durch das Blut des Lammes rein geworden sind, wiederaufgenommen (Apok 7,14). Das Blut wird als Metonymie des Zeugnisses definiert Apok 6,8-19; 12,10-12). Dem Blut des Lammes korrespondiert das Blut der Zeugen (Apok 16,5; 17,6). Johannes deutet traditionelle Formulierungen von der Wirklichkeit her, die sich in den Visionen offenbart, um. Die Erlösung und der Loskauf von den Sünden durch den Tod Jesu meinen nichts anderes als die Befreiung von den Mächten, die das auferstandene Lamm als das Wort Gottes, das in der Figur des weißen Reiters erscheint, besiegt hat (Apok 19,1-11). Die Berufung der bekennenden Christen zur Königsherrschaft und zu Priestern geschieht im Zeugnis der Märtyrer, die die Wahrheit, die sich im Tod Jesu offenbart hat, mehr lieben als ihr Leben. 3.1.4 Das Blut als Metonymie des bekennenden Zeugnisses Die Metonymie des Blutes interpretiert in der Apokalypse den Tod Jesu als das Zeugnis des prophetischen Wortes und als Martyrium. Die Perspektive ist nicht die Verarbeitung der Leiden, die Gerechte für Ungerechte tragen müssen (1 Petr 3,18-22), sondern eine Selbstdefinition des christlichen Glaubens als kompromissloses Bekenntnis, als radikale Kritik gegenüber totalitären Formen politischer und gesellschaftlicher Ideologie und als Aufforderung an die Kirchen zur klaren Unterscheidung zwischen den Mächten und Göttern und gegebenenfalls zur Bereitschaft zum Martyrium. Die symbolische Bedeutung des Blutes liegt darin, dass der gewaltsame Tod das Wort der Zeugen besiegelt. So erklärt sich die Definition der Zeugen: Sie sind mit den weißen Kleidern der Erwählten Gottes bekleidet, weil sie durch das Zeugnis des Lammes von der Versuchung befreit worden sind, das Wort Gottes mit der Apotheose des Menschen, seiner Macht und seiner Kultur zu verwechseln, und weil sie sich dem kompromissslosen Zeugnis des Lammes angeschlossen haben: Apokalypse 7,13-14 (13) Und einer der Ältesten fragte mich: „ Diese, in weiße Kleider gehüllt, wer sind sie und woher sind sie gekommen? “ (14) Und ich sagte zu ihm: „ Mein Herr, du weißt es! “ 232 DRITTER TEIL: Der Tod Jesu in der Zeit nach Paulus <?page no="233"?> Und er sagte zu mir: „ Dies sind die aus der großen Bedrängnis Kommenden, und sie haben ihre Kleider gewaschen und sie weiß gemacht mit dem Blut des Lammes “ . Mit einer doppelten Anspielung auf Gen 49,11 ( „ Er - Jakob/ Juda - wäscht sein Kleid in Wein und in Traubenblut seinen Mantel . . . “ ) werden die bekennenden Zeugen zu Erwählten, die vor dem Thron Gottes stehen (Apok 7,15). Ihre weißen Kleider offenbaren, dass sie als treue und kompromisslose Zeugen gestorben sind (Apok 7,14). Ihr aktives Zeugnis haben sie mit dem passiven Zeugnis ihres Martyriums besiegelt. Ihr Tod bestätigt den Wahrheitsanspruch ihres Wortes. Die doppelte Metapher der gewaschenen Kleider und des Weißgemachtwordenseins im Blut des Lammes verweist auf die Zugehörigkeit der Märtyrer zum Zeugnis des Lammes und vielleicht auf die Taufe, die als Zeichen der Entscheidung zwischen den Göttern und als Zeichen des Herrschaftswechsels und deswegen als Reinigung von heidnischer Religion und menschlicher Ideologie verstanden wird (vgl. Apok 3,4 und 5: die Sieger, die treu geblieben sind, werden weiße Kleider tragen). Konsequent findet der Sieg Gottes über den Bösen - den Drachen und die Schlange - nicht im Himmel, sondern auf Erden statt; denn dort herrschen Mächte und Verführungen und dort vollziehrt sich im Gewissen der Menschen das Bekenntnis, die Anerkennung der Wahrheit und die Ablehnung der Ideologie: Apokalypse 12,10-12 (10) Und ich hörte eine große Stimme im Himmel: „ Jetzt ist geworden das Heil und die Kraft und die Königsherrschaft unseres Gottes und die Vollmacht seines Gesalbten, weil der Ankläger unserer Brüder hinunter geworfen wurde, der sie vor unserem Gott Tag und Nacht verklagte. (11) Und sie haben ihn besiegt - durch das Blut des Lammes - und durch das Wort ihres Zeugnisses und liebten nicht ihre Seele bis zum Tod. (12) Deshalb jauchzt, Himmel und die, die darin zelten. Wehe der Erde und dem Meer, weil der Teufel zu euch herabgestiegen ist, im grimmigen Zorn, wissend, dass er wenig Zeit hat. “ Die Vision zeigt den Drachen, den Teufel und Satan, der die Frau und das Kind zu vernichten versucht und von Michael und seinen Engeln besiegt wird (Apok 12,1-9). Die Bilder dürfen nicht auf die Eindeutigkeit einer Allegorie reduziert werden. Die zwölf Sterne des Kranzes, den die Frau auf ihrem Kopf trägt (Apok 12,1), weisen auf die Kontinuität des Gottesvolkes hin. Der eiserne Stab, mit dem das Kind die Völker weiden wird (Apok 12,5), ist identisch mit 3 Der Tod Jesu in der Apokalypse des Johannes 233 <?page no="234"?> dem weißen Reiter des Wortes Gottes: mit dem erhöhten Christus (Apok 19,15). Die politisch-ideologische Anspielung der sieben Köpfe des Drachens, die Johannes in der Beschreibung des ersten Tieres wiederaufnimmt (Apok 12,3/ / Apok 13,1), kann nicht übersehen werden. Die Vision (Apok 12,1-9.13 - 18) und die sie kommentierende Stimme (Apok 12,10-12) interpretieren sich gegenseitig: - Im aktiven und passiven Zeugnis des Lammes und in dem Bekenntnis der Brüder entscheidet sich der Kampf zwischen den Mächten der Verführung und dem Heil, der Kraft und der Königsherrschaft Gottes. - Der Drachen, der Teufel und Satan, verkörpert die Ideologie, die die römische Macht (Apok 13,1-10) und ihre verinnerlichte Propaganda (Apok 13,11-18) verbindet. Er wird nicht in einem mythischen Kampf im Himmel entmachtet, sondern auf Erden durch das Bekenntnis des Glaubens. Die bekennenden Zeugen haben den Drachen im Himmel besiegt und vom Himmel zur Erde hinunter geworfen, nachdem sie auf der Erde ihr Leben für das Wort ihres Zeugnisses hingegeben hatten (Apok 12,11). Die Hingabe ihres Lebens vollbringt wegen ihres Bekenntnisses zum Zeugnis des Lammes ( „ durch das Blut des Lammes “ ) und durch die ideologiekritische Kraft ihrer Standhaftigkeit ( „ durch das Wort des Zeugnisses “ ) den Sieg über den Teufel. 3.1.5 Mit Christus die Seele dahingeben und siegen Die Interpretation der Symbolik des Blutes als Siegels des prophetischen Wortes und der Selbsthingabe des geschlachteten Lammes (Apok 5,9; vgl. Jes 53,7) als Ausdruck der Bereitschaft zum Zeugnis und, wenn es dazu kommt (Apok 2,10 und 13), zum Martyrium findet ihre direkte Entsprechung in der Selbstdefinition und Beschreibung der bekennenden Heiligen. Die Märtyrer sind genauso hingeschlachtet worden wie das Lamm: Apokalypse 6,9-10 (9) Und als es (das Lamm) das fünfte Siegel öffnete, sah ich unter dem Altar die Seelen derer, die hingeschlachtet worden waren - wegen des Wortes Gottes - und wegen des Zeugnisses, das sie festhielten. (10) Und sie riefen mit lauter Stimme: „ Wie lange, heiliger und wahrhaftiger Herr, richtest du nicht und rächst unser Blut nicht an denen, die auf Erden wohnen? “ Apokalypse 16,5-6 (5) Und ich hörte den Engel der Gewässer sagen: „ Gerecht bist du, der ist und der war, du Heiliger, 234 DRITTER TEIL: Der Tod Jesu in der Zeit nach Paulus <?page no="235"?> weil du so gerichtet hast, (6) weil sie Blut von Heiligen und Propheten vergossen haben, und Blut hast du ihnen zu trinken gegeben, (Blut der Plagen, Apok 6,12; 8,7-8; 11,6; 14,20; 16,3-6) - sie sind dessen würdig. “ Der Rechtfertigung des geschlachteten Lammes, das als der erhöhte Menschensohn und Richter (Apok 1,12-20) und als der weiße Reiter des Wortes Gottes, der mit dem Schwert seines Mundes die Könige der Erde, ihre Heere und die beiden Tiere niederwirft (Apok 19,11-21, entspricht das Gericht über die große Stadt und die Offenbarung der Märtyrer als der Heiligen Gottes (Apok 18,24; 19,1-2): Apokalypse 17,6 Und ich sah die Frau (die große Stadt Babylon) trunken vom Blut der Heiligen und vom Blut der Zeugen Jesu . . . Apokalypse 18,24 Und in ihr (in der großen Stadt) - wurde das Blut von Propheten und Heiligen gefunden - und von allen, die auf der Erde hingeschlachtet worden sind. Apokalypse 19,1-2 (1) Danach hörte ich wie die große Stimme einer großen Menge im Himmel: „ Halleluja! Das Heil und die Kraft und die Herrlichkeit (sind) unseres Gottes, (2) weil seine Gerichte wahr und gerecht sind, weil er die große Hure gerichtet hat, die die Erde mit ihrer Hurerei verdarb, und er hat das Blut seiner Knechte an ihrer Hand gerächt. Das Blut als Metonymie des Zeugnisses des Todes Jesu und des Bekenntnisses der christlichen Märtyrer begründet die Gemeinschaft, die das geschlachtete und erhöhte Lamm mit seinen treuen Zeugen verbindet. Es definiert die Geschichte und das Selbstverständnis des Glaubens. Die im Blut des Lammes gewaschenen Kleider der Erwählten (Apok 7,14) sind das Gewand, das der weiße Reiter, der erhöhte Christus als Personifizierung des Wortes Gottes, bereits trägt (Apok 19,13). Apok 7,14 Apok 19,13 „ Dies sind die aus der großen Bedrängnis Kommenden, und sie haben ihre Kleider gewaschen, und sie sind weiß gemacht mit dem Blut des Lammes. “ Und er (der „ Treu und wahrhaftig “ heißt und auf dem weißen Pferd reitet) war in ein in Blut getauchtes Kleid gehüllt, und sein Name ist: „ Das Wort Gottes “ . 3 Der Tod Jesu in der Apokalypse des Johannes 235 <?page no="236"?> Die Verbindung zwischen dem Zeugnis der Heiligen und dem Zeugnis des Lammes wird in der Vision der beiden Zeugen (Apok 11,1-13) reflektiert und begründet. Dargestellt werden die Kraft des Zeugnisses und die Passionsgeschichte des prophetischen Wortes, wie es von Abraham an bis zu der Gegenwart des Johannes von allen alttestamentlichen und christlichen Zeugen verkörpert wurde und wie es maßgeblich von der Geschichte des Todes und der Erhöhung Jesu her zu verstehen ist. Eine Zeugenaussage gilt erst, wenn sie von zwei verschiedenen Zeugen gemacht wird. Die beiden Zeugen der Vision werden zunächst mit den beiden Messiasgestalten von Sach 4,2-14 (Apok 11,4), dann mit Elia (Apok 11,5-6), mit Mose (Apok 11,6) und mit Jesus identifiziert (Apok 11,8-12). Der historischen, christologisch gestalteten Zusammenfassung entspricht eine geographische Überblendung: Die ganze Geschichte der Gottlosigkeit und der Märtyrer, von Sodom und Ägypten an (Apok 11.8 a) bis zu der „ großen Stadt “ - Rom als „ Babylon “ (Apok 11,8 b) - , konzentriert sich in Jerusalem als dem Ort des Todes Jesu (Apok 11,8 c). Apokalypse 11,7-14 (7) Und wenn sie ihr Zeugnis vollendet haben, wird das Tier, das aus dem Abgrund steigt, - mit ihnen Krieg führen - und sie besiegen - und sie töten. (8) Und ihre Leichen liegen auf der Straße der großen Stadt, die geistlich „ Sodom “ und „ Ägypten “ heißt, wo auch der Herr gekreuzigt wurde. (9) Und Menschen aus den Völkern und Stämmen und Sprachen und Nationen sehen ihre Leichen dreieinhalb Tage lang und lassen ihre Leichen nicht ins Grab legen. (10) Und die Erdbewohner freuen sich und jauchzen auf und werden einander Geschenke schicken, weil diese zwei Propheten die Erdbewohner peinigten. (11) Und nach dreieinhalb Tagen kam der Geist des Lebens von Gott in sie, und sie stellten sich auf ihre Füße, und große Furcht überfiel die, die sie sahen. (12) Und sie hörten eine große Stimme, die vom Himmel zu ihnen rief: „ Steigt hierher auf! “ Und sie stiegen in den Himmel in einer Wolke auf, und ihre Feinde sahen sie. (13) Und zu jener Stunde ward ein großes Beben, und der zehnte Teil der Stadt stürzte ein und im Erdbeben starben 7000 Menschennamen, und die übrigen wurden voller Furcht und gaben dem Gott des Himmels die Ehre. (14) Das zweite Wehe ist vergangen. Siehe, das dritte Wehe kommt schnell. 236 DRITTER TEIL: Der Tod Jesu in der Zeit nach Paulus <?page no="237"?> Die vielfältige Geschichte des Zeugnisses wiederholt die Geschichte des Blutes des Lammes: - Reflektiert wird zunächst der Kontrast zwischen der persönlichen Zerbrechlichkeit der Zeugen (Apok 11,7-10) und der unüberwindbaren Kraft ihres prophetischen Wortes und Zeugnisses (Apok 11, 4 - 6). Nicht die Zeugen haben Vollmacht und Autorität, sondern ihr Zeugnis, und der Tod der Propheten verleiht ihrem Wort seinen endgültigen Charakter (Apok 11,5 und 7). Die Geschichte des Todes (Apok 11,8-19), der Auferstehung (Apok 11,11) und der Erhöhung Jesu (Apok 11,12) gibt der Passionsgeschichte der bekennenden Zeugen und Propheten ihre Form. Die Vergleichspunkte sind: - der Tod: Apok 11,8-12; - die Auferstehung nach drei Tagen. Die Zeitangabe in Apok 11,11 (dreieinhalb Tage) korrespondiert mit der Zeitangabe von dreieinhalb Jahren (Apok 11,2 = 42 Monate, Apok 11,3 = 1260 Tage); - die Himmelfahrt: Apok 11,12 mit dem Verweis auf die Wolke. Die Wirkung der prophetischen Zeugen ist paradox: Die Zeitgenossen freuen sich über ihren Tod, weil sie äußerst unbequem waren (Apok 11,10), aber das Zeugnis ihres Bekenntnisses und ihres Wortes erhält die Welt. Ihre Beseitigung bedeutet unmittelbare Zerstörungen - von Gott auf einen zehnten Teil und 7000 Personen begrenzt (Apok 11,13). 3.2 Als Kontrapunkt: Olivier Messiaen, Et expecto resurrectionem mortuorum (unter Mitarbeit von Christof Pülsch) Der Seher Johannes steht im neutestamentlichen Kanon als der radikalste Vertreter einer theologischen Reflexion, die die universale Bedeutung des Todes und der Auferstehung Jesu räumlich und kosmisch zu denken versucht. Während die Paulusbriefe mit einer diskursiven Dialektik und die Evangelien mit ihrer Erzählung und der Inszenierung der Reden Jesu argumentieren, nimmt die Rhetorik der Visionen der Johannesapokalypse - ähnlich modernen Comics - die Form einer Wechselwirkung zwischen den Bildern, den in ihnen enthaltenen „ Sprechblasen “ und den sie verbindenden Kommentaren an. Die Bilder gestalten nicht die Zeit, sondern den Raum. Die Visionen beschreiben auch nicht die Abfolge von Geschichtsepochen, sondern entfalten bildliche Vorstellungen. Sie offenbaren den Sieg des Lammes und die Herrlichkeit des Gekreuzigten und zeigen die Schöpfung, die Gott zusammen mit der unendlichen Schar der bekennenden Zeugen lobt. 27 27 Die Deutung des Ostergeschehens als Inthronisation des auferstandenen Christus, unter dessen Herrschaft die Schöpfung als sein Leib zusammengefasst wird, kennzeichnet die Rezeption des paulinischen Evangeliums im Epheserbrief. 3 Der Tod Jesu in der Apokalypse des Johannes 237 <?page no="238"?> 3.2.1 Der theologische Ansatz und die Architektur des Werkes Olivier Messiaen, der seine Musik als einen theologischen „ Regenbogen “ beschreibt, setzt im 20. Jahrhundert den Versuch fort, die Schöpfung durch Rhythmen, Bilder und Farben visionär zu gestalten. Einige seiner Hauptwerke, unter ihnen „ Quatuor pour la fin du temps “ und „ Et expecto resurrectionem mortuorum “ beziehen sich ausdrücklich auf die Johannesapokalypse. Messiaen wurde in Avignon als Sohn des Anglisten Pierre Messiaen und der Dichterin Cécile Sauvage geboren. Von 1919 bis 1930 studierte er am Pariser Conservatoire, an dem er von 1941 bis 1978 selbst unterrichten sollte. Zu seinen Schülern zählen so bedeutende Komponisten wie Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez und Jannis Xenakis. Von 1931 an war Messiaen für insgesamt 61 Jahre Organist (titulaire) an der Orgel der Kirche Sainte-Trinité in Paris. Dieses Instrument aus der Werkstatt Aristide Cavaillé-Colls prägt Messiaens Orgelwerke und seine Klangvorstellungen als Komponist und Improvisator. Die Einflüsse auf Messiaens Musik sind vielfältig: Er schätzte die Werke von Claude Debussy, Maurice Ravel, Charles Tournemire und Richard Wagner, beschäftigte sich intensiv mit indischen Hindu-Rhythmen; der gregorianische Gesang und der Gesang der Vögel (besonders der Amsel) bilden für ihn eine weitere wichtige Quelle der Inspiration. Nach dem Zweiten Weltkrieg wandte sich Messiaen phasenweise auch seriellen Kompositionstechniken zu, ohne dabei seine charakteristische Tonsprache zu verlassen. Katholische Theologie und Mystik (besonders die Schriften Thomas von Aquins) sowie das Phänomen der Synästhesie, der Verbindung von Farben und Klängen, prägten sein weiteres Schaffen. Wichtige musikalische Werke sind (in Auswahl): La Nativité du Seigneur (1935) für Orgel; Quatuor pour la fin du temps (1940/ 41) für Violine, Klarinette, Violoncello und Klavier; Trois Petites Liturgies de la Présence Divine (1943 - 44) für Frauenchor, Klavier, Ondes Martenot, Celesta, Vibraphon und Schlagzeug; Vingt regards sur l ’ enfant-Jésus (1944) für Klavier (1944); Turangalîla-Sinfonie für Klavier, Ondes Martenot und Orchester (1946 - 48); Quatre Etudes de Rythme für Klavier (1949 - 50), darin: Mode de valeurs et d ’ intensités (1949); Messe de la Pentecôte (1950) für Orgel; Catalogue d ’ oiseaux (1958) für Klavier; Et expecto resurrectionem mortuorum (1964) für Holzbläser, Blechbläser und Schlagzeug; La Transfiguration de Notre-Seigneur Jésus-Christ für gemischten Chor, Klavier, Violoncello, Flöte, Klarinette, Vibraphon, Marimbaphon, Xylorimba und Orchester (1965 - 69); Saint François d ’ Assise: Oper für Soli, Chor und Orchester (1975 - 83); Livre du Saint-Sacrement (1984) für Orgel; musiktheoretische Werke: Technique de mon langage musical (1944); Traité du rythme, de couleur et d ’ ornithologie (1949 - 92). Die Apokalypse des Johannes barg für Messiaen einen reichen Schatz an Bildern und Farben, auf die er in seinem Œ uvre zu unterschiedlichen Zeiten zurückgriff. Schon sein Quartett auf das Ende der Zeit schöpft aus dieser Quelle: „ Und ich sah einen anderen starken Engel vom Himmel herabkommen, mit einer Wolke bekleidet, und der Regenbogen auf seinem Haupt 238 DRITTER TEIL: Der Tod Jesu in der Zeit nach Paulus <?page no="239"?> und sein Antlitz wie die Sonne und seine Füße wie Feuersäulen. Und er setzte seinen rechten Fuß auf das Meer und den linken auf die Erde. Und der Engel, den ich stehen sah auf dem Meer und auf der Erde, hob seine rechte Hand auf zum Himmel und schwur bei dem, der da lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit: Es soll hinfort keine Zeit mehr sein, sondern in den Tagen, wenn der siebte Engel seine Stimme erheben und seine Posaune blasen wird, dann ist vollendet das Geheimnis Gottes “ (Apok 10,1-6). Messiaen schreibt dazu im Vorwort: „ Das Quartett auf das Ende der Zeit (. . .) wurde durch das obige Zitat aus der Offenbarung inspiriert. Seine musikalische Sprache ist im Wesentlichen immateriell, geistig, katholisch. Modi, die motivisch wie harmonisch eine Art Allgegenwart verwirklichen, bringen den Hörer dadurch der Ewigkeit in Raum und Unendlichkeit näher. Spezielle Rhythmen, außerhalb jedes Taktschemas, tragen verschieden dazu bei, ihn der irdischen Zeit zu entfremden. (. . .) Das Quartett hat acht Sätze. Warum? Sieben ist die vollkommene Zahl, die Schöpfung von sechs Tagen, geheiligt durch den göttlichen Sabbat, dieser siebte Tag, der Tag der Ruhe, dehnt sich aus in die Ewigkeit und wird zum achten (Tag) des unauslöschlichen Lichtes und des unvergänglichen Friedens. “ Messiaen komponierte „ Et expecto resurrectionem mortuorum “ im Auftrag des französischen Kultusministers André Malraux zum Gedenken an die Toten der beiden Weltkriege. Die Uraufführung fand am 7. Mai 1965 in der Sainte-Chapelle in Paris statt. Messiaen schrieb kein Requiem, keine Totenklage, sondern ein Bekenntnis der christlichen Hoffnung auf die Auferstehung der Toten, begründet in der Auferstehung Christi. Es ist ein Werk zur Aufführung in großen Räumen wie Kirchen, Kathedralen oder im Freien wie im Hochgebirge. Messiaen erläutert im Vorwort die theologischen Überlegungen, die den einzelnen Sätzen zugrunde liegen, und welche musikalischen Mittel er verwendet. Die Komposition ist das Resultat einer Auseinandersetzung mit den biblischen Texten, die Messiaen als Grundlage ausgewählt hatte. Die theologische Ausdeutung durch Musik geschieht mittels unterschiedlicher Elemente: Symbolische musikalische Elemente: - Gregorianische Gesänge für das Osterfest: Nur der gregorianische Choral, das klingende Wort Gottes, hat „ gleichzeitig die Reinheit, die Freude und die Leichtigkeit, die nötig sind für den Flug der Seele zur Wahrheit “ . Er ist für Messiaen die einzig gültige Kirchenmusik und in der Liturgie gegenwärtig. - Indischer Rhythmus „ simbavikrama “ (die Kunst des Löwen): Dieser Rhythmus wird als ein Symbol für den Sieg Christi über den Tod eingesetzt. - Gesang des Uirapuru (eines Vogels aus dem Amazonasgebiet) und der Kalander-Lerche: Beide Gesänge sind Symbole für die Auferstehung bzw. für die Freude und die Gabe der Behendigkeit. Naturalistische, körperlich erfahrbare Klänge: - Tutti-Klang der Orchesters: der Schrei der Tiefe 3 Der Tod Jesu in der Apokalypse des Johannes 239 <?page no="240"?> - Ausklingen des Tamtams und extrem langsame Tempi bewirken eine Dehnung der Zeit. Farbklänge: - Mehrstimmige Farbakkorde - Kombination der Kl.angfarben des Orchesters Die Wirkung der Farbklänge vergleicht Messiaen mit der von Kirchenfenstern, wie sie in vielen gotischen Kathedralen Frankreichs zu finden sind, oder mit dem Werk von Sonia Delaunays, die Messiaen sehr schätzte. Die Besetzung des Orchesters ist eher ungewöhnlich und erklärt die Anweisung, das Werk möglichst in großen Räumen oder im Freien aufzuführen: - Holzblasinstrumente: zwei Piccolo-Flöten, drei Flöten, drei Oboen, ein Englischhorn, eine hohe Klarinette, drei Klarinetten, eine Bassklarinette, drei Fagotte, ein Kontrafagott. - Blechblasinstrumente: eine Piccolo-Trompete, drei Trompeten, sechs Hörner, drei Posaunen, eine Bassposaune, eine Tuba, ein Saxophon. - Metallschlagzeug: sechs Gongs, drei Tamtams, Glocken. Es fehlen komplett die Streichinstrumente. Dafür sind die Holz- und Blechblasinstrumente bis in die extremen Lagen vertreten. Dazu treten die metallenen Schlaginstrumente, die zum Teil lange Zeit ausklingen. Die Architektur des Werkes: Das ganze Werk gliedert sich in fünf Sätze. Messiaen verwendet eine ungerade Zahl von Sätzen: So besteht der Orgelzyklus „ Les Corps glorieux “ (Die verklärten Leiber, 1939) aus sieben Meditationen über das Leben des auferstandenen Christus, in deren Zentrum als vierter Satz der Kampf zwischen dem Tod und dem Leben steht. Die acht (sieben und eins) Sätze des Quartetts auf das Ende der Zeit stehen für die Vollendung der Ewigkeit. Das „ Livre d ’ orgue “ (Orgelbuch, 1951) enthält sieben Sätze mit dem österlichen Freudengesang der Vögel (besonders der Amsel) als dem Chant d ’ oiseaux als Mitte. Im Zentrum von „ Et expecto resurrectionem mortuorum “ steht der Satz, in dem die Stimme Gottes die Toten zum Leben erweckt. 3.2.2 „ Aus der Tiefe rufe ich zu dir; Herr, höre meine Stimme! “ (Psalm 130,1-2) Die (katholische) Kirche bezieht diesen Psalm auf die Seelen, die im Fegefeuer das Paradies erhoffen, und auf all jene (Lebende und Tote), die die Auferstehung erwarten. Elemente: a) Thema der Tiefe: unisono (bzw. in Oktaven) und harmonisch gefärbt, gespielt von den tiefen Instrumenten b) Schrei des Abgrunds: zwölftonige Akkorde, aufgeteilt in je einen Akkord der Tiefe (Blechbläser) und der Höhe (Holzbläser) 240 DRITTER TEIL: Der Tod Jesu in der Zeit nach Paulus <?page no="241"?> Aufbau: A a (1 - 14) unisono a (15 - 19) harmonisch gefärbt a (20 - 25) unisono a (26 - 35) harmonisch gefärbt B b (39 - 45) 3.2.3 „ Christus, von den Toten auferstanden, stirbt nicht mehr; der Tod hat keine Macht mehr über ihn “ (Römer 6,9) Der auferstandene Christus lebt und wird ewig leben in seinem Leib und in seiner Seele. Er ist der ‚ Erstgebore der Toten ‘ (Apok 1,5), der „ Erstling der Entschlafenen “ (1 Kor 15,20). ‚ Als auferstandener Gott-Mensch ist er zugleich nächste Ursache und werkzeugliche Ursache unserer Auferstehung “ (Thomas von Aquin: Die Auferstehung Jesu ist das Pfand unserer Auferstehung). Elemente: - eine schnelle Tonfolge von sechs Tönen - dieselbe Tonfolge durch sukzessives Weglassen - dieselbe Tonfolge von Solo-Instrumenten gespielt - indischer Rhythmus „ simbavikrama “ - Trompetenmelodie (mit den Farbkomplexen der Holzbläser) über dem Rhythmus „ simbavikrama “ , - dazu Pausen, genauso wichtig wie die Musik. Aufbau: a (1 - 2) b (3 - 4) c (9 - 32) d (33 - 43) c (44 - 62) d (63 - 75) a (76 - 77) b (78 - 83) c (44 - 90) 3.2.4 „ Die Stunde kommt, in der die Toten die Stimme Gottes hören werden “ (Johannes 5,25) Diese Stimme ist das Signal der Auferstehung: Es ist der göttliche Befehl, dessen Ausführung so unmittelbar folgen wird, wie die Gnade in den Sakramenten hervorbricht. Sie wird symbolisiert durch den Gesang des Uirapurus, eines Vogels, „ den man im Augenblick des Todes hört “ . Dazu treten die Stille und der wechselnde Klang der Glocken und eine sehr große und mächtige Resonanz des Tamtams. Elemente: a) Gesang des Uirapurus, gespielt von den Holzbläsern b) Viertönige Folge der Glocken, von den tiefen Blech- und Holzbläsern variiert (verwandt mit dem Thema der Tiefe des ersten Satzes), unterbrochen von einem neunstimmigen Tutti-Akkord als Signal der Auferstehung oder der „ Stimme Gottes “ c) Wirbel von Gong und Tamtam mit langem Verklingen und anschließenden Pausen (Resonanz) 3 Der Tod Jesu in der Apokalypse des Johannes 241 <?page no="242"?> Aufbau: A (1.44) a b c A ’ (45 - 93) 3.2.5 „ Sie werden verherrlicht auferstehen, mit einem neuen Namen - im fröhlichen Konzert der Sterne und im Jubel der Gottessöhne “ (1 Korinther 15,43; Apok 2,17; Hiob 38,7) Der österliche Introitus und das Alleluja symbolisieren eine Eigenschaft der verklärten Leiber: das Geschenk der Leuchtkraft. Der Gesang der Kalander- Lerche symbolisiert die Freude und das Geschenk der Behendigkeit. Elemente: a) drei Tamtam-Schläge b) gregorianische Oster-Themen: Introitus (Glocken) und Alleluja (Trompeten zum Tutti); Symbol der Gabe des Lichtglanzes c) Gesang der Kalander-Lerche (Holzbläser); Symbol der Freude und der Gabe der Behendigkeit d) „ Simbavikrama “ ; Symbol für den Sieg über den Tod e) Thema der Tiefe (aus dem ersten Satz). Aufbau: a (1 - 3) b (4 - 25) a (26 - 28) c (29 - 65) a (66 - 68) b (69 - 95) a (96 - 98) c (99 - 143) a (144 - 146) bde (147 - 191) a ’ (192 - 197) a ’’ (198 - 205) 3.2.6 „ Ich hörte etwas wie die Stimme einer großen Schar. . . “ (Apokalypse 19,6) „ Wie das Rauschen gewaltiger Wassermassen “ : Lobgesang der Heiligen, dessen feierliche Macht die Apokalypse auf diese Weise beschreibt. Die repetierten Gongschläge, die tiefen Holzbläser und das Orchestertutti übernehmen diese Choral-Wirkung: gewaltiges Fortissimo, einhellig und lapidar. Aufbau: A a (1 - 8) unisono a (9 - 16) harmonisch gefärbt B a ’ (17 - 24) unisono b (25 - 32) harmonisch gefärbt C c (33 - 39) unisono c ’ (40 - 48) harmonisch gefärbt Coda (49 - 54) Die ausführliche Erklärung im Vorwort und die klare Verständlichkeit der Partitur machen deutlich, dass es sich für Messiaen nicht um geistliche oder 242 DRITTER TEIL: Der Tod Jesu in der Zeit nach Paulus <?page no="243"?> Kirchenmusik im traditionellen Sinn, also um eine Musik zur geistlichen Erbauung oder zur liturgischen Verwendung handelt. Es ist für ihn vielmehr eine theologische Musik, die in der Auseinandersetzung mit dem intellektuellgeistlichen Gehalt der zugrundeliegenden biblischen Texte entstanden ist und nur in Kombination mit dieser Grundlage zu verstehen ist. 28 3.3 Ertrag: Visionen des Todes und der Auferstehung Jesu Ein erster gemeinsamer Nenner, der die Kompositionen Olivier Messiaens mit der Apokalypse des Johannes verbindet, besteht in dem Anliegen, die Transzendenz in der Kontingenz der Wirklichkeit zu bekennen und in den Visionen des Buches oder in den Ausdrucksformen der Musik aufzuzeigen. Ein zweiter gemeinsamer Nenner findet sich in der Kunst, diskursive, optische und akustische, Dimensionen des Ausdrucks und der Wahrnehmung so zu kombinieren, dass der christliche Glaube nicht nur eine existentielle, sondern auch eine kosmische Relevanz gewinnt. Tod und Auferstehung Jesu bedeuten nicht nur die Neuschöpfung der Selbstdefinition und des Selbstverständnisses des Menschen (Gal 6,15; 2 Kor 5,17), sondern beinhalten auch einen neuen Blick auf die Welt. Daraus folgt als dritter gemeinsamer Nenner die Entfaltung des Bekenntnisses als öffentlicher Liturgie bzw. als Liturgie in der Öffentlichkeit. Die Bedeutung des Todes und der Auferstehung Jesu lässt sich - das ist die gemeinsame Botschaft des Sehers und des Musikers - weder auf die geistige Geschichte der Glaubenden noch die der christlichen Gemeinde begrenzen, sondern schließt vielmehr den gesamten Lebensraum der Menschheit und der Weltgeschichte ein. 3.3.1 Tod und Auferstehung Jesu als Offenbarung der Wirklichkeit Johannes kündigt eine Offenbarung an, die ihm Gott anvertraut, um etwas zu zeigen (Apok 1,1). Der Titel seiner Schrift ist ein Programm. Die Absicht des Buches ist ausdrücklich argumentativ. Der Seher hat den Auftrag erhalten, das Buch zu schreiben und den Kirchen zu senden, um sie zu überzeugen. Der Inhalt der angekündigten Offenbarung betrifft das, was in Kürze geschehen wird. Die Weltgeschichte wird entziffert und zwar in dem Sinn, dass ihre Logik durch drei Zyklen von Visionen enthüllt wird. Diese theologische Aufklärung ist durch das Zeugnis Christi und das Zeugnis der bekennenden Christen möglich geworden. Die Offenbarung legt die Weltgeschichte vom Sieg des geschlachteten und auferstandenen Lammes her visionär aus. Hier liegt der hermeneutische Schlüssel für das Verständnis der Weltgeschichte. Die Apokalypse muss ihrem Programm gemäß als Offenbarung gelesen werden. Ihre 28 Die Analyse folgt Michael Aloyse, Die Musik Olivier Messiaens. Untersuchung zum Gesamtschaffen, Hamburger Beiträge zur Musikwissenschaft, Sonderdruck, Hamburg 1987. 3 Der Tod Jesu in der Apokalypse des Johannes 243 <?page no="244"?> Visionen enthüllen den Tod und die Auferstegung Jesu als die Wahrheit der Wirklichkeit. Dabei muss betont werden: Tod und Auferstehung Jesu offenbaren keine andere, zukünftige oder himmlische Welt als die Wirklichkeit der menschlichen Geschichte. Sie offenbaren vielmehr die Wahrheit dieser Welt. Die Bilder und Kommentare des Sehers betrachten sowohl die immanenten Selbstzerstörungsprozesse, die aus der Verwechslung von Schöpfer und Geschöpf und aus der globalen Apotheose der menschlichen Ökonomie folgen, als auch die Verheißung einer möglichen Erneuerung der menschlichen Seele und des Kosmos als des vom Himmel geschenkten neuen Jerusalems. Die religiöse, politische und ökonomische Kritik, die in der Johannesapokalypse die Deutung des Todes und der Auferstehung Jesu kennzeichnet, ist nicht das zentrale Thema des theologisch-musikalischen Werkes Olivier Messiaens, wohl aber die im „ Quattuor pour la fin du temps “ vorausgesetzte und im Text der „ Petites Liturgies de la Présence Divine “ (1943/ 44) poetisch ausformulierte Überzeugung der kosmischen Relevanz von Tod und Auferstehung Jesu als Weg zum wahren Verständnis der Wirklichkeit: „ Alle wissenschaftlichen Forschungen, mathematischen Beweisführungen und biologischen Versuche zusammengenommen haben uns nicht vor der Ungewissheit bewahren können. Im Gegenteil, sie haben unsere Ungewissheit noch vergrößert, indem sie uns immer neue Wirklichkeiten hinter dem zeigen, was man für die Wirklichkeit hielt. Die einzige Wirklichkeit ist in der Tat von anderer Art; sie gehört in den Bereich des Glaubens. In der Begegnung mit Einem Anderen können wir sie verstehen. Dazu muss man jedoch durch den Tod und die Auferstehung gehen, was den Sprung aus der Zeit in die Ewigkeit voraussetzt. Es ist recht seltsam, dass uns die Musik darauf vorbereiten kann, als Bild, als Widerschein, als Symbol. Die Musik ist nämlich ein steter Dialog zwischen Raum und Zeit, zwischen Klang und Farbe - ein Dialog, der zu einer Vereinigung führt: Die Zeit ist ein Raum, der Klang eine Farbe, der Raum ein Komplex übereinander gelagerter Zeiten, und die Klangkomplexe existieren gleichzeitig als Farbkomplexe. Der Musiker, der mit diesen grundlegenden Begriffen sieht, spricht und denkt, kann sich in einem gewissen Maße dem Jenseits öffnen. “ 29 3.3.2 Die kosmische Relevanz des Todes und der Auferstehung Jesu Die Argumentation der Johannesapokalypse spielt auf den Registern der Lyrik, der Liturgie, der Bilder, Visionen und Klänge. Es gibt im Buch sowohl den Schall der Trompeten als auch Zeiten der Stille. In ähnlicher Weise verbinden die Kompositionen Messiaens programmatisch lyrische Texte, 29 Zitiert nach: Claude Samuel, Album-Programme du Festival Messiaen, Paris 1978, mit einer anderen Übersetzung übernommen in: Thomas Daniel Schlee/ Dietrich Kämper (Hg.), Olivier Messiaen, La Cité céleste - Das himmlische Jerusalem. Über Leben und Werk des französischen Komponisten, Köln 1998, 131. 244 DRITTER TEIL: Der Tod Jesu in der Zeit nach Paulus <?page no="245"?> Rhythmen und Farben. So ist das Werk „ Quattuor pour la fin du Temps “ als Ganzes auf Apok 10,6 aufgebaut. „ Ich habe versucht, ein christlicher Musiker zu sein und meinen Glauben zu singen, ohne dass es mir je gelungen wäre - sicher, weil ich dessen nicht würdig war (dies ohne falsche Bescheidenheit gesagt). Absolute Musik, profane Musik und vor allem theologische (und nicht mystische, wie es die Mehrheit meiner Hörer glaubt) Musik wechseln in meinem Schaffen ab. Ich weiß nicht genau, ob ich eine ‚ Ästhetik ‘ habe, aber ich kann sagen, dass meine Vorlieben zu einer schillernden, raffinierten, sogar wollüstigen (aber natürlich nicht sinnlichen) Musik gehen. Eine Musik, die singt (Ehre sei der Melodie, der melodischen Phrase). Eine Musik, die ein neues Blut, eine zeichenhafte Geste, ein unbekannter Duft, ein Vogel ohne Schlaf sei. Eine Musik in der Form eines Kirchenfensters (une musique en vitrail), Eine Musik, die das Ende der Zeit, die Allgegenwart, die verherrlichten Körper und die göttlichen, übernatürlichen Mysterien ausdrückt. Ein theologischer Regenbogen. “ 30 Musik und Tanz bringen eine Ordnung in die Zeit. Bilder und Farben gestalten die Dimensionen des Raumes. Für Paulus bedeutete die absolute Singularität des Kreuzes die Offenbarung einer neuen Schöpfung (2 Kor 5,17; Gal 6,16) und einer neuen Zeit des Vertrauens nach der alten, vergangenen Zeit der Knechtschaft unter dem Gesetz und den Vollkommenheitsidealen des Menschen. Die Apokalypse des Johannes und das musikalische Werk Messiaens denken nicht nur in diesen zeitlichen Vorstellungen. Sie entfalten eine theologische Vision des Kosmos als Raum des Gerichts und der Herrschaft Gottes. Der Titel „ Et expecto resurrectionem mortuorum “ könnte das Programm einer chronologischen Abfolge nahelegen: erst Leben, dann Tod und schließlich Auferstehung der Toten. Messiaen komponiert aber keine Chronologie, sondern setzt vielmehr, wie in „ Quattuor pour la fin du Temps “ und in den „ Trois petites liturgies de la Présence Divine “ , ein Ende der Zeit im präzisen Sinn der Allgegenwart Gottes und eine Füllung des Raumes und der Zeit durch die Ewigkeit Gottes voraus. In den Visionenzyklen der Apokalypse unterscheiden die zeitlichen Gliederungen ( „ dann “ , „ danach “ ) verschiedene Dimensionen der offenbarten Wirklichkeit und nicht die Etappen eines Szenarios. Der Tod Jesu wird durch die Bilder und die begleitenden Kommentare so gedeutet, dass er eine Bedeutung für den ganzen Lebensraum der Schöpfung und eine kosmische Relevanz bekommt. Diskursive Interpretationen des Todes und der Auferstehung Jesu privilegieren logische Verbindungen zwischen Ursachen und Wirkungen. Dabei würden aber Dimensionen der Wirklichkeit ausgeklammert. Bilder und Farben ermöglichen eine Erweiterung der Wahrnehmung. Sie bilden die Wirklichkeit nicht nur ab, sondern lassen Zusammenhänge sehen. Sie können kausale Verknüpfungen andeuten, ohne sie eindeutig zu beschreiben und zu begründen. Die großen Visionen derApokalypse bieten eine Analyse der Wahrheit der Wirklichkeit, die sich im aktiven und passiven Zeugnis des 30 Olivier Messiaen, Réponses à une enqûete. Contrepoint 3, 1946, 73 - 75, mit einer anderen Übersetzung zitiert in: Thomas Daniel Schlee und Dietrich Kämper (Hg.), a. a. O. 233. 3 Der Tod Jesu in der Apokalypse des Johannes 245 <?page no="246"?> Lammes offenbart. Existentielle Darstellungen der Verzweiflung und der inneren Leere, die Reichtum, Besitz und Macht begleiten, und Darstellungen der zynischen Kompromissbereitschaft werden mit Bildern der politischen Manipulation, der ideologischen Instrumentalisierung und der Zerstörung der Schöpfung nebeneinander gestellt, ohne dass eine andere Verbindung als die Reihenfolge der Bilder und Visionen erkennbar wird. Die Kraft der Bilder besteht in der Möglichkeit, den Blick auf die Wirklichkeit zu verändern und zu erneuern. 3.3.3 Das Bekenntnis des Todes und der Auferstehung Jesu als öffentlicher Gottesdienst Dem Anliegen, die kosmische Bedeutung des Todes und der Auferstehung Jesu durch Visionen, Bilder und Farben Ausdruck zu geben, entspricht die paradoxe Verlagerung der Liturgie in die Öffentlichkeit. Im Zentrum der Apokalypse steht programmatisch der Zyklus des Tempels (Apok 4,1-19,10). Die Liturgie, die die Heiligkeit Gottes bekennt und den Tod des Lammes als Erlösung des Menschen und als Deutung der Weltgeschichte verkündigt, umfasst nicht nur das Gebet und die Lieder der vierundzwanzig Ältesten, sondern umschließt im folgenden Hymnus die gesamte Schöpfung, die durch die Figur der vier Wesen symbolisiert wird: Apokalypse 4,6-8 (6) Und mitten auf dem Thron und rings um den Thron sind vier Wesen . . ., (8) und sie rufen ohne Unterlass Tag und Nacht: „ Heilig, heilig, heilig ist der Herr, Gott, der Herrscher über das All, der war und der ist und der kommt. “ Apokalypse 5,6-10 (6) Und ich sah zwischen dem Thron und den vier Wesen in der Mitte der Ältesten ein Lamm stehen, das geschlachtet zu sein schien; es hatte sieben Hörner und sieben Augen - das sind die sieben Geistwesen Gottes, die in die ganze Welt hinausgesandt sind. (7) Und es kam und empfing das Buch aus der Rechten dessen, der auf dem Thron saß. (8) Und als es das Buch empfangen hatte, fielen die vier Wesen und die vierundzanzig Ältesten vor dem Lamm nieder. Und jeder von ihnen hatte eine Harfe und goldene Schalen mit Räucherwerk - das sind die Gebete der Heiligen. (9) Und sie sangen ein neues Lied: Würdig bist du, das Buch zu empfangen und seine Siegel zu öffnen; denn du bist geschlachtet worden und hast erkauft mit deinem Blut für Gott Menschen aus jedem Stamm und jeder Sprache, aus jedem Volk und jeder Nation, 246 DRITTER TEIL: Der Tod Jesu in der Zeit nach Paulus <?page no="247"?> (10) und du hast sie für unseren Gott zu einem Königreich und zu einer Priesterschaft gemacht, und sie werden herrschen auf Erden. Johannes sieht nicht nur das Bekenntnis der christlichen Gemeinden und der treuen Zeugen des Lammes, sondern die ganze Schöpfung, die im aktiven und passiven Zeugnis des gestorbenen und auferstandenen Lammes ihren eigenen Sinn erkennt und besingt. Eine parallele Erweiterung des Bekenntnisses in die Öffentlichkeit ist im theologischen Versuch Messiaens sichtbar und dies gerade in den „ katholischen “ , das heißt in den betont christlichen Werken, die - genauso explizit - nicht für die Kirche konzipiert worden sind: „ Les trois petites liturgies “ " La Transfiguration de Notre Seigneur Jésus-Christ “ (1965 - 1969), „ Des canyons aux étoiles “ (1971 - 1974), „ La Ville d ’ En-Haut “ - das neue Jerusalem von Apok 21,1-7 - (1987), „ Eclairs sur l ’ Au-delà . . . “ (1987 - 1991) und eben „ Et expecto resurrectionem mortuorum “ . Eine zweite Verschiebung betrifft den Rahmen, für den Messiaen sein Werk „ Et expecto resurrectionem mortuorum “ komponiert hat. Er hatte das Werk eigentlich nicht in einer Kirche, sondern als eine Liturgie außerhalb der Mauern zu Gehör bringen wollen, „ im Hochgebirge, an der Grave, gegenüber den Glaciers de la Meije, in dieser kraftvollen und feierlichen Landschaft, die meine wahre Heimat ist “ . 31 Diese Vorstellungen finden ihre Bestätigung in einem späteren theologischen Rückblick Messiaens: „ Ich habe die Wahrheiten des Glaubens im Konzert durchgesetzt, aber in einem doppelten Sinne, sodass meine beiden religiösen Hauptwerke, die im Konzertsaal aufgeführt werden, heißen „ Trois petites liturgies de la Présence Divine “ und das andere „ Transfiguration de Notre Seigneur Jésus-Christ “ . Diese beiden Titel habe ich nicht ohne Bedacht gewählt: Ich wollte eine liturgische Handlung vollziehen, das heißt eine Art Gottesdienst, eine Art organisierten Lobgesangs ins Konzert verlegen. Meine besondere Originalität besteht darin, die Idee der katholischen Liturgie aus den Gebäuden aus Stein, die dem Gottesdienst gewidmet sind, herausgeholt zu haben und sie in andere Gebäude, die nicht dazu bestimmt sind, diese Art Musik zu empfangen, eingerichtet zu haben. “ 32 Die Verlegung der Liturgie in die Öffentlichkeit und die Teilnahme der gesamten Schöpfung an den Hymnen der bekennenden Gemeinde sind Zeugnisse und pragmatische Verwirklichungen der wesentlichen Aussage der Verkündigung: Dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn ist jede Autorität im Himmel und auf Erden gegeben worden, weil Gott seinen Sohn, der sich bis zum Tode am Kreuz erniedrigt und dahingegeben hatte, erhöht 31 Zitiert von Jean-Rodolphe Kars, Das Werk Olivier Messiaens und die katholische Liturgie, in: Thomas Daniel Schlee/ Dietrich Kämper (Hg.), a,a. O. 18 32 Claude Samuel, Permanences d ’ Olivier Messiaen. Dialogues et commentaires, Série Musique, Paris 1999, 26. 3 Der Tod Jesu in der Apokalypse des Johannes 247 <?page no="248"?> hat. Er hat ihm den Namen geschenkt, der über allen Namen steht, damit sich in dem Namen Jesu alle Knie beugen sollen, der Himmlischen, der Irdischen und der Unterirdischen, und jede Zunge bekennen soll: Herr ist Jesus Christus - zur Herrlichkeit Gottes des Vaters (Phil 2,9-11). Die kosmischen Visionenzyklen des Sehers von Patmos und - in der Zeit der Säkularisierung - die großen akustischen Kirchenfenster Messiaens ziehen aus dem Bekenntnis die logischen Konsequenzen: Die Relevanz des Todes und der Auferstehung Jesu lässt sich weder auf die geistige Geschichte der Glaubenden noch auf die christliche Gemeinde begrenzen, sondern schließt den gesamten Kosmos und die gesamte Weltgeschichte ein. Mit seiner kreativen Fantasie und seiner Kunst der Bilder, Farben und Rhythmen ist Johannes im neutestamentlichen Kanon einer der radikalsten Vertreter einer theologischen Reflexion, die Tod und Auferstehung Jesu konsequent universal denkt. 248 DRITTER TEIL: Der Tod Jesu in der Zeit nach Paulus <?page no="249"?> Ergebnis: Die kreative Vielfalt der Interpretationen als Form der Einheit des Christentums Der Versuch, die Bedeutung des Todes Jesu in den großen theologischen Entwürfen in der Zeit nach Paulus und in der Apokalypse in ein einziges Interpretationsmodell synthetisch zusammenzufassen, wäre nur im Rahmen eines übergeordneten Systems denkbar, das diesen Schriften fremd bleiben würde. Im Unterschied zu den Evangelien und den Paulusbriefen bilden sie nämlich weder ein literarisches noch ein gedankliches Korpus. Die Paulusbriefe stellen Variationen eines einzigen Paradigmas dar, das das Ereignis der Offenbarung Gottes und die in ihr enthaltene Berufung reflektiert. Den vier Evangelien liegt die Absicht zugrunde, den Weg Jesu zu seiner Passion und zum Tod von der Osterbotschaft her zu erklären. Der Hebräerbrief, der 1. Petrusbrief und die Apokalypse formulieren drei individuelle, kohärente und plausible Antworten auf die Frage nach der Relevanz und dem Sinn der Selbsthingabe, der Leiden und des Zeugnisses Jesu Christi für das Selbstverständnis des christlichen Glaubens. Diese Antworten lassen sich weder parallel beschreiben noch voneinander ableiten. So stellt ihre Nachbarschaft im neutestamentlichen Kanon noch einmal das Problem der Zusammengehörigkeit der verschiedenen, nicht widerspruchslos zu vereinbarenden Deutungen des Todes Jesu. 1 Die große Konvergenz: Theologie als Interpretation des Todes Jesu Als ein Kennzeichen der paulinischen Theologie werden die starke Konzentration der Argumentation auf das Kreuz und das mangelnde Interesse für die Lehre Jesu betrachtet. Es fällt nun aber auf, dass die Paulusbriefe nicht isoliert im Kanon stehen. Das Gleiche gilt für die großen Entwürfe am Ende des Kanons. Die gesamte Argumentation des Hebräerbriefs basiert auf der Deutung der Selbsthingabe und der Erhöhung des Sohnes, während der 1. Petrusbrief nur von seinen Leiden und seines Auferstehung und die Apokalypse nur von seinem Zeugnis und von seinem Sieg ausdrücklich redet. Unter den katholischen Briefen verweist nur der zweite Petrusbrief auf die Verklärungsgeschichte (2 Petr 1,17-18) und der Jakobusbrief auf einige der synoptischen Tradition parallele Jesus-Überlieferungen (am eindeutigsten ist die Parallelität von Jak 5,13 zu Matth 5,33-37). Rudolf Bultmann steht auf einem grundlegenden Konsens nicht nur der Paulusbriefe und der Evangelien, sondern der Gesamtheit des neutestamentlichen Kanons, wenn er die Theologie des Neuen Testaments als „ Entfaltung der Gedanken, in denen der christliche Glaube sich seines Gegenstandes, seines Grundes und seiner Konsequenzen versichert “ , definiert, wenn er ferner feststellt, dass der Glaube 249 <?page no="250"?> erst aufgrunnd des Kerygmas existiert, „ das Jesus Christus als Gottes eschatologische Heilstat verkündigt, und zwar Jesus Christus, den Gekreuzigten und Auferstandenen “ , und wenn er daraus programmatisch schließt, dass die neutestamentliche Theologie als Entfaltung der Verkündigung des Todes und der Auferstehung Jesu Christi verstanden werden muss. 1 Diese theologische Selbstdefinition des Wesens des christlichen Glaubens als Verkündigung und Deutung des Todes und der Auferstehung Jesu gründet sowohl auf der historischen als auch auf der theologischen Gestalt der neutestamentlichen Kanons. Sie scheint hermeneutisch evident zu sein und ist eine implizite Antwort auf die Vorstellungen des liberalen Protestantismus. Nach Adolf von Harnack sollten die Bekenntnisse des Todes und der Auferstehung als sekundärer, hellenistischer und dogmatischer Überbau betrachtet werden, den die Kirchen- und Theologiegeschichte an die Stelle der authentischen, moralischen Lehre Jesu gesetzt habe. Die wahre Kontinuität mit Person und Werk Jesu finde sich nicht in den kanonischen Evangelien, sondern in der treu überlieferten Verkündigung des vorösterlichen, historischen Jesus, wie sie die Redenstoffe, die Harnack der Spruchsammlung der Logienquelle zuschrieb, dokumentierten. Die tatsächliche Kontinuität habe in Milieus stattgefunden, für die die religiöse und moralische Lehre Jesu, nicht aber sein Tod und seine Auferstehung sinngebend gewesen seien. Das Wesen des Christentum lasse sich nicht durch die hellenistische Dogmatik, die die Paulusbriefe und das Markusevanhelium rezipiert und entwickelt hätten, definieren, sondern müsse in der ursprünglichen Jüngerschaft gesehen und aus ihr rekonstruiert werden. 2 Die Versuche, die Logienquelle zu rekonstruieren, und die Redaktion des Thomasevangeliums (NHC; II,2), die die Weisheitslehre Jesu in einer Sammlung von Aphorismen, Gleichnissen und kurzen Dialogen vermittelt, stellen in der Tat Überlieferungen seiner Worte und keine diskursive Interpretation des Kerygmas seines Todes und seiner Auferstehung dar: - Die in diesen Sammlungen überlieferten Traditionen reflektieren sämtlich die Predigt Jesu und seine Person von der vor- oder nachösterlichen Perspektive seines gewaltsamen Todes her (EvTh logia 12,28,38,65, und 66; Lk 7,31-34/ / Mt 11,16-19; Lk 14,27/ / Mt 10,38; Lk 16,16/ / Mt 13, 11.12). - Die weisheitliche Gattung dieser Sammlungen bildet literaturgeschichtlich keine Form des systematischen Denkens. Die Sammlungen argumentieren assoziativ, schließen aber die Existenz eines kohärenten Überzeugungssystem nicht aus. Es ist einleuchtend, dass der Autor des Markusevangeliums nicht daran interessiert war, die gesamte ihm bekannte Überlieferung der Worte Jesu zu dokumentieren, aber es gibt keine positive Evidenz dafür, dass das Florilegium der Logienquelle 1 Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, a. a. O., 1 f. 2 Adolf Harnack, Beiträge zur Einleitung in das Neue Testament II: Sprüche und Reden Jesu. Die zweite Quelle des Matthäus und Lukas, Leipzig 1897. 250 DRITTER TEIL: Der Tod Jesu in der Zeit nach Paulus <?page no="251"?> oder die Komposition des Thomasevangeliums eine Selbstdefinition der Jesusbewegung voraussetzt, die das Kerygma der Todes und der Auferstehung Jesu ausschließt. - Die außerkanonische Literatur des frühen Christentums bestätigt die grundlegende Bedeutung des Todes und der Auferstehung Jesu für die Selbstdefinition des Christentums. Der apokryphe Brief des Jakobus (NHC I,2) und der Dialog des Erlösers (NHC III,5) enthalten zwar einige unbekannte Aphorismen und Gleichnisse Jesu, aber der Konflikt der frühgnostischen und der nichtgnostischen Interpretationen der christlichen Botschaft konzentriert sich auf die Deutung des Todes Jesu. Die Frage lautet: Wie ist das Befreiungsereignis seines Todes und seiner Auferstehung zu verstehen? Die gnostischen Antworten legen dieses Ereignis als die von dem himmlischen Offenbarer enthüllte Möglichkeit aus, sich von der Kontingenz dieser Welt durch die Vereinigung mit dem himmlischen Vater zu erlösen, während sie für die christliche Freiheit der Paulusbriefe, für die gute Nachricht der Evangelien und für die Berufung zum bekennenden Zeugnis, wie sie der erste Petrusbrief und die Apokalypse thematisieren, in einem von der Gegenwart der Transzendenz bestimmten neuen Selbstverständnis und in der Verantwortung in der von Gott gegebenen Wirklichkeit besteht. 2 Der Konflikt der Interpretationen des Todes Jesu als Form der gegebenen Einheit des Christentums Im Hebräerbrief, im 1. Petrusbrief und in der Apokalypse bildet - wie im paulinischen Denken und in der kerygmatischen Darstellung der Evangelien - die Deutung des Todes Jesu den gemeinsamen Nenner und gleichzeitig die Grundlage der Selbstdefinition des christlichen Glaubens. Tod und Auferstehung Jesu werden als das Ereignis bekannt, das den Glaubenden Ruhe, ein reines Gewissen und Hoffnung gibt (Hebräerbrief), das die Erwählung der Christen offenbart und ihrem Leben Orientierung und Sinn verleiht (1. Petrusbrief) und das ihnen ermöglicht, die wirklichen Machtverhältnisse zu verstehen und in der verzweifelten Welt der römischen Globalisierung persönliche und politische Verantwortung wahrzunehmen (Apokalypse). Die drei großen theologischen Entwürfe am Ende des Kanons stellen sich als hermeneutische Versuche vor, die Bedeutung von Tod und Auferstehung Jesu für die Gegenwart zu verstehen. Unsere erste These ist, dass sie dabei kein einheitliches Deutungsparadigma vertreten und auch kein gemeinsames Deutungsmuster voraussetzen. Ihre Gemeinsamkeiten bestehen auf der einen Seite in ihrem Gegenstand, dem Selbstverständnis des christlichen Glaubens als Vergegenwärtigung der theologischen und anthropologischen Bedeutung von Tod und Auferstehung Jesu, und auf der anderen Seite in einzelnen Interpretamenten, die in jedem Entwurf eine spezifische, von der Logik des jeweiligen Entwurfs abhängige Bedeutung erhalten. An einigen mehr oder weniger zentralen Stellen des Hebräerbriefs, des 1. Petrusbriefs und der Ergebnis: Die kreative Vielfalt der Interpretationen 251 <?page no="252"?> Apokalypse erscheinen die Symbolik und Metaphorik des Blutes, die in jeder Kultur und Sprache als universale Metaphern des Todes verwendet werden. Die Parallelität setzt keine gemeinsamen Deutungsmuster voraus. Eine Konvergenz wird allenfalls in dem dramatischen Lebensende Jesu als Selbsthingabe sichtbar, eine zweite Teilkonvergenz im Bekenntnis des Zeugnischarakters dieses Todes (1 Petr 1,19; Apol 12,11). In keinem Fall hat aber die Selbsthingabe Jesu die Funktion eines Opfertodes als Stellvertretung. Im Gegenteil: Im Hebräerbrief wird Jesus als der Erste der Erlösten, im 1. Petrusbrief als das Vorbild für das Leiden der Erwählten in einer Strategie der Gewaltlosigkeit und in der Apokalypse als die sinngebende Mitte der Zeugen dargestellt. Unsere zweite These ergibt sich aus der Beobachtung, dass die Einheit der neutestamentlichen Deutungen nicht in der theologischen Interpretation des Ereignisses des Todes Jesu, sondern vielmehr im Bekenntnis der absoluten Singularität seines Offenbarungscharakters und in der entsprechenden Aufgabe besteht, den Tod Jesu als das für die Erkenntnis der Wahrheit Gottes, der Wahrheit des Menschen und der gegebenen Wirklichkeit entscheidende Ereignis zu verstehen. Die Osterbotschaft als Offenbarung der Wahrheit Gottes macht den Tod Jesu zum Stein des Anstoßes, der Ablehnung auslöst oder Vertrauen schafft, um die hermeneutische Reflexion des Paulus zu wiederholen. Die Torheit des Kreuzes ist unvermeidlich paradoxale Vermittlung einer Wahrheit, die Glauben ermöglicht und die Vernunft auffordert, zu interpretieren und zu verstehen. Es kann nicht eine einzige Interpretation des Kreuzes geben, sondern nur die Aufgabe, die Botschaft des Kreuzes zu verstehen. Das Christentum kann sich nicht aufgrund einer einheitlichen Interpretation des Kreuzes definieren, die die Veränderungskraft des Evangeliums in den Rahmen einer Orthodoxie binden und neutralisieren würde. Es kann nur aus der Vielfalt der Interpretationen intellektuelle und praktische Konsequenzen ziehen. In der Zeit nach Paulus und zeitgleich mit den Evangelien bezeugen die großen Entwürfe am Ende des neutestamentlichen Kanons, dass die Aufgabe, das Kreuz Jesu zu verstehen, so lange unabgeschlossen bleiben muss, wie Menschen Gott und sich selbst erkennen und verstehen wollen, Diese Aufgabe, ist nur im Konflikt der Interpretationen zu erfüllen. Sie fordert die christliche Theologie zum kreativen Denken auf. 252 DRITTER TEIL: Der Tod Jesu in der Zeit nach Paulus <?page no="253"?> ZUSAMMENFASSUNG: Der Tod Jesu und das Wesen des Christentums <?page no="255"?> 1 Bedeutung und Deutungen des Todes Jesu: Systematische Darstellung der neutestamentlichen Interpretationen Unsere Auslegung der neutestamentlichen Versuche, die Bedeutung des Todes Jesu zu verstehen, führte uns zu Ergebnissen, die sich in einigen Thesen zusammenfassen lassen. 1.1 Die Notwendigkeit der Interpretation des Todes Jesu nach Ostern Die Bedeutung des Todes Jesu folgt aus den Erscheinungen des Auferstandenen und der Osterbotschaft. An sich gehört der Tod zu den universalen Befindlichkeiten der menschlichen Existenz, und das gewaltsame Ende Jesu reiht ihn allenfalls in die Reihe der leidenden Propheten (Matthäus verweist auf Jeremia: Mt 2,17; 16,14; 27,9), der leidenden Märtyrer oder (gemeinsam mit Sokrates) der leidenden Philosophen ein. Auffällig ist, dass sich der Ausgangspunkt der neutestamentlichen Deutungen des Todes Jesu in dem Bekenntnis findet, dass sich Jesus nach seiner Kreuzigung als der auferstandene Herr hat sehen lassen (1 Kor 9,1; 15,5-8), dass er nach seinem Tod seinen Jüngern erschienen ist (Mt 28,9-10.16 - 20; Lk 24,13-49; Joh 20,19-29) und dass Gott den Gekreuzigten als seinen Sohn offenbart hat (Gal 1,12.16). Die Notwendigkeit einer theologischen Interpretation des Todes Jesu folgt also aus der Osterbotschaft. Die Bekenntnisaussage, dass der Gekreuzigte von Gott auferweckt wurde bzw. auferstanden ist, verlangt nach einer Erklärung der Bedeutung seines Todes. 1.2 Die Vielfalt der neutestamentlichen Interpretationen des Todes Jesu. Ergibt sich die Notwendigkeit eines theologisch relevanten Verständnisses des Todes Jesu aus der Osterbotschaft, folgt rein logisch als zweite Notwendigkeit die Vielfalt der Interpretationen seines Todes. Die im Neuen Testament vorliegenden Deutungsmodelle sind Versuche, den Tod Jesu von seinen österlichen Erscheinungen und der Verkündigung seiner Auferstehung her zu begreifen. Sie müssen als verschiedene Aspekte der gemeinsamen hermeneutischen Aufgabe gelesen werden, die schlechthinnige Paradoxie der Kreuzigung des von Gott auferweckten und erhöhten Gottessohns zu verstehen: - Der Grund der Vielfalt der neutestamentlichen Deutungen des Todes Jesu liegt in dem hermeneutischen/ interpretativen Charakter der ver- 255 <?page no="256"?> schiedenen Deutungsversuche. Jeder hermeneutische Prozess setzt unvermeidlich eine Vielfalt der Auslegungen und einen offenen Konflikt der Interpretationen voraus. Es kann keine allgemeinen Deutungen eines Ereignisses - oder eines Textes - , sondern nur singuläre Versuche geben, Ereignis oder Text zu verstehen, weil die Möglichkeit des Verstehens eine reflexive Auseinandersetzung mit dem Gegenstand der Interpretation impliziert. Zum Anderen ist der Konflikt der Interpretationen auch deshalb notwendig, weil sich die Plausibilität einer Interpretation erst in einem kritischen und selbstkritischen Dialog feststellen lässt. - Eine Voraussetzung der Vielfalt der neutestamentlichen Interpretationsmodelle des Todes Jesu besteht darin, dass Jesus selbst keine eindeutige Erklärung für die Bedeutung seines Todes gegeben hat. Alte, möglicherweise vorösterliche, Sprüche der Jesusüberlieferung legen die Vermutung nahe, dass Jesus einen gewaltsamen Tod, wie ihn Johannes der Täufer erlitten hatte, für wahrscheinlich hielt (Mt 11,20). Damit wird eine logische Kontinuität zwischen der therapeutischen Gemeinschaft Jesu mit den Sündern und Zöllnern und den damit verbundenen religiösen und politischen Risiken hergestellt, aber daraus keine universale Bedeutung seines Todes abgeleitet. Die seit der Theologie des Mittelalters weit verbreitete Deutung des Todes Jesu als Stellvertretung und Sühne verstand das Bekenntnis, dass Jesus „ für uns “ , die Sünder, starb, in dem Sinn, dass er „ an unserer Stelle “ starb, doch ist diese Interpretation im Neuen Testament in der hermeneutischen Reflexion und in der Vielfalt seiner Deutungssmodelle nicht belegt. Die Deutung Anselms von Canterbury kann weder als eine Erklärung, die Jesus seinem bevorstehenden Tod gegeben hätte, noch als apostolische Selbstdefinition der christlichen Identität betrachtet werden. - Ein gemeinsamer Nenner der verschiedenen neutestamentlichen Interpretationen des Todes Jesu besteht in der Verkündigung der universalen Osterbotschaft als Offenbarung der Herrschaft des Gekreuzigten. Das Bekenntnis, dass Jesus Christus „ für uns “ gestorben ist bzw. seine Seele „ für viele “ dahingegeben hat, beschränkt die Auswirkung seines Todes und seiner Auferstehung nicht auf einen bestimmten Kreis, sondern bildet ein Identitätsangebot für die ganze Menschheit. Der Sinn dieses Angebots ist weder konservativ noch restaurativ, als ob es darum ginge, eine Ordnung zu bewahren oder einen ursprünglichen Zustand wiederherzustellen. Vielmehr besteht die Bedeutung von Tod und Auferstehung Jesu in der Kraft der Veränderung, die die Wirklichkeit in eine neue Schöpfung verwandelt. 1.3 Die Vielfalt der neutestamentlichen Bilder und Motive Der Vielfalt der Interpretationen des Todes Jesu im Neuen Testament entspricht die Vielfalt der eingesetzten Bilder und Motive: 256 ZUSAMMENFASSUNG: Der Tod Jesu und das Wesen des Christentums <?page no="257"?> - Bestimmte Vorstellungen werden dem Alltag entnommen: das Kreuz, der Loskauf und das Lösegeld, mit dem sich Sklaven freikaufen konnten oder freigekauft wurden, und die Rückkehr zum Vater. - Bestimmte Deutungselemente werden aus der Schrift herangezogen. - Mehrere Bilder, die zur alltäglichen Sprache gehören, können religiöse Konnotationen oder symbolische Dimensionen haben: die Erlösung als Freikauf der Sklaven, aber auch die Erinnerung an den Exodus des Volkes Israel aus Ägypten, das Blut, das als Metapher für einen gewaltsamen Tod verwandt wird, aber auch auf den Bundesschluss verweist, und die Erhöhung, die die Höhe des Raumes symbolisieren und die Entrückungen des Henoch und des Elia aktualisieren kann. Metaphern aus dem Alltag Metaphern aus dem Alltag, die mit einer religiösen Symbolik verbunden werden können Interpretamente aus der Schrift Kreuz: 1 Kor 1,17.18.23; Gal 5,11; 6,12.14; Phil 3.8; 3,18. kreuzigen: Röm 6,6; 1 Kor 1,13.23; 2,2.8; 2 Kor 13,4; Gal 2,19; 3,1; 5,24; 6,14. Lösegeld: Mk 10,45. Loskauf: Gal 3,13; 4,5. Rückkehr: Joh 7,33-35; 8,21-22; 13,31-33. Erlösung: Röm 3,24; 8,23; Eph 1,7.14; Kol 1,14. Blut: Mt 26,28/ / Mk 14,24/ / Lk 22,20/ / 1 Kor 10,16; 11,25.27; Joh 6,53.54.55.56; Röm 3,25; 5,9; Eph 1,7; 2,13; 6,12; Kol 1,20; Hebr 9,11-28; 10,19.29; 13,12.20; 1 Petr 1,2.19; 1 Joh 1,7; 5,6.8; Apoc 1,5; 5,9; 7,14; 12,11. Erhöhung: Joh 3,14; 8,28; 12,32. Reinigung: Hebr 9,11-28: 10,22; 12,24; 1 Petr 1,2. Sühneort oder Sühneopfer (Lev 16): Röm 3,25. Psalm 22 und 69: Mk 15,21-41/ / Mt 27, 33-56. Psalm 31: Lk 23,46/ / Apg 7,59. Der leidende Gottesknecht (Jes 53): Mt 8,17; Joh 1,29; 1 Petr 2,21-25 1.4 Typologie der neutestamentlichen Interpretationen des Todes Jesu Die kleine Typologie, die wir als systematische Zusammenfassung vorschlagen, beruht auf zwei Unterscheidungen, die sich aus den exegetischen Untersuchungen ergeben: Wir unterscheiden neutestamentliche Deutungen, die die absolute Singularität des Todes und der Auferstehung Jesu als das Ereignis der Befreiung verstehen (Markus, Paulus), von Interpretationen, die die Erlösung mit anderen christologischen Aspekten in Verbindung setzen: dem Kommen Jesu (Lukas), seiner Interpretation des Willens Gottes (Matthäus) oder seiner Auferstehung als Offenbarung der Erwählung der Heiligen (1. Petrusbrief). A. Nichttheologische nichtsoteriologische Interpretationen - Der Tod Jesu hat in diesen Interpretationen keine theologische Bedeutung. Er ist die Konsequenz der menschlichen Unheilsgeschichte. 1 Systematische Darstellung der neutestamentlichen Interpretationen 257 <?page no="258"?> - Der Tod Jesu ist die Kehrseite der Verkündigung des Heils, der Auferstehung der Toten (Lukas, Apostelgeschichte) oder der Erwählung und der Hoffnung (1 Petrusbrief). - Der Tod Jesu hat vorbildlich-pragmatischen Charakter. Jesus hat gelitten, wie auch die christlichen Zeugen leiden müssen. Sein Vertrauen auf Gott und sein Verzicht auf Gewalt werden als vorbildlich verstanden. Das lukanische Doppelwerk Der 1. Petrusbrief Die Kommunikation des Heils Die Predigt als Verkündigung der Auferstehung und als Aufforderung zum Bekenntnis der Sünden, zur Buße und zur Taufe Die Auferstehung Jesu als Offenbarung der Erwählung und als Begründung der Hoffnung Die Interpretation des Todes Jesu Der Gerechte (Lk 23,47; Apg 7,52) wurde von den Juden getötet, aber von Gott auferweckt. Der unschuldige Gerechte hat für Ungerechte gelitten, um die Sinnlosigkeit der existentiellen Leere aufzuzeigen und Orientierung zu geben. Die paradigmatische Bedeutung des Todes Jesu Jesus ist als vorbildlicher Mensch gestorben (Apg 7/ / Lk 23). Nicht sein Tod, sondern seine Auferstehung hat eine theologische Bedeutung. Die Leiden Jesu als Ausdruck der offensiven Treue zur Berufung sind Vorbild für die Lebensführung der Christen. B. Theologische nichtsoteriologische Interpretationen Der Tod Jesu hat in diesen Interpretationen insofern theologische Bedeutung, als er die Passion des prophetischen Zeugnisses und des Wortes Gottes ist: - Der Tod Jesu offenbart die Welt als Streitfeld zwischen Gott und Mächten, die die Macht Gottes über die Schöpfung, über die Menschen und ihre Handlungen bestreiten. Das Matthäusevangelium Die Apokalypse Die Kommunikation des Heils Die Verkündigung der Gerechtigkeit Gottes Die Offenbarung der Herrlichkeit des Lammes als Aufforderung zum treuen Bekenntnis und zum Zeugnis im Kampf gegen die Mächte, die die Gewissen beherrschen wollen (Apok 13) Die Interpretation des Todes Jesu Die Passion des prophetischen Wortes (mit Verweis auf Jeremia, Mt 16,14; 27,9; vgl. 2,17): Der Prophet besiegelt sein Wort mit seinem Tod (Mt 23,29-33). Das Blut des Lammes ist das passive Zeugnis, das aus dem aktiven Zeugnis folgt. Der Tod Jesu besiegelt sein prophetisches Wort (Apok 11,1-14). 258 ZUSAMMENFASSUNG: Der Tod Jesu und das Wesen des Christentums <?page no="259"?> Das Matthäusevangelium Die Apokalypse Die Bedeutung des Todes Jesu Die Enthüllung der falschen Prophetie und der Gewalt, auf der sie gründet (Mt 23,13-36) Als der in der Herrlichkeit thronende Menschensohn ist das Lamm Herr des Kosmos und Vorbild des Bekennens. C. Theologische soteriologische Interpretationen In einer ersten Variante dieser Interpretationen ist der Tod Jesu als Befreiung von den Mächten, die über den Menschen herrschen, gedacht: - Der Tod und die Auferstehung Jesu werden als die eschatologische Offenbarung Gottes verstanden. - Der Mensch wird von den „ menschlichen Gedanken “ , von der Herrschaft der Sünde und dem inneren Zwiespalt zwischen der Herrschaft der Sünde und der Hoffnung, die Seele zu retten, befreit. Das Markusevangelium Der Römerbrief (Röm 3,21-26) Der Galaterbrief (Gal 3,10-14) Die anthropologischen Voraussetzungen Der ungläubige Mensch, der seine Seele retten will, verliert sie. Die Unmöglichkeit, Gerechtigkeit aufgrund der Eigenschaften zu erreichen Die Existenz „ aus dem Gesetz “ als Verzweiflung Deutung des Todes Jesu Lösegeld Auslösung/ Sühneort Loskauf/ Kreuz Die Mittel der Befreiung Die Offenbarung des Gegensatzes von göttlichem und menschlichem Denken Gott erweist seine Gerechtigkeit in der Rechtfertigung. Das Kreuz offenbart den Fluch des Gesetzes. Die Möglichkeit der Befreiung Die Enthüllung der Todesmacht des menschlichen Denkens und die Offenbarung der Freiheit, die Seele dahinzugeben und dadurch zu retten Die Selbsthingabe Christi als Offenbarung der Großzügigkeit der göttlichen Gnade, die umsonst und bedingungslos vergibt und rechtfertigt Das Gesetz setzt sich mit der Verfluchung des gekreuzigten Gottessohns selbst schachmatt. Das Ziel der Befreiung Die Gottesherrschaft Die Gerechtigkeit ohne das Gesetz Die Verheißung für alle 1 Systematische Darstellung der neutestamentlichen Interpretationen 259 <?page no="260"?> Der 1. Korintherbrief (1,18-25) Der 2. Korintherbrief (5,18-21) Die anthropologischen Voraussetzungen Die Unfähigkeit der Weisheit, Gott vernünftig zu verstehen Der Mensch lebt getrennt vom Leben und verkennt die Wirklichkeit. Deutung des Todes Kreuz/ Rettung Versöhnung Die Mittel der Befreiung Das Kreuz als therapeutische Paradoxie der Kommunikation Das Kreuz als bedingungsloses Angebot der Gnade Gottes Die Möglichkeit der Befreiung Das Kreuz und die apostolische Predigt als Krise des Denkens Die Offenbarung der Sünde im Tod des Unschuldigen Das Ziel der Befreiung Die Befreiung der Glaubenden Die Rechtfertigung der Glaubenden Nicht miteinander verwechselt werden dürfen: - Das Opfer, das Gott in einem Ritual gewidmet ist und an sich weder eine Stellvertretung noch den Tod des Opfernden voraussetzt. - Die Stellvertretung, in der ich an Stelle eines anderen etwas tue, ohne dass dabei mein Tod vorausgesetzt wird. - Das Sterben für einen Menschen oder eine Sache, das weder eine Stellvertretung noch den Opfergedanken voraussetzt. - Die Selbsthingabe, die weder ein Opferritual noch eine Stellvertretung noch den Tod einschließt. - Das Martyrium als logisches und konsequentes Zeugnis. In einer zweiten Variante wird der Tod Jesu als Befreiung von dieser Welt verstanden: - Der Tod und die Auferstehung Jesu werden als die Erhöhung zum Vater oder in den Himmel interpretiert. Der Tod Jesu ist die Bedingung für die Erlösung der Menschen und deshalb auch die Möglichkeit der Erhöhung und Erlösung der Glaubenden. Im Johannesevangelium bezeichnet der Begriff des Glaubens die vom Offenbarer geschenkte Erkenntnis, dass der Vater den Sohn gesandt hat. Im Hebräerbrief meint er das Ausharren in der Hoffnung. - Der Tod Jesu ist die Eröffnung eines Weges: Der Mensch wird von dieser Welt befreit und in die göttliche Welt des Vaters geführt. 260 ZUSAMMENFASSUNG: Der Tod Jesu und das Wesen des Christentums <?page no="261"?> Der Hebräerbrief Das Johannesevangelium Die anthropologischen Voraussetzungen Die Existenz der Sünde im schlechten Gewissen Die Existenz „ aus der Welt “ = in der Finsternis = im Tod Deutung des Todes Reinigung/ Opfer/ Erhöhung Erhöhung Die Mittel der Befreiung Die Selbsthingabe des vollkommenen Sohnes als neuer Bundesschluss Rückkehr zum Vater, um alle Menschen zu ihm zu ziehen Die Möglichkeit der Befreiung Durchgang durch den Vorhang zwischen Erde und Himmel als Eröffnung des Zugangs zu Gott Aufforderung zum Glauben an den vom Himmel gesandten Sohn Das Ziel der Befreiung Erlösung, Reinheit, gutes Gewissen Die Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn 1 Systematische Darstellung der neutestamentlichen Interpretationen 261 <?page no="262"?> 2 Bedeutung und Deutungen des Todes Jesu: Systematische Darstellung der theologiegeschichtlichen Interpretationen Der Vielfalt der Interpretationen der Bedeutung des Todes Jesu im Neuen Testament entspricht eine breite Vielfalt systematisch-theologischer Interpretationen in der Theologiegeschichte. Die ausgewählten Beispiele zeigen typische Zugangsweisen und belegen damit ihrerseits, dass der Tod Jesu eine Deutung verlangt. 2.1 Die Denknotwendigkeit des Kreuzestodes Jesu: Anselm von Canterbury Anselm grundlegendes Werk „ Cur Deus homo “ ist der „ imponierende Versuch, die kirchlichen Glaubenslehren in einer intellektuell verantworteten Gesamtsicht zu entfalten “ 1 Die Bedeutung dieses Ansatzes liegt in dem Bestreben, Glaube und Vernunft nicht gegeneinander auszuspielen, sondern aufeinander zu beziehen, um auf diese Weise ein vertieftes Verständnis des Todes Jesu zu ermöglichen, das intellektuellen Nachfragen standhält. Für Anselm war die Lehre von der Versöhnung des Menschen mit Gott, die Soteriologie, der Mittelpunkt der Theologie. Das entspricht auch reformatorischem Denken: „ Luther geht wie Anselm davon aus, dass in Jesus ein Unschuldiger die Strafe trägt bzw. die Schuld der Menschheit stellvertretend einlöst. “ 2 Anselm vertrat mit Nachdruck die These, dass der Mensch zu seiner Versöhnung mit Gott keinen selbstständigen Beitrag leisten kann. Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit sind jedoch unserer Auffassung nach keine sich ausschließenden Gegensätze. Sie bedingen sich wechselseitig, Anselms Beweisführung erfolgte nicht anhand des Neuen Testaments, sondern in einem geschlossenen System, das rational überzeugen sollte. Die ontologischen Voraussetzungen dieses Systems sind heute philosophisch und theologisch nicht mehr nachzuvollziehen, doch bleibt der Versuch, die Bedeutung des Todes Jesu intellektuell verstehbar und theologisch verantwortet auszusagen, eindrucksvoll. 1 Hellmut Zschoch, Die Christenheit im Hoch- und Spätmittelalter. Von der Kirchenreform des 11. Jahrhunderts zu den Reformbestrebungen des 15. Jahrhunderts, Zugänge zur Kirchengeschichte 5, hg. von Horst F. Rupp, Göttingen 2004, 45. 2 Notger Slenczka in: Luther Handbuch, a. a. O. 382. 262 ZUSAMMENFASSUNG: Der Tod Jesu und das Wesen des Christentums <?page no="263"?> 2.2 Das Kreuz Jesu als die von Gott geschenkte Gerechtigkeit: Martin Luther Martin Luther kam nicht durch die Lektüre Anselms oder eines anderen grundlegenden theologisch-philosophischen Entwurfs, sondern durch die Beschäftigung mit Paulus und speziell dem Römerbrief zu der Erkenntnis, dass es sich bei der von Gott geforderten Gerechtigkeit ausschließlich um die von Gott dem Menschen um Jesu Christi willen umsonst geschenkte Gerechtigkeit handelte. Irgendwelche Vorleistungen, wie sie die spätmittelalterliche Kirche von ihren Gläubigen um des ewigen Lebens willen dringend einforderte, konnten dazu nichts beitragen. Luther war zutiefst überzeugt, dass Gott nur in der Ohnmacht Jesu Christi am Kreuz in seiner Herrlichkeit erkannt werden könne. Alles kam für ihn darauf an, in der Niedrigkeit und Schande des Kreuzes Gottes Heilshandeln im Glauben zu erkennen und gläubig anzunehmen. Die Rechtfertigung des Menschen beruhte für Luther auf dem stellvertretenden Leiden Jesu Christi am Kreuz, doch handelt es sich hier um keine äußere Ersatzhandlung. Vielmehr wird Christus am Kreuz die Person des Sünders selbst und trägt als solcher die Sünden der Welt. Der Glaube stimmt diesem „ fröhlichen Wechsel “ zu und lässt sich von Christus mit der „ Freiheit eines Christenmenschen “ beschenken. 2.3 Das Kreuz als Zeichen den Gehorsams: Jehan Calvin Das bestimmende Motiv in der Christologie Calvins ist der Gehorsam. Das Heilswerk Jesu Christi besteht nach Calvin darin, dass er uns während seines ganzen irdischen Lebens durch seinen Gehorsam erlöst und uns die vor Gott geltende Gerechtigkeit erworben hat. Das trifft in besonderem Maße für das Sterben Jesu Christi am Kreuz zu. Für das angemessene Verständnis der am Kreuz erfolgten stellvertretenden Genugtuung ist von zentraler, nicht nur formaler Bedeutung, dass Jesus durch Pontius Pilatus als Unschuldiger zum Tode verurteilt wurde und dennoch die verhängte Strafe gehorsam auf sich nahm. Ausdrücklich wurde auf diese Weise die prophetische Weissagung von dem gehorsamen Gottesknecht (Jes 53) bestätigt. Der Tod Jesu Christi am Kreuz ist nach Calvin ein „ Reinigungsopfer “ gewesen. Dieses Opfer hat eine doppelte Wirkung. Es bewirkt, dass der Tod unser Leben nicht mehr zunichte macht und wir als freie Menschen leben können. Gleichzeitig werden wir durch den Glauben in die Gemeinschaft dieses Sterbens einbezogen. In dem gehorsamen Sterben Jesu am Kreuz wohnt eine solche Kraft, dass sie auch im Leben der Christen sichtbar werden kann. Die Glaubenden gehen dem ewigen Leben entgegen. Argumentativ vertritt Calvin die reformatorische Rechtfertigungslehre, aber hebt den Gehorsam Jesu Christi besonders hervor. In dieser Hervorhebung liegt eine Besonderheit reformierter Theologie. 2 Systematische Darstellung der theologiegeschichtlichen Interpretationen 263 <?page no="264"?> 2.4 Das Paradox des Kreuzes: Sören Kierkegaard In einer Zeit, die das historische Leben Jesu in den Vordergrund stellte, um seine ideen- und kulturgeschichtliche Bedeutung für die aufgeklärte Gegenwart aufzuzeigen, hat Kierkegaard radikal zwischen dem historischen Jesus und dem Christus des Glaubens unterschieden. Das im konkreteren Sinn Historische war für ihn nebensächlich. Wichtig war nur zu wissen, dass das Leben Jesu eine Leidensgeschichte war. Alles kam für Kierkegaard darauf an, das Paradox zwischen der Verborgenheit und der Offenbarung Gottes herauszuarbeiten und im Glauben auszuhalten. Jesus war (und ist) für Kierkegaard in einer „ Knechtsgestalt “ unter den Menschen gegenwärtig. Er lebte bewusst „ inkognito “ . Um in der leidenden Knechtsgestalt Jesu Gott zu erkennen und zu glauben, bedarf es eines „ Sprunges im Glauben “ . Kierkegaard warf der zeitgenössischen Theologie und Kirche vor, auf diesen notwendigen Sprung nicht aufmerksam zu machen, das Paradox des Glaubens zu vergessen und sich einer kulturell durch das Christentum geprägten Gesellschaft anzupassen. Die Dialektische Theologie hat später diese Gedanken Kierkegaards wieder aufgenommen. 2.5 Das Kreuz als Mittelpunkt des Universums: Pierre Teilhard de Chardin Pierre Teilhard de Chardin wendet sich in seinen erst nach seinem Tod erschienenen Schriften dagegen, im Kreuz Jesu Christi nur ein Sinnbild der Traurigkeit und des Leidens zu sehen. Er war als Theologe und Naturwissenschaftler vielmehr überzeugt, dass das Kreuz der Mittelpunkt des (durch die Forschung unvorstellbar groß gewordenen) Universums ist. Zwar bedeutet auch für Teilhard das Kreuz einen Bruch mit der Welt und einen kritischen Punkt der Auseinandersetzung in der wahrnehmbaren Welt, doch in erster Linie ist es das höchste Ziel für die Menschen und dient auf dem Wege der Vergeistigung des Lebens dem Fortschritt der Menschheit, weil es das moralische Versagen überwindet. Für Teilhard hat der Fortschritt an dem Kreuz Jesu Christi eine sichere Stütze. Eindrucksvoll ist an dieser Interpretation das einheitliche Wirklichkeitsverständnis. Die Bedeutung des Kreuzes wird nicht auf den religiösen Bereich eingeschränkt, sondern als universaler Anspruch proklamiert. Doch geht die von Teilhard ausgesprochene Erwartung, dass uns das Kreuz „ zu den höchsten Zielen der Schöpfung führt “ , von einem Fortschrittsglauben aus, der weder an den Texten des Neuen Testaments noch an der erfahrbaren Wirklichkeit sicheren Anhalt hat. 264 ZUSAMMENFASSUNG: Der Tod Jesu und das Wesen des Christentums <?page no="265"?> 2.6 Das Kreuz als Zeichen der Erhöhung des Menschen: Karl Barth Karl Barth erörtert die Bedeutung des Kreuzes im Zusammenhang der Heiligung des Menschen. Der Gedankengang ist folgender: Im Tod Jesu Christi am Kreuz wird der Glaubende gerechtfertigt. Er erhält eine neue Existenzform, wird in die Nachfolge gerufen und zur Umkehr erweckt. So wie Jesus Christus am Kreuz durch seinen himmlischen Vater erhöht worden ist, so wird in Jesus Christus der Mensch dazu erhöht und „ ausgezeichnet “ , das eigene Kreuz in der Nachfolge Jesu auf sich zu nehmen und auf diese Weise Gott seine „ vorläufige “ Dankbarkeit zu bezeugen. Dem Glaubenden wird nach Barth die „ Würde des Kreuzes “ zuerkannt, aber ohne das Kreuz Christi gäbe es kein Kreuz der Jünger. Es handelt sich um eine Entsprechung, keine Gleichsetzung. In seiner Analyse möglicher Konkretionen des dem Christen auferlegten Kreuzes kommt Barth zu dem Ergebnis, dass der Christ beim Tragen seines Kreuzes an bittere Grenzen stoßen und oft am Rand der Verzweiflung leben wird. Doch gerade Zweifel und Anfechtungen bestärken ihn in der Gemeinschaft mit Christus. Alle Konkretionen beruhen auf der Analogie zwischen dem Kreuz Christi und dem Kreuz der Christen. Es handelt sich dabei nicht um eine Seinsontologie (analogia entis), sondern um eine nur im Heiligen Geist erkennbare Glaubensanalogie (analogia fidei). Barth nimmt in seiner Weise wieder auf, was Calvin mit der Betonung des Gehorsams Christi für den Gehorsam der Christen zum Ausdruck gebracht hatte. 2.7 Die kulturtheoretische Interpretation des Kreuzes: René Girard René Girard hat mit seiner kulturtheoretischen Hypothese, dass die Gewaltpotentiale in der menschlichen Gesellschaft geradezu zwangsläufig ein stellvertretendes Opfer erzwingen, um die vorhandene Gewalt zu kanalisieren und die Gesellschaft zu versöhnen, einen interessanten Beitrag zur Diskussion des Todes Jesu gegeben. Nach Girard beruht jede kulturelle, religiöse und politische Ordnung auf einem Opferkult, der den stellvertretenden Tod eines sakralisierten Opfers rituell vergegenwärtigt und damit die Gewalt in ihre Schranken weist. Girard sieht das Spezifische der meisten neutestamentlichen Texte darin, dass sie die Passion Jesu gerade nicht sakrifiziell deuten. Das ist zutreffend. Jesus stirbt nicht als Opfer, sondern gibt sein Leben aus eigenem Antrieb für die Menschen dahin. Bereits im Neuen Testament werden generell sowohl die Mechanismen, die zum Kreuzestod Jesu geführt haben, als auch die Ritualisierung des Opfers und der Stellvertretermechanismus als „ Heuchelei “ entlarvt und außer Kraft gesetzt, doch wird eine rein weltimmanente Deutung 2 Systematische Darstellung der theologiegeschichtlichen Interpretationen 265 <?page no="266"?> des Todes Jesu, wie sie Girard vertritt, der absoluten Singularität des Todes und der Auferstehung Jesu nicht gerecht. 2.8 Das „ Neue Sein “ der Erlösten: Paul Tillich Paul Tillich war daran interessiert, die Widersprüche zwischen Religion und Kultur zu überwinden und die innere Logik des Christentums aufzuzeigen. Er versuchte, Strukturen im menschlichen Denken zu finden, die es dem kritischen Zeitgenossen erleichterten, den christlichen Glauben besser zu verstehen. Dabei unterschied er konsequent zwischen der Frage und der Antwort. Während die Antwort, also die transzendente göttliche Wahrheit, unverfügbar und aus den immanenten Fragen des Menschen nicht ableitbar ist, sind die vielfältigen religiösen Anstrengungen der Menschheit nach Erlösung und der Wunsch nach einem neuen Sein historisch und empirisch nachweisbar. Tillich war überzeugt, dass überall dort, wo der Wunsch nach Erlösung laut werde, die Erlösung bereits wirksam sei. Tod und Auferstehung Jesu fasste Tillich mit dem Begriff des Christus-Symbols zusammen. Dieses Symbol ist für ihn paradox. Das Paradox besteht darin, dass für den christliche Glauben Christus durch seinen Tod der „ Träger des Neuen Seins “ ist und damit die letzten Fragen des Menschen beantwortet sind. Für die christliche Kirche kommt es nach Tillich darauf an, deutlich zu machen, dass die christliche Botschaft ein „ wesenhaftes Menschsein “ und ein „ personhaftes Leben “ ermöglicht und einen unverzichtbaren Beitrag zur menschlichen Kultur leistet. 266 ZUSAMMENFASSUNG: Der Tod Jesu und das Wesen des Christentums <?page no="267"?> 3 Die Bedeutung der Verkündigung des Todes Jesu Die Rezeption und die Wirkungsgeschichte der Verkündigung des Todes Jesu haben in der christlichen Theologie einen bunten und offenen Blumenstrauß von Interpretationen gebildet. Die vielfältigen frühchristlichen Deutungen, die uns im neutestamentlichen Kanon überliefert sind, fanden in der geistigen Geschichte des Abendlandes neue und kreative Fortsetzungen. Sie alle versuchen, wie wir an typischen Beispielen gezeigt haben, die Wahrheit Gottes, der sich am Kreuz offenbart hat, und die Wahrheit der menschlichen Existenz aufeinander zu beziehen und zu verstehen. 3.1 Die notwendige Vielfalt und Offenheit der Deutungen Als eine erste These leiten wir aus unserer Auslegung der neutestamentlichen Deutungen des Todes Jesu als Implikation ab, dass die Vielfalt der Deutungen nicht nur als ein historisches Faktum, sondern auch als Erfüllung der hermeneutischen Aufgabe, das Ereignis des Kreuzes zu verstehen, wahrzunehmen ist. Die Vielfalt der Interpretationen des Todes Jesu im neutestamentlichen Kanon und in der Theologiegeschichte muss zunächst als ein historisches Faktum anerkannt werden. Tatsachenaussagen begründen für sich allein genommen noch keine Wertungen. Das Fehlen einer einzig maßgeblichen, kanonischen und normativen, Deutung impliziert aber, dass sich das Christentum nicht einfach durch den Verweis auf eine einzige der möglichen Deutungen, die dann als dogmatisches Wahrheitskriterium fungieren würde, definieren lässt. Dies gilt insbesondere für das Erklärungsmodell des Opfertodes Jesu als Stellvertretung, das sich seit dem Mittelalter in der Theologie, den Katechismen und Bekenntnissen des westlichen Christentums durchgesetzt hat. Die Deutung des Todes Jesu durch Anselm von Canterbury entsprach den Denkstrukturen des Mittelalters und erfüllte in der Gesellschaft eine stabilisierende Funktion. Sie wurde mit einer auffälligen Selbstverständlichkeit von den Reformatoren ohne kritischen Vorbehalt übernommen. Ihre Aussagekraft besteht in der Betonung des Gnadencharakters der Selbsthingabe Jesu in den Tod, ihre Grenze aber in der religiöses Prämisse, die Ehre Gottes müsse durch Genugtuung gerettet werden, und in ihrem konservativen Charakter: Der Tod Jesu stellt nach diesem Modell vor allem die gestörte göttliche Ordnung wieder her. Paulus und das Johannesevangelium hatten in der Offenbarung des von Gott gesandten Sohnes einen ganz anderen Sinn gesehen. Durch Tod und Auferstehung Jesu wurde der Mensch als freie, bedingungslos anerkannte Person neu geschaffen. Die Möglichkeit einer Neugeburt „ von oben her “ ließ ihn vom Tod zum ewigen Leben Gottes hinübergehen: 267 <?page no="268"?> - Die verschiedenen Deutungsmodelle haben insofern Plausibilität und Relevanz, als sie die absolute Singularität der Offenbarung Gottes am Kreuz Jesu zu begreifen versuchen und ihre Bedeutung für die Erkenntnis Gottes und des Menschen reflektieren. Die Vielfalt der Deutungen des Todes Jesu erweist sich nicht nur als unvermeidlich, sondern auch als hermeneutisch notwendig: - Die vielfältigen Deutungen lassen sich nicht auf eine einzige konsensfähige Erklärung zurückführen, weil jede bekennende Verkündigung des Todes und der Auferstehung Jesu nicht die Vermittlung von objektiven Informationen, die ein bestehendes Wissen lediglich erweitern würden, zum Ziel hat. Sie bringt vielmehr eine Verheißung zur Sprache, die zu einem neuen Verständnis Gottes und des Menschen führt. Wissen kann unterrichtet werden. Verstehen dagegen setzt ein subjektives Moment voraus. Dass Jesus am Kreuz gestorben ist, gehört zum allgemeinen historischen Wissen. Die Bedeutung dieses Todes aber ist eine Frage des Verständnisses und der Interpretation, die eine Wechselbeziehung zwischen dem Gegenstand der Interpretation und dem Interpreten verlangt. Die Deutungen des Todes Jesu sind keine zeitlosen Erklärungsmodelle. Der Tod Jesu erlangt seine Bedeutung bei Denkern, die immer von neuem versuchen, Gott, sich selbst und ihre Zeit zu verstehen. Ihr gemeinsamer Nenner besteht in der Kontingenz ihres Verständnisses der Offenbarung Gottes am Kreuz Jesu. Die Wahrheit, die sich am Kreuz offenbart hat, ist nur durch die Reflexion des Interpreten zugänglich. Diese Reflexion ist zeitbedingt. Die verschiedenen Interpretationen und ihre Deutungsmodelle sind nicht die Wahrheit, aber sie verweisen auf eine Wahrheit jenseits aller Formulierungen. 3.2 Die Bedeutung des Todes Jesu als neuer Schöpfung Als eine zweite These, die wir ebenfalls als Implikation aus unserer Auslegung der neutestamentlichen Deutungen des Todes Jesu ableiten und vertreten, müssen wir anerkennen, dass sich die Vielfalt der Deutungen nicht nur als hermeneutisch, sondern auch als sachlich notwendig erweist. Denn die Relevanz des Evangeliums besteht in seiner aktuellen, immer neuen Veränderungs- und Befreiungskraft: - Die Deutungen des Todes Jesu lassen sich nicht auf den gemeinsamen Nenner einer einzigen Interpretation zurückführen, weil das Kreuzesereignis als eine Paradoxie der Kommunikation wirkt. Diese Paradoxie unterbricht den normalen Ablauf der Geschichte und die Lawine der Abhängigkeitsverhältnisse, die sich aus der Selbstorganisation des menschlichen Geistes ergibt und die Paulus und Johannes mit dem Begriff der Sünde personifizieren. Durch diesen „ Stolperstein “ vermittelt der ganz andere Gott, der sich nicht auf dem Gipfel unserer Ideale, sondern am Kreuz Jesu offenbart, die an sich unvorstellbare Möglichkeit einer neuen Schöpfung bzw. eines neuen Seins, um es mit Paul Tillich zu 268 ZUSAMMENFASSUNG: Der Tod Jesu und das Wesen des Christentums <?page no="269"?> formulieren. Gerade diese Paradoxie ist es, die die Wahrheit der menschlichen Existenz als Rationalität des Vertrauens auf die bedingungslose und gegenseitige Anerkennung zwischen Gott und dem Menschen verwirklicht. - Die am Kreuz offenbarte neue Möglichkeit der Identitätsfindung des Subjekts durch die gute Nachricht der bedingungslosen Anerkennung durch Gott - paulinisch formuliert: durch den Glauben an das Evangelium der Gerechtigkeit Gottes - lässt sich auf keine feste dogmatische Formel reduzieren, weil sie keine neue Erkenntnis in die alten Denksysteme einbringt, sondern eine Veränderung des Systems, ja einen Systemwechsel bewirkt: die Befreiung von den Systemen der Vollkommenheitsideale und des Tausches hin zu einer Logik der Anerkennung und der Gegenseitigkeit. - Der durch die Paradoxie der Gottesoffenbarung am Kreuz bewirkte Systemwechsel bedeutet nicht nur eine Veränderung der Gotteserkenntnis, sondern auch der Erkenntnis des Menschen. Die vielfältigen neutestamentlichen Deutungen des Todes Jesu verkündigen das Evangelium als die universal gültige gute Nachricht. Die neue Schöpfung des Subjekts bedeutet die Entdeckung einer neuen Dimension des geistigen Lebens des „ Ichs “ und gibt dem Individuum die Möglichkeit des persönlichen Bewusstseins seiner selbst, die Augustin zum Thema seiner „ Selbstbetrachtungen “ gemacht hatte. Sie schließt ein neues Selbstwertgefühl ein. Aus dem Vertrauen auf Gott folgt für jeden glaubenden Menschen die universale Befreiung von Werturteilen, Abhängigkeiten und Selbstdefinitionen und die Verwandlung in ein anerkanntes und verantwortliches Subjekt. 3 - Für das neutestamentliche Verständnis besteht die Bedeutung des Todes Jesu nicht in der Wiederherstellung einer verfallenen Ordnung, sondern in der neuen Schöpfung eines gegenseitigen Vertrauens, aus dem neue Dimensionen des geistigen Lebens des „ Ichs “ als Verhältnis zu sich selbst entstehen. 4 3 Wahrheit und Plausibilität des Evangeliums bestehen in seiner Befreiungskraft. Die Verkündigung des Todes und der Auferstehung Jesu hätte in der antiken Welt nicht als die gute Nachricht gehört werden können und könnte es auch wohl nicht in einer - wahrscheinlich als einer indirekten, aber logischen Folge des Evangeliums - säkularisierten Welt, wenn sie nur in der Aufforderung bestünde, die Wohltat einer Stellvertretung anzunehmen und an einem endzeitlichen Heil teilzuhaben. 4 Die Aufhebung dieses paradoxen Bezugs, die das Selbstbewusstsein des Subjekts von seinem transzendenten Grund der Anerkennung Gottes abkoppelt, führt zum modernen Phänomen des Individualismus. Der moderne Individualismus kennzeichnet sich dadurch, dass das Individuum versucht, seine Identität auf sich selbst und seine Eigenschaften zu begründen. Weil sich aber die Singularität der Person durch allgemeine Eigenschaften nicht begründen lässt, sucht das Individuum die Anerkennung durch den Ausweis seiner Authentizität als der Wahrheit des Verhältnisses zu sich selbst zu erlangen. Die Veröffentlichung der Innerlichkeit setzt aber ihren Verlust voraus, wie es Alain Ehrenberg, L ’ individu incertain, a. a. O., genau analysiert hat. Diese Form der individuellen Selbstorganisation ist bereits im Matthäusevangelium als „ Heuchelei “ beschrieben worden. Sie behält die Form der Gerechtigkeit bei, obwohl sie den Bezug 3 Die Bedeutung der Verkündigung des Todes Jesu 269 <?page no="270"?> 3.3 Die Bedeutung des Todes Jesu als Grund des christlichen Glaubens Die Argumentation unseres Buches hat als Arbeitshypothese die für die Selbstdefinition des Christentums und für den christlichen Glauben grundlegende Bedeutung des Todes Jesu vorausgesetzt. Die theologische Reflexion steht vor der Aufgabe, die neutestamentlichen Interpretationen zu verstehen und ihre Relevanz so klar wie möglich zu erklären, weil das Bekenntnis der absoluten Singularität des Ereignisses von Tod und Auferstehung Jesu die wesentliche Mitteilung der Verkündigung ist, die Paulus und Markus mit dem Begriff des Evangeliums bezeichnet haben. Tod und Auferstehung Jesu bilden das christologische und sinngebende Zentrum der christlichen Selbstdefinition. Tod und Auferstehung Jesu stehen auch im Zentrum der christlichen Bekenntnisformeln. Die von Paulus in 1 Kor 15,3-5 zitierte Tradition konzentriert das ganze Werk Christi auf die beiden Momente seines Todes und seiner Auferstehung. Dann erweitert der paulinische oder vorpaulinische Hymnus des Philipperbriefs (Phil 2,6-11) die Perspektive mit poetischen Hinweisen auf die Herkunft Jesu (Phil 2,6-8) und seine Herrschaft über alle Mächte im Himmel, auf der Erde und unter der Erde (Phil 2,8-11). Sein Leben wird hier nur als der Weg zum Kreuz erwähnt. Weder seine Lehrtätigkeit noch die therapeutischen Handlungen, die in den Reden und Wundererzählungen der Evangelien überliefert sind, werden genannt. Das Gleiche gilt für den Prolog des Johannesevamgeliums (Joh 1,1-18), später für das Apostolikum und das Nizänum-Konstantinopolitanum und für viele Katechismen der Reformation. Als Christus ist Jesus insofern zum Gegenstand des Glaubens geworden, als er als Gott und Mensch für uns geboren, für uns gestorben, auferstanden und erhöht worden ist. Als dritte These, die wir aus den neutestamentlichen Deutungen des Todes Jesu ableiten, heben wir hervor, dass die zentrale Stellung des doppelten Ereignisses des Todes und der Auferstehung Jesu nicht nur als historisches Faktum betrachtet werden muss, sondern dass die Tradition der ökumenischen Bekenntnisse auf das Moment einer Offenbarung verweist, die die Autoren der neutestamentlichen Schriften als das Gründungsereignis jeder theologischen Reflexion bekennen: - Die logische Kohärenz des paulinischen Denkens hat ihren Grund in der österlichen Offenbarung des Gekreuzigten als des Gottessohns. - Die Architektur der vier kanonischen Evangelien erfüllt die theologische Aufgabe, die Geschichte Jesu von Ostern her als das Drama seines Weges zu seiner Selbsthingabe und seiner Erhöhung am Kreuz aufzubauen. - Der gemeinsame Nenner der großen Entwürfe am Ende des neutestamentlichen Kanons besteht in der Notwendigkeit, die Wirklichkeit des Alltags auf der Basis der Singularität des Zeugnisses, der Leiden, des zur Transzendenz verloren hat. Sören Kierkegaard hat sie als die beiden symmetrischen Variationen der Verzweiflung beschrieben. 270 ZUSAMMENFASSUNG: Der Tod Jesu und das Wesen des Christentums <?page no="271"?> Todes und der Verherrlichung Jesu Christi zu verstehen und den Alltag persönlich, gesellschaftlich und politisch zu gestalten. Die Selbstdefinition des Christentums als Evangelium des Todes und der Auferstehung Jesu hat im Prozess der Aufklärung und der Säkularisierung an Plausibilität verloren, weil die Wahrheit der Offenbarung der bedingungslosen Anerkennung Gottes und der Gründung der menschlichen Identität durch gegenseitiges Vertrauen auf die Deutung des Todes Jesu als Stellvertretung reduziert wurde. Diese als normativ geltende Deutung wurde aus guten Gründen vom kritischen Verstand als nur noch wenig nachvollziehbare Konstruktion in Frage gestellt. Das entscheidende Gründungsereignis des modernen Humanismus wurde stattdessen die Lehre Jesu, wie sie in der Bergpredigt programmatisch zusammengefasst ist. Die Formulierung einer rationalen, kritischen und verständlichen Interpretation der Gottesoffenbarung am Kreuz Jesu Christi bleibt eine dringende Notwendigkeit, um die anthropologischen Überzeugungen der humanistischen Tradition durch die Erinnerung an ihre theologischen Wurzeln bewusst zu machen und die befreiende und ermutigende Kraft des Evangeliums zu bezeugen. 3 Die Bedeutung der Verkündigung des Todes Jesu 271 <?page no="272"?> Literaturverzeichnis Theologische Werke Ernest-Bernard Allo, Saint Paul Seconde épître aux Corinthiens, Etudes Bibliques 1937. Alain Badiou, Saint Paul. La fondation de l ’ universalisme. Les essais du collège international de Philosophie, Paris 1997. Deutsche Übersetzung: Paulus. Die Begründung des Universalismus, Zürich/ Berlin 2002. Giuseppe Barbaglio, La Prima lettera ai Corinci. 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Michel Corboz hat zu ihrer modernen Wiederentdeckung durch eine erste Gesamtaufnahme beigetragen, die musikalische und theologische Bedeutungen deutlich verbindet (1967 - 1969). l Von zwei Interpreten der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach haben wir viel gelernt. Karl Münchinger verabschiedete sich 1964 von einer romantischen Auslegungstradition. Er baut mit einem Kinderchor und einem Kammerorchester einen dramatischen Spannungsbogen auf, der die drei verschiedenen Ebenen der Gebete der Gemeinde, der Verkündigung des Evangeliums und der Kommentare klar unterscheidet und die liturgische Einheit des Werkes als Evidenz hören lässt. Nikolaus Harnoncourt hat neue Wege der Aufführungspraxis eröffnet, indem er die alten Instrumente wiedereingeführt hat, die Rhetorik der Musik hervorhebt und seine interpretativen Entscheidungen kritisch begründet (1970 und 2001). l Serge Baudo, der 1965 die offizielle, private Aufführung von Olivier Messiaens „ Et expecto resurrectionem mortuorum “ leitete, und Pierre Boulez, der 1966 die öffentliche Erstaufführung dirigierte, haben das Werk aufgenommen, Boulez sogar mit verschiedenen Orchestern (1971 und 1993). l „ In Croce “ wird oft mit anderen Kammerwerken von Sofia Gubaidulina oder mit ihren musikalisch und theologisch verwandten „ Sieben Worten für Cello, Bajan und Streichorchester “ (1982) angeboten. Die Fassung für Cello und Bajan ist in Zusammenarbeit mit Elsbeth Moser entstanden, die sie mit Maria Kliegel eingespielt hat (1995). 275 <?page no="277"?> Anhang: Übersichten zum Aufbau von Bachs Matthäuspassion und von Gubaidulinas „ In Croce “ <?page no="279"?> Aufbau von Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion ERSTER TEIL Prolog 1 I + II Chori Kommt, ihr Töchter Henrici + O Lamm Gottes unschuldig 1 (Nikolaus Decius, 1531) Erste Sequenz: Bethanien, Ankündigung des Verrats und Abendmahl 2 I Ev + Jesus Da Jesus diese Rede Mt 26,1-2 3 I = II Choral Herzliebster Jesu, was du verbrochen = Strophe 1 Johann Heermann (1630) 4 a I Ev Da versammelten sich die Hohenpriester Mt 26,3-5 a 4 b I + II Chori Ja nicht auf das Fest Mt 26,5 b 4 c I Ev Da nun Jesus war zu Bethanien Mt 26,6-8 a 4 d I Chorus Wozu dienet dieser Unrat Mt 26,8 b-9 4 e I Ev + Jesus Da das Jesus merkte Mt 26,10-13 5 I Rezitativ Du lieber Heiland du Henrici 6 I Aria Buß und Reu Henrici 7 I Ev + Judas Da ging hin der Zwölfen einer Mt 26,14-16 8 II Aria Blute nur, du liebes Herz Henrici 9 a I Ev Aber am ersten Tage Mt 26,17 a 9 b I Chorus Wo du willst Mt 26,17 b 9 c I Ev + Jesus Er sprach, gehet hin Mt 26,18-21 9 d I Ev Und sie wurden sehr betrübt Mt 26,22 a 9 e I Chorus Herr, bin ichs Mt 26,22 b 10 I = II Choral Ich bins, ich sollte büßen = O Welt sieh hier dein Leben 5 Paul Gerhardt (1647) 11 I Ev + Jesus Er antwortete und sprach Mt 26,23-29 12 I Rezitativ Wiewohl mein Herz in Tränen schwimmt Henrici 13 I Aria Ich will dir mein Herz schenken Henrici 14 I Ev + Jesus + Judas Und als sie den Lobgesang gesungen hatten Mt 26,30-32 O Haupt voll Blut und Wunden 1 et 2 15 I = II Choral Erkenne mich mein Hüter = O Haupt voll Blut und Wunden 5 Paul Gerhardt (1656) 16 I Ev + Jesus + Petrus Petrus aber antwortete Mt 26,33-35 279 <?page no="280"?> 17 I = II Choral Ich will hier bei dir stehen = O Haupt voll Blut und Wunden 6 Paul Gerhardt = 15 + 54 + 62 Zweite Sequenz: Gethsemani und die Flucht der Jünger 18 I Ev + Jesus Da kam Jesus mit ihnen Mt 26,36-38 19 I + II Rezitativ + Choral O Schmerz! hier zittert + Herzliebster Jesu 3 Henrici Johann Heermann = 3 + 46 20 I + II Aria + Chor Ich will bei meinem Jesus wachen Henrici 21 I Ev + Jesus Und ging hin ein wenig Mt 26,39 22 II Rezitativ Der Heiland fällt vor seinem Vater nieder Henrici 23 II Aria Gerne will ich mich bequemen Henrici 24 I Ev + Jesus Und er kam zu seinen Jüngern Mt 26,40-42 25 I = II Choral Was mein Gott will, das gscheh allzeit = Strophe 1 Albrecht von Preußen (1547) 26 I Ev + Jesus + Judas Und er kam und fand sie aber schlafend Mt 26,43-50 27 a I + II Aria + Chor So ist mein Jesus nun gefangen Henrici 27 b I + II Chori Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden Henrici 28 I Ev + Jesus Und siehe, einer aus denen Mt 26,51-56 Choral 29 I = II Choral O Mensch, bewein dein Sünde groß = Strophe 1 Sebald Heyden (1525) O Mensch, bewein ’ dein ’ Sünde groß, Darum Christus seins Vaters Schoß Äußert und kam auf Erden: Von einer Jungfrau, rein und zart, Für uns er hie geboren ward, Er wollt ’ der Mittler werden. Den ’ n Toten er das Leben gab, Und legt dabei all ’ Krankheit ab Bis sich die Zeit herdrange, Dass er für uns geopfert würd ’ , Trüg ’ unsrer Sünden schwere Bürd ’ Wohl an dem Kreuz lange. ZWEITER TEIL Dritte Sequenz: Die falschen Zeugnisse, Petrus ’ Verleugnung und Jesu Schweigen 30 I + II Aria mit Chor Ach, nun ist mein Jesus hin Henrici 31 I Ev Die aber Jesum gegriffen hatten Mt 26,57-60 32 I = II Choral Mir hat die Welt trüglich gericht = In dich habe ich gehoffet 5 Adam Reusner (1533) 280 Anhang <?page no="281"?> 33 I und dann II Ev, Priester, Zeugen 1 und 2 Und wiewohl viel falsche Zeugen herzutraten Mt 26,61-63 a 34 II Rezitativ Mein Jesus schweigt zu falschen Lügen stille Henrici 35 II Aria Geduld Henrici 36 a I Ev + Priester + Jesus Und der Hohepriester antwortete Mt 26,63 b-66 a 36 b I + II Chori Er ist des Todes schuldig Mt 26,66 b 36 c I Ev Da speieten sie aus Mt 26,67-68 a 36 d I + II Chori Weissage uns, Christe Mt 26,68 b 37 I = II Choral Wer hat dich so geschlagen? = O Welt, sieh hier dein Leben 3 Paul Gerhardt = 10 38 a I Ev + Mägde 1 und 2 + Petrus Petrus aber Mt 26,69-73 a 38 b II Chorus Wahrlich, du bist auch Mt 26,73 b 38 c I Ev + Petrus Da hub er an Mt 26,74-75 39 I Aria Erbarme dich Henrici 40 I = II Choral Bin ich gleich von dir gewichen = Werde munter, mein Gemüte 6 Johann Rist (1642) 41 a I Ev + Judas Des Morgens aber hielten Mt 27,1-4 a 41 b I + II Chori Was gehet uns das an? Mt 27,4 b 41 c I Ev + Priester 1 und 2 Und er warf die Silberlinge Mt 27,5-6 42 II Aria Gebt mir meinen Jesum wieder Henrici 43 I Ev + Pilatus + Jesus Sie hielten aber einen Rat Mt 27,7-14 O Haupt voll Blut und Wunden 3 44 I = II Choral Befiehl du deine Wege = Strophe 1 mit der Musik von: O Haupt voll Blut und Wunden Paul Gerhardt (1653) Befiehl du deine Wege Und was dein Herze kränkt Der allertreusten Pflege Des, der den Himmel lenkt; Der Wolken, Luft und Winden Gibt Wege, Lauf und Bahn, Der wird auch Wege finden, Da dein Fuß gehen kann. Aufbau von Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion 281 <?page no="282"?> Vierte Sequenz: Die Passion des Propheten, Unschuld und Verantwortung 45 a I [+ II] Ev + Pilatus + die Frau des Pilatus + Chori Auf das Fest aber Mt 27,15-22 a 45 b I + II Chori Lass ihn kreuzigen Mt 27,22 b 46 I = II Choral Wie wunderbarlich ist doch diese Strafe = Herzliebster Jesu 4 Johann Heermann = 3 + 19 47 I Ev + Pilatus Der Landpfleger sagte Mt 27,23 a 48 I Rezitativ Er hat uns allen wohlgetan Henrici 49 I Aria Aus Liebe will mein Heiland sterben Henrici 50 a I Ev Sie schrieen aber noch mehr Mt 27,23 b 50 b I + II Chori Lass ihn kreuzigen Mt 27,23 c 50 c I Ev + Pilatus Da aber Pilatus sahe Mt 27,24-25 a 50 d I + II Chori Sein Blut komme über uns Mt 27,25 b 50 e I Ev Da gab er ihnen Barrabam los Mt 27,26 51 II Récitatif Erbarm es Gott Henrici 52 II Aria Können Tränen meiner Wangen Henrici 53 a I Ev Da nahmen die Kriegsknechte Mt 27,27-29 a 53 b I + II Chori Gegrüßet seist du, Judenkönig Mt 27,29 b 53 c I Ev Und speieten ihn an Mt 27,30 O Haupt voll Blut und Wunden 4 und 5 54 I = II Choral O Haupt voll Blut und Wunden = Strophen 1 und 2 Paul Gerhardt = 15 + 17 + 62 1. O Haupt voll Blut und Wunden, Voll Schmerz und voller Hohn; O Haupt, zu Spott gebunden Mit einer Dornenkron! O Haupt, sonst schön gezieret Mit höchster Ehr und Zier, Jetzt aber hoch schimpfieret: Gegrüßet seist du mir. 2. Du edles Angesichte, Vor dem sonst schrickt und scheut Das große Weltgerichte, Wie bist du so bespeit! Wie bist du so erbleichet, Wer hat dein Augenlicht Dem sonst kein Licht nicht gleichet, So schändlich zugerichtet? Fünfte Sequenz: Jesus. der seine Seele dahingibt, wird mich im Tode nicht verlassen 55 I Ev Und da sie ihn verspottet hatten Mt 27,31-32 56 I Rezitativ Ja freilich will in uns Henrici 57 I Aria Komm, süßes Kreuz, so will ich sagen Henrici 58 a I Ev Und da sie an die Stätte kamen Mt 27,33-39 58 b I + II Chori Der du den Tempel Gottes zerbrichst Mt 27,40 58 c I Ev Desgleichen auch die Hohenpriester Mt 27,41 58 d I + II Chori Andern hat er geholfen Mt 27,42-43 58 e I Ev Desgleichen schmäheten auch Mt 27,44 282 Anhang <?page no="283"?> 59 I Rezitativ Ach Golgotha Henrici 60 I + II Aria + Chor Sehet, Jesus hat die Hand Henrici 61 a I Ev + Jesus Und von der sechsten Stunde an Mt 27,45-47 a 61 b I Chorus Der rufet dem Elias Mt 27,47 b 61 c I Ev Und bald lief einer unter ihnen Mt 27,48-49 a 61 d II Chorus Halt! lass sehen Mt 27,49 b 61 e I Ev Aber Jesus schriee abermal Mt 27,50 O Haupt voll Blut und Wunden 6 und das Glaubensbekenntnis 62 I = II Choral Wenn ich einmal soll scheiden = O Haupt voll Blut und Wunden 9 Paul Gerhardt = 15 + 17 + 54 Wenn ich einmal soll scheiden, So scheide nicht von mir! Wenn ich den Tod soll leiden, So tritt du dann herfür! Wenn mir am allerbängsten Wird mir um das Herze sein, So reiß mich aus den Ängsten Kraft deiner Angst und Pein! 63 a I Ev Und siehe da Mt 27,51-54 a 63 b I = II Choral Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen Mt 27,54 b Epilog: In der Erwartung der Auferstehung 63 c I Ev Und es waren viel Weiber da Mt 27,55-58 64 I Rezitativ Am Abend, da es kühle war Henrici 65 I Aria Mache dich, mein Herz, rein Henrici 66 a I Ev Und Joseph nahm den Leib Mt 27,59-62 66 b I + II Chori Herr, wir haben gedacht Mt 27,63-64 66 c I Ev + Pilatus Pilatus sprach zu ihnen Mt 27,65-66 67 I + II Rezitativ mit Chor Nun ist der Herr zur Ruh gebracht Henrici Schlusschor 68 I + II Chorus Wir setzen uns mit Tränen nieder Henrici Aufbau von Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion 283 <?page no="284"?> Aufbau von Gubaidulinas „ In Croce “ (Arbeitsskizze von Manfred Hermann) 284 Anhang <?page no="285"?> Aufbau von Gubaidulinas „ In Croce “ 285 <?page no="286"?> Bibelstellen (Auswahl) Matthäus 11,4-6 76 16,21 38 17,22 b-23 a 39 20,18-19 41 23,13-33 64 f. 27,39-44 61 27,51-54 62 Markus 8,31 38 8,31-33 46 f. 8,31-38 43 ff. 8,34-38 45 9,31 39 10,32 b-34 40 f. 10,41-45 48 10,45 43 ff. 14,22-25 50 15,29-32 44 f. Lukas 9,22 38 9,44 b 39 18,31-33 41 22,19-20 80 f. 22,47 85 23,26-31 81 f. 23,26-49 79 ff. 23,34 85 23,35-38 84 23,39-43 83 23,46 85 23,48 82 Johannes 1,1-5 92 f. 1,6-8 108 1,9-15 93 1,16-18 94 3,14-15 101 3,14 91 ff. 7.33 - 36 99 8,21-22 100 8,28 101 10,17-18 95 12,27-30 95 12,31-33 102 13,33-38 100 19,16 b-22 97 19,25-27 98 19,28-30 98 20,30-31 108 Apostelgeschichte 6,1-7,60 79 ff. 7,59 86 7,60 85 Römer 3,21-26 121 3,24-25 124 5,10-11 165 6,6 185 8,3 139, 174 11,15 165 12,1-3 132 14,7-9 186 1 Korinther 1,10-3,4 115 1,17-18 159 1,17-25 153 1,23 184 2,2 184 2,6-16 155 f. 2,13-16 159 8,4-6 31, 181 11,23-26 116 15,3-5 116 2 Korinther 5,11-21 166 5,14-15 169 5,18-19 172 5,18-21 166 5,21 169, 174 Galater 1,10-17 135 f. 2,14-21 140 f. 2,19 185 3,1 184 3,10-14 137 3,13 139 5,24 185 6,14 185 Hebräer 9,1-10,39 191 ff. 10,1-4 195 f. 10.19 - 25 197 1 Petrus 1,1-2 207 1,17.21 208 1,18 221 1,18-19 56, 213 1,21 222 2,21-25 206, 209, 257 2,24 209 2,25 222 3,18-22 221 f. 4,1-2 212 4,3-4 220 4,4 221 4,7-11 221 Apokalypse 1,4-6 231 1,9-10 227 1,10-11 234 1,12-20 228 f. 4,1-11,19 226 4,6-8 246 5,1-14 235 5,6-10 246 f. 5,9-10 232 f. 6,9-10 234 7,13-14 232 f. 11,7-14 236 12,1-14,5 234 286 <?page no="287"?> Apokalypse 12,10-12 233 14,6-19,10 236 16.5 - 6 234 f. 17,6 235 18,24 235 19,1-2 235 19,1-2 234 19,13 235 Bibelstellen (Auswahl) 287
