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Der hoffende Mensch

Anthropologie und Ethik menschlicher Sinnsuche

0215
2012
978-3-7720-5428-0
978-3-7720-8428-7
A. Francke Verlag 
Ralf Lutz

Die Tugend der Hoffnung für menschliche Handlungspraxis als notwendig auszuweisen und damit deren moralische Relevanz unter Beweis zu stellen, ist zentrales ziel der vorliegenden Arbeit. anhand einer interdisziplinären Erschließung einschlägiger Einsichten aus Philosophie, Theologie und empirischen Humanwissenschaften wurde eine integrative Theorie der Hoffnungspraxis, eine Ethik der Hoffnung, entwickelt, die zeigt, dass der Hoffnungsvollzug eine tiefe naturale Verankerung im Menschen und ein anthropologisches Fundament besitzt.

<?page no="0"?> Ralf Lutz Der hoffende Mensch Anthropologie und Ethik menschlicher Sinnsuche <?page no="1"?> Der hoffende Mensch <?page no="2"?> Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie Herausgegeben von Franz-Josef Bormann und Johannes Brachtendorf Band 25 <?page no="3"?> Ralf Lutz Der hoffende Mensch Anthropologie und Ethik menschlicher Sinnsuche <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustim mung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISSN 1432-4709 ISBN 978-3-7720-8428-7 <?page no="5"?> „Der Gott der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und mit allem Frieden im Glauben, damit ihr reich werdet an Hoffnung in der Kraft des Heiligen Geistes.“ [Röm 15,13] <?page no="6"?> Die Hoffnung (Spes) 1 PIETER BRUEGEL Jucundissima est spei persuasio et imprimis Necessaria, inter tot aerumnas paeneque intolerabiles Am meisten erfreulich ist die Unterweisung der Hoffnung, ja, lebensnotwendig ist sie, inmitten so vieler fast unerträglicher Qualen. 1 Quelle: Cabinet des Estampes, Bibliothèque Royale Albert I., Brüssel. <?page no="7"?> Hoffnung und Zuversicht (Spes) 2 JACOB MATHAM nach HEINDRICK GOLTZIUS Maerentes recreo, / vitae ne taedeat aegrae, Adversae praebens / solatia dulcia sortis. Ich bin Trauernden Trost, / dass niemand wegwirft sein Leben. Widerwärtig war’s, / doch lindernd gewähre ich Labsal. 2 Quelle: Cabinet des Estampes, Bibliothèque Royale Albert I., Brüssel. <?page no="8"?> Vorwort Die vorliegende Arbeit stellt die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation dar, die im WS 2009/ 2010 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Eberhard- Karls-Universität Tübingen angenommen wurde. An dieser Stelle sei dem Betreuer der vorliegenden Dissertation, Herrn P ROF . D R . GERFRIED WERNER HUNOLD, für seine besondere Unterstützung zur Realisierung und seine sensible Begleitung dieses Projekts gedankt. Seine Ermutigung und seine maieutischen Impulse im Rahmen regelmäßiger Dispute waren am Gelingen dieser Arbeit ganz erheblich beteiligt. Herrn P ROF . D R . FRANZ-JOSEF BORMANN danke ich für die bereitwillige und kooperative Begleitung beim Abschluss des Projekts und für die Erstellung des Zweitgutachtens. Weiter gilt mein Dank dem CUSANUSWERK für die Gewährung eines Promotionsstipendiums und den Herausgebern der Reihe „Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie“, Herr Prof. Dr. FRANZ-JOSEF BORMANN und Herr Prof. Dr. JOHAN- NES BRACHTENDORF, für die Aufnahme meiner Dissertation in die Reihe. Der Diözese Rottenburg Stuttgart sei für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses gedankt. Daneben sind anregende Gespräche und Kontakte zu nennen, die wichtige Impulse für die Arbeit gegeben haben, wofür ich sehr zu Dank verpflichtet bin, allen voran mit JÜRGEN MOLTMANN, THOMAS PRÖPPER und EUGEN BISER, aber auch mit PE- TER BECKER, VERENA KAST und WOLFRAM KURZ. Schließlich möchte ich Frau IRENE KOSEL von Herzen danken für die konzise, engagierte und prompte Korrektur des gesamten Manuskriptes. Ein Dank ganz eigener Art gebührt meinen Eltern, ohne deren Unterstützung ich diese Arbeit nicht hätte beenden können. Schließlich möchte ich auch meiner Frau GABRIELE LUTZ von Herzen danken, die mich in all den Jahren mit ihrer Zuversicht und mit ihrer Geduld begleitet hat und eigentlich nie einen Zweifel daran gelassen hat, dass es Grund zur Hoffnung gibt. Ihr sei dieses Buch gewidmet. Tübingen, Oktober 2011 Ralf Lutz <?page no="9"?> 0. Inhaltsverzeichnis Vorwort ................................................................................................................................ 8 I. Prolog ....................................................................................................................... 17 II. Einleitung und Hinführung .................................................................................. 18 III. Problemaufriss ........................................................................................................ 22 1. Fragestellung und leitendes Erkenntnisinteresse ........................................ 22 2. Disziplinäre Verortung des Fragehorizontes ............................................... 25 3. Kontexte einer Ethik der Hoffnung .............................................................. 27 a) Die sozialethische Signatur der Hoffnung. Eine gesellschafts- und kulturgeschichtliche Skizze ....................................................................... 27 b) Die Anti-Utopie als gesellschaftliche Räson der Gegenwart ................ 28 IV. Methodologischer Abriss ...................................................................................... 32 1. Interdisziplinarität als Ethos .......................................................................... 32 a) Interdisziplinäre Hoffnung ....................................................................... 32 b) Interdisziplinäre Moraltheologie.............................................................. 36 2. Der handelnde Mensch zwischen Empirie und Normativität - Anthropologie und Ethik und die Unverfügbarkeit als Anthropologem der Hoffnung....................................................................... 42 a) Das Verhältnis von Anthropologie und Ethik ....................................... 46 b) Das Verhältnis von Empirie und Normativität...................................... 55 3. Hermeneutische Prämissen............................................................................ 72 4. Zur Epistemologie der Hoffnung .................................................................. 79 a) Orientierung am Guten ............................................................................. 81 b) Orientierung an einer Offenbarungstheologie und der rationalen Verantwortung religiöser Überzeugungen ............................................. 85 c) Orientierung an einer Freiheitsanalytik und einer Subjektphilosophie ..................................................................................... 87 d) Orientierung am Rational der Hoffnung und der Hoffnungsstruktur der Vernunft ............................................................. 88 e) Orientierung an Letztbegründungsversuchen........................................ 89 f) Orientierung an der Phänomenologie menschlicher Selbsttranszendentalität ............................................................................. 90 g) Orientierung an einer Transzendentalphilosophie ............................... 91 h) Sinnfrage und Hoffnungszusammenhänge ............................................ 91 <?page no="10"?> 0. Inhaltsverzeichnis 10 5. Tugendlehre und (Fundamental-)Anthropologie des hoffenden Menschen.......................................................................................................... 93 a) Die Situation des handelnden Menschen in der Welt. Sinnentwürfe und Erfüllungsgestalten .................................................... 94 b) Der Tugendbegriff und seine Aufgaben .................................................. 97 c) Hoffnung als Tugend ............................................................................... 102 6. Das Koordinatensystem und der „Grundriss“ der Hoffnung - Strukturgitter.................................................................................................. 109 a) Akt, Ziel und Grund der Hoffnung ....................................................... 112 b) Die Strukturgitter der Hoffnung und ihre Integration ....................... 115 c) Ertrag: Der hoffende Mensch und der anthropologische Ort einer Ethik der Hoffnung .................................................................................. 118 V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung ........................................................................................................ 122 1. Problemorientierung und Forschungsbericht I: Handlungspraktische Hoffnungsstrukturen in Theologie, Philosophie und Geistesgeschichte des Abendlandes .............................. 122 a) Die Struktur der (christlichen) Hoffnung ............................................. 124 b) Theologische Erkenntnistheorie und Phänomenologie...................... 126 c) Zeitlichkeit, Moralität und der phylogenetische Ursprung der Hoffnung ................................................................................................... 129 d) Hoffnung und moraltheologische Zeittheorie ..................................... 131 e) Das Interdisziplinäre Gespräch mit den Humanwissenschaften....... 133 f) Menschliche Selbstreflexion und die Frage nach dem höchsten Handlungsziel (Glück, höchstes Gut, Sinn).......................................... 134 g) Vernunft .................................................................................................... 136 h) Freiheit ....................................................................................................... 137 i) Hoffnung und Handlungstheorie .......................................................... 138 j) Handlungsmotivation und moralische Motivation............................. 140 k) Ethik und Eschatologie ............................................................................ 145 l) Praktische Theologie, Ekklesiologie, Spiritualität und Kultur der Hoffnung ................................................................................................... 147 m) Hoffnungsspannungen und die Dialektik und Antinomik der Existenz. Die Analogie von Theologie und Anthropologie ................ 149 n) Hoffnung und Erlösung - Hoffnung und Bestimmung ..................... 153 o) Hoffnung und Heilung - Therapeutische Hoffnung .......................... 155 p) Ausblick ..................................................................................................... 156 2. Etymologische, begriffliche und religionswissenschaftliche Einlassungen................................................................................................... 158 a) Etymologisch-Semantische Vorstudien ................................................ 158 <?page no="11"?> 0. Inhaltsverzeichnis 11 α Hoffnung .............................................................................................. 159 β Ertrag..................................................................................................... 163 γ Sinn........................................................................................................ 164 δ Ertrag..................................................................................................... 168 b) Differenzierung verwandter Begriffe und erste definitorische Annäherung .............................................................................................. 169 c) Religionswissenschaftliche und interreligiöse (Dialog-) Hinweise ... 175 3. Griechisch-Römische Antike - Entdeckung der Zukunft als Erwartung ....................................................................................................... 181 a) Lyrik, Prosa und die attische Tragödie .................................................. 183 b) PLATON.................................................................................................... 186 c) ARISTOTELES ......................................................................................... 192 d) Die PANDORA-Sage ............................................................................... 201 e) Antike Zeitphilosophie ............................................................................ 203 f) Ertrag.......................................................................................................... 204 4. Biblische Wegmarken einer Struktur der Hoffnung - Zukunft als Verheißung ..................................................................................................... 208 a) Altes Testament ........................................................................................ 208 α Sprachliche Beobachtungen............................................................... 208 β Sitz im Leben........................................................................................ 211 γ Alttestamentliche Vorstellungen von Zeit....................................... 216 δ Systematische Einlassungen zu einer alttestamentlichen Ethik der Hoffnung ....................................................................................... 218 b) Neues Testament ...................................................................................... 225 α Sprachliche Beobachtungen............................................................... 225 β Neutestamentliche Vorstellungen von Zeit..................................... 229 γ Elemente neutestamentlicher Hoffnung und deren Sitz im Leben ..................................................................................................... 231 δ Systematische Einlassungen zu einer neutestamentlichen Ethik der Hoffnung ............................................................................. 234 c) Ertrag.......................................................................................................... 251 5. Mittelalterliche Knotenpunkte moraltheologischer Hoffnungslehre - Zwischen Griechentum und Christentum: Personalität, Voluntarität und Transzendentalität .......................................................... 255 a) Zeitlichkeit und Willentlichkeit der Hoffnung - AUGUSTINUS ..... 256 α Verzeitlichung und Subjektivierung................................................. 258 β Willensbegriff....................................................................................... 260 b) Hoffnung und der Weg zum (göttlichen) Glück - THOMAS VON AQUIN ............................................................................................. 264 <?page no="12"?> 0. Inhaltsverzeichnis 12 c) Die Unbestimmtheit der Hoffnung - MARTIN LUTHER ................. 280 d) Ertrag.......................................................................................................... 285 6. Neuzeitlich-moderne Zuspitzung - Hoffnung, Erwartung und die Prognostik von Welt ..................................................................................... 286 a) Das Rational der Hoffnung oder die Hoffnungsstruktur praktischer Vernunft - IMMANUEL KANT ........................................ 287 α Hoffnung als Vernunftprinzip .......................................................... 289 β Postulatorische Hoffnung .................................................................. 297 γ Moralische Motivation - Hoffnung und Handeln ......................... 302 δ Das höchste Gut und der Endzweck................................................. 310 ε Das Glück und das Böse ..................................................................... 318 ζ Desiderate ............................................................................................. 326 η Ertrag..................................................................................................... 332 b) Das Existential der Hoffnung - SÖREN KIERKEGAARD, MARTIN HEIDEGGER ........................................................................... 336 α Hoffnung und Selbstwahl................................................................... 337 β Hoffnung als existentiale Stimmung ................................................ 340 c) Die Ontologie des Noch-Nicht-Seins - ERNST BLOCH .................... 342 d) Hoffnung zwischen transzendentaler und politischer Eschatologie............................................................................................... 354 α Christliche Hoffnung und die Realität der Welt. Das Kommen Gottes - JÜRGEN MOLTMANN ...................................................... 355 β Absolute Zukunft und die Unverfügbarkeit Gottes in der Hoffnung - KARL RAHNER ............................................................. 362 γ Politische Theologie und Memoria passionis ................................. 367 7. Zwischenreflexion I: Ethik und Eschatologie - die normative Struktur des Zeiterlebens: das Handlungssubjekt in der Dialektik von „Schon“ und „Noch-nicht“ .................................................................... 373 a) Hoffnung und Zeit - Der Mensch im Gegenüber seiner Zukunft .... 375 b) Hoffnung und Raum - Der Raum der Hoffnung ................................ 382 c) Hoffnung und Eschatologie .................................................................... 384 d) Ertrag.......................................................................................................... 398 8. Zwischenreflexion II: Hoffnung und Freiheit - Die transzendentale Dialektik menschlichen Freiheitsvollzugs .................................................. 400 9. Zwischenreflexion III: Hoffnung zwischen Gelingen und Scheitern, Immanenz und Transzendenz, Tod und Leben, Kreuz und Auferstehung .................................................................................................. 412 <?page no="13"?> 0. Inhaltsverzeichnis 13 VI. Hoffnungsstrukturen in den Humanwissenschaften - Strukturäquivalente der Hoffnung in Psychologie und Psychotherapie ...... 422 1. Problemorientierung und Forschungsbericht II - Sach- und Problemstand einer (Moral-) Psychologie des sinnorientierten Zukunftsdenkens ........................................................................................... 422 a) Psychologie zwischen Empirie, Theorie und Weltdeutung................ 423 b) Konzepte und deren Operationalisierung............................................. 424 c) Kontexte ..................................................................................................... 428 α Wahrnehmungspsychologie .............................................................. 428 β Krankheitsbewältigung, Resilienz und Psychotraumatologie....... 429 γ Paläoanthropologie und psychogene Todesfälle, inflationäre Hoffnungslosigkeit und Suizid .......................................................... 431 δ Kognitive Psychologie und Metakognition ..................................... 434 ε Psychiatrie ............................................................................................ 436 ζ Psychologische Motivationstheorien................................................ 436 η Psychologie der Sinnfrage - oder: Praktische Philosophie und Psychotherapie zur Hoffnungsstruktur menschlicher Handlungswirklichkeit ....................................................................... 437 ϑ Erwartung und Kontrolle ................................................................... 439 ι Placebo .................................................................................................. 441 κ Frühkindliche Entwicklung, Bindungs- und Persönlichkeitspsychologie ................................................................ 442 λ Psychotherapieforschung und Psychologie der Beratung ............. 443 μ Paartherapie ......................................................................................... 444 ν Emotionspsychologie.......................................................................... 445 ξ Psychoanalyse der Hoffnung ............................................................. 446 2. Sozial- und Persönlichkeitspsychologie ..................................................... 448 a) Motivationspsychologie........................................................................... 448 α Allgemeine Motivationspsychologie ................................................ 449 β Leistungsmotivation - Hoffnung auf Erfolg und Furcht vor Misserfolg ............................................................................................. 451 b) Psychologie des Zukunftsdenkens ......................................................... 459 c) Selbstwirksamkeit - Antizipation subjektiver Wirkmöglichkeiten... 460 d) Kontrolle und Kontrollüberzeugungen - Generalisierte Erwartungen bzgl. dem Ort der Verstärkerkontrolle .......................... 461 e) Einstellungen - Psychische Heuristiken zur Organisation und Orientierung von Bewertungen und Erwartungen.............................. 462 f) Selbstkonzept und Selbstwert - Selbsttheorien und deren inhärente Erfahrungs- und Erwartungsannahmen ............................. 463 <?page no="14"?> 0. Inhaltsverzeichnis 14 g) Placebo und self-fulfilling-prophecy - Erwartungen schaffen Wirklichkeit............................................................................................... 464 h) Ertrag.......................................................................................................... 466 3. Gesundheitspsychologie ............................................................................... 467 a) Seelische Gesundheit................................................................................ 468 b) Salutogenese - Kohärenzsinn, Resilienz, Widerstandsfähigkeit, Attributionsstil und die Rolle der Religion........................................... 469 c) Positive Illusions ....................................................................................... 473 d) Generalisierte Ergebniserwartungen, Optimismus, Coping und Stressbewältigung ..................................................................................... 473 e) Schutz vor Traumatisierung - „Trotzmacht des Geistes“ .................. 477 f) Ertrag.......................................................................................................... 480 4. Psychotherapie und Beratung ...................................................................... 481 a) Unspezifische Psychotherapiefaktoren ................................................. 481 b) Logotherapie.............................................................................................. 482 c) Allgemeine Psychotherapie ..................................................................... 484 d) Gelernte Hilflosigkeit - Gelernter Optimismus ................................... 488 e) Lösungsorientierte Beratung................................................................... 490 f) Kognitive Psychotherapie........................................................................ 492 5. Zur „Biologie“ der Hoffnung ....................................................................... 493 a) Zur Frühgeschichte des Menschen und zur Phylogenese der Hoffnung ................................................................................................... 493 b) Totstellreflex und Vagustod.................................................................... 494 c) Tierexperimentelle Studien ..................................................................... 496 d) Neuronale Korrelate der Zukunftsantizipation und die Macht der inneren Bilder ........................................................................................... 497 e) Ertrag.......................................................................................................... 499 VII. Integration - Das moraltheologische Wesen der Hoffnung als Antizipation von Sinn .................................................................................... 501 1. Modalitäten der Hoffnung ........................................................................... 504 a) Hoffnung zwischen Wirklichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit........................................................................................... 504 b) Hoffnung und Erwartung. Das zweifache Verhältnis des Menschen zur Zukunft - Zwischen Wissen und Gewissheit ............. 509 α Hoffnung und Erfahrung ................................................................... 509 β Hoffnung und Erwartung .................................................................. 510 γ Hoffnung und Kontrolle .................................................................... 515 δ Antizipation und Extrapolation ........................................................ 516 ε Offenheit und Befristung der Zeit..................................................... 517 <?page no="15"?> 0. Inhaltsverzeichnis 15 ζ Zusammenfassung .............................................................................. 517 c) Hoffnung als (theologische) Tugend. Neuinterpretation von Glaube - Liebe - Hoffnung ..................................................................... 518 d) Hoffnung und der Zeitpfeil. Erinnerung und Hoffnung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. ............................................. 520 2. Hoffnung und Handlungsmotivation. Sinn als das kontextualisierte Gute - Das Gute als moralisch dekontextualisierter Sinn ....................... 526 a) Hoffnung und die Bestimmung des Menschen.................................... 528 α Das Gelingen des Menschen zwischen Sinn, Glück und Moral ... 530 β Menschliche Selbstauslegung im Spiegel des Verhältnisses von Sollen, Wollen und Können............................................................... 535 γ Hoffnung und Hoffnungszusammenhänge. ................................... 538 δ Zusammenfassung .............................................................................. 538 b) Der Horizont der Hoffnung und ihre sittliche Struktur ..................... 539 α Hoffnung und das Gute...................................................................... 541 β Das höchste Gut des Menschen zwischen Sinn, Glück und Moral..................................................................................................... 547 γ Hoffnung und menschliches Dasein. Zwischen Affirmation und Verwandlung ............................................................................... 550 δ Das Scheitern des Menschen, die Verführbarkeit menschlichen Hoffnungspotentials zum Bösen und die Verantwortbarkeit von Hoffnungen................................................. 552 ε Zusammenfassung .............................................................................. 556 c) Grenzdialektik der Hoffnung und die Finalität des Handelns........... 557 α Möglichkeit und Notwendigkeit von Letztbegründung? .............. 558 β Apokatastasis und Gerechtigkeit....................................................... 558 d) Die Vernunft der Hoffnung: Theoretische und praktische Vernunft .................................................................................................... 560 e) Das Hoffnungspotential des Menschen und seine moralische (Meta-) Motivation zum Handeln ......................................................... 566 α Die Selbsttranszendentalität humaner Hoffnung ........................... 570 β Hoffnung und Handlungstheorie ..................................................... 571 γ Offenheit und Ausgang der Hoffnung. Orientierung durch Hoffnung und Gebet........................................................................... 572 δ Personale Hoffnung und solidarische Hoffnung in Verantwortung für Welt und Mensch. Stellvertretende Hoffnung zwischen Subjekt und Objekt .......................................... 573 ε Die Einheit der Hoffnung .................................................................. 575 f) Leben aus der Hoffnung und dem Vertrauen auf den Sinn des Guten.......................................................................................................... 577 <?page no="16"?> 0. Inhaltsverzeichnis 16 3. Hoffnung als Therapeutikum ...................................................................... 579 4. Christlich integrale Hoffnung ...................................................................... 584 a) Grundstrukturen - Hoffnung als verantwortete Freiheit ................... 584 b) Zwischen Aktivität, Passivität und Donativität, zwischen Wissen und (Un-) Gewissheit .............................................................................. 591 c) Zusammenschau....................................................................................... 592 d) Abschlussgedanke..................................................................................... 597 VIII. Ausblick. Die Zukunft der Hoffnung ................................................................ 598 1. Bausteine einer therapeutisch-konsiliaren Ethik - Der handelnde Mensch in der Hoffnung auf Sinn zwischen Konsiliarpraxis und selbstsorgerischer Aneignung ...................................................................... 598 2. Die Disziplin der Theologischen Ethik und die humane Frage nach Hoffnung und Sinn........................................................................................ 603 a) Zwischen Disziplinarität und Existenzialität........................................ 603 b) Theologische Spannungslehre ................................................................ 608 IX. Epilog ..................................................................................................................... 613 X. Literaturverzeichnis ............................................................................................. 614 XI. Abbildungsverzeichnis ........................................................................................ 681 XII. Personenregister ................................................................................................... 682 XIII. Sachregister ........................................................................................................... 685 <?page no="17"?> I. Prolog „Mich beschäftigt noch die Behauptung - die bei ihm [Dostojewski; R.L.] ja bestimmt keine Phrase ist -, dass kein Mensch ohne Hoffnung leben könne, und dass Menschen, die wirklich alle Hoffnung verloren haben, oft wild und böse werden. Es bleibt dabei offen, ob hier Hoffnung = Illusion ist. Gewiss ist auch die Bedeutung der Illusion für das Leben nicht zu unterschätzen; aber für den Christen kann es sich doch wohl nur darum handeln, begründete Hoffnung zu haben. Und wenn schon die Illusion im Leben der Menschen eine so große Macht hat, dass sie das Leben in Gang hält, wie groß ist dann erst die Macht, die eine absolut begründete Hoffnung für das Leben hat und wie unbesiegbar ist so ein Leben.“ 1 1 BONHOEFFER, D., Widerstand und Ergebung, hrsg. v. E. BETHGE, München 1951, 252. <?page no="18"?> II. Einleitung und Hinführung „Denn bei allen Lebendigen ist, was man wünscht: Hoffnung.“ [Koh 9,4] er heute über die Kategorie der Hoffnung nachdenkt - zumal mit Blick auf die ganze Bedeutungsbreite und Bedeutungstiefe der Zeugnisse aus den unterschiedlichsten Epochen und kulturellen wie wissenschaftlichen Provenienzen - sieht sich einer fast drei Jahrtausende währenden Reflektionsgeschichte gegenüber: Diese reicht von literarisch-künstlerischen, begriffsgeschichtlichen, mentalitätsgeschichtlichen, philosophischen, historischen, exegetisch-theologischen, systematisch-theologischen, praktisch-theologischen, bis hin zu dezidiert kulturtheoretischen Spekulationen, die seit geraumer Zeit um empirisch-naturwissenschaftliche Arbeiten - speziell aus dem sozialwissenschaftlichen, psychologischen und psychotherapeutischen Bereich - erweitert wurden. Darüber hinaus haben sich Desiderate der Hoffnung auch im kulturellen Gedächtnis der Alltagssprache niedergeschlagen, die eine Fülle von diesbezüglichen Wendungen und Sprichwörtern kennt, was aus moraltheologischer Perspektive auf eine breite anthropologische Basis schließen lässt, wenn es etwa heißt: „Solange ich atme, hoffe ich! “; „die Hoffnung nicht verlieren“; „guter Hoffnung sein“; oder auch: „Die Hoffnung stirbt zuletzt! “. Der Begriff der Hoffnung ist auf diesem Hintergrund als Zentralkategorie des abendländischen Denkens zu bezeichnen und dabei mindestens implizit, meistens auch explizit immer präsent; vielfache Metamorphosen und Differenzierungen können beobachtet werden, insbesondere durch die Reflexionen der griechischen Antike, durch die Begegnung von hellenistischem und jüdisch-christlichem Geist, durch die Wirkungsgeschichte spezifisch christlicher Hoffnungstheorien im Kontext von Patristik und Scholastik, ferner die Versuche aus der Zeit der Aufklärung und des Rationalismus, aber auch in der Folge davon durch das Aufkommen der empirischen Wissenschaften und nicht zuletzt durch den Kontext einer sich zunehmend säkularisierenden (Post-) Moderne, die sich nachmetaphysisch versteht. Die Hoffnungskategorie scheint daher eine begriffliche Notwendigkeit des menschlichen Selbstverständnisses zu sein und ist quasi als anthropologische Konstante des Nachdenkens des Menschen über sich selbst in den Wortschatz der humanen Selbstreflexion aufgenommen worden. Die Frage ist allerdings, warum das so sein muss. Warum kommt der Mensch nicht aus, ohne sich immer wieder als einen Hoffenden zu entdecken - allen Versuchungen der Hoffnungslosigkeit und der Kritik zum Trotz? Aus welchen Gründen findet sich die Hoffnungskategorie durch die Epochen hindurch in wechselnden Gestalten in praktisch allen gesellschaftlich-kulturellen Ausdrucksformen des Menschen wieder? In Philosophie, Religion, Kunst, Kultur und Wissenschaft. Selbst die empirischen Wissenschaften entdecken die Hoffnung zunehmend als Forschungsgegenstand und können dabei mit Erkenntnissen aufwarten, die fruchtbringend mit den klassischen Hoffnungskonzepten auf eine integrative Gestalt hin verbunden werden können. Darüber hinaus haben sich zentrale Gehalte der Hoffnung auch im kulturellen Gedächtnis der Alltagssprache niedergeschlagen, die eine Fülle von diesbezüglichen Wendungen und Sprichwörtern kennt, was aus moraltheologischer Perspektive eine breite anthropologi- W <?page no="19"?> II. Einleitung und Hinführung 19 sche Basis vermuten lässt. Blickt man dagegen nicht allein darauf, was der Mensch als Gegenstand seiner Hoffnung hegt, sondern wie und warum er überhaupt hofft, so wird man mit Erstaunen feststellen, dass die Antwortversuche an Zahl und Inhalt deutlich bescheidener ausfallen. Erst recht, wenn nach den anthropologischen Grundlagen und Strukturgesetzlichkeiten gefragt wird, die die Hoffnungstheologie und Hoffnungsphilosophie sowohl mit der vitalen Handlungspraxis des Menschen, als auch mit den Strukturen seiner humanen Sittlichkeit und seines Bezugs zur Transzendenz zu verbinden sucht. Wiewohl Hoffnung aufseiten der Moraltheologie als theologische Tugend betrachtet wird und damit ihren festen Ort im Konzert der moraltheologischen Traktate hat, sind nach wie vor nur Bausteine einer Ethik der Hoffnung im engeren Sinne formuliert, die sich grundlegenden Fragen nach der Struktur und dem Vollzug von Hoffnung aufseiten des Handlungssubjekts stellt und daraus ein Konzept einer sowohl anthropologisch fundierten, als auch christlich prononcierten Hoffnungsethik entwickelt. Insgesamt harrt eine solche Ethik der Hoffnung, die die Hoffnungsstruktur menschlicher Handlungswirklichkeit in ihren empirischen wie transzendentalen Voraussetzungen ausreichend würdigt und sich konzeptionell im Kontext einer Handlungstheorie verortet, nach wie vor auf reflexive Durchdringung. Die vorliegende Studie versucht, auf dieses Desiderat zu antworten, indem sie aus der überwältigenden Fülle des Materials und auf dem Hintergrund einer interdisziplinären Fragestellung das Konzept einer handlungspraktischen Ethik der Hoffnung zu entwickeln und vorzustellen sucht, indem sie (mindestens) ein Doppeltes verfolgt: Zunächst wurde eine ausführliche anthropologische Fundierung der Hoffnungskategorie angestrebt, wobei insbesondere die Disziplinen der Psychologie, Psychotherapie und Psychosomatik auf empirische Einsichten und daraus abgeleitete Hoffnungsaspekte im weitesten Sinne befragt wurden, aber auch Paläoanthropologie, Medizin und verwandte Humanwissenschaften sind in den Fokus genommen worden. Als deren Ergebnis wurde schließlich das Konzept einer integrativen Hoffnungsgestalt entwickelt, das vorrangig strukturell angelegt ist. Davon ausgehend konnten schließlich einige Praxisfelder näher beleuchtet werden, deren Verständnis auf dem Hintergrund dieser Konzeption von Hoffnung teils deutliche Korrekturen erfuhr. Darüber hinaus wurde der Versuch unternommen, handlungstheoretische und handlungspraktische Aspekte einer integrativen Hoffnungskonzeption zu formulieren, so dass das Wie des praktischen Hoffens in wichtigen Elementen expliziert und für die menschliche Handlungswirklichkeit insgesamt eine Hoffnungsstruktur freigelegt werden konnte. Diese zeigte sich durch enge systematische Verbindungen der Hoffnungskategorie mit (moralischer) Handlungsmotivation, mit der Sinnkategorie und in ihrer Wirkung als Therapeutikum. Möglich wurde dies durch eine Sichtung des Materials beider disziplinärer Schwerpunkte, Philosophie und Theologie der Hoffnung auf der einen Seite und (empirische) Humanwissenschaften auf der anderen Seite, jeweils bereits aus der Perspektive der anvisierten Hoffnungskonzeption, weswegen nicht allein eine Integration der Disziplinen ermöglicht wurde entlang zweier Strukturgitter der Hoffnung, die dann ineinander geführt wurden, sondern eine kategoriale Erschließung der Disziplinen füreinander anhand der Hoffnung. Auf diesem Wege konnten schließlich entlang der einen Perspektivierung die (vitalen) moralpsychologischen und therapeutischen Strukturgesetzlichkeiten der Hoffnungstheologie und Hoffnungsphilosophie aufgedeckt werden, ebenso wie entlang der anderen Perspektivierung die dezidiert (theologisch-) ethisch-moralischen Implikationen empirisch greifbarer Strukturäquivalente und Präfigurationen der Hoffnung. <?page no="20"?> II. Einleitung und Hinführung 20 Quasi en passant wurde durch diesen Entwurf auch eine disziplinäre Neuausrichtung der Theologischen Ethik ermöglicht, indem der völlig zurecht geforderte Impetus zu interdisziplinärer Forschung für die Moraltheologie neu aufgenommen und exemplarisch weitergeführt wurde und indem die Hoffnungsstruktur menschlicher Handlungswirklichkeit in moraltheologische Handlungstheorien eingeschrieben wurde und Theologische Ethik damit als Disziplin zur Explikation begründeter (Handlungs-) Hoffnung aufgefordert ist. Ungeachtet der Tatsache, dass wohl auch Gesellschaften als Ganze ein Leitbild ihrer je eigenen Zukunft und dabei insbesondere eine in Verbindung und Korrespondenz mit der langsam Gestalt gewinnenden Weltgesellschaft entworfenen Zukunft brauchen, um nicht langfristig zu degenerieren, hat sich die vorliegende Arbeit zum Ziel gesetzt, den perspektivischen Schwerpunkt auf das einzelne Handlungssubjekt zu legen, das daraufhin befragt werden soll, welche strukturellen Voraussetzungen im Rahmen individueller Lebensführung Hoffnung für die je eigene Lebenssituation zu konstituieren vermögen. Wiewohl die gesellschaftlich-kulturellen Implikationen und Bedeutungen auf der Hand liegen, soll hier die Hoffnungskategorie auf das einzelne Subjekt des Handelns und dessen Selbstvollzug bezogen werden. D.h. nicht unabhängig, aber doch unterschieden von den eher geschichtlich-gesellschaftlich-politisch akzentuierten Theorien der Hoffnung nimmt die vorliegende Arbeit den individualethischen Nahbereich menschlicher Handlungskonstitution in den Blick. Es soll daher darum gehen, unter einer dezidiert moraltheologischen Perspektive die Bedeutung der Hoffnung für das Handlungssubjekt herauszuarbeiten, wobei eine anthropologische Fundierung der Hoffnung angestrebt wurde und darauf aufbauend ein integratives Konzept von Hoffnung entworfen wurde, das den Graben zwischen den Disziplinen, mithin auch zwischen Empirie und Normativität, zu schließen vermag und das Handlungssubjekt als Hoffnungssubjekt zu identifizieren erlaubt. Daneben können durch die interdisziplinäre Anlage der Studie auf der einen Seite die therapeutischen Potentiale der philosophischen und theologischen Hoffnungskonzepte heraus gearbeitet werden und auf der anderen Seite die die humanwissenschaftlichen Disziplinen weit überschreitenden ethischen Implikationen, die sich aus entsprechenden Forschungen ergeben, herausgearbeitet werden. In dieser Mehrdimensionalität der Fragestellung kann das eigentlich innovatorische Potential der vorliegenden Studie angesiedelt werden. Mit dieser Arbeit möge dazu beigetragen werden, im Kontext theologisch-ethischer Forschung die strukturellen Voraussetzungen und Quellen der einen menschlichen Hoffnung, die fontes spei, freizulegen, auf die der Mensch in seiner unaufgebbaren Suche nach sinnerfüllter Lebensgestaltung angewiesen ist. Nicht umsonst stellt daher die Verknüpfung der Hoffnungskategorie mit der Sinnverwiesenheit menschlichen Daseins und dessen Konsequenzen für die Handlungspraxis eine wichtige Brücke zwischen den Disziplinen dar. Inhaltlich wird in einem ersten Schritt die interdisziplinäre Konzeption der vorliegenden Arbeit in einem Problemaufriss (Kapitel III) dargestellt werden, gefolgt von einer ausführlichen Darlegung der methodologischen Voraussetzungen und epistemologischen Notwendigkeiten zur Durchführung des anvisierten Projektes (Kapitel IV). Nach einem ersten Forschungsbericht, der auf den Sachstand zur Fragestellung hinweist und ersten Reflexionen zur tugendethischen Verortung des zu entwerfenden Konzeptes und dessen Architektur, werden im Anschluss dezidiert moral-theologische Grundperspektiven der Hoffnungsreflexion auf dem Hintergrund der angestrengten Fragestellung auf <?page no="21"?> II. Einleitung und Hinführung 21 ein integratives, anthropologisch fundiertes Konzept von Hoffnung hin vorgestellt (Kapitel V), wobei neben den biblischen Grundlagen exemplarisch philosophische und theologische Reflexionen aus Antike, Mittelalter und Neuzeit bedacht wurden - insbesondere da, wo sie strukturell für die anvisierte (therapeutische) Hoffnungsgestalt einträglich waren. Es folgt schließlich eine ausführliche Darlegung einschlägiger moralpsychologischer Erkenntnisse zur Struktur von Hoffnung, wobei diese Einsichten vorrangig empirischer Natur sind und mitunter eine völlig voneinander differierende Nomenklatur tragen. Sie stammen aus den Bereichen Sozial- und Persönlichkeitspsychologie (Kapitel VI.2), Gesundheitspsychologie (Kapitel VI.3), sowie Psychotherapie und (psychologischer) Beratung (Kapitel VI.4). Daneben finden auch tierexperimentelle, paläoanthropologische und neurophysiologische Erkenntnisse Beachtung (Kapitel VI.5), da sie erste Hinweise für eine „Biologie“ der Hoffnung liefern können. In einem letzten großen Abschnitt wird schließlich eine systematische Integration der interdisziplinär erhobenen Erkenntnisse angestrebt (Kapitel VII), die auf eine Konzeption der Hoffnung als Antizipationsform von (Lebens-) Sinn fokussiert ist. Dabei wird auf das Verhältnis von Hoffnung und Sinn abgehoben, auf die Bedeutung der Hoffnung für die Handlungsmotivation und die „therapeutischen“ Qualitäten der Hoffnung. Schließlich wird ausgehend von dieser Integration ein abschließender Ausblick auf zwei mögliche „Hoffnungsorte“ gewagt (Kapitel VIII), die zu zeigen vermögen, wie handlungspraktisch eine anthropologisch fundierte, integrale und christliche Hoffnungsgestalt werden kann: Es werden erste Bausteine einer konsiliaren Ethik vorgestellt und die Bedeutung der Einsichten dieser Arbeit für das Selbstverständnis der Theologischen Ethik als Disziplin expliziert. <?page no="22"?> III. Problemaufriss „Dum spiro, spero“ - „Solange ich atme, hoffe ich.“ [Lat. Sprichwort] 1. Fragestellung und leitendes Erkenntnisinteresse ie mit dieser Arbeit anvisierte Fragestellung, der ihr zugrundeliegende Forschungsimpetus, die ihr inhärente Methodologie, samt deren Einbettung in den größeren Kontext des Faches der Theologischen Ethik selbst, stößt auf eine wissenschaftliche aber auch eine gesellschaftliche Leerstelle. Wiewohl die Disziplinen der philosophischen und theologischen Ethik in den kulturellen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskursen unserer Zeit eine ungeahnte Konjunktur 1 entfaltet haben, existieren fundamentale ethische Kategorien, die einer interdisziplinären Aufarbeitung dringend harren - die Kategorie der Hoffnung gehört dazu, insbesondere ihre anthropologische Fundierung, ihre lebens- und handlungspraktische Relevanz und ihre Verankerung in der individuellen Sinnsuche des Menschen, genauso wie in den institutionalisierten Kontexten von professioneller Beratung und Psychotherapie. Die klassisch im tugendethischen Traktat unter dem Stichwort der drei göttlichen Tugenden (Glaube, Hoffnung, Liebe) rubrizierte Haltung der Hoffnung fristet innerhalb dezidiert moraltheologischer Reflexion ein Schattendasein: als eine exegetisch konstatierte 2 , dogmatisch immer schon vorausgesetzte 3 , praktisch-theologisch geforderte 4 , aber moraltheologisch selten in ihrer visionären Kraft, ihrem rationalen Gehalt, ihrem handlungsvorbereitenden und handlungsorientierenden, aber auch handlungsinitiierenden 1 Die schiere Anzahl an Veröffentlichungen, Handreichungen und Expertisen, die Bildung regionaler und nationaler, politischer und wissenschaftlicher Ethik-Kommissionen spricht dieselbe Sprache: in Zeiten der Orientierungssuche innerhalb eines pluralen Raumes an Werten, Überzeugungen und Normen wird der Ruf nach Ethik als jener Disziplin laut, die die Entstehung von Werteinsichten reflektiert und die Begründung von Geltungsansprüchen erforscht; auf diesen Ruf will geantwortet sein im Sinne einer doppelten Bewegung - Bewahrung und Vertiefung des spezifisch Humanen im Raum von Politik und individueller Lebensgestaltung. Vgl. etwa mit paradigmatischem Titel HÖFFE, O., Moral als Preis der Moderne. Ein Versuch über Wissenschaft, Technik und Umwelt, Frankfurt am Main 2 1993 oder ARNTZ, K., „Salz der Erde - Licht der Welt“ Zum Profil theologischer Ethik in pluraler Gesellschaft, in: ARNTZ, K. / HAF- NER, J.E. / HAUSMANNINGER, T. (Hrsg.), Mittendrin statt nur dabei. Christentum in pluraler Gesellschaft, Regensburg 2003, 47-69. 2 Vgl. WESTERMANN, C., Das Hoffen im AT, in: ThViat 4 (1952/ 53), 19-70 (Theol Bibl 24 1964, 219 f.); NEBE, G., „Hoffnung“ bei Paulus. Elpis und ihre Synonyme im Zusammenhang der Eschatologie, Göttingen 1983; NEBE, G., ἐ λπ ίς (Art.): in: COENEN, L. / HAACKER, K. (Hrsg.), theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament Bd. I, Wuppertal 1997, 993 / 997- 1004. 3 Vgl. NITSCHE, B. (Hrsg.), Atem des sprechenden Gottes. Einführung in die Lehre vom Heiligen Geist, Regensburg 2003. 4 Vgl. FUCHS, O., Neue Wege einer eschatologischen Pastoral, in: Theologische Quartalschrift 179 (1999) 4, 260-288. D <?page no="23"?> 1. Fragestellung und leitendes Erkenntnisinteresse 23 Potential und ihrer therapeutischen Kraft gewürdigte und v.a. im Gespräch mit den Humanwissenschaften kaum reflektierte Kategorie. Dieser Herausforderung stellt sich die vorliegende Arbeit dezidiert mit mehreren Zielvorgaben im Sinne der klassischen Quaestiones, wobei exemplarisch, problemorientiert und im Vorgriff vorgegangen werden soll. Als argumentationsleitend können folgende Fragen gelten, die einen ersten thematischen Korridor vorgeben: Handelt ein hoffender, ein hoffnungsvoller Mensch auf spezifische Weise? Wie gestaltet er seine wesentlichen Existenzverhältnisse, d.h. den Umgang mit sich selbst, der Welt, seinen Mitmenschen und der Transzendenz? Anders gefragt: Wie verhält sich der Mensch als Hoffender zu sich selbst, zu seiner Umwelt, zu seinen Mitmenschen und zu Gott? Welche Konsequenzen hat ein solches Leben aus Hoffnung? Und: Wie wirkt Hoffnung und worin gründet sie? Wie strukturiert ein aus Hoffnung Handelnder sein Verhältnis zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft? Woraus schöpft ein Mensch, der Hoffnung hat, seine Hoffnung? Und: Wie lässt sich christliche und humane Hoffnung abgrenzen von profanen Hoffnungen und Derivaten und Surrogaten? Was „will“ Hoffnung letztlich beziehungsweise worauf zielt sie? Wie ist der Zusammenhang und das Verhältnis von Hoffnung und Handeln zu denken? Welche anthropologischen Strukturen kennzeichnen den hoffenden und dabei nach Sinn suchenden Menschen und was können wir darüber empirisch wissen? Schließlich mit Blick auf die interdisziplinäre Anlage der vorliegenden Studie: Wie lassen sich die Einsichten der Humanwissenschaften zur Hoffnungskategorie im weitesten Sinne zugleich integrieren und aus der eigenen Perspektive kritisieren, wenn die Autonomie der entsprechenden Wirklichkeitszugänge gewahrt bleiben soll? Zusammenfassend heißt das: Welche strukturell-anthropologischen Voraussetzungen müssen für die Entstehung von handlungsrelevanter, das heißt handlungsinitiierender und die Handlungsfähigkeit erhaltender Hoffnung erfüllt sein? Zur Einlösung dieses Fragehorizontes sind mehrere Fragenkomplexe zu bearbeiten: Es wird der Versuch unternommen, die alt- und neutestamentlichen Reflexionen zur Kategorie der Hoffnung samt einschlägigen Erkenntnissen über den antiken Hoffnungsbegriff und entsprechenden Beständen aus Mittelalter und Neuzeit ins Gespräch zu bringen mit Einsichten der Etymologie und der Humanwissenschaften, allen voran der Psychologie und Psychotherapie 5 , um eine breite empirische Fundierung der entsprechenden systematischen Reflexionen voranzutreiben bzw. diese eigens einer innovativen Systematisierung im theologisch-ethischen Diskurs zuzuführen. Entlang eines problemorientierten Zugriffes sollen die Bestände traditioneller antiker und christlichtheologischer Hoffnungs-Reflexion in einer spezifisch kombinatorischen 6 und interdisziplinären Argumentation auf methodisch kontrolliertem Wege, analog der Suche nach Kategoriengemeinschaften 7 , mit empirischen Äquivalenten und Desideraten der Hoffnung aus Psychologie und Psychotherapie auf Strukturgleichheit untersucht und ihre 5 Vgl. zum wissenschaftstheoretischen Status der Psychotherapie etwa PRITZ, A. (Hrsg.), Psychotherapie - eine neue Wissenschaft vom Menschen, Wien / New York 1996. 6 Vgl. zur kombinatorischen Theoriebildung als Wegweiser zu einem neuen Typus empiriebezogener Ethik KORFF, W., Wie kann der Mensch glücken? Perspektiven der Ethik, München 1985, 65 ff. 7 Vgl. dazu anhand der Kategorie der Versöhnung in sozialethischer Perspektive WÜSTEN- BERG, R.K., Die politische Dimension der Versöhnung. Eine theologische Studie zum Umgang mit Schuld nach den Systemumbrüchen in Südafrika und Deutschland, Gütersloh 2004. <?page no="24"?> III. Problemaufriss 24 moraltheologische Essenz im Sinne von unhintergehbaren Strukturen des hoffenden Menschen erhoben werden. Anvisiert sind erste Bausteine einer anthropologisch fundierten, handlungspraktisch gewendeten und moraltheologisch perspektivierten Ethik der Hoffnung. Es soll ferner der Versuch unternommen werden, die Bedeutung der Hoffnung und ihrer modernen Äquivalente für die konkrete, um Sinn ringende Lebensführung 8 argumentativ auszuweisen, allen voran deren (therapeutische) Valenz für das handelnde Subjekt auf der Suche nach einer sinnorientierten und sinnerfüllten Gestaltung seines Lebens trotz aller körperlichen und seelischen Versehrungen, Krisen und Nöte. Dabei wäre auch ein Vorstoß auf das Feld einer konsiliaren Ethik, einer Ethik der Beratung 9 , nötig und möglich, nachdem es zur genuinen Tradition abendländischer Ethik seit Sokrates 10 gehört, den in seiner Lebensführung verunsicherten und gehemmten Menschen zur Selbstsorge anzuhalten und ihn darin reflexiv zu begleiten, wenn also das beraterischpraktische Geschäft einer Befreiung 11 aus Handlungsnot selbst als „ethische Tätigkeit“ 12 zu verstehen ist. Die argumentationsleitende Kategorie der Hoffnung wird mithin in ihren anthropologischen Grundlagen erhellt, in den (moral-) theologischen Diskurs integriert, in ihrer handlungspräfigurierenden Kraft erläutert und innovativ auf eine integrale Theorie der Hoffnung als Antizipationsform von (Lebens-) Sinn erweitert werden, wobei Hinweise zu einer Ethik des Gebets, zu einer Konsiliatorik und einer Kulturtheorie abgeleitet und entwickelt werden sollen. In der Konsequenz erfährt auch die Disziplin der Theologischen Ethik eine Neuausrichtung, da sie zur Explikation (sittlich) begründeter Hoffnung zu dienen vermag und auf dem Hintergrund einer neu entwickelten Methodologie des interdisziplinären Gesprächs, anhand sogenannter Strukturgitter, auf der einen Seite Theologumena, wie das der Hoffnung, mit diesbezüglichen Einsichten anderer Disziplinen verknüpfen und andererseits moraltheologische Implikationen entsprechender empirischer Forschungen aufdecken kann. Dieser historisch-systematisch-interdisziplinären Aufgabe soll im Rahmen der vorliegenden Arbeit insofern exemplarisch nachgekommen werden, da nachwievor vielfache Forschungsdesiderate zur Hoffnungskategorie vorliegen, die sowohl 8 Vgl. dazu einschlägig LAUBACH, T., Lebensführung. Annäherungen an einen ethischen Grundbegriff, Frankfurt am Main et al. 1999. 9 Vgl. KRÄMER, H., Soll und kann die Ethik beraten? , in: SCHNEIDER, J.H.J. (Hrsg.), Ethik - Orientierungswissen? , Würzburg 2000, 31-44. 10 Vgl. zur Aufnahme der „Sokratischen Gesprächsführung“ in die professionelle Therapie und Beratung STAVEMANN, H.H., Sokratische Gesprächsführung in Therapie und Beratung. Eine Anleitung für Psychotherapeuten, Berater und Seelsorger, Weinheim / Basel / Berlin 2002. Die hier formulierte Forderung nach praktischer Philosophie vonseiten psychotherapeutisch arbeitender Berater stößt genau auf das Desiderat der vorliegenden Arbeit: der interdisziplinären Verknüpfung von Psychotherapie und Ethik, Empirie und Normativität - mit Blick auf eine therapeutisch-beraterische Ethik anhand der handlungspraktisch gewendeten Kategorie der Hoffnung. 11 Vgl. STEGMAIER, W., Ethik als Hemmung und Befreiung, in: ENDREß, M. (Hrsg.), Zur Grundlegung einer integrativen Ethik, Frankfurt a.M. 1995, 19-39. 12 Vgl. MAßHOF-FISCHER, M., Ethik als konsiliare Praxis der Lebenshilfe zur persönlichen Identitätsfindung. Pastorale Lebensberatung als integraler Teil ethischen Selbstverständnisses, in: LAUBACH, T. (Hrsg.), Ethik und Identität (FS für G.W. Hunold zum 60. Geburtstag), Tübingen / Basel 1998, 55. <?page no="25"?> 2. Disziplinäre Verortung des Fragehorizontes 25 historischer und exegetischer, als auch systematischer Natur sind, so dass für diese Auseinandersetzungen, die eine Fülle von Material bereithalten, eine notwendige Konzentration unverzichtbar ist. 2. Disziplinäre Verortung des Fragehorizontes Moraltheologie steht in pluraler Gesellschaft unter anderem im Dienste der Lebensdeutung und Lebensführung 13 und lässt sich in diesem Sinne ihr Formal- und Materialobjekt von der handlungsleitenden Lebenspraxis des Menschen selber vorgeben, der um einen sinnvollen Vollzug seines Daseins ringt. Als Materialobjekt soll daher der handelnde Mensch, das Handlungssubjekt, ausgewiesen werden, als Formalobjekt eine bestimmte Perspektivität auf dieses Handlungssubjekt - als eines, das in aller gebrochenen Selbsterfahrung unaufgebbar darauf angewiesen ist, den Raum seiner Zukunft handlungsmäßig vorwegzunehmen und den Ausgang dieser Vorwegnahme als glückend zu projektieren bzgl. den intendierten Zielen, um überhaupt handlungsinitiierend in der Gegenwart werden zu können. Der Mensch lebt in diesem Sinne aus der Zukunft, um in der Gegenwart handlungsfähig zu sein. Das Medium, in dem er diese seine Zukunft als eine sinnvolle antizipiert und handlungsrelevant werden lässt, ist in der klassischen Kategorie der Hoffnung zu fassen. Im Rahmen eines umfassenden Verständnisses soll Hoffnung als eine Form der Antizipation von Sinn aufgefasst werden bzw. umgekehrt die Erfahrung von Sinn als Konstitutivum und Telos für jegliche Hoffnung entfaltet werden. Die notwendige Interdisziplinarität in der Bearbeitung der anvisierten Thematik einer integralen Theorie der Hoffnung spiegelt sich wissenschaftstheoretisch in der Dialektik der Fächer von Theologischer Ethik auf der einen Seite und Psychologie bzw. Psychotherapie auf der anderen Seite, sie ist inhaltlich zwischen den Polen von ethischer Sinnvermittlung bzw. Sinneruierung 14 und therapeutischer Sinnhilfe 15 ausgespannt, zwischen der Sinnerfahrung als psychischem Geschehen und der Sinnvermittlung als therapeutischem Geschäft. Das Verbindungsglied, das missing link zwischen beiden Seiten stellt nun, so die zu verifizie- 13 Vgl. dazu wiederum: ARNTZ, K., „Salz der Erde - Licht der Welt“ Zum Profil theologischer Ethik in pluraler Gesellschaft, in: ARNTZ, K. / HAFNER, J.E. / HAUSMANNINGER, T. (Hrsg.), Mittendrin statt nur dabei. Christentum in pluraler Gesellschaft, Regensburg 2003, 47- 69 und ausführlich LAUBACH, T., Lebensführung. Annäherungen an einen ethischen Grundbegriff, Frankfurt a.M. 1999. 14 KLAUS ARNTZ plädiert in seiner Habilitationsschrift auf dieser Linie dafür, Moraltheologie als „handlungsleitende Sinnwissenschaft“ zu verstehen. Vgl. ARNTZ, K., Melancholie und Ethik. Eine philosophisch-theologische Auseinandersetzung mit den Grenzen sittlichen Subjektseins im 20. Jahrhunderts (ratio fidei 11), Regensburg 2002. Die Nähe zu der im nächsten (methodisch orientierten) Kapitel beschriebenen kombinatorischen Theorienbildung und deren (moraltheologischer) Zielperspektive einer handlungsbezogenen Logik des Ganzen sind unübersehbar, wenn gilt, dass der Frage nach dem Sinn eine Tendenz zur Selbsttranszendenz auf das je Größere (Ganze) inhärent ist. Vgl. dazu auch BILLER, K., Der Sinn-Begriff als zentrales Theorem der Logotherapie, in: KURZ, W. / SEDLACK, F. (Hrsg.), Kompendium der Logotherapie und Existenzanalyse. Bewährte Grundlagen, Neue Perspektiven, Tübingen 1995, 99-116. 15 Vgl. paradigmatisch FRANKL, V.E., Der Wille zum Sinn. Ausgewählte Vorträge über Logotherapie, München 1991; Ders., Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse, Wien 4 1994; Ders., Der leidende Mensch. Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie, Bern 2 1996; Ders., Sinn als anthropologische Kategorie, hrsg. und übersetzt von DUBOIS, J.M., Heidelberg 2 1998. <?page no="26"?> III. Problemaufriss 26 rende These, die Vermittlung von Hoffnung dar: Wiederherstellung bzw. Etablierung der Handlungsfähigkeit auf positive Sinnziele hin im Modus der Hoffnung. Der Bezugs- und Konvergenzpunkt dieser Argumentation ist mithin der handelnde Mensch selbst, er steht im Mittelpunkt als einer, der in seiner Suche nach gelingendem Leben auf einen offenen Handlungshorizont angewiesen ist, den er als einen positiven antizipatorisch im Medium der Hoffnung vorwegnimmt. Dabei gehe ich zunächst von der These 16 aus, dass der Mensch nicht anders handeln kann, als sich immer wieder von bestimmten Hoffnungen darin (sittlich) orientieren und motivieren zu lassen. Hoffnung wird hier als komplexe Kategorie verstanden, die jede Form einer positiv konnotierten Aussichtigkeit 17 umfasst, also auch das, was man Utopie, Vision, etc. nennt und was begrifflich davon unterschieden werden muss. Es lässt sich aber insgesamt nicht übersehen, dass die Hoffnung zu einer Kategorie geworden ist, die sich historisch überlebt zu haben scheint und als deren letztes Reservat das private kleine Glück übrig geblieben ist. Umso deutlicher bedarf es der kritischen Reflexion auf dieses Phänomen, das offensichtlich nicht dispensierbar ist, weil es unverzichtbar zur conditio humana selbst gehört. Wer also über Hoffnung reden will, muss über den Menschen reden, der hofft, dessen Hoffnungen Triumphe feiern oder auch enttäuscht werden können und der trotz oder gerade aufgrund der Widerständigkeit und Abgründigkeit seiner Wirklichkeitserfahrung und trotz aller Hoffnungslosigkeiten nicht müde wird, sich immer wieder Hoffnungen über sich und die Welt zu machen. Hoffnung ist daher als eine zentrale Leitkategorie aller menschlichen Existenzverhältnisse zu bezeichnen, da alle diese Verhältnisse, sowohl die Beziehung zu sich selbst, als auch die Beziehung zur Welt bzw. zu den Mitmenschen und die Beziehung zur Transzendenz, sich fundamental durch eine Hoffnungsstruktur auszeichnen, d.h. so von der Kategorie der Hoffnung bestimmt gedacht werden müssen, dass ihr Selbstvollzug ohne Hoffnung nicht denkbar ist. Insofern stellt das anvisierte Thema einer integralen Hoffnungstheorie auf der Basis des Gesprächs von Moraltheologie und Humanwissenschaft im Kontext moderner moraltheologischer Forschung durchaus innovatives Potential bereit. Nicht zuletzt sollen darüber hinaus mit der Arbeit auf argumentativem Wege Gründe gegen einen gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und medialen Trend vorgebracht werden, der sich in einer zunehmenden Neigung zur Rekonstruktion des Misslingens und Scheiterns von humanem Leben fassen lassen könnte. Gegen diese resignativen Tendenzen ist begründet zu argumentieren, dass sich niemand für eine Zukunft einsetzt, die ihn schwarz sehen lässt; kein Mensch tut, was er könnte, kein Mensch kann tun, was er tun könnte, wenn er nicht eine positive Zukunft dabei vor Augen hat - kurz: wenn er nicht hofft. 18 16 Die für dieses Vorhaben notwendige Klärung eher methodologischer Fragen, die der Hoffnung einen begründeten und der neuzeitlichen Vernunftkritik standhaltenden epistemischen Status zuweist, ist auf das nächste Kapitel zu verweisen. 17 Vgl. WOSCHITZ, K.M., Elpis - Hoffnung. Geschichte, Philosophie, Exegese, Theologie eines Schlüsselbegriffes, Wien 1979. In der griechischen Antike kam dem Hoffnungsbegriff zunächst und ursprünglich nicht die eindeutig positive Bedeutung zu, die ihm später aufgrund des Einflusses zentraler semitisch-christlicher Verheißungen zugewachsen ist, sondern anfangs ist von einer grundsätzlich ambivalenten Hoffnung auszugehen. 18 Vgl. KURZ, W., Auf der Suche nach Sinn, in: Ders. / HADINGER, B., Sinnvoll leben lernen, Tübingen 1999, 3-42. <?page no="27"?> 3. Kontexte einer Ethik der Hoffnung 27 So ist der vorliegenden Studie vorrangig daran gelegen, aus dezidiert moraltheologischer Perspektive 19 eine Neuinterpretation der Hoffnungskategorie anhand einer anthropologischen Fundierung, einer handlungspraktischen Orientierung und einer systematischen Integrierung der perspektivisch gewonnenen Einsichten zu formulieren. Die damit anvisierte Ethik der Hoffnung kann nun sowohl als fundamentaltheologische, als auch als moraltheologische Aufgabe verstanden werden, wobei an dieser Stelle die dezidiert subjektphilosophischen und freiheitsanalytischen Implikationen zugunsten einer anthropologischen Fundierung und handlungspraktischen Grundierung nur skizzenhaft erwähnt werden können. 3. Kontexte einer Ethik der Hoffnung a) Die sozialethische Signatur der Hoffnung. Eine gesellschafts- und kulturgeschichtliche Skizze Der Mensch ist seit geraumer Zeit vorsichtig geworden, über (große) Hoffnungen zu reden, erst recht, sie sich als kollektiv verbindende Ideen und moralisch verbindliche Orientierungen zu eigen zu machen. Nicht ohne Wehmut scheint sich der Mensch der Gegenwart große Hoffnungen bezüglich seiner selbst nicht mehr erlauben zu wollen. Die Konsequenz? Der Verzicht auf leitende Hoffnungen führt zu einer fundamentalen Irritation über seine Bestimmung und seine praktischen Handlungsmöglichkeiten und Handlungsnotwendigkeiten. Der (postmoderne) Mensch sieht sich in der Folge genötigt, seinen Welt- und Zeitbezug rein pragmatisch, quasi verfahrenstechnisch zu gestalten - in der unausgewiesenen „Hoffnung“, dadurch die Zukunft 20 und sich selbst kontrollieren zu können, um zumindest eine relative Gewissheit über die eigene ungesicherte Zukunft zu erlangen. Aber was soll er tun, woran sein Handeln grundlegend orientieren, wenn er gar nicht mehr recht zu wissen scheint, wer er hoffen kann zu werden, was also seine ideale Gestalt als Mensch ist beziehungsweise sein könnte? Mehr noch: Hoffnung wird in der Moderne geradezu unter Ideologieverdacht 21 gestellt. Der Gründe mögen viele sein. Sicher gehören die katastrophalen Erfahrungen dazu, die nicht allein im 20. Jahrhundert 19 Zur disziplinären Abgrenzung zur Dogmatik ist Folgendes zu sagen: Dogmatik dient bekanntlich der Explikation des christlichen Glaubens, wohingegen Theologische Ethik eine Explikation menschlicher Handlungswirklichkeit von diesem Glauben her vor Augen hat. Dogmatik vermag daher Theologumena mitunter unabhängig von spezifischen Handlungskontexten zu erörtern, während Theologische Ethik diese einzuzeichnen hat in menschliche Handlungswirklichkeit. Hoffnung ist nun das Medium der Vergegenwärtigung des Geglaubten oder umgekehrt die Vergewisserung des Erhofften - unter anderem in die Handlungswirklichkeit des Menschen hinein, weswegen es zwar zu den angestammten Aufgaben der Theologischen Ethik zu zählen hat, eine Ethik der Hoffnung zu formulieren, weswegen aber eine anthropologisch fundierte und handlungspraktisch situierte Hoffnungsstruktur menschlicher Handlungswirklichkeit so vergleichsweise wenig theoretische Beachtung gefunden hat bisher. So kann etwa die systematische Verhältnisbestimmung christlicher Hoffnung zur Idee des höchsten Gutes als Desiderat (nicht allein) moraltheologischer Forschung gelten. Vgl. in diesem Sinne aufschlussreich KELLER, D., Der Begriff des höchsten Guts bei Immanuel Kant. Theologische Deutungen, Paderborn 2008. 20 Vgl. HÖLSCHER, L., Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt am Main 1999. 21 Vgl. MANNHEIM, K., Ideologie und Utopie, Frankfurt am Main 3 1952. <?page no="28"?> III. Problemaufriss 28 destruktive Utopien beziehungsweise utopisch besetzte Mythologeme und Ideologien verursacht haben. Nach den Katastrophen des letzten Jahrhunderts und in der Post- Moderne insgesamt hat den Menschen daher ein abgründiges Entsetzen gegenüber der eigenen Natur und deren diabolischen Möglichkeiten beschlichen, in dessen Folge es zu einer Art protologischen Selbstbescheidung kam. Der Mensch hat versucht, mit Rationalisierung und Kontrolle auf diese Selbstbedrohung zu antworten. Nicht nur wurde ihm seine Verführbarkeit bewusst, die im Übrigen auch mit bestimmten Verheißungen aufwartete, die allerdings ideologisch zutiefst verblendet waren. Die zerstörerischen Potentiale der Utopie sollten - quasi im Sinne einer Deeskalationsstrategie - eingedämmt werden, indem die positiven Gehalte der Utopie in vernünftige und pragmatische Funktionszusammenhänge überführt wurden. 22 Damit wurde die komplexe Kategorie der Hoffnung genauso wie ihr gesellschaftlich-soziales Pendant der Utopie in der Moderne faktisch pragmatisiert und funktionalisiert und damit in ihren offenen, letztlich transzendentalen Dimensionen für rational überwunden erklärt und höchstens noch in religiösen Nischen für legitim erachtet. Dabei war es noch für O.Y GASSET eine Ehre und Auszeichnung des Menschen, ein „utopisches Wesen“ 23 zu sein, das sich eben gerade nicht aus den Bedingungen und Bedingtheiten der Gegenwart allein verstehen lässt. b) Die Anti-Utopie als gesellschaftliche Räson der Gegenwart Der Auszug aus den Ideologien, zu denen fälschlicherweise auch die Hoffnung und deren Derivate gezählt werden, das heißt Utopien, Visionen, etc., schien spätestens seit der Aufklärung unumgänglich. Denn war es nicht zentraler Teil des aufklärerischen Pathos, den Menschen zu befreien aus vermeintlich unbegründeten und voraussetzungsreichen Bindungen und Ideen, die nicht einer bestimmten rationalistischen Vorstellung gehorchten? Grundlage war dabei ein negativ orientierter Freiheitsbegriff. Dem gegenüber ahnen wir heute, dass dieser nicht ausreicht und eine inhaltliche, positiv-sittliche Bestimmung der Freiheit vonnöten ist, um genügend Handlungsorientierung und Handlungsmotivation bereit zu stellen. Sittlich qualifizierte und begründete Hoffnung leistet genau dies. Das wurde lange verdeckt von gesellschaftlichen Großprojekten, welche die globalen Hoffnungspotentiale auf sich gezogen haben: Herausbildung des Nationalstaates, Industrialisierung und Fortschrittsglaube, Weltkriege, Systemkonkurrenzen zwischen Kapitalismus und Kommunismus beziehungsweise Marxismus und vieles andere mehr. Jetzt, nach ihrem historischen Zusammenbruch und dem „Ende der Utopien“, die sie verkörperten, beziehungsweise der vermeintlichen „Erschöpfung der utopischen Energien“ 24 ist einzig ein pragmatisches bis pragmatistisches Verständnis von Politik geblieben und ein ernüchtertes, wenn nicht desillusioniertes Verständnis davon, was oder wer schließlich Geschichte (aus-) macht. Moralisch gesehen ist das Großprojekt der Gerechtigkeit 25 ge- 22 Vgl. paradigmatisch HABERMAS, J., Theorie des kommunikativen Handelns Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt am Main 4 1987. 23 Vgl. GASSET, J.O.Y, Vom Menschen als utopischem Wesen, Zürich 2005. 24 Vgl. KASPER, W. KARDINAL, Religion und die Zukunft des Menschen, in: Internationale katholische Zeitschrift Communio, 36. Jg. (2007), 300. 25 Vgl. als wohl prominentesten Vertreter RAWLS, J., A theory of justice, Cambridge 1971. <?page no="29"?> 3. Kontexte einer Ethik der Hoffnung 29 blieben und die Idee der auf universaler Menschenwürde basierenden Menschenrechte 26 , die vielleicht noch darüber hinaus ahnen lässt, dass hier große Menschheitshoffnungen konkretisiert werden sollen. Aber auf wen und vor allem auf was? Und woraus Motivation, Kraft und Ressourcen schöpfen zu deren Realisierung? Die vergangenen Jahrhunderte haben aus christlicher Hoffnung gesellschaftlichhistorisch betrachtet eine säkularisierte Form derselben hervorgebracht, die sich - in Ermangelung eines umgreifenden Sinnzusammenhangs - jetzt wesentlich aus dem Projekt einer gesellschaftlichen und in ersten Ansätzen auch globalisierten Gerechtigkeit speist. Allerdings bringt diese Form der „menschlichen Selbstbescheidung“ was die Formulierung großer Hoffnung anbelangt eine Fülle von Surrogaten hervor und besitzt ihrerseits deutlich mehr Hoffnungsanteile, als sie auszuweisen bereit ist. Ganz abgesehen davon, dass die Verwandtschaft mit biblischen Verheißungen kaum zu übersehen ist. 27 Was hier bereits mit dem Gerechtigkeitsmotiv anklingt, ist die basale Hoffnung auf das Gute als eine Form der Handlungsmotivation gegenüber einer Zukunft, die radikal offen erscheint. Zugleich wird an dieser Stelle klar: Berechtigte und notwendige Ideologiekontrolle kann nicht die Verabschiedung von Weltanschauung und Weltdeutung insgesamt bedeuten. Es gibt keinen weltanschaulichen Nullpunkt, keine weltanschaulich neutrale Perspektive auf Welt und Mensch. Denn es fällt auf: Praktisch alle großen Erzählungen und Dokumente der Menschheit beschreiben niemals lediglich Gegenwart, sondern beschwören immer zugleich eine Zukunft. Diese stellt dem Menschen vor Augen, zu was er im besten Sinne bestimmt sein könnte. 28 Wenn nun der für entwickelte Gesellschaften durchaus immer noch dominierende Fortschrittsglaube (weiter) brüchig wird und die Skeptiker weiter auf dem Vormarsch sind, dann gehen der spätmodernen Gesellschaft die letzten Zukunftsbilder verloren, an denen sie sich grundlegend orientiert und motiviert und aus denen sie humanisierende Kraft geschöpft hat. Behielten die „Dunkelseher“ 29 die Oberhand, befänden wir uns zeitdiagnostisch in der Tat in einem epochalen Wandel: Die großen modernen System-Hoffnungen gelten dann als überwunden und gescheitert, mindestens jedoch als zutiefst ideologieanfällig, während eine neue Form verbindender und verbindlicher Handlungsorientierung, die sich ihres notwendigen Zukunftsbezugs gewiss wäre, einer Zukunft also, die verantwortet zu werden hat, noch nicht in Sicht ist. 26 Vgl. HILPERT, K., Menschenrechte und Theologie. Forschungsbeiträge zur ethischen Dimension der Menschenrechte, Freiburg im Breisgau 2001. 27 Vgl. SCHOCKENHOFF, E., Grundlegung der Ethik. Ein theologischer Entwurf, Freiburg im Breisgau 2007, 190f. 28 Vgl. HEER, F. / FREITAG, S. / GÜNTHER, K. (Hrsg.), Für eine gerechte Welt. Große Dokumente der Menschheit, Darmstadt 2004. 29 Vgl. ASSHEUER, T., Die Dunkelseher. Ob Stefan George oder Oswald Spengler. Intellektuelle Untergangspropheten haben Konjunktur. Was macht sie so faszinierend? , in: DIE ZEIT 36 / 2007, 47 (30. August 2007). Systematisch ist hier von einer einseitigen Tendenz zur Rekonstruktion des Scheiterns menschlichen Lebens zu sprechen - in praktisch allen kulturschaffenden Bereichen. Denn wo finden sich in der modernen Kunst, Literatur, Film, Musik, etc. identifikationsfähige Bilder gelingenden Lebens - ohne dass diese in den Kitsch abwandern würden? Die einseitige Tendenz zur Rekonstruktion misslingenden Lebens, die durchaus mit berechtigten anamnetischen Interessen belegt ist, man denke nur an die memoria passionis, muss ausbalanciert werden durch ihr Gegenteil, sonst lähmt sie grundlegend menschliche Handlungsfähigkeit. Woher nähme der Mensch sonst die Kraft, das Misslingen konstruktiv zu bewältigen? <?page no="30"?> III. Problemaufriss 30 Deshalb plädiere ich im Folgenden für den Versuch, Hoffnung als eine zentrale Handlungskategorie auszuweisen. Natürlich sollen die bisherigen Erfahrungen und Zweifel nicht ignoriert werden. Aber sie sollen in den Kontext einer christlichen Ethik der Hoffnung gestellt werden. Wird dabei zugleich das „Elend des Anti-Utopismus“ 30 bedacht, der den Versuch unternahm, die Zukunft des Menschen rational unter Kontrolle zu bekommen, dann wird schnell einsichtig, dass ein solcher Versuch, von der Hoffnungsstruktur menschlicher Handlungswirklichkeit auszugehen, keineswegs anachronistisch ist. Nicht nur vermag diese zu zeigen, dass Hoffnungsvollzüge quasi ein Anthropologem darstellen, sie verdeutlicht auch, dass es statt um ihre vermeintliche Überwindung um eine je neue Begründung und Fundierung gehen muss, ganz abgesehen davon, dass sie nachhaltige Handlungsmotivation bereitzustellen vermag. Der Versuch der rationalen Kontrolle und pragmatischen Domestizierung der Zukunft des Menschen, wie es kennzeichnend für modernes Selbstverständnis 31 ist, hat zwar große Erfolge zu verzeichnen, aber gelang nur teilweise, da der offene Zukunftsbezug auf anderen Wegen wieder den Weg in die Gesellschaft zurückgefunden hat, aus der er nie wirklich ausgezogen war. Er tritt allerdings unter veränderten Bedingungen und mitunter ohne religiöse Vorzeichen auf, wodurch kaum überschätzbare Handlungsenergien drohen, ungerichtet verloren zu gehen, die für die bleibende Humanisierung einer Gesellschaft dringend gebraucht werden. Ganz abgesehen davon, dass der Fortschrittsglaube selbst inzwischen brüchig geworden ist und längst die Frage im Raum steht, was an seine Stelle treten könnte. So ist es nicht verwunderlich, dass bestimmte gesellschaftliche Utopien 32 als historisch überwunden erscheinen, so unter anderem der (National-) Sozialismus, der Kommunismus, der Marxismus, gar das „Ende der Geschichte“ 33 , das heißt das Ende gesellschaftlich-geschichtlicher (Neu-) Utopien, ausgerufen wurde, sich in postmodernen Gesellschaften aber eine Fülle von Hoffnungsfiguren und utopischen Potentialen finden lassen. Die Zukunftsoffenheit und die prinzipielle Verwiesenheit des Menschen auf ein existentielles Verhältnis zu seiner Zukunft ist damit gerade nicht obsolet geworden, sondern als Folge von Enttraditionalisierung, Säkularisierung und Pluralisierung in der Gestalt säkularer Heils- und Hoffnungsformen allgegenwärtig. 34 Demgegenüber sind die klassischen, meist religiösen Hoffnungsbilder und politisch-sozialen Utopien weitgehend zurückgedrängt worden. Dabei ist die Utopie besser als ihr Ruf, gerade wenn sie unter Kontrolle der kritischen Vernunft gestellt wird und dadurch sogar ideologiekritisches Potential zu entfalten vermag. Sie kann auf diese Weise die utopische Kraft des Men- 30 Vgl. LENK, K., Das Elend des Anti-Utopismus, in: Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte 04 / 2005, 33-38. 31 Und dennoch steht das Prinzip Hoffnung einem „planen“ Leben gegenüber, existiert ein Überdruss, eine Tristesse mitsamt den Formen der Kompensation in Aktionismus und Eventing angesichts dem weit verbreiteten Utopiedefizit. Ohne mit begründeter Hoffnung und Utopie verknüpfte Offenheit für das Unerwartete, das unerwartet Sinnvolle, bleiben wir immer festgelegt auf uns selbst. Vgl. erneut LENK, Das Elend des Anti-Utopismus, 33-38. 32 Vgl. SAAGE, R., Politische Utopien der Neuzeit, Darmstadt 1991. 33 Vgl. FUKUYAMA, F., Das Ende der Geschichte: Wo stehen wir? , München 1992. Nach der Zerschlagung des Faschismus und dem Scheitern des Kommunismus müsse nach Meinung des Autors, der im Bedürfnis nach Anerkennung den Motor aller Entwicklung sieht, die liberale Demokratie als Endpunkt der ideologischen Evolution der Menschheit betrachtet werden. Die Praxis der Demokratie sei zwar noch verbesserungsbedürftig, nicht aber ihr Ideal. 34 Vgl. KNOBLOCH, S., Verkündigung angesichts heutiger Lebenskontexte und Lebenskonzepte. Versuch einer Annäherung, in: Trierer Theologische Zeitschrift 114 (2005) 265-278. <?page no="31"?> 3. Kontexte einer Ethik der Hoffnung 31 schen auf sich ziehen und so vor unpolitischen und schleichenden utopischen Ideologien bewahren. Da sich nun die Sozialformen des Zusammenlebens reflexiv auf unser moralisches Selbstverständnis als Individuen auswirken, hängt auch zunehmend das individuelle Handlungssubjekt der Vorstellung an, ein Lebensverständnis und einen Lebensvollzug praktisch ohne einen starken Begriff von Hoffnung entwerfen zu können. So ist die in dieser Studie vertretene These, wonach Hoffnung eine der zentralen Handlungskategorien darstellt, für beide Perspektiven in ihrer Relevanz zu prüfen, sowohl für das Individuum, als auch für eine Gesellschaft, wobei eine individualethische Fokussierung den klaren Vorrang hat. <?page no="32"?> IV. Methodologischer Abriss „Er ist uns zuvorgekommen, er hat begonnen: Gott hat auf uns gehofft - soll es denn heißen, wir hofften jedoch nicht auf ihn? “ 1 1. Interdisziplinarität als Ethos a) Interdisziplinäre Hoffnung nterdisziplinarität ist zum vielfach geforderten, aber in ihrem Anspruch innerhalb des Ringens um Lösung komplexer Sachprobleme nur langsam eingeholtes ethisches Desiderat eines in Bewegung geratenen Wissenschaftsbetriebes geworden, der zunehmend unter das Diktat der Verwertbarkeit gestellt wird. So ist nicht nur eine punktuelle Zusammenarbeit der Einzelwissenschaften gefordert, sondern ein kontinuierlicher Dialog dieser Einzeldisziplinen, der sich den ungeheuren Innovationsmöglichkeiten der modernen Wissenschaften stellt. Insbesondere eine Theologische Ethik hat auf die Innovationswelle des Wissens, der wir gegenwärtig beiwohnen, zu reagieren, will sie ihrem Selbstverständnis als einer am Zielwert des Humanen orientierten und sich von dort her konstituierenden „Integrationswissenschaft“ 2 treu bleiben. Neben einer grundsätzlich 1 Vgl. Péguy, C., Das Mysterium der Hoffnung, Wien / München 3 1983, 106. 2 Vgl. AUER, A., Autonomie und christlicher Glaube, 2. Auflage mit einem Nachtrag zur Rezeption der Autonomievorstellungen in der katholisch-theologischen Ethik, Düsseldorf 1995, 44ff., 189ff. W. HUBER beschreibt im Handbuch christlicher Ethik die inzwischen klassisch gewordenen Versuche einer als Vermittlung von ethischem Subjekt mit dessen natürlicher und geschichtlicher Lebenswelt verstandenen Integration als bleibende Aufgabe der Ethik. Es werden fünf z.T. kritisch zu bewertende Modelle ausgewiesen: (1) deduktive Verknüpfung von Glaubenserfahrung und Welterfahrung, nach der aus Glaubensinhalten Grundelemente des Verhaltens abgeleitet werden; (2) Verfahren der doppelten Begründung, das eine Kohärenz von aus der Offenbarungswahrheit deduzierten Wahrheiten und Grundstrukturen des Lebens erreichen will; (3) die Leistungen des ethischen Subjekts (z.B. Selbstbewusstsein) werden theologisch interpretiert und auf funktional-strukturelle Entsprechungen zwischen Welt- und Glaubenserfahrung untersucht; (4) Unterscheidung zwischen ethischen Grundeinstellungen, die sich aus Grundinhalten christlichen Glaubens ergeben, und operationalisierbaren Zielvorstellungen; (5) zwischen Grundbestimmungen christlichen Glaubens und Normen, durch die sich das Subjekt zur Welt vermittelt, besteht ein Verhältnis von Analogie und Differenz zugleich. Die einseitig offenbarungstheologischen Argumentationen, die versuchen aus dem depositum fidei Normen abzuleiten, die dann zur Integration dienen sollen, verhindern gerade die Etablierung einer rationalen Evidenz möglicher Integrationen, indem auf der Basis eines Deduktionsverfahrens der Eigengestalt natürlicher und gesellschaftlicher Lebenswelten zu wenig Rechnung getragen wird (1-4) und die Kommunikation im binnenchristlichen Raum (zurück-) gehalten bleibt, statt immer zugleich den Beitrag der mitunter in Analogie und Differenz dazu stehenden Wirklichkeiten und Erfahrungen (5) als solche und in ihrer ethischen Valenz zu würdigen. Vgl. HUBER, W., Anspruch und Beschaffenheit theologischer Ethik als Integrationswissenschaft, in: HERTZ, A. / KORFF, W. / RENDTORFF, T. / RINGELING, H. (Hrsg.), Handbuch der christlichen Ethik Bd. 1, Freiburg im Breisgau 1978, 391-406. I <?page no="33"?> 1. Interdisziplinarität als Ethos 33 hermeneutischen Ausrichtung und Argumentation der anvisierten Arbeit, die den jeweiligen Vorverständnissen und Verständnisvoraussetzungen innerhalb eines umfassenden hermeneutischen Prozesses Rechnung zu tragen hat, unternimmt die vorliegende Arbeit daher den Versuch, ihren entscheidenden Erkenntnisgegenstand, die Hoffnung als Handlungskategorie bzw. das hoffende Handlungssubjekt, auf dem Wege einer Integration zweier Bezugsebenen im Rahmen eines interdisziplinären Verfahrens zu erhellen. Der Durchgang durch das thematische Material ist methodologisch durch zwei perspektivische Pole bestimmt, der Spannung von Empirie und Normativität, aber nur auf eine Kategorie, ein Formalobjekt, die Hoffnungskategorie, bezogen. Er speist sich aus zwei Sachbereichen, Psychologie, Psychotherapie und Humanwissenschaften auf der einen Seite, Theologie und Philosophie auf der anderen Seite, hat aber nur ein Materialobjekt vor Augen, den handelnden und um eine sinnvolle Lebensgestalt bedachten Menschen. Werden beide Objekte, Formalwie Materialobjekt, zusammengeführt, so wird das Heil des Menschen bzw. die fundamentale Sinnsuche des Menschen im Modus der Hoffnung zum Gegenstand der Reflexion gemacht, wovon wiederum eine Reihe von Ableitungen gemacht werden können, beispielsweise in Richtung einer hoffnungstheoretisch begründeten Spiritualität, Kulturtheorie oder auch Konsiliatorik. Diese Argumentationsstruktur entspricht dabei dem formalen Aufbau der anvisierten Arbeit. Zentrales Ziel der Arbeit, mit dem auch ein zentrales methodologisches Verfahren hermeneutisch bestimmt werden soll, ist es, die der Hoffnungskategorie inhärente Anthropologie herauszuarbeiten. Auf der einen Seite ist somit der dezidiert theologische und philosophische Besitzstand zur Thematik systematisch, aber exemplarisch zu erheben - mithin Theologumena und Philosophumena, auf der anderen Seite sind empirische Erkenntnisse des dezidiert psychologischen Besitzstandes freizulegen, das heißt begrifflich und systematisch anschlussfähig zu machen - mithin die Psychologumena. Beide Problemebenen sind zu beachten und die entscheidenden missing links im Zuordnungsverhältnis beider disziplinärer Schwerpunkte sind so zu benennen, dass die anvisierte interdisziplinäre kategoriale Anschlussfähigkeit ermöglicht wird. Damit wird zugleich die Voraussetzung dafür geschaffen, der Mehrdimensionalität der komplexen Kategorie der Hoffnung Rechnung zu tragen. Dennoch darf dabei das begriffliche Kontinuum und die Einheit der Hoffnungskategorie nicht aus den Augen verloren werden, ebenso wie die Einheit des Handlungssubjekts selbst. 3 Die problemorientierte Benennung von (positiven) Hoffnungsstrukturen und entsprechenden (negativen) Fehlbeständen erfolgt zunächst theologie- und philosophieintern, schließlich auch psychologieintern, um den jeweiligen Ursprungshermeneutiken ausreichend Rechnung zu tragen. Diese Bestände werden dann nachfolgend in einem integralen Konzept von Hoffnung platziert, erweitert um notwendige systematische Einlassungen, wobei eine zentrale, wenngleich nicht die einzige, Verbindung die in beiden Paradigmen zu rekonstruierende Sinnorientierung menschlichen Handlungsvollzugs darstellt. 4 Der hier zur Entfaltung anstehende Konnex von Hoffnung und Sinn kann 3 Vgl. HONNEFELDER, L. (Hrsg.), Die Einheit des Menschen. Zur Grundfrage der philosophischen Anthropologie, Paderborn 1994, insbesondere die Beiträge von ders. und G. HAEFF- NER. 4 Im Hintergrund kann der argumentative Dreischritt von ALFONS AUER wiederentdeckt werden, der (1) von der Humanwissenschaftlichen Grundlegung, (2) von der Anthropologischen Integrierung und (3) von der Ethischen Normierung spricht. Vgl. AUER, A., Autonome Moral und christlicher Glauben, Düsseldorf 2 1995, 39ff., wobei die Normative Analyse aufgrund der <?page no="34"?> IV. Methodologischer Abriss 34 sowohl binnentheologisch und (-philosophisch), als auch binnenpsychologisch, im weiteren Sinne sogar humanwissenschaftlich, als anthropologische Grundkonstante menschlicher Selbstverständigung in der Welt gelten. Somit wird überwiegend systematisch und historisch-ideengeschichtlich vorgegangen und nur nachrangig textphilologisch. Die dezidierte Verankerung der anthropologischen Fundierung der Hoffnungskategorie in der Handlungspraxis vermag dabei vitale Quellen der Hoffnung freizulegen, ohne seine christliche Hochform als gnadengewirkte Hinordnung des Menschen auf Vollendung zu unterminieren. Dafür ist es notwendig, dass zwei kategoriale Struktur-Gitter aufgerichtet werden auf dem Hintergrund des Durchgangs durch im Wesentlichen zwei Sachbereiche und entlang des methodologischen Fokus von sowohl empirischen, als auch transzendentalen und normativen Zugängen zum einen Handlungssubjekt Mensch, wobei eine interdisziplinär-historisch-systematische Erarbeitung angestrebt ist, die auf ein Summarium orientiert ist, das als verbindenden Fluchtpunkt vonseiten Theologischer Ethik das umfassende Heil des Menschen vor Augen hat. Wenn christliche Erlösung auch die Vollendung der Menschwerdung des Menschen, des ganzen Menschen in seinen leiblich-seelisch-geistigen Bezügen umfasst, dann wird auch freizulegen sein, an welchen naturalen Strukturen diese sich vollzieht. Als kategoriale Klammer der Disziplinen kann eine Ethik des Sinns dienen, die allerdings nicht die Hoffnungskategorie säkular beerben will, wiewohl es gute Gründe dafür gibt, anzunehmen, dass mindestens partiell in der (Post-) Moderne Sinn als „säkulare Heilskategorie“ 5 fungiert. Vielmehr ist sie als zentrale anthropologische Kategorie, die eine der Grundfragen menschlicher Existenz überhaupt formuliert, in beiden Erkenntnisperspektiven anzutreffen und vermag auf diese Weise dort, wo es um Verbindung der Bereiche geht, die begriffliche Anschlussfähigkeit sicher zu stellen - nicht aber den einen Begriff (der Hoffnung) durch den anderen (des Sinns) zu ersetzen, was weder der These der Arbeit entspräche, wonach Hoffnung als Antizipation von Sinn zu begreifen ist, noch sachlich angemessen wäre, wie zu zeigen sein wird. Kurz gesagt übernimmt der Sinnbegriff die Funktion, als eine Konvergenzformel der Interdisziplinarität anhand der handlungspraktisch reformulierten Hoffnungskategorie zu fungieren und so eine partielle Transposition einer Theologie der Hoffnung in eine Ethik des Sinns zu ermöglichen - und wieder zurück, schließlich ist es das eigentliche Ziel, über die Brücke des Sinnbegriffs eine interdisziplinär angereicherte integrative Theorie der Hoffnung zu formulieren. Auf dem Weg dorthin werden sich dann genau diejenigen Strukturen einer solchen Hoffnungstheorie eruieren lassen, die interdisziplinär von Interesse sind: Motivation, Vertrauen, Orientierung, Heilung, Identität, Würde, Anerkennung, etc. - letztlich die Lebensfähigkeit und die Handlungsfähigkeit des bleibend nach Sinn fragenden Menschen, genauso wie die Lebensbefähigung und Lebensbewältigung des versehrten und angefochtenen Menschen, genauso wie die Selbsttranszendenz des Menschen auf ein letztes Gelingen hin, wohlwissend, dass im Hintergrund, aber mitunter äußerst handlungsnah, ungezählte Hoffnungen das entscheidende Agens darstellen. Wo die Humanwissenschaften von Therapie und Heilung sprechen, da thematisiert die Theologie ein umfassendes vorliegenden Fragestellung von nachrangigem Interesse ist, wohlwissend darum, dass das Verhältnis der Schritte zueinander von AUER nicht hinreichend geklärt wurde und somit eine klare Kriteriologie zur entsprechenden Gewichtung von Argumenten fehlt. Vgl. dazu HILPERT, K., Ethik und Rationalität. Untersuchungen zum Autonomieproblem und zu seiner Bedeutung für die theologische Ethik, Düsseldorf 1980, 563ff. 5 Vgl. KNOBLOCH, Verkündigung angesichts heutiger Lebenskontexte und Lebenskonzepte. <?page no="35"?> 1. Interdisziplinarität als Ethos 35 und ganzheitliches Heil von Welt und Mensch im Rahmen einer Heilsgeschichte. Der Konnex von beiden Perspektiven kann anhand der Hoffnungskategorie gezeigt werden: Zum einen die welthafte, naturale Seite dessen, auf das sich das christliche Heil bezieht und zum anderen die begründete Finalisierung dessen, was natürliche Hoffnung eo ipso nicht einlösen und verbürgen kann. So geht es darum, strukturale 6 Grundelemente der Hoffnung in ihrer Bedeutung für die Handlungswirklichkeit des Menschen ausfindig zu machen und dabei auch umgekehrt diese Grundelemente als Subtext der (moralischen) Frage des Menschen nach sich selbst zu identifizieren, die sich im Hintergrund der Hoffnungsthematik identifizieren lässt. Anhand derjenigen Disziplin, von der letztlich ausgegangen wird und auf die hin wiederum argumentiert wird, die Moraltheologie, lässt sich daher zeigen, dass im Rahmen der menschlichen Selbstverständigung über sich selbst die Belange des Menschen sich in unterschiedlichsten Ursprungskontexten und Disziplinen doch immer wiederfinden lassen und der Mensch sich als das eine Handlungssubjekt insofern treu bleibt. Wie kann nun gerade diese Anlage des Themas begründet werden? Was ist das Novum der vorliegenden Fragestellung und dessen Beantwortung? Zum Einen ist das der Konnex von Ethik und Psychotherapie anhand der Kategorie der Hoffnung durch systematische Konvergenz der interdisziplinär erhobenen Kategorienaspekte aus den jeweiligen Ursprungshermeneutiken heraus und damit gerade nicht im Sinne einer Standesethik, für die es selbstredend ausgearbeitete Konzepte 7 gibt. Zum anderen ist es der dezidiert handlungstheoretische Ansatz, der Strukturen der Hoffnung und des Hoffnungsvollzugs in eine Handlungstheorie einzeichnen will. Was hat die erwähnte Konvergenz der Kategorien und Disziplinen bezüglich der Hoffnung motiviert? Die Erkenntnis, dass im Nahbereich des menschlichen Selbstumgangs, insbesondere mit Blick auf Erkenntnisse aus den Bereichen der Psychologie und Psychotherapie, eine Fülle von Einsichten bereitliegen, die im weitesten Sinne zu den naturalen Grundlagen der einen Hoffnung in den vielfältigen Hoffnungsformen des Menschen gezählt werden können und dringend der systematischen Integration harren, um deren therapeutische, energetisierende, vitalisierende und orientierende Wirkungen mit den großen Hoffnungsfiguren des christlichen Glaubens zu verbinden und beides wieder der moralisch qualifizierten Handlungswirklichkeit des Menschen zurückzugeben. Die materialen Strukturen sollen dabei aneinander angenähert werden und zugleich die Methodologie der theologisch-philosophischen und der psychologischen Erkenntnisperspektiven interdisziplinär füreinander erschlossen werden. Die neue Fragestellung unterschiedlicher interdisziplinärer Perspektiven passt sich dabei mitsamt der Brücke über die säkulare Sinnkategorie exakt in die Theologie ein. Die diesbezügliche Einheit ist 6 Vgl. MIETH, D. Begründungsversuche von Ethik, in: DEMMER, K. / DUCKE, K.-H. (Hrsg.), Moraltheologie im Dienst der Kirche (FS W. ERNST), Leipzig 1992, 42-43, hier 42. Das Programm eines strukturalen Vorgehens kann mit HEINRICH ROMBACH dahingehend präzisiert werden, „dass alle einschlägigen Handlungsbedingungen und Handlungsdispositionen zueinander in ein wechselseitiges Förderungsverhältnis gelangen“, sodass eine wirkliche und systematische Integrierung von Teilperspektiven im Sinne der Konvergenzargumentation von J.H. NEWMAN mehr ist als eine schlichte Addierung der jeweiligen Teile. Damit werden nicht alle anderen relevanten Handlungsbegründungen und Handlungskonstituenten relativiert, sondern diese können durch möglichst umfängliche Integration allererst angemessen gewichtet werden. 7 Vgl. HUTTERER-KRISCH, R. (Hrsg.), Fragen der Ethik in der Psychotherapie. Konfliktfelder, Machtmissbrauch, Berufspflichten, Wien 2 2001. <?page no="36"?> IV. Methodologischer Abriss 36 darzulegen. Aufgrund der Materialfülle ist nicht allein die entsprechende Methodenwahl zur Bearbeitung der Fragestellung auf Effizienz zu prüfen, sondern die Materialdurchsicht ebenso. Dennoch wird eine notwendige Perspektivierung unumgänglich sein und immer wider auf eine indirekte Verweiserhebung zurückgegriffen werden müssen. b) Interdisziplinäre Moraltheologie „Die Offenheit der Theologie zu den Wissenschaften hin und darum auch die Reflexion auf ihre eigene Wissenschaftlichkeit gehören zum Wesen christlicher Theologie.“ 8 Gerade unter der Voraussetzung einer Pluralität der Wissenschaften, die keine systematischen Monopolisierungen auf die Erfassung der Wirklichkeit mehr zulässt, deren Einzeldisziplinen aber mit der Moraltheologie mitunter dasselbe Materialobjekt kennen, den handelnden Menschen, ist diese auf das interdisziplinäre Gespräch aus dem eigenen Selbstverständnis heraus ohne Alternative angelegt. Das Verhältnis von Christentum, respektive (Moral-) Theologie und Neuzeit ist und wird entscheidend geprägt werden vom Verhältnis zu den anderen Wissenschaften 9 und den darin aufscheinenden Einsichten zur (Handlungs-) Wirklichkeit des Menschen. Ohne nun alle bisher einschlägigen Stationen moraltheologischer Forschung zum Themenkomplex hier im Einzelnen nachzeichnen zu können, was ein eigenes lohnendes Forschungsdesiderat darstellt, ist mindestens zu verweisen auf die wegweisenden Arbeiten von WERNER SCHÖLLGEN 10 und THEODOR MÜNCKER 11 im Handbuch der katholischen Sittenlehre, ebenso ALFONS AUER 12 , WILHELM KORFF 13 , DIETMAR MIETH 14 , GERFRIED W. HUNOLD 15 , aber auch KLAUS DEMMER 16 und LEO 8 Vgl. EBELING, G., Überlegungen zur Theologie in der interdisziplinären Forschung, in: METZ, J.B. / RENDTORFF, T., Die Theologie in der interdisziplinären Forschung, Düsseldorf 1971, 35-43, hier 35. Weiter heißt es: „Die systematische Ausbildung dieser Wesenszüge erfolgte freilich erst in der Scholastik und stand hier unter kulturellen Bedingungen, welche die Problematik in Schranken hielten: und zwar sowohl durch die Traditionsgebundenheit der Wissenschaften als auch durch die harmonisierende Autorität der Theologie. Beides verfiel der Auflösung. Die Wissenschaften emanzipierten sich nicht nur von der Theologie, sondern auch von der herrschenden Philosophie, dem traditionsgebundenen Wissenschaftsverständnis sowie dem Traditionsbestand der einzelnen Disziplinen. Sie haben sich daraufhin explosionsartig entwickelt.“ 9 Vgl. FISCHER, H., Erwägungen zur Stellung und Aufgabe einer bikonfessionell und interdisziplinär orientierten Theologie, in: METZ / RENDTORFF, Die Theologie in der interdisziplinären Forschung, 77-80. 10 Vgl. SCHÖLLGEN, W., Die soziologischen Grundlagen der katholischen Sittenlehre (HKS V), Düsseldorf 1953. SCHÖLLGEN, W., Konkrete Ethik, Düsseldorf 1961. 11 Vgl. MÜNCKER, T., Die psychologischen Grundlagen der katholischen Sittenlehre (HKS II), Düsseldorf 1953. 12 Vgl. AUER, A., Autonomie und christlicher Glaube, 2. Auflage mit einem Nachtrag zur Rezeption der Autonomievorstellungen in der katholisch-theologischen Ethik, Düsseldorf 1995, 39- 46. 13 Vgl. KORFF, W., Wege empirischer Argumentation, in: Handbuch der christlichen Ethik (HCE) Bd. I, hrsg. von HERTZ, A. / KORFF, W. / RENDTORFF, T. / RINGELING, H., Freiburg im Breisgau 2 1978, 83-107. Ebenso KORFF, W., Die naturale und geschichtliche Unbeliebigkeit menschlicher Normativität, in: Handbuch christlicher Ethik Bd. I, hrsg. von HERTZ, A. / KORFF, W. / RENDTORFF, T. / RINGELING, H., Freiburg im Breisgau 2 1978, 147-164. 14 Vgl. MIETH, D., Moral und Erfahrung. Beiträge zur theologisch-ethischen Hermeneutik (SThE 2), Freiburg im Breisgau 1977, 42-71 (‚Empirische‘ Grundlagen der Ethik). <?page no="37"?> 1. Interdisziplinarität als Ethos 37 SCHEFFCZYK 17 u.a., ganz zu schweigen von entsprechenden Bemühungen aus theologischen Nachbardisziplinen wie der praktischen Theologie, etwa durch die sog. Empirische Theologie 18 , oder der Religionspädagogik 19 , nicht zu vergessen die differenzierten Debatten um die (Re-) Formulierung einer zeitgemäßen Naturrechtskonzeption, die die normativ unbeliebige Natur des Menschen jenseits von formalistischen, rationalistischen oder einseitig metaphysizistisch-essentialistischen Konzeptionen des natürlichen Sittengesetzes philosophisch zu würdigen 20 versucht. Diese Versuche sind allerdings für ein differenziertes Gespräch der Moraltheologie insbesondere mit dem empirischen Selbstverständnis der Erfahrungswissenschaften (noch) nicht suffizient, mitunter zu formal und zu negativ auf Abgrenzung gepolt, weswegen ein solches Konzept im Folgenden in einigen wenigen Zügen angedeutet werden soll, während eine ausführliche Entwicklung im Rahmen einer eigenen moraltheologischen Methoden- und Erkenntnislehre zu erfolgen hat. 21 Bereits an diesem ersten groben Aufriss deutet sich an, dass die vorliegende Fragestellung auch das Selbstverständnis der Moraltheologie als Disziplin tangiert und nach einer entsprechenden Reformulierung verlangt, was an verschiedenen Stellen der vorliegenden Studie immer wieder geschehen soll. 22 Insgesamt wird es darum gehen, zu zeigen, dass Moraltheologie u.a. auf dasjenige Gelingen des Menschen handlungspraktisch zu reflektieren versucht, das sich in der christlichen Hoffnung als Verheißung zu erkennen gibt. Zur Einlösung dieses Programms ist nun zunächst eine formale Explizierung dessen vonnöten, was HELMUT PEUKERT im Rahmen seines Projekts einer fundamentalen Theologie die „Logik der interdisziplinären Forschung“ 23 genannt hat, die programmatisch immer wieder gefordert wird, aber bislang nur in rudimentären Zügen ausgearbei- 15 Vgl. HUNOLD, G.W., Zur Moralfähigkeit des Menschen. Selbstkonzept, Selbstwahrnehmung und Selbstbewertung als Verstehenswege der Gewissenskompetenz, in: ThQ 174 (1994), 34-45. Ebenso HUNOLD, G.W. / BECKMANN, D. (Hrsg.), Grenzbegehungen. Interdisziplinarität als Wissenschaftsethos, Frankfurt am Main 1995. 16 Vgl. DEMMER, K., Das interdisziplinäre Gespräch, in: Ders., Moraltheologische Methodenlehre, Freiburg Schweiz / Freiburg im Breisgau 1989, 193-219. 17 Vgl. aus glaubensethischer Perspektive einseitig kritisch gegenüber interdisziplinären Integrationsversuchen SCHEFFZYCK, L., Die Theologie und das Ethos der Wissenschaften, in: MThZ 25 (1974), 336-358. Ebenso SCHEFFZYCK, L., Die Theologie und die Wissenschaften, Aschaffenburg 1979. 18 Vgl. DINTER, A. (Hrsg.), Einführung in die Empirische Theologie. Gelebte Religion erforschen, Göttingen 2007. Ebenso FUCHS, O., Wie funktioniert die Theologie in empirischen Untersuchungen? , in: ThQ 180 (2000), 191-210. BUCHER, R., Über Stärken und Grenzen der „Empirischen Theologie“, in: ThQ182 (2002), 128-154. FUCHS, O., „Komparative Empirie“ in theologischer Absicht, in: ThQ 182 (2002), 167-188. 19 Vgl. KIESSLING, K., „Ich hatte die Psychiatrie nicht dazu benutzt, die Menschen zu Gott zu führen…“ - Interdisziplinarität: Entwicklung von Kriterien eines Dialogs zwischen Psychotherapie und Seelsorge, in: Ders., Seelsorge bei Seelenfinsternis, Depressive Anfechtung als Provokation diakonischer Mystagogie, Freiburg im Breisgau 2002, 117-278. 20 Vgl. BORMANN, F.-J., Natur als Horizont sittlicher Praxis. Zur handlungstheoretischen Interpretation der Lehre vom natürlichen Sittengesetz bei Thomas von Aquin, Stuttgart 1999. 21 Vgl. als einen der letzten Versuche DEMMER, K., Moraltheologische Methodenlehre, Freiburg Schweiz / Freiburg im Breisgau, 1989, besonders 193-223 („Das interdisziplinäre Gespräch“). 22 In Kap. VIII 2 ist diesen Fragen noch ein eigenes Kapitel gewidmet. 23 Vgl. PEUKERT, H., Zur Frage einer „Logik der interdisziplinären Forschung“, in: METZ / RENDTORFF, Die Theologie in der interdisziplinären Forschung, 65-71. <?page no="38"?> IV. Methodologischer Abriss 38 tet wurde. Wiewohl die fundamentale Theologie von PEUKERT exakt entlang der thematischen Stoßrichtung der vorliegenden Arbeit interpretiert werden kann, wonach wir im Kontext der ethischen Begründungsproblematik „den Grund und den Sinn von Ethik nur verstehen, wenn wir auch einen Grund zur Hoffnung haben“ 24 , sind entscheidende Wegmarken zum Verständnis interdisziplinärer Forschung im Kontext von (Moral-) Theologie konzeptionell allererst zu entwickeln, zumal insbesondere das interdisziplinäre Verhältnis der (theologischen) Ethik zu den empirischen Wissenschaften von negativen Abgrenzungen bestimmt ist und ein eklatanter Mangel an entsprechenden positiven Konzepten besteht. 25 Denn eine theologia naturalis ist wohl von keiner Einzeldisziplin mehr im angestammten Sinne zu leisten, wiewohl es zu den bleibenden Aufgaben der Theologie insgesamt gehört, ihre je eigene Vernünftigkeit aus sich selbst heraus zu begründen, insbesondere die Verhältnisbestimmungen von Gnade und Natur, gnoseologisch von Glaube und Welt, Glaube und Vernunft, Theologie und Philosophie, etc. Dabei ist immer wieder vom homo theologicus zum homo christianus und zum homo humanus vorzustoßen, um einseitige Hermetisierungen zu vermeiden. Um nun diese Spannungsverhältnisse nicht rationalistisch oder fideistisch aufzulösen, sondern je wieder aufs Neue anzuzeigen, benötigt Theologie (immer schon) ein Bewusstsein und eine Vorstellung von Natur und von Welt, letztlich entscheidend eine Vorstellung von der Natur und der Welt des Menschen, eine Anthropologie 26 . So gesehen kann ein notwendiger interdisziplinärer Impetus innerhalb der Theologie selbst ausgemacht werden. 27 Es gehört nachgerade zu ihrer Identität, sodass von einem Zusammenhang zwischen Interdisziplinarität als Teil des theologischen Selbstverständnisses und theologischer Identität 28 ausgegangen werden muss. 24 Vgl. MIETH, D. Begründungsversuche von Ethik, in: DEMMER, K. / DUCKE, K.-H. (Hrsg.), Moraltheologie im Dienst der Kirche (FS W. ERNST), Leipzig 1992, 37-56, hier 49, wo es weiter heißt: „Dieser Grund zur Hoffnung liegt im Vertrauen auf die personale Intensität und universale Extensität der Liebe Gottes zu den Menschen, die sich jedes beschädigten und zerstörten Lebens wirksam erinnert. Die transzendentale Reflexion über die Bedingungen der Befreiung gibt dieser Überlegung auch eine philosophische Eröffnung.“ 25 Vgl. GOERTZ, S., Moraltheologie unter Modernisierungsdruck. Interdisziplinarität und Modernisierung als Provokationen theologischer Ethik - im Dialog mit der Soziologie Franz-Xaver Kaufmanns, Münster 1999, 125: „Es scheint einfacher zu sein, anzugeben, was empirisch nicht zu begründen ist, als ihren positiv-produktiven Beitrag im ethischen Diskurs präzise zu bestimmen.“ 26 Das Umgekehrte gilt freilich aus moraltheologischer Perspektive in einem unthematischen Sinne genauso. Vgl. RAHNER, K., Theologie im Gespräch mit den modernen Wissenschaften, in: METZ / RENDTORFF, Die Theologie in der interdisziplinären Forschung, 31: „Gerade die Theologie geht von der Voraussetzung aus, dass jeder Mensch im Grunde gar nicht vermeiden könne, ein Theologe zu sein, mindestens unthematisch, wenn man unter Theologie das Bedenken der menschlichen Existenz als ganzer und solcher über alle regionale Wissenschaftlichkeit hinaus und in deren Verwiesenheit auf das absolute Geheimnis versteht.“ 27 Vgl. METZ, J.B., Zu einer interdisziplinär orientierten Theologie auf bikonfessioneller Basis. Erste Orientierungen anhand eines konkreten Projektes, in: METZ / RENDTORFF, Die Theologie in der interdisziplinären Forschung, 20: „Dieses Spannungsverhältnis drückt immerhin aus, dass Theologie sich nicht einfach aus sich selbst reproduzieren kann, dass sie - um ihrer Identität und Eigenart willen - ständig eine Art kognitiver Fremdbestimmung bei sich haben muss, ein nicht rein innertheologisch herstellbares und formulierbares ‚Bewusstsein der Zeit‘. In diesem Sinne war Theologie auch bislang eigentlich nicht rein interdisziplinär bestimmt.“ 28 Vgl. RÖSSLER, D., Interdisziplinäre Forschung als theologisches Programm, in: METZ / RENDTORFF, Die Theologie in der interdisziplinären Forschung, 73-75. <?page no="39"?> 1. Interdisziplinarität als Ethos 39 Dabei ist eine doppelte Stoßrichtung zu beachten: Zum einen geht es ja um die Aneignung von Einsichten aus zunächst nichttheologischen Disziplinen, deren Integration oder Kritik, zum anderen aber auch um die Herausarbeitung des eigenen Theologischen im zunächst Nichttheologischen. Genau deshalb hat die Theologie eine begriffliche Sensibilität dafür zu entwickeln, „wie ihr eigenes Interesse in den Fragehinsichten anderer Wissenschaften […] bereits präsent ist.“ 29 Insgesamt ist die Theoriebildung der jeweiligen am interdisziplinären Gespräch beteiligten Disziplinen zu betrachten, sodass deren Ursprungshermeneutiken nicht quasi übersprungen werden, sondern bei der Aufnahme entsprechender Einsichten zunächst in Rechnung gestellt werden, wobei „Theoriebildung schon in den streng empirischen Wissenschaften einen mehrdimensionalen Prozess darstellt“ 30 , deren Komponenten (Basis, Theorie, Theoriesprache, theoretische Begriffe, Modell, Reduktionssystem, etc.) nicht einfach aufeinander reduzierbar oder voneinander ableitbar sind. Entsprechende Theorien enthalten daher immer auch Elemente, die nur partiell empirisch interpretierbar sind. Auch liegt keine in sich vollständig schlüssige induktive Logik vor, die unterstellt werden müsste. Weit eher ist von einer Konkurrenz von Theorien auszugehen, die ein Ringen um Plausibilität voraussetzt und auf diese Weise die Struktur wissenschaftlicher Rationalität bestimmt. Die entscheidenden Argumente können dabei einen empirischen oder auch einen begrifflichen Schwerpunkt haben. Zu wenig bedacht scheint mir in diesem Zusammenhang insgesamt die Unterscheidung von Kondisziplinarität und Pluridisziplinarität zu sein, wonach eine Gleichgerichtetheit der Forschungsperspektiven von unterschiedlichen Standpunkten aus aber auf ein gemeinsam im Erkenntnisfokus liegendes Materialobjekt schon methodologisch nicht identisch ist mit einer Vielperspektivität auf ein mitunter noch gar nicht ausreichend erkennbares Erkenntnisobjekt. Die bisherigen Ausführungen dürften gezeigt haben, dass ein interdisziplinärer Forschungsprozess, etwa der, eine komplexe theologische Kategorie wie die der Hoffnung interdisziplinär aufzubereiten, „erst da in Gang kommt und die ‚dialogische Kompetenz‘ erst da erreicht ist, wo die Mehrdimensionalität einer Wissenschaft im Blick bleibt.“ 31 So kann auch im vorliegenden Fall die Pluriformität der Zugänge zum Erkenntnisobjekt nicht allein als Indiz für die Mehrdimensionalität der Moraltheologie, sondern auch der Hoffnungskategorie selbst verstanden werden. Alle relevanten Methoden können dabei als „in Feststellungsverfahren umgeformte Theorien“ 32 definiert werden. Einzelergebnisse werden dadurch methodologisch zunächst unter den Bedingungen der jeweiligen Disziplin verhandelt und interpretiert. Geht es allerdings um die Voraussetzungen und Grundbedingungen, auch um die Folgen einer Disziplin, werden deren immanente Grenzen überschritten. Die Frage wird sein, ob Kriterien bereitgestellt werden können, um anzugeben, woraufhin die je eigenen Grenzen überschritten werden sollen: Der Erfahrungsbegriff der „Erfahrungswissenschaften“ verlangt daher „eine Reflexion auf die Totalität, auf die hin Erfahrungswissenschaften sich entwerfen, zugleich eine Reflexion 29 Vgl. RENDTORFF, T., Was heißt „interdisziplinäre Arbeit“ für die Theologie? Elemente einer Orientierung, in: METZ / RENDTORFF, Die Theologie in der interdisziplinären Forschung, 45-56, hier 51. 30 Vgl. PEUKERT, H., Zur Frage einer „Logik der interdisziplinären Forschung“, in: METZ / RENDTORFF, Die Theologie in der interdisziplinären Forschung, 65. 31 Vgl. ebd. 70. 32 Vgl. SAUTER, G., Möglichkeiten der Theoriebildung in der Theologie, in: METZ / REND- TORFF, Die Theologie in der interdisziplinären Forschung, 58-64, hier 60. <?page no="40"?> IV. Methodologischer Abriss 40 auf den Vorgang und die ermöglichenden Voraussetzungen solcher Erfahrung.“ 33 Denn genau an dieser Stelle hat die Theologie eine ihrer je eigenen Kompetenzen ins Spiel zu bringen. Gegen „die Gefahr der Vereinzelung der Methoden als Ausdruck eines Wirklichkeitsverlustes von Wissenschaften“ 34 ist nämlich vonseiten der Theologie dringend Einspruch geboten, insbesondere, wenn in der Theologie an der Wahrheitsfrage festgehalten wird: „Fundamentale Entscheidungen fallen […] an der Frage, was in der Konkurrenz der Wirklichkeitsaspekte für das Verständnis der Wirklichkeit im Ganzen den Ausschlag gibt, was also letztlich für wahr zu halten ist, und das heißt, was dazu nötigt und befreit, das Leben in der Welt verantworten zu müssen und zu können. An diesem Zusammenhang von Wissenschaft und Leben, von Erkenntnis und Gewissen, von Wirklichkeit und Wahrheit rührt notwendig ein aufs Ganze gehendes interdisziplinäres Gespräch.“ 35 Gegen weltanschauliche Reduktionismen, Hermetisierungen und Monopolisierungen aller Art hat (Moral-) Theologie im Sinne eines umfassenden Verständnisses von Wirklichkeit eine offene, je neu zu bestimmende und einer letzten Definierbarkeit sich entziehende Wirklichkeit des Menschen und insbesondere seiner Handlungssphäre zu reklamieren und reflexiv auszuweisen, wobei methodische Positivismen, die innerdisziplinär verortet sind, dafür nicht gefährlich sind. Hier entsteht allerdings eine Asymmetrie, die mit einem logischen Zirkel interdisziplinärer (theologischer) Hermeneutik zu tun hat, der wiederum nicht aufgelöst werden, sondern nur methodisch integriert werden kann: Theologie hat sich einerseits von den Humanwissenschaften belehren zu lassen über die Natur ihres Materialobjekts, zugleich hat sie andererseits die hermeneutische Kompetenz in Anspruch zu nehmen, allererst Kriterien zur Interpretation von Erkenntnissen empirischer Wissenschaften bereitzustellen im Sinne der erwähnten Sachwalterschaft für eine umfassende Vorstellung humaner Wirklichkeit - freilich ohne sich dabei die Kompetenz der jeweiligen Einzeldisziplin selbst anzumaßen: „Wer, wie die Theologie, die Totalität des Erfahrbaren denkt oder wenigstens bedenken will, setzt sich selbst den korrigierenden Eingriffen anderer Wissenschaftler aus, die ihm bei diesen nichttheologischen Wissenschaften untersagt sind.“ 36 Wenn Theologie auf diese Weise menschliche Handlungswirklichkeit zu bedenken versucht, dann wird sie sich permanent der (theoretischen) Spannung zwischen der Abstraktion philosophischer und theologischer Anthropologie auf der einen Seite und der Konkretion menschlicher Lebens- und Handlungswelten andererseits auszusetzen haben, auf die jeweils hin und aus der heraus sie sich immer wieder zu begreifen hat. Weder eine konkretistische Konzeption, auch nicht im Mantel eines scheinempirischen Nimbus, noch in abstrakter Spekulation kann Moraltheologie dem Menschen als sinnlich-sittlichem Wesen gerecht werden. Mit anderen Worten: „Dass die interdisziplinäre Rechenschaft um der Konzentration auf die Sache der Theologie willen notwendig ist, muss durch die Feststellung ergänzt und erläutert werden, dass sie um die Konkretion der 33 Vgl. PEUKERT, H., Zur Frage einer „Logik der interdisziplinären Forschung“, in: METZ / RENDTORFF, Die Theologie in der interdisziplinären Forschung, 65-71, hier 69. 34 Vgl. RENDTORFF, T., Was heißt „interdisziplinäre Arbeit“ für die Theologie? Elemente einer Orientierung, in: METZ / RENDTORFF, Die Theologie in der interdisziplinären Forschung, 45-56, hier 45. 35 Vgl. EBELING, G., Überlegungen zur Theologie in der interdisziplinären Forschung, in: METZ / RENDTORFF, Die Theologie in der interdisziplinären Forschung, 35-43, hier 42. 36 Vgl. SCHIFFERS, N., Voranzeigen für ein interdisziplinäres Gespräch zwischen Naturwissenschaftlern und Theologen, in: METZ / RENDTORFF, Die Theologie in der interdisziplinären Forschung, 89-92, hier 91. <?page no="41"?> 1. Interdisziplinarität als Ethos 41 Sache der Theologie willen notwendig ist. Sie dient dazu, den Wirklichkeitsbezug theologischer Aussagen zu explizieren. Dieser Wirklichkeitsbezug ist jedoch nicht etwa erst nachträglich hinzuzufügen. Er macht geradezu die Sache der Theologie aus. Sie ist dasjenige Geschehen, das sich unter Berufung auf Jesus in dem Zusammentreffen von Gott und Welt vollzieht. Diese Polarität lässt um dessentwillen, was sich in ihr ereignet, das genuine theologische Interesse auf den umfassenden Wirklichkeitsbezug des Redens von Gott gerichtet sein. Denn das Reden von Gott betrifft die Wirklichkeit der Welt. Darum liegt die Konfrontation mit allem, was die Wirklichkeit der Welt ausmacht oder auszumachen scheint, im Interesse der Theologie.“ 37 Dazu hat auch die unverkürzte, das heißt offen konzeptualisierte menschliche Handlungswirklichkeit zu zählen. Dann nämlich kann deren Hoffnungsstruktur interdisziplinär in den Blick kommen, wie hier vorgeschlagen. Die genaue Bestimmung der Aufgaben einer moraltheologischen Interdisziplinarität ist nun unter anderem auch deswegen so wichtig, damit quasi der Adressat, der Mensch, genau bestimmt, wiewohl nicht im strengen Sinne definiert werden kann, den Adressaten, „an den sie sich heute und morgen wenden muss. In diesem Sinne“, schreibt KARL RAHNER, „muss sie noch lange den Naturwissenschaftlern zuhören.“ 38 Für ein solches interdisziplinäres Arbeiten kennt Moraltheologie nun zusätzlich eine Reihe von Voraussetzungen, die mehr als Problemanzeige benannt als je für sich konzeptionell gelöst werden könnten. Gerne übersehen wird etwa nach wie vor eine Klärung des Verhältnisses von Theorie und Praxis, ebenso von Abstraktion und Konkretion, insbesondere, wenn davon ausgegangen wird, dass der handelnde Mensch immer zugleich theoretisches und praktisches Wesen ist und keine der beiden Dimensionen auf Kosten der je anderen unterminiert werden darf, sondern beide gerade in ihrem Zueinander zu bedenken sind. Wenn Handlungswirklichkeit unverkürzt in den Blick genommen werden soll, dann werden eine Fülle von Existenzspannungen sichtbar - auch und gerade Hoffnungsspannungen -, die zutiefst bestimmend sind für menschliches Verhalten und Handeln. Insbesondere die Bedeutung des Theoriebegriffs verlangt dabei ausreichend Aufmerksamkeit, nachdem im Rahmen theologischer Aussagen insgesamt ein „theoriefähiger Universalitätsanspruch“ 39 (universale concretum) erhoben wird. Wenn denn Ethik nach ARISTOTELES als theoretische Disziplin in praktischer Absicht gelten kann, dann gilt es nun mindestens gleichwertig die Abstraktion ethischer Fundamentalprinzipien und 37 Vgl. EBELING, Überlegungen zur Theologie in der interdisziplinären Forschung, 35-43, hier 41. 38 Vgl. RAHNER, K., Theologie im Gespräch mit den modernen Wissenschaften, in: METZ / RENDTORFF, Die Theologie in der interdisziplinären Forschung, 33. Dennoch kann keine Rede davon sein, dass dadurch Theologie einem Szientismus verfallen würde. Lohnenswert erscheint allerdings an dieser Stelle die Reflexion auf das Verhältnis von Konstruktion und Rekonstruktion in der interdisziplinären theologischen Forschung, schließlich kennen empirisch orientierte Wissenschaften vorrangig konstruktivistische Theoriebildungen, wohingegen theologische Aussagen ihrem Selbstverständnis gemäß und sich orientierend am Glaubenskerygma vorrangig rekonstruktiven Charakter haben, eine Differenzierung, die mir noch wenig bearbeitet scheint. Denn die Handlungswirklichkeit des Menschen ist nicht nur eine, die mit (mitunter abstrakten) moralisch-ethischen Prinzipien, Werten und Normen verknüpft ist, sondern auch eine, die sich konkreten Kontexten verdankt und auch immer wieder auf die Konkretion ihrer selbst hin angelegt ist und daher entsprechend ausgelegt zu werden hat. 39 Vgl. OELMÜLLER, W., Philosophische Überlegungen zu den Bedingungen eines interdisziplinären Gesprächs mit der Theologie, in: METZ / RENDTORFF, Die Theologie in der interdisziplinären Forschung, 93-99, hier 95. <?page no="42"?> IV. Methodologischer Abriss 42 Fundamentalnormen sachlich angemessen zu bedenken, wie die Ebene der Konkretion, der Kontextualisierung und der Situierung im Erfahrungsraum des Lebensvollzugs, genauso wie die vielfältigen Vermittlungen der Ebenen gerade in ihrer wechselseitigen Bezogenheit. Das methodische Ziel des vorliegenden interdisziplinären Ansatzes kann daher prägnant wie folgt zusammengefasst werden: Es geht um die „Konkretion theologischer Aussagen mittels interdisziplinärer Explikationshilfe“ 40 , wofür das methodisch kontrollierte Gespräch nicht allein mit den Humanwissenschaften 41 unumgänglich ist. Interdisziplinarität als Aufgabe der Moraltheologie zu begreifen, wird mithin nicht ausschließlich zu begründen sein aus der disziplinären Verfasstheit gegenwärtiger Theologie selbst, nicht allein aufgrund des Forschungsdrucks durch die interdisziplinären Anstrengungen anderer Disziplinen, sondern mindestens innerhalb der Moraltheologie ganz entscheidend aufgrund des den interdisziplinären Fokus verbindenden gemeinsamen Materialobjekts, des handelnden Menschen. Darüber hinaus sind für das anvisierte Unterfangen sogenannte „Brückenkategorien“ notwendig, Begriffe und Kategorien also, die der menschlichen Handlungswirklichkeit entstammen und zugleich dem erwähnten Doppelcharakter gerecht werden können - freilich ohne damit einem (etwa naturalistischen) Fehlschluss aufzusitzen. Hoffnung kann als eine solche Brückenkategorie gelten. Diese begrifflichen Scharniere stellen zugleich Aussagen dar, die beides erheben, „Geltungsansprüche im Sinne von deskriptiver Plausibilität und normativer Akzeptabilität“ 42 und damit wiederum eine Spannungseinheit unterschiedlicher Polaritäten abbilden, wie sie nicht allein in einer disziplinären Selbstverständigung der Moraltheologie herausgearbeitet werden kann, sondern auch zutiefst der Struktur menschlichen Handlungsvollzugs entspricht. 2. Der handelnde Mensch zwischen Empirie und Normativität - Anthropologie und Ethik und die Unverfügbarkeit als Anthropologem der Hoffnung Der Mensch zeichnet sich als ein „nicht festgestelltes Tier“ (FRIEDRICH NIETZSCHE) durch eine Offenheit für Selbstdefinitionen, Selbstbestimmungen und Selbstentwürfe aus, womit er nolens volens zum Gegenstand einer Anthropologie wird, die diese Selbstreflexionen auf inhaltliche Angemessenheit zu überprüfen versucht. Der Mensch wird im Rahmen philosophischer Anthropologie als „weltoffen“ 43 bezeichnet, er ist mithin nicht umfassend festgelegt auf die Bedingungen seiner Umgebung, seiner biologischen Verfasstheit oder auch seiner Herkunft - auch nicht im strikten Sinne durch eine Anth- 40 Vgl. ebd. 42. 41 Vgl. MAURER, A., Das humanwissenschaftliche Gespräch zum Verständnis sittlicher Kompetenz. Themen - Tendenzen - Einsichten, in: EID, V. / ELSÄSSER, A. / HUNOLD, G.W. (Hrsg.), Moralische Kompetenz. Chancen der Moralpädagogik in einer pluralen Lebenswelt, Mainz 1995, 11-36. 42 Vgl. QUANTE, M., Natur, Natürlichkeit und der naturalistische Fehlschluss. Zur begrenzten Brauchbarkeit eines klassischen philosophischen Arguments in der biomedizinischen Ethik, in: ZfME 40 (1994), 300. 43 Vgl. etwa SCHELER, M., Die Stellung des Menschen im Kosmos, Bonn 16 2005, 42. <?page no="43"?> 2. Der handelnde Mensch zwischen Empirie und Normativität 43 ropologie. Seine dadurch ausgewiesene „exzentrische Positionalität“ 44 ist von PANNEN- BERG aufgenommen worden, um anzudeuten, dass der Mensch eine „Zentrierung“ seiner Identität außerhalb seiner selbst und der Welt benötigt, um sich von dort her allererst in sich zentrieren zu können. Er ist daher mindestens potentiell als einer ansprechbar, der sich einer offenen Zukunft gegenüber sieht, die er handelnd im Tun und im Unterlassen auszuschreiten hat, wohl wissend, dass er um sie nur sehr begrenzt wirklich wissen kann, erst recht nicht über sie verfügen kann. Der Mensch ist ein zukunftsoffenes, zukunftsfähiges und nolens volens zukunftsverwiesenes Wesen, d.h. ansprechbar für Erwartungs- und damit in zweiter Ordnung für Hoffnungsstrukturen. Er ist seiner Zukunft niemals sicher, aber seinerseits durch diese verunsichert - ist sie doch auch der Raum von Kontingenz und Tod, der Raum der immer lauernden Infragestellung dessen, was man sein möchte und sein sollte und was als das Sinnvolle erscheint - es sei denn, es gibt Grund zur Hoffnung. Der Mensch hat sich mithin im Rahmen seiner Selbstreflexion zu bestimmen im Schatten seiner Vergangenheit, im Licht seiner Gegenwart, aber zentral im Vorschein derjenigen Zukunft, von der er sich sein Gelingen verspricht. Diese Selbstkonstitution im Angesicht einer niemals gewissen Zukunft und insbesondere im Angesicht der drohenden Vernichtung durch den Tod nicht aus sich selbst heraus leisten 45 zu können, das Sein, auf das er sich selbstreflexiv hingeordnet erlebt bzw. das ihm allererst als eigentlich vernünftig erscheinen muss, nicht selbst verbürgen zu können, verweist ihn an die Theologische Anthropologie. Unter theistischen Bedingungen 46 wird er Gegenstand einer Theologie, die von der Nichtfestlegbarkeit, der Nichtbestimmbarkeit des Menschen spricht, die sich in seiner Selbsttranszendenz zu erkennen gibt, welche als vertrauend-hoffende Antwort auf den (An-) Ruf Gottes verstanden werden kann. Vom Menschen her gedacht: „Der Mensch kann sich unbeschadet seiner ins unendliche fortschreitenden Selbsttätigkeit nicht endgültig selbst konstituieren. Vielmehr ist die menschliche Selbstkonstitution bedingt durch den ethischen Impuls.“ 47 So 44 Vgl. PLESSNER, H., Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einführung in die philosophische Anthropologie (1928), Berlin 1975. 45 „Das Menschsein ist aus sich selbst nicht begründbar.“ Vgl. SAUTER, G., Mensch sein - Mensch bleiben. Anthropologie als theologische Aufgabe, in: FISCHER, H. (Hrsg.), Anthropologie als Thema der Theologie, Göttingen 1978, 71-118, hier 116. 46 Dass der Mensch nicht anders kann, als sich selbst unter atheistischer Weltdeutung als allererst von der Hoffnung her verstehbares Wesen zu begreifen, vermag die Philosophie ERNST BLOCHS zu zeigen, die phänomenologisch eine Fülle diesbezüglicher Einsichten bereit hält, aber erkenntnistheoretisch und ontologisch viele Fragen offen lässt, etwa die nach der unterschätzten Bedeutung des Todes bzw. der Tragfähigkeit immer nur endlicher Hoffnung, oder die nach dem materialistischen Begründungsstatus seiner Hoffnung in einem abstrakten, heteronomen Möglichkeitsbegriff, oder auch die nach der Tendenz zur nihilistischen Abwertung des Gegenwärtigen. Vgl. dazu PÖLTNER, G., Atheismus als Prinzip menschlichen Hoffens, in: WUCHERER-HULDENFELD, A.K. / FIGL, J. / MÜHLBERGER, S. (Hrsg.), Weltphänomen Atheismus, Freiburg im Breisgau 1979, 108-134. 47 Vgl. WAGNER, F., Der Mensch zwischen Selbstbestimmung und Abhängigkeit. Thesen zum Verhältnis von Anthropologie, Ethik und Gotteslehre, in: FISCHER, H. (Hrsg.), Anthropologie als Thema der Theologie, Göttingen 1978, 145-164, hier 155. Er schreibt weiter: „Der Mensch ist in seiner Selbsttätigkeit als sich gegeben aufgegeben. Die bloße Selbsttätigkeit kann die Selbsterhaltung des Menschen nicht abschließend sichern. Diese Sicherung ist vielmehr davon abhängig, dass die Selbsttätigkeit durch das ethisch-institutionelle Sollen vermittelt und getragen wird. Anthropologie und Ethik sind so ursprünglich verbunden. Das Thema der Ethik tritt nicht sekundär zu den anthropologischen Grundaussagen hinzu.“ <?page no="44"?> IV. Methodologischer Abriss 44 langt er im Medium der Hoffnung danach aus, sich zu bestimmen und er tut es u.a. moralisch-sittlich. Die epistemologische und damit methodologische Kehrseite dieser Einsicht kann darin gesehen werden, dass philosophische und theologische Anthropologie bestenfalls zu umschreiben vermag, was der Mensch ist, nicht aber festlegen kann, was er je war, ist und sein wird. Seine Bestimmung zum Humanum ist destinatio, nicht definitio. Der aufklärerische und mitunter religionskritische Impetus der Anthropologie als einer eigenständigen Lehre vom Menschen, die unter anderem im Erbe von Plausibilitätsverlusten klassischer Metaphysik entstand, kann daher folgerichtig nicht darüber hinwegtäuschen, „dass Anthropologie strenggenommen ein prekäres Unterfangen ist. Will der Mensch sich beobachten, ist er selber Subjekt und Objekt der Beobachtung. Er steht sich selber quasi im Wege. Sein Blick ist getrübt. […] Der Sachverhalt, dass der Mensch dort, wo er sich selber zu fassen versucht, eine fundamentale Differenz oder eine reflexiv uneinholbare Kluft nicht überwinden kann, ist […] ein kulturelles Faktum.“ 48 Diese Lücke in der Bestimmung dessen, was der Mensch ist und damit auch, was er sein kann und sein soll, versucht der Mensch jenseits eines strikten Wissens im Medium von bildhaft, metaphorisch und symbolhaft repräsentierter Hoffnung zu schließen - indem er begründete Hoffnungen über sich selbst zu formulieren versucht. Zunehmend werden allerdings die moralisch-sittlichen Gehalte dieser Hoffnungen selbstreflexiv freigelegt. Diese Differenz kann zur begrifflichen Tiefensemantik unseres auch moralischen Selbstverständnisses gezählt werden, die zwar gerne konstatiert, aber in ihren Konsequenzen für das Verständnis menschlicher Handlungswirklichkeit mitunter wenig bedacht wird. Bei aller Reflexion auf den Menschen ist daher diese Differenz bereits methodologisch 49 zu beachten, da sie entscheidend zum Verständnis menschlicher Handlungswirklichkeit beiträgt, indem sie diese, die ja auch und gerade unter dieser Differenz steht, mit der hier verhandelten Hoffnungssignatur versieht bzw. umgekehrt die Hoffnungsstruktur menschlicher Handlungswirklichkeit bereits anthropologisch anzudeuten vermag. Dabei heißt die Einsicht, einer letzten selbstreflexiven Transparenz und damit Selbstverfügung entzogen zu sein, zugleich auch, gegen totalisierende Vereinheitlichungen des Menschenbildes und für eine bleibende Offenheit und antihermetisierende Anthropologie ein starkes ideologiekritisches Potential in Händen zu halten, das auch die Tür für einen qualifizierten Hoffnungsbegriff kriteriologisch offen hält. Die jeder Anthropologie eigene reductio ad hominem ist nun in ihrer theologischen Provenienz und ausgehend von der erwähnten Differenz dennoch weit entfernt von einem Anthropozentrismus oder gar von anthropofugalen Tendenzen, sie verweist stattdessen auf das Problem der Grenze, wonach der Mensch in seinem Selbsterleben immer wieder auf basale Grenzerfahrungen stößt, er sich nachgerade in seiner Konstitution als Mensch darauf angelegt erlebt und sich in seinem Daseinsvollzug, in seinem Handeln, auf der Grenze und zwischen den Grenzsphären zu bewegen hat - zwischen Immanenz und Transzendenz, Gott und Mensch, Sein und Sollen, Sein und Nicht-Sein, Zeitlichkeit und Unendlichkeit, Sinnlichkeit und Sittlichkeit, Faktizität und Fakultativität, Realis, Irrealis und Potentialis, Gut und Böse, Freiheit und Determination, etc. - und daher entsprechende Vorstellungen über diese seine ‚grenzwertig‘ angelegte Konstitution in der 48 Vgl. WILS, J.-P., Anthropologie, in: Ders. / MIETH, D. (Hrsg.), Grundbegriffe der christlichen Ethik, Paderborn 1992, 162-181, hier 171. 49 „Will Anthropologie kein Verfügungswissen sein, muss sie die unhintergehbare Selbstreflexivität des Menschen, die sich in dieser Disziplin durch die Subjekt-Objekt-Identität materialisiert, bereits methodologisch einbeziehen.“ Vgl. WILS, Anthropologie, 175. <?page no="45"?> 2. Der handelnde Mensch zwischen Empirie und Normativität 45 Welt in anthropologische Selbstverständnisse aufzunehmen hat. Menschliche Handlungswirklichkeit als zentraler Bestandteil humaner Daseinsdeutung ist somit auch zutiefst imprägniert von spannungsgetragenen Horizonterfahrungen, die ihn quasi dazu anleiten, sich innerhalb von Existenzspannungen zu verorten, sich an darin abgebildeten Schwellen zu bewegen und darüber hinaus. Gerade die Selbsttranszendentalität, die dem Vollzug von Hoffnung eigen ist, gerade das kontrafaktische und damit grenzüberschreitende Phänomen des Hoffens verweist anthropologisch auf diese Grenzhaftigkeit menschlichen Selbsterlebens, die schließlich hoffnungstheoretisch gedeutet werden kann und dabei sich selbst immer wieder transzendiert auf je neue Horizontverschiebungen hin. Konkret gesprochen, die Horizont- oder Grenzerfahrung des Übergangs der einen Sphäre zur anderen unter Aufrechterhaltung der Spannung zwischen den Sphären wird unter anderem im Medium der Hoffnung gedeutet und damit zugleich auf das Trans, das Jenseits der Grenze überschritten und damit neu ausgerichtet, integriert und motiviert. An der Dialektik der Grenze, der Grenzhaftigkeit menschlichen Selbstverständnisses ließe sich auch die Bedeutung, welche Identität und Differenz innerhalb der theologischen Anthropologie spielen, erörtern, da diese sich allererst an Grenzen bilden. Auch eine Theologie des Anderen, eine Theologie vom Anderen 50 her könnte hiervon entwickelt werden zur Konkretion der theologischen Rede von similitudo und dissimilitudo. Strikt anthropologisch gedacht wird an dieser Stelle die vielfältig qualifizierbare Doppelnatur des Menschen augenfällig, die sich sinnlich-sittlich, real mit Mängeln behaftet, aber mit idealer Bestimmung versehen, bezeichnen lässt. Andernorts wird von einer paradoxalen Struktur konkreten Menschseins gesprochen, das als „Unendlichkeit in Endlichkeit“ auf den Begriff gebracht werden kann. Die Problematik ist theologisch wohlbekannt, wenn dogmatischerseits Denkmöglichkeiten etwa für die Doppelnatur Christi gesucht werden oder auch für das universale concretum. Fundamentalanthropologisch, das heißt in Richtung der ontologischen Fundamte der Anthropologie gesprochen, werden hier grundlegende Spannungen, Polaritäten, dialektische Verhältnisse, etc. in ihrer anthropologischen Konsequenz benannt und damit auch ein wichtiger Hintergrund der Hoffnungskategorie expliziert. Daher böte sich ein der Dogmatik entliehenes Verfahren an, das moraltheologisch zur Aufnahme anthropologischer Spannungen adaptiert zu werden hätte: es handelte sich um ein „Verfahren der kritischen Korrelation“ 51 , das sich auf die entsprechenden Grenzsphären bezöge und sich dabei im Rahmen anthropologischer Integrationsbemühungen anlehnte an die klassische Analogielehre. Letztlich „verliert die Ethik ohne Anthropologie die Orientierung für die Gewinnung inhaltlicher Normen“ 52 , aber nicht allein für die Gewinnung von Normen, Ethik reflektiert schließlich nicht allein auf normative Moral, sondern auch für das Verständnis nicht-normativer Moralformen und menschlicher Handlungswirklichkeit insgesamt. Diesbezüglich scheinen insbesondere Handlungskategorien von Interesse, die aufgrund ihrer Ubiquität einen basalen Bezug zur ganzen menschlichen Handlungswirklichkeit aufweisen können. Daher bietet sich für die Durchführung der erwähnten (anthropologi- 50 Vgl. etwa DIRSCHERL, E., Grundriss theologischer Anthropologie. Die Entschiedenheit des Menschen angesichts des Anderen, Regensburg 2006; ebenso WOHLMUTH, J., Mysterium der Verwandlung. Eine Eschatologie aus katholischer Perspektive im Gespräch mit jüdischem Denken der Gegenwart, Paderborn 2005. 51 Vgl. WILS, Anthropologie, 179. 52 Vgl. ebd. 177. <?page no="46"?> IV. Methodologischer Abriss 46 schen) Integrationsbemühungen im Rahmen theologischer Anthropologie die Hoffnungskategorie regelrecht an, da sie strukturanthropologisch den eröffneten methodologischen Einsichten entspricht. Über die Hoffnungskategorie kann also eine mögliche Vermittlung der Polaritäten gedacht werden, die menschliche Existenz auszeichnen. Anhand der Hoffnung lässt sich die Selbsttranszendentalität menschlicher (Grenz-) Erfahrungen nicht nur basal verstehen, sondern diese darüber hinaus anthropologisch fundieren und für ein umfassenderes Verständnis menschlicher Handlungswirklichkeit moraltheologisch adaptieren. Aus diesem Blickwinkel kann Hoffnung daher als Brückenkategorie, als ‚Scharnier‘ bezeichnet werden - oder in Abwandlung einer theologisch gedeuteten Formel des TERTULLIAN: spes cardo salutis. Damit kann der Hoffnung, zunächst noch undifferenziert in theologische oder natürliche Hoffnung, eine Erfahrungsgrundlage zuerkannt werden, wiewohl sie sich letztlich in dem, was der Hoffnungsgrund genannt wird, nicht davon abhängig zeigt. In der Folge wird im Rahmen der hier angestrengten Grenzreflexion nicht allein abstrakt von der Hoffnung gesprochen, sondern es sollen ‚Erfahrungen‘ im weitesten Sinne als Korrektiv zugelassen werden, stellt sie doch selbst eine Art Kontrasterfahrung dar, deren Anthropologie, wie besehen, nicht erst bei Verletzung des Humanum 53 , das in diesem Zusammenhang als Hoffnungsgut gedacht werden soll, erkannt werden kann. Voraussetzung dafür ist, dass eine Vorstellung des human Sinnvollen immer schon vor Augen steht. Wird der Gedanke umgekehrt vom Hoffnungsgut her statt von der Hoffnung angestrengt, so schließt sich der Kreis der Reflexion wieder, indem sowohl der Bezug auf das Ganze menschlicher Handlungswirklichkeit als auch die damit verbundene Frage nach dem Sinn erreicht werden und „die menschliche Sinnerfahrung als hermeneutische Grenzbetrachtung par excellence entfaltet“ wird, „in Fortführung der Frage nach dem Menschen im Ganzen der Geschichte“ 54 . a) Das Verhältnis von Anthropologie und Ethik Als eine systematische Notwendigkeit der bisherigen Ausführungen muss zunächst festgehalten werden, dass „theologische Aussagen […], wenn sie ihre eigene Sache recht zur Sprache bringen wollen, des Wirklichkeitsbezugs“ 55 bedürfen. Dazu ist im Kontext der Moraltheologie auch die (Handlungs-) Wirklichkeit des Menschen umfassend zu zählen. Jede Ethik impliziert mithin anthropologische Prämissen. 56 Eine anthropologie- 53 Daher müssen für J.P. WILS „anthropologische Aussagen aus der Abwesenheit des Humanums indikatorisch gewonnen werden: Ohne dass sie dadurch an situativer und eventuell verallgemeinerbarer Gültigkeit einbüßen.“ Vgl. ebd. 178. Dagegen: Auch die Deutung von anthropologisch relevanten Phänomenen und Widerfahrnissen aus der „Abwesenheit des Humanums“ setzt bereits positive Entwürfe desselben voraus, sodass es fatal wäre und zu kurz greifen würde, allein ex negativo auf das Humanum oder eine daran Maß nehmende Anthropologie zu schließen, da auf diese Weise weder der Begründungspflichtigkeit des Humanum nachgekommen werden könnte, noch der Mensch in seiner positiven Potentialität als sittliches Wesen, das sich zutiefst von den entsprechenden Vorstellungen her begreift, ausreichend erfasst werden könnte. 54 Vgl. SAUTER, Mensch sein, 76. 55 Vgl. TRACK, J., Erfahrung und Interpretation. Überlegungen zum Verhältnis von Anthropologie und Ethik aus sprachkritischer Sicht, in: FISCHER, H. (Hrsg.), Anthropologie als Thema der Theologie, Göttingen 1978, 131-144, hier 131. 56 „Der stärkste Grund für eine anthropologische Reflexion der Ethik besteht darin, dass letztlich jede Ethik auf bestimmten anthropologischen Voraussetzungen (Präsuppositionen) fußt, auch <?page no="47"?> 2. Der handelnde Mensch zwischen Empirie und Normativität 47 freie Ethik ist daher auch gar nicht denkbar 57 , es sei denn, der dann notwendig entstehende reduktionistische Zug einer Minimalethik wird bewusst in Kauf genommen. Freilich gilt auch umgekehrt: Der Sache des Menschen angemessene anthropologische Vorstellungen sind auf spezifische Weise notwendig offen für das moralisch-sittliche Wesen des animal morale, das der Mensch darstellt - und damit auch offen für seine Hoffnungsstrukturen. In der Regel wird aus diesem Grunde eine innige Wechselbeziehung zwischen Anthropologie und Ethik, respektive Normativität zugestanden, da einsichtig zu machen ist, dass Bilder vom Menschen notwendig einhergehen mit Vorstellungen darüber, wie er sich (sinnvollerweise) verhalten soll (te), will er den sich darin artikulierenden Zielfiguren über seine Bestimmung als Mensch entsprechen. Darüber hinaus sind diese mindestens implizit immer auch mit Hoffnungen bzgl. ihrer Erreichung belegt und mobilisieren darauf Bezug nehmend Handlungsenergien und entsprechende Verstehensmodelle zur Deutung von Leben. Umgekehrt sind normative Aussagen ohne Anthropologie nicht sinnvoll denkbar bzw. nicht eigentlich im Menschen verortet, bleiben unkonkret und abstrakt und ohne begründeten Anhalt an der realen Handlungsorganisation. Gerade auf dem Hintergrund dieser Einsichten ist verwunderlich, dass es nach wie vor zu den zentralen Forschungs-Desideraten der Handlungswissenschaften zählt, insbesondere was Methodenlehre und Motivationstheorien betrifft, dass nur wenige systematische Spuren zur anthropologischen Bedeutung der Hoffnungskategorie in philosophischer und theologischer Anthropologie zu finden sind und insbesondere nicht zur Hoffnungsstruktur menschlicher Handlungswirklichkeit, sodass allererst über die Anwendung der Methoden der Anthropologie selbst entsprechende (implizite) Strukturen freizulegen sind, um das, was im Rahmen theologischer Anthropologie unter dem Stichwort der Eschatologie die „antizipatorische Struktur gelingenden Menschseins“ 58 bezeichnet wird, überhaupt nachzeichnen zu können, da diese die entscheidende anthropologische Folie bildet, auf der sich ein qualifizierter integrativer Hoffnungsbegriff schließlich einzeichnen lässt. Selbst in theologischen Anthropologien 59 im engeren Sinne herrscht Mangel an entsprechenden Einlassungen, wiewohl es theologisch als konsensfähig gelten kann, dass die umfassende „Wirklichkeit des Menschen in Jesus erschienen, aber eschawenn sie diese nicht explizit artikuliert. Kantianisch ausgerichtete Ethiken wie die Diskursethik verstehen sich zwar als rein ‚prozedural‘ oder ‚formalistisch‘, also als inhaltlich neutral. Indem sie aber bestimmte Regeln oder Formen des Verfahrens zur Normbegründung vor anderen auszeichnen, legen sie doch bestimmte gehaltvolle Vorstellungen vom Sein(sollen) des Menschen zugrunde.“ Vgl. REHBOCK, T., Warum und wozu Anthropologie in der Ethik? , in: Anthropologie und Ethik. Biologische, sozialwissenschaftliche und philosophische Überlegungen, Tübingen / Basel 1997, 64-109, hier 71-72. 57 Vgl. SIEP, L., Ethik und Anthropologie, in: BARKHAUS, A. / MAYER, M. / ROUGHLEY, N. / THÜRNAU, D. (Hrsg.), Identität, Leiblichkeit, Normativität, Frankfurt am Main 1996, 274- 298, hier 274. „Keine Ethik kommt ohne Anthropologie aus. Auch wenn man die Regeln richtigen Handelns auf praktische Vernunft oder die Sprache zurückführen will, nimmt man Kenntnisse über den Menschen in Anspruch.“ 58 Vgl. DIRSCHERL, Grundriss theologischer Anthropologie, 254, aber auch analog bei WOLF- HART PANNENBERG (vgl. PANNENBERG, W., Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983) und THOMAS PRÖPPER (vgl. PRÖPPER, T., Fragende und Gefragte zugleich. Notizen zur Theodizee, in: Ders., Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg 2001, 266-275). 59 Vgl. SCHOBERTH, W., Einführung in die theologische Anthropologie, Darmstadt 2006. <?page no="48"?> IV. Methodologischer Abriss 48 tologisch verborgen“ 60 gedacht werden muss, eine Einsicht, die moraltheologische Konsequenzen hat, die allerdings, soweit ich sehe, bislang mehr angedacht als entfaltet worden sind. Schließlich spricht auch die Ethik vom Gelingen und vom Glück des Lebens als dem Telos menschlichen Handelns, spricht auch Moraltheologie von einem summum bonum, das in praktischer Hinsicht als ein „sittlicher Endzustand“ gedacht wird, der quasi rückwärts aus der Zukunft in die Gegenwart hinein auf unser konkretes Handeln als Hoffnungsgut wirkt und die Antwort auf die Frage nach dem letzten Ziel menschlichen Handelns ist. 61 Damit ist die Notwendigkeit benannt, ein möglichst breites anthropologisches Methodenspektrum für die systematische Datensichtung in den Blick zu nehmen, das sowohl kritische, als auch integrativ-interpretative und ebenso dialektische Anthropologien 62 umfasst, sodass gewährleistet werden kann, dass vonseiten anthropologischer Fragestellungen und Einsichten eine im Medium der Hoffnung gedachte und handlungspraktisch relevante antizipatorische Eröffnung von Zukunft als Ganze zur Darstellung gebracht werden kann, wohlgemerkt das Ganze in den Blick nehmend, nicht das Ganze explizierend. In eigener Nomenklatur geht es darum, die komplexe Spannungseinheit des Menschen, die Einheit aus dialektischen Daseins-Spannungen, am Medium der Hoffnung zu entfalten. Dabei wird sich zeigen, dass insbesondere unter moralischer und näherhin moraltheologischer Perspektive entsprechende Strukturen freigelegt werden können, da umgekehrt gerade das Phänomen der Moralität selbst den Menschen hoffen lässt und gerade das Phänomen der Sittlichkeit die Frage nach Sinn und Ziel menschlichen Lebens zutage fördert, sodass von daher eine den erwähnten Strukturen entsprechende Anthropologie expliziert werden kann. ANNEMARIE PIEPER fasst zusammen: „Die Frage nach den Bedingungen der Moralität von Praxis überhaupt impliziert daher die Frage nach dem Wesen des Menschen, da Moralität nur als Form der Realisierung eines in bestimmter Weise konzipierten Menschseins gedacht werden kann: Nur sofern der Mensch ein Wesen ist, das sich sinnvolle Ziele zu setzen vermag, das in seinem Handeln Sinn verwirklichen, verfehlen und auch negieren kann, ist er der Moralität fähig. Aus diesem Grunde ist Ethik auf Begriffe der philosophischen Anthropologie angewiesen.“ 63 Zu ergänzen wäre, auch der theologischen Anthropologie, wenn - wie hier vertreten - die Denkmöglichkeit eines Theismus philosophisch offen gehalten werden kann und darüber hinaus damit die Erklärungskraft für die hier verhandelten Phänomene erhöht wird. Der Mensch ist sich selbst fraglich, er ist die Frage nach sich selbst. Er antwortet auf diese Frage, die er selber ist und als die er sich erlebt, indem er etwas über sich in Erfahrung zu bringen versucht, Erkenntnis über sich zu gewinnen sucht, aber auch indem er handelt, sich handelnd über sich zu orientieren versucht, sich handelnd eine Orientierung gibt - und das heißt auch, indem er hofft, indem er sich im Medium der Hoffnung eine Antwort auf die Fraglichkeit seiner eigenen Konstitution zu geben sucht - immer wieder je neu - durch Vorstellungen über das Gute, Vorstellungen über das Gelingen 60 Vgl. FREY, C., Zur theologischen Anthropologie Karl Barths, in: FISCHER, H. (Hrsg.), Anthropologie als Thema der Theologie, Göttingen 1978, 39-69. 61 Vgl. BATHEN, N., Höchstes Gut (Art.), in: KASPER, W. et al. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche Bd. 5, Freiburg im Breisgau 2006, 190. 62 Vgl. THIES, C., Einführung in die philosophische Anthropologie, Darmstadt 2004. 63 Vgl. PIEPER, A., Sprachanalytische Ethik und praktische Freiheit. Das Problem der Ethik als autonomer Wissenschaft, Stuttgart 1973, 37. <?page no="49"?> 2. Der handelnde Mensch zwischen Empirie und Normativität 49 seines Lebens und den Sinn, der sich darin ausdrückt. 64 Diese „Wirklichkeit“ des nach sich selbst fragenden Menschen hat nun in einem umfassenden Sinne verstehend angeeignet zu werden, wozu auch entsprechend empirisch zugängliches Wissen gehört, aber eben nicht nur. Philosophie im Allgemeinen und philosophische Anthropologie im Besonderen haben sich schließlich bemüht zu zeigen, dass das Wirkliche nicht auf das Erfahrbare oder gar Beobachtbare einzugrenzen ist, insbesondere bezogen auf den Menschen. Gerade an der Kategorie der Hoffnung zeigt sich dies in offensichtlicher Weise, da sie - ihre eigenen strukturbildenden Aspekte (etwa Selbsttranszendentalität und Freiheit) konsequent fortgeführt - die Grenzen des Wissbaren übersteigt und selbst an der Grenze des Todes nicht haltmacht, um ein letztes Gelingen, eine letzte Erfüllung, ein letztes Versöhntsein in Gerechtigkeit, systematisch: ein höchstes Gut begrifflich zu fassen, das für das letztgültig und umfassend Sinnvolle steht und diesen Begriff schließlich so zu zeichnen versucht, dass er Relevanz für den Daseins- und Handlungsvollzug des Menschen zu entfalten vermag. So kann es hier nur darum gehen, so etwas wie eine „inhaltliche Anthropologie“ 65 , die eigentlich philosophische Anthropologie ist, für die Moraltheologie freizulegen und zwar anhand der anthropologischen Grundierung der Hoffnungskategorie von ihrer handlungspraktischen Bedeutung her. Vorbereitet werden kann eine solche inhaltliche Anthropologie unter anderem durch folgende Einsichten: Entlang der Weise, in der Wissen, Tun und Hoffen mit KANT zunächst unterschieden werden müssen, um das in den Blick zu bekommen, was er „reine praktische Vernunft“ nennt, müssen sie auch wieder aufeinander bezogen werden, um die Einheit der Vernunft, die Einheit des (Handlungs-) Subjekts und schließlich die Einheit der Hoffnung denken zu können und gerade ohne dabei allein postulatorisch bleiben zu müssen. Nur so, das heißt unter Wahrung der (jeweiligen) Einheit von Material- und Formalobjekt, macht ein sittlicher Endzustand als finaler Zielpunkt allen Handelns, Strebens und Wollens des Menschen überhaupt Sinn und nur so ist gewährleistet, dass dieser aufgrund opak schillernder Zielbestimmungen seine einende, orientierende und motivierende Kraft nicht wieder verliert. Die unterschiedlichen methodologischen Zugänge zur einen Wirklichkeit des hoffenden Handlungssubjekts machen es dabei notwendig, Erste- und Dritte-Person- Perspektive zu unterscheiden, da beide Perspektiven weder identisch, noch auseinander herleitbar sind, sodass diese Innen-Außen-Differenz als (methodisches) Konstitutivum der Zugänge zum Menschen gehalten werden muss, wie in aktuellen Debatten zur Willensfreiheit immer wieder betont wird und was, wie andernorts bereits formuliert, auf Grenzen menschlicher Selbstverobjektivierung hinweist, da Subjekt und Objekt nur partiell identisch sind. Diese inkommensurable Perspektivendifferenz macht es nun in 64 „Ist der Mensch sich selbst Gegenstand der Frage, so ist die Tatsache, dass der Mensch sich selbst gegeben ist, Bedingung der Möglichkeit dieser Frage. In der Frage nach sich selbst lernt der Mensch sich zu verstehen und u.U. neu zu verstehen. Er konstituiert sich aber durch seine Frage bzw. seinen Entwurf nicht selbst, sondern er findet sich als konstituiert bereits vor." Vgl. HÄRLE, W., Humanität. Überlegungen zum Verhältnis von Anthropologie und Ethik, in: FI- SCHER, H. (Hrsg.), Anthropologie als Thema der Theologie, Göttingen 1978, 119-129, hier 121. 65 Vgl. MIETH, D. Begründungsversuche von Ethik, in: DEMMER, K. / DUCKE, K.-H. (Hrsg.), Moraltheologie im Dienst der Kirche (FS W. ERNST), Leipzig 1992, 44. <?page no="50"?> IV. Methodologischer Abriss 50 der Folge notwendig, eine partielle Intransparenz menschlicher Selbsterkenntnis 66 in Anschlag zu bringen, die insbesondere dann relevant wird, wenn zum Verständnis einer Kategorie möglichst viele Erfahrungsebenen befragt werden sollen. Schon allein aus diesem Grunde ist vor einer szientistischen Verengung des Erfahrungsraumes zu warnen. Darüber hinaus bedingen sich schließlich Selbsterkenntnis, Gottes- und Welterkenntnis. Daher können die oft allzu allgemeinen anthropologischen Aussagen über den Menschen mit gutem Grund ergänzt und mitunter korrigiert werden durch die vielfältigen Einsichten empirischer Anthropologie, wenn mit GERHARD SAUTER mit der „Unbestimmtheitsrelation zwischen dem Ich und allen äußeren Beobachtungen am Menschen“ 67 gerechnet wird und diese sogar in den entsprechenden Theoriebildungen inhaltlich wiederzufinden und daran zu verifizieren ist. Philosophische und theologische Anthropologie darf nun auch aus folgendem Grunde nicht reduziert werden auf beobachtbares Erfahrungswissen, weil sie schließlich Kriterien für deren Interpretation und Integration bereitzustellen hat und dabei Anwalt der gesamten Wirklichkeit des Menschen ist, nicht allein der beobachtbaren Seite derselben, sonst würde dieser Blick auf die Wirklichkeit des Menschen einseitig verengt werden. Dennoch darf sie in ihren Theoriebildungen den Einsichten der Erfahrungswissenschaften nicht einfach widersprechen, die quasi eine conditio sine qua non jeder verantwortbaren Rede vom Menschen darstellen, sondern hat sich auch umgekehrt davon über die Realität des Menschen belehren zu lassen - freilich ohne sich davon einseitig reduktionistisch limitieren zu lassen. Der hier offen gelegte erkenntnistheoretische Zirkel, der sich zwischen der Fähigkeit zur Deutung und integrierenden Interpretation von empirischen Einsichten auf der einen Seite und der Möglichkeit, von diesen korrigiert zu werden, auf der anderen Seite bewegt, ist nicht auflösbar, sondern hat in aller begrifflichen Klarheit aufrechterhalten zu werden. Erneut ANNEMARIE PIEPER: „Anthropologische Auffassungen scheinen nicht nur auf empirischen Erkenntnissen zu basieren, sondern ebenso unter den Prämissen ethischer Vorentscheidungen zu stehen. Sie deuten die empirischen Erkenntnisse aus einer ethischen Perspektive, aber korrigieren diese ethische Annahme in derselben verstehenden Einstellung hinsichtlich ihrer empirischen Möglichkeiten oder Begrenztheiten. Gerade in diesem Spannungsfeld hat Anthropologie eine korrelativ-kritische Funktion: Empirische Korrekturen ethischer Engführungen und ethische Korrekturen empirischer Reduktionismen gehören zu ihrer genuinen Aufgabe.“ 68 Immer wieder kann in diesem Zusammenhang auch die irrige Vorstellung beobachtet werden, die das Verhältnis von Empirie und Normativität, bzw. offener formuliert von Erfahrung und Ethik, einengt und zuspitzt auf die Frage nach der Begründung einer Verantwortungsethik angesichts der technisch-wissenschaftlichen Möglichkeiten, eine Vorstellung, die weit hinter der theoretischen Herausforderung des angesprochenen Verhältnisses zurückbleibt, die Implikationen gar nicht zu sehen vermag, oft appellativ bleibt und letztlich auf eine mitunter allzu defensive Wissenschaftsethik 69 abzielt, ganz 66 GERHARD SAUTER spricht analog von einer „anthropologischen Aporie“, die darin bestehe, „dass der Mensch sich selber - will er Mensch bleiben - nie völlig vergegenständlichen kann und sich doch gegenüber tritt, indem er sich mitteilt.“ Vgl. SAUTER, Mensch sein, 103. 67 Vgl. ebd. 94. 68 Vgl. PIEPER, Sprachanalytische Ethik, 40. 69 Vgl. als Protagonisten bis heute HANS JONAS, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt am Main 3 1993 und ERNST BLOCH. Der <?page no="51"?> 2. Der handelnde Mensch zwischen Empirie und Normativität 51 abgesehen davon, dass im Hintergrund eine cartesianisch-dualistische Ontologie vermutet werden kann, die zu einseitig den Körper von der Seele und den empirischen vom intelligiblen resp. transzendentalen Menschen trennt. Ganz im Unterschied dazu kann es zu den ureigenen Leistungen der philosophischen wie der theologischen Anthropologie gezählt werden, dass sie das sinnlich-sittliche (Misch-) Wesen Mensch als Einheit zu begreifen und die Sphären miteinander zu verbinden sucht, mindestens aber kriteriologisch füreinander öffnet, wie J.-P. WILS zu Recht betont: „Anthropologie unternimmt den Versuch, den latenten Empiriemangel ethischer Theorien auszugleichen und die Distanz zu normativen Schlussfolgerungen bei den empirischen Wissenschaften zu verringern. Anthropologie macht die Empirie normfähig und die Ethik empiriefähig.“ 70 Auch hier muss die eng gefasste normative Tradition der Ethik geweitet werden auf deren nicht-normative Bestände hin, sodass es paraphrasierend heißen muss: Anthropologie macht die Empirie moralfähig und die Ethik empiriefähig. Der begrifflich entscheidende Umschlag, an dem sich die bisherigen Erörterungen öffnen für die Hoffnungskategorie kann nun an der Stelle festgemacht werden, wo die anthropologischen Wesensaussagen über den Menschen immer zugleich als solche ausgewiesen werden können, die Auskunft darüber geben, was der Mensch sein und werden soll, aber (noch) nicht real ist. „Die Begriffe der philosophischen Anthropologie, die aussagen, was der Mensch seinem Wesen nach ist, werden von der Ethik in der Weise verändert, dass sie postulatorischen Charakter erhalten, mithin zugleich aussagen, was der Mensch sein soll.“ 71 Der Mensch ist nie nur Identität in einfacher Gegenwärtigkeit, sondern er soll immer zugleich etwas werden, soll er das sein, was er eigentlich ist, nämlich ein Sein im Werden. Seine Wirklichkeit ist eine komplexe Entität aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, so dass alle Wesensaussagen - und damit auch Beschreibungen menschlicher Handlungswirklichkeit - rückgebunden bleiben müssen nicht nur an eine Herkünftigkeit, nicht allein an eine Gegenwärtigkeit, sondern immer auch an eine Zukünftigkeit, soll er sich im eigentlichen Sinne gerecht werden. Philosophisch wird hier von der Bestimmung des Menschen gesprochen, die schließlich die Hoffnungskategorie als Handlungsbegriff notwendig macht, sobald die strikt normativen Fassungen dessen, was der Mensch sittlich soll, auf einen umfassenden (Moral-) Begriff des Guten hin geweitet werden. Dann nämlich kann mit GERHARD SAU- TER konstatiert werden: „Die Aufmerksamkeit der Anthropologie richtet sich [...] darauf, wie diese Bestimmungen empirisch zutage treten, wie sie kommunikativ vermittelt sind, therapeutisch angeeignet werden und woraufhin sie weisen. Die Frage ‚Was ist der Mensch? ‘ wird beantwortet im Hinblick auf das Soll heilvoller, vollkommener Menschlichkeit, das wir erahnen und das unser Handeln bewegt und vorantreibt, und unsere Gegenwart wird nur beschreibbar in Differenz zu diesem Soll.“ 72 Was sich hier anthropologisch zeigt, ist eine exakte Beschreibung des Strukturfeldes der Hoffnung. Mit anderen Worten: Diese anthropologischen Strukturen bilden sich quasi real ab im Medium der Hoffnung und umgekehrt vollzieht sich Hoffnung auf der Basis dieser Strukturen. So eine auf der Basis einer defensiven Ontologie des Seins, der andere auf der Basis einer Ontologie des Noch-Nicht-Seins. 70 Vgl. WILS, J.-P. (Hrsg.), Anmerkungen zur Wiederkehr der Anthropologie, in: Ders., Anthropologie und Ethik. Biologische, sozialwissenschaftliche und philosophische Überlegungen, Tübingen / Basel 1997, 40. 71 Vgl. PIEPER, Sprachanalytische Ethik, 38. 72 Vgl. SAUTER, Mensch sein, 84. <?page no="52"?> IV. Methodologischer Abriss 52 gesehen spannen Anthropologie und Ethik gemäß ihrem Selbstverständnis eine Dialektik auf, in der sich die Hoffnungskategorie exakt wieder findet: „Empirische Einzelwissenschaften“ auf der einen Seite und die „Ganzheit des menschlichen Seinkönnens“ 73 und Seinsollens auf der anderen Seite. Auf diese Weise ist erneut die bereits erwähnte und für eine strukturelle Hermeneutik der Hoffnung zentrale (anthropologische) Grenzreflexion, diesmal von anderer Seite, quasi disziplinär-methodologisch, beleuchtet und bestätigt worden. Nicht nur hat auf diesem Hintergrund jede Anthropologie auf ihre Relevanz für moraltheologische Theoriebildung befragt zu werden, auch das Umgekehrte gilt freilich, wonach eine jede (auch theologische) Ethik im Allgemeinen ihre mitunter implizite Anthropologie freizulegen hat, will sie ihr Materialobjekt ausreichend in den Blick bekommen. Für eine Ethik der Hoffnung im Besonderen ist nun diesbezüglich zu folgern, dass es praktisch keine Anthropologie geben kann, die nicht mindestens implizit eine Hoffnung über die Bestimmung des Menschen ausdrücken und die die inkommensurable Gestaltungs-Offenheit des Menschen nicht inhaltlich aufgreifen, orientieren und finalisieren würde. Die zentrale Frage aller Anthropologie ‚Was ist der Mensch? ‘ steht daher auch in der Spannung von Mensch-Sein und Mensch-Werden. „Der Mensch realisiert sich als Mensch, indem er nicht einfach ist, sondern sich verhält“ 74 - insbesondere gegenüber den Imaginationen seiner Zukunft, die ihm für sich selbst adäquat und gemäß erscheinen und von denen er glaubt, dass sie seine Erfüllung verbürgen, oder vorsichtiger, von denen er sich verspricht, dass sie ihn allererst zu dem machen, was er (wesentlich und eigentlich) ist - damit wird der Mensch zu einem Werdenden - im Kontext aller seiner Existenzbezüge als Hoffender und (Ver-) Zweifelnder. Geweitet auf eine theologische Anthropologie hin heißt das, dass sich der Mensch einem offenen, unendlichen Horizont 75 gegenübersieht, zu dem er sich fragend und handelnd verhalten muss, ob er will oder nicht. Dieser Notwendigkeit entspricht die (Handlungs-) Kategorie der Hoffnung genau dann, wenn sie als Horizontbegriff fungiert und die erwähnte Selbsttranszendentalität menschlicher Selbst- und Welterfahrung in ihre eigenen Strukturen aufnimmt, 73 Vgl. HOMMES, U., Vom Sinn moralanthropologischer Fragestellung in der Gegenwart, in: ROMBACH, H. (Hrsg.), Die Frage nach dem Menschen. Aufriss einer philosophischen Anthropologie (FS MAX MÜLLER), Freiburg im Breisgau 1966, 173-187, hier 184. Wenige Seiten später (186) schreibt HOMMES dann im Sinne der hier vertretenden Hoffnungsthese: „Denn wenn auch die Bestimmung des Menschen notwendig immer eine Sache des Menschen selbst ist, so kann sie […] doch nur derart sein, dass sie den Menschen über sich hinaus in das Verhältnis zum Guten weist.“ Somit kann das Gute selbst als Gegenstand der Bestimmung und damit der Hoffnung ausgewiesen werden. 74 Vgl. PIEPER, A., Sprachanalytische Ethik, 39-40. 75 Vgl. RAFFELT, A. / RAHNER, K., Anthropologie und Theologie, in: BÖCKLE, F. / KAUF- MANN, F.-X. / RAHNER, K. / WELTE, B. (Hrsg.), Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft Bd. XXIV, Freiburg im Breisgau 1981, 5-55, hier 17. Demnach ist der Mensch „trotz der Endlichkeit seines Systems immer schon als ganzer vor sich gebracht. Er kann alles in Frage stellen, kann alles Aussagbare immer schon in einem Vorgriff auf alles und jedes mindestens fragen. Indem er die Möglichkeit eines bloß endlichen Fragehorizontes setzt, ist diese Möglichkeit immer schon überholt, erweist sich der Mensch als das Wesen eines unendlichen Horizontes. Indem er seine Endlichkeit radikal erfährt, greift er über diese Endlichkeit hinaus, erfährt er sich als Wesen der Transzendenz, als Geist - nicht im Sinne eines partikulären Vermögens, sondern im Vollzug seiner Personalität. Was bislang an der Struktur menschlicher Erkenntnis verdeutlicht wurde, zeichnet den Menschen als Ganzen und dementsprechend auch in seinem Tun und Wollen aus.“ <?page no="53"?> 2. Der handelnde Mensch zwischen Empirie und Normativität 53 damit handlungstheoretisch zugänglich macht und entsprechende Erfahrungen, die mitunter abgründig erfahren werden, allererst bewältigbar erscheinen lässt. Trotz des Bezugs auf empirische Einzelwissenschaften, die immer nur Aspekte der Wirklichkeit beschreiben können, gehört es zum Proprium der Moraltheologie, den ganzen Mensch unreduziert in den Blick zu nehmen 76 , wobei gerade dafür die dialektischen Spannungen von Empirie und Normativität, von Sein und Sollen, etc. zu beachten sind. Die Arbeitsteilung der Einzel-Wissenschaften ist daher nicht aufzulösen, da sie methodisch unumgänglich ist, sie ist aber vonseiten der Moraltheologisch immer wieder Integrationsbemühungen auszusetzen, damit diese ihrem eigenen Anspruch gerecht zu werden vermag, die Wirklichkeit des Menschen unverkürzt (coram deo) angemessen zu thematisieren. Gerade in der Kategorie der Hoffnung wird nun diese Perspektive des Ganzen 77 mindestens semantisch immer schon bewahrt, wenn vom ganzen Menschen, vom ganzen Leben, vom höchsten Gut (-en), vom letztgültig Sinnvollen im Zusammenhang einer selbst an der Todesgrenze nicht enden wollenden Hoffnung gesprochen wird. Insgesamt unternimmt daher jede Ethik, sowohl theologischer wie philosophischer Provenienz, wenn sie nur konsequent genug gedacht wird, „den Versuch einer Sinngebung der menschlichen Praxis im ganzen, indem sie diese unter dem Anspruch des moralischen Sollens konstituiert.“ 78 Damit zielt sie aber irgendwann eo ipso auf eine moralisch qualifizierte Sinntotalität 79 menschlichen Daseins, die sich im Medium der 76 Vgl. MAURER, A.V., Homo Agens. Handlungstheoretische Untersuchungen zum theologischethischen Verständnis des Sittlichen, Frankfurt am Main 1994, 374ff. 77 Vgl. RAHNER, K., Das Selbstverständnis der Theologie vor dem Anspruch der Naturwissenschaft, in: Ders., Sämtliche Werke Bd. 15, Freiburg im Breisgau 2001, 269-307, hier 287-288: „Die Theologie versteht sich selbst vor der Naturwissenschaft nicht nur als die Daseinserhellung, die der Naturwissenschaft darum nicht ausgeliefert ist, weil sie einen früheren Ursprungsort im Dasein des Menschen hat als Naturwissenschaft, sondern auch darum, weil sie immer und überall Aussage über das Ganze der Wirklichkeit und des menschlichen Dasein ist und sein will […]. Hat es also die Theologie mit Gott zu tun, dann meint sie immer das Ganze der Wirklichkeit, insofern die eine ganze Wirklichkeit der möglichen Erfahrung des Menschen in diesem einen Grund gründet. […] Die Naturwissenschaft verknüpft funktionell verschiedene Phänomene, die in ihrer Pluralität und Verschiedenheit zuallererst wenigstens Daten der schlichten, sinnlichen Erfahrung […] sind. Sie hat es also immer mit Verschiedenem zu tun, das nebeneinander in der Erfahrung liegt, und es geht von einem zum anderen. Die Theologie redet immer vom Einen und Ganzen, das eigentlich nichts neben sich hat. Sie muss also immer notwendig das Eine durch sich selbst, nicht durch ein Anderes verständlich machen.“ 78 Vgl. PIEPER, Sprachanalytische Ethik, 37. 79 Wichtig ist dabei hervorzuheben, dass auch die (Erfahrung der) Sinntotalität, so wie sie hier verstanden werden soll, keine hermetisierenden Tendenzen kennt, weder in Richtung eines fixen Menschenbildes, noch in Richtung Gottes selbst, da sie „sich dem bloß anthropozentrischen Denken widersetzt, weil sie zwischen Gott als der ‚Totalität aller Wirklichkeit‘ und der ‚Sinntotalität‘ unterscheidet. ‚Sinntotalität‘ heißt, dass jede einzelne Erfahrung in den Zusammenhang der Erfahrungswelt eingebettet ist und sich immer auf diesen Kontext bezieht. In der Sinntotalität bekundet sich das Ganze - und damit Gott - von jenseits der Grenzen unserer jeweiligen geschichtlichen Erfahrungen und wird uns als Sinnerfahrung zugänglich, die immer Anteil am Ganzen hat, sosehr sie sich auf anthropologische Einsichten einstellt.“ Vgl. SAUTER, Mensch sein, 76. Daneben ist auch auf negative (Sinn-) Zusammenhänge hinzuweisen, die allein schon per definitionem nicht mit Hoffnung belegt werden können, widersprechen sie doch deren positiven Impetus und bezeichnen sie doch so etwas wie den Anti-Sinn oder Wider-Sinn eines gesamten Kontextes. Davon zu unterscheiden sind subjektiv für positiv gehaltene, aber objektiv negative Sinnzusammenhänge. <?page no="54"?> IV. Methodologischer Abriss 54 Hoffnung zu erkennen gibt. Das Umgekehrte gilt freilich auch: Die Ausdrucksformen menschlichen Hoffens, werden sie nur konsequent genug weitergeführt, zielen nolens volens auf das Ganze und auf den Sinn des Ganzen ab - auch wenn sie ihn womöglich nie erreichen und natürlich mit illusorischen, unmoralischen und vielfältig fehlorientierten, das heißt an inadäquaten Hoffnungsgütern ausgerichteten, nicht auf die Wirklichkeit Bezug nehmenden und nicht wirklich vertrauenden „Hoffnungen“ gerechnet werden muss. Hier kann ein weiterer Beleg dafür gefunden werden, Hoffnung als Antizipationsform von Sinn zu begreifen, da sie das entscheidende Medium darstellt, über das Sinnvalenzen, die schließlich moralisch qualifiziert werden können und müssen, handlungsrelevant und handlungspraktisch werden, was sie für moraltheologische Fragestellungen von größtem Interesse sein lässt. Wird daher das finale Hoffnungsgut, also das, worauf menschliches Hoffen letztlich zielt, aus (moral-) philosophischer Perspektive als Höchstes Gut (summum bonum) bestimmt, unter theologischem Blickwinkel als umfassendes Heil oder philosophisch wie theologisch als Glück bzw. Glückseligkeit, so kann unter handlungspraktischer Interpretation vom Sinn gesprochen werden, der erhofft wird. Da der Sinnbegriff eine Kontextkategorie darstellt, können die bisher genannten darunter subsumiert werden, wenn sie - den Strahlen eines Prismas gleich - gebündelt werden auf die Perspektive des in vielfältigen Lebens- und Verstehenszusammenhängen stehenden Handlungssubjekts selbst. 80 Sinn, soll er eine lebenspraktische Bedeutung erlangen, wird in Sinnzusammenhängen erfahren. Wird schließlich das Handlungssubjekt in seinen vielfältigen lebensweltlichen Einbettungen betrachtet, dann als eines, das in seinem Handeln darauf hofft, sogar stärker, das handelnd hofft, Sinn zu realisieren, sein Leben sinnvoll zu gestalten und zu erleben. Wann immer es etwas will, worauf es hofft, dann letztlich dies. Der potentielle Sinn des (höchsten) Guten wird daher erst dann wirklich und konkret, wenn darauf gehofft wird und es damit im Kontext eines (moralisch guten) Sinnzusammenhangs erfahrbar wird und auf diese Weise auch das handlungsleitende System wesentlich berührt wird. Sinn kann daher unter moralischer Perspektive zunächst als die Kontextualisierung, als die Konkretion des Guten bezeichnet werden. Auf die damit notwendig einhergehende Multiperspektivität des Entdeckungs- und Begründungszusammenhangs von human bestimmter Hoffnung ist hinzuweisen, wobei dennoch an einem konsistenten und kohärenten Konzept der einen Hoffnungskategorie festgehalten und diese Einheit der Hoffnung an dem einen Handlungssubjekt expliziert werden soll. Heterogene und einseitig pluralisierte Hoffnungsgüter büßen ihre orientierende und mobilisierende Kraft letztlich ein, wenn sie nicht in das Handlungssubjekt integriert und auf umgreifende Letztziele 81 finalisiert werden, da es ansonsten leicht zu 80 Nicht umsonst zielen auch fundamentaltheologische Letztbegründungsversuche auf die Bedingung der Möglichkeit letztgültigen Sinns, wobei hier nicht vorrangig Handlungssinn gemeint ist, wiewohl dieser nicht ausgeschlossen wird, sondern die bereits erwähnte Sinntotalität, ein allumfassender Sinnzusammenhang. Vgl. etwa VERWEYEN, H., Einführung in die Fundamentaltheologie, Darmstadt 2008, 123ff. 81 SÖREN KIERKEGAARD etwa hat klar gesehen, dass die Unterordnung immer partikulärer Handlungsziele unter ein Letztziel, das die Existenzspannungen, zwischen denen das Dasein sich vollzieht, zu integrieren vermag, von großer Bedeutung ist für den Existenz- und Handlungsvollzug - auch jenseits seiner immer wieder betonten subjektivistischen Wahrheitstheorie: „Im Christentum selbst treffen so große Gegensätze aufeinander, dass zumindest der freie Blick stark behindert ist. […] Es kommt darauf an, meine Bestimmung zu verstehen, zu sehen, was die Gottheit eigentlich will, dass ich tun soll. Es gilt, eine Wahrheit zu finden, die Wahrheit für <?page no="55"?> 2. Der handelnde Mensch zwischen Empirie und Normativität 55 Motivwidersprüchen kommt, in deren Folge Handlungsenergien nicht freigegeben werden und damit dem Einsatz zur Realisierung des Humanum nicht zur Verfügung stehen. „Die Ethik bzw. die ‚Moralphilosophie‘ im engeren Sinne“, dasselbe gilt mindestens genauso für die Moraltheologie, „bleibt unvollständig, wenn sie auf eine anthropologische Reflexion des materialen Gehaltes ihrer Prinzipien verzichtet und Fragen der Grundbedingungen eines im umfassenden Sinne guten, gelungenen oder glücklichen menschlichen Lebens ausklammert.“ 82 Nur unter der Bedingung der erwähnten „Vollständigkeit“ 83 des Blick- und Fragewinkels vermag daher Moraltheologie einen qualifizierten Hoffnungsbegriff auszuweisen, der sich auf genau diese Gehalte bezieht. Unter diesen Prämissen gilt freilich dann auch: „Christliche Anthropologie ist also vom Wesen des Menschen her christliche Futurologie, christliche Eschatologie.“ 84 b) Das Verhältnis von Empirie und Normativität Eine Ethik der Hoffnung und deren anthropologische Fundierung, so wie sie hier angeregt wird, kann als Ausdruck einer „elementaren Theologie“ 85 im Sinne von JÜRGEN WERBICK auf dem Feld der Moraltheologie interpretiert werden. Schließlich geht es auch hier darum, eine „Theologie aus Erfahrung“ 86 zu ermöglichen, die sich dezidiert auf Erfahrungsquellen bezieht, die sie methodologisch auszuweisen in der Lage und bereit ist und die quasi die entsprechenden Wirklichkeiten zur Sprache kommen lassen kann, auf die sie sich zu beziehen versucht und in die hinein sie sich artikulieren will. Mit anderen Worten: Vonseiten der Moraltheologie werden erfahrungsorientierte Zugänge zu ihren Aussagen gesucht und methodologisch ausgewiesen. Deren praktische Bedeutung für das Verständnis menschlicher Handlungsorientierung wird immer noch theoretisch unterschätzt. Moralphilosophie und Moraltheologie haben sich daher in ihren Handlungstheorien argumentativ immer auch an der Autorität der Wirklichkeit selbst messen zu lassen: Contra experientiam non valet argumentum. Ein unsere Vorstellung von Wirklichkeit bedingender Erfahrungsbegriff ist nun seinerseits mindestens dreigliedrig zu bestimmen, wobei der Erfahrungsgrund der Hoffnung sich aus allen drei Erfahrungsaspekten bestimmen lässt: (1) Empirie und Experiment als Elemente der methodisch kontrollierten Erfahrungsgrundlage vieler Wissenschaften. mich ist, die Idee zu finden, für die ich leben und sterben will.“ Vgl. Deutsche Søren- Kierkegaard-Edition - Bd. 1, Journale und Aufzeichnungen. Journale AA - BB - CC - DD, hrsg. von DEUSER, H. / PURKARTSHOFER, R., Berlin 2005, 24. 82 Vgl. REHBOCK, Warum und wozu Anthropologie, 94-95. 83 Dabei ist Folgendes festzuhalten. „Die theologische Anthropologie fügt nicht eigentlich zusätzlich Neues (wenn auch von höchster Wichtigkeit) zu den Sätzen profaner Anthropologien hinzu, sondern sprengt diese in radikaler Weise so auf, dass sie einen ersten und letzten Zugang zu dem einen heiligen Geheimnis ermöglichen, das wir Gott nennen.“ Vgl. RAFFELT, A. / RAH- NER, K., Anthropologie und Theologie, in: BÖCKLE, F. / KAUFMANN, F.-X. / RAHNER, K. / WELTE, B. (Hrsg.), Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft Bd. XXIV, Freiburg im Breisgau 1981, 5-55, hier 49. 84 Vgl. RAFFELT / RAHNER, Anthropologie und Theologie, 44. 85 Vgl. WERBICK, J., Glaube im Kontext. Prolegomena und Skizzen zu einer elementaren Theologie, Zürich 1982, 19-41. 86 Vgl. WERBICK, Glaube, 520-523. <?page no="56"?> IV. Methodologischer Abriss 56 (2) Tradition als historisch gebundene und interpretativ abrufbare Erfahrung. (3) Existentielle Erfahrung, die in der Lebenswelt des Handlungssubjekts angesiedelt ist und mit DIETMAR MIETH 87 in Kontrast-, Sinn- und Motivationserfarungen differenziert werden kann. Methodologisch ist dabei ein Zweifaches wichtig: Einerseits wird Erfahrung in Moraltheologie und Moralphilosophie aufgenommen - empirisch, anthropologisch und strukturell gebunden - und genauso werden andererseits diese Disziplinen, die sich mit der Moralfähigkeit des Menschen beschäftigen, bemüht sein müssen, ihre Aussagen idealiter wieder auf Erfahrung hin zu formulieren, sie mindestens dafür offen zu halten, schließlich ist alle Ethik „theoretische Wissenschaft in praktischer Absicht“ (ARISTOTELES) und das konkrete Handeln die eigentliche Auslegungsperspektive derselben. Es kann daher unter Erinnerung an antike Traditionen, die Ethik immer schon in den Dienst der am Gelingen orientierten Lebenstüchtigkeit gestellt haben, „signifikante Erfahrungen“ in ihre Theoriebildungen aufzunehmen, zu integrieren, aber auch umgekehrt zu ermöglichen und (theoretisch wie praktisch) zu eröffnen, die dabei schließlich eine ethisch-moralische Qualifizierung erfahren. Mit Bezug auf das vorliegende Thema heißt das, Hoffnung letztlich als „Erfahrung mit der Erfahrung“ auszuweisen, als Erfahrung zweiter Ordnung gewissermaßen, die das Erfahrungssubjekt mit aller Erfahrung macht. Hoffnung ist als ein Modus der Erfahrung mit der Erfahrung zu qualifizieren, die hingeordnet ist auf die Erfahrung der heilsamen Nähe Gottes, die wiederum alle Erfahrung unter Etablierung vielfältiger Hoffnungs-Spannungen verheißungsvoll öffnet für die Erfahrung letzter Verbundenheit, letzter Versöhnung in Gerechtigkeit, letzten Gelingens bei Gott selbst. 88 „Erfahrbare Hoffnung“ zeigt sich dabei in heilsamen Zeichen und Symbolen, in therapeutischen, Sinn-Aussicht gewährenden, aufhellenden, vitalisierenden und mobilisierenden Effekten. Moraltheologisch gewendet geht es daher im Sinne einer Rechtfertigungstheorie um Aufrechterhaltung und Erweiterung der Handlungsfähigkeit und um die Erschließung von sinnverheißenden Handlungsmöglichkeiten - bis an die Grenzen des Lebens in Krankheit und Tod und darüber hinaus. Dabei reicht es unter methodologischer Betrachtung gegen den Vorschlag von RALF WÜSTENBERG 89 nicht aus, sich verbal von der „Methode der Korrelation“ 90 abzugren- 87 Vgl. MIETH, D., Die Bedeutung der menschlichen Lebenserfahrung. Plädoyer für eine Theorie des ethischen Modells, in: Concilium 12 (1976), 623-633. 88 Vgl. WERBICK, Glaube, 181, wonach entlang der hier vertretenen Hoffnungstheorie die positive Wirkung christlichen Glaubens an der Freisetzung von Hoffnungen festgemacht werden kann, die die realen Beziehungserfahrungen des Menschen quasi übersteigt und kontrafaktisch auf Gott selbst hin bezieht: „Alle signifikanten Erfahrungen sind Beziehungserfahrungen. Diese Beziehungserfahrungen müssen auf dem Weg zu reifer Beziehungsfähigkeit integriert und geöffnet werden. Der Glaube leistet diese Öffnung, indem er sie auf eine höchste Beziehungserfahrung - die Beziehung mit dem lebendigen Gott - „bezieht“. Daraus folgt: Das Wissen, von dem die Ich-Identität - die menschliche Freiheit - lebt, ist ein „Wissen“ um diese höchste Bezogenheit, wie sie sich in grundlegenden menschlichen Beziehungserfahrungen als mehr oder weniger verdunkelte Verheißung vorweg ereignet. Der Glaube wird dem Menschen in dem Maße hilfreich, als er ihm die grundlegenden Beziehungserfahrungen als Verheißungen aufschließt, ohne sie dadurch in ihrem Eigenwert zu schmälern.“ 89 Vgl. WÜSTENBERG, R., Die politische Dimension der Versöhnung. Eine theologische Studie zum Umgang mit Schuld nach den Systemumbrüchen in Südafrika und Deutschland, Gütersloh 2004. <?page no="57"?> 2. Der handelnde Mensch zwischen Empirie und Normativität 57 zen, wie sie etwa PAUL TILLICH formuliert hat, um unterschiedliche disziplinäre Perspektiven auf ein Erkenntnisobjekt aufeinander beziehen zu können und stattdessen schlicht ein induktives Verfahren entlang der „Korrespondenzfrage“ zu favorisieren, der es an der „Suche nach der Verbindung“ zweier oder mehrerer „Frageebenen“ 91 gelegen ist, so wie es als Minimalprogramm des interdisziplinären Gesprächs gelten kann. Zwar warnt WÜSTENBERG auch vor einer einfachen „Entsprechungsethik“ 92 , aber die entscheidende Frage bleibt schließlich bei ihm offen, wie eine solche Korrespondenz der Frageebenen methodisch kontrolliert vonstatten gehen kann und soll und wie entsprechende Kriterien auszuweisen wären. Auf dem Gebiet der Theorie- und Modellbildung bzgl. Fragen der interdisziplinären Forschung herrscht aus (moral-) theologischer Perspektive nach wie vor eklatanter Mangel, ganz im Kontrast zu dem immer lauter werdenden Ruf danach. Wiewohl das Verhältnis von Empirie und Normativität im Rahmen der moraltheologischen Tradition kaum explizit thematisiert wurde und heute überwiegend als formalabstraktes und damit erkenntnistheoretisches Problem verstanden und damit überwiegend an die Wissenschaftstheorie delegiert wird, existiert ein langes Wissen darum, dass moralische Probleme immer auch normative Probleme und empirische Probleme zugleich 93 sind, da der Mensch ein sinnliches und sittliches Wesen zugleich ist. Damit sind aber nicht allein ethische Begründungsfragen immer auch empirische Fragen, sondern zentrale ethisch-moralische Begriffe und Kategorien sind innerhalb dieser Spannung angesiedelt, besser aufgespannt, da sie sich sowohl durch moralisch-normative Gehalte, als auch durch einen breiten anthropologisch-phänomenologischen Grund auszeichnen - anders wäre wohl auch ihre hohe Handlungsrelevanz nicht plausibel zu machen. Genau dieses Wissen hat der katholischen Moraltheologie bei aller sonst womöglich berechtigten Kritik eine (natural gegründete) Bodenhaftung verliehen; und dieses Wissen ist es auch, das als entscheidender Grund dafür herangezogen werden muss, dass die Dialektik von Empirie und Normativität, oder breiter von Erfahrung und Ethik, eine inkommensurable Verortung innerhalb moraltheologischer Theoriebildungen finden kann und finden muss, zumal alle großen ethisch-moralischen Kategorien daran Anteil (Freiheit, Verantwortung, Gewissen, Handeln, Schuld, etc.) haben und sich somit bereits allein aus der inneren Strukturlogik der entsprechenden Kategorien selbst eine Delegation an andere Disziplinen verbietet; ganz im Gegenteil hätte die Moraltheologie einen reichen kategorialen Schatz zur Aufhellung dieses Verhältnisses zu bieten - wie im vorliegenden Fall anhand der Hoffnungskategorie gezeigt werden soll. So gesehen wird hier auch ein Stück Wissenssoziologie betrieben zum Verhältnis von Normativität und Empirie, womit ein bipolarer Erkenntnisweg hin zu einer integrativen Hoffnungstheorie verbunden ist. Schließlich führen Veränderungen des empirischen Wissens auch zu veränderten Argumentationen im Bereich des Sinnwissens, ebenso wie 90 Vgl. TILLICH, P., Systematische Theologie Bd. I, Stuttgart 7 1981, 65ff. 91 Vgl. RITSCHL, D., Die Herausforderung von Kirche und Gesellschaft durch medizinischethische Probleme, in: Evangelische Theologie 6 (1981), 493. 92 Vgl. WÜSTENBERG, Dimension, 82 und 83, wo der Autor die Korrespondenzfrage für „offener“ erklärt als die Korrelationsmethode, da diese nicht wie jene auf eine Korrelationsontologie, einen ontischen Zusammenhang zwischen Gott und Welt, angewiesen sei, was aber entsprechend der Ursprungshermeneutiken, hier Politikwissenschaft und dort Theologie, auf den ersten Blick auch nicht verwundert. 93 Vgl. MIETH, D., Die Diktatur der Gene. Biotechnik zwischen Machbarkeit und Menschenwürde, Freiburg 2001. <?page no="58"?> IV. Methodologischer Abriss 58 im Bereich des normativen Wissen. Dennoch muss eine Übersetzung, ein wechselseitiger Eintrag möglich sein, ohne Fremdkörper zu sein. Denn es ist der gleiche Mensch unter normativer wie unter empirischer Perspektive, schließlich sind für die vorliegende Fragestellung an den empirischen Bereich dieselben Fragen (induktiv) zu stellen wie an den normativ-moralischen. Auf diese Weise kommt es zu einer konsequenten Verzahnung von Problemgeschichte und Problemaufriss am Anfang und formalem Aufbau der gesamten Abhandlung, respektive Systematisierung, sodass beide bis zum Ende zusammenstimmen und ein kohärentes und homogenes Bild ergeben. Der Ansatz versteht sich als historisch-systematisch-interdisziplinär, wobei der Schwerpunkt auf einer interdisziplinär-systematischen Bearbeitung der Hoffnungskategorie liegt. Diesem thematischen Horizont soll der vorliegende Problemaufriss entgegenkommen, wiewohl er methodisch vor eine doppelte Aufgabe stellt, da zwei verschiedene Wege der Erkenntnisgewinnung grundgelegt sind, philosophisch-theologisch, das heißt spekulativ-geisteswissenschaftlich auf der einen Seite und psychologisch-psychotherapeutisch, d.h. empirisch-humanwissenschaftlich auf der anderen Seite. Beide Erkenntniswege entsprechen in ihrer Dichothomie einem der zentralen methodologischen Probleme jeder Moraltheorie, dem Verhältnis von Empirie und Normativität, systematisch von Sein und Sollen. Die Pole sind zueinander ins Verhältnis zu setzen, um die anvisierte Integration formulieren zu können. Das Verhältnis von Empirie und Normativität kann nun theoretisch-abstrakt auf höchst unterschiedliche Weise bestimmt werden, wobei pars pro toto vier Varianten erwähnt werden sollen, eine ganze Reihe weiterer aber wissenschaftstheoretisch identifizierbar wären: (1) Eine antinomistische Bestimmung hat die Tendenz zu dualistischen Positionen, die die Einheit des handelnden Subjekts aus dem Blick zu verlieren drohen, das sich ja als sinnlich-sittliches Wesen immer zugleich als empirisch-welthaft und unter einem normativen Horizont stehend erlebt. (2) Eine integralistische Lesart kann umgekehrt die Spannung der Pole nicht immer adäquat beschreiben und neigt zu Fehlschlüssen, d.h. dem Versuch, das eine fälschlicherweise aus dem anderen herzuleiten. (3) Eine subjektivistische Bestimmung des Verhältnisses von Empirie und Normativität wird nun dem Objektivitätsanspruch einer Wissenschaft im Allgemeinen und dem Universalisierungsanspruch 94 einer Ethik im Besonderen nicht gerecht und hat die Tendenz zum Panpsychologismus und Subjektivismus. (4) Eine strikt objektivistische Variante scheidet schon aus wissenschaftstheoretischen Erwägungen aufgrund des „Beobachterparadoxons“ aus. Insgesamt ist jede abstrakt-theoretische Beschäftigung mit dem erwähnten Verhältnis u.a. auf die Dichothomie von Subjektivität und Objektivität verwiesen. Vielfältige moralphilosophische und moraltheologische Auswege wurden gesucht: Normativierung, Historisierung, Biographisierung, Narrativierung, Psychologisierung, Relativierung, etc. Statt dieses Problem der Verhältnisbestimmung von Empirie und Normativität theoretisch-abstrakt klären zu wollen, was auf eine strikt erkenntnistheoretische Auseinander- 94 Vgl. dazu etwa WIMMER, R., Universalisierung in der Ethik. Analyse, Kritik und Rekonstruktion ethischer Rationalitätsansprüche, Frankfurt am Main 1980. <?page no="59"?> 2. Der handelnde Mensch zwischen Empirie und Normativität 59 setzung hinausliefe, die an dieser Stelle nicht geführt werden kann, soll hier für ein sachimmanentes Vorgehen plädiert werden. Statt das erwähnte Verhältnis von Anfang an bestimmen zu wollen und daran dann die Dateninterpretation zu messen, sollen im Rahmen des anvisierten Strukturraumes der Hoffnung verschiedene begrifflichkategoriale Linien (induktiv) gezogen werden, die dann am Ende der Arbeit auf Zusammenhänge und Schwerkraftfelder hin untersucht und systematisiert werden sollen. 95 So wird im Folgenden ein Modell des Zueinanders entworfen, das es erlaubt, unter Aufrechterhaltung der Spannung zwischen den beiden Polen eine integrative Hoffnungstheorie zu entwerfen, die auf methodisch kontrolliertem Wege empirisch-humanwissenschaftliche Einsichten aufzunehmen vermag. Ein entscheidender methodologischer Schlüssel - neben ersten Ansätzen eines eigenen Modells - bieten sogenannte Brückenkategorien, die als vermittelnde Kategorien quasi Anteil haben sowohl an vielfältigen Erfahrungsquellen, als auch zugleich zu den Konstituenten des Sittlichen und näherhin Normativen gehören. Diese kennen eine breite naturale Basis und sind zugleich für die moralische Handlungsregulation unverzichtbar. Hoffnung kann als eine solche Brückenkategorie zwischen den Sphären verstanden werden. Eine mögliche philosophische Analogie kann von den hier vorgestellten Brückenkategorien zu den von HANS ALBERT so bezeichneten „Brückenprinzipien“ 96 (etwa „Sollen setzt Können voraus.“) gezogen werden, „die von empirischen auf normative Aussagen schließen lassen“ 97 . Ohne dem von ALBERT vertretenen Dezisionismus folgen zu wollen, kann dennoch in Anlehnung an seine Brückenprinzipien von Brückenkategorien gesprochen werden, die eine ähnliche Aufgabe erfüllen können. Hoffnung ist eine solche Brückenkategorie - mit breiter empirisch-naturaler Basis, wie zu zeigen sein wird, und zugleich mitten in die zentralen Gehalte von Moralität und Normativität hineinreichend, wenn etwa das summum bonum als letzter Grund und höchstes Gut christlicher Hoffnung gelten kann oder das Gute selbst als Hoffnungsfigur zu begreifen ist, oder gar strikt normative Gehalte mit moralisch qualifizierbaren Hoffnungen verknüpft sind - freilich ohne dabei selbst normativ zu werden und ohne streng genommen Normativität zu begründen oder gar einem naturalistischen Fehlschluss aufzusitzen. Dabei ist ein hermeneutischer Zirkel 98 zu beachten, wonach dasjenige interpretiert und integriert werden soll, was eine integrative Theorie zugleich kritisieren und stimulieren können soll. Ethische Reflexion, auch, aber nicht allein in ihren normativen Dimensionen, hat eine Kriteriologie bereitzustellen zur Interpretation von Empirie, denn theoriefreie Empirie gibt es nicht. Diese ist immer nur als interpretierte allererst angeeignet. Umgekehrt muss ethische Reflexion in der Lage sein, sich von empirischen Einsichten in ihren Erkenntnisgegenstand belehren zu lassen. Beide Aussagen stehen erkenntnistheoretisch in einer Spannung, die nicht aufgelöst werden kann, sondern aufrechterhalten 95 Als vergleichbares Vorgehen aus der Psychologie kann auf das statistische Verfahren der Varianzanalyse verwiesen werden, bei der aus einem Koordinatensystem von mathematischen Daten übergeordnete Faktoren extrahiert werden, die in immer höheren Ordnungen abstrahiert und zusammengefasst werden können. Die komplexe Variabilität der Einzel-Daten und Linien wird reduziert auf sogenannte Faktorenladungen und Wertgefüge im Koordinatensystem, die dann wiederum zu Clustern verknüpft werden können, bis dass das bestimmende Prinzip (bei schwerer werdender Interpretation) heraus kristallisiert werden kann. 96 Vgl. ALBERT, H. / TOPITSCH, E. (Hrsg.), Werturteilstreit, Darmstadt 2 1979, 200-236. 97 Vgl. RICKEN, F., Allgemeine Ethik, Stuttgart 4 2003, 56. 98 Vgl. MIETH, D., Moral und Erfahrung Bd. I. Grundlagen einer theologisch-ethischen Hermeneutik, Fribourg 4 1999, 49-57, hier 51. <?page no="60"?> IV. Methodologischer Abriss 60 werden muss. Brückenkategorien sind nun als komplexe Kategorien strukturell so beschaffen, dass sie diese Spannungen in sich abbilden und damit zur Einsichtgewinnung in die eigenen Strukturen die erwähnte methodische Polarität von Empirie und Normativität nicht nur absichern, sondern nachgerade auf sie angewiesen sind. Vom Material- und Formalobjekt einer komplexen Kategorie her soll also ein Sach- und Strukturraum aufgespannt bzw. aufgezogen werden, ein Koordinatensystem der Hoffnung. Diese ist als solche in alle - klassisch gesprochen - Seinsschichten des Menschen involviert bzw. umfasst und beansprucht den ganzen Menschen und hat die integrierte Ganzheit des Menschen und seiner Handlungsorganisation als Referenz vor Augen, indem zu Anfang verschiedene, sich auf den ersten Blick auch widersprechende Entdeckungs- und Begründungszusammenhänge zugelassen werden können. Als Legitimation für dieses Vorgehen kann angeführt werden, dass auch der Mensch als Handlungssubjekt diese Integration erbringen muss, weswegen sie sich im methodischen Vorgehen auch wiederfinden kann, sogar muss. Es handelt sich mithin um einen Raum, in dem die Sache (der Hoffnung) strukturell Vorgaben macht, die dann interdisziplinär auf eine integrative Theorie hin zusammengeführt, auf Konvergenzen untersucht und in diesem Zuge interpretiert werden sollen. Die jeweiligen disziplinären Beschreibungssysteme haben und behalten hermeneutisch zunächst ihre eigene Berechtigung, indem jeweils aus ihnen eine Art (Hoffnungs-) Strukturgitter entworfen wird, die dann im Rahmen eines übergreifenden begrifflichen Koordinatensystems quasi ineinander geschoben werden, um Konvergenzen, systematische Cluster oder auch Leerstellen präzise bestimmbar zu machen und daraus dann strukturelle Grundlinien eines integrativen Modells ableiten zu können. Um diese Aufgabe einlösen zu können, soll nun unter dem Stichwort der Interdisziplinarität das Verhältnis von Empirie und Normativität als einem der zentralen methodologischen Fragestellungen des vorliegenden Projekts einer zumindest abrissartigen Darstellung zugeführt werden 99 . So wird es zur methodisch kontrollierten Bearbeitung einer 99 Vgl. grundlegend zum Verhältnis Ethik und Empirie KORFF, W., Wie kann der Mensch glücken? Perspektiven der Ethik, München 1985, 48-78; KORFF, W., Wege empirischer Argumentation, in: HERTZ, A. et al. (Hrsg.), Handbuch der christlichen Ethik, Bd. 1, aktualisierte Neuauflage, Freiburg im Breisgau 1993, 83-107; ZELINKA, U., Moraltheologie im interdisziplinären Dialog. Zur Rezeption natur- und humanwissenschaftlicher Ergebnisse, in: SCHRAMM, M. / ZELINKA, U. (Hrsg.), Um des Menschen willen. Moral und Spiritualität (FS für BERN- HARD FRALING zum 65. Geburtstag), Würzburg 1994, 81-101. Einen breiten Überblick, v.a. was das Gespräch mit den Sozialwissenschaften angeht, gibt HOLLWEG, A., Theologie und Empirie. Ein Beitrag zum Gespräch zwischen Theologie und Sozialwissenschaften in den USA und Deutschland, Stuttgart 1971. Daneben MIETH, D., Moral und Erfahrung. Grundlagen einer theologisch-ethischen Hermeneutik Bd. I, Fribourg 4 1999, darin: „Empirische“ Grundlagen der Ethik, 42-71; AUER, A., Autonomie und christlicher Glaube, 2. Auflage mit einem Nachtrag zur Rezeption der Autonomievorstellungen in der katholisch-theologischen Ethik, Düsseldorf 1995, darin: Die Rationalität der Wirklichkeit als Grund des Sittlichen, 32-54; KORFF, W., Norm und Sittlichkeit. Untersuchungen zur Logik der normativen Vernunft, Mainz 1974, 76- 112, sowie 131-143. Ferner SCHÖLLGEN, W., Konkrete Ethik, Düsseldorf 1961, 31-45; SCHÜLLER, B., Die Bedeutung der Erfahrung für die Rechtfertigung sittlicher Verhaltensregeln, in: DEMMER, K. / SCHÜLLER, B (Hrsg.), Christlich glauben und handeln. Fragen einer fundamentalen Moraltheologie in der Diskussion, Düsseldorf 1977, 261-286; GRÜNDEL, J., Die Bedeutung der Konvergenzargumentation für die Gewissheitsbildung und für die Zustimmung zur absoluten Geltung einzelner sittlicher Normen, in: SCHEFFCZYK, L. (Hrsg.), Wahr- <?page no="61"?> 2. Der handelnde Mensch zwischen Empirie und Normativität 61 interdisziplinär angelegten integrativen Theorie der Hoffnung darum gehen, eine (wissenschaftstheoretische) Verhältnisbestimmung von Empirie und Normativität ins Zentrum des Interesses zu stellen, näherhin eine kritisch-hermeneutische Ausleuchtung des Zuordnungsverhältnisses von „positiv-kenntnisnehmender und normativ-stellungnehmender Vernunft“ 100 . Es ist dabei zu fragen, in welcher Weise die Theologische Ethik humanwissenschaftliche Erkenntnisse zu respektieren und zu adaptieren hat. Innerhalb des Methodenpluralismus der theologischen wie der philosophischen Ethik, der von logischen, analytischen, empirischen, transzendentalen, bis hin zu phänomenologischen, hermeneutischen und dialektischen Methoden reicht 101 , ist hier allen voran die empirische Methode und deren Voraussetzungen zu klären, um zur Erhellung der empirischen Grundlagen des Handelns in sachgerechter Weise beitragen zu können. Für eine traditionelle Form der Moraltheologie hat dieser Zugang seine klassische Form in der naturrechtlich ausgestalteten Frage nach den objektiven Voraussetzungen sittlichen Handelns gefunden 102 , die ethische Aussagen mitunter aus einer fiktiven, bereits normativ gesetzten Naturordnung heraus glaubte deduzieren zu können und dabei die Uneindeutigkeit, Vielgestaltigkeit 103 und Historizität entsprechender Vorstellungen zu unterschätzen drohte. Ganz abgesehen davon, dass das epistemologische Nadelöhr kantischer Vernunftkritik, etwa die Spannung von Begriff und Wirklichkeit, mitunter geflissentlich umgangen und dabei auf breiter Linie Kombatibilität mit den Erfahrungswissenschaften verloren wurde, die ihrerseits auf der Basis empirischer Forschung und im Medium induktiver Methoden aus Einzelbeobachtungen größere Theoriezusammenhänge und Hypothesen zu rekonstruieren bemüht ist. Der Ehrlichkeit halber muss aber auch zugestanden werden, dass sich das Seinsverständnis unter der Hand immer wieder massiv verändert hat. Konnte etwa noch bei THOMAS ein sinn- und telosorientierter Seinsbegriff vorgefunden werden, verwandelte sich dieser unter dem Einfluss der frühen Neuzeit in eine reine res extensa, die naturwissenschaftlich erforscht werden kann und damit aber den außerordentlich reich angelegten antiken und mittelalterlichen Seinsbegriff unter eine biologisch oder gar biologistisch gedeutete Natur unterwarf, wogegen zurecht opponiert wurde. Nur so konnte es zu den erwähnten Engführungen kommen. Dabei sind die komplexen Vermittlungsverhältnisse und gegenseitigen Korrekturen von Vernunft, Natur, Erfahrung und Offenbarung mit Blick auf eine möglichst umfängliche Würdigung der Wirklichkeit des ganzen Menschen nicht vorschnell abzuschneiden, damit auch die konstruktiven Funktionen des Naturrechtsdenkens 104 nicht aus dem Blick geraten: etwa Herrschaftsbegrenzung, Unbeliebigkeit des menschlichen Selbstumgangs, (moralisch-sittliche) Einheit des Menschengeschlechtes, Beschränkung und zugleich heit und Verkündigung Bd. 2 (FS MICHAEL SCHMAUS zum 70. Geburtstag), München 1967, 1607-1630. 100 Vgl. KORFF, Wie kann der Mensch glücken? , 58. 101 Vgl. LESCH, W., Methoden der Ethik (Art.), in: ROTTER, H. / VIRT, G. (Hrsg.), Neues Lexikon der christlichen Moral, Innsbruck / Wien 1990, 495-501. 102 Vgl. MAUSBACH, J. / ERMECKE, G., Katholische Moraltheologie, Münster Bd. 1 9 1959, Bd. 2 11 1960, Bd. 3 10 1961. 103 Vgl. SCHOCKENHOFF, E., Stärken und innere Grenzen. Wie leistungsfähig sind naturrechtliche Ansätze in der Ethik, in: Herder Korrespondenz 62 (5 / 2008), 236-241. 104 Vgl. BRIESKORN, N., Wofür benötigen wir überhaupt ein Naturrecht? Sinn und Notwendigkeit des Naturrechts aus philosophischer und theologischer Sicht, in: HÄRLE, W. et.al. (Hrsg.), "Vom Rechte, das mit uns geboren ist". Aktuelle Probleme des Naturrechts, Freiburg im Breisgau / Basel / Wien 2007, 97-126, hier 114ff. <?page no="62"?> IV. Methodologischer Abriss 62 Verankerung von Offenbarungsansprüchen, Wahrung des Selbststandes der Vernunft gegen Naturalisierungen, etc. Insgesamt ist nicht von der Hand zu weisen, dass naturrechtliche Argumente zurecht wieder Boden gewonnen haben, nachdem sie begonnen haben, sich differenziert mit dem neuzeitlichen Autonomieparadigma zu vermitteln und zugleich die naturalen Grundlagen menschlichen Wollens und Handelns philosophisch freizulegen versuchen, dabei insbesondere die Vernunftnatur des Menschen 105 betonen und sich mit den ambivalenten und relativistischen Ergebnissen von Vorstellungen, die glauben bar jedem Essentialismus und ohne fundamentalanthropologische Aussagen auskommen zu können, nicht abfinden mögen und sich daher dem notwendigen Unterfangen stellen, überpositive Moralquellen vernünftig zu plausibilisieren. War die „Natur“ einst noch eingeordnet in einen metaphysischen Ordnungsrahmen, so wurde sie dessen im Rahmen der philosophischen und theologischen Geistesgeschichte spätestens seit der Aufklärung zunehmend entledigt, insbesondere auf dem Rücken der Freiheitsidee und dem Siegeszug der Erfahrungswissenschaften und dem damit radikal veränderten Natur- und Erfahrungsbegriff, aber auch durch mitunter vorschnell gezogene Konsequenzen aus der Reflexion endlicher Vernunft auf ihre eigenen Grenzen, aus der ein „nachmetaphysisches Denken“ 106 einer detranszendentalisierten Vernunft folgen sollte. Heute wird es darum gehen müssen, die „metaphysischen Voraussetzungen einer jeden Wissenschaft“, auch der Ethik, wieder neu ernst zu nehmen, genauso wie die anthropologischen und die naturalen Vorausbedingungen, in die jedes Handeln des Menschen gestellt ist und die schließlich die vielfältigen „Sinnhorizonte“ 107 , um die Sprache ALFONS AUERS zu gebrauchen, zu explizieren vermögen, in denen der Mensch entscheidet und handelt. Historisch gesehen ist mithin der Rekurs auf Empirie im Rahmen ethischen Denkens nicht neu, ganz im Gegenteil sogar; spätestens seit der griechischen Sophistik bis in die jüngste Gegenwart hinein wurden meist unter dem Stichwort „Naturrecht“ Versuche unternommen, materiale Bedingungen und Gesetzlichkeiten des Sittlichen aus dem abzuleiten, was vorgegeben ist und von sich aus wirkt, also dem Wesen und der Natur des Menschen. Unter den Vorläufern moderner Verhältnisbestimmungen von Ethik und Empirie nimmt THOMAS VON AQUIN eine herausragende Stellung ein. Insbesondere seine Lehre von den inclinationes naturales als den „natürlichen Hinneigungen“ der Seele, als empirische Basis aller Moralität verstanden, gewann hier wegweisende Bedeutung. Das solcherart entfaltete Naturrechtsdenken, das in seiner klassischen Form u.a. auch im Rahmen der Beurteilung der circumstantiae, der Umstände einer Handlung, zum Ausdruck kam 108 , ist insofern zentral geworden, als dass THOMAS diese inclinationes als von sich aus wirkende naturale Komponenten menschlichen Handelns begriff (bspw. Selbst- 105 Vgl. unter Rekurs auf THOMAS VON AQUIN BORMANN, F.-J., Natur als Horizont sittlicher Praxis. Zur handlungstheoretischen Interpretation der Lehre vom natürlichen Sittengesetzt bei Thomas von Aquin, Stuttgart 1999. 106 Vgl. HABERMAS, J., Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 1988. 107 Vgl. AUER, Autonomie, 92-95. 108 Vgl. ebd. 39: „Wenn sich die Lehre von der sittlichen Selbstverwirklichung des Menschen nicht im luftleeren Raum abstrakter Spekulationen verlieren soll, muss sie von der realen Gesamtkonstitution des Menschen ausgehen und diese fortwährend im Auge behalten. Die traditionelle Moraltheologie hat dies unter dem Stichwort ‚circumstantiae‘, also in dem Traktat von den ‚Umständen des sittlichen Handelns‘ - wenn auch [...] nicht mit dem nötigen Nachdruck - tatsächlich getan.“ <?page no="63"?> 2. Der handelnde Mensch zwischen Empirie und Normativität 63 erhaltung, Arterhaltung, Vergesellung, Erkenntnisstreben, Transzendenzverwiesenheit) und gerade nicht als vorgegebene Normen einführte. Der Aquinat fasst die „von sich aus im Menschen waltenden ‚natürlichen Hinneigungen‘ als ein empirisches Dispositionsfeld, das der praktischen Vernunft zwar vorgegeben ist und ihre Entscheidungen der Beliebigkeit entzieht, ihr aber zugleich zu normativer Gestaltung aufgegeben bleibt“ 109 . Im gleichen Zusammenhang nennt THOMAS noch ein weiteres Feld empirisch vorgegebener Größen, die nun allerdings den konkreten Prozess der Normfindung und Normgestaltung mit beeinflussen, die sogenannten determinationes. Darunter will er all jene Wirkfaktoren verstanden wissen, die als äußere und zudem ethisch relevante Sachgesetzlichkeiten menschliches Handeln mitbestimmen (müssen), soll es sittlich vernünftiges Handeln sein. Damit sind die wichtigsten aus der moraltheologischen Tradition stammenden empirischen Strukturfelder benannt, die dem Handlungssubjekt und dem Vollzug seiner sittlichen Vernunft vorgegeben sind. Sie stehen allerdings heute unter völlig veränderten Vorzeichen als zur Zeit ihres scholastischen Ursprungs. Nicht nur, dass ein ungeheurer Zuwachs an Erkenntnissen aus klassischen und über Methodenintegration neu entstandenen Disziplinen zu verzeichnen ist, dem eine empirieoffene Ethik kritischkonstruktiv zu begegnen hat, will sie sich die Bedingungsformen menschlichen Gelingens angelegen sein lassen, sondern auch und v.a. ist ein gewandeltes (neuzeitliches) Verständnis von Rationalität und Empirie selber zu rekonstruieren. Dennoch ist eine interdisziplinär arbeitende Moraltheologie bleibend auf einen mindestens schwachen Naturbegriff angewiesen und verwiesen, den es gilt sich philosophisch anzueignen, um nicht in einen Vernunftmonismus zu verfallen, der nicht allein ideologienanfällig ist, sondern auch die Einsichten der Humanwissenschaften zu wenig zu würdigen weiß. Nur so kann unter moral-theologischer Perspektive auch die Geschöpflichkeit des Handlungssubjekts Mensch und der Welt insgesamt ausreichend in den Blick kommen und umgekehrt unter moral-philosophischer oder praktisch-philosophischer Perspektive dem Umstand Rechnung getragen werden, dass jeder Faktizität normative Verbindlichkeiten anhaften. Schließlich stehen wir unserer eigenen (nicht festgelegten) Natur nicht beliebig gegenüber. Unter Empirie wird heute v.a. die durch wissenschaftliche Forschung objektivierte und positiverte Erfahrung bezeichnet, wiewohl entlang den etymologischen Ursprüngen und bis zum Aufkommen exakter Wissenschaften zu Beginn der Neuzeit damit eigentlich die gelebte Erfahrung benannt wurde, die dann allerdings verallgemeinert und in ein metaphysisches Gewand gekleidet wurde, was zu problematischen und empirieresistenten Verfestigungen der daraus abgeleiteten Moralsysteme führte. Denn lange Zeit war die philosophische Ethik nahezu alleiniger Gesprächspartner der theologischen Ethik, wobei die Empirie in diesem zumeist selektiven Prozess der Applikation wie besehen durchaus ihren festen Platz hatte, allerdings im Sinne einer zur Allgemeingültigkeit erklärten und mitunter hypostasierten praktischen Erfahrung des Menschen mit sich und seiner Lebenswelt - noch weit entfernt von den Verfahren exakter Wissenschaft. Damit konnten sich Moraltheologie und Sozialethik als Wissenssysteme von sogenannten prima principia entwickeln, die dann in spezifischen Situationen je neu konkretisiert und exemplifiziert werden konnten bzw. mussten. Mit den Worten DIETMAR MIETHS: „Die philosophische Ethik als praktische Philosophie neigte in ihren Traditionen dazu, aposteriorische Einsichten apriorisch zu deuten und von daher die konkreten Weisungen 109 Vgl. KORFF, Wie kann der Mensch glücken? , 56. <?page no="64"?> IV. Methodologischer Abriss 64 zu deduzieren.“ 110 Es ist also im Kontext der vorliegenden Fragestellung mindestens von einer Doppelsträngigkeit des Empiriebegriffs auszugehen, wenn die historisch gebundene Erfahrung in der Tradition zunächst einmal nachrangig behandelt wird. Demnach kann der Erfahrungsbegriff sowohl für die Erkenntnisse methodisch kontrollierter, experimenteller Wissenschaft, als auch für die Ergebnisse subjektiver, praktisch-evidenter Erfahrungen ausgewiesen werden. Nicht selten kam es in der Folge dieser Entwicklungen zu einer Dichotomisierung, wenn nicht Entgegensetzung der beiden Erfahrungsquellen. Subjektive Erfahrungen wurden bzgl. ihrer Bedeutung in Korrektur der oben erwähnten Entwicklungen mit Misstrauen bedacht und eine Theologische Ethik zusehends von den empirischen Wissenschaften auf der Basis des nun schon gewandelten Begriffs von Empirie (und Rationalität) zur Auseinandersetzung gezwungen, indem sowohl ihre anthropologischen Voraussetzungen, als auch ihre Normbildung dabei kritisiert wurden. 111 Diese Kritik wird im Rahmen des Selbstverständnisses zeitgenössischer theologischethischer Forschung ernst genommen 112 und im Kontext wissenschaftlicher und öffentlicher Diskurse beantwortet 113 , will sie sich nicht dem Verdacht einer Immunisierung aussetzen. 114 Die vorliegende Arbeit wird sich in der Rezeption der für den systematischen Diskurs über die Kategorie der Hoffnung einschlägigen Empirie überwiegend auf humanwissenschaftliche Untersuchungen beschränken (Psychologie, Psychotherapie, Medizin und verwandte Disziplinen), die auf mögliche Strukturbedingungen für die Etablierung und Realisierung von Hoffnung schließen lassen. Diese sollen dann auf strukturelle Entsprechungen mit biblischen und einigen wenigen theologisch-ethischen Beständen der Hoffnungsreflexion untersucht und im Sinne einer Integration auf eine integrale Theorie der Hoffnung geöffnet werden. Auf welcher Basis ist aber diese Integration zu leisten und wodurch legitimiert sie sich, wenn der Gefahr des Zirkelschlusses begegnet werden soll, eine Integration herstellen zu wollen, die dabei schon vorausgesetzt 110 Vgl. MIETH, Moral und Erfahrung Bd. I, 49-50. 111 Neben der schon erwähnten Kritik durch die Ergebnisse empirischer Wissenschaften, die zu würdigen zur selbstverständlichen Aufgabe theologisch-ethischen Denkens geworden ist, kam es auch zu einer rehabilitierenden Reflexion auf die ethische und erkenntnistheoretische Valenz des subjektiven, aber damit noch nicht subjektivistischen Erfahrungsbegriffs für das handelnde Subjekt: Als aktuelles Beispiel kann die Debatte um Freiheit und Determination im Kontext moderner Hirnforschung erwähnt werden, in deren Gefolge gegen den reduktionistischen Determinismus etwa eines WOLF SINGER und GERHARD ROTH die Inkommensurabilität der (subjektiven) 1.-Person-Perspektive angeführt wird; vgl. dazu LÜCKE, U., Zur Freiheit determiniert - zur Determination befreit? Zwischendiagnose zur aktuellen Hirnforschungsdebatte, in: Stimmen der Zeit 9 / 2004, 610-622; SCHOCKENHOFF, E., Wir Phantomwesen. Die Grenzen der Hirnforschung, in: FAZ, 17.11.2003, 31. Für eine grundlagenbezogene Diskussion vgl. MIETH, Moral und Erfahrung Bd. I. und Bd. II. 112 Vgl. KORFF, W., Empirie, theologisch-ethisch (Art.), in: HUNOLD, G.W. (Hrsg.), Lexikon der christlichen Ethik - LThK kompakt, Bd. 2, Freiburg / Basel / Wien 2003, 373-374. 113 Vgl. etwa die kontroversen ethischen Debatten um die Stammzellforschung im ehemaligen nationalen Ethikrat. 114 Vgl. KORFF, Wie kann der Mensch glücken? , 61: „Kritikimmunität der Ethik gegenüber der Empirie lässt Ethik inhuman werden. Eine Vernachlässigung der von den Humanwissenschaften erreichten Einsichten in die Bedingungsformen des Menschlichen führt zu Depravationen, auch wenn diese Bedingungsformen je nur partielle Strukturmomente darstellen, die der weiteren ethischen Integrierung bedürfen und selbst nicht schon das denkbar höchste Maß an sittlicher Zielgestaltung beinhalten.“ <?page no="65"?> 2. Der handelnde Mensch zwischen Empirie und Normativität 65 wird? „Wie kann eine Anthropologie empirisch fundiert und zugleich kritisch gegenüber der Empirie sein? “ 115 Theologische Ethik hat als diejenige theologische Disziplin mit den meisten Kontakten zu anderen Wissenschaften und als sogenannte „integrierende Wissenschaft“ 116 ihr Verhältnis zu den empirischen Wissenschaften in zwei Richtungen zu bestimmen: auf der einen Seite hat sie die umfangreiche empirische Forschung kritisch-konstruktiv aufzunehmen, auf der anderen Seite aber auch einem systematischen Diskurs und damit auch einer fundamentalen Bewertung zuzuführen, ohne dabei in die Dichotomie von empirischer Basis und spekulativem bzw. intelligiblem Überbau zu geraten 117 , denn damit liefe sie Gefahr bei Verlust entsprechender Gewissheiten auch ihre Vernünftigkeit abgesprochen zu bekommen. Anvisiert wird eine empiriebezogene Ethik, die sich auf der einen Seite als systematische Disziplin Vorgaben machen lässt von den einschlägigen Ergebnissen empirischer Forschung selbst, was ihre eigenen Kategorien betrifft und dabei Interdisziplinarität in ihrem normativen Potential ernst nimmt, aber auf der anderen Seite auch jede Form empirischer Daten einer hermeneutischen Interpretation, Bewertung und systematischen Reflexion zuführt. Hier kann von einer doppelten „kritischen Wächterfunktion“ 118 gesprochen werden, nach der weder einer einseitig empirielosen Ethik noch einer ebenso einseitig empiriebestimmten Ethik das Wort zu reden ist. 119 Auf diese Weise kann Moraltheologie als „Integrationswissenschaft“ ausgewiesen werden, womit eine Fachbezeichnung angezeigt wird, quasi eine Aussage über die Disziplin, während die Kombinatorik bzw. Konvergenz eine Methode bezeichnet. Auch wenn im Rahmen der vorliegenden Arbeit überwiegend naturwissenschaftlichempirische Erkenntnisse auf ihre Bedeutung für eine anthropologisch fundierte moraltheologisch-integrale Theorie der Hoffnung hin beleuchtet werden sollen, ist doch im Sinne des bereits erweiterten Empiriebegriffs auch die subjektive Erfahrung in ihrer ethischen Valenz und ihrem kritischen Potential aufzunehmen 120 , zumal ihr die Erfahrung des Sittlichen selbst in ihrer Evidenz zuzurechen ist. Diese ethische Empirie bzw. empirische Ethik des Handlungssubjekts in ihrer bleibenden Hoffnungsstruktur rudimentär zu erschließen, mitunter unter Rückgriff auf naturwissenschaftlich-empirische 115 Vgl. MIETH, Moral und Erfahrung Bd. I , 51. 116 Vgl. SCHÖLLGEN, W., Konkrete Ethik, Düsseldorf 1961, 32-45. Die Bezeichnung der Ethik als integrierende Wissenschaft stammt ursprünglich von W. SCHÖLLGEN und wurde dann von A. AUER, F. BÖCKLE, J. GRÜNDEL, W. KORFF, D. MIETH und H. RINGELING aufgegriffen und ist zum Allgemeingut theologisch-ethischen Argumentierens geworden. 117 Vgl. MIETH, Moral und Erfahrung Bd. I, 52. 118 Vgl. KORFF, Empirie, theologisch-ethisch, 373. 119 An anderer Stelle fasst W. KORFF auf dieser Linie zusammen; vgl. KORFF, Wie kann der Mensch glücken? , 62: „Wenn somit vorher gesagt wurde, dass empirischer Wissenschaft eine unverzichtbare Wächterfunktion gegenüber der Ethik zukommt, dass also ihre sachverhaltsbezogenen empirischen Einsichten zum Prüfstein der humanen Angemessenheit und Richtigkeit handlungsbezogener ethischer Sollensforderungen werden können, so muss jetzt weiter gesagt werden, dass auch die empirischen Aussagen selbst einer ständigen kritischen Prüfung und Kontrolle unterworfen bleiben müssen.“ 120 Vgl. MIETH, Moral und Erfahrung Bd. I, 55: „Die metaphysische Verdinglichung moralischer Einsichten hat uns den Zugang zu ihrer besonderen Qualität der Erfahrung versperrt. Wir verwechseln daher leicht die empirisch-kritische Überprüfung mit der naturwissenschaftlichen Methodologie. Die Identität von Wissenschaft und Empirie ist jedoch nicht selbst selbstverständlich.“ <?page no="66"?> IV. Methodologischer Abriss 66 Erkenntnisse, von denen sie aber immer unterschieden bleibt 121 , kann gerade als Zielsetzung der folgenden Arbeit gelten: „Die ethische Empirie ist nicht die Sinneserfahrung, sondern die Sinnerfahrung.“ 122 Dieser (einseitig) exklusiven Formulierung ist allerdings inklusiv hinzuzufügen, dass die Sinnerfahrung nicht gänzlich unabhängig von der Sinneserfahrung gedacht werden kann, sondern diese in jener tief verwurzelt ist, quasi struktural verbunden ist, weswegen überhaupt nach strukturellen Entsprechungen anhand der Hoffnungskategorie gefragt werden kann. Der Mensch lebt in der Erfahrung des Sittlichen und er vollzieht sich und handelt aus diesen Erfahrungen, so dass die Authentizität des Ethischen auch nicht gegen die Erfahrung im weitesten Sinne (faktenwissenschaftlich-objektiv wie stellungnehmend-sinnorientiert-subjektiv), sondern in und mit dieser Erfahrung gesichert werden kann und muss. So hat die bisherige Kernfrage nach der Zuordnung von Ethik und Empirie auch mit der Frage nach dem Verhältnis von Ethik und Praxis zu tun, das an dieser Stelle aber nicht weiterverfolgt werden kann. Das anvisierte Gespräch muss nun auch vonseiten einer dezidiert theologischen Ethik geführt werden, damit der inkommensurable Bestand moraltheologischer Kategorien an das Wissen der Zeit angebunden wird, aber auch, um den sonst drohenden Übergriffen der anderen Disziplinen 123 kritisch-konstruktiv begegnen zu können. Die für den theologisch-ethischen Diskurs besonders relevanten Humanwissenschaften sind dabei längst nicht mehr als ancilla theologiae, als Hilfswissenschaften theologischer Reflexion zu betrachten (bzw. zu missbrauchen), sondern sind in ihrer Autonomie als Dialogpartner auf der Suche nach einem vertieften Verständnis der Wahrheit menschlicher Wirklichkeit nicht nur ernst zu nehmen, sondern notwendige und unverzichtbare Voraussetzung 124 . In diesem Verständnis steht Interdisziplinarität selber unter normativem Vorzeichen, ist ihrerseits ein normativer Prozess, indem sie einen spezifischen Impetus zur Bewältigung der anstehenden Aufgaben setzt. Es lassen sich nun im Rahmen der bisherigen Ausführungen mit UDO ZELINKA 125 paradigmatisch mehrere Konkretionen einer möglichen interdisziplinären Annäherung von Ethik und Empirie ausmachen: 121 Vgl. ebd. 56, der von verschiedenen empirischen Dimensionen jenseits des Basis-Überbau- Schemas spricht. 122 Vgl. ebd. 55. Er schreibt direkt weiter: „Empirisch im Sinne der anthropologischen Ethik ist die geschichtliche und praktische Erfahrung; empirisch im Sinne der Humanwissenschaften ist die Einsicht in die Genealogie moralischer Verhaltensweisen und in die Handlungsdispositionen und Antriebsgefüge menschlichen Verhaltens.“ 123 Vgl. im Ansatz lobenswert aber einseitig pragmatistisch WAGNER, R.F., Ein integratives Menschenbild einer an ethischen Dimensionen orientierten Allgemeinen Psychotherapie, in: WAGNER, R.F. / BECKER, P., Allgemeine Psychotherapie. Neue Ansätze zu einer Integration psychotherapeutischer Schulen, Göttingen 1999, 43-73. 124 Umgekehrt gilt es natürlich auch von den empirisch arbeitenden Wissenschaften, ein kritisches Verhältnis den je eigenen Grenzen gegenüber zu erwarten, um die eben erwähnten Übergriffe zu vermeiden, sonst wird aus Psychologie Psychologismus, aus Soziologie Soziologismus, aus Biologie Biologismus, etc. und aus Wissenschaft Weltanschauung. Damit wird aus dem (notwendigen) methodischen Pluralismus der Disziplinen ein monistischer Reduktionismus, der in unangemessener Weise meint begründete Aussagen über das Ganze der Wirklichkeit machen zu können. 125 Vgl. ZELINKA, U., Moraltheologie im interdisziplinären Dialog. Zur Rezeption natur- und humanwissenschaftlicher Ergebnisse, in: SCHRAMM, M. / ZELINKA, U. (Hrsg.), Um des Menschen willen. Moral und Spiritualität (FS für BERNHARD FRALING zum 65. Geburtstag), Würzburg 1994, 96-101. <?page no="67"?> 2. Der handelnde Mensch zwischen Empirie und Normativität 67 Abbildung 1 Klassische Methoden der Interdisziplinarität zwischen Ethik und Empirie Mitunter trennt die Nomenklatur zwar sprachlich, was aber eine partiell ähnliche Programmatik umfasst. Hier soll nun unter dem Vorzeichen der Integration für eine interdisziplinäre Kombinatorik bzw. Konvergenz (von Begriffsaspekten in Kategorien) votiert werden. Ein Dialog (1) zwischen Tatsachenwissenschaften und Theologie im weitesten Sinne setzt ein Postulat der Gegenseitigkeit voraus, wie es das Vatikanum II festgestellt hat, wenn es den säkularen Wissenschaften Kompetenz und Autonomie für die Erforschung der Wirklichkeit zugesteht. 126 Dialog meint aber nicht nur selektive unkritische Verwertung von Erkenntnissen, sondern einen Diskurs, der das materiale Einbringen der je eigenen Sichtweise voraussetzt und im Geiste kritischer Solidarität stattfindet. Den empirischen Wissenschaften kommt dabei u.a. eine Kompetenz zur Normkritik und Normfindung zu. Die weiter unten noch ausführlicher dargestellte von W. KORFF so bezeichnete Methode der Kombinatorik (2) will v.a. der vielschichtigen Konditionierung und Disponierung menschlichen Handelns Rechnung tragen, indem der Ethiker als „Schüler der Empirie“ 127 das Bedingungsfeld humanen Könnens zu verstehen sucht und dabei in die Gegenstandswahrheiten der empirisch arbeitenden Wissenschaftler inhaltlich gefüllte Leitvorstellungen einträgt und damit die (empirischen) Vorgegebenheiten überschreitet und deutet 128 . Eine Synopse humanwissenschaftlicher Erkenntnisse und anthropologischer Sinneinsichten im Sinne einer Integration (3) vor Augen, hat Theologische Ethik darüber hinaus den Versuch unternommen, aus der Polyvalenz empirischer Daten jene Erkenntnisse herauszugreifen, die von grundlegender Bedeutung für menschlichen Freiheits- und Handlungsvollzug sind. In ähnlicher Diktion, nur stärker auf den Prozess der interdisziplinären Theoriebildung fokussiert, hatte es sich die kombinatorische Methode (4) angelegen sein lassen, auf die Pluriformität menschlicher Erfahrung bzw. der Pluralität der Erfahrungsquellen zu antworten. 129 126 Vgl. GS 36 und 40. 127 Vgl. ZELINKA, Moraltheologie im interdisziplinären Dialog, 98. 128 Vgl. dazu auch DEMMER, K., Deuten und Handeln. Grundlagen und Grundfragen der Fundamentalmoral, Fribourg 1985, 136. „Empirische Daten liefern unverzichtbare Hinweise für ein Leben gemäß den eingebrachten Leitvorstellungen. Sie geben zu denken. Sie werden aufgenommen, entschlüsselt und deutend eingesetzt.“ 129 Das von B. SCHÜLLER ins Gespräch gebrachte Modell der Funktionenteilung (5) ergänzt die Argumentation nur formal, sodass an dieser Stelle auf eine Besprechung verzichtet wird. Klassische Methoden der Interdisziplinarität zwischen Ethik und Empirie 1. Dialog 2. Kombinatorik 3. Integration 4. Konvergenz 5. Funktionenteilung <?page no="68"?> IV. Methodologischer Abriss 68 Entlang dieses nun erweiterten Verständnisses von Interdisziplinarität, aus dem nicht nur eine Erweiterung organisatorischer Strukturen folgt, sondern das in seinen Folgen auch methodologisch integriert sein will, soll hier über eine bloß punktuelle Zusammenarbeit der Einzelwissenschaften hinaus für eine generelle interdisziplinäre „Kombinatorik“ 130 unterschiedlicher Einsichten plädiert werden. Nur so kann es zu einer grundsätzlichen Etablierung einer Form von Interdisziplinarität kommen, die der ihr inhärenten Ethosstruktur gerecht zu werden vermag, in dem sie in ihrer eigenen Normativität, die reflexiv und argumentativ freizulegen ist, einen fundamentalen Beitrag leistet zur Bewältigung der ausstehenden wissenschaftlichen Desiderate 131 . Das von W. KORFF 132 und G. W. HUNOLD 133 ins Gespräch gebrachte Phänomen der interdisziplinären Kombinatorik lässt sich nun in zwei Richtungen verstehen, zum einen als die Fusionierung unterschiedlicher wissenschaftlicher Einzeldisziplinen zu je neuen eigenständigen Disziplinen, quasi ein Vorgehen kombinatorischer Wissenschaft, zum anderen aber auch den Prozess kombinatorischer Theoriebildung selber, indem jenseits von Disziplinenordnung und ideologischer Engführung den materialen und empirisch zugänglichen Bedingungszusammenhängen menschlichen Handelns auf eine „universelle handlungsleitende Integrationstheorie“ 134 der Ethik hin Rechnung getragen wird: „Ihr Anspruch geht [ ... ] dahin, aus der Vielfalt dieser Einsichten jene aufzufinden und ins Zentrum der ethischen Reflexion zu rücken, denen im Hinblick auf das Gesamtsystem menschlich-sittlichen Handelns funktionale Schlüsselbedeutung zukommt und die so als empirische Ausgangspunkte für eine universelle handlungsleitende Theorie elementare, maßsetzende Relevanz besitzen.“ 135 Der Kategorie der Hoffnung kommt diese Schlüsselbedeutung zweifelsohne zu, weshalb sie hier ins Zentrum der theologisch-ethischen Reflexion gerückt und auf die ihr eigenen empirischen Ausgangspunkte befragt werden wird. Die Einsicht in die notwendige Kombinatorik von Einzelwissenschaften 136 zur Etablierung authentischer Interdisziplinarität wird aber erweitert und fortgeführt, quasi um 130 Vgl. zur Methode der Kombinatorik KORFF, W., Wege empirischer Argumentation, in: HERTZ, A. et al. (Hrsg.), Handbuch der christlichen Ethik, Bd. I, aktualisierte Neuauflage Freiburg 1993, 83-107, besonders 96ff. 131 UDO ZELINKA schreibt zu den Aufgaben des interdisziplinären Gesprächs überblicksartig: „Das interdisziplinäre Gespräch hat mehrerer Funktionen. Es dient dem Informationsaustausch, der Positionsbestimmung, der wechselseitigen Kritik und damit zugleich der umfassenden Ausleuchtung der Wirklichkeit. Beiden Dialogpartnern kommen konstruktiv-kritisierende Aufgaben zu. Die den Empiriker begleitende kritisch-solidarische Rolle der Theologie setzt dort ein, wo aus Einzelperspektiven eine Gesamtweltanschauung konstruiert wird, wo also die empirische Aufgabe einer möglichst objektiven Erfassung der Wirklichkeit überschritten wird. [...] Der Natur- oder Humanwissenschaftler muss demgegenüber eingreifen, wo (moral-) theologische Argumentation auf falschen naturwissenschaftlichen Voraussetzungen aufbaut.“ Vgl. ZELINKA, Moraltheologie im interdisziplinären Dialog, 93. 132 Vgl. KORFF, Wege empirischer Argumentation, 83-107. 133 Vgl. anhand der Kategorie der Identität HUNOLD, G.W., Identitätstheorie. Die sittliche Struktur des Individuellen im Sozialen, in: HERTZ, A. et al. (Hrsg.), Handbuch der christlichen Ethik, Bd. 1, aktualisierte Neuauflage, Freiburg im Breisgau 1993, 177-195. 134 Vgl. KORFF, Wie kann der Mensch glücken? , 66. Eine andere Formulierung spricht dort auch von einer „handlungsbezogenen Logik des Ganzen“. 135 Vgl. ebd. 66-67. 136 Vgl. ausführlich ebd. 65: „Der Wert solcher Kombinatorik liegt offensichtlich darin, dass hier der Isolierungstendenz empirischer Einzelwissenschaften durch Applikation empirischer Methoden anderer Disziplinen entgegengewirkt wird. Unterschiedliche Gegenstandbereiche und <?page no="69"?> 2. Der handelnde Mensch zwischen Empirie und Normativität 69 das „Wie“ dieser Kombinatorik konkretisiert werden müssen. Dabei kommen mehrere methodisch kontrollierte Möglichkeiten in Betracht, die hier nur erwähnt und deren systematische Entfaltung nur perspektivisch geöffnet werden kann, um anderenorts entwickelt zu werden: Auf der einen Seite ist der Versuch eines Abgleichs der entsprechenden biblischen Vorgaben mit empirischen Ergebnissen und mit den Erträgen aus philosophisch-theologischer Arbeit auf „Kategoriengemeinschaft“ 137 denkbar. Dabei werden Kategorien unterschiedlicher Provenienz kriteriologisch kontrolliert auf Deckungsgleichheit untersucht, wobei eine dezidierte moraltheologische Applikation noch aussteht. Auf der anderen Seite steht der Versuch einer „Konvergenzargumentation“ 138 auf der Basis einer Pluralität der Erfahrungsquellen zur Diskussion. Die auf J.H. NEWMAN zurückgehende und beispielsweise von J. GRÜNDEL 139 und J. DE VRIES wieder aufgegriffene Konvergenzargumentation setzt ihre Beweiskraft auf eine „Konvergenz vieler Gründe“, die aber nicht durch einzelne Gründe, sondern nur zusammengenommen entfaltet werden kann. Erreicht werden kann mit dieser Konvergenz der Gründe nur eine hypothetische, keine absolute Gewissheit, da die Möglichkeit des Gegenteils nicht notwendig ausgeschlossen werden kann. Beide methodisch kontrollierten Wege versuchen also auf der Basis einer interdisziplinären Sichtung einschlägiger (empirischer) Ergebnisse unterschiedlicher wissenschaftlicher Provenienzen Strukturanalogien zu erheben und diese in einem spezifischen kombinatorischen Geschehen für den systematischen, hier theologisch-ethischen Diskurs zu öffnen und verwertbar zu halten. Die vorliegende Arbeit will daher der Unüberschaubarkeit des Wissenschaftsfortschrittes an einer Zentralkategorie theologischen Denkens - der Hoffnung - begegnen, indem auf der Basis eines möglichst umfänglichen Zugriffs auf empirisch-psychologische bzw. psychotherapeutische Literatur ein Strukturgitter erfahrungswissenschaftlich erhebbarer Koordinaten der Hoffnung entworfen wird, das in Verbindung mit problemorientiert erhobenen Beständen traditionell biblischer Art und einigen philosophisch-theologischen Einlassungen zur Hoffnungsreflexion auf eine kombinatorische Integration hin geöffnet wird, um eine moraltheologische Systematisierung einer integralen Theorie der Hoffnung als Basiskaunterschiedliche Fragestellungen werden so gegeneinander durchlässig. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass auf diesem Wege Zusammenhänge durchschaubar gemacht werden können, die gegebenenfalls für menschliches Handeln neue Kriterien liefern, indem sie das komplexe Bedingungsgefüge sowohl naturaler als auch spezifisch menschlicher Gesetzlichkeiten in der Vielfalt ihrer tatsächlichen partiellen Überformungen und Verschränkungen aufdecken. Ihre jeweilige Grenze bleibt ihnen freilich mit dem Tatbestand gesetzt, dass auch sie sich wiederum, trotz der ihnen je eigenen fächervermittelnden Struktur, als empirische Einzelwissenschaften verstehen, die zwar eine gegebenenfalls durchaus kritisch übergreifende Funktion auszuüben vermögen, als solche aber in keiner Weise schon auf eine handlungsbezogene Logik des Ganzen zielen.“ 137 Vgl. als aktuelles Beispiel aus sozialethischer Perspektive anhand der Kategorie der Versöhnung WÜSTENDORF, R.K., Die politische Dimension der Versöhnung. Eine theologische Studie zum Umgang mit Schuld nach den Systemumbrüchen in Südafrika und Deutschland, Gütersloh 2004. 138 Vgl. FRIES, H. „Konvergenzargumentation“ (Art.), in: LThK 2 VI, Freiburg im Breisgau 1961, 517-518; OLLIG, H.-L., Konvergenzargumentation (Art.), in: HUNOLD, G.W. (Hrsg.), Lexikon der christlichen Ethik Bd. 2 - LThK kompakt, Freiburg / Basel / Wien 2003, 1001-1002. 139 Vgl. GRÜNDEL, J., Die Bedeutung der Konvergenzargumentation für die Gewissheitsbildung und für die Zustimmung zur absoluten Geltung einzelner sittlicher Normen, in: SCHEFFCZYK, L. (Hrsg.), Wahrheit und Verkündigung Bd. 2 (FS MICHAEL SCHMAUS zum 70. Geburtstag), München 1967, 1607-1630, insbesondere 1625-1630. <?page no="70"?> IV. Methodologischer Abriss 70 tegorie des Handlungssubjektes zu ermöglichen. Diese Konzeption ließe sich kohärent und konsistent fortführen durch die Entwicklung erster Bausteine einer sogenannten konsiliaren Ethik, einer Ethik der Beratung auf der Basis der Vermittlung von Hoffnung auf Sinn, die aber im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht zum Zuge kommen kann. Ohne Fragen der Letztbegründung von Ethik gänzlich ausklammern zu wollen, wie sie sich v.a. im Kontext postmoderner Subjektkritik in jüngster Zeit für eine Theologische Ethik wieder vermehrt stellen 140 und denen unter Aufnahme transzendentaler Freiheitsanalysen 141 mit einer subjektzentrierten, personorientierten und freiheitsverfassten, d.h. auch verantwortungsbewussten Konzeption Theologischer Ethik zu antworten wäre, soll in der hier anvisierten Arbeit induktiv vorgegangen werden. Die empirischen Strukturgesetzlichkeiten der Hoffnung als Antizipationsform von Zukunft - wie sie derzeit greifbar sind - sollen exemplarisch aufgenommen und für den systematisch-ethischen Diskurs im Dienste einer anthropologisch fundierten Theorie der menschlichen Hoffnung fruchtbar gemacht werden. Theologische Ethik ist dabei als eine „handlungsleitende Sinnwissenschaft im Dienste einer Metaphysik der Lebensdeutung“ 142 zu verstehen, die es sich angelegen sein lässt, die Voraussetzungen der Ermöglichung von Lebenssinn zu reflektieren. In diesen Kontext ist die hier anvisierte Arbeit einzuordnen, wenn nach den Strukturgesetzlichkeiten des Vollzugs von Hoffnung als einer Antizipationsform von Sinn gefragt wird und deren Bedeutung für eine Handlungspraxis erhellt werden soll. Soll der Anspruch der hier anvisierten kombinatorischen Theoriebildung eingelöst werden, die Bedingungs- und Strukturgesetzlichkeiten der sittlichen Vernunft menschlichen Handelns anhand der Kategorie der Hoffnung zu erhellen, so ist diesem Verfahren ideologiekritisches Potential eigen, indem Verabsolutierungstendenzen einzelner Wissenschaften 143 entgegen gewirkt wird durch methodisch kontrollierte Überwindung von Disziplingrenzen 144 im Sinne einer „anthropologischen Integrierung“ 145 auf das Ganze 140 Vgl. DEMMER, K., Moraltheologische Methodenlehre, Freiburg i. Ue. 1989. 141 Vgl. anhand eines transzendentalen Freiheitsdenkens PRÖPPER, T., Autonomie und Solidarität. Begründungsprobleme sozialethischer Verpflichtungen, in: Ders., Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg / Basel / Wien 2001, 57-71. 142 Vgl. ARNTZ, K., Melancholie und Ethik. Eine philosophisch-theologische Auseinandersetzung mit den Grenzen sittlichen Subjektseins im 20. Jahrhundert (ratio fidei 11), Regensburg 2002. 143 Schon im Vorfeld grober Grenzverletzungen vonseiten empirischer Wissenschaften durch einseitiges Ausblenden, Isolieren und verallgemeinerndes Extrapolieren von Erkenntnissen können implizite Moralvorstellungen sublim legitimiert werden, wogegen moraltheologische Forschung aufdeckend und kritisierend vorzugehen hat: „Die empirischen Wissenschaften sind bei ihrer Faktenfeststellung von den Gegebenheiten abhängig. Insofern sind sie auch von den in diesen Gegebenheiten implizierten moralischen und unmoralischen Verhältnissen abhängig. Sie stehen in der Gefahr, durch ihr positives Verfahren die Gegebenheiten zu legitimieren oder aber vorgängige Wertungen in ihren Fakten zu bestätigen.“ Vgl. MIETH, D., Moral und Erfahrung. Grundlagen einer theologisch-ethischen Hermeneutik Bd. I , Freiburg i. Ue. 4 1999, 54. 144 Vgl. KORFF, Wie kann der Mensch glücken? , 75. „Dieses als solches durchaus legitime und notwendige Vorgehen aber führt überall dort zu Ideologien, wo entweder eine einzelne empirisch gewonnene Sachverhaltseinsicht überinterpretiert und zum umfassenden Deutungsschlüssel aller sich zeigenden Strukturgesetzlichkeiten erhoben wird (Ein-Faktor-Theorien) oder aber wo die Vernunft der eruierten Sachstrukturen - ihre ethische Relevanz also - mit dem über jegliche Strukturgesetzlichkeit hinausweisenden Grund des ethischen Anspruchs selbst gleichgesetzt wird.“ 145 Vgl. AUER, A., Autonomie und christlicher Glaube, 2. Auflage mit einem Nachtrag zur Rezeption der Autonomievorstellungen in der katholisch-theologischen Ethik, Düsseldorf 1995, 48ff. <?page no="71"?> 2. Der handelnde Mensch zwischen Empirie und Normativität 71 menschlicher Handlungslogik 146 hin. Eine solcherart kombinatorisch arbeitende Theologische Ethik hat sich ihrerseits zweier Versuchungen beständig zu erwehren. Auf der einen Seite hat sie die zweifellos (im empirischen Zugriff) erkannten funktionalen Aspekte der Wirklichkeit niemals ohne ihre materialen Sinn- und Wertstrukturen zu beachten, denn gerade sie begründen ihre ethische Bedeutsamkeit. Darüber hinaus hat sie schließlich der Versuchung entgegenzutreten, diese „ethische Bedeutsamkeit der materialen Strukturen mit dem Grund und Anspruch des Ethischen selbst koinzidieren“ 147 zu lassen, das nämlich würde sie ihrer eigenen sinnbezogenen Autorität und Authentizität berauben. Denn die Frage nach einer moraltheologischen Integration humanwissenschaftlicher Erkenntnisse verweist in ihrer letzten Zielperspektive auf den Grund der Sittlichkeit überhaupt, auf den Grund jeglicher Ethik, letztlich auf das Humanum, das begründungstheoretisch nicht anders als transzendental ausgewiesen werden muss 148 . Von diesem Grund des humanen, sittlichen Selbstvollzugs als Bedingung der Möglichkeit jeglichen Handelns 149 kann die anvisierte Fragestellung nicht absehen, will sie einer zirkulären Argumentation 150 oder einem infiniten Regress entgehen. Eine diesbezüglich spezifische kombinatorische Kriteriologie wird erst noch entwickelt werden müssen. Schließlich ist dabei zu fragen, wodurch die Strukturanalogien und Deckungsgleichheiten zwischen den Fächern bzgl. der Hoffnungsthematik zustande kommen, zumal die dabei erhobenen Erkenntnisse nicht allein in einer tugendethisch angelegten Theorie der Hoffnung aufgehoben werden können, sondern auf strukturelle Dispositionen im Kontext transzendental-anthropologischer Fragen nach der Wahrheit des Menschen 151 verweisen, auf denen dann die Theologie aufbauen kann. Hoffnung ist in diesem Zusammenhang als spezifisch menschliche Dimension und als ethische Kategorie - aber mit empirischem Anhalt und Gehalt - auszuweisen. Diejenige Form der Moraltheologie, die sich solcherart auf das „Bedingungsfeld empirischer Sachverhalte“ 152 einlässt, was die Kategorie der Hoffnung betrifft, wird mit Recht als „induktivische“ Disziplin zu bezeich- und 189ff., wo er davon ausgeht, „dass es jenseits oder auf dem Grunde der humanwissenschaftlich-empirisch fassbaren Sachverhalte einen umgreifenden Sinnverhalt gibt, der die Grundwerte des Menschseins umgreift“. 146 Vgl. MIETH, Moral und Erfahrung Bd. I, 53, der als Zielperspektive „die Herstellung einer hypothetischen Integrität des Menschen durch die kritische Relation aller Teilaspekte“ vor Augen hat, womit er ein ständig kritisierbares und ergänzbares und damit eben auch hypothetisches Fließgleichgewicht der Einsichten als mögliche Basis ethischer Aussagen meint, wobei er eine Kriteriologie zur kontrollierten Herstellung dieser Integrität nach wie vor vermissen lässt. 147 Vgl. KORFF, Wie kann der Mensch glücken? , 77. 148 Vgl. ebd. 78, der diese Linie dezidiert theologisch weiterführend zusammenfasst: „Glaubensgeleitete Vernunft bleibt zur Einbringung der materialen Fülle des Humanen auf den Dienst der Humanwissenschaften verwiesen. Wie aber sollten umgekehrt die Humanwissenschaften diese materiale Fülle als Weggestalt des Humanen vor dem Forum der humanen Vernunft auf die Dauer offen halten, wenn nicht die Theologie zugleich die vom Menschen selbst uneinholbare Zielgestalt des Humanen vor Gott offen hält.“ 149 Vgl. dazu auch PRÖPPER, T., Autonomie und Solidarität. Begründungsprobleme sozialethischer Verpflichtungen, in: Ders., Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg / Basel / Wien 2001, 57-71. 150 Vgl. dazu die Argumentation weiter oben im Text. 151 Vgl. HUNOLD, G.W., Wege transzendental-anthropologischer Argumentation, in: HERTZ, A. / KORFF, W. / RENDTORFF, T. / RINGELING, H. (Hrsg.), Handbuch der christlichen Ethik, 3 Bde. Freiburg 1978-1982, aktualisierte Neuauflage 1993, 46-67. 152 Vgl. KORFF, Empirie, theologisch-ethisch, 373. <?page no="72"?> IV. Methodologischer Abriss 72 nen sein, wobei damit in das Selbstverständnis der Ethik selber vorgestoßen wird, sodass es um nichts Geringeres als um einen „neuen Typus von Ethik“ 153 geht. Damit sind neue Impulse für das (inter-) disziplinäre Selbstverständnis Theologischer Ethik als Moraltheologie gewonnen, die auf den verschiedensten Feldern ethischer Forschung fruchtbar gemacht werden können. 154 3. Hermeneutische Prämissen Die Hoffnungskategorie wird in den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Diskursen durchweg als zentral hervorgehoben und regelrecht beschworen, aber als höchst flüchtige Größe in ihren Konstitutionsbedingungen nur marginal bedacht. Genau in diese Leerstelle stoßen die Arbeiten der vorliegenden Studie, die vertieft und weitergeführt zu werden verdienen, indem systematisch diejenigen Hoffnungsstrukturen aufgedeckt werden, die sich im Hinblick auf das Handlungssubjekt und im interdisziplinären Kontext philosophisch-theologischer Erwägungen und psychologisch-psychotherapeutisch-humanwissenschaftlicher Erkenntnisse eruieren lassen. Es soll dabei nicht vordergründig um eine neue Theologie der Hoffnung gehen, im Sinne einer dogmatischen Erörterung, sondern um Strukturen humaner Hoffnungskonstitution im Nahraum menschlichen Selbstumgangs bzw. menschlicher Handlungsorganisation, wobei ein dezidiert systematisch-interdisziplinärer Fokus eingenommen werden soll, was als Desiderat der aktuellen moraltheologischen Forschungslandschaft betrachtet werden kann. Entlang der vorliegenden Perspektivierung ist nun zu fragen, worauf die Kategorie der Hoffnung handlungspraktisch „Antwort“ zu geben versucht, was mithin die eigentliche „Frage“ ist, auf die hin sie verstehbar gemacht werden kann. Soll Hoffnung also strukturell und handlungspraktisch im Zuge eines interdisziplinären Gesprächs verstehend angeeignet werden, ist daher diejenige „Frage“ im hermeneutischen Prozess zu rekonstruieren, in deren Gegenüber sie als „Antwort“ Geltung beansprucht. 155 Die entscheidende hermeneutische Frage lautet daher im vorliegenden Zusammenhang schlicht: Worauf „antwortet“ eine Ethik der Hoffnung im Prinzip und im Detail? Insbesondere, wenn sie integrativ im Gespräch mit den Humanwissenschaften gewonnen und sowohl handlungstheoretisch wie handlungspraktisch fokussiert ist. Wenn darüber hinaus Her- 153 Vgl. KORFF, Wie kann der Mensch glücken? , 66. 154 Insbesondere ist an die anthropologische Fundierung (moral-) theologischer Begrifflichkeiten zu denken. Hier herrscht nach wie vor eklatanter Mangel an fundierten Versuchen. 155 Vgl. GADAMER, H.-G., Wahrheit und Methode, Tübingen 1965, 352. „Wer verstehen will, muss also fragend hinter das Gesagte zurückgehen. Er muss es als Antwort von einer Frage her verstehen, auf die es Antwort ist. […] In Wahrheit kann man einen Text nur verstehen, wenn man die Frage verstanden hat, auf die er eine Antwort ist.“ Wiewohl GADAMER hier vom Verstehen von Texten spricht, kann die Methode sehr probat auf den vorliegenden Kontext übertragen werden, wenn vom „Text“ menschlicher Handlungswirklichkeit ausgegangen wird, den es zu entziffern gilt. Eine für die aktuelle Fragestellung entscheidende Differenzierung formuliert GADAMER gegen R.G. COLLINGWOOD, an den er eigentlich in seiner philosophischen Hermeneutik anknüpft, wenn er zwischen der „Frage, auf die der Text eine Antwort sein sollte“ und der „Frage, auf die er eine Antwort ist“ unterscheidet. Auch hier findet sich mithin die Unterscheidung von Faktizität und Normativität wieder, nachgerade im Verstehensprozess selber, was für die hermeneutische Entzifferung von Hoffnungsstrukturen von großer Bedeutung ist, da sich die Spannung der beiden Pole in der Kategorie selbst abgebildet wiederfinden lässt, wie zu zeigen war. <?page no="73"?> 3. Hermeneutische Prämissen 73 meneutik gemäß ihrem systematischen Selbstverständnis als „zirkuläres Sinn- Verstehen“ 156 betrachtet wird, dann wird ihr daran gelegen sein, die „hermeneutische Differenz der Horizonte“ von verstehendem Subjekt und zu verstehendem Objekt sinnerschließend zu überbrücken, wobei der Verstehensvollzug im vorliegenden Fall der Hoffnung eine besondere Brisanz enthält, und zwar nicht allein, weil auch hier immer schon anwesende Vorverständnisse quasi antizipiert werden müssen, sondern insbesondere, weil das zu erschließende Objekt, die Hoffnungskategorie in ihren handlungspraktischen Strukturen, selbst ein Horizontbegriff ist, seinerseits dem menschlichen Handeln allererst einen Deutungsrahmen zur Verfügung stellt, der die entscheidenden semantischen Kategorien zur Interpretation, Transzendierung und motivierten Transformation von Wirklichkeit je neu bereit hält. Damit wird ein neuer hermeneutischer Zirkel eröffnet, der nach dem „Rahmen des Rahmens“ zu fragen hat. Dieser Zirkel ist nicht auflösbar, insbesondere wenn der Kontext, in dem Hoffnung im Rahmen (moral-) theologischer Spekulationen verhandelt wird, maximal ausgedehnt wird und nach Grund und Sinn von berechtigter Hoffnung für das ganze menschliche Leben, das ganze Menschengeschlecht und der Welt insgesamt gefragt wird. Hier kommt der klassische hermeneutische Verstehens-Zirkel an seine Grenze und die Angewiesenheit auf andere Verstehenshilfen zeigt sich, die dann offenbarungstheologisch, essentialistisch, (fundamental-) anthropologisch, phänomenologisch oder gar vernunftkritisch, konstruktivistisch oder anderswie angelegt sein können. Ausgehend von dieser fundamentalhermeneutischen Ausrichtung können folgende übergreifende hermeneutische Ziele festgehalten werden: 1. Eine zentrale theologische Kategorie soll wieder der Handlungsrelevanz zurückgeben werden, der sie (etwa ausgehend von Gebet und Spiritualität) entstammt und auf die hin sie auch ausgelegt werden will - ohne sie allerdings gänzlich von diesen Kontexten her verstehen zu wollen. 2. Ausgehend von einer handlungspraktisch entfalteten Hoffnungstheorie sollen moraltheologische Aspekte zum Verständnis von Handlungsmotivation entwickelt werden, wiewohl diese von den immer wieder damit vermengten Geltungsfragen zu trennen sind. 3. Eine zentrale theologische Kategorie soll aus ihrer vermeintlichen Zeitbedingtheit aktualisiert und in ihrer sinnerschließenden und vitalisierenden Potenz entgegen dem Relevanzzweifel gegenüber dem Christentum als Notwendigkeit menschlichen Handlungsvollzugs erschlossen werden. 4. Eine theologische Tugend soll aus dem buchstäblich spekulativen Himmel wieder interdisziplinär identifiziert und anthropologisch fundiert dem Nahbereich des menschlichen Selbstumgangs zurückgegeben und als zentrale ethische Kategorie rehabilitiert werden. Zielt nicht in diesem Sinne Hoffnung letztlich auf den nach sich selbst fragenden Menschen, der nach sinnvollen und rational einsichtigen Handlungszielen fragt, nach letzten Lebenszielen und deren Vernunft, nach seiner Bestimmung und Erfüllung und den Wegen dorthin, nach seinem Ort in der Welt (vor Gott) und nach Bewältigung von Tragik, Scheitern und Schuld? Und will er sein Leben nicht sinnvoll und handlungsfähig erleben, wiewohl er den Tod vor Augen hat? Auch hier zeigt sich erneut die hermeneutische 156 Vgl. WUCHTERL, K., Methoden der Gegenwartsphilosophie. Rationalitätskonzepte im Widerstreit, Bern / Stuttgart / Wien 3 1999, 157ff. <?page no="74"?> IV. Methodologischer Abriss 74 Angewiesenheit einer Ethik der Hoffnung auf philosophische und theologische Anthropologie. Das vorrangige Vorgehen kann im Allgemeinen strukturell bezeichnet werden, näherhin strukturanthropologisch 157 , oder auch strukturtheologisch bzw. fundamentalanthropologisch, je nach Entdeckungszusammenhang und korrespondierender Ursprungshermeneutik, wobei der gemeinsame Kern die Suche nach denjenigen strukturellen Voraussetzungen darstellt, die Hoffnung handlungswirksam werden lassen. In der Nomenklatur von ROMBACH gesprochen handelt es sich also weder um ein substanzanthropologisches, noch um ein systemanthropologisches Vorgehen, sondern um ein dezidiert strukturanthropologisches. Anders gesagt heißt das, dass der hier vertretene systematische Ansatz zur Erhellung von Hoffnungsstrukturen weder einseitig essentialistisch, noch einseitig positivistisch 158 oder konstruktivistisch, systemtheoretisch oder prozessorientiert argumentiert, sondern eine strukturale und handlungstheoretische, genauso wie eine handlungspraktische Perspektive einzunehmen versucht, die aber partiell durchaus Anleihen bei anderen Erschließungsperspektiven nehmen kann, wo es dem Verständnis des strukturalen Paradigmas dient, das seinerseits mitunter den Eindruck eines freischwebenden Verständnisses vom Erkenntnisgegenstand hervorrufen kann, weswegen vielfältige theoretische Anbindungen vonnöten sind. 157 Vgl. ROMBACH, H., Strukturanthropologie. ‚Der menschliche Mensch‘, Freiburg im Breisgau 1987 und als Ausgangspunkt ROMBACH, H., Strukturontologie. Eine Phänomenologie der Freiheit, Freiburg im Breisgau, 1971. Ebenso ROMBACH, H. (Hrsg.), Die Frage nach dem Menschen. Aufriss einer philosophischen Anthropologie (FS für MAX MÜLLER zum 60. Geburtstag), Freiburg im Breisgau / München 1966. ROMBACH, H., Die Welt als lebendige Struktur. Probleme und Lösungen der Strukturontologie, Freiburg im Breisgau 2003. Kennzeichnend für ein strukturanthropologisches Vorgehen ist nun, dass es „um eine philosophische Anthropologie im Aspekt der Zukunft geht. Keine Beschreibung des vorhandenen Menschen, sondern eine Skizze zukünftiger Möglichkeiten des Menschen und ein Versuch, ihn auf Entwicklungen hin, die sich aus der bisherigen Geschichte vorzeichnen lassen, zu entwerfen.“ (vgl. ebd. 11). Für ihn weisen alle „großen Entwürfe der philosophischen Tradition“ (vgl. ebd. 13) in die Zukunft und der Mensch ist dabei allererst im Werden begriffen. „Der Mensch lebt nicht vor sich hin, so wie es sich gerade gibt, sondern er lebt aufgerichtet, hinausblickend in eine Welt voller Aufgaben und sich zurückgründend in einen Bedingungssaufbau von Voraussetzungen und Möglichkeiten, d.h. im Lichte eines Wesensentwurfes, sei ihm dieser bewusst oder nicht. Er empfindet seine Handlungen nur dann als menschlich, wenn sie diesen impliziten oder expliziten Wesensentwurf zum Ausdruck bringen. […] Er sieht sich im Lichte eines Gesamtentwurfes des Menschseins, der das Grundwissen des Menschen über sich und die Wirklichkeit enthält und die Orientierung im Kosmos ermöglicht.“ (vgl. ebd. 17). Wiewohl die Verbindung zur Hoffnungsthematik an dieser Stelle offenkundig ist, schließlich ist der Blick auf mögliche Wesensentwürfe ein hoffnungsgeleiteter Blick und ROMBACH entsprechend der hier vertretenen These damit zentral den Sinnbegriff verknüpft, soll gegen ROMBACH die Auffassung vertreten werden, dass das eine nicht ohne das andere geht, der gegenwärtige nicht ohne den zukünftigen Menschen und der mögliche und notwendig zukünftige nicht ohne den gegenwärtigen Menschen verstanden werden kann. Gerade die polare Spannung der beiden Aspekte einer jeden substantiellen Anthropologie gilt es im Blick zu behalten, da sie sich schließlich auch in den basalen Kategorien menschlichen Selbstverständnisses wiederfinden lässt - so auch in der Hoffnung. 158 Damit ist sowohl eine positivistisch-fideistische Glaubenshermeneutik ausgeschlossen, die für die Sache des Glaubens mangels ausreichender Klärung vernunfttheoretischer Voraussetzungen zum stumpfen Schwert, wenn nicht zur Donquichotterie wird, genauso wie ein kruder Vernunftmonismus, der unter Überschätzung der eigenen Möglichkeiten und Unterschätzung naturaler Vorgaben der Ambivalenz kaum zu entrinnen vermag. <?page no="75"?> 3. Hermeneutische Prämissen 75 Methodisch setzt das eine möglichst verlustfreie Erhebung der im Durchgang durch das pars pro toto ausgewählte Material systematisch erhobenen Strukturen des Erkenntnisobjekts voraus. Möglichst verlustfrei heißt im Bezug auf die interdisziplinär anvisierte Dimensionalität des Erkenntnisgegenstandes. Daran schließt sich eine Reformulierung auf eine integrative Theorie hin an. Methodisch geht es also immer zugleich um eine strukturelle Explizierung des Impliziten und eine Integration des solcherart Explizierten. Ein solches Vorgehen hat nun mindestens eine entscheidende Voraussetzung - ein Integrationsmodell für interdisziplinäres Arbeiten, das zunächst induktiv angelegt sein muss. Dass die Formulierung eines solchen Modells zu den Desideraten moraltheologischer Forschung zählt, wurde bereits erwähnt. Im Folgenden sollen einige notwendige Aspekte eines tragfähigen und gleichermaßen effizienten wie präzisen Modells vorgestellt werden. Neben den grundlegenden Komponenten der Strukturgitter, die innerhalb eines kategorialen Koordinatensystems verortet sind, kann - quasi orthogonal dazu - das Modell Zwiebelschale zur Differenzierung unterschiedlicher Beschreibungsebenen des Erkenntnisobjekts hilfreich sein. Oder anders gesagt, das Koordinatensystem kann und muss unterschiedlich skaliert werden, um unterschiedliche Komplexitätsgrade in den Blick nehmen zu können und die Strukturgitter müssen dabei ihrer Skalierung entsprechend eingeführt werden. Konkret gesprochen könnte das für die Hoffnungskategorie heißen, dass unterschiedliche Komplexitätsebenen benannt werden: Von den Hochformen der Hoffnung, die transzendental bestimmt werden müssen, weil sie aufgrund ihrer Ubiquität anders dimensional lokalisiert werden müssen, bis hin zu konkreteren und einfacheren Formen und Aspekten der einen Hoffnung, die noch nicht die ganze Hoffnung abbilden können, aber doch auch zum komplexen Begriff der Hoffnung gezählt werden müssen. Gerade zur Integration empirischer Einsichten in basale Handlungskategorien ist eine solche Vorgehensweise unverzichtbar, da empirische Forschung in der Regel immer kleinteilig und stark aspektiert vonstatten geht und dennoch nicht als marginal gemessen an der Basalität der eigentlichen Begrifflichkeit verhandelt werden darf. In der Sprache praktischer Theologie wird bei der Entwicklung einer Ethik und Moraltheologie der Hoffnung auch der Theorie-Praxis-Zirkel auf den Plan gerufen und zwar nicht allein, weil im Rahmen ethischer Theorie auf den handelnden Menschen reflektiert wird, der immer zugleich theoretisches und praktisches Wesen ist, sondern weil sie Theorie über Praxis und mindestens partiell auch aus und für Praxis sein will, wobei Praxis hier mit HERBERT HASLINGER als sinnorientierte Handlungspraxis 159 verstanden werden soll. Zudem sind alle ihre Kategorien innerhalb dieses Zirkels und nicht außerhalb verortet. Der Erkenntnis-Weg führt dabei in aller Regel vom (praktischen und theoretischen) Entdeckungszusammenhang zum (theoretischen) Begründungszusammenhang und wieder zurück zum praktischen Handlungszusammenhang. Ziel der Arbeit ist dabei die Explizierung der immer noch weitgehend impliziten, aber ubiquitären Hoffnungsstruktur menschlicher Handlungswirklichkeit - weit über theistische Kontexte im engeren Sinne hinaus und dennoch mitten in diese hinein. 159 „Praxis ist der vielschichtige Komplex der mit subjektivem Sinn unterlegten Gestaltung von Wirklichkeit, die jeweils von konkreten Menschen (Subjekten) ausgeht bzw. in der Menschen mit einem widerfahrenden Einwirken umgehen, so dass sich im Verhältnis zwischen Subjekt und anderer Wirklichkeit eine Veränderung vollzieht.“ Vgl. HASLINGER, H., Die wissenschaftstheoretische Frage nach der Praxis, in: Ders. et al. (Hrsg.), Handbuch Praktische Theologie Bd. I., Mainz 1999, 102-121, hier 120. <?page no="76"?> IV. Methodologischer Abriss 76 Eine der zentralen Voraussetzungen zum Verständnis menschlicher Handlungswirklichkeit und den sie bestimmenden Parametern, zu denen hier auch die Hoffnung gezählt werden soll, die aber gerne übersehen werden, da sie gleich einer Folie im Hintergrund menschlicher Handlungsfähigkeit oder Handlungsunfähigkeit wirken, ist ferner die Polarität einer Hermeneutik der Zuversicht respektive einer Hermeneutik des Verdachts - und ihrer jeweiligen Quellen. Wiewohl mit HANS JONAS ganz im Sinne der hier vertretenen These noch festgehalten werden kann: „Hoffnung ist eine Bedingung jeden Handelns“ 160 , so scheint er dem sogleich wieder zu widersprechen, wenn er eine „nichtutopische Ethik der Verantwortung“ 161 fordert. Wenn es sie denn überhaupt geben kann, so vermag sie nur eine defensive Ethik zu begründen, eine protektive, im besten Sinne konservative Ethik, die zu bewahren versucht, was als wertvoll und bewahrenswert erkannt und erachtet wird, im schlechtesten Sinne aber ist sie nicht imstande, eine offensive Ethik ausreichend zu begründen, zu motivieren und inhaltlich zu orientieren. Darüber hinaus vermag sie keine Gestaltungsverantwortung freizusetzen, die kreativ und weit über eine enge Gehorsamsverantwortung hinaus das menschenmöglich Gute vor Augen hat, für dessen Realisierung mitunter in ein offenes Feld hineingehandelt werden muss. Eine einseitig favorisierte „Heuristik der Furcht“ 162 , wie sie JONAS wohl im Angesicht des wissenschaftlich-technischen Gefährdungspotentials in der zweiten Hälfte des 20. Jh. noch formulieren konnte, die es auch geben muss und geben darf, um Vorsicht, Rücksicht und Umsicht im Handeln walten zu lassen, die aber gut christlich als alleiniger Bestimmungsgrund des Handelns nicht legitimiert werden kann, muss daher gerade zur Bewältigung von menschlicher Selbstgefährdung durch eine begründete „Hermeneutik der Zuversicht“ ersetzt werden - freilich ohne dabei die Abgründigkeit der Welterfahrung zu verleugnen, sondern unter deren Aufnahme. Es ist schließlich eine der großen (handlungstheoretischen) Leistungen begründeter Hoffnung, die Wirklichkeit auch in ihren Absurditäten, ihrer Tragik und ihrer Kontingenz für den Menschen aufzunehmen, sie nicht zu verleugnen und dennoch einen motivationalen Sinnüberschuss zu ihrer Gestaltung für möglich zu halten und bereitzustellen. Nur auf diese Weise, so die Begründung, wird eine immunisierende Beschneidung menschlicher Wirklichkeitsbereiche ausgeschlossen und zugleich das Potential zu ihrer humanisierenden Transformation eröffnet, wofür allererst eine begründete Sinnaussicht, letztlich eine Hoffnung, die Ressourcen bereit zu stellen vermag. Methodisch ist es deshalb zur Einlösung des vorgestellten Forschungsprogramms notwendig, die systematischen Verbindungen zwischen ethischer und psychologischpsychotherapeutischer Fragestellung ausfindig und für die Theologische Ethik fruchtbar zu machen. Dabei geht es u. a. darum, die Therapeutika der Ethik und die Ethika der Psychologie bzw. Psychotherapie im Medium der Hoffnung, verstanden als Modus der Antizipation von Sinn, ausfindig zu machen und auf ihre gemeinsame Sinnmitte hin auszulegen: das um eine sinnvolle Gestalt und Gestaltung seiner Existenz bemühte Handlungssubjekt. Nur so kann eine Anschlussfähigkeit in beide Richtungen ermöglicht werden. Die sich in diesem Zusammenhang stellenden theoretischen und praktischen Fragen sollen gerade in ihrer wechselseitigen und aufeinander bezogenen Verortung identifiziert werden, auf die schon erwähnte gemeinsame Zielgestalt aus der Perspektive 160 Vgl. JONAS, H., Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt am Main 3 1993, 391. 161 Vgl. ebd. 390. 162 Vgl. ebd. 392. <?page no="77"?> 3. Hermeneutische Prämissen 77 einer Theologischen Ethik systematisiert und von dort aus dem Versuch einer Beantwortung zugeführt werden, der nicht nur dem aktuellen Kenntnisstand und dem Reflexionsniveau der jeweiligen Disziplinen entspricht, sondern auch die gewonnenen Erkenntnisse wieder rücktransferiert in ihre jeweiligen Ursprungshermeneutiken, um auch auf dieser Ebene als Ertrag sichtbar zu werden. So existiert nicht nur eine Fülle von Material aus mehreren Disziplinen, das in seinen jeweiligen Sprachspielen allererst identifiziert werden muss, sondern es existieren auch eine Fülle von Systematisierungsleistungen auf die anvisierte Integration hin, die freizulegen sind. Formal ist dabei eine Wissenschaftskonvergenz unterschiedlicher Systemansätze zu leisten, die mit ersten Ergebnissen bereits erkennbar ist und an deren Ende eine Strukturanthropologie (der handlungspraktisch gewendeten Hoffnungskategorie) jenseits der Fachgrenzen erkennbar werden soll. Dabei wird zwar eine Konvergenz der jeweiligen Fächer angestrebt, deren Ergebnisse aber auch die Autonomie der Disziplinen selbst deutlich stärken und diesbezüglich Neuerungen bereit halten. Die fächerspezifischen Methoden können im Zuge dieser Vorgehensweise selbstredend nicht einfach eins zu eins übernommen werden, da diese Arbeit eine Zielsetzung verfolgt, die eben gerade nicht fächerspezifisch ist, zumindest die Fachgrenzen deutlich auf eine spezifische Form der Interdisziplinarität hin übersteigt. Das ist deshalb notwendig, weil nur so eine Konvergenz der Kategorien, eine systematische „Verflüssigung“ von Begriffen über die Fachgrenzen hinweg und auf eine Integration hin ermöglicht werden kann, die den eigentlich innovativen Wert darstellt, den diese Arbeit verwirklichen will, damit die Vollbzw. zumindest die Vieldimensionalität der Hoffnung (wieder) neu erfasst und als Vollzugswirklichkeit des handelnden Menschen wieder zugänglich werden kann im Dienste des Menschen und seiner eigenen Humanisierung. Aus der Perspektive der Humanwissenschaften, insbesondere Psychologie und Psychotherapie, geht es mithin um von diesen Disziplinen bereitgestellte Hoffnungsstrukturen im weitesten Sinne und - unter den Prämissen der angestrebten integrativen Hoffnungsgestalt - um die systematische Freilegung der darin zum Ausdruck kommenden Ethik selbst. Im besten Falle wirft diese Vorgehensweise auch Erkenntnisse ab für eine bislang noch kaum erkennbare Ethik der Psychotherapie, konkreter einer psychologischpsychotherapeutischen Metatheorie der Veränderung menschlichen Erlebens, Verhaltens und Handelns, die selbstredend in die Mitte der Ethik selber hineinführt. Aus der Perspektive der Theologischen Ethik resp. der Philosophie wird es darum gehen, die lebensdienlichen, die schützenden, kräftigenden, heilsamen, letztlich die therapeutischen Strukturen ihrer eigenen Vorstellungen zur Lebensführung und Handlungsgestaltung anhand der Hoffnungskategorie freizulegen. Im besten Falle wirft diese Vorgehensweise dann auch Erkenntnisse ab für die genuin therapeutischen, d.h. den die seelische Gesundheit und die damit verbundene selbstsorgerische Fähigkeit zu sinnorientierter Lebensgestaltung erhaltenden und diese wieder herstellenden Qualitäten dezidiert theologischethischen Denkens und Tuns und dem jeweils korrespondierenden Selbstverständnis. Vor Augen steht dann eine an sittlicher Handlungskompetenz (Ethik), sinnvoller Lebensführung (systematische Brücke) und heilsam-effektiver psychotherapeutischer Tätigkeit und Einsicht (Psychotherapie) zugleich orientierte Gestalt (christlichen) Hoffnungsvollzugs und die diesen tragenden anthropologischen Strukturen - auf der Höhe des aktuellen Reflexionsniveaus und im Dienste des um sich selbst ringenden Menschen. Mit anderen Worten: Es wird die Aufgabe sein, die theoretischen Voraussetzungen zu schaffen für eine konsistente Ethik der Hoffnung, die sich auf der einen Seite von der Phänomenologie und Empirie Vorgaben machen lässt und zugleich auf der anderen Seite <?page no="78"?> IV. Methodologischer Abriss 78 von den umfassend kategorial und begrifflich aufgenommenen und korrigierten Fragen systematischer Theologie kommend wieder dergestalt auf die Ebene der Handlungswirklichkeit zurückkehrt, dass zentrale Strukturen einer handlungspraktisch gewendeten Ethik der Hoffnung sich von beiden Forschungskompetenzen bzw. Wirklichkeitszugängen erarbeiten lassen. Wenn die hier vorgetragene These Gültigkeit beanspruchen kann, dann müsste schließlich zu zeigen sein, dass die einschlägigen empirischen Erkenntnisse aus dem Bereich der naturalen Grundlagen der Hoffnung etwas zum Verständnis auch der Ethik der Hoffnung beitragen, basierend auf einer Konvergenz der Kategorien - und umgekehrt: Je mehr wir diesbezüglich integrativ in Erfahrung bringen können, umso offensichtlicher müsste die hier grundgelegte Hoffnungsstruktur auch empirisch in ihren naturalen Beständen und Grundlagen in Erscheinung treten. Letztlich wird dabei die Kategorie des Sinns als Konvergenzformel der Interdisziplinarität in Erscheinung treten, quasi als systematische Brücke, als Scharnier der Disziplinen, um die jeweils relevanten Bestände für die anvisierte Hoffnungstheorie anschlussfähig zu machen. Die erwähnte Ethik der Hoffnung auch nur in wenigen Zügen anzudeuten, setzt eine mindestens doppelte Integrationsleistung voraus: Zum einen die Integration von Hoffnungsstrukturen aus dem Bereich der naturalen Vorgaben und zum anderen die Integration aus dem Bereich des christlichen Kerygmas und den darin zum Ausdruck kommenden Erfahrungen, Vorstellungen und Einsichten - gemäß dem scholastischen Grundsatz: gratia praesupponit naturam 163 . Wie die Gnade die Natur voraussetzt und schließlich vollendet, so setzt die christliche eine geschöpfliche, naturale Hoffnung voraus. So wie die Gnade einen Träger regelrecht voraussetzt (praesupponit), einen Beziehungspunkt, an dem sie sich allererst ereignen kann, so eine gnadengewirkte Hoffnung ein natürliches Hoffnungspotential. Nur unter der anvisierten theologisch-ethischen Integration der thematischen Perspektiven werden somit alle Sachbereiche der Hoffnung beachtet: Verankert mit einer tragfähigen philosophischen Anthropologie, etwa einer freiheitsbasierten Subjektphilosophie 164 , die zu zeigen vermag, wer es eigentlich ist, der hofft; unter Integration der aktuellen humanwissenschaftlichen Erkenntnisse aus Psychologie, Psychotherapie und Medizin, die den konkreten Selbstumgang des Menschen im Nahbereich der Selbstthematisierung zum Gegenstand haben und zeigen können, wie der Mensch hofft; und unter systematischer Anbindung an die entsprechenden Themen des christlichen Hoffnungskerygmas, um einen Begriff davon zu entwickeln, was Hoffnung sub conditione dei im Letzten und grundsätzlich will, beziehungsweise welche Hoffnung uns von Gott her in Jesus Christus eröffnet ist, worauf also letzte Hoffnung zielt. Eine solche Hermeneutik hat allerdings epistemologische Voraussetzungen, die es freizulegen gilt. 163 Vgl. RATZINGER, J. [P.P. BENEDIKT XVI.], Gratia praesupponit naturam. Erwägungen über Sinn und Grenze eines scholastischen Axioms, in: Ders. / FRIES, H. (Hrsg.), Einsicht und Glaube, Freiburg im Breisgau 1962, 135-149. Ebenso: „Das Übernatürliche, die große Verheißung, schiebt die Natur nicht beiseite, ganz im Gegenteil: Es ruft den vollen Einsatz all unserer Kräfte für die vollständige Öffnung unseres Seins hervor, für die Entfaltung all seiner Möglichkeiten. Anders gesagt: Die große Verheißung des Glaubens zerstört unser Tun nicht und macht es nicht überflüssig, sondern gibt ihm erst seine rechte Gestalt, seinen Ort und seine Freiheit.“ Vgl. RATZINGER, J. [P.P. BENEDIKT XVI], Auf Christus schauen. Einübung in Glaube, Hoffnung, Liebe, Freiburg im Breisgau 2006, 76. 164 Vgl. etwa PRÖPPER, T., Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg im Breisgau 2001. <?page no="79"?> 4. Zur Epistemologie der Hoffnung 79 4. Zur Epistemologie der Hoffnung Gegen eine Relativierung moraltheologischer Rationalität durch postmoderne Subjektkritik 165 , Metaphysikkritik oder sogenannte detranszendentalisierte Vernunftkonzeptionen 166 sollen nun im Rahmen der hier vorgestellten Arbeit am Beispiel der Hoffnung Bausteine einer rationalen Gestalt dieser Kategorie ausgewiesen werden, indem der Weg von einer Hoffnung als visionärer Gestalt zur Hoffnung als rationaler Kraft nachgezeichnet wird. Der Raum der Zukunft ist dabei als vorrangiger zeitlicher Ort der Hoffnung nur insofern mittel- und langfristig nicht handlungslähmend, führt nur dann nicht zu „sittlicher Hemmung“ 167 , zu kognitiven, emotionalen und verhaltensmäßigen Verwerfungen, wenn sie als eine positive antizipiert wird. Kurzfristig sind Attribuierungen von krisenhaften Ereignissen bspw. als Herausforderungen denkbar, sie müssen aber ergänzt werden um eine als sinnvoll vorweggenommene positive Gestalt des zukünftigen Lebens, um nicht pathogen oder nekrophil zu wirken. Denn der Mensch kann als homo anticipiens auch das Scheitern vorwegnehmen, kann auch den individuellen und kollektiven Tod vorwegnehmen, worauf in der Lebensführung geantwortet werden muss, soll nicht langfristig Handlungsfähigkeit verloren bzw. eine fatalistische, selbstverschließende Lebenseinstellung heraufbeschworen werden. Auch diese Negativ-Folie der Hoffnung, in der Dialektik von Hoffnung und Hoffnungslosigkeit zu fassen, soll in seinen möglichen Konsequenzen ansatzweise bedacht und konstruktiv in die Argumentation integriert werden. Dass das interdisziplinäre Gespräch mit den Humanwissenschaften insbesondere darauf zielt, das Bedingungsfeld des handlungsbezogenen „Könnens“ abzustecken, dürfte an dieser Stelle schon offensichtlich gewordens ein. Sittliche Normen, das Feld des „Sollens“ dagegen, können daraus nicht abgeleitet werden. Mit anderen Worten: Es wird entscheidend sein, die methodologischen Voraussetzungen und die methodischen Kriterien zur Bearbeitung der anstehenden Integration und Systematisierung so zu entwerfen, dass jeglicher Anschein eines ethischen Fehlschlusses vom (empirisch greifbaren) Sein zum (normativen) Sollen von vornherein ausgeschlossen wird. 168 Die humanwissenschaftlichen Erkenntnisse zur Kategorie der Hoffnung sind so in das theologisch-ethische Gespräch zu dieser Kategorie zu bringen, dass sie ihrerseits und als integrale Theorie nicht normativ zu werden drohen. Zusammenfassend kann daher konstatiert werden, dass auf der einen Seite Fragen nach einer transzendentalen Fundierung des Humanum als Grund jeglichen ethischen Sollens zwar unabweisbar und unaufgebbar bleiben, auf der anderen Seite aber der Aufklärungsstand der für die kombinatorischen Theoriebildungen relevanten empirischen Einsichten nicht mehr verlassen werden kann. Der 165 Vgl. als konstruktive Antwort vonseiten theologischer Ethik auf die neuzeitliche Relativierung und Fragmentarisierung des Subjekts ARNTZ, K., Melancholie und Ethik. Eine philosophischtheologische Auseinandersetzung mit den Grenzen sittlichen Subjektseins im 20. Jahrhundert (ratio fidei 11), Regensburg 2002. 166 Vgl. HABERMAS, J., Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft, Stuttgart 2001. 167 Vgl. STEGMAIER, W., Ethik als Hemmung und Befreiung, in: ENDREß, M. (Hrsg.), Zur Grundlegung einer integrativen Ethik, Frankfurt a.M. 1995, 19-39. Ebenso KRÄMER, H., Philosophische Anthropologie, Hemmungskategorie, Moralerklärung, in: ENDREß, M. / ROUG- HLEY, N. (Hrsg.), Anthropologie und Moral. Philosophische und soziologische Perspektiven, Würzburg 2000, 151-165. 168 Vgl. zu den möglichen Fehlschlüssen MIETH, D., Was wollen wir können? Ethik im Zeitalter der Biotechnik, Freiburg / Basel / Wien 2002, 94-112. <?page no="80"?> IV. Methodologischer Abriss 80 Mensch ist als theoretisches und zugleich praktisches Wesen in seiner sittlichen Vernunft immer schon von empirischen Bedingungszusammenhängen bestimmt, was wissenschaftstheoretisch gewendet bedeutet, dass ein Verweisungszusammenhang, eine Korrespondenz und eine Äquivalenz zwischen empirischen Arbeiten bzw. dem empirischen Paradigma nahestehenden, damit kompatiblen Arbeiten und der theologisch-philosophischen Systematisierung und Integration auf eine „Logik des Ganzen“ humaner Sittlichkeit hin bzgl. der hier verhandelten Kategorie der Hoffnung existiert. Die Ergebnisse solcher Integration haben wie besehen Konsequenzen bis in das Selbstverständnis der Theologischen Ethik hinein, weshalb abschließend gelten soll: „Der künftige Weg der Ethik, der sich auch eine theologische Ethik nicht verschließen kann, ist von daher markiert als Weg zu einer umfassenden ethischen Theorie, die sich in all ihren Schritten von dem belehren lässt, was sich als empirische durchschaubare Wahrheit über die Wirklichkeit des Menschen dem wachsenden Zugriff des Menschen erschließt.“ 169 Hoffnung ist, was ihren klärungsbedürftigen epistemischen Status betrifft, als vernunftgemäße (moralisch qualifizierte und kontrollierte) Vollzugswirklichkeit auszuweisen, dezidiert christliche Hoffnung kann darüber hinaus als verbürgte und als spezifisch begründete Hoffnung ausgewiesen werden, was jeweils nicht eindimensional ad hoc geschehen soll, sondern aufgrund der Mehrdimensionalität der Hoffnungskategorie erst im Durchgang durch das Material und an den Strukturen selbst zunehmend plausibilisiert werden kann. Eine spezifische Vernünftigkeit von Hoffnung ist mithin darzulegen 170 . Als Indikator dafür, dass dieses Unterfangen Erfolg versprechend ist, kann nicht allein auf die Ubiquität des Phänomens im Rahmen menschlicher Handlungswirklichkeit selber verwiesen werden, sondern auch auf 1 Petr 3,15, eine Perikope, die insgesamt für die Auskunftspflichtigkeit der Theologie steht, insbesondere vor dem Forum kritischer Vernunft und auf der Basis einer spezifischen Hoffnung. Mit anderen Worten: Der Inbegriff fundamentaltheologischer Rechenschaftspflicht formiert sich an der Kategorie der Hoffnung, oder umgekehrt: anhand der Hoffnung kann und muss eine Apologie 171 des christlichen Glaubens geleistet werden. Damit wird nicht nur das Rational der Hoffnung selbst zur Diskussion gestellt, sondern es ist an der Hoffnungskategorie und deren Vollzügen auch eine inhärente Vernünftigkeit und Rationalität theologischer Ethik 172 auszumachen. Theoretisches Vernunftinteresse und praktisches Vernunftinteresse, kenntnisnehmende und stellungnehmende Vernunft sind dabei nicht strikt voneinander zu trennen, sondern weisen ein inneres Zuordnungs- und Verweisungsverhältnis auf, das sich auch im Strukturaufbau der anvisierten Arbeit widerspiegelt, näherhin in dem Verhältnis von Empirie und Normativität, wonach eine wechselseitige Angewiesenheit beider Zugänge zu zeigen sein wird: Kenntnisnehmende Vernunft kommt ohne Sinnwissen nicht aus. Sinnfragen sind ohne kenntnisnehmende Vernunft nicht wirklich orientierend. Damit wird das inhärente Verhältnis von Empirie und Normativität schließlich auf 169 Vgl. KORFF, Wie kann der Mensch glücken? , 77. 170 Vgl. BÖTTIGHEIMER, Ch., Wie vernünftig ist der Glaube? Versuche rationaler Glaubensrechtfertigung in nachmetaphysischer Zeit, in: ThG 48 / 2005, 113-125. 171 Vgl. MUYSKENS, J.L., The Apologetic Force of a Theology of Hope, in: Scottish Journal of theology 33 (1980), 101-120, hier 120, der insbesondere mit KANT dafür plädiert, dass “it is reasonable to harbor these religious hopes, that is, to keep the door open to these desired possibilities by acting as if that for which we long does and will obtain.” 172 Vgl. STREIFF, S. / RUH, H., Zum Interesse theologischer Ethik an der Rationalität, Zürich 1994. <?page no="81"?> 4. Zur Epistemologie der Hoffnung 81 eine neue Ebene gehoben, nicht indem es formal-abstrakt als erkenntnistheoretischer Diskurs geführt wird, sondern entlang den strukturellen Vorgaben des Erkenntnisobjekts und des Erkenntnissubjekts selber. Dieses Vorgehen hat allerdings zur Folge, dass eine spezifische Methodologie nicht allein am Anfang der Arbeit steht und die inhaltliche Perspektivität derselben auf kontrollierte Weise vorgibt, sondern auch als Ergebnis und Ziel nach dem inhaltlichen Durchgang durch das Material gefasst werden kann. Darüber hinaus lässt ein solches interdisziplinäres Verfahren schließlich noch eine wichtige erkenntnistheoretische Differenz der zur Datenerhebung herangezogenen Disziplinen erkennen, die mir insbesondere aus moraltheologischer Perspektive noch zu wenig Beachtung in entsprechenden methodologischen Einlassungen gefunden hat: Theologische Erkenntnisgewinnung versteht sich vorrangig als ein kontrollierter Prozess des Nach-Denkens dessen, was als Glaubenskerygma in verschiedener Weise (offenbarungstheologisch, gnadentheologisch, biblisch-theologisch, wirklichkeitstheoretisch, etc.) bereits vorgegeben ist. Mit anderen Worten: Sie arbeitet überwiegend re-konstruktiv. Grosso modo gilt das auch für die Philosophie. Demgegenüber vollzieht sich Erkenntnisgewinnung aufseiten der Humanwissenschaften, die empirisch vorgehen, in aller Regel auf der Basis eines Konstruktivismus. Anders gesagt: Sie arbeiten vorrangig konstruktiv (-istisch). Diese Differenz gilt es (moral-) theologisch so aufzuarbeiten, dass es für eine theologische Epistemologie möglich wird bzw. bleibt, die Einheit der Welt (des Menschen vor Gott) zu zeichnen und zugleich dem Charakter ihrer eigenen Aussagen gerecht zu werden, die quasi erst konsekutiv zum göttlichen Gnadenangebot formuliert werden können. Letztlich aber kann bei aller Verschiedenheit der epistemischen Vergewisserungsversuche immer nur von einer Approximation ausgegangen werden, da Hoffnung auf einer Art „ontologischem Vorgriff“ 173 beruht, der rein rational nicht mehr aufgelöst werden kann, sondern nur als solcher in seiner theoretischen und praktischen Vernünftigkeit plausibilisiert werden muss. Ein Ausweis des epistemischen Status begründeter Hoffnung entlang ihrer eigenen Mehrdimensionalität hat über eine Pluralität von Beweisverfahren zu erfolgen, wiewohl an dieser Stelle nur angedeutet werden kann, was eine eingehende fundamental- und metaethische Studie aufzuschlüsseln hätte. a) Orientierung am Guten Eine Vergewisserung des erkenntnistheoretischen Status der Hoffnung kann auf verschiedene Weise erfolgen. Nicht allein vom Vernunftbegriff her, nicht allein vom Hoffnungsbegriff selbst her, sondern auch und vorrangig vom Begriff des Guten 174 als der fundamentalsten Wertgröße im Rahmen der Ethik. Zunächst und zuvörderst erweist sich 173 Vgl. RAFFELT / RAHNER, Anthropologie und Theologie, 18-19: „Der Mensch ist das Wesen der Transzendenz, insofern alle seine Erkenntnis und seine erkennende Tat begründet sind im Vorgriff auf das „Sein“ überhaupt, in einem unthematischen, aber unausweichlichen Wissen, um die Unendlichkeit der Wirklichkeit. […] Es ist zu betonen, dass die hier gemeinte Transzendenz nicht den thematisch vorgestellten Begriff der Transzendenz, in dem diese gegenständlich reflektiert wird, meint, sondern jene apriorische Eröffnetheit des Subjekts auf das Sein überhaupt, die gerade dann gegeben ist, wenn der Mensch sich als sorgend und besorgend, fürchtend und hoffend der Vielfalt seiner Alltagswelt ausgesetzt erfährt.“ 174 Vgl. EDMAIER, A., Horizonte der Hoffnung. Eine philosophische Studie, Regensburg 1968, 39ff. und 204ff., insbesondere bzgl. der Notwendigkeit einer Sinnbestimmung der Hoffnung und dem Bezug auf einen Begriff des Guten, der allerdings bei EDMAIER noch moralisch unterbestimmt bleibt. <?page no="82"?> IV. Methodologischer Abriss 82 eine rationale Vergewisserung einer Ethik der Hoffnung durch deren Orientierung am Guten 175 selbst - wenn das Gute nicht allein subjektivistisch oder in bloßer Innerlichkeit gefasst wird, sondern auch objektivistische Vorstellungen Geltung beanspruchen dürfen. Das gilt auch, wenn ausgehend von PLATONS Konzeption des Guten als letztem Seins- und Erkenntnisgrund in der Neuzeit eine objektiv-teleologische Deutung des Seins an Geltung verloren hat und der Subjektbezug, die Gegenständlichkeit des Seins und pragmatische Utilitätsüberlegungen in den Vordergrund getreten sind. Das Gute ist entlang dieser Lesart „nicht ein Prädikat, das eine objektive Eigenschaft des Seienden beschreibt, sondern ein Relationsbegriff, in dem die wertende Einstellung eines Subjekts zu diesem Seienden zum Ausdruck kommt.“ 176 Dennoch scheint mir der Begriff unverzichtbar, auch wenn er mitunter im Verdacht steht, aktuell unter anderem Namen bearbeitet zu werden, etwa im Rahmen von Letztbegründungsdebatten. Denn damit wird Hoffnung allererst humane Hoffnung, dass sie nicht einfach Beliebiges hofft, sondern unter die kritische Kontrolle einer Ethik gestellt wird, die aufgrund ihres Bezugs zu einem Guten, bei aller Problematizität einer entsprechenden Bestimmung, versucht, menschliches Streben und Wollen in seiner ganzen Dimensionalität unverkürzt in den Blick zu nehmen und dabei auch ein letztes sittlich qualifiziertes und damit dem Menschen allererst entsprechendes Worumwillen seines Handelns auf den Begriff zu bringen versucht, das dann Gegenstand von handlungsrelevanter Hoffnung werden kann und werden soll. Damit schließlich wird die umfassende Wahrnehmung der Bedeutung von Hoffnung für menschliche Handlungswirklichkeit eröffnet. Die Frage, was denn das Gute sei, wurde und wird äußerst vielgestaltig beantwortet. Letztlich ist bei aller Divergenz entsprechender Konzepte und trotz aller Hingeordnetheit auf eine Synthese von Moral und Glück davon auszugehen, dass der Begriff partiell unterbestimmt bleibt, was aber in seiner Eigenstruktur begründet ist, wird diese möglichst umfänglich konzipiert. Das Gute als moralischer Begriff ist nicht unmittelbar handlungsleitend, da er eine integrative bzw. integrierende Gestalt darstellt, die situationsadäquat, d.h. im Rückblick auf die Person und im Vorblick auf die Situation sowohl das Glücksstreben der Person(en) als auch deren moralische Pflichtorientierung und die Notwendigkeiten der Situation auf das je als sinnvoll Erachtete zusammenführt als notwendig zu leistende Integration aufseiten des Handlungssubjekts zur Aufrechterhaltung der Einheit der Handlungswirklichkeit, die ansonsten in divergierende Richtungen motiviert bleibt, nicht das ihr eigentlich zur Verfügung stehende Potential an Handlungsmöglichkeiten 175 Vgl. einführend RIESENHUBER, K., Gut, das Gute, das Gut. III. Mittelalter, in: RITTER, J. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 3, Darmstadt 1974, 951-960. RIESEN- HUBER, K., Gut, das Gute. I. Philosophisch, in: KASPER, W. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche Bd. IV, Freiburg im Breisgau 1995, 1113-1114. HILPERT, K., Gut, das Gute. II. Theologisch-ethisch, in: KASPER, W. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche Bd. IV, Freiburg im Breisgau 1995, 1114-1116. HOFFMANN-RIEDINGER, M., Gut / das Gute / das Böse (Art.), in: DÜWELL, M. / HÜBENTHAL, C. / WERNER, M.H. (Hrsg.), Handbuch Ethik, Stuttgart / Weimar 2002, 381-385. FORSCHNER, M., Das Gute, in: HÖFFE, O., Lexikon der Ethik, München 6 2002, 108-110. 176 Vgl. FORSCHNER, Das Gute, in: HÖFFE, Lexikon der Ethik, 108-110, hier 109. Wiewohl hier zurecht der Subjektbezug hervorgehoben wird, scheint aber dennoch eine Problemverschiebung stattzufinden, denn die Fragen nach der Geltungskraft rein subjektivistisch begründeter „Einstellungen“, der Herkunft von Werten als Deutekategorien, der Ausweis eines normativen Subjekts und der (normativen) Bedeutung des Seins bleiben schließlich bestehen, ganz abgesehen von der Frage nach einem letzten Ziel menschlichen Wollens, Strebens und Begehrens. <?page no="83"?> 4. Zur Epistemologie der Hoffnung 83 auszuschöpfen vermag. Bleiben solcherart ungeordnete Motiv- und Motivationsquellen dauerhaft unbeantwortet und unbearbeitet - sei es selbstsorgerisch oder advokatorisch -, dann kann von einer sittlichen Hemmung 177 gesprochen werden, oder schlicht von einer mehr oder minder beeinträchtigten Handlungsfähigkeit, wie sie allerorten und äußerst vielgestaltig beschrieben werden kann. Eine solche sittliche Hemmung kann für den Weg der Einsicht und für den Weg der Realisierung des Guten beschrieben werden, wiewohl auch hier noch zu wenig moraltheologische Theoriebildung stattgefunden hat. Entscheidend für den vorliegenden Kontext ist die Einsicht, dass die beschriebenen sittlichen Hemmungen zugleich Hemmungen dergestalt hervorrufen, dass nicht mehr einsichtig und vernünftig zu sein scheint, was und wie zu hoffen wäre. In der hier favorisierten Lesart ist das Gute, das um seiner selbst willen Gewollte und Gesollte, ist das in sich Gute - nicht bloß das Angenehme, Zweckmäßige oder Nützliche, sondern das unbedingte Verpflichtung Einfordernde und zugleich mit hoher Attraktivität Versehene. Diese Vorstellung vom Guten ist nun erst verständlich unter der Voraussetzung einer Verzahnung mit dem Seinsbegriff: ens et bonum convertuntur. Wer also den Grund von Hoffnung aufklären will, sich die letzte Zielgestalt menschlichen Handelns, das Gute respektive des höchsten Gutes, vor Augen stellen will, der ist darauf verwiesen, sich über das Sein des Menschen Rechenschaft zu geben, der muss also eine Ontologie auszuweisen suchen. Bricht diese Verbindung von Sein und Gut auseinander (wie etwa in der Neuzeit), dann radikalisiert sich die Frage nach der Berechtigung von Hoffnung bis dahin, dass der Mensch seinerseits als Hoffender radikal in Frage gestellt wird und entsprechenden Domestizierungsversuchen unterworfen wird. Auch wenn die Frage nach einer vernunftgemäßen Konzeption des Guten neuzeitlich zunehmend weniger gestellt wird, heißt das noch lange nicht, dass die damit verbundenen Fragen obsolet geworden wären. Ganz im Gegenteil, sie treten nur in anderen begrifflichen Gewändern in Erscheinung und harren auf eine zeitgemäße Reformulierung. Die kurzen Ausführungen an dieser Stelle konnten bereits andeuten, dass es einen breiten Bezug des Guten zum Wollen und Streben des Menschen gibt, wenn auch in vermittelter Weise und dass es eine Unterscheidung von absolutem und relativem Guten gibt, die bis dahin geführt wurde, dass das Absolute selbst in platonischer Lesart als Idee des Guten 178 galt und diese wiederum als „oberster Sinngrund“ für alles menschliche Tun. In systematischer Betrachtung bezeichnet das Gute ein moralisch qualifiziertes Worumwillen menschlichen Strebens und Tuns, das eine finale Konzeption voraussetzt, soll es als Einheit ausreichend orientierend und aufgrund seiner Attraktivität und unbedingten Verpflichtung normierend wirken können und zudem einer inhärenten Anthropologie entsprechen. Dabei handeln wir auch nicht einfach auf das vermeintlich Gute hin, sondern aufgrund dessen begrifflicher Fassung als Erfüllungsgestalt des Seins schlechthin immer auch schon als verdankt aus diesem heraus. 179 Ein sittlicher Endpunkt, ein höchs- 177 Vgl. KRÄMER, H., Philosophische Anthropologie, Hemmungskategorie, Moralerklärung, in: ENDREß, M. / ROUGHLEY, N. (Hrsg.), Anthropologie und Moral. Philosophische und soziologische Perspektiven, Würzburg 2000, 151-165. 178 Vgl. PIEPER, A., Sprachanalytische Ethik und praktische Freiheit. Das Problem der Ethik als autonomer Wissenschaft, Stuttgart 1973, 198ff., die etwa auf FICHTE verweist. Vgl. zu den Ursprüngen GADAMER, H.-G., Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles, Heidelberg 1978. 179 Vgl. RIESENHUBER, Gut, das Gute, 1114. „Das Gute ist daher weder nur faktischer Endpunkt oder Wirkung des Strebens, noch resultiert Gutheit (oder Sinn) aus der Emotion, der Präferenz oder Wertentscheidung des autonomen Subjekts; vielmehr weiß das Streben sich selbst nach <?page no="84"?> IV. Methodologischer Abriss 84 tes Gut, ist dabei notwendig gesetzt, auch wenn eine permanente Progression dorthin nötig ist, individuell wie weltgeschichtlich. Was lässt uns aber nicht müde werden, uns immer wieder daran zu orientieren - trotz Scheitern und Schuld? Die Attraktivität des Erhofften und die Vernunft des Erstrebten, da es die Bestimmung des Menschen zum „guten Glück“, zum Gelingen, etc. zu einer Erfüllung zu führen verspricht und wir Grund suchen, dem aus Hoffnung handelnd entgegenzugehen. Die erwähnte Orientierung an einem sittlichen Endzustand, einem höchsten Gut (finis ultimus, summum bonum), bezeichnet „den Zustand oder die Aktivität, worin die wahre Natur des Menschen ihre Erfüllung findet“ 180 und worauf sich schließlich epistemologisch berechtigt menschliche Hoffnung bezieht. Da das Gute nun u.a. auch eine Kategorie der Einsicht ist, die an den Grenzen endlicher Vernunft ihre eigenen Grenzen der Bestimmbarkeit hat, ist ein Agens bzw. Movens notwendig zu denken, das den Prozess der Einsicht in das Gute wiederum allererst motiviert und damit über dieses reflexiv zugängliche Gute vertrauend hinausgehen muss. Mithin muss epistemologisch eine umfassendere Kontextstruktur angenommen werden - freilich ohne dabei einem Fideismus anzuhangen. Analog dazu vollendet schließlich Offenbarung menschliche Vernunft, überbietet sie aber nicht in einem fideistischen Sinne. Gemeint ist nun der schon erwähnte sittliche Abschlussgedanke in einem höchsten Gut, der hoffnungstheoretisch große Bedeutung hat, da er eine Erfüllungsgestalt anbietet, auf die hin, aber auch von der her menschliche Handlungswirklichkeit geeint, motiviert und orientiert werden kann, wenn der Ausweis ihrer Vernunftgemäßheit im Dialog mit den Konzepten menschlicher Selbstverständigung gelingt. Dieser Abschlussgedanke, den formale Unbedingtheit kennzeichnet, die material-inhaltlich konkretisiert zu werden hat und der subjektive, objektive, relative und absolute Anteile besitzt, ist es, der ganz entscheidend zur Formulierung einer Epistemologie begründeter Hoffnung herangezogen werden muss. Mit anderen Worten: Menschlicher Handlungswirklichkeit, die sich auf ein Gutes hin zu orientieren versucht, ist eine permanente Überschreitung des Gegebenen eigen, auch des der Einsicht Gegebenen, der Einsicht Aufgegebenen, was bedeutet, dass auch das Rationale überschritten wird, was zwar zu weiterer rationaler Durchdringung auffordert, genauso aber dazu, diesen Überschritt noch als vernunftgemäß anzuerkennen. (Christliche) Hoffnung als Handlungskategorie ist tief in diese Struktur eingezeichnet. Das Gute, erst recht das höchste Gut, genauso wie das Sinnvolle 181 oder auch das Glück als höchste seiner Intentionalität, Wesensprägung und Wirkmächtigkeit (causa efficiens) als der Zielursächlichkeit (causa finalis) des an sich Guten verdankt. Kommt so Gutheit primär dem Seienden in sich selbst zu, sofern es sich in seinem Wesen und Sinnziel verwirklicht hat (gut in sich: perfectum), so besteht Gutheit grundlegend im Sein selbst als sich aus unbedingter Sinn- und Wesensfülle verwirklichendem Akt. Sein und Gutheit sind daher nicht als Faktizität und Wert radikal verschieden, sondern, obwohl begrifflich unterschieden, ontologisch identisch.“ 180 Vgl. einführend HEBBLETHWAITE, B., Höchstes Gut (Art.), in: Theologische Realenzyklopädie Bd. XV, hrsg. von GERHARD MÜLLER, Berlin 1986, 435-441, hier 435 und aktuell KEL- LER, D., Der Begriff des höchsten Gutes bei Immanuel Kant. Theologische Deutungen, Paderborn 2008. 181 Zum Verhältnis des Guten zum Sinnvollen vgl. aufschlussreich KUHN, H. Das Gute, in: BAUMGARTNER, H.M. / WILD, C. (Hrsg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe Bd. II, München 1973, 657-677, hier 672: „Auf dem Boden der Metaphysik konnte die Sinnfrage nur deswegen nicht aufkommen, weil sie durch die Verzahnung des Seinsbegriffs mit dem Guten prinzipiell beantwortet war. […] Anders gesagt: die moderne Frage nach dem ‚Sinn‘ - ein <?page no="85"?> 4. Zur Epistemologie der Hoffnung 85 Hoffnungsfiguren und zugleich letzte Gegenstände einer Handlung sind schließlich im Vorfeld nicht prinzipiell wissbar, sie können u. U. geahnt und vorausgesetzt werden, gewärtigt werden, aber nicht streng notwendig gewusst werden, ganz abgesehen von den Handlungsfolgen, die oft nicht kalkulierbar sind. Hoffnung als Handlungskategorie ist daher eben gerade kein Wissen, sondern setzt immer ein (vernünftiges) Vertrauen voraus und kann auch nicht in Wissensformen überführt werden oder anderweitig ersetzt werden. Hoffnung ist keine Defizitform des Wissens, wie oft fälschlicherweise angenommen wird. Wer handelt, setzt ein hoffendes Vertrauen in die Sinnhaftigkeit einer damit verknüpften Zielgestalt, nicht allein, weil diese mitunter unterbestimmt ist, sondern auch, weil die Folgen gar nicht alle kontrolliert werden können. Die damit eröffnete Verantwortung reicht weiter, als das, was wir in Händen halten und kontrollieren können. So hat die Einsicht in das Gute, will es zugleich zur Realisierung motivieren, eine im Medium der Hoffnung zugängliche Aussicht auf eigene Sinnhaftigkeit - mitunter trotz oder gegen die erfahrene Welt - zu bieten, oder sie vermag nicht hinreichend zu motivieren. Jede Hoffnung setzt daher eine Form des „Glaubens“ voraus, eine Weltdeutung und Weltanschauung, die Sinnverheißungen für das eigene Leben umfasst, Praxisrelevanz bzw. Handlungsorientierung bietet und Daseinsdeutungen innerhalb der Weltdeutung eröffnet, die eine Zielgestalt und eine Bestimmung für das Dasein bereithält. Dieser Glaube wird je vergegenwärtigt im Medium der Hoffnung. Auf diese Weise ist das tiefste Movens menschlicher Handlungswirklichkeit erreicht, das als (verdankte) Lebenssteigerung und Lebenserhaltung im Medium der Hoffnung erfahren wird und sich kriteriologisch an das Streben des Menschen nach dem Guten, der Suche nach dem Sinn und dem Glück des Daseins und der Erfüllung des Sittengesetzes binden lässt. Wird das Gute als ein solcher Handlungsbegriff ausgewiesen, dann hat Handeln immer mit Hoffnung zu tun, indem es sich auf kleine und große, letztlich auf letzte Ziele bezieht und sich von dort her und auf dorthin orientieren und motivieren lässt. Mit anderen Worten: Der epistemische Status begründeter Hoffnung ist dadurch ausgewiesen bzw. lässt sich moralphilosophisch da am sichersten ausweisen, wo sie sich letztlich auf einen Begriff des (höchsten) Guten bezieht. Damit ist nicht vorrangig die sichere Erkenntnis des Guten verbunden, sondern deren vertrauend-hoffende Realisierung, mithin die Möglichkeit, das zu können, was wir sollen und überhaupt das zu wollen, was wir sollen - mitunter unter Relativierung eigener Neigungen, unter Inkaufnahme von persönlichen Nachteilen und bis in menschliche Abgründe hinein, aber unter einer dennoch gewährten Aussicht auf Sinn. b) Orientierung an einer Offenbarungstheologie und der rationalen Verantwortung religiöser Überzeugungen Christliche Offenbarungstheologie hat als Bezugspunkt und bleibenden Horizont der Moraltheologie 182 Teil an der Denkmöglichkeit, Plausibilität und Vernunftgemäßheit der Theologie und des Glaubenskerygmas insgesamt, sodass auch eine theologische Tugend wie die Hoffnung, die als übernatürliche Tugend gnadengewirkt gedacht wird, an der Wort, das erst durch Nietzsche seine uns geläufige Bedeutungsschwere gewonnen hat - ist im Grunde die Frage nach dem Guten, formuliert im Zustand ontologischer Ratlosigkeit.“ 182 Vgl. etwa DEMMER, K., Moraltheologische Methodenlehre, Fribourg / Freiburg im Breisgau 1989, 77-83, hier etwa 77. „Die Offenbarung als theologischer Reflexionsbegriff ist beständiger Referenzpunkt der Moraltheologen.“ <?page no="86"?> IV. Methodologischer Abriss 86 Vernunftstruktur des Glaubens und der Rationalität religiöser Überzeugungen partizipiert. Im Grunde genommen wird hier die theologisch gestellte Wahrheitsfrage anhand der Hoffnungskategorie verhandelt - oder mit AUGUSTINUS formuliert: „Nur vom wahren Gott können wir Erlösung erhoffen“ 183 . Ein christliches Offenbarungsverständnis stellt nun ein spezifisches Vorverständnis von Wirklichkeit bereit, auch von Handlungswirklichkeit, man denke nur an entsprechende Vorstellungen aus Hamartiologie, Soteriologie und Staurologie, das auf vielfältige und, wie mir scheint, im Kontext autonomer Moral mitunter noch zu wenig erhellter Weise stimulierend, motivierend, kritisierend und integrierend auf das sittliche Subjekt und seine Orientierung am Humanum wirkt und ohne das wir gar nicht (gläubig) „wissen“ könnten, das heißt verbürgtermaßen erhoffen könnten, was das Glaubenskerygma über die (moralischen) Einsichten der praktischen Vernunft in das Gute hinaus begründetermaßen an sittlichen Ressourcen zu eröffnen vermag. Unter moraltheologischer Perspektive gründet (christliche - und damit zutiefst humane) Hoffnung im Rahmen eines Offenbarungskontextes in dem in Jesus Christus offenbar gewordenen Gott und einem damit korrespondierenden (Vor-) Verständnis von Welt und Mensch, das sukzessive und je neu für eine Zeit und Situation approximativ freizulegen ist. Die Transposition der transzendentalen Voraussetzungen sittlichen Handelns auf motivationale Komponenten 184 scheint mir dabei nicht hinreichend zu sein für das Verständnis des komplexen Verhältnisses heils- und weltethischer Weisungen, um in der Sprache von ALFONS AUER zu sprechen, weil damit die Bedeutung des Glaubenskerygmas faktisch marginalisiert zu werden droht, wiewohl auch umgekehrt die Vermittelbarkeit mit strikt moralphilosophischen Konzepten dadurch keinesfalls unterminiert werden darf. Daneben hat es inzwischen zu den klassischen Aufgaben moraltheologischer Apologetik zu zählen, so etwas wie eine Selbstaufklärung sittlicher Vernunft zu leisten, d.h. den Versuch einer rationalen Verantwortung religiöser Überzeugungen. Auch und gerade wenn der Begriff der (religiösen) Überzeugung erkenntnistheoretisch von dem des Wissens unterschieden wird, da diese unterschiedlichen rationalen Standards gehorchen, sind Überzeugungen wahrheitswertfähig. 185 Dabei kann von einer Konvergenz von diesbezüglichen Wahrheitstheorien ausgegangen werden, die streng genommen keine Alternativen darstellen, sondern ein Thema je verschieden modulieren. In einem Prozess diskursiver Verständigung über Gründe und Gegengründe ist dabei eine argumentative Offenlegung von Überzeugungen notwendig, die aber ihrerseits zur Vermeidung eines Regresses endloser Diskursebenen auf eine letzte Anerkennungsdimension hin transparent gemacht werden muss, da der Ausweis des jeweiligen Maßstabs zur Bewertung der Gründe und Gegengründe auf einer logisch höheren Ebene angesiedelt ist und alle Diskursteilnehmer mindestens eine gemeinsame Maßstabsebene als normative Verständnisvoraussetzung anzuerkennen haben, die dann ihrerseits eine letzte Unhintergehbarkeit zu erkennen gibt. „Erst die Einsicht in eine letzte Anerkennungsdimension, in der sich unser gesamtes Vernünftigsein bewegt, vermag dem Regressproblem, d.h. der Gefahr einer endlosen Reihe von Diskursebenen, die Spitze abzubrechen. Wissen und Rationali- 183 Vgl. AUGUSTINUS, De Civitate Dei, Lib. VI, cap. 12 und Lib XIX, cap. 22, nach SCHÄRTL, T., Wahrheit und Gewissheit. Zur Eigenart religiösen Glaubens, Kevelaer 2004, 140 und 162, der erkenntnistheoretisch einen externalistischen Kohärentismus vertritt. 184 Vgl. MIETH, D., Autonomie der Ethik - Neutralität des Evangeliums, in: Concilium 18 (1982), 320-327. 185 Vgl. zum Folgenden SCHÄRTL, Wahrheit und Gewissheit, 145-155. <?page no="87"?> 4. Zur Epistemologie der Hoffnung 87 tät gründen sich auf Überzeugungen, die ihrerseits nur in der Weise des Anerkanntseins und Anerkennens zu haben ist.“ 186 Auf diese Weise kann Hoffnung als äußerst vielgestaltiges religiöses Überzeugungsfeld den Standards einer rationalen Verantwortung mit Rekurs auf solide erkenntnistheoretische Grundlagen gehorchen und selbst neuzeitlicher Vernunftkritik Stand halten, nachgerade sogar zum Verständnis der Sinnhaftigkeit und Einheit einer sittlichen Vernunft ganz entscheidend beitragen. Keine fideistische Glaubensethik soll und kann daher mit der Hoffnungskategorie ausgewiesen werden, die glaubt, eine radikal vernunftentzogene Hoffnung vertreten zu können, sondern ein integratives Konzept von Hoffnung ist auf der Basis der Rationalität und der Vernünftigkeit des Glaubens 187 und unter Anbindung an deren naturale Grundlagen zu entwickeln. Eine vom Glauben „erleuchtete“ und entsprechend „gereinigte“ Vernunftkonzeption, d.h. ein vergleichsweise weit angelegter Vernunftbegriff, kann darüberhinaus durchaus Argumente auf sich ziehen, wiewohl im Einzelnen erst nachzuzeichnen wäre, wie ein solcher Vernunftbegriff strukturiert und begründet sein könnte. Aber trotz aller Erhellung der Vernunftstruktur christlicher Hoffnung wird die Eingründung dieser Hoffnung in Gott selbst irgendwann eine vertrauende reductio ad mysterium unumgänglich machen, die allerdings wiederum nicht ohne Plausibilisierung auskommt. c) Orientierung an einer Freiheitsanalytik und einer Subjektphilosophie Im Augenblick der Freiheit entdeckt der Mensch den Raum der Möglichkeit in der Zukunft als Möglichkeit zum Gelingen aber auch als Möglichkeit zum Scheitern. Letztlich entdeckt er die Unendlichkeit der Möglichkeit seiner selbst. Er hat sich dabei selbst als Freiheit und in Freiheit zu wählen, um der Selbstgesetzlichkeit endlicher Autonomie, die formal unbedingt aber material bedingt ist, gerecht werden zu können. Diese Selbstaneignung endlicher Freiheit wird wohl nur auf dem Hintergrund einer Zuversicht denkbar sein und gelingen können, im Zuge ihrer Realisierung eine basale Affirmation des eigenen Daseins hoffend vergegenwärtigen zu können und zu dürfen - und damit nicht ins Nichts zu fallen und die bleibende Sinnlosigkeit des Tuns erkennen zu müssen. Ansonsten, d.h. mit derartigen Aussichten, würde der freiheitsbegabte Mensch sofort in den Schoß der Unfreiheit zurückfallen. Als systematische Spitze kann daher gelten, dass von „auf Sinnantizipation angewiesenen Vollzügen der Freiheit“ 188 ausgegangen werden muss. Die berühmte „Angst vor der Freiheit“ wird unter diesen Vorzeichen daher genau 186 Vgl. ebd. 150. Und direkt davor: „Die wechselseitige Zuerkennung und Anerkennung bzw. Billigung von grundsätzlichen Überzeugungen kann nicht mehr im Sinne eines Beweisganges eingeholt werden. Der Appell an eine gemeinsame Überzeugungskuppel, die die Statik des Diskurses gewährleistet, hat - mit Klaus Müller gesprochen - den Charakter einer Letztbegründung ohne Beweisanspruch.“ SCHÄRTL verweist auf MÜLLER, K., Wieviel Vernunft braucht der Glaube? Erwägungen zur Begründungsproblematik, in: Ders. (Hrsg.), Fundamentaltheologie. Fluchtlinien und gegenwärtige Herausforderungen, Regensburg 1998, 77-100, besonders 88-100. 187 Vgl. RICKEN, F., Die Rationalität der Religion in der Analytischen Philosophie: Swinburne, Mackie, Wittgenstein, in: Ders., Glauben weil es vernünftig ist, Stuttgart 2007, 39-60 und RI- CKEN, F., Zum wissenschaftstheoretischen Status theologischer Aussagen, in: Ders., Glauben weil es vernünftig ist, Stuttgart 2007, 137-154. Ebenso sehr profund der schon erwähnte SCHÄRTL, Wahrheit und Gewissheit. 188 Vgl. PRÖPPER, T., Freiheit (Art.), in G.W. HUNOLD et al. (Hrsg.), Lexikon der christlichen Ethik Bd. I., Freiburg im Breisgau 2003, 554. <?page no="88"?> IV. Methodologischer Abriss 88 dann real, wenn fehlende Sinnaussicht und fehlende Hoffnung bestehen. Der tiefste Abgrund menschlicher Freiheit ist mithin Angst, der tiefste Grund ist Hoffnung resp. Glaube, wie sehr schön an der Existenzphilosophie bzw. Existenztheologie S. KIER- KEGAARDS 189 zu zeigen wäre. Mit anderen Worten, es ist von einer Hoffnungssignatur endlicher Freiheit auszugehen bzw. umgekehrt von einer Freiheitssignatur (christlicher und zugleich human bestimmter) Hoffnung. Menschliche Freiheit, will sie sich selbst gerecht werden, will etwas, das sie aus sich selbst nicht mehr verbürgen kann, weswegen sie notwendig hoffen muss. Eine zweite Argumentationslinie könnte dahingehend verlaufen, etwa mit der Moralphilosophie von IMMANUEL KANT zu zeigen, dass Moralität ihren Wurzelgrund in der Freiheit 190 hat. Im Bewusstsein der Freiheit entdecke ich mich als moralisches Wesen. Gehört es also in diesem Sinne zur Struktur und Eigenart des moralischen Wesens Mensch, des sittlichen Subjekts 191 , dass er hofft, hoffen muss, um das Sittengesetz des Guten mutig realisieren zu können und zu wollen und um die Sinnhaftigkeit der Moral überhaupt zu gewährleisten, dann könnte aus den moralischen Strukturen seiner Freiheitsverfassung eine rationale Struktur freiheitsgegründeter Hoffnung entwickelt werden. Dafür ist ein starker Subjektbegriff vorauszusetzen, was angesichts subjektkritischer bis zuweilen subjektdekonstruktivistischer Tendenzen keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Ohne Handlungs-Subjekt gibt es keine Freiheit, keine vernunftgeleitete Erkenntnis, keine Zurechenbarkeit von Moralität, Schuld, Verantwortung - keine Hoffnung. Eine Epistemologie der Hoffnung hat demnach auch ein Hoffnungssubjekt auszuweisen, letztlich die Subjektbezogenheit human bestimmter Hoffnung. Hoffnung wird nur verstehbar über den Aufweis ihrer Subjekthaftigkeit. d) Orientierung am Rational der Hoffnung und der Hoffnungsstruktur der Vernunft Die Frage nach der Vernünftigkeit des Hoffnungsvollzugs für menschliche Handlungspraxis kann nicht allein auf 1 Petr 3,15 verweisen, eine Perikope, die für die Auskunftspflichtigkeit der Theologie vor dem Forum kritischer Vernunft steht. Nicht allein, dass der Inbegriff fundamentaltheologischer Rechenschaftspflicht sich an der Kategorie der Hoffnung selbst formiert und damit nicht nur das Rational der Hoffnung selbst zur Diskussion gestellt ist, an der Hoffnungskategorie und deren Vollzügen ist insgesamt eine inhärente Vernünftigkeit und Rationalität theologischer Ethik 192 auszumachen. Diese kann in zwei Richtungen formuliert werden: Einmal kann nach der Vernunftstruktur der Hoffnung gefragt werden, wenn der Ausgang von einer Analytik und Phänomenologie der Hoffnungskategorie genommen wird, sodann kann auch nach der Hoffnungsstruktur der 189 Vgl. exemplarisch KIERKEGAARD, S., Der Begriff Angst, Frankfurt am Main 1994; Ders, Die Krankheit zum Tode, Frankfurt am Main 2 1995. 190 Vgl. HÖFFE, O., Immanuel Kant, München 6 2004, 196-202. 191 Wenn es zum Kernbestand der Vorstellungen von der Würde des Menschen gehört, dass er als sittliches Subjekt in vernunftbestimmter Autonomie sich zum Guten zu bestimmen vermag, dann kann mit gutem Recht die realistische Hoffnungsstruktur der Würdekategorie behauptet werden, die sich daran zu erkennen gibt, dass darin fundamentale, an moralischen Kategorien (Gerechtigkeit, Gleichheit, etc.) bemessene Anerkennungsverhältnisse zwischen Menschen antizipiert werden, die insbesondere dann vehement artikuliert werden, wenn sie verletzt sind. 192 Vgl. STREIFF, S. / RUH, H., Zum Interesse theologischer Ethik an der Rationalität, Zürich 1994. <?page no="89"?> 4. Zur Epistemologie der Hoffnung 89 Vernunft gefragt werden, wenn der Ausgang von einem Begriff der (theoretischen und praktischen) Vernunft genommen wird. Insbesondere die Dialektik, die Antinomik und die Einheit des Vernunftgebrauchs dürfte für die vorliegende Fragestellung fruchtbar gemacht werden können. Thesenartig kann dabei mit RICHARD SCHAEFFLER konstatiert werden: „Alle diese Antinomien der Vernunft in ihrem theoretischen und praktischen Gebrauche sind [...] untereinander auf solche Weise verknüpft, dass sie nicht anders auflösbar sind als durch die Hoffnung auf einen „Urteilsspruch aus Gnade“ - eine Hoffnung freilich, die zur Forderung, zum Postulat wird, weil sie die Bedingung benennt, unter der wir allein zur Erfüllung des Sittengesetze fähig werden.“ 193 Mit anderen Worten: Die Notwendigkeit des vernünftigen Ausweises von (mindestens postulatorischer) Hoffnung für die Moralität des Menschen ist aus der Struktur der Moralität selbst heraus verstehbar. 194 Ansonsten bestünde die Gefahr, dass „ungedeckte“, ideologie- und illusionsanfällige Hoffnungen der rationalen Struktur des Menschen äußerlich bleiben und sich quasi (fideistisch) der rationalen Kontrolle entziehen, ganz abgesehen davon, dass bezweifelt werden darf, dass sie ohne diese Vernunftkontrolle überhaupt nachhaltig und persistent am unbedingten Anspruch des Guten festzuhalten in der Lage wären. Daher ist ganz im Unterschied zu solchen Vorstellungen mit KANT und dem Primat der praktischen Vernunft und unter Aufbietung eines epistemischen Universalismus ein „rationales Hoffen“ 195 auszuweisen, das eine Vernunftnotwendigkeit darstellt, soll Moralität ihren Sinn nicht verlieren. e) Orientierung an Letztbegründungsversuchen Insbesondere im Rahmen moralphilosophischer und moraltheologischer Theorien zur Begründungsproblematik, hierin kann ANNEMARIE PIEPER 196 zugestimmt werden, kann ein Mangel an Letztbegründungsversuchen ausgemacht werden, wiewohl entsprechende Versuche geeignet wären, eher pragmatische und funktionalistische Normbegründungen, wie sie aktuell vorherrschend sind, auf die normative Legitimität ihrer Voraussetzungen zu befragen, um so zu verhindern, dass die fehlende Legitimität entsprechender Verfahren aufgrund nicht ausgewiesener „letzter“, unbedingter Bezugsgrößen von Begründungen auch ihrerseits keine begründeten Handlungsnormen ausweisen können. Bezogen auf die vorliegende Fragestellung könnte das u.a. heißen, fundamentaltheologisch nach der Bedingung der Möglichkeit letztgültigen Sinns 197 als notwendige 193 Vgl. SCHAEFFLER, R., Wissenschaftstheorie und Theologie, in: BÖCKLE, F. / KAUFMANN, F.-X. / RAHNER, K. / WELTE, B. (Hrsg.), Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft Bd. XX, Freiburg im Breisgau 1982, 5-83, hier 26. 194 Entscheidender philosophischer Gewährsmann für dieses Unterfangen ist IMMANUEL KANT. Vgl. Kapitel V 6 in dieser Arbeit. 195 Vgl. HÖFFE, O., Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie, München 3 2004, 297ff. 196 Vgl. PIEPER, A., Pragmatische und ethische Normbegründung. Zum Defizit an ethischer Letztbegründung in zeitgenössischen Beiträgen zur Moralphilosophie, Freiburg im Breisgau 1979. 197 Vgl. VERWEYEN, H., Einführung in die Fundamentaltheologie, Darmstadt 2008, 111-164. Ders., Gottes letztes Wort. Grundriss der Fundamentaltheologie, Regensburg 3 2000, 233-280, hier 233. Die alle Vernunft leitende Sinnfrage sieht er „darin gegeben, dass der Mensch in all seinen Akten unausweichlich bemüht ist, unbedingte Einheit zu setzen, zugleich aber nicht der Notwendigkeit entgeht, sich etwas entgegen-, also Differenz zu setzen.“ Auch die Frage nach <?page no="90"?> IV. Methodologischer Abriss 90 Voraussetzung absoluter Hoffnung zu fragen. Solche und ähnliche Letztbegründungsversuche sind fundamentaltheologisch und moraltheologisch unerlässlich, nicht allein im Sinne des Ausweises der Denkmöglichkeit letztgültigen Sinns, eines letzten Grundes von Hoffnung, der den berechtigten Interessen menschlicher Handlungswirklichkeit nach dem Guten, dem Glück und dem Gelingen und den daran anknüpfenden Hoffnungsstrukturen quasi berechtigt entgegenkommt, sondern auch, weil immer wieder Abschlussgedanken notwendig sind, damit der Sinn von Moralität überhaupt und unter theistischen Vorzeichen schlussendlich eine Hoffnung über den Tod hinaus als vernunftgemäß und als verbürgt eröffnet werden kann. f) Orientierung an der Phänomenologie menschlicher Selbsttranszendentalität Die Hinordnung auf Gott im Rahmen der theologischen Tugenden lässt sich vom Menschen her betrachtet als permanente Selbsttranszendenz rein immanent-faktischer Verhältnisse 198 und damit auch aller Handlungsziele auf diesen Gott hin verstehen. Damit wird dann folgerichtig trotz aller Lebens- und Weltbejahung, die womöglich dem Glauben erst konsekutiv sind, eine inkommensurable Differenz zwischen Anspruch und Möglichkeit christlicher Ethik und Lebenspraxis und den faktisch vorfindlichen Ethosformen etabliert und gegen alle Identität sicher gestellt. Daher hat auch völlig zu Recht bereits KARL OTTO APEL aus gesellschaftstheoretischer Perspektive festgestellt, dass theologische Tugenden „unverkennbar eine neue Distanz gegenüber allen bestimmten Gesellschaftsordnungen nebst ihren Tugendsystemen“ 199 ermöglichen. Hier kann bereits die Struktur der Hoffnung als sittliche Spannungsgeberin herausgehört werden. Denn gerade über den transzendierenden Charakter christlicher Welt- und Lebensdeutung, wie er in vorliegender Arbeit vielfältig Erwähnung findet, werden hoffnungstheoretisch betrachtet (Hoffnungs-) Spannungen errichtet zwischen Sein und Sollen, die zwar je verschieden konzeptualisiert und begründet werden können, die epistemologisch wohl auch im Kontext rein sittlicher Tugenden eingesehen und etabliert werden müssen und können, aber wohl gnoseologisch allein im Rahmen einer theologischen Tugendperspektive gegen alle Resignation, Identifikation oder Affirmation gegenüber den moralischen Verhältnissen (in) der Welt bleibend offen gehalten und quasi im Sinne des Humanums durchgehalten werden können. der Begründung einer unbedingten Verpflichtung durch das Sittengesetz und die Möglichkeit, dieser in einer bedingten und kontingenten Welt nachzukommen, ist Teil moraltheologischer Rechenschaftspflicht über moralische Letztbegründungsfragen. 198 Vgl. JOAS, H., Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg im Breisgau 2004. 199 Vgl. APEL, K. O., Kein Ende der Tugenden, in: Frankfurter Hefte 29 (1974), 783-794, hier 786. J.P. WILS schreibt daher folgerichtig: „Christliche Ethik“, besser müsste formuliert werden: sittliche Praxis u.a. aus christlichem Ethos „hat demnach einen transzendierenden Charakter, der zwar die kritisch-rationale Diskursivität normativer Aussagen nicht überspringt, wohl aber die Sinnhaftigkeit theologisch qualifizierter Ethik in Sinnbilder, in imaginierte Haltungsbilder übersetzt, die zum Gegenstand der produktiven Gewinnung sittlicher Haltungen bzw. Tugenden werden.“ Vgl. WILS, J.-P., Tugend, in: Ders. / MIETH, D. (Hrsg.), Grundbegriffe der christlichen Ethik, Paderborn 1992, 182-198, hier 194. <?page no="91"?> 4. Zur Epistemologie der Hoffnung 91 g) Orientierung an einer Transzendentalphilosophie Die Klärung der Bedingungen der Möglichkeit des Vollzugs von Hoffnung als Handlungskategorie läuft auf eine Verbindung von Handlungstheorie und Transzendentalphilosophie 200 hinaus. Demnach kann entlang der hier vertretenen These, wonach Hoffnung die (handlungsrelevante) Form der Antizipation von Sinn darstellt, festgehalten werden, dass die kantische Frage: „Was darf ich hoffen? “ direkt übersetzt werden kann in die Frage: „Was ist der Sinn des Handelns überhaupt und wie kann dieser gewährleistet werden? “. Nicht umsonst hat sich daher etwa KANT im Rahmen seines transzendentalidealistischen Ansatzes redlich bemüht, die Antinomien praktischer Vernunft dahingehend aufzulösen, dass er im Medium von Vernunftpostulaten den Sinn von Moral überhaupt zu sichern versuchte. Ob es so etwas wie eine Ethik unter absurden, d.h. irrationalen und sinnfreien Bedingungen (vgl. ALBERT CAMUS) überhaupt geben kann, kann stark bezweifelt werden. Dass aber „die mögliche Lücke zwischen der Zustimmung zur Gültigkeit einer Norm und einem der Norm entsprechenden Verhalten zu den unaufhebbaren Grundtatsachen des menschlichen Lebens gehört“ 201 , heißt nun noch lange nicht, dass transzendentalphilosophische Letztbegründungsversuche zur potentiellen Beantwortung dieser und ähnlicher Probleme keinen Sinn machen würden, weil sie nicht benötigt würden; ganz im Gegenteil: Die Unterscheidung etwa von principium diiudicationis und principium executionis und die Fragen nach der Möglichkeit einer spezifisch moralischen Motivation, ebenso nach der Motivationskraft praktischer Vernunft aus sich selbst heraus, kantisch der Möglichkeit, das vernunftgenerierte Gefühl der „Achtung vor dem Sittengesetz“ zu begründen, genauso wie Fragen nach der Bedeutung von sinnlichen Neigungen für die moralische Motivation oder die Frage nach dem Verhältnis von sinnlichen und intelligiblen Subjektaspekten für die Erkenntnis und die Realisierung des als unbedingt begriffenen Sittengesetzes, führen nicht aus der Transzendentalphilosophie heraus, sondern mitten in diese hinein, sollen die Antinomien theoretischer wie praktischer Vernunft nicht unbeantwortet bleiben und damit die Gefahr des Verlustes der Einheit des Handlungssubjektes, dessen Vernunft und der moralischen Welt, in der es handelt und lebt. h) Sinnfrage und Hoffnungszusammenhänge Selbst wenn es cum grano salis für zustimmungsfähig befunden werden sollte, dass der Sinnbegriff Ausdruck einer ontologischen Ratlosigkeit gegenüber dem Begriff des Guten darstellt, nachdem der Begriff des Seins und der des Guten auseinandergebrochen sind, so kann nicht einfach hinter diesen Bruch zurückgekehrt werden. Die Ratlosigkeit ist auch theoretisch ernst zu nehmen, zumal die Sinnkategorie in der Moderne als handlungsorientierende Zielvorgabe immer wichtiger wird, aber semantisch ein etymologisches Chamäleon darstellt und insgesamt noch zu wenig über deren Bedeutung im Rahmen einer Ethiktheorie nachgedacht wurde, wiewohl viele Gemeinsamkeiten mit Anliegen von Ethik und Moral zu Tage gefördert werden können. Eine Moralphilosophie 200 Vgl. die Beiträge in PRAUSS, G. (Hrsg.), Handlungstheorie und Transzendentalphilosophie, Frankfurt am Main 1986. 201 Vgl. PATZIG, G., Principium diiudicationis und Principium executionis: Über transzendentalpragmatische Begründungsansätze für Verhaltensnormen, in: PRAUSS, G. (Hrsg.), Handlungstheorie und Transzendentalphilosophie, Frankfurt am Main 1986, 204-218, hier 205. <?page no="92"?> IV. Methodologischer Abriss 92 und eine Moraltheologie des Sinns warten noch darauf, formuliert zu werden. Insbesondere, wenn es gilt, dass Sinnfiguren mit Hoffnung belegt werden, regelrecht Voraussetzung für die Etablierung von handlungsrelevanter Hoffnung sind und dabei immer zugleich die konkreten Hoffnungs- und damit Sinnzusammenhänge, in denen eine Handlung steht und ein Leben vollzogen wird, explizieren. 202 Mit diesen Vorschlägen sollte der erkenntnistheoretische Weg vorbereitet werden, unter Hoffnung nicht einfach ein bloßes Meinen der Zukunft gegenüber zu verstehen. Dem subjektiven Aspekt der Hoffnung hat ein objektives Korrelat zu entsprechen und die Handlungskategorie der Hoffnung hat insgesamt einen Wahrheitsanspruch zur Geltung zu bringen und diesem Genüge zu tun, in dessen Zentrum ein (vernunfttheoretisch) Universales und (erkenntnistheoretisch) Unbedingtes steht (das höchste Gut, das Gute, das Glück, Gott, die Vollendung menschlicher Bestimmung, etc.). Soll der Versuch epistemologisch überhaupt gelingen können, eine basale Handlungskategorie Hoffnung in ihrer Ubiquität auszuweisen, so wird sie nicht einfach mit praktisch allen grundlegenden Handlungskategorien auf direktem Wege zu verbinden sein, wiewohl eine solche Verbindung sachimmanent unumgänglich ist. Soll der entsprechende Versuch nicht von vornherein unter den theoretischen Attacken moderner Vernunftkritik zum Scheitern verurteilt sein, darf für dieses Unterfangen der korrespondierende Vernunftbegriff nicht zu schwach 203 angelegt sein, sonst kann weder der unbedingte Verpflichtungscharakter des Sittengesetzes erreicht werden, ganz abgesehen von Ethikkonzeptionen, die sich weit darunter ansiedeln wollen, aber keine begründungsstarke Normativität ausweisen können, noch wird unter den Bedingungen von Differenz und Kontingenz die Einheit des Menschen und seiner (moralischen) Handlungswirklichkeit auch nur annähernd erreicht werden können, die für eine tatsächliche Kraft zur moralischen Orientierung und Motivierung auf das individuelle und kollektive Glück hin und unter den Bedingungen der Endlichkeit unverzichtbar ist. Für den vorliegenden Kontext äußerst aufschlussreich und daher an dieser Stelle uneingeschränkt zu erwähnen, sind schließlich noch die wahrheitstheoretischen Auseinan- 202 Vgl. dazu anhand einer Auseinandersetzung mit KANT KAULBACH, F., Handlung und Wahrheit im Aspekt der kantischen Philosophie, in: PRAUSS, Handlungstheorie und Transzendentalphilosophie, 144-159, hier 157-158. „Der Handelnde bedarf der Gewissheit, dass seine Hoffnung auf Erfolg seiner Anstrengungen gerechtfertigt ist, er hat die Perspektive des höchsten Gutes nötig, in der er seine Handlungswelt und seine Stellung in ihr zu deuten vermag. […] Durch die Annahme bzw. Voraussetzung des höchsten Gutes als der Garantie dafür, dass nicht alles umsonst ist, wird ein letzter Erfolg der Anstrengungen des guten Willens zur Gewissheit. Diese Perspektive vermag Handeln überhaupt zu rechtfertigen und ihm Sinn zu geben. Zu den Zügen des handelnden Bewusstseins, sofern es moralisch ist, gehört nicht nur die Achtung vor dem Gesetz, sondern auch die gewisse Hoffnung auf den endgültigen Erfolg der Anstrengungen des guten Willens. […] Mit einer Notwendigkeit, die als Sinnnotwendigkeit zu bezeichnen ist, ist die Perspektive des höchsten Gutes vom handelnden Menschen anzunehmen. […] Das handelnde Bewusstsein bedarf der Sinnwahrheit seiner Weltperspektive.“ Wiewohl der Aspekt der Gewissheit bei KAULBACH wohl aufgrund vielfältiger Erfahrungen der Kontingenz und Vergeblichkeit infrage gestellt werden muss, zumal auch das höchste Gut aus sich keine Gewissheit zu geben vermag, es sei denn unter theistischen Voraussetzungen, kann der Aspekt der Sinngebung durch den orientierenden Bezug auf und die stimulierende Referenz durch die Attraktivität eines höchsten Gutes unterstützt werden. Inhaltlich entscheidend ist tatsächlich die Frage: „Was dürfen und können wir begründet hoffen? “, strukturell wird damit Handlungssinn im Medium der Hoffnung eröffnet. 203 Vgl. etwa VERWEYEN, H., Theologie im Zeichen der schwachen Vernunft, Regensburg 2000. <?page no="93"?> 5. Tugendlehre und (Fundamental-)Anthropologie des hoffenden Menschen 93 dersetzungen von ARISTOTELES mit dem Problem der sogenannten Wahrheiten über die Zukunft. Diese können zur Erhellung des epistemischen Status der Hoffnung beitragen und auf eine darauf bezugnehmende Verknüpfung mit der Handlungspraxis des Menschen rekurrieren. Demnach unterscheidet ARISTOTELES zwischen zwei Wahrheiten der Zukunft gegenüber, notwendigen und kontingenten. Notwendige Wahrheiten sind logische Wahrheiten, etwa tautologische Aussagen, die den Gesetzen der Logik folgen („Morgen wird es regnen oder es wird nicht regnen“) und nicht unmittelbar mit menschlichen Handlungsmöglichkeiten zu tun haben. Neben den logisch notwendigen sind alle anderen Wahrheiten über die Zukunft nach ARISTOTELES kontingent. Er diskutiert für diesen häufigen Fall den Satz: „Morgen findet eine Seeschlacht statt.“ 204 Für ARISTOTELES kann diese Aussage noch keine mit absoluter Gewissheit ausgestattete Wahrheit zum Ausdruck bringen, denn sonst enthielte diese Zukunft keine Handlungsmöglichkeiten mehr für uns und es wäre uns auch nicht mehr möglich, diese Seeschlacht zu verhindern. Mit GEERT KEIL könnte dies das „Argument aus der Beeinflussbarkeit der Zukunft“ 205 genannt werden. Der von ARISTOTELES erörterte Satz ist nun in der Nomenklatur der vorliegenden Arbeit eine Erwartung 206 gegenüber der Zukunft (Verhältnis erster Ordnung), für die es Hinweise oder gar empirische Indizien geben mag, zu der wir uns aber insgesamt in ein Verhältnis zweiter Ordnung setzen können - hoffend, verzweifelnd, ängstlich, etc., je nach der Tönung bzw. Färbung der existenziell damit verbundenen Valenzen. Schließlich sagen wir ja auch nicht, dass solche und ähnliche Aussagen schlicht wahr sind, sondern dass diese sich erst bewahrheiten müssen. So besehen markiert der Unterschied für ARISTOTELES den Raum der Freiheit der Zukunft gegenüber und - in gewisser Weise - die Hoffnung auf deren Beeinflussbarkeit. Denn zur Möglichkeit der Bewahrheitung können wir uns handelnd, die Zukunft beeinflussend verhalten. Und die Möglichkeit der Einflussnahme entlang unserer Hoffnungen, Ängste, etc. den Erwartungen gegenüber vermag uns umgekehrt zu mobilisieren. Mit anderen Worten: Mit der wahrheitstheoretischen Kontingenz unserer Aussagen der Zukunft gegenüber verbindet sich für ARISTOTELES die Beeinflussbarkeit der Zukunft durch menschliches Handeln und die Freiheit dieses Handelns gegenüber einer nicht gewissen und nicht festgelegten Zukunft. 207 5. Tugendlehre und (Fundamental-)Anthropologie des hoffenden Menschen Die klassischen Topoi des moraltheologischen Nachdenkens über Hoffnung waren vorrangig der Tugendtraktat der Moraltheologie und innerhalb der Dogmatik, spätestens ab dem 19. Jahrhundert, die Eschatologie als Lehre von den letzten Dingen. 208 Ausgehend 204 Vgl. ARISTOTELES, De interpretatione [Peri Hermenaias], übersetzt von Hermann Weidemann, Berlin 1994, 9ff. 205 Vgl. KEIL, G., Willensfreiheit, Berlin 2007, 23ff. 206 Vgl. Kapitel VII 1 b) in dieser Arbeit. 207 Wahrheitstheoretisch wird es darum gehen, zu diskutieren, ob Wahrheit mit und ohne Zeitindex versehen werden kann bzw. überhaupt darf oder gar muss - ohne den Satz vom ausgeschlossenen Dritten zu verletzen. 208 Vgl. MÜLLER-GOLDKUHLE, P., Die Eschatologie in der Dogmatik des 19. Jahrhunderts, Essen 1966. <?page no="94"?> IV. Methodologischer Abriss 94 von dieser Verortung haben sich beide Reflexionsorte sowohl als Entdeckungs-, als auch als Begründungszusammenhänge in Anlage und Ertrag der vorliegenden Studie wiederzufinden. Dabei nimmt diese einen doppelten Fokus ein, wenn sie (1) den Begriff und die Kategorie 209 der Hoffnung in ihrer strukturellen Ausprägung thematisiert und wenn sie (2) das Handlungssubjekt, das hofft, vor Augen hat und damit die Hoffnung als praktische Vollzugswirklichkeit im Rahmen menschlicher Handlungswirklichkeit verortet. So gesehen wird eine Entsprechung herausgearbeitet werden müssen zwischen der anthropologischen Situation des handelnden Menschen in der Welt und quasi konsekutiv der Möglichkeit und Notwendigkeit des Vollzugs von Hoffnung auf der einen Seite und den angestammten Topoi der (moral-) theologischen Hoffnungsreflexion auf der anderen Seite, die damit eine Öffnung und anthropologische Vertiefung zugleich erfahren. Aus diesem Grund wird hier dafür plädiert, die Ausbildung von Tugenden, auch von Tugendhaftigkeit als einer an Haltungsbildern orientierten Charaktereigenschaft, von einem Begriff der Bestimmung des Menschen abhängig zu machen, da sich allererst von dort her eine umfassende, integrative, d.h. sowohl anthropologisch fundierte, als auch moraltheologisch erschlossene Gestalt von Hoffnung als Tugend, die sich zugleich als eschatologisch zu erkennen gibt, verständlich machen lässt. 210 a) Die Situation des handelnden Menschen in der Welt. Sinnentwürfe und Erfüllungsgestalten Die Rede von der Bestimmung des Menschen, wie es eine umfängliche Thematisierung der handlungstheoretischen Bedeutung der Hoffnungskategorie fordert, indem sie einen Ausgriff auf ein letztes Gelingen potentiell zu ermöglichen versucht, macht einen Übergang von der Hermeneutik der faktischen zur Hermeneutik der praktischen Grundsituation des Menschen 211 notwendig, denn aller alleinige Fokus auf die Faktizität depotenziert den Menschen und reißt auseinander: Sein und Sollen, Faktizität und Normativität, Vernunft und Natur, Subjekt und Objekt, etc. 212 Der Bezug auf die praktische Situation des Menschen lässt daher nicht nur die praktische Wirklichkeit des Menschen in umfassendem Sinne potentiell zur Geltung kommen, sie erlaubt auch alle relevanten Hand- 209 Vgl. HÖVER, G., Überlegungen zum Problem ethischer Kategorienbildung, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 48 (2004), 46-53. 210 Hoffnung setzt, soll sie ihre ganze Potentialität zur Orientierung, energetisierenden und therapeutischen Bewältigung und (sittlichen) Finalisierung menschlichen Daseins im Rahmen menschlicher Handlungswirklichkeit entfalten können, eine spezifische Anthropologie voraus, die bei Missachtung das Hoffnungspotential des Menschen depotenziert und letztlich Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung begünstigt. Hoffnung ist dabei nicht einfach eine Chiffre für die Sehnsucht des Menschen nach dem ganz anderen, denn diese bietet keine wirkliche Orientierung, bietet keine verheißungsvolle Sinnaussicht und wird daher auch, so darf begründet vermutet werden, von den Erfahrungen in der Welt schnell enttäuscht werden. 211 Vgl. RENTSCH, T., Die Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, Frankfurt am Main 1990, 109 und 195. 212 „Wenn die primären praktischen Sinnentwürfe unlöslich verbunden sind mit ihren möglichen Erfüllungen, dann dürfen wir grundsätzlich kein reduktionistisches Situationsverständnis etablieren und praktisch werden lassen, in welchem unsere Lebenssituationen auf pure Faktizität beschränkt werden.“ Vgl. RENTSCH, Konstitution, 113. Gerade die Hoffnung wird sich im Fortgang der Arbeit noch als Brückenkategorie erweisen, die in ihrem Vollzug als Tugend solche und ähnliche Polaritäten zu vermitteln vermag und so überhaupt erst die Einheit des Handlungssubjekts und eine einheitliche Handlungsorganisation möglich macht. <?page no="95"?> 5. Tugendlehre und (Fundamental-)Anthropologie des hoffenden Menschen 95 lungskategorien in den Blick zu nehmen - und damit auch die der Hoffnung. Von der praktischen Situation des Menschen fundamentalanthropologisch auszugehen, heißt nun aber auch, dass damit ein anthropologischer Universalismus vertreten wird, der zugleich auf das schlichte fundamentalanthropologische Defizit im Rahmen praktischer Philosophie und Moraltheologie hinweisen soll. 213 Als Indikator kann pars pro toto gelten, dass entweder unverhohlen dekonstruktivistisch gedacht wird, oder die Pluralisierung der Anthropologien zwar zurecht als unüberwindlich konstatiert wird, aber daraufhin Versuche unterlassen werden, die Fülle an humanwissenschaftlichen Einzelentwürfen einer systematisierenden Theoriebildung auf einen Gesamtentwurf hin zu bündeln. Nach wie vor sind Einsichten philosophischer Anthropologie zur Beschreibung der Situation des Menschen in der Welt geeignet, die ihm etwa eine „exzentrische Positionalität“ 214 zuschreiben, also die Fähigkeit, zu sich und seinem Zentrum in ein Verhältnis zu treten und sich davon selbstreflexiv distanzieren zu können. Diese Fähigkeit lässt eine „natürliche Künstlichkeit“ entstehen, die ihm wiederum einen „utopischen Standort“ zuweist - als einem wichtigen anthropologischen Korrelat für das Verständnis humanen Hoffnungsvollzugs. Systematisch wird hier die fundamentale Handlungsunsicherheit des instinktschwachen und weltoffenen Menschen benannt, was einen basalen Orientierungsbedarf zur Folge hat. Wird diese grundständige Unsicherheit in der Welt- und Selbstauslegung in ihrer ganzen Fraglichkeit zugelassen und nicht vorschnell reduktionistisch geschlossen, kann sie auf die Sinnfrage hin zugespitzt werden. Dabei gibt sich der Mensch als ein ‚vor-läufiges‘ Wesen zu erkennen, das Endgültigkeit sucht. 215 Er läuft sich quasi voraus in eine Zukunft hinein, die seine Zukunft werden soll, um Gewissheit über sich und seine fragliche Existenz zu bekommen. Aus christlicher Perspektive kommt ihm dabei Gott entgegen - und gibt ihm Hoffnung auf Endgültigkeit seines Verlangens nach Anerkennung, Frieden, Versöhnung, Glück. Die sittlich konnotierte Sinnfrage stellt sich demnach immer dann, wenn der angestammte sinnerschließende, sinnverheißende und damit orientierende Zusammenhang meines Lebens im Allgemeinen und meines Handelns im Besonderen, auch und gerade meiner Handlungsfähigkeit, nicht mehr fraglose Gültigkeit besitzt und nolens volens die Frage aufbricht, welche Zusammenhänge wieder je neu Sinn eröffnen könnten. Damit sind Entitäten angesprochen, auf die hin ich mich dann handelnd orientieren könnte, schlicht: auf die hin ich mich entwerfe und von denen ich mir (hoffend) etwas (Sinnträchtiges) verspreche zur Verortung in der Welt. Diese Entitäten aber, sollen sie handlungswirksam werden, machen den Vollzug von Hoffnung nötig und setzen Selbsttranszendenz voraus, denn Hoffnung realisiert dieses Auslangen nach Sinnvalenzen quasi als 213 Vgl. WILS, J.-P., Anmerkungen zur Wiederkehr der Anthropologie, in: Ders. (Hrsg.), Anthropologie und Ethik. Biologische, sozialwissenschaftliche und philosophische Überlegungen, Tübingen / Basel 1997, 9-40; WILS, J.-P., Anthropologie, in: Ders. / MIETH, D. (Hrsg.), Grundbegriffe der christlichen Ethik, Paderborn 1992, 162-181. 214 Vgl. PLESSNER, H., Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin 2 1965. 215 Vgl. REVERS, W.J., Über die Hoffnung. Die anthropologische Bedeutung der Zukunft, in: Jahrbuch für Psychologie, Psychotherapie und medizinische Anthropologie 14 (1966), 175-185, hier 175-178. Damit ist der Mensch als Mensch nie nur in der Gegenwart existent, wenn diese nicht zugleich seine Vergangenheit und Zukunft umfassen würde. Hoffnung drückt dabei so etwas wie die Gerichtetheit seiner Werdegestalten aus. Verliert er diese Zukunft, ist fundamentales Daseinsvertrauen erschüttert und droht Selbstauflösung, wie vielfältige Forschungen zur Suizidentstehung zeigen können. <?page no="96"?> IV. Methodologischer Abriss 96 konstruktive und die Handlungsfähigkeit erhaltende Antwort auf diese basale Offenheit. Langt der Mensch auf diese Weise, d.h. hoffend nach der Zukunft seiner selbst und nach dem möglichen Sinn dieser Zukunft aus, dann ermöglicht diese potentiell einen Antriebsüberschuss gegenüber der realen Umwelt als unmittelbare handlungsmäßige Folge, da sie über das Medium der Hoffnung und sowohl durch außerordentlich attraktive Sinnaussichten als auch auf diese hin mobilisierend und nachhaltig motivierend wirkt. So können wir an dieser Stelle mit THOMAS RENTSCH zusammenfassend formulieren: „Das menschliche Leben in der primären Welt“, das heißt der Lebenswelt des Menschen, der eigentlich erst menschlichen Welt, mithin der lebensweltlich-praktischen Situation, in die sich der Mensch als Mensch allererst gestellt sieht, „bestimme ich als praktischen Sinnentwurf mit Richtung auf Erfüllungsgestalten. Diese Erfüllungsgestalten sind wesentlich kommunikativ.“ 216 Mit anderen Worten: „Situationen in der menschlichen Welt erscheinen im Horizont ihrer Erfüllungsgestalten und werden nur in einem solchen Horizont überhaupt verstehbar, und dies gilt bereits für eine sehr elementare Ebene.“ 217 Damit wird die menschenspezifische (Handlungs-) Situation als zentral bestimmt von in dieser Lebenswelt verorteten Sinnentwürfen gedacht, die ihrerseits auf ihre je eigenen Erfüllungsgestalten hingeordnet verstanden werden. Erneut mit RENT- SCH prägnant formuliert: „Menschen existieren als praktische Sinnentwürfe ihrer selbst.“ 218 Die Sinnverheißungen dieser Entwürfe werden real und die Entwürfe damit allererst handlungsrelevant im Medium der Hoffnung, sodass sich bereits an dieser Stelle andeutet, was eine der zentralen Thesen der vorliegenden Arbeit darstellt, dass Hoffnung als eine Form der Antizipation von Sinn zu konzeptionalisieren ist. Diese Sinnentwürfe sind nun, wie bereits erläutert, erst von ihren Erfüllungsgestalten her verständlich, d.h. von ihrer Funktion und ihrem Gehalt als Hoffnungsgut, sodass von deren Apriorität die Rede sein muss. Genauer gesagt: Die praktischen Entwürfe des Menschen machen erst im Blick auf die darin aufscheinenden Erfüllungsgestalten den Sinngrund dieser Entwürfe überhaupt möglich. Das dahinter freizulegende Sinnbedürfnis, das sich grundlegend in Hoffnungen artikuliert und zu erkennen gibt, hat damit einen zentralen Grund in der Fundamentalanthropologie der Situation des (handelnden) Menschen in der Welt. Der Begriff der Bestimmung des Menschen, der sich u.a. konstituiert durch Autonomie, Vernunft, kommunikative Solidarität und Sprache, kann in der Diktion des vorliegenden Gedankenganges als Inbegriff von Lebenssinngestalten gefasst werden, der auf diese Weise die Sinnbedingungen des Lebens insgesamt benennen kann, die real werden in den darauf Bezug nehmenden Hoffnungen. Diese wiederum können praktisch lebbar werden, sich also ihrerseits rückkoppeln in die personale und situationale Lebenswelt des Handelnden hinein, wenn sie in den Tugendaufbau menschlicher Handlungswirklichkeit integriert werden. 216 Vgl. RENTSCH, T., Die Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, Frankfurt am Main 1990, 106. Vgl. bestätigend auch die Ausführungen zur Kommunikationspragmatik von JÜRGEN HABERMAS und deren Orientierung an der idealen Sprachsituation in Kapitel II dieser Arbeit. 217 Vgl. RENTSCH, Konstitution, 116. In der Nomenklatur der vorliegenden Studie heißt das, von Hoffnung als einer Erkenntnisquelle zu sprechen. 218 Vgl. ebd. 192. Oder anders gesagt: „Die Rede vom Menschen, die Rede von uns selbst hat gar keinen Sinn, wenn wir sie nicht bereits so verstehen, dass Personen einzig und allein über ihre Lebenssinngestalt angemessen begriffen werden.“ Ebd. 221. <?page no="97"?> 5. Tugendlehre und (Fundamental-)Anthropologie des hoffenden Menschen 97 b) Der Tugendbegriff und seine Aufgaben Tugendethische Ansätze verfolgen vorrangig das Ziel, mittels einer Rechenschaft über die Konzepte des Guten, auch des höchsten Gutes, des Glücks bzw. der Glückseligkeit und insbesondere mit den Begriffen der Tugend, des Charakters und der damit organisch verbundenen Vernunft, genauso wie in Verbindung mit der ganzen körperlichgeistig-seelischen Antriebsstruktur des Menschen eine Orientierung dafür zu bieten, wie ein (tugendgemäßes) gutes Leben zu führen sei. Diesseits der Unterscheidung von deontologischen und teleologischen Ethiktypen geht es der Tugendethik um eine buchstäblich grundlegende, die Ganzheit des menschlichen Vermögens umfassende Verbindung der Belange der Ethik mit dem Lebensvollzug, der sich als hingeordnet auf ein Gut, letztlich ein höchstes Gut erlebt, in dem alle denkbaren Strebungen des Menschen eine Erfüllung finden. Der Weg dorthin ist ein Weg auf der Suche nach dem guten Leben und nach dem Glück, ist ein Weg der vom Charakter getragenen Haltungsbilder, der Tugenden, die nicht formalistisch, abstrakt oder heteronom auf das Gute hin orientieren, sondern in einer mit der Antriebs- und Affektstruktur tief verwurzelten und sich von daher energetisierenden und genauso von der Vernunft des Menschen wohlgeordneten Form des Lebens ihren Grund haben. Ziel der Tugend ist die Etablierung und Aufrechterhaltung von Haltungen und Haltungsbildern zur Ermöglichung eines guten Lebens, dieses freilich im doppelten Sinne des Wortes, zunächst (internalistisch) als gut erlebtes, bejahenswertes und glückliches Leben, dann aber genauso (externalistisch) ein moralisch gutes Leben, denn jenes ist ohne dieses nicht zu haben, insbesondere unter der Voraussetzung eines Konflikts zwischen Moral und Glück, wie er in aller Schärfe und Konsequenz wohl erst im Rahmen der Moralphilosophie von IMMANUEL KANT 219 zu finden ist. Tugend ist Habitus (hexis), aber nicht jeder Habitus ist Tugend. Der tugendhafte Habitus, erworben unter anderem durch Gewöhnung und Übung und im Ausgleich von Extremen (mesotes), versehen mit einer phronetischen Komponente, ist bezogen auf das Tun und Lassen und bezogen auf das Gute (habitus operativus, habitus bonus). Als solcher dient er durch die Habitualisierung der Entlastung konkreter Entscheidungs- und Handlungssituationen und ermöglicht zugleich einen tugendhaften ethischen Charakter, der sich seinerseits als hingeordnet auf das Gute erlebt, von dem er sich ein gutes Leben, Glück und Gelingen verspricht und erhofft. Ein Verständnis der Tugend als umfassende „anthropologische Strukturformel“ 220 , das sich an THOMAS VON AQUIN als einem wichtigen Gewährsmann moraltheologischer Tugendlehre bis heute orientiert, kann, angewendet auf die theologische Tugend der Hoffnung, verhindern, dass es zu einem theologischen Überstieg 221 kommt, einer 219 Vgl. dazu Kapitel V 6 in dieser Arbeit. 220 Vgl. SCHOCKENHOFF, E., Bonum hominis. Die anthropologischen und theologischen Grundlagen der Tugendethik des Thomas von Aquin, Mainz 1987, 255. 221 Häufig wurde dabei der Weg beschritten, die durch das Erlösungskerygma eröffnete Hoffnung vorschnell zu normieren und quasi dadurch moralisch allererst zugänglich zu machen, den Ausgang für notwendige Normierungsprozesse also vom erlösten Menschen zu nehmen und davon deduktiv weltliche Normen abzuleiten, wobei die Gefahr übersehen wurde, dass genau dadurch die grundlegende Hoffnungsspannung der Erlösung einseitig aufgelöst wurde. Es kann von einer Moraltheologie vom erlösten Menschen her gesprochen werden mitsamt den daraus in der Tradition erwachsenen Problemen: Von diesem theologischen Diktum herkommend erschien es denkbar, deduktiv bestimmen zu können, wie ein „Erlöster“ handelt, um daraus wiederum Normierungen abzuleiten - in der irrigen Annahme, Erlösung schlicht in der Gegen- <?page no="98"?> IV. Methodologischer Abriss 98 theologisierenden Unterschlagung des anthropologischen Fundamentes, das die virtus einzeichnet in die Konstituenten seines leiblich-seelisch-geistigen Handlungsaufbaus. EBERHARD SCHOCKENHOFF schreibt daher folgerichtig: „Von der virtus muss dort geredet werden, wo danach gefragt wird, wie sich die Genese und die Vollendung des sittlichen Lebens in ihrer anthropologischen Innensicht zeigen.“ 222 Diese ist allerdings begrifflich zu konkretisieren und strukturell zu differenzieren, denn zwischen der Forderung, mittels eines an THOMAS geschulten Tugendbegriffs dessen anthropologische Strukturen nicht zu überspringen, und einer dezidierten Explikation und Konkretion via interdisziplinärem Gespräch mit den Humanwissenschaften, ist ein großer Unterschied. Von THOMAS nicht explizit bedacht wurde allerdings das Verhältnis von eingegossenen theologischen (virtus infusa) Tugenden und erworbenen Tugenden (virtus acquisita) 223 . Dieses Verhältnis schlägt strukturell das Thema der vorliegenden Arbeit an, wenn zwischen einer „natürlichen“ Hoffnung und der gnadengewirkten theologischen resp. „übernatürlichen“ Tugend der Hoffnung unterschieden wird und dabei nach den anthropologischen Strukturen der natürlichen Tugend der Hoffnung im Zueinander zur theologischen gefragt wird. Diese Frage der Zuordnung mag sich strukturell wiederfinden in der Anlage der Arbeit, nichtsdestotrotz gibt es Stellen im Werk von THOMAS, die andeuten können, dass für ihn „Hoffnung ihrem Wesen nach“ 224 übernatürlichen Ursprungs ist. THOMAS kennt zwar eine natürliche Hoffnung, auch wenn er sie nicht unzweideutig verwendet 225 , bezeichnet sie aber gerne als magnanimitas. Auf diese Weise kann zwar ausreichend gewürdigt werden, dass erst von der theologischen Hoffnung her die natürliche Hoffnung aufgenommen, umgeformt und auf ihr letztes Ziel hin orientiert werden kann, aus dem Blick gerät dadurch freilich allzu leicht, dass auch natürliche Hoffnung bereits den Vorschein des Übernatürlichen in sich trägt und quasi in dieselbe Richtung verweist, schließlich baut diese ja auf jener auf, allerdings vermag sie aus sich selbst heraus das, worauf sie bereits eo ipso verweist, in keiner Weise wart wissbar resp. verfügbar zu haben, sie quasi einfach gegenwärtig setzen zu können unter Missachtung der Spannung, aus der sie sich wesentlich speist und ohne sie damit überhaupt noch hoffend erwarten zu müssen. Hieraus sollte Handeln orientiert und motiviert werden. Erlösung sollte quasi schlicht „in die Tat“ umgesetzt werden, nachdem sie uns im Rahmen der Offenbarung zugänglich gemacht wurde - ohne zu bedenken, dass dies hieße, aus der Hoffnung auf Erlösung und damit aus einer fundamentalen Spannung zu leben. Heilspositivismus ist auch anthropologisch falsch, weil er eine Spannung auflöst, statt sie aufzurichten, weil er ein Wissen und damit eine Verfügbarkeit insinuiert, das bzw. die nicht existiert und weil damit auch zugleich der Existenzeinsatz und Existenzvollzug negiert werden würde, der in der Hoffnungsbasis (erlöster) Handlungswirklichkeit auszumachen ist. Die Spannung von Erfahrung, Realität und Wirklichkeit auf der einen Seite und der Hoffnung auf Erlösung und (sittliche) Vollendung auf der anderen Seite. Auf diese Weise kann heute weder von Hoffnung gesprochen werden, noch moraltheologisch das Zuordnungsverhältnis von Empirie und Normativität gedacht werden, weil so weder Normierungsprozesse autonom auf der Basis praktischer Vernunft gelingen, sondern strikt theonom verortet werden müssten und weil auf der einen Seite den naturalen Grundlagen der Hoffnung zu wenig Rechnung getragen werden könnte und auf der anderen Seite das spezifische Gepräge christlicher Erlösung (-shoffnung) zwischen Schon und Noch-Nicht nicht ausreichend in den Blick zu kommen vermag. 222 Vgl. SCHOCKENHOFF, Bonum hominis, 254. 223 Vgl. ebd. 288. 224 Vgl. ebd. 418. 225 Vgl. AQUIN, T. VON, S. th. II-II 129, 7: „[…] spes directe pertinet ad magnanimitatem”. Vgl. dazu auch RAMIREZ, J.M., La esencia de la esperanza cristiana, Madrid 1960, 112. <?page no="99"?> 5. Tugendlehre und (Fundamental-)Anthropologie des hoffenden Menschen 99 zu verbürgen oder gar einzulösen. So ist JOSEF PIEPER nicht mehr uneingeschränkt zuzustimmen, wenn er schreibt: „Denn die Hoffnung ist entweder theologische Tugend, oder sie ist überhaupt nicht Tugend. Sie wird zur Tugend durch nichts anderes als wodurch sie theologische Tugend wird.“ 226 Das dürfte der thomanischen Auffassung wohl weitgehend entsprechen, nach der sich wahre Hoffnung nur in einem absoluten Vertrauen auf die Macht Gottes zum Ausdruck bringt, in einem „inneren Aufschwung ins Ewige“ 227 , übersieht aber, dass damit eine Anschlussfähigkeit an die von der Anthropologie und der Erfahrung geprägten neuzeitlich-modernen Einsichten in die Wirkung von Hoffnung, die sich ihres Gottesbezugs (unthematisch) vielleicht nicht immer bewusst ist, nur durch große interdisziplinäre Vermittlungsbemühungen möglich gemacht werden kann und damit die Verwirklichung theologischer Hoffnung unter den Bedingungen der Welt nicht gerade erleichtert, ganz abgesehen davon, dass sie den darin schon in nuce anwesenden und entsprechend ausgerichteten Nukleus theologischer Hoffnung weder ausreichend wahrnehmen, noch würdigen kann. Tugend ist dabei in einem ersten (mit AUGUSTINUS, PETRUS VON POITIERS 228 und PETRUS LOMBARDUS 229 ) von zwei großen Traditionssträngen 230 des Tugendverständnisses als die rechte „Beschaffenheit des Geistes“ (bona qualitas mentis) zu qualifizieren, die ihren letzten theologischen Grund in Gott selbst hat und allererst von Gott selbst im Menschen hervorgebracht wird, aber zugleich eine schöpfungstheologisch begründete breite anthropologische Fundierung 231 kennt, quasi als naturale Basis, die das ihr eigene Hingeordnetsein auf die beatitudo aeterna nicht allein einzeichnet in menschliche Vernunft, sondern auch einzeichnet in die gesamte Antriebsstruktur des Menschen. Der zweite große Strang (ARISTOTELES) zielt dagegen dezidiert auf den Habitus, auf die persistente Handlungsdisposition aufseiten des Menschen, die „den, der sie besitzt, in seinem Sein und in seinem Tun gut macht“ 232 . THOMAS VON AQUIN kam nun das wirkmächtige Verdienst zu, beide Stränge in ein umfassendes Konzept verbunden und diesem mit dem Gedanken der Liebe als „Form“ (forma virtus) aller Tugenden einen systematischen Einheitspunkt verliehen zu haben. Dieser bereits hier aufscheinende Bezug zur ganzen Handlungswirklichkeit des Menschen kann die thomanische Tugendkonzeption als systematische Verbindung der beiden Traditionsstränge als höchst aktuell ausweisen, da sie potentiell erlaubt, alle am Handlungsaufbau beteiligten Triebkräfte und Strukturen konstruktiv aufzunehmen, zugleich auf ein Letztziel hin zu orientieren und bis in den tugendhaft geprägten Charak- 226 Vgl. PIEPER, J., Über die Hoffnung, Freiburg 2006, 25. 227 Vgl. FRIES, A., Hoffnung und Heilsgewissheit bei Thomas von Aquin, Studia moralia. Academia Alfonsiana, Institutum Theologiae VII: Contributiones, 131-236, hier 136. 228 Vgl. POITIERS, P. VON, Glosse zu den Sentenzen III, 1, PL 211, 1041. 229 Vgl. LOMBADUS, P., Sent. II, dist. 27, cap. 27: Virtus est qualitas mentis, qua recte vivitur, qua nullus male utitur, quam Deus in nobis sine nobis operator. 230 Vgl. HILPERT, K., Tugend, Tugendlehre. Theologisch-ethisch (Art.), in: HUNOLD, G.W. (Hrsg.), Lexikon der christlichen Ethik Bd. 2, Freiburg im Breisgau 2003, 1857-1858. 231 Mit W. VON AUXERRE etwa kann als einem der ersten eine anthropologische Fundierung der Tugend- und der Sündenlehre verbunden werden, was später die Spannung zwischen theologisch-übernatürlichen Tugenden und natürlichen Tugenden vorbereitete, etwa auch bei THOMAS VON AQUIN. Vgl. ERNST, S., Ethische Vernunft und christlicher Glaube. Der Prozess ihrer wechselseitigen Freisetzung in der Zeit von Anselm von Canterbury bis Wilhelm von Auxerre, Münster 1996. 232 Vgl. AQUIN, T. VON, S. th. I-II, 55, 3ff. <?page no="100"?> IV. Methodologischer Abriss 100 teraufbau hinein habitualisieren zu lassen. Hier scheint ein mögliches Modell der Integration auf. Daher: „Nicht ein Segment des Handelns, sondern das Handeln selbst wird durch Glaube, Hoffnung und Liebe auf sein die natürlichen Kräfte des Menschen übersteigendes Ziel hingeordnet. Sie wurzeln daher nicht im eigenen Seelenvermögen, sondern richten die natürlichen Potenzen auf das ihre Eigenkraft radikal übersteigende Ziel der beatitudo hin aus.“ 233 Wiewohl subjektivierende und relativierende Tendenzen gegenüber dem Versuch einer Zielbestimmung des menschlichen Lebens und seiner Handlungswirklichkeit zu einem Bedeutungsverlust des Tugendbegriffs (ebenso dem sittlich relevanten Glücksbegriff) in der Neuzeit geführt haben, auch und gerade durch stark pluralisierende Züge in der Moderne, ist gegenwärtig völlig zurecht eine Rehabilitierung des Tugendbegriffs im Gange, die die eigentlichen Stärken des Tugendkonzepts in strikt verfahrensrationalen und konsensorientierten Regelethiken nicht mehr repräsentiert sehen und daher eine Reformulierung der Tugendethik unter Integration normbezogener Ethiken fordern. 234 MAXIMILIAN FORSCHNER ist daher uneingeschränkt zuzustimmen, wenn er schreibt: „Der Erfolg dieses Versuches [der Rehabilitierung der Tugendethik, R.L.] wird daran hängen, inwieweit es noch gelingt, über eine Minimalethik (der Begründung) von Menschenrechten hinaus inhaltliche Ziele menschlichen Lebens als generell überzeugend und entsprechende Lebensformen als vorbildhaft aufzuweisen und zugleich den vernünftigen Ansprüchen eines kulturellen Pluralismus gerecht zu werden.“ 235 Dabei wird eine gründliche anthropologische Fundierung einzelner Tugenden bzw. der Tugendhaftigkeit selbst nicht unerheblich Anteil haben, wie es hier mit der Hoffnung oder andernorts mit der Gerechtigkeit 236 versucht wird. Für dieses Unterfangen sind allerdings sowohl einseitig praktisch-moralische als auch theoretisch-ethische Engführungen in der Theoriebildung zu vermeiden, da gerade die Vermittlung beider Akzente zu den eigentlichen Stärken der Tugendethik zählen kann. Schließlich werden folgerichtig, wie schon bei ARISTOTELES zu finden, aber in den aktuellen Kontroversen zwischen Tugend- und Regelbzw. Normenethik zu wenig systematisch bedacht, intellektuelle und moralische Tugenden voneinander unterschieden, wird zwischen ethischen und dianoetischen Tugenden differenziert. Beide Tugendreihen werden durch die Sonderstellung der Klugheit vermittelt und bilden quasi in ihrer Doppelstruktur die Voraussetzung dafür, alle am Handlungsaufbau beteiligten „Seelenkräfte und Handlungspotentiale“ anzusprechen und damit auch den gesamten Gegenstandsbereich menschlicher Handlungswirklichkeit potentiell bestimmen zu können auf das Gute hin. „Dass der Mensch gut handelt, dazu braucht es die richtige Verfassung sowohl der Vernunft als des spezifischen Maßstabes menschlicher Sittlichkeit wie auch seiner sinnli- 233 Vgl. SCHOCKENHOFF, Bonum hominis, 284. 234 Dazu ist auf die Grundlegung der Ethik von EBERHARD SCHOCKENHOFF zu verweisen, wobei hier der Ausgangspunkt ein klar tugendethischer ist, sodass die Reflexionen zur Normtheorie weitgehend ohne Verhandlung des ethischen Universalismus und Erwägungen bzgl. der theoretischen Probleme der Vermittlung tugend- und normethischer Erwägungen auszukommen scheinen. Vgl. SCHOCKENHOFF, E., Grundlegung der Ethik. Ein theologischer Entwurf, Freiburg 2007, 303-568. Vgl. auch als frühen Versuch KRÄMER, H., Integrative Ethik, Frankfurt am Main 1995. 235 Vgl. FORSCHNER, M., Tugend, Tugendlehre. Philosophisch (Art.), in: HUNOLD, G.W. (Hrsg.), Lexikon der christlichen Ethik Bd. 2, Freiburg im Breisgau 2003, 1851-1857, hier 1852. 236 Vgl. BORMANN, F.-J., Soziale Gerechtigkeit zwischen Partizipation und Fairness. John Rawls und die katholische Soziallehre, Fribourg / Freiburg im Breisgau 2006. <?page no="101"?> 5. Tugendlehre und (Fundamental-)Anthropologie des hoffenden Menschen 101 chen Antriebskräfte. Die Vernunftbestimmung menschlicher Existenz verwirklicht sich nicht ausschließlich in der rationalen Ordnung, sodass Sittlichkeit und Rationalität deckungsgleich in eins fallen, sondern in der doppelten Struktur des eigentlichen Vernunftvermögens (rationale per essentiam) und der darauf hingeordneten Handlungskräfte (rationale per participationem). Das dem Menschen aufgrund seiner rationalen Lebensform zugedachte Gut beschränkt sich nicht auf die kognitiven und willentlichen Funktionen, sondern schließt die leidenschaftlichen Seelenpotenzen mit ein; das bonum hominis gilt dem Menschen in seiner leiblich-seelischen Ganzheit. Da sich aber alle menschlichen Tätigkeiten entweder auf das Erkenntnis- oder Strebevermögen (oder beide zugleich) zurückführen lassen, muss jede Tugend der Doppelstruktur von intellectus sive ratio und appetitus zugeordnet sein.“ 237 Auch die sinnlichen Leidenschaften sind daher - gegen AUGUSTINUS - Träger der sittlichen Tugend und werden von dieser in Übereinstimmung mit der Vernunft integriert und auf ihren Zielpunkt hin umgeformt. 238 Diese von SCHOCKENHOFF sogenannten „leidenschaftlichen Potenzen“ sind nun auch unter Einbeziehung der Einsichten empirischer Psychologie zur Antriebsstruktur des Menschen, seinem ganzen psychischen Strukturaufbau, seinem Veränderungspotential und dessen Voraussetzungen, schlicht unter Einbeziehung aktueller Vorstellungen seiner naturalen Beschaffenheit zu konkretisieren, um quasi das Wie der spezifischen Hinordnung der Seelenkräfte auf die rationale Ordnung und dem darin zum Vorschein kommenden Guten zu explizieren. Die „natürlichen Potenzen“ der Tugend sind daher einer Reformulierung zu unterziehen unter Aufnahme der Einsichten moderner Humanwissenschaften und zu ergänzen über die dezidiert strukturelle Konstitution der menschlichen Antriebskräfte, seiner Psyche und seiner Handlungsorganisation. Unter diese Aspekte eines philosophischen und theologischen Tugendbegriffs kann nun völlig zu Recht die Hoffnung subsumiert werden, wobei entsprechende Ansätze - wie besehen - es noch zu wenig erlauben, eine interdisziplinäre Integration einschlägiger empirischer Einsichten vorzunehmen. Mit Erstaunen und etwas Befremdung muss man daher auch auf dem Hintergrund dieser höchst aktuellen Tugendkonzeption feststellen, dass für THOMAS, mit Blick auf die hier im Zentrum stehende Tugend der Hoffnung, die zeitlichen Hoffnungsgüter nur sekundär unter die spes fallen, was nicht allein biblisch nur schwer mit entsprechenden Zeugnissen vereinbar ist, insbesondere mit Blick auf das Alte Testament, sondern auch Gefahr läuft, die eigentliche Stärke seines Tugendbegriffs, den er strikt theozentrisch begründet, nicht ausreichend zur Geltung zu bringen, was wiederum das interdisziplinäre Gespräch mit dafür einschlägigen Humanwissenschaften (weiter) erschweren würde, sondern auch ihre eigentliche Verwirklichung in der Welt nicht verständlich machen könnte. Eine Reformulierung müsste daher eine Verknüpfung mit dem erreichen, was heute zur Antriebsstruktur des Menschen humanwissenschaftlich bekannt ist - ohne die 237 Vgl. SCHOCKENHOFF, Bonum hominis, 271. 238 „Es genügt nicht, dass Verstand und Wille des Menschen durch den Glauben und die Liebe auf das letzte Ziel ausgerichtet sind. Die Dynamik auf die von Gott angebotene Vollendung muss sich in das seelische Leben und dessen anthropologische Strukturen einsenken, indem die sinnlichen Vermögen Träger auch der eingegossenen moralischen Tugenden werden. Dass diese dann auch in die endgültige Erfüllung eingehen und als Vollendung der sinnlichen Leidenschaften in patria bestehen bleiben, zeigt nur, wie unbeirrbar Thomas seine Absicht durchhält, die virtus in der Tiefe des seelischen Lebens fest zu verankern.“ Vgl. ebd. 257-259, hier 259. <?page no="102"?> IV. Methodologischer Abriss 102 strikte Hinordnung auf eine notwendige letzte Erfüllung bei Gott allein dadurch preisgeben zu müssen. Der Vorwurf des Relativismus 239 , wie er der Tugendethik immer wieder, insbesondere von Vertretern deontologischer Ethikformen, gemacht wird, verweist auf folgende Frage: Inwieweit können tugendethische Entwürfe, etwa der Internalismus des ARISTO- TELES, mit einem ethischen Universalismus verbunden werden? Diese Frage bleibt allerdings andernorts zu klären, etwa im Rahmen der Frage nach der moralischen Motivation. Dagegen ist unbenommen, dass Tugenden dem moralischen Urteil gegenüber logisch und epistemisch sekundär bleiben, anders als etwa die Begriffe der Pflicht oder des Glücks, und ebensowenig unmittelbar handlungsleitend sind, da eine Reihe von Vermittlungen anzunehmen sind. Sie entheben daher auch nicht von der Frage nach der richtigen Entscheidung, sondern setzen diese nachgerade erst voraus. 240 Dessen ungeachtet sind Tugenden nicht einfach moralisch blind, können sie doch das Praktischwerden der (auch normativen) Einsichten praktischer Vernunft allererst möglich machen, indem sie die gesamte Antriebstruktur des Menschen (Kognition, Emotion, Volition, Evaluation) daraufhin ordnen - in Auseinandersetzung mit Neigungen, die den Sollensansprüchen mitunter entgegenstehen, bzw. umgekehrt die Belange der Ethik und der Moral allererst mit der Lebenswelt und dem Lebensvollzug des Menschen verbinden. Tugendethik nimmt die Perspektive der ersten Person ein, strikt normative Pflicht- oder Regelethiken dagegen eine Beobachterperspektive der dritten Person - mit all den Schwierigkeiten, die damit einhergehen, etwa die Motivationsfrage, die der Lebensziele, der Universalisierung oder dem Verhältnis der praktischen Vernunft zu den anderen handlungsbestimmenden Größen. 241 c) Hoffnung als Tugend Der systematische Ort, den die Hoffnungskategorie innerhalb der Moraltheologie lange Zeit inne hatte und immer noch hat, war und ist die Tugendethik, die Hoffnung als eine der drei göttlichen bzw. theologischen Tugenden (Glaube, Hoffnung, Liebe) 242 beschreibt. Diese werden so genannt, weil „sie Gott zum Gegenstand haben (Deum pro objecto), insofern wir durch sie die rechte Hinordnung auf Gott erhalten; dann, weil sie 239 Vgl. QUANTE, M., Einführung in die Ethik, Darmstadt 2 2006, 138-141, hier 140. 240 Vgl. RICKEN, F., Allgemeine Ethik, Stuttgart 4 2003, 240ff. 241 Nicht umsonst breitet sich insbesondere unter phänomenologischer und hermeneutischer Perspektive auf menschliche Handlungswirklichkeit die nach alternativen Entwürfen verlangende Einsicht aus, „dass die nahezu vollständige Überlagerung der Tugendlehre durch die Normfrage eine Leerstelle hinterlassen hat, die auf längere Sicht den Sinn-Bestand der Ethik selber gefährdet.“ Vgl. WILS, Tugend, 182. Wenn diese Diagnose Gültigkeit besitzt, dann ist nicht mehr einzusehen, wie das später von WILS entworfene Tugendkonzept diese Diagnose noch aufnehmen sollte, wenn es seinerseits vorrangig normorientiert argumentiert und die ontologisch-metaphysischen Folgefragen, etwa nach der Zielbestimmung des menschlichen Lebens, unter Hinweis auf den Pluralismus der Moderne praktisch ausklammert und stattdessen Tugend auf eine kohärentistische Synthesefähigkeit des Einzelnen reduziert. Es heißt: „Tugend ist die Fähigkeit, normative Anforderungen in der Synthesis eines individuell und sozial verantworteten Daseinsentwurfs zu verknüpfen.“ Vgl. ebd. 190. 242 Dabei ist der Unterschied wichtig zwischen den theologischen Tugenden (Glaube, Hoffnung, Liebe) im engeren Sinne und möglichen theologischen Qualitäten der Tugendethik im Allgemeinen. <?page no="103"?> 5. Tugendlehre und (Fundamental-)Anthropologie des hoffenden Menschen 103 uns allein von Gott eingegossen werden (infunduntur); endlich, weil solche Tugenden allein durch die göttliche Offenbarung in der Heiligen Schrift überliefert sind.“ 243 Damit wurden sie - und damit auch die Hoffnung - völlig zu Recht auf das Engste mit dem gnadenhaften Wirken des Heiligen Geistes verbunden, da dieser das der Hoffnung inne wohnende Vertrauen und den damit transportierten Sinn verbürgt und allererst durch die Zeiten trägt. Nicht selten wurde Hoffnung aber im Kontext solcher und ähnlicher Überlegungen dem Menschen entrückt und seiner Handlungspraxis entzogen. Dagegen sollen hier einschlägige Aspekte der Tradition aufgegriffen werden, da sie sich zum Einen in der anvisierten integrativen Konzeption von Hoffnung wiederfinden lassen werden und zum Zweiten insgesamt auch für eine breite anthropologische Basis spezifischer Traditionsbestände sprechen. Mit anderen Worten: Im Tugendtraktat wird (Theologische) Ethik an die (theologische) Anthropologie rückgebunden und zwar ohne die Ursprünglichkeit sittlicher Rationalität dadurch zu gefährden oder umgekehrt dem Handeln seinen Charakter des Kreativen und Spontanen zu nehmen. 244 Daraus folgt freilich auch, dass sittliche Tugenden nicht einfach aus den theologischen Tugenden abgeleitet werden können, da sie von verschiedener Art 245 sind. D.h., dass der Entdeckungszusammenhang der vorliegenden Fragestellung u.a. die Tugendethik ist, aber die Perspektive einer interdisziplinär angelegten anthropologischen Fundierung den angestammten begrifflichen Rahmen übersteigt und ihn dabei zugleich von einer anderen Grundlage her bestätigt, was zum Verständnis der für die vorliegende Arbeit inhärenten Methodologie von großer Bedeutung ist und daher an dieser Stelle vorbereitet werden soll. Wichtige Bestände aus der Tradition 246 sollen dabei nicht nur entsprechende Vorverständnisse freilegen, sondern sind zugleich imstande, erste systematische Verbindungslinien aufzudecken, die im Verlauf der weiteren Arbeit eine anthropologische Fundierung und Integration erfahren werden. Hoffnung bezeichnet demnach in traditioneller Lesart inhaltlich „als Wesensausdruck des Menschen und seiner irdischen Existenz das personale, vom Vertrauen getragene Verlangen nach künftigen, aber noch nicht absolut sicher zufallenden Werten, die seiner Vollendung dienen“ 247 . Sie ist, prägnant formuliert, „(verlangendes) Vertrauen und (vertrauendes) Verlangen“ 248 , das sich allerdings handelnd artikuliert. Tugend, auch und gerade theologische Tugend, ist nicht einfach Gesinnung oder Absicht, sondern kommt erst im Handeln an ihr Ziel der Realisierung des Guten: habitus operativus bonus. Tugend ist Haltung, die handelnd gut ist, gut wird bzw. gut macht, ihr eignet ein operationales Element 249 oder anders gesagt, sie ist zentrales Element menschlicher Handlungswirklichkeit. So gesehen ist auch Hoffnung nie nur wunschhaftes Sehnen oder unsicheres Wollen, sondern immer bezogen auf Tat, als deren Quelle sie bezeichnet werden kann. 243 Vgl. AQUIN, T.VON, S. th. I-II, 62, 1. Zitiert nach WILS, Tugend, 193. 244 Vgl. PESCH, O.H., Die Theologie der Tugend und die theologischen Tugenden, in: Concilium 3 (1987), 233-246, hier 239ff. 245 Vgl. AQUIN, T. VON, S. th. I-II, 63,4: Unde manifestum est, quod temperantia infusa et acquisita differunt specie. 246 Vgl. MAUSBACH, J. / ERMECKE, G., Katholische Moraltheologie Bd. 2 - Die spezielle Moral. 1. Teil: Der religiöse Pflichtenkreis, Münster 11 1969, 81-103. 247 Vgl. MAUSBACH / ERMECKE, Katholische Moraltheologie, 82. 248 Vgl. ebd. 89. 249 Vgl. WILS, Tugend, 195. <?page no="104"?> IV. Methodologischer Abriss 104 Der zentrale Gegenstand der Tugend der Hoffnung wird nun entlang einer viergliedrigen Struktur als ein (letztlich höchstes) Gut bestimmt, dessen Erreichung als möglich gedacht werden muss, das allerdings schwer zu erreichen ist, da es ‚steil‘ platziert ist und das aktuell abwesend, weil in der Zukunft liegend, gedacht wird: bonum arduum, bonum possibile, bonum absens, sed futuram. Damit wird für jedes Handeln aus Hoffnung eine Hoffnungsspannung aufgerichtet, da der Handelnde aus der Gegenwart heraus auslangt nach dem zwar steilen, aber erreichbaren und attraktiven Gut. Daneben wird grundlegend zwischen natürlicher und übernatürlicher Hoffnung unterschieden, um den jeweiligen Hoffnungsgrund differenzieren zu können. Dabei kann festgehalten werden: „Die übernatürliche Tugend der Hoffnung setzt die natürliche Hoffnungsfähigkeit und verpflichtung des Menschen voraus. Diese wird von jener nicht zerstört, sondern in neuer, übernatürlicher Weise vollendet.“ 250 Übernatürlich heißt dann soviel wie: angelegt auf eine „Zielordnung, die sowohl den natürlichen Anspruch als auch die natürliche Kraft des Menschen übersteigt“ 251 , auf die er sich aber hingeordnet erfährt, etwa Heil, Sinn, Glück, etc. Auch die „zeitlichen Güter“ fallen schließlich unter die spes theologica, sofern sie „im Namen Jesu“ erbeten werden. 252 Insgesamt kann (christliche) Hoffnung als „vital gegründete Hoffnung“ 253 bezeichnet werden, eine Charakterisierung, die dem hier vertretenen Projekt einer anthropologischen Fundierung anhand naturaler Grundlagen zutiefst entgegenkommt. Die entscheidenden Wirkungen der Hoffnung sind dabei: Tatkraft, Geduld und Standhaftigkeit. Sie kommt zum Ausdruck als Kraft, als Bewegung, als Kampf, als Habitus des Willens und - äußerst aufschlussreich - als Unerschütterlichkeit, die sittlich wirksam ist. „Diese Unerschütterlichkeit der Hoffnung ist sittlich fruchtbar; sie ist eben tatkräftiger Wille, sie macht unsere Seligkeit wirklich, die der Glaube als möglich erschaut.“ 254 Vor diesem Hintergrund ist es auch nur konsequent, wenn bei THOMAS VON AQUIN der Wille (voluntas) 255 in gewisser Weise Subjekt der Hoffnung ist, was erneut deren basale Bedeutung für menschliche Handlungswirklichkeit im Allgemeinen zum Ausdruck bringt, auch über eine Willensethik im engeren Sinne hinaus. Auch die Antipoden der Hoffnung, die Vermessenheit, als der Versuch aus dem Hoffen ein Wissen zu machen über deren Erfüllung oder Nichterfüllung, und die Verzweiflung, als Hoffnungslosigkeit, jeweils aber als Sünde gegen die Hoffnung, liegen im Willen und - gegen JOSEF PIEPER - nicht in der Erkenntnis begründet. Dazu können auch die kulturgeschichtlich höchst relevanten Haltungen der Weltsucht und der Weltflucht gezählt werden, die hoffnungstheoretisch die der Hoffnung eigentlich eigene Spannung einseitig aufzulösen versuchen und ihr damit einen rein irdischen Sinn zu geben versuchen. Dabei lässt sich Hoffnung nicht als ein einfaches Begehren und Wollen interpretieren, sondern als das „mutige Erstreben eines höheren, daher auch in etwa unsicheren und mühevollen Ziel- 250 Vgl. MAUSBACH / ERMECKE, Katholische Moraltheologie, 85. Übernatürliche Hoffnung wird dabei auch aufschlussreich als „übernatürliche Tugend des Willens“ (vgl. ebd.) bezeichnet. 251 Vgl. ebd. 88. 252 Vgl. AQUIN, T.VON, S. th. II.II. q.17 a.2 ad. 2. 253 Vgl. MAUSBACH / ERMECKE, Katholische Moraltheologie, 84. 254 Vgl. ebd. 92. 255 Vgl. AQUIN, T.VON, S. th. II.II. q.18 a.1: Spes est in appetitu superiori, qui decitur voluntas, sicut in subiecto. Vgl. auch TILLMANN, F., Die Verwirklichung der Nachfolge Christi. Die Pflichten gegen Gott (Handbuch der katholischen Sittenlehre IV / 1), Düsseldorf 4 1950, 110- 111. „Die Tugend der Hoffnung haftet als Anlage am Willen, der Akt der Hoffnung ist eine Betätigung des Willens, des geistigen Strebevermögens.“ <?page no="105"?> 5. Tugendlehre und (Fundamental-)Anthropologie des hoffenden Menschen 105 gutes. Die Hoffnung gehört nicht der vis concupiscibilis, sondern der vis irascibilis an. Sie ist eine Haltung, die sowohl auf das Anziehende des Zielgutes als auch auf das Abschreckende des Weges zum Ziele gerichtet ist.“ 256 Die vis concupiscibilis bezeichnet dabei das Begehrungsvermögen, die vis irascibilis die (wörtlich) Widerstreitskraft oder auch Widerstandskraft, Bestimmungen, die exakt anthropologisch wiederzufinden sind, etwa wenn Hoffnung oder Hoffnungsaspekte sich bereits empirisch als eine derjenigen Größen zu erkennen gibt, die in die Lage versetzt, der Welt quasi als Schutzfaktor, modern gesprochen als Ressource, standzuhalten, die zur Aufrechterhaltung bzw. Wiedererlangung der seelischen wie körperlichen Gesundheit beiträgt und die Versehrungen überwinden hilft. Darüber hinaus wird damit bereits das Attraktive des in der Hoffnung Erstrebten betont, das moralisch als das Gute, Sinnstiftende und Glücklichmachende bestimmt werden kann, und zugleich im Kontrast dasjenige mit bezeichnet, wovon sie sich abhebt, etwa einer aktuell bedrängenden Erfahrung. Insgesamt scheint mir diese Attraktivität des Guten noch zu wenig bedacht worden zu sein, etwa im Gespräch mit Begründungsfragen und bzgl. ihrer anthropologischen Fundierung, darüber hinaus insbesondere in ihren Konsequenzen für menschliche Handlungswirklichkeit, näherhin in ihrer Funktion als Brücke zum Handlungssubjekt und seiner ganzen Antriebsstruktur. Schließlich soll Hoffnung „den Willen des Menschen, den Kern der Persönlichkeit, auf Gott als Endziel hinrichten.“ 257 Damit wird ein Doppeltes angesprochen, sowohl das Verlangen nach Seligkeit in der Hoffnung, als auch das Wohlgefallen am Guten selbst. 258 Darüber hinaus ist Hoffnung als Akt und Habitus gleichermaßen zu bestimmen, sowohl als Pflicht, als auch als Heilsnotwendigkeit. Immer wieder wird dabei betont, dass die zentrale Haltung, die sich in der Hoffnung ausdrückt, die des Vertrauens ist, was ihre Zuordnung zur vis irascibilis erneut als gerechtfertigt erscheinen lässt. So heißt es bei MAUSBACH und ERMECKE: „Das Wesentliche der Hoffnung, Vertrauen, aller Schwierigkeiten in Gottes Kraft Herr zu werden, ist ihr allein eigentümlich.“ 259 Damit wird auch ein spezifisches Selbstverhältnis für den Menschen eröffnet, das nämlich der Selbstliebe. „Die Hoffnung ist mehr Liebe zur eigenen Seele als eigentliche Liebe zu Gott. Sie ist edle, übernatürliche Selbstliebe, die nach Gott verlangt, weil er das höchste Gut und die Seligkeit des Menschen ist.“ 260 Damit wird nicht allein eine basale Affirmation des Daseins ermöglicht, eine Annahme, Anerkennung und Bejahung des je individuellen Lebens, sondern zugleich 256 Vgl. ebd. 83-84. 257 Vgl. ebd. 98. 258 Vgl. auch GRESHAKE, G., Glück und Heil, in: BÖCKLE, F. / KAUFMANN, F.-X. / RAHNER, K. / WELTE, B., Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft Bd. IX, Freiburg 1981, 101-146. Systematisch wird hier die Identität und Differenz von Glück und Heil thematisiert, für die GRESHAKE spätestens in der Neuzeit einen Bruch festgestellt haben will, weswegen er eine letzte Vermittlung beider Größen allein im Modus der Hoffnung für denkbar und innerweltlich eine „kritische Dissoziation“ für unumgänglich hält. 259 Vgl. MAUSBACH / ERMECKE, Katholische Moraltheologie, 92. Ähnlichkeiten zum persönlichkeitspsychologischen Konzept der Seelischen Gesundheit fallen sofort ins Auge, die als sinnorientierte Bewältigungskompetenz operationalisiert werden kann (vgl. etwa BECKER, P., Seelische Gesundheit und Verhaltenskontrolle. Eine integrative Persönlichkeitstheorie und ihre klinische Anwendung, Göttingen u.a. 1995). Es kann allgemein von Bewältigungshoffnung gesprochen werden. Große Bedeutung hat der vorliegende Gedanke, wie wir noch sehen werden - und zwar nahezu strukturgleich - in der modernen Psychotherapieforschung, die streng empirisch vorgeht (vgl. etwa GRAWE, K., Psychologische Therapie, Göttingen u.a. 2 2000, 21ff.). 260 Vgl. MAUSBACH / ERMECKE, Katholische Moraltheologie, 92. <?page no="106"?> IV. Methodologischer Abriss 106 interpersonelle Anerkennungsverhältnisse begründet, die ihren Abschlussgedanken im Begriff der Menschenwürde gefunden haben. 261 Erste Systematisierungen und interdisziplinäre Öffnungen der klassischen Tugend der Hoffnung könnten wie folgt ausfallen, zumal der Tugendbegriff unverzichtbar ist für die Charakterisierung der Hoffnung, da er ein wichtiges Scharnier darstellt zwischen Handlungssubjekt, konkreter Handlungswirklichkeit und Hoffnungsgut bzw. Moralprinzip. In der Hoffnung kommt zunächst ein Verlangen nach Werthaftem zum Ausdruck. Die beatitudo steht als (Letzt-) Ziel des Hoffens theologisch genau für den finalen Endpunkt dieses Verlangens und die Hoffnung als theologische Tugend gibt damit ihren Grund transzendental-theologisch an. Der Hoffende existiert und handelt im Verlangen auf das, was als Ziel und Mittel zur Erfüllung vorschwebt, wobei Scheinwerte in den Irrtum führen. Hoffnung ist Verlangen und Vertrauen, genauer gesagt „(verlangendes) Vertrauen und (vertrauendes) Verlangen“ 262 . So kennt die Tradition auch eine Sünde gegen das Vertrauen (1) in der Hoffnung und eine Sünde gegen das Verlangen (2) in der Hoffnung, mithin die Verzweiflung (desperatio) als konträrer Gegensatz zur Hoffnung - per defectum (1), und die Vermessenheit (praesumptio) als ‚Übertreibung‘ der Gewissheit der Hoffnung - per excessum (2). Das entsprechende Vertrauen kennt dabei nicht die Gewissheit des Wissens, sondern die Gewissheit der Hoffnung, der verbürgten Möglichkeit. Vertrauen kann zur Hoffnung führen, Gewissheit des Wissens streng genommen nur zur Erwartung - und zwar einzig des Erwarteten, ohne Vertrauen in eine womöglich noch nicht ‚gewusste‘ Gestalt. Hoffnung ist daher keine Defizitform des Wissens, so als hofften wir nur, weil wir zu wenig wüssten. Es gibt eine Fülle von Gegebenheiten des Daseins, zu denen sich der Mensch ins Verhältnis zu setzen hat, über die wir aber streng genommen nichts wissen können oder nur ein höchst relatives Wissen. Der Mensch langt weit über strikte Wissensstrukturen hinaus und auch dieses vertrauende Auslangen will reflexiv durchdrungen sein. Es gibt nun aber auch trügerische Hoffnung, die auf falschen bzw. unmoralischen Wertesetzungen beruht, die in keiner Weise, etwa durch die Kraft der Vernunft oder eine religiöse Welt- und Daseinsdeutung, als verbürgt gelten kann, die auf Wertwidersprüchen 263 beruht, die die dialektische Hoffnungsspannung 261 Der Begriff der Menschenwürde, der ja dem der Menschenrechte sachlogisch vorausgeht, kann und muss daher grundlegend mit dem Hoffnungsbegriff verbunden werden, indem darin die Antizipation von für den Menschen fundamentalen Anerkennungsverhältnissen zum Ausdruck kommt, die schließlich auf den Einzelnen hin begrifflich gefasst werden. Die Menschenrechte können schließlich als menschheitliche Hoffnungsfiguren bezeichnet werden oder mit JÜRGEN HABERMAS als eine „realistische Utopie“. Vgl. HABERMAS, J., Zur Verfassung Europas, Frankfurt am Main 2011. Ebenso MOLTMANN, J., Menschenwürde, Recht und Freiheit, Stuttgart 1979. Ders., Göttliches Geheimnis. Die Wiedergeburt Europas aus dem Geist der Hoffnung und der weite Raum der Zukunft, in: Zeit Zeichen 7 / 2005, 20-22. 262 Vgl. MAUSBACH / ERMECKE, Katholische Moraltheologie, 89. Die Arbeiten etwa von KLAUS GRAWE zu einer empirischen Psychotherapieforschung jenseits des Schulendenkens deuten mit hoher (empirischer) Plausibilität an, dass das Grundprinzip psychischer Aktivität Intentionalität ist, wobei entsprechende psychologische Strukturen äußerst gewinnbringend für moraltheologische Fragestellungen aufgenommen werden könnten. Vgl. GRAWE, Psychologische Therapie, 67ff. 263 In der Sprache der kognitiven Psychologie wird hier Schemakonsistenz als vordringliches Ziel für sowohl effektive, d.h. handlungsfähige, als auch bewältigungsorientierte, d.h. das Wohlbefinden mindestens erhaltende, seelische Aktivität erachtet. Vgl. GRAWE, Psychologische Therapie, 531ff. Ders., Eine konsistenztheoretische Interpretation des dualen Therapiemodells, in: <?page no="107"?> 5. Tugendlehre und (Fundamental-)Anthropologie des hoffenden Menschen 107 einseitig in Richtung Gegenwart oder Zukunft auflöst und damit entweder die Welt tendenziell negiert oder ihre eigene je bessere Zukunft. Werden die genannten Aspekte vorläufig zusammengefasst, kann Hoffnung demgegenüber als „Zuversicht des Strebens“ 264 bezeichnet werden, eine Zuversicht, die aktuell oder habituell realisiert werden kann. Im Bild gesprochen kann Hoffnung dabei als Flussbett (Habitus) und als Strömung (Akt) oder gar in beiden Formen im umfassenden Strom menschlicher Handlungswirklichkeit und menschlichen Strebens angesiedelt werden. Wird das Materialobjekt theologischer Hoffnung vorrangig durch die wesentlichen Inhalte gekennzeichnet, das Formalobjekt vorrangig durch den unmittelbaren Beweggrund, dann kann das Materialobjekt als Verlangen nach Gottesvereinigung begriffen werden, das Formalobjekt als Vertrauen in die Allmacht Gottes. Mit dem Materialobjekt würde auch das Formalobjekt entfallen. Kurz gesagt: Der Gegenstand ist das Vertrauen, der Beweggrund das Verlangen, beides aber gründet in Gott, was den theologischen Charakter der Hoffnung ausmacht. 265 Das alles ist aber nur denkbar über eine grundsätzliche Hoffnungsspannung als einer Art Brücke und Scharnier, die zwischen den Polen dieser Spannung, die insgesamt eine Dialektik bezeichnet, balanciert und diese Pole zueinander erschließt, füreinander öffnet und semantisch zugänglich macht, statt sie antithetisch zu setzen. Dabei kann zusätzlich ein unbestimmtes „Hoffen“ in einem existentiellen Sinne von einem bestimmbaren „hoffen, dass“ in einem konkreten Sinne unterschieden werden. 266 Auch kann eine vital gegründete Hoffnung von einer eher intellektuell erfassten Hoffnung differenziert werden, oder Hoffnung als Affekt und als „Verstärker“. Da von einer kaum zu überschätzenden Bedeutung für die vorliegende Fragestellung kann erneut auf die scholastische Einsicht verwiesen werden, wonach die übernatürliche Tugend der Hoffnung die natürliche Hoffnungsfähigkeit und Hoffnungsnotwendigkeit, in einem moralischen Sinne auch die Hoffnungsverpflichtung, allererst voraussetzt. 267 Mit anderen Worten: Die naturalen Hoffnungsstrukturen, wie sie hier exemplarisch eruiert werden sollen, bilden das Substrat, an dem übernatürliche Hoffnung zentral Anhalt findet. Übernatürlich heißt dabei soviel wie mit transzendentem bzw. transzendentalem Grund versehen. 268 Die Heilsnotwendigkeit dieser übernatürlichen Hoffnung, wie es das Konzil von Trient festgehalten hat, ist nun u.a. darin begründet, dass damit der Mensch dem christlichen Kerygma trotz Schwierigkeiten und Enttäuschungen treu zu bleiben KOSFELDER, J. / MICHALAK, J. / VOCKS, S. / WILLUTZKI, U. (Hrsg.), Fortschritte der Psychotherapieforschung, Göttingen 2005, 281-305. 264 Vgl. MAUSBACH / ERMECKE, Katholische Moraltheologie, 84. 265 Vgl. ebd. 86 und 88. Vertrauen meint dabei soviel wie Sich Verlassen auf Gott und seine Kraft und eine sogenannte ‚Entwerdung‘ als Absehen von einem natürlichen und im Menschen eo ipso verankerten Kraftgrund. 266 Vgl. zu dieser Unterscheidung GRESHAKE, G., Warum lässt uns Gottes Liebe leiden? Freiburg im Breisgau 2007, 135-136. 267 Vgl. MAUSBACH / ERMECKE, Katholische Moraltheologie, 85, die die theologische Tugend der Hoffnung damit auch erneut folgerichtig als „übernatürliche Tugend der Willens“ bestimmen, „durch die wir den beseligenden Besitz Gottes mit Zuversicht von der Gute, Allmacht und Treue Gottes Erwarten“. 268 Wenn nach 1 Thess 4,13 die Heiden ohne Hoffnung sind, dann deshalb, weil sie keine (irdische) Sicherung ihrer Hoffnung kennen können. Ferner kann diese Hoffnung nach Röm 5,2 als Frucht der Rechtfertigung des Menschen durch Gott gelten, ein Gedanke, der für das ökumenische Gespräch über die Hoffnung nicht unerheblich sein dürfte. Vgl. TILLMANN, F., Die Idee der Nachfolge Christi (Handbuch der katholischen Sittenlehre Bd. III), Düsseldorf 4 1953, 134. <?page no="108"?> IV. Methodologischer Abriss 108 vermag. 269 Das Verhältnis zwischen den drei theologischen Tugenden 270 stellt nun die Hoffnung zwischen Glaube und Liebe, was auch exakt ihrer Modalität als Medium und Brücke zwischen Spannungspolaritäten entspricht. Sie bildet quasi den Übergang vom Glauben zur Liebe. Glaube und Hoffnung lassen sich nun dreifach unterscheiden: (1) durch ihr tätiges Vermögen, (2) durch ihren Gegenstand und (3) durch ihre spezifische Sicherheit bzw. Gewissheit. 271 Steht dabei dem Glauben das Zweifeln gegenüber, so der Hoffnung das (sich fürchtende und ängstigende) Verzweifeln. Hoffnung macht nun diejenige Seligkeit vergegenwärtigend wirklich, die der Glaube als möglich erschaut und die die Liebe real tut. Wichtig scheint mir noch der Hinweis zu sein, dass die Hoffnung sowohl auf den Glücksdrang des Menschen zurück verweist, als auch in gleicher Weise zutiefst mit der Sittlichkeit des Menschen verwoben ist. Schließlich ist die erwähnte (göttliche) Seligkeit u.a. als Vollendung und Inbegriff der Sittlichkeit zu verstehen, genauso wie als höchste Glückseligkeit - quasi als versöhnte Einheit von Glück und Moral. In klassischer Terminologie heißt das, Hoffnung als Läuterung und sittliche Veredelung des Glücksdrangs zu verstehen, eine Hoffnung, die den Willen auf Gott als Endziel ausrichtet und womöglich gegen Anfechtung und Zweifel ausgerichtet hält und dabei die Beharrlichkeit im Guten (sic! ) allererst verkörpert bzw. noch stärker regelrecht bewirkt. 272 Mit anderen Worten: die gnadengewirkte theologische Tugend der Hoffnung ist „moralisch notwendig“ 273 , damit trotz aller Schwierigkeiten an ihrem Gut festgehalten werden kann. Trotz der hier angedeuteten Einsichten aus der Tradition einer klassischen Hoffnungstheologie kann deren anthropologische Fundierung nach wie vor zu den Desideraten entsprechender Forschungen gezählt werden, wiewohl die erwähnte Grundlegung für die Habitualisierung und Energetisierung der beleuchteten formalen Strukturen wichtige Funktionen verständlich machen könnte. Die Einzeichnung der übernatürlichen in die natürliche Hoffnung bietet dafür hervorragende kategoriale Voraussetzungen. Daher soll an dieser Stelle mit einer sprachlichen Metapher dafür plädiert werden, das Haus der einen Hoffnung um das eine oder andere theoretische Stockwerk zu erweitern, das je für sich für die Tragfähigkeit der ganzen Architektur von entscheidender Bedeutung ist - ohne dabei in das klassische scholastische Stockwerkdenken zu verfallen. Anders gesagt geht es darum, das immer schon vorhandene anthropologisch-naturale Fundament mindestens partiell zu explizieren. Durch die Konzeptualisierung der Hoffnung als göttliche Tugend wurde zwar der transzendentale Grund der Hoffnung, ihre Verankerung in der Treue und der Schöpferkraft Gottes selbst und schließlich in der Auferstehung seines Sohnes immer schon gesehen, diese aber mitunter in eine transzendente Ferne entrückt, dann nachträglich und quasi deduktiv moralisiert und dem Gläubigen als Pflicht abverlangt, anstatt diese als ermöglichende Bedingung des Handelns überhaupt zu begreifen und damit als Brücke und Brückenkategorie - eine Erkenntnis, die erst über das Zueinander der Erfahrungsebenen sichtbar werden konnte und über die Freilegung der Erwartungsbzw. Hoffnungsstruktur menschlicher Handlungswirklichkeit selbst. Die Rechtfertigung des Gläubigen wird mithin erst aktuell im Medium der Hoffnung. 269 Vgl. MAUSBACH / ERMECKE, Katholische Moraltheologie, 89. Die klassische Terminologie spricht davon, dass der Habitus dieser Hoffnung zur „Heilsausstattung der Seele“ gehöre. 270 Vgl. ebd. 90ff. 271 Vgl. Hebr 6,18 und 10,23. 272 Vgl. MAUSBACH / ERMECKE, Katholische Moraltheologie, 98. 273 Vgl. ebd. 89. <?page no="109"?> 6. Das Koordinatensystem und der „Grundriss“ der Hoffnung - Strukturgitter 109 6. Das Koordinatensystem und der „Grundriss“ der Hoffnung - Strukturgitter Hoffnung ist deswegen so schwer begrifflich zu fassen, weil sie sich sowohl dadurch bestimmt, worauf sie sich bezieht als auch dadurch, worin sie sich gründet. Weil dabei jeweils äußerst vielfältige Aspekte vor Augen stehen können, entsteht dadurch auch ein sehr komplexes Bedingungsfeld, das praktisch alle ethisch relevanten Begrifflichkeiten zentral berührt, mit der Konsequenz, dass daran sogar eine (eschatologische Neu-) Begründung der (Theologischen) Ethik 274 erfolgen kann. Deswegen ist neben dem Was immer auch das Wie der Hoffnung näher zu qualifizieren. Die vorliegende Arbeit legt aus diesem Grund den Fokus vorrangig auf Strukturen 275 des Vollzugs von Hoffnung und die Konsequenzen, die diese Einsichten für den Begriff selbst nach sich ziehen. Damit wird nicht einfach ein Begriff möglichst präzise definiert, sondern immer wieder ausgehend von der Handlungspraxis des Menschen und auf diese sittliche Praxis hin in einer diesem Verfahren angemessenen Präzision eine integrative Hoffnungstheorie pars pro toto aufgefächert. Auf diese Weise wird ein spezifisches Verständnis von praktischer Philosophie erreicht, das aufgrund seines Gegenstandes für alle ethischen Disziplinen Geltung beanspruchen kann und daher auch für eine Ethik der Hoffnung eine nicht allein bleibende methodologisch-disziplinäre Voraussetzung darstellt, sondern nachgerade ihrem Erkenntnisobjekt grundlegend entspricht. Gemeint ist das Selbstverständnis der Disziplin der philosophischen Ethik als Grundriss-Wissenschaft ( τ ύ πῳ ). In deren Zentrum, das für die vorliegende moraltheologische Fragestellung eine Adaptation finden soll, steht die Formulierung von sogenannten Strukturgittern. Worauf zielen aber Strukturgitter und was meint Grundriss-Wissenschaft im vorliegenden Zusammenhang? In erster Linie ist damit die Einsicht bezeichnet, zum Verständnis menschlicher Handlungswirklichkeit nicht allein ein Prinzip des Handelns reflektieren zu können, sondern das sittliche Handeln in concreto selbst. Es soll um ein Explizieren statt um ein Definieren im strengen Sinne gehen. Keine methodische Deduktion steht im Mittelpunkt, eher ein induktivanalytisches Vorgehen. „Der Begriff des Umriss-Wissens findet sich nicht in der deduktiven Methode wissenschaftlichen Beweisens, sondern in der analytischen Methode wissenschaftlicher Forschung. […] Das Umriss-Wissen hat die Aufgabe einer Grundlage oder Voraussetzung.“ 276 Diesem Anliegen verpflichtet stößt sie auf das Problem, das eine Reflexion auf konkretes sittliches Handeln mit sich bringt, nämlich ein geschichtliches Sollen denken zu müssen. Es bezeichnet schließlich bereits „das methodische Problem der aristotelischen Ethik, das Prinzip des Handelns, das Gute, in Relation zu geschichtlichem Handeln zu denken“ 277 , um dadurch überhaupt über konkretes Handeln nachdenken zu können, das bekanntlich zwischen Sein und Sollen verortet ist. Die dafür ausgezeichnete Methode ist die der Grundriss-Wissenschaft: Immer wo „die Freiheit menschlichen Handelns in ihrem geschichtlichen Kontext reflektiert“ wird, „ist eine Grundrissanalyse die angemes- 274 Vgl. STOECKLE, B., Unter dem Anspruch der Hoffnung. Anmerkungen zu einer eschatologischen Grundlegung der christlichen Ethik, Salzburg 1968. 275 Vgl. SCHERER, G., Die Strukturen des Menschen. Grundfragen philosophischer Anthropologie, Essen 1976. 276 Vgl. HÖFFE, O., Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, Berlin 1996, 173. 277 Vgl. HÖFFE, Praktische Philosophie, 193. <?page no="110"?> IV. Methodologischer Abriss 110 sene Methode.“ 278 Mit OTFRIED HÖFFE ist daher prägnant zu formulieren: „Wenn jeder Begriff eine Art von Verfügung über die Sache schafft, so müssen die Begriffe der praktischen Philosophie, die Begriffe geschichtlichen Sollens, zugleich der Unverfügbarkeit des Geschichtlichen und dem freien Anspruch des Sollens gerecht werden. Nicht das Denken des unbedingten Sollens, sondern das Denken des bedingten Sollens macht die methodische Schwierigkeit der praktischen Philosophie aus. Die Grundriss-Methode sucht diese Schwierigkeit zu lösen.“ 279 In anderer Nomenklatur kann auch davon gesprochen werden, endliche Freiheit zu denken, die material bedingt, aber formal unbedingt in Erscheinung tritt. Insbesondere die Vermittlung beider Aspekte und damit das Zueinander von konkret-bedingter Situation und (formaler) Unbedingtheit der Verpflichtung scheint mir notwendige Aufgabe für das konkrete Handlungssubjekt zu sein und damit charakteristisch für eine Reflexion auf menschliche Handlungswirklichkeit. Umgekehrt heißt das aber auch: „Eine transzendentale Ethik, die nicht das sittliche Handeln selbst, sondern nur sein Prinzip, den Begriff des unbedingten Guten reflektiert, analysiert einen rein gedachten Gegenstand.“ 280 Um diese Beschränkung zu umgehen, hat eine Ethik jeglicher Provenienz eine induktive Basis vonnöten. Erst durch ein solches induktives Verfahren gewinnt philosophische wie theologische Ethik überhaupt erst ihren Ausgangspunkt. So auch, wenn Strukturen handlungsrelevanter Hoffnung ekphoriert werden sollen. „Deshalb bestimmt die Ethik nicht die konkreten Verhältnisse selbst, sondern allein die mediale Selbigkeit der Verhältnisse; sie erkennt gleichsam das Strukturgitter der Sache. - Dieser für eine ethische Analyse spezifische Begriff des Umrisses unterscheidet sich in dreifachem Sinn vom allgemeinen Begriff. 1. Gegenüber der Umrisshaftigkeit vorläufiger Aussagen handelt es sich nicht um ein Wissen, das durch eine fortschreitende Untersuchung ausführlicher und genauer wird. Der ethischen Erkenntnis ist - wenigstens bei dem vorliegenden Thema - eine prinzipielle Grenze gesetzt. […] Durch den Begriff einer Grenze ist das Wesen des Umrisses nur negativ interpretiert. Das Umriss- Wissen gilt aber für die Ethik als hinreichend. […] Das Umriss-Wissen, ein Strukturgitter der Sache, ist die für die Ethik einzig sinnvolle Genauigkeit. - 2. Die Unbestimmtheit hat den präzisen Sinn, dass der Gegenstand, ein Verhältnis, in seinem medialen Charakter genau bestimmt wird, während die Glieder und die Konkretionen des Verhältnisses frei bleiben. - 3. Der freie Raum wird nicht begrifflich gefüllt, sondern durch Handeln.“ 281 Auf diese Weise wird die Voraussetzung dafür geschaffen, nicht kontextfrei ethische Begriffe zu formulieren, sondern immer zugleich auch die Spannung in menschliche Handlungswirklichkeit hinein (und übrigens auch wieder aus dieser heraus) zu suchen. Damit „ist gleichsam ein Spielraum für den konkreten Zweck, die konkrete Lage, ihre Beurteilung und die daraus folgende Entscheidung freigelassen.“ 282 Will nun philosophische wie theologische Ethik mehr sein als eine solche Grundrisswissenschaft, dann verkennt sie ihr Proprium und steht in der Gefahr, abstrakt zu werden und fern der Realitä- 278 Vgl. ebd. 279 Vgl. ebd. 195. 280 Vgl. ebd. 194. 281 Vgl. ebd. 181-182 und 188. „Da die Konkretionen sittlichen Handelns kraft sittlichen Charakters und kluger Überlegung hervorzubringen sind, erkennt die Ethik für den jeweiligen Lebensbereich die dem sittlichen Handeln zugrundeliegende analoge Selbigkeit, während die sittliche Aufgabe, eine konkrete Entscheidung zu treffen, dem Handelnden je selbst und je neu zufällt.“ 282 Vgl. ebd. 184. <?page no="111"?> 6. Das Koordinatensystem und der „Grundriss“ der Hoffnung - Strukturgitter 111 ten menschlicher Handlungswirklichkeit sich kasuistisch zu gerieren - ohne sich noch induktiv von den Wirklichkeiten belehren zu lassen. Das, was sie aber als Grundrisswissenschaft ist, kann sie sehr präzise sein. Schließlich enthält eine umrisshafte Rede „jene Ausführlichkeit und Genauigkeit, die beim vorliegenden Thema allein sinnvoll ist.“ 283 Im vorliegenden Fall heißt das nun, das ‚Haus der Hoffnung‘ und dessen ‚Grundriss‘, das im Kontext der Tugendethik verortet ist, zu explizieren. Das gilt auch und insbesondere für die theologische Tugend der Hoffnung und eine theologisch-ethische Interpretation in handlungspraktischer Absicht, wie sie hier angestrebt ist. Schließlich ist ihr eine Medialität eigen, die sich exakt in der Konzeption der Tugend als Mitte wiederfinden lässt. So soll das mediale Wesen der Hoffnung bzw. des Handelns aus Hoffnung handlungspraktisch als Umriss expliziert werden. Ziel ist es, vorrangig dem Vollzug der Hoffnung dienlich sein, nicht ausschließlich „dem Erkennen, sondern dem sittlichen Handeln“ 284 aus Hoffnung verstehend nahe zu kommen. Wie besehen konnte bislang ein dreifacher ethischer Begriff des Umrisses ausgemacht werden: (I) Der Grundriss zielt auf die analoge Selbigkeit der (Handlungs-) Kategorie. (II) Als vollkommen bestimmte Sache gilt die konkrete Lebenswirklichkeit. (III) Die weitere Aufgabe, etwa moralphilosophisch das Finden der Mitte, ist streng genommen keine philosophische Aufgabe mehr. Auf die Handlungskategorie der Hoffnung angewendet lässt sich folgende Explikationsfolie für den anvisierten Grundriss auf der Basis von Strukturgittern formulieren: (1) Der Grundriß der Sache der Hoffnung wird erkannt. (2) Die vollkommene Bestimmung der Sache der Hoffnung wird mitgedacht. (3) Die weitere Bestimmung der Hoffnung im Rahmen menschlicher Handlungswirklichkeit ist dann noch - praktisch - zu leisten. An dieser Stelle kann Moraltheologie das Anliegen der Moralphilosophie als Grundrisswissenschaft vollständig aufnehmen, wiewohl sie noch zu einer Verschärfung und Zuspitzung dieser Spannung beiträgt, beitragen muss, will sie auf eine transzendentale Analyse ihrer Gegenstände nicht verzichten. Entscheidende Hilfe erhält auch sie durch die erwähnten Strukturgitter: „Die Orientierungsschemata, die dem sittlichen Handeln gegeben werden, bestehen aus Strukturgittern, die den Verhältnischarakter, die Relation eines Faktums zum Sollen, explizieren und das historisch und individuell besondere (das veränderliche Ethos, die je anderen Verhältnisse und Lebensumstände) frei geben. Auf diese Weise bleibt der Handlungsraum offen; diese Offenheit ist aber die der Freiheit angemessene Gründlichkeit.“ 285 Neben dem Begriff des Strukturgitters soll schließlich die Metapher des Koordinatensystems Verwendung finden. Insgesamt wird damit der handelnde, der handlungsfähige und handlungswillige Mensch bezeichnet als entscheidendem Schnittpunkt aller Hand- 283 Vgl. ebd. 179, ebenso 186. „Eine Grundriß-Untersuchung erkennt genau das, was philosophisch zu erkennen ist. Die Bestimmtheit des Umrisses ist nicht nur die einzig mögliche, sondern auch die einzig sinnvolle Genauigkeit der Ethik. Nur einem nachträglichen theoretischen Vergleich von ethischer Erkenntnis und konkretem sittlichem Tun erscheint die Unbestimmtheit als ein Mangel.“ 284 Vgl. ebd. 185. 285 Vgl. ebd. 197. Weiter heißt es: „Im Offenlassen des Handlungsraumes enthält die Grundriss- Wissenschaft nämlich eine Provokation: Die Strukturgitter des sittlichen Handelns sind wissenschaftlich genau erkannt - die praktische Philosophie spricht dort verbindlich, wo der Gegenstand relationalen Charakter hat -; die konkreten Gestalten dagegen sind vom handelnden je neu und je selbst zu erfinden und zu setzen. Die Begriffe sind also so gefasst, dass sie die Freiheit des Handelnden fordern und herausfordern. Damit sind sie aber an sich nicht theoretische, sondern praktische (dynamische) Begriffe.“ <?page no="112"?> IV. Methodologischer Abriss 112 lungsdimensionen, als dem eigentlichen Ziel- und Schnittpunkt aller ethischen und humanwissenschaftlichen Forschungen. Die Achsen des Koordinatensystems stellen dann mögliche Dimensionen dieses Handlungssubjekts dar: Geschichte, Reflexion und Vernunft, Erfahrung, Transzendenz, etc. Im vorliegenden Fall geht es etwas feingliedriger um strukturelle Dimensionen des hoffenden Menschen. Die anvisierte Fragestellung setzt für dieses Unterfangen den Entwurf zweier Strukturgitter 286 voraus, die je aus den entsprechenden Ursprungshermeneutiken kommend einmal psychologisch-psychotherapeutisch-humanwissenschaftlich und einmal theologisch-philosophisch qualifiziert sind, um schließlich in einer integrativen Gestalt zusammengeführt zu werden. Der Blick kann daher unterschiedlich grob bzw. fein auf ein Erkenntnisobjekt gerichtet werden, sodass immer neue Achsensysteme aufgemacht werden können, wobei, um im Bild des Koordinatensystems zu bleiben, die ‚Skalierung‘ ausgewiesen werden muss und bei Integrationsversuchen auf das passende Zueinander der Grob-Fein-Struktur zu achten ist. Damit werden die Einsichten der Einzelwissenschaften allererst gewürdigt aus ihrem Ursprungskontext heraus und zugleich für eine Integration in andere Paradigmen der Betrachtung des handelnden Menschen begrifflich-kategorial vorbereitet, was letztlich die Spannung von Empirie und Normativität aufrechterhält, sie nicht nivelliert und zugleich eine epistemologische Brücke schlägt, wie sie für das vorliegende Thema einer integrativen Ethik der Hoffnung vonnöten ist. Das Koordinatensystem dient dabei der strukturellen bzw. strukturalen ‚Vermessung‘ der Hoffnung, um dem ‚Haus der Hoffnung‘ eine solide Architektur und ein solides Fundament zu bieten. 287 a) Akt, Ziel und Grund der Hoffnung Im Einklang mit der moraltheologischen Tradition kann eine erste Bestimmung der Achsen des Koordinatensystems einer Ethik der Hoffnung vorgenommen werden. Demnach wird zwischen (1) dem Akt oder dem Habitus der Hoffnung, (2) dem Ziel oder dem Gut und (3) dem Grund von Hoffnung unterschieden. 288 Als vorläufiges Orientierungsraster soll damit eine scholastisch geprägte dreigliedrige Hoffnungsstruktur dienen, die den eigentlichen Akt der Hoffnung (I.), der den Vollzug in concreto bezeichnet und der ubiquitären Charakter hat, unterscheidet vom Hoffnungsgut (II.) bzw. dem Hoffnungsziel oder Hoffnungsgegenstand, das oder der moralisch-sittlich qualifiziert ist, und dem eigentlichen Hoffnungsgrund (III.), der letztlich theologisch-transzendental als unbedingt ausgewiesen werden muss, soll menschliche Hoffnung nicht insgesamt nivelliert und schließlich als haltlos entmachtet werden. Nicht verschwiegen werden kann allerdings, dass es an Versuchen, den Hoffnungsgrund „schwächer“ zu bestimmen, nicht gemangelt hat 289 , etwa im Rahmen einer Naturontologie, einer mehr oder meist weniger explizierten Anthropologie oder schlicht im Kontext von Pragmatismus, Heroismus oder auch Nihilismus. Es ist allerdings nur schwer vorstellbar, wie unter solchen Begründungsbedingungen überhaupt nachhaltige Hoffnung ausgewiesen werden könnte, die menschlichem 286 Vgl. ebd. 171ff., von dem ich auch den Begriff des Strukturgitters dankend entlehnt habe. 287 Der strukturelle Ansatz der vorliegenden Arbeit kann dabei als Problemanzeige dienen, indem er eine Fülle von systematischen Fragen und Desideraten moraltheologischer Hoffnungsforschung aufdeckt - freilich mehr als imRahmen einer Monographie zu beantworten ist. 288 Vgl. MAUSBACH / ERMECKE, Katholische Moraltheologie, 81-103. 289 Vgl. für das Spektrum etwa SCHLIEPER, A., Der Traum vom besseren Menschen. Ein Streifzug durch die Geschichte unserer Hoffnungen, Berlin 2007. <?page no="113"?> 6. Das Koordinatensystem und der „Grundriss“ der Hoffnung - Strukturgitter 113 Leben, das sowohl unter dem Diktat von Not und Tod, aber auch unter großartigen Glücksansprüchen steht, gerecht werden könnte, ganz abgesehen davon, dass die Antizipation des Todes immer schon im menschlichen Bewusstsein die Macht hat, alle Hoffnungsaufschwünge, die noch unter seinem Gesetz stehen, quasi rückwärts, in das Leben hinein, das vor uns liegt, zu nivellieren und buchstäblich zu entwerten. 290 Wo nun der Hoffnungsakt, der zum Habitus werden kann, universal ist und damit einem Hoffnungsprinzip zugeordnet werden kann, muss das Hoffnungsgut nochmals vom Hoffnungsgrund unterschieden werden, eine Differenzierung analog der zwischen Erkenntnisgrund und Erkenntnisziel. Für beide wird allerdings für die Kategorie der Hoffnung eine finale Identität im Gottesbegriff angenommen. Bezeichnet das Gut bzw. das Ziel der Hoffnung ein ‚Hoffen, dass‘ oder ein ‚Hoffen auf‘, so der Grund der Hoffnung das ‚Woraus‘ oder das letzte ‚Woraufhin‘ der Hoffnung. 291 Dabei können vier zentrale Bedingungen des Hoffnungsgutes beobachtet werden, wie sie weiter oben bereits partiell Erwähnung fanden: Liebe, Verlangen, Mut und Zuversicht. Die erwähnte dreigliedrige Struktur der Hoffnung kann schließlich zu ersten systematischen Erträgen theologischen Hoffnungsdenkens führen: Hoffnung kennt nicht allein ein freiheitsbasiertes Subjekt (1), das sich der Welt, sich selbst und Gott gegenüber unter der Perspektive einer Aussicht in ein Verhältnis setzt und den Hoffnungsakt vollzieht bzw. den Habitus des Hoffens integriert hat, nicht allein einen Gegenstand (2), der letztlich das Gute selbst ist, das für das „erhoffte“ Gelingen des menschlichen Lebens steht und damit eine basale Daseinsaffirmation ermöglicht, sondern Hoffnung kennt auch einen Grund (3), soll sie begründete Hoffnung sein; einen Grund, der gnoseologisch außerhalb desjenigen Systems verortet werden muss, auf das sie sich bezieht, theologisch außerhalb von Welt. Dadurch ermöglicht sie ein Festhalten am Guten, wiewohl dessen Erfüllung zwar vor Augen, aber innerweltlich immer Fragment bleibt. Einzig bei Gott selbst kann eine Identität von Ziel und Grund angenommen werden. Wiewohl es eine Fülle von möglichen Hoffnungsgütern und Hoffnungszielen gibt, quasi auf sehr viel gehofft werden kann, sehr vieles hoffend erstrebt und strebend erhofft werden kann, liegt es doch in der Sache des Menschen als einem vernunft- und einsichtsbegabten sittlichen Wesen, zu prüfen, ob es Sinn macht, dieses oder jenes zu hoffen, ob es überhaupt gut ist (für wen oder was? ), diese oder jene Hoffnung zu hegen, ganz abgesehen davon, dass wir ja aus enttäuschten Hoffnungen auch zu lernen imstande sind. Mit anderen Worten: Alle Hoffnungsgüter unterliegen zunehmend der sittlichen Kontrolle, zumal auch das höchste Gut selbst durch und durch sittlich bestimmt ist und umgekehrt 290 Wenn der Grund von möglicher Hoffnung nicht geklärt wird bzw. im Rahmen einer bestimmten Deutung von Welt und Mensch kein Hoffnungsgrund denkbar ist, der den Auswirkungen einer Antizipation des Todes standhält, dann bleiben nur Vorstellungen der „reinen“ Möglichkeit, die mit Notwendigkeit mit der Existenz oder einer Ontologie oder der Natur verknüpft werden, aber philosophisch zu HEIDEGGER und BLOCH führen, letztlich aber in den Nihilismus münden, da sie Möglichkeiten beschwören, die gemessen an der Tiefe der Infragestellungen menschlicher Existenz grundlos bleiben müssen, wiewohl sie phänomenologisch richtig liegen können. 291 In Analogie zu den Hoffnungsmodi kann entlang der Grundthese der vorliegenden Arbeit, wonach Hoffnung Antizipation von Sinn darstellt, auch eine dreigliedrige Struktur der Verwendung des Sinnbegriffs ausgemacht werden. Strukturanthropologisch ist daher zu unterscheiden: (1) Weg-Sinn (als Orientierung, Akt und/ oder Habitus), (2) Ziel-Sinn (als Gegenstand und Erfüllung, höchstes Gut) und (3) Rahmen-Sinn (als Grund und Grenzgedanke). Die Gliederung entspricht exakt den Strukturen der Hoffnung: Akt, Ziel bzw. Gut und Grund. <?page no="114"?> IV. Methodologischer Abriss 114 das Sittliche als ein Hoffnungsgut zu betrachten ist. FRIEDO RICKEN gibt dabei noch eine wichtige Unterscheidung im Begriff des Grundes an, auf die wir noch zurückkommen werden, da sie darauf hinweist, dass die Beschäftigung mit den Erkenntnisbedingungen (be-gründ-eter Hoffnung) nicht einfach eine Ontologie obsolet macht, sondern diese nachgerade erst ermöglicht und fordert. Er schreibt: „Das Streben ist Erkenntnisgrund (ratio cognoscendi) des Guten und das Gute (das Seiende) ist Seinsgrund (ratio essendi) des Strebens.“ 292 Der Grund von Hoffnung gibt nun die letzte und zugleich erste Bedingung der Möglichkeit der Hoffnung an. Er ist die Ermöglichung der Möglichkeit von Hoffnung, mithin der Ermöglichungsgrund der Möglichkeit des Guten selbst, d.h. der Möglichkeit, die in der Hoffnung steckt. Ohne Hoffnungsgrund kein Grund zur Hoffnung. Der Hoffnungsgrund gibt die entscheidende erkenntnistheoretische Figur ab, ohne die es weder vernünftig einsehbare, noch verbürgte Hoffnung geben kann. Der Grund gibt an, worin das Ziel begründet ist, woher es sich ableitet. Der Grund gibt quasi an, worauf wir uns epistemologisch beziehen, wenn wir zu begründen versuchen, warum wir bestimmte Hoffnungsziele wählen. Schlussendlich, d.h. systematisch-theologisch (in principio) oder biblisch-theologisch („am Ende der Zeit“) laufen Grund und Ziel bzw. Gut der Hoffnung idealiter zu einer letzten Identität in Gott zusammen. 293 Jedes Ziel hat also seinen Grund, es fragt sich dabei nur, inwieweit dieser jeweils trägt. Hoffnung zielt nun nicht allein auf immer partielle und immer kontingente Zwecke innerhalb des Lebens, sondern irgendwann und letztlich auf das ganze Leben und damit auf den Sinn des ganzen Zusammenhangs von Welt und Leben. Alle partikulären Zwecke werden irgendwann in Akten der Selbsttranszendenz, im Auslangen nach dem je größeren Glück, überstiegen auf die Frage nach der Möglichkeit vom Sinn des Ganzen. Jede allein an Zwecken orientierte Ethik (Utilitarismus) kommt hier an ihre Grenze, da sie prinzipiell keine basale Hoffnung vermitteln kann, da sie sich auf das Erwartbare, Wissbare, Erkennbare beschränkt, das dabei immer nur Akzidenz und pars sein kann und niemals das Leben als Ganzes in den Blick bekommt, denn dann müsste sie den Metazweck aller Zwecke und den Rahmen aller Zwecke thematisieren, wofür sie innerhalb ihres Theorierahmens gnoseologisch keinen Ort auszuweisen vermag. Ein absoluter Selbstzweck ist jenseits von Interessen nicht mehr begründbar. Auch die Perspektive des Einzelnen ist auf diese Weise nicht mehr einholbar. Jede ausschließlich zweck- und folgenorientierte Ethik kommt auch da an ihre Grenzen, wo die Folgen des Handelns nicht gänzlich abgesehen werden können - und das ist trotz perfektionierter Prognostik (und Beschleunigung) fast immer der Fall, weswegen nolens volens die Schwelle zur Hoffnung respektive Verzweiflung überschritten wird. Der Mensch muss sich quasi in ein Verhältnis zur Nicht-Absehbarkeit und Nicht-Verfügbarkeit setzen, sodass dem Umstand Rechnung getragen wird, dass wir viel mehr zu verantworten haben als wir aktuell eigenmächtig kontrollieren können, weswe- 292 Vgl. RICKEN, F., Allgemeine Ethik (Grundkurs Philosophie 4), Stuttgart 4 2003, 87. 293 Trinitätstheologisch wäre an dieser Stelle etwa zu fragen, ob es denn im Rahmen des innertrinitarischen Geschehens noch Hoffnung gibt, also die drei göttlichen personae oder Subsistenzweisen zueinander in einem Verhältnis der Hoffnung stehen, oder umgekehrt alle Hoffnung nicht mehr vonnöten ist aufgrund umfassender Seinsfülle. Wenn es nach KARL RAHNER zum Wesen der Hoffnung gehört, das „Aus-Sich-Heraus“ und das „Auf-den-anderen hin“ zu realisieren, dann gehört Hoffnung zu den göttlichen Tugenden. Vgl. ausführlich SPLETT, M., Beobachtungen zur Hoffnung in der Theologie Karls Rahners, unveröffentlichte Diplomarbeit, Mainz 1995. <?page no="115"?> 6. Das Koordinatensystem und der „Grundriss“ der Hoffnung - Strukturgitter 115 gen wir uns immer wieder zur Hoffnung aufgerufen erleben und uns fragen, worin wir sie gründen lassen können. Mit anderen Worten: unsere Verantwortung, unsere Möglichkeit und Notwendigkeit, auf die Wirklichkeit, auf die Welt und uns selbst zu „antworten“, uns in ein Verhältnis zu setzen, reicht weiter als die absehbaren Folgen kalkulierbar sind. 294 Erst damit wird auch ein Verhältnis zum Ganzen von Welt und Mensch möglich, zum Ganzen des Lebens. Es ist sogar folgerichtig, was jede Zweck-Orientierung notwendig sprengt, soll der Mensch nicht in toto Mittel zu einem buchstäblich „totalen“ oder gar totalitären Zweck werden. Mit anderen Worten: Soll das Ganze des menschlichen Lebens verhandelt werden, dann führt jede reine Zweck-Perspektive zur Instrumentalisierung und damit zur Hoffnungslosigkeit. Dem Ganzen des Lebens ist als erkenntnistheoretisch redliche und sittlich humane Antwort einzig Hoffnung angemessen, weswegen jede humane Selbstreflexion diesbezügliche Antworten regelrecht verlangt. Tiefe und vollständige, auf das Ganze des Daseins bezogene, d.h. auch das Leid umfassende Bejahung und Akzeptanz dieses Daseins kann es daher nur geben aus begründeter Hoffnung, niemals aus immer kontingenten Zwecksetzungen heraus. In partnerschaftlicher Liebe ahnen wir genau das, wiewohl wir nicht selten die verzweifelten Versuche beobachten können, Daseinsbejahung nicht aus Hoffnung auf Vollendung des Fragments, das wir immer bleiben werden, zu schöpfen, sondern aus Versuchen, nützlich und zweckvoll gelebt zu haben, Erfahrungen, die konsekutiv zu einer vorgängigen Bejahung äußerst fruchtbar sein können, aber niemals primär zur Kontingenzbewältigung dienen - weil sie letztlich keine tragfähige Hoffnung vermitteln können. Hoffnung ist begrifflich auch deswegen so schwer zu fassen, da sie sich als ein Medium zu erkennen gibt, das eigentlich divergente Perspektiven und Pole vermittelt: konkret und universal, gegenwärtig und zukünftig, schon und noch-nicht, etc. 295 Insgesamt kann als Ertrag festgehalten werden: Hoffnung ist nicht der letzte Grund des Handelns, sondern das Medium, das den letzten Handlungsgrund vergegenwärtigt und diesen damit handlungsrelevant werden lässt für eine Fülle von Hoffnungsgütern und den Vollzug ihrer (verheißungsvollen) Realisierung. b) Die Strukturgitter der Hoffnung und ihre Integration Die universale Bedeutung, die der Hoffnung im Allgemeinen aus den unterschiedlichsten Wissenschaftsfeldern zugedacht wird, steht einer eher marginalen Integration in handlungstheoretische Entwürfe gegenüber. Es soll an dieser Stelle insbesondere auf die Verzahnung von Methodologie und Strukturaufbau der Arbeit hingewiesen werden, was sich in der Entwicklung einer diesbezüglichen Systematik ausdrückt, die durch die sukzessive angereicherten Forschungsberichte der interdisziplinär zu vermittelnden Fachbereiche je für sich, die darauf aufgebauten Strukturgitter der Hoffnung und deren schlussendliche Integration und die sich neu als notwendig herausgestellten Exkurse ausgezeichnet ist. So soll dem methodologischen Grundproblem, der Vermittlung von Empirie und Normativität, ebenso dem von teleologischen und deontologischen Argumentationsweisen durch 294 Vgl. das IMMANUEL KANT zugeschrieben Diktum: „Die Notwendigkeit der Entscheidung reicht weiter als die Fähigkeit zur Erkenntnis.“ 295 Vgl. auch pneumatologische Entwürfe, etwa NITSCHE, B. (Hrsg.), Atem des sprechenden Gottes. Einführung in die Lehre vom Heiligen Geist, Regensburg, 2003, die ähnlich sublim und schwer zu fassen sind und zu denen es inhaltlich direkte Affinitäten gibt, da Hoffnung pneumatologisch konturiert ist. Die Kategorie der Hoffnung hat daher immer etwas Schwebendes, mediales, was sich auch in der Anlage der vorliegenden Arbeit widerspiegelt. <?page no="116"?> IV. Methodologischer Abriss 116 Aufrechterhaltung der entsprechenden Polaritäten und gerade nicht durch Synthetisierung begegnet werden. Inhaltlich sollen zwei sogenannte „Strukturgitter“ 296 der Hoffnung aufgerichtet werden, die die zentralen der Hoffnungskategorie inhärenten strukturellen Spannungen und Dimensionalitäten abbilden sollen und entlang dem jeweiligen der Erkenntnismethode entsprechenden Aufriss schließlich übereinander gelegt bzw. ineinander geschoben werden sollen, philosophisch-theologisch auf der einen Seite und psychologisch auf der anderen Seite. Auf diese Weise wird die Spannungseinheit innerhalb der beiden inhaltlich orientierten Strukturgitter der Spannungseinheit der methodologisch orientierten Erkenntniswege exakt und kontrolliert entsprechen und zudem wird erkenntnistheoretisch gewahrt, was nicht (dialektisch oder anderweitig) aufgelöst werden kann und darf. Von einem durchgängig einheitlichen Hoffnungsbegriff kann dabei nicht ausgegangen werden und das nicht nur, weil wir uns auf der Kategorienebene bewegen, d.h. auf der Ebene von Grundmerkmalen menschlicher Handlungswirklichkeit bzw. Grundvoraussetzungen seiner gesamten moralischen Erfahrungswelt und gerade nicht auf der Begriffsebene, d.h. auf der Ebene von klaren semantischen Einheiten, sondern auch, weil die Kategorie erst sukzessive angereichert werden soll in ihren möglichen Bedeutungsgehalten und insbesondere in den sie möglicherweise tragenden Strukturen. Genau deswegen ist ein Strukturgitter anvisiert, das in gewisser Weise den Raum dieser Kategorie aufzuspannen versucht - pars pro toto. In diesen Raum können schließlich dann kontextualisierte Begriffe eingeführt werden mitsamt den sie tragenden Bedeutungen. Am Anfang aber steht die Kategorie, die methodisch erst sukzessive in ihren strukturen aufgebaut werden soll. Insofern kann kein klar umrissener Begriff am Anfang stehen. Dennoch gibt es und muss es geben die Einheit der Hoffnung, sonst nämlich steht die Einheit der menschlichen Person selbst auf dem Spiel und die basal orientierende Funktion nebst ihrer nachhaltig motivierenden Wirkung wäre schnell hinfällig, zumal eine entsprechende Heterogenität immer schon antizipiert werden kann. Nur eine Hoffnungseinheit vermag final zu orientieren. Auf dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen und im Vorgriff auf die zu erhebenden anthropologischen Grundlagenstrukturen der Hoffnung 297 kann daher der Ver- 296 Vgl. als philosophisch-anthropologische Referenz neben O. HÖFFE den bereits erwähnten ROMBACH, H., Strukturanthropologie. „Der menschliche Mensch“, Freiburg im Breisgau 1997. 297 Analog zur Kategorie der Hoffnung ließe sich das Verfahren vielversprechend auf eine ganze Reihe theologisch-ethischer Begrifflichkeiten und Felder anwenden, bspw. diejenigen von gut und böse: Demnach ist nicht allein eine Freiheitsdebatte zu führen, die überwiegend philosophisch zu bestreiten ist, sondern es sind auch anthropologische Einsichten aufzunehmen, wonach es nicht einfach eine biologisch verankerte Neigung zu Aggression und Gewalt gibt, die durch Moral und Kultur domestiziert zu werden hat, sondern dass entlang neuerer entwicklungspsychologischer und neurobiologischer Forschungen ganz im Gegenteil davon auszugehen ist, dass der Mensch bereits biologisch auf Empathie, Sozialität und Kooperation angelegt ist. Die theoretischen und praktischen Konsequenzen für Ethik, Moral und Kultur sind eminent. Vgl. etwa TOMASELLO, M., Warum wir kooperieren, Frankfurt am Main 2010. Ebenso FUCHS, T., Das Böse aus psychiatrischer Sicht, in: Zur Debatte. Themen der katholischen Akademie in Bayern 7/ 2007, 1-5. Vgl. auch die aktuellen Debatten um das Naturrecht, etwa mit Bezug auf THOMAS VON AQUIN BORMANN, F.-J., Natur als Horizont sittlicher Praxis. Zur handlungstheoretischen Interpretation der Lehre vom natürlichen Sittengesetz bei Thomas von Aquin, Stuttgart 1999. Im Überblick dagegen BÖTTIGHEIMER, C. / FISCHER, N. / GER- WING, M. (Hrsg.), Sein und Sollen des Menschen. Zum göttlich-freien Konzept vom Men- <?page no="117"?> 6. Das Koordinatensystem und der „Grundriss“ der Hoffnung - Strukturgitter 117 such unternommen werden, eine Form der ‚Dimensionalität‘ von Hoffnung anzudeuten, die im einzelnen erst noch zu entwerfen wäre, nach der aber, um mit dem Bild eines Koordinatensystems der Hoffnung zu argumentieren, dieser eine Länge, eine Breite und eine Höhe zukommt: Die Länge zielt auf den Gegenstand der Hoffnung entlang eines linearen Zeitpfeils, die Breite zielt auf die Breite der Existenzbeteiligung im Sinne des Hoffnungsaktes und die Höhe bzw. Tiefe zielt auf den Grund der Hoffnung. Dabei trägt Hoffnung per se den ‚Samen‘ dessen immer schon in sich, auf den sie sich erst hoffend bezieht, auf den sie sich gründet bzw. von dem sie sich fundamental orientiert und energetisiert weiß. Das Koordinatensystem, innerhalb dessen die den jeweiligen Ursprungshermeneutiken gehorchenden Strukturgitter aufgespannt werden, wird nun von derjenigen Disziplin vorgegeben, in die hinein eine Integration stattfinden soll bzw. die die eigentliche Integrationsleistung zu erbringen hat, schließlich können nur auf diese Weise die notwendigen Kategorien präzise genug bestimmt und darüber hinaus eine argumentationsleitende Disziplin ausgewiesen werden. Die anvisierte Fragestellung bringt es mit sich, eine Verzahnung von Methodologie und Strukturaufbau der Arbeit vorzunehmen, um die systematisierende Durchsicht und Erhebung des Materials für die Strukturgitter respektive das Koordinatensystem nicht allein an den methodischen Einsichten zu messen, sondern auch umgekehrt daran allererst (neue) methodologische Einsichten und interdisziplinär erschlossene Gehalte zur Hoffnungskategorie zu gewinnen. Innerhalb der Strukturgitter je für sich, aber auch zwischen verschieden aufgespannten Strukturgittern können auf diese Weise Strukturanalogien zu Tage gefördert werden, wie sie etwa in der Tradition moralphilosophischer und moraltheologischer Hoffnungreflexionen wiederzufinden sind, aber noch nicht miteinander ins Gespräch gebracht worden sind. So werden strukturanthropologische und strukturtheologische Gitter dimensional ‚aufgerichtet‘ und ‚aufgespannt‘ und schließlich in ein Koordinatensystem eingezeichnet. Zur Einlösung des Unterfangens sollen zwei Forschungsberichte der beiden disziplinären Standbeine formal vorbereiten und inhaltlich andeuten, was nur exemplarisch vorgeführt werden kann. Der hermeneutische Durchgang durch das Material ist dabei durch die Warum-Frage als der eigentlichen Frage nach den Strukturen bestimmt. Da bislang starke Kriterien für ein kombinatorisches Geschehen zur interdisziplinären Aneignung von empirisch-anthropologischen Einsichten für moralphilosophisches und moraltheologisches Fragen noch weitgehend fehlen, findet das Strukturgittermodell Anwendung. Für eine anthropologische Fundierung der handlungspraktisch interpretierten Hoffnungskategorie sind allerdings mehrere Strukturgitter aufzurichten, je nach der Anzahl befragter Disziplinengruppen und den jeweiligen hermeneutischen Paradigmen - im vorliegenden Fall sind es deren zwei. Diese können dann je für sich eine Würdigung unterschiedlicher Forschungsparadigmen leisten, samt der damit errungenen Erkenntnisse, und ohne diese vorschnell und unkontrolliert zu subsumieren oder zu integrieren und sie damit mindestens potentiell ihrer kritischen Kraft zu berauben. Die damit aufgerichteten Strukturgitter, die gerade keine Prozessgitter darstellen, werden dann im Zuge ihrer Integration ineinandergeschoben bzw. die dimensional kleineren in die dimensional größeren und komplexeren integriert, wobei auf die „Skalierung“ zu achten ist, um verzerrte, d.h. überbewertete oder unterbewertete, überdefinierte oder unterbestimmte Interpretationen und in der Folge Integrationen zu vermeiden. Damit wird eine Aufnahme der Anliegen der Kombinatorik erreicht schen, Münster 2008. DALFERTH, I. U., Naturrecht in protestantischer Perspektive, Würzburg 2008. <?page no="118"?> IV. Methodologischer Abriss 118 und zugleich die methodologische Schwierigkeit konstruktiv beantwortet, dass die eigentlichen Kriterien der Kombinatorik noch weitgehend fehlen. Dem Eindruck des selektiven Vorgehens bei der Auswahl der Autoren kann getrost entgegen gehalten werden, dass diese sowohl methodisch begründet als auch der überwältigenden Fülle an Material geschuldet ist, aber dennoch an fundamentalen Knotenpunkten und entscheidenden strukturellen Weichenstellungen orientiert ist. Das hat zur Folge, dass zahlreiche Desiderate aufgedeckt werden. Als methodisch begründet kann das Verfahren auch aus dem Grunde gelten, dass exemplarisch Strukturen einer handlungstheoretisch verankerten Hoffnung aufgezeigt werden, die sich als begrifflich-kategorial anschlussfähig erweisen für ein Gespräch sowohl mit den Humanwissenschaften 298 , als auch mit den einschlägigen Beständen der Hoffnungsphilosophie und Hoffnungstheologie. Erkenntnistheoretisch kann im Hintergrund des erwähnten Strukturgittermodells der Hoffnung eine (moral-) theologische Spannungslehre vermutet werden, indem sie sowohl dem Menschen als einem Wesen auf der Grenze, quasi als Schnittpunkt unterschiedlichster ontologischer Entitäten (Sein und Sollen, Existenz und Essenz, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Natur und Kultur, Körper und Leib, etc.), als auch der Hoffnung, die diese Polaritäten dialektisch zu vermitteln versucht und damit handlungspraktisch werden lässt, gerecht zu werden vermag. Eine solche theoIogische Spannungslehre ist allerdings erst noch zu formulieren. 299 c) Ertrag: Der hoffende Mensch und der anthropologische Ort einer Ethik der Hoffnung Die „Neuorientierung“ 300 der Theologie anhand der Gehalte christlicher Hoffnung wurde zwar begonnen, ist aber noch im Gange und beileibe nicht befriedigend durchgeführt 301 , insbesondere auf dem Feld der (Theologischen) Ethik. Über einige löbliche und große Entwürfe hinaus sind nach wie vor viele Desiderate auszumachen. Eine Ethik der Hoffnung gehört fraglos dazu. „Denn die Moral gibt unsrem Handeln nicht den letzten Sinn [...]“. Ganz entscheidend ist dabei, „dass auf den Menschen, der handelt, nicht nur das, was er tut, zurückwirkt, sondern auch, woraus er es tut, aus welcher Motivation es 298 Die zur Anwendung kommende Methodologie ist nun nicht zu verwechseln mit dem Problemfeld des naturalistischen Fehlschlusses, das sich logisch, semantisch, ontologisch und metaphysisch darstellt. Vgl. FRITZ, A., Das Ende des Naturalistischen Fehlschlusses als Knock-Out- Argument. Semantische und systematische Untersuchung des Sein-Sollen-Problems, Freiburg / Schweiz 2009. 299 Vgl. RICOEUR, P., Die Freiheit im Licht der Hoffnung, in: Ders., Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretation I, München1973, 199-226, hier 212, mit dem als philosophisches Analogon zu der erwähnten theologischen Spannungslehre eine Philosophie der Grenze gefordert werden kann. „Eine Philosophie der Grenze, die zugleich ein praktisches Verlangen nach Totalität impliziert, ist meiner Ansicht nach in der Lage, eine dem Kerygma der Hoffnung homologe Rede herauszubilden, eine optimale philosophische Annäherung an die Freiheit im Sinne der Hoffnung zu leisten.“ Vgl. auch Kapitel VII e in dieser Arbeit. 300 Vgl. POST, W., Hoffnung (Art.), in: KRINGS, H. / BAUMGARTNER, H.M. / WILD, C. (Hrsg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe Bd. 3, München 1973, 696. 301 Vgl. GEIßER, H.F., Grundtendenzen der Eschatologie im 20 Jahrhundert, in: STOCK, K. (Hrsg.), Die Zukunft der Erlösung. Zur neueren Diskussion um die Eschatologie, Gütersloh 1994, 13-48, besonders 13-32. <?page no="119"?> 6. Das Koordinatensystem und der „Grundriss“ der Hoffnung - Strukturgitter 119 stammt.“ 302 Eine Möglichkeit, diese Quelle auszuweisen, ist die Hoffnungskategorie. Dabei muss unterschieden werden zwischen einer subjektiven Hoffnung, die immer eines objektiven Korrelats in der Welt bedarf, da sie vom Handlungssubjekt her gedacht ist, und einer objektiven Hoffnung, die vom Hoffnungsgut bzw. vom Hoffnungsgrund her gedacht ist im Sinne einer begründeten Hoffnung. Für die vorliegende Fragestellung, die ja strukturell angelegt ist, sind beide Hoffnungsmodi zu bedenken, insbesondere in ihrer Verwiesenheit und gegenseitigen Angewiesenheit, sodass humaner Hoffnungsvollzug unreduziert und integrativ studiert werden kann. Neben dem Übergewicht der normativen Kraft des Faktischen ist auch die unterschätzte „normative Kraft des Fiktiven“ 303 wieder ausreichend theologisch-ethisch zu würdigen. Der Optativ und der Potentialis sind ethisch wieder anzueignen, denn Zukunft ist häufig nicht das, was wir errechnen, sondern das, was auf uns zukommt. Erst unter Aufnahme und schließlich jenseits des Erwartungshorizonts, also jenseits dessen, was wir planend und prognostizierend an Zukunft rational vorwegzunehmen versuchen, kann der eigentliche Hoffnungshorizont angeeignet werden, mithin das, was uns aus der Zukunft entgegenkommt und dem wir wiederum entgegen vertrauen können. Geistes- und ideengeschichtliche Klärungsprozesse bzgl. der Inhaltlichkeit der Hoffnung, aber auch bzgl. der formalen Voraussetzungen des Vollzugs ganz menschlicher Hoffnung lassen dabei das Humanum zunehmend deutlicher zutage treten, etwa auch im Rahmen eines (modernen) öffentlichen Vernunftgebrauchs 304 , was nicht verwundert, wenn in Rechnung gestellt wird, dass in seinen Hoffnungen die Bestimmung des Menschen zum Ausdruck kommt - freilich ohne dabei die Neigung zum Bösen zu negieren. Dabei kann die Erfahrung der Kontingenz und der Endlichkeit dem menschlichen Bewusstsein als Zeichen dafür gelten, dass Hoffnung letztlich (sic! ) für ihre Grundlegung auf Religion angewiesen ist, wiewohl bereits irdische Hoffnung im Verdacht steht, zwar in dieselbe inhaltliche Richtung zu weisen, wiewohl sie weder die finale Zielgestalt, noch einen entsprechenden Grund aus sich selbst heraus verbürgen kann. Hier sind konstitutive Bedeutung und subsidiäre Anwendung und lebensweltliche Verortung zu unterscheiden. Auf dem Hintergrund des bisher Erörterten wird sich daher keine Hoffnung mehr plausibilisieren lassen, die nicht mindestens drei Bedingungen zu erfüllen vermag: (I) Sie wird ihre wechselnden Ziele und Inhalte den Kriterien des sittlich Guten und damit einer ethischen Kontrolle zu unterwerfen haben 305 - und ihrerseits selbst als zutiefst sittlich orientiert betrachtet werden müssen. Dabei hat sie den menschheitlichen Vorstellungen von Glück und einer letzten Erfüllung eingedenk zu sein, wie sie in Philosophie, Theologie und Religion transportiert werden. (II) Sie wird darüber hinaus - will sie begründete Hoffnung sein - ein ihr angemessenes spezifisches Menschenbild explizieren müssen, von dem her auch (III) der Modus des Hoffens allererst handlungspraktisch verständlich 302 Vgl. MIETH, D., Die Diktatur der Gene. Biotechnik zwischen Machbarkeit und Menschenwürde, Freiburg 2001, 86. 303 Vgl. MIETH, Diktatur 129 ff., 135 ff., 137 ff. 304 Vgl. die Beiträge in BORMANN, F.-J. / IRLENBORN, B. (Hrsg.), Religiöse Überzeugungen und öffentliche Vernunft. Zur Rolle des Christentums in der pluralistischen Gesellschaft (QD 228), Freiburg im Breisgau 2008. 305 Vgl. STRIET, M., Hoffen - warum? Eschatologische Erwägungen im Horizont unbedingten Verstehens, in: Gefährdung oder Verheißung 2007, 123-140, der von der Notwendigkeit zur ethisch normierten Hoffnung spricht. <?page no="120"?> IV. Methodologischer Abriss 120 wird. Unter christlicher Perspektive wird es schließlich darum gehen, den „Gott der Hoffnung“ 306 mit dem hoffenden Menschen in eine konstruktive Beziehung zu setzen. Hoffnung braucht einen Grund. Grundlos hoffen kann niemand, selbst wenn derjenige die Bedeutung der Hoffnung selbst eingesehen hätte. Der Grund verbürgt die Hoffnung. Er ist diejenige Instanz, von der her zur gegenwärtigen Situation vernünftig Stellung bezogen werden kann - ohne dass daraus schon eine Form des Wissens entstünde. Der Grund gibt diejenige Größe an, die die vertrauende Gewissheit der Hoffnung insofern verbürgt, als dass sowohl für einen Anhalt an der Realität gesorgt wird, für eine Situationsangemessenheit (Realitätsgerechtheit), als auch für einen Anhalt an der je besseren Möglichkeit (Potentialitätsgerechtheit). Wurde noch bei ERNST BLOCH 307 dieser Grund von Hoffnung in einer spezifischen Ontologie gesucht, in einer bestimmten Vorstellung vom Sein der Welt, das strikt antithetisch zwischen dieser und der erhofften kommenden Welt trennte und damit in gewisser Weise zur Nivellierung der realen Wirklichkeit beigetragen hat und geistesgeschichtlich den Fatalismus begünstigte, so im Rahmen religiöser Weltdeutung in einem metaphysischen, transzendentalen (Gottes-) Grund, der ein dialektisches und zutiefst hoffnungsgenerierendes simul von Schon (begonnener Wirklichkeit des Erhofften) und Noch-Nicht (deren vollständiger Realisierung) etablierte. Dadurch wird nicht nur ein spezifisches Verständnis vom Menschen eröffnet, der Mensch als imago dei, als Abbild Gottes und Gott, der für das Heil und das Glück seiner Geschöpfe einsteht, sondern auch menschliche Handlungspraxis zutiefst geprägt. Dabei sind insbesondere die Möglichkeiten zur Freisetzung von Hoffnungsressourcen, die auf das Gute und Sinnvolle hin motivieren und orientieren, kaum zu überschätzen. Was bleibt, ist, den Grund von Hoffnung im Menschen selbst zu verankern, wobei betont werden muss, dass dieser Grund der Hoffnung zwar im Menschen liegt, der Mensch aber nicht dieser Grund ist, sondern sich seinerseits immer wieder als darauf verwiesen erlebt. Wiewohl es nicht an Versuchen mangelt, dass „Mängelwesen“ 308 Mensch zu optimieren und in den Bereich des Transhumanen 309 hinein zu übersteigen, um seine Anfälligkeit zum Bösen, seine Kontingenz und Gebrochenheit zu mildern wo nicht zu eliminieren, soll an dieser Stelle dennoch dafür plädiert werden, Hoffnung in einem spezifischen Menschenbild, einer Anthropologie, festzumachen, die unter religiösen Vorzeichen natürlich in der Idee eines Gottes gründet, der dem Menschen eine „absolute Zukunft“ 310 verheißt und diese auch verbürgt und damit einen enormen Antriebsüberschuss freizule- 306 Vgl. Röm 15,13. 307 Vgl. BLOCH, E., Das Prinzip Hoffnung, drei Bd., Frankfurt am Main 1985. Hoffnung soll hier gegen BLOCH, der inhaltlich eine ontologisierende Säkularisierung von (Hoffnungs-) Theologumena vorgenommen hat, als Medium betrachtet werden, nicht als (absolutes) Substrat. 308 Vgl. GEHLEN, A., Anthropologische Forschung, Reinbek bei Hamburg, 1961, 46ff. 309 Vgl. SLOTERDIJK, P., Der operable Mensch. Anmerkungen zur ethischen Situation der Gen- Technologie, in: Stiftung Deutsches Hygiene-Museum und Deutsche Behindertenhilfe (Hrsg.), Der [im] perfekte Mensch. Vom Recht auf Unvollkommenheit, Ostfildern-Ruit 2001, 97-114. Unter theologischen Vorzeichen steht hier analog zur Theodizee, der Rechtfertigung der Annahmen eines gütigen Gottes angesichts einer faktisch leidvollen Welt, die Anthropodizee an, die Rechtfertigung des Menschen angesichts seiner mitunter abgründigen Möglichkeiten zum Bösen, seiner Kontingenz und Fraglichkeit. Vgl. dazu STRIET, M., Der neue Mensch. Unzeitgemäße Betrachtungen zu Sloterdijk und Nietzsche, Frankfurt am Main 2000. 310 Vgl. RAHNER, K., Experiment Mensch. Theologisches über die Selbstmanipulation des Menschen, in: Ders., Experiment Mensch. Vom Umgang zwischen Gott und Mensch, Hamburg 1973, 29-55. <?page no="121"?> 6. Das Koordinatensystem und der „Grundriss“ der Hoffnung - Strukturgitter 121 gen vermag. Anthropologisch breit fundiert, mithin im Menschen verankert, heißt nun nicht, dass der Mensch selbst zum Grund von Hoffnung, erst recht seiner eigenen Hoffnung würde, was neben der Gefahr begrifflicher Inkonsistenzen aufgrund der selbsttranszendentalen Struktur von Hoffnung auf eine Anthropodizee hinauslaufen würde, die unter endlichen Bedingungen scheitern muss, sondern ist stattdessen in einem sinnverheißenden Gottesgrund zu suchen, der - gleich einem Resonanzphänomen - in einem spezifischen Selbstverständnis des (gottbezogenen) Menschen seinen klarsten Widerschein findet. Eine solche Anthropologie hat vom Menschen zu sprechen als von einem Wesen der Hoffnung - homo sperans -, das sich permanent zu überschreiten versucht auf ein je Besseres seiner selbst und der Welt hin, das er sich vor Augen stellt. Schließlich erlebt er sich vorrangig als nicht mit dem identisch, was ihn als Mensch eigentlich ausmacht, wie je verschieden die Vorstellungen diesbezüglich auch sein mögen; zugleich fühlt er sich durch diese Erfahrung analog einem Imperativ aufgerufen, diese Differenz von Sein und Sollen, von Existenz und Essenz, von Lebensvollzug und Lebensbestimmung, zu minimieren, da genau dies ein spezifisches Glück und eine Erfüllung des Daseins verspricht. Und er tut dies u.a. handelnd, indem er eine buchstäblich attraktive, d.h. anziehende Vorstellung von gelungener Identität vor Augen hat, die ihm die Sinnhaftigkeit seiner grundlegenden Lebensorientierung und die Nachhaltigkeit der Handlungsmotivation hoffend verbürgen soll und jene aus diesem Grund in die Realität zu überführen versucht. Aber was lässt uns bezüglich des Menschen hoffen? Nichts anderes als die Einsicht, dass der Mensch das zum Guten willige und immer wieder auch fähige Wesen ist - trotz allem. Hier soll nun nicht einfach einem Postulat das Wort geredet, sondern zu aller erst soll einer fundamentalen Erfahrung Rechnung getragen werden: Der Mensch erfährt sich als einer, der letztlich das Gute will, unter dessen Gesetz er sich denn auch wiederfindet. Das Gute verlangt natürlich permanent eine Explizierung und Präzisierung, man denke nur an die fundamentalen Prinzipien der Menschenwürde und der Menschenrechte. Es ist in dieser Lesart das dem Menschen gemäße Gesetz seines Handelns, das ihm in Verbindung mit seinem Glücksstreben als Hoffnung auf gelingendes Leben vor Augen steht. Das Gute verheißt Sinn, deswegen hoffen wir darauf und können davon nicht lassen, wenn wir uns selbst nicht verloren geben wollen. Bei aller Zweifelhaftigkeit, ob es eine Berechtigung dafür geben könne, wir verlangen nach Hoffnung und Utopie, auch nach großen identitätsstiftenden und sinnverheißenden Visionen über uns und unsere Zukunft, da der Mensch das notorisch unabgeschlossene Wesen ist, das eine Aussicht auf Gelingen braucht, christlich eine Aussicht auf Vollendung. Denn nur diese Aussicht kann uns angesichts des uns permanent bedrohenden Todesschicksals motivieren, das Fragmenthafte unseres Lebens anzunehmen und in Freiheit zu gestalten 311 . Der christliche Glaube an einen Gott, der zur Hoffnung berechtigt 312 , erlaubt uns daher, die Welt und uns selbst so zu verstehen, dass eine Umgestaltung auf das je größere Humanum möglich wird und dies gerade auch im Angesicht einer Wirklichkeit, die aller Hoffnung allzu oft zu widersprechen scheint. Damit wird die Hoffnung dem Menschen wieder in die Hände zurückgeben - als gnadengewirkte, aber als eine, die ihn als Handelnden buchstäblich anspricht und die er in der Welt, in der er lebt, zu gestalten hat. 311 Vgl. PRÖPPER, T., Freiheit als philosophisches Prinzip theologischer Hermeneutik, in: Ders: Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg im Breisgau 2001, 5-22. 312 Vgl. Röm 15,13. <?page no="122"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 1. Problemorientierung und Forschungsbericht I: Handlungspraktische Hoffnungsstrukturen in Theologie, Philosophie und Geistesgeschichte des Abendlandes Hoffen heißt, von einem geheimen Versprechen leben. Oder: Hoffen - im Unerfüllten von verheißener Fülle leben. [Fridolin Stier] as Nachdenken über Wesen und Berechtigung von Hoffnung existiert seit der Mensch zum Bewusstsein seiner selbst erwacht ist, die Frage nach dem Proprium christlicher Hoffnung seit den Anfängen Israels und der Kirche. Dabei ist ein beständiges Ringen zu beobachten, aus dem Wurzelgrund biblischer Verheißungen „berechtigte Hoffnung“ 1 in das Licht von Reflexion und Handlungspraxis zu holen. Da sind berechtigte Hoffnungen freigelegt und von unberechtigten unterschieden worden; da sind Hoffnungen immer wieder mit der Wirklichkeit menschlicher Erfahrung konfrontiert worden und damit der Welt ausgesetzt worden; da haben Hoffnungen zutiefst Einzug gehalten in die Gehalte menschlicher Selbstverständigung und dabei die entlegensten begrifflichen Winkel unserer Vorstellungen von Gott, Welt und Mensch durchdrungen. Aber auch diese Reflexionen über die Kategorie der Hoffnung unterliegen einem epochalen Wandel und kennen konjunkturelle Episoden, sodass zu fragen ist, welche Grundformationen nun ideengeschichtlich ausgemacht werden können, insbesondere, wenn der Blick auf einen Hoffnungsbegriff gerichtet ist, der sich in seiner handlungspraktischen Bedeutung und seinem sinnerschließenden Potential erweisen soll. Mit anderen Worten: Das entscheidende Suchprisma für den vorliegenden Forschungsbericht und die nachfolgenden Ausarbeitungen ist die Identifikation von Entdeckungs- und Begründungszusammenhängen gleichermaßen für mögliche Strukturen der Hoffnung in ihrer sinnerschließenden, d.h. (umfassend) Orientierung bietenden Funktion für die Handlungspraxis. Dabei kann nicht an Vollständigkeit gelegen sein, können nicht ganze Epochen in den Blick genommen werden, sondern an einzelnen epochalen Gestalten soll paradigmatisch das Gesamt durchsichtig gemacht werden. In einem Bild gesprochen, soll das „Flussbett“ der Hoffnungskategorie in ihrer handlungspraktischen Bedeutung entlang von wichtigen Epochenschwellen strukturell freigelegt werden, wobei es vornehmlich um Sensibilisierung für eine entsprechende Perspektivierung gehen soll. Im Verlaufe der erkenntnisgewinnenden und strukturerhebenden Systematisierungen werden schließlich diejenigen Bestände aufgesucht, die im Sinne der Fragestellung darauf ant- 1 Vgl. die Beiträge in SCHMIDT-LEUKEL, P. (Hrsg.), Berechtigte Hoffnung. Über die Möglichkeit, vernünftig und zugleich Christ zu sein, Paderborn 1995 oder LARCHER, G. / MÜLLER, K. / PRÖPPER, T. (Hrsg.), Hoffnung, die Gründe nennt. Zu Hansjürgen Verweyens Projekt einer erstphilosophischen Glaubensverantwortung, Regensburg 1996. D <?page no="123"?> 1. Problemorientierung und Forschungsbericht I 123 worten können, warum das Material durchgegangen wurde und woraufhin. 2 D.h. auch, dass nicht abstrakt an Problemschwellen herangegangen wird, sondern problemorientiert und wissenssoziologisch. Die anvisierte Problemgeschichte wird zwar aufgerichtet, kann aber erst im Laufe der Argumentation Schritt für Schritt abgesichert werden. Das soll über eine ständige Rückkoppelung auf die Problemorientierung selbst geleistet werden, was zusätzlich eine indirekte und nachträgliche Rechtfertigung der für die Fragestellung notwendigen Interdisziplinarität bietet. Die beiden Forschungsberichte, die die je disziplinär unterschiedlichen Zugangsweisen zum Erkenntnisobjekt einer integralen Hoffnungstheorie zunächst im Sinne der jeweiligen Ursprungshermeneutiken würdigen, sind bewusst breit angelegt, woraus dann eine exemplarische Auswahl dessen getroffen werden soll, was strukturell und wirkungsgeschichtlich essentiell wurde und was im Rahmen der Forschungsbemühungen fruchtbringend weitergeführt werden kann. Diese im Sinne von archimedischen Wendepunkten getroffene materiale Auswahl erlaubt es dann, die je unterschiedlichen Zugänge auf ein integrales Strukturgitter zusammenzuführen - unter Rückgriff auf normative Kategorien und ohne selbst normativ zu werden und sich dem Verdacht des naturalistischen Fehlschlusses auszusetzen - da diese integrative Gestalt immer schon zugegen war, aber als solche noch nicht identifiziert und begründet wurde. Dabei wird es um eine Erhebung sowohl des methodologischen Besitzstandes, etwa bzgl. Fragen der Interdisziplinarität, als auch um eine Problemstandsanzeige des formalen und materialen Ist-Standes gehen. Das thematische Diskursfeld wird dabei sowohl auf diejenigen Kriterien befragt, die die Auswahl bestimmt haben, schließlich kann mitnichten von ‚der‘ Psychologie oder ‚der‘ Theologie gesprochen werden, als auch in der Folge der systematischen Errichtung des ‚Hauses‘ einer Ethik der Hoffnung dienlich sein können. Damit wird allerdings rückwirkend auch das Selbstverständnis der Theologischen Ethik neu akzentuiert. So schält sich ein Verständnis der Moraltheologie als „handlungsleitende Sinnwissenschaft“ heraus, das auf besondere Weise imstande ist, entsprechende Facetten aus Geschichte und Gegenwart bzgl. der reflexiven Bemühungen um die Hoffnung freizulegen. 2 Exemplarisch ist auf JOSEF PIEPER (Über die Hoffnung, München 4 1949) zu verweisen, der eine tugendethische Interpretation der Hoffnung unter Rezeption THOMAS v. AQUINS lieferte, wohingegen CHARLES PÉGUY (Das Mysterium der Hoffnung, Wien 1952) einen hymnischen Gesang auf die Hoffnung verfasste. Da ist ferner die existenzphilosophisch orientierte aber auf christlichem Hintergrund formulierte Philosophie der Hoffnung von GABRIEL MARCEL (Homo Viator. Philosophie der Hoffnung, Düsseldorf 1949), natürlich das umfangreiche Prinzip Hoffnung von ERNST BLOCH (Das Prinzip Hoffnung 3 Bde., Frankfurt am Main 1985), der unter kulturtheoretischem Vorzeichen die Hoffnung in marxistischatheistischer Manier aber mit deutlichen Anklängen an die jüdisch-christlichen Wurzeln als säkulare Utopie beschrieben hat, und natürlich JÜRGEN MOLTMANNS (Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie, Gütersloh 13 1997) inzwischen klassische und vielfach rezipierte Theologie der Hoffnung. Unter den gründlichen Überblicksarbeiten sind noch die fundamentaltheologisch akzentuierte Studie von FERDINAND KERSTIENS (Die Hoffnungsstruktur des Glaubens, Mainz 1969) hervorzuheben, sowie die materialreiche aber nur einmal aufgelegte Arbeit von KARL MAT- THÄUS WOSCHITZ (Elpis - Hoffnung. Geschichte, Philosophie, Exegese, Theologie eines Schlüsselbegriffes, Wien / Freiburg / Basel 1979). <?page no="124"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 124 a) Die Struktur der (christlichen) Hoffnung Ein nicht unerheblicher Teil der abendländischen Hoffnungsreflexionen war darum bemüht, die Hoffnung abzugrenzen von dem, was sie nicht ist, oder zumindest zu zeigen, dass sie mehr ist als das, wofür sie ausgegeben wurde. Der Begriff wurde differenziert, gereinigt und folgerichtig offen gehalten. Strikt unterschieden wird sie von Illusionen und Ideologien 3 , auch wenn sie mitunter selbst unter den jeweiligen Verdacht geriet. An der komplexen Kategorie der Hoffnung partizipieren dagegen auf unterschiedlichste Weise etwa die Sehnsucht, der Wunsch, der Traum, die Vision und selbstredend die Utopie als historisch-gesellschaftliches Pendant der Hoffnung. Sie lassen sich quasi konstruktiv auf die Hoffnungskategorie beziehen, gehen darin mehr oder weniger auf, bilden aber die Hoffnung selbst nicht ab, die an Komplexität und Aufgaben weit darüber hinaus geht. Eine wirkungsgeschichtlich bedeutsame Unterscheidung betrifft die Differenzierung von Hoffnung und Erwartung 4 . Spätestens im Rahmen scholastischer Hoffnungsreflexionen, etwa bei BONAVEN- TURA 5 , zeichnete sich eine dreigliedrige Struktur ganzheitlicher Hoffnung heraus, die Akt (und Habitus), Ziel (obiectum) und Grund (status) unterscheidet, wobei eine letzte eschatologische Einheit von Ziel und Grund in Gott selbst angenommen wurde. Immer wieder sind vermeintliche oder offensichtliche Strukturen der Hoffnung aufgedeckt und formuliert worden, wobei die Klarheit des obigen Dreierbzw. Viererschemas kaum je wieder erreicht, sondern höchstens bestätigt wurde. 6 Es kann daher insgesamt von einer multidimensionalen Kategorie 7 ausgegangen werden, die praktisch alle Seinsebenen des Menschen gleich einem Fahrstuhl durchdringt - und damit auch Anteil hat an deren Realisationsformen, was auch die Spannung von der Biologie bis zur Transzendenz erklärt. Auf je unterschiedlichen Ebenen kann sie betrachtet werden, darf aber nicht auf diese Zugangsebene reduziert werden, so als könnten über eine Ebene praktisch alle anderen Phänomene gleich mit erklärt werden. 3 Vgl. BAUER, G., Christliche Hoffnung und menschlicher Fortschritt. Die politische Theologie von J.B. Metz als theologische Begründung gesellschaftlicher Verantwortung des Christen, Mainz 1976, 160. 4 Vgl. Kapitel VII 1 b in dieser Arbeit, wobei etwa über EDMAIER (Horizonte der Hoffnung, 134) hinaus, der Erwartung auf „das Durchschnittliche, Allgemeine, Alltägliche“, Hoffnung sich dagegen auf das „je aus Freiheit Entworfene“ bezieht, noch mehr Klarheit über die systematischen Zusammenhänge gewonnen werden kann. Die vorliegende Theorie unterscheidet demnach Erwartung als rational vorweggenommene Zukunft, Hoffnung dagegen als Verhältnis zweiter Ordnung, die rationalen Strukturen übersteigende Antizipation sinnvoller Zukunft, die sich dann konsekutiv in Erwartungsstrukturen übersetzt. 5 Vgl. Lomb., Sent. III d. 26, c.I, n.I und a.2, q.2, co. 6 Vgl. EDMAIER, A., Horizonte der Hoffnung. Eine philosophische Studie, Regensburg 1968, 74-82, der zwischen gegenständlicher Hoffnung, die welthaft und egozentrisch sein soll, Grundhoffnung, der er die übernatürliche Hoffnung zuweist und transzendentaler Hoffnung, die quasi das Apriori menschlichen Hoffens bezeichnen soll, unterscheidet, wobei die Einteilung nicht überzeugt, da sie weder vollständig ist, noch klar zwischen den Formen differenzieren kann und dabei zusätzlich höchstens Aspekte, aber nicht Modalitäten der Hoffnung benennt. 7 Vgl. RITTWEGER, J., Hoffnung als existentielle Erfahrung am Beispiel onkologischer Patienten in der Strahlentherapie, Leipzig 2007, die auch eine integrative Hoffnungstheorie im Gespräch mit Medizin und Psychologie zu entwickeln versucht, aber gegenüber den notwendigen methodologischen Fragen einer Interdisziplinarität und eines Kategorienanschlusses unkritisch bleibt. <?page no="125"?> 1. Problemorientierung und Forschungsbericht I 125 Die theologischen Tugenden (Glaube, Hoffnung, Liebe) werden als eigenständige Tugenden zwar aufeinander bezogen, auch wird eine Einheit 8 angenommen, aber ansonsten klar unterschieden und in eine Reihung gebracht. Fides als Überbegriff oder auch als offenbarungstheologische Grundlage des gesamten christlichen Kerygmas wird unterschieden von der spes. Diese dient nach klassischer Vorstellung der Vervollkommnung der eigensüchtigen Anteile, also praktisch der Selbstliebe, des Selbstverhältnisses, caritas dagegen der selbstlosen Anteile und Affektionen, also des Weltverhältnisses. 9 Insgesamt leitet sich aus der Hoffnung ein operatives Welt- und Selbstverhältnis 10 ab, das zur Gestaltung von Welt und Leben anregt, Verantwortung für Zukunft begründet und gewillt ist, den Mitmenschen in die eigene Hoffnung hineinzunehmen. Sie dient der Verwirklichung des Kerygmas durch dessen Vergegenwärtigung. Dafür errichtet sie begriffliche und existentielle Spannungen, die balanciert werden: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Immanenz und Transzendenz, Gott und Welt, Schöpfung und Erlösung, Sein und Sollen, Wollen und Können, Gelingen und Scheitern, theoretische und praktische Vernunft, Individualität und Universalität, etc. So hat sich Hoffnung auf den verschiedensten theologischen und philosophischen Feldern als Brückenkategorie zu erkennen gegeben, was aber noch zu wenig gewürdigt zu sein scheint. 11 Hoffnung als Brückenkategorie vermittelt theologisch disparate Größen. Hoffnung als „Horizontkategorie“ 12 weist nun nicht allein auf die bleibende Selbsttranszendentalität menschlichen Existenzvollzugs hin, sondern auch darauf, dass wir als Handelnde immer Güter vor Augen haben, auf die wir uns quasi handelnd zubewegen, die uns aber (mitunter nur) in der Form der Hoffnung gegeben sind. Hoffnung als Rahmenkategorie schließlich stellt die Aussicht auf einen Sinnzusammenhang bereit, einen Meta-Rahmen der Handlungsmotivation, der als ein letzter Grund gegeben ist, als Abschlussgedanke quasi. Insgesamt kann daher Hoffnung letztlich als Handlungskategorie begriffen werden, als „Element operativer Weltgestaltung“ und damit als „sittlicher Imperativ“ 13 . Sie ist daher auch zu vermitteln mit allen zentralen ethischen Kategorien, etwa der Verantwortung (JONAS), der Freiheit (PRÖPPER) und der Schuld. Vom Handlungssubjekt her gedacht binden diese Hoffnungsstrukturen gleich einer kategorialen Brücke die ethischen und theologischen Kategorien im Subjekt zusammen und machen sich diese Einheit für die Handlungsorganisation dann zunutze. Damit ermöglicht die Einheit der Hoffnung die Einheit des (Handlungs-) Subjekts. 14 Es existiert in diese Sinne ein fundamentaler Unterschied zwischen den Hoffnungen und der Hoffnung, zwischen espoir (Plural) und espérance (Singular). Die vielen Hoffnungen können enttäuscht werden, ohne, dass es in einem absoluten Sinne bedrohlich 8 Vgl. BALTHASAR, H.U. VON, Die Einheit der theologischen Tugenden, in: Internationale katholische Zeitschrift Communio 13 (1984), 306-314. 9 Vgl. SCHWARZ, R., Fides, Spes und Caritas beim jungen Luther. Unter besonderer Berücksichtigung der mittelalterlichen Tradition, Berlin 1962, 342-357. 10 Vgl. METZ, J.B., Unsere Hoffnung. Die Kraft des Evangeliums zur Gestaltung der Zukunft, in: Concilium 11 (1975), 710-720. METZ, J.B., Verantwortung der Hoffnung, in: Stimmen der Zeit 177 (1966), 451-462. 11 Vgl. Kapitel III und VII 2, 3, 4 und VIII 2 in dieser Arbeit. 12 Vgl. WOSCHITZ, K.M., Elpis - Hoffnung. Geschichte, Philosophie, Exegese, Theologie eines Schlüsselbegriffes, Wien / Freiburg / Basel 1979, 760. 13 Vgl. für beide Zitate WOSCHITZ, Elpis, 759. 14 Und es kann bereits an dieser Stelle vermutet werden, dass ein geeintes, mindestens ein einheitlich orientiertes Subjekt deutlich ungehinderter und klarer Handlungsmotivationen zur Verfügung hat. <?page no="126"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 126 wäre, die eine (christliche) Hoffnung kann im strengen Sinne nicht enttäuscht werden, wenn auf die Treue Gottes gesetzt wird - trotz aller realen Abgründigkeit der Welterfahrung, da sie sich über die gesamte Existenz und darüber hinaus erstreckt und letztlich auf das Heilsein der Person und aller Personen zielt. Nicht die Erfahrung der Vergeblichkeit ist deren Bedrohung, sondern neben der vermessenen (praesumptio) Vorwegnahme ihrer eigentlich erst eschatologisch gedachten endgültigen Erfüllung die Vorwegnahme ihrer endgültigen Nicht-Erfüllung, was Verzweiflung (desperatio) genannt wird. Auffällig ist nun, dass statt die Spannungseinheit innerhalb der Hoffnung als Ausgangspunkt zu nehmen, die schließlich eine der spezifischen Aufgaben handlungswirksamer Hoffnung 15 darstellt, Hoffnungsdialektiken immer wieder einseitig zerrissen werden, etwa wenn die Dialektik von irdischen und überirdischen Hoffnungsgütern einseitig aufgelöst wird, entweder zugunsten der irdischen Güter, dann unter Missachtung der Einsicht, dass Hoffnung immer über sich hinausweist und ein bleibendes Ungenügen an der endlichen Gegenwart offenlegt, oder zugunsten des Übernatürlichen, dann unter Missachtung der irdischen Hoffnungsgüter und im Übrigen der Notwendigkeit zur Veränderung der irdischen Verhältnisse. Irdische Hoffnungsgüter sollen nicht übersprungen werden, ganz im Gegenteil, schließlich kann deren latente Abwertung nicht als biblisch gelten, aber wann und wie werden sie transzendiert? Auch die Spannung zwischen empirisch greifbaren Hoffnungszielen und den moraltheologisch formulierten Letztzielen könnte weitergeführt werden. Daher scheint es überfällig, Hoffnung mit Handlungskategorien zu verbinden, die die Philosophie und Theologie der Hoffnung anthropologisch fundieren und zusammen mit einer dann ermöglichten integrativen Hoffnungstheorie Grundlinien einer handlungspraktisch orientierten Ethik der Hoffnung formulieren. Die dafür notwendige anthropologische Fundierung und Integration zeigt zunächst die Offenlegung der strukturellen Dimensionalität der Hoffnung an, die zur anvisierten Hoffnungsstruktur menschlicher Handlungswirklichkeit hinführt und deutliche Konsequenzen für die darauf Bezug nehmende ethische Reflexion hat, wie zu zeigen sein wird. Trotz der Unterschiedlichkeit der Disziplinen gibt es einen analogen Aufweis der Themen und eine erstaunliche Konvergenz in den Strukturen, aber wohlgemerkt nicht in den Begründungen. b) Theologische Erkenntnistheorie und Phänomenologie Unter der Annahme einer partiellen, aber inkommensurablen Intransparenz menschlicher Selbsterkenntnis (Selbstbeobachtung, Selbstreflexion, Selbsteinsicht), was mit der Subjekt-Objekt-Differenz aller Erkenntnis zu tun hat und mit dem Charakter der Endlichkeit menschlicher Vernunft, kann verständlich gemacht werden, dass der Mensch 16 kraft 15 Vgl. WELKER, M., Hoffnung und Hoffen auf Gott, in: DEUSER, H. / MARTIN, G.M. / STOCK, K. / WELKER, M. (Hrsg.), Gottes Zukunft - Zukunft der Welt, München 1986, 23-38, hier 30. „Die spezifische Kraft der Hoffnung besteht […] darin, dass sie die Differenzerfahrungen des Bedürfnisses, die Differenzerfahrung der Spannung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und die Differenzerfahrung von Erfüllung und Enttäuschung gerade nicht zusammenfallen lässt. Es ist die eigentümliche Kraft der Hoffnung, dass sie diese Differenzerfahrungen festhält und auf mehrfache Weise relationiert, voneinander abhängig und unabhängig macht, gegeneinander und vermittelt durcheinander aufhebt oder stabilisiert.“ 16 Für WOLFHART PANNENBERG etwa ist die Anthropologie der ausgewiesene Ort, an dem die Verwiesenheit des Menschen auf Religion aufgewiesen werden kann, insbesondere an den <?page no="127"?> 1. Problemorientierung und Forschungsbericht I 127 reflexiver Vernunft und kraft seines Bewusstseins eine Fülle von Bildern, Erwartungen und Hoffnungen über sich selbst hervorbringt, die er auf Erfüllungsgestalten hin finalisiert und damit zu Gegenständen der Hoffnung macht. Für eine rein gegenständliche (Sinn-) Bestimmung der Hoffnung sind daher enge Grenzen gesetzt, da wechselnde Gestalten der Vorstellungen vom (höchsten) Guten, Erkenntnisgrenzen und die Selbsttranszendentalität des Menschen in Anschlag gebracht werden müssen. Der Mensch ist auf Selbstüberschreitung angelegt, sodass sein Erkenntnisdrang nicht innerweltlich zu domestizieren ist. 17 Zudem: Ziele, Folgen und Verantwortung unseres Handelns reichen weiter, als wir erkennend kontrollieren könnten, was einen Raum von (Sinn-) Hoffnungen und Verzweiflungen eröffnet, etwa angesichts des immer schon antizipierten Todes, aber auch schon mit Blick auf die Frage nach Gut und Böse, Gelingen und Misslingen des Lebens. Auch Hoffnung macht daher an den Grenzen dieser Welt nicht halt, alle Versuche, sie innerweltlich abzuschließen, totalisieren sich oder nihilieren. Das verschärft allerdings die Frage nach ihrem Grund. Darüber hinaus setzt unter hermeneutischer Perspektive jedes Verstehen 18 konstitutiv einen Sinnhorizont voraus, von dem aus und auf den hin sich überhaupt erst Verstehen ereignen kann, quasi eine Art epistemologische Antizipation und ein Vorverständnis. 19 Auch theologische Erkenntnistheorie, erst recht moraltheologische Methodologie, der es an den Voraussetzungen zur Erkenntnis menschlicher Handlungswirklichkeit und schließlich an (gelingender Handlungs-) Praxis gelegen ist, hat dessen eingedenk zu sein. Da nun der Mensch im Schnittpunkt von Theorie und Praxis angesiedelt ist, als moralische Existenz immer zugleich theoretisches und praktisches Wesen ist, hat er sein Leben auch zu verstehen, will er es bestehen, und indem er es besteht, versteht er es auch auf spezifische Weise - eben auch im Medium der Hoffnung. 20 Diese Notwendigkeit des Verstehen-Wollens im Bestehen geht, mindestens unter (moral-) theologischer Perspektive, irgendwann aufs Ganze - des Lebens und der Welt und fragt nach der Möglichkeit Strukturen seiner Selbsttranszendentalität, was ihn schließlich zu einem Wesen der Hoffnung macht. Vgl. PANNENBERG, W., Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983. 17 Vgl. METZ, J.B., Gott vor uns, in: UNSELD, S. (Hrsg.), Ernst Bloch zu ehren, Frankfurt 1965, 227-241, hier 234. „Hat der Mensch und sein entfaltetes Bewusstsein nicht ein Recht darauf, sich für sich selbst möglich zu bleiben, sich fraglich zu bleiben in eine nicht durchschaute größere Zukunft hinein? “ 18 Vgl. GADAMER, H.-G., Wahrheit und Methode, Tübingen 1965, 251. „Wer einen Text verstehen will, vollzieht immer ein Entwerfen. Er wirft sich einen Sinn des Ganzen voraus, sobald sich ein erster Sinn im Text zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum nur, weil man den Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin liest. Im Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs, der freilich beständig von dem her revidiert wird, was sich bei weiterem Eindringen in den Sinn ergibt, besteht das Verstehen dessen, was dasteht.“ 19 Auch das menschliche Gedächtnis ist aus diesem Grund auf das Engste mit Erwartungen, Erwartungshaltungen und Antizipationen verwoben. Nicht allein unter empirisch-psychologischer, sondern auch unter (praktisch-) philosophischer Perspektive sind alle Wahrnehmungsprozesse, die schließlich einer Reflexion unterzogen werden, einstellungs- und erwartungsbasiert und damit hoffnungsoffen. 20 Vgl. SCHÄRTL, T., Wahrheit und Gewissheit. Zur Eigenart religiösen Glaubens, Kevelaer 2004. Ebenso PINDL, M., Glaube. Leitperspektive theologisch-ethischer Reflexion, in: HUNOLD, G.W. et al., Theologische Ethik. Ein Werkbuch, Tübingen 2000, 51. „Bei der Suche nach sinnvollen Handlungsweisen ist der Mensch [...] auf leitende Grundüberzeugungen angewiesen, die den Sinn der Wirklichkeit widerzuspiegeln versuchen. Alle Ethik bezieht sich deshalb zumindest implizit auf das, was Menschen glauben und hoffen.“ <?page no="128"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 128 des Gelingens oder Misslingens des Lebens insgesamt, nach der Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit als Grundoption, die quasi rückwärts und vorwärts das zu gestaltende Leben prägt. Damit wird jedes Wissen irgendwann überstiegen. Denn: „Der Trend, jenseits der Wissenschaften nach Evidenz zu suchen, [ist, R.L.] in den Prozess der Verwissenschaftlichung der Welt eingebaut. Offenkundig fällt es dem Menschen als einem chaotischen Endlichkeitswesen schwer, mit bleibender Sinnlosigkeit umzugehen.“ 21 Zielt nun in der Folge diejenige Hoffnung, die sich auf die erwähnte Evidenz jenseits des Wissens im engeren Sinne bezieht, irgendwann auf das Ganze und letzte Gut des Lebens, dann auch des Handelns, sodass sie tatsächlich eine Brückenkategorie darstellt zwischen dem immer Partikulären und der Totalität des Seins. „Nur wenn ein Brückenschlag unseres Bewusstseins zum Ganzen des Seins zugelassen und anerkannt wird, lässt sich aus dem Vorentwurf der Hoffnung auf das Sein bzw. auf das eigene Heilsein noch etwas inhaltlich Greifbares gewinnen.“ 22 Damit wird eine transzendentale Dimension des Handelns berührt, die eine letzte Sinngegenwart hoffend voraussetzt 23 und vergegenwärtigt und anthropologisch als transzendentale Sinnverwiesenheit 24 oder soziologisch als Sinnbedürfnis 25 zu deuten ist. Theologische Ethik erweist sich dabei als ausgesprochene Könnensethik, die im Kontext einer kaum zu überschätzenden Orientierung menschlicher Weltdeutung durch das Christentum im Medium begründeter Hoffnungen Ermöglichungsbedingungen reflektiert zur humanisierenden Bewältigung von Welt und Existenz. Damit ist sie selbst in ihren transzendentalen Dimensionen immer angewiesen auf (1) ein Verständnis vom Menschen und (2) einen spezifischen Sinnhorizont zur Deutung von Welt und Existenz in toto. Aus beiden Komponenten ergeben sich nolens volens spezifische Hoffnungen; anders gesagt: keine Anthropologie und keine Daseinsdeutung, die menschliche Selbsttranszendentalität ernst nimmt, kommt ohne die Formulierung spezifischer, dem Menschen angemessener Hoffnungen aus. 26 Eine Theologie der Hoffnung hat sich um alle diese Bezüge zu kümmern, auch unter den Bedingungen einer Pluralisierung der Bestimmungen des Menschen, die immer wieder und vermehrt Integrationsbemühungen auszusetzen sind. Der Mensch ist keineswegs unbestimmbar geworden, auch wenn sich seine Selbstreflexionen radikal partikularisiert und pluralisiert haben. Dabei wird vonseiten der Theologie unter epistemologischer 21 Vgl. GRAF, F.W., Renaissance der Religion. Gespräch mit Friedrich Wilhelm Graf. Wir erleben einen signifikanten Wandel der Mentalitäten, in: Neue Gesellschaft - Frankfurter Hefte 4 / 06. GRAF schreibt weiter: Zum ‚heroischen Skeptizismus‘ (Max Weber) sind offenkundig nur wenige Intellektuelle imstande, und gerade viele Intellektuelle haben sich im 20. Jahrhundert in ideologischen Ganzheitsutopien verloren. Sinnbedürftigkeit wird in aller Regel dadurch abgedeckt, dass man Kohärenzmuster und Metaphern der Ganzheitlichkeit beschwört. Darin liegt die spezifische Attraktivität religiöser Symbolsprachen. Sie bieten dem Individuum die Chance, das kontingente eigene Leben in einen größeren Deutungskontext einzuzeichnen.“ 22 Vgl. EDMAIER, Horizonte der Hoffnung, 230. 23 Vgl. MAURER, A.V., HOMO AGENS. Handlungstheoretische Untersuchungen zum theologisch-ethischen Verständnis des Sittlichen, Frankfurt am Main 1994, hier 377. 24 Vgl. SCHELER, M., Die Stellung des Menschen im Kosmos, Bern / München 8 1975, 56. 25 Vgl. LUHMANN, N., Sinn als Grundbegriff der Soziologie, in: HABERMAS, J. / LUHMANN, N., Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung? , Frankfurt am Main 1971, 25-100, hier 28. 26 Nicht verschwiegen werden soll an dieser Stelle, dass die transzendentale Denkform immer in der Gefahr steht, „weltvergessen“ zu werden und sich von den konkreten Daseinsbedingungen auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit zurückzuziehen, sich mithin von ihnen zu entfernen, worauf etwa EDWARD SCHILLEBEECKX zurecht hingewiesen hat. <?page no="129"?> 1. Problemorientierung und Forschungsbericht I 129 Perspektive insbesondere eine angemessene Reflexion auf den human- und naturwissenschaftlichen Konstruktivismus für das interdisziplinäre Gespräch wichtig sein, da sich theologische Wissenschaft nach wie vor vorrangig re-konstruktiv zu ihren Ursprungsdaten versteht. In diesen Zusammenhang wird auch eine Auseinandersetzung um die Bedeutung von konsistenz- und kohärenztheoretischen Argumentationen innerhalb der Moraltheologie anzusiedeln sein. 27 c) Zeitlichkeit, Moralität und der phylogenetische Ursprung der Hoffnung Nicht selten wird ein klar und wohlfeil gezogener Unterschied zwischen (realer) Geschichte und (imaginierter) Utopie reklamiert - meist ungeachtet der Voraussetzungen des Verhältnisses von Gegenwart und Zukunft in ihrer immanenten Verschränkung. Schließlich gibt es keine Geschichte, keine Geschichtsdeutung ohne Vorstellung von der Zukunft, ohne utopische Potentiale als entsprechende Deutekategorien - und wohlgemerkt: das Umgekehrte gilt genauso. Statt beide Größen antithetisch gegeneinander zu setzen, sollten beide Größen quasi integral verstanden und gelebt werden. Was für die Kategorie der Geschichte gilt, gilt nun freilich auch für den Einzelnen, das Geschichts- und Handlungssubjekt. Das liegt daran, dass beiden eigentlich die Interpretation und Auslegung von Zeit eignet. Genau in dieser Aufgabe treffen sie sich. Auch Tiere leben in Zeit und leben partiell aus Zeit, aber einzig der Mensch muss als dasjenige Wesen gedacht werden, das sich im Gegenüber von Zeit erlebt und zu vollziehen hat und das letztlich um seine Zeitlichkeit weiß. Der Mensch steht mithin kraft seines Bewusstseins und kraft einer spezifischen Freiheit der Zeit, insbesondere seiner Zeit, als einem Problem gegenüber. An dem Punkt, an dem der Mensch begann, der Natur insgesamt und seiner eigenen Natur gegenüber in Distanz zu treten, ihr womöglich fremd zu werden, entstehen Freiheitsgrade gegenüber der eigenen naturalen Verfasstheit. Und genau an dieser Stelle formulieren sich dem Menschen Fragen über sich selbst, auf die ihm gerade diese seine naturale Verfasstheit, seine eigene Natur, keine Antwort mehr zu geben vermag. An dieser Stelle wird nicht nur die Tendenz des Menschen ihren Ursprung haben, selbstreflexiv Antworten zu formulieren auf seine Daseinssituation, quasi als einer der wesentlichen Motoren der Kulturentwicklung, genau an dieser Stelle wird kultur- und religionsgeschichtlich auch die Geburtsstunde vielfältiger Formen humaner Hoffnung zu suchen sein. Schon vor 70 000 Jahren haben Angehörige der Neandertaler, einem homo sapiens wie wir heute, ihren Verstorbenen Blumen in die Gräber beigelegt, eine symbolträchtige Handlung, die durchaus im Sinne einer Hoffnung gedeutet werden kann. Gerade das, was das Tier noch auszeichnet, eine artspezifische Instinktgebundenheit, fehlt dem Menschen. So entsteht die Notwendigkeit, mindestens symbolträchtige Antworten 28 zu geben 27 Vgl. einschlägig BORMANN, F.-J., Gewissensentscheidung und moralische Intuition. Plädoyer für einen kohärenztheoretischen Ansatz in der Gewissenslehre, in: Theologie und Philosophie 82 (2007) 3, 368-381 und RÖMELT, J., Christliche Ethik im pluralistischen Kontext. Eine Diskussion der Methode ethischer Reflexion in der Theologie, Münster 2000. 28 Es dürfte daher eine enge Verwandtschaft des Symbols mit Artikulationsformen von Hoffnung bestehen, wie wohl nicht allein von der transzendentalen Freiheitsbasis des Hoffnungsvollzugs her (vgl. THOMAS PRÖPPER), sondern auch ausgehend von den materialen Hoffnungsstrukturen her verständlich gemacht werden könnte. Als Beispiel können Symbole dienen, die geradezu dazu gemacht sind, dass sich sinnhafte und sinnliche Evidenzen daran anlagern und die Natur in gewisser Weise beschwört wird, über sich selbst hinaus zu gehen. Hoffnung bricht dabei irgendwann die zeitliche Struktur der Vergänglichkeit und der Sterblichkeit auf und legt <?page no="130"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 130 und ein Vertrauen zu ermöglichen, das die Einordnung des Menschen in die Natur von sich her überhaupt nicht kennt. In gewisser Weise bringt uns die Biologie hervor, meint uns aber in keiner Weise, sodass sie wohl partiell Orientierung bieten kann, aber niemals selbst Ziel sein kann. Spätestens mit dem Neolithikum und dem Beginn der dörflichen Kultur beginnt der Mensch sich eine zweite Natur einzurichten, die Kultur. Neben der Seinsungewissheit muss daher auch eine konsekutive Handlungsungewissheit konstatiert werden. Der Mensch beginnt, eine zweite Welt neben der natürlich vorgegebenen einzurichten, die Kultur, die kulturelle Welt, und in diese zweite Natur stellt er sich als Individuum nicht nur hinein, er stellt sie sich auch gegenüber. Im Rahmen dieser zweiten kulturellen Ordnung muss nun eine außerordentlich große und kraft des menschlichen Bewusstseins immer größer werdende Komplexität von Fragen, Situationen und Eindrücken durch eine Fülle von moralischen Strukturen geordnet werden. Wir halten quasi die im Rahmen der Kultur aufbrechenden und verorteten Fragen, die eine Fülle von Entscheidungen in kurzen Zeiträumen abverlangen, in ihrer Komplexität nur aus durch ein ausreichendes Maß an weitgehend geteilter moralischer Orientierung. So können wir den permanenten Entscheidungsdruck umgehen und die kreativen und produktiven, genauso wie die destruktiven Ergebnisse menschlichen Geistes zu integrieren versuchen. Neben der Kontingenz der Kreatürlichkeit wird im Rahmen menschlicher Gesellschaftsentwicklung nun quasi eine doppelte Antwort auf die je gegenwärtige Situation des Menschen gegeben: einmal nach rückwärts, indem eine Legitimation vom gedachten Ursprung her versucht wird, die Urzeit, und einmal nach vorwärts, indem eine Legitimation von einer gedachten Zukunft des Menschen her versucht wird - und beides notwendig geprägt durch spezifische Hoffnungsfiguren. Praktisch wird also die permanente Handlungsunsicherheit, der permanente Überhang, erklären zu wollen und zu müssen, wer wir eigentlich sind, was wir eigentlich warum tun, ausgeglichen durch fundamentale Hoffnungen des Menschen über sich selbst und die Welt, in der er sich vollzieht - nicht ausschließlich, aber grundlegend. Hoffnungen dieser Art bieten nun fundamentale Handlungsorientierung in der Gegenwart über eine Ausrichtung an in der Zukunft liegenden (guten) Möglichkeiten, die sich auf eine je spezifische Bestimmung des Menschen beziehen - mit Wirkung bis über den urzeitlichen Anfang derselben hinaus. An diesen Stellen treten dann irgendwann Fragen nach Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit auf (vgl. das höchste Gut als letztes und höchstes Hoffnungsgut), genauso wie nach der Sterblichkeit des Menschen (vgl. die christliche Auferstehung als theologischer Sachgrund der Hoffnung) und nach Wert und Würde der Individualität des Einzelnen. Nicht umsonst wird später die Kategorie der Hoffnung zentral mit der Auferstehung verknüpft, mit der Denkmöglichkeit also eines Lebens jenseits von Tod und Zerfall und mit der Vorstellung einer ausgleichenden Gerechtigkeit, einer Verknüpfung der Hoffnung quasi mit dem je neu zu eruierenden Guten, dem Gerechten auf der einen Seite und einem möglichen Ausgleich dieser Größen mit der erfahrenen Wirklichkeit auf der anderen Seite - über das irdische Dasein hinaus, das aus sich nicht imstande ist, einen solchen Ausgleich zu ermöglichen. Mithin exakt an den Stellen, an denen sich das menschliche Bewusstsein selbst in Frage gestellt sieht bzw. insgesamt als fraglich erlebt, indem es dem eigenen Naturzusammenhang entwächst, werden Hoffnungen formuliert, die diese Leerstellen schließen sollen - soweit, dass sie im Gepäck der Religion die Todesgrenzen überwinden. hinein in diese Stellen ein basales Vertrauen und - je größer die Hoffnung wird - eine Sehnsucht bis über den Tod hinaus. <?page no="131"?> 1. Problemorientierung und Forschungsbericht I 131 Hoffnung kann daher als spezifische Form der Auslegung von existentieller Zeit begriffen werden, mit erweitertem Blick auf geschichtlich-kulturelle Prozesse sogar noch mehr: jeder starke überindividuelle Hoffnungsbegriff impliziert eine spezifische Deutung von Geschichte und Kultur, weswegen eine jede Reflexion auf den Hoffnungsbegriff gezwungen ist, ihre mindestens implizite Geschichtsdeutung nicht nur freizulegen, sondern auch umgekehrt die „Bühne“ der Geschichte als legitimen Ort der Artikulation von Hoffnung zu betrachten. Schon IMMANUEL KANT hat im Rahmen seiner Postulatenlehre im Kontext der Kritik der reinen Vernunft zur Rettung der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft und zur Rettung des Systems der Moral überhaupt sagen zu müssen geglaubt, dass wir nur moralisch zu sein vermögen unter der Voraussetzung einer basalen Freiheit, eines Gottes und der Unsterblichkeit - wohlgemerkt der Hoffnung auf Unsterblichkeit, um eine letzte Versöhnung von Sollen und Können und von Moral und Glück denken zu können. Was KANT hier formuliert hat, war ein Zusammenfall von Weltordnung und Moralordnung. Eine Verknüpfung, die KANT zu denken vorgab im Angesicht der offensichtlichen und erfahrbaren Dichotomie beider Größen. Allein begründete Hoffnung vermittelt nun zwischen Weltordnung und Moralordnung. Beide Größen müssen aber - im Sinne der kantischen Moralphilosophie - verbunden werden, sonst sind wir letztlich und im geforderten reinen Sinne der Pflichterfüllung um des Sittengesetzes willen nicht auf Dauer moralfähig. Mit anderen Worten: ohne die Verknüpfung im Medium der Hoffnung keine bleibende Moralbereitschaft und Moralfähigkeit. Was lässt sich nun als bleibender Ertrag dieser kurzen Skizze zu einem möglichen phylogenetischen Ursprung der menschlichen Fähigkeit zur Hoffnung festhalten und an welchen Stellen sind Desiderate auszumachen? Der Mensch hat notwendig ein Verhältnis zur Zeit einzunehmen - und er tut es wesentlich auch im Medium der Hoffnung. Diese Hoffnung ist vermittelt mit einem Begriff von Geschichte und Welt, da sie allererst ein Verhältnis zu Geschichte und Welt ermöglicht und nachgerade deren Movens darstellt. Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass innerhalb der Theologie, erst recht aber innerhalb theologisch-ethischer Theoriebildung eine Zeitvergessenheit zu beobachten ist und das wiewohl zugleich deren grundsätzlich futurische Struktur bereits herausgearbeitet wurde. So ist etwa zu fragen, welche Zeittheorie mit einem Begriff christlichintegraler Hoffnung einhergeht, welche gar notwendig vorausgesetzt wird, welche aber auch nicht. Oder wie ist der Gegenwarts- und Realitätsbezug von Hoffnung zu fassen und wann bzw. wie kommt der transzendierende Überstieg der Realität? Hoffnung leistet schließlich immer beides zugleich: da wird eine spezifische Gegenwart überstiegen, auch wenn „wider alle Hoffnung“ gehofft (Röm 4,18) wird. Beide Bewegungen sind immer schon vorausgesetzt, was sich etwa in der berühmten Doppelbewegung der Unendlichkeit von SÖREN KIERKEGAARD klar erkennbar widerspiegelt. d) Hoffnung und moraltheologische Zeittheorie Der Mensch sieht sich einer offenen Zukunft gegenüber, er vollzieht sich in und aus Zeit und kann nicht existieren ohne ein Verhältnis zur Zeit einzunehmen, was nolens volens ein Verhältnis zur Befristung, zur Kontingenz und zur Vergänglichkeit impliziert. 29 An welchen zeitlichen Kriterien aber bemisst sich dieses Verhältnis? Oder anders gefragt: In welchen Vorstellungen von Zeit könnte sich eine Haltung vernünftiger Hoffnung grün- 29 Vgl. ALFARO, J., Die innerweltlichen Hoffnungen und die christliche Hoffnung, in: Concilium. Internationale Zeitschrift für Theologie 6 (1970), 59-69. <?page no="132"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 132 den? Es kann im Hintergrund dieser und ähnlicher Fragen eine Entsprechung zwischen einer Existenzanalyse menschlicher Zeiterfahrung und Zeitphänomenologie und einer Theologie der Zeit ausgemacht werden. So liegt es nahe, auch aus theologisch-ethischer Perspektive menschlicher Handlungswirklichkeit einen Zeitindex zu geben, aber nach wie vor ist, wie bereits erwähnt, eine „Zeitvergessenheit“ und eine seltsame „Zeitlosigkeit“ 30 der Theologie auszumachen. Insbesondere scheint mir eine Theologie von der Zukunft her und auf Zukunft hin 31 moraltheologisch in ihren Konsequenzen für das Verständnis menschlicher Handlungswirklichkeit noch viel zu wenig bedacht zu sein. Eine Zeittheorie, die den Zeitindex des Handlungssubjekts ausreichend theoretisieren würde, scheint mir in der Moraltheologie noch wenig gewürdigt, wo weitgehend ein zeitlineares Subjekt vertreten wird, aber oft unreflektiert bleibt, dass Zukunft auch gegenwärtig sein kann als Zukunft, ebenso wie Vergangenheit, was vielfältige Handlungsspannungen aufrichtet, die allesamt erst vollständige Gegenwart ausmachen (vgl. AU- GUSTINUS). Philosophisch betrachtet könnte es darum gehen, die Modi des Zeiterlebens 32 zu verbinden mit den Modi des (moralischen) Seins. So korrespondiert etwa bei WOLFHART PANNENBERG 33 Zeitoffenheit notwendig mit Weltoffenheit, was vielfältige Antizipationen als Anthropologeme erscheinen lässt und ein wichtiges Licht auf die Hoffnungsstruktur menschlicher Handlungswirklichkeit zu werfen vermag. Darüber hinaus sind vermeintlich rein vergangenheitsorientierte Kategorien wie Gedächtnis 34 , Geschichte, etc. ohne Erwartungs- und damit in einem umfassenden Sinne ohne Hoffnungsindex nicht wirklich verstehbar. Schließlich existiert ein bislang wenig bedachtes Verhältnis von Zeitlichkeit und Rationalität, wonach menschliches Handeln wesentlich auf Zukunft bezogen ist und wir andernfalls gar keinen Anlass hätten, auf Gründe zu reflektieren. „Es ist der Zukunftsbezug, der für Menschen zur Folge hat, dass sie in Handlungsspielräumen stehen“ 35 , die rational erwogen werden wollen. Letztlich geht es dabei um die (zeitliche) Bestimmtheit und rationale Bestimmbarkeit christlicher Hoffnung als begründeter Hoffnung und als 30 Vgl. METZ, J.B., Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, 5 1992, 165-174, hier 165ff. 31 Vgl. RAHNER, K., Marxistische Utopie und christliche Zukunft des Menschen, in: GARAUDY, R. / METZ, J.B. / RAHNER, K., Der Dialog. Oder: Ändert sich das Verhältnis zwischen Katholizismus und Marxismus, Reinbeck 1966, 9-25, hier 12. „Das Christentum ist eine Religion der Zukunft. Es versteht sich und lässt sich nur verstehen von der Zukunft her, die es als absolute, auf den einzelnen Menschen und die Menschheit zukommend weiß.“ 32 Vgl. PICHT, G., Mut zur Utopie. Die großen Zukunftsaufgaben, München 1969. Ders., Prognose, Utopie, Planung. Die Situation des Menschen in der Zukunft der technischen Welt, in: Ders., Vorlesungen und Schriften Bd. VIII (Zukunft und Utopie), hrsg. v. EISENBART, C., Stuttgart 1992, 1-42. Ders., Von der Zeit (Vorlesungen und Schriften Bd. XI), hrsg. v. EISEN- BART, C., Stuttgart 1999. 33 Vgl. PANNENBERG, W., Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983. Ebenso ders., Der Gott der Hoffnung, in: UNSELD, S. (Hrsg.), Ernst Bloch zu Ehren, Frankfurt 1965, 209-225. 34 Vgl. RITSCHL, D., Gedächtnis und Antizipation. Psychologische und theologische Bemerkungen, in: ASSMANN, J. (Hrsg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1988, 50-64. 35 Vgl. TUGENDHAT, E., Willensfreiheit und Determinismus, in: LIESSMANN, K.P. (Hrsg.), Die Freiheit des Denkens, Wien 2007, 45-67 (Kurzfassung in: Information Philosophie 1 / 2007, 7-17, hier 10). <?page no="133"?> 1. Problemorientierung und Forschungsbericht I 133 Maßstab und Höhepunkt aller menschlichen Hoffnungen. 36 Dabei ist der Mensch immer „Fragender und Gefragter“ 37 zugleich - nach sich, der Welt und dem Sinn von Existenz. Dieser Sinn alles Daseins kann dabei nur entdeckt werden, wenn Hoffnung nicht abgezogen wird, denn der Mensch ist aus theologisch-anthropologischer Sicht immer schon auf Gottes Verheißung hingeordnet, ist eschatologische Existenz, 38 - ohne eine abschließende (abgeschlossene) Natur- oder Hoffnungsbestimmung vornehmen zu müssen oder auch nur zu dürfen. e) Das Interdisziplinäre Gespräch mit den Humanwissenschaften Der Mensch kann als Schnittpunkt aller ontologischen Ebenen aufgefasst werden, weswegen er nicht allein äußerst verletzlich ist, kann er doch auf allen diesen Ebenen auch missglücken, insbesondere kann er nur unter Berücksichtigung aller ontologischen Dimensionen verstanden werden. Der Mensch ist theoretisches und praktisches Wesen zugleich, ist empirisches und normativ-moralisches Wesen zugleich, sodass er als Handlungssubjekt eine Vermittlung von subjektiven und objektiven Strukturen erreichen muss, eine Verbindung von Sein und Sollen, um sowohl der Welt und ihrem Aufforderungscharakter, als auch sich als homo morale gerecht zu werden, indem er sich eine realistische Werdegestalt seiner selbst in der Welt vor Augen stellt. 39 So kommt einer (Fundamental-) Anthropologie aller zentralen Handlungskategorien einschließlich der theologischen Tugenden eine vorrangige Bedeutung zum Verständnis des Handlungssubjekts Mensch zu, eine Bedeutung, die sich zugleich an ihrer synthetischen Kraft, als auch an der Fähigkeit zur Integration einschlägiger Einsichten zu bewähren hat. Auch und gerade die (post-) moderne Pluralisierung der Anthropologien, die ihren Status als Leitwissenschaft verloren haben, entbehrt nicht der bleibenden Nachfrage, was der Mensch sei - auch vor Gott. Das anvisierte Unterfangen will daher gerade keine Naturalisierung, sondern die Freilegung von naturalen Grundlagen von Handlungsvollzügen, die die Natur zwar übersteigen und nicht gänzlich von ihren naturalen Grundlagen her verstanden werden können, aber eben auch nicht ohne dieselben. 40 Hier ist nun vonseiten der Moraltheologie vieles unaufgearbeitet und die interdisziplinären Bemühungen methodisch eher von negativer Abgrenzung geprägt, die anzeigen sollen, was es nicht ist, anstatt positive und tragfähige Modelle des interdisziplinären Gesprächs zu entwickeln. 41 36 Vgl. O’COLLINS, G., The Principle and Theology of hope, in: Scottish Journal of Theology 21 (1968), 129-144. 37 Vgl. PRÖPPER, T., Fragende und Gefragte zugleich. Notizen zur Theodizee, in: Ders., Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg 2001, 266-275. 38 Vgl. BALTHASAR, H. U. VON, Zu einer christlichen Theologie der Hoffnung, in: Münchener Theologische Zeitschrift 32 (1981) 2, 81-102. 39 Vgl. HÜBNER, J., Ethik und empirische Wissenschaften, in: PFÜRTNER, S. (Hrsg.), Ethik in der europäischen Geschichte Bd. II. Reformation und Neuzeit, Stuttgart 1988, 127: „Die wechselseitige Durchdringung objektiver Strukturen und subjektiver Entscheidungen und ihrer Orientierung ist das eigentliche ethische Problem der Neuzeit.“ 40 Warum etwa, ist zu fragen, kommen Moraltheologen ohne empirische Erkenntnisse über ihre Formal- und Materialobjekte nicht aus? Warum sind gerade die Einsichten der Psychologie mindestens indirekt für (Theologische) Ethik von besonderem Interesse? 41 So steht etwa die psychologische Erforschung des Christentums noch in den Anfängen, zumal erst langsam von der Psychologie genügend Theoriebildung bereitgestellt wird. Insbesondere eine substanzielle Moralpsychologie ist weithin vernachlässigt. Auch ist etwa die Revolution der Kog- <?page no="134"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 134 So kann aufseiten moraltheologischer Theoriebildung ein eklatanter Mangel positiver Modelle des konstruktiven, interdisziplinären Zueinanders von Theologischer Ethik und verwandten Wissenschaften ausgemacht werden. Häufig sind stattdessen nur ex negativo Abgrenzungen der Disziplinen zu finden. Daher sollte im Rahmen der vorliegenden Studie der Versuch unternommen werden, erste Skizzen zu einem entsprechend positiv konnotierten Modell vorzulegen - auf der Grundlage von Strukturgittern innerhalb eines interdisziplinär aufgespannten Koordinatensystems. Dabei besteht sowohl erkenntnistheoretisch als auch methodentheoretisch deutlicher Nachholbedarf, worauf etwa das fundamentalanthropologische Defizit innerhalb der praktischen Philosophie und der Moraltheologie hinzuweisen vermag. Praktisch alle zentralen Kategorien der (Theologischen) Ethik bedürfen der anthropologischen Fundierung über interdisziplinäre Integrationsbemühungen: Schuld, Emotion und Kognition, (moralische) Motivation, (moralische) Identität, Handlungstheorie, Gewissen, etc. f) Menschliche Selbstreflexion und die Frage nach dem höchsten Handlungsziel (Glück, höchstes Gut, Sinn) Sehr früh in der Antike waren die Bedeutung und der Status der Hoffnung gebunden an die Frage nach dem gelingenden bzw. scheiternden Leben. Nachdem gewohnte Etoi, gewohnte und bewährte Lebenszusammenhänge infrage gestellt wurden im Rahmen der antiken Gesellschaftsentwicklung trat die Frage nach den Maßstäben des eigentlich gelingenden Lebens in den Vordergrund und damit auch die Frage, welchen Status die Hoffnung auf genau dieses Leben hat bzw. überhaupt haben kann, unter Einbezug der Tatsache, dass wir doch immer wieder ein solches gelungenes Leben, was auch immer material damit verbunden werden mag, im Modus der Hoffnung vor Augen haben - ambivalent, zwiespältig, immer gefährdet und mitunter trügerisch und zugleich ersehnt und gewollt. Später wurden diese Vorstellungen rationalisiert und überführt in die Frage nach dem Guten, dem objektiv Guten, das dann im Rahmen der Verbindung von Antike und Christentum als kulminierend gedacht wurde in der Gestalt Jesu Christi und seines Gottes als dessen letzter Grund. Ist die platonisch-aristotelisch-scholastische Tradition noch von einer affirmativen, teleologischen Ontologie als Basis der Bestimmung auch des nitionswissenschaften noch weitgehend an der (Theologischen) Ethik vorbeigegangen, von wenigen vorsichtigen Ausnahmen abgesehen: GERD THEIßEN etwa versucht, die Theodizeeproblematik attributionstheoretisch zu interpretieren und kommt u.a. zu dem Ergebnis, das das Neue Testament eine erstaunlich funktionale ‚Lösung‘ anbietet, wiewohl das Problem theoretisch unbeantwortet bleibt, aber eine Vertiefung der Gemeinschaft mit dem (mit-) leidenden Gott ermöglicht wird, mithin so etwas wie eine praktische Theodizee eröffnet wird, die er schließlich eine „Theodizee der Hoffnung“ nennt. Vgl. THEIßEN, G., Kausalattribution und Theodizee. Ein Beitrag zur kognitiven Analyse urchristlichen Glaubens, in: Ders. / GMÜN- DEN, P. VON, Erkennen und Erleben. Beiträge zur psychologischen Erforschung des frühen Christentums, Gütersloh 2007, 183-196, hier 193. „Jede Theodizee der Hoffnung basiert darauf, dass die Leiden der Gegenwart in der Zukunft überwunden sind und sich rückblickend anders darstellen.“ Mit anderen Worten: entsprechende Versuche, zum vorliegenden Thema aktuell etwa von RITTWEGER (RITTWEGER, J., Hoffnung als existentielle Erfahrung am Beispiel onkologischer Patienten in der Strahlentherapie, Leipzig 2007), können in aller Regel nicht mit dem der Komplexität der Sache angemessenen methodologischen Problembewusstsein aufwarten, das ein kriteriengestütztes Modell des Verhältnisses der Disziplinen zueinander bereitstellen würde und dieses darüber hinaus noch mit einer systematischen Begriffsanalyse zu verbinden wüsste. <?page no="135"?> 1. Problemorientierung und Forschungsbericht I 135 praktisch Guten ausgegangen, so wurde neuzeitlich das Gute dann - spätestens nach KANT - wieder subjektiviert und bis in die Moderne pragmatisiert. Alle objektivteleologische Interpretation des Seienden ist abgelöst worden: „Das Gute ist demnach nicht ein Prädikat, das eine objektive Eigenschaft des Seienden beschreibt, sondern ein Relationsbegriff, indem die wertende Einstellung eines Subjekts zu diesem Seienden zum Ausdruck kommt.“ 42 Dessen ungeachtet lässt sich bis in die Gegenwart hinein eine Finalisierung auf ein höchstes Gut, einen letzten Sinn, einen Abschlussgedanken hin denken, der den letzten Zweck und das letzte Ziel des Handelns und des Hoffens auf den Begriff bringen will, in der sich die Bestimmung des Menschen spiegelt und das sich handlungsmotivierend und bewältigungsorientiert zeigt. Dem höchsten Gut als dem „ganzen Objekt der praktischen Vernunft“ 43 eignet daher die fundamentale und nicht selten unterschätzte Funktion, dass in ihm sowohl das recht verstandene Glück bzw. die Glückseligkeit des Menschen, als auch das Gute, mithin die Moral, verknüpft sind, zusammen mit der Idee eines letztgültigen Sinns der Wirklichkeit. Gerade in Anbetracht dieser außerordentlich wirkmächtigen (Hoffnungs-) Idee eines Letztziels allen Handelns, in der die mitunter heterogenen und innerweltlich unversöhnten Aspekte von Moral, Glück und Sinn eine Einheit bilden, bleiben Fragen etwa nach dem Status und der Bedeutung der Hoffnung in diesen Konzeptionen, als deren Aufgabe die Vergegenwärtigung der erwähnten Finalziele betrachtet werden kann und bleiben Fragen nach dem Verhältnis der drei Größen zueinander. Insgesamt scheint aber offensichtlich, dass im Rahmen praktischer Vernunft transzendental verankerte Hoffnung nur postulatorisch ausgewiesen werden kann, d.h., was ihren epistemischen Status anbelangt, theoretisch nicht notwendig ist, und vielleicht auch nicht anders ausgewiesen werden darf, wenn der Charakter theologischer Hoffnung gewahrt bleiben soll. Dem Christentum verdanken wir schließlich auf den langen Wegen der begrifflichen Entfaltung der Hoffnungskategorie die Vereindeutigung und die Entambivalentisierung des antiken Hoffnungsbegriffs, eine begriffsgeschichtliche Revolution, an der wir uns bis in die (Spät-) Moderne hinein noch abarbeiten, nachdem wir im Zuge von Aufklärung und Säkularisierung und der damit einhergehenden Herauslösung christlicher Hoffnungsfiguren aus ihrem Ursprungskontext, was mitunter ideologische Mythen in die Leerstellen wuchern ließ, einem solch positiven Begriff zunehmend weniger trauen mögen und ihn deshalb systematisch, aber begründet zu desavouieren suchen und ersetzen zu können glauben durch eine Anti-Utopie oder den reinen Pragmatismus. Versagen wir uns aber aus guten Gründen diesem Weg, dann bleibt nichts anderes, als den (partiellen) Widerspruch des positiven Hoffnungsvollzugs zur erfahrenen Wirklichkeit zu akzeptieren und die daran aufbrechende Theodizee ernst zu nehmen - und über die Brücke der Hoffnungskategorie wieder in Gott hinein zu tragen. Für die vorliegende Arbeit ist daher die These argumentationsleitend geworden, wonach Hoffnung Antizipation von Sinn darstellt. Der Sinnbegriff, aktuell ein etymologisches Chamäleon, ist vormodern nicht nur nicht in individualisierter Form zu finden, er ist gar nicht zu finden, wiewohl der Sache nach durchaus präsent, so dass dessen philosophische Aufarbeitung durchaus zu den Desideraten einer anvisierten Ethik der Hoffnung gezählt werden kann. Erste in der vorliegenden Arbeit gezogene Linien sprechen sich gegen rein relativistische Konzepte und für eine Verknüpfung mit dem Naturrechts- 42 Vgl. HÖFFE, O., Das Gute, in: Ders., Lexikon der Ethik, München 6 2002, 110. 43 Vgl. RICOEUR, P., Freiheit im Licht der Hoffnung, in: Ders., Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen Bd. I, München 1973, 199-226. <?page no="136"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 136 gedanken aus. Schließlich muss eine Pluralisierung und Subjektivierung der Vorstellungen zum Begriff des Guten, auch des höchsten Guten, nicht notwendig die Verabschiedung einer teleologischen Handlungstheorie 44 insgesamt bedeuten, eher wird deren vernunftgemäße Notwendigkeit unterstrichen, insbesondere, wenn es empirisch als gesichert gelten kann, dass das Prinzip seelischer Aktivität Intentionalität ist. Dabei ist die Idee einer letzten Einheit des Handelns auf ein Letztziel hin äußerst wichtig, wiewohl über die Zusammenhänge etwa von höchstem Gut und christlicher Hoffnung noch zu wenig nachgedacht wurde. 45 So kann sich die Frage nach den (letzten) Handlungszielen als Frage nach der Vernünftigkeit und handlungstheoretischen Berechtigung eines praktischen „Hoffnungshorizonts“ ausgelegt werden, in den alle Individuen, aber auch alle Geschichte mit hineingenommen ist - auch und gerade der Opfer, deren Leiden darin eine Antwort sucht. Was dann philosophisch das Verlangen nach Glück bzw. dem höchsten Gut ist, die eudaimonia, was psychologisch das Verlangen nach Sinn und Orientierung ist und theologisch die Hinordnung des Menschen auf Glückseligkeit und Erlösung in liebender Vereinigung mit Gott, die beatitudo, das ist unter anderen Vorzeichen (theologisch-) ethisch die Bestimmung des Menschen zum sittlich Guten. Moralischer Erkenntnisgewinn ist dabei als Hoffnungsgewinn zu verstehen. Präzisere Erkenntnis des moralisch Guten und Richtigen ermöglicht präzisere Hoffnung auf das darin mindestens partiell zum Vorschein kommende höchste Gut. Umgekehrt gilt mindestens dasselbe: Hoffnung ist eine (spezifisch schwache) Erkenntnisform - freilich ohne eine (rationalistische) Form des Wissens zu sein. g) Vernunft Das Verhältnis von Vernunft und Hoffnung ist doppelt zu bestimmen, zum einen ist die Hoffnungsbasis der Vernunft freizulegen, sowohl theoretischer, als auch praktischer Vernunft, zum anderen die Vernunftbasis der Hoffnung, schließlich und endlich aus theologischer Perspektive der Ort der reductio ad mysterium. Die für diese Selbstreflexion endlicher Vernunft entscheidenden kategorialen Felder scheinen mir insbesondere die von Universalität und Partikularität und von Pluralität und Einheit der Hoffnung zu sein. Dabei ist wesentlich zu fragen, welchen Vernunftbegriff ein umfassender Hoffnungsvollzug - auch im Verhältnis zum Glauben - voraussetzt? Welche Vernunft brauchen wir also? Zunächst muss es um eine Begrenzung instrumenteller Vernunft gehen und um eine Erweiterung durch donative, passivische und dezidiert praktische Vernunftstrukturen - auch und gerade um eines konstruktiven Verhältnisses zum Glauben. Aufgaben, die eine Weiterführung der Autonomen Moral unumgänglich machen. Auch dürfte neben einer Vernunftkritik und der Verhältnisbestimmung des Glaubens dazu eine anthropologische Fundierung wichtige Einsichten in das Vernunftprinzip Hoffnung freilegen können. Innerhalb der Hoffnungskategorie bildet sich nichtsdestotrotz eine erkennbare Spannung ab zwischen den im Licht der Vernunft stehenden Anteilen und solchen, die in das mysterium stricte dictum Gottes selbst hineinreichen und 44 Vgl. etwa HORN, C., Klugheit, Moral und die Ordnung der Güter: Die antike Ethik und ihre Strebenskonzeption, in: Philosophiegeschichte und logische Analyse 6 (2003), 75-95. Ders., Ziele und Zwecke: Sind teleologische Begriffe unverzichtbar für die Beschreibung unserer Handlungen? , in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 17 / 1 (2008), 101-122. 45 Vgl. KELLER, D., Der Begriff des höchsten Gutes bei Immanuel Kant. Theologische Deutungen, Paderborn 2008. <?page no="137"?> 1. Problemorientierung und Forschungsbericht I 137 daher einer rationalen Erschließung entzogen sind, letztlich radikales Vertrauen voraussetzen. In umgekehrter Fragerichtung heißt das freilich auch, dass Vernunft aus sich selbst heraus, in ihrem Selbstvollzug, spezifische Akte des Vertrauens (voraus) setzt, die wiederum als Hoffnung interpretiert werden können. Mit anderen Worten: es existiert quasi die Spannung eines spezifischen Glaubens der Vernunft, auch eines Vernunftglaubens, und der Vernünftigkeit des Glaubens selbst. Hoffnung ist mithin vor der Vernunft zu rechtfertigen, nicht allein aus der Vernunft. Auch wenn daher JÜRGEN HABERMAS zunächst zuzustimmen ist: „diesseits einer spes fidei […] bleibt Raum für eine fallible, von einer skeptischen, aber nicht-defätistischen Vernunft belehrte(n) Hoffnung“ 46 , bleibt insbesondere die Verhältnisbestimmung des Vernunftprinzips Hoffnung zum Glaubensprinzip Hoffnung näher zu bestimmen - nicht allein aber zentral ausgehend von anthropologisch geronnenen Einsichten, die sich von der (auch empirisch greifbaren) Welt des hoffenden Menschen haben belehren lassen, bis hin zu transzendentalen Reflexionen. Dieser Anweg verweist, kantisch gesprochen, bereits „innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft“ über sich selbst hinaus auf einen postulatorischen Hoffnungs-Status, der in den Kontext der Religionsphilosophie bzw. der philosophischen Theologie mündet. Schließlich sind entsprechende Denkbewegungen von intuitiven Vorgriffen aufs Ganze inspiriert, die, in ihrer immensen Spannungseinheit ernst genommen, auf eine transzendentale Kategorienlehre der Hoffnung verweisen, die wohl einzig auf der Basis eines weiten, aber starken Vernunftbegriffs zu formulieren ist. Vorrangiger Gesprächspartner, eine solche Vernunftstruktur von handlungswirksamer Hoffnung anzudeuten, ist IMMA- NUEL KANT 47 , der eine der bis heute wichtigsten philosophischen Rehabilitationen der Hoffnungskategorie vorgelegt hat, indem er nicht nur eine marginalisierte Tugend aus einem lange währenden Schattendasein in der Affektenlehre befreit hat, sondern zugleich, indem seine Philosophie, die recht eigentlich eine Hoffnungsphilosophie ist, als Antwort auf die Frage nach der Reichweite einer Reflexion endlicher Vernunft auf sich selbst gelesen werden kann. h) Freiheit Hoffnung kann als Freiheitsvollzug entfaltet werden. Auch hier ist aber ein doppeltes Verhältnis auszumachen, das neben der Freiheitsbasis der Hoffnung eine Hoffnungsbasis des Freiheitsbegriffs auszuleuchten hat. Insbesondere der Hoffnungs- und Zeitindex der Freiheit scheint mir bislang zu wenig expliziert worden zu sein. Ein möglicher Zusammenhang kann schließlich darin gefunden werden, dass Hoffnung und Freiheit gleichermaßen eine offene Zukunft vor Augen haben - eine Offenheit auf mögliches Gelingen oder Scheitern hin. Beides kann antizipiert werden und wird kraft menschlichen Bewusstseins im Vollzug antizipiert - einmal im Medium der Hoffnung, einmal im Medium der Verzweiflung. Es gilt daher, dass kein auf selbstreflexivem Bewusstsein und Freiheit beruhender (Selbst-) Vollzug des Menschen möglich ist, ohne zugleich eine dieser Haltungen mit zu vollziehen und damit der realen Freiheit zu entsprechen oder zu widersprechen. Es hat daher zu den Konstitutionsbedingungen der Freiheit zu gehören, sie 46 Vgl. HABERMAS, J., Kommunikative Freiheit und negative Theologie. Fragen an Michael Theunissen, in: Ders., Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck. Philosophische Essays, Frankfurt am Main 1997, 116 und 145. 47 Zentrale hoffnungstheoretische Reflexionen KANTS finden sich in der KrV und der RGV, daneben auch der GMS und der KpV. <?page no="138"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 138 „im Licht der Hoffnung“ 48 zu verstehen und sie nur so angemessen verstehen zu können, da ihr Vollzug in einem zwischen Gelingen und Scheitern aufgespannten Raum geschieht, der immer schon „Sinnantizipationen“ 49 im Gepäck trägt - oder sich nicht vollzieht und sich sündig in sich selbst verschließt (curvatus in se ipsum). So scheinen mir die transzendentalen Freiheitsanalysen die Hoffnungsstruktur realer Freiheit 50 noch zu wenig entfaltet zu haben. Hinter der enormen und beispiellosen Freiheits- und Emanzipationsgeschichte des Abendlandes können und müssen auf diesem programmatischen Hintergrund begründete, fundamentale Hoffnungen vermutet werden, die die notwendige Ermutigung zur Freiheit allererst verständlich machen. Freiheit muss - quasi im Sinne des Sprungs von KIERKEGAARD - eine grundlegende Ermutigung, eine Hoffnung und ein Vertrauen in die Sinnhaftigkeit ihres Vollzugs immer schon voraussetzen und auch vorwegnehmen, dadurch nicht (grundlos) zu scheitern oder ins Nichts zu fallen. Denn mehr als eine hoffende Gewissheit gibt es nicht, wenn es Freiheit gibt. Das Risiko der Freiheit lässt sich nicht unter rationale Kontrolle bringen, etwa unter Bedingungen planender Prognose und rationaler Voraussicht. Welche Haltung nimmt Freiheit gegenüber diesem Raum des Nicht-Wissbaren ein? Und woraus schöpft ihr immer von Schuld und Tod bedrohtes Selbstverhältnis? Unter strikt vergeblichen Bedingungen, die keinerlei Sinnaussicht gewähren - auch und gerade im Angesicht von Tragik und Scheitern - wird schließlich keine Freiheit gelebt werden können und auch nicht gelebt werden wollen. Sie würde zurücksinken in den Schoß der Unfreiheit - aus Angst 51 . Mit anderen Worten, unter formaler Perspektive ist die Vollzugswirklichkeit der Hoffnung am Freiheitsparadigma abzulesen, was im Gespräch mit einschlägigen Freiheitskonzeptionen klassischer, scholastischer oder moderner, etwa transzendentaler Provenienz, zu zeigen wäre. Unter inhaltlicher Perspektive ist Hoffnung Antizipation von Sinn - aus Freiheit. Umgekehrt sind hoffnungsbasierte Sinnantizipationen als notwendige Voraussetzungen des Freiheitsvollzugs zu bestimmen und am Hoffnungsvollzug ließen sich mithin Grundcharakteristika eines starken Freiheitsparadigmas ablesen. i) Hoffnung und Handlungstheorie Eine Ethik der Hoffnung, die in ihrer Grundlegung und unter Berücksichtigung der vielen offenen systematischen Fragen erst noch én detail zu schreiben sein wird, kommt ohne eine hoffnungsbasierte, interdisziplinär angelegte Handlungstheorie nicht aus, die wiederum ohne einen philosophischen und theologischen Begriff des Glücks, des Heils und der Vollendung (der Bestimmung) des Menschen nur rudimentär zu erfassen ist, genauso wenig wie ohne eine starke Moraltheorie, näherhin eine Theorie des Guten und 48 Vgl. RICOEUR, P., Freiheit im Licht der Hoffnung, in: Ders., Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen Bd. I, München 1973, 199-226. 49 Vgl. T. PRÖPPER, Freiheit (Art.), in G.W. HUNOLD et al. (Hrsg.), Lexikon der christlichen Ethik Bd. I., Freiburg im Breisgau 2003, 554. 50 Vgl. DEMMER, K., Gottes Anspruch denken. Die Gottesfrage in der Moraltheologie, Freiburg 1993, 134ff. (Freiheit aus der Hoffnung), 147ff. (Die geläuterten Erwartungen), 162ff. (Vollendung als Verheißung). Vgl. auch DEMMER, K., Fundamentale Theologie des Ethischen, Freiburg 1999 und DEMMER, K., Angewandte Theologie des Ethischen, Freiburg 2003. 51 Vgl. zur These DREWERMANN, E., Strukturen des Bösen, 3 Bde., Paderborn 7 1992 und ders., „Der Mensch, der sich selbst ergreift ohne Gott, wird an seiner Angst zugrunde gehen...“, in: Der blaue Reiter. Journal für Philosophie 10 (1999), 58-64. <?page no="139"?> 1. Problemorientierung und Forschungsbericht I 139 des Richtigen. Schließlich ist die Spannung zwischen beiden Größen im Rahmen praktischer Vernunft wiederum ein Ort von moralischer (postulatorischer Vernunft-) Hoffnung. Auch diese hat sich einzeichnen zu lassen in Handlungstheorien 52 . Der entscheidende Vorteil eines solchen Unterfangens für die anvisierte Ethik der Hoffnung ist nun, dass es das Handlungssubjekt als lebensweltlich verortetes und damit als sich immer schon konkretisierendes thematisiert und somit gerade kein abstraktes und „generalisiertes Subjekt“ 53 vor Augen hat, das in der Gefahr steht, seine realen Bedingungen zu überspringen. Auf diese Weise kann dann auch die vielfach geforderte interdisziplinäre Anbindung an zentrale Einsichten der Human- und Sozialwissenschaften überhaupt kategorial vorgenommen werden. Es lassen sich nun pars pro toto eine Reihe von begrifflichen Annäherungen an eine hoffnungsbasierte Handlungstheorie ausmachen, aber eine systematische Einzeichnung handlungswirksamer Hoffnung in Handlungstheorie selbst kann nach wie vor als Desiderat bezeichnet werden und verweist im Sinne einer disziplinären Problemanzeige auf das „Fehlen der Zukunftsdimension in der traditionellen christlichen Ethik“ 54 , die eo ipso eigentlich prädestiniert dafür wäre, die futurische Struktur jeder Ethik von ihren eigenen schöpfungstheologischen, inkarnatorischen und eschatologischen Grundlagen her hervorzuheben - freilich ohne dabei deren welthafte Seite zu negieren. So kann die der Hoffnung eigene Haltung als „Selbstpreisgabe an das noch Ausständige und Ungewisse“ 55 bezeichnet werden, wonach der Handelnde sich immer wieder in eine Zukunft hinein loslässt, über die er nicht einfach verfügen kann, in die er aber dennoch hinein und aus der er heraus handelt. In scholastischer Begrifflichkeit könnte von einem handelnden Vorgriff auf die Fülle des Seins gesprochen werden. PAUL TILLICH dagegen hat die Formel vom „Mut zum Sein“ 56 geprägt, der fraglos auch in der Form der Hoffnung auftritt, während EDWARD SCHILLEBEECKX davon spricht: „Zukunft muss getan werden“, mithin darüber belehrt, dass unser Verhältnis zur Zukunft immer auch operativ ist. Solche und ähnliche Versuche sind nun für die anvisierte Ethik der Hoffnung so rudimentär wie unverzichtbar, bedürfen aber der systematischen Theoriebildung. Nichtsdestotrotz können sie bereits für eine konsiliare Ethik fruchtbar gemacht werden, die sich zwischen Selbstsorge und advokatorischen Diskursen bewegt, können sie nicht allein Daseins-, sondern auch Soseins-Strukturen aufnehmen und etwa eine Brücke von der Genese, über die Begründung zur Anwendung und zur Motivation quasi vollständig schlagen, sodass auch das ganze Spektrum menschlichen Tuns hoffnungstheoretisch bedacht werden kann - (1) Technik, (2) Poesis und (3) Praxis. Für den systematischen Zusammenhang von Handlungstheorie und Hoffnung ist dabei die näher zu bestimmende moralische Qualifizierung des Verhältnisses zur Zukunft 52 Vgl. die inzwischen klassischen, aber immer noch in ihrem interdisziplinären Ansatz vorbildlichen und gewinnbringenden Bände von LENK, H., (Hrsg.), Handlungstheorien - interdisziplinär, vier Bände in sechs Teilbänden, München 1977-1984. 53 Vgl. HUNOLD, G.W., Wege transzendental-anthropologischer Argumentation; in: Hertz, A. u.a. (Hrsg.), Handbuch der christlichen Ethik, Bd. 1, aktualisierte Neuauflage Freiburg 1993, 46-67 und DROESSER, G. / LUTZ, R. / SAUTERMEISTER, J. (Hrsg.), Konkrete Identität. Vergewisserungen des individuellen Selbst, München 2009. 54 Vgl. BAUER, G., Christliche Hoffnung und menschlicher Fortschritt. Die politische Theologie von J.B. Metz als theologische Begründung gesellschaftlicher Verantwortung des Christen, Mainz 1976, 157 und 158. 55 Vgl. EDMAIER, Horizonte der Hoffnung, 187. 56 Vgl. TILLICH, P., Der Mut zum Sein, Stuttgart 1958. <?page no="140"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 140 von grundlegender Bedeutung. So lässt sich etwa die Verantwortung und Verantwortbarkeit von Zukunft an einem spezifischen „Bund der Gesellschaft mit dem Futurum“ 57 ablesen, der idealiter ein Doppeltes leistet: er ermöglicht potentiell, den Endlichkeitscharakter und die Kontingenz menschlichen Handelns in und aus Zeit in seinen Konsequenzen zu bedenken und damit zugleich den damit einhergehenden Grenzerfahrungen gerecht zu werden. Insbesondere die Brückenkategorie der Hoffnung wird der Grenzerfahrung von Existenz gerecht, der Grenzdialektik 58 , wonach humanes Leben auf der Grenze und im Übergang stattfindet zwischen dialektisch vermittelten Handlungspolaritäten. j) Handlungsmotivation und moralische Motivation Es gehört zu den ersten Auskünften einer moraltheologischen Motivationstheorie, die Attraktivität des Guten zu betonen, wiewohl mir dieser Topos, der immerhin in tugendethischen Ethikkonzepten eine Schlüsselrolle einnimmt, mehr stillschweigend vorausgesetzt statt systematisch gewürdigt zu sein scheint und auch eine anthropologische Fundierung bislang nur sporadisch rezipiert werden kann, sodass die These berechtigt erscheint, wonach eine moraltheologische Motivationstheorie, insbesondere, wenn sie mit dem Anspruch auftritt, eine entsprechende empirisch-anthropologische Basis mit den vorliegenden Theoriebildungen zu verzahnen, dringend einer Reformulierung bedürfte. Demnach kann nicht einfach von einer planen Alternative zwischen der Attraktivität des Guten (und des Glücks) auf der einen Seite und der normativen Pflicht auf der anderen Seite als den zentralen Konzepten moralischer Motivation ausgegangen werden, sondern es ist eine integrative Perspektive anzustreben, die sich neben (praktischer) Philosophie und Theologie inzwischen auch lernbereit gegenüber den vielfältigen Einsichten der Psychologie zu zeigen hat. Dabei sind mehrere begriffliche Ebenen zu unterscheiden, die zur besseren Verortung der damit verhandelten Sachverhalte dienen können: So ist das ursprüngliche Motiv bzw. sind die ursprünglichen Motive zur Handlung in ihrem Verhältnis zueinander von der Motivation als den jeder Handlung immer schon vorauslaufenden (auch habitualisierten) motivalen Haltungsbildern und Latenzen (auch Neigungen und Bedürfnisse) und von den dann konsekutiv realen Konstituenten der Motivierung zu unterscheiden. Analog muss der basale und existentielle Halt eines Menschen, d.h. dem Ort bzw. denjenigen Orten, an denen Gewissheit gesucht und vorausgesetzt wird, unterschieden werden von der davon zentral bedingten Haltung bzw. den Haltungsbildern und dem daraus sich konsekutiv ergebenden Verhalten. Die Motivationsfrage ist daher immer auch an (empirische) Einsichten über den Zusammenhang von Handlungs- und Daseins-Konzept auf der einen Seite und der Person auf der anderen Seite gebunden, erst recht vom moralischen Konzept und Handeln der Person. 59 57 Vgl. MIETH, D., Die Diktatur der Gene. Biotechnik zwischen Machbarkeit und Menschenwürde, Freiburg 2001, 80. 58 Vgl. KURZ, W., Sinnerfahrung im Zwischenfeld von Aktivität und Passivität. Logotherapeutisch-philosophische Überlegungen zum Phänomen des „Zwischen“ (unveröffentlichtes Manuskript). 59 Vgl. die theoretischen Arbeiten mitsamt den empirischen Bestätigungen zum Konzept der Seelischen Gesundheit, etwa mit Blick auf die Frage nach der Bedeutung psychotherapeutischer Konzepte für die Entwicklung von entsprechenden Persönlichkeitsmerkmalen im Rahmen von Psychotherapieausbildungen LUTZ, R., (Logo-) Therapieausbildung und Seelische Gesundheit - Eine empirische Studie und pastoralpsychologische Anmerkungen, in: KIESSLING, K. <?page no="141"?> 1. Problemorientierung und Forschungsbericht I 141 Unter historischer und wirkungsgeschichtlicher Perspektive ist das Thema der moralischen Motivation zunächst hauptsächlich anhand des Begriffs der „Intention“ (intentio) zu rekonstruieren. Schließlich ist erst über die Handlungstheorie selber die Motivationsfrage in die Moraltheologie eingezogen. Für die strebensethischen Konzepte der antiken Ethik kann etwa eine neue Selbstzuwendung des Menschen in Anschlag gebracht werden. Diese wird verständlich, wenn sie verbunden wird mit der antiken Entdeckung der Zukunft als einer der rationalen Vorwegnahme zugänglichen Erwartung. Hoffnung ist schließlich immer auch (Selbst-) Ausdruck der Bestimmung des Menschen, wobei die antike Einbettung entsprechender Reflexionen in eine spezifische Kosmologie heute nicht mehr vorgenommen werden muss. Die Fatabilität und Falibilität der Hoffnung wird als anthropologisches Axiom entdeckt, die christliche Positivierung hatte sich noch nicht Bahn gebrochen. Ebenso wird der Übergang vom generalisierten Individuum zum singulären Intim-Individuum vorbereitet - beides mit immensen Auswirkungen für das Verständnis von menschlicher Handlungsmotivation. Im Hoch- und Spätmittelalter finden sich Hinweise zur Motivationsproblematik in Abhandlungen zur Anthropologie, die bereits in der Patristik aufgekommen war (GREGOR VON NYSSA, EMESIUS VON NEMESA, PLOTIN). Die Philosophie kannte das Problem im engeren Sinne noch nicht, da insbesondere die recta ratio und die Verobjektivierung der Handlungen von entscheidender Bedeutung waren. 60 Die Moraltheologie der damaligen Zeit hat das Thema der (moralischen) Motivation insbesondere in der circumstantiae-Lehre behandelt - im Rahmen eines objektiven Norm-Kosmos, der dann auf die individuelle Handlung umgelegt wurde und quasi entlastende und eröffnende Gründe bereitstellte. Der objekthafte Normkosmos wird hier quasi in das individuelle Handeln transponiert. Von der antiken bis zur spätmittelalterlichen Philosophie und Theologie wurde die Handlungsmotivation inhaltlich-theoretisch gefasst unter dem Begriff der sie letztlich bestimmenden Zielgröße, dem höchsten Gut. Es wurde philosophisch und dezidiert theologisch argumentiert, insbesondere, wenn von den Zielgestalten der Eschatologie gesprochen wurde: Reich Gottes, Christusförmigkeit, Herrlichkeit in Gott, frui deo, visio beatifica, etc. Scholastische Hoffnungsreflexionen 61 haben das Wissen 62 um hoffnungsbasierte Handlungsmotivation dann insofern bereichert, als dass sie zwei Pole der Hoffnungslosigkeit beschrieben haben: Der eine Pol der Hoffnungslosigkeit (Verzweiflung - desperatio) ist die eigentliche Hoffnungslosigkeit als „Vorwegnahme der Nicht-Erfüllung“ des zunächst (Hrsg.), Transformationen. Pastoralpsychologische Werkstattberichte, Heft 7, Frankfurt 2007, 54-108. Unter systematischer Perspektive handelt es sich um eine empirische Untersuchung bzgl. des Zusammenhangs von theoretisch-therapeutischem Konzept und der Person des Therapeuten, eine Verknüpfung, die handlungstheoretisch von größter Bedeutung ist. 60 Vgl. MÜLLER, S., Handeln in einer kontingenten Welt. Zu Begriff und Bedeutung der rechten Vernunft (recta ratio) bei Wilhelm von Ockham, Tübingen 2000 und ERNST, S., Ethische Vernunft und christlicher Glaube. Der Prozess ihrer wechselseitigen Freisetzung in der Zeit von Anselm von Canterbury bis Wilhelm von Auxerre, Münster 1996. Hier wäre eine recta spes zu rekapitulieren, die die relevanten Aspekte ihrer damaligen Konstitution freizulegen versucht. 61 Vgl. PIEPER, J., Über die Hoffnung, Freiburg 2006 und BALTHASAR, H.U. VON, Was dürfen wir hoffen? , Einsiedeln 1986. 62 Die Reflexionen LUTHERS zur Rechtfertigung waren anthropologisch und handlungstheoretisch schwer zu fassen, weswegen als Ausweg eine Individualisierung und Personalisierung der entsprechenden Kategorien stattgefunden hat, auch Soteriologie und Rechtfertigung tendenziell zusammen gefallen sind, ebenso Glauben und Hoffen, so dass manche Hoffnungsstruktur aus dem Blick geriet. <?page no="142"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 142 Erhofften. Der andere Pol der Hoffnungslosigkeit ist die praesumptio (Vermessenheit, besser: Vorwegnahme) als „seinswidrige Vorwegnahme der Erfüllung“. Der Gedanke könnte gewinnbringend weitergeführt werden. Denn damit ist eine strikte Warnung vor einer Verabsolutierung von bestimmten Erwartungen in die eine oder andere Richtung (Erfüllung oder Nicht-Erfüllung) im Sinne einer falschen Gewissheit, eines falschen „Wissens“ 63 verbunden. Stattdessen ist von einem Fließgleichgewicht von Erwartungen auszugehen, wonach die prinzipielle Offenheit von Erwartungsstrukturen anzuerkennen ist gegenüber einseitigen Vorwegnahmen vermeintlich sicher gewusster Ergebnisse. Einzig Hoffnung vermag diese Spannung zu halten, indem sie diese beide Pole quasi überbrückt und zusammenhält. Es gibt mithin eine notwendige und handlungsmäßige Ausrichtung des Menschen auf die erwartete Zukunft, aber dennoch darf es keine prinzipielle Vorwegnahme derselben geben, auch nicht unter dem Deckmantel des Wissens, da sonst der Erwartungs- und Möglichkeitsraum eingeschränkt werden würde - mit nachhaltigen Folgen für menschliche Handlungsmotivation. 64 Als eine weitere wichtige Differenzierung zum besseren Verständnis der Handlungsmotivation des Menschen kann seit KANT diejenige von Moral und Glück innerhalb des höchsten Gutes gelten. Hoffnung zielt auf das Gute, irgendwann auf ein letztes und höchstes Gut - im Sinne einer Versöhnung von Moral und Glück. Ist nun vernunftgemäße Hoffnung Orientierung am Guten, dann korreliert mit ihrem Vollzug zugleich die Gefahr des Missbrauchs. Mit der Möglichkeit zum Guten geht die Möglichkeit zum Bösen parallel einher. Mit KANT kann auch deswegen ein Wendepunkt markiert werden, da er alle Ethik in Richtung der Anthropologie gehoben hat. Neben seinen transzendentalphilosophischen Reflexionen wurde die Wende zum Erkenntnissubjekt radikal vollzogen - und zugleich die Hoffnung als (praktisches) Vernunftprinzip philosophisch rehabilitiert. Für den vorliegenden Kontext kann zunächst festgehalten werden, dass der Grund der Handlungsmotivation nicht die Hoffnung selbst ist, sondern das spezifische Gut, das die Hoffnung zu repräsentieren versucht. Das wiederum muss mit dem höchsten Gut, näherhin mit Moral, mit Glück und mit Sinn verknüpft werden als dem Grund der Handlungsmotivation. Mit anderen Worten: ein zentraler Modus der Handlungsmotivation, d.h. ihr Movens, ist Hoffnung, die neben allen kontingenten Gründen (psychologischer, soziologischer, historischer Art) als fundamental(st)e Bestimmungsgröße gedacht ist, nicht als einzige. Entscheidend wird daher sein, woraus die Bestimmung des (höchsten) Hoffnungs-Gutes letztlich schöpft, welche Voraussetzungen es kennt und welche Deckungsbzw. Begründungslücken vorliegen und wie es überhaupt praktisch zu werden vermag, wie es sich also als Einheit zur Vielheit der handlungsbestimmenden Aspekte verhält. Schließlich war das christliche Abendland bis in die Moderne hinein für bestimmte (moraltheologische) Denktraditionen immer wieder der Versuchung ausgesetzt, menschliches Handeln aus einer spezifisch theologischen Anthropologie abzuleiten, das 63 Der Gedanke findet sich auch in modernen anthropologischen Reflexionen wieder. Vgl. FRANKL, V.E., Der leidende Mensch. Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie, Bern 2 1996. Hier definiert FRANKL Verzweiflung als Verabsolutierung eines einzigen Wertes unter Missachtung des restlichen Werteraumes. 64 Wird der Gedanke konsequent zu Ende gedacht, dann führt er dazu, letzte Verzweiflung zu denken. Mit ISIDOR VON SEVILLA: „Verzweifeln heißt in die Hölle hinabsteigen.“ Hier scheint es ein hoffnungsloses Vorherwissen dessen zu geben, dass (gegenwärtige oder zukünftige) Verzweiflung ein Letztes sein wird bzw. schon ist. <?page no="143"?> 1. Problemorientierung und Forschungsbericht I 143 „sich aus dem Gottesbewusstsein der Erlösten notwendig folgern lässt“ 65 . Die Moderne dagegen hat es sich in vielfältigen Strömungen zum Programm gemacht, Ethik jenseits religiöser Welt- und Menschenbilder zu entwerfen und das Handeln des Menschen als das eines „Unerlösten“ zu formulieren. Moraltheologie hat diese Spannung in sich selbst abzubilden. Sie kann nicht mehr unkritisch (deduktiv) Ethik des „erlösten“ Menschen betreiben und damit die Erlösung einseitig offenbarungspositivistisch gegenwärtig setzen, sondern hat stattdessen die (Hoffnungs-) Spannung in ihren eigenen Theoriebildungen menschlicher Handlungswirklichkeit differenziert abzubilden, denn sie ist es, in der der moderne (Christen-) Mensch steht, der sich in einer weltlichen Welt vorfindet und zugleich seine Erlösung, die es nur im Modus der Hoffnung gibt, anzunehmen versucht. Moraltheologie hat eine Ethik der Hoffnung zu entwerfen und die Hoffnungsstruktur menschlicher Handlungswirklichkeit so zu formulieren, dass eine Handlungstheorie notwendig auch eine Hoffnungstheorie zu erkennen gibt - wenn sie umfassend angelegt werden soll. Denn die die Säkularisierung und damit in derFolge der ebengenannte Hiatus sind (moraltheologisch) zunächst völlig legitim, da es zum Impetus des christlichen Kerygmas seit dem AT gehört, zur Verweltlichung und Entdivinisierung von Welt beizutragen und damit das Göttliche Gottes allererst hervorzuheben. 66 Der Hiatus bildet sich in handlungsbedeutsamer Hoffnung regelrecht ab und ist idealiter aufgehoben - als Spannungseinheit. Erst sehr viel später kam dann die Unterscheidung von Gründen und Motiven auf, von Internalismus und Externalismus. Da wird eine Motivation aus Motiven von einer Motivation aus Gründen differenziert 67 , wobei die motivationale Kraft von (Meta-) Überzeugungen wie der Hoffnung, die eine dialektische Verzahnung von Motiven und Gründen potentiell ermöglichen können, mitunter übersehen wird, wiewohl ein notwendiger Zusammenhang im Sinne eines moraltheoretischen Internalismus von nicht unerheblicher Bedeutung wäre. In der Sprache KANTS wüsste eine elaborierte (moraltheologische) Motivationstheorie „objektive und subjektive Bestimmungsgründe des Willens“ (Triebfedern) in gleichem Maße nutzbar zu machen, auch wenn sie keine symmetrischen Aufgaben erfüllten. Völlig analog kann schließlich ein principium executionis von einem principium dijudicationis unterschieden werden, ein Beweggrund von einem Beweisgrund. Auch hier leuchtet unmittelbar ein, dass beide Größen zueinander in ein konstruktives Verhältnis gesetzt werden müssen, um ein Maximum an Handlungs- Motivation zu ermöglichen. Ansonsten ist das eine ohne das andere entweder „blind“ oder „lahm“. 68 Auf diesem Hintergrund wird nun auch eines der zentralsten moraltheo- 65 Vgl. PFÜRTNER, S. (Hrsg.), Ethik in der europäischen Geschichte Bd. II. Reformation und Neuzeit, Stuttgart 1988, 78. 66 Vgl. SCHAEFFLER, R., Wissenschaftstheorie und Theologie, in: BÖCKLE, F. / KAUFMANN, F.-X. / RAHNER, K. / WELTE, B. (Hrsg.), Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft Bd. XX, Freiburg im Breisgau 1982, 5-83. 67 Vgl. SCARANO, N., Motivation (Art.), in: DÜWELL, M. / HÜBENTHAL, C. / WERNER, M.H. (Hrsg.), Handbuch Ethik, Stuttgart / Weimar 2002, 432-437. 68 Das spezifisch vernunftgewirkte Gefühl der Achtung vor dem Sittengesetz im Sinne von KANT als Verbindung von moralischen Gründen und entsprechenden Motivationen bedarf dabei der Reformulierung, da es als argumentatives Nadelöhr die vitalen Motivationsquellen des Menschen kaum zu würdigen weiß und diese zudem kaum mit der Attraktivität des Guten und seiner (letzten) Zielgrößen verbunden erscheint. Umgekehrt scheint eine noch weitgehend unaufgearbeitete Funktionszuweisung für Fragen der moralischen Motivation im Kontext der Autonomen Moral dem christlichen Kerygma eine unterkomplexe Bedeutung zuzugestehen. <?page no="144"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 144 logischen Probleme zum Verständnis moralischer Motivation radikalisiert, in dessen Mitte Hoffnung als Prinzip und Kategorie zielt: der Motivation zur Realisierung des als gut Erkannten bzw. der Hiatus zwischen dem als gut Erkannten und dem Tun dieses Guten, zwischen Erkennen und Tun. 69 Hoffnung als Brückenkategorie verknüpft beides idealiter und schafft so erst die Voraussetzungen für eine wirkliche Motivation zum Guten, indem sie das objektiv als gut Erkannte und Eingesehene mit dem subjektiv Wert- und Sinnvollen verknüpft - auf der Basis einer Antizipation von attraktiv erlebtem Sinn, der mitunter seinen Ausgang bei Fragen nach dem Glück und dem (moralisch) Guten nimmt. Wenn daher die scholastische Formel agere sequitur esse - Das Handeln folgt (aus) dem Sein - noch Geltung beanspruchen kann, dann hat sich eine von der Hoffnungskategorie entwickelte Handlungstheorie mit dem ganzen Sein des hoffenden Menschen zu befassen. Als ein möglicher Beitrag dazu sollen in der vorliegenden Arbeit anthropologische Strukturen aufgedeckt und auf eine integrative Hoffnungsfigur hin weiterentwickelt werden. Abendländische (Moral-) Philosophie und (Moral-) Theologie kann nun unter einer bestimmten Perspektive als permanenter Versuch verstanden werden, das Verhältnis von Sein und Sollen je neu zu bestimmen, wobei Sollen weit gefasst ist und nicht eng normentheoretisch. Die Spannung beider Größen dürfte eine der zentralsten Quellen moralischer Motivation sein, wenn nicht die zentralste überhaupt. Mitunter wird allerdings das eine zulasten des anderen betont und übersehen, dass das Verhältnis ohne Hoffnungskategorie nicht zu bestimmen ist und die Hoffnungskategorie daher konzeptionell einzubeziehen ist. 70 Insgesamt soll nun für diesen Kontext die These leitend sein, wonach eine Ethik der Hoffnung als Metatheorie der Motivation bezeichnet werden kann und daher eine basale, mitunter allen faktisch-realen Handlungskonstitutionen immer schon vorauslaufende Handlungsbedingung, näherhin ein humanes Agens und Movens ausweist. Unter theologisch-ethischer Perspektive ist dabei der letzte Grund der Handlungsmotivation nicht die Hoffnung als solche, sondern das Hoffnungsgut. Der Modus, das Medium der Handlungsmotivation ist nun dagegen die Hoffnung selbst. Das hat Konsequenzen: Alle zentralen ethischen Begriffe sind von dieser Hoffnungs- und Erwartungsstruktur menschlicher Handlungswirklichkeit geprägt: Freiheit, Verantwortung (aus der Erwartung entspringt ein bestimmter Begriff von Verantwortung), Schuld, Identität, etc. Auch die Verkündigung der Evangelien ist als Verkündigung einer (Erlösungs-) Hoffnung zu entfalten, deren Erfüllung - ausgehend vom Alten Bund und in Jesus Christus kulminierend - bereits begonnen hat, deren vollständige Realisierung aber noch ausständig ist, ein Umstand, der exakt der Struktur der Hoffnung entspricht und diese zu begründen bzw. zu erfüllen vermag. Erlösung ist immer beides: Beginn und Zukunft, denn: „Es gibt Erlö- 69 Für PLATON und SOKRATES kann noch die Annahme eines unmittelbaren Verhältnisses beobachtet werden, während ARISTOTELES diesen Hiatus bereits herausgearbeitet hat. 70 Vgl. exemplarisch die Kontroversen während der Zeit des Deutschen Idealismus zwischen IMMANUEL KANT, GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL und JOHANN GOTTLIEB FICHTE über Reichweite und Spannung von Sein und Sollen, transzendentalem Ich und realem Ich, von Legalität, Sittlichkeit und Moralität, von objektiv und subjektiv Gutem. So ist etwa HEGELS Idealismus alles andere als eine „Philosophie der Tat und der offenen Zukunft“. Vgl. PFÜRTNER, Ethik in der europäischen Geschichte Bd. II., 86. Eine Philosophie der Tat hätte nämlich entlang der hier vertretenen These als Philosophie der offenen Zukunft eine Philosophie der Hoffnung zu sein. <?page no="145"?> 1. Problemorientierung und Forschungsbericht I 145 sung nur in der Weise der Hoffnung.“ 71 Erlöstes Handeln ist Handeln aus Inhalt und Motivation spezifischer Hoffnung. Bemerkenswert ist nämlich, dass auch unerlöstes Handeln Hoffnungen und Erwartungen produziert, die das Woraufhin des Handelns zu benennen versuchen, die das tiefere Wollen des Handelnden ausweisen und daraufhin orientieren wollen - ohne freilich dessen letzten Grund je aus sich verbürgen zu können. k) Ethik und Eschatologie Jede grundständige Beschäftigung mit zentralen ethischen Begrifflichkeiten des Handlungssubjekts Mensch hat Konsequenzen für das Selbstverständnis der Theologischen Ethik, genauso wie sich das Selbstverständnis der Ethik in dem von ihr entworfenen Handlungssubjekt spiegelt - so auch hier mit Blick auf die eschatologische Kategorie der Hoffnung. Woran zeigt sich etwa der eschatologische Vorbehalt allen Handelns, den die Theologie zurecht betont? Wie vermögen wir die eschatologische Hoffnungsstruktur menschlichen Handelns zu erkennen? Zunächst als final orientierten Ergebnisvorbehalt und als Handeln aus der Zukunft, Aspekte, die an jeder Form von Ethik freizulegen sind aufgrund der futurischen Struktur aller Ethik. Dezidiert eschatologisch wird Hoffnung erst als theologisch-ethischer Begriff. Das hier eröffnete Feld einer „Eschato-Praxis“ 72 ist allerdings nicht allein der Politischen Theologie zu überlassen. Grundsätzlich ist Hoffnung als Handlungskategorie zu entwerfen und das Handlungssubjekt als eschatologische Größe 73 zu bezeichnen, die immer wieder von einer letzten einheitlichen Handlungszielgröße, einem moralisch relevanten Eschaton, Orientierung und Motivierung erfährt. THOMAS SÖDING schreibt daher zu Recht über eine Ethik der Hoffnung, die noch Bezug nimmt auf ihr biblisches Fundament: „Freilich geht eine Ethik der Hoffnung auch von der Prämisse aus, dass jedes menschliche Handeln unter dem eschatologischen Vorbehalt steht.“ 74 Ihren Ausgang nahm solche christliche Hoffnung an den Verheißungen Israels. In den Evangelien ist Hoffnung zwar begrifflich kaum präsent, inhaltlich aber sehr wohl durch ihre christologische Grundlegung. Erst bei Paulus lassen sich dann ausführliche philologische und theologische Reflexionen finden. Einzelne Dimensionen dieser eschatologischen Hoffnung werden dann sukzessive in epochalen Formationen entfaltet: ihre 71 RATZINGER, J. [P.P. BENEDIKT XVI.] Credo für heute. Was Christen glauben, hrsg. v. ZABOROWSKI, H. / LETZKUS, A., Freiburg im Breisgau 2006, 18. 72 Vgl. WOHLMUTH, J., Mysterium der Verwandlung. Eine Eschatologie aus katholischer Perspektive im Gespräch mit jüdischem Denken der Gegenwart, Paderborn 2005. 73 Alle zentralen moraltheologischen und moralphilosophischen Kategorien müssten in ihrem Hoffnungsindex zu identifizieren sein, wenn die These Geltung beanspruchen kann, dass menschliche Handlungswirklichkeit eine inkommensurable Hoffnungsstruktur aufzuweisen hat. Das bedeutet schließlich, dass auch alle am Handlungsaufbau beteiligten Größen in einem umfassenden Sinne mindestens eschatologisch konnotiert sind. Vgl. etwa zum Aufweis menschlicher Identität als eschatologischer Größe LUTZ, R., Identität und Ausdruck - Anthropologische Grundlagen und moraltheologische Anmerkungen zu den Konstitutionsbedingungen von Identitätsprozessen, in: DROESSER, G. / LUTZ, R. / SAUTERMEISTER, J. (Hrsg.), Konkrete Identität. Vergewisserungen des individuellen Selbst (FS G.W. HUNOLD), München 2008, 13-46. 74 Vgl. SÖDING, T., Die Trias Glaube, Hoffnung, Liebe bei Paulus. Eine exegetische Studie (SBS 150), Stuttgart 1992, 214. Weiter heißt es: „Das bewahrt sie vor der Errichtung einer Tugenddiktatur ebenso wie vor Utopismen, die sich letztlich einer Idealisierung menschlicher Möglichkeiten verdanken.“ <?page no="146"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 146 Zeitlichkeit, ihr letztes Gegründetsein in Gott, ihr habitueller Tugendcharakter, ihre Subjektivität und Personalität, ihre (utopische) Geschichtlichkeit und Geschichtsmächtigkeit, ihre Existentialität, mitunter ihre Profanität und (illusionäre) Absurdität, schließlich ihre Notwendigkeit für menschlichen Selbstvollzug in allen entscheidenden Relationen (Selbst, Welt und Gott) und ihre strukturelle Phänomenologie. Die erste systematische Hoffungstheorie stammt schließlich aus der Feder THOMAS VON AQUINS. Begriff und Kategorie waren und sind zwar in wechselnden Kontexten immer präsent, führten und führen aber ein relatives Schattendasein innerhalb der Theologischen Ethik, wiewohl es eine klare Verortung als theologische Tugend gibt. Im Zuge der noch immer anhaltenden Eschatologisierung der Theologie seit dem 19. Jh. nahm ihre Bedeutung 75 zusehends zu - bis in die Politische Theologie hinein, wobei deren Anschlussfähigkeit an dogmatische Theologie weitgehend sichergestellt wurde, sie aber der Handlungspraxis des Menschen und der ethischen Theoriebildung seltsam entrückt war, ganz abgesehen von einer Vielzahl moderner, säkularer Surrogate, die mit normativen Überhängen in Erscheinung treten. Die Eschatologisierung hält noch an und insbesondere die Moraltheologie scheint mir noch viele diesbezügliche hoffnungstheoretische Desiderate zu kennen, etwa den Ort eines christlichen universale concretum, wie es sich innerhalb ethischer Theoriebildung in einem umfassenden Hoffnungsbegriff zu erkennen gibt oder die Frage nach der Spiegelung des Verhältnisses von präsentischer und futurischer Eschatologie innerhalb des Verhältnisses von Indikativ und Imperativ. 76 Anders gefragt: wo ist der Indikativ in der Ethik? Auch stellen sich Fragen nach dem Verhältnis des erlösten zum unerlösten, des neuen zum alten Menschen und der Bedeutung für menschlichen Handlungsaufbau und Selbstvollzug. Solche und ähnliche Fragen wirken der Tendenz entgegen, immer schon vom „erlösten Subjekt“ auszugehen, statt die notwendigen Spannungen zwischen dem geschichtlich-realen und dem frei-versöhnten Menschen aufrecht zu halten und darin das Subjekt zu verorten. Die Kategorie der Hoffnung wird nun als Grundkategorie einer Eschatologie vom Glaubenden her aus folgendem Grund für die Beschreibung und das Verständnis menschlicher Handlungswirklichkeit so häufig marginalisiert, weil sie als Brückenkategorie fungiert und zwischen finalen und effektiven Motiven, zwischen Glaube und Liebe, etc. dialektisch vermittelt und dabei als (pneumatisch getragenes) Medium mitunter gar nicht selbst in Erscheinung tritt. ALFONS AUER hat zudem darauf hingewiesen, dass es moraltheologisch fragwürdige Konsequenzen haben kann, vorschnell von einem Konzept des erlösten Menschen auszugehen, um dann daran moral- oder normdeduktive Ableitungen vorzunehmen. Denn dieses Vorgehen birgt die Gefahr, fundamentale Hoffnungsspannungen aufzulösen, statt sie dialektisch zu vermitteln, mithin Erlösung als Hoffnungsfigur zu schleifen, indem jegliche eschatologische Spannung dekonzeptualisiert wird, statt sie radikal ernst zu nehmen. Dennoch oder gerade deshalb ist christliche Hoffnung geschichtsmächtig zu bezeichnen, sie ist Motiv und Motivation von Geschichte, indem sie sie stiftet, inauguriert und finalisiert, wie geschichtsphilosophische und geschichtstheologische, genauso 75 Vgl. HANS URS VON BALTHASAR, JOHANN BAPTIST METZ, JÜRGEN MOLTMAN, etc. 76 Vgl. ECKERT, J., Indikativ und Imperativ bei Paulus, in: KERTELGE, K. (Hrsg.), Ethik im Neuen Testament, Freiburg im Breisgau 1984, 168-189. BÖCKLE, F., Moraltheologie und Exegese heute, in: KERTELGE, K. (Hrsg.), Ethik im Neuen Testament, Freiburg im Breisgau 1984, 197-210. <?page no="147"?> 1. Problemorientierung und Forschungsbericht I 147 wie kulturtheoretische Reflexionen zu zeigen vermögen. 77 Der eschatologische Vorbehalt auf dem Feld der Theologischen Ethik, auch wenn er mitunter nur als Appendix aufscheint und selten ausgearbeitet wurde, vermag dennoch antitotalitär, ideologiekritisch und enthermetisierend zu wirken: denn der Christ „lehnt alle Zukunftsideale ab, die irgendeine, wenn auch noch so wertvolle menschliche Erfahrung zum absoluten Endpunkt machen möchten.“ 78 Auf diese Weise wird Geschichte moralisch offen gehalten. Positiv gewendet heißt das, dass wir immer wieder neu anfangen können und dürfen, keinen hermetisierenden oder totalisierenden Tendenzen ausgeliefert sind, aber umgekehrt damit leben müssen, dass es nichts real Abgeschlossenes gibt. Biblisch inspirierte Hoffnung bezieht sich schließlich immer auch auf den Kosmos, die Welt als Gottes Schöpfung und die Geschichte des Menschen darin, sodass wir als Grundstruktur festzuhalten haben, dass ein fundierter Hoffnungsbegriff einen Begriff von Welt voraussetzt, innerhalb dessen die im Hoffnungsgut anvisierte Entwicklung des Menschen (und der Welt) allererst verortet wird. Schließlich und endlich sind die vorliegenden Überlegungen auch für das ökumenische Gespräch von nicht unerheblicher Bedeutung, kommen doch Fragen nach Rechtfertigung, (All-) Erlösung und dem Verhältnis menschlicher Möglichkeiten und menschlichen Tuns im Verhältnis zum Tun Gottes auf den Plan. 79 l) Praktische Theologie, Ekklesiologie, Spiritualität und Kultur der Hoffnung Praktische Theologie versucht zu verstehen, wie (christliches) Leben aus Verheißung geht, worin es sich gründet, woraus es schöpft, wie es gefördert werden kann und worauf es zielt. Dafür vermag sie verschiedene Entdeckungszusammenhänge auszuweisen, deren wichtigste neben der im Lichte des Glaubens gedeuteten realen Erfahrung das Gebet und der Selbstvollzug der Kirche als Gemeinschaft der Hoffenden sind. Bereits scholastische Theologie hat christliches Gebet als spes interpretativa verstanden und damit völlig zu Recht und im Sinne der hier vertretenen These als Ausdruck, Interpretament und Einübung von und in christliche Hoffnung. Eine Theologie des Gebets ist daher immer zugleich als eine praktische Theologie der Hoffnung zu entfalten. 80 Eine solche Theologie 77 Spätestens mit der Konstantinischen Wende sind die apokalyptischen Sekten von der geschichtlichen Bühne verschwunden, denn die mit der Wende einhergehende politisch-soziale Anerkennung kam der Erfüllung der sie konstituierenden Erwartungen und Verheißungen gleich und damit einer bedrohlichen Minderung historischer Spannung. Ex negativo kommt die geschichtsstiftende Funktion der Hoffnung in Spr 29,18 zum Ausdruck: „Ohne Vision geht ein Volk zugrunde.“ 78 Vgl. EDMAIER, Horizonte der Hoffnung, 245. 79 Vgl. als protestantische Basisliteratur mit je unterschiedlicher Akzentsetzung MARQUARDT, F.-W., Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften? Eine Eschatologie Bd. I-III, Gütersloh 1993, 1994, 1996. MOLTMANN, J., Das Kommen Gottes. Christliche Eschatologie, Gütersloh 1995. MOLTMANN, J., Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie, Gütersloh 13 1997. HERRMANN, C., Unsterblichkeit der Seele durch Auferstehung. Studien zu den anthropologischen Implikationen der Eschatologie, Göttingen / Zürich 1997. SLENCZKA, R., Ziel und Ende. Einweisung in die christliche Endzeiterwartung: „Der Herr ist nahe“, Neuendettelsau 2008. Ebenso HILDE- BRANDT, B., Was dürfen wir hoffen? Der Mensch und seine Zukunft, in: HERBST, M. (Hrsg.), Der Mensch und sein Tod, Frankfurt am Main 2001, 319-336. 80 Vgl. FUCHS, O., Konkretion: Beten, in: HASLINGER, H. (Hrsg.), Handbuch praktische Theologie. Bd. 2 - Durchführung, Mainz 2000, 218-235, besonders: Klagen: Widerstand und Hoffnung, 229-232. <?page no="148"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 148 des Gebetes 81 müsste sich als eine eschatologisch orientierte Spiritualität des Ausgespanntseins zwischen Gott und Mensch, Himmel und Erde, Gut und Böse, Sein und Sollen, Schöpfung und Erlösung, etc. verstehen, wäre durch und durch biblisch fundiert und würde den status viatoris menschlicher Existenz radikal ernst nehmen, deren Dialektik, Antinomik und simul-Struktur. Wenn daher Gebet tätig werden soll, dann indem es sich als Einübung in (handlungsbedeutsame) Hoffnung begreift. Eine darauf Bezug nehmende und sich mindestens partiell von dort her begreifende Ekklesiologie, die Kirche als „Erinnerungs-, Verstehens- und Interpretationsgemeinschaft“ 82 begreift, hätte sich immer auch als Hoffnungsgemeinschaft und Gemeinschaft der (christlich) Hoffenden zu entfalten - mit Konsequenzen für alle Felder kirchlichen und gläubigen Selbstvollzugs 83 . Darauf reflektierende Praktische Theologie fragt unter der Prämisse der zentralen These der vorliegenden Arbeit, wonach Hoffnung als Antizipation von Sinn 84 zu begreifen ist, nach der Rolle und der Bedeutung des kirchlichen Selbstverständnisses und kirchlicher Vollzüge bis hin zu einer Theologie der Spiritualität und einer Theorie der Seelsorge 85 und Mystagogie für eine theoretisch und praktisch authentische Offenlegung eines letzten (göttlichen) Sinngrundes, der als Hoffnung Wirklichkeit ist. So kann etwa der lange marginalisierte Gerichtsgedanke als unverzichtbar wieder hoffnungstheoretisch angeeignet werden, als moralisch kaum zu überschätzende Hoffnung auf letzte Gerechtigkeit 86 (und Barmherzigkeit) mitsamt ihren Voraussetzungen und Implikationen. Daran ließe sich der heilend-therapeutische Impetus 87 des Gebetes genauso festmachen, wie das eminent wichtige Verhältnis von Erinnerung und Hoffnung 88 , denn keine christliche Erinnerung, die nicht Hoffnung vergegenwärtigt und immer schon Hoffnung voraussetzen würde. Daher hat auch jede Erinnerungskultur, säkularer oder christlicher Provenienz, die entscheidende Frage zu beantworten: Wie wächst aus Erinnerung Hoffnung? Wie wird Anamnese zur Tat? 89 Vermag etwa eine rein säkulare Erinnerungskultur dem Leiden des Menschen gerecht zu werden oder setzt eine memoria passionis, die sich selbst nicht überfordert, immer schon Hoffnungsquellen voraus, dem Leiden irgendwann und irgendwie (moralisch) gerecht werden zu können und nicht 81 Vgl. aktuell BENEDIKT XVI [P.P.], SPE SALVI, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 179 vom 30. November 2007. 82 Vgl. DEMMER, K., Moraltheologische Methodenlehre, Freiburg i. Ue. 1989, 91. 83 Vgl. FUCHS, O., Neue Wege einer eschatologischen Pastoral, in: Theologische Quartalschrift 179 (1999), 260-288. 84 Vgl. HASLINGER, H., Die wissenschaftstheoretische Frage nach der Praxis, in: Ders.: Handbuch praktische Theologie. Bd. 1 - Grundlegung, Mainz 1999, 102-121, besonders: Die Kategorie „Sinn“, 115-119. 85 KARLE, I., Seelsorge im Horizont der Hoffnung. Eduard Thurneysens Seelsorgelehre in systemtheoretischer Perspektive, in: Evangelische Theologie 63 (2003) 3, 165-181. 86 Vgl. gewinnbringend und grundlegend vom Gerichtsgedanken her FUCHS, O., Das jüngste Gericht. Hoffnung auf Gerechtigkeit, Regensburg 2007; ders., Hoffnung über den Tod hinaus. Warum die Rede vom jüngsten Gericht unverzichtbar ist, in: Bibel und Kirche 63 (2008) 4, 200- 203 87 Vgl. LADENHAUF, K.H., Psychotherapie, in: HASLINGER, H. (Hrsg.), Handbuch praktische Theologie. Bd. 1 - Grundlegung, Mainz 1999, 279-291. 88 Vgl. LANGTHALER, R., Gottvermissen - Eine theologische Kritik der reinen Vernunft. Die neue Politische Theologie (J.B. Metz) im Spiegel der kantischen Religionsphilosophie, Regensburg 2000. 89 Vgl. WEISSER, T., Warum sollen wir uns erinnern. Annäherungen an eine anamnetische Ethik, Tübingen 2006. <?page no="149"?> 1. Problemorientierung und Forschungsbericht I 149 moralisch verstört oder desillusioniert zurückzubleiben gegenüber dem „Trümmerhaufen der Geschichte“ (WALTER BENJAMIN)? Dazu scheint mir neben kollektiver und individueller Erinnerungskulturen und jenseits resignativer Tendenzen eine spezifische Hoffnung in den Sinn des Guten unentbehrlich, der sich aber wohl immanentistisch nicht mehr ausweisen lässt, sondern eine metaphysische Basis verlangt. Denn: Wer hofft „sieht“ und „weiß“ mehr. Er durchschaut die Zukunft prophetisch auf ihre positiven Möglichkeiten hin und wird dabei fundamental motiviert für die zu bewältigende und zu gestaltende Gegenwart - gerade in ihren Chancen und Problemen zur Realisierung des Humanum. Was dann philosophisch das Verlangen nach Glück bzw. nach dem höchsten Gut ist, der eudaimonia, was psychologisch das Verlangen nach Sinn und Orientierung ist und theologisch die Hinordnung des Menschen auf Glückseligkeit und Erlösung in liebender Vereinigung mit Gott, die beatitudo, das ist unter anderen Vorzeichen (theologisch-) ethisch die Bestimmung des Menschen zum sittlich Guten. Moralischer Erkenntnisgewinn ist dabei als Hoffnungsgewinn zu verstehen. Präzisere Erkenntnis des moralisch Guten und Richtigen ermöglicht präzisere Hoffnung auf das darin mindestens partiell zum Vorschein kommende höchste Gut. Umgekehrt gilt mindestens dasselbe: Hoffnung ist eine (spezifisch schwache) Erkenntnisform - freilich ohne eine (rationalistische) Form des Wissens zu sein. Aber wie heute von Hoffnung reden, wenn sie sich zusehends zwischen einem (schwächer werdenden) Fortschrittsidealismus auf der einen Seite und einem (stärker werdenden) Kulturpessimismus auf der anderen Seite zu verflüchtigen droht, aber zugleich für die individuelle Lebensführung - so die These - unentbehrlich ist? Wie kann menschliches Handeln sowohl am Zielwert des Humanen orientiert und daraufhin energetisiert werden, als auch individuelles Leben als ein potentiell glückendes imaginiert und von dort her geführt werden? Haben diese Fragen Berechtigung, so gilt es zu klären, was es für den Einzelnen praktisch heißt, zu hoffen, auf welche Weise diese Hoffnung Handlungsrelevanz besitzt und welche Bedeutung, welche Möglichkeiten und welche Dignität sie für die individuelle Lebensführung besitzt, sodass das ermöglicht wird, was ERNST BLOCH „tätige Hoffnung“ 90 genannt hat. m) Hoffnungsspannungen und die Dialektik und Antinomik der Existenz. Die Analogie von Theologie und Anthropologie Eine Reflexion auf die mit dem Projekt einer Ethik der Hoffnung einhergehenden systematischen Fragen, die nicht allein dogmatischer Provenienz sind, dient dazu, die volle Dimensionalität der Hoffnung als einem basalen Spannungsgeschehen in den Blick zu bekommen - auch durch methodische Integration verwandter Phänomene oder Identifikation von Desideraten bzw. Surrogaten humaner Hoffnung. Die hier anvisierte handlungspraktische und integrative Hoffnungstheorie kann dabei trotz ihrer dialektischen Struktur nicht als Wiederbelebung der protestantischen „Dialektischen Theologie“ 91 begriffen werden, da diese von ontologischen Voraussetzungen ausgeht, die im vorliegenden Fall weder verhandelt noch geteilt werden. So hat ein systematischer Abgleich der eigenen Erkenntnisse und Thesen bzgl. einer strukturanthropologischen theologischen 90 Vgl. BLOCH, E. Das Prinzip Hoffnung Bd. 1, Frankfurt am Main 1985, 83. Aktuell wieder aufgegriffen von RIFKIN, J., Der europäische Traum, Frankfurt am Main 2004. 91 Vgl. FIORENZA, F.P., Dialectical theology and Hope I, in: Heythrop Journal 9 (1968), 143-163. Dies., Dialectical theology and Hope II, in: Heythrop Journal 9 (1968), 384-399. Dies., Dialectical theology and Hope III, in: Heythrop Journal 10 (1969), 26-42. <?page no="150"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 150 Ethik der Hoffnung mit den wichtigsten Vertretern solcher Theologien und Philosophien der Hoffnung zu erfolgen, etwa mit E. BLOCH 92 von philosophischer, J. MOLT- MANN 93 von protestantischer, K. RAHNER und J.B. METZ 94 von katholischer Seite. Der grundlegenden Dialektik der beiden Hoffnungs-Formen der Extrapolation und der Antizipation entsprechen vielfältige theoretische Abgrenzungen. Immer geht es darum, die eigentliche, „wahre“ Hoffnung zu „reinigen“ bzw. freizulegen und klar zu trennen von ihren Surrogaten und Derivaten, an denen sie wohl Anteil haben mag, die aber nicht eigentlich die Höhe humaner Hoffnung erreichen, deren basale Struktur unter integrativer Perspektive freizulegen notwendiges Anliegen einer Ethik der Hoffnung ist. Es kann bleibend unterschieden werden zwischen einer zielorientierten, objektivierbaren Erwartung und der eigentlichen Hoffnung 95 , zwischen einer rationalen, technologischen Planung und echter Hoffnung 96 , zwischen einer „vernünftigen“ Prognose und prophetischer Hoffnung, etc. Immer wird eine rationale Zielerreichung (Extrapolation) differenziert von einer hoffenden Sinnerreichung (u.a. Antizipation) - eine Aufgabe, die wohl zum Grundbestand theologischer Selbstreflexion zu zählen hat, da sie das eigentliche Proprium christlicher Hoffnung freizulegen vermag. Die entscheidenden Fragen des Verhältnisses von Hoffnung und Eschatologie scheinen mir nicht mehr vorrangig die zwischen präsentischer 97 und futurischer 98 Eschatologie, oder zwischen geschichtlicher 99 und absoluter 100 Zukunft zu sein, denn als deren sachliche Kristallisationspunkte können die bereits erwähnten Pole des Hoffnungsvollzugs gelten, die nur zusammen die entscheidende Hoffnungsspannung aufrechtzuerhalten vermögen, sodass von einer bleibenden Spannungseinheit beider Pole auszugehen ist, die nicht einseitig aufzulösen ist, ent- 92 Vgl. BLOCH, E., Das Prinzip Hoffnung 3 Bde., Frankfurt am Main 1985, aber auch MARCEL, G., Homo Viator. Philosophie der Hoffnung, Düsseldorf 1949. 93 Vgl. MOLTMANN, J., Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie, Gütersloh 13 1997. 94 Vgl. RAHNER, K., Zur Theologie der Hoffnung, in: Ders., Schriften zur Theologie Bd. VIII, Einsiedeln 1967, 561-579 und METZ, J.B., Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, Mainz 5 1992. 95 Vgl. dazu die Arbeiten von GERHARD SAUTER, die immer wieder um diese Unterscheidung kreisen, etwa SAUTER, G., Erwartung und Erfahrung. Predigten, Vorträge und Aufsätze, München 1972. Ders., Zukunft und Verheißung. Das Problem der Zukunft in der gegenwärtigen theologischen und philosophischen Diskussion, Zürich / Stuttgart 1965. 96 Vgl. dazu Studien von JOHANN BAPTIST METZ und GEORG PICHT, etwa METZ, J.B., Zur Theologie der Welt, Mainz 1968. Ders., Gott und Zeit. Theologie und Metaphysik an den Grenzen der Moderne, in: Stimmen der Zeit 3 / 2000, 147-159. Ders., Unsere Hoffnung. Die Kraft des Evangeliums zur Gestaltung der Zukunft, in: Concilium 11 (1975), 710-720. PICHT, G., Prognose, Utopie, Planung. Die Situation des Menschen in der Zukunft der technischen Welt, Stuttgart 1967. 97 Etwa vertreten von BULTMANN, R., Geschichte und Eschatologie, Tübingen 3 1979. 98 Etwa vertreten von RAHNER, Zur Theologie der Hoffnung, 561-579. 99 Vgl. MOLTMANN, J., Christliche Hoffnung: Messianisch oder transzendent? Ein theologisches Gespräch mit Joachim von Fiore und Thomas von Aquin, in: Münchner Theologische Zeitschrift, 33 (1982) 4, 241-260, wobei die Polarisierungen einer eingehenden Textanalyse nicht unbedingt standzuhalten vermögen. Auch ders., Der Gott der Hoffnung, in: Ders. / RIVUZU- MWAMI, C. / SCHLAG, T. (Hrsg.), Hoffnung auf Gott - Zukunft des Lebens. 40 Jahre „Theologie der Hoffnung“, Gütersloh 2005, 11-16. 100 Vgl. auch RAHNER, K., Marxistische Utopie und christliche Zukunft des Menschen, in: GARAUDY, R. / METZ, J.B. / RAHNER, K., Der Dialog. Oder: Ändert sich das Verhältnis zwischen Katholizismus und Marxismus, Reinbek 1966, 9-25. <?page no="151"?> 1. Problemorientierung und Forschungsbericht I 151 sprechend dem christlichen simul von Schon und Noch-Nicht - mit erheblichen Konsequenzen für eine zeitgemäße Parusievorstellung und für einen handlungspraktisch von der Hoffnungsstruktur selber her eröffneten Zeitbegriff. Daran schließt sich eine für christliches Selbstverständnis äußerst wichtige Verhältnisbestimmung an, die nämlich zwischen absoluter (christlicher) Hoffnung und den relativen bzw. subjektiven Hoffnungen des Menschen, zwischen christlichem Hoffnungsgrund und den vielen säkularen und immanenten Derivaten und Surrogaten. Unter anderen Vorzeichen kann von einer Vermittlung von absoluter Hoffnung und der erfahrbaren Weltrealität gesprochen werden, um verständlich zu machen, warum „[...] der subjektive Akt des Hoffens eines objektiven Korrelates bedarf.“ 101 Dieses Verhältnis hat mindestens dreifach bestimmt zu werden: (1) theoretisch, (2) historisch und (3) praktisch, wobei die Einheit der Wirklichkeit nicht vergessen werden darf, sodass die Perspektiven füreinander erschlossen werden müssen. Auf diese Weise wird die praxisverändernde Wirkkraft eschatologischer Realität verständlich, und entsprechende theologische Entwürfe können auf ihre sittlichen Strukturen hin transparent gemacht werden. Unter einer erweiterten Perspektive, die den Verantwortungsbegriff mit einbezieht und die Verantwortbarkeit spezifisch handlungswirksamer Hoffnungen auszuweisen sucht, kann und muss hoffnungstheoretisch eine defensive von einer offensiven Ethik unterschieden werden. Ist die eine an der Vermeidung von Gefahren und der Erhaltung des (gegenwärtig) Bewahrenswerten interessiert, so hat die andere die Verantwortung für die zukünftigen Möglichkeiten einer wirklichen Veränderung vor Augen, die als Entwurf zur fortschreitenden Humanisierung die moralischen Bedingungen der Gegenwart immer wieder weit transzendiert. HANS JONAS etwa kann als Vertreter einer defensiven Ethik gelten, wenn er zunächst völlig entlang der hier vertretenen These, wonach Hoffnung eine der zentralen Handlungsbedingungen darstellt, schreibt: „Hoffnung ist eine Bedingung jeden Handelns, da es voraussetzt, etwas ausrichten zu können, und darauf setzt, es in diesem Falle zu tun. Für den erprobten Könner (auch den Glücksverwöhnten) kann dies mehr als Hoffnung, es kann selbstvertrauende Sicherheit sein; aber dass schon das unmittelbare Gelungene und erst recht sein Weiterwirken im unabsehbaren Fluss der Dinge wirklich das dann noch Erwünschte sein wird, das kann bei allem, was das Handeln sich selbst zutraut, immer nur eine Hoffnung sein.“ 102 Aus dieser Einsicht vermag er dann aber nachfolgend eher eine defensive Konsequenz zu ziehen, wiewohl Hoffnung als Handlungskategorie durchaus in der Lage wäre, eine Balance, eine Spannung von bewahrenden und verändernden, von defensiven und offensiven Verantwortungsentwürfen zu begründen: „Immer muss der Wissende darauf gefasst sein, später einmal wünschen zu müssen, er hätte nicht oder anders gehandelt. Nicht auf diese Unsicherheiten bezieht sich die Furcht, oder doch nur als Begleiterscheinung, und sich von ihr nicht abhalten zu lassen, vielmehr noch für das Unbekannte im Voraus mitzuhaften, ist bei der letztlichen Ungewissheit der Hoffnung gerade eine Bedingung handelnder Verantwortung: eben das, was man den ‚Mut zur Verantwortung‘ nennt.“ Kann in einem weiteren Gedanken christliche Hoffnung, die den „Gott der Hoffnung“ und den hoffenden Menschen, den homo sperans, aufeinander bezieht, an ihr Ziel kommen, wenn sich auch nur eine menschliche Freiheit ihrem Werben auf Dauer ver- 101 Vgl. SCHAEFFLER, R., Was dürfen wir hoffen? Die katholische Theologie der Hoffnung zwischen Blochs utopischem Denken und der reformatorischen Rechtfertigungslehre, Darmstadt 1979, 130. 102 Vgl. JONAS, H., Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt am Main 1979, 391ff. <?page no="152"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 152 wehrt? Worauf zielt christliche Hoffnung letztlich - individuell wie kollektiv - insbesondere unter moralischer Perspektive? Und wie wird die Spannung und der Übergang verständlich, wonach der christlich Hoffende irgendwann nicht mehr nur für sich alleine hofft, sondern den anderen in die je eigene Hoffnung hinein nehmen will (vgl. G.W. HUNOLD) und sich in den Dienst der Erfüllung solidarischer Hoffnung stellt. Diese Fragen sind auch und wesentlich hoffnungstheoretisch zu entfalten. Hier wird insbesondere die Frage nach dem Verhältnis von Hoffnung und Apokatastasis 103 zu beantworten sein, mithin die Frage, ob Hoffnung erst dann zu dem ihr inhärenten Ziel gekommen ist, wenn eine Allversöhnung erreicht ist. In diesem Umfeld stellt sich auch das Verhältnis von Hoffnung und Endlichkeit, da der Tod jede immanente Hoffnung potentiell infrage stellt. Das unterscheidend Christliche wird dabei gerne in der Trennung von innerweltlicher Verwirklichung von Utopien aus Menschenhand auf der einen Seite und gnadenhaftem Erschlossensein einer Zukunft durch Gott selbst auf der anderen Seite benannt, eine paradoxe Spannung, der sich ein Christ auszusetzen und in der er sich zu verorten hat, wobei insbesondere der hoffnungsbasierten Transformation 104 christlicher Zukunft in die Welt hinein die moraltheologische Aufmerksamkeit gehört. Es ist zudem nach dem Verhältnis von Erinnerung (Vergangenheit), Erfahrung (Gegenwart) und Hoffnung (Zukunft) im Rahmen der anvisierten Hoffnungsstruktur zu fragen. Schließlich: „Keine Erinnerung, nicht die kleinste, kommt ohne eine an ihr weiterlaufende Erwartung [besser: Hoffnung? ] in Gang, kommt ohne sie aus. Die Erinnerung käme ohne diese Art Betroffenheit gar nicht zustande.“ 105 Beide, Erinnerung und Hoffnung, beziehen sich in diesem Fall auf ein „Unterlassen“ und müssen füreinander erschlossen werden, um die jeweilige Funktion zur Erschließung tätiger und humanisierender Weltverantwortung plausibel machen zu können. Hier ließe sich auch die Geschichtsmächtigkeit christlicher Hoffnung und eine sich von dort konstituierende memoria passionis 106 plausibilisieren. Christlich-integrale Hoffnung muss weiter abgegrenzt werden von jedem rein vergangenheitsorientierten Mythos 107 und von jeder nicht realitätsfähigen Illusion, letzteres gerade im Unterschied zur Utopie, die noch keine Realität hat, keinen realen Kontext in der Zeit, keinen konkreten Ort im Kontext der Zeit und der Wirklichkeit, aber einen solchen Realisierungsort sinnvollerweise haben kann und haben soll, weil sie teilhat am Guten. Darüber hinaus muss Hoffnung abgegrenzt werden von jeder letztlich immer destruktiven Ideologie, die allerdings nicht zu verwechseln ist mit der Weltanschauung. 103 Vgl. STRIET, M., Streitfall Apokatastasis. Dogmatische Anmerkungen mit einem ökumenischen Seitenblick, in: ThQ 184, 3 (2004), 185-201. 104 Auch die These DIETRICH BONHOEFFERS vom „religionslosen Zeitalter“ und sein Bemühen um eine „nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe“, genauso wie die Überlegungen von JÜRGEN HABERMAS zur „Übersetzung“ religiöser Wertgehalte in säkulare Gesellschaften können hier verhandelt werden, wenn etwa für säkulare Kontexte implizite, aber mitunter geltungstheoretisch „ungedeckte“ Hoffnungsstrukturen freigelegt werden können. 105 Vgl. BLOCH, E., Tübinger Einleitung in die Philosophie (Gesamtausgabe Bd. 13), Frankfurt am Main 1970, 280ff. 106 Vgl. METZ, J.B., Memoria passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg / Basel / Wien 2006. 107 Vgl. LENK, K., Das Elend des Anti-Utopismus, in: Frankfurter Hefte 4 / 2005, 33-38. Ders., „Volk und Staat“ - Strukturwandel politischer Ideologien im 19. und 20 Jahrhundert, Stuttgart 1971. Ders., K. LENK, Ideologie, Ideologiekritik und Wissenssoziologie, Darmstadt 8 1978. Ders., Theorien der Revolution, München 1973. <?page no="153"?> 1. Problemorientierung und Forschungsbericht I 153 Mythos, Illusion und destruktive Ideologie sind das Konterfei der Anti-Hoffnung, was historisch-systematisch zu zeigen wäre etwa an gesellschaftlich-kulturellen Selbstverständnissen der Zeitgeschichte und deren realer (moralischer) Ausgestaltung. 108 Ist das Ostergeheimnis der sachtheologische Grund aller Hoffnung und zudem die Auferstehung untrennbar mit Tod und Sterben Jesu Christi verbunden, so muss nach der Bedeutung und der systematischen Verbindung von Kreuz und Hoffnung gefragt werden. Der Verdacht liegt nahe, dass daraus viel zu lernen wäre über das Verhältnis von Hoffnung und Welt, von Immanenz und Transzendenz - sowohl mit Blick auf die potentielle Tragik und Abgründigkeit menschlicher Existenz als auch mit Blick auf eine Theologie des Bösen. Denn: Soll Hoffnung als Handlungskategorie verstanden werden, wird auch eine Motivation zum Bösen, näherhin die latente Gefahr Freiheit und der Hoffnung, sich verführen zu lassen, für Persuasion anfällig zu sein, sich in ihr Gegenteil verkehren zu lassen, im Hoffnungsbegriff respektive seiner Anthropologie verankert werden müssen. Schließlich und endlich ist damit das von der zu erarbeitenden handlungsbedeutsamen Hoffnungsstruktur reformulierte Verhältnis der drei theologischen Tugenden, dem Glauben, der Hoffnung und der Liebe zu plausibilisieren. Neben der Einheit der Tugenden 109 wird dabei zudem die differenzierte Funktion insbesondere der Hoffnung als Heilsnotwendigkeit zu entfalten sein. n) Hoffnung und Erlösung - Hoffnung und Bestimmung Es kann von einer Gegenwart der Erlösung in der Hoffnung gesprochen werden, die christozentrisch und theozentrisch und damit personal gedacht wird. Christliche Hoffnung ist nachgerade das Medium, in dem sich Erlösung zeigt, gibt und ereignet. Dabei ist Erlösung Vollendung der Menschwerdung des Menschen und der Mensch dabei ein Wesen der Bestimmung, das sich zwar autonom zu vollziehen vermag, aber nicht autozentrisch. Mit anderen Worten: Erlösung wird wirklich im Modus der Hoffnung und wird solidarisch im Hineinnehmen des je anderen in eine eigene, je größere Hoffnung mitsamt den daraus abgeleiteten Konsequenzen für solidarisches Handeln (vgl. M. STRIET). Auch hier gilt es, das altkirchliche Axiom gratia praesupponit naturam 110 in Anschlag zu bringen und zugleich hoffnungs- und erlösungstheologisch zu entfalten. Wirkungsgeschichtlich wurde mitunter die inkommensurable Hoffnungsspannung christlicher Erlösungsvorstellungen (alter Mensch und neuer Mensch, Reich Gottes und irdische Welt, Sünder und Gerechter, etc.) einseitig aufgelöst und die Erlösung faktisch gegenwärtig gesetzt, was unter der Bedingung des eschatologischen Vorbehalts durchaus legitim ist, aber einzig unter diesem Vorbehalt, der gerade die entscheidende Spannung der Hoffnungspole verkörpert und zusammenhält. Die entsprechende Wirklichkeit hat zwar bereits mit dem Christusgeschehen begonnen, ist aber noch in der vollständigen Erfüllung ausständig, weswegen es Erlösung nur im Modus der Hoffnung gibt (vgl. J. RATZINGER) - und damit auf der Basis von basalen theologischen und anthropologischen Spannungen. 108 Zu denken wäre etwa an die Zeit des Nationalsozialismus, des Faschismus und anderer totalitärer Regime. 109 Vgl. BALTHASAR, H.U. VON, Die Einheit der theologischen Tugenden, in: Internationale katholische Zeitschrift Communio 13 (1984), 306-314. 110 Vgl. RATZINGER, J. [P.P. BENEDIKT XVI.], Gratia praesupponit naturam. Erwägungen über Sinn und Grenze eines scholastischen Axioms, in: Ders. / FRIES, H., (Hrsg.), Einsicht und Glaube, Freiburg im Breisgau 1962, 135-149. <?page no="154"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 154 Diese Vereinseitigung hatte immense Auswirkungen auf das damit einhergehende Menschenbild und die daraus abgeleitete Handlungspraxis. Statt den Menschen in eine dialektische, alle Verhältnisse (Gottesverhältnis, Welt- und Selbstverhältnis) durchdringende Hoffnungsspannung zu stellen, hat man ein Verhalten erwartet (und normiert) dergestalt, als ob christliche Erlösung quasi nur „anzutreten“ wäre. Statt sie existentiell zu erhoffen, sehnsüchtig zu erwarten und zu harren auf die Parusie und genau daraus ein Handeln abzuleiten, wurde es aus der faktisch gegenwärtig gesetzten Erlösung abgeleitet. Das hatte legalistische, moralistische und schließlich kasuistische Folgen: Es wurde der Versuch einer objektiven Konkretion erlösten Lebens unternommen. Dagegen ermöglicht gerade die Hoffnungsspannung grundchristliche Vollzüge: Klage, Bitte, Gebet, Solidarität, ideologiekritische Enttotalisierung und permanente Humanisierung durch sukzessive verwandelnde Annäherung an die Erlösung. 111 Auf diese Weise können allererst die ethischen Konsequenzen der Eschatologie in den Blick kommen. Diese bieten nämlich zuvörderst Antwort auf Angst, auf Tod und drohende Sinnlosigkeit durch das Nichts. Nicht umsonst bewährt sich der sachlogische Grund aller Hoffnung, die Auferstehung, gegen den Tod über den Tod hinaus, wohingegen ansonsten eine Nivellierung aller rein immanenten Hoffnungsentwürfe quasi rückwärts droht. So aber ist verbürgte und spezifisch begründete Hoffnung denkbar, die nicht innerhalb der Grenzen der vorfindlichen Welt domestiziert wird. Schließlich gehört es zum Paradox christlicher Hoffnung, „ihre empirische Armseligkeit und ihre Unbesiegbarkeit“ 112 zugleich zu konstatieren. Wiewohl sie letztlich nicht von dieser Welt ist, so ist sie doch in dieser Welt, die ihr einen realen Anhalt ermöglicht. Die soteriologisch akzentuierte Spannung von irdischer Hoffnung und übernatürlicher Hoffnung bietet nun eine Reihe von pars pro toto genannten Entdeckungs- und Begründungszusammenhängen, die es zu entfalten gilt: die Inkarnation der göttlichen Zukunft in vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Kreuzeserfahrungen; das Verhältnis von stellvertretendem Leiden und stellvertretender Hoffnung; das Verständnis moralischer Solidarität unter allen Menschen, die niemanden aus der Hoffnung entlassen mögen; die Hoffnung auf Gerechtigkeit auch für die bereits Verstorbenen; die Frage nach der hoffnungsbasierten Möglichkeit auf Annahme immer auch tragischer und schuldiger Existenz - entlang dem altkirchlichen Axiom des ATHANASIUS: „Nur was angenommen ist, kann erlöst werden.“ Die Frage nach der Erlösung kann und muss schließlich 111 Auch Gesellschaftsformen und deren Mentalitäten wurden durch solche Vereinseitigungen geprägt, was die autonome Eigendynamik der einzelnen gesellschaftlichen Subsysteme nicht zurEntfaltung kommen ließ - mitunter erst nach Widerstand, Traditionsabbruch und Säkularisierung. Dabei zeigt gerade diese moderne „Weltlichkeit der Welt“ (R. SCHAEFFLER) und ihrer autonomen Subsysteme ihre prinzipielle „Offenheit“ und Angewiesenheit auf transzendentale Hoffnungsfiguren. Auch an kulturellen Selbstverständnissen und gesellschaftlichen Strukturen (vgl. Absolutismus und Theokratie) lassen sich daher Vereinseitigungen der Hoffnungsspannung ablesen. Im Laufe der Geschichte wurden daher zentrale Hoffnungsfiguren (moralisch) gereinigt und säkularisiert: Demokratie (J. HABERMAS), Menschenrechte, Würde, Gerechtigkeit, Gleichheit, etc. Menschheitliche Hoffnung wird auf diese Weise gereinigt von (vermeintlich) metaphysischem Ballast und realiter erkennbaren Illusionen und differenziert mit Blick auf die damit einhergehenden pragmatischen Verfahrensregeln - immer wieder je neu. 112 Vgl. RATZINGER, J. [P.P. BENEDIKT XVI], Auf Christus schauen. Einübung in Glaube, Hoffnung, Liebe, Freiburg im Breisgau 2006, 72. <?page no="155"?> 1. Problemorientierung und Forschungsbericht I 155 auch als Frage nach (letztgültigem) Sinn gelesen werden. 113 Und so ist die Sinnkategorie (1) nicht nur als begriffliche Brücke in die Humanwissenschaften hinein von großer Bedeutung im Sinne einer Konkretion des Hoffnungsgutes, um anschlussfähig zu sein, sie ist (2) zentraler Bestandteil innerhalb (moral-) theologischer Tradition 114 selbst, so dass auch das Selbstverständnis der Disziplin von dort her eine Korrektur zu erfahren hat. o) Hoffnung und Heilung - Therapeutische Hoffnung Das Christentum ist eine zutiefst therapeutische Religion, wie nicht allein EUGEN BI- SER 115 oder (stark psychologisierend) EUGEN DREWERMANN wieder in Erinnerung gerufen haben. Der Versuch, entsprechende Potentiale freizulegen und anthropologisch zu fundieren, stößt allerdings auf nicht unerhebliche theoretische Schwierigkeiten. Dennoch: Selbst der für solche Fragen eher unverdächtige KLAUS DEMMER kann konstatieren. „Der therapeutische Impetus moraltheologischer Reflexion ist unverwechselbar.“ 116 Dieser therapeutische Impetus, so kann thesenhaft den Belegen und der systematischen Entfaltung vorgegriffen werden, hängt zentral an der Hoffnungsstruktur des Glaubens - und umgekehrt: Über die Aufrichtung und Entfaltung von Hoffnungen oder auch nur Hoffnungsaspekten wird der Glaube therapeutisch und heilsam. Diese direkte Verbindung zwischen Hoffnung und Heilung ist für das Christentum wieder anzueignen, da sie große Potentiale bereit hält - auch und gerade für eine konsiliare Ethik 117 Die Orientierung der (Theologischen) Ethik insgesamt, ausgehend von ihren historischen Anfängen, die stark mit der Suche nach dem Menschen angemessenen Lebensformen und Fragen der Lebensführung beschäftigt waren, auf Lebenshilfe für den in seiner Handlungsfähigkeit gehemmten 118 oder versehrten Menschen und auf Befreiung bzw. 113 Vgl. grundlegend RAHNER, K., Die Sinnfrage als Gottesfrage, in: Ders., Schriften zur Theologie, Einsiedeln 1983, 195-205. Dazu kritisch KÖRTNER, U.H., Megatrend Gottvergessenheit. Die These von der Wiederkehr der Religion hat wenig Anhalt an der Wirklichkeit, in: Zeitzeichen 5 / 2006, 12-14, „Wohl mag es sein, dass der Mensch nicht umhin kann, nach Sinn zu fragen. Doch diese Frage ist nicht einfach identisch mit der Gottesfrage. Und nicht alle Antworten auf die Sinnfrage kann man als religiös bezeichnen. Religion ist vielmehr eine Möglichkeit neben anderen, Sinnfragen und Erfahrungen von Sinnwidrigkeiten zu bearbeiten - aber nicht die einzige. [...] Davon abgesehen darf die vom Glauben behauptete ‚Unvermeidbarkeit Gottes‘ nicht mit der Unvermeidbarkeit der Frage nach Gott verwechselt werden.“ Die jeweilige Bedeutung der Sinnfrage innerhalb der theologischen Disziplinen freizulegen, stellt nach wie vor eines der großen Desiderate theologischer Forschung dar. 114 Vgl. in ARNTZ, K., „Salz der Erde - Licht der Welt“. Zum Profil theologischer Ethik in pluraler Gesellschaft, in: ARNTZ, K. / HAFNER, J.E. / HAUSMANNINGER, T. (Hrsg.), Mittendrin statt nur dabei. Christentum in pluraler Gesellschaft, Regensburg 2003, 47-69. Weitere Versuche bei K. DEMMER, G.W. HUNOLD und D. MIETH. 115 Vgl. BISER, E., Theologie als Therapie. Zur Wiedergewinnung einer verlorenen Dimension, Heidelberg 1985. Man denke auch an die neutestamentlichen Bezeichnungen Jesu als Arzt. 116 Vgl. DEMMER, K., Moraltheologische Methodenlehre, Freiburg (Schweiz) / Freiburg im Breisgau 1989, 12. 117 Vgl. KRÄMER, H., Soll und kann die Ethik beraten? , in: SCHNEIDER, J.H.J. (Hrsg.), Ethik - Orientierungswissen? , Würzburg 2000, 31-44. 118 Vgl. KRÄMER, H., Philosophische Anthropologie, Hemmungskategorie, Moralerklärung, in: ENDREß, M. / ROUGHLEY, N. (Hrsg.), Anthropologie und Moral. Philosophische und soziologische Perspektiven, Würzburg 2000, 151-165. <?page no="156"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 156 Freisetzung aus heteronomen Verstrickungen 119 , ist unübersehbar und kann zum Selbstverständnis des Faches 120 gezählt werden. Moraltheologisch entspricht dies den Strukturen einer Könnensethik, einer Dennoch- oder Trotzdem-Ethik, einer Bewältigungs-Ethik, einer Ressourcen-Ethik, einer schöpferischen und zugleich operativen Ethik, auch einer donativen Ethik und einer, der es auch um die basale Ermöglichung dessen geht, was moralisch gesollt ist und zugleich dem Glücken des Menschen entspricht. Umgekehrt müssten sich dann aber auch Spuren und Aspekte des christlichen Kerygmas in allen realen therapeutischen Wirkungen finden lassen. Denn alle Heilung partizipiert an einem pneumatologisch zu deutenden Heil, wenn die Welt als Schöpfung und die Inkarnation des Geistes ernst genommen werden. So eröffnet und vermittelt Hoffnung moralische Orientierung und moralische Befreiung, indem Horizonterfahrungen 121 , also Grenzerfahrungen und Erfahrungen des Übergangs von Unfreiheit zu Freiheit, von Hemmung zu Orientierung, von Sinnlosigkeit und Tristesse zu Sinnaussicht und Zuversicht, von Angst zu Vertrauen, von Handlungsstarre zu Motivation als Funktion von Hoffnungsentwürfen begriffen und entfaltet werden. p) Ausblick Noch in den 60er Jahren des 20. Jh. ließ sich eine regelrechte Renaissance intellektueller Anstrengungen zur Relevanz christlicher Hoffnung beobachten: von katholischer Seite getragen durch den Aufbruch des Konzils, das vielfach von der gegenwärtigen Bedeutung der Hoffnung sprach 122 und selber Hoffnung zu machen vermochte, von evangelischer Seite inspiriert durch die Entdeckung der eschatologischen Dimension der gesamten christlichen Botschaft im 19. Jh. u.a. durch JOHANNES WEIß und ALBERT SCHWEITZER, gesellschaftlich noch den Nachkriegsaufschwung im Rücken, wurde an einer Philosophie und Theologie der Hoffnung gearbeitet. Wo erstere über Hoffnung als einem Grundexistential des Menschen nachdachte, wollte letztere dem „Gott der Hoffnung“ (Röm 15,13) näher kommen und die Erlösung „auf Hoffnung hin“ (Röm 8,24) theoretisch entfalten und dabei Anschluss an die Berechtigung auch und gerade säkularer 119 Vgl. STEGMAIER, W., Ethik als Hemmung und Befreiung, in: ENDREß, M. (Hrsg.), Zur Grundlegung einer integrativen Ethik, Frankfurt am Main 1995, 19-39. 120 Vgl. MAßHOF-FISCHER, M., Ethik als konsiliare Praxis der Lebenshilfe zur persönlichen Identitätsfindung. Pastorale Lebensberatung als integraler Teil ethischen Selbstverständnisses, in: LAUBACH, T. (Hrsg.), Ethik und Identität. (FS für G.W. HUNOLD zum 60. Geburtstag), Tübingen / Basel 1998, 53-67. MAURER, A., Das humanwissenschaftliche Gespräch zum Verständnis sittlicher Kompetenz. Themen - Tendenzen - Einsichten, in: EID, V. / ELSÄSSER, A. / HUNOLD, G.W. (Hrsg.), Moralische Kompetenz. Chancen der Moralpädagogik in einer pluralen Lebenswelt, Mainz 1995, 11-36. 121 Vgl. STEGMAIER, W. (Hrsg.), Orientierung. Philosophische Perspektiven (stw 1767), Frankfurt am Main 2005. 122 Die Konzils-Konstitution Gaudium et Spes (GS) beginnt beispielsweise mit den Worten: „Freude und Hoffnung, Bedrängnis und Trauer der Menschen von heute, besonders der Armen und Notleidenden aller Art, sind zugleich Freude und Hoffnung, Trauer und Bedrängnis der Jünger Christi.“ Daneben charakterisiert sie die Situation des Menschen in der heutigen Zeit als ausgespannt zwischen Hoffnung und Angst: „So sind sie, zwischen Hoffnung und Angst hin und her getrieben, durch die Frage nach dem heutigen Lauf der Dinge zutiefst beunruhigt.“ Vgl. RAH- NER, K. / VORGRIMLER, H. (Hrsg.), Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanums, Freiburg im Breisgau / Basel / Wien 19 1986, 449 und 452. <?page no="157"?> 1. Problemorientierung und Forschungsbericht I 157 Utopien gewinnen. 123 Zweifelsohne, die Kategorie der Hoffnung hatte einst Konjunktur 124 - insbesondere auch in Auseinandersetzung mit marxistischen Strömungen, die als Herausforderung für dezidiert theologische Entwürfe verstanden wurden 125 . In der Regel wird sie zwar für notwendig erachtet für menschlichen Selbstvollzug, aber zugleich häufig nur in appellativem Charakter gewürdigt, so als ob eine längst vergangene buchstäblich hoffnungsvollere Zeit revitalisiert werden sollte, indem paränetisch an sie erinnert wird. Mentalitätsgeschichtlich betrachtet wird die Kategorie der Hoffnung kollektiv wie individuell zusehends unter Ideologieverdacht gestellt, nachdem gerade nicht allein das 20. Jh. in seinen politischen Utopien 126 und Hoffnungen 127 katastrophale Folgen zeitigte und man heute glaubt, gesellschaftliche Pathologien und Problembestände auf der Basis einer reinen Kommunikations- und Verfahrenspragmatik lösen zu können, wie sie exemplarisch JÜRGEN HABERMAS 128 vorgeschlagen hat - sicher auch als Reaktion auf (national) sozialistische, faschistische, marxistische und andere totalitäre gesellschaftliche Utopien einer besseren Gesellschaft. Wiewohl sie häufig im Munde geführt wird, häufig an sie appelliert wird, wird derjenige, der noch glaubt, Hoffnung hegen zu können für sich und die Welt, Hoffnung zu haben und aus Hoffnung zu leben, sich alsbald dem Verdacht ausgesetzt sehen, über den wirklichen Zustand dieser Welt nicht ausreichend aufgeklärt zu sein. Der nämlich, würde man um ihn wissen und ihn ernst nehmen, verbiete es aus vermeintlichem Respekt vor den Opfern und den Leiden der Geschichte, noch ernsthaft von Hoffnung zu reden. Hier wird Hoffnung in Verkennung ihrer eigentlichen moralischen Struktur fälschlicherweise als Defizitform des Wissens aufgefasst, wiewohl sie recht eigentlich ein Verhältnis zweiter Ordnung zu allem potentiellen Wissen der Zukunft gegenüber darstellt und damit dieses nochmals umfängt. 123 Vgl. zur katholischen Rezeption SCHAEFFLER, R., Was dürfen wir hoffen? Die katholische Theologie der Hoffnung zwischen Blochs utopischem Denken und der reformatorischen Rechtfertigungslehre, Darmstadt 1979. 124 Schließlich hat jede Theologie ihre Zeit, auch die Theologien der Hoffnung, die nach dem zweiten Weltkrieg noch an die Zeit des ersten anknüpften (E. BLOCH, P.T. CHARDIN). Demnach kann eine Ethik der Hoffnung nachwievor als diesbezügliches Desiderat gelten. 125 Vgl. GARAUDY, R. / METZ, J.B. / RAHNER, K., Der Dialog. Oder: Ändert sich das Verhältnis zwischen Katholizismus und Marxismus, Reinbek 1966 und PEUKERT, H., Wissenschaftstheorie - Handlungstheorie fundamentale Theologie. Analysen zu Ansatz und Status theologischer Theoriebildung, Frankfurt am Main, 1978, aber auch NITSCHE, B. (Hrsg.), Atem des sprechenden Gottes. Einführung in die Lehre vom Heiligen Geist, Regensburg, 2003. 126 Vgl. dazu SAAGE, R., Politische Utopien der Neuzeit, Darmstadt 1991. 127 Vgl. zum Verhältnis von säkularer Utopie und christlicher Hoffnung einführend SILBER- MANN, L.H. / FRIES, H., Utopie und Hoffnung, in: BÖCKLE, F. / KAUFMANN, F.-X. / RAHNER, K. / WELTE, B. (Hrsg.), Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft (Enzyklopädische Bibliothek in 30 Bden.) Bd. 23, Freiburg im Breisgau / Basel / Wien 1982, 55-86. 128 Vgl. HABERMAS, J., Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main, 1988. Ders., Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt am Main, 1992. Ders., Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt am Main, 1992. Ders., Theorie des kommunikativen Handelns 2 Bde., Frankfurt am Main, 2001. <?page no="158"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 158 2. Etymologische, begriffliche und religionswissenschaftliche Einlassungen a) Etymologisch-Semantische Vorstudien Sprache ist Teil menschlicher Handlungswirklichkeit - nicht nur in ihren performativen Funktionen. So lässt sich aus der Analyse sprachlicher Ausdrucksformen und deren faktischer Verwendung quasi in umgekehrter Blickrichtung auf deren möglichen „Sitz im Leben“ menschlichen Handlungsalltags schließen. Damit das möglich ist, sind Wortfelduntersuchungen anzustrengen, die einen Begriff oder eine Kategorie auf ihre tragenden Bedeutungen hin befragt, insbesondere mit Blick auf die Kontexte aus verschiedenen Sprachfamilien und Epochen und mit dem vorrangigen Fokus auf ihre lebensweltliche und handlungsweltliche Verortung. So können bereits im Vorfeld der eigentlichen Begriffssystematik wichtige Konnotationen freigelegt werden und quasi sprachanthropologisch fundiert wichtige Einsichten gleich einem semantischen Korridor vorbereitet werden. Solche Wortfelduntersuchungen sind moraltheologisch unerlässlich, sogar nachgerade zu ihrer ureigenen Methodologie zu zählen, da sie in die hintersten Winkel menschlicher Handlungs- und Sprachpraxis zu blicken vermögen. So gesehen sind sie in den moraltheologischen Methodenkatalog aufzunehmen - mehr als es bisher geschehen ist. Neben begrifflichen Analysen, die für logische Klarheit in der Argumentation sorgen, sind Wortfelduntersuchungen moraltheologisch auch aus dem Grund unerlässlich, vermögen sie doch eine inhärente Moral bzw. Moralstrukturen freizulegen. Nicht nur, dass (sprach-) analytische Ethikformen aus der Logik und der Phänomenologie von Sprache Moral zu verstehen und zu begründen versuchen, die faktische Verwendung lässt ihrerseits auf eine mögliche Bedeutung für die praktische Lebensführung schließen, deren Gelingen der Mensch versucht zu betreiben und das unter anderem im wissenschaftlichen Fokus theologischer Ethik steht. Die im Folgenden angestellten Wortfelderhebungen dienen dem Zweck, ein erstes begriffliches Strukturraster im Umfeld der Hoffnungskategorie aufzurichten, das die nachfolgenden Ausführungen vorbereiten und leiten soll und das von unterschiedlichsten Hoffnungsbegriffen geronnene semantische Feld in einem ersten Anlauf grob abstecken wird. Basis soll dabei die etymologische Analyse bilden, deren Aufgabe es ist, die in der Sprache sedimentierte Handlungserfahrung moraltheologisch abzugreifen, die sich aufgrund der faktischen Verwendung von Sprache und deren Begrifflichkeit angesammelt hat. Die etymologischen Analysen dienen dabei einem Entdeckungszusammenhang, keinem Begründungszusammenhang. 129 Ziel ist eine semantische Spezifizierung und 129 Als philosophische Referenzen für das vorliegende Verfahren kann auf zwei philosophische Traditionen verwiesen werden, wiewohl eine Applikation auf dezidiert moraltheologische Fragestellungen vorgenommen wurde. Zum einen ist die analytische (Sprach-) Philosophie zu erwähnen, der es ja vor allem daran gelegen ist, sprachliche Ausdrücke hinsichtlich ihres Gebrauchs zu klären und deren Bedeutung im Rahmen eines Kontextes zu erhellen. Die vorliegende Methodologie ist aber keine sprachanalytische im engeren Sinne, da es für den vorliegenden Kontext weniger um die logische Kohärenz von sprachlichen Äußerungen geht oder um die Aufdeckung sprachlicher Unklarheiten, zumal es die analytische Sprachphilosophie aufgrund der Pluralität der Ansätze auch gar nicht gibt und im Rahmen der vorliegenden Fragestellung vielmehr von einer reflexiven Sensibilität für die handlungsdimensionalen Aspekte menschlicher Sprache gesprochen werden kann. Schließlich scheint mir nach wie vor der Überstieg von der Sprache in das Sein bzw. in die Ontologie das entscheidende philosophische Prob- <?page no="159"?> 2. Etymologische, begriffliche und religionswissenschaftliche Einlassungen 159 systematische Konkretisierung der Hoffnungskategorie anhand unterschiedlichster Hoffnungsbegrifflichkeiten. Methodisch sollen Hoffnungsbegriffe systematisch auf die sie ermöglichenden Handlungs- und Erfahrungskontexte und deren semantische Gehalte hin befragt werden. Auch sprichwörtliche Redewendungen zum Thema gehören selbstredend dazu. α Hoffnung Bei der Kategorie der Hoffnung handelt es sich um einen komplexen, multivalenten Begriff, für den sich eine umfangreiche Korona von Bedeutungen nachweisen lässt, was sich vor allem an der Vielzahl der verwandten Wörter zeigt, aber ebenso an den vielfältigen Verwendungen in der Alltagssprache: Das deutsche Hoffnung lässt sich zurückführen auf das mittelniederdeutsche hopen, was in seiner sinnlichen Grundbedeutung soviel wie hüpfen (mhd. hupfen, nd. hoppen), vor Erwartung unruhig springen, zappeln meint. 130 Eine früheste Erwähnung findet es als hopian im 9. bis 10. Jahrhundert. Es kam dann zu einem Übertrag des ursprünglichen Hüpfens und Aufspringens bzw. in die Höhe Springens auf verschiedenste damit verknüpfte Gemütserregungen, wie etwa das überrascht Auffahren, das ungeduldige Spähen, das Ausschauen und später das (Er-) Warten. Davon kann schließlich die allgemeine Grundbedeutung abgeleitet werden: „etwas künftiges Angenehmes erwarten“, das ein „Vertrauen auf etwas künftiges vorwärts Helfendes“ 131 ausdrückt. Mitunter tritt das Vertrauen in den Vordergrund, mitunter eher das schlichte, aber feste Warten. Immer aber geht es um etwas Zukünftiges, das die Aussicht auf etwas Förderliches und / oder Angenehmes bei sich trägt. Das Deutsche Wörterbuch von JACOB und WILHELM GRIMM 132 spricht zudem davon, dass wir eine Hoffnung haben, behalten, geben, machen oder nähren können, dass wir demgegenüber aber auch Hoffnung verlieren, schwinden lassen, aufgeben, rauben können, sodass sie vergeht und erlischt. Hoffnung kann dabei schön, sicher, unsicher, begründet, gering, eitel, fehlgeschlagen, falsch oder leer sein. Dabei gibt es den Hoffnungsanker 133 und den Hoffnungshafen, aber auch den Hoffnungsdunst, der den Blick verstellt; dagegen das Hoffnungsauge und das Hoffnungslicht, das sehend macht, den (manchmal dünnen) Hoffnungsfaden, das Hoffnungsglück und die Hoffnungsfrucht, die lem dieses Ansatzes zu sein, weswegen an dieser Stelle vorsichtiger aus der faktischen Verwendung auf eine noch näher zu qualifizierende anthropologische Basis, näherhin einen Ort im Kontext menschlicher Handlungspraxis, geschlossen werden soll, d.h. dass ein konstruktives Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit bereits vorausgesetzt wird. Daneben ist auf die sogenannte Philosophie der normalen Sprache zu verweisen, der es an einer Klärung des Verhältnisses von philosophischer und Alltags-Sprache gelegen ist und die etwa eine klärende, therapeutische, beweisende und heuristische Funktion einer solchen Philosophie unterscheidet, Funktionen wie wir sie allesamt im Rahmen des hier angestrebten integrativen Hoffnungsbegriffs wiederfinden werden. Vgl. SAVIGNY, E. VON, Die Philosophie der normalen Sprache. Eine kritische Einführung in die ‚ordinary language philosophy‘, Frankfurt am Main 1974. 130 Vgl. für die folgenden Hinweise GRIMM, J. / GRIMM, W., Deutsches Wörterbuch IV - 2, Leipzig 1877, 1668-1678. 131 Vgl. für beide Zitate ebd. 1669. 132 Vgl. ebd. 1674. 133 Vgl. ebd. 1676ff. Vgl. auch das Bild Hoffnung und Zuversicht (Spes) von JACOB MATHAM nach HEINDRICK GOLTZIUS mit der Inschrift: Maerentes recreo, / vitae ne taedeat aegrae, Adversae praebens / solatia dulcia sortis. Ich bin Trauernden Trost, / dass niemand wegwirft sein Leben. Widerwärtig war´s, / doch lindernd gewähre ich Labsal. <?page no="160"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 160 Fülle, den Grund, das Schiff, das Reich und den Zweifel der Hoffnung. Da gibt es den Hoffnungstrost, den Hoffnungsschimmer, die Hoffnungsqual und die Hoffnungslust, aber auch die Hoffnungsglut. Auffällig sind verschiedene Bildkontexte, etwa der des Meeres, in dem Hoffnung Sicherheit und Halt bietet. Nicht umsonst ist der Hoffnungsanker eines der bekanntesten Symbole für die Hoffnung, der inmitten des ungesicherten und tobenden Meeres vor dem Untergang zu retten vermag. Daneben werden Bilder von Licht und Feuer erwähnt, die ein klares oder vernebeltes Sehen benennen, auch ein Brennen wird erwähnt. Häufige Erwähnung finden die emotionalen Komponenten von Hoffnung - Hochstimmungen, wo sie ihre Wirkung zu entfalten vermag, Enttäuschung, Bitterkeit und Sarkasmus, wo sie sich als trügerisch und unrealistisch erwies. Bereits auf der etymologischen Begriffsebene lassen sich Inhalt bzw. Gegenstand, Herkunft und Grund und der Vollzug bzw. die Wirkung der Hoffnung unterscheiden. Aufschlussreich ist dabei der Umstand, dass der Plural in der Regel Anwendung findet, wenn mehrere verbundene Hoffnungen aus einer „Grundstimmung“ 134 heraus fließen. Auf der Ebene der komplexeren Redensarten und Redewendungen 135 ist schließlich eine Fülle von Erfahrung mit dem Hoffen kondensiert, wobei insbesondere die Ungewissheit und Unsicherheit hervorgehoben wird, umgekehrt aber genauso deren faktische Notwendigkeit für ein aktives Leben und für die Aufrechterhaltung von Handlungsmotivation benannt wird. D.h. es zeigt sich eine enge Verbindung von Hoffnung und Handeln, wobei die Grenzen des eigenen Tuns dabei nicht missachtet werden, sondern sogar mit Deutlichkeit artikuliert werden. So heißt es zwar: „Die Hoffnung stirbt zuletzt“, aber auch: „Die Hoffnung ist ein langes Seil, darin sich viele zu Tode ziehen.“ Oder: „Hoffen heißt Wolken fangen wollen.“ Demgegenüber kann der Mensch zwar „guter Hoffnung“ (esse spe bona) sein und „am Kap der Guten Hoffnung wohnen“, wenn er sich von bestimmten Hoffnungen leiten lässt, er kann dabei aber auch zwischen „Furcht und Hoffnung schweben“ (spemque metumque inter dubii). Wenn allerdings „seine Hoffnung in den Brunnen gefallen“ ist, dann sind des Menschen Pläne missglückt und vereitelt. Sprichwörter 136 zur Hoffnung betonen neben der Fallibilität, d.h. der Täuschungsanfälligkeit der Hoffnung, auf erstaunliche Weise praktisch all diejenigen Elemente, die später für die anvisierte Ethik der Hoffnung von Bedeutung sein werden: Da ist einmal die Hoffnungsspannung und das Nicht-Wissen des Ausgangs, die emotionale und dabei insbesondere die ermutigende und aktivierende Wirkung, aber auch die tröstende, geduldige und nährende Wirkung und das Zueinander von eigenem Tun und Gottes Geschenk bzw. dem, was Schicksal genannt wird. Da ist eine Hoffnung, die sehen lehrt, Wert- und Sinnmöglichkeiten zum Guten nämlich, die den Blick erweitert; und eine Hoffnung, die den Blick auf die Wirklichkeit und deren Möglichkeiten verstellt, da sie illusionär wird. Auf diese Weise wird nicht nur das Handeln und Verhalten des Menschen als von der Hoffnung (mit) bestimmt gedacht, sondern auch sein faktisches Erleben. So heißt es etwa zum Verhältnis von Hoffnung und Realität: „Man soll das Beste hoffen und das Schlimme tragen“ 137 oder: „Wer viel hofft, der täuscht sich oft.“ 138 Und: „Wer viel hofft, der muss viel sorgen.“ Zur Ungewissheit der Hoffnung heißt es etwa: 134 Vgl. GRIMM / GRIMM, Deutsches Wörterbuch IV, 1675. 135 Vgl. RÖHRICH, L., Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten Bd. 1, Freiburg im Breisgau 1973, 428ff. 136 Vgl. etwa WANDER, K.F.W., Deutsches Sprichwörter-Lexikon II, Darmstadt 1964, 718-727. 137 Vgl. ebd. 719. 138 Vgl. ebd. 720. Dort auch: „Wer nicht hofft ein Gut, der fürchtet kein Unheil.“ <?page no="161"?> 2. Etymologische, begriffliche und religionswissenschaftliche Einlassungen 161 „Wer hofft und meint, er hab’s schon ganz, der hat den glatten Aal beim Schwanz.“ Demgegenüber betont die positive Wirkung: „Der Hoffnung Licht verlöscht dem Guten nicht.“ 139 Immer wieder kann an sprichwörtlichen Redewendungen auch abgelesen werden, dass es neben der Eigenaktivität auch einen Anteil gibt, den der Mensch nicht eigenmächtig in Händen hält und den er abwechselnd Gott, der Natur bzw. dem Schicksal oder anderen Menschen zuschreibt, wenn daran nicht insgesamt die Hoffnung infrage gestellt wird. Exemplarisch heißt es: „Die Hoffnung ist unser, der Ausgang Gottes.“ Oder: „Wir hoffen, Gott gibt’s.“ Die bereits mehrfach Bestätigung gefundene aktivierende Bedeutung der Hoffnung zeigt sich etwa in: „Hoffnung auf Gewinn macht die Füße leicht.“ 140 Und mit der Hoffnung verbundene Erfahrungen des Trostes und der Rettung spiegeln sich in: „Hoffnung in Noth ist der größte Trost.“ 141 Ebenso: „Mit der Hoffnung wächst der Mut.“ 142 Oder: „Hoffnung ist der Geduld Blasebalg.“ 143 Für den Kontext der vorliegenden Fragestellung äußerst interessante Verbindungen gibt es zum Stichwort (Aufrechterhaltung von) Gesundheit und zur (geistig-mentalen) Sättigung und Erfüllung, auch das Leben als Ganzes findet sich sprichwörtlich mit Hoffnung versehen: „Hoffnung ist der Seelen Speis.“ „Hoffnung ist das Brot der Elenden.“ Dagegen: „Die Hoffnung sättigt nicht.“ 144 Schließlich der aufschlussreiche Hinweis: „Wo keine Hoffnung zur Gesundheit ist, soll man die Arznei sparen.“ Oder: „Hoffnung ist die beste Arznei.“ 145 Und schließlich: „Wenn die Hoffnung nicht wär, so lebt ich nicht mehr.“ 146 Die etymologischen Einlassungen können nun darauf hinweisen, dass allein die Vorläufer des Hoffnungsbegriffs aus dem deutschsprachigen Raum fast durchweg einen energetisierenden und vitalisierenden Bedeutungsgehalt aufweisen, wobei insbesondere tröstende, schützende und rettende Funktionen zu erkennen sind 147 , wenn sie nicht als enttäuschte, illusionäre oder unrealistische Hoffnung erfahren wurden. Ältere etymologische Wörterbücher zeigen schließlich noch Verbindungen, die sich nicht unmittelbar nahelegen aber dennoch aufschlussreich sind, etwa die enge Verknüpfung von Hoffen und Wünschen, Hoffen und Klagen und Denken 148 , aber auch die Verwandtschaft zum Begehren (cupere) und zum bereits bekannten „in Erwartung aufspringen“, „stutzig werden“ und „erschrecken lassen“. Mitunter wird der Begriff des Hoffens durch das althochdeutsche beziehungsweise mittelhochdeutsche „gedingen“ ersetzt. 149 139 Vgl. ebd. 721. 140 Vgl. ebd. 722 und zweimal 720. 141 Vgl. ebd. 723. 142 Vgl. ebd. 725. 143 Vgl. GRIMM / GRIMM, Deutsches Wörterbuch IV, 1673. 144 Vgl. WANDER, Sprichwörter-Lexikon II, 722 145 Vgl. ebd. 726. Eine Analogie kann bereits an dieser Stelle zu einem Begriff hergestellt werden, wie er in der modernen Psychosomatik entwickelt wurde, wo auf empirischer Basis unter anderem von „Medikamentenvertrauen“ gesprochen wird. 146 Vgl. GRIMM / GRIMM, Deutsches Wörterbuch IV, 1673. 147 Vgl. die Beischrift PETER BRUEGEL’s zu seinem Bild Hoffnung in dieser Arbeit: Jucundissima est spei persuasio et imprimis necessaria, inter tot aerumnas paeneque intolerabiles - Am meisten erfreulich ist die Unterweisung der Hoffnung, ja, lebensnotwendig ist sie, inmitten so vieler fast unerträglicher Qualen. Im Rahmen der moralpsychologischen Erkenntnisse zur Hoffnung im weitesten Sinne werden sich diese Linien noch differenzieren und im subjektiven Handeln, Erleben und Verhalten verankern und verifizieren lassen. 148 Vgl. FAULMANN, K., Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache nach eigenen neuen Forschungen, Halle 1893, 170. 149 Vgl. MITZKA, W., Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin 20 1967, 313. <?page no="162"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 162 Im Französischen gibt es nun die sinnige Unterscheidung von espoir und espérance. Während espoir die aktive Hoffnung zur Lebensgestaltung und Lebensbewältigung bezeichnet, die im alltäglichen Leben ihren angestammten Sitz hat und ihrerseits vom Willen zur Selbstwerdung motiviert wird, zielt espérance auf die tiefen existentiellen Hoffnungen, die den Menschen als Menschen kennzeichnen und sogar als bilderlose Hoffnung daherkommen können. 150 Es findet sich an dieser Stelle mithin eine weitere Bestätigung dafür, dass es neben den kleinen und größeren Hoffnungen des Alltags auch die in existentieller Tiefe angesiedelte Hoffnung gibt, die das Ganze des Daseins thematisiert und Ergebnis von basalen Grundüberzeugungen ist, wie sie in den zentralen Bezügen des Menschen verankert sind, dem Selbstverhältnis, dem Weltverhältnis und dem Verhältnis zur Transzendenz. Daneben ist für espère eine aufschlussreiche Bildbedeutung 151 nachgewiesen, wonach Netze aufstellen (auf gut Glück, bzw. in der Hoffnung auf Fang) zum Bedeutungsfeld gehören kann. Die deutschsprachigen Begrifflichkeiten zur Hoffnung sind mit den englischen etymologisch eng verwandt, wie das englische hope leicht zeigen kann. Aus diesem Grund dürften auch die semantischen Verbindungen eng sein. Allerdings ist neben der Bedeutung hüpfen auch noch die von Haufe(n), Trupp im Sinne eines verlorenen, hoffnungslosen Haufens (von Menschen) nachzuweisen 152 , was auf die kollektive An- oder Abwesenheit von Hoffnung hindeuten kann, die mit der Perspektive von außen auf das jeweilige Kollektiv oder von innen aus der Gruppe heraus betrachtet werden kann. Für den lateinischen Sprachkontext ist unter etymologischer Perspektive im Allgemeinen schließlich noch auf folgende aufschlussreiche Verbindungen des Hoffnungsbegriffs hinzuweisen: Es können Verwandtschaften 153 zu von Hoffnung geschwellt sein, zu eilen respektive Beschleunigung, sehr aufschlussreich auch zu vermögen, können, gelten, stark sein, aber auch zu Kraft und Gelingen nachgewiesen werden. Ein plastisches Bildwort spricht von Fettwerden und Mästung. Daneben zeigt sich auch hier die Grundbedeutung 154 von (a) erwarten und vermuten (von Günstigem und Ungünstigem) auf der einen Seite; und (b) die klare Identifizierung von Hoffnung mit der Erwartung von etwas Günstigem auf der anderen Seite, wiewohl diese erst unter christlichem Einfluss so deutlich entschieden wurde. Schließlich lassen sich die Formulierungen „sich versprechen, in Aussicht haben, mit etwas sich schmeicheln“ 155 mit dem Hoffen in Verbindung bringen. Die Unterscheidung zwischen Erwartung und Hoffnung, wie sie später noch getroffen werden wird und für das Verständnis der Hoffnung zentral ist, wird an dieser Stelle noch nicht gemacht. 150 Vgl. KAST, V., Aufbrechen und Vertrauen finden. Die kreative Kraft der Hoffnung, Freiburg im Breisgau 3 2001, 122. 151 Vgl. KÖRTING, G., Etymologisches Wörterbuch der französischen Sprache, Paderborn 1908, 157. 152 Vgl. HOLTHAUSEN, F., Etymologisches Wörterbuch der englischen Sprache, Göttingen 3 1949, 98. 153 Vgl. WALDE, A., Lateinisches etymologisches Wörterbuch, Heidelberg 1906 ( 2 1910), 587. Die ältere Auflage bringt noch spiro - blasen, wehen, hauchen, atmen (spiritus - Hauch, Atem, Seele, Geist) mit spero - hoffen (spes - Hoffnung) in Verbindung. Vgl. auch KÖRTING, G., Lateinisch- Romanisches Wörterbuch, Paderborn 3 1907, 907. 154 Vgl. GEORGES, K.E., Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch Bd. II, Basel 11 1962, 2756-2759. 155 Vgl. GEORGES, Handwörterbuch, 2756. <?page no="163"?> 2. Etymologische, begriffliche und religionswissenschaftliche Einlassungen 163 Die Etymologie der (alt-) griechischen Hoffnungsbegriffe, wo sie nicht auf die Antike oder das Neue Testament 156 beschränkt sind, verweisen in der Regel auf zwei Bedeutungshöfe 157 : (a) Vertrauen, Erwartung, Aussicht; (b) Meinung, Vermutung, Ahnung bzw. bei negativem Vorzeichen Befürchtung, Furcht oder Besorgnis. Auch eine enge Verbindung zum Wählen und insbesondere zum Wollen ist nachweisbar 158 . Der Aspekt des Vertrauens respektive der Furcht scheint für die vorliegende Fragestellung wichtig zu sein, ebenso der des Wollens, die beide verschiedentlich noch Erwähnung finden werden und zum Grundbestand des Hoffnungsbegriffs gezählt werden können. Aufschlussreich ist schließlich, dass das Hoffen in der allgemeingebräuchlichen Form weder eine Aktivnoch eine Passiv-, sondern eine Medium-Form darstellt. Schon wer diesen ersten Blick auf die etymologisch greifbaren Entwicklungslinien der Hoffnungsbegrifflichkeit aus unterschiedlichen Sprachtraditionen vornimmt, der entdeckt schnell, dass menschlicher Sprache eine ubiquitäre Hoffnungsstruktur eignet, wonach es eine begriffliche Notwendigkeit im Wortschatz humaner Selbstreflexion und humaner Ausdrucksformen zu sein scheint, Hoffnung und Handeln, näherhin Handlungsmotivation und Aufrechterhaltung von Handlungsfähigkeit, aufs engste miteinander zu verknüpfen. Die Vielfalt der dabei verwendeten sprachlichen Wendungen und Verwendungen lässt bereits an dieser Stelle auf ein breites anthropologisches Fundament schließen. Auch der energetisierende und vitalisierende Bedeutungsgehalt ist unübersehbar 159 - solange sie nicht von ihrem Gefährdungspotential her interpretiert und als illusionär oder als Lebenstäuschung gedeutet wird. β Ertrag Die sprachliche Verwendung und der faktische Gebrauch einer Basiskategorie menschlicher Selbstverständigung, wie die der Hoffnung, der sich entlang linguistischer Gesetzlichkeiten im Rahmen einer Sprachfamilie, aber auch entlang den der Moral vorgegebenen und hier anvisierten strukturanthropologischen Grundgesetzlichkeiten menschlichen Selbstvollzugs bzw. humaner Handlungswirklichkeit nachvollziehen lässt, bietet folgende Erkenntnisse, die als Kontexte der verschiedenen Hoffnungsbegrifflichkeiten verstanden werden und unmittelbar in das anvisierte Strukturgitter einer Ethik der Hoffnung aufgenommen werden können. Demnach ist die Verwendung von Hoffnung verknüpft mit folgenden Valenzen: 156 Für den semantischen Gehalt der (alt-) griechischen, aber auch lateinischen und insbesondere hebräischen Begrifflichkeiten im spezifischen Kontext von Antike, Altem und Neuem Testament ist auf die nächsten Kapitel zu verweisen. Bereits erwähnte Verwandtschaften werden nicht erneut wiederholt. Dasselbe gilt für die Akzente, die die verschiedenen Sprachfamilien setzen. 157 Vgl. ESTIENNE, H. / HASE, C.B. (Hrsg.), Thesaurus Graecae Linguae. Volumen Tertium, Paris 1835. 158 Vgl. MENGE, H. (Hrsg.), Menge-Güthling. Langenscheidts Großwörterbuch Altgriechisch- Deutsch unter besonderer Berücksichtigung der Etymologie, Berlin et al. 28 1994, 229. 159 Daraus abzuleitende Funktionen der Hoffnungskategorie für den Handlungsvollzug werden in den nächsten Kapiteln exemplarisch herausgearbeitet werden. <?page no="164"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 164 Etymologisch greifbare Hoffnungsvalenzen 1. Aktivierung, Motivierung und Orientierung für das menschliche Handeln durch Hoffnung 2. Trost, Kraft, Mut, Schutz durch Hoffnung 3. Notwendigkeit der Hoffnung 4. Positivität und Fallibilität der Hoffnung: Erfahrung des Ungesicherten, des Nicht-Wissens 5. Spannung von Hoffnung und Realität bzw. Erfahrung Abbildung 2 Etymologische Hoffnungsvalenzen Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass Hoffnung eine fundamentale Verbindung zur Aufrechterhaltung von Handlungs-Motivation zu erkennen gibt, die für eine Handlungs- Energetisierung und Handlungs-Initiierung sorgt und sich - etwa unter Anfechtung - zur Gewährleistung einer basalen Handlungsfähigkeit 160 verantwortlich zeigt. Zugleich vermag sie Trost im Leiden, Kraft zum Weitermachen oder Neuanfangen, Schutz vor erwarteten oder bereits realen Gefahren und Mut zu deren Bewältigung zu vermitteln. Dabei wird sie als notwendig und ubiquitär erlebt wie zugleich als irrtumsanfällig. Sie vermag schließlich kleine wie große Handlungs-, Erlebnis- und Bedürfnisspannungen aufzubauen zwischen einer real erlebten Gegenwart und einer für erstrebenswert erachteten Zukunft - so sehr, dass diese antizipierte Zukunft in einem Spannungsbogen Teil der Gegenwart wird und diese grundlegend zu bestimmen vermag. γ Sinn Eine Etymologie des Sinnbegriffs hat sich mit einer begrifflich äußerst vielgestaltigen Größe 161 zu beschäftigen, die bei marginaler Änderung der Perspektive chamäleongleich bereits eine völlig veränderte Bedeutung annehmen kann, sodass an dieser Stelle nur einige wenige Facetten der ausführlich erst noch zu formulierenden Etymologie und Systematik des Sinnbegriffs expliziert werden können, wie sie für den Kontext der vorliegenden Fragestellung Bedeutung besitzen. Als frühe etymologisch greifbare Wurzeln des (deutschen) Sinnbegriffs ist auf das Gotische sinps und sinpan zu verweisen, was Gang bzw. Gehen bedeutet. Das altbzw. niederhochdeutsche sinnan leitet sich dagegen ab von den Bedeutungen Ortsbewegung und Richtung. Ein Gehen war gemeint. Es bezeichnete eine Reise unternehmen, eine Fährte suchen 162 , wobei reisen, gehen, fahren, aber auch senden gemeint war. Daneben ist für sinnan schließlich die aufschlussreiche Bedeutung 160 Die Attribute der Hoffnung, die der Hoffnung beigelegt werden, sagen dabei bereits etwas über die Hoffnung selbst aus: Feste Hoffnung haben, starke Hoffnung haben, fest in der Hoffnung sein bzw. stehen, etc. So sind auch Hoffnung und Stärke biblisch miteinander verknüpft, was exegetisch-systematisch zu zeigen wäre. 161 Das Grimmsche Wörterbuch der Deutschen Sprache weist allein 24 vielfach differenzierte Bedeutungen des Sinnbegriffs aus. GRIMM / GRIMM, Deutsches Wörterbuch X, 1103-1204. 162 Zitiert nach BILLER, K., Der Sinnbegriff als zentrales Theorem der Logotherapie, in: KURZ, W. / SEDLACK, F. (Hrsg.) Kompendium der Logotherapie und Existenzanalyse, Tübingen 1995, 99. <?page no="165"?> 2. Etymologische, begriffliche und religionswissenschaftliche Einlassungen 165 streben nachgewiesen, d.h. - ausgehend vom angestammten Bildkontext - ein Ziel geistig verfolgen, einem geistigen Ziel nachgehen. Spätestens an dieser Stelle differenziert sich ein konkretes, quasi räumliches Verständnis von einem geistig-symbolisch-übertragenen Verständnis. Die Vorläufer des Sinnbegriffs, wie er hier Verwendung finden soll, können also gerade nicht bei dem möglichen lateinischen Lehnwort sensus gesucht werden, das heißt auch nicht bei einem ausgesprochen sinnenorientierten Bedeutungsfeld, wiewohl es natürlich vielfache Verbindungen zwischen Sinnerfahrungen und Sinneserfahrungen 163 gibt. Die Frühform des Sinnbegriffs hat als eigenständiges germanisches Wort mit dem lateinischen sensus lediglich gemeinsame indogermanische Wurzeln und dürfte weit eher zurück zu führen sein auf die Vorläufer des schon erwähnten niederhochdeutschen sinnan, was äußerst aufschlussreich reisen, streben, gehen bedeutet und eigentlich so etwas wie den Weg und die Reise meint bzw. in der aktiven Form „einer Richtung nachgehen“ 164 . Bis heute hat sich der Begriff gehalten, wenn wir sagen, nach etwas zu sinnen 165 , etwas oder jemandem nachzu-sinnen, gleichsam eine (geistige) Reise dorthin zu unternehmen. „Die ursprüngliche Bedeutung von Reise, Weg, Fahrt klingt im Wort ‚Gesinde‘ mit an, das eigentlich ‚Begleitung‘, ‚Gefolgschaft‘ bedeutet. Dieser archaische Bedeutungsgehalt ist noch in den Wörtern ‚senden‘, ‚Richtungssinn‘, ‚Uhrzeigersinn‘ oder ‚Gegensinn‘ bzw. ‚Widersinn‘ enthalten. Die indogermanische Wurzel ‚sent-‘ hat im lateinischen Wort ‚sentire‘ die Ausgangsbedeutung von ‚einer Richtung nachgehen, eine Richtung verfolgen‘. Sie entwickelte sich erst später zu ‚fühlen‘.“ 166 Sowohl im Lateinischen, wie im Germanischen bekommt die konkrete Wortbedeutung schnell eine übertragene, geistige Bedeutung, wobei im Lateinischen die Bedeutungen Sinn respektive Verstand dominieren, während im Germanischen sich um etwas kümmern, auf etwas achten vorherrscht. Eine erste Systematisierung der vielfältigen Bedeutungen kann nun auf fünffache Weise 167 geschehen. So kann unterschieden werden: (a) „Sinn“ als Wahrnehmungs-, Empfindungs- und Reaktionsfähigkeit, die in den Sinnesorganen ihren Sitz hat (etwa „der sechste Sinn“, „ein geschärfter Sinn“) und als Bewusstsein. (b) „Sinn“ als Sinn für etwas, als Verständnis, Empfänglichkeit und Aufgeschlossenheit („Gerechtigkeitssinn“, „Sinn für Schönheit“). (c) „Sinn“ als jemandes Denken, als Gedanke und Denkungsart (jemandes „Sinn ist auf etwas gerichtet“, „einen edlen Sinn haben“). (d) „Sinn“ als Sinngehalt, gedanklicher Gehalt und Bedeutung, die einer Sache innewohnt („der verborgene Sinn einer Sache“). Und schließlich (e) „Sinn“ als Ziel, Zweck und Wert einer Sache („Sinn des Lebens“). 163 Die enge Verknüpfung von Sinn mit Sinneserfahrungen, aber auch mit Verstandes- und Bewusstseinstätigkeiten ist leicht an Redewendungen wie von Sinnen sein oder besinnungslos nachzuvollziehen, wobei diesen Bedeutungen nicht weiter nachgegangen werden soll. 164 Vgl. MITZKA, W., Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin 20 1967, 709. 165 FAULMANN, K., Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache nach eigenen neuen Forschungen, Halle 1893, 334-335, unterscheidet für sinnen zwei Grundbedeutungen: a. denken, ruhig betrachten, seine Gedanken vorauf richten; und b. gehen, reisen, wobei der verbindende Zusammenhang durchaus plausibel ist: Sich gedanklich oder aktiv auf etwas hin zu orientieren und zu bewegen. 166 Vgl. BILLER, Sinn-Begriff, 100. 167 Vgl. DUDEN, K., Vollständiges orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache (Faks. d. Originalaus. von 1880), Leipzig / Mannheim 1980. <?page no="166"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 166 Wird nun neben den etymologischen Wurzeln und den vorrangigen Bedeutungen ein Blick auf die Hauptgebrauchsweisen 168 geworfen, so fällt auf, dass diese bereits im Althochdeutschen zu finden sind und sich seither kaum gewandelt haben. So wurde der Sinnbegriff etwa verwendet, um (1) „das innere Wesen eines Menschen“ zu bezeichnen und (2) die einem jeden Menschen „eigentümliche geistig-seelische Veranlagung, die seine Sonderart ausmacht“ 169 . Als allgemeine Bedeutungen waren ferner (3) der (schöpferische) Verstand, das Bewusstsein, die Besinnung, aber auch die Klugheit und die Überlegung 170 in Gebrauch. Schließlich kann Sinn auch aufschlussreich und unmittelbar anschlussfähig zur These der vorliegenden Arbeit als (4) „das Organ und der Sitz alles Strebens, Wollens, Verlangens“ verstanden werden, mithin als „treibende Macht zum Handeln“ 171 . Daneben ist eine Gebrauchsweise nachgewiesen, die sich ebenso wie die vorherige zwanglos einfügt in den systematischen Fragehorizont der anvisierten Ethik der Hoffnung. So galt Sinn (5) „als innere Kraft zum Beharren und Widerstande gegen äußere Einflüsse“. Neben einer historisch außerordentlich vielfältigen Differenzierung und Spezialisierung der Bedeutungen, fallen besonders die Verbindungen zur Identität oder Personmitte auf - modern gesprochen - zum Streben und zum Handeln des Menschen im Allgemeinen, allesamt Aspekte, die die Basalität und die Handlungsnähe des Begriffs verdeutlichen können, ganz abgesehen davon, dass sie diesen für eine systematische Verbindung mit der Hoffnungskategorie prädestinieren. Auf der Ebene von Sprichwörtern 172 und Redewendungen zum Sinnbegriff lässt sich zeigen, dass immer wieder eine Analogie, wenn nicht eine Identifikation von Leben und Sinn vorgenommen wird, dass ein verfolgter bzw. gehegter Sinn orientierende, motivierende und verbindende Wirkung auf das Handeln des Einzelnen hat und zur Bewältigung eines Lebensgeschicks beiträgt. So heißt es etwa: „Wie der Sinn, so das Leben.“ Oder umgekehrt: „Wie ich bin, so ist mein Sinn.“ Zur vergemeinschaftenden Wirkung findet sich: „Hätten wir alle einen Sinn, wir liefen alle einen Weg.“ Oder: „Einerlei Sinn macht Freunde.“ Unmittelbar anschlussfähig und mit Parallelen zum Hoffnungsbegriff heißt es: „Froher Sinn ist der beste Doktor.“ Schließlich auch: „Leichter Sinn trägt schweres Geschick.“ Bzw. negativ formuliert: „Schwankender Sinn hat keinen Gewinn.“ Zum motivierenden und orientierenden Gebrauch des Sinnbegriffs lässt sich immer wieder so oder ähnlich entdecken: „Williger Sinn macht leichte Füße.“ Oder: „Böser Sinn hemmt (stört) den Beginn.“ Schließlich: „Was den Sinnen tut vorschweben, demselbigen sie nachstreben.“ An dieser Stelle kann nun unter Zusammenschau der bisherigen Erhebungen zunächst eine Doppelbedeutung des Sinnbegriffs festgehalten werden, die bis heute die vielgestaltige Verwendung prägt und sich in einen eher geistigen und einen eher räumlichen Bedeutungshof differenzieren lässt, in ein eher konkretes Verständnis und ein eher übertragenes Verständnis: (1) Sinn als Bewusstsein oder Verstand; (2) Sinn als Weg oder Richtung, wobei die räumliche Bedeutung die ursprünglichere ist, zu der sich dann eine übertragene Verwendung gesellt hat. Neben diesem äußerst aufschlussreichen etymologischen Spektrum des Sinnbegriffs im engeren Sinne lassen sich nun noch eine Fülle von 168 Vgl. GRIMM / GRIMM, Deutsches Wörterbuch X, 1105ff. 169 Vgl. ebd. 1106. Auch das Gemüt, die Gesinnung oder der Charakter kann gemeint sein. 170 Vgl. ebd. 1115 und 1125. 171 Vgl. ebd. 1107. Dazu finden sich auch die Bedeutungen: „etwas im Sinn haben“, „sich etwas vorgenommen haben“, „beschlossen haben“, „die Absicht haben“. 172 Vgl. dazu WANDER, K.F.W., Deutsches Sprichwörter-Lexikon IV, Darmstadt 1964, 571-574. <?page no="167"?> 2. Etymologische, begriffliche und religionswissenschaftliche Einlassungen 167 Sinn-Verständnissen 173 , Sinn-Arten, und Sinn-Merkmalen benennen, die allesamt zeigen können, wie vielfältige Funktionen der Begriff auf sich gezogen hat und wie umfänglich damit auch seine Alltagspräsenz angenommen werden kann: Da gibt es den Körpersinn, den Sinn als (logische) Bedeutung 174 , als Zweck 175 oder als Wert 176 , die wohl zu den wichtigsten und wirkmächtigsten Sinnkonzepten gehören neben der Frage nach dem Sinn des Lebens bzw. dem Daseinssinn 177 . Schließlich wird von dem Sinn gesprochen, der dem Menschen als Wirklichkeit 178 entgegentritt und - etwa bei HEIDEGGER - als Ausdruck des Verstandenen 179 begriffen werden kann oder als Ergebnis von (bewerteten) Erfahrungen, überhaupt als Bewertungskriterium und als Handlungsregulativ, aber auch als vom Menschen gesetzte 180 Größe. Für die vorliegende Fragestellung wird die Verknüpfung von Sinn und Handlungs-Motivation 181 wichtig werden, da sich darin die Hoffnungsstruktur menschlicher Sinnorientierung zu erkennen gibt. Neben diesen Sinnkonzepten wird unter anderem von subjektivem Sinn gesprochen, auch von Eigensinn, von objektivem Sinn und einem davon unterschiedenen Objektsinn, von Beziehungssinn und 173 Vgl. BILLER, K., Der Sinnbegriff als zentrales Theorem der Logotherapie, in: KURZ, W. / SEDLACK, F. (Hrsg.) Kompendium der Logotherapie und Existenzanalyse, Tübingen 1995, 99- 116. 174 Vgl. FREGE, G., Über Sinn und Bedeutung, in: Ders., Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien, hrsg. von PATZIG, G., Göttingen 3 1969. Frage verortet den Sinn von Worten zwischen ganz subjektiven Vorstellungen und deren Bedeutung, eine Auffassung, die Eingang in die moderne Linguistik gefunden, in der man von Sinn als einem Designat (Bedeutungsträger) spricht. Vgl. auch HUSSERL, E., Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, hrsg. von LANDGREBE, L., Hamburg 6 1985, 318ff., der ausgehend vom „Werten und Wollen“ des Menschen in dessen von Bedeutungen geprägter Lebenswelt einen subjektiven Sinn entdecken lässt. 175 Vgl. DILTHEY, W., System der Ethik (Gesammelte Schriften Bd. X), Düsseldorf, 1958. Ders., Philosophie des Lebens, Stuttgart 1961. Sinnvoll ist dabei im Rahmen seiner Lebensphilosophie dasjenige, was der Entwicklung der Teleologie dient, die er in der geistigen Welt zu entdecken glaubte. Vgl. auch HORKHEIMER, M., Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, hrsg. von SCHMIDT, A., Frankfurt am Main 1967, 227, der ein geschichtsbezogenes und emanzipatorisches Sinnkonzept vertritt, das er aber notwendig theistisch begründet. „Einen unbedingten Sinn zu retten, ohne Gott, ist eitel.“ 176 Vgl. SPRANGER, E., Psychologie des Jugendalters, Heidelberg 29 1979, 19. Das Sinnvolle leitet sich von der Einordnung in ein je größeres „Wertganzes“ ab, während die Einzelwerte in einer Werthierarchie angesiedelt sind. 177 Vgl. FRANKL, V.E., Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn. Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk, München 17 2004. 178 Vgl. FISCHER, F., Darstellung der Bildungskategorien im System der Wissenschaften, hrsg. von BENNER, D. und SCHMIED-KOWARZIK, W., Kastellaun 1975. 179 Vgl. HEIDEGGER, M., Sein und Zeit, Tübingen 11 1967, 151. Demnach ist Sinn, völlig unabhängig vom Wertbegriff, dasjenige, „worin sich Verständlichkeit von etwas hält. Was im verstehenden Erschließen artikulierbar ist, nennen wir Sinn. [ ... ] Sinn ist das durch Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff strukturierte Woraufhin des Entwurfs, aus dem her etwas als etwas verständlich wird.“ 180 Vgl. POPPER, K.R., Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. II., Falsche Propheten. Hegel. Marx und die Folgen, Bern 6 1980, 344ff. „Wir sind es, die Zweck und Sinn in die Natur und die Geschichte einführen.“ 181 Vgl. WILS, J.-P., Sinn und Motivation, in: Ders. / MIETH, D., Grundbegriffe der christlichen Ethik, Paderborn / München / Wien / Zürich 1992, 147-161. <?page no="168"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 168 Über-Sinn. 182 Sollen nun insbesondere diejenigen Traditionslinien, die eher dem konkreten Verständnis angehören, systematisch auf Gemeinsamkeiten untersucht werden, so kann mit dem Phänomenologen MERLEAU-PONTY treffend und im Einklang mit den angestrengten etymologischen Analysen formuliert werden: „Allen Bedeutungen des Wortes ›Sinn‹ zugrunde liegend finden wir den einen Grundbegriff des Seins, das auf etwas hin, was es nicht selber ist, orientiert und polarisiert ist, und alles verweist uns auf den Gedanken des Subjekts als Ek-stase und auf ein aktives Transzendenzverhältnis zwischen Subjekt und Welt.“ 183 In den eher übertragenen, nicht-konkreten Sinn- Verständnissen sind die erwähnten transzendierenden Strukturen in quasi reflexiver Form ebenso anwesend. δ Ertrag Der entscheidende Ertrag der etymologischen Erhebungen zur Sinnkategorie soll nun auf diejenigen beiden Aspekte fokussiert werden, die die nachfolgenden systematischen Ausführungen vorbereiten und sie anschlussfähig für einen Begriff von Hoffnung machen, wie er mit dem Strukturgitter einer Ethik der Hoffnung angedacht ist. Etymologischer Ursprung des Sinnbegriffs Ortsbewegung, Gang Doppelsträngige Überlieferung Verbum (1) Reisen, Gehen, Fahren, Senden (2) Streben Substantivum (1) Gang, Weg, Richtung (2) Bedeutung, Verstand, Sinn Abbildung 3 Etymologische Ursprünge des Sinnbegriffs So lässt sich ein konkretes, näherhin räumliches Verständnis und ein übertragenes, näherhin geistig-symbolisches Verständnis von Sinn unterscheiden, wobei es sich um eine gerichtete Bewegung handelt. D.h., wer nach Sinn fragt, sucht einen Weg und eine Richtung, von dem er sich etwas verspricht bzw. der ihm oder ihr etwas in Aussicht stellt und verheißt. Wer geht, möchte ein Ziel erreichen, möchte irgendwo hinkommen. Und wer geht, möchte ankommen. Wer nach Sinn fragt, möchte, dass sein Leben eine Richtung nimmt und daraufhin in Bewegung kommt, der ist empfänglich für das Sinnobjekt und 182 Vgl. BILLER, K., Der Sinnbegriff als zentrales Theorem der Logotherapie, in: KURZ, W. / SEDLACK, F. (Hrsg.) Kompendium der Logotherapie und Existenzanalyse, Tübingen 1995, 107ff. 183 Vgl. MERLEAU-PONTY, M., Phänomenologie der Wahrnehmung, übersetzt und eingeleitet von BOEHM, R., Berlin 1966, 488f. <?page no="169"?> 2. Etymologische, begriffliche und religionswissenschaftliche Einlassungen 169 hat ein Verständnis dafür entwickelt. Beide Begriffe, Hoffnung und Sinn, lassen sich aufgrund ihrer etymologischen Herkunft auf das engste miteinander in ein Verhältnis setzen, woraus eine der Thesen der vorliegenden Arbeit herrührt, Hoffnung als Antizipation von Sinn zu begreifen. So kann von einer sowohl konkreten wie übertragenen Bewegung aus einer positiven Aussicht heraus und auf diese hin gesprochen werden, eine vitalisierende, motivierende und dabei bedeutungs- und verstandesgetragene, aber unsichere Orientierung auf das hin, was bewältigtes und letztlich bejahtes (Über-) Leben verspricht und dabei Gelingen verheißt. b) Differenzierung verwandter Begriffe und erste definitorische Annäherung Für den weiteren Verlauf der Arbeit ist es zunächst noch wichtig, weitere begriffliche Differenzierungen vorzunehmen, um die komplexe Kategorie der Hoffnung abzugrenzen von verwandten Begrifflichkeiten und einzelne Aspekte ihrer selbst von der Kategorie insgesamt zu unterscheiden. Schließlich enthält sie als komplexe Kategorie eine Fülle von einzeln identifizierbaren Komponenten, die sie in ihrem Zusammenspiel allererst in die Lage versetzen, menschliche Handlungswirklichkeit umfassend zu bestimmen. Hoffnung im engeren Sinne ist daher eine komplexe Handlungskategorie, die Anteile vieler anderer verwandter Begrifflichkeiten in sich vereint bzw. umgekehrt Teilmomente der Hoffnung sich in diesen Begriffen wiederfinden lassen, die ihrerseits einzelne Schwerpunkte der Hoffnung gesondert zum Ausdruck bringen. Nur auf diese Weise kann sie auch auf vielfältige und umfassende Weise handlungsbestimmend werden. So ist etwa die Utopie 184 (gr. οὐτόπος - der Nicht-Ort) das politische und gesellschaftliche Pendant 185 der Hoffnung, auf deren Boden nicht nur die gesellschaftlichen 184 Vgl. NEUSÜSS, A. (Hrsg.), Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen, Frankfurt am Main 3 1986. SAAGE, R. Politische Utopien der Neuzeit, Darmstadt 1991. Utopie (Art.), in: BROCK- HAUS Enzyklopädie Bd. 28, Mannheim 21 2006, 486-491. OTTMANN, H., Utopie (Art.), in: Lexikon für Theologie und Kirche Bd. 10, hrsg. v. KASPER, W. et al., Freiburg im Breisgau 2006, 500-501. Vgl. auch Utopie (Art.) in: DIE ZEIT - Das Lexikon Bd. 15, Hamburg 2005, 296-297. Utopie (Art.) in: DIE ZEIT - Welt- und Kulturgeschichte Bd. 19, Hamburg 2006, 437-438. 185 Vgl. PICHT, G., Prognose, Utopie, Planung. Die Situation des Menschen in der Zukunft der technischen Welt, in: Ders., Vorlesungen und Schriften Bd. VIII (Zukunft und Utopie), hrsg. v. EISENBART, C., Stuttgart 1992, 1-42, hier 26. Mit GEORG PICHT kann dabei in Übereinstimmung mit KARL MANNHEIM (etwa MANNHEIM, K., Ideologie und Utopie, Frankfurt am Main 3 1952) der Begriff der Utopie beschränkt werden „auf den Bereich der realisierbaren Möglichkeiten“, sodass ich „unter Utopie nicht ein bloßes Gebilde des Bewusstseins“ verstehe, „auch nicht wie Popper eine Hilfskonstruktion politisch-sozialer Technik, sondern die antizipierte Gestalt der Zukunft selbst, also eine mögliche Realität. Der Begriff der Utopie hat dann die Funktion, zwischen Bewusstsein und zukünftiger Wirklichkeit zu vermitteln. Damit ist zugleich gesagt, dass aufgeklärte Utopie kein statisches Modell sein kann, sondern fortschreitend durch die Reflexion auf die Ergebnisse der Prognose modifiziert werden muss. Dadurch, dass wir gebunden sind, in die Utopie die Ergebnisse wissenschaftlicher Prognose aufzunehmen, gewinnt die aufgeklärte Utopie im Gegensatz zu den bisher als Utopie bezeichneten Gebilden eine kritische Funktion für unser eigenes Bewusstsein. Sie zwingt uns, nicht nur unsere Erkenntnis, sondern auch unsere Hoffnungen und Wünsche, unsere Ideologien und unsere Träume am Maßstab kritisch antizipierter Realität zu prüfen.“ Woher eine solches in das immer unsichere Prokrustesbett der Wissenschaft gezwängte Konzept von Utopie noch die visionäre und motivierende Kraft zur moralischen Umgestaltung der Welt aufbringen kann - mitunter gegen die faktische Realität, bleibt an dieser Stelle allerdings offen. Zweifelsohne sind <?page no="170"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 170 Systemkonkurrenzen des 19. und 20. Jahrhunderts ausgetragen wurden, sondern die bereits längst vor THOMAS MORUS’ Utopia 186 Großgemeinschaften orientiert hat. Utopien waren ja ursprünglich nicht zeitlich auf eine (ferne) Zukunft bezogen, sondern geographisch an einem bestimmten Ort lokalisiert. Zunächst waren Utopien als Eutopien formuliert, als positive Bilder des guten Lebens und der guten gesellschaftlichen Ordnung, während sie im Lauf des 20. Jahrhunderts dann in Form von Dystopien 187 Ausdruck fanden, d.h. als Warnungen und Schreckensszenarien. Allerdings öffnete sich erst mit dem 19. Jh. 188 der Horizont einer einheitlichen und geschichtlich begriffenen Zukunft, auf die mit dem Zeitalter der (utopischen) Ideologien und Weltanschauungen geantwortet wurde. Der Faktor Zeit wurde damit neu zum Problem, indem eine Progres- Utopien historisch gesehen immer wieder auch missbraucht worden für eigentlich illusionäre Ziele und moralisch delegitimierte Zwecke, weswegen sie nicht immer zu Unrecht unter Ideologieverdacht gestellt wurden. Das kritische Potential der Utopie und deren stimulierende Wirkung bleibt dabei unbenommen. Umso wichtiger wird es sein, zu deren Unterscheidung eine Kriteriologie bereitzustellen, freilich ohne dabei die Utopie insgesamt an Pragmatismus oder prozedurale Verfahrensrationalitäten abzugeben, die kaum visionäre und einende Kraft auf menschliche Handlungswirklichkeit freizusetzen imstande sind. Damit sind die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen jeder „aufgeklärten“ Utopie klar bestimmt, da diese aus sich heraus wohl keine Kriteriologie bereit zu stellen vermag, worin die Selbsttranszendenz realer Wirklichkeit auf je bessere mögliche Wirklichkeit hin moralisch legitimiert werden könnte, es sei denn, sie wird selber unter kritische Kontrolle des Guten gestellt, das heißt letztlich unter ethische Kontrolle gestellt und angebunden an die großen Kategorien der moralischen Selbstentfaltung des Menschen. Auch sind Versuche, das utopische Potential des Menschen in den Grenzen des Endlichen einzuhegen, es quasi zu domestizieren, letztlich zum Scheitern verurteilt, da der Mensch seine Endlichkeit und seinen Tod immer schon antizipiert und damit bereits innerweltlich zu überschreiten versucht. So schreibt GEORG PICHT (vgl. ebd. 27) zwar: „Der Anprall an die Schranken der Endlichkeit rechtfertigt nicht die Preisgabe des Begriffs der Utopie, aber er zwingt, diesen Begriff auf den begrenzten Spielraum der realen Möglichkeiten menschlichen Handelns einzuschränken. Das ist die Begründung für die neue Fassung des Begriffs, die ich vorgeschlagen habe. Prognose ist Antizipation der Zukunft durch Theorie. Planung ist Antizipation der Zukunft für die Praxis. Aber beide Weisen des Vorgriffs in die Zukunft werden nur möglich, dass zuvor die produktive Einbildungskraft ein Schema des Spielraums der Möglichkeiten entwirft, innerhalb deren Prognose und Planung ihr Feld entdecken.“ Solche Formen der (szientistischen) Selbstbescheidung, die in sich durchaus etwas Wahres ausdrücken, werden allerdings der Größe des menschlichen Glücksverlangens und der Persistenz seiner moralischen Selbstentfaltung nicht gerecht, auch wenn der Wunsch nach kritischer Kontrolle von Utopien Berechtigung hat. Es bleibt ein Rest des Unabgegoltenen, wenn menschliches Hoffen die Grenzen der Endlichkeit immer schon übersteigt und darin kein Genügen findet. Der „Vorgriff in die Zukunft“ reicht kraft menschlichen Bewusstseins und kraft menschlicher Reflexion viel weiter, als es Prognose und Planung auszuweisen imstande sind. Wie nun dieser Hoffnungsüberschuss eingeholt werden kann, wird die entscheidende Frage zur Restitution von Hoffnung und Utopie insgesamt sein, was aber wohl nur unter theistischen Voraussetzungen und einem starken Moralbegriff, wie ihn etwa KANT vorgeschlagen hat, zu leisten sein wird, sodass entweder ein „Gott der Hoffnung“ geglaubt werden darf oder mindestens postulatorische Hoffnung möglich wird. 186 Vgl. MORUS, T., Utopia - Über die beste Staatsverfassung und die neue Insel Utopia. Ein wahrhaft kostbares und ebenso bekömmliches wie kurzweiliges Buch über die beste Staatsverfassung und die neue Insel Utopia, Beck 1987. Vgl. ebenso SWOBODA, H., Utopia. Geschichte der Sehnsucht nach einer besseren Welt, Wien 1972. 187 Vgl. HUXLEY, A., Brave new world, London 1948 oder ORWELL, G., 1984, Stuttgart 1950. 188 Vgl. HÖLSCHER, L., Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt am Main 1999. <?page no="171"?> 2. Etymologische, begriffliche und religionswissenschaftliche Einlassungen 171 sion hin zur guten Gesellschaft und hin zu Wohlstand damit (hoffend) in Aussicht gestellt wurde. Zeit wurde zu einer zu überwindenden Größe. Heute scheint dieses Zeitalter seinerseits historisch überwunden und abgelöst durch Anti-Utopie, Pragmatismus 189 und eine dialektische Sicht auf die (Post-) Moderne. Utopien wirken zwar potentiell ideologiekritisch, da sie „eine oft im Dienst der Sozial- und Politikkritik stehende Zukunftsvision“ 190 vermitteln können, stehen aber auch selber in der Gefahr ideologisch missbraucht zu werden. Es steht allerdings zu erwarten, dass die Bedeutung von Hoffnung und Utopie wieder zunehmen wird, wenn denn davon ausgegangen werden kann, dass kulturgeschichtlich in sich ablösenden (Gegen-) Bewegungen gedacht werden muss. Schließlich kann „man dem Denken selbst utopische Funktionen zuschreiben“ 191 . Moraltheologisch entscheidend ist dabei, dass das utopische Potential 192 des Menschen ihn in die Lage versetzt, sowohl kritische Distanz zu jedweder hermetisch-immanenten Deutung seines Lebens und seiner Verhältnisse zu treten, was Handlungsspielräume eröffnet und bewahrt, und zugleich (sic! ) die Möglichkeit zu kritischer Solidarität mit solcherart dehumanisiertem Leben bietet. Auch wird auf die kritisch-diagnostischen Fähigkeiten 193 utopischer Entwürfe nicht verzichtet werden können, wenn sie im besten Sinne selber Momente des Humanum einfangen und damit aus diesem Potential heraus ex negativo entlarvend wirken können. Bereits an diesem kurzen Seitenblick zeigt sich die enge Verbindung von Hoffnung, respektive Utopie und sittlichem Handeln auf das Deutlichste. „In dieser kritischen Funktion liegt auch die Hauptbedeutung utopischen Denkens für die Theologie heute. Auch wenn das Zeitalter der großen Utopien vorüber ist, ermöglicht die in seinem Wesen verankerte Fähigkeit, einen utopischen Standort zu beziehen (H. Plessner), es dem Menschen immer wieder, in ein kritisches Verhältnis zu seinen Lebensverhältnissen zu treten und seine Existenz als Ganze mit positiven oder negativen Gesamtdeutungen zu konfrontieren. Mit Utopien als regulativem Prinzip kann er kriti- 189 Vgl. SAAGE, R., Politische Utopien der Neuzeit, Darmstadt 1991, der Utopien unter anderem als eine am bonum commune orientierte Form der Kritik der sozio-politischen Verhältnisse begreift und eine geschichtliche Entwicklung ausmachen will angefangen bei den Vorläufern im platonischen Staatsideal, über Renaissance und Reformation, bis hin zu Absolutismus, Aufklärung und industrieller Revolution, während er mit dem 20. Jahrhundert die Vollendung der klassischen Utopietradition datiert und in deren Erbe negative und postmaterielle Utopien zu beobachten meint, die das im klassischen Begriff zum Ausdruck kommende Ideal als entzaubert und mit Unterdrückungsmechanismen versehen entlarvt und schließlich die inhärente Fortschrittsidee als deformiert erlebt, wiewohl er der Versuchung, das utopische Denken als Ganzes zu verabschieden, widersteht. Vgl. auch Kapitel II in dieser Arbeit. 190 Vgl. STOSCH, K. VON, Utopie (Art.) in: FRANZ, A. / BAUM, W. / KREUTZER, K. (Hrsg.), Lexikon philosophischer Grundbegriffe der Theologie, Freiburg im Breisgau 2003, 422. 191 Vgl. STOSCH, Utopie, 423. 192 Ich möchte vorrangig nicht von Utopie als einer spezifischen (literarischen, philosophischen, etc.) Form sprechen, wiewohl der Begriff in dieser Weise verwendet werden kann, sondern von einem utopischen Potential, einer utopischen Potentialität, wonach dieser eine mögliche Realität bzw. eine reale Möglichkeit benennt, die aber noch keinen realen, faktischen Ort (gr. ο ὐ τόπος ) hat in dieser Welt, aber (aus ethischer Perspektive) sinnvollerweise einen Ort haben sollte, realisiert werden sollte. Ein utopisches Potential kann schließlich verschiedene Formen annehmen, in denen sich das Potential quasi materialisiert, wobei vorrangig Bewusstsein bzw. (ethische) Reflexion und (Handlungs-) Wirklichkeit vermittelt werden, näherhin ethische Theorie und sittliche Praxis. 193 Vgl. etwa MAURER, A., Utopien: Seismographen gesellschaftlicher Verhältnisse, in: Erwägen - Wissen - Ethik 16 / 3 (2005), 313-315. <?page no="172"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 172 sches Potential gegen jede innerweltliche Verzweckung und Festlegung seiner Existenz entwickeln und Offenheit für die ganz anderen Möglichkeiten Gottes gewinnen.“ 194 Wiewohl die Utopie 195 imVerdacht steht, die postmoderne Skepsis mitbegünstigt zu haben, wird im Rücken des Pragmatismus und der Anti-Utopie 196 der Ruf nach einer neuen Zeit begründeter und reflektierter Hoffnung laut werden, wobei die Theologie bleibend dazu aufgerufen ist, gegen alle verdinglichenden Instrumentalisierungstendenzen und gegen den Glauben an die Machbarkeit menschlichen Glücks, wenn er (wieder) im Gewand der Utopie daher kommt, aus dem eigenen Hoffnungskerygma heraus die kritische Auseinandersetzung zu suchen. Denn „gegen die Verheißung innerweltlicher Erlösung besteht sie auf dem eschatologischen Vorbehalt, indem sie daran festhält, dass das göttliche Erlösungshandeln am Ende der Geschichte keine bloße Erfüllung menschlicher Erwartungen darstellt und alles von Menschen Realisierbare übersteigt.“ 197 Für den Begriff gilt aber: Utopien bezeichnen gesellschaftlich-geschichtliche Hoffnungen. Die Illusion dagegen hat keinen Anhalt an der Realität und kann auch keinen haben, sie ist „nicht realitätsfähig“. Die Frage wird sein, woher wir das wissen können, denn es wird noch als Kernbestand christlicher Hoffnung zu entfalten sein, über das Wissbar- Erwartbare hinaus Offenheit für das Unverhoffte und nicht zu Wissende zu zeigen. Als mögliche Kriterien können aber bereits festgehalten werden, dass es nicht widervernünftig sein kann, nicht unsittlich und nicht unserer Erfahrung widersprechend. Der Wunsch ist Funktion des Willens und Visualisierung eines erstrebenswerten Objekts, Zustandes oder Erlebnisses. Hoffnung ist kein Produkt unseres Willens bzw. wird vom Willen nicht hervorgebracht, wiewohl Hoffnung diesen benötigt für Entscheidungen und für die Realisierung dessen, was sie vergegenwärtigt als Hoffnungsgut. Im Jargon von HEIDEGGER könnten wir sagen: „Wünschen nichtet.“ Wir bleiben im Wunsch letztlich stecken, kommen auch handlungsmäßig nicht weiter als bis zum Wunsch selbst und dessen Artikulation. Wünschen ist eigentlich eine „gewissheitslose“ Tat, da ich nicht über den Wunsch und damit nicht über mich hinauskomme. Wünschen ist damit nicht Ausdruck humaner Selbsttranszendenz wie es das Hoffen ist, sondern eher im Gegenteil, da es zur Fixierung auf den Wunsch bzw. das Wünschbare führt und damit zur Verge- 194 Vgl. STOSCH, Utopie, 423. 195 Gelegentlich ist auch statt von Utopien von sogenannten Heterotopien die Rede. So bietet sich etwa MICHEL FOUCAULTS Konzept der Heterotopien, der „anderen Räume“, in denen die alltäglichen Gesetzmäßigkeiten außer Kraft gesetzt sind (z.B. Klöster), als Denkfigur an, ein Verhältnis von Welt und Gegenwelt zu formulieren, wobei FOUCAULT vorrangig den utopischen Körper und den Kontext menschlicher Liebe vor Augen hat, aber die Herkünftigkeit vom Utopiekonzept unübersehbar ist. Vgl. FOUCAULT, M., Die Heterotopien, Frankfurt am Main 2005. 196 Vgl. FLEISCHER, H., Utopie post-utopisch verortet, in: Erwägen - Wissen - Ethik 16 (2005) 3, 302-303. Politische Groß-Utopien haben sich im Sinne von Systemkonkurrenzen (vermeintlich) historisch überlebt und sind (verfahrens-) pragmatisch domestiziert worden, aber dennoch kann und will der Mensch immer wieder einen utopischen Standort einnehmen (vgl. A. GEHLEN) und dadurch Distanz zu den eigenen Lebensverhältnissen gewinnen und damit jeder Festlegung auf bestimmte Verhältnisse wehren und ein diesbezüglich kritisches Potential bewahren. Die Frage wird sein, woraus sich inhaltlich diese Standorte speisen und wie sie legitimiert werden können. Vgl. auch WASCHKUHN, A., Warum der klassische Utopiebegriff nicht ausreicht, in: Erwägen - Wissen - Ethik 16 (2005) 3, 341-342. 197 Vgl. STOSCH, Utopie, 424. <?page no="173"?> 2. Etymologische, begriffliche und religionswissenschaftliche Einlassungen 173 genständlichung unserer selbst. Wünsche mobilisieren daher auch nicht, höchstens die Hoffnung, mit der die Erfüllung der Wünsche wiederum belegt ist. Dennoch benötigt Hoffnung den Willen, um konkret zu werden, sich quasi selbst in die Tat umzusetzen. Der Wunsch bleibt passiv ohne Hoffnung, während der Wille der Hoffnung sprichwörtlich Arme gibt und Beine macht. 198 Die Erwartung wird gerne mit der Hoffnung verwechselt, ist aber grundlegend davon zu unterscheiden. Erwartungen versuchen, eine Zukunft rational vorwegzunehmen und stellen daher ein auf Wissen gegründetes Verhältnis der Zukunft gegenüber dar (Verhältnis erster Ordnung), die dadurch kontrolliert werden soll durch Planung und Prognose 199 . Sie kennt daher auch eine Verwandtschaft mit dem menschlichen Willen. Hoffnung dagegen versucht, sich zu allem Erwartbaren noch einmal ins Verhältnis zu setzen (Verhältnis zweiter Ordnung) und dieses zum Ganzen des Lebens in eine positive Relation zu setzen. Erwartung ist der voluntaristische Teil der Hoffnung, der also, der etwas will. Anders gesagt: Erwartung setzt auf Zielerreichung, Hoffnung ist offen auf anderes als die empirisch-faktische Zielerreichung, da sie nämlich auf die Sinnhaftigkeit abzielt. Hoffnung oder Verzweiflung stellen sich also ihrerseits noch einmal ins Verhältnis zur Erwartung. Sehnsucht dagegen betont die emotionale, gefühlsgetragene Seite eines erstrebenswerten Objekts, Zustandes oder Erlebnisses, wobei die personale Komponente ein Schwergewicht hat. Wird Sehnsucht als Komponente der Hoffnung verstanden, dann vertritt sie den Teil, der die Entbehrung 200 , die Differenz der Spannung, das Noch-Nicht des Hoffnungsgutes oder des Sehnsuchtsgutes, um dessentwillen ja gehofft und gesehnt wird, ganzheitlich erlebt und mitunter gelitten wird 201 . Aber für die Entwicklung von Hoffnung zentral ist, dass sie nach dem erhofften Gut auslangen lässt. 202 Sehnsucht bringt die Gegenwärtigkeit des Ersehnten im Status des emotional getragenen Entbehrens auf den Begriff, wohingegen die Hoffnung selbst das Gelingen vor Augen hat. Sehnsucht vermag quasi die Hoffnung zu wecken und trägt sie emotional. 203 Sehnsucht ist in gewisser Weise 198 Wünschen kann daher stilisiert auch als Form der Haben-Orientierung begriffen werden, Hoffen als Seins-Orientierung. Bitten und Hoffen sind personal, mit Bezug von Person zu Person. Wünschen ist sachorientiert und gegenständlich. Wünschen führt daher im Extrem zur Infantilisierung und Paternalisierung, setzt keinerlei Selbsteinsatz voraus und damit keine vertrauende Gewissheit. 199 Vgl. PICHT, G., Prognose, Utopie, Planung. Die Situation des Menschen in der Zukunft der technischen Welt, in: Ders., Vorlesungen und Schriften Bd. VIII (Zukunft und Utopie), hrsg. v. EISENBART, C., Stuttgart 1992, 1-42, hier 27: „Prognose ist Antizipation der Zukunft durch Theorie. Planung ist Antizipation der Zukunft für die Praxis.“ 200 Eine etymologische Wurzel der Sehnsucht verweist auf die Begriffe Gestirn, Stern, d.h. eine Art Orientierung, die wir aber nie ganz erreichen. 201 Etwa die Sehnsucht nach einer neuen Welt, einer anderen Welt, die Sehnsucht nach einem anderen Leben, einem sinnvollen (guten) Leben. 202 Nicht umsonst wird im Rahmen geistlicher Begleitung große Aufmerksamkeit darauf gelegt, die womöglich verschütteten Sehnsüchte des Probanden wieder zu wecken und im Rahmen der Gottesbeziehung geistlich zu verankern, zu deuten und fruchtbar zu machen. Vgl. etwa SCHAUPP, K., Gott im Leben entdecken. Einführung in die Geistliche Begleitung, Würzburg 3 1996, 46-56. 203 Vgl. SCHMID, W., Wer will schon in der Wirklichkeit leben? Über die menschliche Grunderfahrung namens Sehnsucht, in: Psychologie heute, März 2007 (34. Jg.), 27-31. Schon Augustinus war genau dieser Meinung, wenn er betonte: „Wonach wir keine Sehnsucht haben, kann weder Gegenstand unserer Hoffnung noch unserer Verzweiflung sein.“ Zitiert nach MOLT- <?page no="174"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 174 ein vitales Agens der Hoffnung selber, das wir zwar kultivieren können, das aber letztlich vorgefunden wird. Sehnsucht ist eine noch unbestimmte Hoffnung, die der Hoffnung die Richtung und den Weg weist. 204 Sehnsucht kann als Schubmotivation im Rahmen der Zugmotivation der Hoffnung betrachtet werden. Zuversicht kann schließlich als der Teil der Hoffnung bezeichnet werden, der - emotional getragen - einer Erwartung oder einem Ausgang mit positiver Sicherheit beziehungsweise Gewissheit entgegenblickt. Zuversicht ist mithin die positive Gewissheit dem gegenüber, was in der Sehnsucht (emotional gefärbt) entbehrt wird. Hoffnung ist mithin gnoseologisch die Basis der Zuversicht. Hoffnung entlässt quasi aus sich Zuversicht. Und Zuversicht ist dabei konkrete Hoffnung, personalisierte Hoffnung, weswegen man dieselbe personale Hoffnung haben kann, aber nicht dieselbe personalisierte Zuversicht. Zuversicht gibt mithin den Grad der Erfüllungsgewissheit an. Zuversicht betont dabei die Hoffnungs-Gewissheit, die Sicherheit in der Hoffnung - ohne selbst ein sicheres Wissen 205 zu sein. Optimismus ist dagegen eine einseitige (ungedeckte) Erwartung der Erfüllung. Zuversicht ist Hoffnung mit hoher Gewissheit, Optimismus ist dagegen eine Erwartung, daher streng genommen gar keine Hoffnung. Diese grundlegende Handlungskategorie, als die sie im Folgenden differenziert ausgewiesen werden soll, verknüpft mithin mehrere Haltungen und Haltungsaspekte (Sehnsucht, Verlangen, Vertrauen, Geduld, etc.) miteinander und bündelt sie auf erstrebenswerte Ziele hin, die sich unter philosophischer Perspektive wiederum finalisieren lassen auf ein höchstes (denkbares) Ziel, von dem her alle partikulären Handlungsziele ihre Richtung und ihre Legitimität gewinnen und das die Einheit und schließlich die Verstehbarkeit menschlicher Handlungswirklichkeit ermöglicht. Nicht umsonst wurde und wird daher die komplexe Kategorie der Hoffnung auch im Rahmen der Tugendethik rubriziert, da diese in der Lage ist, praktisch anschlussfähig zu sein an alle Theologumena, die für menschliche Handlungswirklichkeit von Bedeutung sind. Das kann als erster Hinweis dafür dienen, dass Hoffnung handlungstheoretisch am gesamten Spektrum eines psychologischen Handlungsablaufs Anteil hat: Volition - Emotion, Kognition - Motivation - Intention - Evaluation. 206 Insgesamt bezeichnet der Begriff eine ganzheitliche und damit umfassend handlungsleitende Ausrichtung des Menschen auf Zukunft hin. Im Medium der Hoffnung verhält sich der Mensch positiv zur Zeitlichkeit seiner Existenz, in der Hoffnung vollzieht er sie geradezu - auf der Basis des Humanum sogar in ihrer Hochform. Hoffnung ist immer wieder begleitet von Zweifel, Angst und Sorge, ihr Gegenteil ist die Verzweiflung, die Hoffnungslosigkeit und im schlimmsten Fall die Depression. Im engeren Sinne wird mit ihr auch ein erhofftes Einzelnes benannt, ein Hoffnungsgut, wie etwa MANN, J., Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie, Gütersloh 13 1997, 19. 204 Nicht umsonst legen neben der Hl. Schrift viele spirituelle Traditionen des Christentums großen Wert darauf, die Sehnsucht im Menschen zu wecken bzw. wachzuhalten. So etwa AU- GUSTINUS in seinem berühmten Kommentar zum Vater-Unser. „Wenn wir sprechen: Zukomme uns dein Reich, so wird dieses Reich zwar kommen, ob wir es wünschen oder nicht, aber wir regen durch dieses Wort unsere Sehnsucht nach diesem Reiche an, damit es für uns komme und wir in ihm zu herrschen verdienen.“ Vgl. AUGUSTINUS, A., Ad Probam, PL 33, 501f, XI 21. Vgl. ebenso sein doppelsinniges Wort: homo desiderium dei. 205 Vgl. MOLTMANN, Theologie der Hoffnung, 332: „Zuversicht meint niemals das garantierte Wissen um ausgemachte Fakten, sondern immer Aussicht nach vorne und ein Sich-der- Zukunft-Versehen.“ 206 Vgl. Kapitel VI und VII in dieser Arbeit. <?page no="175"?> 2. Etymologische, begriffliche und religionswissenschaftliche Einlassungen 175 Gesundheit, Erfolg und Ähnliches. Hoffnung ist daher „die der Angst und der Verzweiflung entgegengesetzte Grundempfindung des Menschen, seine Fähigkeit, sich durch eine Vergegenwärtigung möglichen zukünftigen Geschehens in seinem aktuellen Empfinden und Verhalten zu bestimmen und zu steuern.“ 207 Christliche Hoffnung ist „neben Glaube und Liebe eine der drei theologischen Kardinaltugenden; begründet im Heilswerk Gottes in Jesus Christus und in der Erwartung von dessen Wiederkunft.“ 208 Selbstbewusstes, menschliches Leben ist mithin ohne Hoffnung nicht denkbar 209 , da der Mensch sich immer auch zeitlich erlebt und versteht und damit zukunftsoffen ist, während er in der Hoffnung gerade ein zukünftiges, noch ausstehendes Dasein reklamiert und mit seiner Gegenwart verbindet, weswegen hier mit E. JÜNGEL 210 dafür plädiert werden soll, Hoffnung in Anlehnung an die Analysen von M. HEIDEGGER 211 zur Kategorie der Sorge als Existential zu bezeichnen. Damit ist allerdings zunächst nur eine formale Struktur gewonnen. Erst das Worauf eines konkreten Hoffnungsgutes, das Worin eines Hoffnungsgrundes und das Wie des Vollzugs humaner (christlicher) Hoffnung lassen die Bestimmbarkeit des Daseins durch Hoffnung verstehbar werden. c) Religionswissenschaftliche und interreligiöse (Dialog-) Hinweise In Zeiten des vielfach geforderten interreligiösen Dialogs 212 kann es aus mehreren Gründen als äußerst vielversprechend gelten, sich über Ziel und Grund jeweils in den Religionen verankerter Hoffnungsfiguren auszutauschen, wiewohl solche Bemühungen noch äußerst selten zu finden sind und daher zu den Desideraten der Hoffnungsforschung insgesamt gezählt werden müssen. 213 Der Vorteil eines solchen Vorgehens kann unter anderem darin gesehen werden, dass er basal anthropologisch beginnt, als erfahrungsoffen gelten kann und dennoch mitten in die zentralen Kategorien von Welt, Geschichte, menschlichem Dasein und Transzendenz zielt. 214 Die religionswissenschaftlichen bzw. religionsgeschichtlichen Perspektiven können dabei dahingehend zusammengefasst werden, dass vorrangig das jeweilige Kerygma der Religionen thematisiert wird, das sich 207 Vgl. DIE ZEIT. Lexikon in 20 Bänden, Bd. 6, Hamburg 2005, 458. 208 Vgl. ebd. 209 Vgl. auch das lat. Sprichwort: Dum spiro, spero. - Solange ich atme, hoffe ich. 210 Vgl. JÜNGEL, E., Hoffnung. Bemerkungen zum christlichen Verständnis des Begriffs, in: Edith Stein Jahrbuch Bd. 5. Das Christentum zweiter Teil, Würzburg, 1999, 55-62. 211 Vgl. HEIDEGGER, M., Sein und Zeit, Tübingen 13 1976. 212 Vgl. KÜNG, H., Weltfrieden durch Religionsfrieden. Antworten aus den Weltreligionen, München 1993. FRANK, J., Anleitung zum Dialog. Grundlagen interreligiöser Verständigung, Frankfurt am Main 2007. 213 Als Zielhorizont könnte mit KONRAD HILPERT von einem „Hoffnungshorizont der einen Menschheit“ gesprochen werden. Vgl. HILPERT, K., Solidarität (Art.), in: NHThG Bd. IV München 2005, 157. Der große Forschungsbedarf zum Thema „Hoffnung interreligiös“ zeigt sich auch darin, dass selbst im Wörterbuch der Religionen (hrsg. von AUFFARTH, C. / KIP- PENBERG, H.G. / MICHAELS, A., Stuttgart 2006, 228) diese Perspektive vollständig fehlt. 214 Vgl. STRIET, M., Faszination Buddhismus oder der Glaube an Christus, in: Internationale katholische Zeitschrift Communio, 36 (2007), 182. „Der religionstheologische Dialog, der in einer Welt, die längst auch regional globalisiert und deshalb religiös pluralisiert ist, unausweichlich ist, hat [ ... ] anthropologisch anzusetzen. Die Frage nach der Hoffnung, die den Menschen erfüllen kann, im interreligiösen Dialog - freilich mit der gebotenen Demut - zu besprechen, entspringt nicht einem Kulturimperialismus, sondern ist Ausdruck einer universalen Menschenverbundenheit.“ <?page no="176"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 176 auf die grundlegende Bestimmung des Menschen bezieht und die Ausständigkeit seiner Entwicklungen formuliert und dabei Grundkonstanten des damit korrespondierenden Weltbildes untersucht, genauso wie damit verknüpfte Gesellschaftsbilder. Die Prüfung auf Kompatibilität mit dem als moralisch gut Erkannten wird dabei immer wichtiger. Unter interreligiöser Betrachtungsweise sind insbesondere zwei Perspektiven hervorzuheben: Wer über Hoffnung in den Religionen nachdenken will, der hat zum einen die zentralen anthropologischen Vorstellungen darüber zu erheben, was der Mensch ist bzw. was er sein soll, der hat die zentralen Überlegungen zur Bestimmung des Menschen zu eruieren, denn daran zeigt sich, was der Mensch für sich selbst erhofft, welchen Entwicklungen er sich potentiell als Gattung und als Individuum unterstellt und was damit sinnverheißend handlungswirksam werden kann, wenn der Mensch sich daran bindet. Menschheitlich humane Hoffnungen drücken letztlich die Bestimmung des Menschen aus und anthropologische Bestimmungen des Menschen stellen letztlich Hoffnungsfiguren dar. Zum anderen sind die zentralen Vorstellungen zur Zeit und Zeitlichkeit menschlicher Existenz philosophisch und theologisch zu erheben, denn alle Handlung, auch hoffnungsbasierte Handlung vollzieht sich auf dem Hintergrund einer bestimmten Zeitmatrix, deren Auswirkungen auf die Handlungspraxis des einzelnen Menschen noch ausführlich zu diskutieren sein werden. Man denke nur an die lineare (Fortschritts-) Zeit des von der griechischen Antike geprägten Abendlandes, der lineare zwischen Schöpfung und Erlösung ausgestreckte Geschichtsgeist des Christentums, respektive die vorrangig zyklischen und kosmischen Zeitvorstellungen der vorder- und zentralasiatischen Religionen, etwa des Hinduismus, oder Reste davon, wie sie sich im christlichen Kirchenjahr finden. Es scheint nun unter religionswissenschaftlicher Betrachtung naheliegend, religiöse von nichtreligiöser Hoffnung dadurch zu unterscheiden, dass der Bezugshorizont religiöser Hoffnung über das diesseitige Leben hinaus erweitert wird, der erwartete vollkommene Zustand mithin nicht identisch ist mit einem erfüllten Leben in dieser Welt, und dass es eine Funktion der Religion ist, jene Hoffnung zu begründen, die imstande ist, über das diesseitige Leben hinauszureichen. Diese Unterscheidung setzt aber zumindest einen bestimmten Religionsbegriff voraus, der nicht unumstritten ist 215 , der aber an dieser Stelle vorausgesetzt werden muss. Die Begründung religiöser Hoffnung kann mythisch, rituell, geschichtlich und rational erfolgen. Antike Mysterienkulte wurden überwiegend mythisch-rituell begründet, wohingegen das Christentum eher geschichtlich argumentiert durch die Bezugnahme auf Leben, Tod und Auferstehung Jesu, aber auch rational durch beständige theologische Versuche der Explikation beispielsweise des Auferstehungsglaubens (vgl. 1 Kor 15, 19ff.). Der Impetus zur rationalen Darlegung möglicher Gründe für die Vernunftgemäßheit des Glaubensvollzugs ist dem Christentum geradezu inhärent 216 . Der Gegenstand religiöser Hoffnung im Allgemeinen ist nun nicht 215 Vgl. BERNER, U., Hoffnung I. Religionswissenschaftlich und religionsgeschichtlich (Art.), in: BETZ, H.D. / BROWNING, D.S. / JANOWSKI, B. / JÜNGEL, E. (Hrsg.), Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft Bd. 3 (RGG 4 ), vierte, völlig neu bearbeitete Auflage, Tübingen 2000, 1822. 216 Vgl. dazu die fundamentaltheologische Bedeutung von 1 Kor 3,15, die unter anderem auf die Rechenschaftspflicht christlicher Hoffnung vor dem Forum kritischer Vernunft hinweist. <?page no="177"?> 2. Etymologische, begriffliche und religionswissenschaftliche Einlassungen 177 einfach mit Unsterblichkeit oder Auferstehung 217 gleichzusetzen, denn was für das Christentum den zentralen sachtheologischen Grund aller Hoffnung darstellt, erweist sich unter religionswissenschaftlicher Perspektive als höchst vielfältig. Religiöse Hoffnung bezieht sich vielmehr immer auf bestimmte (religiöse) Vorstellungen, die - bei aller Vielfalt in den Religionen - einen Zustand der Unvollkommenheit konzeptualisieren, den es zu überwinden gilt 218 . Gemeinsam ist dabei der Bezug des menschlichen Daseins auf ein Unbedingtes und einer daraus abgeleiteten Erlösungsbedürftigkeit, die schließlich Heilserwartungen aus sich hervorbringt und dann mit diesen parallelisiert wird. Eschatologische Erwartungen sind dabei keinesfalls ausschließlich bei monotheistischen Religionen anzutreffen. Neben einer basalen Affirmation zum Ganzen von Leben und Welt werden auf diese Weise fast zwangsläufig Hoffnungsfiguren entwickelt, die im Rahmen einer Protologie oder Eschatologie gegenwärtiges Leben deuten sollen und menschliches Handeln fundamental bestimmen. Einige wenige Hinweise mögen genügen: Soweit eine allgemeine Betrachtung auf Stammesreligionen und den theoretischen und praktischen Orten, die sie der Hoffnung zuweisen, denkbar ist, findet man sich schnell auf mythische und kultische Zusammenhänge verwiesen, die das jeweilige religiöse Geheimnis einer Gemeinschaft bezeichnen wollen und insbesondere in Verbindung mit dem Ahnenkult Hoffnungsfiguren durchsichtig machen. Diejenigen, die die raumzeitlichen Grenzen der jeweiligen Gemeinschaft etwa durch Tod überwunden haben, ziehen die Erwartungen und Hoffnungen der Stammesmitglieder auf sich, indem sie als Ahnengeister mit spezieller Macht ausgestattet werden und sich schließlich der Kult im Dienste ihrer Rückkehr oder ihrer wirkmächtigen Anwesenheit als „Lebend-Tote“ an ihnen ausrichtet. „Alle konkreten Erwartungen im Blick auf Dieses oder Jenes wurzeln in solchem prinzipiellen Hoffen auf die bleibende Zugehörigkeit und damit auf die Wiederkehr derer, von denen die Lebenden hier zwar unterschieden, aber niemals geschieden sind. […] Hoffnung, so lässt sich sagen, gründet für den Stammesangehörigen in der Zuversicht, dass dieser übergreifende Zusammenhang ‚funktioniert‘ und ihm innerhalb desselben die Kräfte zufließen, deren es zu einem sinnerfüllten Leben immer wieder bedarf.“ 219 Alle Angehörigen eines Stammes stehen daher innerhalb eines Zusammenhangs, dessen Zugehörigkeit Zugang zu Lebens-Ressourcen vermittelt und der daher vermittelt über (Ahnen-) Kult und Ritus Gegenstand von Hoffnung ist und in dem sich quasi die wahre Bestimmung des Menschen spiegelt, er aber auch verloren gehen kann. Das Christentum kennzeichnet zentral eine Reich-Gottes-Hoffnung, die in der Gestalt des Messias zum Ausdruck kommt. Gegen die Gnosis wurde dabei schon früh sowohl der Realismus, als auch der Universalismus entsprechender Vorstellungen (im Sinne einer real-futurischen Eschatologie) verteidigt und allererst freigelegt. In philosophischer Diktion kann daher die Spannung von Partikularität auf der einen Seite und tät 220 auf der anderen Seite als zwei bleibende strukturelle Komponenten christlicher 217 Vgl. BRÜCK, M. VON, Ewiges Leben oder Wiedergeburt? Sterben, Tod und Jenseitshoffnung in europäischen und asiatischen Kulturen, Freiburg im Breisgau 2007, wobei BRÜCK gerade die nötige systematische Sorgfalt mitunter vermissen lässt. 218 Vgl. BERNER, U., Hoffnung I. Religionswissenschaftlich und religionsgeschichtlich, 1822: „Die Bezugsgröße der Hoffnung, der unvollkommene Zustand, dessen Aufhebung erstrebt wird, ist in der Geschichte der Religionen ganz verschieden bestimmt worden.“ 219 Vgl. BÜRKLE, H., Hoffnung bei fremden Religionen, in: Internationale katholische Zeitschrift Communio 13 (1984), 333-342, 340-341. 220 Vgl. TALMON, S., Partikularität und Universalismus in der biblischen Zukunftserwartung, in: FALATURI, A. / STROLZ, W. / Ders. (Hrsg.), Zukunftshoffnungen und Heilserwartungen in <?page no="178"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 178 Hoffnungstheologie von Anfang an festgehalten werden. Nochmals anders formuliert: „Geschichtliche Vorläufigkeit und eschatologische Endgültigkeit“ 221 sind in ihrer Parallelität Grundkonstanten des christlichen Hoffnungsdenkens. Inhaltlich ist damit eine Vorwegnahme der Erlösung in der noch unerlösten Welt bezeichnet. Dabei wird insbesondere die „Leidensgestalt des Messias“ 222 zur Hoffnung für die Leidenden erhoben und der neutestamentliche Jesus Christus als Erfüllung und Identifikation mit der zunächst altisraelitischen, dann jüdischen respektive alttestamentlichen Messiaserwartung betrachtet. Kennzeichnend für das Christentum sind nun nach K. STOCK 223 Gerichtserwartungen als Ausdruck der Hoffnung auf Gerechtigkeit und Recht, aber auch Auferstehungshoffnungen und Hoffnung auf ewiges Leben. Das Christentum argumentiert dabei grundlegend mit der Vorstellung einer erlösungsbedürftigen Menschheit (und Schöpfung), die dem „Gesetz der Sünde und des Todes“ verfallen ist. Gegenstand christlicher Hoffnung ist nun die Befreiung vom Gesetz und die Vorstellung eines auf der Auferstehung Jesu basierenden ewigen Lebens bei Gott selbst bzw. in liebender Vereinigung mit ihm, der unio mystica. Das heißt, christliche Hoffnung basiert auf einem personalen Gottesbezug und einem personhaften, absoluten Gottes-Du. Dabei ist für die vorliegende Fragestellung nach handlungsrelevanten Hoffnungsstrukturen insbesondere das „Zugleich von Gegenwart und Zukunft“ 224 in der Reich-Gottes-Hoffnung, wie sie im NT zum Ausdruck kommt, festzuhalten, wiewohl das Ineinander der Zeitperspektiven auch jüdischem Zeitempfinden durchaus entsprechend ist. Im Buddhismus wird menschliches Leben als vom Leiden und von der Illusion bestimmt betrachtet, sodass der Gegenstand der (Heils-) Hoffnung quasi ex negativo als Bestimmung der Ursache des Leidens und zugleich als Weg zu deren Überwindung und Aufhebung vorgestellt wird. Das bedeutet auch das Ende (der Illusion) eines individuellen (begehrenden) Ichs, das unter anderem als Quelle des Leidens identifiziert wird. Das Medium dieses Weges ist bekanntlich die Praxis der Meditation, die in Anlehnung an eine christliche Theologie des Gebetes 225 als „schweigende Hoffnung“ 226 bezeichnet werden kann. Hoffnung kann daher im Kontext buddhistischer Weltdeutung und entsprechenden monotheistischen Religionen, Freiburg im Breisgau 1983, 21-48, der insbesondere darauf hinweist, dass der biblische Zeitbegriff in Früher und Später denkt, nicht in Erstes und Letztes und der sowohl die Geschichtsgebundenheit, als auch die universalistische Messias- und Heilszeiterwartung der biblischen Zukunftshoffnungen betont. 221 Vgl. SEEBAß, H., Geschichtliche Vorläufigkeit und eschatologische Endgültigkeit des biblischen Monotheismus, in: FALATURI / STROLZ / TALMON, Zukunftshoffnungen und Heilserwartungen in den monotheistischen Religionen, 49-80, womit SEEBAß zugleich eine Begründung biblischer Theologie versucht. 222 Vgl. MOLTMANN, J., Die messianische Hoffnung im Christentum, in: Concilium 10 (1974), 592-596, hier 594. „Durch die Leiden des Messias bekommen die Leidenden messianische Hoffnung.“ 223 Vgl. STOCK, K., Einheit und Zukunft Gottes. Zum Verständnis der eschatologischen Erwartung des Glaubens, in: FALATURI / STROLZ / TALMON, Zukunftshoffnungen und Heilserwartungen in den monotheistischen Religionen, 11-20. 224 Vgl. FRANKEMÖLLE, H. , Der Glaube an die Wiederkunft Christi als Vollendung des Gottesreiches. Überlegungen zum Grund christlicher Hoffnung, in: FALATURI / STROLZ / TAL- MON, Zukunftshoffnungen und Heilserwartungen in den monotheistischen Religionen, 81- 120, hier 92. 225 Vgl. Kapitel VII 2 in dieser Arbeit. 226 Vgl. DUMOULIN, H., Sinnfrage und Sinnerfahrung im Buddhismus, in: PAUS, A. (Hrsg.), Suche nach Sinn - Suche nach Gott, Graz 1978, 269-308, hier 307. <?page no="179"?> 2. Etymologische, begriffliche und religionswissenschaftliche Einlassungen 179 der Lebenspraxis als eine Form des Abschiednehmens und der Loslösung vom Verhaftetsein an die Bedingungen des irdischen Daseins charakterisiert werden. Damit kommt in der Hoffnung die Selbstbefreiung aus den Fesseln einer welthaft verstrickten Existenz zum Ausdruck. Im Hinduismus geht es um die Befreiung von einem determinierenden Karma, um die Befreiung aus dem Rad der Wiedergeburt (Samsara) und die Rückkehr des Endlichen und damit auch des wahrhaftigen Selbst zum Ewig-Einen. Dabei scheint die Befreiung vom Tod „für den alten Hinduismus das beherrschende Anliegen gewesen zu sein“ 227 . Dennoch lassen sich je nach historischem Kontext und hinduistischer Strömung folgende Hoffnungsbegriffe identifizieren: Die Zeit der Veda etwa ist von Hoffnung auf Unsterblichkeit gekennzeichnet, die der Upanishaden von der Hoffnung auf Vereinigung mit dem Absoluten, die wiederum Unsterblichkeit, Freiheit und Glück bedeutete, wobei sie mitunter persönlich-individuell, mitunter als unpersönliches Aufgehen in der Gottheit verstanden wurde. Letztere kennt auch monistische und solipsistische Deutungen der Nicht-Zweiheit, die streng genommen keine Eschatologie darstellen, da hier nur ein „Auslöschen der Illusion von einer nicht existierenden Zweiheit“ 228 vorliegt. Gemeinsam ist aber allen hinduistischen Hoffnungsfiguren die Vorstellung von der Befreiung aus dem unerbittlichen Gesetz der Tat und einer daran orientierten Vergeltungskausalität zur „Wahrheit von der Identität des einzelnen mit dem Absoluten“ 229 . Daran knüpfen dann Hoffnungen auf Änderung der Lebensumstände durch Identifikation und Reintegration in die Gottheit an. Für den Bereich des Judentums und des Alten Testaments sind insbesondere messianische Hoffnungen ausschlaggebend gewesen - bis heute 230 , wobei der Messias als Repräsentant einer Heilsordnung verstanden wird. Daneben sind natürlich die prophetischen Verheißungen an das auserwählte Volk zu erwähnen, aber auch die Bundestheologien 231 , die Landverheißung und Ähnliches mehr. Ein außerordentlich reiches Spektrum von Verheißungen und Hoffnungsfiguren sind identifizierbar, personifiziert in der Gestalt des Messias und dann unter christlicher Perspektive als „erfüllt“ geglaubt oder modifiziert weiter als Hoffnungsspannung offen gehalten in der Person Jesu von Nazareth. Allein der Messiasbegriff kennt dabei ein Spektrum von prophetischen bis apokalyptischen Deutungen, wobei in jüdischer Lesart bis heute nachwievor eine „vormessiani- 227 Vgl. RAYAN, S., Die eschatologische Hoffnung des Hinduismus, in: Concilium 5 (1969), 50-54, hier 50. 228 Vgl. RAYAN, Die eschatologische Hoffnung des Hinduismus, 50. 229 Vgl. ebd. 51. 230 Vgl. in Auswahl STÖLTING, U., Messias / Messianismus (Art.), in: EICHER, P. (Hrsg.), Neues Handbuch Theologischer Grundbegriffe, 3 2005, 60-68. SCHWEID, E., Jewish Messianism: Metamorphoses of an Idea, in: MARC SAPERSTEIN (ed.), Essential Papers on Messianic Movements and Personalities in Jewish History, New York et al. 1992, 53-70. PETUCHOWSKI, J., Die messianische Dialektik im Judentum, in: Kairos 23 (1981), 66-74. SCHOLEM, G., Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum, in: Ders., Judaica (I), Bibliothek Suhrkamp Bd. 106, Frankfurt am Main 1963, 7-74. HALM, H., Die Schia, Darmstadt 1988, 34-56. MA- YER, R. / RÜHLE, I., War Jesus der Messias? Geschichte der Messiasse Israels in drei Jahrtausenden, Tübingen 1998, 149-179, 180-196 („Demokratisierung des Messianischen im Chassidismus“ und „Der Lubawitscher Rebbe - ein Messias aus Brooklyn“) und die entsprechenden Ausführungen des alttestamentlichen Kapitels. 231 Vgl. GROß, W., Zukunft für Israel. Alttestamentliche Bundeskonzepte und die aktuelle Debatte um den Neuen Bund, Stuttgart 1998. <?page no="180"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 180 sche“ 232 Weltdeutung favorisiert wird, die ihrerseits eine spezifische Hoffnungsspannung zu erkennen gibt, die sich von der genuin christlichen unterscheidet. Eine basale Dialektik der jüdischen Messiashoffnungen, wie sie analog im Christentum zu finden ist, zeigt sich in der Frage nach dem Verhältnis der Sache des Menschen und der Sache Gottes bei der Beförderung der messianischen Vollendung, oder anders gesagt nach der Befähigung des Menschen und dem Eingreifen Gottes. Die Messiaserwartungen des modernen Judentums sind nun stark historisch-politisch 233 konnotiert durch den Zionismus. Insgesamt dagegen zielt die jüdische Messias- und Reich Gottes-Erwartung auf ein weltgeschichtlich bedeutsames Heilsziel 234 . Ein Problem stellte dabei zunächst die zeitliche Terminierung und die territoriale Bindung dar, da das Heilsziel durchaus irdisch und gesellschaftlich gedacht wurde, später dann aber schnell utopischen Charakter annahm und es zu einem Überstieg der empirisch-realen Welt kam - bis hin zu Konzepten der messianischen Erlösung, der Heilsgeschichte und der damit verknüpften Bundestheologie und insgesamt des Zustandes der Erfüllung der Verheißungen. So etwa wurde von „diesem Äon“ und dem (unvergänglichen) „kommenden Äon“ 235 gesprochen. Was die im Kontext der vorliegenden Fragestellung wichtige Zeittheorie anbelangt, kann ein „linearer Geschichtsverlauf mit gottgesetztem Heilsziel als Vollendung der Geschichte“ 236 festgestellt werden, wobei eine aufschlussreiche Spannung zwischen „endgeschichtlichinnerweltlichem Heilsziel und überirdischen Heilserwartungen“ 237 zu beobachten ist. Diese messianische Idee bzw. genauer die Idee der Messiaszeit ist nun historisch wirksam bis in die Neuzeit 238 in Form „säkularisierter messianischer Hoffnungen“ 239 , etwa im Zionismus und im Reformjudentum, ganz abgesehen von Strömungen des orthodoxen Judentums. Wiewohl für den Islam deutliche Forschungsdesiderate vorliegen, kann beispielhaft die „Hoffnung auf den Madhi“ 240 genannt werden, der - zunächst als historische Gestalt - im Rahmen mittelalterlicher islamischer Theologie den rechtmäßig eingesetzten Kalifen bezeichnete, dann aber zu einer messianischen Gestalt wurde, letztlich zu „einer von 232 Vgl. PETUCHOWSKI, J., Die messianische Hoffnung im Judentum, in: Concilium 10 (1974), 589-592, hier 592. 233 Vgl. MAGONET, J., Angst und Hoffnung in jüdischer Erfahrung, in: Una Sancta 31 (1976), 125-135. 234 Vgl. MAIER, J., “Messianische Zeit” und “Kommende Welt” in der Zukunftserwartung des Judentums, in: FALATURI / STROLZ / TALMON, Zukunftshoffnungen und Heilserwartungen in den monotheistischen Religionen, 139-168. 235 Vgl. IV. Buch Esra. 236 Vgl. MAIER, “Messianische Zeit” und “Kommende Welt”, 139-168, hier 158. 237 Vgl. ebd. 148. 238 Vgl. etwa GRAETZ, M., Jüdischer Messianismus in der Neuzeit, in: FALATURI, A. / STROLZ, W. / TALMON, S. (Hrsg.), Zukunftshoffnungen und Heilserwartungen in den monotheistischen Religionen, Freiburg im Breisgau 1983, 167-188. Vgl. auch LAPIDE, P., Judentum: Befreiung und Hoffnung. Von der ‚heiligen Unzufriedenheit‘ der Juden und den Folgen, in: LM 21 (1982), 540-543, der als Kennzeichen der messianisch geprägten Hoffnungskraft des Judentums insbesondere den Realismus (sic! ), das (Gott-) Vertrauen und die Weltbejahung hervorhebt, neben einem Universalismus - alles auch grundlegende Aspekte eines christlichen Hoffnungsbegriffs. 239 Vgl. PETUCHOWSKI, Die messianische Hoffnung im Judentum, 590-591. 240 Vgl. MÖHRING, Η., Die Hoffnung auf den Madhi. Ein Charakteristikum islamischer Geschichte, in: KURSBUCH DIE ZEIT Ausgabe 164. Von Propheten und anderen Unglücksraben 2 / 2006, 38-51 und die dort angegebene Literatur. <?page no="181"?> 3. Griechisch-Römische Antike: Entdeckung der Zukunft als Erwartung 181 Gott geleiteten Person“ 241 zur Verwirklichung einer absoluten Gerechtigkeit. Daneben ist auf die strikt monotheistische (praktische) Theozentrik des Islam zu verweisen und auf die prophetische Gestalt des Mohammad selbst. Der Islam kennt daher streng genommen keine Heilsmittlerschaft wie das Christentum als Folge dieser Theozentrik. Als wichtige Verständnisbasis islamischer Eschatologie ist schließlich noch das Ziel der Überwindung der Zwei-Welten-Theorie 242 von Diesseits und Jenseits, von heilig und profan zu erwähnen. Hier existieren eine Fülle von Hoffnungen auf Gericht, Auferstehung und eine Antwort auf den Tod. Auch in frühen griechischen Mythen der Antike, wie beispielsweise dem Prometheus- Mythos, wurde Hoffnung (ἐ λπίς ) als zur menschlichen Existenz gehörig beschrieben. 243 Die römische Religion personifizierte darüber hinaus die Hoffnung und betrachtete sie etwa als göttliche Macht 244 , die trotz ihrer Ambivalenz eine wichtige Funktion für die Erhaltung des Staates hatte. Diese Variabilität der Gegenstände und Güter religiöser Hoffnung im Allgemeinen ist in den Kontext der Argumentation der vorliegenden Arbeit zu den strukturellen Voraussetzungen eines christlichen Hoffnungsbegriffs im Besonderen dahingehend zu integrieren, dass von einer allgemeine Hoffnungsstruktur menschlicher Existenz auszugehen ist, der Mensch als „hoffnungsoffen“ und „hoffnungsfähig“ bezeichnet werden muss, wobei diese Struktur mit höchst unterschiedlichen Vorstellungen über Mensch, Welt und Gott konzeptualisiert wird. Einhellig erfährt aber der Hoffende eine ausgezeichnete Dignität durch Teilhabe an einem (weltgeschichtlichen, kosmischen, etc.) Zusammenhang, einer Gemeinschaft, einer Erfahrung oder einer Einsicht, der oder die die verheißene Größe allererst eröffnet. Dabei scheinen insbesondere Religionen diejenigen Orte zu sein, die zur Bildung von großen Hoffnungen prädestiniert sind, da sie universal denken, und das Ganze von Welt, Mensch und Gott vor Augen haben und zugleich Bezug nehmen auf konkrete, partikuläre Geschichte und die individuelle Existenz des Einzelnen und diese beiden Enden des Spektrums im Rahmen ihrer Hoffnungstheorien und Hoffnungspraxen aufeinander zu beziehen suchen. 3. Griechisch-Römische Antike: Entdeckung der Zukunft als Erwartung „Wer Unerhofftes nicht erhofft, kann es nicht finden: unaufspürbar ist es und unzugänglich.“ 245 In der griechischen Antike 246 kam ἐ λπίς zunächst und ursprünglich nicht die eindeutig positive Bedeutung zu, die der Begriff nach der Begegnung mit dem Christentum be- 241 Vgl. FALATURI, A., Tod - Gericht - Auferstehung in koreanischer Sicht, in: Ders. / STROLZ / TALMON, Zukunftshoffnungen und Heilserwartungen in den monotheistischen Religionen, 121-138, hier 122. 242 Vgl. FALATURI, Tod - Gericht - Auferstehung in koreanischer Sicht, 128ff. 243 Vgl. HΕSIOD, Werke und Tage V, 96 und AISCHYLOS, Prometheus V, 250. 244 Vgl. CICERO, De legibus II, 28. 245 HERAKLIT B 18, in der Übersetzung von SNELL. 246 In der Darstellung einiger Grundzüge des griechisch-antiken Hoffnungsbegriffs kann aufgrund der Fülle des Materials und des begrenzten Umfangs der vorliegenden Arbeit nur kursorisch vorgegangen werden. Es wird auf die materialreiche Arbeit von WOSCHITZ, Elpis, verwiesen, insbesondere Themenkreis 1: Die Vorstellung von der Hoffnung in der Literatur der griechisch-römischen Antike, 63-218. <?page no="182"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 182 kommen hat: “E λπίς bezeichnet allgemein und formal den Zukunftsbezug des einzelnen Menschen, dem der neutrale Begriff ‚Erwartung‘ entspricht. Die inhaltliche Qualifikation geht entweder aus dem jeweiligen Textzusammenhang hervor oder wird durch Attribute wie αγαϑή (gut), κακή (schlecht) hinzugefügt.“ 247 Für den Griechen gehört es mithin zum Menschen, dass er ἐ λπίδες hat, d.h. Erwartungen von der Zukunft, die dann freudig oder schlimm konnotiert sein können. So lassen sich zwei Schwerpunkte in der Übersetzung des griechischen Begriffs 248 benennen: 1) Hoffnung, Vertrauen auf etwas oder jemanden, daneben Erwartung; aber auch Bezeichnung des Gegenstandes, auf den jemand seine Hoffnung setzt. 2) Meinung, Vermutung, Ahnung; aber auch Furcht, Befürchtung, Besorgnis. Das führte schließlich zu der später häufigen Entgegensetzung von ἐ λπίς und ϕόβος . Etymologie und Wortbildung lassen auf die ursprünglich indogermanische Wurzel uelim Sinne von wollen, wünschen schließen 249 , was für den Kontext der vorliegenden Arbeit von großem Interesse ist. Ferner ist auf eine aufschlussreiche etymologische Verbindung des griechischen Stammes ελπ mit dem lateinischen Stamm vel- (lat. vel-le) hinzuweisen, bei dem die Wurzel ελ um ein π erweitert wurde. Dieser findet sich dann wieder im griechischen ἔ λδομαι - wünschen, begehren, sich sehnen (1) bzw. erwünscht sein (2), aber auch mit α -Ablaut im griechischen ἐ πάλπνος - unerwünscht, genauso wie im lateinischen volup (voluptas) - vergnüglich, angenehm 250 . Dabei gilt mit den Analysen von ALBRECHT DIHLE: „Im Griechischen wird mit der Wortgruppe ελπ zunächst einfach bezeichnet, dass man etwas nach Erfahrung, Eindrücken, allgemeiner Welterkenntnis etc. erwarten oder vermuten kann. Ein Gegensatz Vermutung - Wissen ist dabei nicht immer indiziert, erhält aber durch die Philosophie Bedeutung, die bloßes Meinen ( δόξα , ἐλπίς ) dem beweisbaren Wissen vom Seienden entgegensetzt. […] Für alle hellenistische Philosophie ist rechtes Wissen vom Aufbau der Welt einzige Grundlage rechten Handelns, das nicht auf Hoffen, Erwarten oder Vermuten gründen darf. Deshalb die Abwertung von Wörtern wie πίστις , δόξα , ἐλπίς gegenüber den Ausdrücken des Wissens seit spätklassischer Zeit.“ 251 Mit anderen Worten: Es gibt eine nachweislich sehr frühe sprachliche Verbindung des griechischen Hoffnungsbegriffs mit weiteren griechischen und lateinischen Wörtern, die (1) ein Wollen, Wünschen und Sehnen (positiv oder negativ) ausdrücken, aber auch (2) den Aspekt des Angenehmen und Freudigen hervorheben. 252 Beide Aspekte scheinen sich mit dem Bedeutungsspektrum der ἐ λπίς verbunden zu haben, was u.U. darauf schließen lässt, dass sie sich auf der Basis von Selbsterkenntnis, Reflexion und praktischem Hoffnungs-Vollzug als zur Hoffnung gehörig zu erkennen gaben. Festzuhalten bleibt aber unter dieser Perspektive, dass Hoffnung etwas mit menschlichem Willen und menschlicher Motivation zu tun hat und dass sie 247 Vgl. LINK, H.-G., Hoffnung (Art.), in: RITTER, J. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. III, Darmstadt 1974, 1157. 248 Vgl. dazu auch MENGE, H. (Hrsg.), Menge-Güthling. Langenscheidts Großwörterbuch Altgriechisch - Deutsch unter Berücksichtigung der Etymologie, Berlin / München 28 1994, 229. 249 Vgl. NEBE, G., ἐ λπίς (Art.), in: COENEN, L. / HAACKER, K. (Hrsg.), theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament Bd. I, Wuppertal 1997, 997. 250 Vgl. MENGE, Menge-Güthling, 226, 229. 251 Vgl. DIHLE, A. / STUDER, B. / RICKERT, F., Hoffnung (Art.), in: DASSMANN, E. et al. (Hrsg.), Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt Bd. XV, Stuttgart 1991, 1159-1250, hier 1160. 252 Vgl. auch STOWASSER, J.M. / PETSCHENIG, M. / SKUTSCH, F. (Hrsg.), STOWASSER. Lateinisch - deutsches Schulwörterbuch, München 1994, 557. <?page no="183"?> 3. Griechisch-Römische Antike: Entdeckung der Zukunft als Erwartung 183 mit dem Affekt der Freude in Verbindung gebracht werden kann, aufgrund ihres Charakters aber als Nicht-Wissen latent relativiert wird. 253 Entscheidend ist dabei, dass sich der Begriff zwar im Laufe seiner antiken Bedeutungsgeschichte positiviert hat, u.a. aufgrund von Rationalisierungen, aber nie seine Ambivalenz verlieren wird und letztlich über einen Bezug zu einer wie auch immer verstandenen „Ordnung der Natur“ Bestätigung oder Widerlegung erfährt. Zunächst kann daher zweifelsohne festgehalten werden: „Es gibt für griechisches Denken keine Instanz außerhalb des Kosmos, auf die sich Hoffnung und Vermutung oder Wissen beziehen könnte.“ 254 Dennoch entwickelten sich schließlich Vorstellungen, die Hoffnung auf Unsterblichkeit (der Seele) oder ein ewiges Leben kennen. War noch in vorsokratischer Zeit ἐ λπίς eine richtige Einschätzung und Vorhersage der Zukunft schlicht eine Meinung, so unter platonischem Einfluss später zunehmend eine von Vertrauen geprägte Erwartung eines glücklichen Lebens nach dem Tod. „So begriff man ἐ λπίς nicht mehr bloß als Vorahnung der Zukunft, sondern als Aussicht auf ein in diesem Leben vorbereitetes besseres Dasein nach dem Tod.“ 255 Im Folgenden sollen nun diese eher allgemeinen begriffsgeschichtlichen Analysen auf einzelne Epochen antiker Geistesgeschichte erweitert und einige herausragende Gestalten dieser Zeit auf ihre Reflexionen zur Hoffnung befragt werden: a) Lyrik, Prosa und die attische Tragödie In der sogenannten archaischen Zeit, für die die Epik HESIODS oder die Lyrik PINDARS stehen kann, betrachtete man die ‚Erwartungen‘ der ἐ λπίς äußerst skeptisch, denn es wurde weniger über den Wirklichkeitsbezug dieser Erwartungen nachgedacht als über die fundamentale (Selbst-) Befangenheit derselben bzw. des Menschen durch dieselben. PINDAR 256 beispielsweise warnt vor den neidischen und unverschämten Erwartungen der Sterblichen, die er mit egoistischen und eingebildeten Gedanken vergleicht. HESIOD spricht auf dieser Linie von „leeren Hoffnungen“ 257 , die in ihrem Optimismus durch nichts gerechtfertigt seien und sich alsbald als Täuschungen erweisen würden. Hier zeigt sich v.a. eine kritische Distanz gegenüber der stets unsicheren Zukunft und den auf sie gerichteten Meinungen, Annahmen und Erwartungen, wie sie ähnlich auch in der späteren Stoa zu beobachten ist. 258 „In diesen Äußerungen wird die Befürchtung laut, das Vertrauen auf die Zufälligkeit und Unberechenbarkeit der unbekannten Zukunft werde sich als Illusion erweisen. Denn die Göttin τύχη durchkreuzt nur allzu oft die trügerischen Erwartungen der Menschen.“ 259 Wer über die Bedeutung der antiken Tragödie für den Umgang mit und die Ausbildung von Hoffnungen nachdenken will, ist zudem auf die Poetik von ARISTOTELES verwiesen, der von einer doppelten Aufgabe der Tragödie 253 Diese Verbindungen sind nicht nur für den griechisch-lateinischen Sprachraum nachweisbar, sondern gelten sowohl für andere Vertreter der indogermanischen Sprachenfamilie, als auch für den althochdeutschen, niederhochdeutschen und gotischen Bereich. 254 Vgl. DIHLE / STUDER / RICKERT, Hoffnung, 1160. 255 Vgl. ebd. 1165. 256 Vgl. PINDAR Isthm. II, 43; Nem. XI, 42ff.; Pyth. I, 83; Olymp XII, 5ff. Vgl. dazu auch die umfangreiche Studie von THEUNISSEN, M., Pindar. Menschenlos und Wende der Zeit, München 2000. Ebenso LACHNIT, O., Elpis. Eine Begriffsuntersuchung, Diss. Tübingen 1965, 50f. 257 Zitiert nach LINK, Hoffnung, 1157. 258 Vgl. EPIKTET, Fragment 30 und MARC AUREL 3, 14. 259 Vgl. LINK, Hoffnung, 1157. <?page no="184"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 184 sprach, wonach sie durch Mitleid und Furcht zur Reinigung (katharsis) der Leidenschaften führen soll. 260 Die zentrale Wirkung ist eine Katharsis. Bezogen auf die vorliegende Fragestellung: Die antike Tragödie verwirrt und desillusioniert (vermeintlich allzu) trügerische Hoffnungen, nimmt Hoffnungen quasi zurück, wo sie gehegt wurden und ist so Ausdruck der bleibenden Ambivalenz griechischer Hoffnung. 261 Sie legt leere Hoffnungen frei und zeigt zugleich die Anfälligkeit des Menschen genau dafür augenfällig auf - mit allen Konsequenzen. Die antike Tragödie stellt u.a. den Versuch der szenischen und narrativen Entlarvung vermeintlich trügerischer Hoffnungen dar. Sie dient der Verarbeitung von enttäuschter Hoffnung und der Balancierung von darauf bezogenen ambivalenten Erfahrungen. Darin ist sie Ausdruck eines bestimmten Menschenbildes. Mit anderen Worten: Den Verstand 262 nicht betören zu lassen - auch nicht von trügerischer Hoffnung - kann als Kernbestand griechischer Anthropologie aufgefasst werden. 263 Die attische Tragödie variiert dieses Thema und die Schwierigkeit, dieser Forderung nachzukommen mitsamt den Fehlern, die dabei gemacht werden, in vielfältigen Formen. Dabei wird immer wieder auf die Dialektik von Wirklichkeit und Hoffnung reflektiert und auf die Anfälligkeit des menschlichen Verstandes für Täuschungen und Irrtümer, woraus mitunter teils fatalistische, teils tröstlich-überschwängliche Bewertungen abgeleitet werden 264 , an die nicht wenige moderne Philosophen und Dichter in ihren Kulturreflexionen wieder anzuknüpfen versuchen. 265 So vermag sogar eine Veränderung im Verständnis der Tragödie sich auch in Veränderungen in der Bewertung von Hoffnung zeigen. Ein positiveres Verständnis der ἐ λπίς bietet die klassische Zeit der Tragiker und der Historiographen, insbesondere durch HERODOT, THUKYDIDES und AISCHYLOS geprägt, indem sie dem rationalen Moment der Hoffnung zum Durchbruch verhilft. Den Wirklichkeitsbezug der Hoffnung in den Vordergrund rückend wird diese im Unter- 260 Vgl. ARISTOTELES, Poetik, 6, 2. 261 Nicht umsonst ist die Tragödie bis heute ein Trauerspiel, das nicht das Gelingen in Szene setzt, sondern das Scheitern. 262 Vgl. SPIRA, A., Angst und Hoffnung in der Antike, in: AINIGMA (FS für HELMUT RAHN), hrsg. von VARWIG, F.R., Heidelberg 1987, 129-181, hier 144. „In ihren Augen ist die Hoffnung (elpis) eine Erwartung von Gutem, die, da nicht vom Verstand, sondern von der Begierde entfacht, als Wunschdenken geistige Blindheit bedeute und damit die niemals versiegende Hauptquelle menschlichen Leids. Der Gegensatz dazu ist die Einsicht, das Denken - Begriffe, für deren Verständnis uns daher gerade die griechische Sicht der Hoffnung zum Schlüssel werden kann.“ 263 Vgl. SPIRA, Angst und Hoffnung in der Antike, 141. „Die griechische Frage lautete nicht: Was gibt uns die Energie auszuhalten und zu wagen, auch wenn sich Hindernisse auftürmen? Diese Energie sahen sie überall und nur zu sehr im Übermaß am Werk. Ihre Frage war: Was ist es, das den menschlichen Tatendrang überall über das Ziel schießen lässt und Einzelne wie ganze Städte und Völker in das Verderben reißt? Das war ihre Frage und dabei stießen sie auf die Hoffnung, die unseren Energien […] den Weg der gefahrlosen Erfüllung vorspielt.“ Daher konnte die griechische Hoffnung nicht etwas schlechthin Gutes sein, zu dem sie mit dem Christentum wurde. Erneut SPIRA: „Ja, man darf sagen, wo immer bei den Griechen ernsthaft, und das heißt ethisch oder politisch, von dem Phänomen der menschlichen Hoffnung die Rede ist, wird sie negativ gesehen, als ein ‚schlimmer Wegführer‘, wie Sokrates gesagt haben soll (Stob. 4, 46,21), ‚ins Fehlverhalten‘.“ Vgl. ebd. 141. 264 Vgl. materialreich WOSCHITZ, K.M., Elpis - Hoffnung. Geschichte, Philosophie, Exegese, Theologie eines Schlüsselbegriffes, Wien / Freiburg / Basel 1979, 130ff. 265 Vgl. Kapitel IIΙ in dieser Arbeit. <?page no="185"?> 185 schied zum Wissen als rational begründete Wahrscheinlichkeit charakterisiert. 266 „Die stärkere Betonung des Wirklichkeitsbezuges führt auch zum positiven Verständnis der ἐ λπίς als auf Wahrscheinlichkeit beruhender Annahme, Vermutung oder Voraussicht.“ 267 DEMOKRIT unterscheidet deswegen auf dieser Reflexionsstufe klar zwischen der zutreffenden Voraussicht der richtig Denkenden und den unmöglichen Erwartungen der Einsichtslosen. Für ihn „sind die ἐ λπίδες der Toren unerfüllbar, die der Verständigen und Gebildeten aber besser als der Reichtum der Ungebildeten [...]; denn die ἐ λπίς der Klugen, die dann freilich nicht mehr ἐ λπίς im ursprünglichen Sinne ist, gründet sich nicht auf die τύχη , sondern auf die wissenschaftlich zu erforschende ϕύσις . Die eigentümlich griechische Tendenz, sich durch verstehende Einfügung in die Ordnung des Kosmos gegen die Zukunft zu sichern, findet hier charakteristischen Ausdruck.“ 268 Demgegenüber gibt es aber auch eine an dieser Stelle zumindest erwähnenswerte Tendenz, mit der Hoffnung eine überrationale Kraft zu verbinden, was sich exemplarisch an einem Zitat von HERAKLIT zeigen lässt: „Wer nicht erwartet das nicht zu Erwartende (das was über jedes Erwarten hinausgeht), wird es nicht ausfindig machen das Unauffindbare (Unfassliche) und Unzugängliche.“ 269 Der Inhalt der Hoffnung, über den ein rationales Verständnis der ἐ λπίς als Voraussicht noch nichts aussagt, kann nun erfreulich oder unerfreulich sein. PLATON spricht von „bösen Erwartungen“ 270 bzw. „angenehmer Erwartung“ 271 , AISCHYLOS dagegen spricht von der „Voraussicht der Furcht“ 272 , wiewohl zu dieser Zeit die erfreulichen Zukunftserwartungen überwiegen, die inhaltliche Bestimmung der Hoffnung als eines „vom subjektiven Interesse geleiteten Vertrauens auf positive zukünftige Möglichkeiten“ 273 aber erst bei SOPHOKLES nachweisbar ist 274 . Charakteristisch für dieses Verständnis der Hoffnung ist insbesondere die positive Funktion für den Menschen 275 , aber auch die Interpretation bzw. Reduktion des Wahrscheinlichkeitsbezuges als (bloße) Möglichkeit und die Beteiligung des subjektiven ἔ ρως . An der insgesamt negativ konnotierten Interpretation der Hoffnung bei den Griechen vermögen diese Vorstellungen freilich nichts Grundlegendes zu ändern. 276 Eine 266 Bereits HOMER gebraucht in diesem Sinne des Für-wahrscheinlich-Haltens das Verbum ἔ λπεσϑαι . Vgl. dazu WOSCHITZ, Elpis, 67-75, der allein für die homerische Verwendung dieses Verbums drei Bedeutungsbereiche ausmacht, die sich auch später immer wieder finden lassen: (1) Der rational-estimative Aspekt; (2) der emotiv-expressive Bedeutungswert und (3) die Verwendung als fürchten, befürchten und mit Besorgnis erwarten. 267 Vgl. LINK, Hoffnung, 1157. 268 Vgl. BULTMANN, R., ἐ λπίς A. Der griechische Hoffnungsbegriff (Art.), in: KITTEL, G. (Hrsg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament Bd. II, Stuttgart 1935, 517. Weiter oben wird auch auf die Bedeutung der Hoffnung als Triebkraft der τέχνη hingewiesen, die zu Wohlstand führt. 269 Zitiert nach BULTMANN, ἐ λπίς A., 516. 270 Vgl. PLATON, Resp. 330e. 271 Vgl. PLATON, Resp. 331a. Vgl. auch ARISTOTELES, Soph. El., 303ff. EURIPIDES, Hel. 1031. 272 Vgl. AISCHYLOS, Agam. 1434. Vgl. auch THUKYDIDES, VII, 61, 2. 273 Vgl. LINK, Hoffnung, 1157. 274 Vgl. SOPHOKLES, Rex Oed. 835, ebenso LACHNIT, Elpis, 72ff. 275 Vgl. THUKYDIDES II, 62,5 und V, 103, wo er von der Kraft der Hoffnung in ausweglosen Situationen spricht, in denen er sie als „Trost in der Gefahr“ bezeichnet. 276 Vgl. SPIRA, Angst und Hoffnung in der Antike, 160-161. „Zwar kennen die archaischen Dichter durchaus auch eine ‚gute‘ Hoffnung - ‚eine gute Hoffnung‘, sagt Pindar (Isth. 8, 15), ‚soll am Herzen liegen dem Mann‘, und auch der mit seinen ungerechten Richtern rechtende Hesiod ‚hofft‘, dass Zeus es zum Äußersten des Unrechts nicht kommen lassen werde (Op. 273) -, 3. Griechisch-Römische Antike: Entdeckung der Zukunft als Erwartung <?page no="186"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 186 erste Systematisierung des mit ἐ λπίς bezeichneten Zukunftsbezuges des Menschen kann nun folgende drei Gesichtspunkte unterscheiden: Antike Zukunftsbezüge im Medium der Hoffnung (1) Hoffnung als illusionäre Annahme (2) Hoffnung als rationale Voraussicht (3) Hoffnung als existenzielle Zuversicht Abbildung 4 Der antike Zukunftsbezug mittels der Hoffnung b) PLATON „Schön ist das Wagnis und die Hoffnung groß.“ 277 In PLATONS Philosophie ist die Sache der Ethik mit einer Fülle philosophischer Reflexionen verwoben und noch nicht explizit disziplinär getrennt wie bei ARISTOTELES. 278 Es können dennoch mindestens zwei zentrale Kontexte ausgemacht werden, die für die vorliegende Fragestellung von Interesse sind: (1) Die Bedeutung der Ideen(-lehre) als Frühform eines kosmologisch-mythologisch geprägten philosophischen Hoffnungstopos und die damit im Zusammenhang stehende Anamnesislehre. (2) Eine dezidierte Verwendung findet ἐ λπίς im Umfeld des Dialogs Philebos und seiner Auseinandersetzung mit den Lüsten. PLATON spricht zwar vergleichsweise häufig von ἐ λπίς und das auf einer bereits mehr rationalen Ebene als sein Umfeld, hält aber zunächst daran fest, dass es sich um eine Annahme und Einschätzung der Zukunft gegenüber handelt, die neutral betrachtet wird und mal Furcht, mal Zuversicht werden kann. Von solchen Voraussichten hegt der Mensch im Laufe seines Lebens eine ganze Fülle. 279 Lust und Schmerz köndoch das Interesse der mahnenden Dichter lag nun einmal bei unseren selbstverschuldeten Leiden. Darum blieb auch ihr Blick, wenn sie nach deren Ursachen forschten, immer wieder an der blinden Hoffnung haften, die dem vernunftlosen Begehren den Weg der Erfüllung verspricht. Was die Dichter hier sahen, wird später dann Aristoteles zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung machen und erklären, warum das von der Sinneswahrnehmung ausgehende Begehren immer nur das Gegenwärtige zu sehen vermag und so, durch seine Unfähigkeit, ‚das Künftige zu sehen‘, das jetzt Angenehme auch für das schlechthin Angenehme hält, hingegen der auf das Handeln gerichtete ‚praktische‘ Verstand auch das Künftige ins Auge fassen und bedenken kann, ob das jetzt Angenehme auch dann noch das Angenehme sein wird.“ 277 Vgl. PLATON, Phaidon 114 d. 278 Vgl. auch THOME, J.U.V., Psychotherapeutische Aspekte in der Philosophie Platons, Diss. Saarbrücken 1994, der anhand einer Fülle von Beispielen zeigen kann, dass in PLATONS Dialogen Präfigurationen moderner psychotherapeutischer Verfahren zu identifizieren sind, insbesondere wenn es um die „Sorge um die Seele“ geht ( ψυχῆς ἐπιμελεία ). Insgesamt kann als aufschlussreich für die vorliegende Fragestellung und als Bestätigung des hier vertretenen interdisziplinären Ansatzes festgehalten werden: „Die Frage nach der Art und Weise, wie das Leben zu führen sei, bezeichnet den Schnittpunkt von Psychologie und Ethik.“ Entsprechende Zielwerte sind schließlich sowohl sittlich konnotiert, als auch anthropologisch fundiert und dabei immer auch Gegenstand von Hoffnung. 279 Vgl. PLATON, Philebos, 39e, 40a. <?page no="187"?> 3. Griechisch-Römische Antike: Entdeckung der Zukunft als Erwartung 187 nen sich sodann sowohl im Angesicht von Vergangenheit, Gegenwart, wie auch Zukunft einstellen. 280 Wiewohl sich in PLATONS Ethik ein mythisches bzw. mythologisches Weltbild zeigt, das ein ganzes Pantheon für sich beansprucht, ein mitunter dualistisches Menschenbild und eine Vermittlung der entsprechenden anthropologischen Pole durch Emanationen favorisiert wird, bringt PLATON dennoch ἐ λπίς ausdrücklich mit der Idee der Unsterblichkeit zusammen, was schließlich wirkungsgeschichtlich Bedeutung erlangt hat. „In seinem Bemühen um Reinheit und in seiner Sehnsucht nach Wahrheit fühlt er sich angesichts des Todes zur ἀγαϑή ἐ λπίς berechtigt, einst die Wahrheit zu erkennen.“ 281 Die Vorstellung der Rückkehr in einen paradiesisch anmutenden Zustand nach dem Tod vermittelt dabei Trost. 282 Platon hat nun in seinem Dialog PHILEBOS eine aufschlussreiche Zuordnung der drei menschlichen Zeitbezüge (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) zu drei fundamentalen Erkenntnisvollzügen 283 beschrieben, die bis heute aufgrund ihrer Plausibilität Anwendung finden: dem Vergangenheitsbezug ordnet er das Gedächtnis zu ( μνήμη ), dem Gegenwartsbezug die Wahrnehmung ( πισϑῆσις ) und dem Zukunftsbezug die Hoffnung (ἐ λπίς ) 284 . Dabei gelten die drei Kräfte der Hoffnung, des Verlangens ( ἐπιϑυμία ) und der Vorfreude ( προχαίρειν ) als Vorgriffe der Seele auf Zukünftiges. PLATON unterscheidet nun vier Formen von Erwartungen: gute, böse, wahre und falsche, die auf die guten bzw. schlechten Vorstellungen und die entsprechenden richtigen bzw. irrigen Meinungen über die Zukunft zurückzuführen sind. Für die nachfolgend interpretierten Reflexionen PLATONS zu den Lüsten und deren Zusammenhang zur Hoffnung im PHILEBOS sind die Analysen von H.G. GADAMER 285 aufschlussreich, wobei sie insbesondere helfen können, frühe systematische Spuren des Hoffnungsbegriffs zu identifizieren. PLATON unterscheidet in den einschlägigen Textpassagen des Dialogs 286 zwischen Verlangen, Hoffnung und Vorfreude und versucht nun, deren Verhältnisse zu bestimmen. Aus der Zuversicht auf das baldige Kommen des Verlangten oder der Gewissheit des Nichterlangens lässt sich nun für PLATON die Befindlichkeit des Daseins als Lust oder Unlust ableiten. Entscheidend ist mit GADAMER: „Im Verlangen ist man nicht in der Weise beim Verlangten, dass man sich über sein Seinwerden eine Meinung bildet und auf Grund dieser Meinung auf es hoffend sich freut oder verzwei- 280 Vgl. DIHLE / STUDER / RICKERT, Hoffnung, 1163. „Wer sich statt von Eigenliebe von Gerechtigkeit und richtigem Maß leiten lässt, kann mit solchen Erwartungen und Erinnerungen leben und darf mit der Hilfe der über den Menschen stehenden Götter rechnen (leg. 4, 718a; 5, 732 cd).“ 281 Vgl. ebd. 1164. 282 Vgl. PLATON, Phaidon, 107 d, 14c. 283 Vgl. PLATON Philebos 33c-34c, 39a-41b. 284 Vgl. zu dieser Unterscheidung erhellend R. BULTMANN, der mit PLATON darauf hinweist, „wie das menschliche Dasein nicht nur durch die das Gegenwärtige aufnehmende αἴσϑησις , sondern zugleich durch die μνήμη an das Vergangene und die Erwartung des Künftigen bestimmt ist, und zwar so, dass, wie das Gedenken an das Vergangene, so auch das Erwarten des Künftigen ( προχαίρειν und προλυπείσθαι ) nicht ein objektives Urteilen und Rechnen ist, sondern ein Für-Sich-Erwarten, Fürchten oder Hoffen, dessen Inhalt je aus dem erwächst, was der Mensch als seine eigentliche Möglichkeit versteht“. Vgl. BULTMANN, ἐ λπίς A., 516. 285 Vgl. GADAMER, H.-G., Platos dialektische Ethik. Phänomenologische Interpretationen zum Philebos, Hamburg 4 2000. 286 Vgl. PLATON, Philebos, 35d-36c als Reflexion auf ein Verständnis des Verlangens und der Vorfreude und 36b-41b als Reflexion auf „falsche“ Lust als grundlose Hoffnung. <?page no="188"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 188 felnd doppelt leidet. Vielmehr ist das Sein beim Verlangten vor aller Stellungnahme zu seiner Wirklichkeit angenehm, und umgekehrt gehört zum Entbehren nicht, dass man ohne Hoffnung auf das Eintreten des Verlangten ist, sondern nur, dass das Dasein vom Verlangen auf das gegenwärtige Bedürfen zurückgeholt ist.“ 287 Daher kann PLATON dieses Voraussein des Daseins beim Erwarteten als Lust oder Unlust bestimmen, wohingegen das Wonach des Verlangens an Erwartungen festgemacht wird, das sich schließlich in Hoffnung (-slosigkeit) zeigen kann. „Diese Vergegenwärtigung des Verlangten als eines zu Erhoffenden oder Nicht-zu-Erhoffenden bestimmt den Zustand des Verlangens als Lust oder Unlust. Die Lust des Verlangens ist eine Vorfreude, ein Modus des Seins zu Zukünftigem, der es nicht in seinem Zukünftigem belässt, sondern vorausgreifend in eine Gegenwart rückt.“ 288 Fassen wir kurz das Erreichte zusammen: Platonische Hoffnung kann als ein ontologisch gegründetes, entschiedenes und zugleich lustvoll zuständliches Sein auf Zukünftiges hin begriffen werden, das sich als Vergegenwärtigung zeigt, aber seinerseits nicht hinlänglich von der damit einhergehenden Befindlichkeit bestimmt wird - eher im Gegenteil. Es kann so etwas wie ein Vorcharakter der Seele ausgemacht werden, der sich darin zeigt, dass das Dasein immer auf etwas aus ist, bei Nichtgegenwärtigem ist, sodass auch die reine Gegebenheit einer Empfindung nicht hinreicht, um dieses Dasein zu konstituieren. 289 PLATON geht schließlich noch einen Schritt weiter, wenn er bemüht ist, falsche Lust als grundlose Hoffnung zu bestimmen - die Zuständlichkeit des Vollzugs ist schließlich von der Wahrheit des Intendierten zu unterscheiden, denn alle Affekte sind intentionaler Natur. „In der Hoffnung springt man nicht einfach auf ein Zukünftiges zu, sondern man hält sich im Aussein auf das Erhoffte gerade an Gegenwärtiges, das einem Hoffnung gibt - und sei es nur der Strohhalm, an den sich der Ertrinkende klammert.“ 290 Oder nochmal in anderen Worten: „Weil sich das Dasein im Hoffen und Sichfreuen auf etwas nicht aus einem gegenwärtig Gegebenen in seiner Befindlichkeit bestimmt, sondern im Sein zu Zukünftigem, sich auf seine Möglichkeiten verstehend, zu sich selbst ist, ist es in der Befindlichkeit des Hoffens immer schon aus dem Ganzen seiner Vergangenheit auf die Zukunft bezogen.“ 291 Diese wirkungsgeschichtlich folgenreichen Positionen platonischer Philosophie lassen sich mit H.-G. GADAMER in seinen Studien zu PLATONS Ethik wie folgt zusammenfassen, wobei insbesondere der Konnex von Hoffnungs- und Seinsvollzug und die damit einhergehende Abgrenzung zum bloßen Meinen-über-die-Zukunft von Bedeutung für den vorliegenden Kontext ist: „Was die Hoffnung als zu Erhoffendes entdeckt, 287 Vgl. GADAMER, Platos dialektische Ethik, 129. Weiter unten heißt es dann: „Streng genommen ist also das Verlangen nicht nur vor der Entscheidung, ob auf das Verlangte zu hoffen ist oder nicht, sondern grundsätzlich unabhängig von dieser Entscheidung.“ 288 Vgl. ebd. 130. 289 Vgl. ebd. 131. PLATON bestimmt nach GADAMER menschliches Dasein als „Sein zu Nichtanwesendem, Erwartetem. Weil das Dasein (hoffend oder verzweifelnd) immer schon zu Zukünftigem ist, ist das anwesende Pathos nicht alleinbestimmend für sein Befinden. Dies Sein zu Zukünftigem ist eine eigentümliche Möglichkeit der Seele, d.h. das Sein des Menschen ist charakterisiert durch die freie Möglichkeit, von sich aus etwas zu erhoffen oder zu befürchten. Hoffen auf und Verzweifeln an etwas sind also nicht - als Lust und Schmerz - einfache Gegebenheiten, nicht einfach das Anwesendsein von Vorfreude oder deren Gegenteil, sondern diese ihre Befindlichkeit konstituiert sich aus dem Entdeckendsein des Daseins.“ 290 Vgl. ebd. 137. 291 Vgl. ebd. 139. <?page no="189"?> 3. Griechisch-Römische Antike: Entdeckung der Zukunft als Erwartung 189 ist nicht in der Weise einer Voraussicht und Meinung über die Zukunft entdeckt, sondern es ist dem Dasein aus den Möglichkeiten, aus denen es sich als zu besorgenden versteht, in eigentümlicher Weise vorgegeben. Das Erhoffte ist immer als ‚gut‘ für den Hoffenden (bzw. den, für den oder mit dem man hofft) vermeint.“ Schließlich „soll damit charakterisiert sein, dass Wahrheit und Falschheit des Hoffens nicht Wahrheit und Irrtum einer Meinung über sie sind, sondern dass das Sein des Menschen dafür bestimmend ist, was einer hofft, und wie er hofft, eben weil Hoffen stets Sich-erhoffen und nicht bloßes Meinen ist.“ 292 Für PLATON weist mithin die ἐ λπίς , in der der ἔ ρως als Trieb zum Schönen und Guten wirksam ist, über den Tod hinaus. Nur als solche berechtigt sie zu „größten Hoffnungen“ 293 , indem sie eine Befreiung von der Welt in Aussicht stellt und das Streben nach letzter Wahrheit befriedigt. Eros kann dabei aufschlussreich als „Strebekraft der Hoffnung“ 294 bezeichnet werden. Der Philosoph (sic! ) kann daher bei „guter Hoffnung“ (ἐ υ έ λπις ) sein im Angesicht des Todes, vermag ihn doch die Hoffnung über den Tod hinaus zu tragen 295 , „da die Seele erst in der Ideenwelt zu ihrer Eigentlichkeit, der Unsterblichkeit, befreit und zur reinen Schau der Wahrheit und des wahren Guten gelangen wird“ 296 . Dieser über den Tod hinausweisende und jenseitsbezogene Hoffnungsbegriff spielt in der hellenistischen und spätantiken Religiosität eine große Rolle. Dabei wird den so genannten Mysterien, die dem Geweihten ein seliges Leben nach dem Tode bereiten, eine nicht unerhebliche Bedeutung zugemessen. Natürlich finden im Hellenismus auch ganz menschlich-irdische Hoffnungen Erwähnung, wenn durch sie beispielsweise Kriege gesteuert und entschieden werden, aber philosophiegeschichtlich bedeutsam wurde die antike Unsterblichkeitshoffnung. Diese Hoffnung auf Unsterblichkeit kann zunächst verständlich gemacht werden aus einer spezifischen Öffnung eines Fragehorizontes aufgrund eines spezifischen Verständnisses menschlichen Lebens: „Die Einsicht in die aporetische Verfassung des menschlichen Daseins legt jenen Fragehorizont frei, in dem die Hoffnung über den Tod hinaus Platz greift.“ 297 Wird bei ARISTOTELES die Eudaimonie als vorrangiges Ziel für ein innerweltlich gutes Leben vor Augen gestellt, wird diese von PLATON vergleichsweise selten verwendet. 298 Entscheidendes Strebens- und Hoffnungsziel bei PLATON ist stattdessen die Schau der Ideen als Rückkehr zum Ursprung und als „Verähnlichung mit Gott“ 299 . Auf diesem Weg „schmückt“ die Hoffnung die Seele. Diese gnoseologisch orientierte philosophische Soteriologie verfolgt mithin das „Ziel einer ‚Ähnlichwerdung‘ (ἐ ξομοι ῶ σαι ) des denkenden Subjekts mit der Idee. Auf diesem Weg der ‚Befreiung‘ durch die Läuterung des Denkens ist der Logos bzw. Nous Leiter. Die Hoffnung ist eingespannt in die Diastase von Idee und Eidos, Urbild und Abbild. Inhalt der Hoffnung ist die ‚Befreiung‘ des Logistikon der Seele als Teilhabe am transzendentalen Sein als seinem 292 Vgl. für beide Zitate ebd. 138. 293 Vgl. PLATON, Symposion 193d. 294 Vgl. WOSCHITZ, Elpis, 126. 295 Vgl. dazu aus den Dialogen des PLATON Symposion 193 d; Phaidon 64a, 67b, 67c-68b, 114c; Apologia 41c. 296 Vgl. LINK, Hoffnung, 1158. 297 Vgl. ebd. 119 und 120, wonach PLATON die Evidenz der Unsterblichkeitshoffnung in logischer, mathematischer und eben auch ethischer Gedankenführung aufzuweisen sucht. 298 Vgl. GIGON, O. (Hrsg.), Platon - Lexikon der Namen und Begriffe, Zürich 1975 ( 2 1987: Von Abbild bis Zeuxis. Ein Begriffs- und Namenslexikon zu Platon), 124-126, hier 125. 299 Vgl. PLATON, Theaitetos 176 b. <?page no="190"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 190 ‚Heil‘. Grund der Möglichkeit der Hoffnung ist bei Platon sowohl der παλαιός λόγος mythischer Tradition wie der philosophische Transzendentalismus.“ 300 Im Hintergrund entsprechender Vorstellungen kann die Platonische Ideenlehre identifiziert werden. Bezeichnete die Idee, idea, eidos, ursprünglich die „schöne, ansehnliche Gestalt“ 301 , war sie also mithin dem Bereich des Sehens und Ansehens zugeordnet, so wird sie im Rahmen ontologischer Betrachtungen im Bereich des reinen und unveränderlichen Seienden, des Ruhenden und Eindeutigen verortet. Damit deutet sich eine Parallelisierung mit dem menschlichen Geist (Nous) an, wonach dieser auch ein spezifisches Vermögen besitzt, das ein unveränderlich Seiendes ist, sodass er sich im Erkennen dieses Seienden seiner selbst vergewissert. Mit Blick auf die Ethik heißt das: „Gut und gerecht Handeln wird möglich durch den steten Hinblick auf die eine unveränderliche Idee des Guten und Gerechten.“ 302 Die Ideen repräsentieren mithin ein unveränderliches Seiendes, das einen von der Erfahrungswelt getrennten Bereich konstituiert. Der menschliche Geist, wenn und insofern er als unveränderliches Seiendes die Ideen zu erkennen vermag, wird seiner eigenen (unsterblichen) Prä- und Postexistenz ansichtig. So kann PLATON postulieren, dass „der Geist vor seinem Eintritt in die Erfahrungswelt die Ideen schon gesehen hat und sich in der Erfahrungswelt an sie zu erinnern vermag. […] Dann wird das Reich der Ideen, das der Geist vor seiner Einkörperung sah, zur wahren und ursprünglichen Heimat des Geistes als des Eigentlichen am Menschen, und das geschichtliche Leben wird bestimmt nicht bloß retrospektiv durch die Erinnerung an jene Heimat, sondern auch prospektiv durch die Hoffnung, nach dem Tode zu ihr zurückkehren zu können“ 303 . Somit ist der Bereich der Ideen Ziel der menschlichen Hoffnungen, „der Ort einer endgültigen Ruhe und einer Gewissheit, die mehr war als eine bloße wissenschaftliche Richtigkeit“ 304 . Mit anderen Worten kann prägnant formuliert 300 Vgl. WOSCHITZ, Elpis, 123. 301 Vgl. GIGON, Platon, 166. 302 Vgl. ebd. 168. Die Gerechtigkeit (vgl. ebd. 136-139) wird bei PLATON gerade im Unterschied zu modernen Auseinandersetzungen (vgl. etwa RAWLS, J., A theory of justice, Cambridge 1971 und in kritischer Auseinandersetzung aus der Perspektive katholischer Soziallehre BORMANN, F.-J., Soziale Gerechtigkeit zwischen Partizipation und Fairness. John Rawls und die katholische Soziallehre, Fribourg / Freiburg im Breisgau 2006), nicht als gesellschaftliche Tugend begriffen, sondern als Qualität der einzelnen Seele gegenüber der reinen Idee von Gerechtigkeit, an der es zu partizipieren gilt und deren letzter Garant die Gottheit ist. Das Gute (vgl. ebd. 153-157) dagegen ist das, wonach alle Menschen streben, sodass sich sämtliche Tugenden auf das Gute und das Tun des Guten zurückführen lassen. Die Idee des Guten ist daher auch die höchste Idee, dessen Anblick der Inbegriff menschlicher Eudaimonia ist. Das Gutsein bemisst sich daran, dass es das Bewahrende und im Sein Erhaltende und dieses allererst Ordnende ist, das Schlechte dagegen das Zerstörende. Das Gute kann daher auch nicht mehr hinterfragt werden: „Das Gute ist nicht Sein, sondern noch jenseits des Seins, es an Würde und Macht überragend“ (Vgl. PLATON, Staat, 509 b). Damit dient das Gute der Begründung des Seins überhaupt und als Antwort auf die Frage: Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Weil es für das Seiende gut ist, zu sein. Ferner wird alles Erkennbare durch das Gute erkennbar. „Das Gute bzw. die Idee des Guten ist also gleichzeitig Grund des Seins selbst und Grund der Erkennbarkeit alles Seienden.“ Vgl. GIGON, Platon, 156. Somit besitzt die Idee des Guten eine Schlüsselstellung als Synthese von Ethik, Ontologie und Naturphilosophie. 303 Vgl. ebd. 169. 304 Vgl. ebd. 171. Schließlich setzt die erkennende Entlarvung alles Erfahrbaren als unvollkommen bereits logisch einen Begriff des Vollkommenen notwendig voraus, von dem her dies gelingt <?page no="191"?> 191 werden: „Die Idee normiert die Wirklichkeit und existiert vor ihr, hält aber auch den Hiatus offen zwischen idealem und realem Sein. Die Grundhoffnung richtet sich auf den reditus ad ideam.“ 305 Wobei nicht unerwähnt bleiben darf, dass gerade die platonische Emanationslehre mit ihrem exitus-reditus-Schema u.a. mythologischen Ursprungs ist, etwa wenn es im Mythos zur Konvergenz des Reichs der Ideen mit dem der Götter kommt, und letztlich der ontologische und normative Status der Ideen selbst ungeklärt bleibt. 306 Sollen die beiden Entdeckungszusammenhänge an dieser Stelle verbunden werden, so kann festgehalten werden: PLATON hat als einer der Wirkmächtigsten und als einer der Ersten eine Hoffnungsfigur philosophisch und damit begrifflich zugänglich gemacht im Unterschied zu den mythologischen Figuren der Vorzeit. 307 Darin konnten sowohl existentielle Hoffnungen verortet, als auch diese in ein übergreifendes Weltbild integriert werden - über das Reich der Ideen als vermittelnde Größe. Damit wurden Theorie und Praxis des Phänomens menschlicher Hoffnung begrifflich lokalisiert und partiell auch handlungspraktisch zugänglich gemacht, indem der Erfahrungsbezug mit einer Weltätiologie verbunden wird. Die basale Hoffnungsspannung wurde dabei grundsätzlich bereits wahrgenomen, welche mediale Polaritäten zu vermitteln sucht, etwa Sein (unveränderlich) und Werden (veränderlich), Idee bzw. Utopie und Erfahrung bzw. Geschichte, Erkenntnis und Meinung oder auch Furcht und Vertrauen - aber trotz mancherEinsichten haben diese Vorstellungen nicht die handlungsteleologische Klarheit des ARISTO- TELES erreicht. Hoffnung kann daher zum gegenwärtigen Stand der Argumentation als Medium der Teilhabe, der Methexis, am Reich der Ideen verstanden werden, in denen sich die Bestimmung des Menschen 308 ausdrückt. Sie zeigt sich als Lust am Sein zu Zukünftigem bzw. umgekehrt das Sein zu Zukünftigem wird von Lust und (Vor-) Freude begleitet. und das Erfahrbare allererst Bestand bekommt, wobei der Sprung vom Begriff zur Existenz selbstredend offen bleibt. 305 Vgl. WOSCHITZ, Elpis, 119. 306 Vgl. GIGON, Platon, 172. Wenn von einer Entwicklung der platonischen Philosophie ausgegangen werden kann, dann dahingehend, „dass er in einem bestimmten Zeitpunkt die Relation zwischen Erfahrungswelt und Ideen über den Bereich der ethischen Begriffe, deren Sicherung sie zunächst gedient hatte, hinaus ausdehnte, und zwar auf die Totalität der Erfahrungswelt“, sodass Wahrheit und Wirklichkeit ineinander überzugehen scheinen. 307 Die Frage allerdings, mit welchen Gründen der Staat von PLATON als Utopie zu betrachten ist, muss andernorts diskutiert werden, schließlich ist die Utopie zwar eine Weise der Hoffnung, aber eine historisch-gesellschaftliche und damit nicht im Vordergrund dieser Studie. Vgl. dazu etwa GIGON, O., Gegenwärtigkeit und Utopie. Eine Interpretation von PLATONS ‚Staat‘ Bd. I - Buch I-IV, Zürich 1976. Ebenso GIGON, Platon, 32-37. 308 Vgl. zur Anthropologie PLATONS KUHN, H., Plato über den Menschen, in: ROMBACH, H. (Hrsg.), Die Frage nach dem Menschen. Aufriss einer philosophischen Anthropologie (FS MAX MÜLLER), Freiburg im Breisgau 1966, 284-310. 3. Griechisch-Römische Antike: Entdeckung der Zukunft als Erwartung <?page no="192"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 192 c) ARISTOTELES „Jede Kunst und jede Lehre, ebenso jede Handlung und jeder Entschluss scheint irgendein Gut zu erstreben. Darum hat man mit Recht das Gute als dasjenige bezeichnet, wonach alle streben. Es zeigt sich aber ein Unterschied in den Zielen.“ 309 Eine hoffnungstheoretische Auseinandersetzung mit ARISTOTELES ist auf zwei Wege zur Identifikation von Hoffnungsaspekten angewiesen: (1) expressis verbis, da, wo er explizit davon spricht und (2) interpretativ, da, wo die Sache aufscheint und Präfigurationen ausgemacht werden können. Auch ARISTOTELES setzt die Hoffnung zunächst in Beziehung zur Wahrnehmung und zum Gedächtnis: „Das Gegenwärtige ist Gegenstand der Wahrnehmung, das Zukünftige gehört der Erwartung an und das Vergangene dem Gedächtnis.“ 310 Das rationale Moment der ἐ λπίς besonders betonend, spricht er sogar mitunter von einer „Wissenschaft des Voraussehens“ 311 . Damit ist Hoffnung Teil der kognitiven Ordnung des Menschen, der mit epimetheischen und prometheischen Fähigkeiten ausgestattet ist: Er kann „sich Vergangenheit vergegenwärtigen und Zukunft sich vorstellend antizipieren. Wird Vergangenes richtig reproduziert und mithilfe des Erfahrungswissens […] interpretiert, kann es die Antizipation steuern, ansonsten wird diese illusionistisch und schafft eine Schein- und Traumwelt“ 312 . ARISTOTELES zählt andernorts die Hoffnung, wie auch die Furcht, zusätzlich zu den Affekten ( πάϑη ), die er ontologisch versteht und als gedrücktes bzw. gehobenes Gestimmtsein der Seele interpretiert. 313 Interessant ist, dass ARISTOTELES seine Reflexionen zur Hoffnung als Affekt überwiegend im Kontext der Rhetorik abhandelt, während sie in seiner Ethik lediglich als Folge der Tugend (neben guter Einsicht und gutem Gedächtnis) Erwähnung findet. Nicht nur bei ARISTOTELES, sondern in der antiken Ethik insgesamt wurde die Hoffnung, genauso wie ihre Antagonisten, etwa die Furcht unter die Leidenschaften subsumiert. 314 Der Stoa beispielsweise galt die Beherrschung von Furcht und Hoffnung als Voraussetzung und Bedingung zur Erlangung der Ataraxie, 309 Vgl. ARISTOTELES, EN I 1, 1094 a 1. 310 Vgl. ARISTOTELES, De memoria 1, 449b, 27f. 311 Vgl. ebd. 1, 449b, 12. 312 Vgl. WOSCHITZ, Elpis, 127. 313 Es wird im Anschluss lange Tradition sein, Hoffnung als Leidenschaft oder Affekt zu bezeichnen, was aber nur Aspekte ihrer naturalen Seite betont, fürs Ganze genommen aber einseitig bleibt, weswegen Hoffnung bis zu IMMANUEL KANT immer wieder als für den Verstand trügerische Leidenschaft ein Schattendasein fristete. 314 Diese Reflexions-Linie, nach der Hoffnung als Affekt begriffen wurde, fand immer wieder Vertreter: Nach Stationen in der Spätantike bzw. im frühen Christentum fassten beispielsweise die Rationalisten des 17. und 18. Jh. - allen voran der an SPINOZA anknüpfende RENÉ DESCARTES, aber auch THOMAS HOBBES u.a. - Hoffnung im Rahmen ihrer Voraussetzungen als fehlendes bzw. mangelndes Wissen, als Defizit-Form des Wissens und als Affekt auf. Moderne psychologische Theorien, die im Umfeld einer integralen Konzeption von Hoffnung verortet werden können und die sich mit den psychologischen Strukturen des menschlichen Zukunftsbezugs befassen und die teilweise funktionalistisch bzw. pragmatistisch von ihrem Objekt reden, können auch in dieser Richtung gedeutet werden (vgl. Kapitel VI), wobei die Affektierung durch Hoffnung zwar auf eine breite naturale Basis schließen lässt, aber als begründungstheoretischer Ausweis der Hoffnung zu kurz greift. <?page no="193"?> 193 der Unerschütterlichkeit der Seele, die in diesem Verständnis geradezu das Wesen der Tugend ausmacht. 315 Man kann so weit gehen, zu sagen, dass Angst und Hoffnung die beiden leitenden Affekte allen politischen Redens in der antiken Rhetorik sind. „Hoffnung auf den künftigen Nutzen der Maßnahme, zu der man rät, und Furcht vor dem künftigen Schaden der Maßnahme, von der man abrät.“ 316 Über diese eher vorsichtigen Bestimmungen der Hoffnung im Rahmen von Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorie und Affektenlehre hinaus, soll an dieser Stelle noch die These vertreten werden, dass die Eudaimonia des ARISTOTELES als Hoffnungsfigur zu interpretieren ist. Demnach ist das menschliche Tun in einem umfassenden Sinne zielorientiert. „Wir tun, was immer wir verantwortlich tun, um willen von etwas. […] Manches tun wir um der Handlung selbst willen, manches aber ist nur Mittel zu einem jenseits der Handlung liegenden Zweck. Und unsere einzelnen Aktivitäten sind in größere Zweck- und Handlungszusammenhänge eingeordnet.“ Dabei scheint es plausibel, mit ARISTOTELES anzunehmen, dass die je unterschiedlich lange aus Mittelgliedern bestehende Kette „ein Endglied haben muss, d.h. dass es ein Ziel geben muss auf das wir um seiner selbst willen aus sind, soll ein menschliches Streben und Handeln nicht unsinnig und vergeblich sein.“ 317 Nun mag es noch eine Pluralität von Zielen geben, die um ihrer selbst willen angestrebt werden, aber nach ARISTOTELES lassen sich diese als konstitutive Bestandteile um ein Endziel gruppieren, das seinerseits gar nicht um eines anderen willen gewählt werden kann. Er hat daher den Gedanken eines „inklusiven Endziels“ entwickelt, „indem der Mensch als Mensch zur Vollendung kommt und in dem all das, was er um seiner selbst willen tut, als konstitutiver Bestandteil dieses Gesamtziels fungiert“ 318 . Bedeutete die Eudaimonia ursprünglich das Bedachtsein von einem guten Geist, so meint es in der Ethik des ARISTOTELES das „teleion telos, das abschließende und vollständige Ziel, d.h. ein menschliches Leben, das alle Vorzüglichkeit enthält, das ideale Leben unter menschlichen Bedingungen, das nichts zu seiner Verbesserung vermissen lässt (1097a 30ff.)“ 319 . Wenn dieses Endziel - mindestens indirekt und vermittelt, keinesfalls immer notwendig manifest - menschliches Handeln bestimmt, dann auch als Hoffnung. Der Mensch wird daher so von sich denken, dass er sich daraufhin angelegt 320 erlebt, zugleich entfaltet er auch eine eigene Attraktivität als Erfüllungsgestalt, als Höchstform des gelebten Glücks 321 , die es als Hoffnungsgut zu erkennen gilt. Mit anderen Worten: Eudaimonia entwickelt im Medium der Hoffnung Handlungsrelevanz, nicht allein, aber ganz wesentlich auch. Dieses Endziel menschlichen Lebens und Handelns, das um seiner selbst willen gewollt wird, gibt es nicht nur als Begriff, es zeigt sich als ‚gut leben‘ und ‚gut handeln‘. Entscheidend, auch für ein hoffnungstheoretisches Verständnis, ist nun, dass es letztlich eben nur ein (inklusives) Endziel gibt, nicht deren viele, das um seiner selbst willen gewollt wird, alle anderen aber um seinetwillen und dessen letzte Einheit zur Sinnhaftigkeit 315 Vgl. BOETHIUS, cons. I, 7. 316 Vgl. SPIRA, Angst und Hoffnung in der Antike, 163. 317 Vgl. für beide Zitate FORSCHNER, M., Über das Glück des Menschen. Aristoteles, Epikur, Stoa, Thomas von Aquin, Kant, Darmstadt 1993, 4. 318 Vgl. FORSCHNER, Über das Glück des Menschen, 5. 319 Vgl. ebd. 7. 320 Vgl. RITTER, J., Naturrecht bei Aristoteles. Zum Problem einer Erneuerung des Naturrechts, Stuttgart 1961. 321 Vgl. RITTER, J., Glück, Glückseligkeit. I. Antike, in: RITTER, J. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 3, Darmstadt 1974, 679-691. 3. Griechisch-Römische Antike: Entdeckung der Zukunft als Erwartung <?page no="194"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 194 menschlicher Handlungswirklichkeit ganz entscheidend beiträgt. 322 Es ist handlungsmäßig zugänglich, vielleicht nicht vollständig unter seiner Kontrolle, aber eben auch nicht allein in Händen eines (Götter-) Fatums, und es wird handlungspraktisch aktuell im Medium der Hoffnung. Es kennzeichnet mithin eine Abhängigkeit vom Handeln, für das ich mich entscheiden kann und einen klaren Lebensformbezug 323 und ist zudem sogar noch geöffnet auf einen Vollendungsbegriff hin, der nun aber tatsächlich in den Händen der Götter liegt. Die Eudaimonia ist daher mindestens partiell in des Menschen Verantwortung gelegt. Folgerichtig gilt, dass sie als spezifisches Glück, das sie auch zum Gegenstand von Hoffnung macht, keine tyche ist, kein schicksalhaftes Los und kein unerreichbares Ziel oder Ideal, sondern der uns innewohnende Bestimmungsgrund unseres Handelns. 324 Daher ist Hoffnung auch nicht das Vehikel zur idealen Zielerreichung, sondern Modus der Vergegenwärtigung und der Handlungsrelevanz des bereits erwähnten Bestimmungsgrundes. Diese Bestimmung der Eudaimonia macht deutlich, dass der Modus, über den sie sich aktualisiert und realisiert, eine spezifische Leistung des Menschen ist - nämlich seine Vernunfttätigkeit, gemeint ist die praktische Vernunft, die „Tätigkeit der Seele gemäß der Vernunft“ 325 . Damit bezieht sie sich nicht einfach auf eine subjektive Befriedigungspraxis, sondern stellt ganz im Unterschied dazu einen Totalitätsbegriff von Strebens-Zielen dar, der qualitativ bestimmt ist, der auch kein Maximum an Vergnügen meint, sondern ein prinzipiell nicht mehr Überbietbares, einen finalen Zusammenhang menschlichen Lebens, einen Abschlussgedanken für die Vielzahl an oft heterogenen Strebenszielen des Menschen. Auf diese Weise bekommt schließlich auch alle handlungswirksame Hoffnung des Menschen eine letzte einheitliche Ziel-Gestalt. Das Glück der Eudaimonia liegt mithin in einem ἔ ργον , einer Tätigkeit - und zwar des vernünftigen Teils der Seele, der in Korrespondenz mit (geordneten) Affekten und Lüsten 326 und in der Form der Tugend im besten Fall gesteuert wird durch Klugheit im Sinne der phronesis und schließlich mit einer ausgeprägten Polis-Orientierung ausgestattet ist. Damit wird sie zum vorrangigen Gegenstand sowohl einer Ethik des sittlich guten Lebens, als auch der Verwirklichung menschlichen Glücks, wiewohl ARISTOTELES die Reinheit des Sittengesetzes und damit die strikte Trennung von transzendental und empirisch noch nicht kannte, wie sie für KANT kennzeichnend werden wird. Umgekehrt musste ARISTOTELES nicht die Schwierigkeiten eines dichothomen Handlungssubjekts bewältigen, sondern hatte demgegenüber noch ein einheitliches Handlungssubjekt vor Augen, dem ein klarer Erfahrungsbezug eignet, auf den hin Eudaimonia schließlich auch orientieren will. Werden diese Strukturen ins Soziale gewendet, kann eine klare Abhängigkeit von sozialen Faktoren in Rechnung gestellt werden, die - wie besehen - in der Polis ihren Kulminationspunkt finden. Dennoch oder auch gerade deshalb muss von 322 Vgl. ARISTOTELES, EN 1094a 18. 323 Vgl. ebd. 1095b-1096a. 324 Vgl. PFÜRTNER, S., Ethik in der europäischen Geschichte I - Antike und Mittelalter, Stuttgart 1988, 53. 325 Vgl. ARISTOTELES, EN, 1098a 3ff. 326 Vgl. grundlegend RICKEN, F., Der Lustbegriff in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, Göttingen 1976 und einführend RICKEN, F., Wert und Wesen der Lust, in: HÖFFE, O., Aristoteles. Nikomachische Ethik, Berlin 2 2006, 207-228. Hier stellt er klar heraus, dass für ARISTO- TELES Lust und vollkommene Tätigkeit untrennbar sind, diese sogar jene als ein „hinzukommendes Ziel“ (vgl. 1174 b 33) regelrecht „vollende“ (vgl. 1174 b 23). Dabei ist die Unterscheidung hilfreich zwischen der ontologischen Charakterisierung der Lust und der ontologischen Charakterisierung der Tätigkeiten, an denen wir Lust haben. <?page no="195"?> 195 einer Brüchigkeit des irdischen Glücks 327 ausgegangen werden, für das es keine Garantie geben kann, ganz abgesehen von einer bleibenden Abhängigkeit von materiellen Größen und dem immer potentiellen Scheitern des Menschen. Aus diesem Grunde kann bereits bei ARISTOTELES die klare Unterscheidung von einem menschenmöglichen Glück (Eudaimonia) und einer göttlichen, nicht in der Hand des Menschen liegenden Seligkeit (makarion) identifiziert werden, die später von THOMAS VON AQUIN als Unterscheidung von beatitudo perfecta als himmlischer Seligkeit 328 und beatitudo imperfecta als Eudaimonia des ARISTOTELES eine bleibende Wiederaufnahme finden wird. Sie drückt schließlich eine grundlegende Hoffnungsspannung aus, die strukturell zum Begriff selbst gehört. Da nun Glück bei ARISTOTELES nicht das Sehnsuchtsglück meint, d.h. gerade nicht die aktuelle oder punktuelle Erfüllung aller Wünsche und Hoffnungen, sondern ein Strebensglück, für das man selber verantwortlich ist, wird automatisch die Perspektive des ganzen Lebens eingenommen. „Das Glück, das sich mit ziemlicher Verlässlichkeit erreichen lässt und auch vielen offen steht (hier zeigt sich eine Demokratisierung des Glücks), bedeutet vielmehr eine Qualität, die man seiner Biographie als Ganzer verleiht. Das Strebensglück besteht in einem insgesamt guten, einem gelungenen Leben.“ 329 An dieser Stelle ist noch auf die folgenreiche Debatte um die Unterscheidung einer exklusiven und einer inklusiven Deutung der aristotelischen Glückskonzeption hinzuweisen, wonach im Sinne der exklusiven Deutung das Glück deswegen das höchste Strebensziel ist, weil es in einer gegenüber allen anderen Strebenszielen ausgezeichneten Aktivität besteht, wohingegen die inklusive Deutung hervorhebt, dass das Glück deswegen mehr als alles andere erstrebt wird, weil es alle anderen an und für sich erstrebenswerten (intrinsischen) Güter in sich vereint und somit dieses höchste Gut durch Addition weiterer Güter nicht vergrößert werden kann. 330 Mit anderen Worten: Es muss von einer entelechialen Gestalt aristotelischen Glücks ausgegangen werden, die in eine teleologische Weltdeutung integriert ist. Diesem finalen Glück eignet eine spezifische Bestimmtheit und Objektivität, insbesondere aber eine formale Bestimmtheit, wohingegen die inhaltliche nicht zu letzter Konkretion und Objektivität geführt werden kann. Da bleibt quasi eine inhaltliche Unterbestimmtheit, wohlgemerkt keine Unbestimmtheit, zurück, die ARISTOTELES nicht überspringen kann, schließlich kann die Eudaimonia auch erst am Ende des Lebens als solche abschließend beurteilt werden und wird auch ihrerseits noch durch eine schon erwähnte (göttliche Glück-) Seligkeit überboten, zu der der Mensch nur in ein Verhältnis der Ähnlichkeit und Annäherung treten kann. Dieses „beste Gut“ 331 steht natürlich dem Strebenden nicht immer vor Augen, aber es kann Schritt für Schritt erreicht werden, und umgekehrt kann alles, was man zu verwirklichen sucht, auf es hin und von ihm her interpretiert und in einen Zusammenhang gestellt werden. Noch einmal: „Ein Mensch erreicht sein Glück im Leben durch die ge- 327 Nicht umsonst zeigen die großen religiösen Traditionen nicht allein Ziele des Menschseins auf, sondern verstehen sich zutiefst als Wege, die diese Lücke (oft paradox) in Verknüpfung von Tun und Lassen, von Immanenz und Transzendenz, von Sollen, Wollen und Können zu überwinden versuchen, indem sie einen Indikativ, eine Ermöglichung, eine Eröffnung, letztlich ein Können für das eingesehene Sollen zur Verfügung stellen und damit ein Wollen gemäß dem Sollen anzuregen versuchen. 328 Vgl. AQUIN, T. VON, S.th. I-II, q 3. 329 Vgl. HÖFFE, O., Kleine Geschichte der Philosophie, München 2001, 54ff. 330 Vgl. ARISTOTELES, EN 1097b 16-20, übergreifend EN I und X. 331 Vgl. WOLF, U., Aristoteles’ ‚Nikomachische Ethik‘, Darmstadt 2 2007, 28ff. 3. Griechisch-Römische Antike: Entdeckung der Zukunft als Erwartung <?page no="196"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 196 lungene Ausübung seiner Vernunfttätigkeit. Die Tätigkeit der Seele gemäß der ihr eigenen Tüchtigkeit ist das Wesentliche menschlichen Glücks“ 332 , das, so müsste man hinzufügen, im Medium der Hoffnung überhaupt erst aktuell wird, sodass Hoffnung das eigentliche Vehikel desjenigen Glücks ist, das überhaupt handlungspraktisch werden kann - auch wenn es nicht vollständig der Kontrolle des Menschen unterliegt. Eine ganze Reihe weiterer höchst unterschiedlicher Entdeckungszusammenhänge sind aus dem Grund zusätzlich auszumachen, da die Eudaimonia zwar dem Handeln des Menschen als einheitsstiftender, finaler Abschlussgedanke dient, aber seinerseits ein Zusammengesetztes darstellt, nicht ein einzelnes Element - analog dem Gedanken des Ganzen des Lebens, das eines ist, aber doch als Summe des Lebens ein Kompositum dessen darstellt, was im Einzelnen erstrebt, getan und erlebt wurde. 333 Demnach handelt der Mensch auf Zukunft hin: „Alle tun alles wegen eines Gutes, das ihnen das höchste Gut vorstellt.“ 334 Sowohl die je verschiedenen Güter, als auch erst recht das höchste Gut sind Gegenstände der Hoffnung, die eine mehr oder weniger umfassende Sinnverheißung auf dieses Gut hin transportieren. Die Kategorie der Hoffnung bringt quasi als Kehrseite der Attraktivität des Hoffnungsguts Eudaimonia auch die „affektive Bereitschaft“ 335 zum Ausdruck, deren das Handeln bedarf, um zur Einsicht in das Gute und Gesollte das entsprechende Wollen grundlegend zu ermöglichen. Unter diesen Voraussetzungen kann auch von einer „Vernunftanteiligkeit“, einer rationalisierenden Kraft der Emotionen und vitalen Triebkräfte - metechon logon - gesprochen werden, eine Feststellung, die für eine interdisziplinäre und integrative Ethik der Hoffnung ausdrücklich hervorzuheben ist. Systematisch formuliert kann daher (mindestens) eine vitale Quelle der Tugend (nicht die Tugend selbst) angenommen werden. Die „Wahrnehmung des Guten“ 336 ist nun nicht einfach eine Wahrnehmung, sondern ein komplexer Abgleich zwischen als evident erlebter moralischer Einsicht in das Gute, dessen erhoffte Realisierung vor Augen, der faktisch erlebten Gegenwart realiter und der erinnerten Vergangenheit im Rücken. Daher ist auch die Bildung des gesamten Affekt- und Interessenbereiches für sittliche Entscheidungsfindung grundlegend und deren Habitualisierung durch Tugend entlastend und stabilisierend. Eine zusätzliche Voraussetzung für rechte, d.h. an der Eudaimonia orientierte Urteilsfindung und damit indirekt auch für rechtes Hoffen, ist daher die Reinigung der Interessen und des Wollens. Die logische Folge sind Lern- und Entwicklungsprozesse, die erneut auf die Realisierbarkeit als Kriterium verweisen. ARIS- TOTELES denkt an das Mögliche und Erreichbare. Dennoch muss von einer (materialen, nicht formalen) Unterbestimmung und Komplexität des Guten ausgegangen werden, über das keine letzte (materiale) Gewissheit gehegt werden kann, weder über die Ziele, noch über die Mittel, noch über die Folgen. Damit wird ein (realisierungsorientiertes) Handeln auf die Eudaimonia hin irgendwann immer auch ein Handeln unter Einschluss der Hoffnung auf Realisierung der aktuell vielleicht noch nicht als letztes und dennoch realisierungsfähiges Handlungsziel konkretisierten und eingesehenen Eudaimonia. In der Folge wird ein Handeln aus Hoffnung notwendig, näherhin auf die in der Hoffnung an- 332 Vgl. FORSCHNER, Über das Glück des Menschen, 19. 333 Die Eudaimonia erreicht zu haben oder nicht, kann entsprechend dieser Lesart erst am Ende des Lebens beurteilt werden. 334 Vgl. ARISTOTELES, Pol. I, 1 1252 a 2-3. 335 Vgl. PFÜRTNER, Ethik in der europäischen Geschichte, 60. 336 Vgl. ebd. 62. <?page no="197"?> 3. Griechisch-Römische Antike: Entdeckung der Zukunft als Erwartung 197 sichtig gewordenen Erfüllungsgestalt(en) der Eudaimonia. Insgesamt gibt sich Hoffnung als Blaupause (potentiell) gelingender Handlungsorientierung zu erkennen. 337 Diese Argumentation einen Schritt weiter führend muss nun gefragt werden, woran die spezifische Wirkung einer Orientierung des Strebens an einem höchsten Gut, der Eudaimonia, erkannt werden kann. Schließlich: Wenn Eudaimonia erst Ende des Lebens umfassend beurteilt werden kann, so leben und handeln wir bis dahin in der Aussicht darauf. Was aber gewährt diese Aussicht? Handlungsorientierung und Daseinssinn! Das letzte Strebensziel ist Eudaimonia, aber Eudaimonie ist praktisch erst am Lebensende zu beurteilen. Die Orientierung daran gewährt aber Sinn, indem sie als Hoffnungsgut quasi rückwärts in das Leben hineinwirkt und damit ihrem eigenen Charakter gemäß einen Zusammenhang eröffnet, der die Totalität des Strebens selbst mit Sinn versieht. Die Perspektive des Ganzen ist immer schon anwesend, nicht erst am Ende des Lebens. Anders gesagt. Das Gute wird bei ARISTOTELES über das Glück 338 gefasst, darauf zielt die entsprechende Hoffnung und davon verspricht er sich Sinn 339 , wenn Sinn soviel heißen soll wie das höchste und den umfassendsten Sinnzusammenhang gewährende praktische Gut. Wohl wissend, dass ARISTOTELES den Begriff des Sinns zwar nicht kennt, die Sache aber durchaus fassbar ist, und bei aller Vorsicht einer historischen Rekonstruktion eines modernen Begriffs innerhalb des antiken Denkens, der zudem als etymologisches Chamäleon daherkommt, kann es dennoch darum gehen, begriffliche Präfigurationen zu entdecken. Demnach kann folgende vorläufige Definition mit OTFRIED HÖFFE gewagt werden: Es „gibt eine formale Definition, eine Definition, die übrigens von der Antike bis heute gleich geblieben ist: Sinn hat, was sich nicht relativ, sondern absolut lohnt; ‚Sinn‘ - oder wie die Griechen sagen: eudaimonia, Glück - ist das Äußerste und Letzte, nach dem der Mensch strebt. Es ist jenes schlechthin höchste Ziel, das man analog zum ontologischen Gottesbegriff definieren könnte als ein finis quo maius nihil cogitari potest: als ein Ziel, über das hinaus kein Ziel gedacht werden kann. Der Sinn ist das, was dem Leben seinen Wert und Zweck gibt: sei es dem Leben eines einzelnen, sei es dem einer Gruppe, einer Gesellschaft, vielleicht sogar der Menschheit: ‚Sinn‘ […] ist kein Mittel, sondern ein Ziel, und unter den Zielen kein Zwischenziel, sondern ein Endziel; der Sinn hat Selbst- 337 Die Wirkungsgeschichte der aristotelischen Ethik dürfte wohl auch deshalb so erfolgreich verlaufen sein, weil er als einer der ersten im Abendland eine große menschheitliche Hoffnung, die nämlich auf gelingendes Leben, vergleichsweise rational (mit dem Anspruch der Rationalität) für die praktische Vernunft freigelegt hat und sie nachgerade auf der Ebene praktischer Vernunft angesiedelt hat. Ziel war das gelingende und glückende Leben - u.a. auch als Hoffnungsgut; als Weg standen praktische Vernunft und Tugend zur Verfügung. Was aber bei ARISTOTELES nur andeutungsweise präsent ist, eine grundlegende dialektische Spannung zwischen dem, was wir können bzw. zu können meinen, und dem, was wir letztlich sollen und zuinnerst wollen, das, was später in den Spannungen von Moral und Glück bzw. Sollen und Können gefasst werden wird, hinterlässt mindestens eine handlungsmäßige und motivationale Deckungslücke, die wir von uns aus nicht einfach schließen können etwa durch ein Mehr an Einsicht oder Tugend und die aber dennoch eine Hoffnung auf potentielle Schließung nötig hat, soll sie menschliches Handelns nachhaltig mobilisieren. Die Attraktivität des Guten setzt eine Hoffnung auf deren potentielle Erreichbarkeit voraus. 338 Vgl. SPAEMANN, R., Philosophie als Lehre vom glücklichen Leben, in: BIEN, G. (Hrsg.), Die Frage nach dem Glück, Stuttgart 1978, 1-19. AUBENQUE, P., Die Kohärenz der aristotelischen Eudaimonie-Lehre, in: BIEN, G. (Hrsg.), Die Frage nach dem Glück, Stuttgart 1978, 45-57. 339 Vgl. HÖFFE, O., Aristoteles, 210ff., hier 215f. <?page no="198"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 198 zweckcharakter (vgl. Aristoteles, Nikom. Eth. I,5).“ 340 HÖFFE identifiziert mithin die Frage nach dem Glück mit der Sinnfrage, wobei hier dahingehend präzisiert werden müsste, dass die Sinnfrage nach dem Grund, der Berechtigung und der Gewissheit zum Glücklichsein sucht und dabei grundlegende (Handlungs-) Orientierung beim Glück bietet. Das tut sie, indem die Konkretion, d.h. hier Handlungsorientierung, mit der Normativität (des Glücks und des Guten) verbunden werden und eine Perspektive auf das Ganze des Lebens angeboten wird, die Sinn verheißt, indem sie das Ganze in concreto anwesend sein lässt. 341 Das Verhältnis von Sittlichkeit, Glück und höchstem Gut, eine Verhältnisbestimmung, die insbesondere in deontologischen Ethiken zum Problem werden kann, wobei meist ein Pol der entsprechenden Spannung einseitig aufgelöst oder subsumiert wird, ist bereits bei ARISTOTELES auf eine eigentümliche Dialektik zugespitzt: Er setzt Glück und Sittlichkeit nicht einfach identisch. Und wiewohl wir bei allem, was wir erstreben, das Glück wollen, braucht es zum vollkommenen Glück Dinge, die wir nicht in der Hand haben. Auch die Brüchigkeit des (irdischen) Glücks wurde bereits erwähnt. Zudem ist ja Glück bei ihm nicht ein Haben, sondern ein Tätigsein, eine Weise des Lebens, die auch Anstrengung verlangt. 342 „Das letzte Ziel ist die vollendete oder beste der dem Menschen spezifischen Tätigkeiten“ 343 . Zusammengenommen wird hier ein operatives Welt- und Selbstverhältnis vorausgesetzt - wie auch bei der Hoffnung - und zugleich erlebt sich das Handlungssubjekt auf etwas verwiesen, dass es nicht mehr kontrollieren kann, aber dennoch zu verantworten hat. Trotz der Begründung der Ethik als Disziplin in der Nikomachischen Ethik wurde ARISTOTELES der Vorwurf der allzu engen Verflechtung von Ethik und Metaphysik durch eine angenommene entelechiale Gestalt des Kosmos und des Glücks gemacht. 344 Für die im vorliegenden Kontext entscheidenden Figuren, der Eudaimonia und des höchsten Gutes, kann der Vorwurf mit RENTSCH begründet zurückgewiesen, mindestens aber abgeschwächt werden: „Das menschliche Leben ist weder bloß als faktisches Leben noch als bloß sinnliches und so erfahrenes Leben zu begreifen, sondern muss als 340 Vgl. HÖFFE, O., Personale Bedingungen eines sinnerfüllten Lebens. Eine ethischphilosophische Erkundung, in: KÜHN, R. / PETZOLD, H. (Hrsg.), Psychotherapie und Philosophie. Philosophie als Psychotherapie, Paderborn 1992, 395-422, hier 395-396. 341 Partiell dürfte der Sinnbegriff das Erbe des Glücksbegriffs als moralisch-normative, am Guten orientierte Handlungsorientierung in der Moderne angetreten haben, wiewohl er nicht mit ihm identisch ist. Sinn kann demnach als das konkrete Gute und bzw. oder das konkrete Glück verstanden werden, das in einem lebensweltlichen Zusammenhang, einer lebensweltlichen und handlungskompetenten Verortung steht - bis hin zum größten denkbaren Zusammenhang: der Totalität des Lebens. Die Spannung von Glück und Moral bleibt, auch innerhalb des Sinnbegriffs, wiewohl die Spannung zumindest integriert erscheint. Die Einsicht in die Sinnhaftigkeit einer Handlung und analog des Lebens überhaupt - wohlgemerkt als moralische Kategorie verstanden - kann schließlich festgemacht werden an einem fit, einer kohärenten Passung zwischen Person (Biographie, Bedürfnisse, Bestimmung, etc.), Situation (Umstände, etc.) und den Ansprüchen der Moral, des Sittengesetzes, die jeweils Relevanz beanspruchen können und sollen. 342 Man ist erinnert an den scholastischen Hoffnungsbegriffs: potentiell erreichbar, aber steil. 343 Vgl. RICKEN, F., Philosophie der Antike, Stuttgart 3 2000, 168, 170ff. und 172. 344 Vgl. als Vertreter einer solchen wirkungsgeschichtlich eher älteren These SCHNEIDER, W., ΟΥΣΙΑ und ΕΥΔΑΙΜΟΝΙΑ . Die Verflechtung von Metaphysik und Ethik bei Aristoteles, Berlin 2001. Weit eher wird von einer (notwendigen) Verknüpfung von Ontologie und Ethik, näherhin von Fundamental-Anthropologie und Eudaimonia auszugehen sein. <?page no="199"?> 3. Griechisch-Römische Antike: Entdeckung der Zukunft als Erwartung 199 vernünftige Lebenspraxis begriffen werden“ 345 , die, so muss ergänzt werden, handelnd nach etwas auslangt und sich auch von dort her, also vom letzten telos des Handelns her, selbst versteht. Daran knüpfen sich Hoffnungen, die basal motivieren, da sie als Erfüllungsgestalten Sinn verheißen. Vielmehr rekurriert ARISTOTELES in seiner Ethik auf eine Handlungsteleologie, die auf vernünftige Sinnkonstitution aus ist. Diese gilt es in ihren ubiquitären und vernunftorientierten Strukturen freizulegen. Mit den Worten von RENTSCH: „Aristoteles sieht, dass alle menschlichen Lebensbewegungen sich als praktische Sinnentwürfe verstehen lassen, zu denen ein jeweiliges Gutes, ein telos, ein Ziel gehört, welches wir als Erfüllungsgestalt bezeichnet haben.“ 346 Das ist weder naturalistisch als „empirische Anthropologie“, noch im Sinne einer strikt metaphysisch grundgelegten teleologischen Ontologie zu verstehen. ARISTOTELES rekurriert vielmehr auf paradigmatische Vernunftsstrukturen der menschlichen Handlungswirklichkeit und erläutert daran verschiedenste Sinnentwürfe und deren Erfüllungsgestalten (Medizin, Schiffsbaukunst, Wirtschaft, u.a.). Eine strenge und grundsätzlich metaphysische Argumentation ist nicht zu beobachten, 347 vielmehr folgt diese einer präzisen Strebensanalyse. Die Gestalt des „theoretischen“ Gottes bildet keine Zentralfigur. Die Ethik des ARISTO- TELES ist zudem offen für anthropologisch-empirische Einsichten, was sie für eine interdisziplinär-integral angelegte Handlungstheorie von größtem Interesse sein lässt. 348 Ganz im Gegenteil wird daher mit ARISTOTELES von einer fundamentalanthropologischen Bestimmung menschlicher Handlungswirklichkeit auszugehen sein und gegen MACINTYRE 349 kann der zentrale anthropologische Grundgedanke des ARISTO- TELES, dass nämlich menschliches Tun sich nur im Blick auf ein ihm eigentümliches telos verstehen lässt, ein telos, das sich als Hoffnungstelos erweist, dazu dienen, die Abhängigkeit der aristotelischen Analysen von einer objektivistisch interpretierten Naturteleologie zurückzuweisen, sodass auch von einem „Verlust der Tugenden“ mitnichten gesprochen werden kann. Neben einer grundsätzlichen Differenzierung von Zielen (arete dianoetike - arete ethike) und Formen menschlichen Tuns (Poiesis - Techne - Praxis) leistet die aristotelische Handlungstheorie mit ihrem Kulminationspunkt der Eudaimonia zusätzlich Folgendes: Das „oberste (Ziel-) Gut“ ist zunächst „vor-gestellt“, keine schlichte Tatsache. Der handelnde Mensch stellt es quasi vor sich hin. Und alles Tun wird in seiner Pluralität durch die Orientierung an der Einheit dieses „Vor-Gestellten“ qualifiziert, alles Tun ist mithin darauf ausgerichtet - was es letztlich als Hoffnungsgut ausweist. 350 Der Zugang zum höchsten Gut und dessen Wesen ist nun in der antiken Philosophie gänzlich verschieden gedacht, so etwa bei PLATON noch über die dem menschlichen Geist eingelas- 345 Vgl. RENTSCH, Die Konstitution der Moralität, 295. Die rein hedonistische Bestimmung der Eudaimonia wurde bereits dem „Leben des Viehs“ zugeordnet. Vgl. ARISTOTELES, EN, 1095b 20. 346 Vgl. RENTSCH, Die Konstitution der Moralität, 289. 347 Gegen HARTMANN, N., Die Wertdimension der Nikomachischen Ethik, in: Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, 5 / 1944, 2-27, hier 9. 348 Vgl. LIATSI, M.I., Genetik und Ethik bei Aristoteles. Zur physikalischen Prädisposition der ethischen Tugend, Zeitschrift für philosophische Forschung, 60 (2006), 3, 394-411. 349 Vgl. MACINTYRE, A., Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt am Main 1987, 200 und 217ff. 350 Vgl. PFÜRTNER, Ethik in der europäischen Geschichte, 45. „Das oberste Ziel wird wirksam und als solches wirklich, indem der Mensch es durch seine umgreifende Einsichtsfähigkeit sich ‚vor-stellt‘ und auf das ‚Vor-Gestellte‘ seine gesamte Einzeltätigkeit ausrichtet.“ <?page no="200"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 200 senen und angeborenen Ideen. Entscheidend ist dabei aber, dass die praktische Vernunft die Annahme eines höchsten Gutes verlangt 351 , wie bei ARISTOTELES paradigmatisch abgelesen werden kann. Damit wird eine Zu- und Unterordnung aller immer relativkontingenten Teilziele in einen umfassenden Lebenszusammenhang möglich, der Einheit stiftet, Orientierung bietet und aufgrund einer Perspektive auf das Ganze und einer daraus abgeleiteten Affirmation des Daseins basale Handlungs-Motivation bereitstellt. Das oberste Gut ist mithin dasjenige, worumwillen wir die anderen Tätigkeiten alle praktizieren und von dem her bzw. auf das hin wir sie qualifizieren - dabei steht es uns u.a. als Hoffnungsfigur vor Augen, wodurch menschliche Handlungswirklichkeit mit einer ubiquitären Hoffnungsstruktur versehen wird. D.h. die (moralisch-sittliche) Qualifizierung aller unserer Erfüllungsgestalten, die wir u.a. als Hoffnungsgestalten verstehen können, erfolgt letztlich an dem, was ARISTOTELES Eudaimonia nennt, die schließlich dadurch charakterisiert ist, „dass das beste Leben ein Leben tätiger Verwirklichung der Vernunft“ 352 ist. Damit deutet sich schon an, was in der Moralphilosophie KANTS einen vorläufigen Höhepunkt finden wird, wenn er die Hoffnung als Vernunftprinzip auszuweisen sucht. 353 Trotz einer Mannigfaltigkeit der Sinnentwürfe und Erfüllungsgestalten muss es dennoch Rahmenziele, übergeordnete Zusammenhänge und innere Verbindungen der Ziele geben, letztlich zur Vermeidung eines regressus ad infinitum auch einen finalen Kulminationspunkt, denn ansonsten würden sich die Entwürfe insgesamt wechselseitig entwerten. Dieser Kulminationspunkt ist auch ein Gegenstand handlungsbezogener Hoffnung, können wir ihn doch aus Einsicht, Tugend und Vernunft befördern, aber liegt er doch zugleich notwendig außerhalb dessen, was wir vernünftig glauben kontrollieren zu können. Insbesondere die darin gebündelte Totalität der Perspektive ist immer schon in Hoffnungsform anwesend, Darum müssen wir angeben können, worin letztlich die einzelnen Entwürfe ihren inneren Zusammenhang und ihren letzten Sinn haben. Diese Perspektive nimmt auch notwendig den ganzen Menschen in den Blick, damit die Totalität seiner Handlungspraxis als auf Erfüllung eines Sinnentwurfs angelegt interpretiert werden kann. „Es geht in der Ethik“, nach ARISTOTELES, „um das menschlich Gute. […] Über einzelne Sinnentwürfe hinaus muss der Totalität der Praxis ein letzter Sinn zukommen, die eudaimonia. Diese muss als eine Gestalt, die das menschliche Leben als Ganzes hat, als eine Lebensform, begriffen werden.“ 354 Das ist nun mehr als die Existenz- 351 Vgl. ebd. 45. „Dass Ethik irgendwie mit Erkenntniskriterien arbeitet, die sie ihrerseits nicht mehr strikt beweisen kann, disqualifiziert sie in den Augen des Aristoteles keineswegs als Wissenschaft. Denn das ist für alle Wissenschaften gegeben. Gleichwohl verlangt gerade die Anwendung der Vernunft, das ‚oberste Gut‘ anzunehmen, um dessentwillen wir allen Teilzielen und -gütern nachgehen. Das Gegenteil zu behaupten, würde die Auslieferung an die Unvernunft und den Unsinn allen Lebens bedeuten.“ Grundlegend für das Verständnis und die Bewertung ist zudem die entelechiale Deutung im Hintergrund: en - telos - echein: in sich das Ziel haben. Hier ist in einer starken, aber zunehmend selteneren Interpretation von einem „Gestaltungsprinzip“ der Dinge zu reden, das keine sinnlich wahrnehmbare Erscheinung darstellt, sondern nur durch seine Wirkung vernünftig erschlossen werden kann, aber durchaus eine Realität trifft. In der schwächeren, von zeitbedingten Vorstellungen befreiten Interpretation benennt ARISTOTELES ubiquitäre Strukturen einer Handlungsteleologie, wie sie allem Handeln zugrunde liegen sollen. 352 Vgl. FORSCHNER, Über das Glück des Menschen, 12. 353 Vgl. Kapitel V 6 a und VII 2 d in dieser Arbeit. 354 Vgl. RENTSCH, Die Konstitution der Moralität, 309. <?page no="201"?> 3. Griechisch-Römische Antike: Entdeckung der Zukunft als Erwartung 201 behauptung eines höchsten Gutes, sondern spricht darüber hinaus für deren klaren Lebensform- und Handlungsbezug. Im Sinne der vorliegenden These kann daher als Kern der Argumentation festgehalten werden: „Der Ort des Unbedingten und der genuinen (im modernen Sinne: transzendentalen) Sinnkonstitution ist außer Zweifel die eudaimonia als das letzte, höchste und beste Gute.“ 355 Offen bleibt in dieser Interpretation, der allerdings bis hierher strukturell gefolgt werden soll, wie denn das Verhältnis des Handlungssubjekts zu den Erfüllungsgestalten und erst recht gegenüber der höchsten Erfüllungsgestalt ausgewiesen werden sollte. Hier ist über RENTSCH hinaus die Frage zu stellen, woher denn die Zuversicht nehmen, dass sich die Erfüllungsgestalt tatsächlich erfüllt? Überhaupt steht uns ja diese Erfüllungsgestalt nicht einfach formal gegenüber, sondert affiziert uns. Und wie zeigt sich und macht sich bemerkbar die erfüllte Erfüllungsgestalt in der noch nicht erfüllten Lebenspraxis, das Sinnganze im Lebensfragment? Ich behaupte - im Medium der Hoffnung. In gewisser Weise ist daher handlungsrelevante Hoffnung als vermittelnde Variable zu bezeichnen, die das höchste Gut der Eudaimonia mit der Motivation, dem Wollen und Können, den Zielen, dem Sinn, der Klugheit, Tugend und Lebensform des Subjekts verbindet und damit potentiell ermöglicht, das als gut und sinnvoll Eingesehene auch zu vollziehen. Schließlich kann es zu den grundlegenden Einsichten des ARISTOTELES etwa gegen SOKRATES gelten, dass Einsicht in das Gute noch nicht automatisch zum Tun des Guten führt. Die Erfüllungsgestalt der Eudaimonia wirkt daher als orientierende, mobilisierende und einende Größe auf Handlungspraxis und kommt zudem in ihrer Vernunftgemäßheit dem animal rationale, das der Mensch ist, zutiefst entgegen. Hat nun ARISTOTELES mithin sehr klar die Telos-Struktur menschlicher Handlungswirklichkeit gesehen und herausgestellt, so womöglich deren Hoffnungsstruktur noch zu wenig gewürdigt, etwa aufgrund einer praktisch durchweg negativen Konnotation derselben in der Antike? Insgesamt kann aber ARISTOTELES eine metaphysikarme Ethik 356 attestiert werden, die eine fundamentalanthropologische Interpretation auf die Handlungskategorie der Hoffnung zulässt und entgegen landläufiger Meinung durchaus universalistische Züge trägt. 357 d) Die PANDORA-Sage Neben den lyrischen, epischen und philosophischen Quellen antiker Hoffnungsreflexion soll zumindest auch ein sagengeschichtlicher bzw. mythischer Stoff Erwähnung finden: 355 Vgl. ebd. 305. Strukturell sind zu dieser These folgende Aspekte noch erwähnenswert: Zunächst zielt sie (1) auf das Leben als Ganzes; (2) kennt sie eine finale Telos-Struktur; (3) kennt sie eine klare Lebensformorientierung und einen Handlungsbezug; und (4) kann sie gegen utilitaristische oder eudämonistisch-hedonistische Engführungen argumentieren, da sie eine Handlungsteleologie vernunftgemäß auszuweisen imstande ist. 356 Vgl. etwa PATZIG, G., Ethik ohne Metaphysik. Göttingen 1971. Zwar kann innerhalb der aristotelischen Ethik eine Teleologie ausgemacht werden, aber diese ist als Handlungsteleologie zu bezeichnen, wohingegen eine Natur- oder kosmische Teleologie nicht im Vordergrund steht. Wichtig ist dabei unter anthropologischer Perspektive, dass aristotelische Ethik und Moraltheorie in dessen Vorstellungen vom guten Leben quasi eingebettet sind und damit in die Antriebsstruktur des Menschen, was so weit geht, dass Anthropologie und Ethik partiell nicht zu trennen sind. 357 Vgl. HÖFFE, O., Ausblick. Aristoteles oder Kant - wider eine plane Alternative, in: ARISTO- TELES, Nikomachische Ethik, hrsg. v. HÖFFE, O., Berlin 2 2006, 277-304, hier 283ff. <?page no="202"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 202 die PANDORA-Sage. 358 Die Vieldeutigkeit möglicher Interpretationen des Hoffnungsbegriffs im Griechentum spiegelt sich besonders schillernd in den verschieden überlieferten Fassungen dieser berühmten Sage: Danach wird PANDORA - in der umstrittenen Überlieferung HESIODS - von Zeus mit einer Büchse voll von Übeln auf die Erde gesandt. Von Neugierde getrieben hebt sie den Deckel ab und Übel wie Krankheit, Hunger und Sorgen verbreiten sich auf der Erde bis auf die ἐλπίς , als richtige Voraussicht verstanden, die in der Büchse verbleibt, weil Pandora sie zu schnell wieder geschlossen hatte. Für HESIOD, ähnlich wie für AISCHYLOS zählt dabei die Hoffnung eindeutig zu den Übeln. Aufschlussreich ist zudem, dass sie von HESIOD in der Theogonie und in den Werken und Tagen im Umfeld des Mythos von Prometheus, des ‚Voraus-Denkenden‘, erzählt wird und insgesamt die Ambivalenz der Hoffnung diskutiert. Auch wenn nach KANNICHT entlang einer interpretatio christiana der wirkungsgeschichtliche Interpretationsdruck in Richtung Positivierung deutet, kann am negativen Zeugnis des HESIOD und der PANDORA-Saga über die Hoffnung als einem Übel für die Menschen kein Zweifel gelassen werden. Die entscheidende und nach wie vor offene Frage bleibt aber, in welchem Sinne die Hoffnung ein Übel ist. Für ANDREAS SPIRA ist sie „jedenfalls immer dann ein Übel, wenn sie leer oder illusionär ist und die Menschen zum Selbstbetrug verführt“ 359 . RICHARD KANNICHT plädiert stattdessen dafür, „dass sie hier nicht nur in dieser oder jener Erscheinungsform, sondern grundsätzlich ein Übel ist“, gerade, wenn sie als „ständig präsente“ Hoffnung in Erscheinung tritt. Insgesamt scheint sie aber, soviel sei festgehalten, eine „Aussicht auf die Zukunft, die die Götter den Menschen ersparen wollten“ 360 , auszudrücken. MARIA MOOG-GRÜNEWALD neigt eher zu der Position von SPIRA 361 , wenn sie dem PANDORA-Stoff die Funktion zuschreibt, „zu erklären, wie - theologisch gesehen - die Übel in die Welt gekommen sind und warum - anthropologisch gesehen - wir die Hoffnung als ein Gut und nicht als ein Übel erachten“ 362 . Im Ergebnis allerdings kann die Hoffnung nichts anderes als ein Übel sein, da sich ZEUS mit ihr listreich rächt: „er schickt den Menschen ein Übel, das als Gut getarnt ist und dessen Tarnung aus Verstandes-Schwäche nicht erkannt wird. […] Der Sinn der uns verbliebenen Hoffnung ist nun, dass der Mensch fortan blind Hoffnungen folgt, die ihn täuschen, und er, von der Hoffnung geblendet, nicht merkt, wie er gerade den Dingen weit beide Arme öffnet, die am Ende sein Unglück sind.“ 363 In einer Parallelüberlieferung des THEOGNIS wird dagegen die Göttin Ἐλπίς als einzige edle Gottheit gepriesen, die dem Menschen geblieben ist, nachdem alle anderen guten Götter die Erde verlassen hatten. In ähnliche Richtung weist die bei BABRIUS 358 Vgl. mit ausführlichen altertumswissenschaftlichen, kunst- und wirkungsgeschichtlichen Hinweisen KANNICHT, R., Pandora, in: Antike Mythen in der europäischen Tradition, hrsg. von HOFMANN, H., Tübingen 1999, 127-151. 359 Vgl. für alle drei Zitate KANNICHT, Pandora, 147. 360 Vgl. DIHLE, A. / STUDER, B. / RICKERT, F., Hoffnung (Art.), in: DASSMANN, E. et al. (Hrsg.), Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt Bd. XV, Stuttgart 1991, 1159-1250, hier 1161. 361 Vgl. ausführlich SPIRA, A., Angst und Hoffnung in der Antike, in: EIFLER, G. / SAAME, O. / SCHNEIDER, P. (Hrsg.), Angst und Hoffnung. Grundperspektiven der Weltauslegung, Mainz 1983, 203-270. 362 Vgl. MOOG-GRÜNEWALD, M., Die Hoffnung - ein Gut oder ein Übel? PANDORA (unveröffentlichtes Manuskript), 5. 363 Vgl. MOOG-GRÜNEWALD, Die Hoffnung - ein Gut oder ein Übel? , 7.d <?page no="203"?> 3. Griechisch-Römische Antike: Entdeckung der Zukunft als Erwartung 203 überlieferte hellenistische Fassung der Sage, die nach BULTMANN 364 den ursprünglichen Sinn erhalten haben soll, wonach die Büchse der Pandora lauter Glücksgaben enthält. Während alle anderen Güter entwichen sind und sich nicht auf der Erde verbreitet haben, bleibt die Hoffnung als einziges Gut in der Büchse, um die Menschen zu trösten. Mit dieser Bedeutung wurde der ἐ λπίς -Begriff im Verlaufe der griechischen Geistesgeschichte überliefert, ohne jedoch seinen Unterton von Beunruhigung und Unsicherheit, mithin seinen trügerischen und ambivalenten Charakter zu verlieren. Zwar ist es dem Menschen in der bedrängten Gegenwart ein Trost, dass oder wenn er (noch) hoffen darf, aber die ἐ λπίς ist leicht verführbar und dadurch gefährlich. Dass des Menschen Hoffnungen unsicher sind, gehört zu den bleibenden Erfahrungen antiker Hoffnungs-Ethik, wiewohl ihnen durch spätere Reflexionen eine positivere und rationalere Betrachtung zur Seite gestellt wurde. e) Antike Zeitphilosophie Darüber hinaus scheint ein Seitenblick auf die antike Zeittheorie an dieser Stelle für die vorliegende Fragestellung nach einer Ethik der Hoffnung angebracht und lohnend zu sein, auch wenn diesbezüglich mythologische und kosmologisch-holistische Annahmen im Hintergrund vermutet werden können, die schlicht extrahiert werden müssen, um die gesuchte Systematik freizulegen. Für antikes Denken ist Zeit und Zeitlichkeit auf das Engste mit Vergänglichkeit und Sterblichkeit verknüpft und der damit einhergehenden Möglichkeit und Notwendigkeit, sich innerhalb der Zeit auf das Leben zu besinnen. „Alles, was sich begibt, begibt sich in der Zeit, worunter sowohl destruktive Aspekte wie Alter und Tod fallen als auch konstruktive Aspekte wie Reife und die Konstitution der Wissenschaften und Künste. […] Es kann als ein Grundmotiv der antiken Philosophie angesehen werden, die Welt in ihrer prozessualen Dimension und somit auch die allgemeine Gefährdung des menschlichen Lebens durch negative Geschehnisse in der Zeit anzuerkennen und folglich nicht nach Glücks- und Heilswegen zu suchen, die diese Gegebenheit negieren und gleichsam überspringen. In dieser Welt und ihren ontologischen Gründen werden Gewissheiten gesucht, an denen man sich in der wandelbaren Welt orientieren und in deren tätiger Erschließung man ein glückliches Leben verwirklichen kann.“ 365 Der handlungsmäßige Zug der Daseinsorientierung, der sich aus diesen Vorstellungen ergibt, lässt eine Verbindung zur (handlungspraktisch gefassten) Hoffnung ziehen. Insbesondere bei ARISTOTELES ist die Verwiesenheit des menschlichen Daseins und dessen Glücksmöglichkeiten - und damit indirekt auch auf dessen Möglichkeiten zu begründeter Hoffnung - auf die ihm gegebene Zeitspanne explizit formuliert, wenn er den Tätigkeitscharakter des Glücks betont und damit dessen prozesshafte und zeitliche Entwicklung. Letzte Glückseligkeit ist schließlich eine Sache der Götter. Darüber hinaus kennt die antike Zeittheorie cum grano salis die moderne „Öffnung der Zeitschere“ 366 noch nicht, wonach die neuzeitliche Subjekt-Objekt-Spaltung noch nicht freigelegt ist und damit eine nachwievor instruktive Figur vorliegt, tendenziell subjektivistische und tendenziell objektivistische Zeittheorien zu verbinden, was für 364 Vgl. BULTMANN, ἐ λπίς A., 516. 365 Vgl. WOYKE, A., Die systematische Bedeutung antiker Zeitphilosophie. Anknüpfungspunkte und wesentliche Unterschiede im Blick auf spätere Konzeptionen, Zeitschrift für philosophische Forschung, 60 (2006), 3, 421-440, hier 433-434. 366 Vgl. BLUMENBERG, H., Weltzeit und Lebenszeit, Frankfurt am Main 1986, 69ff. <?page no="204"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 204 handlungstheoretische Entwürfe von großer Wichtigkeit sein dürfte. Schließlich kann mit WALTER MESCH und ANDREAS WOYKE festgehalten werden, dass „das Hauptproblem moderner philosophischer Zeittheorien insbesondere darin“ bestehe, „dass ein nahezu unvermittelter Gegensatz zwischen subjektivistisch-phänomenologischer ‚Eigenzeit‘ und objektivistisch-analytischer ‚Naturzeit‘ errichtet wird, der nur durch eine Reduktion in der einen oder anderen Richtung als bewältigbar erscheint.“ 367 Das, was man Handlungszeit nennen könnte, liegt schließlich in einer Vermittlung beider Zeitformen. So kann vermutet werden, dass die marginale Behandlung der Hoffnungskategorie als Handlungskategorie u.a. an einem fehlenden Begriff von Handlungszeit festgemacht werden kann, der wiederum mit der erwähnten Diastase der Zeitformen zu tun hat. f) Ertrag Die Analysen griechischer Elpistiker, insbesondere im nachfolgenden Vergleich mit den alt- und neutestamentlichen Zeugnissen, lassen zwei fundamentale Hoffnungsbegriffe differenzieren, die auf unterschiedlichen Voraussetzungen beruhen und in der Geschichte immer wieder - bis heute - anzutreffen sind. Die griechische Antike kennt ursprünglich keinen eindeutig positiven Hoffnungsbegriff, dieser musste erst durch Attribute (gut, schlecht) inhaltlich qualifiziert werden. Zusammenfassend zeigt sich jenseits der unterschiedlichen Konnotationen und Konzeptionen, dass für den Raum der Antike und des Hellenismus ἐλπίς das vom Menschen aus entworfene Zukunftsbild bezeichnet 368 . Das leitendes Prinzip des griechischen Hoffnungs-Denkens kann Extrapolation genannt werden: Der Grieche lebt - was die Zeitrichtung angeht - von der Gegenwart in die Zukunft hinein, die er rational vorwegnehmend in Besitz zu nehmen versucht. Die Frage nach der Bedeutung und dem Stellenwert der Hoffnungskategorie in der Antike lässt sich grosso modo zusammenfassen auf die Frage, wie es kommt, dass Menschen glücklich oder unglücklich sind. 369 Die Antike trennte dabei streng genommen noch nicht zwischen Erwartung und Hoffnung: Hoffnung war Erwartung, positiv wie negativ. Erst im Kontakt mit dem Christentum wurde die Hoffnung vereindeutigt, nämlich die eindeutige Erwartung des Positiven und Guten, was aber in eklatantem Widerspruch zur Erfahrung der Wirklichkeit geriet, die zu allem anderen als zu nur positiven Erwartungen berechtigte. Deshalb kam es zur Trennung von Erwartung und Hoffnung: Erwartung blieb bipolar, Hoffnung wurde neu gegründet und eindeutig positiv konnotiert. 367 Vgl. WOYKE, Die systematische Bedeutung antiker Zeitphilosophie, 435. Vgl. diesbezüglich auch die außerordentlich instruktive biblische Zeitfolie in Kapitel V 4 in dieser Arbeit. 368 Vgl. NEBE, ἐλπίς , 998, der im Urteil (als singuläre Stimme) deutlich vorsichtiger ist, was die Konstitution der Hoffnung allein durch den ‚Entwurf‘ des Menschen für den griechischrömischen Raum angeht: „Die Frage ist, ob die ἐλπίς im Griechentum nur vom Menschen aus entworfene Zukunftsbilder enthält: Auf jeden Fall ist die Ordnung der Natur (des Kosmos) grundlegend (im Unterschied zu dem über die Weltordnung stehenden Schöpfer- [und Erlöser-] Gott in der biblischen Tradition), ist Hoffnung als religiöse Haltung dem griechischhellenistisch-römischem Kulturkreis nicht unbekannt. Sie bleibt dort aber vielfach etwas Trügerisches.“ 369 Vgl. SPIRA, A., Angst und Hoffnung in der Antike, in: EIFLER, G. / SAAME, O. / SCHNEI- DER, P. (Hrsg.), Angst und Hoffnung. Grundperspektiven der Weltauslegung, Mainz (Studium Generale der Johannes-Gutenberg-Universität) 1983, 203-270, ebenso in AINIGMA (FS HEL- MUT RAHN), hrsg. von VARWIG, F.R., Heidelberg 1987, 129-181. <?page no="205"?> 3. Griechisch-Römische Antike: Entdeckung der Zukunft als Erwartung 205 Neben der Möglichkeit das antike höchste Gut, die Eudaimonia, als Hoffnungsfigur zu interpretieren, auch neben der Möglichkeit, Präfigurationen derselben zu identifizieren, etwa die platonischen Ideen, ist ferner die antike Handlungstheorie für den vorliegenden Zusammenhang von besonderem Interesse, da sie sehr klar die strukturellen Voraussetzungen für den Hoffnungsvollzug auf handlungspraktischer Ebene formuliert hat, wenn sie eine spezifisch bestimmte teleologische Handlungstheorie favorisiert, die objektivistischen Charakter trug, aber keinesfalls, wie lange angenommen, notwendig prudentielle Züge tragen musste. 370 Insgesamt „beruhen handlungsteleologische Ethiken“, wie die antiken Ethiken von PLATON und insbesondere ARISTOTELES bezeichnet werden können, „auf der Überzeugung, dass nicht nur die Einzelhandlungen eines Individuums subjektiv zielgerichtet sind, sondern dass zudem eine Ordnung der verfolgten Ziele besteht, eine Ordnung, die vom Akteur i.d.R. unbemerkt bleibt, obwohl er ihr ausdrücklich Folge leistet.“ 371 Als zentrale Gemeinsamkeit dieser Ethiken unter hoffnungstheoretischer Perspektive kann daher festgehalten werden: Es gibt eine übergeordnete Zielstruktur für alles Handeln. Der Weg ist dann nicht mehr weit, diese Ziele aufgrund ihrer Attraktivität als Hoffnungsziele festzuhalten, die auf ihren (etwa ontologischen) Grund befragt werden müssen. Oft damit verknüpfte Ontologien oder (kosmologische) Naturteleologien sind aber im Kern von dieser Handlungstheorie unabhängig. „Handlungsteleologische Ethiken richten sich an Akteure, um diesen in Form einer ad hominem-Argumentation zu zeigen, dass es implizite Sinnbedingungen gibt, an denen sie ihr Handeln immer schon orientieren oder rationalerweise orientieren sollten.“ 372 Der antike Hoffnungsbegriff dürfte nun auch aus dem Grunde immer ambivalent geblieben sein, da der entsprechende Hoffnungsgrund nicht ausreichend ausgewiesen wurde und aus christlicher Perspektive auch nicht konnte. 373 Die formale handlungsteleologische Struktur aber, die die antike Lehre von der Eudaimonia als höchstes Strebensziel hervorbrachte, kann als ein bleibender Ertrag antiker praktischer Philosophie für die vorliegende Fragestellung nach einer Ethik der Hoffnung festgehalten werden. Eudaimonia ist demnach (1) als objektiv gelingendes Leben konzipiert (beatitudo objectiva) worden, gerade nicht als subjektive Befindlichkeit, positive Verfassung oder positive Zuständlichkeit. Modern ausgedrückt geht es um ein Erfüllungsglück, kein Empfin- 370 Vgl. HORN, C., Klugheit, Moral und die Ordnung der Güter: Die antike Ethik und ihre Strebenskonzeption, in: Philosophiegeschichte und logische Analyse 6 (2003), 75-95. 371 Vgl. HORN, Klugheit, Moral und die Ordnung der Güter, 76-77. Weiter heißt es: „Ein wohlbekannter Bestandteil aller dieser Moralphilosophien liegt in der Ansicht, jeder Akteur müsse seinen Handlungserfolg wollen; traditionell ausgedrückt: jede Handlung müsse sich auf ein Gut richten (oder zumindest auf etwas für gut Gehaltenes). Bezeichnen wir dies als die These von der Erfolgsbindung des Handelns. Eine andere wesentliche Teilüberzeugung lautet, dass jeder Akteur mit allen seinen Handlungen auf ein umfassendes letztes Ziel gerichtet ist. Wie viele Teilziele jemand auch immer synchron und diachron verfolgen mag, sie lassen sich vor dem Hintergrund eines einzigen großen Zieles verstehen.“ Damit geht zusätzlich einher, dass eine Konzeption des Willens ausgewiesen werden muss. 372 Vgl. ebd. 78. 373 Vgl. WOSCHITZ, K.M., De homine: Existenzweisen. Spiegelungen, Konturen, Metamorphosen des antiken Menschenbildes, Graz 1984, hier 229, der den christlichen vom antiken Hoffnungsbegriff dahingehend abgrenzt, dass dieser durch die Bindung an die Vollendung schaffende Verheißung Gottes „keinen Komparativ mehr kennt“, was für den antiken, am Vorfindlichen orientierten Begriff gerade nicht der Fall sein soll. <?page no="206"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 206 dungsglück, was sofort die Frage nach dem korrespondierenden Konzept aufwirft, worin denn der Mensch seine Erfüllung finden könne - und wer dabei der Mensch ist und wie, d.h. auf welchen Wegen er eine ihm angemessene Erfüllung finden könne. Eudaimonia als höchstes Strebensziel kann (2) formal und inhaltlich als latent unterbestimmt aber nicht unbestimmt mit klarem handlungspraktischem Bezug konzipiert worden, was sicher zur nachhaltigen Wirkungsgeschichte bis heute beigetragen haben mag, da vielfältige inhaltliche Konkretisierungen damit verbunden werden konnten, es aber insgesamt als Hoffnungsgut interpretierbar war, das eine ubiquitäre handlungstheoretische Verortung aufwies. Offen blieb dabei, wie mir scheint, die Bestimmung eines möglichen Hoffnungsgrundes, der ein Hoffnungsgut verbürgen könnte und natürlich eine noch näher begründete inhaltliche Bestimmung des höchsten Gutes der Eudaimonia. Die Idee des Guten, die zunächst noch funktional gedacht wurde, später dann metaphysisch, bildete das letzte Strebensziel, wobei das Verhältnis von Teil und Ganzem zu klären war, da es auch für eine daran orientierte Hoffnungstheorie von Bedeutung ist. D.h. es geht um die Kohärenz von einzelnen Handlungen und übergeordnetem Zusammenhang, indem die einzelnen Handlungen quasi allererst für das eigene Leben gedeutet werden können. Der Handelnde genauso wie der Hoffende will etwas, wenn auch unbestimmt oder unthematisch 374 und er will es im Kontext eines übergeordneten Zusammenhangs, der den Sinn der Einzelhandlungen in Korrespondenz zu einem kohärenten Kontinuum, d.h. letztlich zum Ganzen des Lebens, bereithält. „Das Handeln eines Individuums muss […] ein teleologisches Kontinuum bilden, einen einzigen, als homogen interpretierten Zweckzusammenhang. Folgt man der antiken Handlungsteleologie, so bildet jede Handlung eines Individuums den Bestandteil eines kohärenten Strebensganzen. Dieses umfasst das gesamte bewusste Leben eines Individuums. Jeder Akteur zielt danach mit allen seinen lebenslang unternommenen Handlungen auf ein einziges Zweckkontinuum.“ 375 Die systematische Lehre vom höchsten Gut, vom finis ultimus, begann mithin in der Antike. Zu prüfen wäre, ob das Diktum von STOECKLE tatsächlich zutrifft, der im Vergleich des antiken und später mittelalterlichen Denkens vom finis ultimus mit dem eschatologischen Denken der Bibel zu folgendem Ergebnis kommt: „Es ist nicht zu bestreiten, dass sie [die Lehre vom finis ultimus, d.V.], wenn überhaupt, nur sehr spärlich der eschatologischen Dimension der Schriftbezeugung Rechnung trägt. Maßgeblich sind für ihre Artikulation vielmehr die Kategorien des griechischen Denkens geworden. Das bedingte eine Verkürzung der christlichen Zukunft auf das individuelle ‚Seelenheil‘ hin und in Zusammenhang damit eine abstrakt-individualistische Betrachtung der ‚ewigen Glückseligkeit‘.“ 376 Dessen ungeachtet wird nun im Sinne der hier mit CHRISTOPH HORN für den Raum der antiken Ethik vertretenen teleologischen Handlungstheorie gerade keine Theorie der subjektiven Selbststeigerung oder einseitig ontologie- oder metaphysiklastigen Selbsterfüllung formuliert, sondern es geht um „allgemeine Sinnbedingungen unserer 374 Vgl. HORN, Klugheit, Moral und die Ordnung der Güter, 91. „Ebenso wie es für handelnde Subjekte ausgeschlossen ist, nicht zu handeln, scheint es unmöglich, seinen eigenen Handlungserfolg nicht zu wollen, weswegen bestimmte Verhaltensweisen rational, andere aber irrational sind. Jeder Akteur muss seinen Handlungserfolg so gut wie möglich sicherzustellen versuchen.“ 375 Vgl. ebd. 90. 376 Vgl. STOECKLE, B., Unter dem Anspruch der Hoffnung. Anmerkungen zu einer eschatologischen Grundlegung der christlichen Ethik, Salzburg 1968, 7. <?page no="207"?> 3. Griechisch-Römische Antike: Entdeckung der Zukunft als Erwartung 207 rationalen Handlungsfähigkeit“ 377 . Und gerade diese Bedingungen zeigen sich in hohem Maße - bereits in der antiken Ethik - als hoffnungstheoretisch interpretierbar, sodass die Vermutung nahe liegt, Hoffnung als (sinneröffnende und sinnverwiesene) Handlungskategorie zu bestimmen, die handlungstheoretisch gesprochen eine bestimmte Aufgabe erfüllt bei der Umsetzung von Zielen, die es näher zu bestimmen gilt. Die Theologie- und Philosophiegeschichte wird daher im Anschluss an die Theoriebildungen insbesondere der griechischen und der daran Maß nehmenden römischen Antike bemüht sein, die formale Bestimmung des höchsten Gutes näher zu qualifizieren und dabei auch dessen Grund in den Blick zu nehmen - bis zur theologischen Identifikation von Grund und Ziel etwa in der Ethik des THOMAS VON AQUIN. Ferner scheint mir die ansonsten äußerst tragfähige teleologische Handlungstheorie der Antike offen gelassen zu haben, an welcher Stelle ‚der Andere‘ Bedeutung bekomt, oder mit anderen Worten, was die Beförderung des höchsten Gutes des Anderen für die Realisierung des je eigenen höchsten Gutes bedeuten kann und bedeuten soll und in welchem Verhältnis beides zueinander steht. ROBERT SPAEMANN hat das das „Eudämonismusproblem“ genannt, also die „Frage, wie ein ursprüngliches Interesse am Anderen mit dem unüberwindlichen Wunsch nach dem eigenen Glück zusammengehen könne“ 378 , ein Problem, das später bei KANT zum Mindesten partiellen Widerspruch von Moral und Glück führen wird, eine Dichothomie, die in der Ethik des PLATON und des ARISTOTELES wohl noch keinen systematisch reflektierten Ort gefunden hat. Neben diesen einzelnen Aspekten sind in systematisierender Perspektive noch folgende Einsichten wirkungsmächtig geworden und für eine Ethik der Hoffnung festzuhalten: Mit OTFRIED HÖFFE kann bekanntlich zwischen einer eudämonie-orientierten Strebensethik, wozu die antiken Ethiken zu zählen sind, und einer autonomie-orientierten Willensethik, wozu paradigmatisch die Ethik KANTS zu zählen ist und deren gemeinsame Sprache quasi die der praktischen Vernunft ist, differenziert werden. 379 Ein integrativer Hoffnungsbegriff, wie er hier anvisiert ist, wird nun beide Aspekte integrieren müssen, da auf der einen Seite quasi die finale Zielperspektive benannt ist, zum anderen, wenn man so will, die Ursprungsperspektive. Sittliches Handeln, das sich als vernünftiges Wollen dem Freiheits- und Autonomieparadigma als ihrem Ursprungsparadigma verpflichtet weiß, benötigt, um der dieser Freiheit entsprechenden (Welt-) Verantwortung gewachsen zu sein, eine (begründete) finale Zielperspektive (Eudaimonie, höchstes Gut, Vollendung). Sittliches Handeln, das als vernünftiges Streben seiner finalen Teleologie als Zielparadigma eingedenk ist, benötigt, um den ihrer eigenen Dignität angemessenen Handlungsraum zu bekommen, ein klares Wissen um ihre Ursprungsperspektive. Hoffnung als Handlungskategorie, will sie den vollen Raum menschlicher Handlungswirklichkeit potentiell bestimmen, verbindet teleologische und deontologische Ethiken, vollzieht sich mithin aus Freiheit, aber zielt (letztlich) auf ein inklusives, einheitliches Ziel, deren Qualität der Sinn ist. 377 Vgl. HORN, Klugheit, Moral und die Ordnung der Güter, 94. 378 Vgl. SPAEMANN, R., Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik, Stuttgart 1989, 123. 379 Vgl. HÖFFE, O., Sittliches Handeln: Ein ethischer Problemaufriss, in: LENK, H. (Hrsg.), Handlungstheorien - interdisziplinär Bd. 2, zweiter Halbband. Handlungserklärungen und philosophische Handlungsinterpretation, München 1979, 617-641. <?page no="208"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 208 4. Biblische Wegmarken einer Struktur der Hoffnung: Zukunft als Verheißung Durch die Entstehung und Ausbreitung des Christentums können sich entscheidend neue Impulse für die Reflexion auf die Kategorie der Hoffnung entfalten, da im Zuge dieser Entwicklungen die alt- und neutestamentlichen Traditionen mit dem griechischen ἐλπίς -Begriff unter dem Eindruck der Person Jesu vermittelt wurden. In der Bibel spiegelt sich daher die ganze Breite des Hoffnungsbegriffs, der von einer ganz profanen Verwendung desselben bis hin zu abstrakt-theologischen Spekulationen über den Status der Hoffnung im Kontext des christlichen Glaubens reicht. Insbesondere die Begegnung von Antike und Christentum, jüdisch-semitischem und pagan-griechischem Geist, dürfte zu den wichtigsten Transformationen des Hoffnungsbegriffs geführt haben. 380 Dabei sind bei der Rekonstruktion der biblischen Grundlagen in struktureller Hinsicht zwei Lesarten zu unterscheiden: (1) Texte, die expressis verbis von Hoffnung und deren etymologischen und semantischen Vorläufern oder Nachfolgern reden; (2) Hoffnungstexte, die im engeren Sinne nicht dezidiert den Begriff der Hoffnung verwenden, aber Hoffnungsfiguren inhaltlich-systematisch zum Gegenstand haben. 381 Hier werden vielfältige Hoffnungsbilder gemalt. Als gemeinsamer Bestand alt- und neutestamentlicher Hoffnungstheologie kann die Entdeckung der Zukunft als Verheißung bezeichnet werden, die eine dem Menschen entgegenkommende Zukunft (adventus) eröffnet und diese mit einer (antik geprägten) vom Menschen zunehmend rational entworfenen Zukunft (futurum) konfrontiert. Wenn im AT dabei vorrangig prophetische, weisheitliche, apokalyptische und messianische Texte Hoffnung thematisieren, so im NT vorrangig die Selbstkundgabe und sachtheologische Entfaltung des Grundes aller christlichen Hoffnung in Leben, Sterben und Auferstehung Jesu von Nazareth - und die Konsequenzen dieses Kerygmas für frühchristliche Gemeinden und deren Fragen, wobei weiterhin auch apokalyptische Überlegungen angestrengt wurden. a) Altes Testament α Sprachliche Beobachtungen Für das Alte Testament existiert kein neutraler Begriff der ἐ λπίς als eines bloßen Erwartens, der seinerseits nicht durch die Zusätze von gut oder böse als Hoffnung und Befürchtung charakterisiert werden müsste. Vielmehr ist gerade im Unterschied zum griechischen Sprachgebrauch, in dem Hoffnung die Erwartung von Heil wie Unheil bedeuten kann, im Alten Testament Hoffnung immer die Erwartung eines zukünftigen Heiles, das mitunter schon partiell erfahrbar ist. 382 Die hebräische Terminologie zur Kategorie der Hoffnung wird darum zeigen, dass „die Hoffnung im AT qualitativ bestimmt ist. Sie 380 Vgl. DIHLE, A. / STUDER, B. / RICKERT, F., Hoffnung (Art.), in: Reallexikon für Antike und Christentum Bd. XV, Stuttgart 1991, 1159-1250, hier 1161. 381 Es ist an vielfältige Texte etwa aus der Bundestheologie, den Psalmen, den Evangelien oder auch der Offenbarung zu denken. An dieser Stelle wäre auch eine biblische Theologie der Hoffnung anzuvisieren, die aber erst in Ansätzen vorliegt. 382 Vgl. NEBE, G., ἐ λπίς (Art.), in: COENEN, L. / HAACKER, K. (Hrsg.), Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament Bd. I, Wuppertal 1997, 998: „Insgesamt zeigt sich im AT eine positive Bewertung der Hoffnung im Blick auf die Zukunft.“ <?page no="209"?> 209 kann nicht eine gute oder böse Hoffnung sein, sondern sie ist stets eine gute Hoffnung, die mit Vertrauen und Glauben das Gute, ja das Heil schlechthin erwartet“ 383 . Alttestamentliche Hoffnung 384 ist nun nicht durch einen einzigen Terminus allein zu erheben, sondern es ist auf mindestens vier Verbalstämme und einige davon abgeleitete Nomina zu verweisen, die den Bedeutungsgehalt alttestamentlicher Hoffnung ausmachen. 385 Mit anderen Worten: Es existiert kein eigener aramäisch-hebräischer Hoffnungsterminus, der sich nicht ableiten würde aus semantisch anders konnotierten Verbalstämmen. Ferner sind auch diejenigen Aussagen des Alten Testaments zu beachten, die zwar die Hoffnungsterminologie nicht gebrauchen, aber ein Hoffen bezeichnen und bezeugen. 386 Insgesamt lässt sich der den einzelnen Stämmen zugrundeliegende Bedeutungsgehalt mit „auf etwas gespannt sein, warten, harren, hoffen“ 387 umschreiben. Am häufigsten ist (1) die Wurzel kwh / qwh - warten, harren ( הוק ) zusammen mit den abgeleiteten Wörtern tikwah und mikwäh im Sinne der Zukunftserwartung zu beobachten (insgesamt 82 mal). 388 Aufschlussreich ist die Bedeutung aus dem Grunde, da sie ein „gespanntes Hingerichtetsein auf etwas“ 389 bezeichnet, das wiederum einen Spannungsbogen zum Ausdruck bringt. Im Vordergrund steht eine vertrauende und harrende Gewissheit - auch und gerade in Situationen der Vergeblichkeit. Es existiert eine etymologische Verbindung zum Begriff der gespannten Schnur. Die spezielle Bedeutungsnuance wird durch das wurzelverwandte Wort kaw aufgeklärt, das die (ausgespannte Mess-) Schnur bezeichnet (vgl. 2 Kön 21,13 und Jes 34,17), ebenso wie durch das nur in Jes 18,2.7 vorkommende kawkaw, das die Spannkraft bezeichnet. Damit meint die Wurzel ein Hoffen als „gespanntes Erwarten“ (vgl. Jes 52,4.7) 390 . Das Wort stellt eine Steigerung (2) der Wurzel hkh - sehnsuchtsvolles, vertrauensvolles Warten ( הבח ) dar, die viel seltener (ohne Nominalbildung 14 mal) vorkommt und ein „zaghaft zauderndes (2 Kön 9,3) oder geduldiges (Da 12,12) Zuwarten (Jes 64,3)“ 391 bezeichnet. Deutlich häufiger erscheint 383 Vgl. BARDTKE, H., Hoffnung I. Im AT (Art.), In: GALLING, K. (Hrsg.), Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG 3 ). Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft Bd. III, Tübingen 3 1959, 415. 384 Vgl. für textphilologische Fragen die immer noch klassischen Überblicksarbeiten von WOSCHITZ, Elpis 1979 und ZIMMERLI, W., Der Mensch und seine Hoffnung im Alten Testament, Göttingen 1968. Die Entstehungszeiten deuten an, dass hier dringend Forschungsbedarf besteht, wiewohl für die vorliegende Arbeit überwiegend systematische Interessen im Vordergrund stehen. Vgl. dazu einführend WESTERMANN, C., Das Hoffen im AT, in: ThViat 4 (1952/ 53), 19-70. 385 Vgl. GESENIUS, W., Hebräisches und aramäisches Wörterbuch über das Alte Testament, bearbeitet von BUHL, F., Berlin / Göttingen / Heidelberg 1962 ( 17 1915). 386 Auffällig ist dabei, das selbst in der Anthropologie von JANOWSKI der Begriff der Hoffnung nicht einmal erscheint, die Sache aber allgegenwärtig ist, etwa wenn es um die Bedeutung von Rettung, Dank und Lobpreis, Vertrauen oder den Weg vom Tod zum Leben in den Psalmen geht. Vgl. JANOWSKI, B., Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vlyun 2003. 387 Vgl. BARDTKE, Hoffnung, 415. 388 Vgl. für eine ausführliche Statistik WESTERMANN, C., Das Hoffen im AT. Eine Begriffsuntersuchung, in: Theologia Viatorum 4 (1952/ 53), 19-70, besonders 21-22. 389 Vgl. WESTERMANN, C., Das Hoffen im AT, 26. 390 Vgl. auch Jes 8,17a-b, wo JESAJA in Spannung auf JAHWE hofft, der sein Angesicht vor Jakobs Haus verborgen hat. 391 Vgl. WOLFF, H.W., Des Menschen Hoffnung, in: Ders., Anthropologie des Alten Testaments, München 4 1984, 222. 4. Biblische Wegmarken einer Struktur der Hoffnung: Zukunft als Verheißung <?page no="210"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 210 (3) die Wurzel jhl - warten, hoffen lassen ( לחי ) und deren Derivat tohälät (insgesamt 48 mal), das ein Hoffen als „ausdauerndes, harrendes Warten“ zum Ausdruck bringt. Als typisches Beispiel kann Gen 8,10.12 gelten, wonach Noah jeweils „weitere sieben Tage“ wartete, bis er die Taube noch einmal aus der Arche fliegen ließ. Schließlich ist noch (4) das selten (insgesamt 3 mal) vorkommende śbr - meinen, vertrauen, hoffen, glauben; hoffen, warten ( רבש ) zu nennen, das ein Moment des Prüfens enthält und damit ein „ausspähendes Erwarten“ umschreibt. Das kann soweit gehen, dass das Verbum untersuchen meint (vgl. Neh 2,13.15) bzw. die Augen als Subjekt derartigen Hoffens bezeichnet werden (vgl. Ps 145,15): „Aller Augen spähen nach dir aus, du gibst ihnen Speise zur rechten Zeit.“ Die LXX übersetzt diese Begriffe mit ἐλπίζειν bzw. ἐλπίς und verwendet die gleichen griechischen Wörter auch zur Wiedergabe des hebräischen batăh - trauen, vertrauen, sich sicher fühlen ( חטב ) und hasa - sich bergen, Zuflucht suchen ( הסח ), denn diese Wurzeln werden im Hebräischen parallel zu den anderen Hoffnungsbegriffen bzw. an ihrer Stelle verwendet, was zusätzlichen Einblick in die Erlebnisqualität alttestamentlicher Hoffnung gewährt. Insbesondere die Wiedergabe der Wurzel batăh durch den Wortstamm ἐλπίς ist bemerkenswert, weil er auf eine besondere Komponente des Vertrauens in der Hoffnung hinweist. Darüber hinaus finden sich weitere zur Hoffnungsterminologie verwandte Begriffe in den Wurzeln hä’ämin - fest, sicher sein; dauerhaft beständig; zuverlässig, treu; wahr befunden ( ןמא ) und satăr - sich verbergen, verborgen sein; Versteck, Hülle, Schirm, Schutz ( רתס ). Bei der in der LXX weit über 100 mal verwendeten griechischen Hoffnungsterminologie 392 fällt nun nicht nur auf, dass der differenzierte und sich durch Konkretheit und Lebensnähe auszeichnende hebräische Ausdruck von Hoffnung durch weitere griechische Vokabeln deutlich erweitert wird, die Hoffnungs-Terminologie mithin breiter wird, wobei allerdings Akzentverschiebungen stattfinden und manche Nuance nicht mehr aufgegriffen wird, sondern es fällt zusätzlich auf, dass im Übergang von der hebräischen in die griechische Sprachwelt insbesondere zwei Wort-Relationen hervorgehoben werden müssen, die in dieser Explizitheit im Spektrum hebräischer Hoffnungsbegrifflichkeit noch nicht herausgearbeitet wurden, wiewohl implizit immer anwesend waren. Es ist allerdings zuvor darauf hinzuweisen, dass die LXX die (hebräischen) Verba nicht zuerst mit ἐλπίζω , sondern durch μένω − bleiben (Bestand haben, bestehen bleiben, warten, feststehen, standhalten), erwarten bzw. ὐ πομένω − zurückbleiben, ausharren; aushalten, ertragen, erwarten und dessen Derivate übersetzt, was das Gewicht besonders auf das Moment des Wartens, Ausharrens und der Geduld legt. 393 Das Überwiegen der Verbalstämme zeigt insgesamt, dass der Akzent auf dem Vorgang des Hoffens liegt. Was die Zeugnisse der Hoffnung im Alten Testament (im Unterschied zum Neuen Testament) betrifft, überwiegt mithin die Bezeugung des Hoffnungs- Aktes, der sich schließlich in der Begrifflichkeit und der Verwendung der Wörter widerspiegelt. 394 Es hat sich gezeigt, dass die sprachlichen Möglichkeiten des Hebräers gänzlich 392 Vgl. für eine ausführliche (alt- und neutestamentliche) Statistik und Semantik NEBE, ἐ λπίς, 993-1004. 393 Vgl. ebd. 998. 394 Im hellenistischen Judentum vergrößert sich schließlich die Vokalbasis noch weiter. Bezeugt v.a. bei PHILO VON ALEXANDRIEN und FLAVIUS JOSEPHUS werden δέχομαι annehmen bzw. abwarten, warten auf, erwarten, δοκέω bzw. δοκία und deren Derivate im Zusammenhang von Reflexionen und Definitionen der Hoffnung verwendet. Dabei ist eine Definition des PHILO klassisch geworden: „Furcht ( ϕόβος ) und Hoffnung (ἐ λπίς ) sind einander Feind, <?page no="211"?> 211 verschiedene Weisen des positiven 395 , hoffenden Verhaltens zur Zukunft differenziert zum Ausdruck bringen können, ohne einen spezifischen Hoffnungsbegriff bereitzuhalten. Dabei kann zusammenfassend mit H.W. WOLFF konstatiert werden: „Hoffnung artikuliert sich als gespanntes Erwarten (kwh), als geduldiges Zuwarten (hkh), als spähendes Ausschauen (śbr) oder als ausdauerndes Harren (jhl).“ 396 Das gibt folgende zwei Wortrelationen zu erkennen: Zusammenhänge alttestamentlicher Hoffnung mit anderen Sprachderivaten (1) Der Zusammenhang von Hoffnung und Vertrauen (batăh-ἐ λπίς− Relation) (2) Der Zusammenhang von Hoffnung und Geduld (qwh-ὐ πομον ή-Relation) Abbildung 5 Zusammenhänge alttestamentlicher Hoffnung mit anderen Sprachderivaten β Sitz im Leben Sowohl im religiösen Leben des Volkes, wie auch im Leben des Einzelnen spielte diese Hoffnung eine zentrale Rolle, weil die alttestamentliche Religion zentral eine Bundesreligion war, die eine spezifisch damit verbundene Verheißung einschloss. Zunächst gilt aber, dass im Alten Testament Hoffnung „im allgemeinen die zuversichtliche Erwartung des Schutzes und des Segens Jahwes, also der Erfüllung der Bundesverheißungen“ 397 ist, was sie in enger Verbindung mit dem Glauben stehen lässt. Es kann mithin sogar als Grundcharakteristikum, als Eigenart alttestamentlicher Hoffnung gelten, dass sie sich (als Konsequenz) aus dem (Glauben an den) Bund zwischen Jahwe und Israel 398 ergibt. Moraltheologisch formuliert heißt das, dass der Hoffende des Alten Testaments sich an den Bund bindet, in einem Akt der Selbstbindung sich in den Horizont dieses Bundes mitsamt seinen Verheißungen und Verpflichtungen stellt. Die (Bundes-) Treue Jahwes zu seinem Volk ist der Grund alttestamentlicher Hoffnung, wohingegen ihr Gegenstand mit dem sich in seiner Fülle in der Geschichte an Mensch und Schöpfung realisierenden Heilswillen Jahwes bezeichnet werden kann. Die mit diesem Bund jeweils einhergehenden Verheißungen, die göttlichen Zusagen des Heils und der Errettung, eröffneten im Falle eines Ausbleibens der vollen (geschichtlichen) Verwirklichung ein hoffendes Warbeides ist Erwartung ( προσδοκία ), im Fall der Hoffnung guter Dinge, im Fall der Furcht böser / schlimmer Dinge.“ Zitiert nach ebd. 995. 395 Wiewohl das Alte Testament als ganzes eine positive Bewertung der Hoffnung zu erkennen gibt, bleibt auch eine Erwähnung ihres Gegenteils nicht aus, das in den griechischen (Spät-) Schriften v.a. durch das Verbum ἀ πελπίζω im Sinne von verzweifeln bezeichnet wird. 396 Vgl. WOLFF, Des Menschen Hoffnung, 223. 397 Vgl. IMSCHOOT, P. VAN, Hoffnung (Art.), in: HAAG, H. (Hrsg.), Bibel-Lexikon, Einsiedeln / Zürich / Köln 2 1968, 746. 398 Vgl. zu den Vorgaben und den systematischen Implikationen alttestamentlicher Bundestheologie GROß, W., Zukunft für Israel. Alttestamentliche Bundeskonzepte und die aktuelle Debatte um den Neuen Bund , Stuttgart 1998 (Stuttgarter Bibelstudien 176). 4. Biblische Wegmarken einer Struktur der Hoffnung: Zukunft als Verheißung <?page no="212"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 212 ten auf die endgültige Erfüllung - ihre Realisierung wurde quasi zum Gegenstand der Hoffnung. 399 Voraussetzung dieser Hoffnung bildet der Glaube an die Macht Jahwes, alle Zusagen auch (geschichtlich) einlösen zu können. Damit wird ein Zentralthema alttestamentlicher Theologie berührt, das im Rahmen der vorliegenden Suche nach Grundelementen einer alttestamentlichen Hoffnungstheorie von besonderer Bedeutung ist: die Allkausalität Jahwes auf der einen und die Monolatrie Jahwes auf der anderen Seite. So wie mit dem einen die All-Ursächlichkeit Jahwes für die Geschicke Israels und mit dem anderen die (daraus abgeleitete) alleinige Verehrung Jahwes unter den Göttern des semitischen Pantheons gemeint ist, so entsprechen beide einer bestimmten Vorstellung von Hoffnung, nämlich derjenigen, die vollständig und ausschließlich auf diesen Jahwe setzt: „Der Forderung nach der Alleinverehrung Jahwes im Hauptgebot des Dekalogs entspricht die allein auf ihn gesetzte Hoffnung. Zu ihr stehen mithin alle anderen Arten der Hoffnungen im Gegensatz, sie seien auf Götzen (Jes 42,17 u.a.), edle Anführer (Ps 146,3), die Zahl der Krieger (Hos 10,13), auf Wagen und Reiter (Jes 31,3), befestigte Städte (Jer 5,17), den Tempel als einen Talisman (Jer 7,4), Heilsworte falscher Propheten (Jer 7,4), Frevler (Jes 30,12; Ps 40,5; Ps 62,11), Menschen im Gegensatz zu Gott (Jer 17,5) oder auf sich selbst (Jes 32,9; Hos 10,13; Zef 2,15) gerichtet.“ 400 Daraus lässt sich konsequent folgern, dass Jahwe schließlich selbst als Hoffnung Israels 401 (vgl. Jer 17,13) bezeichnet wird, was H. BARDTKE prägnant zusammenfasst, wenn er sagt: „Das Wesen der alttestamentlichen Hoffnung ist Jahwe allein.“ 402 D.h. mit anderen Worten, dass alttestamentliche Hoffnung (in ihrer mindestens immer impliziten Jahwe-Bezogenheit) einen personalen Bezug aufweist. Der zeigt sich mit Blick auf die Wortstatistik allein schon daran, dass von allem, worauf der Mensch seine Hoffnung setzen kann, es am weitaus häufigsten Jahwe selbst ist, auf den Israels Erwartungen gerichtet sind. 403 Weil nun Jahwe als Weltenherrscher nicht nur die zurückliegende, sondern auch die vorausliegende Zeit bestimmt, kann ihm sogar die Überwindung des Todes und die Aufhebung des (geschichtlichen) Weltenlaufes zugetraut werden, wie es die allerdings erst im 3. Jh. v. Chr. aufkommende Totenauferstehungs-Hoffnung (vgl. Dan 7; 12, 1-3) zeigt. Diese im Frühjudentum langsam Gestalt gewinnende Vorstellung schält sich auf dem Hintergrund der Frage nach dem Glück der Gottlosen bzw. nach dem Leiden der 399 „Bis zur Landnahme war der Besitz des Gelobten Landes der Hauptgegenstand der Hoffnung (Gen 15,7; 17,8; Ex 3,8.17; 6,4; Dtn 1,8 u.a.). Nach der Landnahme wurde die Hoffnung auf Jahwes Schutz umso lebendiger, je mehr die Gefahren, die das Fortbestehen Israels bedrohten, wuchsen.“ Vgl. IMSCHOOT, Hoffnung, 746. 400 Vgl. KAISER, O., Hoffnung II. Altes Testament (Art.), in: BETZ, H.D. / BROWNING, D.S. / JANOWSKI, B. / JÜNGEL, E. (Hrsg.), Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft Bd. 3 (RGG 4 ), vierte, völlig neu bearbeitete Auflage, Tübingen 2000, 1823. 401 „So gilt die Hoffnung des Einzelnen wie die des Volkes und in ihm später zumal die der Gerechten, dem Gott, der aus allen Nöten erretten und den Seinen ein heilvolles Leben gewähren kann.“ Vgl. KAISER, Hoffnung II., 1823. 402 Vgl. BARDTKE, H., Hoffnung I. Im AT (Art.), In: GALLING, K. (Hrsg.), Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG 3 ). Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft Bd. III, Tübingen 3 1959, 416. Vgl. auch fast gleichlautend WOLFF, Des Menschen Hoffnung, 224-225, der insbesondere aus der Unsicherheit und Nicht-Verfügbarkeit der Zukunft für den alttestamentlichen Menschen folgert, dass „grundlegend und zur Hauptsache Jahwe die Hoffnung des Menschen ist“. 403 Vgl. WOLFF, Des Menschen Hoffnung, 225. <?page no="213"?> 4. Biblische Wegmarken einer Struktur der Hoffnung: Zukunft als Verheißung 213 Gerechten aus dem Hause Israels 404 heraus. Entscheidend für die Entstehung ist eine fundamentale Verschiebung bzw. Ausweitung ihrer ursprünglichen (alleinigen) Inhalte auf der Basis des erlebten faktischen Ausbleibens der innergeschichtlichen Realisierung der Jahwe-Verheißungen: „Im Falle des Ausbleibens der Erfüllung kann die fromme Hoffnung des einzelnen so stark von der Wirklichkeit Gottes beherrscht sein, dass nicht mehr das innergeschichtlich oder endgeschichtlich Erhoffte entscheidend ist, sondern Gott allein, der dem auf ihn Hoffenden Gemeinschaft bietet.“ 405 Damit ist nicht nur die Einzigartigkeit Jahwes für den alttestamentlich Hoffenden erneut unter Beweis gestellt, sondern es ist damit auf eine religionsgeschichtlich erstaunliche und für die vorliegende Fragestellung entscheidende Transformation der Struktur alttestamentlicher Hoffnung hingewiesen. Der ursprüngliche Inhalt und Gegenstand der Hoffnung, die innergeschichtliche Verwirklichung der Verheißungen Jahwes auf ein erfülltes Leben für das erwählte Volk und jeden einzelnen, wird sublimiert und transzendiert, indem das gute Leben (in Gemeinschaft mit Jahwe) nicht mehr in konkret-immanenten Gegebenheiten gesucht wird, die von Jahwe stammen und als von ihm erfüllte Verheißungen gedeutet werden, sondern in der Hoffnung auf eine letzte Gemeinschaft mit ihm selbst. Damit sind konkret-irdisch-geschichtliche Hoffnungsgüter aus diesem Verhältnis fürderhin nicht ausgeschlossen, aber alttestamentliche Hoffnung beschränkt sich nicht mehr auf sie und ist schließlich nicht mehr einseitig von ihrem Vorhandensein abhängig, was für das handelnde Subjekt enorme Konsequenzen hat. Alttestamentliche Hoffnung wird auf diesem Wege eschatologisch konnotiert 406 und in ihrer Hochform von den (widrigen) Umständen geschichtlicher Realität letztlich nicht mehr widerlegbar, was sicher zum Überleben des jüdischen Volkes und seiner Religion durch alle geschichtlichen Katastrophen hindurch erheblich beigetragen hat und sich im Neuen Testament mit neuer Akzentsetzung wiederfindet. D.h., die Bindung an die Erfüllung konkreter innergeschichtlicher Hoffnungsziele als Garant für Leben wird gelöst zugunsten der Bindung an das Hoffnungsziel einer Gemeinschaft mit Jahwe im Zuge einer eschatologisch-endgültigen Welt-Neuschöpfung auf der Basis eines neuen Bundes zwischen ihm und den Völkern. Auf den einzelnen bezogen kommt das einer Sicherung der eigenen Existenz im Numinosen gleich, indem ein Hoffnungszusammenhang etabliert wird, der selbst potentialiter nicht grundsätzlich enttäuscht werden kann, solange man bereit ist, sich in die Verheißungsspannung zu stellen. Damit wird man in der Lage versetzt, Handlungsfähigkeit zu bewahren, indem die Bewältigung einer jeglichen geschichtlichen Situation auf ein endgültiges Glücken hin in Aussicht gestellt wird. Hoff- 404 „Freilich kennt auch die Umwelt des Alten Testaments eine religiöse Hoffnung auf die Gottheit [...], aber offensichtlich keinen ausgesprochenen Hoffnungs-Begriff.“ Vgl. NEBE, ἐλπίς , 998. Das spricht u.U. dafür, dass die Struktur israelitischer Religion und Religiosität so geartet ist, dass sie einen expliziten Hoffnungsbegriff hervorbringen musste, eine These, deren Richtigkeit für die Argumentation der vorliegenden Arbeit von nicht unerheblicher Bedeutung wäre, da sie (strukturelle) Voraussetzungen für die Etablierung individueller wie kollektiver (religiöser) Hoffnung zu benennen vermag. 405 Vgl. BARDTKE, Hoffnung I, 416. 406 „Gelegentlich ist die Hoffnung eschatologisch gefärbt (Ps 16,10f.; 17,15; Is 51,5; Jer 29,11). Dieser Aspekt tritt im Judentum klarer hervor: der Weise, d.h. der Fromme, hofft auf die Unsterblichkeit [ ... ] , die Auferstehung von den Toten [ ... ] , das Heil bei Gott [ ... ] , während die Gottlosen keine [ ... ] oder nur eine eitle [ ... ] oder trügerische [ ... ] Hoffnung haben.“ Vgl. IM- SCHOOT, P. VAN, Hoffnung (Art.), in: HAAG, H. (Hrsg.), Bibel-Lexikon, Einsiedeln / Zürich / Köln 2 1968, 746-747. <?page no="214"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 214 nung wird dabei über die Todesgrenze hinaus ausgedehnt, sie macht quasi an der Grenze des Todes nicht (mehr) halt und öffnet dadurch den Raum der Gegenwart neu, den es handelnd zu bestehen gilt, indem sie diesen auf sich selbst hin orientiert, dadurch inhaltlich bestimmt und dabei die innergeschichtlichen Hoffnungsziele entsprechend prüft und das daraus resultierende Handeln grundlegend motiviert und in gewisser Weise sichert, indem es zumindest potentiell ‚enttäuschungsresistent‘ gehalten wird. Dagegen setzte, ursprünglicher altisraelitischer Anschauung gemäß, der Tod dem Hoffen des Menschen eine unübersteigbare Grenze. Angesichts der Endgültigkeit des Todes kann es keine Hoffnung geben, sie zerbricht förmlich an dessen Grenze. So kann der Chronist David in einem Dankgebet anlässlich der Einsetzung Salomos zu seinem Nachfolger bekennen: „Ja, Fremdlinge sind wir vor dir und Beisassen wie all unsere Väter, wie ein Schatten sind unsere Tage auf Erden und ohne (bleibende) Hoffnung.“ 407 Nur wer lebt und zu den Lebenden gehört und nicht schon dem Bereich der Unterwelt zuzurechnen ist 408 , hat noch etwas zu hoffen: „Besteht keine Hoffnung auf ein Weiterleben mehr, so ist alles dahin (Job 6,11; 7,6; Kl 3,18); der Betreffende ist dann schon wie ein Toter, der keine Hoffnung mehr hat.“ 409 Charakteristisches Beispiel für diese für den israelitischen Kontext lange Zeit selbstverständliche Vorstellung ist das Hiob-Buch, in dem die Vorstellung, der Fromme habe immer Hoffnung auf Jahwe, gerade zum Zeugnis gegen Hiob wird, der angesichts seiner Lage keine Hoffnung mehr hat (vgl. Hiob 4,6; 15,4; 22,4). Die am Tod radikal begrenzte Hoffnung wird für Hiob aber auch zu einem Argument dafür, dass Gott selbst der menschlichen Hoffnung eine Grenze ist, indem nur noch ein nicht mehr Hoffnung zu nennendes Eingreifen Gottes entscheidend zu werden vermag. Was hier schon als Problem des Verhältnisses von Hoffnung und Sünde anklingt, die Frage, inwieweit der Sünder noch Hoffnung haben kann, wurde schon von den Propheten erkannt, die religiös vermessene Auffassungen des Volkes verurteilten 410 , weil Israel aufgrund seiner Sünden nicht den Segen, sondern den Fluch Jahwes verdient habe. Dennoch gilt: „Wenn sie aber auch die göttliche Strafe androhten, so ließen sie doch immer die Hoffnung auf die Erlösung oder die Wiederherstellung Israels oder wenigstens eines durch die Heimsuchungen geläuterten Restes offen.“ 411 Für den vorliegenden Zusammenhang bemerkenswert ist nun, dass nach dem Untergang der beiden israelitischen Reiche, der als Erfüllung der angedrohten Strafe gedeutet wurde, die Hoffnung auf Wiederherstellung Israels in einem neuen und ewigen Bund (in den Propheten 407 Vgl. die Stelle 1 Chr 29,15, die mikwäh zur Bezeichnung der Hoffnung verwendet. 408 „Solange der Mensch lebt, kann er hoffen; ist er in die Unterwelt hinabgestiegen, besitzt er keinerlei Bewusstsein und mithin auch keinerlei Erwartungen mehr (Pred 9, 4-6; vgl. Sir 14, 12). Daher blieb dem Leidenden nur die Hoffnung, dass sich Gott seiner erbarme und ihn heile. Um das zu erreichen, bekennt der Kranke Jahwe im Rahmen seiner Vergänglichkeitsklage, dass er seine einzige Hoffnung ist (Ps 39,8). Unter dem Einfluss des sich in exilisch-nachexilischer Zeit ausbreitenden Glaubens, dass alle Leiden Folgen göttlicher Sanktionen sind, wusste sich der Leidende zugleich als Sünder, der auf Gottes Vergebung angewiesen ist (vgl. Ps 39,9-12).“ Vgl. KAISER, Hoffnung II, 1824. 409 Vgl. IMSCHOOT, Hoffnung, 746. 410 Als Beispiel mag Am 5, 18 genügen, der die Erwartung des Tages Jahwes als eines Heils- und Lichttages kritisiert, da sie die Heilszusagen Jahwes inhaltlich absolut setzen würde, was einer Verfügung über den Garanten der Hoffnung, Jahwe selbst, gleich käme und seine Souveränität beeinträchtigen würde. 411 Vgl. IMSCHOOT, Hoffnung, 746. <?page no="215"?> 215 JEREMIA, EZECHIEL) ihren Höhepunkt erreichte. 412 D.h. gerade in den Situationen, die mit der größten Bedrohung bzw. sogar Zerstörung der körperlichen und seelischen Identität und Integrität einhergehen, scheint die Bedeutung der Hoffnung für die Fortexistenz in dieser Gegenwart in kaum überschätzbarem Maße zu wachsen. Je mehr mithin die Gefahren, die das Fortbestehen Israels gefährden konnten, wuchsen, desto lebendiger wurde die Hoffnung auf Jahwes Schutz. Diese Hoffnung aber war nun an eine Voraussetzung geknüpft, nämlich an die Bedingung der Umkehr - ein nicht unerwähnenswerter Zug alttestamentlicher Hoffnungstheologie: Jahwe konnte nur die Hoffnung für das bußfertige Israel sein. 413 Insbesondere die Weisheitsliteratur deutet deshalb darauf hin, „dass die auf Jahwe gesetzte Hoffnung nur dann gerechtfertigt ist, wenn ihr die Lauterkeit des Wandels entspricht (vgl. Spr 11,7; 20,22 u.a.)“ 414 . Die Kategorie, welche sowohl die Sünde als auch die Umkehr und die erhoffte Zukunft verband, war die des Gerichts. In den Vorstellungen des künftigen Gerichts erwartete das erwählte Volk, das Jahwe die nicht verlässt, die ihn suchen und die nicht enttäuscht, die auf ihn hoffen. Der Propheten „Gerichtspredigt schließt die Hoffnung auf eine Rettung nicht aus, sondern gerade ein. Die Rettung erfolgt durch das Gericht hindurch, das der Durchgang zum Heil ist“ 415 . Letztlich heißt das, dass das Gericht ein Implikat alttestamentlicher Hoffnungstheologie darstellt, mithin selbst als Hoffnungsfigur verstanden zu werden hat - der alttestamentlich Glaubende hofft auf ein Gericht. Beispielsweise nach Am 2,13-16 oder Jes 2,6-21 wird das endgültige Schicksal des Menschen im Gericht bewusst offen gelassen als Zeichen, dass noch eine unausgesprochene Hoffnung für ihn besteht. Der ursprüngliche Ort der Jahwe-Hoffnung kann in den „individuellen Klagepsalmen“ 416 gesucht werden, insbesondere in den Aussagen, die eine vertrauende Zuversicht in die Zusagen Jahwes und deren Verwirklichung enthalten 417 , seien sie auch in individueller oder kollektiver Not und Bedrängnis, seien sie bittend, flehend oder klagend, seien sie lobend und dankend formuliert, wie in den beiden folgenden Psalmen: „Nun, was soll ich erwarten, Herr? Meine Hoffnung gilt dir, dir allein“ (Ps 39,8). „Unsere Seele harrt auf Jahwe, er ist unsere Hilfe und unser Schild“ (Ps 33,20). Der existentielle Bezug im Rahmen einer buchstäblich aussichtslosen Lage, die keine positive Zukunft mehr für möglich hält und diese Not vor Gott zum Ausdruck bringt, scheint hier im Zentrum zu stehen. Mit O. KAISER bleibt in diesem Zusammenhang festzuhalten: „Der primäre Sitz im 412 Sie verhießen die Einsetzung Jahwes zum König Israels und der ganzen Welt, womit nicht nur auf die schon erwähnten eschatologischen Momente hingewiesen wird, nicht nur der Monotheismus Israels praktisch gereinigt wird, sondern auch zunehmend die Bedeutung von Mittelbzw. Mittlerwesen der Hoffnung wie der Messias in den Vordergrund gerückt wird. 413 Vgl. das sogenannte „Hohelied der Hoffnung“ in Klgl 3,19-25. 414 Vgl. KAISER, Hoffnung II, 1823. 415 Vgl. BARDTKE, Hoffnung I, 416. 416 Diese nicht nur von H.W. WOLFF vertretene Position nimmt an, „dass die expliziten Hoffnungsaussagen des einzelnen Menschen in Israel ihren eigentlichen Sitz im Leben in den individuellen Klagepsalmen haben, und zwar im Element der Vertrauensaussage“. Vgl. WOLFF, Des Menschen Hoffnung, 39ff. 417 „Charakteristisch für diese in Jahwe begründete Hoffnung ist es, dass sie nicht nur formgeschichtlich zunächst den Platz der Vertrauensaussage in den Klageliedern einnimmt, sondern dass das Hauptwort für Vertrauen (bth) in Parallele zu harren (jhl) (z.B. Ps 33,20.21) und hoffen (kwh) (z.B. Ps 40,2.4f.; 52,10.11) stehen kann, ebenso hsh (Zuflucht suchen) und kwh (Ps 25,20.21). Die annähernde Synonymität hat die Septuaginta verstanden, wenn sie bth 47 mal und hsh 20 mal mit elpizein wieder gibt.“ Vgl. WOLFF, Des Menschen Hoffnung, 227. 4. Biblische Wegmarken einer Struktur der Hoffnung: Zukunft als Verheißung <?page no="216"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 216 Leben der theologischen Rede vom Hoffen auf Jahwe dürfte die Bittklage des einzelnen gewesen sein. In ihr dient das Vertrauensbekenntnis, dass der Beter auf Jahwe (vertraut, wartet, harrt, gespannt ist) hofft, zur Begründung des sein Gebet eröffnenden Notschreis oder weiterer Bitten.“ 418 Dem auf diese Weise Hoffenden rät die Weisheit schließlich, die eigene Planung im Warten auf Gott auch korrigieren zu lassen und insofern der Gottesfurcht Genüge zu tun, denn Gottesfurcht und Hoffnung sind im Alten Testament mitunter parallel verwendete Begriffe, wie Ps 147,11 zeigt: „Gefallen hat Jahwe an denen, die ihn fürchten, an denen, die auf seine Treue warten“. Für das Alte Testament gründet begründete Hoffnung in der Zuversicht auf Jahwe 419 und als solche ist sie nicht zu trennen vom Hören auf den Gott und sein Wort, der sich selbst Israel und den Völkern versprochen hat, indem er zu ihnen gesprochen hat. Es ist eine Entwicklung zu beobachten von der Hoffnung auf Jahwe zur Hoffnung auf oder im Zusammenhang mit Jahwes Wort, Jahwes Weisung, kurz der Tora. Alttestamentliche Hoffnung 420 und das Hören auf das Wort desjenigen Gottes, dem die Hoffnung gilt, sind untrennbar verbunden. 421 γ Alttestamentliche Vorstellungen von Zeit Für das Verständnis alttestamentlicher Hoffnung, insbesondere unter ethischer Perspektive, scheint es mir unumgänglich, mindestens grosso modo entsprechende Vorstellungen von Zeit freizulegen, die quasi im Hintergrund eine wichtige Folie für eine daran Maß 418 Vgl. KAISER, Hoffnung II, 1822. 419 Vgl. WESTERMANN, Das Hoffen im AT, 68. „Die Vokabeln des Hoffens und Wartens im AT bezeugen nicht eine Idee, sondern eine geschichtliche Wirklichkeit: das vielfache und vielfältige Geschehen, dass sich das Volk Israel oder ein Glied dieses Volkes in einer Not an Gott als an seine Hoffnung klammerte. […] Sie haben ihren ursprünglichen und eigentlichen Ort im Bekenntnis der Zuversicht. […] Dieses Hoffen auf Gott ist nur so da, dass einer (oder eine Gemeinschaft) sich der Wirklichkeit entgegen hoffend auf Gott wirft und sich an ihn hält.“ 420 Vgl. ebd. 69. „Es hat sich bestätigt, dass Hoffnung im AT wesentlich verbal verstanden wird. Es ist also die Strecke von A zu B, dabei ergibt sich das Erhoffte jeweils ganz aus der Situation, aus der der Hoffende hofft. Niemals im AT löst sich der Endpunkt B von dem Vorgang A-B und wird zum flächenhaften Bild. Jedoch ist im Hoffen auf Jahwe die Hoffnung im ersten Sinn wesentlich dadurch verändert, dass Jahwe selbst an die Stelle des Erhofften, also an den Punkt B tritt. Das AT zeigt eine tiefe Skepsis gegenüber der Möglichkeit des Menschen, das von ihm Erhoffte wirklich zu erlangen. Dieser Skepsis tritt der Glaube entgegen, dass die Hoffnung sich auf Gott werfen kann auch und gerade da, wo die Hoffnungen der Menschen zunichte werden. Damit behält diese Hoffnung auf Jahwe einerseits die ganze Lebendigkeit der Hoffnung im ersten Sinn; andererseits gründet sie sich weder auf die den Menschen verfügbaren Möglichkeiten noch auf die Spekulation. Sie gründet sich auf das Dasein Gottes für sein Volk und hat darin ihre unbedingte Gewissheit.“ 421 „Israel versteht seine Anfänge und seine fortgehende Geschichte wesentlich als Erfüllungen von Verheißungen Jahwes: die Volkwerdung, die Landgabe, seinen Auftrag inmitten der Völker, das Königtum und die Fortdauer des Davidhauses, die Katastrophen der Richter- und der Königszeit und dann besonders das babylonische Exil, die Heimkehr aus dem Exil, die neuen Anfänge in Jerusalem und vor allem die Vollendung aller Verheißungen im neuen Bund für Israel, in der Einbeziehung der Völkerwelt und der völligen Welterneuerung. Auch die Hoffnungen der Einzelnen haben Grund, Bestand und Kraft nur, indem sie von diesen Verheißungen für Israel und die Völker umschlossen sind. Die Erwartungen aller genannten Veränderungen aber sind begründet ausschließlich in Jahwes Wort, das als Versprechen an die Väter und dann vor allem als Gerichtsankündigung und Heilsverheißung durch die Propheten in Israel laut wurde.“ Vgl. WOLFF, Des Menschen Hoffnung, 225. <?page no="217"?> 217 nehmende Handlungswirklichkeit abgeben. Auch werden sich die handlungspraktischen Konsequenzen biblischer Eschatologie und damit insgesamt die Bedeutung der Hoffnung für menschliches Handeln und Verhalten nur im Gefolge biblischer Zeittheorie verständlich machen lassen, wiewohl hier nur angedeutet werden kann, was als Desiderat moraltheologischer Forschung allgemein festzuhalten ist - die Vernachlässigung ihrer futurischen Struktur bzw. die Entwicklung einer Theorie der Handlungszeit. Demnach kennt das Alte Testament keinen abstrakten Zeitbegriff 422 und ist auch nicht vorrangig an dessen Quantifizierung interessiert. Für SCHWIENHORST- SCHÖNBERGER 423 etwa lassen sich daher auch sowohl zyklische, als auch lineare Zeitstrukturen im Alten Testament finden, die in ihrer Integration das alte Schema von antik-linear und israelitisch-mythisch-zyklisch als überholt ausweisen. Das eher zyklische Zeitverständnis dient der Semiotisierung des Kosmos, das eher lineare Zeitverständnis, ausgehend von Exoduserfahrungen und später aufgrund einer grundsätzlichen Eschatologisierung der Heilsgüter, dient einer Semiotisierung der Geschichte. Das damit eröffnete Spannungsgeschehen von Individuum, Volk, Geschichte und Welt resp. Kosmos scheint außerordentlich aufschlussreich für das Verständis alttestamentlicher Zeit- und Hoffnungsvorstellungen. Zeit ist dabei immer schon qualifizierte Zeit, die durch ihren von Gott gesetzten Inhalt bestimmt wird und als ‚gefüllte Zeit‘ hervorgehoben wird. 424 Entscheidend ist dabei für den vorliegenden Kontext, dass von einem „teleologischen Charakter des biblischen Zeitbegriffs“ 425 auszugehen ist, der den Schwerpunkt nicht auf den Zeitpunkt, sondern auf die jeweilige Situation legt und eine klare Ausrichtung der Zeit auf ein Ziel kennt. Daher ist alttestamentliches Zeitempfinden immer auch Kairos-Zeit, Geschehnis-Zeit, die sich mit dem Bewusstsein des Handelnden verbindet. Dieser Charakter der Zeit impliziert darüber hinaus auch, dass Zeit als Ganzheit erfahren wird, die nicht jeweils einzelne Augenblicke benennt, sondern die Summe dieser Augenblicke. 426 Sowohl die inhaltliche Qualifizierung, als auch die Zielbindung lassen schließlich in Verbindung etwa mit dem Zwei-Äonen-Schema Vorstellungen wahrscheinlich werden, dass es einen erwarteten Endzustand geben könne, der die verheißene letztgültige Gottes- 422 Vgl. VÖGTLE, A., Zeit und Zeitüberlegenheit im biblischen Verständnis, Sonderdruck aus Freiburger Dies Universitatis Bd. VIII, Freiburg 1961, 1-18, hier 3. „Während wir also durch unsere drei Haupttempora die Handlungen in den Raum verlegen, diese näherhin auf einer Linie festhalten, und unsere Handlungen damit objektiv, unpersönlich, räumlich orientieren, denken die Hebräer subjektiv, persönlich, wenn man so will, streng zeitlich. […] Das Hebräische hat demgemäß nur zwei Tempora; ‚Vollendet‘ (Perfectum, Factum) und ‚Unvollendet‘ (Imperfectum, Fiens), dem Präsens und Futurum entsprechen, weil diese beiden unvollendet sind.“ 423 Vgl. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, L., „Für alles gibt es eine Stunde“ (Koh 3, 1). Das Verständnis der Zeit im Alten Testament, in: Theologisch-Praktische Quartalschrift 4 / 2006 (154. Jg.), 356-364, insbesondere 263ff. 424 Vgl. VÖGTLE, Zeit und Zeitüberlegenheit im biblischen Verständnis, „Während das abendländische und das moderne Zeitbewusstsein im besonderen von der Vorstellung der strömenden Zeit, der leeren, linearen Zeit zur gefüllten Zeit kommt, kommt der Hebräer umgekehrt von der Erfahrung der gefüllten Zeit, vom Glauben an die von Gott herkommende Füllung der Zeit zur Vorstellung der Erstreckungszeit.“ 425 Vgl. ebd. 4. 426 Vgl. WESTERMANN, C., Erfahrung der Zeit im Alten Testament, in: LINK, C. (Hrsg.), Die Erfahrung der Zeit. Gedenkschrift für Georg Picht, Stuttgart 1984, 113-118, hier 114-117, besonders 118. Damit ist auch ausgesagt, dass die gesamte Schöpfung auf eine „Zeitganzheit hin angelegt“ ist. 4. Biblische Wegmarken einer Struktur der Hoffnung: Zukunft als Verheißung <?page no="218"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 218 herrschaft herbeiführen wird, die wiederum als „wesentlich zukünftige Größe“ 427 begriffen wurde. 428 Mit anderen Worten: Alttestamentliche Hoffnung qualifiziert Zeit und ohne qualifizierte Zeit keine Hoffnung, die sich zutiefst von einem intergeschichtlichen hin zu einem transzendenten Zeit-Eschaton orientiert hat. δ Systematische Einlassungen zu einer alttestamentlichen Ethik der Hoffnung Die im Alten Testament bezeugten Hoffnungen können in einer großen Bandbreite eine Fülle von inhaltlichen Gestalten annehmen entsprechend dem Lebenskreis, aus dem sie erwachsen. Das kann von ganz profanen Gegenständen über Aspekte der individuellen Lebensgrundlage bis hin zu politisch-nationalen 429 und dezidiert religiösen Hoffnungen reichen. Entscheidend dabei ist, dass nicht nur das ganze Spektrum Gegenstand von Hoffnung sein kann und sein darf und diese sich auf den ganzen Menschen 430 beziehen, sondern alle damit verbundenen Hoffnungen letztlich Jahwe selber gelten als demjenigen, der sie gleich Segensgaben gewährt oder verwehrt. „Die Hoffnung des einzelnen Israeliten umgreift die äußeren Lebensgüter wie dinglichen Besitz, Familie, Herden, Gesundheit, Fruchtbarkeit, Schutz vor Krieg, wilden Tieren, Hungersnot u.ä. Solche Hoffnung darf nicht als egoistisch und diesseitig verurteilt werden. Die Hoffnung richtet sich auf Jahwe als den gewährenden Gott.“ 431 Da Jahwe selbst diese Hoffnungen in den mit ihnen einhergehenden Gaben verwirklicht, bekommen sie die Gestalt des Segens, des Geschenks. Letztlich sind alle Hoffnungen Gabe Jahwes, der selbst (Grund aller) Hoffnung ist. Dabei gilt es, die Doppel-Poligkeit der alttestamentlichen Hoffnungsinhalte zu beachten, auf die H.-G. LINK hinweist: „Der Inhalt der Hoffnungen ergibt sich einerseits aus den Verheißungen Jahwes, andererseits aus der jeweiligen Situation.“ 432 427 Vgl. VÖGTLE, Zeit und Zeitüberlegenheit im biblischen Verständnis, 12. „Als letztlich von Gott heraufgeführte neue Welt und Weltzeit ist der kommende Äon notwendig das absolute Eschaton, das absolut Letzte, hinter dem nichts mehr kommt und kommen kann! “ 428 Vgl. zur möglichen Entwicklung alttestamentlicher Eschatologie GROß, H., Die Entwicklung der alttestamentlichen Heilshoffnung, in: Trierer Theologische Zeitschrift 70 (1961), 15-28, hier 18, für den etwa das „Strukturgesetz von Verheißung und Erfüllung Quellgrund und Geburtsstätte der alttestamentlichen Eschatologie“ ist und der eine Entwicklung von einer proteschatologischen Stufe, die rein innergeschichtliche Heilsentwürfe erstmals kontrastiert mit einer endzeitlichen Wende, bis hin zu einer transzendenteschatologischen Höherstufe ausmachen zu können glaubt. 429 Allein für diesen Aspekt reicht die Spannweite von der Hoffnung auf ein geduldiges Abfinden mit noch unerfüllten Hoffnungen (Gen 9,25-27) bis hin zur Hoffnung, das Land allein besitzen zu können. Einige Beispiele mögen das Spektrum verdeutlichen: Hoffnung auf einen ewigen Frieden in der Völkerwelt (Jes 2,2-4; Mich 4,1-4), auf einen Frieden zwischen Mensch und Tier (Jes 11,6-9), auf ein ruhiges Alter und eine ungestörte Jugend (Sach 8,4f.), eine Wiedervereinigung der getrennten Reiche (Jer 30f.; Ez 37,15f.), auf eine Gestalt, deren Kommen erwartet wird, ein Heilskönig (2 Sam 7) und ein Prophet (Dtn 18,18f.). 430 Vgl. JANOWSKI, B., Der Mensch im alten Israel. Grundfragen alttestamentlicher Anthropologie, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche, 102 (2005), 143-175, hier 159 und 173. „Die anthropologischen Begriffe des Alten Testaments bezeichnen also […] den Menschen als ganzen, aber unter verschiedenen Aspekten.“ Dabei korreliert er mit W. PANNENBERG unmittelbar die „Weltoffenheit“ des alttestamentlichen Menschen mit dessen „Gottbezogenheit“. 431 Vgl. BARDTKE, Hoffnung I, 416. 432 Vgl. LINK, H.-G., Hoffnung (Art.), in: RITTER, J. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. III, Darmstadt 1974, 1159. <?page no="219"?> 4. Biblische Wegmarken einer Struktur der Hoffnung: Zukunft als Verheißung 219 Auf einen besonderen Umstand alttestamentlicher Hoffnungsstruktur weist schließlich H. BARDTKE hin, wenn er folgende These vertritt: „In allen diesen Hoffnungen ist nicht die restitutio ad integrum entscheidend, sondern der durch das gewandelte Volk der Heilszeit hindurch sich verwirklichende Wille Jahwes.“ 433 So wichtig zwar die Inhalte der alttestamentlichen Hoffnung, die jeweiligen Hoffnungsgüter, sind, sie werden immer wieder, entsprechend der These von H. BARDTKE, vor einer innergeschichtlichen Vergötzung und Absolutsetzung bewahrt, indem sie auf den je neu zu vernehmenden, zu verstehenden und dann zu konkretisierenden Willen Jahwes transzendiert werden. So bindet sich Hoffnung einerseits und bekommt - was das einzelne Handlungssubjekt anbelangt - zugleich die Freiheit, eine konkrete Bindung zugunsten einer dem menschenfreundlichen, lebensfördernden Willen Gottes gemäßere zu erneuern. Insgesamt kann zusammenfassend für den langen Überlieferungsprozess israelitischer Hoffnungstheologie und Hoffnungsterminologie eine „Universalisierung, Intensivierung und Personalisierung der Hoffnungen Israels“ 434 festgestellt werden, was sich insbesondere darin zeigt, dass andere Völker in die Heilserwartung einbezogen werden (z.B. Jes 2,2-4), dass die Grenzen des Todes in Frage gestellt werden (z.B. Ps 73,26-28) und dass im Anschluss an die Nathanverheißung ein zukünftiger Heilskönig erwartet wird (z.B. Jes 9,1-6). Spätere apokalyptische Erwartungen 435 gehen sogar noch weiter, wenn sie die gesamte Welt geschichtlich verstehen und den Kosmos zum Gegenstand weltgeschichtlicher Hoffnung machen (z.B. Dan 2). Mit anderen Worten: Die kollektive Geschichte des Volkes Israel wie die individuelle Geschichte des einzelnen Israeliten ist ohne die Hoffnungskategorie nicht verstehbar, diese Geschichte lebt geradezu aus und in von Jahwe verbürgten Verheißungen und den darauf bezogenen Hoffnungen seines erwählten Volkes. Insbesondere am Gedanken der Erwählung lässt sich eine wichtige Struktur alttestamentlicher Hoffnungstheologie festmachen, wie sie schließlich prägend für einen jeden Begriff christlicher Hoffnung geworden ist: „Gott erwählt in souveräner Freiheit Menschen und spricht ihnen die Gabe heilvollen Lebens in der Gemeinschaft mit sich (Bund) zu; aber diese Gabe wird zugleich zur Aufgabe, weil die Erwählung immer auch mit einer Forderung Gottes verknüpft ist, die in die Zukunft eben dieses Heiles weist und deren Erfüllung durch den berufenen Menschen auch erst die Vollendung der Gabe bedingt, so dass die Heilsgabe selbst, so sehr sie hier und jetzt wirklich und wirksam ist, zugleich in die Zukunft weist. Weil die Gabe ein Geheiß umfasst, ist sie auch Verheißung; und weil sie Aufgabe ist, bleibt sie unabgeschlossen. So bekommt […] der Mensch die Zukunft nicht nur als Geschenk, er bekommt sie: zu tun. Somit ist das von Gott zugesprochene Heil weder rein zukünftige noch rein gegenwärtige Größe: das Gegenwärtige ist immer Angeld von noch Größerem.“ 436 Hier kann die Formel deus semper maior quasi auf biblischem Boden wiedergefunden werden, die schließlich in Verbindung mit dem Gedanken der Treue Jahwes (zunächst gegenüber dem Gerechten) auch vor der Todesgrenze keinen 433 Vgl. BARDTKE, Hoffnung I, 417. 434 Vgl. LINK, Hoffnung, 1159. 435 Höchst aufschlussreich ist indessen, dass gerade diese apokalyptischen Erwartungen später christologisch korrigiert (vgl. 1 Kor 15,20ff.), aber in ihrer kosmologischen Universalität bekräftigt werden (vgl. Apg 21,1ff.), die dann bis zur Erwartung bzw. Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde reicht. Vgl. auch ERLEMANN, K., Endzeiterwartungen im frühen Christentum, Tübingen 1996. 436 Vgl. GRESHAKE, G., Neue Ansätze zu einer Theologie der Hoffnung, in: TEICHTWEIER, G. / DREIER, W. (Hrsg.), Herausforderung und Kritik der Moraltheologie, Würzburg 1971, 206- 228, hier 211. <?page no="220"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 220 Halt mehr macht. Es zeigt sich in der summarischen Wiedergabe alttestamentlicher Hoffnungstheologie von GRESHAKE aber zunächst, dass es wohl einen gnadentheologischen Primat des Indikativs vor dem Imperativ geben muss, dass aber (handlungs-) praktisch von einem dialektischen Wechselspiel von beanspruchendem Imperativ und eröffnendem und ermöglichendem Indikativ auszugehen ist. Die Zukunft von Welt und Mensch hängt von Gott ab (creatio ex nihilo und creatio continua), da deren Erfüllung gemessen am Erwarteten und Erhofften menschliche Fähigkeiten bei weitem übersteigt und auch nicht einfach eine Verlängerung derselben darstellt; genauso ist sie aber auch vom Menschen abhängig, der ermächtigt und freigesetzt ist zu dieser Welt und Geschichte auf gerade diese ihre Erfüllungsgestalt (-en) hin. Daher ist ein dialektisches Verhältnis zu postulieren, das „der Hoffnung den eigentümlichen Charakter des Passiv- Empfangenden und zugleich Aktiv-Ausgreifenden gibt“ 437 . Israels Hoffnung zielt dabei zunächst auf das Heil innerhalb der Geschichte, was den entsprechenden Verheißungen eine große Konkretheit gibt; erst durch Transformationen 438 der (vorexilischen) prophetischen zu weisheitlichen und dann (nachexilischen) apokalyptischen Traditionen nehmen geschichtstranszendente Hoffnungsfiguren zu, die fordern, „diesen Äon“ abzulösen vom Einbruch des „kommenden Äons“. In prophetischen Hoffnungstexten 439 im weiteren Sinne dominiert die Unheilsprophetie (Jes 6,9-11) aufgrund des in Blindheit und Verstockung missachteten Bundeswillens Gottes durch sein Volk, was nach Erneuerung und Umkehr verlangt. Das entsprechende Gericht wird als Läuterung gedeutet, das es einem heiligen Rest ermöglicht, weiterhin Träger der Hoffnungen eines Volkes zu sein. Hoffnung wird hier anhand einer Kontrasterfahrung („Das soll nicht sein! “) aufrecht erhalten. 440 Dabei kann die visionäre Kraft der Propheten u.a. darin gesehen werden, dass sie eine (sinnvolle, gottgewollte, verheißene, gute) Zukunft für die Gegenwart sichtbar machen, indem sie eine spezifische Zukunft eröffnen für die Gegenwart und die Gegenwart umgekehrt so öffnen, dass diese Zukunft Gegenwart werden kann. 441 Weisheitliche Traditionen lassen ferner zusehens den Einzelnen aus dem Schatten des Volkes treten, sodass dessen Tod überhaupt zum Problem wird. Vorstellungen von der Unsterblichkeit der Seele werden auf hellenistischem Hintergrund artikuliert, um zu zeigen, wer auf Gottes Treue vertraut, der kann darauf hoffen, dass dieser seine Gemeinschaft im Tod nicht beendet. Erst mit apokalyptischen Vorstellungen wird schließlich eine universale Totenauferstehung möglich. Kennzeichnend ist, dass Hoffnung für Lebende und für Tote gedacht wird, indem allen Gerechten neues Heil verheißen wird. So kann bereits auf alttestamentlichem Boden beginnend eine Entwicklung der biblischen Eschatologien 437 Vgl. GRESHAKE, Neue Ansätze zu einer Theologie der Hoffnung, 212. 438 Vgl. zur Entwicklung der alttestamentlichen Hoffnung GROß, Die Entwicklung der alttestamentlichen Heilshoffnung, 15-28. 439 Vgl. HILBERATH, B.J., Was dürfen wir hoffen? (Theologie im Fernkurs. Grundkurs. Lehrbrief 14), Würzburg 1987 ( 2 1994, 3 2001), 11ff. 440 Vgl. HILBERATH, Was dürfen wir hoffen? , 12. „Eine besondere Rolle bei der Realisierung der nahen Heilszukunft spielt die Gestalt des Gottesknechts (vgl. Jes 42,1-9; 49,1-9a), der den neuen Bund und das neue Heil für alle Völker durch sein stellvertretendes Sühneleiden (vgl. 50,4-9; 52,13-53,12) vermittelt. In seinem Bild wird zugleich offenbar, dass das Reich Gottes in erster Linie keine politische Größe darstellt, sondern ein neues Gottesverhältnis meint, das den zum nahen Gott Umkehrenden angeboten wird.“ 441 Vgl. JANOSWKI, Konfliktgespräche mit Gott, 180ff. <?page no="221"?> 221 (Plural! ) ausgemacht werden, die strukturell Gegensatzpaare 442 hervorgebracht hat, die ihrerseits quasi den Raum der Eschatologie aufspannen, der dann jeweils dialektisch vermittelt wird: immanente und transzendente Eschatologie, terrestrische und kosmische, restaurative und innovatorische, nationale und globale, kollektive und individuelle, schließlich bis in aktuelle Debatten diskutierte futurische und präsentische Eschatologien. So artikuliert sich etwa in den Mosebüchern 443 eine Hoffnung auf eine neue Heilszeit, von der sich die Jetztzeit der spätnachexilischen Erzählzeit („dieser Äon“) als Unheilszeit absetzt, wobei zwischen der aktuellen Unheilszeit - quasi im Sinne einer Geschichtsdeutung - und der Heilszeit eine Zeit zwischen den Zeiten angenommen wird, eine Zwischenzeit, die aus der Spannung der beiden Zeiten ihr Charakteristikum nimmt, was hoffnungstheoretisch natürlich von größtem Interesse ist. Dazu trat dann die Erwartung des Messias 444 , auf die das Neue Testament schließlich unmittelbar zurückgreifen konnte: Messianische Hoffnungen und Erwartungen, die sich an der Gestalt des Gesalbten, des auf besondere Weise von Gott für sein Volk Erwählten bzw. dem Motiv des Messianischen festmachen. Damit konnte (spätestens neutestamentlich) eine Erfüllung jüdischer Hoffnungen angemessen gedacht werden, genauso wie deren Verstetigung und damit ein Neuanbruch und eine Fortführung derselben bis zur Parusie. Damit wurde eine so geschichtsmächtige wie geschichtsfähige Identifikationsfigur 445 geschaffen. Vorstellungen, die eigentlich noch um Hoffnungen auf den Zion (etwa Jes 25,6-10a) oder Hoffnungen nach einem „neuen Himmel“ und einer „neuen Erde“ ergänzt werden müssten. Hoffnungstheoretisch aufschlussreich ist schließlich die religionsgeschichtlich vergleichsweise spät datierbare Schwelle der Überwindung der Todesgrenze (etwa Dan 12,2f., Jes 25,8). Dabei wird Jahwes Treue so konsequent gedacht, dass unter der Voraussetzung dieser Treue die Gerechten nicht im Tod bleiben können. Sie erstreckt sich auch auf den Bereich des Todes und den Bereich der Unterwelt (Totenreich). Muss der Gerechte nicht im Tod bleiben, dann gibt es insgesamt Hoffnung auf Gerechtigkeit, die in Gottes Erbarmen seinen Grund hat. 446 Endete nach klassischer Ausformung die Macht Gottes an 442 Vgl. FÜGLISTER, N., Die Entwicklung der universalen und individuellen biblischen Eschatologie in religionshistorischer Sicht, in: DEXINGER, F. / FÜGLISTER, N. (Hrsg.), Tod, Hoffnung, Jenseits. Dimensionen und Konsequenzen biblisch verankerter Eschatologie, Freiburg im Breisgau 1983, 17-40, hier 20ff. 443 Vgl. OTTO, E., Das Gesetz des Mose, Darmstadt 2007, 208ff. 444 Vgl. grundlegend zu den messianischen Hoffnungen des Alten Testaments und deren Aufnahme im Neuen Testament ZENGER, E., Jesus von Nazareth und die messianischen Hoffnungen des alttestamentlichen Israel, in: Studien zum Messiasbild im Alten Testament (SBAB 6), hrsg. v. STRUPPE, U., Stuttgart 1989, 23-66. HOFIUS, O., Ist Jesus der Messias? Thesen, in: Der Messias (Jahrbuch für Biblische Theologie Bd. 8), hrsg. v. DASSMANN E. et al., Neukirchen- Vluyn 1993, 103-129. MAYER, R. / RÜHLE, I., War Jesus der Messias? Geschichte der Messiasse Israels in drei Jahrtausenden, Tübingen 1998. SCHWEID, E., Jewish Messianism. Metamorphoses of an Idea, in: SAPERSTEIN, M. (ed.), Essential Papers on Messianic Movements and Personalities in Jewish History, New York u.a. 1992, 53-70. 445 Vgl. SCHREIBER, S., Die Utopie des Gesalbten. Frühjüdische und paulinische Gesalbten- Vorstellungen zwischen Hoffnung und Welterfahrung, in: ROTH, P. / SCHREIBER, S. / SIE- MONS, S. (Hrsg.), Die Anwesenheit des Abwesenden. Theologische Annäherungen an den Begriff und die Phänomene der Virtualität, Augsburg 2000, 83-108. 446 Vgl. grundlegend zur Polarität von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit und den damit verknüpften Hoffnungen im Alten und Neuen Testament ZEHETBAUER, M., Die Polarität von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Ihre Wurzeln im AT, im Frühjudentum sowie in der Botschaft Jesu - Konsequenzen für die Ethik, Regensburg 1999. Mit Blick auf die innerbiblische Entwicklung 4. Biblische Wegmarken einer Struktur der Hoffnung: Zukunft als Verheißung <?page no="222"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 222 den Pforten der Unterwelt, so entwickelte sich unter Einfluss der weisheitlichapokalyptischen Denkens „besonders in hellenistischer Zeit dann die Erfahrung, dass der Tote an der Wirklichkeit Gottes partizipiert, indem er in eine neue Form des Daseins eintritt.“ 447 Allein im Diesseits konnte die Gerechtigkeit Gottes irgendwann nicht mehr hergestellt werden, noch konnte es bei Fortentwicklung des Monotheismus irgendwann noch einen Bereich geben, der seinem Zugriff entzogen ist. Dadurch wurden allerdings Paradoxien aufgerichtet bzw. Spannungen verschärft, die sich zwischen Verheißungsgut und Welterfahrung aufspannen, etwa die Theodizeeproblematik. 448 Die Entstehung der Auferstehungshoffnung schon auf dem Boden des Alten Testaments formiert sich mithin daran, Hoffnung für den leidenden Gerechten zuzulassen und damit auch für das Gute, für das er steht - oder umgekehrt die Aporie eines gottlosen, aber (vermeintlich) guten Lebens zu lösen. Mit dem Gerechten wird auch das Gute hoffend vor seiner fundamentalen Infragestellung durch Schuld, Tod und Vergeblichkeit in seiner grundsätzlichen Sinnhaftigkeit gerettet (sic! ). Alttestamentlicher Grund für die Vertrauenswürdigkeit dieser Verheißungen ist die Treue Jahwes, die reich bezeugt ist in Erfahrungen der Befreiung in der Not und der Nähe in der Bedrängnis, etwa des Exils. Neutestamentlich ist diese Erfahrung der Treue Jahwes bis über den Tod hinaus finalisiert in der Auferstehung Jesu Christi, dem theologischen Sachgrund einer Hoffnung über die Grenzen irdischer Existenz hinaus. „Es ist die Hoffnung auf den vom Tod errettenden Gott. Diese Hoffnung trägt sowohl die Klagepsalmen als auch Jesu Gebet in Gethsemane.“ 449 Äußerst aufschlussreich für die Erhebung von Hoffnungsstrukturen ist nun, die Entwicklung dieser Jenseitshoffnungen im Alten Testament nachzuzeichnen. Mit BERND JANOWSKI 450 kann der Ursprung der alttestamentlichen Jenseitshoffnungen in spätvorexilischer und nachexilischer Zeit gesucht werden im Sinne einer (1) „Errettung vom Tod“, die aber noch keine Jenseitshoffnung i.e.S. darstellt (Klage- und Danklieder, etwa Ps 9,14). In persischer Zeit findet sich nun in weisheitlichen Texten bereits (2) die Hoffentsprechender Hoffnungen schreibt er: „Die Frage, wer mit dieser Hoffnung [auf Gerechtigkeit, R.L.] rechnen kann, wird allerdings zunehmend ethisch-individuell und immer weniger ethnisch-kollektiv beantwortet, der Begriff des Gerechten gewinnt an Bedeutung und beginnt, den Bundesgedanken abzulösen bzw. zu ersetzen, womit ein Prozess in Gang gesetzt worden war, der in nachalttestamentliche Zeit führt.“ 447 JANOWSKI, B., Zur Jenseitshoffnung in der weisheitlichen Literatur, in: Bibel und Kirche 1/ 2006, 34-39, hier 36. 448 Dabei ist eine aufschlussreiche moralpsychologische Analogie zwischen der religionsgeschichtlichen Entwicklung und der Ontogenese des Einzelnen und seines Glaubens zu beobachten. Auch der Einzelne, das Individuum, konfrontiert idealiter alle Erfahrungs- und Lebensbereiche (biblisch das ganze ungeteilte Herz) mit dem Quellgrund der Hoffnung und erwartet eine Durchdringung dadurch, was je mehr desto weitreichendere Folgen für das Handeln und enorme handlungspraktische Auswirkungen hat, da Strebungen, Kräfte und Antriebe der ganzen Person daraufhin und von dort her geordnet, integral verbunden und allesamt integriert, gebündelt und fokussiert werden. Moralpsychologisch geht es um eine Vereinheitlichung des Erlebens und Verhaltens, die zu einer Reduzierung von Inkonsistenzen und Widersprüchen führt, was wiederum nachhaltig zur Energetisierung und Ausrichtung der Handlungsenergien, psychischer und körperlicher Energie, beiträgt und damit erheblich zur Realisierung dessen, was moralische Orientierung vorgibt. 449 Vgl. JANOWSKI, B., Das Leben für andere hingeben. Alttestamentliche Voraussetzungen für die Deutung des Todes Jesu, in: FREY, J. / SCHRÖTER, J. (Hrsg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, Tübingen 2005, 97-118, hier 108. 450 Vgl. JANOWSKI, Zur Jenseitshoffnung in der weisheitlichen Literatur, 37. <?page no="223"?> 4. Biblische Wegmarken einer Struktur der Hoffnung: Zukunft als Verheißung 223 nung auf „ewiges Leben / Unsterblichkeit“ (etwa Ps 49,6) und erst in hellenistischer Zeit, etwa in apokalyptischen Texten (Jes 26,19), (3) die dezidierte Hoffnung auf „Auferstehung der Toten / vom Tod“. Totenerweckungserzählungen (etwa 1 Kön 17,17-24) können dabei etwa als Zeichen des Protestes und des Aufbegehrens gegen das Sterben und elementarer Hoffnung 451 auf Wiederherstellung heilen Lebens gedeutet werden. Das Neue Testament wird an diese Vorstellungen anknüpfen. Mit anderen Worten: Die ursprüngliche Mitte alttestamentlicher auf den Tod bezogener Hoffnungen ist Rettung. Hoffnung ist Rettung. Hoffnung ist Leben. 452 Hoffnung ist zuvörderst vertrauende Aussicht auf Rettung durch Aussicht 453 auf Leben. Religionsgeschichtlich kann ausgehend von Erfahrungen sowohl der Bedrängnis (Exil) als auch der Rettung und der Dankbarkeit der Treue Jahwes zu seinem Volk von einer sukzessiven Durchdringung aller Erfahrungsbereiche durch die dadurch eröffneten Hoffnungsmöglichkeiten gesprochen werden - räumlich, indem etwa alle Völker in die Völkerwallfahrt einstimmen 454 , zeitlich, indem die Räume der ganzen (bekannten) Vergangenheit und Zukunft und wieder zurück davon als bestimmt gedacht werden, schließlich existentiell, indem das irdische Leben und der darin waltende Tod überwunden werden. Aus den biblischen Hoffnungs-Theologumena, etwa dem „Bundesgedanken“ 455 lassen sich daher permanent, d.h. für jede Zeit je neu kollektiv wie individuell eine Fülle von Hoffnungen ableiten, sie sind im besten Sinne als hoffnungsgenerativ zu bezeichnen - auf eine nicht erschöpfende Weise, weil sie je neu in Verheißungsspannungen stellen, die eine (geheimnisvolle) Attraktivität entfalten und erfahrbar machen, die nie ganz eingesehen werden kann, damit auch nicht kontrolliert werden kann, was Vertrauen überflüssig machen würde, und die ihre Potentialität erst im Kontext ihrer Orthopraxie (von innen) eröffnet. Alttestamentliche Hoffnungstheologie kennt daher auch kein abstraktes Prinzip Hoffnung, sondern Diesseitsorientierung und „Lebensnähe“ 456 , die schließlich erweitert und aufgebrochen wird - ohne dabei verabschiedet zu werden. Ihr Charakteristikum ist einmal Lebensnähe und Erfahrungsbezug. Eine darauf Bezug nehmende Theologie wird quasi der Wirklichkeit ausgesetzt und hat sich daran zu bewähren. Auch dem irdischen Leben gilt mithin die Heilszusage und damit die Hoffnung. 451 Vgl. KOLLMANN, B., Totenerweckungen in der Bibel - Ausdruck von Protest und Zeichen der Hoffnung, in: EBNER, M., et al. (Hrsg.), Jahrbuch Biblische Theologie Bd. 19. Leben trotz Tod, Neukirchen-Vluyn 2005, 121-141, hier 139, 140-141. 452 Nicht selten wird in diesem Sinne Hoffnung auch verknüpft mit „Zuflucht suchen / nehmen“ bei Gott (etwa Ps 143,1-11). Hoffnung lässt dabei „nicht verzagen“. Und: „Deine Verheißung spendet mir Leben“ (Ps 119,50b). Hoffnung vermittelt Leben - weiterleben, besser leben, überleben, beleben, aufrecht leben, wieder neu (er-) leben, etc. 453 So bietet auch die Vorstellung vom „Angesicht Gottes“ (etwa Ps 16) eine Hoffnungs-„Aussicht“, weil es „vor“ dem Menschen steht und dem Menschen ein „Ansehen“ gibt. 454 Vgl. dazu auch den späteren Missionsgedanken im Neuen Testament, der sukzessive auf ‚alle Welt‘ ausgedehnt wird. 455 Vgl. erneut GROß, Zukunft für Israel. 456 Vgl. GOETZMANN, J., Hoffnung / Furcht / Sorge. Hermeneutische Überlegungen (Art.), in: COENEN, L. / HAACKER, K. (Hrsg.), theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament Bd. I, Wuppertal 1997, 1012-1015, hier 1013. Ebenso GOERTZ, S. / STRIET, M., Ein Gott der Lebenden! Systematisch-theologische Überlegungen zum Gelingen endlichen Lebens, in: EBNER, M., et al. (Hrsg.), Jahrbuch Biblische Theologie Bd. 19. Leben trotz Tod, Neukirchen-Vluyn 2005, 391-408. <?page no="224"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 224 Zum andern ist aber auch eine Verankerung 457 in einem Gottesbegriff zu beobachten, der in der Erfüllung seiner Verheißungen nicht mehr abhängig ist von einem geschichtlichen oder individuellen Geschick - selbst wenn es Schuld oder Tod heißt. Das ermöglicht es schließlich, an den Verheißungen festzuhalten, auch wenn die realen Erfahrungen dagegen sprechen und mitunter unter Leidensdruck an der Aufrechterhaltung der Verheißungsspannungen festzuhalten, diese sogar radikal auf Gott hin zu orientieren - in Klage, Bitte, Dank und Hoffnung. Eröffnet wird dadurch die Erfahrung von Trost 458 und Kraft (Ps 119,33-40.49-56) und Zukunft mitten in der Bedrängnis und die Fähigkeit zum Standhalten in der Not. 459 Soll nun alttestamentliche Hoffnung zusammenfassend charakterisiert werden, dann muss zunächst konstatiert werden, dass sie auf einem „personalen Treue- und Gehorsamsverhältnis zum Jahwebund“ 460 gegründet ist und im Lauf ihrer Entwicklung „universalisiert, intensiviert und personalisiert“ 461 wurde. Ehedem horizontale Orientierungen der innergeschichtlich bezogenen Hoffnung werden zunehmend vertikalisiert. Ferner kann strukturell und mit Blick auf die ihr zugrunde liegende Zeittheorie und Zeitpraxis festgehalten werden: „Die erhoffte Zukunft ist im AT keine bloße Extrapolation des in der Gegenwart Möglichen, sondern der gegenwärtige Akt des Hoffens ist Antizipation der verheißenen Zukunft. Die spes, qua speratur, gründet somit in der spes, quae speratur. Das Hoffen hat im Erhofften seine Aussicht. Da der letzte Bezugspunkt der Hoffnung Jahwe ist - alle irdischen Güter werden als Gaben und Segen Jahwes erfahren -, so gehört zur Hoffnung das personale Element des Vertrauens (vgl. Ps 25,1ff.).“ 462 Die Entwicklung von jüngeren Hoffnungstheologien, etwa von JÜRGEN MOLTMANN und JOHANN BAPTIST METZ, genauso wie die neuzeitliche Renaissance der Eschatologie insgesamt wäre daher ohne intensive Rückbesinnung auf das alttestamentliche Hoffnungskerygma nicht möglich gewesen, schließlich gibt sich hier ein Gott der Geschichte, ein Gott der Zukunft und ein Gott der Verheißung zu erkennen - ganz abgesehen von den stimulierenden Wirkungen jüdischer Prophetie und Apokalyptik. Das Neue Testament wird hier unmittelbar anknüpfen. Wo das Alte Testament vom verheißenen Land, 457 Als verstörender Gedanke kann eine hoffnungstheoretische Deutung der Erzählung von der Opferung des Isaak (Gen 22,1-18) gelten, wenn damit die abgründige Bereitschaft gemeint ist, eine Hoffnung / Verheißung potentiell wieder zurückzugeben an ihren Ursprung Jahwe als Ausdruck von radikalem Vertrauen. 458 Vgl. Ps 119, 49-52. „Denk an das Wort für deinen Knecht, durch das du mir Hoffnung gabst. Das ist mein Trost im Elend: Deine Verheißung spendet mir Leben. Frech verhöhnen mich die Stolzen; ich aber weiche nicht ab von deiner Weisung. Denke ich an deine Urteile seit alter Zeit, Herr, dann bin ich getröstet.“ 459 Vgl. Ps 119, 41-45. „Herr, deine Huld komme auf mich herab und deine Hilfe, wie du verheißen hast. Dann kann ich dem, der mich schmäht, erwidern; denn ich vertraue auf dein Wort. Entziehe meinem Mund nicht das Wort der Wahrheit! Ich hoffe so sehr auf deine Entscheide. Ich will deiner Weisung beständig folgen, auf immer und ewig. Dann schreite ich aus auf freier Bahn; denn ich frage nach deinen Befehlen.“ 460 Vgl. WOSCHITZ, Elpis, 761. Zuvor heißt es: „Diese theologisch entworfene, in der entschiedenen personalen Zuwendung Jahwes zu Welt und Mensch gegründete Hoffnung richtet sich nicht, wie die griechische ἐλπίς im Modus der rationalen Voraussicht aus der gegenwärtigen Wirklichkeit in zukünftige Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeiten, sondern geht über die gegenwärtige Wirklichkeit und ihre Möglichkeiten hinaus auf das verheißene Gut bzw. den verheißenen Gott.“ 461 Vgl. WOSCHITZ, Elpis, 761. 462 Vgl. ebd. 762. <?page no="225"?> 4. Biblische Wegmarken einer Struktur der Hoffnung: Zukunft als Verheißung 225 vom Bund und dessen Zeichen am Himmel (Regenbogen), vom auserwählten Volk und vom Messias, etc. gesprochen hat, so das Neue Testament vom Reich Gottes und vom gemeinsamen Mahl, von Auferstehung und Wiederkunft. b) Neues Testament α Sprachliche Beobachtungen Von denjenigen Begriffen, die einer Hoffnung oder einer Erwartung Ausdruck verleihen, findet im neutestamentlichen Griechisch ἐλπίς und seine zahlreichen Derivate sowohl eine häufige als auch eine nuancenreiche Verwendung. 463 Das Verbum ἐλπίζω kommt im Neuen Testament genau 31 mal vor, wobei es in den Evangelien und der Apostelgeschichte nur sporadisch begegnet (Mt 1; Lk 3; Joh 1; Apg 2), bei Paulus dagegen am häufigsten zu finden ist (Röm 4; 1 Kor 3; 2 Kor 5; Phil 2; Phlm 1), aber auch in dem deuteropaulinen 1 Tim (4), ferner in den restlichen Briefen Hebr (1), 1 Petr (2), 2 Joh (1) und 3 Joh (1). Die Bedeutung kann von hoffen, erwarten, meinen, schätzen bis fürchten reichen. Es lassen sich auf der Basis der Grundübersetzung hoffen (auch erwarten, voraussehen, befürchten, vertrauen, sich verlassen auf) drei verschiedene Formen der Verwendung unterscheiden. 464 Das Substantiv ἐλπίς findet sich 53 mal im Neuen Testament. Wiewohl es in den Evangelien nahezu vollständig fehlt, findet es im Rahmen des lukanischen Doppelwerkes in der Apg 8 mal Erwähnung. Verwendungsformen des Verbalstamms „hoffen“ im NT 1. Erhoffte Güter ( ἐλπιζόμενα ) 2. Mit Angabe dessen, was man erhofft 3. Mit Angabe der Person oder Sache, auf welche die Hoffnung sich gründet Abbildung 6 Verwendungsformen des Verbalstamms „hoffen“ im NT Die (echten) Paulusbriefe verwenden es 25 mal, insbesondere Röm mit 13 Belegen ragt heraus, danach folgen 1 Thess (4), 1/ 2 Kor (je 3), Gal (1), Phil (1). Unter den Deuteropaulinen ist das Substantiv in Eph (3), Kol (3), Tit (3), 2 Thess (1) und 1 Tim (1) verwendet, ferner in Hebr (5), 1 Petr (3) und 1 Joh (1) bezeugt. Als Bedeutung legt sich überwiegend Hoffnung nahe, speziell auch Hoffnungsgut (z.B. Röm 8,24; Gal 5,5; Kol 1,5), wobei auch Erwartung gemeint sein kann. Einerseits bezeichnet das Substantiv den „Akt bzw. die Haltung des Hoffens“ (1), schließt aber andererseits das „Objekt des Hoffens“ (2), 463 Vgl. für textphilologische Fragen die immer noch klassische Überblicksarbeit von WOSCHITZ, Elpis. Die Entstehungszeit deutet auch hier an, dass dringender Forschungsbedarf besteht, wiewohl für die vorliegende Arbeit überwiegend systematische Interessen im Vordergrund stehen. 464 Vgl. ALAND, K. / ALAND, B. (Hrsg.), Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur (von BAUER, W.), Berlin / New York, 6., völlig neu bearbeitete Auflage 1988, 509-510. <?page no="226"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 226 das Erhoffte, mit ein. Es lassen sich nun deren vier Verwendungen im Neuen Testament für das Substantiv unterscheiden: 465 Verwendungsformen des Substantivs „Hoffnung“ im NT 1. Die allgemeine Hoffnung im Sinne von Aussicht und Erwartung 2. Die Hoffnung im besonderen auf Wesen und Dinge, die göttliche Verheißungen in Aussicht stellen, was a) ohne spezifische Beziehung auf die christliche Hoffnung bzw. b) von dezidiert christlicher Hoffnung ausgesagt wird 3. Der Gegenstand, auf den man die Hoffnung setzt 4. Das Hoffnungsgut Abbildung 7 Verwendungsformen des Substantivs „Hoffnung“ im NT Die Komposita ἀπελπίζω − verzweifeln (Eph, 4,19; mit Sonderbedeutung - davon erhoffen: Lk 6,35) und προελπίζω − im voraus hoffen (Eph 1,12) stellen Hapaxlegomena dar und kommen nur jeweils einmal im Neuen Testament vor, wohingegen die Wortgruppe in folgenden Schriften offenbar ganz fehlt: Mk, 2 Tim, Jak, 2 Petr, Jud und Offb 466 . Neben ἐλπίς vermag auch das seltener verwendete ἀποκαραδοκία ein wesentlich begrenzteres Bedeutungsspektrum bzgl. der Hoffnungskategorie auszudrücken: „Das Nomen ἀποκαραδοκία bezeichnet die sehnsüchtige, nahezu ungeduldige Erwartung; προσδοκάω und προσδοκία schließen die ängstliche Erwartung von Schrecklichem (Katastrophen, Kriege) mit ein, und προσδέχομαι kann neben der häufigen Bedeutung aufnehmen, annehmen, ebenfalls warten, erwarten heißen.“ 467 Den Gegensatz zu einer auf die Treue Gottes gegründeten und damit vertrauensvoll in die Zukunft blickenden Hoffnung bilden im Neuen Testament die Sorge ( μερίμνα ), die Furcht bzw. die Angst ( ϕόβος ). Was die quantitative Verteilung der Wortgruppe angeht, so ist der Schwerpunkt bei Paulus 468 zu verorten, bei dem annähernd die Hälfte der neutestamentlichen Belege zu finden sind, eine Beobachtung, die auch in qualitativer Hinsicht mit H. WEDER eine Interpretation ermöglicht. „Die Verteilung auf Substantiv und Verb ist in den paulinischen Briefen einigermaßen ausgeglichen; eine deutliche Verschiebung in Richtung Substantiv ist bei den nachpaulinischen und übrigen Schriften des Neuen Testaments festzustellen. In dieser Verschiebung zeigt sich möglicherweise eine gewisse Tendenz weg vom Akt des Hoffens zum Status der Hoffnung bzw. zum Hoffnungsgut.“ 469 Es ist aber an 465 Vgl. ALAND / ALAND, Griechisch-deutsches Wörterbuch, 510-511. 466 In der Offb taucht dafür der Begriff ὐπομονή im Sinne von Geduld, Ausdauer auf, den klassischen Tugenden der Hoffnung. 467 Vgl. NEBE, G., ἐλπίς (Art.), in: COENEN, L. / HAACKER, K. (Hrsg.): theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament Bd. I, Wuppertal 1997, 993. 468 Vgl. mit ausführlichen sprachlichen Analysen NEBE, G., „Hoffnung“ bei Paulus. Elpis und ihre Synonyme im Zusammenhang der Eschatologie, Göttingen 1983. 469 Vgl. WEDER, H., Hoffnung II. Neues Testament (Art.), in: MÜLLER, G. (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie (TRE) Bd. XV, Berlin / New York 1986, 484. <?page no="227"?> 227 dieser Stelle davor zu warnen, von der Häufigkeit des Vorkommens unbedingt auf die Bedeutsamkeit in der jeweiligen Schrift schließen zu wollen, denn auch wenn im Neuen Testament neben einem profan-alltäglichen Gebrauch der Wortgruppe (vgl. z.B. Lk 6,34; 1 Kor 9,10; Apg 16,18 u.a.) der religiös-theologische Gebrauch 470 im wesentlichen auf den Umkreis paulinischer Theologie begrenzt ist, ist die „Sache der Hoffnung“ 471 freilich im ganzen Neuen Testament präsent. Denn die Botschaft Jesu ist zentral eine Botschaft der Hoffnung, sein Evangelium die Verkündigung des zukünftigen, seinem Wesen nach eschatologischen Reiches Gottes, das in der Person Jesu bereits wirksam erschienen ist und erscheint. Interessant ist nun, dass der historische Jesus zwar sachlich von der Hoffnung geredet hat, insbesondere in seiner endzeitlich-eschatologischen Botschaft vom nahegekommenen Gottesreich und vom zukünftigen Menschensohn, dass aber exegetisch kein Hoffnungsbegriff auf ihn zurückgeführt werden kann, am ehesten wird noch Lk 6,34f. diskutiert, wobei die Stelle sowohl als Q-Stoff, als auch als lukanische Anreicherung zum Q-Stoff interpretiert wird. Entscheidend ist aber nun: „An keiner Stelle mit dem ἐλπίς -Wortstamm kommen wir auf Hoffnungsworte des historischen Jesus oder auf solche aus der Tradition des Urchristentums zurück.“ 472 Dessen ungeachtet steht das Neue Testament gerade darin in der jüdischen Begriffstradition, dass es Hoffnung nicht formal als Einstellung auf das Zukünftige überhaupt, sondern als die positive Erwartung des Heils von Gott versteht, weswegen die Heiden als ἄϑεοι keine Hoffnung haben können. 473 Hier zeigt sich, dass Hoffnung sich ableitet aus der Struktur des Gottesverständnisses, auf der Basis der Elemente Vertrauen, Geduld und Durchhaltevermögen. Aus diesem Grunde hat die Mehrzahl der Stellen einen „heilsbedeutsamen Aspekt“ 474 , was es erlaubt, den Hauptbeitrag des Neuen Testaments zweifellos in der „theologischen Prägung des Hoffnungsbegriffs“ 475 zu sehen. Auf der Suche nach Gründen für die einseitig paulinische Prägung des neutestamentlichen Hoffnungsbegriffs und sein weitgehendes Fehlen bei den Synoptikern und Johannes ist es neben nachgeordneten theologischen Gründen insbesondere ein sprachlicher Grund, der in Erscheinung tritt und festzuhalten bleibt: Wiewohl Johannes im Rahmen seiner stark präsentisch geprägten Eschatologie allein schon aus theologischen Gründen kaum genötigt war, eine elaborierte Hoffnungstheologie zu entwerfen, gilt doch für alle Evangelisten, dass ἐλπίς und seine Komposita ein grundlegend griechischer Begriff ist, der auf dem Hintergrund des griechischen, sich 470 Vgl. zur Problematizität der Unterscheidung von profan-alltäglich und religiös-theologischer Verwendung Kapitel III und VII in dieser Arbeit. Für das Neue Testament ist demgegenüber die Unterscheidung zwischen auf dem Christusgeschehen gegründeter und „heidnischer“ Hoffnung entscheidend, da christliche Hoffnung begründet und verbürgt ist, die der Heiden dagegen als „leer“ gilt. 471 Vgl. CONZELMANN, H., Hoffnung II. Im NT (Art.), In: GALLING, K. (Hrsg.), Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG 3 ). Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft Bd. III, Tübingen 3 1959, 417. 472 Vgl. NEBE, ἐλπίς , 1000. 473 Vgl. NEUHÄUSLER, E., Hoffnung I. In der Schrift (Art.), in: HÖFER, J. / RAHNER, K. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche (LThK 2 ) Bd. V, Freiburg im Breisgau 1960, 417: „Der Christ ist wesentlich ein Mensch, der Hoffnung hat [...], der Heide hat keine Hoffnung, denn er ist verheißungslos (vgl. 1 Thess 4,13; Eph 2,12). Erst die Berufung stellt den Menschen in die Hoffnung und in die gläubige Annahme des Erhofften.“ 474 Vgl. MAYER, B., ἐλπίς (Art.), in: BALZ, H. / SCHNEIDER, G. (Hrsg.), Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament Bd. I, Stuttgart / Berlin / Köln 2 1992, (Neuausgabe 1997), 1068. 475 Vgl. WEDER, Hoffnung II, 485. 4. Biblische Wegmarken einer Struktur der Hoffnung: Zukunft als Verheißung <?page no="228"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 228 weitgehend geschichtslos gerierenden Kulturverständnisses gedeutet werden muss, während im semitischen aramäisch-jüdischen Sprachkreis kein dezidierter und reservierter Hoffnungsbegriff anzutreffen ist, weswegen in diesen Zusammenhängen häufig von Vertrauen gesprochen wird. Erstaunlich ist dabei, dass gerade jener Kulturkreis, der wohl historisch für die Entstehung des geschichtlichen Denkens überhaupt verantwortlich zeichnet, keinen Begriff zur Verfügung hatte, um πίστις und ἐλπίς voneinander zu trennen. Das ist nun der Grund dafür, warum die Synoptiker quasi unter Ermangelung eines eigenen angestammten Begriffs für Hoffnung, diese in eine große inhaltliche Nähe zur πίστις gestellt haben. 476 Die weitaus überwiegende Zahl der neutestamentlichen Hoffnungsbelege verweisen auf den Gottesbezug der Hoffnung und gehen über den alltäglichen Gebrauch weit hinaus, wiewohl es nicht verwundert, auch diesen wiederzufinden, gehört es doch - wie wir sahen - zum menschlichen Dasein selbst, Hoffnung zu haben. Die alltagssprachliche Bedeutung ist im Neuen Testament selten anzutreffen, es lassen sich dabei zwei Verwendungen unterscheiden; einerseits findet sich die Wortgruppe im Zusammenhang mit Reiseplänen beispielsweise des Paulus (1 Kor 16,7; Phil 2,19; 2,23; Phlm 22; anderer: 1 Tim 3,14; 2 Joh 12; 3 Joh 14) und in den Hoffnungen gegenüber seiner Gemeinde in Korinth 477 , wo jeweils besonders der Aspekt des Wunsches im Vordergrund steht; andererseits wird Hoffnung im Sinne von Erwartung verwendet, Erwartungen, die nach menschlichem Ermessen als gerechtfertigt gelten können (Lk 6,34; Apg 16,19; 24,26; 27,20; 1 Kor 9,11). Wiewohl nur auszugsweise verwendet, zeigt sich doch auch die profane Verwendung des Hoffnungsbegriffs, beispielsweise bei brieflichen Besuchsmeldungen (vgl. Röm 15,24; 1 Kor 16,7; Phil 2,19.23; Phlm 22,2; 2 Joh 12; 3 Joh 14), als theologisch reflektierte 478 , was sich insbesondere an bestimmten Wendungen beobachten lässt, wie z.B.: „Ich hoffe im Herrn Jesu“ (Phil 2,19). Auch hier zeigt sich, dass die klassische Trennung in religiöse und profane Hoffnung zur Beschreibung des neutestamentlichen Hoffnungsbegriffs nicht hinreichend ist bzw. dem Zeugnis der Schrift nicht gerecht wird, die die gesamte menschliche Existenz bis in den alltäglichen profanen Bereich hinein als von der einen (begründeten) Hoffnung durchdrungen und bestimmt beschreibt. Lebensweltlich gewendet heißt das, dass christliche Hoffnung die Tendenz hat, sich selbst, ausgehend von einem Hoffnungs-Nukleus, der seine Plausibilität aus einem entschiedenen und ganzheitlichen Vertrauen in den durch das Geschick Jesu Christi neu vergegenwärtigten Gott Israels 479 gewinnt, zu transzendieren und alle Lebensbereiche humaner Exis- 476 Vgl. dazu bereits früh, aber in apologetischer Absicht und mitunter in Ermangelung der notwendigen begrifflichen Klarheit POTT, A., Das Hoffen im Neuen Testament in seiner Beziehung zum Glauben, Leipzig 1915 und KROHNSEDER, F. Elpis. Die Hoffnung im Neuen Testament, in: Seele 11 (November 1929), 330-335. 477 Vgl. etwa bzgl. der Hoffnung auf vollkommenes Verständnis: 2 Kor 1,13; im Gewissen der Korinther offenbar sein: 5,11; Wertschätzung durch die Korinther: 10,15; Erkenntnis der „Echtheit“ des Paulus: 13,6. 478 Vgl. TOIT, A. DU, Hoffnung III. Neues Testament (Art.), in: BETZ, H.D. / BROWNING, D.S. / JANOWSKI, B. / JÜNGEL, E. (Hrsg.), Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft Bd. 3 (RGG 4 ), 4., völlig neu bearbeitete Auflage, Tübingen 2000, 1825. 479 Vgl. für die dogmatische Neubewertung der Bedeutung des Judentums für das Christentum bzw. für die Voraussetzungen und die Fortführung des Gottes Israels, mithin der Tora, in Leben, Sterben und Auferstehung Jesu Christi die Beiträge in STRIET, M. (Hrsg.), Monotheismus Israels und christlicher Trinitätsglaube (QD 210), Freiburg 2004. <?page no="229"?> 229 tenz zu durchdringen und damit auf das Christusgeschehen hin zu vereinheitlichen vermag. 480 Interessant und höchst „wichtig ist an diesem Sprachgebrauch, dass die Hoffnung elementar darauf beruht, was erfahrungsgemäß verlässlich ist“ 481 . Mit anderen Worten heißt das, dass selbst oder gerade im alltäglichen „Gebrauch“ der (christlichen) Hoffnung ein Erfahrungspotential zu eigen ist, aus dem heraus sie sich allererst dem Hoffenden und Handelnden rechtfertigt bzw. diesem als ein wesentlicher Maßstab dient, der für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit und Verlässlichkeit einer Hoffnung herangezogen wird. Diese im Durchgang durch den eher sporadischen Alltags-Gebrauch der Hoffnung im Neuen Testament gemachte Entdeckung ist wichtig und bleibt für den weiteren Verlauf der Argumentation der vorliegenden Arbeit festzuhalten und an gegebener Stelle wieder aufzugreifen. β Neutestamentliche Vorstellungen von Zeit Das neutestamentliche Zeitverständnis, wie es in eschatologischen Zusammenhängen und damit in Hoffnungskontexten zu finden ist, schließt zwar unmittelbar an das Alte Testament 482 an, setzt aber dabei ganz entscheidende Neuakzentuierungen, die schließlich für die Struktur (christlich-integraler) Hoffnung von ganz entscheidender Bedeutung werden sollten: „Jesus proklamiert - und das ist das unerhört Neue und Alarmierende an seiner Gottesreichverkündigung: die vom Judentum bisher nur erwartete Aufrichtung der Gottesherrschaft ist nicht mehr rein prophetische Zukunft, nicht mehr nur Gegenstand sehnsüchtiger, mehr oder weniger akuter Erwartung. […] Die Gottesherrschaft ist mit ihren Heilskräften bereits zur gegenwärtigen Generation hingelangt, berührt dieselbe in den Machttaten Jesu als befreiende und erlösende Kraft (Luk 11,20 par).“ 483 Damit wirft das israelitische Zeitempfinden ein Licht auf die Gottesreichverkün- 480 „Die Hoffnung ist also nicht bloß ein kontingentes Moment im christlichen Dasein. Sie gehört zu seiner Wesensstruktur. Christen sind gerettet ‚auf Hoffnung hin‘ (Röm 8,24). Deshalb ist ihre ganze Existenz, im Gegensatz zum Heidentum (1 Thess 4,13; Eph 2,12), durch die Hoffnung qualifiziert. Zusammen mit dem Glauben und der Liebe (1 Kor 13,13; 1 Thess 1,3; 5,8; Kol 1,4- 5) konstituiert sie das christliche Sein (Bultmann).“ Vgl. TOIT, Hoffnung III., 1825. 481 Vgl. WEDER, Hoffnung II., 485. Insbesondere 2 Kor 8,5 bringt in einer Metapher die Berechtigung einer Erwartung zum Ausdruck. 482 Vgl. etwa BAUMANN, G., Im Angesicht der Ewigkeit rückwärts in die Zukunft. Vom biblischen Zeitverständnis, in: Zeitschrift für Gottesdienst und Predigt 4/ 2006, 6-9, hier 8, mit der insbesondere das an das Alte Testament anknüpfende Verständnis der biblischen Zeit als „soziale Zeit“ statt „Naturzeit“ und als „Ereigniszeit“ statt „Uhrzeit“ herausgestellt werden kann. Aufschlussreich ist dabei noch die Charakterisierung der vorrangigen Blickrichtung, wie sie im Zeitverständnis der Bibel zum Ausdruck kommt. Diese lässt sich als „rückwärts in die Zukunft“ bezeichnen: „Der Blick auf Vergangenheit und Zukunft unterscheidet sich erheblich vom heutigen. Heute haben wir die Vergangenheit hinter uns gelassen oder blicken als alte Menschen auf unser Leben zurück. Die Zukunft liegt vor uns, und wir blicken ihr hoffnungs- oder sorgenvoll entgegen. Das ist im altorientalischen Verständnis anders“. Dort „wird durchgängig nach vorne in die Vergangenheit geblickt. Für das Vergangene werden Worte gewählt, die dem Gesicht, dem Auge oder allgemein der Vorderseite verwandt sind. Womöglich verdichtet sich in dieser Benennung die Erfahrung, dass das Vergangene als bereits Erlebtes oder verlässlich Tradiertes sichtbar und bekannt ist. Die Zukunft wird dagegen mit Ausdrücken umschrieben, die das Rückseitige, hinter den Sprechenden Liegende bezeichnen.“ 483 Vgl. VÖGTLE, A., Zeit und Zeitüberlegenheit im biblischen Verständnis, Sonderdruck aus Freiburger Dies Universitatis Bd. VIII, Freiburg 1961, 1-18, hier 12-13. VÖGTLE schreibt weiter: „Die Gottesherrschaft wirkt in der Person Jesu in einem wahren Sinne in diesen Äon her- 4. Biblische Wegmarken einer Struktur der Hoffnung: Zukunft als Verheißung <?page no="230"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 230 dung und damit auch auf die Mitte neutestamentlicher Hoffnung. ANTON VÖGTLE schreibt: „Demnach sprach Jesus genauer davon, dass die Gottesherrschaft als wirkende Kraft auf die ihn erlebende Generation gestoßen ist, bis zu dieser hingelangt ist, diese erreicht hat; in dem Sinne, dass die Gottesherrschaft bereits in vereinzelten vorausgreifenden Berührungen, Machterweisen sich manifestiert, erfahrbar wird, aber trotzdem noch keineswegs da ist, vielmehr noch wesentlich zukünftig ist und bleibt.“ 484 Daraus wird nun ein Mehrfaches verständlich: zunächst, dass auch Jesus eine „Naherwartung“ 485 gekannt hat und mindestens partiell entsprechende Vorstellungen seiner Umwelt geteilt haben dürfte. Die Annahme ihres historischen Nichteintritts sollte dabei wohl nicht vorschnell auf Verabschiedung der Naherwartung insgesamt schließen lassen, ist doch damit eine ganz spezifische Qualität der Hoffnung Jesu 486 selber angesprochen. Ganz im Gegenteil dürfte es unter diesen theologischen Voraussetzungen um eine Wiederaneignung der neutestamentlich-jesuanischen Naherwartung gehen, da sie zum Grundbestand neutestamentlichen Hoffnungsdenkens zu zählen ist. Deutlich wird aber ferner auch, dass das Nahegekommensein der Gottesherrschaft als in der Gegenwart spürbar „wirkende dynamis“ betrachtet werden kann. Die in ihrer vollständigen Realisierung noch ausstehende Gottesherrschaft wird zur wirkmächtigen Wirklichkeit in der Gegenwart, was eine ganz grundlegende Hoffnungs-Spannung aufgerichtet hat, in die derjenige sich gestellt sieht, der sich mit der Person Jesu von Nazareth auf die Verheißungsstruktur des von ihm verkündigten und in der eigenen Person geoffenbarten Gottesreiches einlässt. So „liegt die eigentliche Pointe seiner Gottesreichverkündigung gerade darin, dass die bis jetzt nur verheißene letzte und endgültige Heilsaktion Gottes mit dem Auftreten und Wirken Jesu tatsächlich beginnt, dass die unleugbar immer noch künftige und selbst in den stärksten ‚Gegenwartsworten‘ als noch wesentlich zukünftig vorgestellte Gottesherrschaft in den einzelnen Akten der Wirk- und Tatverkündigung Jesu bereits gegenwärtig als Heilskraft erfahrbar wird, so dass Jesus eben in dem schon öfter erwähnten Wort Lk 11,20 von einer Art Vorstoß der dynamis der Gottesherrschaft, einer Art Hereinreichen des eschatologischen Handelns Gottes in diesen Äon sprechen kann.“ 487 Gerade dieses Hereinreichen in die Gegenwart führt nun zu einer „Qualifizierung der Gegenwart als anbrechende Heilszeit“ 488 , die eine für den vorliegenden Kontext einer Ethik der Hoffnung aufschlussreiche „teleologische Ausrichtung der Gegenwart auf die notwendige nachfolgende Vollendung des hier und jetzt Anhebenden“ zu erkennen gibt. Dabei ist die Hinordnung der Gegenwart auf die Zukunft entscheidend, „die Hinordnung der ein, so dass sich die beiden Äone, der gegenwärtige, seinem sicheren Ende zulaufende Äon und der kommende endlose Äon der Gottesherrschaft, bis zum Ende dieser Welt, bis zur absoluten Realisierung und Offenbarung der Gottesherrschaft, gewissermaßen überschneiden.“ 484 Vgl. VÖGTLE, Zeit und Zeitüberlegenheit im biblischen Verständnis, 15. 485 Vgl. NIEMAND, C., Gegenwart als „wahrgenommene“ Zukunft. Erfahrungen und Einschätzungen von Zeit im Neuen Testament, in: Theologisch-Praktische Quartalschrift 4 / 2006 (154. Jg.), 365-374, hier 372ff., der auf die Spannung von Parusie-Erwartung und Parusie-Verzögerung als Charakteristikum neutestamentlicher „wahrgenommener“ Zeit hinweist. 486 Es dürfte als lohnendes neutestamentliches Forschungsvorhaben gelten, auf dem Hintergrund alttestamentlicher Vorstellungen nach der Möglichkeit einer Rede von der ureigenen Hoffnung Jesu zu fragen, nach den ipsissima vox spei (Jesu). 487 Vgl. ebd. 16 488 Vgl. für beide Zitate ebd. 16. <?page no="231"?> 231 gegenwärtigen Manifestation des eschatologischen Handelns Gottes auf dessen Vollendung, auf das absolute Eschaton.“ 489 Was können und müssen wir daraus lernen für die anvisierten Strukturen einer handlungspraktisch gewendeten Hoffnungstheorie? Zunächst müssen wir von einer Qualifizierung der Zeit durch das Hoffnungsgut der Gottesherrschaft ausgehen. In theologisch-ethischer Diktion formuliert könnte das heißen, dass die Orientierung am (letztlich umfassenden) Guten (summum bonum), genauso wie die Teilhabe daran durch die immer unterbestimmten realen Vorstellungen davon als Qualifizierung der Gegenwart zu bezeichnen ist, das als zukünftiges, noch nicht realisiertes und je neu zu realisierendes Gut bereits die Gegenwart mit bestimmt, quasi in diese partiell immer schon hinein reicht. Mit anderen Worten: Der Nukleus der guten Zukunft ist in der Gegenwart bereits anzutreffen, und deren Verhältnis eröffnet eine grundlegende Handlungsspannung, die notwendig ist für das Verständnis. Ein weiteres wichtiges Implikat dieser Konzeption auf der tugendethischen Seite ist, dass es Freiheit für die Gegenwart durch radikales Vertrauen in die Zukunft ermöglicht, eine Konsequenz, die in ihrer welterschließenden und daseinsaffirmierenden und zugleich mobilisierenden Funktion für den christlichen Selbst- und Hoffnungsvollzug kaum überschätzt werden kann. γ Elemente neutestamentlicher Hoffnung und deren Sitz im Leben Neben den weiter unten noch zu diskutierenden Strukturen des Hoffnungs-Aktes sind an dieser Stelle die phänomenologisch bzw. dimensional differenzierbaren Elemente bzw. Aspekte der neutestamentlichen Hoffnung selbst zu erwähnen: Für das Neue Testament gilt dabei, dass Hoffnung ihrem Wesen nach immer ein Ausgerichtetsein auf die Zukunft bezeichnet, d.h. sich auf erfahrungsgemäß noch nicht definitiv Vorhandenes bzw. Sichtbares (vgl. Röm 8,24) bezieht. Dabei eignet ihr (1) ein „kognitiv-intentionales Element“ 490 , das sich darin zeigt, dass positiv über die künftige Realisierung eines Erwünschten geurteilt und gedacht wird. In dieser Perspektive ist Hoffnung (2) signifikant objektbezogen, auch wenn sich das Objekt mitunter nicht eindeutig vom Kontext abhebt, wie z.B. bei absoluter (vgl. Röm 12,12; 1 Kor 13,13; 1 Petr 3,15) oder personalisierter (vgl. zu Mose z.B. Joh 5,45; zu Gott Apg 24,15; 2 Kor 1,10; zu Jesus Christus 1 Kor 15,19; 1 Thess 1,3) Verwendung. Es zeigt sich dabei an den Objekten neutestamentlicher Hoffnung, dass sie sich v.a. auf die Vollendung des Eschaton beziehen: Gottherrlichkeit (vgl. Röm 5,4; Kol 1,27; Tit 2,13), Befreiung der Schöpfung (vgl. Röm 8,20), Erlösung (vgl. 1 Thess 5,8), ewiges Leben (vgl. Tit 1,2; 3,7), Gottesschau (1 Joh 3,3). Dieser Objektbezug kann soweit gehen, dass es zu einer spezifischen Identifikation kommt, wonach die Hoffnung selbst zum erwünschten Heilsgut verobjektiviert wird (vgl. Röm 8,24b, Gal 5,5; Kol 1,15), was aber im neutestamentlichen Kontext auch an einer Betonung der Gegenwartsaspekte innerhalb der eschatologischen Hoffungsspannung von Schon und Noch-Nicht liegen könnte. 491 D.h., unter Voraussetzung einer Psychologie der Hoffnung wird auf die durch die Glaubensbotschaft bestimmte Existenz reflektiert, lebt doch die daraus abgeleitete Hoffnung gerade davon, dass in ihr bzw. durch sie irdisch begründete Ängste bis hin zu Sünde und Tod regelrecht überstiegen werden mit Blick auf das erhoffte Gut, womit sich wieder andeutet, dass ἐλπίς das Hoffnungs-Gut selber bezeichnen kann (vgl. Röm 489 Vgl. ebd. 16-17. 490 Vgl. TOIT, Hoffnung III., 1825. 491 Vgl. zu den Objekten neutestamentlicher Hoffnung weiter unten ausführlich. 4. Biblische Wegmarken einer Struktur der Hoffnung: Zukunft als Verheißung <?page no="232"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 232 8,24f.; Deuteropaulinen). CONZELMANN formuliert den Gedanken präzise, wenn er schreibt, „das Wesen der Hoffnung ergibt sich aus dem objektiven Charakter des Erhofften“ 492 . Dabei gilt nun nicht nur, dass neutestamentliche Hoffnung als von ihrem Gegenstand bestimmt gedacht werden muss, sondern auch das Umgekehrte: der Inhalt der Hoffnung löst sich niemals vom Akt des Hoffens selbst - beides ist dabei christologisch bestimmt. 493 Neben dem kognitiv-intentionalen und dem objektbezogenen Element zeichnen sich die neutestamentlichen Hoffnungsvokabeln (3) durch ein „emotionales Element“ aus, wonach der Hoffende im positiven Sinne guten Mutes, freudig (vgl. z.B. Röm 12,12; 15,13) und zuversichtlich das Eintreffen des Begehrten erwartet, wohingegen das emotional negativ besetzte Gegenteil als „leere“ und „nichtige“ Hoffnung (der Heiden) bezeichnet wird bzw. sogar mit Verzweiflung und Angst verglichen wird. Wahre christliche Hoffnung ruft dagegen eine Hochstimmung hervor, die sich in der Freude (vgl. Röm 12,12; 15,13; 1 Thess 2,19) bzw. in einem freudigen Rühmen ( καύχασϑαι ) widerspiegelt, in Freimütigkeit ( παρρησία ) mündet und als nahezu identisch mit Vertrauen betrachtet werden kann - wohlgemerkt allein was die emotionale Qualität betrifft. Darüber hinaus ist im Neuen Testament bzgl. des Hoffnungsvokabulars (4) ein als „tonisches Element“ zu bezeichnendes Charakteristikum auszumachen, nach dem Hoffnung sich immer innerhalb eines Spannungsbogens realisiert, der dann mitunter unterschiedlich qualifiziert wird, beispielsweise wie folgt: „Die neutestamentliche Hoffnung steht in der Spannung zwischen Gottvertrauen und menschlichem Zweifel und Bangen. Im Zutrauen auf Gott schützt sie wie ein Helm das Haupt (1 Thess 5,8), gibt sie Sicherheit, wie ein Anker dem Schiff (Hebr 6,18f.).“ 494 Diese Hoffnung ist es nun, von der Paulus sagt, dass sie „nicht zuschanden werden lässt“ (Röm 5,5) bzw. jene „Hoffnung gegen alle Hoffnung“ (Röm 4,18), die hofft, obwohl alle (immanenten) Indizien gegen sie sprechen. Als Beleg mag erneut mit einem Zitat von H. CONZELMANN argumentiert werden: „Die Hoffnung ist insofern radikal verstanden, als sie keine innerweltlichen Garantien besitzt (Röm 8,20ff.) und daher von der Welt aus paradox erscheint (Röm 4,19). Sie wird gerade dadurch ausgearbeitet, dass mir jede weltliche Sicherheit zerschlagen wird [ ... ] .“ 495 Das Neue Testament verwendet dafür Bilder und Metaphern, die die Qualität und die Bedeutung dieser zwischen Sehnsucht, Verheißung und Erfüllung ausgespannten Hoffnung plausibilisieren wollen, somit zugleich als Ausdruck als auch als Hinweis und Angebot für diese durch Christus offenbar gewordene und damit für den Menschen eröffnete und dabei auf Gott gegründete Hoffnung zu stehen vermögen. Wenn nun die Zukunftserwartungen Jesu selber als Personifizierung neutestamentlicher Hoffnung ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden, muss auf zwei Aspekte abgehoben werden: Die Hoffnungen Jesu sind einerseits von der Ankündigung der Nähe des Reiches Gottes bestimmt und andererseits durch den Hinweis, dass mit seinem Dasein der Anbruch dieses Reiches bereits vollzogen ist (vgl. z.B. Mk 1,15; Lk 17,20). „Diese 492 Vgl. CONZELMANN, Hoffnung II, 417. 493 „Ist die Hoffnung wesentlich christologisch motiviert, so ist auch ihr Objekt wesentlich christologisch charakterisiert: Parusie, die kommende Gottesherrschaft und die damit verbürgte Auferstehung von den Toten, ewiges Leben, Teilnahme an der Herrlichkeit Christi, Gottesschau und Gotteserkenntnis und die volle Gotteskindschaft.“ Vgl. NEUHÄUSLER, E., Hoffnung I. In der Schrift (Art.), in: HÖFER, J. / RAHNER, K. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche (LThK 2 ) Bd. V, Freiburg im Breisgau 1960, 418. Vgl. dazu 1 Kor 15,21; Gal 5,21; Gal 5,5; Röm 8,17; Tit 1,2; 1 Petr 1,3ff.; Kol 1,12ff. 494 Vgl. TOIT, Hoffnung III, 1825. 495 Vgl. CONZELMANN, Hoffnung II, 418. <?page no="233"?> 4. Biblische Wegmarken einer Struktur der Hoffnung: Zukunft als Verheißung 233 Spannung von Erfüllung früherer Erwartungen und Entfachung neuer Hoffnungen durch Auftreten und Geschick Jesu charakterisieren die urchristliche Eschatologie.“ 496 Ihren Grund hat sie in der Auferweckung Jesu von den Toten, Form und Inhalt sind eindeutig christologisch geprägt. Insofern muss eine grundlegend eschatologisch gefärbte Hoffnungstheologie 497 des Neuen Testaments konstatiert werden, deren entscheidender Inhalt aber das Reich Gottes bleibt. Mit MAGNUS STRIET kann an dieser Stelle zur Qualifizierung neutestamentlicher Hoffnung und unter Berücksichtigung der bisherigen Ausführungen von einer „gespannten Freude“ 498 gesprochen werden, einer Freude, die aus einer eschatologischen Spannung lebt, ihrerseits quasi ausgespannt ist und nur auf der Basis einer solchen Spannung realisierbar und damit erfahrbar bleibt, was sie im eigentlichen Sinne als eine hoffende Freude, eine Freude in der Hoffnung ausweist. Damit ist Hoffnung in ihrem Grunde als „(aus-) gespannte Freude“ zu bezeichnen, eine Deutung, die sich bestätigend in der Bezeichnung „hoffnungsfroh“ wiederfindet. Der Gefahr eines Defizits an Hoffnung, eines Mangels an Hoffung begegnet das Neue Testament durch Paränese und Paraklese, die den Leser bzw. Hörer zur „Erneuerung der Hoffnung“ (vgl. 1 Thess 5,8 und v.a. Hebr 3,6; 6,11.18) anregen wollen; in diesen Kontexten wird nicht umsonst immer wieder die Standfestigkeit ( ὑπομονή ) betont (vgl. Röm 5,4; 8,25; 15,4f.; 1 Thess 1,3), während von der (vergleichbaren) Bedeutung der Geduld im alttestamentlichen Zusammenhang der Aufrechterhaltung von Hoffnung schon die Rede war. Auf der Basis eines ersten Durchgangs durch die neutestamentliche Hoffnungsterminologie sind unter Weiterführung der Differenzierungen von ANDRIE DU TROIT 499 folgende Elemente dimensional voneinander zu unterscheiden: Elemente neutestamentlicher Hoffnung (objektiv) 1. Kognitiv-intentionales Element 2. Objektbezogenes Element 3. Emotional (-volitives) Element 4. Tonisches Element Abbildung 8 Elemente neutestamentlicher Hoffnung (objektiv) Worauf gründet sich aber nun das oben schon angeführte Urteil, das Neue Testament leiste zuvörderst eine theologische Prägung des Hoffnungsbegriffs? Im Folgenden soll diese These begründetermaßen konkretisiert und exemplifiziert werden. Dabei wird zum einen die Auferstehungshoffnung als Zentrum christlicher Hoffnung auszumachen sein, es wird darüber hinaus auf den (letzten) Grund neutestamentlicher Hoffnung und deren Gegenwartsrelevanz einzugehen sein, genauso wie auf die sogenannte „Reinheit“ der 496 Vgl. LINK, H.-G., Hoffnung (Art.), in: RITTER, J. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. III, Darmstadt 1974, 1160. 497 Vgl. etwa JANNSEN, C., Gottes Gericht: düstere Drohung oder Hoffnung auf Zukunft. Röm 1- 3 und die Eschatologie des Neuen Testaments, in: Bibel und Kirche 63 (2008) 4, 226-232. 498 Vgl. STRIET, M., Gespannte Freude - oder: Wider eine verharmlosende Spiritualität der Klage, in: Internationale Katholische Zeitschrift Communio 33 (Juli / August 2004), 317. 499 Vgl. TOIT, Hoffnung III, 1825-1826. <?page no="234"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 234 Hoffnung, die von Paulus als Maßstab und Garant für deren Verlässlichkeit und Enttäuschungsresistenz reflektiert wird. 500 δ Systematische Einlassungen zu einer neutestamentlichen Ethik der Hoffnung In der Auferweckungshoffnung kommt zuallererst und zentral zum Ausdruck, dass das Ende der menschlichen Möglichkeiten nicht zugleich das Ende der Möglichkeiten Gottes ist. Gerade bei Paulus 501 erscheint die Hoffnung als eine, die nicht nur für dieses Leben gilt, sondern auch für das Leben nach dem Tode (vgl. 1 Kor 15,19; Röm 5,2-5,9-11), als Hoffnung auf das ewige Leben (vgl. besonders die Pastoralbriefe; Tit 1,2; 3,7) und als Hoffnung auf die eschatologische Treue Gottes (vgl. den Hebräerbrief; Hebr 7,19). 502 Bevor aber solche Aussagen möglich und christologisch sinnvoll wurden, scheint im Hintergrund ein (historischer) Übergang von der Messiaserwartung (vgl. etwa noch Mt 12,21 in einem Gottesknechtszitat) zur Auferstehungshoffnung stattgehabt zu haben: Lukas beschreibt in der Apostelgeschichte (Apg 26,6f.) einen Zusammenhang zwischen der Hoffnung des Zwölfstämmevolkes bzw. der Hoffnung auf die Verheißung der Väter und der Auferstehungshoffnung. Entscheidend dabei ist, dass die weltliche Gestalt Jesu als nicht dem Tode überlassen buchstäblich erschien, weswegen es nun auch für den Menschen eine Hoffnung gibt, mit Jesus Christus auferweckt zu werden (Apg 4,1f.) bzw. eine neue Hoffnung auf Gott, der Gerechte wie Ungerechte auferwecken wird (Apg 24,15). Mit HANS WEDER lässt sich generell feststellen, „dass die neutestamentliche Hoffnung sich auf die eschatologische Errettung richtet, welche in der Auferweckung zu einem Sein mit Gott ihren klarsten Ausdruck findet.“ 503 500 Die Hoffnung des Paulus beruht letztlich nicht auf menschlicher Berechnung, sondern auf der Gewissheit des Glaubens. Häufig ist dabei eine Rückwirkung der Hoffnungsbegrifflichkeit auf die Alltagssprache dokumentiert, was den Lebensbezug christlicher Hoffnung nachdrücklich unter Beweis stellt. Als Beispiel mag Phil 2,19 genügen, wo die Hoffnung, Timotheus nach Philippi zu senden, mit dem Zusatz ἐν κυρίω versehen und damit in den Wirk-Horizont des (theologischen) Grundes jeglicher Hoffnung gestellt wird. Vgl. auch LAPIDE, P., Die Hoffnung des Paulus. Der Heidenapostel aus jüdischer Sicht, in: LM 15 (196), 128-132, der insbesondere auf die Identität der Hoffnung des Paulus mit der Hoffnung Israels hinweist: „Die Hoffnung des Paulus war im Grunde die Hoffnung Israels: die Hoffnung auf die baldige Ankunft des Messias, woraus für Paulus eine Wiederkehr wurde - aber ist eine Wiederkehr nicht auch ein Kommen des Messias? So bleibt die noch immer offenstehende Hoffnung des Paulus bis heute auch die Hoffnung Israels.“ 501 Vgl. ausführlich Nebe, G., Hoffnung bei Paulus. Elpis und ihre Synonyme im Zusammenhang der Eschatologie, Göttingen 1983. 502 Vgl. WOSCHITZ, K.M., Elpis - Hoffnung. Geschichte, Philosophie, Exegese, Theologie eines Schlüsselbegriffes, Wien / Freiburg / Basel 1979, 764 resümierend: „Gegenüber der griechischen Sichtweise der ἐλπίς als Voraussicht aus verfügbarer Wirklichkeit bestimmt Paulus die Hoffnung - gegen den Augenschein der vorhandenen Wirklichkeit - als Vertrauen auf den Gott, der die Toten lebendig macht und das Nichtseiende ins Dasein ruft (Röm 8,24ff.; 4,17f.).“ 503 Vgl. WEDER, Hoffnung II, 485. Das weitgehende Fehlen der Hoffnungsterminologie in den Evangelien, wiewohl thematisch immer präsent, und die ausführlichen theologischen Spekulationen des Paulus zum Status der auf Christus bezogenen Hoffnung, könnte zu der These Anlass geben, nach der in den paulinischen Schriften die Hoffnungsstruktur des Glaubens bzw. der im Christusgeschehen erfolgten Erlösung des Menschen erst regelrecht entdeckt, systematisch entfaltet und buchstäblich begründet wurde, sicher auch in Korrespondenz zur Etablierung eines neuen Zeitkontextes zu verstehen, nachdem die Naherwartung Jesu selber um die <?page no="235"?> 4. Biblische Wegmarken einer Struktur der Hoffnung: Zukunft als Verheißung 235 Für die ethische Dignität der Hoffnungsthematik ist nun mindestens zweierlei von Interesse: zum einen die Einsicht, dass auf dem Weg der Verwandlung hin zum erhofften ewigen Leben Gott der Souverän und der eigentliche Grund bleibt, der Mensch dabei aber die Verantwortung für seine Reaktion auf dieses Heilsangebot niemals verliert (vgl. 1 Kor 15,35-44). GERD THEIßEN schreibt: „Obwohl Gott bei dieser Verwandlung als souveräner Schöpfer handelt, bleibt der Mensch verantwortlich: Es liegt an ihm, ob er durch sein Tun auf Vergängliches oder Unvergängliches ‚sät‘ (Gal 6,7-10).“ 504 Alles andere wäre auch ein abzulehnender Heilsautomatismus. Ferner ist auf die Beobachtung hinzuweisen, dass eine neutestamentliche Brücke von der Auferweckung zur Gerechtigkeitsthematik führt: Mit PAULUS leben schließlich die Christen nach Gal 5, 5 aus der „Hoffnung auf Gerechtigkeit kraft des Geistes und aufgrund des Glaubens“. Mit anderen Worten: Die eschatologische Gerechtigkeit erscheint hier als gegenwärtig im Modus der Hoffnung, wobei diese Hoffnung durch die Gegenwart des Geistes gestiftet wird. 505 Auch an dieser Stelle zeigt sich wieder, dass Hoffnung nicht nur eine moralfähige und grundlegend moraloffene Kategorie darstellt, sondern geradezu ein Medium für die Begegnung des Humanum mit der Realität der Gegenwart ist, indem diese diesbezüglich geöffnet und der (hoffende) Mensch dafür vorbereitet wird, Gehalte des Humanum, beispielsweise den der Gerechtigkeit, in ihren Realisierungsmöglichkeiten zu entdecken, den sittlich verpflichtenden Anspruch derselben lebendig zu halten und schließlich zugleich daraufhin motiviert zu werden. Der Hoffnung kommt mithin eminente Gegenwartsrelevanz zu, da der grundsätzliche Zusammenhang von Gegenwart und Zukunft in ihr festgehalten wird. Diese Bedeutung wird im Neuen Testament in vielfältiger Weise und nachdrücklich zum Ausdruck gebracht. Für den Kontext der vorliegenden Arbeit ist dabei entscheidend, dass die Hoffnungsterminologie in ihrer Konsequenz ein neues Welt- und Zeitverständnis 506 mit sich bringt, dem besonders Paulus große Beachtung entgegenbringt. Insbesondere an Röm 5,2ff. zeigt sich dies in großer Deutlichkeit: Auf dem Hintergrund der Hoffnung „auf die Herrlichkeit Gottes“ (Röm 5,2b), deren sich der Mensch regelrecht rühmt, weil sie ihre Selbstgewissheit nicht aus den eigenen Möglichkeiten, sondern aus der Maßgeblichkeit dieser Herrlichkeit selber schöpft, wird er geradezu veranlasst, auf jetzige Bedrängnisse abzustellen. Das aber hat wiederum Geduld zur Folge, dem konkreten Ausharren in Situationen der Anfechtung; schließlich führt Geduld wieder zu Bewährung und der Kreis zur Hoffnung hin ist wieder geschlossen, einer Hoffnung die „nicht zugrunde gehen lässt“ (Röm 5,5a). Gerade die von der Hoffnung erzeugte Geduld verhindert damit ein Aussteigen aus den Bedrängnissen der Zeit (vgl. Röm 8,25; 1 Thess 1,3) bzw. eine Flucht in eine illusionäre Zeit (vgl. 1 Kor 13,7). Letztlich führt Hoffnung die Voraussetzungen herbei, den Menschen in die Realität seiner Gegenwart nicht nur einzuführen, sondern diese auch mit einem spezifischen Blick auf ein Parusieerwartung im Medium des von Christus gegebenen Geistes ergänzt wurde, während die Evangelien die Präsenz des späteren Grundes der Hoffnung zum Gegenstand hatten. 504 Vgl. THEIßEN, G., Die Weisheit des Urchristentums, München 2008, 27. 505 Der Zusammenhang erscheint darüber hinaus auch in Röm 4, 17 ebenso wie in Röm 5, 9. Röm belehrt uns weiter, dass PAULUS die Hoffnung in die Innerlichkeit des Menschen verlegt. „Sie hat ihren Grund in der Gewissheit des gegenwärtigen Heils, entsteht aber gerade durch den Widerspruch zwischen dieser Heilsgewissheit und den Notlagen des Lebens (Röm 5,1-5).“ Vgl. THEIßEN, Die Weisheit des Urchristentums, 27. Was hier angesprochen ist und noch systematisch entfaltetet zu werden hat, ist die Kontrasterfahrung, auf der Hoffnung in der Regel beruht. 506 Vgl. dazu etwa WEDER, H., Gegenwart und Gottesherrschaft. Überlegungen zum Zeitverständnis bei Jesus und im frühen Christentum, Neukirchen-Vluyn 1993. <?page no="236"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 236 gutes Ende, moraltheologisch unter der Perspektive des Humanum in der Zeit, zu bewältigen, wofür Hoffnung ihn nachhaltig motiviert. HANS WEDER schreibt in diesem Sinne: „Gerade die Hoffnung auf endgültige Rettung versagt sich der Weltflucht, sei es in der Gestalt der Illusion, sei es in der Gestalt der gewaltsamen Veränderung. Der Weltbezug bzw. das sich Einlassen des Menschen in das Jetzt wird also wesentlich konstituiert durch die Hoffnung, welche sich über das Weltliche hinauswagt und zum Ende der Zeit blickt. Dem guten Ende, das erhofft wird, entspricht denn auch die gegenwärtige Freude, welche im Horizont der christlichen Hoffnung angebracht ist.“ 507 Schließlich ermöglicht die Hoffnung auf den Neuen Bund bzw. die Hoffnung, in welcher das gute Ende des Neuen Bundes (schon) gegenwärtig wird, eine große Offenheit ( παρρησία ) und Freimütigkeit. Die Gegenwart wird dabei vom Phänomen der Hoffnung regelrecht bestimmt - ein Charakteristikum des neuen Welt- und Zeitverständnisses. Umgekehrt heißt das, dass die im Christusgeschehen fokussierte Rettung des Menschen, deren futurische Aspekte damit auch um Vergangenheitsaspekte erweitert und ausbalanciert wurden, gegenwärtig ist im Modus der Hoffnung ( τῆ ἐλπίδι ). Diese Hoffnung stützt sich nicht auf vorfindliche Indizien und ist somit nicht auf das Weltliche beschränkt. Das wiederum bedeutet, dass die Gegenwart, auch die kontingente und der Nichtigkeit unterworfene Gegenwart der Schöpfung 508 , von Hoffnung erfüllt ist, die durch irdische Erfahrungen und Indizien nicht widerlegt zu werden vermag. Diese Prägung der Gegenwart durch die Hoffnung, sowohl objektiv (Schöpfung), als auch existenziell (Rettung des Menschen), reicht für das Neue Testament bis ins Gericht. Begründete Hoffnung besteht für alle drei Zeitformen - ausgehend von der Vergangenheit, über die Gegenwart bis in das Gericht (der Zukunft) hinein, das seinerseits von seinen alttestamentlichen Ursprüngen her als Hoffnungsfigur zu erschließen war. Ein wichtiger neutestamentlicher Hoffnungs-Topos ist ferner also das Gericht. 509 Es setzt Umkehr (metanoia) voraus - auch eine Konsequenz der Hoffnung - und eine personale Beziehung der Hoffnung, die über den Tod hinaus weist und sich in einem Akt letzter Hoffnung Gott selbst und seinem gerechtmachenden Handeln überantwortet 510 - unter Aufrechterhaltung und gerade nicht unter Nivellierung entsprechender moralischer Hoffnungen auf Gerechtigkeit und Versöhnung. Anders formuliert: Verlust der 507 Vgl. WEDER, Hoffnung II, 486. 508 Auch die Schöpfung soll etwas anderes sein als sie ist (vgl. Röm 1,23f.) und die Hoffnung zeigt quasi indikatorisch an, was sie als Geschöpf Gottes sein könnte, so wie die Hoffnung die Menschen als Söhne Gottes, und nicht als Gegenspieler (vgl. Röm 8,20) offenbar zu machen vermag. 509 Vgl. etwa PEMSEL-MAIER, S., Gericht - Himmel - Fegefeuer als Hoffnungsbilder lesen, in: Bibel und Kirche 63 (2008) 4, 204-209. Ebenso JANNSEN, C., Gottes Gericht: düstere Drohung oder Hoffnung auf Zukunft. Röm 1-3 und die Eschatologie des Neuen Testaments, in: Bibel und Kirche 63 (2008) 4, 226-232. 510 Vgl. FUCHS, O., Hoffnung über den Tod hinaus. Warum die Rede vom Jüngsten Gericht unverzichtbar ist, in: Bibel und Kirche 63 (2008) 4, 200-203, hier 202. „Schließlich ist alle Hoffnung noch einmal dem Geheimnis Gottes selbst zu überantworten. Es kann nie einen ungehörigen Zugriff auf Gott und auf das geben, was nach dem Tod kommt, sondern um ein vorsichtiges Ertasten dessen in der Sprache der Hoffnung: Auf unsichtbare Hoffnung hin sind wir gerettet (vgl. Röm, 8, 24-25). Diese Beziehung der Hoffnung gelingt nur, wenn Gott unsere Rettung und nicht unsere Vernichtung ist. Und hoffnungsvoll ist dieser Blick über die Todesgrenze hinaus dann, wenn all das, was die Menschen getan und erlitten haben, sich nicht einfach in dieser Rettung auflöst, als wäre das alles nicht geschehen, sondern einer endgültigen Herstellung der Gerechtigkeit und einer ganz und gar nicht billigen Versöhnung ausgesetzt wird.“ <?page no="237"?> 237 Gerichtshoffnung führt zum Verlust der Hoffnung auf letzte Gerechtigkeit. 511 Statt Umkehr als normative Notwendigkeit gegenüber einem befürchteten (Straf-) Gericht steht daher vielmehr die zuversichtlich hoffende und zugleich gottesfürchtige Annahme einer jedem Gericht immer schon zuvorkommenden und dieses buchstäblich be-gründenden Güte Gottes im Zentrum biblischer Gerichtshoffnung, was allerdings ein Sühneleiden oder ein purgatorisches Leiden an eigener Schuld nicht aussondern einschließt. Gericht und Metanoia sind daher als zentrale biblische Hoffnungsfiguren zu bezeichnen, die die bereits erwähnte Hoffnungsspannung par excellence wiedergeben. FRANZ BÖCKLE schreibt aufschlussreich für den vorliegenden Kontext: „Damit erweist sich die Zukunftsgestalt der Welt zugleich als ihre, wenn auch noch verborgene, Jetztgestalt. Daraus ergibt sich eine Zweipoligkeit ethischer Verantwortung: sie zielt futurisch und zugleich präsentisch auf die Offenlegung der Basileia. Ethisches Handeln darf weder dem ‚Jetzt‘, noch dem ‚Später‘ verhaftet sein. Der Biblisch-ethische Maßstab, den die Basileia setzt, ist der Maßstab der auf Zukunft hin zu gestaltenden Gegenwart.“ 512 Während die Texte des Paulus, wie besehen, die Gegenwartsrelevanz der Hoffnung hervorheben, tritt nun in den nachpaulinischen Schriften besonders das aus der Hoffnung abgeleitete ethische Verhalten in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit: Schon in 1 Thess wird die Hoffnung auf Rettung zu denjenigen Mächten gezählt, die gegen die Mächte der Nacht und der Versuchung als Helm (vgl. 5,8) fungieren, so dass die Hoffnung quasi als Rüstung derer bezeichnet werden kann, die dem Tag gehören und in ihrem Verhalten „nüchtern“ sind. Der Kampf für bzw. gegen bestimmte Verhaltensweisen bestimmt hier die Gegenwartsrelevanz der Hoffnung. Auch der Titusbrief begründet ein gottgefälliges Leben mit der Hoffnung auf die Erscheinung Gottes und des Heilands Jesus Christus (2,12f.). Im Hebräerbrief wiederum werden die Leser paränetisch daran erinnert, mit Eifer an der Entfaltung ( πληροϕορία ) der Hoffnung zu arbeiten 513 (Hebr 6, 11), was im Tun der Liebe, im Dienst, in Glauben, Geduld, Zuversicht und Jubel geschieht. (vgl. 6,10.11; 3,6). Für 1 Petr schließlich stellt die Hoffnung einen Schlüsselbegriff dar, der den Menschen veranlasst, in ständiger Wachheit zu leben: „die Lenden umgürtet und vollkommen nüchtern“ (1,13). 514 Mit anderen Worten: Für das Neue Tes- 511 Vgl. grundlegend aus systematischer und praktischer Perspektive FUCHS, O., Das jüngste Gericht. Hoffnung auf Gerechtigkeit, Regensburg 2007. Die einseitige Übertribunalisierung der Gegenwart dürfte mit dem Verlust solcher Hoffnung zu tun haben, was praktisch-theologisch zu zeigen wäre. Hier wie sonst auch in der Bibel steht nicht allein der Einzelne im Mittelpunkt des Interesses, sondern auch das Kollektiv einer Gesellschaft, das im Verdacht steht sich zu überfordern, wenn der „Trümmerhaufen der Geschichte“ (W. BENJAMIN) ohne Hoffnung auf letzte Gerechtigkeit und Versöhnung für all die ungezählten (lebenden und bereits verstorbenen) Täter und Opfer der Menschheitsgeschichte quasi allein anamnetisch zu bewältigen gesucht wird. Aber selbst dieses Ansinnen wird noch von spezifischen moralischen Hoffnungen getragen sein, deren finale Motivationsquellen aber kaum mehr ausgewiesen werden. 512 Vgl. BÖCKLE, F., Moraltheologie und Exegese heute, in: KERTELGE, K. (Hrsg.), Ethik im Neuen Testament, Freiburg im Breisgau 1984, 197-210, hier 205. 513 Hier kann in Anlehnung an den von S. FREUD geprägten Begriff der Trauer-Arbeit von ‚Hoffnungs-Arbeit‘ gesprochen werden, denn und insofern das Neue Testament nicht nur zur Entwicklung von Hoffnung (aus dem Glauben) aufruft, sondern parallel die Läuterung der bestehenden Hoffnungen (am Grund der Hoffnung selbst, am Du der Person Jesu Christi) anmahnt. 514 Diese aszetischen Haltungen, die nicht umsonst in späterer Zeit und im Kontext christlicher Spiritualität in den spezifisch geprägten Zeiten des Kirchenjahres, die der Metanoia dienen, also der Umkehr und Neuorientierung an den zentralen Hoffnungsinhalten des Glaubens, Advent und österliche Karzeit, ihren festen Ort haben, sind von besonderer Bedeutung. 4. Biblische Wegmarken einer Struktur der Hoffnung: Zukunft als Verheißung <?page no="238"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 238 tament ist sehr wichtig, dass sich aus der Hoffnung ein neues, verändertes Verhalten ergibt, sie bleibt nicht ethisch-moralisch folgenlos, sondern lässt ganz im Gegenteil das aus ihr gespeiste Verhalten der Christen von dem der (heidnischen) Umwelt signifikant unterscheiden - bis dahin, dass sie den Christen dazu Anlass gibt, über den Grund ihrer Hoffnung Rechenschaft abgeben zu sollen (vgl. 1 Petr 3,15), so sehr ist sie imstande, das Leben und Verhalten der Hoffenden zu verwandeln 515 - im übrigen gegen jede (heils-) individualistische Verkürzung. Mehr noch: „Die Ansage der Parusie Christi will den Christen in tätiges Handeln einweisen: ‚Handelt, bis ich wiederkomme! ‘ (Lk 19,13). Die Dimension der Hoffnung als spezifisches Moment christlichen Glaubens wird zum Imperativ und Movens christlicher Ethik.“ 516 So ließen sich nun insgesamt drei Schwerpunkte ausmachen, bei denen sich die Gegenwartsrelevanz der Hoffnung grundlegend zeigt: (1) In einem neuen Zeit- und Weltverständnis; (2) in der Unterscheidung zwischen Jetzt und Dann als einem eschatologischen Moment; und (3) im ethischen Verhalten. Festzuhalten bleibt dabei mit Entschiedenheit: Die christliche Hoffnung ist, so sehr sie auf das Endgültige gerichtet ist, intensiv auf das Jetzt und die Welt bezogen. Sie ist eine Zukunftseinstellung, die nicht in die Zukunft flieht, sondern das Künftige ins Jetzt hereinholt und also den Menschen einlässt in das, was jetzt an der Zeit ist. Auch an dieser Stelle lässt sich erneut das streng antignostische Hoffnungs-Verständnis des Neuen Testaments beobachten, nachdem Hoffnung nicht dualistisch, sondern dialektisch strukturiert ist, der Welt nicht zu entfliehen sucht, sondern in sie einsenken will, die Gegenwart und die Welt nicht pejorativ, sondern akzeptierend betrachtet, um sie schließlich verändern zu können. 517 Die Frage nach dem Grund der menschlichen Hoffnung ist für das Neue Testament von größter Wichtigkeit, wiewohl das Phänomen der Hoffnung und des Hoffens ganz selbstverständlich als zum Dasein des Menschen gehörig betrachtet wird. Da aber Hoffnung weder auf sich selbst beruht, noch einfach aus der Lebendigkeit des Menschen ableitbar wäre, sind die neutestamentlichen Texte beständig gewillt, Gründe anzugeben für die Hoffnung (des Christen). Deren werden vielfältige angegeben, insbesondere jene, welche zur Hoffnung buchstäblich Anlass geben, letztlich aber kommt der eine Grund auf mannigfaltige Weise zur Sprache: Hoffnung gründet sich auf Christus. Für Paulus beispielsweise ist Hoffnung deshalb „gewiss“ ( βέβαια ), weil sie in dem Zusammenhang von Leiden und Trost gründet, den Christus selber in und mit seiner Person hergestellt hat (vgl. 2 Kor 1,7). Er hofft „im Herrn“ (vgl. Phil 2,19), was bedeutet, dass seine Hoffnung insofern begründet ist, als sie im Machtbereich Christi geschieht bzw. auch umgekehrt alltägliche und profane Hoffnungen dadurch in diesen Machtbereich hineingenommen oder hineingezogen werden. Hier zeigt sich erneut, dass Hoffnung die Tendenz hat, sich ausgehend von einem (begründeten) Nukleus auf andere Lebensbereiche zu entfalten und auszudehnen, wobei christliche Hoffnung aufgrund ihrer fundamentalen 515 Vgl. WEDER, Hoffnung II, 487: „Die Hoffnung wirkt sich aus in einem neuen Verhalten, das sich eindeutig von der heidnischen Umwelt unterscheidet. Grund für dieses neue Verhalten ist, dass die Gemeinde ihren Glauben und ihre Hoffnung nicht mehr auf die Welt setzt, sondern ausschließlich auf Gott (1 [Petr, R.L.] 14-21). Das veränderte Verhalten wiederum ist Anlass für Nachfragen aus dem Bereich der nichtchristlichen Umwelt: Nachfragen, die dazu Gelegenheit geben, über die unter den Christen maßgebende Hoffnung Rechenschaft abzulegen (3,15).“ 516 Vgl. WOSCHITZ, Elpis, 764. 517 Vgl. STARK, T.H., Philosophische Lebensform, Erkenntnis und Erlösung. Zu Grundlagen und Entstehungsgeschichte der Gnosis, in: ThPh 79 (2004), 339-360. <?page no="239"?> 4. Biblische Wegmarken einer Struktur der Hoffnung: Zukunft als Verheißung 239 Begründung in Christus selber bzw. aufgrund ihres Anspruchs, Gott als letzten Grund (jeglicher) Hoffnung anzugeben, in der Lage ist, alle Lebensbereiche des Menschen, mithin seine ganze Existenz zu durchdringen und zu bestimmen: „Christus ist der Name für jenes Geschehen, welches die Hoffnung allererst begründet und ins Dasein gerufen hat.“ 518 Neben dem Akt der Hoffnung ist damit auch und v.a. das Heilsgut Hoffnung hervorgehoben: in 1 Tim 1,1 wird Christus geradezu als „unsere Hoffnung“ bezeichnet, in Phil 4, 4 ist von der „einen gemeinsamen Hoffnung“ in dem einen Leib und dem einen Geist die Rede, Phil 1,18 ruft dazu auf, die Hoffnung, zu der wir berufen sind, mit den von Christus selbst erleuchteten Augen des Herzens in ihrem Reichtum zu verstehen. Immer geht es darum, in der Gegenwart Anteil zu bekommen an der Hoffnung auf die künftige Vollendung, weswegen der Ruf in den Christusleib bzw. der Ruf in die Kirche, als den Gestalten, die Anteil gewähren, ergeht. Neben diesen eher explizit christologischen Reflexionen gibt es auch solche, die sich indirekt mit den Folgen und der Bedeutung des Christusgeschehens im Bezug auf die Hoffnung befassen: Der Ursprung der Hoffnung ist der Glaube (vgl. Gal 5,5), der durch Christus in die Welt gekommen ist. Das von Christus kündende und durch ihn ermöglichte Wort, das Evangelium, ist seinerseits Grundlage der Hoffnung, die im Himmel bereitliegt (vgl. Kol 1,15), von der wir uns nicht abbringen lassen sollen (Kol 1,13). Darüber hinaus beruht die Hoffnung auf der Gnade (1 Petr 1,13), die sich in der endzeitlichen Offenbarung Jesu zeitigen wird. Hier lässt sich nun eine Identifikation von christologischem Grund und eschatologischem Ziel der Hoffnung beobachten. Mit anderen Worten: Hier werden Theologumena geschaffen, die die in Leben, Sterben und Auferstehung Jesu Christi begründete Hoffnung verständlich und erfahrungsmäßig zugänglich machen wollen, die buchstäblich Hoffnung (für und in der Gegenwart des Christus-Anhängers und seiner Nachfolger) vermitteln, indem sie als Instrument der Deutung der eigenen (christusgläubigen) Existenz auf eine Erschließung der Hoffnungs-Potentiale hin dienen, in denen man sich wieder finden kann als jemand, dem begründete Hoffnung geschenkt wurde. Eine ganze Reihe neutestamentlicher Stellen lassen nun die Hoffnung ganz einfach auf Gott selbst gründen, wobei dieser Gott einerseits christologisch, andererseits schöpfungstheologisch gedacht ist: Die Auferstehung Jesu ließ erkennen, wer Gott selber ist, während die Erschaffung des Seienden aus dem Nichts dazu als Entsprechung gelten kann. Dieser Gott gibt Grund zur Hoffnung, wobei er gegenwärtig ist im Medium seines Heiligen Geistes: „So sehr ist die Hoffnung mit Gott verknüpft, dass dieser geradezu Gott der Hoffnung ( ὀ θεός τῆς ἐλπίδος ) genannt werden kann (Röm 15,12f.). Er ist der Gott, der Hoffnung schafft, begründet, in überreicher Fülle austeilt. Der Reichtum der Hoffnung entsteht durch die Kraft des Heiligen Geistes. Der Heilige Geist befindet sich im Gegensatz zum Geist der Welt, sofern er den Menschen dazu veranlasst, sein Vertrauen (seine Hoffnung) auf Gott zu setzen, statt bloß mit den Möglichkeiten der Welt zu rechnen. Wo diese Hoffnung fehlt, bleibt nur das Vertrauen auf das Fleisch (vgl. Phil 3,3f.), die Beschränktheit auf das, was der Mensch aus sich selbst machen kann.“ 519 Dem Neuen Testament ist mithin entscheidend wichtig, dass bei Abwesenheit dieser Hoffnung auf diesen Gott nur das Vertrauen „auf uns selbst“ ( πεποιθότες ὠμέν ἐϕ ἐαυτοὶς ; 2 Kor 1,9) bleibt, was aber letztlich trügerisch und ohne Grund bleibt. Solche Aussagen müssen aus dem Kontext der sie tragenden Argumentation heraus verstanden werden, der für den vorliegenden Fall auf das Gottesverhältnis des sich am Gott Jesu Christi orientieren- 518 Vgl. WEDER, Hoffnung II, 487. 519 Vgl. ebd. 488. <?page no="240"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 240 den Menschen und dessen Konsequenzen reflektiert, wobei insbesondere die Fragen nach dem letzten Grund einer sich daraus ergebenden Hoffnung im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Dieser Grund ist nämlich in der Lage, alle anderen Hoffnungen als „unbegründet“ zu entlarven, d.h. alle vertrauende Gewissheit über unsere Zukunft, die wir aus unseren eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten glauben schöpfen zu können 520 , wird überboten durch die je größere nicht mehr zu überbietende Hoffnung, die in ihrem Grund, Jesus Christus, offenbar geworden ist. Hier wird mithin vom Grund christlicher Hoffnung auf der Basis des menschlichen Gottesverhältnisses gesprochen, aber nicht das notwendige „Selbst-Vertrauen“ auf der Basis des menschlichen Selbst-Verhältnisses desavouiert, das nämlich seinerseits als gespeist von jener Hoffnung gedacht werden kann. Mit anderen Worten: Christliche Hoffnung ist in ihrem Gottesbezug moraltheologisch nicht als Antithese zum Selbstbezug des Menschen zu stilisieren 521 ; Hoffnung gründet nicht im Selbstbezug, aber Hoffnung und das menschliche Selbstverhältnis gründen beide ihrerseits in Gott, so dass sie (transzendental) als „gleich orientiert“ begriffen werden müssen, indem das eine das andere (dialektisch) ermöglicht und begleitet. Die objektive (in Gott begründete) Seite schließt die subjektive (ebenfalls in Gott seinen Grund findende) Seite nicht aus, sondern beide wollen in ihrer wechselseitigen Bezogenheit reflektiert werden, damit der objektive Grund innerhalb des Subjekts entdeckt und realisiert werden kann. Das Neue Testament denkt mithin überwiegend vom objektiven Grund her, die vorliegende Arbeit versucht in rudimentären Ansätzen die Konstitutionsbedingungen der subjektiven Seite ans Tageslicht zu heben - wohl gemerkt in ermöglichender Absicht, was den Grund beider betrifft. Ein bedeutender Schwerpunkt neutestamentlicher Theologie der Hoffnung ist über die bisherigen Ausführungen hinaus darin zu sehen, Liebe als entscheidenden Grund der Hoffnung zu benennen. Der Zusammenhang der Liebe mit dem christologischen Grund der Hoffnung ist offensichtlich, wird sie doch von Christus geradezu verkörpert (2 Kor 5, 14-21; Gal 2,20). Diese Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes, die uns nicht zuschanden werden lässt (Röm 5,5), „diese Hoffnung enttäuscht genau deshalb nicht, weil sie auf der Liebe Gottes beruht, die in unsere Herzen ausgegossen ist. Sie beruht weder auf einer Möglichkeit des Daseins noch auf einem illusionären Zukunftsbezug, sondern auf der jetzt schon in unsere Mitte verlegten Liebe, die im Christusgeschehen Gestalt gewonnen hat.“ 522 In 1 Kor 13 lässt sich nun exemplarisch zeigen, wie eng die Verbindung zwischen der Liebe als dem Grund der Hoffnung und dieser selbst ist, da dort die Liebe zum Subjekt des Hoffens selber wird: In diesem Hohelied der Liebe lässt sich Paulus zu der Aussage hinreißen, dass Liebe „alles hofft“ (vgl. 1 Kor 13,7). Auch dieser Gedanke gilt nicht zuerst dem (horizontalen) Raum der Intersubjektivität, sondern verweist auf der Basis des inhärenten Gottesbezugs darauf hin, dass diese Liebe nicht alles zu haben wähnt (vgl. 1 Kor 4,7), sich im Grunde von anderswoher verdankt, sich vertrauend verlässt und damit eine gewisse Analogie zur Hoffnung aufweist. Um erneut mit HANS WEDER zu sprechen: „Die Liebe kann deshalb alles hoffen, weil sie selbst schöpferisch ist und um ihre Kreativität weiß: Sie wagt, das Nicht-Sichtbare zu erwarten, weil sie selbst Augen für das Unsichtbare hat. Dazu passt, dass die Liebe hier nicht bloß als Grund, sondern auch 520 Schon hier könnte Paulus wohl entgegenhalten: „Was hast du, was du nicht empfangen hättest? “ (1 Kor 4,7) 521 Das nämlich käme einer Verwechslung der inkommensurablen subjektiven Perspektive mit einer subjektivistischen Perspektive gleich. 522 Vgl. ebd. 488. <?page no="241"?> 241 als Ziel der Hoffnung erscheint (1 Kor 13,8-12.13).“ 523 Systematisch-theologisch bedeutet das nun, dass Hoffen letztlich als ein Akt der Liebe bezeichnet werden muss oder zumindest als ein Akt, der seinen letzten Grund und sein letztes Ziel in der Liebe selber findet. 524 Der Grund der Hoffnung ist in dieser Diktion mit Gott, der die Liebe selber ist, zu bestimmen 525 , woraus gefolgert werden kann, dass die vielen Gründe der Hoffnung, die das Neue Testament kennt und nennt, als verschiedene Aspekte des einen Grunds aufzufassen sind. Mit HANS WEDER kann pointiert zusammengefasst werden: „Neutestamentlich kommt als Grund der Hoffnung weder eine Befindlichkeit menschlichen Existierens noch ein antizipatorisches Ausgestrecktsein auf das Noch-Nicht in Frage. Die Hoffnung gründet sich vielmehr auf das, was schon jetzt gilt, freilich nicht im Sinne einer konstatierbaren Faktizität, sondern im Sinne der unter den Bedingungen der Weltlichkeit wahrnehmbaren Wirklichkeit Gottes. Sofern Christus das Gepräge der Wirklichkeit Gottes trägt, ist er zugleich der tragende Grund für die Hoffnung auf die Offenbarung der Wahrheit Gottes. Deshalb hat die Hoffnung im Sinne des Neuen Testaments keinen anderen Grund als Gott selbst.“ 526 Einzig auf diese Weise ist auch begründet verständlich zu machen, wie christliche Hoffnung „Hoffnung gegen alle Hoffnung“ (Röm 4, 18), d.h. Hoffnung gegen den offensichtlichen Augenschein, sein kann. „Gerade, weil die Hoffnung gegen den Augenschein hofft, wird sie im Urchristentum durch Bilder der Natur und durch Einbettung in den Kosmos plausibel gemacht.“ 527 Das fünfte Kapitel des Römerbriefes kann darüber hinaus als paradigmatischer Hoffnungstext bezeichnet werden, weil daran beispielhaft abgelesen werden kann, warum Standhaftigkeit, Geduld und Bewährung in der Anfechtung zu den Grundtugenden der Hoffnung gezählt werden. 528 Thematisch bewegen wir uns im Kontext der Frage nach der Bewältigung von Leiden durch die Christus-Hoffnung, ineins damit aber auch der Frage nach der Aktivität und / oder Passivität christlicher Hoffnung. Als äußerst aufschlussreich für den Kontext der vorliegenden Fragestellung kann nun gelten, dass für Paulus aus der christlichen Hoffnung nicht allein ein (passives) geduldiges Ertragen des Leidens zum 523 Vgl. ebd. 488. 524 Eine Spiritualität der Hoffnung, soweit diese im Rahmen dieser Arbeit Erwähnung finden soll, könnte davon ausgehen, dass der Hoffende auf dem Grund der Hoffnung Gott als Liebe zu gewärtigen hat und somit Grund und Ziel in einer Verschränkung zu denken sind. Vgl. auch ebd., 489: „Insofern bleibt die Hoffnung ganz im Raum der Liebe: Sie ist begründet durch die bereits geschehene Liebe und sie hofft auf nichts anderes als auf die der Liebe eigene Zukunft.“ Vgl. dazu mit spiritualisierender, d.h. die Hoffnungsstrukturen eher verdeckender Tendenz SCIOLI, A. / BILLER, H.B., Hope in the Age of Anxiety, Oxford 2009. 525 Vgl. 1 Joh 4,16b-19: „Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm. Darin ist unter uns die Liebe vollendet, dass wir am Tag des Gerichts Zuversicht haben. Denn wie er, so sind auch wir in dieser Welt. Furcht gibt es in der Liebe nicht, sondern die vollkommene Liebe vertreibt die Furcht. Denn die Furcht rechnet mit Strafe, und wer sich fürchtet, dessen Liebe ist nicht vollendet. Wir wollen lieben, weil er uns zuerst geliebt hat.“ 526 Vgl. ebd. 489. 527 Vgl. THEIßEN, Die Weisheit des Urchristentums, 27. THEIßEN weiter: „Um die Hoffnung zu stärken, formuliert Jesus Wachstumsgleichnisse: Trotz unscheinbarem Anfang entsteht aus dem Saatkorn am Ende etwas Großes (Mk 4,26-29). 528 Damit sind Haltungen angesprochen, wie sie später im Rahmen der anthropologischen Fundierung der Hoffnungskategorie als (psychische) Schutzfaktoren vor Versehrungen, als Bewältigungskompetenz, etc. wiederzufinden sein werden. Vgl. auch SCHMID, J., Der Begriff der Seele im Neuen Testament, in: RATZINGER, J. [P.P. BENEDIKT XVI.] / FRIES, H. (HRSG.), Einsicht und Glaube, Freiburg im Breisgau 1962, 119-131. 4. Biblische Wegmarken einer Struktur der Hoffnung: Zukunft als Verheißung <?page no="242"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 242 Ausdruck bringt, „sondern auch die Standhaftigkeit im Guten“ 529 . Nicht nur eine (passive) Bewährung im Leiden, sondern auch eine (aktive) Bewährung in der Standhaftigkeit und damit im Guten kommt in der Perikope zum Ausdruck. Damit kann dem Leiden das letzte Wort genommen werden, kann ihm getrotzt werden, nicht allein in erduldender, sondern auch in tätiger und bewältigender Weise. „Dadurch, dass sich die Leidenden nicht aus der Bahn werfen lassen, sondern in ihrem guten Leben beharren, wird die Macht der Leiden relativiert und ihre Überwindung antizipiert. Deshalb gehört die Hoffnung zu ihrem Gefolge.“ 530 So kann christliche Hoffnung, wie sie PAULUS im Römerbrief versteht, zu den Ermöglichungsbedingungen aktiver Leidbewältigung gezählt werden. 531 Anzufügen ist an dieser Stelle, dass christliche Hoffnung zwar nicht auf einer Befindlichkeit oder einem antizipatorischem Geschehen gründet, aber sich wohl ohne dergleichen auch nicht vollziehen kann, will die Wirklichkeit Gottes unter den Bedingungen der Weltlichkeit überhaupt wahrgenommen werden können. Dieses Gewahrwerden aber ist dann notwendig qualifizierbar, was den anthropologischen Kontext bzw. den handlungstheoretischen Rahmen betrifft. Daher kann die Zustimmungsfähigkeit zu den ansonsten sehr konzisen Äußerungen von HANS WEDER an der Stelle zumindest in Frage gestellt werden, nach der er wissen will, „dass es sich bei der Hoffnung nicht um eine existentielle Befindlichkeit des Menschen handeln kann“ 532 . Dagegen ist zu argumentieren, dass Paulus hier streng theologisch über den Grund der Hoffnung spricht, wohingegen WE- DER gerade von dieser dezidiert theologischen Rede abweicht, wenn er daraus eine Aussage über das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer existentiellen Befindlichkeit des Hoffenden glaubt ableiten zu können 533 . Das Neue Testament will mitnichten eine Antithese formulieren zwischen den auf dem menschlichen Gottesbezug rekurrierenden Begründungsfragen christlicher Hoffnung und den auf dem Selbstbezug des Menschen basierenden Fragen nach Voraussetzung und Vollzug dieser Hoffnung, sondern erstere klar hervorheben unter Voraussetzung und Annahme letzterer, sonst könnte nicht von einer geschichtlichen Manifestation der Wirklichkeit Gottes geredet werden, die sich dann ihrerseits einer anthropologischen Basis aufseiten des Menschen bedient. Mit anderen Worten: Ohne die theologischen Begründungsfragen damit zu gefährden, 529 Vgl. ausführlich BIERINGER, R., Aktive Hoffnung im Leiden. Gegenstand, Grund und Praxis der Hoffnung nach Röm 5,1-5, in: Theologische Zeitschrift 51 (1995), 305-325, hier 324. 530 Vgl. BIERINGER, Aktive Hoffnung im Leiden, 324-325. 531 Vgl. ebd. 325. „Hoffnung ist in Röm 5,1-5 somit nicht passives Abwarten bis zur Erfüllung ihres Gegenstandes, noch ist sie, wie in der existentialen Interpretation, auf die beinahe restlose Antizipation in die Gegenwart eingeengt. Wie das Lebensbeispiel des Paulus selbst zeigt, entlastet sein Hoffnungsbegriff nicht von der Sorge um die Zukunft, sondern setzt Kräfte frei, auch im Angesicht von Leid und Bedrängnis nicht für sich selbst zu leben, sondern für den, der für uns starb und auferstand, und mit ihm für alle, die ihm gehören (vgl. II Kor 5,14-15; Röm 14,7-8).“ Vgl. auch mit ausführlicher Bibliographie THEOBALD, M., Der Römerbrief, Darmstadt 2000, insbesondere 250-258. 532 Vgl. WEDER, Hoffnung II, 489. 533 Vgl. LINK, Hoffnung, 1164ff., der besonders darauf hinweist, dass die spätere existenzphilosophische und existenztheologische Bearbeitung der Hoffnung in der Neuzeit, beispielsweise bei SÖREN KIERKEGAARD und MARTIN HEIDEGGER, diese gerade auf eine existenzielle Befindlichkeit des Subjekts reduzieren würde, ersterer im Sinne einer „Existenzhaltung gegenüber dem Ewigen in der Gegenwart“, letzterer im Sinne eines „erhebenden Gestimmtseins des Daseins“, wobei die biblischen Vorgaben hier einseitig akzentuiert bzw. eindeutig verlassen wurden. <?page no="243"?> 4. Biblische Wegmarken einer Struktur der Hoffnung: Zukunft als Verheißung 243 muss sich christliche Hoffnung zweifelsohne im Rahmen einer strukturell zu qualifizierenden Anthropologie realisieren. Im Rahmen dieses streng theologischen Hoffnungsbegriffes müssen nun auch die theologischen Konsequenzen einer Abwesenheit dieser Hoffnung reflektiert werden, dabei werden Hoffnungslosigkeit und Gottlosigkeit als identisch gesetzt. Deswegen kann dann von den „anderen“ ( οἴ λοιποί; 1 Thess 4,13), wohl als die Nicht-Christen zu verstehen, gesagt werden, dass sie nicht nur gottlos, d.h. ohne den Gott Jesu Christi, sondern auch ohne Hoffnung seien. Diese Aussagen müssen aber, es sei erneut erwähnt, strikt auf den sie tragenden Grund bezogen gedacht werden und dürfen nicht als negative anthropologische Aussagen missverstanden werden. Wenn von den sogenannten ‚Heiden‘ (vgl. Eph 2, 12) ausgesagt wird, sie seien ohne Hoffnung, dann wird damit nicht zum Ausdruck gebracht, sie kennten das Phänomen der Hoffnung gar nicht, sondern ihre ‚Hoffnungen‘ sind nicht auf den letzten Grund aller Hoffnung bezogen, wie ihn die Christen zu verstehen gelernt haben. Damit werden die Hoffnungen der ‚Heiden‘ als grundlos und „leer“ entlarvt. Was sich hier andeutet, ist nicht nur (1) eine Vertiefung der Begründung von sich auf das Christusgeschehen beziehender Hoffnung, sondern auch (2) eine Neuakzentuierung und Neuausrichtung dessen, was die Inhalte der Hoffnung selber betrifft, beispielsweise, wenn der Hoffnung auf die trügerischen Versprechungen des Reichtums die Mahnung, allein auf Gott zu hoffen, entgegengestellt wird (vgl. 1 Tim 6, 17). Kreuzestheologisch gewendet hat die Identifikation von Gottlosigkeit und Hoffnungslosigkeit eine für die vorliegende Arbeit entscheidende Konsequenz: Christus kann auch insofern als der Menschen Hoffnung bzw. als Grund der Hoffnung bezeichnet werden, als er am Kreuz die gottlose Hölle der Hoffnungslosigkeit restlos durchschritten und überwunden hat, so dass es für den Menschen im Glauben keinen Ort oder Zustand bar jeglicher Hoffnung auf Zukunft geben kann - Jesus Christus ist als Gekreuzigter und Auferstandener immer schon anwesend und vermag kraft seiner Person Hoffnung auf Zukunft und damit auf Leben zu vermitteln. Wird nun die Perspektive auf eine mögliche Gesamtschau der neutestamentlichen Schriften geweitet, um deren Leistungen in den Blick nehmen zu können, so ist mit HANS WEDER gesprochen gleichsam eine (theologische) „Reinigung des Hoffnungsbegriffs“ 534 festzuhalten, die an verschiedenen Stellen auszumachen ist, aber ihren Höhepunkt klar in der paulinischen Theologie hat. In das Umfeld und den Zusammenhang dieses als Reinigung bezeichneten Vorgangs bzgl. der Hoffnungsterminologie im Neuen Testament ist sowohl die (positive) Bedeutung enttäuschter Hoffnungen zu rechnen, als auch einige wenige spezifische adjektivische Abgrenzungen des Phänomens: Der Evangelist Lukas schildert beispielsweise die Hoffnung des HERODES, ein Zeichen von Jesus sehen zu können, wird aber darin von Jesus selber enttäuscht (vgl. Lk 23,8), mit der Folge, dass er über Jesus spottet und im Kampf gegen Jesus zum Freund des Pilatus wird (vgl. Lk 23,12). Vergleichbar erzählt die Perikope um die Emmausjünger von deren Hoffnung auf „politische Erlösung“ Israels (vgl. Lk 24,21), die von der Erscheinung des 534 Vgl. WEDER, Hoffnung II., 489. Auf spätere moraltheologische Spekulationen bzgl. der Notwendigkeit, die Hoffnung vom Egoismus zu „reinigen“ (vgl. J. DUNS SCOTUS, SUÁREZ) kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. dazu ENGELHARDT, P., Hoffnung II. Überlieferung / III. Systematische Ausgestaltung bei Thomas v. Aquin / IV. Weitere Entwicklungen / V. Heutige Fragen einer Theologie der Hoffnung / VI. Praktische Folgerungen (Art.), in: HÖFER, J. / RAHNER, K. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche (LThK 2 ) Bd. V, Freiburg im Breisgau 1960, 418-424. <?page no="244"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 244 Gekreuzigten radikal enttäuscht worden ist. Gerade die Enttäuschung solcher Hoffnung aber gehört zum positiven Werk des Gekreuzigten, sie musste enttäuscht werden, da sie die Jünger daran hinderte, den Auferstandenen zu sehen (vgl. Lk 24,25f.35). Ungeachtet der Spekulation von HANS WEDER, nach der beide Stellen nicht zufällig im Umkreis des Kreuzes Jesu anzutreffen sind, ist für diesen Zusammenhang entscheidend: „Gerade das Kreuzesgeschick Jesu bedeutet gleichsam eine Krise aller Hoffungen, und fortan kann nur jene Hoffnung bestehen bleiben, die sich am Gekreuzigten bewährt.“ 535 Was hier mithin anklingt, ist der Versuch, auf erzählerischem Wege eine christologische Erklärung dafür zu formulieren, warum es buchstäblich sinnvoller sein kann, die eine Hoffnung fahren zu lassen bzw. in dieser Hoffnung enttäuscht zu werden um einer anderen, größeren, „sichereren“ (vgl. 2 Kor 2,16b) Hoffnung willen. Es könnte auch vorsichtig von einem ideologiekritischen Potential gegenüber der Bildung trügerischer und falscher Hoffnungen gesprochen werden, die gerade dann entlarvt, enttäuscht, destruiert und daraufhin neu orientiert, neu gebunden und motiviert werden, wenn eine Begegnung mit dem Hoffnungs-Potential stattfindet, das in der Gestalt Jesu Christi personifiziert wird. 536 Der Weg zur „reinen“ Hoffnung ist mithin ein Weg, der von der (Destruktion der) Illusion zu einer auf die Wirklichkeit zurückgeführten Hoffnung führt. Der Mensch lebt in der Dialektik von Verlust alter Hoffnung und Aneignung neuer Hoffnung. Gleichsam einen kritischen Umgang mit dem Phänomen der Hoffnung im Sinn, sucht das Neue Testament schließlich durch adjektivische Abgrenzungen der einen von der anderen Hoffnungsform dem Bedürfnis nachzukommen, die ‚wahre‘ Hoffnung von der ‚trügerischen‘ zu unterscheiden. Dazu gehört die Rede von der „guten Hoffnung“ ( αγαθή ), der von Gott in Christus gegebenen Hoffnung (vgl. 2 Thess 2,16), die insofern als gut betrachtet ist, als sie verlässlich ist und zum Guten führt, wohingegen trügerische Hoffnungen gerade enttäuscht werden (müssen). 1 Petr 1,3 spricht darüber hinaus von der „lebendigen Hoffnung“ ( ζῶσα ), die, neben der erneuten Bedeutung des (ewigen) Lebens als Hoffnungsziel, auch darauf abhebt, dass die Hoffnung selber lebendig ist bzw. macht und ihrerseits Gewissheit besitzt. Ähnliches dürfte die Bezeichnung „glückselige Hoffnung“ ( μακαρία ) anvisieren, die in Tit 2,13 zwar die erhoffte Glückseligkeit mit im Blick hat, aber auch die Glückseligkeit der Hoffnung selber betont. Interessant ist nun, dass die adjektivische Qualifizierung der Hoffnung auf diese drei Stellen begrenzt ist, was nicht nur auf den Versuch schließen lässt, wahre von falscher Hoffnung zu unterscheiden, 535 Vgl. WEDER, Hoffnung II., 489. 536 Die geschilderten Erfahrungszusammenhänge lassen sich strukturell an vielen Stellen im Kontext religiös-aszetischer oder säkular gedeuteter existenzieller Entwicklungen und Reifungsprozessen wiederfinden, wobei exemplarisch auf die sogenannte „geistliche Begleitung“ hingewiesen werden soll, die (insbesondere in ihrer ignatianischen Ausrichtung) regelrecht auf die Erfahrung von Verlust und transformierte Wiederaufrichtung der vormals selbstbegründeten und später aus der Gottesrelation sich ableitenden personalen Identität lebt. Vgl. systematisch SCHAUPP, K., Gott im Leben entdecken. Einführung in die geistliche Begleitung, Würzburg 3 1996. Vgl. als paradigmatische Quelle LOYOLA, I.V., Geistliche Übungen, nach dem spanischen Autograph übersetzt von KNAUER, P. SJ, Würzburg 2 1999. Auf das Hoffnungsthema gewendet bedeutet das, dass es zur spes christiana gehört, den Menschen im Rahmen seiner conditio humana immer wieder zur Realisierung je größerer (bzgl. des humanen Potentials) und „reinerer“ Hoffnung mit dem prozesshaften Verlust von bestimmten Hoffnungen zu konfrontieren, was vielfältige Anpassungsmechanismen nötig macht in Abhängigkeit von der Ganzheitlichkeit und der existentiellen Bedeutung der relevanten Hoffnungen. <?page no="245"?> 245 sondern auch auf eine Verschiebung innerhalb der neutestamentlichen Hoffnungstheologie selber hinweist, nach der die Verlässlichkeit der Hoffnung zuerst durch ihren Inhalt oder ihren Grund zustande gekommen gedacht wurde, diese hier aber zur Eigenschaft zum und Attribut der Hoffnung selber geworden ist. Diese Beobachtung entspricht der schon erwähnten Tendenz, an die Stelle des Aktes der Hoffnung die Reflexion auf den Status bzw. auf das Hoffnungsgut zu setzen. Seine „reinste“ Form erreicht der Hoffnungsgedanke schließlich in den paulinischen Briefen, nach denen der (spätere) Apostel eine Hoffnung, die sich auf das weltliche bezieht, von der Hoffnung, die auch im Angesicht des Todes ihre Geltung und Gültigkeit behält, unterscheidet. Für Paulus hat jene Hoffnung „in Christus“ nur insofern Gegenwartsrelevanz, als sie nicht nur dieses irdische Leben zum Ziel hat, so dass nur jene Hoffnung wirklich maßgeblich ist, die im Sterben gleichermaßen gilt: Die Hoffnung auf die Auferweckung aus dem Totenreich, welche ihrerseits in der Auferweckung Jesu gründet (vgl. 1 Kor 15,20-22). „Solange die Hoffnung im Bereich des weltlich Möglichen bleibt, ist sie noch nicht zur Reinheit gekommen. Rein ist sie erst, wenn sie die Wirklichkeit Gottes zum Inhalt hat.“ 537 Als klassisches Beispiel können die Reflexionen des Römerbriefes über Abraham gelten, wonach Abraham gegen alle Hoffnung (auf der Basis von Indizien) durch (reine) Hoffnung daran glaubte, Vater vieler Völker zu werden (vgl. Röm 4,18). Die beiden hier aufeinanderprallenden Bedeutungen von Hoffnung sind offensichtlich: Erstere setzt auf das, was im Bereich begründeter menschlicher Hoffnung liegt, welche sich auf das Abschätzen des zu Erwartenden stützt. Die Hoffnung Abrahams dagegen stützte sich allein auf die Wirklichkeit des Schöpfers und des Totenauferweckers, welche auf das Unerwartete setzt und damit zur Gestalt „reiner“ Hoffnung gefunden hat. 538 In Röm 8,24 schließlich bringt Paulus das sachlich identische Argument vor, wenn er der Hoffnung auf das Sichtbare diejenige auf das Unsichtbare gegenüber gestellt, sodass eine Erwartung, die sich auf Sichtbares und Abschätzbares bezieht, den Namen Hoffnung noch nicht verdient. Allein dort, wo die unsichtbare Wirklichkeit Gottes die Grundlage bildet, kann von Hoffnung im eigentlichen Sinne geredet werden, die dann ihrerseits auf zwei Anhaltspunkten beruht und nicht grundlos postuliert wird: (1) Jesus blieb nicht dem Tode überlassen; und (2), dass die Schöpfung (ex nihilo et continua) existiert. Mit anderen Worten: die „reine“ Hoffnung bezieht sich auf den Gott, dessen Wesen es ist, schöpferisch zu wirken, quasi aus dem Nichts etwas zu schaffen und dabei sogar Tote wieder ins Leben zu rufen. Soll das Thema der Hoffnung im Neuen Testament in einer Art Zusammenschau bzgl. der ihr eigenen „Objekte“ betrachtet werden, dann zeigt sich ein breites Spektrum an Inhalten, Gegenständen und Objekten je nach Ursprungskontext. Unter den theologisch-soteriologischen Objekten, auf die sich Hoffnung richtet, sind zunächst Gott (Röm 15,13; 2 Kor 1,10; 1 Tim 4,10; 5,5; 1 Petr 1,13.21), das Reich Gottes (Mk 15,43 Par.), Got- 537 Vgl. WEDER, Hoffnung II, 490. 538 Als aktuelles Beispiel für die Rezeption der alt- und neutestamentlichen Hoffnungstheologie bzgl. Abraham kann ein Aufruf des im Umkreis der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung angesiedelten Bischofs DOM HELDER CAMARA dienen, der zur Vereinigung der „abrahamitischen Minderheiten“ aufgerufen hatte und damit gerade diejenigen Menschen zur Entwicklung christlicher Hoffnung aufgerufen hat, die gemessen an ihrer alltäglichen Situation keinerlei Indiz für eine Besserung ihrer Lebenssituation ausmachen konnten - aber trotzdem Grund zur Hoffnung hatten, was sie in der Deutung DOM HELDER CAMARAS mit der Situation des ABRAHAM gleichzeitig werden ließ. 4. Biblische Wegmarken einer Struktur der Hoffnung: Zukunft als Verheißung <?page no="246"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 246 tes Verheißung (Apg 26,6) und der Tag Gottes (2 Petr 3,12) zu nennen, ferner Jesus Christus, sein irdisches Wirken, seine Parusie (Lk 8,40; 12,36.46 Par.; 1 Kor 1,7; Phil 3,20f.; 1 Thess 1,10; Kol 1,27; 1 Tim 1,1; Hebr 9,28; 1 Petr 1,13 u.a.), der Messias und seine Herrschaft (Lk 2,25.38; 3,15; Röm 8,19), aber auch Heilsmittler und besondere endzeitlich-eschatologische Gestalten (Mt 11,3 Par.; Röm 8,19). Entscheidend ist dabei aber, dass christliche Hoffnung immer aus der Dialektik lebt, dass das Erhoffte schon gegenwärtig und damit erfahrbar, aber noch nicht vollständig realisiert ist: „Die Hoffnung des Christen hat somit den Besitz der Güter zum Gegenstand, die zum Reich Gottes gehören und die, wie dieses, zugleich gegenwärtig und zukünftig sind (Röm 8,24). ‚Denn auf Hoffnung sind wir gerettet‘ (ebd.) [...].“ 539 Auffällig ist im Rahmen dieses Vergleiches der neutestamentlichen Schriften bzgl. der Gegenstände der Hoffungskategorie, dass bei PAULUS tendenziell Jesus in den Vordergrund, Gott dagegen eher in den Hintergrund tritt, wiewohl er auch dann der Grund der Hoffnung bleibt, während in den späteren neutestamentlichen Schriften wieder Gott selbst in den Vordergrund gerückt wird. Unter den Inhalten, die sich auf Rettung und Heil beziehen, sind nun insbesondere die Herrlichkeit zu nennen, die Auferstehung der Toten, die Verwandlung des Leibes, die Auferstehung der Toten, das ewige Leben (Apg 24,15; 26,6f.; Röm 5,2; 2 Kor 3,12; Phil 1,20; 1 Thess 4,13; Kol 1,27; Tit 1,2; 3,7 u.a.), die Rettung im Endgericht (z.B. 1 Thess 1,10; Hebr 10,27; 2 Petr 3,12), Gerechtigkeit (Gal 5,5), Sohnschaft (Röm 8,23), aber auch neuer Himmel und neue Erde (2 Petr 3,13). PAULUS spricht auch im Sinne dieser Bündelung von Heilsbegriffen (vgl. auch Eph 1,18; 2 Thess 2,16) vom „Hoffnungsgut“ (Gal 5,5; Kol 1,5) und von der „einen“ Hoffnung (Eph 4,4), sporadisch an herausragender Stelle auch in chiffreartigen, kurzen und absoluten Aussagen (Röm 15,13; Kol 1,5; 1 Petr 3,15). Trotz der Vielfalt der zu beobachtenden Inhalte neutestamentlicher Hoffnung bleibt das Reich Gottes (vgl. Gal 5,21) zentraler Inhalt, ebenso die Rettung aus dem Gericht (vgl. Röm 5,9f.), die Auferweckung der Toten (vgl. 1 Kor 15,21) und die Offenbarung Gottes, Christi und der neuen Menschheit (vgl. Röm 8,17ff.). Im Mittelpunkt steht hier immer das Heilshandeln Gottes in Jesus Christus, was systematisch zugespitzt bedeutet, das sich im Medium der Hoffnung das Heilshandeln Gottes vermittelt. H.-G. LINK schreibt sehr schön über die Konsequenzen aufseiten des Menschen: „Diese Hoffnung auf die Zukunft des Reiches Gottes führt nicht zur Weltflucht, sondern ermöglicht die Annahme der gegenwärtigen Wirklichkeit mit deren Widersprüchen und deren schrittweiser Veränderung durch die Antizipation der verheißenen Freiheit, Gerechtigkeit und Lebensmacht in leiblichem Gehorsam.“ 540 Im Grunde werden hier alle wesentlichen Inhalte aus dem depositum fidei zum Gegenstand der Hoffnung gemacht, was bzgl. den strukturellen Voraussetzungen darauf deuten könnte, dass die Inhalte zwar flexibel austauschbar sind, aber aus moraltheologischer Perspektive keineswegs vergleichbar sind, da allein die ratio fidei die Hoffnung zur Entfaltung der ihr inhärenten Möglichkei- 539 Vgl. IMSCHOOT, P. VAN, Hoffnung (Art.), in: HAAG, H. (Hrsg.): Bibel-Lexikon, Einsiedeln / Zürich / Köln 2 1968, 747. Damit ist christliche Hoffnung immer schon in der Gegenwart angekommen, führt regelrecht in diese ein und ist in diesem Sinne - mit äußerster Vorsicht formuliert und auch nur soweit sie ihren Bezug auf die Teilhabe an der von Jesus Christus vollzogenen Erlösung nicht verliert - buchstäblich „realistisch“, ist aber zugleich nicht von den in ihr anzutreffenden Indizien, die für oder gegen sie sprechen könnten, abhängig: „Darum kann sie nicht zuschanden werden (Röm 5,5) und ist eine Quelle der Freude (12,12), des Freimuts (2 Kor 3,12) und des Rühmens (11,17, vgl. Röm 5,2, Hebr 3,6).“ Vgl. IMSCHOOT, Hoffnung, 748. 540 Vgl. LINK, Hoffnung, 1160. <?page no="247"?> 4. Biblische Wegmarken einer Struktur der Hoffnung: Zukunft als Verheißung 247 ten öffnet, indem sie den Hoffenden „nicht zuschanden werden lässt“ (vgl. Röm 5,5). Die hier implizit angesprochene strukturelle Offenheit menschlicher Hoffnung bzgl. der ihr eigenen Inhalte - wohlgemerkt auf dem Hintergrund der Suprematie christlichen Hoffens - ist ein möglicher Grund für ihre ‚Verführbarkeit‘ durch letztlich trügerische Hoffnungsinhalte. Nach den „Subjekten“ der Hoffnung im Neuen Testament gefragt, lässt sich ein Spektrum benennen, das von Einzelpersonen über menschliche Gruppen bis hin zu umfassenden (schöpfungstheologischen) Aussagen reicht, z.B. SIMEON, PAULUS, die Korinther, Juden, Heiden, Christen und Nichtchristen. Selbst von Jesus und Gott wird berichtet, sie seien Hoffende (vgl. Hebr 10,13; 1 Petr 3,20) und mit Röm 8,19ff. kann sogar gesagt werden, dass die Schöpfung, d.h. alles Geschaffene qua Geschaffenes, „hofft“, da sie unter den Folgen des sogenannten Falls zu leiden hat, sich selber aber nicht von Gott lossagte. Insbesondere der Hebräerbrief legt in seiner (judenchristlichen) Theologie der Hoffnung großen Wert darauf, ‚begründete Hoffnung‘ nicht allein als individuell-eschatologische Auferweckung der Gestorbenen (Hebr 6,2) auszuweisen, sondern ganz besonders als kosmische „Weltvollendung“ 541 , symbolisiert durch die Zion- Orientierung, die neue Stadt Jerusalem und eine eschatologische Sabbatfeier. Mit anderen Worten: Nicht vorrangig Enthüllung, sondern Erfüllung kennzeichnet christliche Hoffnung 542 , ein wichtiger Unterschied, der zur Voraussetzung hat, dass es Erfüllungsgestalten gibt, auf die hin Vollendung sich vollzieht und an denen im Status der Unerlöstheit Vollendung stattfindet. 543 Damit sind die Hoffnungsräume von Welt und Mensch in ihrer Gänze umschrieben. Ekklesiologisch gewendet wird letztlich auch die Kirche als „Hoffnungsgemeinschaft“ zu bezeichnen sein und das pilgernde Gottesvolk als Subjekt (christlicher) Hoffnung genannt werden können. „Das wandernde Gottesvolk […] schaut so nicht nur auf das kommende Heil aus, es partizipiert schon an diesem jetzt im Erhöhten im Himmel bereits gegenwärtigen Heil.“ 544 Nicht allein eine subjektive Haltung wird damit bezeichnet, sondern eine subjektive Aneignung durch objektive „Ermächtigung zur Zuversicht“ 545 , ein Ergreifen einer geschenkten Zuversicht 546 eben. Hier, wie so 541 Vgl. KLAPPERT, B., Begründete Hoffnung und bekräftigte Verheißung. Exegetischsystematische Erwägungen zur Eschatologie des Hebräerbriefes, in: HEß, R. / LEINER, M. (Hrsg.), Alles in allem. Eschatologische Anstöße (FS C. JANOWSKI zum 60. Geburtstag), Neukirchen-Vluyn 2005, 447-474, hier 471. 542 Vgl. MOLTMANN, J., Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie, Gütersloh 13 1997, 208ff. 543 Vgl. auch GLÖCKNER, R., Die Wunder Jesu. Herausforderung des Glaubens - Zeichen der Hoffnung, Freiburg im Breisgau 1982, 14. „Die Evangelien überliefern die Wundergeschichten nicht, um ein paar merkwürdige Sensationen aus früheren Zeiten zu berichten. Für sie sind diese Ereignisse wichtig, weil sie über den damaligen Augenblick hinaus schon die endgültige Zukunft von Welt und Mensch aufleuchten lassen. Durch charakteristische Zeichenhandlungen hat Jesus gemäß ihrer Darstellung die kommende Verwandlung der Welt vorweg erhellt. Uns soll dadurch eine Ahnung vermittelt werden, was wir aller gegenwärtigen Bedrängnis zum Trotz für die Zukunft von Jesus erhoffen dürfen.“ 544 Vgl. MÄRZ, C.-P., „Geschenkte und ergriffene Zuversicht“. Der Hebräerbrief im Bemühen um Gewissheit des Glaubens, in: HONNEFELDER, L. (Hrsg.), Die Einheit des Menschen. Zur Grundfrage der philosophischen Anthropologie, Paderborn 1994, 141-155, hier 154. 545 Vgl. MÄRZ, „Geschenkte und ergriffene Zuversicht“, 154. 546 Vgl. Hebr 10,35: Werft also eure Zuversicht nicht weg, die großen Lohn mit sich bringt. Was ihr braucht, ist Ausdauer, damit ihr den Willen Gottes erfüllen könnt und so das verheißene Gut erlangt. <?page no="248"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 248 oft, gibt sich Hoffnung als Brückenkategorie zu erkennen, die subjektive und objektive, individuelle und kollektiv-kosmische, irdische und transzendente Komponenten des Heilsangebots und seiner Verwirklichung medial vermittelt und dadurch (handlungs-) praktisch werden lässt. Eine jede Praxis der (christlichen) Hoffnung ist auf diese Weise Ausdruck parakletischer Theologie. Dabei können erstaunliche aber folgerichtige Parallelen zur hier vorgeschlagenen Hoffnungssystematik ausgemacht werden, die die Hoffnung (handlungstheoretisch interpretiert) als mobilisierende Brückenkategorie freizulegen versucht. So kann etwa der Heilige Geist (pneuma), der Paraklet bzw. die ruach bezeichnet werden als „Kraft der Integration, als Brücke zwischen Gott und Welt, oben und unten, die Gegensätze miteinander verbindet“ 547 . Dabei ist sie als Kraft zu verstehen, „die sich bewegt und vor allem, anderes in Bewegung setzt“. Ein Blick auf den nachpaulinischen Sprachgebrauch zeigt insgesamt in einer weiteren Entwicklungslinie eine Tendenz zur Individualisierung und Objektivierung im Bezug auf die Verwendung der Hoffnungskategorie, die sich darin zeigt, dass die Auferstehung der Einzelnen gegenüber der ursprünglichen Orientierung am Gottesvolk bzw. Weltende betont wird und die sich auch an der stärkeren Hervorhebung des Hoffnungs-Gutes (vgl. Kol 1; 2 Tim 1,1; Tit 2,2) beobachten lässt. „Neben der zeitlichen Bestimmung der Hoffnung tritt der Raumaspekt stärker hervor (Kol und Eph! ). Der Begriff kann sich so ausweiten, dass er das Ganze des christlichen Seins bezeichnet und praktisch mit dem Begriff des Glaubens zusammenfällt (1 Petr 1,3ff.21; 3,15). Dieselben Tendenzen (Hoffnung als zeitloses Gottvertrauen, Annäherung an den Begriff der πίστις ) sind auch bei den Apostolischen Vätern festzustellen […].“ 548 Der ursprüngliche Ansatz aber wird jenseits der in zeitlicher und räumlicher Dimension entfalteten Begrifflichkeit in der Bindung der Hoffnung an die Parusie Christi gesucht werden müssen (vgl. Tit 2,13), was für den Verlauf der Argumentation der vorliegenden Arbeit festzuhalten und an gesonderter Stelle wieder aufzugreifen bleibt. Auch wenn nun HANS WEDER der (reinen) neutestamentlichen Hoffnungsterminologie eine „gewisse Abstraktion“ 549 bescheinigt, wenn nicht sogar ankreidet, und daraus folgert, „dass die neutestamentlichen Schriften eine merkwürdige Kargheit an den Tag legen, wenn es um die Hoffnungsinhalte geht“ 550 , lässt er sich sogar zu einer Warnung hinreißen, nach der alles, was über solche Abstraktion hinausgeht, wegführen könnte von der reinen (christusbezogenen Auferstehungs-) Hoffnung. Dem ist zu erwidern, dass Paulus vorrangig apologetisch, mitunter begründungstheoretisch argumentiert, mit Blick auf den Status der sich auf das Christusgeschehen gründenden Hoffnung. Davon ist für die vorliegende Arbeit ein spezifisch moraltheologisches Interesse zu unterscheiden, nach dem die konkrete Lebensführung aus derjenigen Hoffnung, „auf die hin“ (vgl. Röm 8,24) wir gerettet sind, im Zentrum der Aufmerksamkeit steht und die damit vorwiegend die Handlungspraxis und deren Bedingungen in den kritischen Blick zu nehmen gewillt ist. Die „kritische Tendenz gegen innerweltliche Veranschaulichung“, die mit CONZELMANN gesprochen, der neutestamentlichen Hoffnungsterminologie eigen ist, soll nicht bestritten werden, wohl aber soll der Tendenz der beiden Autoren entge- 547 Vgl. SCHLÜNGEL-STRAUMANN, H., Heiliger Geist / Pneumatologie (Art.). A. Biblisch, in: EICHER, P. (Hrsg.), Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe Bd. 2, München 2005, 103- 108, hier 105 für beide Zitate. 548 Vgl. CONZELMANN, Hoffnung, 418. 549 Vgl. WEDER, Hoffnung II, 490. 550 Vgl. ebd. 490. <?page no="249"?> 4. Biblische Wegmarken einer Struktur der Hoffnung: Zukunft als Verheißung 249 gengetreten werden, als führte jegliche Konkretion der Hoffnung unterhalb der Hochform christlicher Auferstehungshoffnung schon von dieser weg, statt Ausdruck und Teil derselben zu sein. Nicht von ungefähr muss CONZELMANN wenig später auf dieser Linie konstatieren: „Ihre Begründung erfährt sie nicht durch einen Gottesbegriff, sondern durch die geschichtliche Manifestation des Gottes, der die Toten erweckt (2 Kor 1,9f.), in Christus.“ 551 Um aber geschichtlich manifest werden zu können, hat christliche Hoffnung auf eine ontische Basis zurückzugreifen, auf strukturell-anthropologische Komponenten ihres Selbstvollzuges. Es muss mithin auch vom Akt der Hoffnung geredet werden (dürfen), nachdem der Status der Hoffnung hinlänglich geklärt scheint, gerade um die strukturellen Voraussetzungen des handelnden Vollzugs dieser Hoffnung ermöglichend reflektieren zu können. Dabei sind insbesondere die Bedingungen der Möglichkeit für die erwähnte geschichtliche Manifestation aufseiten des Menschen anvisiert. Im Rahmen einer Darstellung der neutestamentlichen Verwendung der Hoffnungsterminologie und einer sich daran anschließenden systematischen Bewertung darf eine Erörterung der triadischen Formel „Glaube, Hoffnung und Liebe“ (vgl. z.B. 1 Kor 13,13) nicht fehlen, zumal diese später unter dem Stichwort der drei göttlichen Tugenden und damit an hervorgehobener Stelle Eingang in den tugendethischen Traktat abendländischer Moraltheologie gefunden hat. 552 Ursprünglich wurde dabei die vorpaulinische dyadische Formel „Glaube und Liebe“ (1 Thess 1,3; 5,8) zur bekannten triadischen Formel erweitert, womit der Hoffnung ein fester Platz zugewiesen wurde. Die Hoffnung als Erwartung der (kommenden) Vollendung des Heils und der Glaube bzw. die Glaubenserfahrung ihres Beginns in der Person Jesu stehen nach Paulus 553 in einem unlöslichen Zusammenhang (vgl. Röm 4,18; Kol 1,4.23; Hebr 6,11f.; 10,22f.35f.39); auch der Glaube richtet sich dabei auf das dem Menschen von Gott her Zukommende (vgl. Gal 3,11; Röm 1,17; 6,8; 2 Kor 4,13f.; 1 Thess 4,14), wobei diesem wohl im Kontext der Triade von Glaube, Hoffnung und Liebe der hermeneutische Primat zu kommt. „Glaube ist insofern Voraussetzung der Hoffnung, als er durch Annahme der Botschaft den Zugang eröffnet zur Hoffnung (Kol 1,23) und Hoffnung nur im Glauben erfahrbar ist.“ 554 In dieser Perspektive gibt der Glaube der Hoffnung quasi Anteil an der ihm eigenen Gewissheit, der ihm eigenen Sicherheit, sodass sich neutestamentliche Hoffnung ihrerseits an Gottes Treue und seinen Verheißungen festzuhalten vermag. Für H. CONZELMANN ist ihr Wesen deshalb am klarsten da „herausgearbeitet, wo sie neben der πίστις erscheint (Gal 5,5)“ 555 , was ihn darauf schließen lässt, dass Hoffnung letztlich „ein ständiges 551 Vgl. CONZELMANN, Hoffnung, 418. 552 Vgl. GRÜN, A., Die Kraft des Hoffens, München 2004, 6: „Die Theologie nennt Glaube, Liebe und Hoffnung die drei göttlichen Tugenden. Es sind Tugenden, die nicht aus der Kraft des Menschen kommen wie die vier Kardinaltugenden, die der griechische Philosoph Aristoteles beschrieben hat: Gerechtigkeit, Klugheit, Tapferkeit und Maß. Vielmehr werden sie dem Menschen von Gott geschenkt, von Gott durch den Heiligen Geist eingegossen. Die Tugend der Hoffnung ist also eine Begabung des Menschen.“ 553 Vgl. SÖDING, T., Die Trias Glaube, Hoffnung, Liebe bei Paulus. Eine exegetische Studie (SBS 150), Stuttgart 1992. 554 Vgl. NEUHÄUSLER, Hoffnung I., 418. Er schreibt weiter: „Daher kann Hebr die Hoffnung am Glaubensbegriff demonstrieren (Hebr 11,1; vgl. 1 Petr 1,3ff.21), und Röm 4,18 drückt gerade das Paradoxe des christlichen Glaubens mit Hilfe des Begriffs der Hoffnung aus (Röm 8,24f.).“ 555 Vgl. CONZELMANN, Hoffnung II, 418. <?page no="250"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 250 Moment des Gottesverhältnisses“ 556 bezeichnet und damit Paulus deutet, der - ihm zufolge - Glaube, Hoffnung und Liebe als „bleibende“ Faktoren christlicher Existenz im Unterschied zu den vergänglichen pneumatischen Erscheinungen zu begründen versucht. Die in Christus verkörperte Liebe dagegen wird als das ausgemacht, woran der Glaube glaubt und worauf die Hoffnung hofft. Während die Liebe als die größte der drei bezeichnet wird, „weil an die Stelle des Glaubens das Schauen treten wird (vgl. 2 Kor 5,7) und an die Stelle des Hoffens das Erhoffte selbst“ 557 , zeichnen sich Glaube und Hoffnung insofern durch eschatologische Relevanz aus, als sie unmittelbar auf das Endgültige bezogen sind. 558 Auch wenn an dieser Stelle Hoffnung letztlich als Implikat des Glaubens verstanden werden will, wird sich doch auch der Glaube nur einer „hoffnungs-offenen“, d.h. einer fundamental hoffnungsfähigen Lebensperspektive in seiner ganzen Potentialität erschließen können, was wiederum auf bestimmte strukturelle Voraussetzungen verweist, die im Kontext des christlichen Glaubens dann eine „bessere Hoffnung“ (Hebr 7,19) hervorzubringen vermögen, weil sie sich auf dem Boden schon erfüllter Verheißungen (vgl. z.B. Röm 15,12; Is 11,10) den neuen Heilstaten Gottes übereignet: Jesu Tod, Auferweckung und Erlösung, Ausgießung des Geistes und Neuer Bund. Auch hier zeigt sich wieder die der Hoffnung inhärente Dialektik, die von „schon erfüllt und gegenwärtig erfahrbar“ auf der einen Seite bis hin zu „noch ausständig im Modus der Erwartung“ auf der anderen Seite reicht, die sich immer wieder entdecken lässt und somit zu den fundamentalen Strukturen jeglicher (christlicher) Hoffnung gezählt werden muss. Höchst interessant ist schließlich, dass der Hoffnungsbegriff im Rahmen der triadischen Formel in der Gnosis weitgehend fehlt, wenn von einer seltenen Einordnung in eine Reihe von gnostischen Kräften und Abstrakta in einem „unbekannten altgnostischen Werk“ 559 einmal abgesehen werden kann. Es hat sich weiter oben schon gezeigt und deutet sich hier erneut an, dass der christliche Hoffnungsbegriff streng antignostisch strukturiert und verwendet wird, was womöglich Rückschlüsse auf die ihm eigene Realisierungsstruktur erlaubt. Wird nun auf dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen nach den Strukturen des Aktes der Hoffnung gefragt, wie sie sich nach einem genauen Blick auf das Neue Testament erheben lassen, so können in Anlehnung an G. NEBE aber unter Modifikation seines Vorschlages folgende Strukturaspekte herausgearbeitet und voneinander differenziert werden, 560 wobei als die ganz zentralen Aspekte und Beziehungen im Neuen Testament die Verbindung der 556 Vgl. ebd. 418. Vgl. dazu auch die exegetischen und dogmatischen Spekulationen über ein mögliches Ende der Hoffnung bei Erreichen des vorgestellten Zustandes, die in diesem Kontext nicht weiter geführt werden können. 557 Vgl. WEDER, Hoffnung II, 486. 558 Im Hebräerbrief werden diese Gedanken sehr klar und aufschlussreich mit Blick auf den Glauben weitergeführt, von dem gesagt wird, er sei ἐλπιζόμενων ὐπόστασις ; das bedeutet, dass der Glaube die Wirklichkeit des Erhofften in der Gegenwart darstellt, vergleichbar Christus, der als χαρακτήρ (das Geprägte, der Abdruck) die Wirklichkeit ( ὐπόστασις ) Gottes darstellt (vgl. Hebr 1,3; 11,1). Mit anderen Worten: Im Glauben wird das Erhoffte gegenwärtig und (allererst) wirklich, weswegen auch die Hoffnung kennzeichnend ist für das Jetzt und der Glaube auf spezifische Weise quasi den Pol der Gegenwart der Hoffnung repräsentiert, eine verobjektivierte Repräsentanz der Hoffnung. Das ist dann auch der Grund, warum an manchen Stellen des Neuen Testaments eine große Nähe, wenn nicht gar teilweise Identität von Glaube und Hoffnung zu beobachten ist. 559 Vgl. NEUHÄUSLER, Hoffnung I, 418. 560 Vgl. NEBE, ἐλπίς , 1004. <?page no="251"?> 4. Biblische Wegmarken einer Struktur der Hoffnung: Zukunft als Verheißung 251 Hoffnung mit dem Glauben und dem Vertrauen, mit der Geduld und der Ausdauer verstanden werden können. 561 Erstaunlich ist dabei, dass neutestamentliche Hoffnung gerade durch das ‚Schon und Noch nicht‘, in dem sie sich vollzieht, einerseits die Unverfügbarkeit des von Gott geschenkten und kommenden Heils gewährleistet, andererseits sich danach intentional ausrichtet und von dort und anderswo her auch entgegennimmt, was ihr Grund, Gegenstand und Ziel ist. Folgende Strukturaspekte neutestamentlicher Hoffnung können schließlich ausgewiesen werden: Strukturaspekte neutestamentlicher Hoffnung (subjektiv) 1. Erwarten / Erhoffen - Für-sich-Erhoffen, Für-die-Welt-Erhoffen, Für-den- Mitmenschen-Erhoffen 2. Spannung - Wünschen, Wollen, Sehnsucht, 3. Vertrauen - Zutrauen, Gewissheit, Zuversicht 4. Warten - (Aus-) Harren 5. Wissen - Vorstellung, Folgern Abbildung 9 Strukturaspekte neutestamentlicher Hoffnung (subjektiv) Mit G. NEBE kann nun abschließend über den vielleicht wichtigsten Zug neutestamentlicher Hoffnung, ihre grundlegend eschatologische Orientierung und ihre vielleicht wichtigste Konsequenz, die fundamentale Enttäuschungsresistenz und Ermöglichung einer letztlich unbedrohten und hoffnungsvollen Lebensperspektive, zusammenfassend formuliert werden: „Insgesamt bewahrt im Neuen Testament die Einbettung der Hoffnung in das ‚Schon und Noch nicht‘ diese davor, in reine Zukunftsspekulation und Träume(rei) abzugleiten. ‚Gott in Jesus Christus‘ bleibt somit der Grund und Inhalt der Hoffnung, die so nicht aus sich selbst, nicht aus Weltlichem lebt, sondern von der Gnade und der Verheißung her. Deshalb gilt von der christlichen Hoffnung, dass sie ‚nicht zuschanden werden lässt‘ (vgl. Röm 5,5) deshalb auch selbst ‚nicht zuschanden wird‘ [...].“ 562 c) Ertrag Auf der Suche nach den Strukturen alttestamentlicher und neutestamentlicher Hoffnung samt den entsprechenden Theologumena konnte eine Fülle an Erkenntnissen gewonnen werden, wobei das leitendes Prinzip des semitischen, jüdisch-christlichen Denkens über die Kategorie der Hoffnung im Unterschied zum griechischen Extrapolationsdenken als „Antizipation“ in einem spezifischen Sinne bezeichnet werden kann; die diesem Verständnis zugrunde liegende biblische Zeitrichtung erstreckt sich von der schon begonnenen aber in ihrer vollständigen Realisierung noch ausständigen Verheißung der Zukunft in die Gegenwart: Der Semit lebt mithin aus der verheißenen und verheißungsvollen Zukunft in die Gegenwart hinein, was neben einer fundamentalen und spezifisch orien- 561 Vgl. ebd. 1004. 562 Vgl. ebd. 1004. <?page no="252"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 252 tierten Transzendenz auch eine tiefe Annahme der Realität der Wirklichkeit impliziert - letztlich im Dienste ihrer Humanisierung. Hoffnung bzw. das Erhoffen gründet hier im Erhofften, oder anders gesagt: spes qua gründet in der spes quae. Diese für beide Testamente gültige Perspektive kann mit Hilfe eines integrativen Blicks auf die je spezifische Konnotierung des Alten wie des Neuen Testaments zusammenfassend präzisiert werden: „Die Struktur des alttestamentlichen Hoffnungsbegriffs ist durch das altisraelitische Gottesverständnis, den Bund mit Jahwe, geprägt. Von Jahwe, den Israel als Retter aus der ägyptischen Sklaverei kennt, empfängt das Volk Verheißungen und Heilszusagen. Im Unterschied zur griechisch rationalen Voraussicht aus der gegenwärtigen Wirklichkeit in zukünftige Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeiten, richtet sich die alttestamentliche Hoffnung über die gegenwärtige Wirklichkeit und ihre Möglichkeiten hinaus auf das verheißene Gut bzw. den verheißenden Gott. Die erhoffte Zukunft ist keine Extrapolation der Gegenwart, vielmehr ist der gegenwärtige Akt des Hoffens eine Antizipation der verheißenen Zukunft, weshalb das Hoffen im Erhofften, die ‚spes, qua speratur‘ in der ‚spes, quae speratur‘ gründet.“ 563 Was das neutestamentliche Hoffnungsverständnis anbelangt, kann insbesondere mit PAULUS als Kronzeuge die christliche Zukunftserwartung gegen die griechische Voraussicht aus verfügbarer Vorhersagbarkeit der Wirklichkeit abgegrenzt und mitunter gegen den Augenschein vorfindbarer Wirklichkeit als Vertrauen auf den Gott bestimmt werden, der Nichtseiendes ins Dasein ruft und Tote lebendig macht: 564 „Die neutestamentliche Hoffnung richtet sich also wie die alttestamentliche nicht von der gegenwärtigen Wirklichkeit auf zukünftige Möglichkeiten, sondern von der verheißenen zukünftigen Wirklichkeit auf gegenwärtige Möglichkeiten.“ 565 Für den weiteren Argumentationsverlauf der vorliegenden Arbeit im Dienste einer interdisziplinär angelegten anthropologischen Fundierung und Grundierung der Hoffnungskategorie wird im folgenden die Perspektive des Alten und Neuen Testaments erweitert werden müssen, um später wieder - den Kreis schließend - darauf zurückkommen zu können: Paulus beispielsweise hat im Neuen Testament, wie besehen, besonders über den „Status“ der Hoffnung nachgedacht, den er streng theologisch zu klären suchte. Damit dieser aber im realen Lebensvollzug eingeholt werden kann, muss über den „Akt“ und den „Habitus“ der Hoffnung nachgedacht 563 Vgl. LINK, Hoffnung, 1159. 564 Ein nicht unerheblicher Teil der weiteren Entwicklungen des Hoffnungsbegriffs im Rahmen des frühen Christentums bzw. der Spätantike, ebenso des gesamten scholastischen Mittelalters bis zum Beginn der Neuzeit ist durch die Spannung zwischen dem griechischen und christlichen Verständnis bestimmt worden. V.a. AUGUSTIN, THOMAS VON AQUIN und MARTIN LUTHER sind hier hervorzuheben, aber auch die mittelalterlichen apokalyptisch-chiliastischen Bewegungen sind zu nennen (etwa J. V. FIORE). Aufgrund einer intensiven Beschäftigung mit den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt spielte die Hoffnung aber bei den neuzeitlichen Rationalisten (etwa RENE DESCARTES) mit der rühmlichen Ausnahme von IMMANUEL KANT keine besondere Rolle, was sich erst mit der Existenzphilosophie (etwa SÖREN KIERKEGAARD) und Existenztheologie (etwa MARTIN BULTMANN, FRIEDRICH GOGARTEN) des 20. Jh. wieder änderte, gefolgt von humanistisch-atheistischen Hoffnungstheorien (etwa ERNST BLOCH), die ihrerseits wiederum mehrfach aufgegriffen und v.a. im theologischen Bereich weitergeführt wurden (etwa GABRIEL MARCEL, JÜRGEN MOLT- MANN, JOSEF PIEPER). Vgl. dazu einführend ENGELHARDT, P., Hoffnung (Art.), in: EI- CHER, P. (Hrsg.), Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe Bd. 2, München 2 1991, 374- 384. 565 Vgl. LINK, Hoffnung, 1160. <?page no="253"?> 253 werden und die theologische Abstraktion des PAULUS, der die durch Jesu Geschick in Leben, Sterben und Auferstehung grundgelegte Hoffnung ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt hat, kurzzeitig unterboten werden, um über die empirischanthropologischen Voraussetzungen des Vollzugs von Hoffnung zu befinden. Biblischer Sprachgebrauch kennt einen durchgängig positiven Hoffnungsbegriff, wonach Hoffnung als gute Hoffnung die Erwartung des Heiles ist. Das leitende Prinzip des semitischen, jüdisch-christlichen Denkens über die Kategorie der Hoffnung kann im Unterschied zum griechischen Extrapolationsdenken als „Antizipation“ (Hoffnung im Modus der Verheißung) in einem spezifischen Sinne bezeichnet werden; die diesem biblischen Verständnis zugrunde liegende Zeitrichtung erstreckt sich von der schon begonnenen aber in ihrer vollständigen Realisierung noch ausständigen Verheißung der Zukunft in die Gegenwart und erst von dort aus wieder auf diese spezifische Zukunft hin: Der Semit lebt mithin aus der verheißenen und verheißungsvollen Zukunft in die Gegenwart hinein und stellt jegliche ethische Praxis, die darauf aufbaut, unter eschatologischen Vorbehalt. So sind die Gerichtsvorstellungen im Alten Testament bereits weitgehend als Hoffnungsfiguren zu interpretieren, auch die Parusieerwartungen im Neuen Testament stellen im eigentlichen Sinne Hoffnungsformen dar. So ist christliche Hoffnung entlang den Vorgaben aus Altem Testament und Neuem Testament von pagangriechischen Hoffnungsvorstellungen schließlich dadurch zu unterscheiden, dass einzig sie eine spezifische Verbürgtheit ihrer Hoffnungen in Aussicht stellt, die sachlogisch in der Auferstehung gründet und auf die im Einzelnen einzugehen sein wird, beispielsweise mit der Frage, wie das Auferstehungsproprium zur Auferstehungshoffnung zu werden vermag bzw. was diese überhaupt auszeichnet. Ein weiterer wichtiger Ertrag der bisherigen Beobachtungen zum biblischen Hoffnungsbegriff kann dahingehend festgehalten werden, dass bereits biblisch die grundständig mobilisierende, standhaltende und ausharrende Funktion der Hoffnung deutlich hervor tritt. Mit SÖDING gesprochen: „Eine Ethik der Hoffnung richtet sich daran aus, dass Gott in der Zukunft umfassendes Heil verwirklichen wird und dass die Dynamik seines Heilshandelns sich kraft des Geistes bis zur eschatologischen Vollendung in der Geschichte zeitigt. Daraus wächst eine starke Motivation sowohl zur Entwicklung des individuellen sittlichen Bewusstseins als auch zum politischen Engagement.“ 566 Einzelne Facetten mögen schließlich das systematische Bild noch erweitern und das vielschichtige Bild biblischer Hoffnungstheologie vor Augen führen: Das Wort (Gottes) in der Bibel ist dabei der eigentliche Quellgrund der christlichen Hoffnung. Es enthält eine Fülle von Verheißungen, denen die Treue zu halten das Versprechen Jahwes ergangen ist - trotz aller widersprechenden Erfahrung - und deren Erfüllung in der Person Jesu Christi geglaubt wird, was die grundlegende Spannung christlicher Hoffnung zwischen Schon und Noch-Nicht aufspannt, wonach das erhoffte Gut in seiner Endgültigkeit zwar angebrochen, aber noch nicht vollendet ist. 567 Christliche Eschatologie ist dabei christologisch begründet. Dabei stehen unsere menschliche Hoffnung und Jesu ureigene Hoffnung in Spannung. Idealerweise nähert sich unsere 566 Vgl. SÖDING, Die Trias Glaube, Hoffnung, Liebe bei Paulus, 214. Vgl. auch AUER, A., Glaube, Hoffnung und Liebe. Die Öffnung eines traditionellen Traktates in die Dimension des Gesellschaftlichen, in: HEPP, J. et al. (Hrsg.), Funktion und Struktur christlicher Gemeinde (FS H. FLECKENHAUSEN), Würzburg 1971, 91-114. 567 Vgl. Ps 119,49-50. „Denk an das Wort für deinen Knecht, durch das du mir Hoffnung gabst. Das ist mein Trost im Elend: Deine Verheißung spendet mir Leben.“ 4. Biblische Wegmarken einer Struktur der Hoffnung: Zukunft als Verheißung <?page no="254"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 254 Hoffnung in Glaube und Nachfolge der Hoffnung Jesu aber sukzessive an. 568 Als eine entscheidende Wirkung der alttestamentlichen und neutestamentlichen Entdivinisierung aller Wirklichkeitsbereiche kann ferner gelten, dass die Hoffnungsstruktur menschlicher Handlungswirklichkeit zunehmend freigelegt wird, nur eben auf säkularem Boden und um die Entschiedenheit und Unableitbarkeit christlicher Hoffnung nur umso deutlicher hervorzuheben. Die Ethik Jesu ist dabei durch und durch eschatologisch orientiert. Eine darauf Bezug nehmende Ethik hat dem Rechnung zu tragen. Umgekehrt formuliert: Eine hoffnungstheoretisch akzentuierte bzw. entsprechend reformulierte Ethik vermag wieder Anschluss zu finden an die Ethik des Neuen Testaments, die neben ihrer eschatologischen Ausrichtung grundlegend eine drängende Parusieerwartung kennt, die dazu beiträgt, dass die eschatologische Spannung zu einer grundständig mobilisierenden Handlungsspannung wird. Der sachtheologische Grund aller (christlichen) Hoffnung, die Auferstehung Jesu, war als (vorzeitige) Auferstehung Jesu buchstäblich nicht zu „erwarten“ gewesen, wurde doch von gläubigen Juden zunächst nur die allgemeine Totenauferweckung am Ende der Zeit 569 erwartet. Da ist also den Jüngern Jesu und seinen Anhängern buchstäblich etwas bzw. besser gesagt jemand entgegengekommen, der Auferstandene ließ sich sehen, hat sich sichtbar gemacht (Medium). Nur so konnte er (der Erscheinende) bzw. sie (die Auferstehung) zum Grund einer Erwartung, Verheißung und Hoffnung werden, die den Tod übersteigt. Da öffnet sich nun auf eine völlig unerwartete Weise ein Grund, der über den Abgrund des Todes zu führen vermag. Es zeigt sich ein Grund jenseits aller (bisherigen) Begründungen. Die Auferstehung respektive der Auferstandene sind daher auch nicht einfach als solche erfahrbar, es sei denn der Auferstandene selbst machte sich erfahrbar und sichtbar. Denn nur so war er im Stande, eine Hoffnung allererst erfahrbar und damit für den Menschen zugänglich zu machen, die jenseits der Erfahrung ihren Grund hat und jede (negative wie positive) Erfahrung zu übersteigen in der Lage ist, indem selbst unsere Abgründe an Schmerz, Leid, Sinnlosigkeit und Absurdität noch einmal und immer schon „unterfangen“ sind, aber auch unsere positiven Erfahrungen vor einer Selbstabsolutierung bewahrt werden, indem auch sie aufgebrochen werden zu je Größerem. Die leibliche Auferstehungshoffnung ist auch nicht zuerst und nicht zutiefst die Hoffnung auf körperliche Unversehrtheit oder deren Wiederherstellung, also nicht auf eine restitutio ad integrum, sondern auf eine Rettung meiner personalen und geschichtlichen Identität. Solche Hoffnung ist Kondensat der Auferstehung Jesu. Welche Hoffnung jeweils aus dem Auferstehungskerygma abzuleiten ist, ist bleibende Aufgabe der Theologie und der Orthopraxie, die immer nur annäherungsweise konkretisierbar ist und dabei je neu theologisch und existentiell im Glaubensvollzug personalisiert, konkretisiert und ethisiert zu werden hat. Schließlich kann bereits für biblischen Boden festgehalten werden, was an anderer Stelle Bestätigung erfahren wird: Hoffnungen und Erwartungen, im vorliegenden Kontext natürlich die finalen Heilshoffnungen des Alten und Neuen Testaments, sind mit menschlicher Handlungswirklichkeit und konkreten Handlungen aufs Engste verknüpft. Und das Umgekehrte gilt ebenso: Aus Erwartungen und 568 SÖREN KIERKEGAARD etwa spricht vom Ziel der „Gleichzeitigkeit“, wonach unser Lebens- und Glaubensvollzug dem Beispiel Jesu folgend sich sukzessive und je neu in seine Ursprungserfahrungen stellt, diesen damit gleichzeitig wird und damit diese je neu gegenwärtig setzt - auch die darin verorteten Existenzspannungen. 569 Vgl. BÖSEN, W., Auferweckt gemäß der Schrift. Das biblische Fundament des Osterglaubens, Freiburg im Breisgau 2006, 22, 63, 68ff. <?page no="255"?> 5. Mittelalterliche Knotenpunkte moraltheologischer Hoffnungslehre 255 Hoffnungen erschließt sich Tat, erschließt sich deren letzter Gegenstand und deren letzte Zielhaftigkeit - biblisch das Gute und das Gerechte. 570 Am Anfang steht mithin eine Hoffnung, die zur Erwartung wird, der Erwartung der Erfüllung einer Verheißung, daraus schließlich wird ein Tun abgeleitet, das wiederum bis zur Sendung und Verkündigung 571 führt. Verkündigung kann daher als das Aufrichten von Hoffnungen begriffen werden, die ihre Wirkung entsprechend dem Heilskerygma entfalten sollen. Bevor Jesus selbst zum Inbegriff und zur Personifizierung christlicher Hoffnung wurde, verkündete er die Nähe und Heilsrelevanz des Gottesgrundes aller begründeten und verbürgten Hoffnung. Jesus wurde auf diese Weise zum Sprachrohr einer unbedingten Hoffnung, womit er schließlich selber zu eben dieser Hoffnung wurde. Von jener Hoffnung, näherhin deren Hoffnungsgut, von Jesu Leben, Sterben und Auferstehen, aber auch von seiner Verkündigung des nahe gekommenen Gottesreiches, muss eine enorme Anziehung ausgegangen sein, die auf eine kaum zu überschätzende Weise für alle humanen Handlungsfelder mobilisierend gewirkt haben muss, was sie wiederum zum Quellgrund christlicher Ethik macht, wie sie im Rahmen moraltheologischer Reflexion etwa im Kontext einer Ethik der Hoffnung nachzuzeichnen ist. 5. Mittelalterliche Knotenpunkte moraltheologischer Hoffnungslehre - Zwischen Griechentum und Christentum: Personalität, Voluntarität und Transzendentalität Bei Gott allein kommt meine Seele zur Ruhe; denn von ihm kommt meine Hoffnung. Nur er ist mein Fels, meine Hilfe, meine Burg; Darum werde ich nicht wanken. [Psalm 62, 7] Im Mittelalter dauert die Begegnung von antikem und christlichem Hoffnungsverständnis an, wiewohl erste ausführliche Hoffnungstheorien entstehen und diese in den Handlungskontext des Menschen eingegliedert werden. 572 Zudem wird die auf dem Boden des Neuen Testaments bereits begonnene Theologisierung fortgeführt und insgesamt die Dimensionalität der Hoffnungskategorie deutlich erweitert. Es sind wichtige Weichenstellungen erfolgt, die hier freilich nur angedeutet werden können und je für sich einer eingehenden Bearbeitung bedürften. Es kann daher überwiegend auch nicht textphilologisch vorgegangen werden, sondern es sollen einige systematische Kernthesen, die für die 570 Vgl. 2 Petr 3,12-15a.17-18. „Liebe Schwestern und Brüder! Ihr müsst den Tag Gottes erwarten und seine Ankunft beschleunigen! An jenem Tag wird sich der Himmel im Feuer auflösen und die Elemente werden im Brand zerschmelzen. Dann erwarten wir, seiner Verheißung gemäß, einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen die Gerechtigkeit wohnt. Weil ihr das erwartet, liebe Brüder, bemüht euch darum, von ihm ohne Makel und Fehler und in Frieden angetroffen zu werden. Seid überzeugt, dass die Geduld unseres Herrn eure Rettung ist.“ 571 Vgl. Mt 10,7-8 „Geht und verkündet: Das Himmelreich ist nahe. Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus! Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben. Wir könnten paraphrasieren: Geht und verkündet die Hoffnung vom nahe gekommenen Himmelreich! “ 572 Vgl. unter zeitgeschichtlicher Perspektive und mit ausführlichem Textteil BOUGEROL, J.-G., La théologie de l'espérance aux XIIe et XIIIe siècles. 1: Études, Paris 1985. BOUGEROL, J.-G., La théologie de l'espérance aux XIIe et XIIIe siècles. 2: Textes, Paris 1985. <?page no="256"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 256 vorliegende strukturell angelegte Fragestellung von großem Interesse sind, exemplarisch herausgegriffen werden. Das impliziert, dass auch die jeweiligen Hoffnungstheorien nicht in toto rekonstruiert werden können, sondern nur jene Facetten, welche für eine Ethik der Hoffnung und deren anthropologische Grundlagen von herausgehobener Bedeutung sind. Diesbezüglich liegen eine Fülle von Forschungsdesideraten vor, etwa die Frage nach der Funktion der Hoffnung für den Handlungsaufbau und die Handlungsmotivation, das Verhältnis von irdischer und übernatürlicher Hoffnung, das Verhältnis der Hoffnung zum höchsten Gut, überhaupt zu den Größen Moral und Glück und deren inhärente Attraktivität, die Einschreibung der Hoffnung in eine eschatologische Schöpfungswirklichkeit, das Verhältnis philosophischer zu theologischer Hoffnungstheorie, die Bedeutung der Hoffnung für moralische Motivation und vieles mehr. Grundsätzlich kann für mittelalterliches Denken eine doppelte Möglichkeit der Erkenntnis unterschieden werden: Glaubenserkenntnis auf der einen Seite und Vernunfterkenntnis auf der anderen Seite. Auch Hoffnung ist damit auf zwei Wegen ansprechbar und kann auch über diese zwei Wege als „begründet“ und vernünftig erkennbar und ausweisbar gelten. 573 Dabei gehört zum einen die Frage nach dem Glück und zum anderen die Frage nach der (Rückkehr zur) Gemeinschaft mit Gott zu den wichtigsten Entdeckungszusammenhängen mittelalterlich-scholastischer Hoffnungstheologie: Glückliches bzw. besser geglücktes Leben wird als letztlich eschatologische Wirklichkeit begriffen, die den christlichen Lebenssinn insgesamt verkörpert und dem Handeln als Motivationsgrund (finis ultimus) auf der Basis spezifischer Hoffnung dient. Zudem vergegenwärtigt Hoffnung genau das, was christliche Liebe letztlich (aktual) schaut und realisiert: Gemeinschaft mit Gott. Dazu kommt (als eine Art Selbst-Verstärker) eine Hoffnung auf Liebe und Verwirklichung. Humane Hoffnung hat mithin eine Tendenz, sich selbst zu verstärken und immer wieder über sich hinaus zu gehen auf ein finales Letztziel bei Gott hin, von dem her sie sich allererst konstituiert. 574 a) Zeitlichkeit und Willentlichkeit der Hoffnung - AUGUSTINUS „Auf Gott warten heißt ihn haben.“ [Augustinus] AUGUSTINUS geht die Kategorie der Hoffnung aus verschiedenen Perspektiven an: gnadentheologisch, metaphysisch und ethisch. Eine für den vorliegenden Kontext zentrale Bewegung in seinem Denken ist das Zueinander und das wechselseitige Ineinander von Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis, von der Frage des (einzelnen) Menschen nach sich selbst und der Frage nach Gott (deus et anima). „Erhellung der Existenz ist Erdenken Gottes und umgekehrt: Noverim me, noverim te. […] Die den homo interior erhellende Wahrheit führt zur ursprünglichen, unsterblichen Wahrheit als letzten Horizont der Hoffnung. […] Die Rückkehr zu sich selbst ist gleichermaßen Hinkehr zum Urgrund, das liebende Bei-sich-selbst-Sein (frui se ipso) weckt die Teilhabe am reinen Sein, am ‚ipsum esse‘“ 575 (fruitio dei). AUGUSTINUS nimmt gegen den ambivalenten griechi- 573 Vgl. PFÜRTNER, Ethik in der europäischen Geschichte Bd. I, 144. 574 Vgl. PFÜRTNER, Ethik in der europäischen Geschichte, 151. Zu den entsprechenden theologischen Sachbedingungen können dann vorgegebene Ordnungen entdeckt werden, um schließlich deren Geltungsansprüche im Lichte des „Neuen Gesetzes“ zu betrachten. 575 Vgl. WOSCHITZ, K.M., Elpis - Hoffnung. Geschichte, Philosophie, Exegese, Theologie eines Schlüsselbegriffes, Wien / Freiburg / Basel 1979, 12. <?page no="257"?> 5. Mittelalterliche Knotenpunkte moraltheologischer Hoffnungslehre 257 schen Hoffnungsbegriff und entlang den biblischen Vorgaben eine eindeutig positive Bedeutung an. 576 Er unterscheidet profane Hoffnung, spes in hominem, von der christlichen Hoffnung, spes christianorum. Während erstere in verschiedenartigen Modi erscheint, ist letztere, die sich auf Gott richtet, selbst ein Geschenk seiner Barmherzigkeit 577 und durch die Vermittlung durch Jesus Christus immer auch als Hoffnung im Raum der Kirche verortet. Im Zentrum steht die Auferstehung Christi, die dem Menschen die Erlösung und das ewige Leben bis in die Leiblichkeit hinein eröffnet hat. 578 Anfechtungen der Hoffnung sind die Verzweiflung (desperatio), die Vermessenheit (praesumptio) und die Traurigkeit (tristitia) 579 oder auch die acedia, weswegen diese in der Freude überwunden werden kann. 580 „Die an und in Christus schon geschehene Auferstehung besitzen wir noch nicht in re, sondern erst in spe. […] Die Erlösungshoffnung richtet sich auf die Wiederherstellung unserer durch die Sünde zerstörten Gottebenbildlichkeit.“ 581 „Noch sehen wir nicht, was wir hoffen. Aber wir sind der Leib jenes Hauptes, in dem schon vollendet ist, was wir hoffen.“ 582 Letztes Ziel der Hoffnung ist dabei die fruitio dei, was umgekehrt heißt: „Friede und fruitio dei sind eschatologisiert. Auf Erden gibt es die beatitudo allein im Vorschein der Hoffnung.“ 583 Wohl unter neuplatonischem Einfluss kommt AUGUSTINUS die innergeschichtliche Dimension der Hoffnung nicht vorrangig in den Blick, dafür die Individualdimension umso deutlicher, wobei die visio und die fruitio von herausgehobener Bedeutung sind, insbesondere, weil sie deren Subjekte zur civitas dei verbinden und somit gemeinschaftsbildenden Charakter haben. 584 Dennoch: „Die geschichtliche Existenz des Menschen ist als viatorische (in via) zur Wahrheit hin begriffen (nunc in spe, tunc in re).“ 585 Das angestrebte und bei Gott vollendete Glück ist daher auch als Vollendungzustand der Seele zu begreifen, auf den diese sich immer auch hoffend bezieht und den sie (mit Gottes Hilfe) zu erreichen sucht und der dadurch auch handlungsbestimmend werden kann. Ein weiterer wichtiger Verstehenszusammenhang für die vorliegende Fragestellung ist die Aufnahme und christliche Weiterführung antiker Vorstellungen, wonach Philosophie therapeutische Funktionen erfüllt und daher auch mit therapeutischen Metaphern beschrieben wird: Philosophie als Lebenshilfe, als Therapie der Seele, die eine Diagnose für Krankheiten bietet und ebenso eine Heilung. AUGUSTINUS hat eine Christianisie- 576 Vgl. AUGUSTINUS, Ench ad Laur. II, 8 (PL 40, 231 - 290.235). Spes […] non nisi bonarum rerum est, nec nisi futurarum, et ad eum pertinentium qui earum spem gerere perhibetur. 577 Vgl. AUGUSTINUS, In Ps 61,2 (PL 36, 730): Scio quid supra me sit, scio quis praetendet misericordiam suam scientibus se, scio sub cujus alarum tegmine sperem: non movebor amplius. Vgl. auch AUGUSTINUS, En 21 in Ps 32 (PL 36, 277) und in Ps 39, 7 (PL 36, 437 ff.). 578 Vgl. AUGUSTINUS, En 2, 10 in Ps 70 (PL 36, 899): Exemplo suo docuit quid non timeres, quid sperares. Timebas mortem, mortuus est: desperabas resurrectionem, resurrexit. Vgl. auch AU- GUSTINUS, Ench ad Laur. 108 (PL 40, 283). 579 Vgl. AUGUSTINUS, In Ps 91, 2 (PL 37, 1172). Die Analogie zu den vielfältigen modernen Formen depressiver Hoffnungslosigkeit legt sich nahe. 580 Vgl. erneut AUGUSTINUS, In Ps 91, 2 (PL 37, 1172) und In Ps 37, 28 (PL 36, 412). Die Freude hat ihren Grund in der Hoffnung auf den kommenden ‚Sabbat‘. 581 Vgl. WOSCHITZ, Elpis, 14. 582 Vgl. AUGUSTINUS, Serm. 157, 3. Zitiert nach WOSCHITZ, Elpis, 15. 583 Vgl. WOSCHITZ, Elpis, 15. AUGUSTINUS unterscheidet auch zwischen visio dei per fidem und per speciem. Vgl. AUGUSTINUS, En in Ps. 120, 6 / PL 37, 1609. 584 Vgl. AUGUSTINUS, En 1, 3 in Ps 90 und De civ. dei, XIX, 13. 585 Vgl. WOSCHITZ, Elpis, 12. Ebenso AUGUSTINUS, De lib. arb. III, 7, 21. <?page no="258"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 258 rung des antiken Therapiekonzeptes vorgenommen, wonach es etwa keine Selbsttherapie geben kann. 586 Äußerst aufschlussreich ist diese Interpretation des Grundanliegens des Christentums vom Therapiegedanken her. „Die Philosophie mag einen zutreffenden Begriff des höchsten Gutes aufstellen, aber erst die christliche Religion mache es dem Menschen möglich, dieses Gut zu ergreifen und zu besitzen.“ 587 Der Grundtext des AU- GUSTINUS zur Hoffnung aus dem Enchiridion, das wohl 421 oder 423/ 424 verfasst wurde und damit dem späten (gnadentheologisch orientierten und antipelagianisch argumentierenden) AUGUSTINUS zuzurechnen ist, lässt nun die Hoffnung nur in einem kurzen Schlussabschnitt zu Wort kommen, während die Darlegung des Glaubensinhaltes den größten Raum einnimmt. Dennoch lassen sich wichtige Weichenstellungen erkennen, die für die Moraltheologie der Hoffnung von großer Wichtigkeit werden sollten. AUGUSTINUS hat zwar keine Theorie der Hoffnung aufgestellt, wie es später THOMAS VON AQUIN tun wird, er hat auch vergleichsweise wenig expressis verbis über diese Kategorie geschrieben, dafür umso mehr zur Sehnsucht bzw. zu einer hoffenden Sehnsucht und damit indirekt wieder über Hoffnung. Demnach entspringt die „gute Hoffnung“ 588 dem Glaubensbekenntnis und erst das Gebet offenbart, worauf wir recht eigentlich unsere Hoffnung setzen dürfen. Unsere Hoffnung ruht allein auf Gott. Sie kommt in den Bitten des Vaterunsers zum Ausdruck, wobei die ersten drei der sieben Bitten auf ewige Gaben zielen, die anderen vier auf zeitliche. Während die letzteren der Bedürftigkeit des gegenwärtigen Lebens geschuldet sind, setzen auch die ersteren bereits auf Erden ein (sic! ), werden vermehrt gemäß unserem Fortschritt und bei Vollendung ständiger Besitz sein. 589 Es lassen sich nun unter systematischer Perspektive mindestens zwei strukturelle Charakteristika in der Philosophie des AUGUSTINUS benennen, die wirkungsgeschichtlich für eine Ethik der Hoffnung (philosophisch) wegweisend wurden: Die Verzeitlichung und Subjektivierung des Handlungssubjekts auf der einen Seite und die Herausbildung des Willensbegriffs, der sich allererst als ein (zeitlich) hoffender zu realisieren vermag, auf der anderen Seite. α Verzeitlichung und Subjektivierung Als einer der zentralen Verdienste des AUGUSTINUS für eine (ethische) Theorie der Hoffnung 590 kann die Subjektivierung der Zeit und damit die Verzeitlichung des Subjekts 586 Vgl. BRACHTENDORF, J., Augustins „Confessiones“, Darmstadt 2005, 23-24, hier 24. „Vielmehr müsse Gott den Menschen auf den Weg zum Glück führen. Gott ist somit nach Augustinus nicht nur höchstes Gut, sondern auch Seelenarzt und Therapeut; er ist nicht nur Ziel des Lebens, sondern auch Befreier und Erlöser.“ Da das höchste Gut immer auch ein Hoffnungsgut ist und u.a. an der spezifischen, für AUGUSTINUS nicht mehr selbstmächtigen, Orientierung daran therapeutische Wirkungen erkennbar sind, lassen sich erste systematische Verbindungen zu einer ethisch konnotierten Konsiliatorik ziehen. Vgl. Kapitel VII 1 in dieser Arbeit. 587 Vgl. BRACHTENDORF, Augustins „Confessiones“, 23. 588 Vgl. AUGUSTINUS, Enchiridion, XXX, 114. 589 Vgl. ebd. 115. Hic inchoata, quantumcumque proficimus, augentur in nobis; perfecta vero, quod in alia vita sperandum est, semper possidebuntur. 590 Zu den wesentlichen Quellen zählt AUGUSTINUS, Enchiridion de fide spe et caritate, hrsg. von BARBEL, J., Düsseldorf 1960. AUGUSTINUS, A., Enchiridion, hrsg. von SCHEEL, O. (Sammlung ausgewählter kirchen- und dogmengeschichtlicher Quellenschriften: Reihe 2; 4), Tübingen 2 1930. Als einschlägige Sekundärliteratur gilt BALLAY, L., Der Hoffnungsbegriff bei <?page no="259"?> 5. Mittelalterliche Knotenpunkte moraltheologischer Hoffnungslehre 259 gelten. Damit wurde der Vollzugswirklichkeit der handlungswirksamen Hoffnung aufseiten des Handlungssubjekts der Weg bereitet. Erstmals trat ein subjektiver Zeitbegriff in Erscheinung, der existentiell gefasst war und nicht in erster Linie erkenntnistheoretisch wie etwa bei KANT, der Zeit als Form der Anschauung des Erkenntnissubjekts betrachtete und damit als notwendige Erkenntnisvoraussetzung. Freilich wollte AUGUSTINUS damit einen objektiven Zeitbegriff keineswegs ersetzen. 591 Dennoch wurde ein Erwartungs- und Erinnerungshorizont für eine „psychologische Deutung des Zeiterlebens“ 592 formuliert, der in seiner wirkungsgeschichtlichen Relevanz kaum zu hoch bewertet werden kann. Schließlich drängte sich die Frage nach der Bedeutung der Zeitlichkeit für das endliche Vernunftwesen Mensch auf der Suche und auf dem Weg zum ewigen Glück regelrecht auf und Reflexionen über das Verhältnis der immer auch zeitlichen Konstituenten der entsprechenden Wege zum absoluten Ziel bei Gott traten auf den Plan - eine regelrechte Heilspädagogik entstand. Der (Zer-) Dehnung (distentio) des Geistes im Zeitfluss von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (und deren jeweilige horizontmäßige Vergegenwärtigung) setzt er ein Ausstrecken (extensio) zum Ewigen entgegen, weg vom zeitlichen Kommen und Gehen, in dem die Bewegung aber ihren Anfang nahm, hin zum ewig Unveränderlichen. Damit tritt bereits neben die (objektiv von Gott) vorgegebene Zeit eine subjektive Komponente, die für das Verständnis der dialektischen Zeit-Spannungen außerordentlich wichtig ist - und damit für die Handlungsrelevanz von Hoffnung, die nicht nur eine Orientierung in der Zeit gewährt, sondern auch diese transzendierend hin zum ewigen Glück. Unter moralischer Perspektive wird auf diese Weise nicht allein ein Fokus auf das objektiv Gesollte gelegt, sondern auch auf dessen subjektive Möglichkeitsbedingungen. Die Gesinnung und der homo interior gewinnen zentrale Bedeutung, ebenso Selbstreflexion und Selbsttranzendenz, insgesamt die Bewegungen zwischen Mensch und Gott, die als dialektisches Spannungsgeschehen auch für eine Theologie und Ethik der Hoffnung von großer Wichtigkeit sind. Es ist, mit anderen Worten, eine wirkungsgeschichtlich kaum zu überschätzende Betonung des selbstreflexiven Charakters der Betrachtung des Menschen zu beobachten. So wird neben der Subjektivierung der Zeit auch das selbstreflexive Subjekt in die Zeittheorie eingefügt. Etwa in den Confessiones spricht AUGUSTINUS von der „Gegenwart von Vergangenem“ in der Erinnerung und der „Gegenwart von Zukünftigem“ 593 in der Hoffnung, was klare Zeit- und Hoffnungsspannungen zum Ausdruck bringt. Eine starke eschatologische Orientierung durchtränkt das ganze Werk des AU- GUSTINUS, etwa seine Theorie des Gebets, die stark an der Sehnsucht 594 orientiert ist, wiewohl es auch Tendenzen gibt, den diesseitigen Pol zugunsten des jenseitigen zu marginalisieren. Augustinus. Untersucht in seinen Werken: De doctrina christiana; Enchiridion sive de fide, spe et caritate ad laurentium und Enarrationes in psalmos 1-91, München 1961. 591 Vgl. BRACHTENDORF, Augustins „Confessiones“, 236ff. 592 Vgl. ebd. 248. 593 Vgl. AUGUSTINUS, Confessiones (lt./ dt., hrsg. von BERNHART, J., München 1955, 641f.). 594 Vgl. auch homo desiderium dei - Der Mensch ist Sehnsucht nach Gott / Der Mensch ist die Sehnsucht Gottes. Ebenso AUGUSTINUS, PL 33, 501f., XI 21 (Übersetzung vom Autor): „Wenn wir sprechen: Zu uns komme dein Reich, so wird dieses Reich zwar kommen, ob wir es wünschen oder nicht, aber wir regen durch dieses Wort unsere Sehnsucht nach diesem Reiche an, damit es für uns komme und wir in ihm zu herrschen verdienen.“ <?page no="260"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 260 β Willensbegriff Der Willensbegriff ist insofern für eine Ethik der Hoffnung und deren Strukturen wichtig, weil spätestens seit der Scholastik Hoffnung als Funktion des Willens verstanden wurde und die Entstehung des Willensbegriffs, der aufs engste mit der Willensfreiheit verknüpft ist, auch für eine strukturelle Phänomenologie der Hoffnung von großer Bedeutung ist. Demnach kann bei AUGUSTINUS unter Absetzung von einer griechischen Handlungstheorie, die im Wesentlichen „durch die Antithese von Intellekt und Affekt charakterisiert“ ist und „die keinen Raum für einen Willen lasse“ 595 und damit aber die Entscheidungsfreiheit des Willens quasi überspringt, das Bemühen beobachtet werden, dem Menschen seine Handlungen (moralisch) vollständig zurechenbar zu machen, was wiederum ein entsprechendes Vermögen voraussetzt - eben einen unhintergehbaren, freien Willen, als dessen (libertaristischer) Kern ein „Anders-Handeln-Können“ zu begreifen ist. Die moralische Qualifikation einer Handlung geht nun für AUGUSTINUS wesentlich auf ihren Willensanteil zurück. Dieser hat dichothome Struktur: den handlungsnahen Impulsen (voluntates) wird eine diese bewertende und mit dem liberum arbitrium ausgestattete Instanz (voluntas) vorgelagert. Er entwickelt mithin ein zweistufiges Willensmodell, wonach Handlungsimpulse (voluntates) nochmals (moralisch) orientiert und qualifiziert werden können. Denn nur über einen starken und ausgebildeten Willensbegriff wird dem Menschen sein Handeln moralisch imputierbar und er selbst zum verantwortlichen und schuldfähigen Subjekt von (guten und bösen) Handlungen. Es lassen sich nun mit CHRISTOPH HORN zwei Kriterien für einen entwickelten philosophischen Willensbegriff benennen: (1) das Bewusstheitskriterium („bei vollem Bewusstsein“) und (2) das Spontaneitätskriterium („nicht weiter ableitbar“). Für AU- GUSTINUS übernimmt nun ein solcherart charakterisierter Wille eine aufschlussreiche Funktion: er dient der Selbstvergewisserung des Menschen über den Willen. 596 Damit korrespondiert ein Grundcharakteristikum der Hoffnung, humane Bestimmung des Menschen zum Ausdruck zu bringen. Innovativ kann in der Konzeption des AUGUSTINUS zudem die Unterscheidung einer positiven oder negativen Handlungstendenz (voluntas) und dem freien Willensakt (liberum arbitrium) gelten. Seit dem Sündenfall (postlapsarisch) ist AUGUSTINUS zufolge aber nun eine schlichte Entscheidung für eine recta voluntas und gegen eine perversa voluntas nicht mehr möglich und einzig vermittels der Gnade kann die (prälapsarische) Möglichkeit einer ausschließlich guten (recta bzw. bona) voluntas wieder hergestellt werden. Für AUGUSTINUNS gilt daher (für die postlapsarische Situation des Menschen) die Behauptung, „dass eine einheitliche, kohärente und insofern gute Strebenstendenz außerhalb des menschlichen Entscheidungsraumes liegt. Anders gesagt, ich kann zwar wollen, dass ich fortan nur noch Gutes will, aber ich kann faktisch keine einheitliche, gute voluntas wählen. Der Kirchenvater bestreitet also 595 Vgl. HORN, C., Augustinus und die Entstehung des philosophischen Willensbegriffs, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 50 (1996), 113-133, hier 114 und 115. „Die Strebenstheorie identifiziert auf diese Weise den Entscheidungsakt mit dem vorherrschenden Motiv des Handelnden, ohne ein unabhängiges Wahlvermögen anzunehmen.“ 596 Vgl. auch HORN, Augustinus und die Entstehung des philosophischen Willensbegriffs, 118. „Neben der unmittelbaren Gewissheit der eigenen Existenz und des Wissens um diese soll es eine unmittelbare Gewissheit der willentlichen Verfügung über sich selbst geben. ‚Wollen‘ meint somit, so Augustins Entdeckung, die Möglichkeit unabhängiger und unmittelbarer Selbstbestimmung.“ Vgl. dazu prägnant AUGUSTINS, De civitate dei, civ. XII 6. <?page no="261"?> 5. Mittelalterliche Knotenpunkte moraltheologischer Hoffnungslehre 261 nicht die menschliche Willensfreiheit, sondern er leugnet die Möglichkeit, sich aus freien Stücken für eine insgesamt gute Strebensorientierung zu entscheiden.“ 597 Die hier zum Ausdruck kommende postlapsarische Zerrissenheit des Willens in Teilwillen ist nur gnadentheoretisch, d.h. hoffnungstheoretisch heilbar, weswegen von einer Unfreiheit des Willens im Kontext einer strikten (gnadentheologisch interpretierten) Hoffnungslosigkeit gesprochen werden kann, die nach einer Vereinheitlichung der Teilwillen verlangt (durch die vim copulande des befreiten Willens), um (wieder) einheitlich das Gute wollen zu können. 598 Einzig vermittels der im Medium der Hoffnung vergegenwärtigten Gnade kann der menschliche Wille (voluntas) als frei gelten, sich (mit allen voluntates) einheitlich zum Guten zu bestimmen. Mit anderen Worten: Ohne gnadengewirkte Hoffnung ist der Wille nicht wirklich frei von bösen Verstrickungen, weil er sich eo ipso nicht einheitlich zum Guten zu bewegen vermag, ist doch das Zentrum einer solchen Bewegung in sich gespalten. Daher ist der freie Wille für AUGUSTINUS (als noch nicht gänzlich befreiter Wille) auch Ursprung des Bösen, das sich darin zeigt, dass ein Weg eingeschlagen wird weg vom höchsten Gut 599 bzw. ein Weg, der nicht einheitlich zum höchsten Gut hin orientiert und realisiert werden kann. Insbesondere aber diese Orientierung des Willens auf das (höchste) Gute wird als zentrale Aufgabe der Hoffnung zu bestimmen sein, wie bei THOMAS VON AQUIN zu zeigen sein wird. Der moralisch qualifizierte freie Wille des Menschen kann also aufs engste mit dem Hoffnungsvollzug verknüpft gelten, der quasi die Brücke der göttlichen Gnade in die Zeit hinein ist. Erst diese in der Hoffnung gegenwärtige Gnade vermag wiederum den menschlichen Willen vom Zwang zum Bösen zu befreien - eben durch die erwähnte Hinordnung menschlichen Strebens auf ein letztes Ziel, das die Bewandtnis des Guten trägt und auf dessen Erreichbarkeit Hoffnung vertraut. Hoffnung gibt sich damit als eine moralisch qualifizierte Handlungskategorie zu erkennen. Denn: Das Wollen des Guten fällt nicht mit dem Vollbringen des Guten zusammen. Der Wille hofft daher immer etwas, wenn er etwas will. An dieser Stelle wird die scholastische Theologie wieder ansetzen, wenn sie die Hoffnung nicht dem Erkenntnisvermögen, sondern dem Strebevermögen zuweist und damit als Funktion des Willens begreift. Damit geht eine Aufwertung von Ethik insgesamt einher, deren metaphysische Grundlagen da relevant werden, wo die Bestimmung und die Reichweite des Willens gedacht werden soll. Bis heute werden schließlich diese und ähnliche Bestände des AU- GUSTINUS hochgehalten, etwa die Begnadung und Befreiung des (freien) Willens oder der Attraktivität des Hoffnungsgutes als wichtigem Realisationsgrund des Guten. AUGUSTINUS entwickelt nun den klassischen (antiken) Begriff der spes (bonarum rerum futurarum exspectatio) 600 weiter, wenn er ihn nur auf die bona futura des Hoffenden selbst bezieht. 601 Diese erstreckt sich (letztlich) auf Unsichtbares, das mit Geduld zu 597 Vgl HORN, Augustinus und die Entstehung des philosophischen Willensbegriffs, 127-128. 598 Vgl. AUGUSTINUS, De libero arbitrio - Der freie Wille (Opera-Werke Bd. 9), zweisprachige Ausgabe eingeleitet, übersetzt und herausgegeben von J. BRACHTENDORF, Paderborn et al. 2006, 58. „Die Gnade, so Augustins These, hebt die Freiheit des Willens keineswegs auf, sondern rettet sie, indem sie vom Zwang zum Wollen des Bösen befreit.“ 599 Vgl. erneut AUGUSTINUS, De libero arbitrio - Der freie Wille, 20ff. 600 Vgl. dazu und zum Folgenden Vgl. DIHLE, A. / STUDER, B. / RICKERT, F., Hoffnung (Art.), in: DASSMANN, E. et al. (Hrsg.), Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt Bd. XV, Stuttgart 1991, 1159- 1250, hier 1231-1244. 601 Vgl. AUGUSTINUS, Sermo 105, 8,11, wo er eine Definition der Hoffnung gibt: Figite spem in Deum, aeterna concupiscite, aeterna exspectate. Christiani estis, fratres, christini sumus. Non ad <?page no="262"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 262 erwarten ist (Röm 8, 25). Hoffnung ist daher auch als Trost auf dem Pilgerweg zu verstehen, bis wir geduldig zur Gottesschau gelangen, wo allein die Liebe bleiben wird. 602 AU- GUSTINUS vermittelt mithin biblische Spuren mit antiken Elementen. Die Hoffnungsgewissheit basiert nicht auf rationaler Einsicht, sondern im Vertrauen in die in der Geschichte Israels und im Leben Jesu erwiesenen Liebe Gottes. Erst unter der Voraussetzung dieses gläubigen Vertrauens wird Zukunftserwartung zur Hoffnung. Diese wurde allerdings verbunden mit dem antiken Zeitschema und antiker Erkenntnislehre. Hoffnung setzt darüber hinaus ganz auf Gott, aber in der bereits biblischen Spannung von Schon und Noch-Nicht. AUGUSTINUS hebt die Hoffnung „sowohl vom falschen Selbstvertrauen (praesumptio) und vom übertriebenen Auf-Gott-Abstellen wie von aller Verzweiflung und falscher Angst vor Gottes Gerechtigkeit ab.“ 603 Die Unterscheidung von uti und frui gehört zudem zur Dynamik der Hoffnung. Das darin aufscheinende „desiderium, das immer wachsen soll, die cupiditas bona, wird von aller bloß irdischen Sehnsucht, von allen nur zeitlichen Erwartungen abgehoben“ 604 . AUGUSTINUS geht von einer „hoffenden Sehnsucht“ aus, die ihre Grundlegung im Ostergeheimnis hat. „Schon auf der natürlichen Ebene ist der Mensch ein Hoffender (vgl. en. in Ps. 131, 19f.). Weit mehr ist er im religiösen Leben ein Mensch der Zukunft. […] Sein ganzes Leben ist eine einzige Sehnsucht, eine stete extensio […].“ 605 Um dies zu ermöglichen, ist christliche Hoffnung zugleich in der Natur des Menschen angelegt und in der Auferstehung Christi begründet, hat Anhalt an der realen Erfahrung des Menschen, mindestens um diese zu verändern, und zugleich verbunden mit dem Grund aller Erfahrung und Realität. „Obwohl also die christliche Hoffnung als Erwartung der künftigen Güter wie als sichere Erwartung weit über das hinausging, was man in der Antike als Hoffnung bezeichnen konnte, wurde sie durch die Gleichsetzung mit der in der menschlichen Natur selbst angelegten Sehnsucht nach dem ewigen Leben und durch ihre Begründung von der Erfahrung der Zeit her ungeheuer vertieft. Damit wurde allerdings eine andere Spannung gewaltig verschärft: Die Spannung zwischen der Schöpfungs- und Erlösungsordnung, zwischen dem nach dem Bild Gottes geschaffenen und darum hoffenden und dem in seiner Veränderlichkeit der Sünde verfallenen und darum verzweifelnden Menschen. Mit seiner Lehre von der absoluten Notwendigkeit der Gnadenhilfe Gottes und der vom Hl. Geist inspirierten Liebe zur Gerechtigkeit machte Augustinus nicht nur die Hoffnung des auf die Erlösung Jesu Christi angewiesenen Sünders, sondern im Grunde die Hoffnung des Geschöpfes überhaupt ganz von Gott abhängig. Damit hob er natürlich die Spannung zwischen Furcht und Hoffnung, zwischen demütigem Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes und den vom Schöpfer dem Menschen gegebenen Möglichkeiten natürlich nicht auf. Ganz im Gegenteil! “ 606 Im Hintergrund solcher Vorstellungen kann bei AU- GUSTINUS eine reflexive Bewegung von der vorrangig objektiven Sittlichkeit hin zu einer diese im Subjekt quasi widerspiegelnden Intentionalität beobachtet werden - auf delicias Christus in carnem descendit; toleremus potius praesentia quam diligamus […] Nemo vos murmurando avertat ab exspectatione futurorum. 602 Vgl. AUGUSTINUS, Sermo 150, 8f. mit Röm 8, 23ff. 603 Vgl. DIHLE / STUDER / RICKERT, Hoffnung, 1233. 604 Vgl. ebd. 1236 und 1237. „Auch wenn man nur hoffen kann, was man zuerst glaubt, muss […] umgekehrt die Hoffnung den Glauben fortwährend stützen.“ 605 Vgl. ebd. 1240. 606 Vgl. ebd. 1242-1243. Weiter heißt es: „Seine Auffassung von der absoluten Gnadenhaftigkeit der Hoffnung zwang ihn nämlich, in seiner Seelsorge aus der Hoffnung gegen alle Hoffnung sich aller anzunehmen.“ <?page no="263"?> 5. Mittelalterliche Knotenpunkte moraltheologischer Hoffnungslehre 263 dem Boden des Verhältnisses von Gott und der Seele. Es drückt sich quasi darin eine subjektbezogene Grundierung allen Handelns aus, die Glaube und Sittlichkeit in ihrer inneren Einheit vor Augen hat und neben der objektiven Sittlichkeit auch so etwas wie eine (moralpsychologisch konnotierte) intentionale Sittlichkeit favorisiert. Als Ertrag kann festgehalten werden: Alle Orientierung des Menschen am Guten und alle entsprechenden Mühen sind von der Hoffnung unterfangen. Es kann von einer Prinzipfunktion der Hoffnung 607 gesprochen werden, die eingeordnet ist in einen eschatologischen Schöpfungskontext. Damit zeigt sich eine exakte Vorbereitung der hier vertretenen These, wiewohl bei AUGUSTINUS die für die vorliegende Fragestellung so wichtige Verhältnisbestimmung von spes christianorum und spes in hominem über deren Differenzierung vernachlässigt erscheint. 608 Eine naheliegende Möglichkeit also, die theologische Tugend der Hoffnung, die gnadenhaft verliehen wird, mit der bewussten und handlungspraktisch relevanten Willenstätigkeit des Menschen zu verknüpfen, ist mithin die des AUGUSTINUS: Die „Attraktivität“ des Gewollten und die Fähigkeit, ihrer überhaupt gewahr zu werden, als göttlich gewirkt zu betrachten. Aus diesem Grunde bestimmt sie menschliche (Handlungs-) Wirklichkeit, entzieht sich menschlicher Verfügung. Diese hat daher eine eschatologische und offenbarungstheologische Grundlage. 609 So kennt der menschliche Wille nicht allein einen äußeren Anstoß, um handlungswirksam zu werden, sondern auch eine innere Motivation, die sich als eine spezifische ‚Lust‘ an etwas bzw. der Affiziertheit durch etwas und das Gefühl der Attraktivität von einem Gegenstand zu erkennen gibt. Da diese der Verfügung des Menschen entzogen ist, kann darin das Einfallstor für das Wirken Gottes betrachtet werden. Nicht umsonst ist auch moraltheologisch die Attraktivität des Guten eine zentrale Motivationsfigur teleologischer Ethiken. AUGUSTINUS verficht mit anderen Worten ein synthetisches Verhältnis von Tugend und Glück, wie später KANT, wonach zwar beides erforderlich ist zur Vollendung menschlicher Strebungen, aber beide nicht identisch sind und sich zudem das eine nicht aus dem anderen herleiten lässt. 610 Vollendetes Glück ist unter irdischen Verhältnissen 607 Vgl. AUGUSTINUS, Sermo 361 (PL 38 / 39, 1599): Sublata itaque fide resurrectionis mortuorum, omnis intercidit doctrina christiana. 608 Vgl. ähnlich BALLAY, L., Der Hoffnungsbegriff bei Augustinus. Untersucht in seinen Werken: De doctrina christiana; Enchiridion sive de fide, spe et caritate ad laurentium und Enarrationes in psalmos 1-91, München 1961, 54-56 und 282ff., der allerdings, ohne eine ausführliche Textphilologie vorgenommen zu haben, auf die fehlende Verhältnisbestimmung hinweist. Daneben hebt er die enge Verbindung des augustinischen Hoffnungsbegriffs mit der Offenbarung hervor und betont die Zentralität der (leiblichen) Auferstehungshoffnung, lässt aber ansonsten keinen größeren systematischen Ertrag erkennen. 609 Vgl. AUGUSTINUS, Ad Simplicianus 2, 2, 21: „Wer kann aus ganzem Herzen das umfangen, woran er keinen Gefallen hat? Er aber hat es in seiner Macht, dass das, woran er Gefallen haben könnte ihm auch über den Weg kommt, und dass er an dem, was ihm über den Weg kommt, auch tatsächlich Gefallen hat? Dass wir also an jenen Dingen Gefallen haben, durch die wir auf Gott hin vorwärts gebracht werden, ist nicht das Werk unserer bewussten Absicht und unseres eigenen Wollens [...], sondern hängt ab von einer innerlichen Inspiration durch die Gnade Gottes.“ Und ausführlich WIELAND, W., Offenbarung bei Augustinus, Mainz 1978. 610 AUGUSTINUS vertritt entgegen oft anderslautender Thesen, die von einer „augustinischen Innovation in Sachen Tugendethik“ sprechen wollen, eine neuplatonische Tugendkonzeption, die den damit einhergehenden moralischen Rationalismus weitgehend übernimmt.Vgl. HORN, C., Augustinus über Tugend, Moralität und das höchste Gut, in: FUHRER, T. / ERLER, M. (Hrsg.), Zur Rezeption der hellenistischen Philosophie in der Spätantike, Stuttgart 1999, 173- 190, hier 189. <?page no="264"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 264 nicht möglich, weswegen das (irdische) Glück transzendentalisiert wird; auch die Herstellbarkeit des Tugendhaften begrenzt AUGUSTINUS durch die Gnadentheologie. 611 Dennoch ist für den vorliegenden Kontext aufschlussreich: „Nicht das Maß der Einsicht entscheidet über das Glück des Menschen, sondern die Orientierung des Willens.“ 612 Und da nun Hoffnung eine Funktion des Willens ist und gerade nicht des Erkenntnisvermögens, entscheidet das Hoffen des Menschen (mit) über sein Glück. Mitte des 13. Jh. erreichte der Traktat über die Hoffnung schließlich seine Hochform. So griff bereits vorher PETRUS LOMBARDUS auf das Enchiridion des AUGUSTINUS zurück, wenn er mitsamt seinen Kommentatoren vorrangig über die Hoffnungsgewissheit reflektierte. Mit der Wende zur Hochscholastik kann schließlich eine vorerst letzte große Erneuerung des Traktates mit den Summisten datiert werden, etwa mit WILHELM VON AUXERRE und PHILIPP DEM KANZLER, die dann von ALBERTUS MAGNUS, BONAVENTURA und THOMAS VON AQUIN weitergeführt wurden, wobei der Tugendcharakter der Hoffnung, ihr Gegenstand und ihr Beweggrund im Vordergrund des Interesses standen. b) Hoffnung und der Weg zum (göttlichen) Glück - THOMAS VON AQUIN THOMAS VON AQUIN hat als erster eine einheitliche und umfassende Hoffnungstheorie 613 entworfen, die er als subjektives und objektives Heilsgut verstand. Unter Aufnahme insbesondere aristotelischen Gedankengutes, daneben aber auch stoischen, neuplatonischen und augustinischen Lehrgutes, wird Hoffnung als „Bewegung der Strebkraft“ 614 entfaltet und damit gerade nicht dem Bereich der Erkenntnis 615 zugeordnet - mit der bereits bekannten vierfachen gegenständlichen Bestimmtheit: Hoffnung bezieht sich auf ein Gut (bonum), worin sie sich von der Furcht unterscheidet; dieses ist zukünftig (futurum), was den Unterschied zu Freude und Lust markiert, und es ist schwer zu erreichen 611 Vgl. BRACHTENDORF, Augustins „Confessiones“, 303. „Nicht nur das äußere Schicksal ist der Kontrolle des Einzelnen entzogen, auch das Maß an Selbstkontrolle, das die antike Ethik für möglich und ein Zeichen von Weisheit hielt, sieht Augustinus für unerreichbar an. Ihm zufolge ist der Mensch erstens nicht in der Lage, sich selbst tugendhaft zu machen, und zweitens hat auch der Weise noch mit entgegenstehenden Neigungen zu kämpfen.“ 612 Vgl. ebd. 301. 613 Zu den wesentlichen Quellen zählt AQUIN, T. VON, Die Hoffnung. Summa theologiae II-II, q 17-22, Freiburg im Breisgau 1988. AQUIN, T. VON, Über das sittliche Handeln. Summa theologiae I-II q. 18-21 (lt./ dt.), hrsg. von SCHÖNBERGER, T., Stuttgart 2001. Als zentrale Sekundärliteratur gilt BERNARD S.J., CH.-A., Théologie de L´Espérance selon Saint Thomas D´Aquin, Paris 1961. DE LETTER, P., Hope and charity in St. Thomas, in: The Thomist. A speculative quarterly review of theology and philosophy XIII (1950), 204-248 und 325-352. KÜNZLE , P., Thomas von Aquin und die moderne Eschatologie, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie, 8 / 1962, 109-120. FRIES, A., Hoffnung und Heilsgewissheit bei Thomas von Aquin, Studia moralia. Academia Alfonsiana, Institutum Theologiae VII: Contributiones, 131-236. Daneben wäre seine Konzeption des Glücks, des Naturrechts und des höchsten Gutes, einschließlich Handlungs- und Erlösungslehre ausreichend zu würdigen. 614 Vgl. WOSCHITZ, Elpis, 16. Vgl. auch AQUIN, T. VON, S. th. I-II, q.40 a 2: Spes est motus appetitivae virtutis consequens apprehensionem boni futuri ardui possibilis adipisci, scilicet extension appetites in huiusmodi obiectum. 615 Vgl. AQUIN, T. VON, 3 Sent. d 26; S. th. I-II, qu 40 a 2c. Zitiert nach WOSCHITZ, Elpis, 17. „Die Hoffnung geht auf ein Gut. Das Gute als solches aber ist nicht Gegenstand der Erkenntnis, sondern der Strebekraft. Mithin fällt die Hoffnung nicht in den Bereich der Erkenntnis, sondern der Strebekraft.“ <?page no="265"?> 5. Mittelalterliche Knotenpunkte moraltheologischer Hoffnungslehre 265 (arduum), was sie vom bloßen Verlangen trennt; schließlich ist es aber ein mögliches und erreichbares Gut (possibile adipisci). THOMAS geht von einer hierarchischen Gliederung der vielfältigen Aspekte der komplexen Hoffnungskategorie aus, wobei ontische, ontologische und theologische Ebenen unterschieden werden können. „Auf der ontischen, auf Seiendes gerichteten Ebene bezieht sich die Hoffnung auf ein sinnliches Triebziel oder ein im geistigen Bereich Gutes (Werthaftes). Auf der ontologischen, auf das Sein gerichteten Ebene ist der Inhalt hoffenden Aus-seins das Gut-sein der Existenz schlechthin. Dies ist ihre äußerste Möglichkeit (ultimum potentiae). Aber letzte Verzweiflung und Angst sind vom Menschen her nicht überwindbar. Als übernatürlicher Akt und ‚göttliche Tugend‘ hat Hoffnung ihr Formalobjekt in dem durch die Offenbarung ermöglichten Glauben an die Hilfe der Gnade Gottes, kraft welcher sich der Hoffende auf die Fülle des Seins ‚auszuspannen‘ vermag, die Gemeinschaft mit Gott als ewige Seligkeit.“ 616 Materialobjekt ist daher das gemeinschaftliche Glück in Gott (fruitio dei), worauf alle sonstigen inhaltlichen Hoffnungen quasi wie auf ein Endziel hingeordnet sind. Damit kommt der Hoffnung auch eine gemeinschaftskonstituierende, näherhin eine heilsgemeinschaftsbildende Wirkung zu. Aufschlussreich ist dabei nicht allein, dass die drei göttlichen Tugenden zusammen eingegossen werden und unter Aufrechterhaltung der sachlogischen Reihenfolge von Glaube, Hoffnung und Liebe die Liebe dennoch die Hoffnung immer schon durchformt und vervollkommnet, sondern insbesondere auch, dass THOMAS bereits eine stellvertretende Hoffnung für möglich und wirksam hält: „Einer kann für den anderen das ewige Leben erhoffen, sofern er durch die Liebe mit ihm eins ist.“ 617 Selbstredend ist diese Hoffnung dann christologisch begründet, sakramental vermittelt und korreliert mit einer spezifisch christlichen Zeitstruktur, die insbesondere in der für alle drei Zeitstufen (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) bereits angebrochenen, aber noch nicht vollumfänglich realisierten Zukunft zum Ausdruck kommt. Hoffnung ist bei THOMAS VON AQUIN mithin kein Wissen und keine Erkenntnis, sondern mit der Tatkraft und Strebekraft des Willens zum Guten verbunden, was die Verbindung zur Handlungskraft, Handlungsfähigkeit, Handlungsmotivation nahe legt. Hoffnung kann daher auch als natürliches Grundstreben des Menschen 618 betrachtet werden, ein Sich-Ausstrecken des Willens nach einem Steilgut. Natürliche Hoffnung bleibt auf die Immanenz verwiesen, ist Leistung des Menschen, insofern er das Hoffnungsgut unter seine Kontrolle und in seine Verfügung bringen kann, mitunter wird von einer animalisch fundierten Strebung gesprochen; allein die übernatürliche Hoffnung hat Gott als Gegenstand und Grund. THOMAS ist um eine strikte Trennung von natürlicher und übernatürlicher Hoffnung bemüht und lässt diesbezüglich nun eine Tendenz zur Vernachlässigung der Einheit und der irdischen Komponente erkennen. Es sei aber nochmals betont: Die Hinordnung auf das Letztziel menschlicher Existenz ist ein Sich- Ausspannen, was dem Spannungsgeschehen der Hoffnung phänomenologisch exakt entspricht. Diese (hoffende) Hinordnung zielt auf ein Gut bzw. ein (höchstes) Gutes und ist getragen vom Einzelnen zunächst für sich selbst, aber völlig analog auch für das Sein des anderen, der sich immer schon im Kreis dieser umfassenden Hoffnung befindet und daher auch moralisch an ihr partizipiert - was in der moralischen Konsequenz der Hoff- 616 Vgl. WOSCHITZ, Elpis, 18. 617 Vgl. AQUIN, T. VON, S. th. I-II, q 17 a 3. Zitiert nach Zitiert nach WOSCHITZ, Elpis, 18. 618 Vgl. AQUIN, T. VON, S. th. I-II, q. 40. <?page no="266"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 266 nung 619 selber liegt. Ist die Hoffnung für THOMAS also wesentlich durch Vertrauen gekennzeichnet, dann kann sie in letzter Konsequenz nie nur die eigene Seligkeit suchen, sondern immer auch für den Mitmenschen nach dessen Seligkeit streben und diese quasi (mit) erwarten. 620 Zunächst zielt also Hoffnung auf das eigene Heil, davon abgeleitet aber auch auf das Heil des anderen - gegen jeden Heilsindividualismus, insofern der Hoffende mit diesem in Liebe geeint ist. So ist Liebe eine Einung, Hoffnung eine Bewegung. Der Hoffende ist offen für den anderen, indem er sich immer schon überschreitet auf ein (absolutes) Du hin und damit dem sündigen incurvatum in se ipsum entgegensteht. Wird der Kreis noch weiter gespannt und als solcher auch benannt, dann kann davon gesprochen werden, dass Hoffnung eine ekklesiale Dimension und schließlich eine mundiale Dimension hat, insofern die ganze Schöpfung in die Christushoffnung einbezogen ist und Hoffnung nie nur eine Haltung des Einzelnen ist, sondern auch und gerade der Kirche Christi, wo alle „eine Hoffnung“ haben (Eph 4,4). Hoffnung ist dabei durch mehrere Komponenten zu bestimmen: (1) als Gefühlsregung, dann bereits im Bereich des Geistigen (2) als Habitus und (3) als Akt, schließlich (4) als Gegenstand und Ziel und (5) als Gewissheit der Hoffnung; davon wird (6) noch der Hoffnungs-Grund unterschieden. An dieser Stelle soll nun dafür geworben werden, diese umfassend in den Blick genommene Hoffnungskategorie als dezidiert theologische Tugend mit sittlicher Struktur zu verstehen, wiewohl häufig nur die natürliche Hoffnung benannt wird, um sich von ihr abzusetzen oder die übernatürliche Hoffnung, um deren Gottesgrund zu benennen, die moralische Kategorie in ihrer ganzen Handlungsrelevanz aber selten gesehen wird. „Die moralische Tugend der Hoffnung, die drängende Fertigkeit, im Sittlich-Guten alle Möglichkeiten des Erreichbaren auszuschöpfen, solang die Erreichbarkeit größer ist als die Unmöglichkeit; immer Neues zu wagen und zu versuchen; die Entwicklung, solang sie irgendwie aussichtsreich und verantwortbar ist, voranzutreiben, diese Tugend kommt wohl zu kurz, [...]. Von der Gefühlsregung gehen die scholastischen Theologen zur theologischen Tugend über und lassen das Mittlere, die nur-menschliche Tugend der Hoffnung aus, obwohl sie den Ansatz dazu - ein Hoffen, das nicht nur Gefühlsregung ist - sehr wohl haben.“ 621 Wiewohl es eine eigene ratio expectandi gibt, ist Hoffnung mehr als Erwarten, dieses näherhin ein Teil oder eine Art des Hoffens, jene umgreift und verklammert dagegen auf eigentümliche Weise Hoffnungsgut und den Hoffenden, dieses wiederum kommt noch ohne die spezifische Gewissheit der Hoffnung aus und konstituiert sich häufig unter Eingreifen von außen. Eine (scholastische) Psychologie christlicher Hoffnung vermag ferner vier seelische Teilvorgänge in der Hoffnung aufschlussreich zu differenzieren: (1) eine Art Liebe - ein Gefallen am Hoffnungsgut im Sinne dessen Attraktivität, quasi der „seelische Widerhall auf die Werthaltigkeit des Gutes“ 622 ; (2) das Verlangen, das aus der Kontrasterfahrung des 619 Bringt Hoffnung idealiter im Medium der Antizipation von basalen (interpersonalen und intersubjektiven) Anerkennungsverhältnissen die Bestimmung des Menschen zur Würdehaftigkeit zum Ausdruck, dann muss ich sie auf den jeweils anderen, praktisch auf alle universalisieren, um sie nicht selbst an ihrer Zielgröße zu desavouieren und damit zu degenerieren. 620 Vgl. erneut AQUIN, T. VON, S. th. II-II, q.17, a 3. Spes directe respicit proprium bonum, non autem, quod ad alium pertinent. Sed praesupposita unione amoris ad alterum iam aliquis potest sperare et desiderare aliquid alteri sicut sibi. 621 Vgl. FRIES, A., Hoffnung und Heilsgewissheit bei Thomas von Aquin, Studia moralia. Academia Alfonsiana, Institutum Theologiae VII: Contributiones, 131-236, hier 134. 622 Vgl. zweimal FRIES, Hoffnung und Heilsgewissheit bei Thomas von Aquin, 138, daneben 155- 156. „Hoffen unterstellt somit Liebe zu einem nicht-gegenwärtigen Gut, d.h. einem Verlangen <?page no="267"?> 5. Mittelalterliche Knotenpunkte moraltheologischer Hoffnungslehre 267 Entbehrens wächst und zusammen mit der Liebe allererst ein „wirksames, vorfreudiges, auf Erfüllung vertrauendes Streben“ ermöglicht; (3) eine Haltung des ‚Dennoch‘, die Widerstände zu überwinden bereit ist und durch eigene und geschenkte Kraft das Streben intensiviert und kräftigt; schließlich (4) die Zuversicht als Gewissheit, das Ersehnte und Erstrebte auch zu erreichen. Gott ist dabei als Erst- und Hauptgut christlicher Hoffnung zu bezeichnen, der Rechtfertigung, ewiges Leben, Glückseligkeit, Erbarmen, Gnade und vollkommene Liebesgemeinschaft gewährt, aber über des Menschen natürliche Möglichkeiten und Ahnungen hinausgeht - und damit als Erhofftes und Erhoffter dem Menschen noch partiell verhüllt 623 ist. In zweiter Reihe zielt Hoffnung quasi auf all das, was zu diesem übernatürlichen Lebensziel hinführt, mithin heilsdienlich ist: von der Vergebung der Sünden bis zu zeitlichen und natürlichen Gütern. „Wer also die Hoffnung hat, der hofft zu Gott [...] und gleichzeitig erhofft er alles für dieses Gehen zu Gott Notwendige [...]. Dadurch wird die Hoffnung zum Prinzip allen Tätigwerdens vor einem hochstehenden (arduum) oder aufgeschobenen Gut.“ 624 Damit wird Hoffnung zu einer Kategorie des Weges, die eine Zukunft erschließt, die nicht aus den Gegebenheiten der Gegenwart abgeleitet werden kann, sie ist der Zeitlichkeit verpflichtet, aber transzendiert diese zugleich, Vorstellungen, die auch für eine Theologie der Spiritualität von Bedeutung sind. Psychologisch entscheidend ist nun, „dass der Mensch nur dann aus eigener Kraft nach einem Gut verlangt, wenn zwischen diesem Gut und ihm selbst eine Entsprechung besteht.“ 625 So kann von einem ontologischen Bezug der Hoffnung auf etwas Übernatürliches hin gesprochen werden, genauso wie von einer Entsprechung zwischen göttlichem Angebot und menschlichen Möglichkeiten zur Antwort auf das Gnadenangebot - jeweils wiederum aufgrund der Gnade. Dieses Entsprechungsverhältnis scheint mir außerordentlich wichtig zu sein zum Verständnis auch der Struktur der Hoffnung, die schließlich in ihrem dialektischen Spannungsgeschehen jeweils in beiden Sphären, die sie zu überbrücken hat, einen klaren ontologischen und epistemologischen Anhalt (Grund) benötigt. Als theologische Tugend ist nun Hoffnung selbstredend immer eine virtus infusa, eine gottgeschenkte und gottgewirkte Tugendkraft, vorrangig und im Grunde gerade keine virtus acquisita, keine selbstgewirkte und eigenmächtig errungene Tugend. Mit anderen Worten: Hoffnung ist eine durch und durch empfangende Tugend, was ihre Konstitution nach dem ewigen Gut, das zwar nicht in sich, aber für den Hoffenden zukünftig ist. Was nicht ersehnt wird, löst keine Hoffnung aus, sondern Furcht oder Verachtung. Dieses ‚desiderium‘ als Grundbestandteil der Hoffnung kommt aus der Gottesliebe, die eine Ähnlichkeit, Teilhabe, Darstellung, Gegenwärtigkeit, Wirksamkeit des Heiligen Geistes im Glaubenden ist. Durch diese Liebe wird das im Glauben angenommene Lebensziel als ein Gut für den empfunden, der sich danach ausstreckt, sofern sie bewirkt, dass der Glaubende von diesem Ziel angetan ist - afficitur ad finem; sonst käme ein zugehen darauf, d.h. ein Hoffen, überhaupt nicht zustande“. Die genannten Aspekte einer (scholastischen) Psychologie der Hoffnung sind unmittelbar anschlussfähig an moderne psychologische Theoriebildung und die hier zu entwickelnde Theorie integrativer Hoffnung, wie insgesamt die Psychologie des THOMAS äußerst gewinnbringend auszuwerten wäre. Vgl. dazu auch BRENNAN, R.E., Thomistische Psychologie. Eine philosophische Analyse der menschlichen Natur (Deutsche Thomas-Ausgabe, Ergänzungsband I), hrsg. von LIEVEN, K., Graz 1957. 623 Vgl. AQUIN, T. VON, S. th. II-II, q.17, a 1. 624 Vgl. FRIES, Hoffnung und Heilsgewissheit bei Thomas von Aquin, 143-144 (Hervorhebung im Original). 625 Vgl. ebd. 149. <?page no="268"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 268 anbelangt. Auch wenn sie tief in die naturalen Grundlagen menschlichen Daseins eingesenkt ist und zutiefst vitalisierend und mobilisierend wirkt und als Handlungskategorie wirklichkeitsverwandelnde Kraft besitzt, hat sie letztlich donativen Charakter. Diese donative Struktur des Verdankt-Seins und Sich-Bestimmen-Lassens 626 von anderswo her, muss sich auch am Hoffnungsbegriff selbst und dessen tragenden Komponenten auffinden lassen und nicht nur vom Gottesbegriff abgeleitet werden können. Auch wenn THOMAS bemüht ist, christliches Hoffen vom natürlichen Hoffen her zu verstehen, gibt es Unterschiede im Gegenstand (selbstentworfene und gottgegebene Zukunft) und im Verhältnis zur Zukunft (aus eigener Kraft und nicht besorgbar, gewinnbar, sicherbar oder leistbar). Dennoch: moralisch gesehen müsste es eine Approximation geben zwischen selbstentworfener und gottgegebener Zukunft. Solange der Mensch aber noch in und aus Zeit lebt, zeigt sich für das Verhältnis von Hoffnung und Zeitlichkeit, dass diese immer auch ein Erwarten und zeitliches Warten ist. Für Hoffnung gilt daher grundlegend, dass sie „die Seinsform des Sich-Zeitigens hat, in dem Gegenwart und Zukunft einander durchdringen.“ 627 Sowohl die radikale Zeitlichkeit gilt es hervorzuheben, als auch das Ineinander der Zeitstufen, die durch ein dialektisches Spannungsgeschehen vermittelt werden. Hoffnung nimmt nun, wie bereits erwähnt, ihren Ausgang am eigenen Heil, transzendiert aber mit einer ihr selbst inhärenten Bewegung diese Perspektive auf den anderen und letztlich auf alle anderen Menschen hin, was sich mit THOMAS VON AQUIN am Verhältnis der Hoffnung zur Liebe zeigen lässt. Es gibt eine Liebe, die im Hoffen am Werk ist: zunächst eine (ichbezogene) „interessierte Liebe“ 628 (amor futuri), die individuelles Heil sucht, dann auch eine selbstlose Liebe, die den anderen und Gott um seiner selbst willen sucht (spes informis). Liebe hört niemals auf, Glaube und Hoffnung hören in der Vollendung auf, weswegen auch die Liebe übergeordnet ist. Es kann mithin eine Bewegung vom Glauben über die Hoffnung zur Liebe ausgemacht werden, aber: Glaube braucht schon Hoffnung, denn jener gibt dieser zwar Inhalt und Beweggrund, drückt sich aber in dieser allererst aus; Hoffnung braucht schon Liebe zu ihrer Verwirklichung, denn diese ist in jener bereits wirksam und läutert sich - die Hoffnung dabei stärkend - von der interessierten zur nichtinteressierten Gottesliebe. Denn: „In der Ordnung der Vollkommenheit und des Wertes geht die Gottesliebe selbstverständlich der Hoffnung voran, wie die Verwirklichung über der Seinsanlage steht. Dagegen in der Ordnung des Werdens, im Heilsprozess, führt die Hoffnung [...] zur vollkommenen Liebe hin.“ 629 Die Einheit der drei göttlichen Tugenden wird in der Kraft des Heiligen Geistes bewirkt. 626 Vgl. dazu als moderne philosophische Analogie SEEL, M., Sich bestimmen lassen. Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie (stw 1589), Frankfurt am Main 2002. 627 Vgl. FRIES, Hoffnung und Heilsgewissheit bei Thomas von Aquin, 160. Weiter heißt es: „ Auch durch das Hoffen in gottgegebener Kraft wird das seelische Leben immer durchpulst von Antrieben, die auf die Verwirklichung eines noch nicht bestehenden Zustandes gehen und die Lebensführung und Lebensgestaltung durchziehen. Im Vorblick auf Kommendes sieht auch der Hoffende sich verwiesen auf die Zeit als die immerwährende Heraufkunft des Möglichen“ 628 Vgl. ebd. 157. „Zu denken ist also an eine von der Gnade eingegebene interessierte Liebe als Voraussetzung für die Hoffnung; und diese ist dann Weg und Hilfe zur nichtinteressierten Gottesliebe, die schließlich wieder verstärkend auf die Hoffnung zurückwirkt. [...] So stellt sich christliches Hoffen heraus als ein echtes, auf Gottes Macht und Güte und Verheißungen sich stützendes, zuversichtliches Erwarten des Lebens der zukünftigen Welt.“ 629 Vgl. ebd. 203-204 mit Bezug auf AQUIN, T. VON, Q. disp., a 1 ad 11. <?page no="269"?> 5. Mittelalterliche Knotenpunkte moraltheologischer Hoffnungslehre 269 THOMAS VON AQUIN schließt nun in der Summa (genauso wie bereits im Sentenzenkommentar) vom Beweggrund der Hoffnung auf deren Gegenstand (Zielgut), weswegen der Beweggrund das eigentlich Unterscheidende ist. Und der Beweggrund der Hoffnung ist fraglos Gott selbst. Gott als diesen Beweggrund der Hoffnung zu fassen, schafft nun eine Einheit aller Teilvollzüge der Hoffnung, etwa des Vertrauens, des Erwartens, etc. So muss die theologische Tugend der Hoffnung Gott sowohl als Gegenstand (Zielgut), als auch als Ermöglichungsgrund (Beweggrund) begreifen, um überhaupt die Zuversicht aufzubringen, schließlich danach vertrauend und erfüllungsgewiss auszulangen. 630 Aus der zeitlichen Perspektive formuliert, kann es als Grundzug der theologischen Tugend der Hoffnung gelten, eine Haltung zu ermöglichen, die das Erhoffte kraft der von Gott her ermöglichten Zuversicht und Gewissheit bereits vergegenwärtigt. Hoffnung liegt zudem auch nicht in einer Mitte (non in medio) 631 zwischen zwei Extremen, zwischen denen dann die Klugheit die rechte Mitte zu ermitteln hätte. Hier setzt sich THOMAS von antiker Tugendethik ab, die als Tugendmaß konstant die erwähnte Mitte zwischen den Extremen favorisierte. Entscheidend und für den Kontext der vorliegenden Fragestellung außerordentlich aufschlussreich sind freilich zwei Einsichten: (1) „Die Erreichbarkeit, nicht schon die Erreichung, gehört zum Begriff der Hoffnung.“ 632 Denn an diesem feinen Unterschied kann die famose (empirische) Unbedrohtheit christlicher Hoffnung festgemacht werden. Wenn die potentielle Erreichbarkeit den Gewissheitsgrund darstellt und gerade nicht notwendig deren Erreichung, dann kann daraus eine reale Unwiderlegbarkeit christlicher Hoffnung abgeleitet werden, die in ihren Potentialen zur Bewältigung von Welt kaum überschätzt werden kann. Wiewohl eine mindestens partielle Erreichung dennoch erlebbar sein muss, sonst wird auch in die Erreichbarkeit kein Vertrauen gesetzt werden können. (2) Nur die Annahme eines Erreichbaren löst eine 630 Vgl. FRIES, Hoffnung und Heilsgewissheit bei Thomas von Aquin, 179. „Hoffnung gibt es ja nur insofern, wie ein Gut in Reichweite des Strebevermögens liegt. Im Bereich des Natürlichen, der Dinge und des Geistigen, genügt nun die Gefühlsregung oder das muthafte Streben. Handelt es sich aber um ein übermenschliches, übergeschöpfliches, die natürliche Fähigkeit übersteigendes Gut, wie es die Glückseligkeit in Gott, also Gott selbst, ist, so muss eine Gnadengabe den Menschen und seinen Willen ergreifen und ihm das Auslangen danach und das feste Vertrauen in die Erreichbarkeit ermöglichen.“ 631 Vgl. AQUIN, T. VON, Q. disp., a 1 ad 7. Vgl. auch FRIES, Hoffnung und Heilsgewissheit bei Thomas von Aquin, 184-185. „Die theologische Tugend [...], wie der Glaube und die Liebe so auch die Hoffnung, liegt an sich nicht in der rechten Mitte. Sie hat nicht der nächsten und homogenen Norm menschlicher Sittlichkeit zu entsprechen; sie reicht vielmehr an die höchste und transzendente Norm des Sittlichen und Heiligen hinan [...], an Gott, von dessen mächtigem und gütigem Handeln der Hoffende sich gezogen und getragen weiß. [...] Keiner kann zu sehr auf Gott vertrauen [...], niemand kann überhaupt so sehr auf Gott vertrauen, wie der Beweggrund der Hoffnung - gleichwie bei Glauben und Liebe - es verträgt und verdient. Das Maß der Hoffnung an sich - wie des Glaubens und der Liebe (Deut 6,5) - ist, ohne Maß zu sein. Die rechte Mitte, die also nicht zur Wesensstruktur der christlichen Hoffnung gehört, ist aber wohl einzuhalten gegenüber dem Zweitinhalt der Hoffnung [...]. Der Mensch kann ein Zuviel im Sinne von Ungeziemendem, Unmöglichem von Gott erwarten [...]; das ist Vermessenheit; oder er verfällt in ein Zuwenig [...]; dann liegt Verzweiflung im religiösen Sinn vor, eigentlich auch eine ‚praesumptio‘ als Vorwegnahme der Nichterfüllung, der Unerfüllbarkeit. [...] Zu sehr (nimis) auf Gott hoffen kann keiner, wohl aber zuviel oder zuwenig (nimium) an Gaben von Gott erhoffen.“ 632 Vgl. FRIES, Hoffnung und Heilsgewissheit bei Thomas von Aquin, 164 (Hervorhebung vom Autor). <?page no="270"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 270 Bewegung aus. Denn: „Die theologischen Tugenden bewirken die Hinneigung zu Gott als dem übernatürlichen Lebensziel. [...] Zielgemäßes Tätigwerden unterstellt aber beim willentlich Handelnden einmal die Erkenntnis des Zieles und dann den Entschluss (intentio), auf das Ziel zuzugehen. Dieser Entschluss setzt ebenfalls ein Doppeltes voraus, erstens die Erreichbarkeit, da Unmögliches keine Bewegung, höchstens Sehnen auslöst; und zweitens das Gutsein, das Zusagende des Zieles, da nur Gutes den Entschluss herausfordert.“ 633 Der Beweggrund der Hoffnung garantiert nicht die fertige Erreichung, sondern die Erreichbarkeit des Zieles. Fehlgeschlagene (natürliche, aber echte) Hoffnungen führen nicht zur (sündigen) Verfehlung des Hoffenden. Vielmehr. „Solang die Hoffnung festgehalten wird, versagt ihr Beweggrund nicht und fehlt ihr die Gewissheit nicht.“ 634 Eine scholastische Theorie moralischer Motivation, die sich inzwischen andeutet, kann auf dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen am Hoffnungsbegriff abgelesen werden: „Wie nun der Hoffende in der Ordnung der Zielursache um des Hauptinhalts der Hoffnung willen auch die Heilsgaben und Hilfen erwartet, so darf er ebenfalls in der Ordnung der Wirkursache auch von Geschöpfen, in Unterordnung unter den Helfer- Gott als Beweggrund, Unterstützung erwarten und erbitten.“ 635 Hoffnung wird zwar in die Ganzheit personaler und übernatürlicher Vollzüge eingegliedert, in aller Regel aber dann, etwa bei BONAVENTURA, dem muthaften Streben (vis irascibilis) zugerechnet. THOMAS dagegen verlegt den Sitz der Hoffnung in den Willen im Allgemeinen, da er davon überzeugt ist, dass die beiden Richtungen des Strebevermögens, Begehrendes und Muthaftes, nicht grundverschiedene Fähigkeiten ausdrücken, sondern nur verschiedene Verwirklichungen des einen von Gott begnadeten Willens darstellen. 636 Hoffnung ist als Funktion des Willens und damit als Handlungskategorie par excellence zu bestimmen. 633 Vgl. ebd. 199-200. Weiter heißt es: „Darum muss der Mensch von dem Gott der Offenbarung zuerst den Glauben haben, der ihm das Ziel zur Kenntnis bringt, dann Hoffnung, sofern sie die Zuversicht in sich schließt, zu Gott als übernatürlichem Lebensziel zu gelangen und alles für dieses Gehen zu Gott Notwendige [...]; schließlich die Liebe zu Gott, die es mit sich bringt, dass Gott in seiner Herrlichkeit von dem, der sich für ihn entscheidet, als erfüllendes Gut, als Wert erfahren wird; gerade durch die Liebe wird der Mensch von Gott als seinem Ziel angezogen und angetan (affici), und ohne dieses Angetansein kommt kein Zielstreben zustande.“ Mit anderen Worten: Die Attraktivität des Guten kann als (Gottes-) Liebe interpretiert werden. 634 Vgl. ebd. 222. FRIES folgert: „Ist also die Gewissheit der Hoffnung wesentlich nicht eine solche des Wissens (cognitio) [...] und an sich auch nicht eine solche der tatsächlichen Verwirklichung (eventus) - noch nicht die Gewissheit der Geretteten und Vollgerechtfertigten, die [...] Erkenntnis- und Erfüllungsgewissheit in einem ist -, so bleibt ihr, als der nicht der Erkenntnisordnung, wohl der Pilgerschaft zugehörenden Tugend die Gewissheit der un-fehlbaren Hinordnung auf die helfende Allmacht Gottes und durch sie auf das Heil. [...] Für die Gewissheit der Hoffnung - und der nichtintellektuellen Tugend überhaupt - ist nicht charakteristisch ‚cognitio‘ [...] sondern ‚inclinatio‘.“ 635 Vgl. ebd. 185. 636 Vgl. ebd. 194-195. „Die begehrende und die muthafte Seelenkraft sind vom Willen nicht wesentlich verschieden, sondern nur funktionell, sofern der Wille als Strebevermögen im Vernunftbereich den niederen Kräften Impulse und Steuerung zu geben hat. Darum schließt der Wille sie auf höhere Weise dem Können und dem Vollzug nach ein. So lässt sich schließlich sagen, dass die Tugend der Hoffnung im Willen beheimatet ist als dessen Urfähigkeit, die, wie die Liebe, ihn für die Ausrichtung auf Gott als übernatürliches Lebensziel tauglich und tüchtig macht. [...] Wegen der Ausrichtung auf das Gute gehört sie [die Hoffnung, R.L.] nicht der Erkenntnisordnung zu, sondern dem Affektiven, das im Raum der Vernunft - ohne das der Gefühlsregung (passio) Eigene - der Wille ist. Der Wille aber ist - anders als der Sinn, der dem <?page no="271"?> 5. Mittelalterliche Knotenpunkte moraltheologischer Hoffnungslehre 271 Dezidiert christliche Hoffnung ist dabei durch und durch pneumatologisch 637 bestimmt, weswegen etwa das Gebet durch die Kraft des Heiligen Geistes auch als Ausdruck und Stärkung von Hoffnung 638 begriffen werden kann. Vom Bittgebet etwa heißt es in scholastischer Diktion: petitio est spei interpretativa 639 . Hoffnung, und damit auch Gebet, vollzieht sich letztlich durch und aus Gott, aber mit eigenem menschlichem Anteil und mit (eingesenktem) naturalen Anhalt an der Wirklichkeit. Die spezifische Gewissheit der Hoffnung ist nun nicht identisch mit der des Glaubens, das zu zeigen THOMAS sich an verschiedenster Stelle bemüht. Die Glaubensgewissheit ist im Intellekt verortet, die Gewissheit der Hoffnung im Affekt. Jene kann gar nicht fehl gehen, diese durchaus, wenn sie von außen gehindert wird. Jene bezieht sich auf etwas Komplexes, diese auf etwas Nichtkomplexes. Schließlich: „Der Glaubensgewissheit steht der Zweifel gegenüber, der Hoffnungsgewissheit der Mangel an Vertrauen (diffidentia) oder das Schwanken (haesitatio).“ 640 Die Hoffnungsgewissheit hat eine erkenntnismäßige Grundlage im Glauben und kennt eo ipso keine Heilsgewissheit, die nicht abgeleitet wäre aus der Glaubensgewissheit. Die Gewissheit der Hoffnung ist die Gewissheit, das richtige Ziel vor Augen zu haben, mithin Zielgewissheit oder „Richtungsgewissheit“ 641 . Da nun im Sinne eines äußersten Rahmens für menschliches Streben von einem Letztziel der Hoffnung (in Gott) gesprochen werden muss, kann Hoffnung als spezifische Tugend der eschatologischen Haltung bezeichnet werden - von außen potentiell unanfechtbar, von innen mit einer erstaunlichen Unbedrohtheit einhergehend. Hoffnung ist mithin die „Kraft der Erlösung“ und der Akt des Hoffens in klassischer Definition: certa exspectatio futurae beatitudinis. Mit anderen Worten: „In der Hoffnung gerettet sein, heißt nicht, nur eine Zukunft haben; es heißt vielmehr, diese Zukunft als schon begonnene und schon entschiedene haben und darum Sinn und Heil und alles Lebensnotwendige haben - und leben können; es heißt, die volle Wirklichkeit der Erlösung erst noch vor sich haben: Wir sind gerettet, und das erst in Hoffnung. Hoffnung ist angefan- Einzelgut zugeordnet ist - für das Gute einfachhin geöffnet, wie es dem Intellekt erfassbar ist, und darum ist bei ihm eine Unterscheidung in Begehrendes und Muthaftes gegenstandslos.“ 637 Vgl. ebd. 195. „Hoffen als Tugendvollzug ist in der Kraft des Heiligen Geistes eine Bewegung des gottfähigen Geistes: Motus mentis, quae est capax dei.“ 638 Vgl. AQUIN, T. VON, S. th. I-II, q. 83 (de oratione), a. 17. 639 Vgl. AQUIN. T. VON, S. th., II-II, q. 17 a. 2 obi 2. 640 Vgl. FRIES, Hoffnung und Heilsgewissheit bei Thomas von Aquin, 212 mit Bezug auf AQUIN. T. VON, In III sent., d 26 q. 2 a. 4 ad 5 (f 96vb). Weiter heißt es bei FRIES: „[...] Die Gewissheit der Hoffnung [...] bezieht sich - wie die der anderen Tugenden - nicht auf Erkennen, sondern auf Lieben und Streben, nicht auf den Intellekt, sondern auf das Herz; sie ist keine theoretische, sondern eine praktische Gewissheit, und sie besagt die Verwirklichung einer unfehlbaren Hin- Richtung auf ihr Ziel. Wohl beruht sie ganz auf der Gewissheit des Glaubens, von der sie sich herleitet, wie jede Bewegung des Strebevermögens Anteil bekommt an der sie lenkenden Erkenntniskraft.“ 641 Vgl. zweimal FRIES, Hoffnung und Heilsgewissheit bei Thomas von Aquin, 226 und 227. „Die der Hoffnung eigene Gewissheit ist gottgegebene Richtungsgewissheit.“ Für diese gilt (vgl. ders. 225): „In ihrer Ordnung - nicht als Erkenntnis- oder Erfüllungsgewissheit - ist die Gewissheit der Hoffnung absolut und unfrustrierbar. Hoffnung, solange sie nicht preisgegeben wird, versagt nicht und kann gar nicht fehlschlagen.“ Die spezifische Bestimmung der Hoffnungsgewissheit als Richtungsgewissheit kann exakt mit der These der vorliegenden Arbeit verknüpft werden, wonach Hoffnung als Antizipation von Sinn gefasst werden soll und Sinn sich als Orientierungsgröße zu erkennen gegeben hat, die einen gangbaren, d.h. erreichbaren Weg vor Augen stellt (sic! ). <?page no="272"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 272 gene Vollendung.“ 642 Die für die vorliegende Fragestellung entscheidenden Zusammenhänge im Schrifttum des THOMAS können über einen doppelten Entdeckungszusammenhang wahrgenommen werden, einmal über Reflexionen über die Hoffnung, wie sie oben bereits ausgewertet wurden, und zum anderen, wenn die Sache zwar präsent ist, expressis verbis aber eine andere Kategorie verhandelt wird - hier insbesondere die Reflexionen des THOMAS auf das (letzte) Glück des Menschen. 643 Demnach existiert ein desiderium naturale nach wahrer Glückseligkeit, das aber im Rahmen der innerweltlichen conditio humana nicht erfüllbar ist. Dass aber ein solcher appetitus naturalis ins Leere geht, ist für THOMAS bereits schöpfungstheologisch absurd. Er weist eine Glückshoffnung aus, die Einsicht in Nahziele, Fernziele und ein Letztziel kennt, eine ultima felicitas. Gott ist dabei der Garant und das diesbezügliche „Hoffen Sache des vom gläubigen Intellekt getragenen Liebens und Wollens.“ 644 Die Annahme eines Letztzieles entspricht nun auch der Struktur der Hoffnung, wonach die ihr inhärente Bewegung der Selbsttranszendenz einen Abschluss finden muss, soll sich die Bewegung selber nicht verlaufen und entwerten. Zudem kann dem Gedanken eine gewisse Rationalität bescheinigt werden. „Wenn der Mensch sein Ziel schon nicht aus eigener Kraft erreichen kann, so ist doch die Hoffnung höchst rational, dass uns die Glückseligkeit aus göttlichem Wirken zuwächst. Als Alternative bliebe nämlich dem Menschen, da sein desiderium naturale in seiner Vernunftbegabung gründet, nur eine Verzweiflung der Vernunft an ihr selbst. Aus Gründen der Selbsterhaltung hofft menschliche Vernunft auf göttliche Hilfe.“ 645 Wie das gehen könnte, vermag Vernunft aus sich nicht mehr einzusehen, denn dafür steht ein göttliches Gnadenangebot bereit, das bereits anzunehmen Ergebnis der Gnade ist. „Erst auf dem Boden, der durch Gnade bereitet ist, erwächst dann die Tugend christlicher Hoffnung im Sinne zuversichtlicher Vorwegnahme ewiger Seligkeit.“ 646 Menschliches Streben kennt qua appetitus rationalis eine Ausrichtung auf ein Endziel, das wir um seiner selbst willen wollen und das alle partikulären Strebensziele noch einmal umgreift und in dem alles menschliche Streben zu einer letzten Erfüllung kommt. Bis hierhin folgt THOMAS der antiken Philosophie des ARISTOTELES. Es kann von einem Strebensbzw. bei THOMAS bereits von einem Willens-Apriori gesprochen werden: der beatitudo als ultimus finis, als summum bonum oder als primum volitum intellectualis naturae 647 . Damit sind zugleich (sic! ) jeweils die entscheidenden Zielgrößen christlicher Hoffnung benannt. THOMAS nimmt nun eine für den vorliegenden Kontext wichtige Charakterisierung des Endziels bzw. des Verhältnisses des Menschen zum Endziel vor. „Wenn wir vom Endziel des Menschen sprechen, hinsichtlich des Erreichens, 642 Vgl. FRIES, Hoffnung und Heilsgewissheit bei Thomas von Aquin, 227 mit Bezug auf AQUIN, T. VON, S. th. II-II, q. 24 a. 3. Ad 2. 643 Vgl. zur Auseinandersetzung mit dem Glücksbegriff ausführlich AQUIN, T. VON, S. th. I-II, q. 1-10. 644 Vgl. FRIES, Hoffnung und Heilsgewissheit bei Thomas von Aquin, 230. 645 Vgl. FORSCHNER, M., Über das Glück des Menschen. Aristoteles, Epikur, Stoa, Thomas von Aquin, Kant, Darmstadt 1993, 98. 646 Vgl. FORSCHNER, Über das Glück des Menschen, 98. Vgl. auch AQUIN, T. V., S. th. I-II, q. 69, a 2 co. [...] spes futurae beatitudinis potest esse in nobis propter duo: primo quidem propter aliquam praeparationem, vel dispositionem ad futuram beatitudinem, quod est per modum meriti: alio modo per quamdam inchoationem imperfectam futurae beatitudinis in viris sanctis etiam in hac vita: aliter enim habetur spes fructificationis arboris, cum virescit frondibus; et aliter cum iam primordia fructum incipiunt apparere. 647 Vgl. AQUIN, T. VON, S. c. G. III, 28.25.26. <?page no="273"?> 5. Mittelalterliche Knotenpunkte moraltheologischer Hoffnungslehre 273 Besitzens, des Umgangs welcher Art auch immer mit der Sache, die als Ziel erstrebt wird, so gehört zum Endziel etwas von Seiten der Seele des Menschen: denn der Mensch erreicht sein Ziel durch die Seele. Die Sache selbst also, die als Ziel erstrebt wird, ist das, worin beatitudo besteht und was glücklich macht; doch das Erlangen dieser Sache wird beatitudo genannt. Folglich muss man sagen, dass beatitudo etwas ist, was der Seele gehört, dass aber das, worin beatitudo Bestand hat, etwas außerhalb der Seele ist (sed id, in quo consistit beatitudo, est aliquid extra animam).“ 648 Auch und gerade in der Erfüllung des höchsten und letzten Zieles hat menschliches Streben mithin aus einer systematischen, an Strukturen interessierten Perspektive eine (selbst-) transzendente Struktur - und das Medium, der Träger dieser Struktur ist Hoffnung, weswegen aus der Einsicht in die Struktur menschlichen Strebevermögens zugleich Einsichten in die Hoffnungsstruktur menschlicher Handlungswirklichkeit gewonnen werden können und umgekehrt aus dieser das Handlungssubjekt kennzeichnenden Hoffnungsstruktur etwas über das Wesen des Menschen selbst. 649 Wiewohl ihr Grund außerhalb des Menschen liegt, extra se, entspricht also das Glück als Letztziel dem menschlichen Streben zugleich auf das Genaueste, hat nicht nur Teil an ihm, sondern ist nachgerade ein Teil von ihm, weswegen seine Erreichung als außerordentlich attraktiv und als Erfüllung des ganzen menschlichen Seins erlebt wird. Mit anderen Worten: Der Mensch ist ein glücksverwiesenes Wesen 650 . Er erlebt sich allerdings auf ein Glück verwiesen, über das er nicht verfügen kann, weswegen er hofft - mit grundständigen Auswirkungen auf seine gegenwärtige Handlungspraxis, der dadurch eine basale Aussicht auf Sinn zuwächst, da die entsprechenden Hoffnungen nicht nur vernünftig sind, sondern auch den Grundbedingungen seiner Existenz eine humane Bestimmung verleihen, was schließlich sinnerschließend wirkt. Nochmals zugespitzt heißt das, dass ein solches Glück als Sinnoption zu begreifen ist, die im Modus der Hoffnung (Handlungs-) Relevanz bekommt, indem sie einen finalen und sinneröffnenden Rahmen für das Handeln gewährt - auch und gerade, aber nicht ausschließlich als Hoffnung. Damit wird die These dieser Arbeit erreicht, wonach Hoffnung als Antizipation von Sinn zu begreifen ist. Eine zentrale Voraussetzung sei allerdings nochmals prononciert benannt: „Die in diesem Leben faktische Unerfülltheit und die in ihm prinzipielle Unerfüllbarkeit der Kriterien für den Vollsinn von ‚Glück‘ verweisen aber nicht von selbst - sozusagen automatisch - auf ein vollkommenes Glück nach diesem Leben, sondern nur, wenn die Dynamik, welche dem Glücksstreben innewohnt, als über dieses Leben hinausweisend verstanden wird und wenn der Mensch in diesem Leben als homo viator begriffen wird. Der moralphilosophische Tatbestand gewinnt also erst durch die Rückbindung an ein bestimmtes Menschenbild, durch die Vermittlung einer bestimmten Anthropologie, 648 Vgl. FORSCHNER, Über das Glück des Menschen, 99, nach AQUIN, T. VON, S. th. I-II, q. 69, a 2 co. FORSCHNER schreibt weiter: „Damit ist die Zielbestimmung der griechischen Philosophie in ihrem Kern verändert. Menschliche Glückseligkeit hat ihren Bestand nicht in einer durch Selbstgestaltung errungenen Exzellenz der Seele; vielmehr liegt die Quelle menschlichen Glücks außerhalb der Seele; und diese ist in ihrem Glück intentional auf etwas anderes bezogen, dem sie alles verdankt.“ 649 Vgl. dazu ausführlich AQUIN, T. VON, S. th. I-II q. 18-21 (Über das sittliche Handeln, lt./ dt., hrsg. von SCHÖNBERGER, T., Stuttgart 2001). 650 Vgl. BORMANN, F.-J., Natur als Horizont sittlicher Praxis. Zur handlungstheoretischen Interpretation der Lehre vom natürlichen Sittengesetz bei Thomas von Aquin, Stuttgart 1999, 61-80. <?page no="274"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 274 Verweischarakter für die Offenbarungswahrheit des Glücks des jenseitigen Lebens.“ 651 Die hier völlig zu recht erwähnte Rückbindung des Glücksbegriffs an die Natur des Menschen erlaubt es, gegen subjektivistische Vorstellungen vom Glück begründet vorzugehen und dabei auch der darauf Bezug nehmenden Hoffnung ein objektives und zudem vernunftgemäßes Korrelat zu geben. Daher geht mit einer Reflexion auf die Grundbedingungen des homo sperans zugleich eine Einsicht in die Grenzen der Vernunft und die Grenzen des vom Menschen her eo ipso Erreichbaren einher, wiewohl er sich dennoch und zudem vernünftig darauf verwiesen erleben kann - und deswegen ein unaufgebbar Hoffender ist. Diese Dialektik gilt es nun genauer zu betrachten, um dabei die Struktur und Funktion der Hoffnung noch näher bestimmen zu können. Das erwähnte desiderium naturale des Menschen verlangt zur Vermeidung eines regressus in infinitum einen finalen Abschlussgedanken, der zugleich die Bestimmung des Menschen zur Erfüllung führt und in irgendeiner Weise zugänglich ist, ob verdankt oder eigenmächtig. Für THOMAS ist das ein umfassendes Glück bei Gott. In der Auseinandersetzung mit ARISTOTELES differenziert THOMAS nun zwischen der grundlegenden Glücks-Anlage des Menschen und den Möglichkeiten, diese eo ipso zu realisieren. Diese Trennung erlaubt es THOMAS, ARISTOTELES zu integrieren und zugleich die Unvollkommenheit irdischen Glücks aufzuweisen: der Mensch ist demnach auf eine (Glücks-) Hoffnung angelegt, die innerweltlich nicht geleistet und verbürgt werden kann. 652 Eine Philosophie kann aus sich die Notwendigkeit dieser Hoffnung zwar aufweisen, aber vermag letztlich keine im engeren Sinne begründete Antwort mehr darauf zu geben. Damit wird nicht allein die Kohärenz und Begründungskraft der christlichen Perspektive aufgewiesen, sondern sowohl gegen ein elitäres Leistungsglück, als auch gegen eine resignative Selbstbescheidung irdischen Glücks ein christliches Glück argumentativ stark gemacht, das prinzipiell nicht anders als auf Hoffnung angelegt gedacht werden kann. Begründungspflichtig an dieser Konzeption, das darf redlicherweise nicht verschwiegen werden, ist die Einheit und Einzigkeit des favorisierten Letztzieles. THOMAS geht nämlich davon aus, dass alle Handlungen eines Menschen eine Kette bilden und alle Menschen letztlich das gleiche Endziel haben. Der theologischen und philosophischen Begründungspflicht nachzukommen, muss an anderer Stelle ausführlich erfolgen, die Notwendigkeit, die erwähnte Einheit in der thomasischen Konzeption hervorzuheben, auch und gerade für einen starken Hoffnungsbegriff insgesamt, scheint mir aber unumgänglich, 651 Vgl. KLEBER, H., Glück als Lebensziel. Untersuchungen zur Philosophie des Glücks bei Thomas von Aquin, Münster 1988, 128 und weiter 129. „Wo Aristoteles die religiöse Auffassung vom Glück als Geschenk der Götter entmythologisiert, verweist Thomas die moralphilosophische Auffassung vom Glück als Ergebnis menschlicher Tüchtigkeit in ihre Schranken, indem er menschliches Glück als indirektes, mittelbares Geschenk Gottes ausweist, weil menschliche Tüchtigkeit und menschliches Gelingen das Wirken Gottes als Ermöglichungsgrund und Maßstab voraussetzen. Der Mensch ist für Thomas also nicht so sehr seines Glückes Schmid, sondern vielmehr Mitarbeiter, Mitgestalter seines Glückes, das ihm zuerst und hauptsächlich als Geschenk Gottes und als Lohn für ein tugendgemäßes Leben zuteil wird.“ 652 Vgl. zum Folgenden KLEBER, Glück als Lebensziel, 296ff. „Gegen Aristoteles selbst aber konnte er nur auf der Ebene der natürlichen Vernunft sachliche Einwände geltend machen: die phänomenologisch nachweisbare, anthropologische Fundierung des Glücksbegriffs im desiderium naturale, das über jedes innerweltliche Erfüllungsangebot hinaustreibt, und die auf diesem Hintergrund mögliche Trennung der Fragen, erstens nach der generellen Möglichkeit menschlichen Glücks und zweitens nach dem konkreten Vermögen des Menschen, sein Glück zu bewerkstelligen.“ <?page no="275"?> 5. Mittelalterliche Knotenpunkte moraltheologischer Hoffnungslehre 275 genauso wie erste Hinweise auf den außerordentlich luziden und vernunfttheoretisch starken Begründungsversuch des THOMAS. Der Aquinate verortet nun die erwähnte Begründung der Einheit des Letztziels menschlichen Strebens auf dreierlei Weise, wobei nur erstere an dieser Stelle näher beleuchtet werden soll: (1) metaphysisch 653 , (2) naturphilosophisch und (3) sprachlogisch, zum einen als Vollendungsbegriff, zum anderen als Prinzip natürlichen Wollens und zum dritten als klassenbildendes Klassenmerkmal zielgerichteten Handelns. 654 Die Zielbestimmtheit und die Orientierung menschlichen Lebens auf das Letztziel Glück hin kann als „formales Apriori“ 655 des Handelns begriffen werden. An dieser Stelle wird vom Glücksstreben mit ARISTOTELES 656 als einer natürlichen Bedingung ausgegangen, die zunächst noch ohne Offenbarungsbegriff zu lesen ist. „Den Bezug zum Letztziel menschlichen Lebens, der in jedem aktuellen Wollen präsent ist, kann man ebenso wenig wie die Einheit und Einzigkeit des Letztziels menschlichen Lebens am Akt des Wollens, in der empirischen Mannigfaltigkeit konkreten Wollens feststellen. […] Das Letztziel menschlichen Lebens ist also gar kein Handlungsziel im üblichen Sinn. Es ist kein Ziel aktuellen Wollens, das entweder als Mittel oder als Ziel 653 Vgl. MOLTMANN, J., Christliche Hoffnung: Messianisch oder transzendent? Ein theologisches Gespräch mit Joachim von Fiore und Thomas von Aquin, in: Münchner Theologische Zeitschrift, 33 (1982) 4, 241-260, der eine Alternative zwischen messianischer und transzendenter Bestimmung christlicher Hoffnung erkennen möchte, insbesondere in Auseinandersetzung mit einigen wenigen Quaestiones aus der Summa. Wiewohl es nun völlig berechtigt ist, gegenüber einseitigen metaphysischen Spekulationen die biblischen Grundlagen des Messianismus als Grundlegung christlicher Hoffnung zu begreifen, so illegitim erscheint es mir, diese in einen Gegensatz zu bringen zu einer philosophischen Aufklärung entsprechender metaphysischer Grundlagen. Denn nicht nur, dass die Gefahr besteht, die Grenzen zwischen Epistemologie und Ontologie zu verwischen, damit würde auch alle Metaphysik in biblizistischer Manier als unbiblisch, mithin als ungeschichtlich, diskreditiert, was THOMAS nicht gerecht werden würde. Nicht beschäftigen soll hier allerdings die Frage, inwieweit THOMAS biblische Eschatologie tatsächlich aufgenommen hat. Außer Frage steht aber, dass eine Freilegung deren metaphysischer Voraussetzungen alle theologische Berechtigung hat, wenn damit nicht eine Relativierung derjenigen Größen einhergeht, auf die diese sich eigentlich bezieht. Vgl. zur Relevanz des THOMAS für die Eschatologie auch DE LETTER, P., Hope and charity in St. Thomas, in: The Thomist. A speculative quarterly review of theology and philosophy XIII (1950), 204-248 und 325-352. KÜNZLE , P., Thomas von Aquin und die moderne Eschatologie, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie, 8 / 1962, 109-120. 654 Vgl. AQUIN, T. VON, S. th. I-II, q 1 ff. Vgl. dazu auch KLEBER, Glück als Lebensziel, 176-178. 655 Vgl. KLEBER, Glück als Lebensziel, 171 und 210. „Nur aufgrund seines Charakters, das formale Apriori menschlichen Handelns zu sein, kann der Glücksbegriff überhaupt zur Grundlegung einer Ethik dienen. Ein formales Apriori menschlichen Handelns genügt aber noch nicht zur Grundlegung einer Ethik, die bestimmte, durch eine Offenbarung vorgegebene, inhaltliche Normen vorschreiben oder empfehlen will. Deshalb ist es zur Grundlegung einer theologischen Ethik, die um den Glücksbegriff zentriert ist, unabdingbar, auch ein materiales Apriori vorzunehmen und den Glücksbegriff auch inhaltlich zu interpretieren. Die inhaltliche Interpretation des Glücksbegriffs ist für die Theologie grundlegend von der Offenbarung bestimmt.“ WOLF- GANG KLUXEN versucht noch darauf hinzuweisen, dass es bei THOMAS neben einer am Glücksbegriff orientierten Tugendethik auch eine Gesetzesethik gibt, die vom ersten praktischen Prinzip her entfaltet wird. Vgl. KLUXEN, W., Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, Hamburg 2 1980, 225-241. 656 Vgl. KLUXEN, W., Glück und Glücksteilhabe. Zur Rezeption der aristotelischen Glückslehre bei Thomas von Aquin, in: BIEN, G. (Hrsg.), Die Frage nach dem Glück, Stuttgart 1978, 77-91 und erneut KLEBER, Glück als Lebensziel. <?page no="276"?> V. Moraltheologische und moralphilosophische Grundperspektiven der Hoffnung 276 beabsichtigt und ausgeführt bzw. erreicht werden kann, sondern es ist in jedem aktuellen Wollen als jeweils entferntestes Ziel a priori mitgewollt.“ 657 Mit anderen Worten: In jedem Wollen steckt eine apriorische Hoffnungskomponente - als Relation zum Letztziel und zum Ganzen des Lebens 658 . Damit ist etwas an den jeweiligen Zielen und Zwecken benannt, das über diese auf den Rahmen und das Letzte der Existenz verweist, nicht die Zwecke selbst. Korrespondierend zur formal-apriorischen Hinordnung des Menschen auf ein Glück als Letztziel allen Strebens ist ein „materiales Apriori“ 659 des Handelns auszuweisen, das aus theologischer Perspektive eine inhaltlich-materiale Bestimmung durch Offenbarung darzustellen hat. Das erwähnte formale Glück wird material als Wesensschau Gottes verstanden - beides wird allerdings im Medium der Hoffnung real vergegenwärtigt. Als Ertrag kann daher gelten: Die formal-apriorische Orientierung auf ein Hoffnungs-Glück hin ist inkommensurabel, verlangt aber notwendig, auch um handlungswirksam werden zu können, eine material-apriorische Konkretion. Wieder zurück zur bisherigen Argumentation: THOMAS nimmt eine Interpretation der Nikomachischen Ethik des ARISTOTELES als Theorie unvollkommenen Glücks vor und will die Brüchigkeit des vom Menschen Erreichbaren plastisch vor Augen führen. Seine Argumentation nimmt ihren Ausgang von der Moralphilosophie und führt über die Anthropologie zur Theologie, gerade nicht umgekehrt. Damit wird die schon mehrfach erwähnte Angewiesenheit dezidiert (moral-) theologischer Reflexionen auf Anthropologie 660 , die ihrerseits immer wieder je neu interdisziplinären Integrationsbemühungen ausgesetzt zu werden hat, von prominenter Seite fundiert untermauert. Für THOMAS steht nun die Identifikation „der Frage nach dem Letztziel menschlichen Lebens mit der Frage des Menschen nach seinem Glück“ 661 außer Frage. Dabei kann das Glück als Scharnier zwischen praktischen und theoretischen Anliegen fungieren, genauso wie die Hoffnung als dialektische Vermittlung theoretischer und praktischer Vernunft gedacht werden muss, was insgesamt für eine hoffnungstheoretische Interpretation des Glücks spricht. 662 Als wichtige Leistung des THOMAS folgt daraus, dass irdisches Glück als eigenständige Größe theologisch aufgenommen und entfaltet wurde. 663 Damit geht auch eine Würdigung des Glücks dieses Lebens einher, das nicht einfach als Defizitform jenseitigen Glücks marginalisiert oder moralisiert wird, sondern der theologischen Beurteilung ein wichtiges Maß gibt. „Das Glück dieses Lebens ist nach Thomas nicht vom Standpunkt einer beatitudo perfecta als beatitudo imperfecta abzuqualifizieren, sondern umgekehrt: Die beatitudo perfecta ist erst im Kontrast zu dem sich selbst als unvollkommen erwei- 657 Vgl. ebd. 186-187. 658 Vgl. WIELAND, G., Das Ganze des Lebens: Lebensplan und Individualität, in: HONNEFEL- DER, L. (Hrsg.), Sittliche Lebensform und praktische Vernunft, Paderborn et al. 1992, 143-160. 659 Vgl. KLEBER, Glück als Lebensziel, 192. 660 Vgl. ebd. 93ff. 661 Vgl. ebd. 166. 662 Vgl. ebd. 163-164. „Die doppelte, theoretische wie praktische Hinsicht auf die Glücksproblematik zu Beginn der Secunda pars entspricht nun genau derjenigen Sichtweise, die sich aus der Konzeption der Theologie als Wissen um unser Heil ergibt. Insofern nämlich Gott das letzte Ziel des Menschen ist als Endpunkt seiner Bewegung zu Gott und insofern Glück als das Letztziel des Menschen in Gott besteht, ist Glück eine res divina, die nur spekulativ erkannt werden kann; insofern aber auch letztes Ziel und letzter Zweck unseres Handelns ist und insofern wir im Handeln unser Heil erfassen oder verfehlen, ist Glück auch eine praktische Größe und gehört in den Bereich praktischer Erkenntnis.“ 663 Vgl. ebd. 289. <?page no="277"?> 5. Mittelalterliche Knotenpunkte moraltheologischer Hoffnungslehre 277 senden Glück dieses Lebens als vollkommen zu qualifizieren. Aus der theologischen Beurteilung kann nicht der anthropologische Sachverhalt abgeleitet werden, sondern umgekehrt setzt die theologische Beurteilung einen anthropologischen Sachverhalt als gegeben voraus. Das unvollkommene Glück dieses Lebens in philosophischer Reflexion zunächst als anthropologischen Sachverhalt erwiesen und dann erst theologisch interpretiert zu haben, ist die große theologiegeschichtliche Leistung des THOMAS VON AQUIN, die in den meisten Kontexten, in denen er die Glücksproblematik behandelt, im Vordergrund seines Interesses steht. Erst diese Leistung ermöglichte die Ausarbeitung einer um den Glücksbegriff zentrierten theologischen Ethik, in der die natürlichen sittlichen Gegebenheiten zunächst als solche anerkannt und dann erst theologisch interpretiert werden.“ 664 Für einen starken Hoffnungsbegriff ist schließlich beides wichtig, sowohl eine strikte metaphysische Verankerung, als auch eine naturale Einzeichnung in Weltwirklichkeit. Ansonsten könnte die dialektische Hoffnungsspannung allenthalben leicht zerreißen, anstatt Daseins- und Weltbewältigung zu ermöglichen. So ist auch das irdische, wie das transzendentale Glück ein eigenständiges Hoffnungsgut neben den moralischen Hoffnungen. IMMANUEL KANT musste sich daher dann in der Aufklärung bemühen, beide Aspekte im Begriff des höchsten Gutes und mittels der Hoffnung wieder zu versöhnen. Der Weg zum Glück führt nun hoffnungstheoretisch nicht allein über die Spannung von naturaler Grundlage und metaphysischer Begründung, sondern zentral auch über das Verhältnis von göttlicher Befähigung und menschlicher Leistung. „Aus der Befähigung, im Erkennen den Begriff des ganzen und vollkommenen Guten zu erfassen und dieses Gute im Wollen als Ziel anzustreben,