Dante und die Templergnosis
0616
2012
978-3-7720-5443-3
978-3-7720-8443-0
A. Francke Verlag
Joseph Peter Strelka
Dantes Göttliche Komödie, eines der größten Werke der Weltliteratur, ist erst nach siebenhundert Jahren der Auslegung und Forschung als dichterisches Zeugnis der untergegangenen geistigen Tradition der Templergnosis erkannt worden. Der erste und wichtigste Bahnbrecher dieser Entdeckung, Robert John, hat die
Templergnosis eine Glückseligkeitslehre genannt. Das vorliegende Buch baut zwar auf
Robert John und anderen auf, geht jedoch in dieser Richtung konsequent weiter als alle bisherigen Bücher. dem eigentlichen Buch selbst geht ein Einführungsteil voran, welcher Elemente der Ideen von Vorläufern bis zum Frühkult zurück verfolgt. Den Abschluss bildet ein kleiner dritter Teil über die einzigen unmittelbar an die Templergnosis anschließenden Strömungen ihres Fortlebens bis heute.
<?page no="0"?> E dition Patm os Joseph P. Strelka Dante und die Templergnosis <?page no="1"?> E dition Patm os Herausgegeben von Joseph P. Strelka Band 16 <?page no="3"?> Joseph P. Strelka Dante und die Templergnosis <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2012 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach Druck und Bindung Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8443-0 <?page no="5"?> Für Ilona Von da ab war mein Schaun von höherm Range Als unsre Sprache; solchem Anblick weicht sie, Wie auch Gedächtnis solchem Überschwange. Dante, Das Paradies, 33, 55 - 57 <?page no="7"?> Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX I. Zur Entstehung der Templergnosis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1. Der Orden und seine Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2. Vorläufer der Templergnosis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 3. Templergnosis und Gralsdichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 II. Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 1. Präambel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2. Die templergnostische Commedia und ihr Aufbau . . . . . . . . . . . . . 76 3. Dantes Hölle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 4. Dantes Läuterungsberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 5. Dantes Paradies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 III. Zum Fortwirken der Templergnosis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 <?page no="9"?> Vorwort Je größer eine Dichtung ist, desto größer sind die Schwierigkeiten, sie ganz zu erfassen. Dantes Göttliche Komödie ist eine der größten Dichtungen der Welt. Daher ist es nicht überraschend, daß etliche Jahrhunderte der Kommentierung und später wissenschaftlicher Interpretationen immer neue Einsichten erschlossen haben und noch immer erschließen. Eine der wesentlichsten Einsichten in dieses große Werk ist erst mehr als sechs Jahrhunderte nach seiner Fertigstellung an den Tag getreten. Dabei ging es nicht nur um - wenn auch interessante - so doch kleinere Details, sondern um das Wesentlichste seines zentralen Sinns: die Templergnosis. Die Entdeckung dieses überaus wichtigen Hauptbezugs fällt - von Ausnahmen abgesehen - in das 20. Jahrhundert. Nun hat dieser Symbiose - von großen Werken der Dichtung einerseits und von Gnostik und Mystik anderseits - durch Jahrzehnte mein besonderes Interesse gehört. Als ich in der Reihe meines komparatistischen Jahrbuches über Literarturtheorie den vierten Rahmenband herausgab, da war dieser dem Thema gewidmet, welche großen Dichtungen der Weltliteratur nur durch die Kenntnis der ihnen zugrunde liegenden, jeweiligen mystischen oder gnostischen Traditionen zu verstehen sind. Vielleicht war es kein Zufall, daß ich als Schlüsselwort für den ganzen Band einen Begriff wählte, den Dante im Widmungsschreiben des letzten Teiles seiner Weltdichtung, dem Paradies, an Can Grande verwendet hat. Der Band trägt nämlich den Titel Anagogic Qualities of Literature 1 . Der Begriff „ anagogisch “ schien mir darum besonders geeignet, weil es im Sinn Dantes sowohl die Worte „ mystisch “ als auch „ gnostisch “ umgreift, die sich teilweise selbst wieder überlagern. Schon für den ersten Band desselben Jahrbuches Perspectives of Literary Symbolism hatte ich mit dem dichterischen Symbolbegriff einen Gegenstand behandelt, der besonders auch für die Darstellungsform und Ausdrucksgestalt gerade jener anagogischen Eigenschaften von besonderer Wichtigkeit ist. Bereits in diesem ersten Band hat der Romanist Robert John einen Beitrag über die Dame als symbolische Figur in der italienischen Dichtung des Mittelalters geschrieben. In diesem Aufsatz weist John auch auf die Figur der Beatrice in Dantes Jugendwerk Vita Nuova hin, die auch in seiner Commedia eine Hauptrolle spielt. Dieser Beitrag enthält auch die folgenden beiden Sätze: 1 Joseph Strelka (Hg.): Anagogic Qualities of Literature. (=Yearbook of Comparative Criticism, Vol. IV) University Park and London 1971 <?page no="10"?> Daher liest man in Dantes Vita Nuova (XXIX), daß die hochedle Donna Beatrice nach der arabischen Zeitrechnung in der ersten Stunde des neunten Tages des Monats, nach der syrischen Zeitrechnung im neunten Monat des Jahres und nach christlicher Zeitrechnung in der neunten Dekade des Jahrhunderts starb (1290). Dante hatte die orientalischen Kalender im Haus der Templer in Florenz ohne Schwierigkeit lernen können. 2 Bei genauem Lesen gehen aus diesen zwei Sätzen bereits etliche Dinge hervor: Erstens, daß Dante mit der Zahlenmystik der Templer vertraut war, zweitens, daß die Symbolzahl Beatrices die Neun gewesen ist, drittens, daß Dante diese Zusammenhänge wohl im Florentiner Templerhaus gelernt hat und viertens, daß der Orden als Träger der Templergnosis dafür notwendige Voraussetzung gewesen ist. Auch darüber hinaus enthalten die beiden Sätze, durch die Kombination von drei verschiedenen Zeitrechnungen für ein einziges Datum in Dantes Eigenart zu schreiben, den nachdrücklichen Hinweis auf die synkretistische Eigenschaft dieser Templergnosis und damit auf ihre gesamtmenschheitliche Bedeutung und ihre weltumspannende Absicht. Der große Dante- Kenner und katholische Ordensgeistliche John hat selber ganz im Stil des von ihm so verehrten Dichters Dante in zwei Sätze mehr verpackt, als bei flüchtiger Lektüre sichtbar werden kann. Robert John hat ja auch eines der bedeutendsten Bücher über die Templergnosis bei Dante geschrieben. 3 Ein zweites, kaum weniger wichtiges, stammt von Arthur Schult. Darüber hinaus ist über ein halbes Dutzend von Büchern in verschiedenen Sprachen erschienen, auf denen ich dankbar aufbauen konnte und die in diesem Buch alle genannt werden. Dante war eingeweihter Templer und seine Göttliche Komödie ist das glänzendste überlebende Zeugnis der Templergnosis. Aus diesem Grund ist es für ein wirkliches Verständnis dieser großen Dichtung von unabdingbarer Voraussetzung, das Wesentliche über die Templergnosis zu kennen. Diese Geistigkeit aber ist wieder untrennbar mit der Geschichte des Ordens verbunden, von seiner faszinierenden Gründung bis zum entsetzlichen Ende seiner Verfolgung und seinem Untergang. Diese Verfolgung ist aber wieder eng verbunden mit der Entfesselung eines ideologischen Massenwahns, wie er heute in verschiedenen Formen hochaktuell ist. Denn er ist es im Grunde, der das 20. Jahrhundert in Finsternis gestürzt hat. Das erklärt nicht nur den weiteren Sinn dieses Buches. Es war allerdings auch oftmals ideologische Beschränktheit, welche in der Flut der Templerbücher der letzten Jahrzehnte diese geprägt hat. 2 Joseph Strelka (Hg.): Perspectives of Literary Symbolism. University Park und London 1968, S. 176 3 Robert John: Dante. Wien 1946. Vgl. auch Fußnote 29, S. 77 X Vorwort <?page no="11"?> Dieses Buch möchte eine literatur- und geistesgeschichtliche Arbeit sein, der es um die Wahrheit vergangenen historischen Geschehens geht, und nicht ein ideologischer Traktat. Wenn hier böses Unrecht der Kirche ohne Beschönigung beschrieben wird, dann muß darauf hingewiesen werden, daß im Jahr 2000 das Provinzkapitel der Dominikanerprovinz Teutonia folgende Erklärung veröffentlicht hat: Deutsche Dominikaner waren nicht nur in die Inquisition verstrickt, sondern haben sich aktiv und umfangreich an ihr beteiligt. Historisch gesichert ist die Mitwirkung an bischöflichen Inquisitionen und an der römischen Inquisition. Unabhängig von den vielleicht manchmal nachvollziehbaren historischen Gründen für die Mitwirkung erkennen wir heute die verheerenden Folgen dieses Tuns unserer Brüder. Wir empfinden dies als ein dunkles und bedrückendes Kapitel unserer Geschichte. . . . Die Geschichte dieser Opfer - namenlos und vergessen - können wir nicht ungeschehen machen. Wiedergutmachung ist unmöglich. Uns bleibt die Verpflichtung zur Erinnerung. Wir wissen, daß der Geist der Inquisition und Hexenverfolgung - Diskriminierung, Ausgrenzung und Vernichtung Andersdenkender - auch heute latent offen in Kirche und Gesellschaft unter Christen und Nicht-Christen lebendig ist. Dem entgegenzutreten und sich für eine umfassende Respektierung der Rechte aller Menschen einzusetzen, ist unsere Verpflichtung, die wir Dominikaner den Opfern der Inquisition und Hexenverfolgung schulden. Das Provinzkapitel fordert alle Brüder unserer Provinz auf, unsere dominikanische Beteiligung an Inquisition und Hexenverfolgung zum Thema in Predigt und Verkündigung zu machen. 4 Diese ebenso anerkennenswerte wie denkwürdige „ Erklärung “ ist doppelt bemerkenswert, da sie außer dem Schuldbekenntnis überdies auch noch den immer weiter schwelenden Haß sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kirche anerkennt, brandmarkt und ihm entgegentritt. Auch wenn die Kirche heute nirgends mehr das Recht zu Folter und Morden hat, ist der Haß böse und gefährlich genug. Denn es haben sich in der Zwischenzeit noch weiter ausgebreitete und noch grausamere säkulare Inquisitionen gebildet, besonders aber keineswegs ausschließlich in faschistischen und kommunistischen totalitären Staaten, welche die alte kirchliche Inquisition abgelöst haben und in denen nun auch Mitglieder der Kirche oft selbst die Opfer sind. Genauso richtig, wie jene Erklärung der deutschen Dominikaner ist, wäre nichts falscher, als aus dem alten Unrecht neuen Haß gegen das alte Unrecht und alles Katholische abzuleiten. Ein rückwirkender Haß gegen die Kirche könnte nur neue Verbrechen schaffen. Alles, was Hitler mit seinem nationalistischen Haß erreicht hat, war, daß er Deutschland vernichtet und verkleinert hat. Überdies ist ihm die Auslösung einer Barbarisie- 4 http: / / www.dominikaner.de/ themen2.php XI Vorwort <?page no="12"?> rungswelle gelungen, die weit über 1945 hinaus angedauert hat. Alles, was einige wahnwitzige Führer der Serben erreicht haben, als sie am Ende des 20. Jahrhunderts den Ausgang der Schlacht am Amselfeld am Ende des 14. Jahrhunderts rächen wollten und was zu einem Genozid an den ebenso unschuldigen wie friedfertigen Bosniern geführt hat, war, daß Serbien den Kosovo verlor und daß es im friedlichen Bosnien jetzt plötzlich radikale und fanatische wahabitische Einbruchsversuche gibt. Haß richtet sich immer zuletzt gegen den Hassenden selbst. Darauf wird hier darum mit solcher Dringlichkeit hingewiesen, um dem Satz dieses Vorworts, wonach die Absicht dieses Buches die einer historischen Arbeit und nicht eines ideologischen Traktates ist, mehr Nachdruck zu verleihen. Es liegt mir daran, festzuhalten, daß ich die Gotteshäuser aller Religionen mit aufrichtiger und tiefer Ehrfurcht betrete und daß ich die Hasser, gleichviel ob religiöser oder säkularer Herkunft, zutiefst verachte und bemitleide. Schon seit meiner Jugend habe ich so gefühlt, was Rilke von sich einbekannt hat, und es ist kein Zufall, daß ich gerade dieses Zitat von ihm in einem meiner frühesten Bücher besonders unterstrichen habe. Er schrieb: „ Wenn ich zugleich allgemein und wahr sein wollte, so müßte ich gestehen, es sei mir doch zeitlebens um nichts anderes zu tun, als in meinem Herzen diejenige Stelle zu entdecken und zu beleben, die mich instand setzen würde, in allen Tempeln der Erde mit der gleichen Berechtigung, das jeweils dort Größeste anzubeten. “ 5 Obwohl jede Massenreligion grundsätzlich zumindest auch eines Fundamentalismus bedarf, ohne den sie als Massenbewegung nicht funktionieren kann, ist es bei religiösen Konfessionen - wie übrigens auch im Atheismus - so, daß es fundamentalistische Auswüchse sind, welche die menschlichen Katastrophen hervorbringen. In diesem Fall sind sie dann gleicher Weise auf Ausgrenzung und Verfolgung jeglicher Gnosis eingestellt, die schon vom Wortsinn her nicht auf blindem Glauben, sondern auf Wissen beruht. Sie fordert notwendigerweise Toleranz, da sie weiß, daß sie nur einem beschränkten Kreis von Menschen zugänglich ist. Das gilt auch für den Templerorden, denn auch in diesem stand eine kleine Gruppe von esoterisch Eingeweihten einem großen Kreis von Nicht- Eingeweihten gegenüber. Schon die frühen christlichen Gnostiker der ersten Jahrhunderte nach Christi Geburt haben darum drei verschiedene Kategorien von Menschen unterschieden, was unbeschadet der Gleichheit und Gleichberechtigung aller Menschen vor Gott im Hinblick auf die Erkenntnis der Gnosis gilt: die Hyliker, die Psychiker und die Pneumatiker. Die Hyliker (altgriech. hyle bedeutet Stoff, Materie) sind im philosophischen Sinn die Materialisten, die über den platten Verstand hinaus nichts begreifen. Den Psychikern (altgriech. psyche bedeutet Seele) ist die Wichtigkeit des Seelischen bewußt, doch ist ihnen 5 Zitat aus zweiter Hand nach Joseph Strelka: Rilke, Benn, Schönwiese und die Entwicklung der modernen Lyrik. Wien - Hannover - Basel 1960, S. 38 XII Vorwort <?page no="13"?> gnostische Erkenntnis noch verschlossen. Dabei geht es um Erkenntnis, denn Gnosis bedeutet Wissen, obgleich es sich um eine besondere Art von Wissen handelt. Es geht nicht um das Verstandeswissen, wie es die Schule oder das Lexikon vermittelt, sondern um ein „ Sehen mit den Augen der Seele “ , bei dem das „ innerste Wesen der Dinge in plastisch bildhaften, leuchtenden Gestalten erscheint “ . 6 Dies kann religiös sein, ist aber antifundamentalistisch. Es hängt mit einer Affinität zur Mystik zusammen und es hat im Fall Rilkes dazu geführt, daß von ihm gesagt werden konnte, er sei „ einer der seltenen Genien, die, aus ihrer Zeit hervorwachsend, gleichsam ausserhalb der Zeit stehen, verwurzelt in den überzeitlichen, ewigen Tiefen des Geistes “ . 7 Goethe, der ein eingeweihter Esoteriker war, hat es in der Gegenüberstellung seines Esoterikers Faust mit dem Exoteriker Wagner in seinem wahrscheinlich berühmtesten Werk, in seinem Faust, in aller wünschenswerter gnostischer Klarheit ausgesprochen: Wenn ihr ’ s nicht fühlt, ihr werdet ’ s nicht erjagen, Wenn es nicht aus der Seele dringt Und mit urkräftigem Behagen Die Herzen aller Hörer zwingt! Wie er auch direkt und ausdrücklich auf die Gefahren hinwies, welchen die Gnostiker von allem Anbeginn an bis heute ausgesetzt waren: Wer darf das Kind beim rechten Namen nennen? Die wenigen, die was davon erkannt, Die töricht gnug ihr volles Herz nicht wahrten, Hat man von je gekreuzigt und verbrannt. Die Templer waren klug genug gewesen, ihr Wissen streng geheim zu halten, doch haben es die Geldgier des französischen Königs und die armselige Schwäche des zuständigen Papstes an die Öffentlichkeit gezerrt und zum Verbrechen erklärt. Selbstverständlich tendieren nicht nur jene Psychiker, welche der fanatischen Ausformung eines Fundamentalismus anhängen, dazu, gnostisches Wissen auszugrenzen und oftmals zu unterdrücken und zu verfolgen, sondern auch die materialistischen Hyliker mit ihren oft organisierten Atheismus-Missionen. Trotzdem ist es bis heute nicht gelungen, gnostisches Wissen völlig auszurotten. In zweitausend Jahren ist der dualistische Ausgangspunkt von Göttlichem und Materie, von Gut und Böse, von Licht und Dunkel immer wieder zur Erklärung spiritueller Nöte der Menschen herangezogen worden. Nun hat es immer wieder Zeiten gegeben, in denen es geboten war, in den Untergrund eines Geheimwissens zu gehen. Schon die frühen Gnostiker sind von 6 Hans Leisegang: Die Gnosis. Stuttgart 1955, S. 9 7 Simon Frank: Die Mystik von Rainer Maria Rilke. In: Neophilologus. Groningen - Den Haag - Batavia 1934, 20. Jg., S. 97 XIII Vorwort <?page no="14"?> der Kirche mit solchem Haß und solcher Gründlichkeit verfolgt worden, daß ein einziges gnostisches Buch, die Pistis Sophia, durch einen Zufall überlebt hat. Darum waren durch Jahrhunderte hindurch die Hauptquelle für die Gnosis die Schriften der Kirchenväter, die durch ihre Angriffe auf die Gnosis deren Ideen am Leben erhielten. Die kirchlichen Ausrotter der Templergnosis haben daraus gelernt. Die Templer selbst hatten ihre eigene Methode gehabt, um zu alten gnostischen Texten zu gelangen, die durch die Kenntnis der Jerusalem-Kirche und jüdischer Quellen zu ihr führten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in Qumram und in Nag Hammadi zahlreiche versteckt gewesene Schriftrollen gefunden, durch die wir wesentlich genauere Kenntnis von der Gnosis besitzen. Für den durch die Gnosis zu seinem Wissen Gelangten ist es unmöglich, diese Einsicht zu vergessen, abzulegen oder zu verdrängen. Er braucht sie, wie der musikalische Mensch die Musik braucht, die auch nicht durch trockene Theorien des Verstandes ersetzt werden kann. Sie hat ja auch mit der Gnosis den verstandesüberschreitenden Charakter gemeinsam. Es gilt daher für beide, was Albert Camus über die Kunst im Allgemeinen gesagt hat, nachdem er über die Kunst in einer Zeit gesprochen hatte, die keine Vergebung kennt. „ Es geht nicht darum “ , hat er gesagt, „ ob das der Kunst abträglich ist oder nicht. Für alle Menschen, die ohne die Kunst und das, was sie bedeutet, nicht leben können, geht es nur um die Frage, wie inmitten von Schergen so vieler Ideologien (wie viele Kirchen, welche Einsamkeit! ) die seltsame Freiheit der Schöpfung erhalten bleiben kann. “ 8 Die Templergnosis ist von der Kirche so radikal und gründlich verfolgt worden wie die frühe Gnosis. Als wahrscheinlich einzige, umfangreichere und erhaltene, wenngleich vielfach verschlüsselte Überschau, wird im Buch hier ihre dichterische Gestaltung in Dantes Göttlicher Komödie aufzuzeigen versucht. Aber gerade durch das Medium der Dichtung werden nicht nur die Grenzen des Verstandes, sondern auch jene der zeitlichen Begrenzung überwunden, unbeschadet der Tatsache, daß Dante und die Templergnosis noch zu einer Zeit geozentrischer Weltschau des Kosmos existiert haben. Darum zeigt sie sich auch mehr noch als in den verschiedenen Nachfolgetraditionen des Templerordens mit deren unumgänglichen menschlichen Schwächen in dieser Weltdichtung in zeitloser Größe und in größtem Glanz. So wenig aber die Erfüllung von Dantes Traum einer Wiederherstellung des wirklichen Templerordens durch die ideale Verbindung von Kreuz und Adler in seiner Zeit eine echte Hoffnung auf Verwirklichung hatte, so sehr ist seine Einsicht auch in dieses Problem nach wie vor richtig, was darauf hinausläuft, daß jede Einseitigkeit schlecht und gefährlich ist und die praktische Lösung wohl in einer Trennung von Kirche und Staat zu bestehen hat. 8 Albert Camus: Kleine Schriften. Reinbek bei Hamburg 1961, S. 13 XIV Vorwort <?page no="15"?> Es ist auch bezeichnend, daß bei Dante wie in der Renaissance, die er einleitet, antike Elemente eine so große Rolle spielen, daß sie gleichwertig mit den Elementen der judäo-christlichen Tradition verschmelzen. Bei der Gnosis spielen auch ägyptische Einflüsse herein, obwohl ihr „ besonderes Gebiet . . . die griechische Mystik “ war, „ so wie sie in den Mysterienkulten gepflegt wurde. “ 9 Die Templergnosis war das Wissen um den Weg der Erweckung und Entfachung des in jedem Menschen ruhenden (aber oft verschütteten) Seelenfunkens zur Gewißheit seiner erleuchtenden Existenz. Ihr Ziel war eine Denkweise, die Robert John überzeugend als eine Glückseligkeitslehre dargestellt hat. 10 Was er damals, gleich nach dem Zweiten Weltkrieg abschließend darüber geschrieben hat, in einer Zeit des Wertzerfalls und Niedergangs, ist heute nicht weniger gültig, da „ die Irdische und Himmlische Glückseligkeit so vieler Völker in Trümmern liegt, da die Vita Contemplativa und Activa der Menschheit sich völlig in Wahnsinn aufzulösen droht “ . Er spricht auch vom Überstrahlen der Weltschau Dantes über die verschiedenen Heilslehren der falschen Propheten - den „ Ideologien “ , von denen Camus spricht - und von der Möglichkeit der Wiedererrichtung des Tempels, die Dante ersehnte, die aber wohl nicht die Wiedererrichtung des salomonischen Tempels in wörtlich-fundamentalistischer Weise zu sein braucht, sondern auch in der Errichtung eines symbolischen, spirituell-geistigen Tempels der allgemeinen Menschenliebe verwirklicht werden kann. Obwohl dieses Buch als komparatistische, geistes- und literaturwissenschaftliche Studie einerseits - wie jede ernsthafte wissenschaftliche Arbeit um Wahrheit, ohne Rücksicht auf Popularität oder mögliche Anfeindungen - verfaßt ist, wird andererseits eine kontextuell ausgerichtete Literaturwissenschaft den Blick auch auf Möglichkeit und Grenzen der Rezeption und Wirksamkeit nicht nur der behandelten Dichtungen, sondern auch des eigenen Textes selbst werfen. So gesehen, stehen die Chancen für dieses Buch schlecht, da viele Hyliker und Psychiker, welche immer schon die überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung darstellten, es sich geradezu als Tugend und Verdienst anrechnen werden, dieses Buch abzulehnen. Dabei ist es doch so, daß die grundsätzliche Wichtigkeit und Bedeutung einer wahrhaft religiösen Exoterik in diesem Buch in keiner Weise auch nur in Frage gestellt wird. Sie ist als sittigendes Prinzip eine unabdingbare Notwendigkeit für jede religiöse Massenorganisation. Was im historischen Kontext abgelehnt wird, sind Verfall und Entartung der echt religiösen Exoterik durch irdischen Besitz- und Machtwahn sowie durch einen durch und durch unreligiösen Fanatismus und Haß. Diese können und müssen geradezu zu einem entmenschten Barba- 9 Hans Leisegang, Die Gnosis, S. 9 10 Robert John, op. cit., S. 256 - 272 XV Vorwort <?page no="16"?> rismus führen. Das gilt für die Inquisition im Zeitalter Dantes, wie es heute für jene extremen und fanatischen Auswüchse des Islam gilt, die zu einer Bewegung von geradezu menschheitsbedrohender Gefährlichkeit geworden sind. Richtig verstandene, religiöse Exoterik wird sich außerdem immer bewußt bleiben, daß die treibende, innere, religiöse Kraft aus der Esoterik kommt. Andererseits führt die unreligiös extreme und fanatische Entartung der Exoterik vor allem auch zur Unterdrückung, Zersetzung und Ausgrenzung der jeweils eigenen Esoterik. Die fundamentalistische Verfolgung der Kirche ihres eigenen größten deutschsprachigen Mystikers Meister Eckhart ist ein bezeichnendes Beispiel dafür und auch die manchmal geradezu bestialischen Verfolgungen großer sufischer Mystiker durch entartete Fanatiker der eigenen islamischen Exoterik, die schon sehr früh eingesetzt haben, sind ein Beispiel dafür. Es ist kein Zufall, daß es theoretisch auch heute noch sufische Orden gibt, daß jedoch in den meisten Fällen vom Erreichen eines wirklichen Erleuchtungsziels keine Rede mehr sein kann. Sie beschränken sich auf wörtliche und abstrakt-begriffliche Erklärungen und sind unter jegliche ernsthafte Esoterik abgesunken. Ist aber schon die Aussicht dieses Buches, von extremen fundamentalistischen Psychikern wirklich verstanden zu werden, überaus gering anzuschlagen, so ist die Hoffnung auf ein Verstanden-Werden durch die hylischen Materialisten von heute gleich null. Für jemanden, der vollständig in stumpfe Gleichgültigkeit oder gar vollständig in den nihilistischen Mahlstrom des Geld- oder Machtwahns geraten ist, scheint es keinen Ausweg zu geben. Das schließt auch jegliches Verständnis für die in diesem Buch beschriebene Esoterik aus, obwohl natürlich auch dem hartgesottensten Materialisten der göttliche Seelenfunke eingesenkt ist. Er ist nur vergessen oder zugeschüttet, und anstatt nach ihm zu graben, wird nur noch mehr Schutt auf ihn gehäuft. Da kann höchstens eine wirklich drastische, persönliche Katastrophe Abhilfe schaffen, die freilich auch durch äußere Katastrophen oder tiefes Leid ausgelöst werden kann. Was ein Buch in solchem Zusammenhang überhaupt vermag, ist allenfalls die anschauliche Beschreibung einer solchen inneren Katastrophe und ihrer Heilwirkung. Gerade das ist aber bei Dantes Göttlicher Komödie der Fall. Dante war ein gelehrter junger Politiker, der bereits als Dreißigjähriger den höchsten Posten erreicht hatte, den die Stadtrepublik Florenz zu vergeben gehabt hatte. Ohne persönliche Schuld in böse Parteihändel hineingezogen, wurde er in das Exil geschickt und sogar auch in Abwesenheit zum Tod verurteilt. Den Tiefpunkt seines psychischen Zustandes hat er im Ersten Gesang seiner Göttlichen Komödie durch die dichterische Metapher, in einem finsteren Wald verirrt und von drei Raubtieren bedroht zu sein, beschrieben. Er mußte durch die gesamte Hölle wandern und alle nur möglichen menschlichen Höllenstrafen plastisch in höchster Anschaulichkeit miterleben, um der Größe und Heilkraft der Templergnosis würdig zu werden. Diesem grandiosen Werk, das seine innere Entwicklung im Traumbild einer Jenseitswanderung darstellt, versucht dieses Buch durch XVI Vorwort <?page no="17"?> Wahrheitsfindung gerecht zu werden. Daneben ist es zugleich eine Einführung in die Grundlage der dieser Dichtung zugrunde liegenden Templergnosis. Das bedeutet aber: Das Anliegen dieses Buches ist ein Doppeltes: Erstens darzulegen, daß die gnostische Esoterik nicht einen zufälligen und nebensächlichen ornamentalen Schmuck des geistigen Templertums bildet, sondern das innere Gerüst der Grundlage des gesamten Denkgebäudes ausmacht. Zweitens aber, die zeitlose Größe, Bedeutung und Aktualität des grandiosen Kunstwerks von Dantes Göttlicher Komödie als dichtungswie geistesgeschichtlichen Höhepunkt dieser Templergnosis sichtbar zu machen. Das bedeutet wieder, daß das ganze Buch etwas behandelt, das den Materialisten Unsinn, den exoterischen Fundamentalisten aber eine Abirrung in böse Irrtümer bedeutet. Wahrheitsfindung kann aber nicht von Mehrheitsbeschlüssen abhängig gemacht werden und ich möchte meine Überzeugung trotzdem zum Ausdruck bringen dürfen. Zum rein Technischen sei bemerkt, daß alle Übersetzungen von Zitaten der Göttlichen Komödie ins Deutsche grundsätzlich auf der Übertragung durch Richard Zoozmann, Freiburg im Breisgau, o. J. (1921) beruhen. In den Fällen, in denen andere Übersetzungen benützt werden, sind diese genau gekennzeichnet. Alle Übersetzungen aus anderen Sprachen ins Deutsche stammen, wenn nicht anders angegeben, vom Autor. XVII Vorwort <?page no="19"?> I. Zur Entstehung der Templergnosis 1. Der Orden und seine Spiritualität Die Templergnosis ist ein ebenso interessantes wie im Grunde wenig bekanntes spirituelles Wissen über die Vorstellungen und Denkformen der menschlichen Existenz, das in einem Kreis von besonders Eingeweihten in und um den legendären Orden der Tempelritter entwickelt und tradiert worden ist. Über die Geschichte dieses Ordens ist in den letzten Jahrzehnten eine ganze Flut von Büchern erschienen, die sich zumeist weniger als mehr auch mit der Geistigkeit dieses Ordens befassen. Das Thema des vorliegenden Buches ist aber nicht der Orden, sondern diese Geistigkeit. Insoweit der Orden für die Schaffung und Weitergabe dieser Geistigkeit eine Rolle spielt, muß er aber natürlich behandelt werden. Eine der größten Schwierigkeiten bei der Behandlung des Themas über den Templerorden und seine Spiritualität besteht wohl in der Gespaltenheit der Literatur in zwei getrennte Teile: Einerseits gibt es da die Werke der verläßlichen, fundierten Historiker, die von schriftlichen, dokumentarischen Quellen her arbeiten, und andererseits die Werke der Experten auf dem Gebiet esoterischer und gnostischer Traditionen, einem Gebiet, das für den Realhistoriker einen völlig unbekannten, weißen Fleck auf seiner historischen Landkarte darstellt. Um die Schwierigkeiten zu vergrößern, teilt sich die zweite Gruppe der Esoterik-Experten wiederum in zwei Untergruppen, nämlich in die wirklichen Experten, die sich ernsthaft bemühen, nach objektiven Kriterien gewonnene Einsichten in geistesgeschichtliche Zusammenhänge zu liefern und andererseits in ideologieverseuchte Missionare der verschiedensten Provenienz, Schwarmgeister und Legenden- Produzenten, die vor keinem Widerspruch gegen Tatsachen zurückschrecken. Aber auch die „ verläßlichen “ und „ fundierten “ Methoden der Realhistoriker haben bei radikaler Beschränkung auf die dokumentarisch abgesicherten Gegenstände und Themen ihre Hindernisse. Um ein Beispiel für die Grenzen solcher Methoden anzuführen, sei auf das Buch von Marie Luise Bulst-Thiele über die Geschichte aller Großmeister des Templerordens bis zu seiner Auflösung ein Blick geworfen. 1 In ihrer Darstellung des ersten Großmeisters Hugo de Payens (Hugo de Paganis) geht sie auf den Beginn des Ordens ein. „ Wenn ein Pilger Jaffa erreichte “ , schreibt sie, war er „ nach wie vor auf seinem Weg von Jaffa hinauf nach Jerusalem 1 Marie Luise Bulst-Thiele: Sacrae Domus Militiae Templi Hierosolymitani Magistri. Göttingen 1974 <?page no="20"?> und dem noch mehr gefährdeten von Jerusalem an den Jordan von Überfällen bedroht. So beschlossen einige Ritter, sich unter der Führung des Hugo de Paganis zu einer Bruderschaft zusammenzuschließen, um die Pilger sicher von der Küste hinauf nach Jerusalem und Bethlehem zu geleiten. Das waren die Anfänge des Templerordens. “ 2 Die beiden urkundlichen Quellen, die sie beibringen kann, sind außerordentlich dürftig. Sie sind Jahre nach dem Auftreten der ursprünglichen „ Gründungsmitglieder “ entstanden. Davon nennt nur die zweite rückblickend den Namen des Hugo de Paganis und die erste ist ganz vage und allgemein und berichtet von einem Gelübde, das die Gründer des noch namenlosen Ordens in die Hand des Patriarchen von Jerusalem abgelegt haben sollen. Dagegen wurde zu Recht eingewendet, daß die neun Ritter dem Patriarchen gar kein Gelübde ablegen hatten können, da sie das Gelübde bereits in Frankreich vor ihrer Reise nach Jerusalem in die Hand des Bernhard von Clairvaux abgelegt hatten. 3 Manche Anhänger der Theorie der ersten neun Ritter als Straßenwächter erklären, sie hätten ihr Gelübde als Kanoniker in die Hand des Patriarchen von Jerusalem abgelegt. Aber sogar Jakob von Vitry, der seine historischen Abhandlungen frühestens 97 Jahre nach der angeblichen „ Gründung “ von 1119 geschrieben hat, berichtet noch darin, daß die ersten neun Ritter „ neun Jahre lang in weltlichen Gewändern dienten “ 4 und sich kleideten. Das ist aber keineswegs alles. Hugo de Payens hat noch 1123 Dokumente als Laie unterschrieben. 5 Ein Gelübde hatten die neun bereits in die Hand des Bernhard von Clairvaux abgelegt, ein vollgültiges Ordensgelöbnis aber erst nach der wirklichen Gründung des Ordens in Troyes im Jahr 1129. 6 Die Geschichte mit den ersten neun Rittern als Straßenwächter findet sich in den historischen Abhandlungen des fanatischen Eiferers gegen die Katharer, Jakob von Vitry. Sie sind ein „ echtes Dokument “ , wurden allerdings erst 97 Jahre nach 1119 geschrieben und enthalten so manches Falsche. Übrigens hat Jakob von Vitry die Geschichte von Wilhelm von Tyrus abgeschrieben, der immerhin auch erst 61 Jahre nach 1119 seine Chronik abgefaßt hat. Auch der wahre Bericht über die Laiennatur der neun Ritter steht bereits bei ihm. 7 Man sollte also auch mit echten Dokumenten vorsichtig sein, ganz abgesehen, daß es sogar auch gefälschte ganze Dokumente geben kann. Ein Dokument, dessen Echtheit wiederholt angezweifelt wurde, ist ein Brief des Königs von 2 Marie Luise Bulst-Thiele, op. cit., S. 19 3 Vgl. Louis Charpentier: Das Geheimnis der Kathedrale von Chartres. Köln 1983, S. 48 - 50 4 Zitat aus zweiter Hand nach Marion Melville: La vie des Templiers. Paris 1951, S. 18 5 Louis Charpentier, op. cit., S. 48 6 Louis Charpentier, op. cit., S. 50 7 Guilelmus Tyrius XII, 7 2 Zur Entstehung der Templergnosis <?page no="21"?> Jerusalem an Bernhard von Clairvaux, in dem er diesen um kirchlichen Schutz jener Gruppe von Rittern bat, die zur Werbung von Männern für die Verteidigung des Grabes Christi ins Abendland gekommen war. Hugo de Payens soll diesen Brief vom König vor seiner Rückreise nach Europa vom König erhalten haben. Auch das Motiv des Briefes ist umstritten. 8 Es zeigt sich jedenfalls, daß das pedantische Anklammern an jedes Wort jedes Dokuments zu einem Dogmatismus führen und kaum weniger irreführend sein kann als ideologische Projektionen und Erfindungen, an denen es besonders bei der Geschichte des Templerordens auch keinen Mangel gibt. Fulcher von Chartres, der Kaplan und Chronist König Balduins II. von Jerusalem, hat jedenfalls die neun Ritter mit keinem Wort und schon gar nicht als Straßenwächter erwähnt. Später freilich, als der Templerorden groß, reich und mächtig war, hat er an den wichtigen Punkten der Straßen des Heiligen Landes zum Schutz der Pilger kleine Forts ( „ castra “ ) angelegt. Hier aber geht es um die ersten neun Jahre vor der tatsächlichen Gründung des Ordens, als die neun Ritter im Palast des Königs wohnten. Zwar existiert keine dokumentarische Grundlage dafür, daß die neun Ritter in jenen frühen Jahren die Straßen bewachten, wohl aber existiert eine Skizze des Leutnants Warren vom britischen Pionierkorps, die zeigt, wie eine Abteilung dieses Pionierkorps die Grabungen der ersten Templer wiederholt hat, wobei man tatsächlich auf Templer-Relikte stieß. Die Skizze zeigt auch, wie schwierig sich diese Grabungen gestaltet hatten, da man zunächst siebenundzwanzig Meter senkrecht in die Tiefe gehen mußte, von wo aus dann ein Stollen waagrecht quer in den Tempelberg hineinging. 9 Was wir seit 1956 auch besitzen, ist die Entzifferung der „ Kupferrolle “ von Qumram an der Universität Manchester, aus welcher hervorgeht, daß ein „ unbestimmbarer Schatz “ zusammen mit einer großen Menge von Gold und Wertgegenständen unter dem Tempel in Jerusalem vergraben wurde. 10 Wenn Bulst-Thiele einen Bericht Michaels des Syrers zitiert, wonach schon früh nicht weniger als dreißig Ritter König Balduin II. gelobt hätten, ihm zu dienen, dann warnt sie selbst in einer Fußnote, daß jener Michael der Syrer nicht zwischen Templern und Johannitern unterschieden hat. Für das vorliegende Buch ist dies ein Kardinalfehler, denn der Templerorden war der einzige Ritterorden, der auf Grund seiner weit zurückreichenden geistigen Wurzeln enge Beziehungen zur Gnosis besaß. 8 Alain Demurger: Der letzte Templer. München 2005, S. 26 9 Die Skizze ist abgedruckt im Buch von Christopher Knight und Robert Lomas: The Second Messiah. Shaftesbury - Boston - Melbourne 1988, S. 27 10 Vgl. Laurence Gardner: Bloodline of the Holy Grail. Shaftesbury - Rockport - Brisbane 1996, S. 260 3 Der Orden und seine Spiritualität <?page no="22"?> Aber Bulst-Thiele stellt selbst einmal die naive Frage: „ War es aber Philipps Absicht, als Haupt und Führer beider Orden das Heilige Land zu erobern, warum verschonte er die Johanniter? “ 11 Sogar auf vordergründig realistischer Ebene ist sie mitunter ratlos. Hat aber irgend jemand jemals etwas von dem legendären Reichtum der Johanniter gehört? Philipp war hinter dem Geld der Templer her. Abgesehen davon, daß Philipp durch die sogenannte Schatzmeister-Affäre den Templer-Großmeister Jacques de Molay gehaßt hatte. Auf dem Gebiet der Esoterik aber zeichnet diese Realhistorikerin besonders gediegene Unkenntnis aus. Bulst-Thiele berichtet auch, daß der letzte Großmeister am 24. Oktober 1307 vor dem Inquisitor und einer großen Anzahl von Zeugen eingestanden hat, bei seiner Aufnahme in den Orden drei Mal Christus verleugnet zu haben, und daß er am 25. Oktober ebenso wie andere Würdenträger des Ordens dieses Geständnis vor der Universität wiederholte. „ Ob die Drohungen der Beamten, ob irgendwelche Versprechungen den Großmeister zu diesem sofortigen Zugeben einer nicht existierenden Schuld veranlaßt haben, wird nie zu klären sein. “ 12 Daß dieses Geständnis infolge der gnostischen Urtexte der Templergnosis der Wahrheit entsprach, übersteigt ihre Vorstellungskraft. Kenner esoterischer Traditionen sehen das freilich anders. So heißt es einmal bei einem von ihnen: „ daß die Inquisition des 14. Jahrhunderts besser informiert war als die weltlichen Wissenschaftler bis in unsere Tage “ . 13 Der französische Mediävist Alain Demurger ist einer der Historiker, die vorurteilslos sind. Er glaubt an die Richtigkeit des Geständnisses des Großmeisters und belegt die Plausibilität durch eine Darstellung des Geständnisses in größerem Kontext und durch die genaue Wiedergabe der Aufnahmezeremonie. 14 11 Bulst-Thiele, op. cit., S. 344 12 Bulst-Thiele, op. cit., S. 321. Der französische Mediävist, Alain Demurger, in: Der letzte Templer. München 2005, S. 50 f., ist klüger. Er behandelt die Frage in größerem Kontext und beschreibt die Aufnahmezeremonie im Detail. Das führt zu seiner Überzeugung, der Großmeister hätte die Wahrheit gestanden. 13 Allan Oslo: Die Geheimlehre der Tempelritter. Düsseldorf 2000, S. 153 14 Alain Demurger: Der letzte Templer, op. cit., S. 50 f. Es verdient angemerkt zu werden, daß auch Demurger erst in seinem bisher letzten, hier zitierten Templer-Buch zu solchen Einsichten gekommen ist. Das letzte Kapitel seines ersten Buches Vie et mort de l ’ ordre du Temple, (deutsch: Die Templer), das siebzehn Jahre früher erschienen ist, liest sich fast wie Bulst-Thiele, nur daß sehr begrenzte gnostische Einflüsse auf die Templer durch die Katharer angenommen werden. Siebzehn Jahre der weiteren Befassung mit dem Thema haben aber sichtlich Folgen gezeitigt. Auch schon im ersten Buch ist dieser vielleicht größte lebende Kenner des Templerordens und kritische Realhistoriker im Unterschied zu vielen seiner Kollegen zu dem abschließenden Urteil gelangt: Die Ursprünge der Johanniter „ liegen ebenso im dunkeln wie die der Templer. “ (Letzte Auflage der deutschen Übersetzung: München 2007, S. 21.) Er ist eben ein kritischer Realhistoriker, dem es um die Wahrheit geht. 4 Zur Entstehung der Templergnosis <?page no="23"?> Das weit verbreitete Interesse am Templerorden und dessen gegenwärtige Faszination hängen zweifellos auch mit der Templergnosis als Teil des allgemeinen gnostischen Weges überhaupt zusammen, da dieser eine besondere innere Einstellung zur menschlichen Existenz vor allem im Zusammenhang mit ihrer Transzendenz darstellt. Verfolger wie Verfolgte im Templerprozeß hatten gemeinsam dasselbe Interesse, möglichst Vieles von Details der esoterischen Tradition weiter geheim zu halten: Die Templer, um die Verfolgung nicht zu vergrößern, sondern um sie zu beschwichtigen, und die Kirche, um einen großen öffentlichen Skandal zu vertuschen. Der Großinquisitor von Frankreich Wilhelm Imbert, der noch vor dem Eingreifen des Papstes vom König beordert war, eine inquisitorische Untersuchung durchzuführen, hatte von Anfang an den anderen Inquisitoren aufgetragen, „ sie sollten, wenn die Wahrheit der Beschuldigungen sich erweise, dieselbe geheim halten, damit beim Volk kein Ärgernis entstehe “ . 15 Eine wirklich detaillierte Dokumentation der Rituale und Lehre der Templergnosis ist dadurch unmöglich, doch sind zahlreiche Einzelheiten trotzdem an die Öffentlichkeit gedrungen. Beispielsweise erklärten beim Templerprozeß in England drei Tempelritter, William of Poklington, Stephen of Stapplebrugge und John Stoke, im Tempel hätte es zwei Aufnahmen gegeben. Die erste hätte der eigentlichen Aufnahme gedient und sei ohne irgendeine anstößige Zeremonie verlaufen. Die zweite fand oft erst Jahre später statt, wurde nur einigen wenigen zuteil und war sehr geheim. 16 Ein sehr belesener Historiker meinte in seiner populären Darstellung des Templerordens, man könne von einem Fortleben des Ordens nach seiner Auflösung durch den Papst im Jahr 1312 schon darum nicht sprechen, weil der Orden jene lebende Verbindung von kämpfenden mittelalterlichen Rittern mit einem Mönchsorden verkörpert hat, was auf keinen anderen, späteren Fortsetzungsversuch zutraf. 17 Es ist hier irrelevant, ob dies auch wirklich für Portugal und Schottland richtig ist oder nicht, denn die Geschichte des Ordens selbst wird hier nur insofern berücksichtigt, als sie für die Entwicklung seiner spirituellen Geistigkeit, der Templergnosis, von Belang ist. Das Thema des vorliegenden Buches ist diese geistige Tradition und das hat gute Gründe. Denn wie großartig und dramatisch die Geschichte der Templer als Kämpfer in den Kreuzzügen auch gewesen sein mag, von der Gründung des Ordens und seinem kometenhaften Aufstieg bis zum bitteren Ende des Falls von Akkon; von den eroberten und gehaltenen Plätzen ist wenig geblieben außer tausenden von Gräbern. Was aber weiter fortwirkte, das waren die Spitzenergebnisse des Geistes der Templer, das war das dichterische Wunderwerk von Dantes Göttlicher Komödie 15 Ferdinand Wilcke: Die Geschichte des Ordens der Tempelherren. Wiesbaden 2005, S. 485. 16 Nach Arthur Schult: Dantes Divina Commedia als Zeugnis der Tempelritter Esoterik. Bietigheim 1979, S. 473 17 Martin Bauer: Die Tempelritter. München 1997, S. 234 5 Der Orden und seine Spiritualität <?page no="24"?> oder aber auch eine Perle der Baukunst wie die Kathedrale von Chartres und sogar auch die Kapelle von Rosslyn. Als ich versuchte, durch die Darstellung von einundzwanzig der größten Autoren des 20. Jahrhunderts eine Überschau ihrer Bemühungen im Kampf gegen das Chaos und für eine neue Ordnung zu zeigen, da ergab es sich, daß bei der Mehrzahl dieser Autoren Dante im Personenregister nicht weniger als zweiundzwanzig Mal als Vorbild aufschien. 18 Wie es wohl auch kein Zufall ist, daß die Göttliche Komödie nach der Bibel das am meisten gedruckte Buch darstellen soll. Einer der größten Dichter des 20. Jahrhunderts, Hermann Broch, hat der geistigen Hauptfigur seines Romans Der Versucher den Namen „ Mutter Gisson “ gegeben, der ein Anagramm für das Wort Gnosis darstellt. Der fiktive Erzähler, dem Broch den ganzen Roman gleichsam in den Mund gelegt hat, ist der Landarzt in einem Alpendorf, der seine medizinische Karriere in der Stadt freiwillig aufgegeben hat. Seine Flucht aus einer Welt der Krise, des Niedergangs und des Wertzerfalls in die große Ordnung der Natur und die großteils noch natürliche Ordnung des Dorflebens hat er in einer Weise beschrieben, die gnostisches Denken par excellence darstellt. Gleichsam ein Fahnenflüchtling der Wissenschaft, deren Bau ihm jählings wie ein Turm zu Babel erschien, war er in die Stille einer mäßigen Landpraxis getrieben worden, „ müde der Erkenntnis, sehnsüchtig nach Wissen, müde einer Unendlichkeit, die nicht mir, sondern der Menschheit gehörte, müde einer Stummheit, die das Gestern auslöscht und nur das Morgen gelten läßt, müde der unpersönlichen Fernen und sehnsüchtig nach dem Unendlichen in der eigenen Seele, mit aller Kraft fühlend, daß lediglich diese innere Unendlichkeit jedem menschlichen Wesen eingeboren ist und die Fähigkeit besitzt, Gestaltlosigkeit, Stummheit und Vergessen zu überwinden und ein Wissen zu haben, das erfüllt ist von der Überzeitlichkeit der Seele, von dem Gestern wie von dem Morgen, das erfüllt ist von dem Sinne des Gewesenen wie dem des Zukünftigen, stark genug, um uns mit einem frohen Warten über die kurze Zeitspanne hinwegzuhelfen, um unserem Umherwandern während dieser Frist freudige und feste Schritte zu verleihen, unseren Augen aber ein heiteres Schweifen zu jedem Da und zu jedem Dort in dieser Welt . . . “ 19 Das erinnert sehr an ein gnostisches Fragment, in dem es heißt, die Gnosis sei „ die Erkenntnis, wer wir sind und was wir geworden sind; woher wir stammen und wohin wir geraten, wohin wir eilen und wovon wir erlöst sind, was es mit unserer Geburt und Wiedergeburt auf sich hat. “ 20 18 Joseph P. Strelka: Dichter als Boten der Menschlichkeit. Tübingen 2010 19 Hermann Broch: Der Versucher. Zürich 1953, S. 6. Vgl. auch Joseph P. Strelka: Der Gnostiker Hermann Broch. In: Vergessene und verkannte österreichische Autoren. Tübingen 2008, S. 67 - 79 20 Clemens Alexandrinus: Excerpta ex Theod., 78,2 6 Zur Entstehung der Templergnosis <?page no="25"?> Ein sehr gelehrter und wirklicher Kenner der Templergnosis hat sie geradezu eine „ Glückseligkeitslehre “ genannt. 21 Wenn Arthur Koestler einmal gesagt hat, die westliche Hinwendung zum ZEN-Buddhismus sei die Reaktion von Intellektuellen der ersten Generation des nuklearen Zeitalters, dann ließe sich das Interesse und die Faszination mit Formen der Gnosis ähnlich erklären. Denn die Gnosis entsprang einem tiefen Gefühl von Weltangst in einer Zeit der Krise, der Umbrüche, des Chaos und des Wertzerfalls, die unserer Zeit in dieser Hinsicht sehr ähnlich war. Für die Gnostiker war die Erde wie für den Schöpfer des damaligen Weltbildes des Kosmos, den Gnostiker Ptolemäus, ein Kerker, aus dem die Seele in das ihr ursprünglich heimatliche Reich des Lichts, des göttlichen Urgrunds, zurückstrebte. Die Encyclopedia Britannica hat in ihrer besonders durch die Beiträge zu den Geisteswissenschaften berühmten 11. Auflage den Begriff „ Gnostik “ so definiert, daß sie „ in ihrer Form und in ihrem Charakter unter die ‚ mystischen Religionen ‘“ fällt. 22 Das bedeutet aber, daß das Wort Gnosis nicht im Sinn eines verstandesmäßigen oder wissenschaftlichen Wissens verstanden werden darf, sondern daß sie wie jegliches mystische Wissen, das auf initiierter Einweihung oder mystischer Erfahrung beruht, den Außenstehenden unzugänglich ist und von den „ Initiierten ängstlich als Geheimnis bewahrt wird “ . 23 Gerschom Scholem, der zu Recht in der Kabbala die gegenseitige Durchdringung von jüdischer Gnosis und Neuplatonismus erblickte - eine Kombination, die auch die christliche Gnosis und den westlichen Teil des islamischen Sufismus kennzeichnet - , hat den Begriff noch weiter gefaßt. Nach ihm umfaßt die Kabbala eine Esoterik, die eng mit dem Geist der Gnosis verwandt war, eine Geistigkeit, die „ nicht nur auf die Anleitung zum mystischen Weg beschränkt war, sondern auch Ideen über Kosmologie, Angelologie und Magie einschloß “ . 24 Gerschom Scholems Begriffsbestimmung trifft auch auf die Templergnosis zu. In einer gewissen Ergänzung der jüdischen Quellen hat ein wirklicher Kenner esoterischer Zusammenhänge, Henry Corbin aus dem Eranos-Kreis, auf Grund seines eigenen, besonderen Fachwissens, die gnostischen Einflüsse sufischer Herkunft besonders unterstrichen. 25 Nun gibt es sowohl Historiker wie Religionshistoriker, denen jegliches esoterische Wissen ein Buch mit sieben Siegeln ist und die - oft aus verschiedenen Motiven - behaupten, daß es ein solches „ geheimes “ Wissen gar nicht gegeben hätte. Ein Buch vertritt sogar die Auffassung, es sei die „ akademische “ Standardhaltung, jegliche esoterische Seite der Templer-Spiritualität als überspannte Phantasie oder schlampige Forschung zu betrachten. Es gäbe jedoch sogar 21 Robert John, op. cit., S. 272 22 Encyclopedia Britannica, Bd. XII., New York 1910, S. 153 23 Wie Fußnote 6, S. XIII 24 Gershom Scholem: Kaballah. New York 1978, S. 45 25 Henry Corbin: Temple et contemplation. Paris 1980 7 Der Orden und seine Spiritualität <?page no="26"?> angesehene Historiker, die wohl privat „ die esoterische Seite der Templer als wichtig anerkennen “ , dies aber öffentlich niemals tun würden. 26 Solche bewußt subjektive Ablehnung ist allerdings Wahrheitsverweigerung und die größte wissenschaftliche Verfehlung, die es überhaupt gibt. Allerdings muß aus genau demselben Grund, um die ganze Wahrheit zu sagen, zumindest im Hinblick auf die alte Gnosis auch darauf hingewiesen werden, daß einer ihrer bedeutendsten Kenner, der gewiß kein direkter Gegner von ihr ist, Hans Leisegang, in seiner allgemeinen Einführung in die Gnosis mit Nachdruck erklärt hat, es „ wäre eine Fälschung der Tatsachen, wenn nur die Lichtseiten hervorgehoben und die vielen dunklen Stellen getilgt und übermalt worden wären, die das echte Bild der alten Gnosis nun einmal an sich trägt . . . “ 27 Der „ Abraxus “ auf einem Siegel des Großmeisters des Ordens war „ reine Gnosis “ . 28 Wie die Templer auch das gnostische Symbol der Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt, benützten, ein gnostisches Symbol für den einen in sich selbst bewegten Logos, der das innerste Wesen der lebendigen Welt darstellt. Auch den Sperrkreis zwischen der Lichtwelt des Göttlichen und der materiellen Welt des Bösen versinnbildlicht dieser Ouroboros oft. Gleicherweise steht er für die gnostische Grundidee des Kreislaufs alles Werdens. 29 Die wichtigsten Argumente der echten Anti-Esoteriker aber sind die, daß die Tempelritter in ihrer Mehrheit Analphabeten waren, die gute Krieger, aber keine geistigen Menschen gewesen sind, und daß es außerdem keinerlei Statuten, Konstitutionen oder Ordensregeln gab, in denen eine solche geistige Tradition beschrieben wird. Abgesehen davon, daß die Templergnosis vor allem in den Laienbruderschaften des Templerordens blühte - Dante war der Templeradept einer solchen - , verhielt es sich innerhalb des Ordens der Tempelritter wie auch außerhalb anderswo so, daß einer Mehrheit von Nicht-Esoterikern eine Minderheit von Esoterikern gegenüberstand. Was aber die Statuten betrifft, so gibt es bis heute lebende esoterische Traditionen, die aus vereinsrechtlichen Gründen, und auch um ihren Mitgliedern eine äußere Ordnung zu geben, Konstitutionen oder Satzungen besitzen, die sie in der Regel auch drucken lassen. Es gibt aber kaum eine solche Organisation, die ihre Rituale und Symbole in diesen Konstitutionen auch nur mit einem Wort erwähnt. 26 Lynn Picknett und Clive Prince: The Templar Revelation. New York 1998, S. 103. Dieses Buch ist erstaunlich kenntnisreich und hat nur die eine Schwäche, daß die beiden Autoren auf die Fälschung der Priorei von Sion hineingefallen sind. 27 Hans Leisegang: Die Gnosis, S. VI 28 Tim Wallace-Murphy und Marilyn Hopkins: Rosslyn. Shaftesbury - Boston - Melbourne 1999, S. 118. Abraxus wird auch Abraxas, Abraxes oder Abrasax geschrieben. Er spielt eine wichtige Rolle in der Gnosis des Basileides. 29 Tim Wallace-Murphy und Marilyn Hopkins, op. cit., S. 118 8 Zur Entstehung der Templergnosis <?page no="27"?> Einer der Historiker, der offenbar niemals mit einer solchen Tradition in Berührung gekommen ist, der aber durch die Fülle des vorhandenen Materials doch unsicher war, hat die Frage aufgeworfen: „ Oder gab es eine zweite, geheime Version der Statuten? “ 30 Der spanische Tempelritter Galcerand de Teus hat - freilich unter der Folter - ausgesagt, daß es tatsächlich solche geheime „ Statuten von Damiette “ gegeben hätte. Trotz ihres Namens wären sie im großen Pilgerschloß von Athlith entstanden. Diese Geheimstatuten hätten die Ordensregel des Bernhard von Clairvaux ersetzt. 31 Dafür gibt es sogar Bestätigungen. Beispielsweise hat einer der Würdenträger des Ordens, Geoffrey de Gonneville, Großpräzeptor von Aquitanien und Poitou, im Templerprozeß erklärt: „ Manche behaupten, dies gehöre zu den bösen gottlosen Dingen, die Meister Roncelin in die Ordensstatuten eingeführt hat. “ Mit Meister Roncelin meinte er Roncelin du Fos, Ritter der Provence. Daß er Roncelin „ Meister “ nannte, ein Titel der nur dem Großmeister zustand, und da Roncelin niemals in der offiziellen Liste der Großmeister aufschien, wurde daraus geschlossen, daß es bei den Templern - wie in anderen esoterischen Traditionen - eine „ parallele Hierarchie “ gab, und daß sich hinter den nach außen hin bekannten Großmeistern andere „ heimliche Meister “ verbargen, von denen nur wenige wußten. 32 Derselbe Historiker, der die Frage nach den Geheimstatuten aufgeworfen hat, teilt seinen Lesern allerdings mit, daß „ viele der verhörten Brüder von heimlichen Zusammenkünften einiger Eingeweihter “ berichteten, „ die meist in der Ordenskapelle stattgefunden hätten. Während dieser Versammlungen wären die Türen und sogar das Dach streng bewacht worden, kein Wort wäre nach draußen gedrungen. “ 33 Vergleicht man alle Aussagen miteinander, dann ergibt sich das Bild, daß in den Anfängen das zweite, inoffizielle Gelübde gleich bei der Aufnahme in den Orden, wenngleich nicht von allen, abgelegt wurde. Später wurden erst nach langer Beobachtung der Mitglieder einzelne Kandidaten für die zweite Aufnahme in den inneren, gnostischen Kreis ausgesucht. Außerdem befanden sich unter den Templern auch sehr gebildete Ritter. Sowohl der Großmeister wie der Seneschall und der Marschall hatten auf Grund der Statuten je einen sarazenischen Sekretär. Die Ordensmitglieder, welche die weit verzweigten Bankgeschäfte versahen, mußten einen weit gefächerten Horizont besessen haben. Da ebenfalls auf Grund der Ordensregel jeder Tempelritter drei Pferde zur Verfügung hatte, wurde angenommen, daß das Siegel des Ordens, das zwei Ritter 30 Martin Bauer: Die Tempelritter. München 1997, S. 205 31 Robert John, op. cit., S. 121 32 Nach Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 73 33 Martin Bauer, op. cit., S. 205 9 Der Orden und seine Spiritualität <?page no="28"?> auf einem Pferd zeigte, nicht wörtlich, sondern symbolisch zu verstehen war. Wobei die nächstliegende Erklärung die war, daß es zweierlei Arten von Rittern gegeben hat: solche, die in die gnostische Tradition initiiert waren und solche, die es nicht waren. 34 Abgesehen davon bestand der Orden nicht nur aus Rittern, die das rote Kreuz auf weißem Mantel trugen, sondern auch aus dienenden Brüdern, Fußvolk und Hilfstruppen mit dem roten Kreuz auf braunen oder schwarzen Mänteln. Darüber hinaus gab es auch noch einen eigenen Ordensklerus, der die Ritter von den normalen kirchlichen Institutionen völlig unabhängig machte. Die Ordenskleriker waren selbst Priester, die den meisten Schriftverkehr besorgten und die grüne Mäntel trugen. Arbeiten von Realhistorikern sind bei der Darstellung spiritueller Probleme oft simplifiziert oder naiv, doch gerade die Beschreibung der Templergeistlichen ist in der alten Geschichte des Ordens von Wilcke im Unterschied zu vielem anderen richtig. Er weist darauf hin, daß die Ordensgeistlichen durch ihren Beitritt zum Orden jede Chance auf eine größere Karriere in der kirchlichen Hierarchie aufgaben und durch die Ordenszugehörigkeit auch in mancherlei anderer Hinsicht beschränkt waren. Der wahre Vorteil ihres Eintritts in den Orden bestand in der Möglichkeit freieren Denkens und freierer Gespräche mit anderen Ordenstheologen. „ Das war für jene Zeit ein hohes Kleinod, welches damals nur der geistig genährte und hier abgeschlossene Templerorden in weiter Ausdehnung und ohne Furcht vor dem inquisitor haereticae pravitatis bieten konnte. Auch eröffnete sich hier ein geistiger, darum eigentümlich klerikalischer Wirkungskreis, nämlich der, der Aufklärung, der religiösen Freisinnigkeit, dem eigentümlichen geistigen Leben in dem Orden Halt, Nahrung und rituelle Form und Übung zu geben, wozu der Tempelkleriker sowohl durch geistige Bildung als durch liturgische Kenntnisse am meisten befähigt war. Deshalb flüchtete sich der vorurteilsfreie, prüfende Kleriker vor dem starren Joch der Kirche, aus den engen, dumpfen Klosterzellen, indem er allem entsagte, was die engherzige, geistfesselnde Hierarchie ihm bieten konnte, hinaus zu der geistigen Freiheit des Tempels, in dessen heiteren Massoneien diese für jene Zeit üppig genug gepflegt wurde. “ 35 Die Verwaltungs- und Umgangssprache des Ordens war französisch, doch verstanden gerade die Geistlichen auch Latein, um der Messe willen. Mit den lokalen Kaufleuten mußte arabisch verhandelt werden. Aber die Bibel lasen die Ordensgeistlichen oft auch im hebräischen, aramäischen und griechischen Urtext. Heikle Briefe und Dokumente mußten manches Mal verschlüsselt geschrieben werden. Dabei wurden verschiedene Arten von Codes benützt. 36 34 Vgl. Christopher Knight und Robert Lomas: The Hiram Key. Shaftesbury - Boston - Melbourne 1997, S. 33 35 Ferdinand Wilcke, op. cit., S. 466 36 Vgl. Christopher Knight und Robert Lomas, The Hiram Key, op. cit., S. 33 - 34 10 Zur Entstehung der Templergnosis <?page no="29"?> Der Schlüssel eines dieser Codes beruhte auf dem Tatzenkreuz, doch der wichtigste war der Code, der auf dem Pentagramm beruhte, einem der Hauptsymbole des Ordens. 37 Ein dritter war der sehr alte und einfache Atbas-Schlüssel des ersten nachchristlichen Jahrhunderts. 38 Was die Verbindung des Ordens mit anderen gnostischen Traditionen der Zeit betrifft, so haben gewiß Beziehungen zu jener Bewegung bestanden, in welcher die Gnosis an die Oberfläche und in das Licht der historischen Geschehnisse trat, und das war durch die Albigenserkriege nach 1209. 39 Aber wie fast immer und überall bei den Templern klaffen auch hier die krassesten Widersprüche. Eine allerdings programmatisch antiesoterisch eingestellte Geschichte der Templer behauptet fest und steif, diese hätten mit Nachdruck am Verbrennen und Hängen der gnostischen Albigenser Häretiker teilgenommen, wobei aus den Flammen der Funke sprang, der sie selbst später verbrennen sollte. 40 Bereits vor mehr als hundert Jahren hat jedoch schon ein Historiker nachdrücklich daran erinnert, daß der Templerorden einen nicht unbedeutenden Teil seiner Mitglieder selbst gerade aus dem großteils häretischen Adel der Provence rekrutiert hätte und hat die naheliegende Möglichkeit unterstrichen, daß eine der Wurzeln der Templergnosis sogar dort liegen könnte. 41 Die Herkunft vieler Templer aus Familien der Katharer wurde seither wiederholt betont, zusammen mit der Behauptung einer bewahrten Neutralität der Templer in der Auseinandersetzung in den Katharer- „ Kreuzzügen “ . Einer der Templer-Großmeister erklärte sogar mit Nachdruck, es gäbe nur einen wirklichen Kreuzzug, und zwar jenen gegen die aggressiven Mohamedaner. Schon zuvor war einer der wichtigsten Großmeister, Bertrand de Blanchefort, aus einer Familie gekommen, die aus der sehr geschichtsträchtigen Gegend von Bézu und Rennesle-Château stammte und deren Mitglieder als Sympathisanten der Katharer galten. Gerade zu Beginn der Albigenser-Kreuzzüge hatte Papst Innocenz III. bereits die Templer „ unchristlichen Verhaltens “ und der „ Magie “ beschuldigt. Er hatte sogar in einem Brief an den Generalvisitator des Ordens 1208 „ die Ritter des Tempels “ des „ Teufelskults “ beschuldigt. Nun wurden von den Fundamentalisten im Mittelalter alle Formen von Magie, Astrologie und Alchemie gerne pauschal als „ Teufelskult “ abgetan und gerade Innozenz III. war ein Papst, der den Templern gewogen war, sodaß er es auf dem Brief beruhen ließ. 42 37 Vgl. David Kahn: Codebreakers. New York 1996, S. 823 38 Vgl. Christopher Knight und Robert Lomas: The Second Messiah. Shaftesbury - Boston - Melbourne 1998, S. 88 39 Die Albigenser nannten sich selbst Katharer. 40 Stephen Howarth: The Knights Templar. New York 1982, S. 191 41 Hans Prutz: Geheimlehre und Geheimstatuten der Templer. Berlin 1879, S. 99 42 Vgl. Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 473 11 Der Orden und seine Spiritualität <?page no="30"?> Als Jahre vor Beginn der Albigenser- „ Kreuzzüge “ Bernhard von Clairvaux, einer der Ahnherrn der Templer, 1145 in den Süden Frankreichs geschickt wurde, um die Katharer für eine mehr orthodoxe Form von Christlichkeit zu gewinnen, hatte er festgestellt: „ Keine Predigten sind christlicher als die ihren und ihre Moral ist rein. “ 43 Die Templer nahmen vielleicht zeitweilig am Krieg gegen die Albigenser teil, zeigten jedoch dann insofern eine klare Stellungnahme, als sie sich aus den Massakern, die zum Völkermord ausarteten, heraushielten. 44 Sie haben sogar Katharer in den Orden aufgenommen, um sie vor den Klauen der Inquisition zu schützen. 45 Ein Buch berichtet auch, daß noch dreißig Jahre nach Ende des „ Kreuzzugs “ gegen die Katharer die Inquisition Gebeine von Katharern ausgraben ließ, die auf Templer-Land begraben worden waren, um sie zu verbrennen. 46 Probleme sachlicher Erfassung der Fakten entstehen aber keineswegs nur durch Gegner jeglicher Esoterik oder Feinde des Ordens, sondern auch durch Autoren, die auf der Seite der Templer sein wollen oder es zumindest vorgeben, die jedoch Schwarmgeister oder gar Schwindler sind. Die wahrscheinlich größte Fälschung der neuesten Zeit, die seit den Achtzigerjahren in eine ganze Reihe von Büchern Eingang gefunden hat, ist die Legende von einem „ Priorat Notre Dame von Sion “ , einer angeblichen Geheimgesellschaft, deren Großmeister-Kette bis herauf ins 20. Jahrhundert bekannt gegeben wurde. Die größte Wirkung erzielte sie dadurch, daß Dan Brown sie in seinen Bestseller The Da Vinci Code (deutsch: Sakrileg) übernahm - vielleicht sogar in gutem Glauben, wie so viele andere. Durch seinen Roman, der Dutzende von Millionen Exemplare absetzte, wurde die Fälschung auf der ganzen Welt verbreitet. Der betrügerische Gründer Pierre Plantard hat auch ein Buch Gisors et son secret darüber geschrieben, von dem das Templerbuch von Gérard de Sède eine Kurzfassung enthält. Als im Zusammenhang mit dem Pelat-Prozeß der Richter eine Hausdurchsuchung bei Pierre Plantard anordnete, wurde ein Bündel gefälschter Dokumente konfisziert und in einem davon erklärt sich Plantard selbst zum „ wahren König von Frankreich “ . Plantard hat dann vor Gericht unter Eid die Fälschungen eingestanden. Gelegentlich, doch nur sehr selten, gibt es in der Templer-Literatur auch Warnungen davor. Die Verbreitung der Fälschung bis in Arbeiten seriöser Historiker hinein war weit erfolgreicher. In einer der seltenen Warnungen heißt es: „ Die Akten der Gründung des (Templer-)Ordens werfen in keiner Weise ein Licht auf die behauptete Verbindung mit dem Priorat von Sion. In vielfacher Hinsicht erzeugen sie mehr Konfusion als Klarstellung. “ Sodann wird die ernster zu nehmende, sogenannte „ Rex-Deus “ -Gruppe dem Priorat 43 Laurence Gardner, op. cit., S. 269 44 Alan Butler und Stephen Dafoe: The Knights Templar revealed. London 1999, S. 192 45 Keith Laidler: Das Haupt Gottes. Bern - München - Wien 1999, S. 270. Vgl. auch Yuri Stoyanov: The hidden Tradition of Europe. London 1994 46 Lynn Picknett und Clive Prince, op. cit., S. 105 12 Zur Entstehung der Templergnosis <?page no="31"?> gegenübergestellt. Nach manchen Dokumenten waren die Templer 1119 gegründet worden, während eine andere, mehr plausible, jedoch wenig bekannte Version von einer verborgenen, häretischen Gruppe von Familien spricht, die großen Einfluß auf das europäische Leben ausgeübt haben. Sie nannten sich „ Rex Deus “ und beanspruchten die Abkunft von vierundzwanzig Priester-Familien des Tempels in Jerusalem und von Jesus selbst. 47 In der letzten Zeit verstärkt sich immer mehr die Überzeugung, daß es keine spontane und zufällige Gründung gewesen ist, sondern daß grundlegende geistige Voraussetzungen mit im Spiel waren und daß darüber hinaus das Ganze gezielt geplant war, um stellvertretend von den neun französischen Aristokraten durchgeführt zu werden. Diese waren bereits bewußt auf der Suche nach den frühen Grundlagen der Templergnosis gewesen. Bei der voll entwickelten Templergnosis ging es schließlich aber um eine eigenartige Geistigkeit, die nicht nur durch Züge des Joachimismus zusammen mit Elementen der arabischen und neuplatonischen Philosophie gespeist wurde, sondern deren Synkretismus auch Züge jüdischer, ägyptischer und sogar auch druidischer Herkunft vereinnahmte. Solcher Synkretismus ist eine Tendenz, die vielen esoterischen Traditionen eignet. Wie sie sich auch notwendig vielfach des Redens in Bildern bedienen, was eine wichtige Mitteilungsmethode mystischer und gnostischer Erkenntnisse und Einsichten darstellt. Zugleich stellt diese Methode einen möglichen Schutz der Geheimhaltung gegenüber Unverstand und Böswilligkeit dar. Denn einer „ so gearteten Geistigkeit “ kam tatsächlich „ ein dem formenfesten Mittelalter unerträgliches Maß von Ungebundenheit und Aufklärung “ zu. 48 Dabei stellt diese Geistigkeit jedoch eine verbindende Brücke von zeitlosen, guten und bleibenden, jedoch ehrwürdig alten esoterischen Überlieferungen zu modernem Renaissancedenken dar. Das versucht das erste Kapitel über die „ Vorläufer “ zu belegen. Die tragende ökonomische und materielle Grundlage jener ritterlichen Spiritualität stellte aber nicht zufällig das moderne, internationale Bankwesen dar, das die Templer begründet hatten und das mit eine Grundlage zur Überwindung des wirtschaftlichen Feudalismus war. Die Templergnosis aber bildete ein wichtiges Zwischenglied als Erneuerung der weitgehend verschütteten alten Gnosis zu den Fortsetzungen der Templer- Spiritualität im Teil III. dieses Buches. Dantes Dichtung jedoch bleibt in zeitloser Größe weiter bestehen. 47 Tim Wallace-Murphy und Marilyn Hopkins, op. cit., S. 97. 48 Robert John, op. cit., S. 122 13 Der Orden und seine Spiritualität <?page no="32"?> 2. Vorläufer der Templergnosis „ Nur ein Mönchsorden ist jemals, vorher oder nachher, mit einer solchen Schnelligkeit gewachsen wie der Templerorden, die Zisterzienser. “ 49 Die beiden Autoren dieser Feststellung, Alan Butler und Stephen Dafoe, haben sich zunächst unabhängig voneinander mit der Geschichte der Templer beschäftigt und als sie einander zum ersten Mal begegneten, waren sie überrascht, wie sehr sie beide unabhängig voneinander zu gleichen Schlußfolgerungen gelangt waren. Zunächst war ihnen beiden klar, daß die alte, weithin akzeptierte Annahme, der Orden der Templer sei zufällig und spontan von neun französischen Aristokraten gegründet worden, unmöglich stimmen konnte, sondern daß die neun mit einer größeren und mächtigen Gruppe verbunden sein mußten, die miteinander geeint in Europa großen Einfluß besessen haben mußte. Die wahre Motivation der Templer müßte demnach eine ganz andere sein, als die von den ersten neun, bewaffnet die Straßen um Jerusalem zu sichern und die Pilger zu beschützen. Beide Autoren waren sich auch über die große Nähe und enge Verbindung der Templer mit den Zisterziensern einig und haben sie in ihrem Buch einmal geradezu „ Zisterzienser zu Pferd “ genannt. Mit diesen Überzeugungen stehen die beiden nicht allein, sondern diese Überzeugungen haben bereits in der neuen Templer-Literatur zu dominieren begonnen. So fragte sich etwa der französische Forscher Louis Charpentier, in welcher Eigenschaft die neun Ritter überhaupt nach Jerusalem gekommen seien, auch wenn sie vielleicht behauptet hätten, bewaffnet die Pilgerwege zu sichern. Es gab bereits den älteren Johanniterorden, der ein Hospital betrieb. Er war bereits ein voll etablierter Ritterorden. Die neun französischen Ritter waren dies nicht. Sie waren auch nicht Teilnehmer an einem Kreuzzugsheer und sie nahmen auch an keinen kriegerischen Handlungen teil. Auch waren sie nicht Einwohner Palästinas geworden, da sie ansonsten der König nicht aufgenommen hätte, der ihnen sofort einen ganzen Flügel seines Palastes einräumte. Nachdem er selbst bald darauf in die Stadtfeste des Davidturms umgezogen war, überließ er ihnen seinen ganzen Palast. Nach außen hin wegen des Ortes ihrer Niederlassung, die sich an der Stätte des zerstörten Tempels von Salomon befand, nannten sie sich Tempelritter oder kürzer einfach Templer, was jedoch eine tiefere Bedeutung hatte. Etwa sechs Jahre nach Ihrer Ankunft gesellte sich ihnen ein zehnter „ Ritter “ hinzu, Hugo Graf von Champagne, der Herr eines Landes von der Größe eines Königreichs, das allerdings mit der französischen Krone alliiert war. 49 Alan Butler und Stephen Dafoe, op. cit., S. 127 14 Zur Entstehung der Templergnosis <?page no="33"?> „ Einer der größten Lehensherrn Frankreichs - ein Straßenwächter? “ , fragt Charpentier mit ironischem Unterton. 50 Er fragt aber weiter: Von wem sind sie beauftragt und gesandt, wem leisteten sie Gehorsam? Zwar heißt es, sie hätten in die Hand des Patriarchen von Jerusalem ein Gelübde abgelegt, aber noch 1123 hatte ihr Gründer, Hugo von Payens, Dokumente als Laie unterschrieben und die neun waren noch gar nicht geistlichen Standes. Einer noch nicht vorhandenen Ordensregel kann man nicht gehorsam sein. Auch dem König von Jerusalem leistete man nicht Gehorsam, sondern leistete ihm einen Treueid. Charpentier fand heraus, daß der Schutzherr der neun Bernhard von Clairvaux war: „ Ihm galt das Gelübde des Gehorsams, noch bevor es zur Stiftung kam. “ 51 Dies ist ein Kettenglied mehr in der engen Verbindung der Templer mit den Zisterziensern. Der „ Auftrag “ der neun war nicht erfunden. Es mußte eine andere Motivation für ihren neunjährigen Aufenthalt geben, als Straßenwächter zu sein. Wie denn auch der Untergang des Ordens nicht so vollständig war, wie er in der älteren Literatur geschildert wird. Die neun begannen ja auch tatsächlich sofort nach ihrer Ankunft mit ihren Grabarbeiten am Tempelberg. Von den zuerst genannten beiden Autoren hatte sich Alan Butler zunächst mit frühen Spuren menschlicher Kultur in der Bronzezeit zu beschäftigen begonnen und zwar mit ungewöhnlichen Phänomenen, nämlich dem mathematischen, astronomischen und geometrischen Wissen der Zeit. Dabei war er auch auf das Buch eines französischen Forschers namens Xavier Guichard gestoßen, 52 dessen Titel bereits an einen alten Mysterienkult anknüpft, und die Gnosis war mit den Ideen der Mysterienreligionen fast immer eng verbunden. Guichard hatte herausgefunden, daß in der Bronzezeit Teile Westeuropas von geraden langen Linien durchzogen waren. Viele davon begannen in einem Zentrum, von dem sie, gleichsam wie von der Nabe eines Rades beim Fahrrad die Speichen, in alle Richtungen ausliefen. Er hatte auch entdeckt, daß sich entlang dieser Linien immer wieder besonders häufig Orte mit Namen befanden, welche die Silbe „ al “ enthielten, wie zum Beispiel Alaise, Calaise und so weiter. Er nahm an, daß diese Silbe den erhalten gebliebenen Hauptteil des altgriechischen Wortes „ Hal “ darstellt, was um so sinnfälliger ist, als der H-Laut im Griechischen keinen eigenen Buchstaben hat, sondern nur durch einen kleinen Akzent gekennzeichnet wird. Hal aber bedeutet Salz. Guichard nimmt an, daß die geraden Linien, die diese Orte verbanden und die einer Art von Längen- und Breitengraden entsprachen, der Navigation für den Salztransport gedient hatten. Alan Butler entschied sich, diese Linien als eine Dankesgeste gegenüber Guichard, dessen Erkenntnisse leider niemals gewürdigt worden waren, „ Salz- 50 Louis Charpentier, op. cit., S. 48 51 Louis Charpentier, op. cit., S. 50 52 Xavier Guichard: Eleusis Alésia: Enquête sur les origines de la civilisation européenne. Abbeville 1936 15 Vorläufer der Templergnosis <?page no="34"?> grade “ oder „ Salzlinien “ zu taufen. Er hielt diese Linien darum für wichtig, weil sie ein ungewöhnliches Beharrungsvermögen und eine lange Lebensdauer zeigten. Als die Kelten in England einzogen, errichteten sie entlang dieser Salzlinien zahlreiche Schreine und heilige Stätten. Das galt auch für die nachfolgenden Römer und die jenen nachfolgenden Angelsachsen. Allerdings begründete jede neue Kultur auch neue Strecken von „ Salzlinien “ und dies an Orten, an denen keinerlei Anhaltspunkte für frühere Anwesen oder Gebäude bestanden. Als William der Eroberer von der Normandie kommend mit seinen Leuten England übernahm, gab es eine volle Namensliste von Rittern, die für ihn gekämpft hatten. Dabei stellte sich heraus, daß jene Aristokraten, die in der Normandie längs der Salzlinien gelebt hatten, in überwiegender Mehrzahl sich auch entlang von Salzlinien in England niederließen. Alan Butler verfolgte die Entwicklung dieser baronalen Familien und stellte fest, daß eine Reihe von Namen auch unter jenen Rittern des Kreuzzugheeres auftauchte, die im Ersten Kreuzzug 1099 Jerusalem erobert hatten. Dieselben Familien und andere Salzlinien-Familien, die mit ihnen blutsverwandt waren, hatten eine wesentliche Rolle bei der Bildung des Ordens der Zisterzienser wie der Tempelritter gespielt. Butler und Dafoe versuchten jedoch, die Linie der Vorläufer der Templer noch weiter bis in die minoische Megalithkultur und andererseits auch zu den alten Ägyptern zurückzuführen. Da der enge Zusammenhang zwischen den Templern und dem Tempel Salomos außer Zweifel steht, wird auch das Hohelied Salomos aus dem Alten Testament beschworen, in dem nicht nur der Pharao direkt genannt wird. Vordergründig betrachtet handelt es sich um die hymnische Lobpreisung Salomos für die schwarze Königin von Saba, die selbst auch ihren esoterischen Stellenwert hat. Tatsächlich geht es aber im Hohelied um eine verschlüsselte Klage der Isis um ihren toten Gatten, sodaß das Ganze sich tatsächlich um den ägyptischen Isis-Mysterienkult dreht. Die Verbindung jeglicher Gnosis mit den Mysterienkulten steht ebenso außer Zweifel, wie die besondere Beziehung der Templer zu Isis. Hier diente Maria oft nur als Tarnung für Isis, die mit Sophia gleichgesetzt wurde. Es ging um die Anbetung der großen Muttergöttin und auch um die Verehrung von Götterpaaren wie Isis und Osiris oder Demeter und Dionysos. Isis war ja auch Jahrtausende vor Maria zur jungfräulichen Gottesgebärerin des Horus geworden. Im Hohelied Salomos dürfen die erotischen Metaphern nicht dazu verführen, davon abzulenken, daß es um die Klagen der Isis um ihren verstorbenen Gatten Osiris geht. Tatsächlich war das Hohelied natürlich auch besonders wichtig für Bernhard von Clairvaux, der ihm über achtzig Predigten gewidmet hat. Butler und Dafoe verweisen auf die Herkunft von Demeter und Persephone aus Kreta, der Heimat der alten, minoischen Kultur und stellen eine Beziehung zwischen der frühen israelitischen Religion und den Minoern und Philistern her. Durch den Ausbruch des Vulkans Santorini war eine große Anzahl von Minoern auch in die Levante 16 Zur Entstehung der Templergnosis <?page no="35"?> geflohen, waren Philister geworden und hatten durch diese Einfluß auf die Entwicklung des modernen Judaismus gewonnen. Ebenso unterstreichen Butler und Dafoe die Tatsache der spirituellen Nähe, ja Parallele zwischen der Templergnosis und den gnostischen Schriftrollen, die in Qumram und Nag Hammadi gefunden worden sind. Besonders aber arbeiten sie im Zusammenhang damit Parallelen zwischen der Sekte der Essener einerseits und den Templern und Zisterziensern andererseits heraus. Die Lehre der Essener enthielt Gebote auf die Vorbereitung, im Ernstfall die Lehre mit Waffengewalt wie die Templer gegen direkte militärische Bedrohung zu verteidigen. Sowohl den Essenern wie den Zisterziensern ging es um die Gründung eines neuen Jerusalem. Beide Orden trugen Weiß und beide liebten einsame Plätze für ihre Niederlassungen, wobei die Zisterzienser sogar das Wort „ Wüste “ gebrauchen, das für die palästinischen Essener sehr viel natürlicher klang. Beide Orden brachten besondere Sorgfalt der Hygiene entgegen und bemühten sich, ihre Behausungen mit viel Wasser zu versorgen. Wenn der große Lehrer der Essener wirklich Jakob der Gerechte, der Bruder von Jesus mit dem Beinamen „ Lehrer der Gerechtigkeit “ , gewesen ist, dann gibt es noch eine weitere Parallele. Jakob hatte niemals, weder sich selbst noch Jesus als Gründer einer neuen Religion betrachtet, sondern lediglich als Begründer einer reformierten Form des Judentums oder gar nur eines von dessen esoterischen Kernstücken. Er hätte keinerlei Schwierigkeiten gehabt, wäre er ein Zeitgenosse Bernhards gewesen, sich mit diesem zu verständigen. Umgekehrt nahmen die frühen Zisterzienser und ganz besonders Bernhard von Clairvaux selbst eine überaus ungewohnte Haltung gegenüber dem Judentum ein. Gerade in einer Zeit der Judenverfolgung nahm Bernhard bei einer Reise ostwärts jenseits des Rheins die Gelegenheit wahr, um dort verbreitete Pogrome zu unterdrücken. Er hatte jüdische Schreiber und Gelehrte in seine Abtei nach Clairvaux geholt und er war ein Förderer der kabbalistischen Schulen in Rouen und besonders in Troyes. Natürlich haben Butler und Dafoe es auch nicht unterlassen, in der Levante nach Salzlinien zu suchen, und sie fanden, daß die stärkste vom Toten Meer wie ein Längengrad durch die wichtigsten Orte gerade nach Norden führt. Sie nahmen an, daß Jakob jener berühmte „ Lehrer der Gerechtigkeit “ der Essener war, da er oft den Beinamen „ der Gerechte “ führt. Jakob trug immer priesterliche Kleidung und war berechtigt, das innerste Sanktum im Tempel von Jerusalem zu betreten, was er nur tun konnte, wenn er hochrangiger Priester war. Nach der Verhaftung von Paulus und der Flucht von Petrus nach Rom war Jakob das anerkannte Haupt der Kirche, die eine Jerusalem-Kirche war. Sowohl die Essener wie die Zeloten haßten die Herrschaft Roms und es gab böse Spannungen zwischen Jakob und Paulus. Paulus war wohl auch der erste, der die Gnostiker verdammte. Jakob dachte keinen Augenblick daran, Nicht-Juden für seine Kirche zu konvertieren, im vollen Gegensatz zu Paulus. Nur durch die Vertreibung der römischen Legionen und durch den Austausch der römischen 17 Vorläufer der Templergnosis <?page no="36"?> Marionetten von Tempelpriestern durch echte Priester konnte jener Teil der jüdischen Bevölkerung, welcher die religiöse und politische Einheit unter Salomon wieder herstellen wollte, triumphieren. „ Die Zisterzienser Doktrin wie jene der Essener ging zurück auf den Anbruch des Judentums und die Gründung des ersten Tempels unter Salomon . . . Die Faszination, welche sowohl die Zisterzienser wie die Templer für diese frühe Periode des Judentums besaßen, ist ohne jede Parallele . . . Es ist eine wenig bekannte Tatsache, daß die Kräfte, die bestimmend für den Ersten Kreuzzug gegen das Heilige Land im späten 11. Jahrhundert waren, genau dieselbe Motivation hatten, und daß sie, obwohl sie diese nicht redselig zeigen konnten, denselben Haß gegen Rom hegten wie die Essener. “ 53 Es gelang Butler und Dafoe auch, eine plausible Hypothese aufzustellen, wie jüdische Flüchtlinge, beginnend bereits während des jüdischen Aufstands in Palästina gegen Rom, nach Glastonbury in Somerset, England, nach Schottland und Irland und nicht zuletzt nach Frankreich geraten waren, wo mit Ausnahme von Glastonbury die jeweils spirituellen Führer des Landes die Druiden waren, denen die Römer so mißtrauten wie den Juden in Palästina. Da auch nach der Synode von Whitby das britische Christentum in keiner Weise straff katholisch ausgerichtet war, sondern sich die keltische Kirche große Freiheiten herausnahm, konnte natürlich auch das culdäische Christentum existieren, das hauptsächlich in Mönchsgemeinschaften und Einsiedeleien blühte, und das Einsamkeit und versteckte, menschenleere Orte für seine Niederlassungen ganz wie die Essener und Zisterzienser liebte. Viele der culdäischen Gründungen befanden sich an Stätten mit denselben Längen- und Breitengraden wie die Salzlinien. Auch die culdäischen Heiligen waren oft von Salzlinien- Familien entlehnt und lokal bedeutende keltische Gottheiten wurden in die kirchliche Praxis und ihre Rituale aufgenommen, für die man als eine Art Furniere eine Geschichte erfand, die sie der großen Kirche akzeptabel machten. Als sich allerdings gegen Ende des 12. Jahrhunderts die Zisterzienser plötzlich kometenhaft verbreiteten, kam es zur Unterdrückung culdäischer Zentren, da die Zisterzienser jetzt alles direkt selbst übernahmen. Je länger je mehr war es Butler und Dafoe klar geworden, daß unter all den französischen Orten an Salzlinien sie sich besonders Dijon, der Hauptstadt von Burgund, und Troyes, der Hauptstadt der Champagne, zuwenden mußten. Während sich im Heiligen Land die wichtigsten Ereignisse abspielten, die in der Eroberung von Jerusalem gipfelten, vollzogen sich in Troyes in aller Stille und Verschwiegenheit andere Entwicklungen. Troyes war eine Salzlinien-Stadt von wirklicher Bedeutung und es war die Hauptstadt eines de facto unabhängigen Staates, der Champagne, die allerdings mit der französischen Krone alliiert war. Hugo, der Graf von Champagne, war ein Mann von Bildung und Kultur und 53 Alan Butler und Stephen Dafoe, op. cit., S. 44, 45 und 48 18 Zur Entstehung der Templergnosis <?page no="37"?> lebte in einem großen Palast in der Mitte der Stadt. Einer seiner Verwandten, der Hugo von Payens hieß und ein Lehen nordwestlich von Troyes besaß, sowie ein anderer Verwandter, der André von Montbard hieß und der zugleich ein Onkel des Bernhard von Clairvaux war, gemeinsam mit einer Handvoll anderer Aristokraten setzten einen Plan, der wohl von Bernhard von Clairvaux stammte, in die Tat um. Dieser sollte dazu führen, die alte Jerusalem-Kirche, die von der römischen ihres Ursprungs entfremdet worden war, wieder herzustellen und die Augen der Welt auf Jerusalem zu lenken. Butler und Dafoe betonen ihre Annahme, wonach natürlich Salzlinien- Familien ihre Hand im Spiel hatten, sei wesentlich durch die geographische Lage des Klosters Cîteaux untermauert worden. Die Abtei befand sich direkt auf einem solchen Salzliniengrad. Aber auch der Name der Abtei Cîteaux ist denkwürdig. Denn einer der möglichen etymologischen Zusammenhänge des Worts ist das Wort „ Zisterzienser “ und eine zweite Möglichkeit das Wort „ Zisterne “ , was eine Anspielung auf die Essener wäre. Eine dritte Möglichkeit wäre das Wort „ Cistertium “ , die französische Bezeichnung einer Abkürzung der lateinischen Worte „ Cis tertium lapidem militarum “ ( „ Auf dieser Seite des dritten Meilensteins “ ), was sich auf die nahe Lage bei einem alten, römischen Meilenstein bezog. Besonders eigenartig sind jedoch die näheren Umstände der Aufnahme Bernhards in diese Abtei. Als der kaum Dreiundzwanzigjährige seinen Entschluß bekannt gegeben hatte, Mönch zu werden, löste er den erbitterten Widerstand seines älteren Bruders, des Grafen von Fontaine aus, der über diesen Entschluß geradezu entsetzt war. Wir wissen nicht, was sich hinter der Szene abgespielt hat. Doch hat sich jedenfalls folgendes ereignet: Kaum ein Jahr später tauchte dieser ältere Bruder selbst zusammen mit dreißig anderen Verwandten in Cîteaux auf, um dem Orden der Zisterzienser beizutreten. Die mächtige burgundische Familie war in Fontaine beheimatet, das natürlich auch auf einem Salzliniengrad lag. Bernhard aber wurde zwei Jahre später mit fünfundzwanzig Jahren Abt des Klosters Clairvaux, das natürlich auch auf einem Salzliniengrad lag. Das Kloster hatte Graf Hugo von Champagne speziell für ihn bauen lassen. Gewiß: Bernhard hatte bereits als Dreijähriger Visionen von der heiligen Maria gehabt, die sich später intensivieren und verdeutlichen sollten. Das wiederum hing zweifellos mit einer für die damalige Zeit überaus unüblichen Bindung an die früh verlorene Mutter zusammen. Daß aber der Fünfundzwanzigjährige, der gerade knappe zwei Jahre Mönch gewesen war, in Clairvaux als Abt einzog, war mehr noch als seiner Fähigkeit zu führen dem Einfluß seiner Familie zu danken. Von früher Jugend an bis zu seinem Tod war er ein christlicher Mystiker gewesen. Er starb zwar in seinem geliebten Clairvaux und wurde dort begraben, doch während der Französischen Revolution wurde das goldene Reliquiar, in dem sich der Kopf befand, beschlagnahmt und zum Zweck der Münzprägung eingeschmolzen. Mönche des radikalen Flügels der Zisterzienser, nämlich der Trappisten, retteten den Kopf und brachten ihn in der Schweiz in Sicherheit. Als 19 Vorläufer der Templergnosis <?page no="38"?> er aber sehr viel später, als es wieder sicher war, nach Frankreich zurückkehrte, da wurde er mit großer Verehrung im Schatz der Kathedrale von Troyes aufbewahrt. Auf Grund all dieser Tatsachen haben Butler und Dafoe die Existenz einer Bruderschaft von Troyes angenommen. Sollte es eine solche Bruderschaft wirklich gegeben haben, dann könnte sie an der kabbalistischen Schule in Troyes besonders interessiert gewesen sein. Bereits 1070 hatte sie Rabbi Schlomo Jithchaki, genannt Raschi, am Hof Theobalds III., Graf von der Champagne und Blois, gegründet. Die Ausbeute der neun Ritter in Jerusalem mit den urchristlichen Schätzen der Jerusalem-Kirche war dabei wohl ein Hauptstück. Bernhard von Clairvaux hat in der Einleitung zu seiner Templer-Regel erklärt, daß die neun nach Erfüllung ihrer Aufgaben zurückgerufen worden waren, und zwar von „ Damedieu “ , Jesus Christus und ihm selber. „ Damedieu “ aber steht meiner Überzeugung nach für Notre Dame von Chartres. Es war der Bischof von Chartres, der bereits 1114 über die neun ersten Ritter geschrieben und sie „ die Soldaten Christi “ genannt hatte. In die Champagne aber waren sie nicht nur wegen des Konzils in Troyes zurückgerufen worden, sondern nicht zuletzt auch, weil sie hier unter dem Schutz des Grafen von Champagne an einem Ort waren, „ wo genug Vorsichtsmaßregeln gegen eine Einmischung weltlicher oder kirchlicher Machthaber getroffen werden konnten, wo man damals am besten ein Geheimnis bewahren und ein Versteck hüten konnte. “ 54 Bernhard von Clairvaux hatte auch selbst die „ Heilige Geometrie “ der Maurer des Königs Salomo übersetzt, 55 jener Bruderschaft „ Les Enfants de Salomon “ , von welcher Charpentier annimmt, daß sie die Bruderschaft der gotischen Bauleute gewesen ist, die auch die Kathedrale von Chartres gebaut hat. Diese Kathedrale „ Notre Dame “ zu Chartres ist die einzige Kathedrale, „ in der nicht ein einziger König, Bischof, Kardinal, Kanonikus oder sonst jemand begraben ist. Es war eine heidnische Stätte, geweiht der traditionellen großen Muttergöttin, eine Stätte, zu welcher Pilger lange vor Jesus gereist waren. Der ursprüngliche Altar befand sich über der Grotte der Druiden, die einen heiligen Dolmen barg und die mit dem Schoß der Erde gleichgesetzt wurde. “ 56 Louis Charpentier hat in seinem Buch über die Kathedrale von Chartres nicht nur deren Verbindung mit den Templern aufgezeigt, sondern ist überdies auf die geistige Vorläuferschaft beider, der Kathedrale wie der Templer, eingegangen. Zwei andere Autoren haben versucht, einiges über die geheimnisvolle Rex- Deus-Gruppe herauszufinden. 57 Ihre Mitglieder hielten sich für die Nachkommen von Priestern des salomonischen Tempels, deren Vorfahren entweder kurze Zeit vor oder knapp nach der Zerstörung des Tempels durch die Römer zuerst nach 54 Louis Charpentier, op. cit., S. 65 - 66 55 Laurence Gardner, op. cit., S. 257 56 Laurence Gardner, op. cit., S. 264. 57 Christopher Knight und Robert Lomas, The Second Messiah, op. cit., S. 78 ff. 20 Zur Entstehung der Templergnosis <?page no="39"?> Griechenland geflohen waren und sodann von hier in Länder Westeuropas, in denen der direkte Einfluß Roms höchst gering war. Dort nahmen sie Sprache, Sitten und Bräuche des Gastlandes an und zumindest als Lippenbekenntnis auch die Religion. Das Geheimnis der Zugehörigkeit zu der Gruppe wurde jeweils vom Vater auf einen Sohn weitergegeben, wenn dieser einundzwanzig Jahre alt war. Es mußte nicht der älteste Sohn, sondern konnte irgendein Sohn der Wahl des Vaters sein. Knight und Lomas berichten, daß der ihnen bekannte Historiker Tim Wallace-Murphy nach einem seiner Vorträge von einem eleganten Zuhörer angesprochen worden sei, der sich als Nachfahre des Hugo von Payens vorgestellt und ihm die Geschichte von der Rex-Deus-Gruppe erzählt hatte. Die Männer der Gruppe glaubten ihre Stunde gekommen, als im Ersten Kreuzzug Jerusalem erobert worden war. Ob sie bei aller Macht, die sie besaßen, auch an der Organisierung des Kreuzzugs und der Wahl des Kriegers Gottfried von Bouillon beteiligt waren, kann hier nicht beantwortet werden, aber zweifellos hatten sie ihre Hand bei der Gründung des Zisterzienserordens im Spiel und ebenso zweifellos waren zumindest drei, wenn nicht alle neun der französischen Aristokraten, die nach Jerusalem reisten und die genau wußten, wo und wonach sie zu graben hatten, Mitglieder der Gruppe. Sie gruben unter der Stätte des ehemaligen salomonischen Tempels nach den Schätzen, die dort vor dem Ansturm der Römer auf die Mauern der Stadt vergraben worden waren. Zunächst öffneten sie die ehemaligen Ställe, die bis dahin unberührt geblieben waren und danach gruben sie auch in die Tiefe. Nicht einmal des Scheines halber bewachten sie Straßen und beschützten sie Pilger, sondern sie konzentrierten sich auf ihre Grabarbeiten, die aus guten Gründen neun Jahre in Anspruch nahmen, denn es war eine schwierige Aufgabe. Das wird sofort klar, wenn man die Skizze betrachtet, die Lieutenant Warren vom britischen Pionierkorps angefertigt hat, der zu der Abteilung von Pionieren gehörte, die am Tempelberg dieselbe Aufgabe wiederholte. Die Skizze zeigt, wie ein Mann rund siebenundzwanzig Meter tief in einen senkrechten Schacht hinuntergelassen wird, von dessen Ende aus ein waagrechter Tunnel in den Berg führt. 58 Zu den gesuchten Schätzen gehörte aber nicht nur die Bundeslade mit den Gesetzestafeln und Gold, sondern gehörten nicht zuletzt auch vergrabene Schriftrollen, mit denen die französisch aufgewachsenen Ritter allerdings wenig anderes anfangen konnten, als sie nach Frankreich zu transportieren, wozu Bernhard auch von vornherein den Auftrag gegeben hatte. Von hier aus betrachtet, erhält die besondere Aktivität Bernhards, nicht nur die Kabbala- Schulen in Troyes und Rouen zu unterstützen, sondern auch jüdische Schreiber und Gelehrte in das Kloster Clairvaux zu holen, einen überzeugenden Sinn. 58 In The Second Messiah, op. cit., S. 27, ist die Skizze reproduziert. 21 Vorläufer der Templergnosis <?page no="40"?> Dabei ging es nicht nur um die gnostischen Texte der Essener als Begründer der Jerusalem-Kirche, die vor Paulus nur Juden zugänglich gewesen war, sondern höchst wahrscheinlich bei den Gesetzestafeln um sehr viel mehr. Diese Tafeln sind nämlich „ die Tafeln des Logos, des Wortes, der Vernunft, des Maßes, der Verhältnisse, der Zahl. “ 59 Sie enthielten die von Gott gesetzte Ordnung. Man hatte geglaubt, wer im Besitz der Tafeln sei, hätte Zugang zur Einsicht in die große, universale Weltordnung, die das Universum durchdrang. Diese Erkenntnis sollte die Fähigkeit verleihen, von den Wirkungen auf den Grund der Ursachen zurückzugehen und dadurch die Wirkungen lenken zu können. Solche Kenntnisse, die Macht bedeuteten, mußten Würdigen vorbehalten bleiben. Deshalb war die Bundeslade dreifach gesichert: Erstens durch die bewaffneten Leviten, eine Priesterkaste des Tempels, zweitens durch angesammelte statische Elektrizität von Figuren auf der Bundeslade, die Eindringlingen zumindest einen heftigen Schlag versetzen konnte, und drittens durch geheime Abwehrkräfte, die böse Beulen hervorriefen, als die Philister den Versuch machten, einzudringen. Aber selbst wenn man alle Hindernisse überwand, dann stand man noch immer vor dem Nichts. Denn die Texte waren in einer Sprache und Schrift übermittelt, die der unkundige Mensch nicht entziffern konnte. Es ging dabei nicht einfach um Buchstabenverschlüsselung, sondern auch um Zahlensysteme, im Klartext: um die Kabbala. Darum war auch Bernhard von Clairvaux nicht der einzige Zisterzienserabt, der gelehrte jüdische „ Schreiber “ heranholte. Der Abt des Klosters Cîteaux, Stephen Harding, störte nicht nur etliche seiner Mönche aus ihrer kontemplativen Ruhe auf, indem er sie hebräisch studieren ließ, sondern berief ebenfalls gelehrte Rabbiner. Harding hatte den Geheimorden der Baumeister nicht nur als Mittel zum Zweck benutzt, sondern wie schon lange zuvor die Templer 60 den Sufismus selbst entdeckt. Diese islamische Mystik war ja von den fanatischen Fundamentalisten des Islam selber, den Gegnern der Templer im Heiligen Land, immer wieder radikal bekämpft worden. Im Mittelpunkt des wahren Sufismus aber steht die Liebe, die eine Hinwendung zu Gott bedeutet. Das ist eine echte Parallele zum Kern der Templergnosis. Ja, manche Sufis sahen in Jesus einen Sufi. Der Salomonische Tempel spielt bei der von Mauruf Kharki um 800 gegründeten islamischen Version dieses Ordens der Baumeister eine Hauptrolle, in dessen Zentrum die Hiram-Legende 59 Louis Charpentier, op. cit., S. 55 60 Der Geheimorden der Baumeister hatte nach manchen seinen Urpsrung in einer Dionysischen Bruderschaft, die von griechischen Joniern in Kleinasien gegründet worden war und die später auch in islamische Gebiete ausstrahlte. Es war sogar zur Gründung einer islamischen Organisation gekommen. Auch Robert John hatte wie auch Tom Goeller auf den Bezug zum Sufismus und besonders zum Derwischorden hingewiesen. Vgl. Robert John, op. cit., S. 236, 237, 246, 251, 263, 268 22 Zur Entstehung der Templergnosis <?page no="41"?> steht. 61 Sowohl bei den „ Baumeistern “ als auch beim Orden der Ismailiten geht es um gnostisches Wissen. Die sieben Stufen zur Katharsis der Ismailiten sind mit der Lehre der Essener verwandt. 62 Ja, der Gesamtbegriff des „ Sufismus “ ist aus dem griechischen Wort „ Sophia “ abgeleitet und damit wieder der Templergnosis selbst eng verwandt. Ali al-Azhar war für die alten persischen Gnostiker ein Vorbild des Weges aus der Finsternis zu Gott. Für diese war er ein „ Sohn der Witwe “ nach Mani, da seine Mutter seit 680 die Witwe von Husain war. 63 In erster Linie ist die Templergnosis aber ein Ausfluß jener Schätze der Grabungen am Tempelberg. Salomon, der nicht nur den Beinamen „ der Friedfertige “ , sondern auch „ der Weise “ trug, war aber selbst ein Eingeweihter. Er besaß die Tafeln des Gesetzes, den Schlüssel, um sie zu verstehen, und das Maß des Aaronstabes. Es waren nicht nur die Säulen des Tempels, die ihn so wichtig machten, es war auch seine Funktion als Bauherr und Begründer des Tempels. Kenner nehmen an, daß das berühmte „ Hohelied “ Salomos, das ein Teil des Alten Testaments wurde, ein verschlüsselter Kommentar Salomos zu den Gesetzestafeln war. Wenn das wirklich der Fall sein sollte, dann bringt auch das wieder die Templergnosis in den Vordergrund. Denn das Hohelied ist in einem seiner Hauptteile eine Wehklage der Göttin Isis um ihren verlorenen Gatten und Bruder Osiris und nicht nur das Hohelied selbst, sondern auch die Göttin Isis war den Templern und ihrer Gnosis höchst bedeutend. Bernhard von Clairvaux hat dem Hohelied nicht weniger als sechsundachtzig Predigten gewidmet. Denn natürlich geht es bei den erotischen Stellen nicht um körperliche Liebe, sondern um esoterische Probleme wie bei Dantes Beatrice. Im Mittelalter gab es auch die Legende von einem mysteriösen Johannes, der angeblich niemals starb, weil er nach der Zerstörung des Tempels die Bundeslade besessen hätte. Von demselben Priester Johannes heißt es an anderer Stelle auch, daß er nach Parzivals Tod den Gral besessen haben soll, was den Gral der Bundeslade an die Seite stellt. Im Falle des Gral gab es jedoch nur eine sehr indirekte Unsterblichkeit, nämlich insofern, als jeder seiner Nachfolger als König denselben Namen „ Priester Johannes “ annehmen mußte. Wenn Butler und Dafoe die Templergnosis bis zu den Ägyptern zurückzuführen trachteten, so führt sie Keith Laidler bis zur Megalithzeit der minoischen Kultur zurück. 64 Zweifellos richtig ist es, wenn er den Baphomet der Templer mit sehr viel älteren Schädelkulten in Verbindung bringt. Als Anthropologe ist Laidler bestens vorbereitet, ehrwürdigste alte Vorurteile wie nichts auf die Seite zu schieben, aber gelegentlich sind seine Spekulationen doch wirklich zu waghalsig. So benützt er etwa die scharfsinnigen Beobachtungen von Sigmund Freud in 61 Vgl. Allan Oslo, op. cit., S. 92 f. Auch Idries Shah: Die Sufis: Botschaft der Derwische, Weisheit der Magier. München 1976, S. 312 62 Vgl. Allan Oslo, op. cit., S. 87 63 Vgl. Allan Oslo, op. cit., S. 76 - 81 64 Keith Laidler, op. cit. 23 Vorläufer der Templergnosis <?page no="42"?> dessen Moses-Buch dazu, um zu einer Annahme der Identität von Moses und Echnaton zu gelangen. Oder es ist eine der grundlegenden Folgerungen des Buches, wonach Pharao Thutmosis III., der alttestamentarische Joseph, Echnaton und Jesus demselben Herrscherhaus entstammten. Das Buch beginnt mit dem Hinweis, daß der wahre Schatz der Templer nicht die Goldbarren waren, die auf Templerschiffe verladen im Hafen von La Rochelle vor Anker lagen und gerade an dem Morgen samt den Schiffen verschwunden waren, als die Häscher des französischen Königs kamen, um sie zu beschlagnahmen. Wobei es gar nicht sicher ist, daß es gelungen war, das Gold nach La Rochelle zu bringen. Wohl aber stimmt das Auslaufen der Flotte. Nach der phantastischen Spekulation Laidlers soll es überhaupt der Baphomet sein, der diesen Schatz ausmache. Den Begriff Baphomet führt er auf einen arabischen Begriff zurück, welcher „ Vater der Weisheit “ bedeutet. Freilich wird auch noch im ersten Kapitel darauf hingewiesen, daß dieser „ Schädel mit bestimmten Verletzungen “ , als schon die ersten Templer unter der Stätte des Salomonischen Tempels danach gegraben hatten, in „ letzter Konsequenz jüdischer Herkunft sein müsse “ . 65 Das Buch gelangt schließlich zu seiner letzten falschen Überzeugung, wonach es sich beim Baphomet um den einbalsamierten Kopf Christi gehandelt haben müsse, der jetzt in der berühmten Rosslyn-Kapelle, einem Zentrum der Templer, denen es gelungen war, sich nach der Auflösung des Ordens nach Schottland zu retten, begraben sei. Laidler behauptet sogar zu wissen, daß er unter der sogenannten Lehrlingssäule begraben ist, was ein Ergebnis komplizierter kriminalistischer Folgerungen darstellt. Trotzdem ist es gewiß nicht das Haupt von Jesus, sondern das Haupt von Johannes dem Täufer, welches den Urbaphomet darstellt. Infolge des Mißbrauchs des Reliquienhandels der Kirche gibt es eine ganze Reihe von Häuptern des Johannes. Sollten die Templer das echte Haupt besessen haben, dann gibt es vier gewichtige Gründe, weshalb ein solches möglicherweise sogar wirklich in der Rosslyn-Kapelle vergraben worden sein könnte. Gewiß nicht war es das von Jesus. Erstens haben die Templer bei ihrer Aufnahme in den Orden Christus abschwören müssen. Weshalb sollte plötzlich sein Haupt für sie so wichtig sein? Zweitens gehörte das Haupt des Johannes von Anbeginn in die große Tradition der „ sprechenden Häupter “ . Das war auch der Grund, weshalb Herodias das Haupt allen anderen Wunscherfüllungen von Land, Macht und Geld vorzog. Es war den Templern wichtig. Drittens spielt in den Ritualen zumindest einer Nachfolgeorganisation der Templer, bei den Freimaurern, Christus kaum eine Rolle, Johannes aber eine so große, daß die „ blaue Maurerei “ sogar den Namen „ Johannismaurerei “ trägt, 65 Keith Laidler, op. cit., S. 12. Interessantes findet sich im Kapitel „ Heiliges Haar, heilige Schädel “ S. 86 - 100 24 Zur Entstehung der Templergnosis <?page no="43"?> wobei allerdings beide Johannes gemeint sind, der Täufer sowohl wie der Evangelist. Viertens schließlich hat Ferdinand Wilcke, der freilich oft auch unrichtig urteilte, in diesem Fall eine sehr kluge Beobachtung gemacht: „ Im johanneischen Kultus wurde Johannes der Täufer durch die Feier des Johannestages und dadurch geehrt, daß sein Bildnis in der Kapelle oder im Kapitelsaal aufgehängt war. Denn das Bildnis eines Mannes, welcher nach den Aussagen im Prozeß in der Kapelle hing, den man anbeten sollte, ferner die Bildnisse, welche in figuram Baffometi gemalt sein sollten, also für Mohamedbilder gehalten wurden, sind nichts weiter als JOHANNESBILDER, welche den Täufer im kamelhärnen Gewand und ledernen Gürtel mit einem langen Bart darstellen. “ 66 Der Urbaphomet war schon das Haupt von Johannes. Laidler zitiert allerdings immer eine Unzahl von Quellen und hat das meiste so aufgebaut, daß er in geschickter Weise den Leser seine Schlußfolgerungen nachvollziehen läßt. In jedem Fall hat er eine Menge von Denkanregungen geboten. Grundsätzlich führt auch bei ihm von den eigentlichen Templern die Suche nach Vorläufern zurück ins alte Ägypten. Unter den „ Vorläufern “ sei auch der Einweihungsritus der keltischen Druiden erwähnt, der seine letzte und höchste Station in Schottland hatte und der noch dem Templeradepten William St. Clair (später Sinclair), dem Erbauer der Rosslyn-Kapelle im 15. Jahrhundert, bekannt war. Im großen Symbolschatz der Steinmetzarbeiten im Inneren der Kapelle mischen sich keltische Symbole mit templergnostischen. Der Erbauer, der alle Details genau überwachte, hatte sie gemeinsam in dieser imposanten Ersatz-Neu-Errichtung des Salomonischen Tempels anbringen lassen. Roslin war die letzte und höchste Station eines Mysterienkults von Westeuropa, dessen Stationen in Spanien begannen und in Schottland endeten. Er beruhte auf der Verbindung der damals als Planeten betrachteten Gestirne - Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter und Saturn - mit den sieben Erd- Chakras, die für die eine Erdgöttin verehrenden Kelten von großer Wichtigkeit waren. Obwohl das Wort selbst aus dem Sanskrit stammt, sind die Chakras so menschheitlich universal wie C. G. Jungs Symbole des kollektiven Unbewußten. Sie finden sich bei den Hopis und den Inkas in beiden Amerikas, in Ostasien wie in Europa. Dieser druidische Einweihungsritus war nicht unbedingt rein keltisch. Hatte sich doch durch die Zerstörung Jerusalems und des Tempels eine ganze Reihe von Anhängern der Sekte der Ebioniten nach Schottland gerettet, wo sie nicht nur aus gemeinsamer Feindschaft gegen die Römer freundlich aufgenommen worden waren. Die Ebioniten waren eine direkte Parallele zu den Essenern von Qumram 66 Ferdinand Wilcke, op. cit., S. 468 f. 25 Vorläufer der Templergnosis <?page no="44"?> und in ihren Lehren austauschbar mit den Nasorenern, den direkten Vorfahren der Jerusalem-Kirche. Die Einweihungstradition führte durch sieben Stationen: Santiago de Compostela, Toulouse, Orléans, Chartres, Paris, Amiens und Roslin. Roslin bezeichnete die letzte und höchste Stufe der Einweihung, die Krone, und das bezog sich nicht nur auf die Kronen-Chakra und auf die Krone als Symbol des Gralskönigs, sondern vor allem auch im Kabbalismus auf die zehnte und höchste Sephira, die den Namen Keter, und das heißt Krone, trägt. Der Planet, welcher der letzten und höchsten Einweihungsstufe zugeordnet war, ist der Saturn gewesen. Vor der Entdeckung der Planeten Uranus, Neptun und Pluto war der letzte, äußerste, mit bloßem Auge gerade noch erkennbare Planet der Saturn. Er befand sich nach der Templergnosis am äußersten Ende des Fixsternhimmels. Jenseits des Fixsternhimmels gab es dann nur mehr den Kristallhimmel und hinter diesem das Empyreum als Sitz der göttlichen Urkraft. Der Saturn war jener Planet, welcher der göttlichen Urkraft am nächsten war. Er stand für das Maß, für die große makrokosmische Ordnung und für die Bewußtheit der Sterblichkeit. Bei der obersten Kronen- oder Scheitel-Chakra ging es um die Vereinigung der Einzelseele mit der Weltseele, der göttlichen Urkraft. Die Kronen-Chakra steht ja eben für Spiritualität, Gotterkenntnis, Gottesvertrauen, Erleuchtung, Religiosität und Vollendung. Am weitesten zurück geht wahrscheinlich Harald Zusanek, dessen zusammenfassende Darstellung der Schädelkulte bis zu den sogenannten „ Frühkulten “ zurückreicht, einer frühesten Kulturform, die 30.000 Jahre hindurch mächtig war. In der Templergnosis scheint der enthauptete Johannes der Täufer eine wichtige Rolle gespielt zu haben. Wie ja auch im Prozeß gegen die Templer der Schädel des Baphomet immer wieder hervorgetreten ist. Nun war er im Hinblick auf diese Tradition ein - wenngleich wichtiges - Element des Schädelkults. Harald Zusanek hat im Zusammenhang damit eine allgemeine und grundsätzliche Theorie über den ganzen „ Frühkult “ erstellt. 67 Zusanek, von dem es etliche interessante Bände einer unglaublich verlebendigenden Darstellung des griechischen Mythos gibt, hat sich mit den Kultformen der Frühzeit auseinandergesetzt, die ihre Herrschaft um 1500 vor Christus abtreten mußte. Zum Wesentlichsten dieser frühen Kulturform gehört die ganzheitliche Einheit von Welt und Einzelleben, wie sie im Mythos gegeben war. Zusanek exemplifiziert diese große, innere Einheit am Beispiel einer Heilpflanze, das anschaulich darstellt, wie es demnach auch keine Trennung von sakral und profan gab. 68 Er beginnt mit der Feststellung, daß die Tatsache, daß ein Heilkraut 67 Harald Zusanek: Kleine Schriften. Wien 1993 68 Harald Zusanek, op. cit., S. 18 26 Zur Entstehung der Templergnosis <?page no="45"?> Hühneraugen heilt, keineswegs ausschließt, daß sich in dem Heilkraut auch eine göttliche Präsenz manifestiert. Beide Eigenschaften, die Heilkraft wie die Göttlichkeit, stehen in keinerlei kausaler Abhängigkeit voneinander, sondern sie stehen unabhängig parallel nebeneinander, „ und zwar darum, weil Heilkraft und göttliche Präsenz nur zwei verschiedene Ausdrucksformen derselben Kraft sind, gleichsam wechselnde Masken, deren sie sich bedient, um in Erscheinung zu treten. “ 69 Aus diesem Grund ist die Auseinandersetzung, ob ursprünglich alles aus materiellen Motiven entdeckt und später erst vergöttlicht wurde oder ob umgekehrt alles zuerst visionär geschaute Vorstellung war, die erst später profaniert worden ist, völlig gegenstandslos. Denn man kannte die getrennten Ebenen von sakral und profan gar nicht, sondern beide stellten eine einzige untrennbare Einheit dar und gehörten zur Ganzheit von Einzelleben und Welt. In derselben Sache oder Handlung waren unterschiedslos, ohne Kausalverhältnis, verschiedene Motive und Zwecke vereint. Es war eine parallele Simultaneität und es gab daher keine Bedeutungsgegensätze, sondern nur eine einzige Bedeutungsidentität. Es ist ganz so, wie wenn zwei verschiedene Wörter für zwei Bedeutungen in einer Sprache getrennt, im adäquaten einzigen Wort einer anderen Sprache vereinigt sein können. „ Die Spaltung in feindlich getrennte, gegeneinander wirkende Sinnteile, nämlich sakral und profan, entstand erst infolge des Niedergangs dieser Epoche und beschleunigte ihn zugleich. “ 70 Die zweite wichtige Voraussetzung zum Verständnis des Schädelkults innerhalb der Kultformen jener Frühzeit besteht in der Tatsache, daß es innerhalb jener Einheit des Kosmos keine geschlechtslose Existenz gab. Alle Wesen waren männlich oder weiblich. Vielleicht sogar im Zusammenhang der alles durchwaltenden ursprünglichen Einheit gerade jener beiden Grundkräfte entstand Vollkommenheit. Es ist jene Vollkommenheit, die den Paradieses-Zustand charakterisiert. Wäre alles Männliche und Weibliche für immer vereint, so wäre dies im Grunde der endgültige Erlösungszustand. Infolge des Wesens der männlichen Geschlechtskraft, die immer wieder versiegen und durch neue Potenz wieder erstehen muß, in kleinen wie in großen Zyklen, ist die endgültige Vollkommenheit der Verbindung des Männlichen mit dem Weiblichen nicht erreichbar. Das bedeutet kultisch gesehen, daß der männlichen Grundkraft im Kosmos immer wieder neue Potenz zugeführt werden muß. Das geschah im Frühkult durch ein Opfer und zwar ein Opfer der höchsten Substanz: des Menschen. Aus alledem ergibt es sich, daß die Menschenopfer immer männlich waren. Dies hat zu einem Ritual geführt, auf Grund dessen die Kultform rings um zwei Handlungszentren kreist: Die Paarung, der Koitus (jedoch nicht nur der 69 Harald Zusanek, op. cit., S. 11 - 12 70 Harald Zusanek, op. cit., S. 12 27 Vorläufer der Templergnosis <?page no="46"?> körperlich sexuellen Kräfte! ), die sogenannte „ Heilige Hochzeit “ (hieros gamos) und als zweites die rituelle Tötung des Mannes als Menschenopfer, stellvertretend für die gesamte männliche Potenz im Kosmos. Auch für das Paar, den Kultkönig und die Kultkönigin, waren ja profane und sakrale Ebene eine beide umschließende Einheit. Diesem Ritus zufolge tötet der jüngere Sohn kultisch seinen Vater und heiratet in Erstehe seine Mutter. In seiner Zweitehe heiratet er seine Schwester, wird dann ebenfalls von seinem Sohn getötet und so geht es immer weiter. Der zweite Sohn hat eine andere Verpflichtung. Er „ exogamiert “ , das heißt er heiratet auswärts an einen anderen Ort, tötet im rituellen Zweikampf den dortigen Kultkönig und heiratet dessen Witwe. Dem Frühkult entsprechend muß der getötete Kultkönig, der „ Heros “ genannt wird, weiterhin wirken, indem er in gewisser Gestalt als Orakel dient. Diese „ gewisse Gestalt “ war ursprünglich sein Schädel, der zunächst im Heroengrab, später auch oft abgetrennt vom Körper, aufbewahrt wurde. Ursprünglich konnte nur seine Witwe, die als magische Inkarnation der weiblichen Gottheit über besondere Gaben verfügte, die Botschaften dieses Orakels empfangen. Um dies zu erreichen, gab es bestimmte Pflanzen- und Tieropfer, worauf es durch das Schlagen des Schädels nach einem bestimmten Schwingungsrhythmus gleichsam telepathisch zu einer Art Geisterbeschwörung kam. Das hat wiederum zum ersten Instrument, der Trommel, und zum Verständnis des Urwesens des Rhythmus geführt. Der tote Heros gab dann seiner Witwe die gesuchten Antworten. Die Witwe aber hat sich als letzte Vermittlung des Zugangs zum Orakel eines Rauschmittels bedient, um in einer Art Trancezustand die Mitteilungen zu vernehmen. „ Ob es sich um die gekauten Blätter des Trance schaffenden Laurus regius, des königlichen Lorbeers der delphischen Sybille oder die Pilztränke der mittelamerikanischen und vorgriechischen Kulturen oder den Hanf der Schamanen oder den Wein vieler anderer handelt, immer ist derselbe Zweck verlangt. “ 71 Der kontinuierliche Versuch, den vorgeschriebenen, eigenen Opfertod hinaus zu schieben und später sogar ganz abzuschaffen, hat durch Tabubrüche zu immer weiter gehenden Kultänderungen bis zum Ende des Frühkults überhaupt geführt. Nach Zusanek sind Mythen Siegesberichte, die den unterdrückten Kultzustand in Zeitraffung einer einzelnen Handlung und Person darstellen und zwar aus der Perspektive des Siegers in einem Tabubruch. Den Bogen zu den Templern schlägt er indirekt dadurch, indem er eine eigene Arbeit Johannes dem Täufer gewidmet hat. 72 Er fand, daß das abgeschlagene Haupt in der Schüssel den seltsamsten und einen besonders wichtigen Teil der Johannes-Legende darstellt und daß es dem allgemeinen Phänomen eines „ sprechenden Hauptes “ zugezählt werden muß. Nur durch das Opfer des eigenen 71 Harald Zusanek, op. cit., S. 15 72 Harald Zusanek, op. cit., S. 55 - 65 28 Zur Entstehung der Templergnosis <?page no="47"?> Lebens konnte sich der Kultkönig ewig mit der weiblichen Gottheit verbinden und vermochte er für seinen eigenen Kultbereich zum Orakel zu werden, dessen Sprüche formuliert und befolgt wurden. Sie galten als Mitteilungen des Wissens aus dem Totenreich und drehten sich besonders um Heilungen und Arzneien. Johannes der Täufer war aber nach Josephus Flavius bereits vor seinem Tod ein geschätzter Ratgeber des Königs Herodes. Um ein Orakel zu schaffen, trennte man meist den Kopf vom Körper, der getrennt bestattet wurde. Solche „ sprechende Häupter “ sind ganz wie die archetypischen Grundsymbole der Märchen ein auf der ganzen Welt verbreitetes, menschheitliches Gut. Sie finden sich „ im Popol Vuh, in der Maya-Bibel der Quiche, beim Schädel des Urheros Ixoixaco. Bei den Etruskern ist es das Haupt des Tages, das aus der Erde auftaucht und die Etrusker Feldbestellung, Gesittung und Kultwissen lehrt. Das sprechende Haupt des Orpheus, das im Tempel auf Lesbos so lange Orakel erteilte, bis der eifersüchtige, weil spätere hochkultische Apollon ihm effektiv den Mund verbietet. In England ist es der vorkeltische Merlin, der dem König Artus befiehlt, sein Haupt an bestimmter Stelle einzugraben, wo es durch Orakelsprüche England für immer vor allen Feinden schützen würde. Die zahllosen sprechenden Häupter, die über den Kesseln der Totenbeschwörer aufsteigen - bis herauf zu Goethes Faust bezeugen noch diese Tradition. “ 73 Nachdem Zusanek dargestellt hat, wie Johannes aus der Wasserkult-Tradition in Weiterbildung der Mysterienreligionen hervorgegangen ist, geht er auch auf das Symbol der Schüssel ein, auf welcher das Haupt immer abgebildet ist. In der Grab-Orakelstätte des Wasserkults befanden sich immer Brunnen oder Quellen. Das Haupt des Johannes mußte schwimmen, um Orakel verkünden zu können und die Schüssel stellt tatsächlich einen Brunnen-Ersatz dar. Wenn in den späteren Johannes-Bräuchen auch ein Fisch in einer Schüssel schwimmt, dann ist dies ein spätes Ersatzmittel der Zukunftsbefragung anstelle des Menschenschädels. Natürlich ist auch der Fisch Inkarnation eines Gottes. Der Kult der Sabier, der sich trotz früherer christlicher und späterer islamischer Unterdrückungsversuche bis ins 13. Jahrhundert gehalten hat und der von einzelnen christlichen wie islamischen Autoren als „ Teufelsanbetung “ bezeichnet wurde, hatte lange Zeit solche „ sprechende Häupter “ und später auch heilige Teiche mit Fischen, die nicht verspeist werden durften und die Orakelgeber waren. Der „ göttliche Fisch “ , der prophetische Gaben besitzt, ist von Japan bis Peru zu finden. Damit will Zusanek zeigen, daß Johannes nicht nur ein moralischer Held und ein politisches Opfer ist, sondern daß er ganz besonders auch einen Verwirklicher von Riten eines frühen Kultes darstellt. Es handelte sich bei den Riten des Frühkults um Erscheinungen, die durch die späteren Hochkulte in den Unter- 73 Harald Zusanek, op. cit., S. 58 29 Vorläufer der Templergnosis <?page no="48"?> grund verdrängt wurden und die in verschiedenen Variationsformen dennoch fortlebten über Johannes den Täufer bis zu den Templern. Darum konnte Zusanek auch schreiben: „ Uns tritt er entgegen als Einzelner zwischen den Zeiten. Offizieller Vorläufer, insgeheimer Ausläufer, nämlich des ‚ Frühkults ‘ , und in Wahrheit beides zugleich, von beiden nicht gefangen, frei in sich, Bild in sich nicht bindender Kraft, die darum auf alle Gegensätze wirkt und sie bindet. “ 74 Durchaus Gleiches ließe sich von Dante sagen, dem Vollender der Templergnosis. In Bezug auf diese „ steht ohne jeden Zweifel fest “ , daß ein Schädel oder mehrere Schädel vom Orden verehrt wurden. 75 Was den Baphomet der Templergnosis betrifft, so sind zahlreiche Versuche der Erklärung unternommen worden, von denen „ der am häufigsten vertretene “ tatsächlich „ der unwahrscheinlichste “ ist, nämlich, daß es sich um „ eine Verballhornung des südfranzösischen Ausdruckes ‚ Mahomet ‘“ handelt. 76 Im Unterschied zu Mahomet macht es esoterisch einen tiefen gnostischen Sinn, was Hugh Schonfield herausgefunden hat, als er auf den Begriff Baphomet den alten Atbasch-Code anwandte, nämlich „ Sophia “ , das ist Weisheit. Wenn man zudem das Wort nicht eingeschränkt auf die Göttin Sophia, sondern abstrakt als Weisheit versteht, dann schließt sich diese Deutung als weiblicher Aspekt der Weisheit fugenlos an die folgenden Johannes-Deutungen an. 77 So weisen sowohl die Deutung von John Charpentier als auch die alte von Hammer-Purgstall in Richtung von Johannes dem Täufer. 78 74 Harald Zusanek, op. cit., S. 64 75 Keith Laidler, op. cit., S. 9. Dort auch mehr Einzelheiten über den Schädelkult der Templer. 76 Hartwig Sippel: Die Templer. Wien - München 1996, S. 236 77 Vgl. Hugh J. Schonfield: The Essene Odyssey. Shaftesbury - Boston - Melbourne 1993. Dazu Christopher Knight und Robert Lomas, The Second Messiah, op. cit., S. 88 78 John Charpentier: Die Templer. Frankfurt 1981. Joseph von Hammer-Purgstall: Mysterium Baphometis revelatum. In: Fundgruben des Orients. Wien 1818, Band VI., S. 1 - 120 und 445 - 499. Dazu: Peter Partner: The Murdered Magicians. New York 1987, S. 139 - 145. Partner hat hier keineswegs in allen Punkten recht, wohl aber im wichtigsten, daß nämlich Hammers Aufsatz keine objektive gelehrte Arbeit darstellt, sondern aus politisch motivierten Anwürfen besteht. Nachdem die Arbeit auch auf entsprechenden Widerspruch gestoßen war, hat Hammer versucht, sich durch einen neuen Aufsatz „ Die Schuld der Templer “ zu rechtfertigen. Dieser erschien in der Denkschrift, Band VI, der von ihm gegründeten k. k. Akademie zu Wien im Jahr 1855 und versucht, seine Anwürfe zu begründen, in denen sich freilich Richtiges mit Falschem vermischt. Mit der Behauptung einer Zugehörigkeit der Templer zur gnostischen Sekte der Ophiten hatte er insofern recht, als nach einem Experten vom Format eines Hans Leisegang diese Sekte mit jener der Naassener (oder Nazorener) identisch war und die Templergnosis in unmittelbarer Nachfolge nach dieser Ursekte bestand. Mit dem Hinweis auf obszöne Ausschreitungen und Massenorgien ( „ gemeinsam der Fleischeslust fröhnen “ , wie es in der Anklage vom 12. August 1308 heißt) greift er die Lügen Philipps des Schönen wieder auf. Nach den Arbeiten von F. Wilcke und Jules Loiseur sind diese Anschuldigungen noch im 19. Jahrhundert verstummt. 30 Zur Entstehung der Templergnosis <?page no="49"?> Keith Laidler, der eines der ausführlichsten Bücher über den Schädelkult geschrieben hat, berichtet eine Menge über Johannes, doch schließt er zuletzt mit einer ebenso phantastischen wie unmöglichen Annahme. Beim Baphomet ging es um Weisheit und vielleicht auch um Prophetie und Johannes war es um Wahrheiten gegangen, die auch die Templergnosis suchte, sodaß er ein Leitbild sein konnte. War er doch durch sein Wissen nicht nur ein Ratgeber und Helfer des Herodes, sondern sogar ein Einweihender für Jesus gewesen. Die Johannesbilder in den Templerniederlassungen zeigten den weisen Eremiten einsam und innerlich gelöst in der Wüste, der alle falschen Werte abgestreift und alle albernen Versuchungen überwunden hatte, innerlich reif und bereit in eine vollkommenere Welt einzutreten. Direkte einzelne Elemente oder das äußere Gesamtumfeld der Templergnosis wurden durch die Mitglieder der Rex-Deus-Gruppe sichtbar gemacht. Den Gesamtbogen bis zur Templergnosis selbst hat wiederum Harald Zusanek mit seiner Studie über Johannes den Täufer gespannt. Als Dante die gesamte Templergnosis in seiner Commedia zusammenfaßte und als zuerst Beatrice und sodann Bernhard von Clairvaux seinen Charakter des Jenseitswanderers Dante durch die Zonen des Paradieses führt, da findet dieser am Schluß beim Erblicken der „ Himmelsrose “ als letzte Apotheose an der Spitze des christlichen Halbkreises Maria-Isis und an der Spitze des jüdischen Halbkreises Johannes den Täufer. Herodes war vom Tanz Salomes so fasziniert, daß er bereit war, ihr jeden Wunsch zu erfüllen, ja sogar sein halbes Reich an sie abzutreten. Nach einem solchen Angebot bei seiner königlichen Ehre kann er ihr natürlich keinen Wunsch abschlagen. Salomes Mutter Herodias rät ihr, nicht Land, Reichtum oder Macht zu fordern, sondern das Haupt des Johannes. Versprechen ist Versprechen und so wird der Henker abkommandiert, um den Gefangenen zu köpfen und sein Haupt zu bringen. Das Haupt wird in einer Schüssel abgeliefert und Salome gereicht, die es ihrer Mutter übergibt (Markus 6,27-28). Im Vers 20 heißt es darauf noch: „ Herodes fürchtete Johannes, denn er wußte, daß er ein frommer und heiliger Mann war, und verwahrte ihn und gehorchte ihm in vielen Sachen, und hörte ihn gerne. “ Sollte nicht auch für das Haupt des Johannes gelten, was für den lebenden Weisen galt, daß er nämlich zuzüglich zu der üblichen Gabe der Prophezeiung der sprechenden Häupter auch noch ein guter Ratgeber war und dazu noch große spirituelle Macht besaß? Obwohl es heißt, daß Herodes den Johannes „ um der Herodias willen “ ins Gefängnis gelegt hatte, ist es sehr unwahrscheinlich, daß der Sinn der Geschichte darin beruht, zu zeigen, daß der Haß einer Frau größer und stärker sein kann als alles andere. Denn gerade Frauen besitzen in der Regel ein sehr ausgebildetes Gefühl für reale Werte, zumal wenn es um Werte in der Größenordnung eines halben Königreichs geht. Laidler hat übrigens den Begriff Baphomet auf das maurische Wort Bufihamat zurückgeführt, das selbst wieder eine Verstümmelung des arabischen Wortes 31 Vorläufer der Templergnosis <?page no="50"?> Abufihamet darstellt und das nach einem weit verbreiteten Buch über die alte esoterische Strömung des Islam, die Sufis, wie schon oben gesagt, „ Vater der Weisheit “ bedeutet. 79 Insofern stellt diese Deutung nicht nur keinen Widerspruch, sondern sogar eine Bestätigung zu anderen Deutungen dar, die auf „ Weisheit “ hinauslaufen. Laidler weist auch überzeugend darauf hin, daß man die Zeugenaussagen beim Templerprozeß im Hinblick auf den Baphomet auf drei Kategorien zurückführen kann: „ Es gibt die, die nur eine Wiedergabe des Kopfes sahen, diejenigen, die andere, einbalsamierte Schädel sahen und die, die Zugang zu dem Allerheiligsten hatten, dem mysteriösen, abgeschlagenen Kopf Baphomet “ , der fast nur im Tempel von Paris gesehen worden war. 80 Laidler meint, daß durch Yuya, den hebräischen Großvater des ägyptischen Pharaos Echnaton, oder durch einen anderen Hebräer der Schädelkult von Palästina her nach Ägypten kam. Denn dort, in Cayönu, war ein „ Tempel der Schädel “ gefunden worden und es gibt Belege für Schädelfunde, die bereits auf das Jahr 7000 vor Christus zurückgehen. 81 In Jericho, bei Ain Ghazal und in den Höhlenbauten in der Judäischen Wüste gibt es Fundstellen, an denen in Höhlen unter dem Boden vergrabene Schädel gefunden wurden, die mit einer asphaltartigen Masse überzogen waren. 82 Cauvin hat vermutet, daß es sich um Schädel verehrungswürdiger Personen, von Helden oder heiligen Männern gehandelt haben muß. 83 Zusanek hat mit seiner Theorie vom Kultkönigtum des Frühkults eine zusammenfassende Erklärung dafür geliefert. Abgesehen von der besonderen Verehrung der Templer für Johannes den Täufer gibt es noch eine zweite, eher direkte Beziehung eines klassischen sprechenden Hauptes zu den geheimnisvollen Baphometköpfen. Robert John hat die enge Beziehung Dantes und seiner Templergnosis zu Thomas von Aquin und dessen Lehrer Albertus Magnus aufgezeigt und andere sind in dieser Hinsicht noch weiter gegangen. Nun war Albert der Große bereits durch seine naturwissenschaftlichen Studien in jener wahnwitzigen Zeit bereits in Verdacht geraten, schwarze Magie betrieben zu haben. Zudem findet sich in Dantes Convivio eine mystische Stelle über die Synderesis, das Seelenfünklein des Meister Eckhart, das man mit einigem inquisitorischen guten Willen durchaus als Pantheismus interpretieren und anklagen konnte. Beim heiligen Albertus und seinem Schüler Thomas lassen sich ähnliche Stellen finden. 84 Albertus Magnus war im Unterschied zu Thomas überhaupt mehr Neuplatoniker als Aristoteliker. Der junge Thomas, der Albert sehr nahe war, ist denn 79 Idries Shah, op. cit. 80 Keith Laidler, op. cit., S. 250 81 Vgl. M. Özbek: Anatolika. Bd. XV (1988), S. 127 - 132 82 Keith Laidler, op. cit., S. 26 83 Jacques Cauvin: Religions néolithiques de Syro-Palestine. Paris 1972 84 Vgl. Martin Grabmann: Mittelalterliches Geistesleben. Band 2, München 1936, S. 211 32 Zur Entstehung der Templergnosis <?page no="51"?> auch in Paris der Häresie angeklagt worden und Albert ging damals zu Fuß, seiner Ordensregel getreu folgend, von Köln nach Paris, um seinen Schüler (erfolgreich) zu verteidigen. Es paßt in das Gesamtbild, daß vom toten heiligen Albertus ein künstliches Haupt angefertigt wurde, das sich als sprechendes Haupt erwies. Thomas aber hatte sich in seinen späteren Jahren durch die Arbeit an seiner großen Summa zu einem solchen Exoteriker entwickelt, daß er mit den Aussagen des Hauptes nicht mehr übereinstimmen konnte. Einmal war er aber darüber so sehr erzürnt, daß er einen Hammer nahm und es zerschlug. Trotzdem erweist es sich als eine Art Verbindungsglied auf der langen Entwicklungslinie sprechender Häupter zur Templergnosis hin. Abgesehen vom Schädelkult des Baphomet gehörte auf Grund von Aussagen im Templerprozeß auch eine schwarze Katze zu den Symbolen des Kreises der Eingeweihten unter den Templern. Gewiß ist es nicht überraschend, daß so ernsthafte Forscher, ja gerade ernsthafte Forscher wie Robert John oder Alain Demurger, sich über die Katzengeschichte geradezu mokieren. 85 Besonders da es sich um eine lebende schwarze Katze gehandelt haben soll, war die erste Augenblicksreaktion natürlich: Lächerlicher Aberglaube! Daß aus einem esoterischen Katzensinnbild ein lebender Vierbeiner wurde, mag entweder mit der Beschränktheit der Folterknechte und verhörenden Beamten zusammenhängen oder aber auch damit, daß die verhörten Templer etwas in einer Form eingestanden, die nur als Unsinn verstanden werden konnte. Abgesehen davon sind immer schon elitäre esoterische Symbole als soziologisch gesunkenes Kulturgut im Volksmärchen oder im Volksaberglauben in naiv verlebendigter Form erhalten geblieben. 86 Bei einem ersten Versuch im Jahr 2010, Informationen über die schwarze Katze im Internet zu sammeln, kam als erstes eine Auskunft zustande, die dem vorliegenden Buch besonders zu entsprechen schien. Sie begann nämlich gar nicht mit einer schwarzen Katze, sondern mit dem Aberglauben über Freitag den 13. Die Frage, ob die Macht dieses besonderen Freitags ungebrochen sei, wurde allerdings dahin gehend beantwortet, daß sich um diesen künstlich geschaffenen Tag keinerlei Bräuche oder Rituale gebildet hätten, wie etwa um Halloween. Trotzdem schöben die Menschen, wenn an einem solchen Tag etwas passiert, alles auf den Aberglauben. Erst dann folgte der Kommentar zum mitveröffentlichten Foto einer lieben schwarzen Katze, der erklärte, alles sei nur Einbildung. Den Beweis dafür bildete als Abschluß die rhetorische Frage, ob denn dieses Tier böse aussähe. Was Freitag den 13. betrifft, so ist dieser angeblich künstlich geschaffene Tag sehr konkret vom 85 Robert John, op. cit., S. 121. Alain Demurger, op. cit., S. 241 86 Vgl. Hedwig von Beit: Symbolik der Märchen. Zwei Bände und ein Registerband. Bern 1961. Geradezu eine Art Handbuch der Problematik. 33 Vorläufer der Templergnosis <?page no="52"?> französischen König begründet worden, der alle Templer am 13. Oktober 1307 verhaften hatte lassen, der ein Freitag war. Ein Jahr später war die Mitteilung im Internet verschwunden, war aber durch eine neue ersetzt worden, die gleichfalls wieder nicht mit der schwarzen Katze, sondern mit Freitag dem 13. begann. Hier war die reine Einbildung der Unglück bringenden schwarzen Katze durch den Hexenwahn ersetzt worden, der vom selben inquisitorischen Eifer stammte wie der gegen die Templer entfesselte Massenwahn. Die Templer waren jedenfalls draußen gelassen worden. Dafür gab es jetzt auch eine gleichsam „ offiziöse “ Wikipedia-Eintragung über Freitag den 13. Sie liest sich wie eine verbesserte Variationsform zu den beiden ersten. Hier wurde zwar mitgeteilt, daß eines der ersten Unglücksereignisse der Geschichte an einem Freitag den 13. die Verhaftung aller Templer war, doch wurde sofort hinzugefügt, daß dieses Ereignis trotz seiner Tragik nicht als Ursprung für den Aberglauben gewertet wird. Die Fußnote, welche die Quelle dieser Wertung eröffnet, bezieht sich auf eine bundesdeutsche Wochenschrift mit Sensationscharakter. Als ob es heute nicht auch schon genug angebliche „ wissenschaftliche “ Aufsätze und Bücher gäbe, die eine trübe Quelle bilden, die aber besser gewirkt hätten. Das alles wurde ausgeführt, um die eigentümliche Emsigkeit aufzuzeigen, alles, was mit den Templern zusammenhängt, wegzuwischen. Ein anderes Beispiel dafür, das plötzliche Weglassen der „ Ritter-Karten “ aus den esoterischen Tarotkarten, wird später ausgeführt werden. 87 In dem besonders verbreiteten Wörterbuch der Deutschen Volkskunde gibt es nur getrennte Eintragungen, einerseits über „ Freitag “ und andererseits über die Zahl „ Dreizehn “ . Beim Freitag werden Gustav Adolf, Napoleon und Bismarck beschworen. Bei der der Zahl Dreizehn wird das letzte Abendmahl Christi genannt, Philipp von Mazedonien und Diodor von Sizilien sowie die uralte Vorstellung von „ mythischen Zahlen “ überhaupt. 88 Was das Sinnbild der schwarzen Katze wirklich betrifft, so geht das Sinnbild auf die alten Ägypter zurück, bei denen es eine ganze Reihe von mythischen Katzen gegeben hat. Für die Templergnosis scheinen sich dabei vor allem zwei anzubieten. Zunächst ist es eine weibliche Katze, die bereits früh im ersten Jahrtausend vor Christus zu einem Attribut der Göttin Bastet geworden war. Diese Göttin hatte in den ersten Anfängen die Gestalt einer Frau oder einer Löwin gehabt. Dabei blieb es jedoch keineswegs. Ein Fragment aus der Zeit Nectanebos II. (360 - 342 v. Chr.) zeigt zwei Katzen, die ein Emblem der Hathor flankieren, zu dem sie ihre Köpfe zurückwenden. Dadurch wird eine klare Beziehung zu Hathor und nicht zu Bastet hergestellt. 89 87 Vgl. die Präambel von Teil II: „ Der Höhepunkt “ 88 Wörterbuch der Deutschen Volkskunde. Zweite Auflage, neu bearbeitet von Richard Beitl. Stuttgart 1955, S. 219 und 148 89 Vgl. Jaromir Malek: The Cat in Ancient Egypt. London 2006, S. 98 34 Zur Entstehung der Templergnosis <?page no="53"?> Jedoch schon viel früher findet sich auf dem Fragment einer Alabasterschale im Brooklyn Museum ein Relief, in dem gleichfalls eine Katze auf einen Hathor- Kopf zurückblickt. Die Schale trägt den Namen von Amenhotep III., war jedoch im Grab von Akhmenaton (1353 - 1337) gefunden worden. In Heliopolis galt die Katzengöttin Bastet als Tochter des Schöpfers und Sonnengottes Atum. „ Sie war auch eng verbunden mit anderen Göttinnen, besonders mit Hathor, Mut und Isis. “ 90 Wie sich aber Isis mit Hathor mitunter geradezu zu einer Göttin, der Hathorisis, zusammenschloß, so gab es auch eine sehr enge Verbindung von Isis zu Bastet. Als Katzengöttin wurde Bastet aber später auch so sehr eng mit der Löwengöttin Sekhmet verbunden, daß die beiden schließlich als zwei Aspekte einer einzigen Göttin galten, der Aspekt der Sekhmet dabei bedrohlich und gefährlich, der Aspekt der Bastet dagegen beschützend, friedlich und mütterlich. So konnte sie sich harmonisch an die templergnostische Reihe Maria-Sophia-Isis anschließen. Kindergebären und Säugen war ein prominenter Aspekt der Muttergöttin Bastet. In manchen Fällen wurde ihre Statue in verdoppelter Weise präsentiert, als Frau mit Katzenkopf begleitet von einer kleinen Katzenfigur. Vielleicht etwas weniger wahrscheinlich, aber dennoch durchaus möglich, ist die Weiterführung eines Katers als göttliches Sinnbild von Ra, dem Sonnengott. Dieser Mythos könnte durchaus als gnostisches Symbol fortgelebt haben. So spielen im Ägyptischen Totenbuch verschiedene göttliche Katzen eine Rolle, und hier sei vor allem auf die Beschwörungsformel Nr. 145 verwiesen, in der es beim Durchschreiten des zwölften(! ) Tores heißt: „ Der Name des Geistes, der über dir Wache hält, ist Katze. “ Der Torwächter hat einen Katzenkopf. In der Beschwörungsformel Nr. 17 allerdings nennt sich der männliche Kater selbst die „ Dschafti-Gottheit “ , jene Doppelpersönlichkeit, die Osiris und Ra gleichzeitig repräsentiert. Dort wird erklärt: Wisset, ich bin einer der Götter, Deren Seele bewohnet Das doppelte Wesen der Dschafti-Gottheit. Ich bin zugleich jene große göttliche Katze, Welche den heiligen Baum von Heliopolis spaltet In der Nacht der Dämonenvernichtung, Jene Feinde des Weltenherrschers. 91 Diese Katze wird so dargestellt, wie sie den Erzfeind des Gottes Ra, die Schlange Apophis, mitunter auch als Drache bezeichnet, mit einem Messer tötet. Eine solche Darstellung, in der die Katze allerdings nicht schwarz ist, mit dem Ished- Baum im Hintergrund, findet sich reproduziert in dem hier zitierten Buch über 90 Jaromir Malek, op. cit., S. 95 91 Das Ägyptische Totenbuch. Übersetzt und kommentiert von Grégoire Kolpaktchy . Bern - München - Wien 1970, S. 73 35 Vorläufer der Templergnosis <?page no="54"?> die Katze im alten Ägypten. 92 Es ist eine Art Frühfassung des gnostischen Kampfes der guten Mächte mit den bösen. Beides, die Katzengöttin Bastet wie der große göttliche Kater der Dschafti- Gottheit, würden ein sinnvolles Symbol für die Templergnosis abgeben. Ein weiterer Hinweis auf Elemente der Templergnosis, die auf ältere Vorläufer zurückgehen, besteht in der Tatsache, daß sich in den Prozeßakten auch Stellen finden, in denen erklärt wird, daß einige Brüder Wesen mit zwei Gesichtern verehrten. 93 Auch finden sich an und in Templer-Kirchen Köpfe mit zwei Gesichtern. 94 Bei zwei Gesichtern denkt man sofort an den römischen Gott Janus, der in manchen Fällen auch viergesichtig dargestellt wurde. Der zweigesichtige Kopf galt den Römern als Gott der Türen und Portale, ja überhaupt als Herr jeglichen Anfangs und jeglichen Endes. In die Richtung der Templergnosis würde wohl am ehesten die Feststellung von Macrobius und Cicero (letzterer ein Eingeweihter von Eleusis) weisen, wonach sich die Zweigesichtigkeit nicht zuletzt darauf bezieht, daß sie die Verkürzung eines Götterpaares vorstellt, nämlich der Götter Janus und Jana, die als Sonne und Mond verehrt wurden. Nun hatten schon die ältesten Vorfahren der Templergnosis, die alten Ägypter, Sonne und Mond wiederholt zu einem Paar vereinigt. Wir finden den Mondgott Thoth oftmals am Bug des Bootes von Ra, dem Sonnengott, dargestellt. Die beiden standen wahrhaftig am Beginn alles Seins, Ra als der Architekt und Beherrscher des Universums und Thoth als Erfinder und Bringer des Wissens für die Menschen. Er galt im einzelnen als der Erfinder des Schreibens, der Architektur, der Arithmetik, der Landvermessung, der Geometrie, der Astronomie, der Medizin und der Chirurgie. Später, in der Zeit des Hellenismus wurde er im ägyptischen Alexandrien mit Hermes Trismegistos verschmolzen, der sowohl seine Funktionen wie auch jene des griechischen Gottes Hermes übernommen hat. Es ist kein Zufall, daß sich der Kopf des Hermes Trismegistos in Stein in der Rosslyn-Kapelle, einem wichtigen Ort für die nach Schottland geflohenen Templer, findet. 95 Janus als Gott des Anfangs und des Endes versinnbildlicht diese Sonne-und- Mond-Kombination von Ra und Thoth und steht in den Templer-Kirchen wie in den Prozeßakten als Vertreter der Tradition, die bis zu den Ägyptern zurückführt. Nachdem ich bereits die Absätze über die esoterische Katzensymbolik geschrieben hatte, entdeckte ich in den Artikeln der Anklage gegen den Orden vom 12. August 1308 die Formulierung: „ Item, daß sie eine bestimmte Katze anbeteten, (die) ihnen manchmal in der Versammlung erschien. “ 96 Diese Anklage fußte auf Tatsachen, welche die Schlauheit des königlichen Siegelbewahrers und 92 Jaromir Malek, op. cit., S. 85, Abb. 50 93 Vgl. Hartwig Sippel, op. cit., S. 262 94 Martin Bauer, op. cit., S. 267 95 Vgl. Tim Wallace-Murphy und Marilyn Hopkins, op. cit., S. 12 96 Abgedruckt bei Keith Laidler, op. cit., S. 378 36 Zur Entstehung der Templergnosis <?page no="55"?> Ratgebers Philipps IV., Guillaume Nogaret, ans Licht gebracht hatte. Ein besonders wichtiger Teil der Anklagepunkte war dadurch zustande gekommen, daß man einen Templer gefunden hatte, der es bis zum Prior einer Präzeptur in Frankreich gebracht hatte, bevor er aus dem Orden ausgeschlossen worden war. Er wurde verhaftet und in Toulouse mit einem zum Tod verurteilten Häftling in eine Zelle gesperrt. Entsprechend der katholischen Regel, daß in Abwesenheit eines Priesters auch Laien einander beichten können, beichteten die beiden einander. Der Templer berichtete dabei die blasphemischen und seltsamen Praktiken, die er im Templerorden mitgemacht oder mit angesehen hatte. Die Liste jener Beichte diente zur Herstellung der Fragen in der Anklageschrift. Unter den gebeichteten Eröffnungen war auch die Anbetung von Idolen in Form eines Schädels und einer Katze. 97 Nachdem die beiden Gefangenen, der eine freiwillig, der andere unfreiwillig, so gutes Belastungsmaterial beigebracht hatten, soll man beide laufen gelassen haben. Robert John hat daran erinnert, daß kein geringerer als Marsilius Ficinus bereits auf die ununterbrochene, geheime und wohlgehütete Traditionskette hingewiesen hat, die vom ägyptischen Hermes Trismegistos über Pythagoras, Platon und Seneca bis Jamblichos und noch weiter reichte, und in deren Kette auch die Templergnosis ein wichtiges Glied dargestellt hat. 98 Was aber die Viergesichtigkeit des Janus betrifft, so gibt es noch eine direktere Linie von der Templergnosis zurück zur ursprünglichen Gnosis der Zeit des frühen Christentums und zwar besonders zum Gnostiker Markos, der in Kleinasien gewirkt hat. Dieser führt seine Gnosis auf eine unmittelbare Offenbarung zurück. Es war die kolorbasische Sige (= das vierheitliche Schweigen), die diese in ihm wie den Samen im Mutterleib niedergelegt hat, den er sodann zur Welt brachte und als Lehre gebar. Die allerhöchste Tetras oder Tetraktys (Vierheit) stieg aus unsichtbaren und unnennbaren Orten zu ihm herab in Gestalt eines Weibes und offenbarte ihm ihr eigenes Wesen wie die Entstehung des Alls. Sie zeigte ihm die Aletheia (Wahrheit) gleichfalls in Gestalt einer schönen Frau, natürlich nicht als naturalistische Malerei, sondern ganz in Form von abstrakten, gnostischen Buchstaben-Kombinationen, die jeweils für die einzelnen Körperteile standen. Mit dem Haupt der Aletheia erhielt er zugleich das Haupt der Welt, die Buchstaben A und . Womit wir wieder bei Janus, dem Gott des Anfangs und des Endes wären. Die Aletheia ist wie die Ennoia des Simon Magus der Gedanke Gottes, durch den er die Welt denkt. Der Gedanke aber verdichtet sich zum Wort, und so wird der Logos geboren. 99 97 John J. Robinson: Born in Blood. New York, N. Y. 1989, S. 129 f. 98 Robert John, op. cit., S. 260 99 Vgl. Das Kapitel „ Markos “ in: Hans Leisegang, Die Gnosis, S. 326 - 349 37 Vorläufer der Templergnosis <?page no="56"?> Im antiken Mythos gibt es nur zwei- und viergesichtige Janusköpfe, in der Templergnosis gab es auch dreigesichtige. In den Artikeln der Anklage gegen den Orden vom 12. August 1308 ist ausdrücklich von Schädeln die Rede, von denen manche drei Gesichter hatten. Obwohl Papst Benedikt XIV. im Jahr 1745 besonders jene dreigesichtigen als häretisch verboten hatte, konnten sie in Österreich vereinzelt noch bis ins 19. Jahrhundert nachgewiesen werden. 100 Das Auftauchen des Januskopfes wurde durch einen Historiker auch noch in ganz anderer Hinsicht ausgedeutet. Martin Bauer ist nicht nur sehr belesen, sondern hat als kritischer Geist auch viel anderes Positives für sich, was er aber in keiner Weise ist, das ist ein Kenner von esoterischen Traditionen. Es fällt auf, daß gerade dieser Skeptiker im Fall von Janus die Möglichkeit überdenkt, daß der römische Gott, wenn er in zwei entgegengesetzte Seiten blickt, vielleicht so verstanden werden muß, daß er mit einem Gesicht zurück in die Vergangenheit schaut, mit dem anderen Gesicht aber voraus in die Zukunft blickt. Sein kleines Kapitel darüber trägt den Titel „ Waren die Templer Alchimisten und Propheten? “ 101 . In dem oben zitierten sechsten Kapitel des Markus-Evangeliums wird Johannes der Täufer, einer ihrer Schutzpatrone, jedenfalls auch als einer der „ Propheten “ apostrophiert, was sich gut einfügt. Es gibt Bauer zu denken, daß eine ganze Anzahl von französischen Templern dem hervorragend geplanten und völlig überraschenden Schlag der Verhaftung am Freitag, den 13. Oktober 1307 entkam. Aber nicht nur das: Wie war es möglich, daß sie ihren riesigen Schatz und die Dokumente über ihr Geheimwissen in Sicherheit hatten bringen können? Ja er stellt sich selbst sogar die Frage, ob die letzten Worte des Großmeister Jacques de Molay auf dem Scheiterhaufen nicht eine Prophezeiung waren und keine Verfluchung. Dieser hatte erklärt, daß sowohl König Philipp als auch Papst Clemens V. binnen Jahresfrist vor ihrem göttlichen Richter zu erscheinen haben würden, indem er sich an den Papst wandte: „ Ich rufe den wahren und einzigen Gott zum Richter über Dich auf, denn Dein Urteil ist nicht rechtens. Über ein Jahr und einen Tag wirst Du zusammen mit Philipp, der dafür ebenso verantwortlich ist, vor seinem Richterstuhl erscheinen, um auf meine Einwendungen einzugehen und Dich zu verteidigen. “ 102 Der Papst starb nur einen Monat später an der Ruhr und Philipp erlag neun Monate später einem Jagdunfall. Der Historiker Martin Bauer indessen spann seinen Faden noch weiter. Er hält es für möglich, daß der Name des berühmten Propheten und Autors Michel de Notredame, zu deutsch Nostradamus, eine Anspielung auf die Templer ist, da ja Maria die Schutzpatronin des Ordens war und die Templer jedenfalls zusammen 100 Ferdinand Neundlinger und Manfred Müksch: Die Templer in Österreich. Innsbruck 2005, S. 56 101 Martin Bauer, op. cit., S. 265 - 269 102 Colette Beaune: Cahiers du Centre d ’ études médiévales de Nice. Nr. 12 (1992), S. 21 38 Zur Entstehung der Templergnosis <?page no="57"?> mit Isis und Sophia auch vor allem die schwarze Madonna verehrten. Bauer geht auf das Buch von P. V. Piobb über Nostradamus ein, der nachzuweisen versuchte, daß die Prophezeiungen gar nicht von dem legendären Astrologen stammten, sondern von Templern geschrieben wurden, und zwar nach der Auflösung des Ordens. Dabei wurden die Prophezeiungen so verschlüsselt, daß nur Eingeweihte sie verstehen konnten. Piobb behauptet, daß diese Eingeweihten dadurch nicht nur die Zukunft erfahren könnten, sondern auch Anweisungen erhielten, was sie jeweils zu tun hätten. Er stellt die Hypothese auf, die Templer-Autoren des Buches hätten eine Ebene des Bewußtseins erreicht, auf Grund deren die Trennung von Vergangenheit und Zukunft nicht mehr galt, sondern die wie der Gott Janus außerhalb der Zeit stehen und nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft wie in einem noch nicht geschriebenen Geschichtsbuch der Zukunft lesen könnten. Daß die Templer am Vorhersagen der Zukunft Interesse hatten, könnte dadurch eine Bestätigung finden, daß ihr Gründer und Schutzherr Bernhard von Clairvaux an einem berühmten Seher seiner Zeit interessiert war, dem irischen Mönch Malachias. Dieser Mönch ist nicht nur in seinen Armen verstorben, sondern Bernhard hat auch eine Biographie über ihn geschrieben, da er von seiner Heiligkeit überzeugt war. Bleibt für Bauer noch die Frage, ob die Templer auch Alchemie betrieben hätten und zwar nicht im symbolisch-esoterischen Sinn, sondern wörtlich, materiell und oberflächlich als Goldmacherkunst. Es ist eine Frage, die heute nur mehr sehr schwer zu beantworten ist. Für ihren Reichtum haben den Templern gewiß ihre weit verzweigten Bankgeschäfte genügt. Wobei noch als allerletzte Frage bleibt, ob sie auch Magie betrieben hätten, wessen sie beschuldigt waren, da man das gleich der Häresie zuschlagen konnte. Tatsächlich hat die Gnosis mit Magie grundsätzlich nichts zu tun und in ihr spielt im Unterschied zur Mystik Magie keine Rolle. Es war Peter Partner, der in seinem Buch mit dem schlagwortartigen Titel The Murdered Magicians dieses Problem anschneidet. Er stellt jedoch nur fest, daß die Templer tatsächlich bezichtigt worden sind, Magie zu treiben, ohne daß es Beweise dafür gibt. Dafür geht er bereits in seiner Einleitung, leider nur allzu kurz, auf den Kern der Sache ein, wenn er erklärt: Ein traditioneller Weg, die Geschichte der Verfolgung der Templer zu behandeln, ist als abergläubische Panik, vielleicht raffiniert geschaffen, um Menschen aus politischen Motiven durch erfundene Verbrechen und Verschwörungen zu verteufeln. 103 Er bringt auch eine Reihe von Beispielen für diese Praxis und berichtet, daß sogar Dante in einem Fall magischer Praktiken verdächtigt wurde. 104 Die Formulierung, daß es um künstlich geschaffene und geschürte „ abergläubische Panik “ gegangen ist, könnte nicht präziser sein. Es war eine der frühesten entfesselten Epidemien eines Massenwahns, wie er im Anti- 103 Peter Partner: The Murdered Magicians. New York 1987, S. XVII 104 Peter Partner, op. cit., S. 56 39 Vorläufer der Templergnosis <?page no="58"?> semitismus Hitlers und in Stalins „ Säuberungsprozessen “ neue Höhepunkte erklimmen sollte. Nicht ganz so weit zurück wie Zusanek, doch immerhin auch zu den alten Ägyptern und deren Katzensymbolik und zu den unter den Ägyptern lebenden und aus der ägyptischen Gefangenschaft in die Freiheit des gelobten Landes aufgebrochenen Juden verweist das Buch The Hiram Key von Christopher Knight und Robert Lomas. 105 Dieses Buch ist zumeist sorgfältig recherchiert, enthält ein ausgezeichnetes eigenes Kapitel über die Gnosis und die beiden Autoren lassen sich bei ihrer Wahrheitssuche auch nicht durch den ehrwürdigsten Autoritätsglauben beeindrucken. Nach Knight und Lomas ist die Kette der geistigen Tradition, die von Ägypten bis zu den Essenern geführt hatte, zunächst von Paulus unterbrochen und in eine subjektiv-willkürliche Richtung abgelenkt worden. In seiner Frühzeit hatte er nicht Christen, sondern für die Römer rebellische Juden verfolgt, darunter auch die Sekte von Jesus. Er selbst hat sich niemals der Tradition Johannes des Täufers zugewendet, geschweige denn jener Jakobs, des Bruders von Jesus. Da Paulus die symbolisch gemeinten und parabolischen Lehren von Jesus nicht verstand und in falscher Weise wörtlich auslegte, hat er aus dem jüdischen Patrioten Jesus einen Wunderrabbi gemacht. Nach Knight und Lomas war auch die Behauptung von Paulus unrichtig, daß er die Unterstützung von Simon Petrus gehabt hätte. Ja im ersten Brief an die Korinther brüstet er sich selbst seiner dialektischen Methode populistischer, unwahrer Propaganda. Es heißt da: „ Den Juden bin ich worden ein Jude “ - was heißt, er hat sich fälschlich als Jude ausgegeben, „ auf daß ich die Juden gewinne. “ „ Denen, die unter dem Gesetz sind, bin ich worden als unter dem Gesetz, auf daß ich die, die unter dem Gesetz sind, gewinne. Denen, die ohne Gesetz sind, bin ich als ohne Gesetz worden . . . auf daß ich die, so ohne Gesetz sind, gewinne. “ 106 Paulus erfand einen neuen Kult, dem er den griechischen Namen „ Christen “ gab, eine Übersetzung des hebräischen Begriffs „ Messias “ . Er nannte Jesus, den er niemals gesehen hatte, Christus und begann mit allen nur möglichen Methoden Anhänger zu werben. Er log über seine Ausbildung als Pharisäer und über die Sendung Christi. Er lehrte, daß das Gesetz der Juden unwichtig war und er nahm Nicht-Juden in seinen Kult auf. Was Knight und Lomas Paulus und seinen Anhängern besonders vorwerfen, ist das Mißverstehen von zwei bestimmten Säulen, was zu einer oberflächlichen 105 Christopher Knight und Robert Lomas, The Hiram Key, op. cit., deutsch: Unter den Tempeln Jerusalems. Rottenburg 2007 106 Erster Brief des Paulus an die Korinther, 9,20-21, in: Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der deutschen Übersetzung D. Martin Luthers. Stuttgart 1892, S. 198 40 Zur Entstehung der Templergnosis <?page no="59"?> Rationalisierung des Konzepts der Essener-Weisheit geführt hätte. 107 Die rechte der zwei Säulen repräsentiert das Heilige auf Erden (tsedeq), bei den Juden als Jahwe, bei den Ägyptern als Amon-Ra symbolisiert, die beide gleicher Weise durch das Tageslicht Finsternis und Chaos bekämpfen. 108 Die zweite, linke Säule repräsentiert das irdische Königtum, das Haus von David und das Konzept von mishpat. Sie steht für die Ordnung des Staates und die Durchführung von Gerechtigkeit. Wenn diese beiden Säulen in ihrem spirituellen Sinn am richtigen Platz sind, mit dem „ Lehrer der Gerechtigkeit vor Gott “ einerseits 109 und der Ordnung des davidischen Königs andererseits, dann werden sie von dem Gewölbebogen mit dem Schlußstein „ Shalom “ überwölbt, das nicht nur Grußwort ist und Frieden bedeutet, sondern auch die Bedeutung von gerechter Friede, Wohlstand, Sieg im Krieg, Glück und Gesundheit hat. Qumram, der Name des Ortes, an dem nach dem Zweiten Weltkrieg die Schriftrollen der Essener gefunden worden sind, bedeutet selbst einen Gewölbebogen über zwei Säulen, woraus die zentrale Wichtigkeit dieses „ royal arch “ für die Gemeinde hervorgeht. Letztere wurden wie so viele andere Juden von den Legionären des Tiberius hingemordet. Sowohl die Essener wie die Zisterzienser wählten abgelegene, einsame Orte für ihre Niederlassungen. Beide trugen weiße Leinenkleider. Beide legten zu ihrer Zeit ungewöhnlichen Wert auf Hygiene. Beide kannten den Traum der Gründung eines neuen Jerusalem. Im Zusammenhang damit waren auch beide dem Salomonischen Tempel besonders zugewandt. Beide Organisationen bereiteten sich darauf vor, ihre Existenz und ihr Recht auf die eigene spirituelle Tradition - wenn nötig - mit Waffen zu verteidigen. Wie Bernhard den Templerorden gründete, so gab es unter den Essener-Schriftrollen auch eine eigene Kriegsordnungs-Schriftrolle. Während die Essener noch direkte Beziehungen zu hohen Priestern des Tempels unterhielten, so versuchten die neun nach Jerusalem geschickten französischen Aristokraten und „ Ur-Templer “ durch ihre Grabungen eine solche Beziehung zur Jerusalem-Kirche wieder herzustellen. Die Essener waren weitsichtig und klug genug, die wichtigsten Dokumente über ihr Dasein und ihre Geistigkeit an versteckten Plätzen in der Wüste 107 Paulus hat auch einmal die Gnosis direkt verworfen. Vom Standpunkt der neuen Templergnosis eines Dante her gesehen, gilt er allgemein als Gegner der Gnosis. Auch Robert John lehnt ihn ab. Vgl. Robert John, op. cit., S. 120. Es muß jedoch unbedingt angemerkt werden, daß vom Standpunkt der sehr vielfältigeren und vielschichtigeren alten Gnosis her gesehen, die auch Widersprüche in sich barg, einer ihrer größten westlichen Kenner, Hans Leisegang, Paulus attestiert hat, er hätte in Denkformen der Gnosis gedacht. Vgl. Hans Leisegang: Denkformen. Berlin 1928, S. 87 - 127 108 Vgl. Norman Cohn: Die Erwartung der Endzeit. Frankfurt am Main 1997, S. 205 109 Bei den Essenern war es wahrscheinlich Jakob, der Bruder von Jesus, der diesen Beinamen trug. 41 Vorläufer der Templergnosis <?page no="60"?> aufzubewahren. Die Vertreter der jüdischen Spiritualität im Tempel von Jerusalem haben in gleicher kluger Voraussicht ihre wichtigsten Dokumente und wohl auch Gold und sakrale Schätze wie die Bundeslade in Höhlen des Tempelbergs versteckt. Die Essener von Qumram wurden wahrscheinlich alle getötet. Aus Jerusalem gelang es einigen Priestern zu fliehen: einigen vor Beginn der Belagerung durch die Römer und einigen wenigen wohl auch nach der Eroberung der Stadt. Sie gingen zunächst nach Griechenland und später von dort nach Westeuropa und nicht zuletzt auch nach Frankreich. Unter ihnen waren Familien, die es zu Ansehen und Einfluß brachten, vor allem in Burgund, in der Champagne und im Languedoc. Die oben genannten Autoren Alan Butler und Stephen Dafoe haben darum die Hypothese einer „ Bruderschaft von Troyes “ aufgestellt und zu einer derartigen Gruppe müßte dann auch Bernhard von Clairvaux gehört haben. Aber das ist Spekulation. Als die neun französischen Aristokraten in Jerusalem auftauchten, stellte ihnen der König zunächst, wie schon gesagt, einen Flügel seines Palastes zur Verfügung und nachdem er selbst in eine neue Residenz in der Nähe des Davidturms umgezogen war, überließ er ihnen sogar den ganzen Palast. Wir wissen, daß jene ersten Templer, die später den Orden „ der armen Soldaten Christi und des Tempels von Salomon “ gründeten, in den ersten Jahren von 1119 bis 1128 überhaupt nicht in Erscheinung traten, geschweige denn, daß sie ihrem angeblichen „ Gelübde “ beim Patriarchen von Jerusalem Folge geleistet hätten, christliche Pilger auf den Straßen vor Raubüberfällen und vor der Verfolgung durch radikale Moslems zu schützen. Aber sie lebten im Königspalast, der an die frühere Al-Aqsa-Moschee grenzte und an der Stelle stand, wo sich der Tempel Salomos befunden hatte. Hier aber begannen sie zu graben, und das hat der deutschen Übersetzung des Buches von Knight und Lomas den Titel gegeben Unter den Tempeln von Jerusalem. Knight und Lomas zitieren sowohl einen archäologischen Bericht der Israelis wie auch der älteren archäologischen Expedition des königlichen britischen Ingenieurkorps mit Leutnant Charles Wilson, Leutnant Warren und Captain Parker über einen Tunnel, in dem einzelne Gebrauchsgegenstände der Templer gefunden wurden. Die beiden Autoren schlossen daraus, daß es das Brecheisen eines Templers war, der die vergrabenen Schriftrollen mit ihren Eröffnungen über die spirituelle Tradition der Jerusalem-Kirche ans Licht brachte. Die beiden Autoren sind vor allem an dieser Tradition interessiert, die ja ihr Thema ist, doch erwähnen sie auch, daß die Spekulationen, wonach diese ersten Templer auch nach anderem suchten, große Wahrscheinlichkeit für sich haben. Nach diesen Spekulationen suchten und öffneten die Templer zunächst die Stallungen des Königs Salomon, die seit biblischen Zeiten unberührt und versiegelt geblieben waren. Die Suche soll ihnen von Bernhard von Clairvaux aufgetragen worden sein, der wußte, daß hier die Bundeslade der Juden versteckt 42 Zur Entstehung der Templergnosis <?page no="61"?> worden war, die wiederum den größten aller Schätze enthielt: die Tafeln des Gesetzes von Moses. 110 Viele Autoren von heute sind überzeugt, daß es keine spontane Zufallsentscheidung der neun ersten Templer war, nach Jerusalem und zur Ordensgründung aufzubrechen. Es ist kein Zufall, daß Hugo de Payens, der Gründer der Gruppe und erste Großmeister des Ordens, 1101 die Nichte des Kreuzritters Henri Clair von Roslin geheiratet hatte. 111 Bereits 1102 war er zusammen mit seinem Lehensherrn und späteren Templer-Bruder Hugo Graf von Champagne nach Jerusalem gereist und 1114 noch ein zweites Mal. Erst nach dem Tod König Balduins I. fuhr er mit der ersten ganzen Gruppe von Aristokraten hinüber, wo sie sofort von König Balduin II. in dessen Palast aufgenommen wurden. Knight und Lomas weisen darauf hin, daß der Zisterzienserorden wenige Monate vor der Eroberung von Jerusalem gegründet worden war. Sowohl Papst Urban II. wie auch Gottfried von Bouillon, der erste Herrscher des eroberten Jerusalem, starben bald nach der Einnahme der Stadt, und der Tod Gottfrieds war überaus mysteriös. Knight und Lomas werfen die Fragen auf, ob die beiden nicht ebenfalls nach einem größeren Plan gehandelt hatten und sodann als Figuren vom Schachbrett genommen worden waren. Alle diese Seltsamkeiten und Unwahrscheinlichkeiten erhalten plötzlich einen überzeugenden Sinn, wenn man die Existenz einer Rex-Deus-Gruppe annimmt, von der Knight und Lomas trotz der von ihnen zunächst selbst erhobenen Zweifel zuletzt überzeugt waren. Damit hängt auch ihre Annahme zusammen, wonach Jesus der Sohn eines Priesters des Tempels von Jerusalem gewesen ist, ein Nachkomme also der königlichen Blutlinie von Levi und David. 112 Der Kern der Geschichte besteht darin, daß eine Anzahl der Priester des Tempels in Jerusalem nach dem Mord an Jakob und vor der Belagerung der Stadt durch die Römer und wahrscheinlich auch einige wenige nach dem Fall der Stadt über Griechenland nach Westeuropa flohen, wo sie sich an die Bevölkerung assimilierten. Sie müssen auch deren Konfession als Lippenbekenntnis angenommen haben, was durchaus möglich ist und eine Parallele bei vielen Juden Spaniens hätte. Sie bildeten die „ Rex-Deus “ -Gruppe, welche die Eroberung Jerusalems im Ersten Kreuzzug abgewartet hätte. Dieser Kern der Geschichte klingt durchaus plausibel und interessant. Knight und Lomas behaupten jedenfalls, bei ihren Nachforschungen auf einen Mann gestoßen zu sein, der ihnen berichtete, er sei einer der Nachkommen der geflohenen Priester des Tempels. In seiner Familie sei dieses Geheimnis, wie auch in anderen Familien, jeweils vom Vater auf einen von ihm gewählten Sohn, der nicht der älteste sein mußte, 110 Vgl. Louis Charpentier, op. cit., S. 56 - 63 und Laurence Gardner, op. cit., S. 257 f. 111 Die St.-Clair-Familie war Herrin der Rosslyn-Kapelle, einem Zentrum der nach Schottland geflohenen Templer. 112 Vgl. Christopher Knight und Robert Lomas, The Second Messiah, op. cit., S. 77 - 87 43 Vorläufer der Templergnosis <?page no="62"?> weitergegeben worden. Daß auch heute noch ein Nachkomme dieser Gruppe existieren soll, dessen Identität dazu noch im Dunkeln bleibt, macht diese Erklärung eher fragwürdig. Eine einflußreiche Gruppe mußte aber wohl tatsächlich mit der Eroberung von Jerusalem die Zeit für gekommen erachtet haben, um die vergrabenen Schätze von Jerusalem zu bergen. Ein Vorläufer Dantes, der auch unter dem Einfluß der klassischen Antike stand, war jedenfalls Macrobius. 113 Macrobius hat im frühen 5. Jahrhundert nach Christus gelebt und sein Werk hat eine Hauptrolle in der Vermittlung antiken Bildungsgutes für das Mittelalter gespielt. In Struktur und Aufbau wurden Ähnlichkeiten seines Somnium Scipionis mit Dantes Commedia festgestellt. Die Arbeit von Raby hat gezeigt, daß Macrobius zweifellos auf den Aufbau des Läuterungsberges Einfluß genommen hat und auch die Enciclopedia dantesca zeigt echte Einflüsse. Im Fall von Hübner sieht das so aus, daß er den Aufstieg Dantes und Beatrices in Dantes Paradies mit dem Werk von Macrobius vergleicht, und zwar besonders im Hinblick auf gemeinsame Similes und auf die Planetensphären. Bei jenen heißt es, daß Dante ihre Zahl von den sieben des Macrobius auf neun erhöht hat. Dante hat aber diese Erweiterung nicht auf eine subjektive und willkürliche Weise, wenngleich durch dichterische Feinheit legitimiert, vorgenommen, sondern auf Grund seines Wissens um die Templergnosis mit ihrem System von drei Himmeln, wie es auch in der urchristlichen Esoterik gebräuchlich war. Davon aber konnte oder wollte der Anhänger eines antiken Purismus wie Macrobius nichts wissen. Allerdings geht auch die Traumlehre des Macrobius sowohl mit der Grundstruktur der Commedia wie auch mit einzelnen, in ihr berichteten Träumen gut zusammen. Auch daß in den Saturnalien des Macrobius zwölf Vertreter antiker Geistestradition sieben Tage nach dem Vorbild Platos ein Symposium veranstalten, würde von der Zahlensymbolik her passen. Vor allem aber sind im Somnium Scipionis der dominierende Neuplatonismus, die Beschaffenheit der Seele und die Tugendlehre so geartet, daß sie eine geistige Verwandtschaft nahelegen. Die ursprüngliche Seele, die bei Macrobius in der Milchstraße beheimatet war, mit ihrem Abstieg durch die Planetensphären in die Gefangenschaft der negativ bewerteten Körperlichkeit, besonders aber auch die Möglichkeit der Seele, aus dieser Gefangenschaft wiederum zum Urzustand völliger Reinheit und Glückseligkeit aufsteigen zu können, trägt geradezu gnostische Züge. Die Seele hatte nämlich auch einen Reinigungsweg zu durch- 113 Vgl. Wolfgang Hübner: Die vier Elemente in Dantes Paradiso. In: International Journal of Classical Tradition. Vol. I, Nr. 4, S. 5 - 15; Umberto Bosco (Hg.): Enciclopedia dantesca, Bd. 3, S. 757 - 759, Rom 1984, J. E. Raby: Some Notes on Dante and Macrobius. In: Medium Aevum, 35 (1966), Nr. 2, S. 117 - 121 44 Zur Entstehung der Templergnosis <?page no="63"?> laufen. Schließlich spielen bei Dante genauso wie bei Macrobius politische Tugenden eine weitaus größere Rolle als bei Plotin und dessen Neuplatonismus. Die generelle Rückführung der Werke des Macrobius auf den Platoniker Numenios und das „ Chaldäische Orakel “ jedoch könnte die gnostische Natur und die Vorläuferschaft des Macrobius für Dante geradezu bestätigen. Das Chaldäische Orakel wurde ja wiederholt in der Forschungsliteratur als „ Bibel des Neuplatonismus “ bezeichnet, sodaß es natürlich auch Dantes Bibel sein hätte können. Hans Leisegang hat darauf hingewiesen, wie sich bereits im chaldäischen Mythos von der Entstehung Adams als „ Bildsäule, ein Ebenbild jenes, der oben ist “ zeigt. 114 Dem Einfluß des Macrobius in einem größeren Kontext geht das Buch von Albrecht Hüttig über Macrobius im Mitterlalter nach. 115 Für einen Einfluß von Macrobius spricht auch der Umstand, daß er auf zwei andere Eingeweihte der Lehre der Fedeli d ’ Amore, auf Boccaccio und Petrarca, Einfluß genommen hat. Nach der Eroberung von Jerusalem im Ersten Kreuzzug wurde die Geistigkeit der Gnosis durch die Templer zu einem neuen, geheimen Leben erweckt. Wenn aber auch der Templerorden verfolgt und aufgelöst wurde und in Blut und Feuer unterging, so gelang es wiederum nicht, den Geist zu zerstören. Über das Ereignis, daß der Großmeister Jakob von Molay den Scheiterhaufen besteigen mußte, heißt es in einem Buch über den Gral: „ Finsternis breitete sich mit diesem tragischen Geschehen über das Abendland aus. “ 116 Freilich konnte man zwar den Körper des Großmeisters verbrennen, aber nicht den Geist der Templergnosis. Diese hat wohl ihre höchste schriftliche Ausbildung in der Weltdichtung Dantes gefunden, dessen Commedia seit 1290 geplant gewesen war, die sodann ihre letzte, bleibende Form nach dem Untergang des Ordens von 1313 an erhielt und die erst 1321 wirklich vollendet vorlag. Direkte einzelne Elemente oder das äußere Gesamtumfeld der Templergnosis wurden durch die Mitglieder der Rex-Deus-Gruppe sichtbar gemacht. Den Gesamtbogen bis zur Templergnosis selbst hat wiederum Harald Zusanek mit seiner Studie über Johannes den Täufer gespannt. Als Dante die gesamte Templergnosis in seiner Commedia zusammenfaßte und als zuerst Beatrice und sodann Bernhard von Clairvaux seinen Charakter des Jenseitswanderers 114 Hans Leisegang, op. cit., S. 116. Im Buch von Polymnia Athanassiati und Michael Frede (Hg.): Pagan Monotheism in Late Antiquity. Oxford 1999, S. 152 und Anmerkung 15 sowie in dem Buch von Otto Geudtner: Die Seelenlehre des chaldäischen Orakel. Meisenhaim am Glan 1971, S. 2 und Anmerkung 10 wird das chaldäische Orakel als „ Bibel des Neuplatonismus “ bezeichnet. 115 Albrecht Hüttig: Macrobius im Mittelalter. Frankfurt - Bern - New York 1990 116 Rudolf Meyer: Zum Raum wird hier die Zeit. Die Gralsgeschichte. Frankfurt am Main 1983, S. 170 45 Vorläufer der Templergnosis <?page no="64"?> Dante durch die Zonen des Paradieses führt, da findet dieser am Schluß beim Erblicken der „ Himmelsrose “ als letzte Apotheose an der Spitze des christlichen Halbkreises Maria-Isis und an der Spitze des jüdischen Halbkreises Johannes den Täufer. Es wurde hier versucht, durch einen Bericht einen Überblick über einzelne Perspektiven und Ideen zu geben, welche einzelne Elemente der Templergnosis bis in sehr graue Vorzeit hinein enthüllen wollten. Bei aller Indirektheit legen sie alle Zeugnis für die Wichtigkeit ab, welche ihre Autoren der Templergnosis beimaßen. Von diesen frühen Phänomenen, die von dem erstaunlich kenntnisreichen Harald Zusanek bis in den „ Frühkult “ zurückgeführt wurden, ist es die Gestalt von Johannes dem Täufer, dessen Schädelkult eine Art Brücke zu den direkten Vorläuferideen darstellte. Er war ein direktes Leitbild der Templergnosis gewesen. Dies hat schließlich Albert Pike auf den Punkt gebracht, als er die johanneische Lehre als Rückblick auf Kabbala und Essenertum beschrieb. Die bereits sehr direkten Darstellungen der Umwelt, aus welcher die Templergnosis entstand, haben die gleichwohl sehr vagen Berichte über die Rex-Deus-Gruppe gegeben. Nicht weniger direkt war der Einfluß des Neuplatonismus, der bis in die Spätantike hereingereicht hat und der nicht zuletzt besonders wichtig auch für den Modus der Präsentation und der Erkenntnis- und Verstehensmethode durch Symbole geworden ist. Freilich hat erst die Gestalt eines Genies wie Dante die integrale Einheit und Sublimierung all dessen zu einer einzigen großen Dichtung schaffen können. 3. Templergnosis und Gralsdichtung Die Beziehungen zwischen der Templergnosis einerseits und der Gralsdichtung andererseits beschränken sich keineswegs auf den Umstand, daß Wolfram von Eschenbach in seinem großen Epos Parzifal die Templer - er nennt sie „ Templeisen “ - zu den Hütern des Gral und damit zu den eigentlichen Gralsrittern gemacht hat. Die Beziehung reicht wesentlich weiter und tiefer. Darum wird dieser Exkurs eingeschaltet und er wird hier, zwischen dem ersten und zweiten Kapitel eingeschaltet, weil diese Beziehung nicht auf die vergleichsweise kurze Zeit der Geschichte des Templerordens beschränkt ist, sondern sowohl weiter in dessen Vergangenheit zurück als auch voraus in die Zukunft reicht. Dabei ist es erstaunlich, wozu Vorurteile auch in diesem Zusammenhang führen konnten. Einer der belesensten Historiker des Templerordens, der sogar 46 Zur Entstehung der Templergnosis <?page no="65"?> weiß - schreibt! - die Templer hätten ihr weißes Habit von den Zisterziensern übernommen, stülpte diese enge Verwandtschaft in einen Gegensatz um: „ Die Gralsritter “ , schrieb er, „ trugen deshalb weiße Gewänder, weil die Autoren der Gralsromane sich an dem Vorbild der Zisterzienser orientierten, und nicht etwa wegen der Templer. “ 117 Das Ableugnen der historisch überlieferten Nähe von Zisterziensern und Templern läßt sich in diesem Fall nur durch die ideologische Abneigung des Autors gegenüber esoterischen Traditionen erklären. Dann geht er noch überdies auf den großen Vater beider Orden ein, auf Bernhard von Clairvaux, den kirchenpolitisch so klugen „ Papstmacher “ , dessen Zisterzienserpäpste den Templern ihre zahlreichen Vorrechte und Privilegien verliehen hatten, und er betont schließlich sogar, daß es den Gralsrittern um die ekstatische Vereinigung mit Gott gegangen wäre und daß für sie dabei der Weg das Ziel gewesen sei. Knapper und klarer läßt sich das Wesen der Gnosis und natürlich auch der Templergnosis kaum ausdrücken. Ein Großteil der Vielschichtigkeit und Tiefe der gegenseitigen Überlagerung von Templergnosis und Gral findet sich in der ebenso einfühlsamen wie ergebnisreichen Überschau von Rudolf Meyer Zum Raum wird hier die Zeit. Die Gralsgeschichte, die wohl einerseits etwas zu sehr zu Richard Wagner hin ausufert, andererseits jedoch sogar die Templergnosis als Bindeglied von der alten, manichäischen Gnosis zum Gral hin erwähnt. 118 Einen direkten Hinweis auf die enge Verwandtschaft der Tempelritter mit den Gralsrittern stellt auch die Tatsache dar, daß eine so angesehene französische religionswissenschaftliche Zeitschrift wie die Connaissance des Religions eine eigene Sondernummer zu diesem Thema herausgebracht hat. 119 Tatsächlich nahmen der Kelch und die Hostie in der Symbolik der Templergnosis eine zentrale Stellung ein. Ein Emblem des Kelchs und des Opferlamms (der Hostie) zusammen mit zwei Fackeln fanden sich als Relief auf vielen Templergebäuden vor allem im Heiligen Land. „ Der Kelch oder Becher beim johanneischen Brudermal war ein heiliges Zeichen der Bruderliebe, des geheimen Kults, wie des Ordens überhaupt und stand in solchen Beziehungen bei den Templern in gleich hohem Wert wie der Abendmahlskelch bei der Christenheit. Man findet noch heutigen Tages Tempelherren mit dem heiligen Kelch oder Gral in der Hand abgebildet. An der Kapelle St. Maria Maggiore zu Bologna, welche früher den Templern gehörte, findet sich ein Leichenstein mit der Figur des Tempelherren Peter Rotis, der zu Anfang des 13. Jahrhunderts starb und dargestellt ist, wie er mit der Hand einen Becher in die Höhe hebt. “ 120 Zwar nicht vom Titel, doch vom Inhalt her verbindet Fishers Gralsbuch den mystischen 117 Martin Bauer: Die Tempelritter, op. cit., S. 273 118 Rudolf Meyer, op. cit. 119 Connaissance des Religions. Numéro Spécial Hors-Série: Templiers et chevalerie du Graal. Novembre 1988 120 Ferdinand Wilcke, op. cit., S. 472 47 Templergnosis und Gralsdichtung <?page no="66"?> Kern von Gralslegende und Templergnosis. 121 Wenn etwa beispielsweise der Vorläufer von Wolframs Gralsdichtung Chrétien de Troyes seine Perceval- Dichtung mit dem symbolischen Bild eröffnet, daß sich „ der Sohn der Witwe “ zur Frühlingszeit im Wald erhob, dann reicht dieses Symbol zurück bis zur ägyptischen Göttin Isis, die Ihren Sohn Horus erst nach dem Tod ihres Gatten Osiris geboren hatte, und das Symbol vom „ Sohn der Witwe “ reicht zugleich in die Zukunft bis zur Freimaurerei unserer Zeit herauf. Innerhalb der Kette der Isis- Eingeweihten stellt die historische Dauer des Templerordens nur eine vergleichsweise kurze Strecke dar. Enger an die eigentliche Templer-Chronologie schließt sich der Umstand an, daß die Gralslegende die Zerstörung des Tempels in Jerusalem als Ausgangspunkt für die Stiftung der Gralstafel durch Josef von Arimathia nimmt. Es gibt eine jüdische Geheimtradition, „ Sepher hajaschar “ , die eine gewisse Parallele dazu darstellt. 122 Diese Tradition beruht auf einem Buch, welches schildert, wie ein römischer Offizier nach der Zerstörung Jerusalems und des Tempels in einem verborgenen Geheimraum einen Greis findet, der inmitten von Schriftrollen sitzt, deren wertvollste jene ist, die das Buch „ Sepher hajaschar “ enthält und das die Stammbäume Adams durch alle Zeiten der Weltgeschichte, nicht nur die vergangenen, sondern auch die zukünftigen darstellt, bis zur Ankunft des Messias. Der Hauptakzent liegt auf der Chronologie, nämlich darauf, daß das Buch gerade zur Zeit der Zerstörung Jerusalems und des Tempels aufgefunden wird. Das bedeutet nichts anderes als die sinnbildliche Umschreibung der Tatsache, daß alles das, was bisher im Tempel offen gelehrt und praktiziert worden war, von jetzt ab in die mehr oder weniger funktionierenden geheimen Traditionen überging, die als esoterisches Geisteserbe von mystischen Bruderschaften weiter am Leben erhalten wurde. In seiner ältesten, vorchristlichen Form stellte der Gral einen Kelch der Fülle und Wiedergeburt dar, ein Gefäß, in dem das Leben der Welt aufbewahrt war und das die Göttin der großen Mutter symbolisierte. 123 Das geht sehr gut mit der großen Muttergöttin der Gnosis zusammen. Eine enge Verbindung des Gral mit der Tradition der Katharer stellt das Buch von Otto Rahn Kreuzzug gegen den Gral dar. 124 Er weist darin auch auf eine Broschüre Péladans: Le secret des troubadours hin, die ihrerseits die Verbindung der katharischen Troubadours mit den Templern behandelt. 125 121 Liozette Andrews Fisher: The mystic vision in the Grail Legend and in the Divine Comedy. New York 1917 122 Vgl. Walter Johannes Stein: Weltgeschichte im Lichte des heiligen Gral. Anhang, Wien 1928 123 Rosemary Ellen Guiley: Encyclopedia of Mystical and Paranormal Experience. Edison, NJ 1991, S. 242 124 Otto Rahn: Kreuzzug gegen den Gral. Radeberg 2009 125 Otto Rahn, op. cit., S. 11 48 Zur Entstehung der Templergnosis <?page no="67"?> Wie stand es nun zur Zeit des Wiederauffindens der gnostischen Schriften der Jerusalem-Kirche durch die Templer mit der Beziehung zur Literatur im Allgemeinen und zur Gralsliteratur im besonderen? Es gibt nur sehr vereinzelt Mitglieder des Templerordens, die selbst Dichtung schufen. Einer davon war der Troubadour Ricaut Bonomel, der in einem seiner Gedichte auch den Baphomet erwähnte. 126 Dabei zeigt es sich auch, daß dieser Templerdichter eine überaus realistische Beschreibung der Lage in Palästina nach 1265 geben konnte. Er bemerkt sehr richtig, daß der christliche Einfluß in Syrien bereits völlig vernichtet worden sei. Der Sultan hätte geschworen, an jeder Stelle, an der es eine Kirche für Maria gegeben hätte, eine Moschee zu bauen. Der Papst aber, anstatt die christliche Sache im Heiligen Land zu fördern, sei lediglich daran interessiert, Ablässe für Sünden zu verkaufen, um den Krieg Karls von Anjou in der Lombardei zu finanzieren. Er nimmt auch Geld von Männern, die dafür ihr Gelöbnis aufgeben können, in Palästina zu kämpfen und die nun stattdessen in Italien Krieg führen. Die italienischen Kriege sind schuld daran, daß die Türken die Christen in Syrien verdrängen hatten können. Auch ein Templerchronist namens Guy stößt in dasselbe Horn und beschuldigt bereits zwei oder drei Jahre vor dem Fall von Akkon den Papst am hereinbrechenden Verhängnis der Christen im Heiligen Land. Ein anderer Dichter aus der Provence, Guillem Daspols, beschuldigte freilich als Anhänger der päpstlichen Politik die Orden der Templer und Johanniter, daß sie zwar gegründet worden seien, um die Heiligkeit Gottes zu verteidigen und die Armen zu ernähren, daß sie aber stattdessen voll von Stolz und Habsucht wären und in ihren Sünden schliefen. Wie vielfältig die Beziehungen der Gralsliteratur zu den Templern sind, zeigt sich gleich beim ersten Autor der dazumal „ modernen “ Legende über König Artus, Geoffrey of Monmouth und seiner Historia regum Britanniae, in die er auch die Erzählung der Artus-Sage eingeflochten hat. Sie ist vor 1139 verfaßt worden. Auch hier sind Christopher Knight und Robert Lomas den genaueren Umständen nachgegangen und haben herausgefunden, daß Geoffrey in Oxford lebte, als der erste neu ernannte Großmeister der Templer für England von Prinzessin Matilda Land geschenkt erhielt, um eine Präzeptur des Ordens zu bauen. Matilda war die Tochter König Heinrichs I. und Enkelin von Wilhelm dem Eroberer. Für die damals kleine Stadt Oxford war dies bestimmt eine Angelegenheit des öffentlichen Interesses und Geoffrey in seinen frühen Dreißigerjahren ist gewiß bei manchen Gelegenheiten dem Payen de Montidier begegnet, der einer der 126 Vgl. V. de Bartholomaeis (Hg.): Poesie provenzali storiche relative all ’ Italia. Rom 1931, S. 222 - 223 49 Templergnosis und Gralsdichtung <?page no="68"?> ursprünglichen neun Ritter war, die in Jerusalem unter dem Platz des Tempels gegraben hatten. Knight und Lomas stellen die nicht unplausible Hypothese auf, wonach Payen de Montidier dem neugierigen und phantasiebegabten Kanonikus und Chronisten der Stadt Geoffrey einiges von den Grabungen erzählt hatte, auch wenn er ganz gewiß nicht auf Einzelheiten über die Schriftrollen eingehen konnte. Die Plausibilität der Aussage von Knight und Lomas beruht nicht auf der urkundlichen Quelle eines Treffens von Geoffrey und Montidier, sondern ist das Ergebnis einer genauen Betrachtung des wesentlichen Skeletts der von Geoffrey erzählten Legende. Ein besonders wichtiger Teil ist dabei der Bericht über das Ende von König Artur nach der Schlacht gegen die Invasoren. Er wird tödlich verletzt, stirbt aber nicht, sondern wird nach Avalun, einem Land im Westen, gebracht, jenseits des großen Meeres, wo er auf die Zeit wartet, wenn er in Zukunft wieder auferstehen und zurückkommen würde, um sein Volk zu erlösen. Geoffreys Erzählung über König Artur beginnt damit, daß seine Mutter zwar verheiratet war, jedoch von einem anderen Mann als ihrem Gatten ein Kind empfangen hatte. Sie fiel aber nicht in Schande, da die Vereinigung der beiden unter dem Einfluß eines Zauberers stattgefunden hatte. König Artus wuchs heran und wurde der Held und wahre König seines Volkes. Er sammelte um sich zwölf Ritter als Kern seines Gefolges und führte sie in die Schlacht gegen die Invasoren. Nach der Verwundung in der Schlacht wird er in ein fernes Land im Westen gebracht, von wo er wiederkommen wird als Retter seines Volkes. Seine Abwesenheit stürzt das Land in Verfall und Ruin. Der Anfang könnte eine geschickte dichterische Transformation dessen sein, was von den Rex-Deus-Leuten gesagt wurde, nämlich daß Jesus der Sohn eines Priesters des Tempel Salomons gewesen sei, dessen junge Mutter an einen älteren Mann verheiratet worden war. Die zwölf Ritter würden die zwölf Stämme Israels versinnbildlichen und der Schluß bezöge sich auf die Rettung und Wiederkehr der Schriftrollen als den reinen Lehren des wirklichen Jesus, nachdem sie durch den Fall von Jerusalem und durch die Zerstörung des Tempels verloren gegangen waren. In der Zwischenzeit war alles Verfallsituation gewesen, die durch die Neugründung einer anderen, neuen Sekte durch Paulus eingesetzt hatte. In der Historia von Geoffrey wird zwar die Artuslegende begründet, doch der Name Gral fällt noch gar nicht. Das geschieht erst etwa vier Jahre später durch William von Malmesbury, in dessen Gesta Regum Anglorum. Joseph von Arimathia ist es hier, der im Jahr 73 den Gral und einen heiligen Dornenbaum nach Glastonbury brachte. Hier wird auch erzählt, daß Artus den Krieger Ambrosius Aurelianus im Kampf gegen die Angeln unterstützt hat. Geoffrey einerseits und der Bibliothekar, Präzeptor und Chronist der Abtei, William von Malmesbury, andererseits beschuldigten einander, eine falsche Version gebracht zu haben. Es war ein neuerer Forscher, der den gemeinsamen Nenner aller Gralromanzen ans Licht hob und damit auch die zwei Versionen der beiden harmonisch vereinigte. Graham Phillips verwies auf ihre Gemeinsamkeit als eine und die gleiche 50 Zur Entstehung der Templergnosis <?page no="69"?> alternative apostolische Nachfolge, die im Unterschied von der paulinischen von Joseph von Arimathia ausgegangen war. 127 In einer bedeutenden Dichtung zusammengebracht hat König Artus und den Gral einer der bekanntesten Dichter seiner Zeit, Chrétien de Troyes, der im Prolog zu seinem Epos seine Gralsgeschichte als die beste bezeichnet hat, die jemals am königlichen Hof vorgetragen worden war. Sein Torso gebliebenes Epos Le roman de Parceval ou Le Conte du Graal ist Phillipe d ’ Alsace, dem Grafen von Flandern, gewidmet, der ein Verwandter jenes Templers Payen de Montidier gewesen ist, der das Werk von Geoffrey of Monmouth inspiriert hatte. Zu dem wenigen, was wir von Chrétien wissen, gehört, daß er aus Troyes stammt, jener Stadt, die ein derartiges Zentrum der frühen Entstehung des Templerordens darstellt, daß deshalb wohl Alan Butler und Stephen Dafoe ihre allerdings nur vermutete „ Bruderschaft von Troyes “ nach ihr benannt haben. Nach diesen beiden Autoren gingen aus jener Bruderschaft die Zisterzienser- und Templer-Ideale hervor, die so gar nicht „ in die politische Norm der Periode paßten “ . 128 Es war die Stadt, in welcher der Zisterzienserabt Bernhard von Clairvaux die Regel des Templerordens geschrieben hatte und in welcher der große Talmudkommentator Rashi und seine kabbalistische Schule beheimatet waren, die Bernhard nicht nur beschützte und förderte, sondern aus welcher er auch Leute heranzog. Es ist die Hauptstadt der Champagne und Graf Hugo von Champagne hat nicht nur das Land für die Abtei von Clairvaux gestiftet, sondern wurde später selbst einer der ersten Templer. Von Heinrich I. von Champagne wurde angenommen, daß Chrétien die längste Zeit an seinem Hof lebte, und Marie von Champagne hat er einige seiner frühen Ritterromanzen - vor dem Perceval - gewidmet. Ein israelischer Romanist, der die jüdischen Elemente im Perceval herausarbeiten wollte, hat vor allem eine Reihe von Äußerlichkeiten aus dem Ritual der Haggada hervorgehoben, für die er Parallelen gefunden hat. Interessant ist auch, daß in der Haggada wie in der Tradition der Rex-Deus-Gruppe der Vater dem Sohn eine Geschichte der Flucht in die Freiheit erzählt, wenn auch nicht aus der römischen, sondern aus der ägyptischen Knechtschaft. Die Tatsache, daß die Trägerin des Gral bei Chrétien jüdisch ist, nimmt er zum Anlaß, auch den Fischer- König, der ja der Gralskönig ist, als jüdisch zu betrachten. 129 Ob es aus Ägypten mitgebrachtes Erbe oder Templergnosis ist, wenn Chrétien seinen Helden als einen „ Sohn der Witwe “ bezeichnet, ist schwer zu entscheiden. Jedenfalls hat sich sein Perceval durch das Aufgeben seines säkularen Ritterideals und durch sein Bewußtwerden der Anwesenheit Gottes dem Ideal des Mönchsrittertums der Templer geöffnet und angepaßt. Außerdem zeigt Weinraub, daß die Entwicklung Percevals zu einem spirituellen Rittertum hin nicht eine zyklische, sondern eine 127 Graham Phillips and Martin Keatman: King Artus. The True Story. London 1992 128 Alan Butler and Stephen Dafoe, op. cit., S. 144 129 Eugene J. Weinraub: Chrétien ’ s Jewish Genie. Chapel Hill, North Carolina 1976, S. 61 51 Templergnosis und Gralsdichtung <?page no="70"?> helikale ist: einerseits eine Rückkehr zum Ausgangspunkt und andererseits wieder doch nicht, da die Rückkehr auf einer höheren Ebene stattfindet. Das Ganze wird zur Parabel eines zweiten Exodus, nach dem ersten aus Ägypten nunmehr zu einem des Joseph von Arimathia aus Jerusalem zur alternativen apostolischen Nachfolge. Eine französische Fortsetzung des Perceval von Chrétien ist der Perlesvaus, den viele für den ersten französischen Prosaroman halten. Er wird auch Li Hauz Livres du Graal (Die hohe Geschichte des heiligen Gral) genannt. In dieser Gralsversion gelangen neben Perlesvaus auch Gauvain und Lanzelot in die Gralsburg, von denen Gauvain den roten Schild mit goldenem Adler errungen hat, den einstmals Judas Makkabäus getragen hatte. Er stellt eine jüdische Komponente dar und es mag symbolisch sein, daß er durch den Anblick des Gral aus Verzückung seine Sprache verliert und stumm bleibt. Freilich sind auch die neuen Makkabäer ebenso wie die Soldaten Christi ein spiritueller Ritterorden. Die Gralsritter dieses Romans tragen weiße Mäntel mit rotem Kreuz wie die Templer. Nachdem Perlesvaus am Hof des Königs Artus geweilt hat, tritt er die Jenseitsfahrt zur Gralsinsel an, wo er von 33 Rittern in weißen Gewändern mit einem roten Kreuz auf der Brust empfangen wird. Den Fischer-König, der hier Pelles heißt, kann er nicht mehr erlösen, da dieser bereits verstorben ist. Man hat den Roman als Verherrlichung der Abtei von Glastonbury interpretiert, wodurch er auch in Beziehung zu William von Malmesbury gesetzt wird. Wie bei Chrétien werden die Gralsritter als Überwinder des Ideals einer rein weltlichen Ritterschaft und als spirituelle Ritter gesehen. Chrétiens Perceval wurde auch zu der Hauptquelle einer der größten hochmittelalterlichen mittelhochdeutschen Dichtungen, dem Parzival des Wolfram von Eschenbach. Wolfram war in Jerusalem gewesen, hatte die Templer kennen gelernt und hat sie in seinem Epos zu den Hütern des Gral gemacht und damit zu denjenigen, die das Geheimnis des Gral kannten. Wie der Autor des Perlesvaus legt auch Wolfram großes Gewicht auf die Blutlinie des Gral. Er führt Lohengrin ein und der Vater seines Parzival ist Gamuret, der eine wichtige Rolle spielt. Der Name des Fischer-Königs bei ihm ist Amfortas, Sohn des Frimutel, der wiederum Sohn des Titurel ist. Die Schwester des Fischer-Königs ist Herzeloyde, Parzivals Mutter und eine Witwe, wodurch auch Parzival wie Chrétiens Perceval „ Sohn einer Witwe “ ist. Der Gral selbst ist bei Wolfram ein Stein der Jugend und der Verjüngung durch Wiedergeburt. Er wird Lapisi Exillis und manchmal Lapis Elixis genannt, eine Form von Lapis Elixir, was auf seinen vorchristlich-keltischen Ursprung und seine Herkunft aus der Alchemie zurückweist. Es ist der Stein der Weisen und Wolfram erklärt ihn so, daß dieser Stein den Phoenix zu Asche verbrennt, jedoch aus der Asche heraus schnellstens wieder zu neuem Leben verwandelt. Es ist ein zentrales Wiedergeburts- und auch Erleuchtungs-Symbol, das mit der Templergnosis bestens übereinstimmt. 52 Zur Entstehung der Templergnosis <?page no="71"?> Arthur Schult führt den Gral weit über die keltische Herkunft des Namens selbst zurück: Von den Sonnenmysterien, die im Kosmos und im Menschen das höchste Zentrum, die Geistsonne des Gottes-Ich enthüllen, sowie über die Alchemie, wo sie nicht zur Goldmacherei entartet und der sich mit ihr verbindenden Astrologie, wo diese nicht herabsinkt zur wahrsagenden Astromantik, reicht die Wirkung des Gral und reicht weiter über eine arabischastrologische Quellenschrift und islamische Mystik, zu den Entwicklungsstufen der persischen Kosmographie und die persische Sternen- und Mysterienweisheit, zum Mazdainismus der Essener-Papiere und schließlich zu Zarathustra und der Kosmologie der Avesta. 130 Die Gralssage kann demnach als eine Mitteilung der Sternenschrift des Himmels verstanden werden, da sie Ausdruck astrologisch-alchemischen Wissens ist. Die Templer befaßten sich ja mit Kosmogonie und Alchemie. Auf Grabsteinen und in Templer-Kirchen finden sich immer wieder astrologisch-alchemische Symbole wie das Pentagramm zusammen mit den Zeichen der damals bekannten Planeten und Metalle. Der Gral (Stein) aber nennt selbst die Nachfolger der Gralskönige, durch die Schriftzüge ihrer Namen, die auf ihm erscheinen, die jedoch nicht für jeden sichtbar sind. Das entspricht interessanterweise ganz einer Stelle aus der Geheimen Offenbarung des Johannes, in der es (2,17) heißt: „ Wer Ohren hat zu hören, der höre, was der Geist den Gemeinen saget: Wer überwindet, dem will ich zu essen geben von dem verborgenen Manna, und will ihm geben einen weißen Stein, und auf dem Stein einen neuen Namen geschrieben, welchen niemand kennt, denn der ihn empfähet. “ Die Beziehung des Gral zu den Templern geht eben weit über ihre Funktion als Gralshüter hinaus. So ist es auch kein Zufall, daß Parzivals Vater Gamuret - und damit indirekt auch er selbst - von Anschouwe (Anjou) stammt, ein „ Anschewein “ ist, wie Wolfram es nennt. Von 1131 bis zur Zeit Wolframs waren nämlich die Könige von Jerusalem aus Anjou, beginnend mit Fulko V. von Anjou aus dem Hause Château-Landon bis hin zu Isabella I. Fulko hatte die ersten Templer bei ihren Grabarbeiten finanziert, war bereits 1120 in Jerusalem gewesen und lebte seit 1129 ganz dort. Gleich im Ersten Buch berichtet sein Neffe dem Nordfranzosen Gamuret, daß er tausend Ritter nach Jerusalem gebracht hätte, „ aus der Champagne Land “ , dem Kernland der Templer in Frankreich. Isabella I., die zur Zeit von Wolfram regierte, war sogar einmal auch mit einem Heinrich II., Graf von Champagne verheiratet. Ja, wie sich herausstellt, ist selbst Amfortas, ein Onkel Parzivals, ein „ Anschewein “ und wenn Parzival zuletzt Gralskönig wird, dann steht dies einem Anjou durchaus zu. 130 Arthur Schult, Die Weltsendung des heiligen Gral im Parzival des Wolfram von Eschenbach. Bietigheim/ Württemberg 1975, S. 5 - 47 53 Templergnosis und Gralsdichtung <?page no="72"?> So wie sich auch schon bei Chrétien christliche, keltisch-druidische und jüdische Züge synkretistisch miteinander verbinden, zeigt sich auch bei Wolfram eine solche Verbindung, zu welcher überdies noch islamische Bezüge hinzutreten. So stößt Gamuret gleich im Ersten Buch auf Baruch von Bagdad, der im Epos nicht weniger als sechs Mal vorkommt, und von dem er sogar „ in Dienst genommen wird “ . Es gibt sehr ernsthafte Forscher, die den ersten zwei Büchern von Wolframs Parzival besondere Aufmerksamkeit zuwenden, weil sie im Unterschied zu den Büchern 3 - 13 nicht auf der Vorlage Chrétiens fußen, sondern zum Teil vielleicht auf dem Vorbild des legendären Kyot, zumindest zum Teil aber auch Wissen verarbeiten, das Wolfram selbst im Heiligen Land sammeln hat können. 131 Mit den zweiten 13 Büchern wird auch die Vorlage Chrétiens wieder verlassen. Nun ist es so, daß ein jüdischer Name wie Baruch von Bagdad sofort Vermutungen über templergnostische Zusammenhänge auslöst. In der angesehenen neuen Parzival-Ausgabe von Eberhard Nellmann heißt es dazu nur lapidar: Wieso Wolfram dem Kalifen von Bagdad diese „ sachfremde “ Amtsbezeichnung gibt, 132 sei „ rätselhaft “ . In der neuhochdeutschen Übersetzung des Texts verschwindet das jüdische Wort „ baruk “ völlig und wird einfach durch „ der Kalif “ wieder gegeben. Nun war der politische Einfluß des Kalifen damals bereits weitgehend geschwunden und sein Titel war ein fast rein religiöser, wenngleich sehr hoher geworden. Der Kalif war der höchste Würdenträger des islamischen Glaubens überhaupt und Wolfram vergleicht ihn sehr richtig mit dem christlichen Papst. Um so rätselhafter scheint es auf den ersten Blick zu sein, daß ihn Wolfram mit einem jüdischen Namen belegt und doch hat er sehr genau gewußt, was er tat. Es ist nämlich so, daß gerade in der Zeit, in der Wolfram lebte, auch die Juden einen überaus mächtigen Mann in Bagdad besaßen. Er hieß Daniel ben Hasdai und war gerade vom Kalifen mit ganz unglaublichen Vollmachten ausgestattet worden. Daniel ben Hasdai war damals „ Exilarch “ , das heißt der höchste jüdische Würdenträger auf der ganzen Welt nach der Zerstörung des Salomonischen Tempels, um den es den Templern doch vor allem anderen ging. Er war der Nachfolger des letzten Hohepriesters von Jerusalem und zu allem Überfluß vermochte er seine eigene, persönliche Abstammung auf König David zurückzuführen. Ja, er war nicht nur vom Kalifen hoch geschätzt, sondern auch von der großen und angesehenen jüdischen Gemeinde des damaligen Bagdad. 133 Aber 131 Daß es insgesamt 26 Bücher sind, macht zahlensymbolisch insofern einen Sinn, als 26 zwei mal 13 ist. Erst in den zweiten 13 Büchern gewinnt Parzival den Gral und spielt auch eine Art Doppelrolle mit Gawan. Die 13 aber war nicht nur eine besonders wichtige Zahl in Dantes Commedia, sondern spielte in der Templergnosis überhaupt eine wichtige Rolle. 132 Wolframs Parzival im Deutschen Klassiker-Verlag, Frankfurt 1994, Band I, S. 31 und Band II, S. 461 133 Es gab damals in Bagdad 28 Synagogen und 10 Yeschivas. 54 Zur Entstehung der Templergnosis <?page no="73"?> sogar die islamische Bevölkerung hatte ihm in der Umgangssprache den Titel „ unser Herr, der Sohn von David “ gegeben. Das Gegenstück dazu, der Ehrenname, den die Juden dem Kalifen al-Muktafi gegeben hatten, war „ Baruch von Bagdad “ . Wolframs Bezeichnung für den Kalifen als „ Baruch von Bagdad “ , den „ Gesegneten von Bagdad “ , mag nun entweder daher rühren, daß er einen jüdischen Gewährsmann für alle nicht-christlichen Verhältnisse hatte, oder aber eher noch daher, daß er mit den positiven Berührungspunkten von Judentum, Christentum und Islam im Nahen Osten bekannt geworden war, die ja trotz der Kreuzzüge bestanden und an denen sich viele frisch gebacken aus Europa kommende radikale Kreuzritter oft gestoßen hatten. Die Gralsidee, die ja ursprünglich gar nicht aus dem Christentum kommt, ist ja durchaus antifundamentalistisch, und nicht zufällig hat Wolfram die Templer zu den Gralshütern gemacht, da auch die Templergnosis solche Berührungspunkte durchaus kannte. Über Wolfram selbst ist jedoch auch angenommen oder zumindest gemutmaßt worden, daß er selbst Templer gewesen sei. Auch wenn es keinerlei Dokumentation darüber gibt, ist es doch bezeichnend, daß eine solche Mutmaßung angestellt werden konnte. 134 Wie sich durch den „ Baruch “ islamische Elemente mit dem Christlichen synkretistisch vereinigen und weitere islamische Anspielungen sichtbar werden, hat einer der bedeutendsten westlichen Kenner islamischer Esoterik Pierre Ponsoye im zweiten Kapitel seines Buches über den Parzival Wolframs L ’ Islam et le Graal gezeigt, das er dem Baruch gewidmet hat. 135 Zum islamischen Einfluß kommt beim Gral wie bei den Templern noch das Judentum. So wurde mit Recht gesagt, daß trotz des keltischen Ursprungs der Gral vielfach als eine christliche Legende erscheint, trotzdem aber die meisten Hauptpersonen der Gralssage Juden oder zumindest jüdischen Ursprungs sind. Wie Dantes templergnostisches großes Werk ist auch Wolframs Parzival eine durch und durch idealistische Dichtung. Allerdings ist es bei Wolfram das Gralsschloß Parzivals, das ein positives, nicht irdisches, sondern geistiges Phänomen darstellt, während das Parallelschloß Gawans, das Zauberschloß Schastelmarveil, ein negatives Phänomen, eher vergleichbar mit Dantes Hölle, darstellt. Der Fährmann, der Gawan in jene geistige Welt übersetzt, entspricht Charon bei Dante. Im Schloß Schastelmarveil wollte der böse Zauberer Klingsor das Glück aller Angehörigen der höfischen Gesellschaft zerstören. Gawan hat in Gestalt der weisen Arnive eine ideale Führerin in diese negative Welt gefunden. Was jedoch Klingsor betrifft, so hat zwar Wolfram kaum gewußt, daß er zu den vorkeltischen sprechenden Köpfen gehört hat, wohl hat er gewußt, daß nach 134 Ein solcher Hinweis findet sich bei Louis Charpentier, op. cit., S. 64. 135 Pierre Ponsoye: L ’ Islam et le Graal. Mailand 1976, S. 43 - 63 55 Templergnosis und Gralsdichtung <?page no="74"?> der Gnosis es die dunklen Mächte waren, welche die Erde beherrschten und die seine Schöpfung, die Figur Parzivals, überwand. Wie es Parzivals Erbfehler war, zu wenig zu fragen, so war es Gawans Erbfehler, zu viel zu fragen. Die vier Aufgaben, die Gawan zu erfüllen hat, die Überwindung von Malkreatur, der Sieg über 500 Wurfschleudern und 500 Armbrüste, die Tötung des in eine Fischhaut eingenähten Riesen und das Erstechen des plötzlich hereinspringenden Löwen entsprechen den vier Grundelementen, aus denen entsprechend der Gnosis die Welt besteht: Erde, Luft, Wasser und Feuer. Parzival aber zieht nach Munsalwäsche, das ist Mont Salvage, der Berg des Heils, der auch Dante bereits im Ersten Gesang erscheint. Die Verkündigung Kundries, der weisen Frau, die Parzival eine Art Wegweiserin wird, klingt durch das Hereinbringen der Planeten ebenfalls ganz dantesk. Kundrie aber verkündete ihm: Alles, was im Umkreis der Planeten ist und was ihr Glanz bescheint, ist dir zu erreichen und zu erwerben bestimmt. Dein Schmerz muß nun vergehen. Nichts anderes als die Gier (das dritte der Tiere, die Dante am Beginn seines Aufstiegs behinderten) schließt dich aus der Gemeinschaft aus. Der Gral verbietet dir Unaufrichtigkeit und unaufrichtige Freundschaft. In deiner Jugend hast du die Sorge zu deiner Führerin gemacht, aber die Freude, die dir der Gralsbesitz bringen wird, hat die Sorge überwältigt. Damit hast du der Seele Ruhe und des Lebens Freude für immer erreicht. Genau all das umschließt nach Robert John die Glückseligkeitslehre der Templer. Kundrie ist bei Wolfram nur die Prophetin. Als Parzival endlich die entscheidende Frage stellt und damit zur Gänze erfährt, wie sehr „ Gottes Macht ohne Maß “ ist, das heißt, als er den Gral errungen hat, machen sich nach der Vereinigung Parzivals mit seiner Gattin die Ritter zum Gral selber auf. Dabei kommen aber natürlich die Templer ins Spiel. Die Verse 808 bis 810 des 16. Buches lauten: Von all der Templer Schar geleitet, Die edle Königin selber reitet Nach Munsalväsch und nach dem Gral. Der Gral befindet sich auf jenem Berg des Heils, den auch Dante erstieg. Dort erscheinen Parzival zum zweiten Mal die fünfundzwanzig schönen Jungfrauen, gefolgt von der Schwester des Amfortas Repanse de la Schoye, von der es heißt: Von keiner andern, hört ich sagen, Ließ sich des Grales Wunder tragen. Ihr Herz erfüllt die Demut ganz, Ihr Antlitz strahlt im Schönheitsglanz. Sie, die ohne Falsch vor Gott ist, vertritt am ehesten die Stelle Beatrices. Um aber die Natur des Gral ganz deutlich zu machen, bedient sich Wolfram eines kleinen dichterischen Kunstgriffs. Während Parzival den Wunderstein in seinem ganzen 56 Zur Entstehung der Templergnosis <?page no="75"?> Glanz erstrahlen sieht, vermag sein heidnischer Bruder Feirefiz nichts zu sehen als den kostbaren, grünen Achmardi-Stoff, auf dem er ruht. Erst als er Jupiter hinter sich gelassen hat und Gott wirklich schaut, gewinnt er die Liebe von Repanse de la Schoye und mit ihr die Fähigkeit, den Gral zu erblicken. Der Gral aber vertritt unter anderem auch die Templergnosis und Wolfram läßt auf dem Wunderstein die Inschrift erscheinen, daß ein Templer, der eine Herrschaft antritt, sich nicht ausfragen lassen darf. Mehr und mehr wird es klar, daß die Vereinigung von Feirefiz mit Repanse auf die Zukunft verweist. Sie ziehen gemeinsam nach Indien, das nach René Guénon ein mysteriöses Königreich darstellt. Dort wird ihnen ein Sohn geboren, der im Mittelalter bekannte „ Priester Johannes “ , dessen männliche Nachfahren ebenfalls alle Johannes heißen. Wenn es ganz am Schluß von Wolframs Parzival heißt, daß der „ Meister Christian “ aus Troyes die „ falsche Märe “ berichtet hätte, dann bezieht sich das wohl vor allem auf das Fehlen der zweiten 13 Bücher beim „ Meister Christian “ . Vor allem aber hat der Meister Christian das Ganze zu sehr historisch rationalisiert und nicht die Sternenweisheit besessen, mit welcher der Gral ursprünglich verbunden war und über die der „ Provençale “ Kyot verfügt hatte (Parzival XVI, 829 - 831). Dadurch ist er der Autor der „ richtigen “ Märe. Er wird zum ersten Mal im Buch VIII als Quelle genannt. Später heißt es dann, Kyot hätte im maurischen Toledo ein unbekanntes Manuskript entdeckt, das von einem Nachkommen Salomos namens Flegetanis, einem arabischen Himmelskundigen, was natürlich auch Astrologen bedeuten kann, verfaßt worden war. Der Name könnte aus dem arabischen Flegetaneh, Himmelskundiger, abgeleitet sein. Allerdings haben alle Spekulationen, die einen Astronomen suchten, kein Ergebnis gebracht. Es gibt aber eine gnostische Schrift, in welcher - ähnlich wie bei Dante - das Paradies in der Sternenregion angesiedelt ist. Ein Kenner solch himmlischer Kosmologie muß wohl ein Himmelskundiger besonderer Art sein. Es ist das Baruch-Buch des Justinus. Das würde der von manchen als so seltsam empfundenen Erwähnung des Baruch von Bagdad den zusätzlichen Sinn einer Anspielung auf eine gnostische Quelle verleihen, denn bereits Papst Lucius III. hatte auf dem Konzil von Verona nähere Instruktionen über Maßnahmen gegen Ketzer gegeben. Daher war Verschlüsselung und Beschränkung auf vorsichtige Anspielungen für Kenner dringend geboten. Otto Rahn, der gute Gründe dafür anführt, daß Wolfram die Stadt in der nordfranzösischen Champagne, die Guyot von Provins den Namen gab, mit der Provence verwechselt hat, 136 nimmt auch mit mindestens ebenso guten Gründen an, daß die Werke Guyots, dessen letzter Mäzen Raimon V., Graf von Toulouse, gewesen ist und in denen dessen Tochter Adelaide besonders besungen wird, einen Aufenthalt in der Provence voraussetzen, zusammen mit zahlreichen anderen 136 Otto Rahn, op. cit., S. 46 57 Templergnosis und Gralsdichtung <?page no="76"?> Dichtungen der Provence, die von den „ Kreuzfahrern “ gegen Provence und Languedoc verbrannt worden sind. Wahrscheinlich war es Rahn gar nicht bewußt gewesen, daß es das Codewort für eingeweihte Katharer gewesen ist, von der Gräfin von Toulouse geküßt worden zu sein. Das bedeutet einen eher wahrscheinlichen als möglichen Grund des Verschwindens jener Parzivaldichtung Guyots ( „ Kyots “ ), die Wolfram als Quelle anführt, durch Verbrannt-Werden. Sollte es dabei wirklich um eine Anspielung auf das Baruch-Buch gegangen sein, dann ist dies noch ein Grund mehr, den Gral im Zusammenhang mit der Templergnosis zu behandeln. Rahn nimmt ja überhaupt an, daß die historischen Modelle der Charaktere für Wolframs Parzival in der Provence zu suchen sind, wobei das Modell für Parzival selbst jener Raimond-Roger Trencavel, Vizegraf von Carcassonne etc. gewesen wäre, der in der Gefangenschaft der „ Kreuzfahrer “ gestorben ist. Dann hätte Wolfram zwar nicht jene hohe Bildung gehabt, die ihm von manchen modernen Literaturwissenschaftlern zugeschrieben wird, wohl aber eine andere Art von hoher Bildung, die ihnen genau so unbekannt ist wie vielen Historikern: die Esoterik der Templergnosis. Jedenfalls hat Wolframs Parzival im Mittelalter eine so unvergleichlich große Verbreitung und Wirksamkeit gefunden, daß ein Forscher wie Joachim Bumke geradezu von einer „ Sensation “ sprechen konnte. Eine noch größere Sensation als die Wirksamkeit von Wolframs Parzival war aber wohl die besondere Geistigkeit der Templergnosis, wie sie auch in Wolframs Parzival deutlich zum Ausdruck kommt. Anstatt des Ausdrucks „ Kirche “ verwendeten die Templer die Bezeichnung „ Tempel “ , wie Schult sehr richtig begründet: „ um auf jene Heidentum wie Christentum in gleicher Weise umfassende Logos-Religion der Menschheit hinzuweisen. Sie ließen das kultisch-sakramentale Leben der historischen Kirchen voll gelten als äußere exoterische Form des Christentums. Dagegen lehnten sie den Anspruch der dogmatisch-religiösen Gemeinschaften, die höchste Form der Geistigkeit darzustellen, als frevelhafte Anmaßung ab. Sie wußten, daß jede Art von Totalitarismus Sektengeist verrät und Abfall von Gott ist. “ 137 Aber nicht nur auf Wolfram hat die Geistigkeit der Templer eingewirkt, sondern auch zwei andere der allergrößten mittelhochdeutschen Dichter sind in ihren Bann geraten. Was Hartmann von Aue betrifft, so soll die historische Grundlage für seinen Armen Heinrich die von den Kreuzfahrern in Europa eingeschleppte Lepra gewesen sein. Wie auch heute vielfach angenommen wird, daß er dem Hof der Zähringer nahestand, die enge Kontakte zu Frankreich unterhielten, die bis in den Wirkungskreis des Chrétien hineinreichten. Das positivste und fruchtbarste Ergebnis seiner Einstellung, gleichgültig ob die 137 Arthur Schult, Die Weltsendung des Heiligen Gral . . ., op. cit., S. 48 58 Zur Entstehung der Templergnosis <?page no="77"?> Hypothese seiner Teilnahme an einem Kreuzzug stimmt oder nicht, sind seine Kreuzzugslieder. Was aber Gottfried von Straßburg betrifft, so haben sowohl Julius Schwietering wie Gottfried Weber bei aller Verschiedenheit voneinander jeder für sich den Einfluß des Bernhard von Clairvaux entdeckt. 138 Über die enge Verbindung von Wolframs Parzival zu den Templern hat nach Franz Rolf Schröder und Purvezji Jamshedji Saher vor allem Arthur Schult ein ganz ausgezeichnetes Buch veröffentlicht. 139 Auch die Lieder der Troubadours aus der Provence atmen Templergeist. Ihre Liebeslieder sind der Templergnosis so unwahrscheinlich nahe wie die Lehren der Katharer. Sie sind in der Regel nicht persönliche Erlebnislyrik, sondern Hymnen an eine lichte Gottheit, erfüllt von freudiger Weltzugewandtheit und von einer Geistigkeit der Freiheit und Unabhängigkeit diktiert. 140 Schließlich finden sich bei Walter von der Vogelweide Anspielungen auf die Templer in seiner berühmten Elegie. 141 Ein wirkliches Augenmerk verdienen die Gral- und Parzivaldichtungen, die nach Wolfram entstanden sind. Da ist zunächst der Vulgata-Zyklus, der natürlich im Kloster von Clairvaux entstand. Er enthält eine Estoire del Graal, die Queste del Saint Graal und die Livres de Lancelot entstanden um 1220. Albrecht von Scharfenberg (2. Hälfte des 13. Jahrhunderts) ist es wahrscheinlich gewesen, der den sogenannten Jüngeren Titurel geschrieben hat. Aber wer immer es auch war, er hat Bescheid gewußt. Nachdem Titurel gemeinsam mit seinem Vater erfolgreich die aggressiven Heiden bekämpft hat, erfährt er schließlich, daß er zum Gralskönig erwählt worden ist. Ein Engel führt ihn durch weite Wildnis zum Berg Montsalvatsch, wo er die Schar seiner Ritter trifft. Hier baut er eine große Burg und regiert vor allen Königen. Der Gral ist anwesend und wirkt Wunder, doch befindet er sich schwebend in einem Gehäuse, das von unsichtbaren Engeln getragen wird. Da beschließt Titurel einen Tempel zu bauen, der den Gral würdig beherbergen soll. Dabei ist es der Gral selbst, der als alchemische Quintessenz, aus der alle irdischen Stoffe entstehen, nicht nur Titurel und seinen Rittern Nahrung und geistige Kraft schenkt, sondern der auch die Baustoffe für den Tempel herbeischafft. Da der Tempel die erwartete johanneische Geistesherrschaft repräsentieren soll, sind seine ersten drei Chöre dem Heiligen Geist, der großen Muttergöttin Sophia und Johannes gewidmet. Alles in allem hat der Tempel jedoch nicht weniger als zweiundsiebzig Chöre, weil zweiundsiebzig die gesamte Summe aller Völker der Erde darstellt. Und er hat sechsunddreißig Türme, weil 36 für 6 mal 6 steht und 138 Vgl. auch Karl Allgaier: Der Einfluß des Bernhard von Clairvaux auf Gottfried von Straßburg. Frankfurt am Main - Bern 1983 139 Arthur Schult, Die Weltsendung des Heiligen Gral . . ., op. cit. 140 Vgl. Otto Rahn, op. cit. 141 Vg. Joseph Strelka: Einführung in die literarische Textanalyse. Tübingen 1989, S. 86 - 89 59 Templergnosis und Gralsdichtung <?page no="78"?> gemäß der pythagoräischen Symbolik für „ die gesamte Welt “ steht. Der Tempel hat drei Eingänge, welche die Dreigliederung von Mensch, Kosmos und Gott versinnbildlichen. Die hohe Kuppel aber mit ihren Karfunkeln und ihren Symbolen von Sonne und Mond stellt den Sternenkosmos dar. Auf der Spitze eines jeden der sechsunddreißig Türme steht ein Kreuz aus Kristall und auf jedem Kreuz befindet sich ein goldener Adler, wie ja auch ein Siegel des Großmeisters der Templer einen Adler über einem Kreuz zeigte als Hinweis auf die Vereinigung von Mönchstum und Rittertum im Templerorden. Das Gesamtergebnis des Tempels von Titurel bezeugt die Weltsendung des Gral durch die Architektonik des Tempels. Am Ende seiner Dichtung hat der Autor beschrieben, wie sich rings um die Gralsburg Titurels die ruchlosen Nachbarn so vermehren, daß es seinen Gralsrittern immer schwerer wird, ihnen Herr zu werden und auch die längsten Gebete und das härteste Fasten die eigene Position nicht mehr sichern. Da will der Gral nicht länger im Okzident bleiben. Er wendet sich ab von diesem verderbten Europa und wendet sich dem Osten zu, woher das Licht kommt. So schildert daher nun die Dichtung den Umzug der Gralsburg samt Tempel, Palast und König Artus. Hier, am Ende des jüngeren Titurel-Epos, haben sich die Templer mit dem Gral unter Führung Parzivals und Titurels aufgemacht, um über Marseille durch viele Fährnisse nach Indien zu reisen, von wo ihnen Feirefiz und Repanse entgegenkommen. Hier allerdings ist der Priester Johannes kein Sohn des Feirefiz, sondern ein sagenhafter König über „ drei Indien “ , einem Land, das dem Paradies nahe liegt. Hier zeigt sich ein tieferer Sinn, das nestorianische Christentum hereinzubringen, denn die nestorianischen Christen, die sich als „ Ketzer “ im 5. Jahrhundert abgesetzt hatten, nannten den Herrscher der Karaiten „ Priester Johannes “ . In dieses wunderbare Land zieht nun Parzival mit seinen Templern. Auf ihre Gebete hin werden auch die Gralsburg und der Gralstempel nach Indien gezaubert. Priester Johannes erhält von Titurel Auskünfte über den Gral. Eine Schar von Engeln hätte ihn auf die Erde gebracht. Er sei der Stein, der den Phoenix wieder zum Leben erweckte, als sich dieser selbst zu Asche verbrannt hatte. Dieses Wiedergeburtssymbol wurde Teil der Rosenkreuzer-Tradition, wenngleich es nicht auf sie beschränkt ist. Nach dem Tod Titurels bietet der Priester Johannes, König der „ drei Indien “ , Parzival die Krone dieses Reiches an. Parzival aber willigt erst ein, nachdem am Rande des Gral eine Schrift erscheint, er solle König werden und auch er müsse den Namen Priester Johannes annehmen. Nach seinem Tod geschieht alles Weitere wie bei Wolfram: Ein Sohn von Feirefiz und Repanse wird als „ Priester Johannes “ der nächste Gralskönig und von da ab heißt jeder weitere König so. Nicht nur die Templer sind verschwunden, auch der Gral und sein Tempel bleiben dem verderbten Volk des Westens völlig entrückt. Darum gelingt es auch keinem westlichen Gralssucher, ihn zu finden. 60 Zur Entstehung der Templergnosis <?page no="79"?> Laurence Gardner hat den historischen Hintergrund dazu ohne Beschönigung in trockener Nüchternheit auf den Punkt gebracht: Der Grund dafür war die grausame Inquisition der Dominikaner im 14. Jahrhundert. „ Es war an diesem Punkt der Geschichte des Christentums, daß die letzte Spur freien Denkens verschwand. Weder besonderes Wissen noch Zugang zur Wahrheiten zählte in jedweder Richtung gegenüber der harten Partei-Linie Roms. “ 142 Louis Charpentier aber hat aus vorurteilsloser, distanzierter Entfernung auf eine Art historisches Gesetz hingewiesen, nachdem er erklärt hatte, daß der Chor der Kathedrale von Chartres in seinen Proportionen mit der Königskammer der Cheops-Pyramide korrespondiert: Man darf angesichts solcher Zusammenhänge nicht in den Irrtum verfallen, daß die Kathedrale eine Nachahmung der Cheopspyramide sei. Richtig ist vielmehr, daß dieselbe Wissenschaft verschieden angewandt worden ist, daß man in zwei Fällen denselben Schlüssel benützt hat. Die Spur dieses Schlüssels kann durch die Geschichte verfolgt werden, selbst wenn die Geschichte zuweilen legendäre Züge trägt: Er kommt von den Pyramiden auf Moses und wird an David, dann an Salomon weitergegeben. Nach dem Damaskus-Dokument hat der Heiland ihn gekannt. Ebenso müssen die persischen Adepten, nachdem Jerusalem vom Islam erobert worden war, um ihn gewußt haben. Über die neun ersten Tempelritter kommt er an den Zisterzienserorden, der mit seiner Hilfe die drei der Jungfrau geweihten Einweihungskathedralen anregt. Dann verschwindet er von neuem. Er wird so lange verborgen bleiben, bis einer Zeit die Wiederanknüpfung an den unterbrochenen Traditionsstrom gelingt. Dabei ist zu beachten, daß die großen Kulturimpulse einem Rhythmus unterliegen, in dem die Zeitalter pulsieren. So liegt zwischen dem Bau der Pyramiden und dem Bau des Salomonischen Tempels eine ganze Kulturepoche, und wieder vergeht ein Zeitalter, bis es zum Bau der Kathedrale von Chartres kommt. 143 Indessen hat das Symbol des Gral nicht nur im Hinblick auf die Literatur eine weite, spirituelle Wirksamkeit erfahren. Die masonischen Bruderschaften, welche die gotischen Kathedralen errichtet haben, besaßen ihre eigene Tradition. Charpentier hat aus der Rede des Mitglieds einer Nachfolgeorganisation, der „ Compagnons des Devoirs du Tour de France “ , die dieser 1964 gehalten hat, eines der wichtigsten traditionellen Geheimnisse zitiert: „ Drei Tafeln haben den Gral getragen: eine runde Tafel, eine quadratische Tafel und eine rechteckige Tafel. Alle drei haben denselben Flächeninhalt; ihre Zahl ist 21 . . . “ 144 Charpentier gibt dafür zunächst folgende Erklärung ab: Die rechteckige Tafel ist die mystische Tafel des Christentums, die den Altar trägt und erklärt, warum der Chor vieler christlicher Kirchen rechteckig ist. Aber auch ägyptische und griechische Tempel sind rechteckig angelegt. Dagegen sind galloromanische Tempel, aber auch die 142 Laurence Gardner, op. cit., S. 265. 143 Louis Charpentier, op. cit., S. 179 144 Louis Charpentier, op. cit., S. 82 61 Templergnosis und Gralsdichtung <?page no="80"?> berühmte Hagia Sophia in Konstantinopel und der Salomonische Tempel auf einem quadratischen Grundriß errichtet. Die Rundkirchen der Templer hatten die runde Tafel als Grundrißmodell. Charpentier hat auch die mathematischen Konsequenzen der Zahl 21 und der Beziehung des Rechtecks zum Goldenen Schnitt beschrieben und erklärt. Wie er später auch den Begriff des „ Gral “ überdenkt, der zwar keltisch ist, der jedoch noch viel älter sein könnte. Er führt ihn etymologisch auf die Wurzel Car oder Gar (Stein) zurück. Gar-Al oder Gar-El könnte entweder Gefäß des Steins oder aber Stein Gottes bedeuten. Zweifellos jedoch ist der Begriff alchemistischer Herkunft und könnte auch auf einen Kessel hindeuten, in dem allkräftige Arzneien gebraut wurden. Was den Gral als Kessel betrifft, findet sich in der keltischen Sagensammlung Mabinogion die Geschichte von der Hochzeit, die der britische König Bran „ der Gesegnete “ für seine Schwester und den irischen König Matholwch gerichtet hatte. Als bei dem Fest einer der Brüder Brans einen Krieger des Iren getötet hatte, stellte Bran den Kessel der Wiedergeburt zur Verfügung und der tote Krieger wurde darin wieder zum Leben erweckt. Als geraume Zeit später derselbe Bruder von Bran das Kind von Brans Schwester ins Feuer wirft und sodann selber in den Kessel steigt, zerbricht dieser, wodurch der Bruder getötet wird. Bei dem Kampf, der durch die Tötung des Kindes ausbrach, wurde aber Bran selber durch eine vergiftete Lanzenspitze am Fuß verwundet und erteilte daraufhin seinen Gefährten den Befehl, ihm den Kopf abzuschneiden und ständig mit sich zu führen. Das führt zur Schöpfung eines der sprechenden Häupter. In einer anderen Geschichte des Mabinogion kommt sogar in der Gralsgeschichte von Peredur ein allerdings stummes Haupt in einer Schüssel vor. 145 Hier enthält eine Schüssel anstatt einer Schale nicht das Blut, sondern den abgeschlagenen Kopf von Peredurs Vetter. Sodann gab es in der Stadt des Gral Is einen König Gradlon, dessen Name darauf hinweist, daß er ein Gralshüter war. Is aber wurde von den Meereswogen verschlungen, als Gradlons Tochter zum Christentum übertrat und die Menhire umwarf, die den Boden hielten. Die Alchemie aber, welcher der Gralsbegriff entstammt, ist eine Kunst, die den Adepten instand setzt, den belebenden Strom, der die Gestirne umfließt, aufzufangen, festzuhalten und zu konzentrieren. Gelingt es ihr, diesen Leitstrom des Lebens - den Spiritus mundi - mit einem Stoff zu verbinden, so hat sie den Stein der Weisen gewonnen. Der alchemische Prozeß kann aber auch als reine Metaphorik für eine innere, geist-seelische Entwicklung betrachtet werden. Die Art der Vorbereitung, den Menschen dafür empfänglich zu machen, gibt die Richtung an, in welche sich die innere Verwandlung vollziehen soll. Das ist so zu verstehen, daß sich einem 145 Vgl. John Matthews: Der Gral. Braunschweig 1992, S. 26 f. und S. 36 f. 62 Zur Entstehung der Templergnosis <?page no="81"?> Menschen, der sich selber zur „ Schale “ macht, die den Gral in sich fassen soll, ein dreifacher Weg zur Wandlung eröffnet. Indem er symbolisch die runde, die quadratische und die rechteckige Tafel durchschreitet, gelangt er von der Intuition über die Intelligenz zur Mystik. Natürlich gibt es auch entsprechende, konkrete Deutungen für den Sinn der drei Gralstafeln. Charpentier verweist darauf, daß die runde Tafel eine sehr frühe Erscheinung der Menschheitsgeschichte war. Die Cromlechs und die Rondes-de- Fées sind solche Rundtafeln, wie auch das keltische Kreuz von einem Ring umgeben ist. Die Durchführung der Rundtänze gipfelt für den in Ekstase geratenen Tänzer wohl in einem Tanzwirbel um das Zentrum. Damit hing auch die Gabe der Druidinnen zusammen, die sich in solche Ekstase hineingetanzt hatten, wie auch der Augenblick mystischer Vereinigung der tanzenden Derwische. Auch der vor der Bundeslade tanzende und dabei zugleich wahrsagende David gehört hierher und nicht zuletzt der österliche „ Reigen “ in der Kathedrale von Chartres, der vom Bischof selbst angeführt wurde. Es waren alles Methoden, eine Art psychisches Außer-sich-Sein zu erreichen. Architektonisch Erz geworden ist die Rundtafel im sogenannten „ Ehernen Meer “ vor dem Salomonischen Tempel, einem Wasserbecken, dessen Proportionen nach dem Abbé Moreux in einem bestimmten Verhältnis zum Gewicht der Erde steht. In den Templer-Kirchen aber - und nicht nur dort - stellte die Rundtafel jene „ heilige Mitte “ dar, über der sich der Altar erhob. Die quadratische Tafel bedeutet die Quadratur der runden Tafel, Sinnbild des Bewußtseins, das klärend, rationalisierend das traumhaft-instinktive Wissen zu ordnen unternimmt. Die intuitive Erweiterung wird in eine bewußte verwandelt und kann in die Tat umgesetzt werden. Sie ist nicht die Tafel des Lebens, sondern der Organisation. Die rechteckige Tafel hingegen ist die Tafel der Mystik. Sie verbindet die beiden vorherigen Stufen und übersteigt sie zugleich, indem sie beide gemeinsam auf eine höhere Ebene hebt. Der Grundriß der Kathedrale von Chartres jedoch ist so angelegt, daß man von den Verbindungslinien zwischen den beiden Türmen, gleich zu Beginn des Einweihungseingangs über die runde Tafel auf dem Kirchenboden zur quadratischen fortschreitet. Durch den Lettner getrennt von dieser folgt sodann die rechteckige Tafel des Chors. Ausgehend vom Portal reihen sich die Tafeln in der beschriebenen Form aneinander und entsprechen dabei genau den drei symbolischen Geburten im bedeckten Gang der Druiden. Wolfram hat schon wesentlich zur Klarstellung der Natur des Gral beigetragen. Besonders der Hinweis auf das Wiedergeburtssymbol des Phönix ist hier wichtig. Gerade auch mit dem Phönix rückt der Gral der Templergnosis nahe und schließt eine allzu einengende ideologische Beschränkung aus. Es gibt eine hübsche Pyrenäenlegende, nach der sich der Gral um so weiter von der Welt entfernt und gegen den Himmel steigt, je mehr die Menschheit seiner unwürdig geworden sei. 63 Templergnosis und Gralsdichtung <?page no="82"?> Nach der Begriffsbestimmung von Otto Rahn symbolisiert der Gral den Wunsch nach dem Paradies, in dem der Mensch der Gottheit Bild, nicht Zerrbild war, das man sehen darf, wenn man seinen Nächsten liebt wie sich selbst. 146 Rudolf Steiner hat die Templer überhaupt die „ eigentlichen Sendboten des Gral “ genannt. 147 Um die Überwindung zu großer Beschränkungen geht es René Guénon, wenn er in seinem Dante-Buch auf die „ Massenie du Saint Graal “ verweist. 148 Arthur Schult hat darauf hingewiesen, daß Wolframs Gralsdichtung „ in einen gewaltigen Sehnsuchtsruf nach dem “ ausklingt, „ was dem Abendland, der abendländischen Kirche verloren ging, nach einer echten, geistig schauenden Gnosis. Heute ist der Weg frei für eine Erneuerung der Weisheit des heiligen Grals, in der westliche und östliche Geistigkeit ihre Versöhnung miteinander feiern werden. Eben darum gewinnt die Parzival-Dichtung Wolframs von Eschenbach heute eine neue Aktualität. Gralsmysterien sind Menschheitsmysterien. “ 149 Eine besonders weitreichende und allgemeine Bedeutung haben dem Gral auch Emma Jung und Marie-Louise von Franz in ihrem Buch The Grail Legend gegeben. 150 Jenseits des keltischen Symbols der Fülle und des christlichen Symbols der Erlösung wirft der Gral hier ein wesentliches Licht auf des Menschen Suche nach einem höchsten Wert überhaupt, was dem Leben erst einen wirklichen Sinn verleiht. 146 Otto Rahn, op. cit., S. 188 147 In seinem Vortrag über die Wanderung der Rassen, der nur in Form von Zuhörernotizen erhalten ist. Gedruckt im Gäa-Sophia Jahrbuch von 1929 148 René Guénon, op. cit., S. 32 f. 149 Arthur Schult: Die Weltsendung des heiligen Gral . . .,op. cit., S. 8 150 Emma Jung und Marie-Louise von Franz: The Grail Legend. Princeton 1998 64 Zur Entstehung der Templergnosis <?page no="83"?> II. Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie 1. Präambel Die Templergnosis, wie sie teils direkt, teils indirekt in Dantes Göttlicher Komödie ihren wohl großartigsten Ausdruck gefunden hat, war eine hoch entwickelte, besondere Spätform der alten Gnosis, unter der zumeist allgemein die verschiedenen Formen der christlichen „ häretischen “ Gnosis verstanden werden. Ist doch die Templergnosis aus dieser allgemeinen Gnosis entstanden, ja hat sie an ihrem Beginn sogar bewußt durch die Grabungen in Jerusalem auf diese und besonders auch auf jüdische Wurzeln zurückgegriffen. Darum seien zunächst einige Worte über die allgemeine Gnosis gesagt. Die Verbindung griechischer Philosophie mit alten Mythen und Mysterienkulten hat zu einem überaus vieldimensionalen und differenzierten Ergebnis geführt, dem Phänomen der Gnosis. Diese ist ein bestimmter Weg. Ihr Ziel ist modern und abstrakt ausgedrückt volle innerliche Entspannung und Friede. Ein Experte der Templergnosis hat diese eine „ Glückseligkeitslehre “ genannt. Bei einem alten Gnostiker heißt es: den verborgnen, heil ’ gen Weg, der Gnosis heißet, tu ’ ich kund. 1 So weit man generalisieren kann, war die Art und Weise des Denkens und Kombinierens, die ganze geistige Struktur von der griechischen Philosophie her geprägt, während die verarbeiteten Gehalte zu einem erheblichen Teil orientalischen Ursprungs waren. Die Gnosis war also von je her grenzüberschreitend und im weitesten Sinn west-östlich. Die für fast alle Mystik charakteristische Tendenz zum Synkretismus findet sich ebenso in der Gnosis und das hat dazu geführt, daß die Theosophen die Gnosis auf eine geheime Urweisheit zurückzuführen versuchten, „ die allen Religionen zugrunde liegen soll und von den großen Lehrern der Menschheit in jedem Volke und zu jeder Zeit anders, aber doch so verkündet wurde, daß sich für den Eingeweihten, der von der äußeren Form zum Wesen vorzudringen vermag, ein übereinstimmender Inhalt der mannigfachen Lehren ergibt. “ 2 1 Hippolytos: Elenchos, V, 10. 2 2 Hans Leisegang, Die Gnosis, S. 4 f. <?page no="84"?> Nun hat die Templergnosis zweifellos im Verlauf von fast zweihundert Jahren der Geschichte des Ordens eine gewisse Entwicklung durchlaufen. Aber nicht dadurch ist es nicht möglich, eine historisch fundierte Dokumentation von ihr zu erstellen. Sofern es überhaupt schriftliche Aufzeichnungen gegeben hat, waren sie offenkundig von Mitgliedern jenes inneren Kreises des Ordens, die in diese Tradition initiiert worden waren, in Sicherheit gebracht oder vernichtet worden. Zu Recht haben Historiker sich gefragt: „ Wieso entkamen einige Templer dem völlig überraschenden und hervorragend geplanten Schlag des Königs Philipp? Wie konnten sie sogar noch den Schatz und die Dokumente rechtzeitig in Sicherheit bringen? “ 3 Natürlich gab es eine indirekte Dokumentation durch die Akten des Prozesses gegen die Templer, doch waren die Auskünfte relativ bescheiden. Erstens hat ein Großteil der verhörten Templer gar nicht dem inneren Kreis der Initiierten angehört, zweitens waren durch die wenigen Initiierten wiederum nur sehr wenige Dinge wirklich genannt worden und drittens sind selbst von diesem begrenzten Wissen zahlreiche Akten verloren gegangen. Der direkte Sieger der möglichst völligen Auslöschung des Ordens aber, das Papsttum, war selbst am wenigsten daran interessiert, eine historische Sammlung des häretisch-gnostischen Wissens anzulegen, geschweige denn bekannt zu machen, denn eine solche Dokumentation, die auch alles über die frühe Jerusalem-Kirche und ihre Gnosis bekannt gemacht hätte, würde der „ allein selig machenden “ paulinischen Parteilinie der Amtskirche förmlich den Boden unter den Füßen weggezogen haben. Die Kirche hatte gute Gründe, die Templergnosis zu unterdrücken, nachdem sie zusammen mit Philipp dem Schönen diese selbst in einem gewissen Sinn in die Öffentlichkeit gezerrt hatte. Wie radikal auch nach der Verfolgung der ursprünglichen Gnosis und nach dem „ Kreuzzug “ gegen die Katharer die Kirche dieses neuerliche Phänomen der Gnosis mit Stumpf und Stiel auszurotten suchte, zeigt das drastische Beispiel des esoterischen Tarot. Die Templer hatten die Idee von Bilder-Spielkarten zweifellos von den Sarazenen übernommen, entwarfen aber Karten mit einer Doppelbedeutung, um die Entzifferung der wirklichen Bedeutung durch Außenstehende unmöglich zu machen. Ein Paket von Tarotkarten (im Deutschen: Tarockkarten) enthielt in der Regel 56 Karten der „ Minor Arcana “ und 22 Bilderkarten der „ Major Arcana “ . In den meisten Ländern dienen sie heute als Grundlage für das Voraussagen der Zukunft. In den wenigen Ländern, in denen sie heute noch als Kartenspiel dienen, umfassen die alten „ Minor Arcana “ nur mehr 52 Karten. Das ganze Paket besteht aus Karten von vier Farben, die unverändert blieben. Sie enthalten Karten mit Zahlen von 1 bis 10 und je drei Bilderkarten: Page (oder Bub), Königin (oder Dame) und König. In der Zeit der Templer war zwischen dem Pagen und der Königin eine Karte mit dem Namen 3 Martin Bauer, op. cit., S. 268 66 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="85"?> „ der Ritter “ dazwischengeschaltet. Die Ritter-Karten verschwanden plötzlich, bald nachdem den Templern der Prozeß gemacht worden war. 4 Die Geheimhaltung der Templer galt ja nicht nur der Absicherung der eingeweihten Mitglieder, sondern auf Grund ihrer Überzeugung über die Notwendigkeit der Ordnung einer exoterischen Massenorganisation waren sie selbst daran interessiert gewesen, diese zu schützen. Der Orden hatte der Christlichkeit und der Kirche treu gedient und für sie mehr geblutet als irgendeine andere Gruppe. Er hatte die exoterische Massenorganisation niemals in Frage gestellt und die kleine Gruppe der in die Gnosis Initiierten streng geheim gehalten. Natürlich war die Geistigkeit der Templer dualistisch orientiert wie die Gnosis, aber Elemente eines solchen Dualismus finden sich ja auch in der Tradition der Amtskirche wie etwa in der geheimen Offenbarung des Johannes, in der sich Christus und Antichrist genau so dualistisch gegenüberstehen wie die Jungfrau Maria und die Hure von Babylon. Bei den Templern war der grundlegende Dualismus bereits durch die Verbindung von Mönchstum und Ritterschaft gegeben. 5 Auch das Schwarz- Weiß der Templer-Kriegsflagge gehört hierher und die zahlreichen Reliefs von Janusköpfen in Templer-Kirchen. Berühmt ist das Siegel mit zwei Rittern auf einem Pferd, das zu Recht als Sinnbild für die Doppelheit von exoterischer Konfession, repräsentiert in einem der Ritter, und esoterischer Eingeweihtheit, repräsentiert durch den anderen, erklärt worden ist. Wie es auch natürlich ist, daß Macht und Reichtum immer Hand in Hand mit negativen Erscheinungen gehen, wogegen weder Einweihungsweisheit noch die Templerregel half. Was jedenfalls die Begrenztheit indirekter Eröffnungen durch die Akten des Templerprozesses betrifft, so sind nicht nur viele bereits sehr früh im Archiv des Vatikan selbst verloren gegangen. Wir besitzen nur noch die Akten von London, Rom und Zypern und vor allem natürlich die ausführlichsten von Paris. In den Prozessen traten nur wenige direkte Hinweise auf häretische Symbole zutage. Die geheimen Treffen der Eingeweihten fanden nachts jeweils in der Kapelle statt. Es waren die Geistlichen des Templerordens, die im Unterschied zu den Rittern in weißen Mänteln und den Laienbrüdern in braunen oder schwarzen Mänteln grüne Mäntel trugen und die gnostische Tradition lebendig erhielten. Sie waren die Schreib- und Sprachkundigen. Die Aussage des Bruders Etienne de Troyes bei den Prozessen macht die zentrale Rolle der Geistlichen bei der Templergnosis klar. Er sagte: „ Er war seit drei 4 Vgl. Barbara G. Walker: The Secrets of the Tarot. San Francisco 1984; Malcolm Godwin: The Holy Grail, London 1994 und Christopher Knight und Robert Lomas, The Second Messiah, op. cit., S. 88 - 100 5 Vgl. Tim Wallace-Murphy und Marilyn Hopkins, op. cit., S. 117 f. 67 Präambel <?page no="86"?> Tagen im Kapitel . . . und beim Dämmern des ersten Abends brachten sie einen Schädel herbei, ein Priester trug ihn, gefolgt von zwei Brüdern mit großen Wachskerzen in silbernen Leuchtern und er (der Priester) legte ihn auf den Altar auf zwei Kissen mit einem kunstvoll gewebten Seidenbezug. Und der Schädel schien ihm vom Scheitel bis zum Haaransatz mit Fleisch bedeckt zu sein und einem Hundefell ohne jedes Gold und Silber und ein richtiges Gesicht, leicht bläulich eingefärbt und fleckig mit einem graumelierten Bart, wie ihn auch manche Templer tragen. “ 6 Sogar auf höchster Ebene war das Idol des Baphomet als Templersymbol bestätigt worden. Im sogenannten „ Pergament von Chinon “ , das die Befragung des Großmeisters sowie fünf der höchsten Würdenträger im Auftrag des Papstes schildert, erwähnte Hugo von Pérraud, Präzeptor von Frankreich, daß er in Montpellier einmal das „ Haupt eines Idols “ gesehen hatte, das im Besitz des Bruders Peter Alemandin, Präzeptors von Montpellier gewesen sei. 7 Die Ritter wußten wahrscheinlich, daß Jesus nicht die zentrale Rolle als Gott zukam die er in der paulinischen Linie erhalten hatte und daß besonders eine Muttergöttin verehrt wurde, die wohl die Mutter von Jesus einschloß, jedoch weit darüber hinaus in mythischer und mystagogischer Weise ausuferte. Zudem waren die Prozesse gegen die Templer als eine Art Doppelprozeß geführt worden. Die einzelnen Templer wurden durch Untersuchungskommissionen der einzelnen Diözesen verhört. Dem Orden als Ganzes wurde jedoch durch päpstliche Untersuchungskommissionen der Prozeß gemacht. Die päpstlichen Kommissionen stellten zwar die Verleugnung Christi fest, interpretierten sie jedoch als eine Art Mutprobe zur Initiation und erteilten dem Gesamtorden die Absolution, wodurch er wieder in die Kirche aufgenommen wurde. Das entsprach durchaus dem Interesse von Papst Clemens V., der dadurch mit dem Orden auch dessen Besitztümer in seiner Hand behielt und der darüber hinaus eine Reform der Regeln und Statuten durchführen konnte, sodaß sein Plan der Vereinigung des Templerordens mit den Johannitern nicht mehr notwendig war und alles Templereigentum den Johannitern zufiel. Nicht zuletzt aber war Jacques de Molay als Widersacher völlig beseitigt worden. Die Zweigleisigkeit der Prozesse gegen einzelne Mitglieder einerseits und gegen den Gesamtorden andererseits brachte auch sehr verschiedene Ergebnisse zu Tage. Mit diesen Unterschieden hat sich besonders Barbara Frale beschäftigt. 8 In den Prozessen waren oft Laienbrüder angeklagt gewesen, allerdings auch Ritter und sehr selten Geistliche. Einer der wenigen Fälle, in denen zwei Priester zusammen mit zwei Rittern auftreten hätten sollen, war es, als die vier gewählt 6 Heinrich Finke: Papsttum und Untergang des Templerordens. Münster 1907, Band II, S. 386 7 Barbara Frale: The Chinon Chart. In: Journal of Medieval History. 30. Jg., 2. April 2004, S. 109 - 134 und Barbara Frale: Il Papato e il processo ai Templari. Rom 2003 8 Barbara Frale: L ’ ultima battaglia dei Templari. Rom 2001, Kapitel 4 und 5 68 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="87"?> worden waren, im Jahr 1310 vor der päpstlichen Untersuchungskommission in Paris zu erscheinen, um als Anwälte für den Orden aufzutreten. Einer der beiden Geistlichen war Petrus von Bologna, der zuvor Prokurator des Ordens beim Papst in Rom gewesen war. Angesichts der Verbrennung von achtundfünfzig Templern vor der St. Antonskirche in Paris am 12. und 19. Mai 1310 verzichteten beide Geistliche, sowohl Petrus von Bologna als auch Rainald von Pruins, auf das Erscheinen vor dem Tribunal. Rainald war wahnsinnig geworden und Petrus floh zu Bruce, dem Regenten von Schottland, der selbst unter dem Bann des Papstes stand und von dem er freundlich aufgenommen wurde. Bei der großen und überraschenden Verhaftungswelle vom 13. Oktober 1307 war es trotzdem auch Templern gelungen zu entkommen. Der Meister von Frankreich, Gérard von Villiers, hatte es fertig gebracht, zusammen mit vierzig Brüdern zu fliehen. Clemens V. nannte in einem Brief Gérard zusammen mit neun anderen hohen Würdenträgern des Ordens, die entkommen waren. Oder um noch ein anderes Beispiel zu nennen, war es den Verfolgern bekannt geworden, daß in der Gegend von Lyon nicht weniger als fünfzehnhundert Templer und Sympathisanten nicht nur versteckt waren, sondern Möglichkeiten der Vergeltung planten. Aber auch groß angelegte Suchaktionen verliefen völlig erfolglos. Oder aber gar in Metz, das allerdings damals nicht französisch, sondern deutsch war, klirrte in die Ratsversammlung des Erzbischofs plötzlich Hugo von Grumbach mit zwanzig seiner Brüder in voller Kriegsrüstung hinein. Hugo verlautbarte allen Anwesenden, daß der Templerorden im Hinblick auf alle Anklagen unschuldig sei und daß der Großmeister de Molay ein Mann von Religion und Ehre wäre. Papst Clemens V. hingegen sei ein durch und durch bösartiger Mensch, der illegal auf den Stuhl Petri gewählt worden war und den er hiermit für abgesetzt erklärte. Was aber ihn und die zwanzig anderen Ritter beträfe, so stünden sie bereit, sofort im Kampf gegen alle Ankläger ihr Leben zu riskieren. Plötzlich gab es keine Ankläger mehr und die Versammlung wurde aufgelöst. Im Jahr 1310 waren von fünfhundertvierundvierzig Brüdern, die nach Paris gebracht worden waren, nur zweihundertfünfundzwanzig verhört worden. Von diesen wiederum bestand die Mehrzahl aus dienenden Brüdern, also aus Laienbrüdern, unter denen sich nur wenige Ritter und noch weniger Geistliche befanden. 9 Die Laienbrüder konnten kaum etwas über gnostische Initiation aussagen. Es ist natürlich auch denkbar, daß die päpstliche Generalkommission gar keine Eröffnungen über die Templergnosis zu hören wünschte, welche die dienenden Brüder mit Gewißheit nicht geben konnten. Daß der Kreis der Eingeweihten selbst hätte lenkend eingreifen können, erscheint weniger möglich. Die 1310 9 Eine Namensliste von ihnen ist wiederholt abgedruckt worden, so bei Ferdinand Wilcke, op. cit., S. 704 - 717 69 Präambel <?page no="88"?> verbrannten Templer waren wohl Ritter gewesen, da im Volk die Legende entstehen konnte, ihre weißen Mäntel wären von den Flammen unberührt geblieben. Nun ist ein wichtiges neues Dokument über den Orden aufgetaucht, das in einer Ausgabe der vatikanischen Prozeßakten erschienen ist, die in einer Pressekonferenz der Buchpräsentation als „ Die Wahrheit über die Templer “ bezeichnet wurde. Der Band enthält unter anderem auch ein neu entdecktes Dokument, das den Namen „ Pergament von Chinon “ trägt, weil es das Ergebnis der Befragung des Großmeisters de Molay durch Kardinäle in Chinon mitteilt. 10 Es stammt vom August des Jahres 1308. Die Befragung war im Auftrag des Papstes durchgeführt worden und der Papst hat danach sowohl dem Großmeister wie dem ganzen Orden die Absolution erteilt. Die Absolution erfolgte, nachdem der Großmeister erklärt hatte, keiner Häresie schuldig zu sein. Die „ logische Schlußfolgerung “ daraus war: Die Templer sind keine Häretiker. Es ist ebenso denkwürdig wie wichtig, daß dieses Dokument vom Papst geheim gehalten worden war. Es scheint notwendig, die der ganzen damaligen Welt offen bekannten Fakten und nicht geheimen Äußerungen des Papstes diesem geheimen Dokument des Freispruchs und der daraus gezogenen Schlußfolgerung gegenüberzustellen. Nachdem am Freitag, den 13. Oktober 1307 auf Befehl König Philipps IV. alle Templer in Frankreich - im Grunde illegal - verhaftet worden waren, wurden sie von Mitte Oktober bis Ende November verhört. Bereits in den ersten Tagen waren in Paris allein siebenunddreißig Templer unter der Folter verstorben. 11 Auch der Großmeister Jacques de Molay war verhaftet und verhört worden. Geständnisse von ihm wie von Würdenträgern wie Hugues de Pairauds und Raimbaud de Caron schienen die eigenmächtige Vorgangsweise des Königs gleichsam rückblickend gerechtfertigt zu haben und Papst Clemens V. erließ am 22. November 1307 die Bulle Pastoralis Praeeminentia. Darin pries er den König für sein Vorgehen und stellte fest, daß auf Grund der jetzigen offiziellen päpstlichen Stellungnahme die Anschuldigungen gegen die Templer auf Wahrheit beruhten. Darum wurden alle Monarchen der Christenheit vom Papst aufgerufen, sämtliche Templer in ihrem Herrscherbereich zu verhaften und der Folter zu 10 Archivio Vaticano: Processus contra Templarios. Citta de Vatican und Venedig 2007. Was in der Pressekonferenz nicht besonders hervorgehoben wurde, war, daß Petrus de Marca schon vor Langem die Akten des Konzils von Vienne herauszugeben versprochen hatte, sein Versprechen aber nicht halten konnte, weil der Vatikan die Herausgabe verbot. Die französischen Prozeßakten sind jedoch sogar schon zwei Mal herausgegeben worden, das erste Mal von Daniel Gotthilf Moldenhawer: Prozesz gegen den Orden der Tempelherren. Hamburg 1792 und das zweite Mal von Jules Michelet: Le Procès des templiers. 2 Bde, Paris 1841 - 1851. Neudruck: Paris 1987. 11 John J. Robinson: Born in Blood. New York, N. Y. 1989, S. 133 70 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="89"?> unterziehen. Dabei war vom Papst ausdrücklich angefordert worden, keinerlei bekannte Mittel der Folter bei der Befragung wegzulassen. 12 Niemals vorher oder nachher war eine so große Gruppe von Menschen dieser grausigen Breite der Folter ausgesetzt worden, die unerträgliche Schmerzen auslösen sollte. 13 Robinson hat diese diabolischen und wahrhaft grausigen Methoden sowohl der Einkerkerung wie der Folter ausführlich und drastisch beschrieben. 14 Im Dezember soll der Papst zwei Kardinäle zur Befragung des Großmeisters nach Paris geschickt haben, doch ist mir kein Dokument über diese Befragung bekannt. Schließlich sagte der König zu, eine Reihe von Templern und auch den Großmeister sowie führende Würdenträger nach Poitiers zu überstellen, damit sie durch den Papst und seine Kardinäle befragt werden könnten. Tatsächlich sollen weder der Großmeister noch die fünf Würdenträger nach Poitiers gekommen sein. Es kamen jedoch zweiundsiebzig andere Templer, die nach sorgfältiger Auswahl von den königlichen Beamten in Poitiers vorgestellt wurden. Durch die Aussagen dieser zweiundsiebzig konnte der Papst behaupten, der König müsse mit der Verfolgung fortsetzen. Das muß im Mai 1308 oder später gewesen sein. 15 Noch am 12. August veröffentlichte der Papst eine Liste mit den Anschuldigungen gegen die Templer in der Bulle Faciens misericordiam, nach der alle Anschuldigungen für wahr und richtig gelten, er aber - schon um der finanziellen Implikationen willen - die endgültige Regelung in die Hände der Kirche legen wollte. Nun soll es nach dem „ Pergament von Chinon “ vom 17. bis 20. August doch eine Befragung des Großmeisters gegeben haben, das auch den Freispruch des Templerordens enthielt. 16 Das „ Pergament von Chinon “ bezeugt jedenfalls, daß der König zuletzt doch dem Wunsch des Papstes entsprochen hatte und möglicherweise im Geheimen den Großmeister und die fünf wichtigsten Würdenträger des Ordens zur Befragung durch Kardinäle des Papstes diesem nun nicht nach Poitiers, sondern nach Chinon überstellt hatte. Bestätigt von Notaren und Zeugen wird darin festgelegt, daß Jacques de Molay alle ihm vorgeworfenen wie auch nicht vorgeworfenen Häresien abgeleugnet hätte und nach der Beichte die Vergebung der Absolution erhalten hätte. Zwei Jahre nach diesem „ Freispruch “ de Molays wurden im Jahr 1310 Dutzende von Templern als Ketzer verbrannt. Sodann erging am 18. März 1311 wieder ein Folterbefehl. Auf diesen hin hatte eine Persönlichkeit von der intellektuellen und moralischen Integrität Dantes nur mehr annehmen können, daß die ganze Verschleppungstaktik des Papstes von vornherein von der Tatsache 12 John J. Robinson, op. cit., S. 136 13 John J. Robinson, op. cit., S. 136 14 John J. Robinson, op. cit., S. 134 - 137 und 140 - 143 15 Vgl. Alain Demurger, op. cit., S. 240 16 Barbara Frale: The Chinon Chart. In: Journal of Medieval History. 30. Jg., 2. April 2004, S. 109 - 134 und Processus contra Templarios, op. cit. 71 Präambel <?page no="90"?> ablenken hätte sollen, daß das Ganze von Anfang an ein „ mit dem König längst abgekartetes Manöver “ gewesen war. 17 Als das Konzil von Vienne am 16. Oktober 1311 zusammentrat, hat Clemens V. alle in seiner Macht stehenden Mittel dafür eingesetzt, um eine Verurteilung des Templerordens wegen Häresie durchzusetzen. Er scheiterte daran, daß die Konzilsväter nicht zustimmten. Am 18. März 1314 wurden Jacques de Molay und Geoffrey de Charney in besonders grausamer Weise in Paris als Ketzer verbrannt. 18 Diesen grauenvollen Fakten steht nun plötzlich die geheime Absolution des Großmeisters und des Ordens von Chinon entgegen. Der Widerspruch ist so schreiend, daß man nach einer Erklärung suchen muß. In England hatte König Edward II. die Templer spät und zudem sehr lax zu verfolgen begonnen und hatte sich vor allem gegen die Folter gewehrt, wie es in England auch keine Inquisition gegeben hatte. Clemens V. aber drängte zuerst und drohte, daß er ihm zum letzten Mal dies alles nachsähe. Als Edward darauf erwiderte, in England gäbe es keine erfahrenen Folterknechte, sandte Clemens. sofort zehn Folterknechte, unterstützt von zwei Dominikanern nach London. Der Papst war so besorgt, daß ja sofort mit der Folter begonnen würde, daß er „ wichtige religiöse Verpflichtungen am Heiligen Abend des 24. Dezember versäumte, um den englischen Templern ja schnell tödliche Folterschmerzen beibringen zu lassen. Sein Weihnachtsgeschenk an das englische Volk war die Einführung der Folter in das englische Rechtssystem “ . 19 Niemand hatte Clemens V. gezwungen, Folterknechte nach London zu schicken. Keiner hatte ihn gezwungen, den Freispruch der Templer in Zypern zu bekämpfen. Obwohl es Philipps großer Wunsch gewesen war, entweder selbst an der Spitze eines durch Templer und Hospitaler vereinigten großen Kriegerordens zu stehen oder einen seiner Söhne in dieser Position zu wissen, ging dieser Wunsch nicht in Erfüllung. Der Papst war weitaus zäher oder zumindest hartnäkkiger, als man uns glauben machen ließ, und es sieht so aus, als hätte er „ seinen eigenen Plan zusammen mit den Hospitalern ausgeheckt “ . 20 Ganz im Sinn von Dantes Überzeugung, zeigte Clemens V. in den Wochen nach dem Konzil, „ daß er keineswegs unter der totalen Herrschaft Philipps von Frankreich war. “ 21 Sein wirklicher Plan war von vornherein die Vereinigung des Templerordens mit den Johannitern gewesen. Auf seine Weise war er durch seine Schlauheit der Sieger, denn er erreichte durch die beiden Bullen Vox in excelso und Ad Providam sein Ziel. In der ersten wurde der Templerorden ohne Verurteilung, die nicht möglich gewesen war, im Verwaltungsweg aufgelöst, in der zweiten das gesamte Templervermögen dem Johanniterorden überantwortet. Als klein 17 Robert John, op. cit., S. 131 18 Vgl. John J. Robinson, op. cit., S. 142 und Alain Demurger, op. cit., S. 269 - 273 19 John J. Robinson, op. cit., S. 148 20 John J. Robinson, op. cit., S. 272 21 John J. Robinson, op. cit., S. 142 72 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="91"?> gemeinte Konzession an Philipp war die Klausel eingebaut, daß den christlichen Monarchen ihre Kosten für die Verhaftung und Einkerkerung der Templer vergütet würden. Die Kostenrechnungen fielen zum Mißvergnügen der Johanniter unerwartet hoch aus. Im Grunde hatte Philipp die Vernichtung des Templerordens um jeden Preis angestrebt, um seiner hohen Schulden an die Templer ledig zu werden und überdies den sagenhaften Reichtum des Ordens einsacken zu können. Die Vernichtung war keineswegs gelungen, die Vereinnahmung des Reichtums mit Ausnahme des „ Kostenersatzes “ und der Verlegung der Residenz mißlungen, und wirklich erreicht hatte er nur die Anhäufung einer ungeheuren Hypothek an moralischer und geistiger Schuld. Der Orden war bereits am 3. April ohne Verurteilung zur Häresie im Verwaltungsweg aufgelöst worden. Das „ Pergament von Chinon “ enthält also grundsätzlich gar nichts Neues. Clemens mußte einen anderen Grund gehabt haben, dieses Dokument zu produzieren als die wirkliche Absolution des Großmeisters und des Ordens. Es scheint so gewesen zu sein, daß der Papst Jacques de Molay schon wegen der sogenannten „ Schatzmeisteraffäre “ 22 gehaßt hatte, wobei auch das, gelinde gesagt, geringe diplomatische Geschick des Großmeisters mitgespielt hatte. Jean du Tour der Jüngere, war zugleich Schatzmeister des Pariser Tempels und Finanzminister des Königs gewesen. Er hatte entgegen der Vorschrift, ohne Wissen und Zustimmung des Großmeisters angeblich die für damalige Verhältnisse geradezu ungeheuerliche Summe von 400.000 Florentiner Gulden dem König geborgt. Als der Großmeister nach Paris kam, die Bücher prüfte und das herausfand, feuerte er Jean du Tour als Schatzmeister und stieß ihn aus dem Orden aus. Dieser wandte sich um Hilfe an den König, der dem Großmeister schrieb, er sei bereit, die Summe zurückzuzahlen, bitte ihn aber ( „ por amor “ ) Jean du Tour wieder in sein Amt einzusetzen. Der Großmeister reagierte in einer Weise, wie man die Bitte eines Königs nicht abschlägt. Daraufhin wandte sich Philipp an seinen Freund Clemens V. mit der Bitte, er möge den Großmeister auffordern, Jean du Tour das Ordenskleid zurückzugeben. Er überbrachte angeblich persönlich den Brief des Papstes an den Großmeister, der ihn in das Feuer des Kamins warf. 23 Das allein hätte genügt, um den Haß des Papstes als seines einzigen Vorgesetzten gegen den Großmeister zu schüren. Doch es blieb nicht dabei. Als der Papst dem Großmeister mitteilte, er wolle den Templerorden mit den Johannitern zusammenlegen, um einen großen Kriegerorden zu schaffen, reagierte dieser nicht weniger beleidigend schroff darauf. Der verstärkte Haß des Papstes und traf dadurch in einer für Philipp günstigen Weise mit der Geldgier des Königs 22 Vgl. Alain Demurger, op. cit., S. 223 - 230 23 Anscheinend hat der Großmeister später Jean du Tour das Ordenskleid doch zurückgegeben, da dieser mit den anderen Templern zusammen verhaftet und eingekerkert worden ist. 73 Präambel <?page no="92"?> zusammen. Das „ Pergament von Chinon “ enthält eine Vergebung, de Molays, um ihn wieder in die Kirche zurückzuholen. Auf der anderen Seite versetzt es den Großmeister aber rechtlich in die Position des unbelehrbaren Ketzers. De Molay hatte ja zunächst am 19. und 20. November 1307 die Häresie eingestanden. Nun hatte er zwischen dem 17. und 20. August 1308 aber das Geständnis widerrufen. In dem Auszug aus dem Dokument, der de Molay ausgehändigt wurde, steht ausdrücklich, daß er die beschriebenen wie jegliche andere Häresien „ abgeleugnet “ hätte. Das bedeutete nach dem vom Papst angeordneten Verfahren, genannt Considerantes Dudum, für alle, daß die späteren Ableugner der Häresie nach einem vorangegangenen Geständnis - und sei es auch unter Folter erfolgt - als unbelehrbare Häretiker verbrannt werden müßten. Eine plausible Erklärung des Widerspruchs zwischen den Fakten und dem Geheimdokument wäre, daß der König die Befragung des Großmeisters durch die Kardinäle in Chinon nur erlaubt hat, weil er wußte, daß das geplante Ergebnis die Leugnung der Häresie durch den Großmeister sein würde, wodurch er sich selbst den Strick um den Hals legte. Der Sinn wäre gewesen, dieses Dokument nach der Befragung nur dem Großmeister zu seiner Beruhigung zu zeigen. Die Angst mancher Vertreter des Papstes wie des Königs war groß, daß de Molay sogar vom Kerker aus noch Schaden stiften könnte. Im dritten Teil dieses Buches wird gezeigt werden, daß diese Angst nicht unberechtigt war. Sollte Clemens V. nach dem ernst gemeinten Freispruch der Templer trotz deren totaler Unschuld im Hinblick auf Häresie die Verfolgung der Templer bis zur totalen Vernichtung des Ordens fortgesetzt haben, dann würde das die Sache nur noch böser machen, als sie es schon ist. Dante hat übrigens Clemens V. natürlich nicht wegen der Vernichtung des Templerordens und des Verrates an ihm und an de Molay in die Hölle verbannt. Er hätte in diesem Fall dem Großmeister gleich auf dem Scheiterhaufen Gesellschaft leisten können. Er hat ihn wegen Simonie zur Hölle verurteilt und vorsichtig sogar diese Verurteilung Beatrice in Form einer Prophetie in den Mund gelegt. Clemens hat ja auch auf dem Gebiet der Simonie ganze Arbeit geleistet. Er war es, der die Grundlage zur „ babylonischen Gefangenschaft der Kirche “ im französischen Avignon gelegt hat. Von den 24 Kardinälen, welche er ernannt hat, waren 23 Franzosen und eine ganze Anzahl von ihnen überdies Verwandte von ihm. Dante hatte also keinerlei Kompromiß mit seiner großen Wahrheitsliebe eingehen müssen, als er Clemens wegen Simonie in die Hölle versetzte. Er hatte ja die Zeit der Handlung der Commedia auf das Jahr 1300 festgelegt. Das war sieben Jahre vor Beginn des Templerprozesses und elf Jahre vor dem Konzil von Vienne. Zu dieser Zeit kam nur eine Verurteilung wegen Simonie in Frage, denn der Verrat an den Templern hatte noch gar nicht stattgefunden. Mit seiner großen Dichtung hat Dante aber vor allem auch das unsterbliche Riesendenkmal der Templergnosis errichtet, wie es erst im Lauf der Zeit bis heute immer klarere und festere Konturen gewinnt. 74 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="93"?> Der Orden wurde jedenfalls von Clemens V. aufgelöst. Die Templergnosis verschwand mit Überlebenden des Ordens im Untergrund oder aber überlebte in Sicherheit in verschiedenen Nachfolgeorganisationen. Für die verhörenden königlichen Beamten Philipps IV. sowohl wie für die geistlichen Inquisitoren und auch für den französischen König und für den Papst selbst war das geistige Wesen dieser Templergnosis ohnehin ein Buch mit sieben Siegeln gewesen. Dabei ist es bei der Geistigkeit der Templergnosis nicht anders als bei der alten ursprünglichen Gnosis vor und nach Christi Geburt. Die wirklichen Quellen wurden vernichtet. Die Ankläger der Inquisition waren ebenso wenig an einer tatsächlichen und gänzlichen Veröffentlichung interessiert wie die angeklagten Templer. Bei der alten Gnosis waren die Hauptquellen jene Kirchenväter, die gegen sie angeschrieben hatten und die Erklärungen für ihre Argumente benötigten. Bei der Templergnosis ist auch eine der wenigen verläßlichen Dokumentationen die französische Anklageschrift gegen den Orden vom 12. August 1308. Von den alten Gnostikern war ein einziges Buch von den Verbrennungen erhalten geblieben, die Pistis Sophia der versteckten, koptischen Tradition. Bei der alten Gnosis gab es das Wunder, daß nach dem Zweiten Weltkrieg in Qumram und in Nag Hammadi in Höhlen versteckt viele Schriftrollen entdeckt wurden, die der Verfolgung entgangen waren. Was die Templergnosis betrifft, so hat Hans Prutz von einer Templerbibel in der Pariser Nationalbibliothek berichtet. 24 Nach Julius Gmelin handelt es sich aber mehr um einen Bibelkommentar als um eine wirkliche Bibel. Gmelin hat im zweiten Band seines Buches selbst interessante Dokumente veröffentlicht. 25 Natürlich gibt es im Hinblick auf die Texte nicht nur, was die Templergnosis, sondern auch den historischen Orden betrifft, eine ganze Anzahl von Büchern. Eine eindrucksvolle Liste entsprechender Bücher findet sich in Alain Demurgers Buch Der letzte Templer. 26 Die wohl großartigste indirekte Dokumentation für die Templergnosis findet sich in Dantes wunderbarem Werk Die göttliche Komödie. Sie enthält geradezu eine Art Gesamtsystem der Templergnosis. Natürlich ist es in doppeltem Sinn eine indirekte Dokumentation: Erstens weil es sich nicht um ein historisches Werk, sondern um eine Dichtung handelt und zweitens weil überdies vieles zum Schutz des Autors vor der Inquisition verschlüsselt ist. Wenn man sich aber die Mühe des Entschlüsselns macht, dann wird man wie ein Bergsteiger nach anstrengendem Aufstieg durch den Blick reich belohnt. 24 Hans Prutz, Geheimlehre und Geheimstatuten, op. cit. Hans Prutz: Entwicklung und Untergang des Tempelherrenordens. Köln 1888 25 Julius Gmelin: Schuld oder Unschuld des Tempelherrenordens. Kritischer Versuch zur Lösung der Frage. Stuttgart 1893 26 Alain Demurger, op. cit., S. 366 - 370. Auch das Buch von Ferdinand Wilcke, op. cit., S. 735 f., enthält eine hilfreiche Liste von Quellen. 75 Präambel <?page no="94"?> Denn was die historiographische Erfassung von Glanz und Elend des Ordens selbst und seiner Spiritualität betrifft, so steht man in manchen Fällen vor einem großen Scherbenhaufen von Beschuldigungen und Entschuldigungen, von denen nur allzu viele durch Unwissenheit, Mißverständnisse, ja sogar auch durch Böswilligkeit entstanden sind. Da liegt es nahe, sich des Worts eines österreichischen Autors, eines Exilautors wie Dante, Joseph Roth, zu erinnern, der einmal erklärt hat: „ La littérature c ’ est la sincérité même, la seule expression de la vie. “ 27 Auf kaum einen anderen Fall trifft dies noch mehr zu als auf des großen Dante Weltdichtung seiner Commedia. Der große Ordnungsstifter Dante, diese Säule der Gerechtigkeit und Menschlichkeit hat mit ihr die wohl umfassendste und universalste Darstellung templergnostischer Geistigkeit geliefert. Freilich ist vieles ins Dichterische transformiert, so manches andere - schon aus Überlebensgründen - geheimnisvoll verschlüsselt und von einem einzelnen Forscher auf einen Schlag gar nicht zu entknoten gewesen. Gerade in seiner grandiosen Differenziertheit jedoch entstand die Zusammenschau einer Totalität, von der man sagen kann, daß sie die höchste Verwirklichungsform darstellt, welche die Geistigkeit der Templergnosis jemals gefunden hat. 2. Die templergnostische Commedia und ihr Aufbau Die wohl großartigste Verwirklichung hat die Templergnosis in der dichterischen Unwirklichkeit von Dantes Göttlicher Komödie gefunden, die im Unterschied zu all den wirklichen gewonnenen (und verlorenen) Schlachten, dem ungeheuren angesammelten Reichtum, der Macht und des Glanzes des Ordens ein unvergängliches Denkmal ihrer geistigen Größe darstellt. Gewiß hat der Orden auch in der Realwirklichkeit ganz außerordentliche, bleibende Ergebnisse erzielt: den Kampf gegen die Gefährdung durch die Aggression des Islam als zeitgeschichtliches Ereignis wie auch als zeitloses Beispiel. Fast mehr noch das Martyrium der Mitglieder des Ordens durch einen massenwahnartigen Haß, wiederum sowohl als zeitgeschichtliches Ereignis als auch zeitloses Beispiel. Weiterhin die bleibende Leistung der Überwindung des Feudalsystems durch die Geldwirtschaft des modernen Bankwesens. Und gewiß nicht zuletzt, daß die Geistigkeit der Templer eine tragende Grundlage für die Architektur der Zeit, für die Entdeckungen der Seefahrt und für die Renaissance überhaupt gewesen ist. 27 Zitiert nach David Bronsen: Joseph Roth. Köln 1974, S. 349 76 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="95"?> Trotzdem kommt bei aller im Grunde äußerlichen Begrenztheit durch die geozentrische Weltschau des Ptolemäus der dichterischen Ausformung der Templergnosis in Dantes gewaltigem Werk der Commedia eine ganz unerhörte Bedeutung zu, sowohl als einem Gipfel der Weltliteratur überhaupt wie auch als zeitloses Beispiel einer großartigen Glückseligkeitslehre. Natürlich hat sie auf den ersten Blick nicht nur den Nachteil, daß sie eben als Dichtung alles nur auf einer ästhetischen Ebene in dichterischen Bildern darstellt, sondern auch, daß sie darüber hinaus vieles in einer nur schwer durchsichtigen, verschlüsselten Weise ausdrückt, was jedoch in der Zeit ihrer Entstehung eine bittere Notwendigkeit war, da sie ansonsten der Inquisition zum Opfer gefallen wäre und gar nicht mehr existieren könnte. Andererseits wird dieser Nachteil durch zwei wesentliche Vorteile mehr als wettgemacht. Erstens tritt uns die Templergnosis hier als angewandte geistige Erscheinung in größtmöglicher Reinheit entgegen. Zweitens aber ist durch die Persönlichkeit Dantes der Templergnosis ein Berichterstatter und Interpret erstanden, wie man ihn nicht idealer wünschen kann. Denn ganz abgesehen von der vollkommenen sprachlich-dichterischen Gestaltungskraft stellte er auch als Gelehrter und Theologe eine Persönlichkeit dar, wie sie über dem Horizont nicht nur der Ritter, sondern auch der Würdenträger des Ordens stand. In einem allerdings weiteren Sinn des Begriffs leitet die Göttliche Komödie bereits die Renaissancebewegung ein. Sowohl der Mythos wie die Geistigkeit der antiken, klassischen Tradition spielen eine durchaus beachtliche Rolle. Vor allem aber ist sie eine Weltdichtung in doppelter Bedeutung: Einerseits, weil sie auf der dichterischen Ebene ein Bild der gesamten Welt, ja des Kosmos in einer Ordnung präsentiert. Andererseits, weil sie als Dichtung von höchster ästhetischer Bedeutung ist und als das meistgedruckte Buch nach der Bibel gilt. Sonst wäre es wohl auch kaum möglich, daß eines der unzähligen Bücher über den großen florentinischen Dichter einen Titel wie Dantes Weltmission trägt. 28 Nun stellt ein wichtiges und sinnstiftendes Element der Größe dieser Dichtung auch jene esoterische Symbolik dar, deren Quelle für Dante die Spiritualität der Templergnosis gebildet hat. Die Reduktion des dichterischen Ausdrucks auf wörtliche Erklärung womöglich durch abstrakte Begriffe bedeutete nicht nur eine wesentliche Verarmung dieser großen Dichtung, sondern auch eine Fehlinterpretation. Wenn auch immer wieder aus verschiedensten Gründen die Behauptung aufgestellt wurde, daß eine eigene spirituelle Tradition der Templer gar nicht existiert hätte, dann ist sie gerade durch die Arbeit einer ganzen Reihe von Dante-Forschern und ihren Büchern zu hoffnungsloser Haltlosigkeit verurteilt. 29 28 Willem Frederik Veltman: Dantes Weltmission. Stuttgart 1979 29 Um nur einige der wichtigsten zu nennen: Richard Maurice Bucke: Cosmic Consciousness. Philadelphia 1901; Henry Corbin: Temple et Contemplation. Paris 1980; Johannes Haller: 77 Die templergnostische Commedia und ihr Aufbau <?page no="96"?> Der junge Dante scheint durch Siger von Brabant in Orvieto Unterricht erhalten zu haben, der wohl eine Einführung in die Theologie und Philosophie gewesen ist. 30 Siger ist der Voltaire des 13. Jahrhunderts genannt worden. Auch muß Dante später ein systematisches Studium der Theologie absolviert haben, wobei er jedoch sehr eindeutig ein Templertheologe gewesen ist. 31 Er dürfte bei dem Florentiner Dominikanermönch Remigio Girolami studiert haben. Als er über zwanzig Jahre alt war, muß er das Theologiestudium abgeschlossen oder aufgegeben haben und hat sich sodann zwei Jahre nur der Philosophie zugewandt. Als er dreißig Jahre alt war, wurde er in die Zunft der Ärzte und Apotheker aufgenommen. Dazu brachte er es in der Florentiner Stadtpolitik bald zu großem Erfolg, da er vom 15. Juni bis 15. August 1300 einer der sechs Stadtprioren war, was das höchste Amt der Stadtrepublik Florenz darstellte. Seit 1135 hatte es Laienbruderschaften des Templerordens gegeben und Dante hat einer solchen Templer-Fraternität angehört. 32 Nach Peter Partner waren es diese Fraternitäten, die eine Verbindung des Ordens mit einer breiten Skala von Laien, von vornehmsten und intellektuell Ausgezeichneten bis zu allgemein Interessierten herstellten. 33 Über diese Bruderschaften zumal nach 1312 ist sehr wenig bekannt, doch nehmen manche Autoren an, daß sie „ auch nach 1312 im stillen fortbestanden “ und ihre Esoterik weiter pflegten. 34 Im Museum von Vienne an der Rhône, ausgerechnet in der Stadt des Untergangskonzils, befindet sich eine Medaille mit dem Kopf Dantes, die auf der Rückseite folgende Inschrift trägt: F. S. K. I. P. F. T. Diese Initialen sind von Aroux folgendermaßen interpretiert worden: „ Heiliger Bruder Kadosch, Kaiserlicher Principatus, Bruder Templer. “ 35 Auch Guénon hat zu dieser Inschrift Überlegungen angestellt, vor allem über „ Fidei Sanctae “ und „ Imperialis Principatus. “ 36 Mit zweifelloser Sicherheit stehen für ihn nur die Begriffe „ Bruder Templer “ und „ Kadosch “ fest. Bruder Templer bezieht sich natürlich auf die Templer-Fraternität, welcher er angehörte, und Kadosch ist eine hebräische Bezeichnung für Gott, dann aber auch der Name für Dante. Basel 1954; René Guénon: L ’ ésoterisme de Dante. Paris 1939; Robert John, Dante. Wien 1946; Friedrich Schneider: Dante. Weimar 1960; Arthur Schult: Dantes Divina Commedia als Zeugnis der Tempelritter-Esoterik. Bietigheim 1979 und Luigi Valli: Il linguaggio segreto di Dante e dei „ Fedeli d ’ Amore “ . Rom 1928 30 Vgl. S. Reinach: L ’ Énigme de Siger. In: Revue historique. Jg. 1926, S. 34 - 47 31 Vgl. Robert John, op. cit., S. 15 32 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 18. Zu den Templerfraternitäten vgl. auch Robert John, op. cit., S. 111 33 Peter Partner: The Murdered Magicians. New York 1993, S. 61 34 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 28 35 Eugène Aroux: Dante hérétique, révolutionnaire et socialiste. Paris 1854. Die Inschrift wurde vom Autor ins Deutsche übersetzt. 36 René Guénon, op. cit., S. 9 f. 78 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="97"?> einen Einweihungsgrad, der unter dem Titel „ Ritter Kadosch “ , also Ritter Gottes, noch bis in eine späte Nachfolgeorganisation der Templer fortbesteht. 37 Der berühmte französische Religionsphilosoph Guénon vermutet, daß der Begriff „ Imperialis “ so zu erklären ist, daß es in der Bruderschaft der späteren Rosenkreuzer einen Titel „ Imperator “ gegeben hat. Was den Begriff der „ Fidei Sanctae “ betrifft, so nahm er zunächst an, daß diese zusammen mit dem „ Imperialis Principatus “ der Titel eines besonders hohen Grades in der Templer-Fraternität gewesen ist, die er nach dem franziskanischen Vorbild einen „ Dritten Orden “ genannt hat. Er ließ aber auch die Möglichkeit offen, daß „ Fidei Sanctae “ der Name der Mitglieder einer Organisation gewesen ist, die zu Dantes Zeit ein paralleler Bund zu den Rosenkreuzern gewesen ist. Das „ Fidei “ klingt allerdings auch an die „ Fedeli d ’ Amore “ an, deren Mitglied Dante mit Sicherheit gewesen ist. Ein großer Teil von ihnen hat sich später säkular veräußerlicht, doch ein spiritueller Flügel hat später unter dem Namen Rosenkreuzer weiter bestanden. Daß die Kirche das Buch von Aroux - zudem noch sehr spät - verworfen hat, störte Guénon in keiner Weise. Er hat von diesem auch noch den Hinweis übernommen, daß Dante auf Swedenborg weiter gewirkt hat. Durch diesen hat sich jener Einfluß aber auch bei einem moderneren Autor noch verlebendigt, nämlich bei Czes ł aw Mi ł osz. Außerdem fühlte sich Guénon durch den Hinweis auf die innere geistige Verwandtschaft der Templergnosis mit der Kabbala und dem westlichen Flügel des Sufismus bestätigt. Letztere ließ sich einerseits durch die Bekanntschaft der Templer mit dem Islam in Jerusalem erklären und womöglich noch besser dadurch, daß sowohl der westliche Sufismus als auch die Templergnosis neuplatonische Elemente umschlossen. Übrigens weilte Dante gerade in dem Monat, in dem der Templerprozeß in Paris begann, ebenfalls in Paris. Der Prozeß mußte ihn tief getroffen haben. Schult mutmaßt falsch, daß Dante von diesem Zeitpunkt an erst „ zusammenhängend “ an seinem großen Werk zu schreiben begonnen hat. 38 Es war vielmehr das Jahr, in dem ihm aus Florenz die ersten Gesänge ins Exil nachgeschickt worden waren, die er als verloren betrachtet hatte. Der Templerprozeß war zusätzlich zu den Exilerfahrungen der Grund, weshalb die Fortsetzung sehr viel strenger und härter ausfiel, als die ersten Gesänge. Das wird später beschrieben werden. Dabei ging es Dante keineswegs nur um eine Kritik der negativen Zustände der Welt seiner eigenen Zeit wie der Vergangenheit, sondern aus solcher Kritik des Chaos sollte als eine Art möglicher Utopie durch eine Glückseligkeitslehre ein groß angelegtes Bild der Zukunft zusammengesetzt werden. Obwohl all das Dichtung war, standen dahinter überaus reale und ideelle Vorstellungen politischer, sozialer, künstlerischer, geistiger und religiöser Natur. Außerdem erfüllte die dichterische Gestaltung die doppelte Funktion, einerseits für Dante selbst die 37 Vg. Robert John, op. cit., S. 133 38 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 28 79 Die templergnostische Commedia und ihr Aufbau <?page no="98"?> schweren Schicksalsschläge seiner politischen Verbannung, zweimaligen Verurteilung zum Tod und vieles andere durch die geistige Bewältigung seiner Eingeweihtheit zu ertragen, und andererseits zugleich den Menschen die Möglichkeit ins Bewußtsein zu rufen, was mit der Welt nicht stimmte und welche Art von neuer Ordnung auf geistiger Grundlage zu errichten wäre. Die beiden gottgewollten, aufeinander abgestimmten und miteinander verknüpften Ziele, die nach ihm anzustreben eine unerläßliche Pflicht des Menschen ist, sind die irdische und die himmlische Glückseligkeit, die Beatitudo Temporalis und die Beatitudo Aeterna. Was er mit der Beatitudo Temporalis meint, das ist „ jene Ordnung der irdischen Lebensverhältnisse, unter welcher jedem einzelnen die Freiheit gewährt und gesichert ist, sein Leben seinen Fähigkeiten und Anlagen gemäß ungehindert zu formen und zu entfalten. Diese das Leben lebenswert machende Freiheit und ihre Sicherung ist aber für den Gesellschaftstheoretiker Dante nicht zu denken ohne den Frieden, und zwar den Weltfrieden, die Pax Universalis. “ 39 Wie es aber Dante im irdischen Bereich um Freiheit ging, so ging es ihm nicht weniger um Freiheit im spirituellen Bereich. Das aber bedeutete durchaus im Sinn der Templergnosis das Abschütteln des Dogmengebäudes der Amtskirche, das beginnend mit der neuen Sekte des Paulus das Urchristentum der Jerusalem- Kirche abgeschafft hatte, in welcher eine solche Freiheit weitgehend geherrscht hat. Zu den Anschauungen und dem Wissen über die beiden Glückseligkeiten und ihre Voraussetzungen war Dante nicht nur durch seinen eigenen, ungewöhnlichen Verstand gelangt, sondern nicht zuletzt auch dadurch, daß er in seinem Leben gleich zwei wichtige Initiationen durchgemacht hatte. Die erste davon hatte in der glücklichen Zeit seiner Kindheit und Jugend stattgefunden und ihr Niederschlag fand sich in seinem Jugendwerk der Vita Nuova. Die zweite davon war in seine böse und traurige Zeit der Verbannung gefallen, in der er nach seinem ersten Biographen Boccaccio so viel Belastendes durchzumachen gehabt hatte, „ ungestümste und unerträglichste Liebesleidenschaft, Weib, Sorgen für Haus und Staat, Verbannung und Armut, von sonstigem abgesehen, was notwendig dem nachschleppte. “ 40 Die erste Initiation war eine in die „ Fedeli d ’ Amore “ gewesen, die zweite eine in die Templergnosis. Bei dem Jugendwerk der Vita Nuova geht es nicht oder zumindest nicht nur um ein autobiographisches Liebeserlebnis, wie früher angenommen wurde, sondern um eine symbolische Einweihungsschrift im Hinblick auf die „ Fedeli d ’ Amore “ . Zumindest bis in die Zeit der Hochrenaissance blieben die „ Fedeli “ ein Geheimbund, der später mehr und mehr veräußerlichte, bis schließlich der 39 Robert John, op. cit., S. 26 f. 40 Giovanni di Boccaccio: Das Leben Dantes. Frankfurt 1965, S. 14 80 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="99"?> ästhetische Aspekt alles andere verdrängte und die Symbole zur trockenen Allegorie wurden, die kein Mensch verstand. Ursprünglich gab es entsprechend der vier Elemente, aus denen der gnostischen Tradition zufolge die Welt bestand, Erde, Feuer, Wasser und Luft, vier Einweihungsstufen und sodann entsprechend der sieben damals als Planeten verstandenen Gestirne sieben Einweihungsstufen. 41 Hier in der Vita Nuova tritt bekanntlich zum ersten Mal Beatrice auf, die auch bereits hier die Sophia, die wahre Weisheit der Templergnosis, versinnbildlicht. Bei Dante heißt es über sie: „ Die glorreiche Herrin meines Geistes: sie, Beatrice genannt von vielen, die nicht wußten, wie sie zu nennen. “ 42 Dante bezeichnet sie sehr präzise nicht als Herrin seines Herzens, sondern seines Geistes und er hütete sich, das Geheimnis ihrer wahren Identität preiszugeben, was streng verboten war. Die Uneingeweihten kannten nur den Namen Beatrice, während die Eingeweihten wußten, daß es für die Gnostiker die Sophia war, und im Falle Dantes die Templergnosis. Man hat zu Recht die Vita Nuova das Buch von Dantes Berufung und die Commedia das Buch der Verwirklichung seiner Visio Dei genannt. Als drittes Werk von Wichtigkeit über seine genauen Ideen zur Beatitudo Templaris gehört noch sein Buch De Monarchia dazu. Wenn Dante den Tod der symbolischen Beatrice in der Vita Nuova im Bild einer ganzen Naturkatastrophe dargestellt hat - über den Tod der wirklichen Beatrice verlor er nur einige Worte - , dann vollzieht er eine rituelle Notwendigkeit: Aus dem Grund ritueller Symbolik mußte die Geistesdame und ihre Liebe immer gewaltiger und erhabener dargestellt werden und aus demselben Grund mußten alle diese Damen sterben. „ Daß diese himmlischen Wesen alle vor ihren Liebhabern starben, Beatrice vor Dante, Fiametta vor Boccaccio, Laura vor Petrarca, um nur die berühmtesten Todesfälle zu erwähnen, ist nicht ein notwendiger Kunstgriff, um neugierige Frager abzuschütteln oder eifersüchtige Ehefrauen zu beruhigen: Sie mußten vielmehr von jenem Tode, der die Mors philosophorum war, ereilt werden. Eine andere Darstellung ihres neuplatonischen Ekstase-Erlebnisses gab es eben nicht. Kein Dichter konnte doch die Trennung von Ν o ΰς und Ψυχή als seinen eigenen Tod schildern. “ 43 Auch solcher Tod, nicht nur die Inkarnation Christi, ja die ganze Göttliche Komödie kann nicht gesehen werden durch das Auge eines Menschen, von dem es heißt: „ dessen Geist noch nicht gereift ist in der Liebe. “ 44 Die neue Ordnung, die Dante im Zuge seiner eigenen Einweihung errichtet, beruht auf dem „ Quell aller Genesung: dem lebendigen Geist. “ Das hat Willem Frederik Veltman in seinem Buch Dantes Weltmission geschrieben, der in seiner Anwendung von Ideen Rudolf Steiners nicht nur einiges sehr Wesentliches formuliert hat, sondern in einem 41 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 41 - 50, hat eine ausführliche Beschreibung geliefert. 42 Zitat aus zweiter Hand nach Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 43 43 Robert John, op. cit., S. 267 44 Paradies, 7, 59 - 60 81 Die templergnostische Commedia und ihr Aufbau <?page no="100"?> Punkt noch weiter ging als fast alle anderen Kommentatoren. Er fordert für das Verständnis von Dantes Komödie die Entwicklung des Denkens „ zu einem Wahrnehmungsorgan übersinnlicher Realitäten. “ 45 Das betrifft nicht nur den Einfluß von Toten auf Lebende, sondern zeigt sich nach Meinung dieses Autors beispielhaft in „ reellen übersinnlichen Erfahrungen “ , wenn Dantes Ahnungen bezüglich der inneren Erden-Krise hin zu den Druiden-Mysterien führten. Da Dante sie nicht aus eigener Erfahrung kennen konnte, nimmt er an, daß tief im Unterbewußtsein ruhende Erinnerungen und Ahnungen in seine Inkarnation als Dante hineingereicht haben. 46 Dabei geht es um eine überaus zentrale Stelle des Wiedergeburtsaktes von Dantes Führer durch die Hölle, Vergil, dessen dichterischer Held der Äneis bei seinem Abstieg in die Unterwelt auf Anweisung der Sybille einen „ goldenen Zweig “ abbricht und mit sich nimmt, den Veltman als Mistelzweig agnoszieren möchte, der in den Druiden-Mysterien einen besonderen Platz eingenommen hatte. Nun leitet sich ja auch das keltische Christentum ursprünglich von der Jerusalem-Kirche her, ganz wie die Templergnosis, und hat druidische Elemente aufgenommen. Es könnte auch durchaus eine plausible „ realistische “ Erklärung für eine solche Verbindung geben durch die Niederlassungen und Präzeptorien der Templer auf vormals keltischen Gebieten Irlands und Schottlands. Es gibt im Zusammenhang mit Veltmans Kommentar im Hinblick auf Dante allerdings ein Ereignis, das, wenn es wahr ist, auf direkten, übersinnlichen Zusammenhängen beruht. Boccaccio, der es gewesen ist, der dem ursprünglichen Titel Dantes Komödie das Epitheton Göttliche beigefügt hat, ist auch Dantes erster Biograph gewesen. Er hat uns folgende Begebenheit überliefert: Dante hatte seine große Dichtung nur einschließlich des Zwanzigsten Gesanges des „ Paradieses “ durch Abschriften veröffentlicht. Die letzten dreizehn Gesänge, welche die höchste esoterische Einweihung enthalten, den Gang durch die Saturnsphäre, die Fixsternsphäre, den Kristallhimmel, das Empyreum und die Himmelsrose hat er nicht zu veröffentlichen gewagt. Er verbarg das Manuskript offenbar aus Furcht vor der Inquisition in einer Mauernische seines Schlafzimmers, die er durch eine Strohmatte überdeckte. Sowohl seine Söhne als auch seine Freunde fürchteten zunächst, die große Dichtung sei unvollendet geblieben. Sie hatten wiederholt durch Monate die hinterlassenen Handschriften durchsucht, ob sich nicht irgendwo ein Schluß finden ließe. Schließlich hatten es die beiden Söhne Jacopo und Piero sogar unternommen, das Werk des Vaters auf Drängen von Freunden innerhalb der Grenzen ihres Verständnisses fortzusetzen. Jacopo war der emsigere und hingebungsvollere der beiden bei der Suche gewesen. Piero Giardino, ein Bürger von Ravenna, wo Dante verstorben war, berichtete, daß nach dem achten Monat des Todes des Meisters in einer Nacht, 45 Willem Frederik Veltman, op. cit., S. 15 46 Willem Frederik Veltman, op. cit., S. 146 82 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="101"?> „ um die Stunde der Frühmette “ , Jacopo Alighieri in seinem Haus erschienen sei und erklärt habe, kurz vor jener Stunde sei ihm im Traum sein Vater erschienen. Dieser sei in blendend weißer Kleidung auf ihn zugekommen, im Antlitz von einem ungewöhnlichen Lichte leuchtend. Er hätte ihn gefragt, ob er lebe, und zur Antwort erhalten, ja, doch das wahre Leben sei nicht das irdische Jacopos. Der glaubte sich zu erinnern, daß er darauf gefragt hätte, ob er sein Werk vor dem Hingang zum wahren Leben vollendet hätte und wenn ja, wo es sich befinde. Es sei ihm geschienen, als hätte die Antwort gelautet: „ Ja, ich habe es vollendet. “ Danach fühlte er sich bei der Hand genommen und in das ehemalige väterliche Schlafzimmer geführt, wo die Erscheinung eine Stelle an der Wand berührte und sagte: „ Da ist, was ihr so sehr gesucht habt. “ Kaum waren diese Worte gesprochen als Jacopo erwachte. Er bat seinen Freund aus Ravenna, mit ihm zu kommen, um an jener Stelle zu suchen. Er wollte feststellen, ob ihm ein wahrhaftiger Geist oder ein Trugbild erschienen wäre. Sie fanden die Strohmatte und hinter ihr in der Mauer eine kleine Nische, in der sich einige Schriften befanden, die von der Feuchtigkeit in der Wand bereits verschimmelt waren. Wären sie länger dort gelegen, wären sie vermodert. Als sie vom Schimmel gereinigt worden waren, stellte sich heraus, daß es die gesuchten letzten dreizehn Gesänge waren. Sie schrieben sie ab, sandten sie der Gepflogenheit des Dichters gemäß zuerst an Herrn Cane und fügten sie daraufhin auch dem unvollkommenen Werk an. 47 Die Angst Dantes vor der Inquisition war wohl begründet. Denn sein Werk atmet „ trotz seiner kirchlichen Orthodoxie deutlich johanneischen Geist, der Dantes Relation zu esoterischen Strömungen zuzuschreiben ist “ 48 . Der ungewöhnlich gebildete katholische Theologe Robert John hat zwar die Druckerlaubnis des Erzbischöflichen Ordinariats in Wien erhalten, weil er die Commedia mit der offiziellen Kirchenlehre auszugleichen und in Einklang zu bringen versuchte, doch hat er sein Buch mit einer langen und bewundernden Darstellung von Dantes Templergnosis abgeschlossen. 49 Am Beginn seines Buches zeigt John auf, wie wesentliche Ideen von Dantes Denken durch innerkirchliche Reformbestrebungen zustande gekommen sind, vor allem durch Joachim von Fiore (1134/ 1135 - 1202) und Petrus Johannis Olivi (1247/ 48 - 1296/ 98). Schon ein kurzer Blick auf Joachims Leben zeigt, wie nahe er der Templergnosis stand. 1166/ 67 hatte er Jerusalem besucht, hatte eine Zeit seiner Jugend nahe dem Zisterzienserkloster Sambucina verlebt und trat nach seiner Priesterweihe in das kalabrische Kloster Corazzo ein, das nach der Benediktinerregel gegründet worden war. Nachdem er Abt geworden war, führte er aber in Corazzo die Zisterzienserregel ein. Sein ganzes Leben hindurch war er ein Bewunderer von Bernhard von Clairvaux gewesen. An einem Ostermorgen 47 Vgl. Giovanni di Boccaccio, op. cit., S. 64 - 68 48 Willem Frederik Veltman, op. cit., S. 146 49 Robert John, op. cit., S. 256 - 272 83 Die templergnostische Commedia und ihr Aufbau <?page no="102"?> hat er während einer Meditation über der Johannes-Apokalypse seine entscheidende Erleuchtung empfangen. Dante dürfte die Ideen des Joachimismus durch den aus der Provence stammenden Franziskanertheologen Petrus Johannis Olivi kennen gelernt haben, als dieser unter den Laien von Florenz Werbung für das spiritualistische Franziskanertum betrieb. Da die offizielle Kirche damals nur mehr oberflächlich christlich war, bestand Joachims zentrale Idee in der Entwicklung einer Ecclesia Spiritualis, einer Geistkirche, wie sie in Dantes Vorstellungswelt eine so große Rolle gespielt hat. Unter den Werken Joachims war das berühmteste seine Concordia Novi et Veteris Testamenti, in welcher er seine Lehre von drei aufeinander folgenden Weltperioden entwickelt hat, die dann später im 18. Jahrhundert durch Giambattista Vico ins Allgemeine systematisiert wurde. Joachim hatte die erste seiner drei Weltperioden dem Vater, die zweite dem Sohn und die dritte dem Heiligen Geist zugeordnet. Nachdem der Stammbaum Christi im Matthäus-Evangelium auf 42 Generationen zurückgeführt wurde, hat Joachim jede seiner großen Weltzeiten 42 Generationen lang veranschlagt. Die erste Weltzeit war jene der Laien und der Väter, der Patriarchen, die zweite Weltzeit war jene des Weltklerus, die dritte aber sollte ihren Ausdruck durch eine neue Art von Mönchen finden, die durch ein dem Ursprungsgeist nahes, besonders tiefes Verständnis der Heiligen Schrift gekennzeichnet wären. Nach Robert John kündigte sich diese neue Weltzeit durch die Gründung des Zisterzienserordens an. 50 Nach Joachims Berechnung sollte diese Weltzeit um 1260 anbrechen, dem Jahr, in dem die neue Kirche des Heiligen Geistes zu erwarten war. Wenn Dante von der „ göttlichen Institution “ der Kirche spricht, dann bezieht er sich immer auf diese Ecclesia Spiritualis, die für ihn das Heilmittel der Vita Contemplativa für die Menschheit bedeutet. Diese Bewegung für eine Geistkirche des Joachim mit ihrer Sehnsucht nach Verinnerlichung der Religion und ihrer Begeisterung für eine damit zusammenhängende Erneuerung der sozialen Formen war, „ hier mehr, dort weniger, über das ganze christliche Europa verbreitet. “ 51 Sie nahm denn auch Einfluß auf Franz von Assisi und die franziskanische Bewegung, auf die Templergnosis und natürlich auf Dante. Freilich waren sogar die Franziskaner in mehr konservativ-orthodoxe, die Konventualen, und in die Verinnerlichungs-Erneuerer, die Spiritualen, aufgespalten. In diesem Zusammenhang ist es durchaus passend und konsequent, daß das Konzil von Vienne, das zur Vernichtung des Templerordens einberufen worden war, sich zugleich auf Druck der Konventualen mit theologischen Fragen gegen die Spiritualen befaßte. Wie es 50 Robert John, op. cit., S. 46 51 Robert John, op. cit., S. 47 84 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="103"?> ebenso konsequent und bezeichnend ist, daß Dante eine vom Konzil verworfene These Joachims bezüglich des Lanzenstichs des römischen Hauptmanns Longinus beim Kreuzestod Christi sowohl seiner Figur des Thomas von Aquin als auch Bernhard von Clairvaux als die richtige These vortragen läßt. Denn obwohl der Aquinat sich in einer seiner Schriften auch direkt gegen Joachim gewendet hatte, 52 war Dante nicht nur ganz auf Seiten des kalabrischen Abtes, sondern hat dessen häretische Meinung im Punkt des Lanzenstichs von Longinus sogar seinem Thomas in der Commedia in den Mund gelegt. Fast ebenso tief wie der Einfluß Joachims auf Dante war auch der Einfluß des Petrus Johannis Olivi. Dieser war ein überaus bedeutender Theologe der Zeit, der 1287 als Lektor der Theologie an das Studium Generale der Franziskaner in Florenz berufen worden war, wo er zwei Jahre bis zu seiner Versetzung an der damals noch berühmteren Ordensschule von Montpellier wirkte. Die franziskanischen Spiritualen reihten ihn nach seinem Tod aus religiöser Verehrung sogar unter die großen abendländischen Kirchenväter ein. Als Joachim von Fiore auf dem Konzil von Vienne einer Irrtumsliste von 50 Artikeln angeklagt war, jedoch nur 3 dieser Artikel verurteilt wurden, war dies seiner blendenden Verteidigung durch Olivi zu verdanken, die sogar erreichte, daß im Verurteilungsdekret für diese 3 verworfenen Artikel der Name Joachims gar nicht genannt wurde. „ Olivis eigenwillige Theologie spielte jedenfalls in der Commedia eine ganz außerordentliche Rolle. “ 53 So sind zu den Ideen der ursprünglichen Jerusalem-Kirche, welche die ersten Templer ausgegraben hatten, auch Einflüsse Joachims und Olivis in Dantes Vorstellungswelt eingedrungen, wobei allerdings Joachim manches über den Umweg der Zisterzienser und Bernhards aus derselben Quelle haben mochte. Als Bernhard von Clairvaux zu den Katharern geschickt worden war, um ihre Rechtgläubigkeit zu untersuchen, da konnte er keine Ketzerei finden. Durch Olivi jedoch, der aus dem Kernland der Katharer, aus Sérignan im Languedoc stammte, drangen auch manichäische Elemente in Dantes Gedankenwelt ein, wobei zumindest ein Topos eine Parallele zu einem noch älteren ägyptischen aufwies. Mani war nämlich der Adoptivsohn einer reichen Witwe, der eine Verschmelzung persisch religiöser Vorstellungen von Ormuzd und Arihman mit dem Christentum herbeigeführt hatte. Die Manichäer nannten sich oftmals in ihrer Geheimsprache die „ Söhne der Witwe “ , was schon früher für die Isis-Mysterien und später für die Templergnosis gegolten hatte. Olivis Beeinflussung durch solche Ideen hatte seine Verurteilung als Häretiker und nach seinem Tod die Zerstörung seines Grabes in Narbonne und die Verbrennung seiner Gebeine zur Folge. Übrigens hatte Olivi, der erfolgreiche Verteidiger Joachims, selbst einen bedeutenden Verteidiger in dem Franziskaner Spiritualen Ubertino von Casale gefunden. Dieser war ein erfolgreicher Prediger in Florenz gewesen, der in seinem 52 In: Decretalem II. Expositio ad clericum Tridentinum de error Abbate Joachim 53 Robert John, op. cit., S. 57 85 Die templergnostische Commedia und ihr Aufbau <?page no="104"?> Buch Arbor vite cruicifixe Jesu die Mißstände der Kirche angegriffen hatte. Darin hielt er sich in vielem an Joachim, doch unterschied er nicht drei, sondern sieben Weltperioden von der ersten bis zur zweiten Ankunft Christi. Dies wiederum hat deutlich auf Dantes sieben Visionen am Baum der Erkenntnis im Paradiso Terrestre eingewirkt. Die Commedia beginnt am Karfreitag des Jahres 1300, der auf den 8. April fiel. Für Dante bedeutete dies einerseits, daß es sich um das Jahr seiner Einweihung in die Templergnosis handelte und andererseits stellte es nach einer damaligen Auffassung die Mitte seines Lebens dar. Zugleich damit war es das Jahr, in dem er als einer der Prioren der Stadtregierung angehört hatte, was er später als Wurzel seines Unglücks bezeichnet hat und was ihn - wie es im Ersten Gesang gleich heißt -„ vom rechten Weg “ abgebracht hatte. Schließlich sah er aber in diesem Jahr auch das Jahr der großen Wende von der zweiten zur dritten Weltperiode im Sinne des Joachimismus. Nun sollte die Überwindung der Ecclesia Carnalis mit ihrer Korruption der Geld- und Machtpolitik und dem Ende des Kirchenstaates zur Ecclesia Spiritualis hin einsetzen. Was den Einfluß des Joachimismus betrifft, so sehen manche es sicher richtig, wenn sie annehmen, daß Joachim selbst ein von der Templergnosis beeinflußter Geist gewesen ist. 54 Joachim hatte für den von ihm gegründeten „ Florenzer Orden “ , der im Grunde ein Zweig der Zisterzienser war, so manches von Bernhard von Clairvaux übernommen. Vor allem die grundsätzliche Hauptsäule seiner Lehre von den drei Weltaltern geht auf ihn zurück und hat Dante zu einem „ Joachimiten “ gemacht. Im Wesentlichen aber ist die Commedia ganz auf die Templer und ihr Jerusalem hin ausgerichtet und das zeigt sich nicht zuletzt dadurch, daß sie sofort in Jerusalem beginnt. Der innere Einweihungsweg Dantes, den er schildert, beginnt äußerlich im Kidrontal mit seinem Aufstieg auf den Tempelberg und führt ihn zunächst zum Paradiso Terrestre, das auf der antipodischen Seite von Jerusalem, auf dem Pic d ’ Adam in Sri Lanka angenommen wurde. Den Moslems gilt dieser Berg als die Heimat Adams, aber diese Lokalisierung des irdischen Paradieses hat bereits bei den Templern und noch vor ihnen bei Clemens von Alexandrien stattgefunden. Dieser war ein Kirchenvater, Lehrer des Origines und eine Quelle alten gnostischen Wissens. Der unmittelbare Abstieg in die Hölle, der nach dem Aufbruch und durch die Verirrung im Wald einsetzt, beginnt im Kidrontal mit Aussicht auf den „ Berg des Heils “ , den Berg Moria, auf dessen Höhe, dem Tempelplatz, die Mutterkirche der Templer stand. Der Tempelplatz ist die Stätte, auf welcher der Templerorden entstand und er hat seine dichterische „ antipodische “ Entsprechung im Läute- 54 Vgl. Ferdinand Neundlinger und Manfred Müksch: Die Templer in Österreich. Innsbruck 2005, S. 11 86 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="105"?> rungsberg, wo Beatrice den Jenseitswanderer Dante in die Mysterien der Templergnosis einweiht. Dante war auch mit Astrosophie vertraut, wie sie für die Gnosis oft Teil der Kosmologie gewesen ist und hat die gnostische Tradition der unmittelbaren Verbindung des menschlichen Mikrokosmos mit dem Makrokosmos aufrechterhalten. Durch die Beschreibung seines eigenen Einweihungswegs führt er den Leser - freilich noch nach dem ptolemäischen Weltbild - nicht nur durch die Hölle ins Paradies, sondern damit zugleich auch durch die Sternensphären zum „ Himmel Gottes “ . Das bedeutet, er führt ihn auch in makrokosmischer Symbolik, ganz im gnostischen Sinn, von der Befreiung der Geistseele aus den Fesseln der Materie zur Vereinigung mit dem Göttlichen. In dieser Hinsicht sind die drei Sphären von Hölle, Läuterungsberg und Himmel aufeinander abgestimmt und gemeinsam als ein Ganzes Ausdruck einer großen kosmischen Ordnung. Am offenkundigsten zeigt sich diese astrosophisch-kosmogonische Verbindung im Paradies, in dem die Stufen der Entwicklung nach Planeten benannt und dargestellt werden. Aber auch in der Hölle führt Dantes Weg von der Mondstufe (Wollust) bis hinunter zur Saturnstufe (Hochmut). Beim Läuterungsberg kommt es zum entgegengesetzten Aufstieg von der Saturnstufe bis hinauf zur Mondstufe. Im Himmel geht es dann noch weiter empor vom Fixsternhimmel über den Kristallhimmel bis zum Feuerhimmel Gottes. Die Zahl der von Dante gekannten und angenommenen Planeten aber betrug sieben und Sieben war neben den Zahlen 3, 9 und 13 eine besonders wichtige Zahl seiner Numerologie. So ist die Dauer von Dantes gesamten, zurückgelegten Weg auch auf sieben Tage festgesetzt: Zwei Tage wandert er durch die Hölle, vier Tage über den Läuterungsberg und einen Tag durch das Paradies. Ausschlaggebend für die Stellung des einzelnen Menschen in den jeweils sieben Sphären der drei Welten ist die höchste Lebensmacht: die Liebe. Es war durch die Liebe, daß Dante die Entwicklung vom Eros zur Agape durchmachte. „ Erst in der Mystik, in der sich Agape und Eros versöhnen, wird der Mensch zum freien Liebespartner Gottes und erfährt darin seine Erhöhung bis zum Ebenbild Gottes. Beatrice als Dantes irdische Geliebte ist seine Führerin zur himmlischen Liebe, wie Conduiramour Parzival heranreifen und den heiligen Gral finden läßt. Hinter Beatrice aber steht Lucia, die Lichtjungfrau und steht Maria-Sophia mit zahllosen himmlischen Genien. “ 55 Einerseits zeigt der Entwicklungsgang Dantes in den „ sieben Tagen “ seines Jenseitstraumes die verschiedenen Wandlungsstufen der Liebe, andererseits ist zuletzt die allerhöchste Stufe der Liebe mit einer Lichterfahrung und das heißt mit einem Erleuchtungserlebnis verbunden. Neben Dante, der nicht nur im auto- 55 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 98 f. Zur Verschmelzung von Eros und Agape vgl. Olaf Lagercrantz: Von der Hölle zum Paradies. Frankfurt am Main 1965 87 Die templergnostische Commedia und ihr Aufbau <?page no="106"?> biographischen Sinn für den Dichter, sondern mitunter zugleich für den Menschen schlechthin steht, sind die drei wichtigsten Hauptpersonen die Führer durch die Welt des Jenseits: Vergil, Beatrice und Bernhard von Clairvaux. Vergil steht durch seinen eigenen Abstieg in die Unterwelt sowie überdies als Eingeweihter von Eleusis für den Wiedergeburtsakt, Beatrice steht für die Erleuchtung durch die Liebe und Bernhard schließlich steht für die Verschmelzung beider Endziele. Dabei kommt wieder einmal die Dreizahl zum Tragen. Beatrice, die eine weite Skala von der kindlichen Jugendliebe bis zur Weisheitsliebe der großen Muttergöttin Sophia abdeckt, die im offiziellen Templertum getarnt als Maria die Schutz- und Leitgottheit des Ordens darstellte, spricht es im Deißigsten Gesang des Paradieses klar und in aller Deutlichkeit aus: Also, mit sichern Führers Angesicht Und Ton, begann sie: „ Aus dem größten Körper Flohn wir zum Himmel, voll von reinstem Lichte: Von geistigem Licht, sich voll von Liebe zeigend, Von Liebe wahren Gutes, voll von Wonne: Von Wonne, alles Süße übersteigend. Hier geht es um eine Form der Erleuchtung, wie sie die älteste Phase der jüdischen Mystik, die Merkaba-Mystik kannte, eine Form, die im Anschauen Gottes besteht: Droben ist Licht, davor die Hüllen sich winden Der Schöpfer dem Geschöpfe läßt, das einzig In seinem Anschaun kann den Frieden finden. Nachdem aber Dante gewiß in der Konstantinischen Schenkung den tiefsten Grund für das Verderbnis der Ecclesia Carnalis erblickte, das in Geld- und Machtstreben ausgeartet war, und obwohl er in der irdischen Entwicklung die beste Lösung in einem idealen Papst sah, der den Kirchenstaat selbst aufgeben würde und in einem idealen Kaiser, der diesen Staat wieder dem Reich eingliederte, wobei er seine Hoffnung bereits auf Heinrich VII. gesetzt hatte, konnte es der wirklichen Ecclesia Spiritualis bei dem „ wahren Siegeszug des Reiches “ nur um ein geistiges Reich gehen. Es ist jenes Reich, von dem im Evangelium Matthäus, Kapitel 6, Vers 13 die Rede ist, der da lautet: „ Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit. “ Es ist der Begriff jenes Reiches, das am Gipfel des Sephirotbaums der jüdischen Mystik als oberste Sephira „ Malchut “ (oder Malkut) in Erscheinung tritt. Einer weiten christlichen Öffentlichkeit ist dieser Reichsbegriff darum bekannt, weil er im letzten Vers des „ Vaterunser “ steht. Ganz wie bei Beatrice, die im allerletzten die gnostische Sophia bezeichnet, geht es auch beim Begriff des „ Reiches “ um ein jenseitiges Reich, das in der materiellen Welt nicht wirklich existiert, das aber wohl in der geistigen Welt verwirklicht werden kann und um das es auch in der „ Geistkirche “ geht. 88 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="107"?> Damit hängt es letztlich auch zusammen, daß alle drei Gesänge der Commedia mit dem Wort „ Sterne “ enden. Auch das hat keineswegs in erster Linie, wenn überhaupt, mit der empirischen Wirklichkeit astronomischer Erkenntnisse zu tun. Schon in vielen alten Formen der Gnosis war diese nicht der wissenschaftlichen Kosmologie, wohl aber einer mythischen Kosmogonie verbunden. In dieser Hinsicht waren für die Templergnosis wie für Dante die Gestirne von größter Wichtigkeit. 56 In Dantes Templergnosis verhält es sich nun so, daß die zeitgenössischen ptolemäischen Vorstellungen vom Kosmos viel leichter und unmittelbarer mit Astrosophie und sogar auch Astrologie zu verbinden waren als die naturwissenschaftlichen Einsichten der Moderne. Der Kosmosexperte Ptolemäus selbst saß ja nicht hinter einem Superfernrohr, sondern war selbst ein Gnostiker. Seine dreizehn Bücher zur Mathematik und Astronomie, die am bekanntesten unter dem Namen der arabischen Übersetzung Almagest sind, waren wie auch seine Planetenhypothesen bis zum Ausgang des Mittelalters ein weltweit akzeptiertes Standardwerk, auch wenn die modernen Astronomen später bitterböse auf ihn gewesen waren und bereits Tycho Brahe sogar von „ Betrug “ gesprochen hat. Dante hat das umfassende ptolemäische Weltbild in seine eigene Ordnung eingebaut, indem er es in den Dienst der geradezu unglaublich durchkomponierten Architektur seiner Commedia gestellt hat. Für Dante stellte dieses Weltbild im Grunde nur eine Art äußerliches Gerüst dar, an dem er die philosophischen, künstlerischen, politischen und religiösen Werte und ihre von ihm gestaltete Ordnung gleichsam festmachen konnte, um sie in Form eines makrokosmischen Systems zu koordinieren und zu konstituieren. Das entscheidende Wesen seiner grandiosen Totalitätsordnung beruht auf der Ordnung dieser Werte und nicht auf der Großartigkeit des äußeren und äußerlichen Gerüsts, an dem er sie montiert hatte. Unabhängig von all den jeweiligen astronomischen Erkenntnissen dienten ihm seine Planetenbahnen als äußere Zeichen einer hinter allem waltenden einheitlichen Kraft und Ordnung, die ihm als positiver Gegenpol zu dem von den Menschen gestifteten Chaos diente. In dieser Hinsicht hatte er in einer zeitlosen Weise recht, wenn es gleich im Ersten Gesang der Hölle an der Stelle, an welcher der im Wald des Tals verirrte Dante seinen Blick auf einen Hügel und darüber hinaus richtet und urteilt: Blickt ich empor und sah schon hingebreitet Auf seinen Schultern des Planeten Strahlen, Der uns auf jedem Wege richtig leitet. 56 Wenn ein Historiker die Wichtigkeit der Gestirne für die Templer mit dem Argument bestritten hat, daß keinerlei astronomische Meßinstrumente nach den Verhaftungen gefunden wurden, dann zeigt dies nur seine ganz ungeheure Ahnungslosigkeit über die Templergnosis. 89 Die templergnostische Commedia und ihr Aufbau <?page no="108"?> Gewiß ist mit des „ Planeten Strahlen “ im Vers 17 des Ersten Gesanges der Hölle die Sonne gemeint. Das ptolemäische Weltbild der Zeit Dantes hat angenommen, daß auch die Sonne ein Planet sei, der um die Erde kreist, die den Mittelpunkt des Kosmos darstellt. Aber diese Feststellung ist im Kontext, worum es hier geht und im Hinblick auf die Frage, was Dante hier sagen möchte, völlig irrelevant. Er bereitet uns hier auf seine Weltschau vor, nach welcher der Körper der Erde zugehört, die Triebseele dem Planetenkosmos und der Geist der höchsten Sphäre, dem überkosmischen Feuerhimmel Gottes. Ob das ptolemäische Weltbild daneben weiter stand oder fiel, war völlig bedeutungslos. Und daß die Sonne uns durch ihr Licht richtig leitet, bleibt eine Tatsache, gleichgültig ob man sie als Planet oder als Zentrum eines heliozentrischen Systems betrachtet. Die naturwissenschaftliche Erkenntnis verändert sich infolge des wissenschaftlichen Fortschritts ohnehin permanent. Die metaphysische Festlegung einer Dreiheit von Erde, Planetenkosmos und Feuerhimmel bleibt davon unberührt. Aber Dante legt schon aus Gründen der gnostischen Tradition größten Wert auf die Kosmogonie und so setzt auch der Zweite Gesang des Läuterungsberges mit folgendem Bild der Schönheit des anbrechenden Morgens ein: Der schöne Stern, der Liebeslust entzündet, Ließ lächeln rings den Osten, daß ein Schleier Die Fische hüllte, die ihm eng verbündet. Da der Jenseitswanderer jedoch seinen Blick dem anderen Pol zuwendet, erblickt er „ vier Sterne “ . Es sind die von Ptolemäus beschriebenen Sterne aus dem Kreuz des Südens, die sinnbildlich für die vier Kardinaltugenden stehen: Klugheit, Gerechtigkeit, Mäßigung und Starkmut. Einer Anspielung darauf, daß nur Adam und Eva im paradiesischen Stand der Unschuld alle vier dieser hohen Tugenden in vollem Umfang besaßen, folgt der Hinweis, wie das Angesicht eines Greises vom Glanz dieses „ Vierergestirns “ umflossen ist, wodurch zugleich mit den vier hohen Tugenden, die ihn auszeichnen, die Einbettung menschlicher Eigenschaften und Handlungen in alles umgreifende astrale Kräfte zum Ausdruck gebracht wird. Aber das ist bereits Astrosophie. Es geht indessen auch nicht nur um eine herrliche dichterische Beschreibung des Ostermorgens, sondern dieser Auftakt des Läuterungsbergs dient der Einführung des Mannes, welcher von Dante zum Hüter des ganzen Läuterungsbergs gemacht wird und das ist Cato von Utica. Für jenen Greis wird dieser Auftakt inszeniert und er ist es, der von den Strahlen des Vierergestirns aus dem Kreuz des Südens umstrahlt wird, das für die höchsten Tugenden der Menschheit steht. Aber ist Cato von Utica nicht ein alter Römer, ein ungetaufter Heide und zudem noch ein Selbstmörder? Nun hat Dante zwar „ Heiden “ , denen die Erlösung durch die Taufe noch nicht gewährt war, in der Sonderabteilung des Limbus untergebracht, wo sie nicht leiden müssen, aber auf dem Läuterungsberg befinden sich bereits selige Seelen mit der Hoffnung und dem Anrecht auf das 90 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="109"?> Paradies. Doch auch der Limbus gehört noch zur Hölle. Und Selbstmörder gehören in einen der tiefsten Kreise der Hölle. Wie kann der für seine strenge und objektive Gerechtigkeit so berühmte Dante einen Mann, der doppelt in die Hölle gehört, zum Hüter des ganzen Läuterungsbergs machen? Weil er Ausnahmen macht. Er macht sie nicht aus subjektiven Gründen, sondern weil es zur selben kompromißlosen Gerechtigkeit gehört, dort Ausnahmen zu machen, wo sie gemacht werden müssen. Es gibt kein fundamentales geschlossenes System, das für alle menschlichen Möglichkeiten feste und ewig richtige detaillierte Kriterien besitzt. Notwendige Ausnahmen gehören zum Wesentlichen dieser Gerechtigkeitslehre, und das besonders krasse Beispiel Catos soll dies besonders nachdrücklich klarstellen. Hier mußte der Sohn der freien Stadtrepublik Florenz Dante geradezu eine Ausnahme machen. Denn Cato der Jüngere hatte den Freitod gewählt, als es mit der freien Republik Rom in einer letzten Schlacht zu Ende gewesen war und die Diktatur des römischen Kaiserreichs unabwendbar feststand. Er wird nicht verdammt, sondern gefeiert, weil es die Freiheit war, die er über das Leben gestellt hatte. So aber strahlt nicht nur der Glanz des Vierergestirns auf sein Antlitz herab, sondern strahlt nicht minder der Glanz seines Inneren zu diesem Gestirn empor als ein Zeichen, daß er in größte astrale Ordnungen eingebettet ist. Auch im dritten Teil der Commedia, dem Paradies, beginnt der Erste Gesang sofort gleichsam mit einem Paukenschlag. Hier ist ganz zuerst vom strahlenden Licht der Glorie Gottes im Himmel die Rede. In den Versen 38 bis 45 verbindet er jene Leuchte des Weltalls mit der astronomischen Beschreibung eines bestimmten Sonnenstands. Im Frühlingsäquinoktium, wenn die Sonne im Zeichen des Widders steht, schneiden sich drei Hauptlinien des Himmelsgewölbes: der Äquator, die Ekliptik und der Äquinoktialkolur. Dazu kommt noch bei Sonnenaufgang der Horizont. Dieser bildet mit jeder der drei anderen Linien ein Kreuz. Das bedeutet, daß nach der Darstellung Dantes am Läuterungsberg gerade die Sonne aufgeht. Daraus kann man den Schluß ziehen, daß Dante den Nachmittag und die Nacht im irdischen Paradies zugebracht haben muß. Wenn ein später Kommentator 57 das als „ umständliche astronomische Berechnung “ rügt, dann versteht er die großartige dichterische Komposition der Commedia nicht, die mit jedem ihrer drei Teile mit einer Eingliederung des Gesamtgeschehens in der Astralsphäre der Gestirne beginnt und endet. Der tiefere Sinn dieses Bauprinzips liegt darin, daß alles in den Kontext der einen, großen makrokosmischen Ordnung gestellt wird, die dem von den Menschen gestifteten und im Detail beschriebenen Chaos als eine Art göttliches Gesetz gegenübersteht. Der am Beginn des Läuterungsberges auftretende Cato korrespondiert direkt mit dieser großen Ordnung. 57 Constantin Sauter in seinen „ Anmerkungen zum Paradiese “ in der Ausgabe der Göttlichen Komödie in der Übertragung Richard Zoozmanns, Freiburg im Breisgau 1921, S. 631 91 Die templergnostische Commedia und ihr Aufbau <?page no="110"?> Diese Eingliederung der Stellung Dantes am Anfang des Paradieses am Morgen des Donnerstags der Osterwoche lautet: Den Sterblichen steigt aus verschiedner Mündung Des Weltalls Leuchte auf; doch wo drei Kreuze Sich treffen in vierfacher Kreise Ründung, Kommt sie mit besserm Stern, in besserm Gleise Vereint hervor, das Erdenwachs erwärmend, Und gibt ihm Prägung mehr nach eigener Weise. Fast machte jenseits Morgen, diesseits Abend Solch Sonnenstand, versilbernd ganz den einen Halbkreis und jenen schon in Nacht begrabend . . . Dante sieht Beatrices Blick direkt in die Sonne gerichtet und blickt darauf auch so direkt in die Sonne, wie er es niemals auf der Erde zu tun vermocht hätte. Doch hier vermag er es, da er an seinem Standort auch eingegliedert ist in die größere kosmische Harmonie. Während Dante am Beginn der Hölle und des Läuterungsberges dem alten Topos folgend die Musen um Hilfe anruft, damit es ihm gelänge, seine Schilderung eindrucksvoll und großartig zu gestalten, wendet er sich am Beginn des Paradieses direkt an Apollo, den zuständigen Gott und eine Art höherer Instanz über allen Musen. Obwohl Dante sein Siebenstufenuniversum in ein Neunstufenuniversum erweitert hatte, hat er im Wesentlichen das symmetrische System des Neuplatonikers Macrobius übernommen. Dieser hatte die neun Musen als kosmische Intelligenzen mit der Sphärenharmonie und ihrem himmlischen Klang zusammengestellt. Apollo als einer Art Leiter der Musen kommt hier auch die Funktion eines Leiters der Sphärenharmonie zu. Der Fixsternhimmel ist in das Ganze mit eingebunden und die planetarische Darstellung sichert die makrokosmische Ordnung, innerhalb deren sich die Jenseitswanderung vollzieht. Für Dante existierte eine feststehende große Ordnung des ganzen Universums, in dessen Mittelpunkt die Erde ruhte. Rings um die Erde kreisten sieben Planeten, über denen sich der Fixsternhimmel wölbte. Jenseits von diesem begann der unsichtbare Kristallhimmel, und das Ganze war umgeben vom Empyreum, dem Sitz des göttlichen Ursprungs von allem. Im Grunde aber lebte alles. Intelligenzen wie die Engel hielten alles in Bewegung und führten die aus dem Göttlichen stammenden Urbilder in die Materie hinunter. Von der Kraft der Bewegung des Lebens fließt das Bewegte durch die Sphären bis in die Materie hinunter, die wie in aller Gnosis das Gegenteil des Geistigen darstellt. Die oberen Sphären kreisen in tiefer Liebe um das Göttliche, die anderen Sphären streben nach Verwirklichung der nächst höheren Sphäre. Alles strebt in konstantem Eifer nach dem Erreichen der höchsten Vollkommenheit, dem Göttlichen. Jede einmal erreichte Stufe ist nicht Endziel, sondern Übergang zur nächsthöheren Stufe. 92 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="111"?> Für die Seelen, denen es gelang, sich völlig von der Materie zu lösen, war die Belohnung der Himmel. Allerdings gab es Unterschiede der jeweils erreichten Vollendungsstufe, je nach persönlichem Verdienst. Das bedeutete verschiedene Grade von Seligkeit. Diese inneren Gradunterschiede wurden von Dante äußerlich in den verschiedenen Gesängen des Paradieses aufsteigend eingeteilt. In der Dante-Literatur werden für dieses im Grunde neuplatonische Modell etliche Einflüsse genannt: neben Plotins Enneaden auch Platons Timaios, das Werk Über die himmlischen Hierarchien des sogenannten Pseudo-Dionysos, Richard von St. Viktor und noch andere. Albertus Magnus war einer der Kommentatoren des Werks des Pseudo-Dionysos gewesen, der selbst wieder vom Neuplatoniker Proklos sowie von den Kirchenvätern Clemens von Alexandrien und Origines herkam. Die beiden letzteren waren wichtige Hauptquellen der Gnosis. Die meisten rein gnostischen Schriften selbst waren der Vernichtung durch die Kirche zum Opfer gefallen. Verschont geblieben waren freilich diejenigen Schriftrollen, die von den ersten Templern in Jerusalem ausgegraben worden waren. Sie wurden zwar nicht veröffentlicht, aber zumindest wesentliche Teile davon waren dem Templeradepten Dante wohl vertraut. Schon in der alten, frühchristlichen Gnosis gab es ein solches Stufenreich des Kosmos, das gleichfalls über die irdische Grenze hinaus in eine übersinnliche Seite des Göttlichen führte. Genauso wie für den templergnostischen Kosmos des Dante ging es dabei nicht einfach um eine rationale Konstruktion, sondern um lebende, persönliche Kräfte und Mächte, die nicht nur höher standen als der irdische Mensch, sondern die auch innerhalb des irdischen Kosmos einen höheren Platz einnahmen als der Mensch. Nach dieser Vorstellung lebten körperlose Seelen in der Luft, deren Sphäre bis zum Mond reichte. Die noch höheren Geister, die sich auch vom Seelischen gelöst haben, steigen aus der sublunaren Sphäre in eine noch höhere Sphäre empor, die aus dem fünften Element nach Erde, Wasser, Feuer und Luft besteht, nämlich aus „ Äther “ . Sogar auch noch darüber weiter jedoch existiert das Reich der reinen Geister, das weiter und umfassender ist als der vom Himmel umschlossene Kosmos, eine Art Empyreum. Dieses wird von nichts weiterem mehr umschlossen. Diese Jenseitsvorstellungen Dantes lassen sich kaum von den in der damaligen Zeit offen bekannten gnostischen Ideen bei Clemens von Alexandrien, Origines, dem Pseudo-Dionysius und der geretteten Pistis Sophia allein herleiten, sondern deuten auf noch andere Quellen hin wie Schriftrollen, welche die neun Urtempler auf dem Tempelberg ausgegraben hatten. Die gnostischen Schriftrollen, die vor der Zerstörung des Tempels durch die Legionen des Tiberius vergraben worden waren und die von den neun ersten Templern geborgen worden sind, basierten auf derselben Grundlage, was eine echte Parallele zu den Jenseitsvorstellungen Dantes bedeutete, die keineswegs auf die gnostischen Überlieferungen durch Clemens von Alexandrien, Origines, dem Pseudo-Dionysos und die gerettete Pistis Sophia beschränkt waren. 93 Die templergnostische Commedia und ihr Aufbau <?page no="112"?> Als Grundgedanken findet sich freilich manches noch früher. Schon Plato beschrieb im Phaidon und Phaidros Orte für die Präexistenz menschlicher Seelen und manche gnostische Ideen finden sich bereits in seinem Timaios. In einem gewissen inneren Zusammenhang mit dieser kosmogonischen Theorie steht die Zahlensymbolik Dantes. Nach der Meinung Beninis geht es dabei vor allem um die Zahlen-Paare 3 und 9, 7 und 22, sowie 515 und 666. 58 Abgesehen davon, daß in der Reihe die für Dante besonders wichtige Zahl 13 fehlt, gibt es bei ihm auch symbolische Zahlenkombinationen, die den Zahlen- Buchstaben Konstruktionen des Gnostikers Markos oder der Pistis Sophia in nichts nachstehen. Daß jede Terzinen-Strophe aus drei Versen besteht, die Commedia aber drei mal 33 Gesänge plus einen als Komposition hat und der eine da sein muß, damit über die Symbolik von 3 zuletzt auch 100 herauskommt, eine Zahl, die für die Vollkommenheit steht, ist bekannt. Die symbolische Dreizahl legt sich aber von der äußeren Form der Anzahl von Versen und Gesängen auch um auf den Gehalt der Dichtung. Denn so wie fast immer die Mysterien-Einweihung dreiteilig war, von den eleusinischen Mysterien bis zur Mystik des Mittelalters, so war dies auch bei der Gnosis der Fall. Schon in der antiken und frühchristlichen Gnosis wurden deshalb drei Typen von Menschen unterschieden: die Hyliker, die durch körperliche Bindung in ihrer Entwicklung behindert waren, die Psychiker, die noch seelisch verhaftet waren, und schließlich die Pneumatiker, die bereits vergeistigt waren, wenngleich in verschiedenen Graden. Dem entsprechen weitgehend die Insassen von Dantes Hölle, Läuterungsberg und Paradies. Es gibt indessen weit komplexere Kombinationen, etwa den Dreißigsten Gesang des Läuterungsbergs, Vers 73, die einzige Stelle, an der Beatrice-Sophia sich selbst nennt. Der Vers stellt die genaue Mitte des Gesanges dar. Vor dieser Stelle wie nach ihr hat er je 72 Verse, deren Ziffernsumme je 9 ergibt, die symbolische Zahl Beatrices, die in der Vita Nuova sogar einmal die „ Neun “ genannt wird. Nicht zufällig besteht die Neun aus 3 mal 3. Beatrices Existenz ist ein Wunder der göttlichen Dreifaltigkeit. 58 Rodolfo Benini: Per la restituzione della Catica dell ’ Inferno alla sua forma primitiva. In: Nuovo Datto, September bis November 1921, S. 506. Vgl. auch Rodolfo Benini: Scienza, religione ed arte nell ’ astronomia di Dante. Rom 1939. Vgl. auch Robert John, op. cit., S. 151 - 173 und Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 48 und 73. Was 666 betrifft, so ist die ursprüngliche Quelle die Offenbarung des Johannes. Dante war durch die antipäpstliche Auslegung des Mittelalters von Joachim von Fiore und Ubertino von Casale beeinflußt. Für Ubertino war Bonifaz VIII. das erste apokalyptische Tier und Clemens V. sein Fortsetzer. Für Dante war Clemens V. der Hauptschuldige als Usurpator seines Amtes, durch die Kanonisierung von Coelestin V. und besonders durch die Vernichtung des Templerordens. Vgl. Otto Becher (Hg.): Die Johannesapokalypse, Darmstadt 1998. S. 84 - 87 94 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="113"?> Es geht aber noch viel weiter: Die Ziffernsumme des Verses 73 ist die kleine Zahl der Vollkommenheit, nämlich zehn. Zugleich damit ist der 30. Gesang der Commedia der 64. Gesang des ganzen Werks. 63 Gesänge gehen ihm voraus, 36 folgen ihm nach. Das heißt, daß das Verhältnis der Zahlen innerhalb des 30. Gesanges des Läuterungsbergs dieselbe ist wie die Zahl der Gesänge im Verhältnis zum Ganzen des Werks: 7 plus 3, nämlich 10, eingerahmt von 6 plus 3 sowie 3 plus 6, also wieder Beatrices Zahl 9. 59 Wie das mit der Gnosis zusammenhängt, zeigt das Beispiel des Gnostikers Ptolemäus, nach welchem es drei Himmel gibt, den abgestuften Planetenhimmel, die Sphäre des Fixsternhimmels und die allerhöchste des Kristallhimmels, die sich alle bewegen und je nach ihrer Stellung zueinander ihre Wirkung auf die Erde ausüben. Die Drei erschafft aus sich heraus die Neun und ist als Sinnbild von Vater, Sohn und Geist eine Zahl der Schöpfung. Beatrice aber, deren Zahl die Neun bildet, ist auch insofern mit der Neun verbunden, als sie die neun Himmel und die neun Hierarchien der Engel versinnbildlicht. Ganz besonders aber stand Beatrice für die Templergnosis, da neun auch deren esoterische Zahl gewesen ist. Wie die ersten neun Pythagoräer Gründer des pythagoräischen Bundes waren, so waren die ersten neun Templer die Gründer des Ordens. Neun Jahre trugen sie säkulare Kleidung, ehe sie formal ein Orden wurden und die weißen Mäntel trugen. Die Templer-Regel des Bernhard von Clairvaux kannte neun Gründe, die zum Ausschluß eines Ritters führen konnten, der daraufhin Zisterzienser wurde. Wie bei der Gründung waren es auch neun Ritter, die beim Konzil von Vienne auftraten, um im Namen des Ordens ein rechtmäßiges und richtiges Verfahren für die Verurteilung des Ordens zu fordern. Plotin, dessen Neuplatonismus einen wichtigen Baustein der Templergnosis bei Dante bildete, hat sein Hauptwerk, die Enneaden, nach der Zahl Neun benannt, weil alle sechs Traktate des Buches in je neun Abschnitte gegliedert sind. Was aber die Zahl 13 betrifft, so hat Robert John ihr zwei ganze Kapitel in seinem Buch widmen können. Das alles aber ist nicht eine müßige Spielerei, sondern verfolgt die Absicht, im gnostischen Sinn eine große göttliche Ordnung zu veranschaulichen, wie sie im Zahlenverhältnis ihren sichtbaren Ausdruck findet. Darum bildet die Zahlensymbolik bei Dante auch direkt ein ordnungsstiftendes Prinzip für sein kosmogonisches Modell. Das zeigt die grandiose Weltschau, die Beatrice am Ende des Läuterungsbergs gibt. Im Unterschied zum Modell der alten Gnostiker treten hier Intelligenzen von Engeln hinzu, welche die Bewegung der Planetensphären in Schwung halten und ihnen zugleich Leben einatmen, da sie es sind, die das Abwärtsströmen der göttlichen Kräfte zum Menschen hin bewirken. Die Planeten schwingen in vielfältigem Rhythmus je 59 Vgl. A. Earle: Dantes Vita Nuova. In: Quarterly Review. July 1896, S. 24 ff. 95 Die templergnostische Commedia und ihr Aufbau <?page no="114"?> nach der von den Fixsternen empfangenen Kraft mit ihrem eigenen Wesen in verschiedene Richtungen. Indem die Intelligenzen der Engel die göttliche Kraft von oben an die Menschen unten weitergeben, verhalten sie sich wie der Schmied zum Hammer und zum gehämmerten Werk. Die göttliche Urkraft selbst im Empyreum vertausendfacht ihre Güte, die sich durch alle Sterne entfaltet. Die einzelnen Ausstrahlungen der Kraft verbinden sich mit der Quintessenz, aus welcher die Sterne bestehen. Es ist jene mannigfaltige Wirkungskraft, die von den Engeln und deren heiter strahlenden Natur stammt, durch welche die Sterne leuchten wie die Freude im Auge des Menschen. Dieselben Ursachen haben auch die Mondflecken. Wenn aber ein Kommentator in seinen Erklärungen der Commedia Dante den Vorwurf macht, er hätte den Läuterungsberg „ zum Lehrtraktat erniedrigt “ , indem er in die Dichtung „ Probleme drängt, die nur für die Spitzfindigkeiten der Zeitgenossen von Bedeutung sein konnten “ , und solcher Art sei auch „ das Problem von den Mondflecken “ , dann hat er selbst Dante nicht ganz richtig verstanden, und das, obwohl er selbst tatsächlich recht genau Bescheid weiß „ über die ganze Armseligkeit einer philosophisch und metaphysisch uninteressierten Zeit “ , die sich seit seinem Kommentar von 1921 nur noch vergrößert und verschlimmert hat. 60 Freilich war ein gewisses Ausmaß an Lehre auch notwendig, wo es doch um Ordnungsstiftung ging. Im Hinblick auf die staatliche Ordnung, die in der Commedia durch den Adler versinnbildlicht wird, hat Dante seine Lösung in detaillierter Weise in seinem lateinischen Werk De Monarchia niedergelegt. Obwohl seine Ideen natürlich auch in seiner Dichtung verankert sind, wurden sie doch erst völlig zur Kenntnis genommen, als dieses Werk nach seinem Tod veröffentlicht worden ist. Diese Veröffentlichung hat vor allem in der Kirche Aufregung und Empörung ausgelöst. Papst Johannes XXII.. ernannte sechs Jahre nach Dantes Tod einen eigenen Inquisitor, den Fra Accorso, um „ die Pest der Ketzerei in der Toskana “ zu untersuchen. Der Kardinallegat Betrando del Poggeto ließ das Werk in Bologna als ketzerisch verbrennen. Schließlich wurde es noch sehr spät, nämlich 1554, auf den römischen Index gesetzt, von dem es erst 1903 durch Papst Leo XIII. wieder gestrichen wurde. Dantes Gebeine, die mit knapper Not der Exhumierung und Verbrennung entgangen waren, wurden übrigens 1921 ausgegraben und anthropologisch untersucht. 61 Dabei stellte sich heraus, daß die Beschreibung durch seinen ersten Biographen Boccaccio sehr genau gewesen war. „ Die Linien des Schädels und der Stirn, die Nasenform, die Wölbungen der Augenbrauen und Augenhöhlen, der 60 Constantin Sauter hat von 1880 - 1941 gelebt. Vgl. seine Erklärungen zu Dante, Die Göttliche Komödie, op. cit., S. 40 und 396 61 Vgl. Fabio Frasetto: Dantis Ossia. Bologna 1933 96 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="115"?> Backenknochen und des Hinterkopfs haben Boccaccios so wundervoll gezeichnetes Bild voll und ganz bestätigt. “ 62 Der Gesamtbauplan der Commedia scheint durch lange Zeit nicht wirklich überzeugend dargelegt worden zu sein. Der Haupt- und Angelpunkt dabei war der Bezug des zwar auch dichterisch, jedoch dichterisch realistisch geschilderten Moria-Hügels als Berg des Heils im allerersten Gesang der Commedia zu dem ihm adäquaten, doch dichterisch symbolisch - Dante würde sagen anagogisch - geschilderten Läuterungsberg. Über den Hügel des Heils hat es aber in der Danteforschung so lange einen unentschiedenen Streit gegeben, daß ein französischer Forscher einmal, im Jahr nach Dantes sechshundertstem Todestag, scherzhaft gemeint hat: Wenn der Streit darüber in sechs Jahrhunderten nicht beigelegt werden konnte, würde man wohl auch in weiteren sechshundert Jahren nicht imstande sein, das Problem zu lösen. 63 Nun bin ich fest überzeugt davon, daß bereits fünfundzwanzig Jahre nach Dantes sechshundertstem Todestag die Lösung des Problems Robert John gelungen ist. Darum steht hier am Schluß des Kapitels eine knappe Darstellung des entschlüsselten Gesamtbauplans, gefolgt von Dantes eigener Warnung vor den Schwierigkeiten des Verstehens. Nach John geht es in der Gesamtdichtung um Dantes Sicht des Erkennens der Notwendigkeiten, welche das irdische wie das jenseitige Heil des Menschen sicherstellen können. Das heißt, es geht um den Weg zu universalem Frieden und in Freiheit einerseits und hin zur göttlichen Kontemplation andererseits. Aus seiner Zeit heraus hat Dante dies unter die Sinnbilder des Kreuzes für das religiöse und des Adlers für das staatliche Leben innerhalb eines ptolemäisch konstruierten Makrokosmos gestellt. Es ist kein Zufall, daß eines der Siegel des Großmeister des Templerordens einen Adler über einem Kreuz zeigt als Sinnbild voll hergestellter Harmonie zwischen beiden, einer Harmonie, die über jene zwischen der Seite des kriegerischen Ritterordens und jene des geistlichen Mönchsorden weit hinausgeht. Die dem Diesseitigen und Gesellschaftlichen untreu gewordene Menschheit, der auch der Parteimann und Stadtprior angehörte, wollte zur Pax Universalis auf den Berg des Heils empor, ohne das Hindernis der eigenen Schuldverstrickung überwunden zu haben. Das stellt der Eingangsgesang dar, in dem die drei wilden Tiere dem Wanderer den Weg auf den Berg des Heils verstellen. Der direkte Weg vom Tal Josaphat zum Tempelplatz ist kurz, aber steil und ist Dante vor allem durch die magere, gefräßige Wölfin unzugänglich. Vergil zeigt ihm darum einen anderen, sehr viel weiteren Weg, der aber trotzdem zum Ziel führt. Er muß allerdings durch die ganze Hölle, sodann durch den Lethe-Schacht bis an den Fuß des Läuterungs- 62 Friedrich Schneider: Dante. Weimar 1947, S. 182. 63 Alexandre Masseron: Les énigmes de la Divine Comédie. Paris 1922 97 Die templergnostische Commedia und ihr Aufbau <?page no="116"?> berges und von hier weiter empor zum symbolischen Tempelplatz. Auf diesem findet Dante, was ihm durch den verhinderten direkten Aufstieg zum irdischen Tempelplatz in Jerusalem verwehrt worden war: die Glückseligkeit der Vita Activa in Gestalt der Donna Matelda und den Frieden. Der Läuterungsberg ist einerseits nur die symbolische Stellvertretung des Berges des Heils, andererseits aber auch das Medium der Verwirklichung des Erreichens des Gipfels des Berges des Heils. 64 So aber, wie der Berg des Heils, Moria-Sion, seine Entsprechung im Läuterungsberg besitzt, so hat der irdische Tempelplatz seine Entsprechung im Paradiso Terrestre. Hier, auf dem symbolischen Tempelplatz des Paradiso Terrestre findet Dante mit Hilfe seiner drei Begleiter Donna Matelda, Vergil und Statius den Platz, auf dem er Beatrice begegnen wird. Und hier, auf dem symbolischen Tempelplatz des Paradiso Terrestre hat Dante am Schluß des Einunddreißigsten Gesanges des Läuterungsbergs sein tiefstes irdisches Erlebnis durch die Entschleierung des Gesichts von Beatrice. Das Wegziehen des Schleiers deckt nämlich zwei Begriffe gleichzeitig ab: Entschleierung und Offenbarung. Das Sinnbild der Entschleierung steht für die Tatsache der Einweihung. Nachdem Beatrice ihr Antlitz entschleiert hat und am Beginn des Zweiunddreißigsten Gesanges ihr Blick und ihr Lächeln ihm ganz im Sinn neuplatonischer Philosophie den Beweis und die Festigkeit der Überzeugung gibt, daß ihm nunmehr der direkte Aufflug mit ihr gemeinsam in das Reich der Sterne und damit ins endgültige Jenseits des Paradieses gelingen werde, wird das tiefste Erlebnis auf dem symbolischen Tempelplatz zum zweittiefsten, gemessen an dem, was ihn am Ende des Ganges durch das Paradies erwartet. Robert John hat auch gezeigt, wie der Dichter durch die Darstellung von Dantes Auffinden des Platzes des Sündenfalls und gleich darauf des Platzes von Christi Sieg über die Versuchung durch Satan den symbolischen Tempelplatz nicht nur zu einem geographisch antipodischen, sondern auch zu einem metaphysisch antipodischen Platz gemacht hat. Von hier wird der Aufflug zum Paradies erfolgen, in dem zuerst Beatrice seine Führerin sein wird, bis im Einunddreißigsten Gesang kein geringerer als Bernhard von Clairvaux die Führung übernimmt. Das Mißverständnis des Verhältnisses des Moria-Berges zum Läuterungsberg aber hing mit einem Problem der Deutung zusammen, auf das Dante selber in seinem Convivio warnend hingewiesen hat. Dante hat in seinem berühmten Widmungsschreiben, in welchem er das Paradiso seinem Gastgeber, dem Fürsten von Verona Can Grande della Scala dedizierte, darauf hingewiesen, daß sein Werk nicht einfach einen einzigen bestimmten Sinn besitzt, sondern mehrsinnig ist. Und in seinem Convivio hat er vier Arten von Bedeutung, denen vier verschiedene Arten von Verstehen entsprechen, statuiert. Die erste Art ist die einfachste, die direkte, äußerliche 64 Einige wichtige Details finden sich bei Robert John, op. cit., S. 193, Zeile 16 - 30 98 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="117"?> und wörtliche Bedeutung. Die zweite Art ist die allegorische, die auch zu Tage fördert, was sich unter der Hülle allegorischer Bilder in den Sätzen verbirgt. Die dritte Art nennt Dante die moralische, die dem Leser den Sinn der Dichtung im Hinblick auf seinen Nutzen und das Ethische offenlegt. Die vierte Art aber nennt Dante die anagogische, die auch jenes Verborgene der Sätze erkennt und eröffnet, das sich auf jenseitige und esoterische Dinge bezieht. 65 Zu allerletzt sei ein Blick auf die universale und gesamtmenschheitliche Gültigkeit der Commedia geworfen, die einmal ein „ Weltgedicht “ genannt worden ist und ein anderes Mal als Erfüllung von Dantes „ Weltmission “ apostrophiert wurde. Schon im Ersten Gesang in der Schilderung Beatrices umgreift sie einen Weltkosmos. Die Templergnosis hatte eine allumfassende Logos-Religion entwickelt. „ Anstelle des Ausdrucks ‚ Kirche ‘ verwendeten die Templer die Bezeichnung ‚ Tempel ‘ , um auf jene umfassende Logos-Religion hin zu weisen. “ 66 Die gnostische Gesamtgrundlage des ganzen Epos beruht darauf, daß Dante einerseits den einzelnen abgestuften Sünden des Höllenkreises reziproke Stufen der Tugenden der Nikomachischen Ethik von Aristoteles zugrunde legt, andererseits aber umgekehrt der Stufenfolge der Tugenden auf dem Läuterungsberg reziproke Stufen der sieben katholischen Todsünden. Es ist der dualistische Gegensatz der Gnosis, der den Gesamtaufbau der Struktur der Commedia bestimmt und die gegenseitige Abhängigkeit und Bezogenheit von Gut und Böse sichtbar macht. Im Paradies ist sodann dieser dualistische Gegensatz durch ein Neues, Höheres, allumfassendes Eines überwunden. Die Trennung von Gut und Böse hat ja im ursprünglichen Paradies erst mit Evas Apfelbiß begonnen und wird demgemäß auch im künftigen, wiedererrungenen Paradies aufgehoben. Aus diesem Grund sind auch die Seelen in Dantes Paradies von einer ganz anderen Konstitution als jene in der Hölle und auf dem Läuterungsberg. Die Templer waren sich bewußt, und die Geschichte der letzten sechshundert Jahre hat sie bestätigt, daß die paulinische (römische) Linie voll von unlösbaren Problemen war, die im Jahr 1311 nur mit Hilfe der Gewalt der dominikanischen Inquisition und der französischen Polizei unter den Teppich gekehrt werden konnten. Aus dieser Einsicht heraus erklärt sich Dantes für manche so unverständliche und selbstsichere Zukunftshoffnung auf ein Wiedererstehen und einen endgültigen Sieg des Tempels. Dantes Templergnosis seiner Commedia ging es wie fast aller Gnosis um eine Freilegung der Erkenntnis des Jenseitigen, verbunden mit der Grundidee aller Mysterienkulte, die damit eine Einweihung des Jüngers in verborgenes Wissen organisierten, wodurch er einen rechten Weg zunächst durch das Diesseits und sodann ins Jenseits durch dessen geistige Bewußtmachung finden sollte bis zur 65 Vgl. Joseph Strelka (Hg.), Anagogic Qualities of Literature, op. cit. 66 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 22 99 Die templergnostische Commedia und ihr Aufbau <?page no="118"?> letztmöglichen ekstatischen Schau des Göttlichen. „ Dies war das Ziel der jüdischen Gnosis, der Kabbala, wie der islamitischen des Sufismus oder des häretischen Gnostizismus etwa eines Markion, Mani oder sonstigen Häresiarchen der christlichen Frühzeit. “ 67 Obwohl die Gnosis vom reinen Neuplatonismus grundsätzlich verschieden war, kam es immer wieder zu häufigen und engen Vermischungen mit antiken und neuplatonischen Elementen. Die gnostische Jenseitswanderung Dantes in der Commedia vollzog im Grunde einen besonders ausführlichen und vollkommenen Einweihungsweg. Gegen Schluß erblickt Dante denn auch - geführt von Beatrice - den göttlichen Widerschein, den er direkt, in mystischer Schau erfährt: Droben ist Licht, davor die Hüllen schwinden Der Schöpfer dem Geschöpfe läßt, das einzig In seinem Anschaun kann den Frieden finden. 68 Zu den letzten Worten aber, die Dante an Beatrice richtet, gehören die Verse: Du zogst zur Freiheit mich aus Knechtsbezirken Durch alle jene Wege, jene Mittel, Die Macht besaßen, solches zu bewirken. 69 3. Dantes Hölle Der Erste Gesang des Ersten Teils der Commedia, die „ Hölle “ , ist ein Einführungsgesang in die Gesamtdichtung, der schildert, wie es zu der grandiosen Traum-Jenseitswanderung überhaupt gekommen ist, sowie zu welcher „ Zeit “ und an welchem „ Ort “ die Traumwanderung stattgefunden hat. Dante findet sich - vom rechten Weg abgewichen - verirrt, plötzlich in einem wilden, wüsten und dunklen Wald. Dieser Hinweis ist nicht nur ein Hinweis auf der poetischen Ebene, um zu beschreiben, wie er aus dieser Verirrung heraus auf den rechten Weg zurückgeführt wurde, sondern bezieht sich auch auf die Tatsache seines wirklichen Lebens, daß er gerade zu jenem Zeitpunkt in seinem wirklichen Leben ebenfalls vom rechten Weg abgewichen war. Es geschah aber „ auf seines Lebens halbem Wege “ , also in der Mitte seines Lebens. 67 Robert John, op. cit., S. 260 68 Paradies, 30, 100 - 102 69 Paradies, 31, 85 - 87 100 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="119"?> Im 90. Psalm heißt es, daß unser Leben siebzig Jahre währt, sodaß die Mitte davon fünfunddreißig Jahre wäre. Arthur Schult, der Verfasser des bisher ausführlichsten und hervorragenden Werkes über Dantes Commedia und die Templergnosis, hat dazu bemerkt, daß eine allgemeine Gesetzmäßigkeit darin liege, daß gerade in dieser Lebensmitte bei vielen geistig besonders weit entwickelten Menschen das „ kosmisch schauende Bewußtsein “ zum Durchbruch gelange. Er nennt als Beispiele neben anderen Buddha unter dem Feigenbaum sowie auch die Erweckung Jakob Boehmes. 70 Er hat gute Gründe von einem „ kosmisch schauenden Bewußtsein “ zu sprechen, denn infolge der so engen Verbindung von Mikrokosmos und Makrokosmos in der Templergnosis als Ganzem sind die (mikrokosmische) persönliche Erleuchtungserfahrung des Menschen und seine neue Bewußtseinsebene untrennbar verbunden mit einem Vorstellungsbild des Kosmos, und zwar nicht mehr als physikalisch-chemischer toter Wertwelt, sondern als ein lebendiger, organischer Sphärenzusammenhang und einem durch angelische Intelligenzen durchpulster Organismus. Was aber die Lebensmitte mit dem 35. Jahr betrifft, so zitiert Dante in seinem Convivio des Thomas von Aquin Werk De generatione et corruptione, um das 35. Jahr als Lebensmitte zu bestätigen. 71 Schult weist darauf hin, wie im Einundzwanzigsten Gesang der Hölle vom Zusammenbruch der Höllenbrücke 1266 Jahre vorher die Rede ist, als Christus mit 34 Jahren nach seinem Tod eine Höllenfahrt unternahm, was bedeutet, daß die Jenseitswanderung Dantes tatsächlich im Jahr 1300 stattgefunden hat. Nach Schults Berechnung ergibt sich als genaues Datum des Beginns der 8. April 1300, der ein Karfreitag gewesen ist. Schult macht auch sofort eine Probe auf das Exempel und wiederum kommt das Jahr 1300 heraus. Denn in diesem Jahr war Dante einer der sechs Prioren der Stadtrepublik Florenz gewesen und gerade hier war er auch vom rechten Weg abgekommen. Sein erster Biograph Boccaccio, der sich als sehr präzise erwiesen hat, schrieb dazu: „ Die Sorge um die Familie zog Dante in die für den Staat hinein, wo ihn dermaßen die eitlen Ehren umstrickten, die mit den öffentlichen Ämtern verbunden sind, daß er, ohne zu sehen woher er aufgebrochen war und wohin er ging, die Zügel schießen ließ und sich beinahe ganz der Verwaltung jener hingab . . . “ 72 Die Partei der Guelfen in Florenz war in zwei Teile gespalten, die Weißen und die Schwarzen, die einander heftig bekämpften. Am 1. Mai des Jahres 1300, dem Jahr von Dantes Priorat, kam es schließlich zu einem blutigen Kampf zwischen den Cerchi und Donati. Um Frieden zu schaffen, beschlossen die Prioren und mit ihnen Dante, die Rädelsführer beider Seiten in die Verbannung zu schicken. 70 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit, S. 71 71 Convivio, IV, 23, 9 72 Giovanni di Boccaccio, op. cit., S. 24 101 Dantes Hölle <?page no="120"?> Corso Donati, der Führer der Schwarzen, ging jedoch illegal nach Rom zu Papst Bonifaz VIII. und bot diesem, der sich schon längst die Toskana unterwerfen hatte wollen, einen Vorwand zur Einmischung. Diese bestand darin, daß der Papst Karl von Valois mit einer Armee schickte, um die Stadt zu „ befrieden “ . Dieser besetzte die Stadt und lieferte alle Macht den Schwarzen aus. Die Schwarzen aber veränderten die Stadtverfassung und verurteilten die Führer der Weißen und damit auch Dante zu ewiger Verbannung. Die Methode war der Machtergreifung eines Hitler nicht unähnlich. Für Dante änderte sich damit schlagartig sein bis dahin so glückliches Leben für den Rest seines Erdendaseins in ein unglückliches. Die größte Katastrophe seines äußerlichen Lebens fiel mit der wichtigsten Bereicherung seines innerlichen Lebens, seiner Einweihung zusammen. Und während sich das verhältnismäßig auf Florenz lokalisierte Unglück durch eine ähnliche, siegreiche haßerfüllte Orgie gegen den Templerorden geradezu europaweit ausbreitete, schuf er mit der Commedia sein weltberühmtes, dichterisches Gegendokument, das nicht nur Anklage der bösen Kräfte war, sondern zugleich auf der dichterischen Ebene dem Ganzen als geistige Ordnung auf weltlichem wie auf geistigem Gebiet das Bild einer echten Kirche und eines echten Imperiums als Ausweg gegenüberstellte. Mit diesem entscheidenden Wendepunkt in Dantes Leben im Jahr 1300 ist der Zeitpunkt des Geschehens geklärt. Der Ort des Geschehens kann auf den ersten Blick etwas verwirrend wirken, da Dante das Werk mit einem gleichnishaften dichterischen Vergleich seiner persönlichen Verirrung in dem wilden, wüsten und dunklen Wald der politischen Verhältnisse beginnt. Aber diesen „ Wald “ hat er in ein Tal verlegt, das gleichnishaft für ein wirkliches Tal stand, an dessen Ende sich ein Hügel erhob. Dieses Tal setzt das Gleichnis insofern meisterhaft fort, als es historisch uralte Beziehungen zu Verirrung und Sünde hat. Auf „ den Schultern “ des Hügels an seinem Ende erblickt er die Strahlen der Morgensonne, „ die uns auf jedem Wege richtig leitet “ . Der Anblick verkehrt die Verzweiflung über die Verirrung in die Hoffnung auf einen (innerlichen) Ausweg. Es ist Robert John gewesen, der endgültig geklärt hat, daß es sich bei dem Tal um das Kidrontal oder das Tal Josaphat handelt und der Hoffnung spendende Hügel, später im ersten Gesang von Vergil der „ Wonnehügel “ genannt, ist damit der Moria-Hügel, heilig dem Judentum, dem Christentum und dem Islam, der später in der Commedia als Hügel des Heils apostrophiert wird. Auf seiner „ Kammlinie “ erhebt sich „ die gewaltige, nach Osten blickende äußere Stützmauer des Tempelplatzes “ 73 , wo die ersten neun Templer gruben, und wo das Mutterkloster des Templerordens gestanden hatte. Jerusalem aber galt in der Templergnosis als das „ Zentrum der Erde “ und da noch das geozentrische Weltbild des Ptolemäus in Kraft war, als Zentrum des Universums(! ), ein wahrhaft würdiger Ort des dichterischen Geschehens von Dantes Einweihung. 73 Robert John, op. cit., S. 185 und 187 102 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="121"?> So sehr aber schon der sonnenbestrahlte Anblick des Hügels lockte, der zwar steile, doch direkte und kurze Aufstieg wurde Dante durch drei wilde Tiere verwehrt. Natürlich waren es keine physisch lebendigen zoologischen Wesen, sondern symbolische Tiere und psychische Projektionen, aus dem reichen Symbolschatz der Bibel gegriffen, wo sie nicht nur bei Johannes, sondern sogar schon bei Jeremias vorkommen. Es sind dies ein Pardelluchs, ein Löwe und eine Wölfin, welche die dreifache Wurzel der Sünde symbolisieren. Der Luchs steht besonders für das Laster der Lussuria (Sinnenlust), der Löwe für das Laster der Superbia (des Hochmuts) und die Wölfin für das Laster der Avaritia (Habgier). Völlig versperrt die dürre, ausgehungerte Wölfin den Aufstieg, von der es heißt, daß sie niemals satt werden kann und nach jedem Fraß nur noch größeren Hunger verspürt. Sie hindert Dante nicht nur, sondern treibt ihn weiter hinunter zurück, bis endlich ein menschliches Wesen auftaucht, das ihn rettet. Es ist die Seele des römischen Dichters Vergil, so großartig und würdig, daß er sich sinnvoll einreiht in die Wichtigkeit der Zeit und der Großartigkeit des Ortes, und es ist ebenso wahr wie richtig in diesem Zusammenhang, daß Dante ihn als seinen Meister und sein großes Vorbild verehrungsvoll begrüßt. Vergil eröffnet ihm aber, daß er unter diesen Umständen einen anderen Weg als den kurzen direkten einschlagen muß, um auf den Berg des Heils zu gelangen. Und Dante folgt ihm zunächst, schon um der Wölfin zu entgehen. Ganz im Sinne der Gnosis besteht das Wesen der Hölle im Verlust der Erkenntnis Gottes, welche nach Dante die letzte, eigentliche Vervollkommnung des Menschen durch einen Erleuchtungsakt bildet. Der „ Kartograph der Hölle “ , wie Dante einmal genannt worden ist, hat als Grundlage seiner Höllen- Geographie die Tugenden der Nikomachischen Ethik von Aristoteles genommen, die er einfach in der in seinem eigenen Werk Convivio gebotenen Reihenfolge reziprok auf den Kopf gestellt hat. Sein Führer Vergil, zweifach ausgewiesen als Eingeweihter in die Eleusinischen Mysterien und durch seine dichterische Schilderung des Abstiegs von Aeneas in den Hades, der aus der Unterwelt wieder zurückkehren konnte wie Dante, taucht jedoch erst am Ende des Ersten Gesanges auf, und der ganze Zweite Gesang hat hauptsächlich die Funktion, Dantes Vertrauen in seinen Führer und in seine eigene Kraft für die Jenseitswanderung zu stärken. Vergil versichert ihm, daß einige hohe Frauen im Himmel ihn gesandt hätten und als er Beatrices Namen nennt, die ja in der Templergnosis für Sophia - die Weisheit - steht, ist Dante vollkommen gewonnen. Natürlich sind es vor allem drei Frauen, die eine Hauptrolle spielen: Maria, „ ein edles Weib im Himmel “ , die sogar harte Sprüche des Allerhöchsten brechen kann, wandte sich an die licht- und heilbringende heilige Lucia, die „ feindlich allem rauhen Walten “ war, 74 die ihrerseits Beatrice als Fürsprecherin gewinnt. „ Was hilfst du dem nicht, der dich liebt so innig? “ , fragt sie 74 Über die Bedeutung Lucias für die Templergnosis vgl. Robert John, op. cit., S. 191 103 Dantes Hölle <?page no="122"?> und Dantes innige Hingabe an die Weisheit läßt auch Beatrice aktiv werden. Sie ist es, die Vergil Dante entgegenschickt und die selbst seine Führerin durch das Paradies sein wird. Im Dritten Gesang, wohl auf dem weit offenen Weg zur Hölle, durchschreitet er zwar das Höllentor mit dessen Inschrift, „ Laßt, die ihr eingeht, alle Hoffnung fahren “ , doch ist er noch immer nicht im Ersten Höllenkreis. Trotzdem hört er bereits Geseufze, Weinen, Wehelaute, des Schmerzes Worte und des Zornes Schreie. Hier findet er jene lauen, „ neutralen “ Seelen, die nach der Schrift ausgespien werden. Sinnbildlich für sie alle stehen jene Engel, die bei dem Kampf im Himmel zwischen Michael und Luzifer charakterlos keine Stellung bezogen hatten. Jetzt, rückblickend, wäre es ihnen lieber tot als charakterlos zu sein, doch es ist zu spät. Auch den Einsiedler, der als Coelestin V. zum Papst gewählt worden war, der aber schon nach fünf Monaten abdankte, weil er so viel notwendigem Kampf gegen das Böse in der Kurie nicht gewachsen zu sein glaubte, findet Dante hier. Es sind die Memmen, die sich hier finden und die sowohl Gott als auch dem Teufel unbehaglich sind. Denn sie sind Neutrale aus Feigheit, die das negative Gegenbild gegenüber den Tapferen der Nikomachischen Ethik darstellen. Sie sind das Thema des Dritten Gesanges und befinden sich bereits jenseits des Höllentors, aber noch diesseits des Flusses Acheron und damit vor der eigentlichen Hölle, weil auch der Teufel von ihnen nichts wissen will. Am Ende des Dritten Gesanges erscheint der greise Charon am Ufer des Acheron, um in seinem Boot die Seelen zur Hölle überzusetzen, wie ihn bereits Vergil in seiner Aeneis beschrieben hat. Er weigert sich, die „ lebende Seele “ Dante überzusetzen. Dieser aber verliert durch ein Erdbeben sein Bewußtsein und findet sich, als er am Beginn des Vierten Gesanges wieder erwacht, auf der anderen Seite des Acheron, wobei offen bleibt, ob Charon seine Meinung geändert oder ob eine höhere Macht eingegriffen hatte. Aber auch gleich jenseits des Acherons, im Vierten Gesang, trifft Dante nicht gleich auf wirkliche Sünder. Waren es im Zweiten Gesang die schuldig Neutralen, so sind es hier die schuldlos Ungetauften, die großen Persönlichkeiten aus vorchristlicher Zeit, welche die Taufe nicht empfangen konnten, weil es sie noch nicht gab. Nicht nur Vergil, der selbst zu ihnen gehört, sondern auch Dante ist von tiefem Mitleid für die Seelen jener ergriffen, obwohl sie hier im Limbus überhaupt nicht leiden. Daß sie sich jenseits des Höllentors befinden, war ein Zugeständnis an die mittelalterliche Amtskirche, aber daß sie nicht leiden, war bereits zu viel der erlaubten Toleranz. Schult weist auch darauf hin, daß die Kindertaufe überhaupt erst seit dem 2. Jahrhundert eingeführt worden war. Christi Wort von der geistigen Wiedergeburt bei Johannes (3,5-8) als Hinweis auf eine solche Kindertaufe zu beziehen, erklärt er zu Recht als einen primitiven geistigen Materialismus. 75 Die Templergnosis selbst hatte im Hinblick auf das Johannes-Evange- 75 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 114 104 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="123"?> lium, welches das esoterische Evangelium war, sehr viel tiefere Vorstellungen von Wiedergeburt. Dante aber treibt die „ Ungehörigkeit “ gegenüber der Orthodoxie auf einen Höhepunkt, wenn er es - zu Recht - als hohe Ehre empfindet, von Homer, Horaz, Ovid und Lukan zusammen mit Vergil als sechster ihrem Bunde eingereiht zu werden. Zusammen mit den fünf Dichtern zieht Dante über einen Bach als Grenze durch sieben Tore in das Schloß der Philosophen und Gelehrten ein, wobei die sieben Tore symbolisch für die „ Sieben freien Künste “ des Mittelalters stehen: Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Arithmetik, Musik, Geometrie und Astrologie. Hier findet Dante, erhöht in einer Runde von berühmten Philosophen, Aristoteles, den er in seinem Convivio hymnisch gerühmt hatte. 76 Auch Ptolemäus findet Dante in diesem Schloß. Erst im Fünften Gesang, in dem Vergil und Dante in den Zweiten Höllenkreis hinuntersteigen, treffen sie auf wirkliche Sünder. Am Eingang stoßen sie auf Minos, den eigentlichen Hüter der ganzen wirklichen Hölle. Er war im Leben König von Kreta, wurde aber bereits von Vergil in dessen Aeneis zu einem der drei Richter der Unterwelt gemacht. Freilich erscheint er hier in Gestalt eines Teufels mit einem langen Schwanz, der von geradezu höllischer Wichtigkeit ist. Denn Minos durchschaut die Sünder sofort in dem Augenblick, in dem sie ihm gegenüber treten, und die Zahl der Schläge, mit denen er sich mit seinem Schwanz peitscht, bestimmt die Zahl des Höllenkreises, zu dem sie verurteilt sind. Nachdem Dante mit Vergils Hilfe diesen Höllenhüter hinter sich gelassen hat, hört er zum ersten Mal das Schreien, Ächzen und Jammern der Seelen, die sich im Zweiten Höllenkreis befinden und die vom heißen Höllenwind durchrüttelt und gepeinigt werden. Es sind die großen Liebenden, die Opfer ihrer Leidenschaft wurden, an der sie umkamen. Als Dante zwei der eng umschlungenen Seelen zu sich heranruft - wodurch der Wind aussetzt - und sie befragt, sind es Paolo und Francesca da Rimini. Francesca hatte aus politischen Gründen nicht den geliebten Paolo heiraten dürfen, sondern hatte den klugen, aber barbarischen Krieger und Vertreter der feindlichen Familie Malatesta, Gianciotto Malatesta, heiraten müssen, für den dessen Bruder, der feine und elegante Paolo den Brautwerber gemacht hatte. Die Zuneigung zwischen beiden blieb bestehen, auch nachdem Francesca die Frau Gianciottos geworden war. Als Gianciotto in Pesaro die Signoria übernommen hatte, erlaubte er nicht, daß seine Frau ihm folgte. Da begann das Verhältnis von ihr mit Paolo, das von einem Diener verraten wurde. Gianciotto überraschte die beiden und erstach beide. Durch Dantes hinreißende Darstellung ist diese Liebesgeschichte weltberühmt und in etlichen Künsten behandelt worden. 76 Wenn Aristoteles für Dante eine so zentrale Rolle spielte, dann hing dies nicht zuletzt damit zusammen, daß Maimonides darauf hingewiesen hatte, daß sich bei ihm ein tieferes Wissen über die für die Gnosis so wichtige Problematik der Himmelssphären finde als bei Ezechiel. Dante mag das auch selbst entdeckt haben. 105 Dantes Hölle <?page no="124"?> Dante, der nach dem Zeugnis Boccaccios selbst ein großer Liebender gewesen war und der in seiner Vita Nuova verkündet hatte, „ Liebe und ein edles Herz sind dasselbe “ , war tief ergriffen. Die drei Terzinen in einer Reihe, von denen jede mit dem Wort „ Liebe “ beginnt, sind in ihrer knappen Verdichtung und Steigerung mit das Großartigste, was Sprachkunst über die Liebe zu sagen vermochte. Der Abschlußvers, mit dem Francesca beschreibt, wie sie beim gemeinsamen Lesen eines Ritterromans über Liebe von ihren Gefühlen überwältigt wurden und Paolo ihr den ersten Kuß gibt: „ An jenem Tage lasen wir nicht weiter. “ ist geradezu ein geflügeltes Wort geworden. Allerletzte Steigerung ist das Schweigen der Tränen des zuhörenden Paolo. Dante verliert aus Mitleid das Bewußtsein. Manche nehmen an, daß er bewußtlos wurde, weil er an seine eigene Liebeserfahrung erinnert wurde und eine Seelenläuterung durchmachte. Doch nachdem in dem Gesang das Mitleid gleich drei Mal betont wird, war es wohl eher das Mitleid. Nach Schult hat er die Geschichte „ zu einem hohen und erschütternden Lied “ gestaltet, „ das den Sieg der unsterblichen Liebe über Tod und Hölle besingt. “ 77 Im Sechsten Gesang geht es weiter hinunter in den dritten Kreis, wo die Seelen in stinkender Erde liegen, auf welche Schnee, grober Hagel und Wasserlaugen des Regens hinunterrinnen. Der Hüter des dritten Kreises ist der dreiköpfige und freßgierige Höllenhund Cerberus, der die Schlemmer im Essen und die Säufer bewacht und bestraft. Es ist darauf hingewiesen worden, daß die Bestrafung der Sünder aus geschlechtlichem Verlangen adäquat durch heißen Föhnsturm vor sich ging, während die Schlemmer und Säufer durch kaltes Regen- und Schneewetter gleichfalls adäquat bestraft wurden. Sie hatten den wirklichen Gott vergessen, da ihr Gott der Bauch war. Freilich sind auch die Sünder aus Völlerei und aus maßlosem Trinken Sünder aus Leidenschaft und sie finden sich dadurch in den oberen Kreisen der Hölle und nicht in den Tiefen der unteren Kreise, wo sich die Sünder aus Bosheit und Bösartigkeit (malitia) aufhielten. Im Sechsten Gesang trifft Dante auf einen bekannten Florentiner Schlemmer, Schmarotzer und Spaßmacher. Im Gespräch mit ihm spricht dieser eine Prophezeiung des Schicksals von Florenz aus, die erste große Prophezeiung der Commedia. Ihr entspricht die Prophezeiung über das Schicksal ganz Italiens im Sechsten Gesang des Läuterungsberges und die große Prophezeiung des ganzen Imperiums im Sechsten Gesang des Paradieses. Was Florenz betrifft, so sagt er den blutigen Kampf vom 1. Mai 1300 sowie die völlige Machtergreifung der Schwarzen und die Verbannung der Weißen voraus. Wobei er die Hauptschuld dem Manne gibt, „ der hinterm Berg noch lauert “ . Das ist Papst Bonifaz VIII. Es gäbe nur zwei Gerechte, auf die aber kein Mensch hört. Es wurde gerätselt, ob mit den beiden Gerechten Dante selbst und Guido Cavalcanti gemeint sind oder ob es sich um eine Anspielung auf die biblische Geschichte von 77 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 120 106 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="125"?> Sodom und Gomorrha handelt. Auf jeden Fall ist es eine der wichtigsten Stellen, welche viele neuere Danteforscher dazu geführt hat, die Geschichte von der Unterbrechung der Abfassung der Commedia nach dem Siebenten Gesang zu bestreiten, nach der Dante sie erst ab 1307 wieder weiter fortgeführt hat. Gerade die Platzierung in den Sechsten Gesang, nach den beiden folgenden Prophezeiungen in den jeweils Sechsten Gesängen scheint es mir wahrscheinlicher zu machen, daß bei nachträglichem Feilen und Vervollkommnen der Komposition auch im Sechsten Gesang der Hölle eine Prophezeiung eingeschaltet wurde. Das hat den großen Effekt, daß sie mit Sicherheit eintritt, da sie im Rückblick nach dem geschichtlichen Ablauf eingeschaltet wurde. Mich hat dagegen immer gestört, daß eine so ernste Prophezeiung einer so unseriösen Figur wie Ciacco in den Mund gelegt wurde. Vielleicht bezog sich das Gespräch mit diesem zunächst auf weniger Wichtiges, was durch die spätere Einschaltung ersetzt wurde. Im letzten Vers des Sechsten Gesanges wird bereits der Herrscher des Vierten Höllenkreises angekündigt, der im Siebenten Gesang beschrieben wird. Es ist der antike Gott des Reichtums Pluto, denn hier sind die Sünder versammelt, die des Lasters großen Unmaßes schuldig sind, sei es als Geizige oder als Verschwender. Es ist ein weiteres Beispiel der großen Objektivität und der psychologischen Klugheit Dantes, zwei so gegensätzliche Laster auf eine und dieselbe Wurzel zurückzuführen. Die Verdammten dieses Kreises befinden sich in einem Sumpf, manche über dem Wasserspiegel, manche darunter, wobei die Geizigen die Verschwender ebenso erbittert bekämpfen wie umgekehrt. Dante vergleicht die Heftigkeit dieses Aufeinanderprallens mit Scylla und Charybdis. Er sieht hier besonders viele Geistliche, Päpste und Kardinäle, da in diesen immer die Habsucht am größten gewesen ist. Man wird hier an die Kritik des Klerus durch Bernhard von Clairvaux erinnert. Da Dante eine abwertende Bemerkung über Fortuna macht, wirft sich Vergil zu ihrem Verteidiger auf und erklärt ihm, daß sie von Gott als Schaffnerin zur Leitung des Erdenglanzes eingesetzt wurde. Mit anderen Worten: Sie hilft entgegen den Vorurteilen der Menschen, die ihr blindes Vorgehen im Wechsel der Verhältnisse vorwerfen, die große, oft nicht sofort einsichtige makrokosmische Ordnung aufrechtzuerhalten. Es ist in Erfüllung der göttlichen Ordnung, daß Fortuna sich um die notwendige Bewegung der Glücksgüter kümmert, genauso wie die geistigen Leiter der einzelnen Sphären im Weltraum für die Sphärenordnung im Weltraum zuständig sind. Die Templergnosis hatte die Ideen der Neuplatoniker und Araber übernommen, hier eine Ordnung von lebenden Intelligenzen zu sehen, die bei den Templern als Engel identifiziert wurden. Daß Dante für einen bestimmten Sektor des menschlichen Daseins eine antike Göttin verantwortlich machte, zeugt nicht nur für ihre Bekanntheit, sondern auch für den Einfluß der klassischen Antike auf ihn. Es gibt in der „ Hölle “ Dantes zwei Zäsuren, eine äußerliche, von der Entstehung her bedingte und eine innerliche, inhaltsbezogene, von der Auf- 107 Dantes Hölle <?page no="126"?> gliederung der Sünden her. Die zweite besteht im Einbau der Feuerstadt Dis als der Stadt des Satans an der Grenze der leichteren und der ganz bösen Verfehlungen und wird ganz offenkundig von selbst sichtbar werden. Die beiden Zäsuren liegen eng beisammen, die erste zwischen dem Siebenten und Achten Gesang, die zweite zwischen dem Achten und Neunten Gesang. Was die erste Zäsur betrifft, so fiel sie zum ersten Mal auf, als genaues Lesen der Dichtung auf das erste Wort des Achten Gesanges stieß, das „ seguitando “ ( „ Ich sage forterzählend “ ) lautet. Dies trifft vom Sinn her auf jeden neuen Gesang zu, doch steht es in den vierunddreißig Gesängen der Hölle nirgends als nur hier. Das Problem ist leicht zu klären, wenn man sich auf die grundsätzlich sehr verläßliche erste Biographie Dantes von Boccaccio bezieht. Aus ihr ergibt sich, daß Dante zum Zeitpunkt seiner Verbannung aus Florenz 1302 nicht in der Stadt geweilt hatte. Er konnte nicht nach Hause zurückkehren. Um das Wichtigste vor der Plünderung durch den Pöbel zu retten, hatten Verwandte und Freunde es in Kisten verpackt und aufbewahrt. Als 1307 jemand nach einer Urkunde suchte, die gebraucht wurde, fand er ein kleines Heft mit Terzinen beschrieben. Als er sie las, war er voll von Bewunderung. Er zeigte das Heft einem lokalen Dichter, Dino di Lambertuccio, als Experten, der sie nicht weniger bewunderte und die Hand Dantes erkannte. Die beiden beschlossen, Dantes Aufenthaltsort ausfindig zu machen, und als sie erfahren hatten, daß er sich beim Markgrafen Moruello Malaspina befand, schickten sie das Heft an diesen. Der Markgraf, der ein Liebhaber und Kenner von Dichtung war, teilte die Bewunderung der beiden Absender und zeigte das Heft Dante, der sofort sein Werk erkannte. Der Markgraf bat ihn, die Dichtung fortzusetzen. Dante antwortete, daß er zwar im Lauf der Zeit die Lust zu diesem Werk vollkommen verloren habe, da er den Anfang für unwiederbringlich verloren gehalten hatte. „ . . . aber dieweil mir das Schicksal das unerwartet wieder zugetrieben hat und es Euch so gefällt, werde ich suchen, mich auf meinen ersten Plan zu besinnen, und werde fortfahren, je nachdem mir die Gnade gegeben wird. “ 78 Nicht umsonst haben schon die alten Römer gesagt, daß Bücher ihre Schicksale haben. Diese Stelle in Boccaccios Dante-Biographie erklärt nicht nur das rätselhafte „ seguitando “ , sondern erklärt auch, weshalb nach einer Zäsur von sieben Jahren, in die vor allem schon fünf Jahre der Verbannung fallen, der sanft menschliche Dante, der stets von Mitleid überwältigt wird, plötzlich durch einen sehr viel strengeren „ in den Schicksalsschlägen geschmiedeten Mann “ 79 abgelöst wird. Dies aber hängt wieder nicht nur mit seinem persönlichen, schweren Geschick der Verbannung zusammen, sondern mindestens genauso, zusätzlich mit dem Faktum, daß er gerade in jenem Jahr 1307, in dem das Heft wieder entdeckt worden ist, in Paris Zeuge der Verfolgung und des Prozesses gegen die Templer 78 Giovanni di Boccaccio, op. cit., S. 66 79 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 134 108 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="127"?> geworden war. In seine ersten Gesänge hatte er seine große Hoffnung auf eine geistige Kirche und ein gerechtes Imperium gesetzt und erlebte stattdessen eine haßerfüllte Massenpsychose ihrer Verfolgung. Was die zweite Zäsur zwischen dem Achten und Neunten Gesang betrifft, so hängt diese Zweiteilung, wie sie Dante gemacht hat, auch damit zusammen, daß sich die reziproke Nikomachische Ethik weitgehend mit den von Thomas von Aquin konstituierten sieben Kardinalsünden überdeckt, wobei eine besonders wichtige Rolle der Acedia zufällt (Summa, 2, 35 - 36). Was wiederum damit zu tun hat, daß Thomas ein Kenner des Aristoteles gewesen ist. Nun sind die sieben Kardinalsünden folgende: 1. Luxuria (Fleischeslust), 2. Gula (Gaumenlust), 3. Avaritia (Habgier), 4. Acedia (Trägheit und besonders Herzensträgheit), 5. Ira (Zorn und Gewalttat), 6. Invidia (Neid) und 7. Superbia (Hochmut). Das ist im Wesentlichen auch die Stufenfolge bei Dante. Nun bildet die Acedia genau den Mittelpunkt. Sie ist im Grunde der Dreh- und Angelpunkt und Dante hat diesem Umstand Rechnung getragen, als er den Fünften und Sechsten Höllenkreis auf derselben Ebene unterbrachte, die beide vom Styx umgeben sind, jedoch getrennt durch die wichtige Grenzstadt das Satans, Dis, die gleichzeitig das Gegenbild der Civitas Dei ist und die Sünder der Acedia in zwei Gruppen teilt: eine der leichteren und eine der schwereren Verfehlungen. Dante trennt zwischen zwei durch ihre Schwere völlig verschiedenen Arten der Sünde der Acedia. Auf der einen Seite sind die Formen, die an leibliche Schwächen gebunden sind, auf der anderen Seite ist jene Form, die den zentralen Punkt der inneren Entwicklung des Menschen betrifft. Denn die ganze Dichtung dreht sich ja um diese innere Entwicklung. Hier ist nur bedingungslose Anerkennung möglich, denn in diesem Punkt bedeutet jede Herzensträgheit Leugnung. Es geht um Anerkennung oder Leugnung der Unsterblichkeit der Seele. Es ist hier, wo Dante einen Trennungsstrich - gleichsam quer durch die eine und gleiche Mittelachsensünde der Acedia - gezogen hat. Zur Verdeutlichung der Wichtigkeit ist es hier, wo er die Stadt Satans, Dis, als Grenzstadt eingebaut hat. Nach dem Ende des Achten Gesanges ging es weiter in den nächsten Höllenkreis hinunter, wo es bereits um die Sünder der Acedia geht. Die Herzensträgheit gegenüber der Gottesliebe ist eine wesentliche Steigerung der Neutralität gegenüber der Gottesliebe, die sich sowohl in melancholischen Depressionen wie auch in cholerischen Ausbrüchen manifestieren kann. Die „ Zornigen “ unter den Sündern des Fünften Höllenkreises randalieren hilflos an der Oberfläche des Sumpfes Styx, während die Melancholischen unter der Wasseroberfläche brodeln. Es ist schon wieder ein Vertreter der klassischen Antike, Phlegias, der hier als Fährmann arbeitet und der Vergil und Dante über einen Teil des Sumpfes bis an die Tore der Stadt Dis führt. Sie ist die Grenzstadt zum zweiten, tieferen Teil der Hölle, in dem nicht mehr Verstöße gegen läßliche Sünden bestraft werden, sondern wo echt bösartige Sünden gesühnt werden. 109 Dantes Hölle <?page no="128"?> Während Phlegias Dante zur Stadt Dis übersetzt, stößt der Dichter im Sumpf auf die Seele eines Florentiners, Filippo Argenti, der ein politischer Gegner Dantes gewesen war und der entweder für sich selbst oder für ein Mitglied seiner Familie aus den eingezogenen Gütern des Verbannten Vorteile gezogen hatte. Dante wünscht sich, ihn in die Jauche des Sumpfes eingetaucht zu sehen und Vergil verspricht rasche Erfüllung des Wunsches. Gleich darauf sieht Dante, wie sich ein Schwarm von kotbespritzten Seelen auf diesen stürzt und er genießt das grausige Schauspiel. Diese Reaktion Dantes im Achten Gesang ist das gerade Gegenteil seiner häufigen Mitleidsäußerungen in den ersten sieben Gesängen und zu Recht wurde gesagt, daß es eine typische Reaktion auf die Verbannung und sein Leiden war. 80 Im früheren Teil seiner Dichtung wäre er einer solchen Reaktion niemals fähig gewesen. Es ist eine weitere Bestätigung für die Zäsur durch siebenjährige Unterbrechung. Vergil und Dante landen zwar am Ufer der Stadt Dis, doch die Teufel, die sie bewachen, erlauben ihnen nicht einzutreten und verrammeln das Tor. Sogar Vergil ist machtlos und am Beginn des Neunten Gesanges ruft er Hilfe von „ oben “ herbei. Ein Wesen, das gar nicht als Engel apostrophiert wird, erscheint, das über den Styx schreitet, „ ohne sich den Fuß zu netzen “ . In einem Augenblick öffnet es mit einer Rute das Tor und mit einer verächtlichen Bemerkung über die dummen Teufel verschwindet es wieder. Damit ist das Tor offen, Dante und Vergil können die obere Hölle mit den Sündern der Incontinentia (Maßlosigkeit) hinter sich lassen und einziehen in die untere Hölle für die Sünder der Malitia (Bosheit, Bösartigkeit). Auch die tödliche Bedrohung Vergils durch die Erinnyen ist damit überwunden, die plötzlich auf einem hohen Turm der Feuerstadt aufgetaucht waren und auf die vor dem Tor Stehenden drohend heruntergeblickt hatten. Auch sie aber, die wie so viele andere Gestalten des antiken Mythos Dantes Hölle bevölkern, konnten den Eintritt des Dichters in den Sechsten Höllenkreis nicht verhindern. Sie dienen allerdings nicht nur durch ihre Drohung der Spannungserhöhung, sondern stellen auch eine Sinn erhellende Symbolik des Gehalts dar, da auch sie zugleich Wächterinnen zum Eingang des nächsten Höllenkreises darstellen. Die dichterische Größe tritt allerdings in der Art der Darstellung durch die Macht ihrer symbolischen Bedeutung und in der schlagartigen Schlußfolgerung nach dem dichterischen Bild zu Tage. Obwohl Vergil weiterspricht, vernimmt Dante plötzlich kein Wort mehr. Er scheint ertaubt zu sein und vermag den Blick wie hypnotisiert nicht von dem hohen Turm mit seiner glühenden Zinne zu wenden, wo drei Furien aus der Hölle, die Erinnyen, aufgetaucht sind und herunterstarren. Die Furien aber schreien „ Komm her Medusa! Und zu Stein ihn mache! “ Denn wenn die Gorgo sich zeigt und er sie wirklich erblickte, wäre er in Stein verwandelt. 80 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 139 110 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="129"?> Diese Verwandlung muß man sich nicht notwendig wörtlich vorstellen, sondern sie kann symbolisch begriffen werden, in dem Sinn, daß sich durch den Blick der Medusa plötzlich das Innere des Menschen so verwandelt, als wäre es ein gefühlloser Stein. Nicht zufällig hat Dante diese Bedrohung an den Beginn des Eintritts in den Sechsten Höllenkreis gestellt, in dem die Sünder leiden, welche die Unsterblichkeit der Seele bestreiten und der Vorstellung eines seelenlosen Materialismus und eines blanken Nihilismus anhängen. Dante hätte seiner Darstellung alle Kraft und Schönheit genommen, hätte er der Macht des dichterischen Bildes die hier gegebene, kommentierende Erklärung angefügt. Aber aus Sorge darüber, ob er auch richtig verstanden worden sei, hat er mit dem Finger auf die Wichtigkeit der Beherzigung dieser „ Lehre “ gezeigt. Es ist dem Dichter so wichtig, daß er sich ausdrücklich und direkt an die Leser wendet: Ihr, die ihr bei gesundem Verstand seid, beherzigt die Lehre dieses Sinnbildes! Es ist ein Musterbeispiel der metaphysischen Psychologie der Gnostiker und hier besonders der Templergnosis: Wer dem Zweifel verfällt, der versteinert im Unglauben und der Zugang zum Licht geht ihm verloren. Eine solche Gestaltungskraft ist nicht allein durch große Sprachbeherrschung möglich, sondern ist Ausdruck der tiefen Intensität des Wunsches des Exilanten, das Edle mit der Macht zu verbinden, nachdem er es so oft verachtet und in den Schmutz getreten hatte sehen müssen. Vergil wendet ihn um und legt seine Hände noch über jene Dantes, um ihn vor dem Blick der Gorgo zu schützen. Kaum aber ist die Gefahr beseitigt, als auch schon ein Himmelsbote erscheint, der das Tor zur Stadt öffnet. Die Darstellung des Engels ist eine mindestens ebenso eindrucksvolle Demonstration der positiven Kräfte, wie jene der Furien eine der negativen Kräfte ist. Man fühlt sich an des Engels überwältigende Gewalt in Rilkes Elegien erinnert. 81 Solche Projektion muß gar nicht einseitig sein, sondern manches Mal findet sich ein Echo der „ Bestätigung “ von „ drüben “ . Der literarischen Figur Dantes ist ein solches Echo als Antwort auf das richtige Verhalten in der Prüfung durch die Erinnyen zuteil geworden, durch das Vertrauen auf Vergil und die Kraft seiner Hingabe an die Weisheit (Beatrice). Sofort erschien ein Bote von „ drüben “ , um das Problem des verrammelten Tors zu lösen. Wenn aber Dante durch seine Darstellung des Engels auf dichterischer Ebene die Projektion einer Antwort von „ drüben “ geschaffen hat, dann scheint die noch zu berichtende Geschichte von der Auffindung der letzten dreizehn Gesänge nach seinem Tod - wenn sie wahr ist - eine Bestätigung von „ drüben “ auf der Ebene der empirischen Wirklichkeit zu sein. 82 81 Einen schönen Kommentar dieses Engels vom Standpunkt christlicher Metaphysik hat Romano Guardini gegeben, in: Der Engel in Dantes göttlicher Komödie. München 1951, S. 20 - 26 82 Vgl. das Buch von Arthur Koestler: Die Wurzeln des Zufalls. Wien - Bern - München 1972 111 Dantes Hölle <?page no="130"?> Der Fünfte und der Sechste Höllenkreis liegen auf derselben Ebene, da sich in beiden von ihnen Sünder befinden, welche der Acedia, der Trägheit und besonders Herzensträgheit schuldig sind. Diese vierte Sünde in der Stufenfolge des Aquinaten ist eine Sünde gegen den Heiligen Geist, weshalb sie Dante wie der Gnosis besonders wichtig ist. Aber gerade bei dieser Sünde der Mittelachse, vor der drei andere Sünden kommen und der drei weitere nachfolgen, gibt es selbst wieder eine Teilung in der Mitte. Die Grenz- und Feuerstadt Dis ist der Trennungspunkt zwischen den beiden Hälften. Die leichtere Form der Herzensträgheit, welche die melancholisch-depressiven im Unterschied zu den cholerisch-aggressiven Sündern hervorbringt, ist nicht nur für sie selbst, sondern auch für ihre Umwelt schwer genug. Die durch die Grenze der Feuerstadt gegebene erste Form der schweren Sünde der tiefen Hölle aber ist jene Herzensträgheit, die durch völlige Nichtachtung des Menschen und Nichtachtung des Lebens gekennzeichnet ist. Hier ist mit seiner Leugnung der unsterblichen Seele der eine, eiskalte Nihilismus gegeben und damit ist alles verloren. „ Die Leugnung der Unsterblichkeit - wer nicht in einem höchsten Sinn an sich selbst glaubt, der respektiert auch den Mitmenschen nicht - bildet die Grundlage aller wirklichen Ketzerei und wird zum Ausgangspunkt jeder Gewalt und Bosheit. Die Leugnung der Unsterblichkeit und damit eines jenseitigen Richtens entfesselt mehr als alles andere die Bosheit des Menschen, ist eine letzte schlimme Frucht der Herzensträgheit. “ 83 Im Sechsten Höllenkreis befinden sich jene hier gemeinten wirklichen Ketzer. Wobei es klar ist, daß die kindische Art mancher minderer Vertreter der Amtskirche, jede andere Art der Metaphysik als die eigene, sehr begrenzte, als Ketzerei abzuqualifizieren, nicht mit dieser Sünde gemeint ist. Hier geht es um jenen blanken Nihilismus und Materialismus des völligen Ableugnens der Unsterblichkeit. Den Vertretern der Inquisition mag freilich diese gerechte Unbedingtheit wie eine Bestätigung der Amtskirche und der Harmlosigkeit Dantes erschienen sein. Denn, daß es ihm mit der Unsterblichkeit der Seele bitter ernst war, konnte niemand übersehen. Gab es denn überhaupt eine andere Art dieser Unsterblichkeit als jene ihrer eigenen, fundamentalistischen Beschränktheit? Da Dante und Vergil in den Sechsten Höllenkreis eintreten, sind sie ringsum von Gräbern umgeben, zwischen denen verstreute Flammen sprühen, sodaß die offen stehenden Metallsärge in Rotglut kommen. Am Beginn des Zehnten Gesanges erklärt Vergil Dante, daß in dem einen Gräberfeld „ mit Epikurus alle seine Jünger “ bestraft werden, „ die auch die Seele mit dem Leib begraben “ hatten. Epikur verfocht eine durch und durch mechanische Weltsicht und wenn er daneben den alten Göttern auch nicht abgeschworen hatte, so leugnete er doch eine unsterbliche Seele. 83 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 147 112 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="131"?> Dante trifft hier auf einen Florentiner Landsmann, Farinata Uberti, der ein Führer der Ghibellinen gewesen war. Dieses Treffen ist das zentrale Geschehen des Gesanges, das zeigt, wie Dante seinem ehemaligen großen Gegner in einem gewissen Sinn auch verbunden ist. Auch hier hat Schult den Finger an die wesentliche Stelle gelegt, wenn er schrieb: „ Da rücken Farinata und Dante, Angehörige zweier feindlicher Parteien, näher zusammen. Beide erkennen sich als Verbannte, als große Einsame, die sich in der Liebe zur Heimat verbunden wissen; beiden geht die Liebe zur Vaterstadt über alle Parteienstreitigkeiten und Familiensorgen. Die Episode mit dem von seinen Vatersorgen zerquälten Cavalcanti bildet einen wirksamen Kontrast zu den großen und wahrhaft tragischen Schicksalen Farinatas und Dantes. “ 84 Einerseits ist freilich Dante Farinata dadurch überlegen, daß es für ihn im Zusammenhang mit seiner unsterblichen Seele noch etwas Höheres gibt als die Diesseitsprobleme und das ist jene innere Entwicklung, wie sie sich im dritten Teil der Commedia, im „ Paradies “ , enthüllt, das Farinata verschlossen bleibt. Andererseits weist der Autor Farinata immerhin sogar in der Hölle eine Sonderstellung zu. So wie Paolo und Francesca di Rimini durch ihre Liebe die Hölle in einem gewissen Sinn besiegen, so vermag Farinata das Gleiche durch seinen Edelmut, aus dem heraus er Florenz nach dem vollständigen Sieg seiner eigenen, der Ghibellinen-Partei und der Vernichtung der Gegner entgegen dem Beschluß der anderen Ghibellinen-Führer davor rettete, geschleift und völlig zerstört zu werden. Farinata ist sich dieser Sonderstellung auch durchaus bewußt und darum erblickt der Jenseitswanderer Dante folgendes Bild von ihm (Hölle, 10, 35 - 36): Und er erhob sich da mit Brust und Stirne, Wie um die ganze Hölle zu verachten. Freilich besteht auch ein Unterschied der Reaktion Dantes auf Paolo und Francesca einerseits und Farinata andererseits. Bei Paolo und Francesca ist es tiefes Mitleid, bei Farinata Achtung und Bewunderung. Schon als er Farinata im Sechsten Gesang erwähnt hatte, erkannte er ihm als Hauptmotiv zu, „ auf ’ s Rechttun einzig “ zu denken. Dieser war in Empoli den anderen Ghibellinen-Führern mit gezogenem Schwert entgegengetreten und hatte sie förmlich gezwungen, von der totalen Zerstörung von Florenz abzusehen. Durch die Nennung der Namen Friedrichs II. und des Kardinals Ottaviano degli Ubaldini, eines seelenverleugnenden Ghibellinen, der den Spitznamen „ der “ Kardinal führte, weist der Gesang über persönliche Probleme Dantes hinaus und weitet sich zur allgemeinen Problematik des „ Reiches “ aus. Denn der moderne Musterstaat, eine Frühform des fürstenhöfischen Absolutismus der Renaissance, den Friedrich II. in Sizilien begründet hatte, weist in doppelter Hinsicht auf die manches Mal einseitig diesseitsorientierte Stellung der Renaissance hin. Einerseits 84 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 155 f. 113 Dantes Hölle <?page no="132"?> gab es hier an den regierenden Höfen oftmals Toleranz in religiöser Hinsicht, andererseits gab es auch wie bei Friedrich II. geradezu entsetzlich diktatorische und tyrannische Unterdrückung. Der Musterstaat Friedrichs II. mit seinem Unterdrückersystem schien durch seine persönliche Mißachtung der Seele nicht nur ermöglicht, sondern geradezu begründet worden zu sein. Gerade das war es aber, was ihn in den Sechsten Höllenkreis gebracht hatte. Der junge sizilianische Hocharistokrat Thomas von Aquin, dessen Werk später auf Dante wirkte, war aus dieser seelenlosen Diktatur zuerst nach Paris und sodann in den „ unterentwikkelten “ deutschen Norden emigriert, wo er in Köln Schüler des „ großen “ Albertus Magnus wurde, der sowohl in naturwissenschaftlicher Hinsicht als auch vor allem durch eine teilweise neuplatonisch orientierte Metaphysik ein echtes Gegengewicht dazu bildete. Der Traumweg von Dantes Jenseitswanderung ist jedenfalls nicht frei von Prüfungen und Versuchungen, und die tiefe Liebe Farinatas zu Florenz als auch seine große Würde stellten eine gewisse Versuchung für Dante dar, darüber das Höchste überhaupt aus den Augen zu verlieren. Vergil aber, der schon auf der empirischen Ebene ein Führer im dichterischen Bereich für Dante gewesen war, erweist sich nun im Jenseits nicht nur als ein lokal-geographischer, sondern auch als ein geistiger Führer durch die Hölle. An solchen Stellen liest sich die Commedia fast wie eine neuere, templergnostische Variationsform des ägyptischen und tibetischen Totenbuches. Als nämlich die beiden zum nächsten Höllenkreis weiterschreiten, hebt Vergil als Hierophant oder „ Guru “ warnend den Finger und verlangt: „ Und jetzt merk auf! “ Und er erinnert Dante daran, an das Weisheits- Sinnbild Beatrice zu denken, wodurch Dante der wirkliche Sinn und das letzte Ziel seiner Lebensreise bewußt werden sollen. Am Beginn des Elften Gesanges gibt es noch eine Art Nachtrag, der freilich nicht ganz in den Zehnten hineingepaßt hätte. Bevor Dante und Vergil in den Siebenten Höllenkreis hinabsteigen, flüchten sie sich vor dem gräßlichen Gestank in erster Abwehr, und um sich daran zu gewöhnen, in den Schutz von „ eines Grabes Deckelstein “ , auf welchem Dante den Namen von Papst Anastasius II. liest. Die minutiöse Komposition der Commedia läßt keine blinden Zufälle zu. Diese vorübergehende „ Zuflucht “ war gewiß sorgfältig geplant. Im Zehnten Gesang hatte Dante nach der zentralen Begegnung mit Farinata noch auf Kaiser Friedrich II. hingewiesen, der gerade in diesen Höllenkreis allein wegen seiner die Seele leugnenden Haltung zu büßen hatte. Die großartige Harmonie und Genauigkeit der Komposition verlangte geradezu als Ausgleich den Hinweis auf das entgegengesetzte, nicht minder falsche Extrem. Dabei ging es nicht nur einfach um die einseitige Betonung des Diesseits gegenüber dem Jenseits und umgekehrt, sondern um die falsche Auffassung grenzenlosen totalen Materialismus gegenüber der falschen Auffassung von einer gewissen grenzenlosen Göttlichkeit. Es zeigt die große Bildung Dantes, daß er infolge seiner Kenntnis Gratians und dessen Decretums (dist. 19, 8) wußte, daß ein Idealfall für seinen Zweck Papst 114 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="133"?> Anastasius II. war, der bereit gewesen sein soll, das Henotikon (Vereinigungsformel) zu unterschreiben, das wegen seines monophysitischen Charakters dazu geführt hatte, daß sein Vorläufer Papst Gelasius den Patriarchen von Konstantinopel mit dem Bann belegt hatte. Die Monophysiten, wie schon der Name sagt, vertraten die Auffassung von der einseitigen Dominanz der göttlichen Natur Christi, welche seine menschliche Natur weitgehend leugnete. 85 Nachdem Dante aber den Zehnten Gesang für die materialistischen Ketzer reserviert hatte, versetzte er das Gegenstück des Materialisten Friedrich II. in den Übergang zum Elften Gesang, um die Ordnung nicht zu zerstören. Anastasius liegt darum auch nicht in einem rotglühenden, offenen Sarg, sondern in einem durch einen Deckelstein geschlossenen Grab. An der Zuweisung zur richtigen Abteilung der Hölle ist nichts verschieden, aber er hat wenigstens einen Grabdeckel. Er steht für den Glauben an die alleinige, rein göttliche Natur Christi, sogar für die Kirche untragbar, wie dann erst für einen Templer. Der ganze Elfte Gesang ist sodann der Aufklärung Dantes durch Vergil über die Anordnung der letzten drei Höllenkreise gewidmet. Diese Aufklärung geschieht während der Rast hinter dem „ Deckelstein “ des Grabes von Anastasius, wo sich Vergil und Dante an den entsetzlichen Gestank gewöhnen wollen, der vom Siebenten Höllenkreis her aufsteigt. Die Anordnung, die Vergil Dante auseinandersetzt und die einige Abänderungen der Nikomachischen Ethik beinhaltet, zeigt, daß der Siebente, Achte und Neunte Höllenkreis, welche die unterste Tiefenhölle bilden, und den Kapitalsünden der Ira, Invidia und Superbia des Thomas von Aquin gewidmet sind, jeweils wieder in eine Art von Unterkreise oder Sektoren unterteilt wurden. Der Siebente Höllenkreis, in dem die Seelen der Gewalttäter bestraft werden, gliedert sich in Sektoren für Sünder gegen den Nächsten und seine Habe, gegen sich selbst (leiblichen und bürgerlichen Selbstmord) und Sünder von Gewalttaten gegen Gott und die von diesem geschaffene Natur (Gotteslästerer, Sodomiten und Wucherer). Böser noch als die Gewaltverbrechen schätzt Gott die Sünden des Betruges ein, weil nur der Mensch infolge seines Verstandes ihrer fähig ist. Im Achten Höllenkreis befinden sich die Seelen von Sündern, die des Betruges schuldig sind. Hier werden zwei Sektoren unterschieden: Betrug an nahestehenden Verwandten und Freunden einerseits und andererseits alle allgemeinen anderen Betrugssünden. Nach Vergils Vorschau im Elften Gesang sind dies Heuchler, Schmeichler, schwindelhafte „ Zauberer “ , Fälscher, Diebe, der Simonie Schuldige, Kuppler und allgemeine Gauner. Im letzten und untersten Höllenkreis aber werden Sünder bestraft, die als besonders böse Abart Betrug des Verrates begangen haben. Hier gibt es vier verschiedene Sektoren des Verrates von Sündern gegen Blutsverwandte (Kaina), von politischen Verrätern (Antenora), von Verrätern an Tischgenossen (Tolomea) 85 Vgl. William Hugh Clifford: The Rise of the Monophysite Movement. London 1972 115 Dantes Hölle <?page no="134"?> und von Verrätern an eigenen Wohltätern (Judecca). Am alleruntersten Punkt aber, im Erdmittelpunkt, sitzt zur Hälfte in Eis eingefroren, Lucifer, der Erzverräter an Gott. In den letzten Strophen des Elften Gesanges erhält Dante auf seine Frage hin eine besondere Belehrung, weshalb „ Wucher “ Gott kränkt. Den zeitgenössischen Lesern der Commedia war vieles selbstverständlich, was heute höchstens einige Fachleute wissen. Von der Kirche wurde zunächst jegliches Kassieren von Zinsen als „ Wucher “ eingestuft und verboten. Nun haben die Templer bekanntlich in Europa das moderne Bankwesen durch Kreditbriefe, eine Art Scheckverkehr und eine neue Buchhaltung eingeführt. Dabei haben sie sich durch Pfänder, Zinsen und Geldbußen abgesichert. 86 In den ersten Jahrzehnten wurden dabei oft dort, wo es möglich war, die Zinsen dadurch verschleiert, daß das ausgezahlte Geld zu einem schlechteren Wechselkurs verrechnet wurde. Angesichts dieser Tatsachen begann die Kirche wahrscheinlich gerade angesichts der Templer-Bankiers ihre Haltung zu verändern und das hatte gute Gründe. Denn die privaten, nicht christlichen oder illegalen, Geldverleiher hatten geradezu verbrecherisch hohe Zinssätze verrechnet, denen gegenüber die Templer, die bis zu zehn Prozent nahmen, spottbillig waren. Bei den Geldbußen waren freilich auch die Templer recht unverschämt und nahmen bis zu hundert Prozent. Nun wird die Forderung von verbrecherisch hohen Zinsen heute in den meisten, wenn nicht allen, Kulturstaaten strafrechtlich verfolgt. Das größte Ausmaß von „ Wucher “ im Sinn Dantes wird heute durch die Korruption von Bank- und Börsenmagnaten verbrochen, denen die dadurch an Kunden entstandenen Verluste oft vom Staat durch Steuergelder ersetzt werden, was freilich Gott noch mehr kränkt als die höchsten Zinsen des Mittelalters. In den allerletzten vier Versen spornt Vergil Dante zu größerer Eile an, da der Stand der Sterne bereits eine späte Stunde anzeigte. Diese Bemerkung ist dadurch interessant, weil sie bezeugt, daß Vergil zumindest jetzt als Führer Dantes insofern eine Sonderstellung genießt, als er im Unterschied zu den anderen großen Geistern der Antike im Limbus des Ersten Höllenkreises Kenntnis der Gegenwart der irdischen Welt besitzt. Der Vers 105 des Elften Gesanges hat ein Gedicht Goethes angeregt ( „ Von Gott dem Vater stammt Natur . . . “ ), dessen letzter Vers die goethesche Übersetzung des Verses 105 von Dante ist. Keineswegs nur die sprachliche Meisterschaft des Zwölften Gesanges hat Goethe so bewegt, daß er den Gesang teilweise übersetzt hat. Der Zwölfte Gesang führt in den Ersten Sektor des Siebenten Höllenkreises zu den Gewalttätern gegen den Nächsten, den Mördern, Tyrannen und Räubern. Sinngemäß ist der Hüter und Wächter dieses Höllenkreises der gewalttätige Minotaurus, ein mythisches Untier, halb Mensch, halb Stier, das in Kreta von Menschenopfern genährt worden war, bis Theseus es tötete. Er bietet 86 Vgl. Jules Piquet: Des banquiers au Moyen Âge, les templiers. Paris 1939 116 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="135"?> ein Bild der Gewalttätigkeit, um so mehr, als Vergil, damit er mit Dante das Tor passieren konnte, ihn in rasende Wut versetzt, bis er wie ein Stier, dem der Todesstoß versetzt wurde, nur noch taumeln kann. In diesem Sektor wurden die Seelen der Tyrannen jeglicher Art und Herkunft in einem Blutstrom gesotten. Im einzelnen nennt Dante zuerst fünf Tyrannen, die im Gegensatz zu Hitler, Stalin, Mao, Gaddafi und Assad dem heutigen Leser kaum bekannt sind: Alexander von Pharä (und nicht Alexander den Großen, den Dante sehr verehrte), Dionysos von Syrakus, Ezzelino da Romano, Obizzo II. von Este und Guido von Montfort. Später nennt er dann noch Attila, Pyrrhus von Epyrus und Sextus, den Sohn des Pompejus, der Seeräuber wurde, sowie ganz zuletzt zwei damals bekannte Straßenräuber. Ein Centaur trägt Dante über den Blutstrom zum nächsten Sektor des Siebenten Höllenkreises, der durch eine unendlich bedrückende Vegetation und Landschaft gekennzeichnet ist. Hier werden Seelen von Gewalttätern gegen sich selbst bestraft, von Selbstmördern oder Vernichtern der eigenen Existenz. Die Blätter der Sträucher und Bäume sind nicht grün, sondern schwarz und werden von scheußlichen Harpyen gegessen. Dante vermag weit und breit keine Seele eines menschlichen Wesens zu erblicken. Als er einen der schwarzen Zweige von einem Strauch pflückt und der Strauch aufschreit, entdeckt er, daß die Seelen hier mit den Sträuchern und Bäumen anstatt mit der Erscheinung eines menschlichen Körpers verbunden sind. Die Selbstmörder werden durch das Fernbleiben des Körpers, von dem sie sich selbst entleibt haben, bestraft. Der Strauch, von dem Dante einen Zweig gebrochen hatte, entpuppt sich als die Seele des Pietro della Vigna, des Kanzlers Friedrichs II., der offenkundig einer Hofintrige zum Opfer gefallen war. Vom Kaiser für einen Verräter gehalten, wurde er zur Strafe geblendet und auf Lebenszeit in einen Turm gesperrt. In einem Verzweiflungsausbruch rannte er seinen Kopf so hart gegen eine Mauer, daß er sich tötete. Nach Thomas von Aquin ist der Selbstmord ein ärgeres Vergehen als der Mord. Aber auch Sünder, die willkürlich ihre eigene Existenz vernichtet haben, werden in diesem Höllenkreis bestraft. Sie werden von Teufeln in Gestalt von bösen Hunden durch die triste Landschaft gejagt, wobei sie Zweige und Äste brechen und so die Leiden der Selbstmörder vergrößern. Der Vierzehnte Gesang, der vom Dritten Sektor des Siebenten Höllenkreises berichtet, spielt sich in einer trockenen Sandwüste in größter Hitze ab, wobei noch überdies glühende Feuerflocken vom Himmel fallen. Die Seelen der Sünder lagen auf dem brennend heißen Boden entweder nackt auf dem Rücken oder hockten in sich gekauert. Eine Gruppe aber eilte rastlos hin und her. Obwohl die Gotteslästerer niedergestreckt waren, richteten sie noch immer ihr Gesicht frech gegen den Himmel. Es waren die Wucherer, die rastlos hin und her rannten und gierig auf die umgehängten leeren Taschen der anderen schauten. Die Sodomiten liefen ebenfalls in geiler Lust hin und her. 117 Dantes Hölle <?page no="136"?> Wie im Fall von Paolo und Francesca und von Farinata erregte eine Gestalt das besondere Interesse Dantes, die der Gluthitze nicht zu achten schien. Es war Kapaneus, einer der sieben Könige, die nach dem Mythos Theben hatten erobern wollen. Er hatte nicht den christlichen, sondern den höchsten alten griechischen Gott gelästert und das Beispiel zeigt wieder einmal den bereits renaissanceartigen Einfluß der Antike auf Dante. Überdenkt man jedoch den Zusammenhang etwas genauer, dann liest es sich auch wie ein Vergleich des neuen Gottes Christi mit dem älteren, alttestamentarischen Gott. Denn Zeus war der höchste Gott in der homerischen Götterwelt, doch hatte es noch ältere Götter bei den Griechen gegeben. Schult weist darauf hin, daß in den orphischen Mysterien die Titanen es waren, die als Götter der Vorzeit von den neuen Göttern als falsche Götter verleumdet worden waren. 87 Aber mehr noch: Der alte oberste Gott vor Zeus, Kronos-Saturn, war der Herrscher des Goldenen Zeitalters gewesen, des irdischen Paradieses, das in der Commedia einen überaus wichtigen Stellenwert besitzt. Der Kapaneus des Vierzehnten Gesanges empfindet sich als Märtyrer des alten Gottes Kronos- Saturn. Vergil aber tritt an des Autors Dante Seite, wenn er die Pein des Kapaneus als „ Marter “ bezeichnet, was im Grunde einen Widerspruch zur Auffassung der Amtskirche über die gerechte Strafe Gottes darstellt. Um das Ganze noch zu unterstreichen und auf die aus berechtigter Angst vor der Inquisition versteckte Art der Darstellung hinzuweisen, warnt ausgerechnet hier Vergil Dante davor, die Füße nicht „ in die Glut des Sandes “ (des Scheiterhaufens) zu setzen, sondern sich „ am Saum des Waldes “ zu halten. Schult weist auch auf eine Stelle in Dmitri Mereschkowskis Buch Dante hin, daß etwas Größeres als sein Tagesbewußtsein auf Seiten des Kapaneus ist. 88 Dante und Vergil wandern an der Grenze hin, an welcher die heiße Sandwüste an den Wald des Dreizehnten Gesanges stößt, bis sie zum Fluß Phlegeton gelangen, der, aus dem Ersten Sektor der Gewalttäter kommend, den Sektor der Selbstmörder sowie in einem steingefaßten Kanal den Sektor der Gotteslästerer durchfließt, um sich weiter in den Achten Höllenkreis zu bewegen. Während die beiden Wanderer auf dem Steindamm des Kanals die heiße Sandwüste durchqueren, erzählt Vergil Dante die Geschichte vom Standbild eines Greises, das in einer Grotte des Berges Ida auf Kreta steht, den Rücken gegen Damiette gewendet, das Antlitz aber gegen Rom. Niemand hat die Statue dieses Greises so genau und überzeugend analysiert wie Robert John. 89 Er weiß nicht nur, wie sehr Damiette ein Schlüsselort in der Templergeschichte ist, sondern er kennt als Theologe auch genau das Buch Daniel im Alten 87 Orph. Hymn. XXXVI; Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 171 88 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 171 89 „ Der Greis von Kreta “ in Robert John, op. cit., S. 117 - 123 118 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="137"?> Testament, in dem sich das genaue Modell befindet, nach welchem Dante seine Figur auf Kreta gezeichnet hat. Damiette ist der Ort, an dem beide Führungsmächte der Weltgeschichte in Dantes Schau Schiffbruch erlitten haben: das Papsttum dadurch, daß sein Vertreter Kardinal Albano Pelagius, der Heerführer spielen wollte, das Kreuzzugsheer ins Verderben führte, was das Kaisertum durch Friedrich II., der absichtlich fernblieb, noch besiegelte. Der Greis ist jedoch zumindest unter anderem auch darum ein Greis, weil er schon gegen Ende der Kreuzzugsgeschichte wie des Templerordens steht. Denn nach John versinnbildlicht der Greis selbst einen Templer oder vielleicht noch besser den Templerorden, da er „ das tränenträufelnde Gegenstück zu Dantes templarischen Glückseligkeitsbegriffen “ darstellt. Dieser Templergreis zeigt Damiette die kalte Schulter, weil er die Vorwürfe ablehnt, die den Templern nicht zuletzt in Florenz gemacht worden waren, daß sie die Schuld an der Katastrophe von Damiette trügen. Und er blickt nach Rom, weil die Stadt das Zentrum der von Dante erhofften Wiederherstellung des Templerordens in einer Ecclesia Spiritualis und deren Ausgleich mit einem gerechten und idealen Imperium darstellen sollte. Er blickt von West nach Ost, fort von einer dunklen Vergangenheit und in die Hoffnung auf eine leuchtende Zukunft. Im Unterschied zu etlichen anderen Interpreten hat John auch sofort gesehen, daß die Statue Dantes ganz genau jener des Traums von König Nebukadnezar im Buch Daniel nachgebildet ist. Daniel deutet diesen seinen Traum so, daß das babylonische Reich schwächer und schwächer werden wird und am Ende steht als positive Erfüllung der chiliastischen Hoffnung eines vom Himmel begründeten Reiches, das ewig stehen wird. John deutet die Gestalt des Greises bei Dante aber wohl richtig als die Erfüllung seines eigenen Traumes von der Wiederherstellung des Templerordens. Nebukadnezar war es ja gewesen, der den Juden das Versprechen gegeben hatte, sie würden aus der Gefangenschaft entlassen werden und könnten nach Jerusalem zurückkehren, um den Tempel Salomos wieder aufzubauen. Im Zusammenhang mit Dantes Hölle hat die Gestalt des greisen Riesentemplers auf Kreta vielleicht aber noch eine andere, sehr wichtige Funktion: Sein goldenes Haupt ist völlig unbeschädigt. Aber von der silbernen Brust abwärts zeigt sich ein Riß, aus dem sämtliche Tränen über das Fehlen des gerechten Imperiums niederträufeln, die sich zu einem mächtigen Strom entfalten, aus dem sich die Höllenflüsse Acheron, Styx und Phlegeton bilden. Sollte er auf die historische Situation der Commedia angewendet den Niedergang des Heiligen Römischen Reiches mit bedeuten? Im Allgemeinen wird die sinnbildliche Bedeutung des Standbildes schon seit dem 19. Jahrhundert als Symbol der Menschheit interpretiert. Vielleicht weil für genug Wasser für alle Höllenflüsse die Tränen der ganzen Menschheit zusammensteuern müssen, während Dante vielleicht annahm, die Tränen aller Templer seien 119 Dantes Hölle <?page no="138"?> zahlreich genug, um dafür auszureichen. Schult hat die allgemeine Menschheits- Deutung übernommen und an die uralte Symbolik der vier verwendeten Metalle erinnert, aus denen die Statue hergestellt ist: Gold, Silber, Kupfer und Erz oder Eisen sowie hier auch allerdings Ton. Diese vier Metalle bezeichneten nach einer alten Tradition die vier Weltzeitalter und Schult hat eine Reihe von noch weiter wegführenden Parallelen hinzugefügt. Von der Templergnosis her gesehen ist jedoch die Deutung Johns die unzweifelhaft direktere und richtigere. 90 Zwei Dinge aus dem Vierzehnten Gesang sind von grundsätzlicher Bedeutung. Erstens die Art, wie Vergil die Pein des Kapaneus beschreibt: Dein Hochmut muß als größte Pein dich beißen: Denn keine Marter als dein eignes Rasen, Kann deiner Wut gerechte Strafe heißen. Das impliziert im Grunde, daß die Hölle im Menschen selbst lokalisiert ist und ein psychologisches Problem darstellt, sodaß die glühende Sandwüste mit den Feuerflocken nur eine dichterische Metapher darstellt, die freilich eine überaus eindringliche Beschreibung der Qualen bildet, welche das Gewissen der Sünder quält. Zweitens fragt ganz am Schluß des Gesanges Dante, wo eigentlich der Fluß Lethe liege. Vergil vertröstet ihn auf später, wenn er weit weg von hier den Ort selber sehen werde, „ wohin die Seelen gehen zur Reinigung “ . Im Fünfzehnten Gesang wandern Vergil und Dante weiter auf dem steingefügten Kanaldamm in den Dritten Sektor des Siebenten Höllenkreises, der für Sünder gegen Gott und seine Natur bestimmt ist. Hier treffen sie auf die Sodomiten, die Homoerotischen und die weitaus wichtigste Person, der Dante hier begegnet, ist Brunetto Latini, der schon in Dantes früher Jugend mächtiger Staatssekretär von Florenz gewesen war und den er jetzt sein „ teures, liebes Vaterbild “ und seinen „ Lehrer “ nennt. John nimmt wohl zu Recht an, daß Brunetto Latini selbst es gewesen ist, der Dantes erste, frühe Fegnaire-Initiation (Jugend-Initiation) in die Weisheit der Templergnosis vorgenommen hat, und daß auch er es war, durch den Dante den Roman de la Rose kennen gelernt hat. Wie John auch wohl Wahrheit trifft, wenn er annimmt, daß es der junge Dante war, der unter dem Pseudonym Messer Durante eine sehr verkürzte italienische Übersetzung dieses damals weltberühmten Romans vorgenommen hat. Brunetto Latini aber hatte außerdem unter anderem den Tesoretto verfaßt, der ebenso wieder nach John unverkennbare Spuren des Templertums an sich trägt. In der Einleitung zum Tesoretto, eines italienisch geschriebenen Auszugs aus Brunetto Latinis französisch geschriebenem Buch Livres du Trésor, gibt es eine Stelle, die wie in Dantes Erstem Gesang der Hölle die allegorische Darstellung eines Verirrens im Wald gibt, die oft mit dieser Stelle verglichen worden ist. Dante selbst macht hier 90 Vgl. Robert John, op. cit., S. 117 - 123 120 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="139"?> im Fünfzehnten Gesang eine Anspielung darauf, als Brunetto ihm zum Abschied seinen Trésor ans Herz legt. Dante redet die Seele Brunettos aus Ehrfrucht nicht mit „ du “ , sondern mit „ ihr “ an. Im allerletzten Vers jedoch, in dem der Gesang gipfelt, nennt er Brunetto einen von denen, „ Die da gewinnen und nicht unterliegen. “ 91 Für Paolo und Francesca hat Dante Mitleid, für Farinata Bewunderung, für Kapaneus Achtung, für Brunetto Latini Ehrfurcht: Diese Höllenbewohner allein bezeugen, welch geringe Achtung er aus seiner gnostischen Sicht für die kirchliche Hölle hatte. Brunetto Latini berichtet ihm übrigens, daß sich in seinem Sektor auch Priester und Gelehrte hohen Ruhms befinden, die nach Dantes Überzeugung wohl hineingehören. Schult hat auch darauf hingewiesen, daß Brunetto Latini Dante sein Horoskop gestellt hatte. Nach ihm hatten die Templer die Sternenlehre Platons und des Neuplatonismus „ in ihrer Esoterik . . . in christlicher Form abgewandelt “ , da für sie die Sterne Träger und Mittler göttlicher Formkräfte waren, durch welche „ Gott das Schicksal des Menschen fügt und leitet. “ Wie Schult übrigens auch die Reproduktion des Bildes einer Knaben-Initiation bringt, das wahrscheinlich von dem esoterisch sehr gebildeten Giorgione stammt. 92 Schult schreibt, daß Dante Brunetto Latini kein schöneres Denkmal der Liebe hätte setzen können, als die Terzinen im Vierzehnten Gesang der Hölle, und daß dieser neben Beatrice für Dantes Schicksalsführung von entscheidender Bedeutung gewesen ist. Am Rande sei vermerkt, daß die Stelle im Vers 112, in dem Dante auf Papst Bonifaz VIII. als „ Knecht der Knechte “ hinweist, beißende Ironie ist. Am Beginn des Sechzehnten Gesanges trifft Dante in der heißen Sandwüste noch eine letzte Gruppe von Sodomiten, aus der sich drei ablösen und auf ihn zukommen, da sie ihn an seiner Kleidung als einen Florentiner Landsmann erkannt haben. Es sind drei berühmte Florentiner Feldherrn, die nach Dantes Überzeugung zweifellos auch nicht in die Hölle passen. Nach Schult sind sie durch einen ganz besonderen Adel ausgezeichnet und ihre Frage nach dem jetzigen Stand der irdischen Welt drückt ihre Sorge um die Erhaltung edlen Menschentums aus. Auch sie haben durch ihre vornehmen Seelen und ihre edle Haltung im Grunde die Hölle überwunden und es wird klar, daß sie nicht in diese gehören. Am Schluß des Gesanges kündigt sich jedoch als besonders eindrucksvoller Kontrast einer der bösesten und verworfensten Höllenbewohner von allen an. Dieser Bösewicht war zumindest ursprünglich ein solcher Liebling des französischen Königs Philipps des Schönen und auch der Amtskirche gewesen, daß Dante es einfach nicht wagen durfte, ihn mit seinem wirklichen Namen als 91 Vgl. Robert John, op. cit., S. 11, 12, 13, 14 92 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 182 - 186 und 48 121 Dantes Hölle <?page no="140"?> Sünder einzuführen. Aus berechtigter Vorsicht vor der Inquisition läßt er dieses „ ekelhafte Bild des Truges “ in der Maske eines Teufels auftreten, wie sie sehr gut zu seiner Natur paßt. Es ist eine der vielen detaillierten Meisterleistungen der Interpretation Robert Johns, die wahre Identität dieses Teufels-Drachens in der Person Noffo Deis enthüllt zu haben. Dieser stellt in der Geschichte des Templerordens eine so wichtige - negative - Figur dar, daß er ihr ein ganzes Kapitel seines Buches gewidmet hat. 93 Vergil verlangt von Dante seine „ corda “ , den Strick, den er als Templer dauernd um den Leib trägt, 94 um den Drachen anzulocken. Mit seiner Dreiteiligkeit von Menschenkopf, Schlangenleib und Skorpionstachel am Schwanzende stellt er ein negatives Gegenstück zur Dreifaltigkeit dar. Noffo Dei, welcher der Urheber des Templer-Prozesses gewesen ist, war oft genug selbst Gast im Templer-Hauptquartier von Paris gewesen. Den Namen Geryon hat ihm Dante nach einem bei Boccaccio erwähnten König Geryon auf den Balearen gegeben, der durch verlogene Freundlichkeit Fremde zu sich ins Haus lockte, wo er sie ermordete. Dementsprechend wird Noffo Dei auch im Siebzehnten Gesang beschrieben: Sein Antlitz war das Antlitz eines Biedern, So freundlich mild war seine Außenseite, Doch Schlange war der Rumpf samt untern Gliedern. Dante schreitet allerdings zunächst auf Vorschlag Vergils zum allerfernsten Rand des Siebenten Höllenkreises, wo sich die Jammerbande der Wucherer aufhält, die höllische Finanzwelt von Florenz. Dante findet es nicht wert, Namen von ihnen zu nennen, doch gibt es Anspielungen auf den Geiz und Krämergeist von bestimmten Adelsfamilien: die Gianfigliazzi und Obriacchi aus Florenz werden genannt, und die Scrovigni aus Padua. Als Dante zu Vergil zurückkehrt, findet er ihn bereits auf dem Rücken des Drachen Geryon sitzend, der die beiden Wanderer die steile Schlucht entlang im Flug in den Achten Höllenkreis hinunterträgt. Noffo Dei aber symbolisiert nicht bloße Schwäche oder Leidenschaft, sondern überlegte Bosheit. Dante hat ihn zum höllischen Patron aller Täuscher, Betrüger und Verräter in der Hölle gemacht, und als die reine Verkörperung des Truges haust er offenbar inmitten der Verräter auf dem Boden des untersten und Neunten Höllenkreises. Dante hat Noffo Dei in seiner Commedia in die Hölle versetzt, obwohl dieser erst 1313 sein Leben am Galgen beendete. Das ist keine Unachtsamkeit Dantes, sondern Noffo Dei gehört zu jenen wenigen, ganz bösen Verbrechern, deren Seele bereits im Augenblick des Verrates - in diesem Fall des Verrates an den Templern - 93 Robert John, op. cit., S. 135 - 143 94 Vgl. Robert John, op. cit., S. 140 f. und Julius Evola: Das Geheimnis des Grals. München- Planegg 1955, S. 182 122 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="141"?> in die Hölle fährt, während der Platz der Seele in seinem Körper bis zu dessen Tod von einem Teufel eingenommen wird. Wie so vieles in der Commedia darf auch das nicht wörtlich genommen werden. Durch den Verrat verwandelt sich eben im selben Augenblick die Seele selbst in eine teuflische Seele. Die „ corda “ aber, der Templerstrick Dantes, hat hier eine doppelte Funktion. Einerseits dient sie dem Zweck, Geryon, der sofort erkennt, welcher Art dieser Strick ist, neugierig zu machen und aus seinem untersten Aufenthaltsort heraufzulocken, andererseits ist sie überdies auch ein Signal für den Verbrecher, der am Galgen enden wird, und welches Signal wäre passender für ihn als ein Strick und für einen Verräter der Templer ein Templerstrick? Da aber Dante wieder zu Vergil zurückgekehrt ist, fordert ihn dieser auf: Steig auf hier vorn, ich bleibe in der Mitte, So bringt der Schwanz dir keinen Schaden weiter. Er hatte guten Grund, zur Vorsicht vor dem Skorpionstachel am Ende des Schwanzes von Geryon zu warnen, der von hinten über seinen Rücken hinweg zugestochen hätte. „ Die Reihung des Wuchers unter die Gewalttaten gegen die Natur ist trotz ihrer Ungewöhnlichkeit ein erfinderischer Kunstgriff Dantes. Noffo Dei wird seine Vergeltung in der Tolomea finden, deren gräßliches Höllenprivileg eine just seinetwegen erdachte Besonderheit der Commedia ist. Er wird seinen Platz dort erhalten, wo sich sein Widerspiel Geryon aufhält, im Grundeis der Hölle, in gerader Richtung unter den Wucherern von Florenz und der Lombardei, in gerader Linie aber auch unter dem Alten von Kreta, dessen hartgefrorene Tränen auch das eisige Bett Noffo Deis bilden werden. Das Gebrause des über den Rand des Siebenten Höllenkreises hinabstürzenden Phlegeton ist ein vom Dichter geschaffenes Signal, um uns aufmerksam zu machen, daß die Stelle, wo Geryon- Noffo Dei auf die beiden Höllenwanderer wartet, auf der unterirdischen Verbindungslinie zwischen dem Cocytus und seiner kretensischen Quelle liegt. Es ist dies zugleich die Blickrichtung Satans, die symbolische Linie der Katastrophen für den Templerorden, aber auch, insofern er gerade der Hüter des Wissens um die Glückseligkeit des Menschengeschlechtes ist, die Linie der Katastrophen der Menschheit. Wir erkennen somit: Obwohl Dante Noffo Deis Namen verschweigen hatte müssen, hat er es in der großartigsten Weise verstanden, dem Verräter der Templer trotzdem jene Hölle zuzumessen, die ihm nach den moralischen Maßstäben des Dichters gebührte. “ 95 Der Achte Höllenkreis, in dem Geryon die beiden Wanderer abgesetzt hat, ist für die Seelen von Betrügern verschiedenster Art bestimmt. Die vormals oft leidenschaftliche Bewegung der Seelen ist hier entweder in dumpfes Brüten oder aber in Aggression verwandelt. Manche der Seelen sind vertiert und tückisch. Aus 95 Robert John, op. cit., S. 143 123 Dantes Hölle <?page no="142"?> diesem Grund halten sich Vergil und Dante von direktem Kontakt fern und blicken nur von hohen Brücken in diese Grottenlandschaft mit den Seelen hinab. Der Achte Höllenkreis ist in zehn Sektoren oder Gräben untergeteilt, von denen neun durch solche Brücken verbunden sind. Im Ersten Sektor befinden sich die Kuppler, denen durch “ Hörnerteufel “ die Rücken mit langen Geißeln zerfleischt werden. Ihnen und den neun Arten von Betrügern sind die Gesänge Achtzehn bis Dreißig gewidmet. Von den Kupplern wird unter anderem Venedico Caccianimico genannt und von den Schmeichlern Jason, der Hypsipyle und Medea betrog. Unter den Dirnen ragt als die bekannteste die griechische Hetäre Thais aus dem 4. vorchristlichen Jahrhundert hervor. Der Neunzehnte Gesang beginnt mit einem der berühmtesten Gnostiker, mit Simon Magus, der aber selbstverständlich nicht wegen seiner gnostischen Weltschau, sondern wegen Simonie in der Hölle weilt. Dantes Objektivität und Strenge geht so weit, daß er auch Seelen von Menschen, die er hoch achtete oder liebte, wenn sie unter die Kategorie des Vergehens gegen eine bestimmte Sünde fallen, seiner Hölle einreiht. Von Simon Magus aber heißt es in der „ Apostelgeschichte “ des Lukas, daß er die Apostel durch Bestechung dazu verleiten wollte, ihn zu lehren, wie sie es vermochten, durch das Auflegen der Hände den Heiligen Geist herabzubeschwören. Daraufhin wurde er von Petrus verstoßen. Es wäre allerdings auch eine andere Interpretation der Geschichte möglich. Nämlich daß Petrus die heiligen Schriften wörtlich und das heißt fundamentalistisch auslegte, Simon aber gnostisch und das heißt allegorisch-symbolisch. Wenn es wahr ist, daß Simon und seine Anhänger zum Christentum übertraten, dann blieb er dennoch bei seiner Art der Auslegung. Über die Kluft dieser Verschiedenartigkeit aber führte keine Brücke. Simon wollte zwar Christ bleiben, vertrat aber weiterhin seine Meinung. Darum wurde er von Petrus verstoßen. Nun hätte es aber in der Apostelgeschichte wirklich nicht gut ausgesehen, wenn von Lukas die beiden verschiedenen Meinungen und Simons Haltung als Grund des Verstoßens erklärt worden wären. Das hätte sogar eine ungewollte Werbung für die Gnosis werden können. Da machte sich der Vorwurf der Simonie sehr viel besser. Leisegang hat übrigens auf einen anderen interessanten Zusammenhang hingewiesen: Der Bericht von der persönlichen Entwicklung des Simon Magus von der Gnosis zum Christentum, von seiner Verstoßung und seinem Wunsch, trotzdem Christ zu bleiben, spiegelt genau die Geschichte der häretischen Gnosis wider. Sie war eher da als das Christentum; sie wurde christlich; die Christen stießen sie zurück; sie wollte dennoch christlich bleiben und für christlich gehalten werden. 96 Überlegt man aber, wie leicht die zehn Terzinen gegenüber der Papstbeschimpfung desselben Gesanges wiegen, dann kommen wohl in erste Linie zwei Möglichkeiten der Erklärung in Frage. Entweder Dante hat dem Bericht der 96 Hans Leisegang, Die Gnosis, S. 62 124 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="143"?> Apostelgeschichte geglaubt und hat Simon, welcher der Sünde ja sogar den Namen gegeben hat, aus diesem Grund bewußt in die Hölle versetzt. Oder er wußte, daß dieser Namensgebung eine kirchliche Verdammungsabsicht zugrunde lag. Dann mag er Simon Magus vorgeworfen haben, daß er trotz seines gnostischen Wissens vor den Fundamentalisten kapituliert hatte. Die Seele von Papst Nikolaus III., der auch im simonistischen Sektor gelandet ist, steckt mit dem Kopf nach unten und oben herausragenden Füßen in einer Röhre. Nikolaus, der ja in seiner Röhre nichts sehen kann, hält Dante für die Seele von Bonifaz VIII., der nunmehr auch schon in dem für ihn richtigen Höllensektor eingetroffen ist. Der Autor Dante hat dieses „ Mißverständnis “ bewußt geschaffen, um dem noch lebenden Bonifaz schon jetzt seinen Platz anzuweisen. Aber auch der nächste Papst, der nach Bonifaz in diesem Höllenkreis enden muß, wird schon jetzt angekündigt, wie jener voll „ von böser Werken Flecken “ und „ ein Hirte ohne Satzung “ . Es ist der Franzose Clemens V., der gemeinsam mit Philipp dem Schönen das Schicksal des Templerordens besiegelt hat. Die ganze Röhre, vor der Dante steht, ist nur für simonistische Päpste reserviert. Jeder Neuankömmling stößt seinen Vorgänger tiefer hinab, wo er sich sodann „ felsgequetscht “ in Steinspalten schmiegen muß. Für Dante galt es als besonderes Verbrechen, daß ein Papst seine eigenen Nepoten großzieht und die Armen darben läßt. Dante hält Nikolaus eine imposante gnostische Strafpredigt, die von einer weit gefaßten Theorie der Simonie über die Funktion des Schlüsselamtes bis zur Überzeugung führt, wonach die päpstliche Habgier der Zeit überhaupt die Guten zertritt und die Schlechten erhöht, was sich ja auch in der Templerverfolgung spiegelt. Vergil genießt diese Vorhaltungen Dantes sehr, drückt ihn umarmend an sein Herz und trägt den so Umarmten das nächste kleine, aber gefährliche Stück ihrer Wanderung weiter. Im Zwanzigsten Gesang trifft Dante zum ersten Mal auf „ Versunkene “ , die tief unter ihm langsam wandeln, da ihnen der Kopf umgedreht ist, sie nur nach rückwärts schauen können und mit nach vorne gerichteten Füßen rückwärts schreiten müssen. Es sind die Seelen der falschen Wahrsager, denen der Kopf nach rückwärts gedreht ist, weil sie sich erdreistet haben, vorwärts in die Zukunft zu schauen. Als Dante wieder einmal aus tiefem Mitleid Tränen vergießt, wird er im Unterschied zum Fünften Gesang hier durch Vergil berichtigt. Dem Autor Dante liegt offenbar daran, zwischen richtiger und falscher Zukunftsschau zu trennen. Vergil gibt Dante Auskunft über Insassen dieses Sektors und berichtet auffällig ausführlich über die Wege Mantos, ehe sie sich da niederließ, wo später die Stadt entstand, die ihren Namen als Mantua trug, aus der Vergils Eltern stammten und die er als Herkunftsort nannte, als er auf Dante traf. Seine Schilderung hält sich besonders lange bei der Landschaft des Gardasees auf, von ihm Benaco genannt. Es scheint eine Anspielung Dantes auf und eine Art Memento Mori für die letzten italienischen Katharer zu sein, die nahe bei dem von Vergil genannten Ort 125 Dantes Hölle <?page no="144"?> Peschiera in der Burg von Sirmione eine letzte Fluchtburg gefunden hatten. Sie wurden schließlich besiegt, gefangen und im Jahr 1276 in Verona verbrannt, wo Dante etliche Jahre später bei Bartolomeo della Scala Zuflucht und Schutz gefunden hatte. Gegen Ende des Zwanzigsten Gesanges nennt Vergil mit Michel Scotus nach den Wahrsagern auch Vertreter schwarzer Magie. Scotus hatte sich vor allem mit astrologischen und alchemistischen Schriften der Araber beschäftigt, die für Dante offenkundig fragwürdig gewesen sind und als „ magische Betrügerspiele “ abqualifiziert werden. Der fortschrittliche Dante nimmt im Einundzwanzigsten Gesang den Umstand, daß hier im nächsten Sektor die Seelen bestechlicher Beamter in siedendem Pech leiden müssen, zum Anlaß, auf das technische Weltwunder seiner Zeit, das Arsenal von Venedig, hinzuweisen. In dessen Schiffswerften wird auch zur Schiffskalfaterung Teer gekocht. In dieser Abteilung der Hölle tauchen gefährliche Teufel mit ihren scharfen Gabeln die leidenden Sünder tiefer in das kochende Pech, wenn sie daraus aufzutauchen versuchen. Erst nach der Vorbereitung von Vorsichtsmaßnahmen erlaubt Vergil den direkten Kontakt Dantes mit den Teufeln. Zunächst wollen sich diese sogar auch auf Vergil selbst stürzen, als sie ihn entdecken, doch nachdem er mit ihrem Anführer „ Übelschwanz “ verhandelt hat, hält sie dieser zurück. Einer der Teufel trägt übrigens im italienischen Original den Namen Rubicante, „ Räuber cante “ , was als Anspielung auf den Florentiner Podesta Cante de ’ Gabrielli gedeutet worden ist, der 1302 das Verbannungsurteil gegen Dante unterschrieben und sein Vermögen eingezogen hatte. Der Anführer der Teufel Übelschwanz gibt den beiden Wanderern Ratschläge, wie sie sicher weiterkommen können und gibt ihnen auch eine Eskorte von Teufeln mit. Durch das Erdbeben, das beim Tod Christi ausgebrochen war, sind alle Brücken eingestürzt, die vom Fünften zum Sechsten Sektor geführt hatten, angeblich bis auf eine. Wie sich später herausstellt, hatte der Teufel gelogen. Wenn man dazu die Groteske nimmt, die Dante mit den komischen Namen der Teufel verbindet und zum Überfluß noch den Umstand, daß sich im letzten Vers des Gesanges der Oberteufel mit einem laut posaunten Flatus aus seinem Hinterteil verabschiedet, gewinnt man den Eindruck einer tragikomischen, deshalb aber keineswegs weniger bitteren Satire. Der große Dichter der Antike und der Templer Dante stehen im Kontrast zu den dummen, jedoch gefährlichen Teufeln, die sie in dieser fiktiven Hölle so bedrohen wie die Vertreter der Ecclesia Carnalis und ihre Inquisitoren die Templer in der empirischen Wirklichkeit. Im Zweiundzwanzigsten Gesang sehen Dante und Vergil, wie die Teufel eine unvorsichtige Seele, die aus dem Pech aufgetaucht ist, packen und herausziehen, um sie zu quälen. Dante möchte gerne mehr über diesen Sünder und andere Sünder hier im Fünften Graben wissen. Der Herausgefischte ist ein schlauer Navarrese, dem es zuletzt sogar gelingt, die Teufel zu überlisten und in das heiße 126 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="145"?> Pech zurückzuspringen. Über ihn selbst, der Ciampolo hieß, wird nichts weiter mitgeteilt, doch berichtet dieser von anderen Sündern hier, die alle Pisaner sind und in Sardinien lebten. Da in der Commedia nichts zufällig ist und diese Hinweise wohl Anspielungen sind, so gibt Dante wohl eine Art Beweis für die Richtigkeit der Hinweise über die Templer in Sardinien. 97 Im Dreiundzwanzigsten Gesang gelangt Dante in den Sechsten Sektor des Achten Höllenkreises, in dem die Seelen der Heuchler bestraft werden, welche Mäntel tragen müssen, die innen aus Blei und so schwer sind, daß sie sich nur ganz langsam dahinschleppen können. Die Mäntel sind nur außen golden und stellen ein Symbol für das Heucheln dar. Hier trifft Dante zwei Bologneser, die im Leben einem Ritterorden angehört hatten, und er stößt auch auf Kaiphas, der mit drei Pfählen an die Erde gekreuzigt ist. Wie so oft bei Dante ist die Art der Strafe psychologisch auf die Art der Sünde abgestimmt. Kaiphas war der jüdische Hohepriester, der wesentlich mitverantwortlich für die Kreuzigung Christi gewesen ist. Im Vierundzwanzigsten und Fünfundzwanzigsten Gesang laufen nackte Seelen von Dieben verstört und grauenerfüllt hin und her, um dem Schrecken der vielen Schlangen verschiedenster Art zu entfliehen. Die Schlangen symbolisieren das lautlose und heimliche Schleichen der Diebe bei ihrem Vorgehen. Wieder einmal versucht Dante, Ovid und Statius durch ungewöhnliche Verwandlungen zu überbieten. Manche Seelen lösen sich durch einen Schlangenbiß völlig in Asche auf, jedoch nur, um alsbald wieder zu einer menschlichen Gestalt zusammengesetzt zu werden und vergeblich zu versuchen, vor dem nächsten Schlangenbiß zu fliehen. Es gibt aber auch Verschmelzungen von Menschen mit Schlangen und Austausch der Gestalten von Menschen und Schlangen. Im Vierundzwanzigsten Gesang ist der wichtigste Sünder Vanni Fucci, der aus der Jakobskapelle in Pistoja silberne Prachtgeräte gestohlen und als Faschingsscherz im Haus des Notars Vanni della Mona versteckt hatte. Der Notar wurde dafür gehenkt. Dante aber fand den Scherz nicht nur nicht lustig, sondern wertete ihn als besonders bösen Diebstahl. Im Fünfundzwanzigsten Gesang ist es Vanni Fucci, der die Geschichte von Cacus (auch Kakus) berichtet, der Diebstahl mit Gewalt verband. Dieser war nach römischer Tradition ein räuberischer Riese. Als Herakles als seine zehnte berühmte Tat die Rinder des Geryon durch Italien trieb, hat ihm Cacus nach einer Überlieferung zwei, nach einer anderen vier Rinder gestohlen und in seiner Höhle versteckt. Da es die Rinder des räuberischen mythischen Riesen Geryon waren, den Dante in Noffo nicht nur umbenannt, sondern auch umgewandelt hatte, stattete er ihn mit einem Drachen auf seinem Rücken aus. Der „ wirkliche “ römische Geryon wurde von Herakles für seinen Diebstahl getötet. 97 Gianfranco Pirodda: Templari a Cagliari. L ’ origine templare dei culti di Sant ’ Efisio e di Nostra Signora di Bonaria. Cagliari 2008 127 Dantes Hölle <?page no="146"?> Im Sechsundzwanzigsten Gesang geht es weiter zum Achten Sektor des Achten Höllenkreises, in dem die falschen Ratgeber in permanent brennende Flammenkugeln verwandelt sind. Der wichtigste Sünder hier ist Odysseus, über den Dante eine Menge aus der lateinischen und mittelalterlichen Literatur wußte, auch wenn er die Odyssee nicht gelesen hatte. In der Commedia erwähnt er, daß Odysseus gemeinsam mit Diomedes die heilige, der Athene geweihte Figur des Palladiums aus Troja gestohlen hatte, und auch seine Erfindung des trojanischen Pferdes. An Dantes Charakterzeichnung des Odysseus - weshalb er in der Hölle gelandet war - ist sein blinder Glaube an die rein rationalistischen Methoden der Schlauheit schuld, eine Art von Wissen, das jenem der Gnosis im Grund entgegengesetzt ist. Es ist ein Wissen, welches Goethe nicht zufällig im Faust dem Mephisto als Versucher in den Mund gelegt hat: „ Eritis sicut Deus, scientes bonum et malum. “ Da sie im Grunde geistige Brandstifter sind, werden die falschen Ratgeber in Dantes Hölle selbst in Feuerkugeln verwandelt. Schult aber interpretiert den Charakter des geistigen Brandstifters Odysseus in Dantes Rezeption hervorragend als den des „ modernen Menschen “ , der durch seinen „ schrankenlosen luziferischen Erkenntnisdrang “ zum Verbrecher wird. Die Negierung Gottes ist darin automatisch impliziert. Man entsinne sich des himmelstürmenden Glaubens an die Technik in der N. S.-Ideologie wie in jener der Sowjets. Auch die atheistischen Orgien in Maos Kulturrevolution gehören hierher. Die Erfindung des trojanischen Pferdes aber stellt ein interessantes, spezielles Detailproblem dazu dar als Modell für Hitlers „ Fünfte Kolonne “ und das Erste Elite- und Auslandsdirektorat des KGB. In allen bisherigen Dante-Kommentaren wird darauf hingewiesen, daß der Dichter den Schluß der Odyssee mit dem Untergang des Odysseus im Meer frei erfunden hat. Wenn aber ein Geist wie Dante zu einer freien Erfindung greift, dann niemals aus äußerer Willkür, sondern immer aus innerer Notwendigkeit. Dante wußte sehr genau, was einer der wichtigsten Bestandteile des namenlosen Unglücks ist, das totalitäre Machthaber anrichten: straffe und strenge Organisation, eiserne Parteidisziplin und eiserne militärische Disziplin, was sogar das eigene, individuelle freie Denken ausschaltet, von einer Ehrfurcht für ein höchstes Göttliches ganz zu schweigen. Liest man Dantes Bericht vom Untergang des Odysseus aufmerksam, dann fällt auf, daß er einen besonderen Hinweis auf die Verläßlichkeit der Schiffsmannschaft enthält, die natürlich auf straffem Gehorsam beruht. Odysseus erklärt seiner Mannschaft, daß sie hunderttausende Gefahren in der Vergangenheit überwunden hätten und deshalb auch jetzt die „ Abendwache “ durchführen und ernst nehmen sollten, um die weitere Sicherheit zu gewährleisten. Und doch sind sie dem von den makrokosmischen Intelligenzen entfesselten Sturm nicht gewachsen. Trotz aller straffen Abendwacht kentert das Schiff und die Wellen des Meeres schließen sich über ihm, seiner Mannschaft und Odysseus zusammen. 128 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="147"?> Im Siebenundzwanzigsten Gesang freilich übertrifft der theoretisch „ christliche “ Guido von Montefeltro durch seinen vorweggenommenen machiavellistischen zynischen Rat noch Odysseus. Er hatte Papst Bonifazius VIII., dem „ Fürsten der neuen Pharisäer “ (Vers 85), geraten, wie dieser mit seinen Gegnern, dem römischen Adelsgeschlecht der Colonna, fertig werden könnte. Allerdings gibt er als „ guter Christ “ den listigen Rat erst, nachdem ihm Bonifazius kraft seiner päpstlichen Macht die sofortige Absolution und „ göttliche “ Verzeihung jeglichen Rates, den er geben würde, zugesichert hat. Daraufhin rät ihm Guido: „ Versprich viel und halte wenig. “ Deshalb soll Bonifaz später den Colonnas und der Besatzung der Festung von Palestrina, wo sie Schutz gesucht hatten, volle Amnestie versprochen haben. Als sie aber die Tore öffneten, wurden sie alle ermordet. Hier ist der naiven heidnischen Schlauheit des Odysseus noch als besonders abstoßend die Heuchelei hinzugefügt. Das sichert ganz gewiß der Entwicklung vom Sechsundzwanzigsten zum Siebenundzwanzigsten Gesang eine echte Steigerung zu. Die Metapher für Bonifaz VIII. „ Fürst der Pharisäer “ ist übrigens keine allgemeine dichterische Kennzeichnung eines negativen Charakters, sondern macht von der Templergnosis her gesehen einen historischen Sinn und war eine der vielen versteckten Anspielungen Dantes. Die Pharisäer waren ja jene jüdischen Fundamentalisten gewesen, die den Essener oder Nazorener Jesus gehaßt und die seinen Tod gefordert hatten, ganz so, wie die fundamentalistische Amtskirche die gnostischen Templer verfolgt hatte, was schließlich zum Flammentod de Molays geführt hatte. Das Versagen der Spiritualität der Kirche in jener Zeit ist kaum glaublich. Die Templer, deren exoterisches Gros Schild und Schwert der Christenheit gegen den vordringenden Islam darstellte und deren kleiner esoterischer Kern so wie auch andere innerkirchliche Reformer sich um eine wahrhaftere, reinere und größere Spiritualität bemühten, stand eine Ecclesia Carnalis gegenüber, der es um Geld und Macht ging und über die es über Papst Bonifaz geradezu hämisch in der Commedia heißt, daß er sich nicht zum Krieg gegen Sarazenen und Hebräer reizen ließ, sondern gegen den „ nur Christen standen “ . Und natürlich ging es gegen die Katharer, die sich nicht umsonst selbst „ die wahren Christen “ oder „ gute Menschen “ nannten und deren Name „ die Reinen “ bedeutete. Gegen sie wurde flächendeckend die Inquisition eingesetzt und ein „ Kreuzzug “ unternommen. Schult klagt zu Recht über eine säkularisierte Hierarchie, ein Priestertum ohne Weisheit, eine Theologie ohne Geistesschau und einen Ritus ohne Mysterium. Woran sollte sich dann erst der Normalbürger halten? „ Und wie soll der Weltmensch ein Maß und seine Richtung finden, wenn der Botschafter des Geistes seine Sendung so schmählich verrät? Hier zeigt sich eine der tiefsten historischen Intuitionen des visionären Dichters: die Verquickung der modernen Hybris mit „ dem Verrat des geistigen Führers “ . 98 98 Theophil Spoerri: Einführung in die Göttliche Komödie. Zürich 1946, S. 133 129 Dantes Hölle <?page no="148"?> Im Achtundzwanzigsten Gesang treffen die beiden Wanderer im Neunten Sektor des Achten Höllenkreises die Seelen jener, die ein heiles Ganzes durch Spaltung oder Teilung zerstört und auf diese Weise Unheil angerichtet haben. Ihre Strafe besteht darin, daß sie selbst gespalten werden. Die erste Seele, die Dante erblickt, ist vom Kinn hinab durch den ganzen Oberkörper gespalten, und Gedärme wie Magen hängen außen herunter. Der Sünder zeigt ihm den offenen Brustkorb und ruft: „ Sieh, wie ich mich zerspalte! “ Es ist Ali, der die Religion Mohameds in zwei Teile gespalten hatte. Es war um die Nachfolge Mohameds gegangen. Die einen hatten Ali als Nachfolger anerkannt, die anderen hatten ihn abgelehnt. Aus der entstandenen Zwietracht ist infolge der Feindschaft zwischen Schiiten und Sunniten durch viele Generationen hindurch unsägliches Leid für unzählige Menschen entstanden. Es ist eine durchaus templergnostische Perspektive, sich auch um die Einheit des Islam zu sorgen, was einem echten christlichen Fundamentalisten eine Art von exotischem Nonsens bedeutet hätte. Allerdings befindet sich auch Mohamed selbst in diesem Sektor, da er den ganzen Islam im Grunde vom Judentum abgespalten hatte. Gilt doch Abraham als der erste Moslem. Der Islam wird ja in mehr als einer modernen religionswissenschaftlichen Arbeit mitunter sogar eine „ abrahamitische “ Religion genannt. Aus Heimatliebe geht Dante die Ermordung von Buondelmonte durch Mocca besonders nahe, da letzterer durch dieses Verbrechen die Bürger seiner Vaterstadt Florenz endgültig in zwei Gruppen von unheilbarer Zwietracht gespalten hat. Der letzte und besonders ausführlich behandelte Sünder in diesem Sektor aber ist der berühmte große Troubadour Bertran de Born. Dieser trägt selbst den von seinem Körper abgetrennten Kopf am Schopf in der Hand. Dante hat Bertran als Dichter wie als Mensch hoch geschätzt und geehrt: Als Dichter durch seine Sirventes und als Mensch nicht zuletzt, weil er kirchlicher Reformer gewesen und zuletzt Zisterzienser geworden war. Durch seine berühmten und weit verbreiteten Lieder hat er immer wieder Zwietracht gesät und schon der kurze Schein eines Friedens veranlaßte ihn zu Klagen. In die Hölle aber wurde er versetzt, weil er auch Zwietracht zwischen Heinrich II. und dessen Sohn, Heinrich den Jüngeren, gesät hatte. Im Neunundzwanzigsten Gesang erblickt Dante im Zehnten Sektor des Achten Höllenkreises die Seelen der Fälscher, die erkrankt einen Gestank wie von eitrigen Gliedern ertragen müssen. Einer ist seinem Nachbarn auf den Bauch, ein anderer seinem Nachbarn auf das Kreuz geladen, ein dritter schleppt sich vierfüßig langsam weiter. Zwei andere lehnten aneinander, von Kopf bis Fuß von einem Aussatz gesprenkelt, der ungeheuer juckte. Der erste, den Dante anspricht, ist Griffolino aus Arezzo, der behauptet hatte, er könne durch die Luft fliegen, weshalb er verbrannt wurde, der sich aber hier befand, weil er in falscher Weise Alchemie getrieben hatte, um Gold zu machen. Auch im Dreißigsten Gesang werden noch verschiedene Fälscher genannt, Testamentfälscher und Falschmünzer. Der letzte, auf den Dante stößt, ist der Grieche Sinon, 130 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="149"?> der bei der Belagerung Trojas „ seine Worte “ fälschte, indem er schwor, daß die Griechen abgezogen seien und das hölzerne Pferd allein hinterlassen hätten. Dieser Schwur verhalf dem strategischen Trick mit dem Pferd zum Gelingen. Danach betreten Dante und Vergil den Neunten und letzten Höllenkreis, in dem sich die Verräter befinden. Dazu sei gleich eingangs darauf hingewiesen, daß grundsätzlich die Zeit Dantes im Hinblick auf den Wertzerfall, wie ihn Hermann Broch so ausgezeichnet analysiert und beschrieben hat, unserer Zeit sehr ähnlich war. Im 20. Jahrhundert hatten die Nationalsozialisten durch Marschmusik, ideologische Phrasen und Machtmißbrauch den deutschen Patriotismus zu monopolisieren versucht, doch waren sie es gewesen, die Deutschland tatsächlich in den Untergang geführt haben. Die Anhänger eines freien Deutschlands aber, die sie folterten und ermordeten, hatten sie als „ Verräter “ abgestempelt. Die Wahrheit war auf den Kopf gestellt worden. Dies war keine singuläre Erscheinung. In der Sowjetunion wurden die größten und bedeutendsten Vertreter des Staates in den Moskauer Prozessen als Verräter angeklagt und verurteilt, während die ebenso dummen wie bösartigen stalinistischen Bürokraten der Nomenklatura angeblich auf Seiten des Rechts standen, obgleich auch hier sie es waren, die den Staat in den Untergang führen sollten. Dante wäre nicht der geniale große Vertreter von Wahrheit und Gerechtigkeit, wenn er nicht auch in seiner Zeit die wirklichen Verräter von den schuldlos Verfolgten zu trennen gewußt hätte, und der große Dichter vertritt im Unterschied zu ideologisch beschränkten Realhistorikern die Wahrheit. Schon am Eingang zum Neunten Höllenkreis auf dem untersten Höllenboden scheidet er die Geister. Der Einunddreißigte Gesang schildert die Katabasis. Der Schacht, der in den untersten Höllenkreis führt, wird nämlich von Giganten bewacht, von denen die ersten beiden Nimrod und Ephialtes sind. Nimrod war nach christlicher Tradition unter anderem auch Herrscher von Babel, nach jüdischer und offenkundig auch nach templergnostischer Tradition der Anreger des Turmbaus zu Babel. Durch diesen Turm wollte die Menschheit den Himmel erreichen. An Stelle des Erreichens jenes Zieles war das wirkliche Ergebnis die Sprachverwirrung. Der Gigant Nimrod versinnbildlicht die Sprachverwirrung, die er verschuldet hat. Er kann nur unvernünftige Worte lallen, und um seine Erregung zu meistern, bläst er sein Jagdhorn wie eine Kindertrompete. Vergil führt Dante an ihm vorbei zu Ephialtes hin, der einer der klassischen Giganten des griechischen Mythos ist, die den Gigantensturm als Aufstand gegen Jupiter unternahmen. Darum ist er bis jetzt mit einer Kette so gefesselt, daß er sich nicht rühren kann. Er kann die beiden Jenseitswanderer dadurch ebenso wenig durch den Schacht hinuntertragen wie der gleichfalls gefesselte Nimrod. Es wiederholt sich hier bei Ephialtes, daß Dante Jupiter als höchsten Gott genauso anerkennt wie den judäo-christlichen Gott. Der dritte Gigant, auf den sie stoßen, ist Antäus. Seine anderen Untaten mögen ihn in einen so tiefen Höllensektor gebracht haben. Doch da er am 131 Dantes Hölle <?page no="150"?> Gigantensturm nicht teilgenommen hatte, ist er ungefesselt und Vergil versteht es, ihn dafür zu gewinnen, daß er die beiden Wanderer aufnimmt und am untersten Höllenboden sanft absetzt, in den der Schacht mündet. Der Ort dieser Eisregion ist der Ort äußerster Gottesferne und darum noch fürchterlicher als die Feuerhölle. Hier auf diesem Höllengrund befindet sich der See Cocytus, in dem die Verräter ins Gletschereis gefroren stecken. Alles Leben ist hier erstarrt. Der Zweiunddreißigste Gesang ist der Ersten Abteilung des Neunten Höllenkreises gewidmet, die nach dem Brudermörder Kain den Namen Kaina führt und in der sich die Verräter an Verwandten befinden. Hier befindet sich König Artus, weil dieser nach dem Lanzelot-Roman seinen eigenen treulosen Sohn durch einen Speerstich so durchbohrte, daß die Sonne nicht nur durch die Wunde, sondern auch durch seinen Schatten einen Strahl senden konnte. Der hier ebenfalls genannte Florentiner Sassol Mascheron hatte den Sohn seines Onkels der Erbschaft wegen ermordet. Von hier geht es weiter in die Zweite Abteilung des Neunten Höllenkreises, die Antenora, in welcher sich die Verräter des Vaterlands befinden. Hier trifft Dante die Seele jenes Bocca, der in einer blutigen Schlacht das Guelfenheer dadurch verriet, daß er dem Bannerträger die Hand abschlug, wodurch das Banner zu Boden sank. Die Verräter verraten hier auch einander gegenseitig. Bocca nennt Dante den Buoso von Duero, der König Manfred an die Franzosen verraten hatte. Auch Ganellon befindet sich hier, der Karl den Großen überredet hatte, Roland mit der Nachhut des Heeres zurückzulassen, wodurch Roland mit der ganzen Nachhut von den Mauren aufgerieben wurde. Der Dreiunddreißigste Gesang beginnt mit einer der entsetzlichsten, zugleich aber auch berührendsten Geschichten der ganzen danteschen Hölle. Es ist die Seele des Grafen Ugolino della Gherardesca, welcher der Dichter sie in den Mund gelegt hat. Nicht das, was man Ugolino als Landesverrat vorgeworfen hatte, daß er als Podesta von Pisa den beiden Städten Florenz und Lucca einige Kastelle überlassen hatte, machte ihn in Dantes Augen zum Verräter, sondern daß er sich mit der Guelfen-Partei gegen seinen eigenen Enkel und Mitregenten Nino Visconti verschwor. Darum war er in der Antenora gelandet. Der Enkel entwich aus der Stadt, und der mächtig gewordene Erzbischof Ruggiero lockte Ugolino in eine Falle und ließ ihn zusammen mit zwei Söhnen und zwei Enkeln in einen Turm werfen, wodurch er selbst zum Verräter wurde. Denn so wie Ugolino Visconti verraten hatte, hatte Ruggiero Ugolino verraten, und Dante hat die beiden einander würdigen Verräter nebeneinander in das Eis der Antenora gesteckt. Nicht Ugolinos Verrat an Visconti ist es, sondern sein Vaterschmerz ist es, der den Leser so rührt. In der Gefangenschaft des Turmes hatte Ugolino einen Traum, in dem er den Erzbischof Ruggiero als Jagdfürsten erblickte, wie er durch den Wald reitend einen Wolf und kleine Wölflein mit scharfen Hetzhunden verfolgte. Nach kurzem Lauf bereits ermatten der Wolf wie die Wölflein und die Hunde schlagen die Zähne in 132 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="151"?> ihre Flanken. Dieser Traum steht plötzlich lebendig vor ihm, als er bald darauf, zur Stunde da man ihnen Essen brachte, anstatt die Essensträger kommen zu hören, das laute Zunageln der Türe zum Turm vernimmt. Die Schilderung von Ugolinos Gedanken, seine Gespräche mit Söhnen und Enkeln, deren Sterben mit dem schließlich grauenvollen Ende, daß Ugolino selbst dem Kannibalismus verfällt, gehört zum dichterisch Stärksten der an großartigen Stellen wahrlich nicht armen Komödie. Als Dante im Vierunddreißigsten und letzte Gesang der Hölle die Vierte und gleichfalls letzte Abteilung des Neunten Höllenkreises betrat, die nach dem Verräterapostel Judecca heißt, ertönte als Auftakt für die kommende Begegnung mit dem Höllenfürsten selbst der majestätische Anfang des berühmten Hymnus des Fortunatus. Gleichzeitig blies Dante ein eisiger Wind entgegen. Dann stand er vor dem „ Kaiser in dem schmerzensvollen Reiche “ (Vers 28). Dieser hatte zwar nur ein Haupt, aber drei Gesichter, und unter jedem davon traten je zwei Schwingen hervor, federlose Fledermausflügel, deren Schlag den eisigen Wind erzeugte, der den Cocytus gefrieren ließ. In jedem seiner drei Mäuler aber zermalmte Luzifer kontinuierlich je ein und denselben Sünder: im mittleren Maul Judas, im linken Maul Brutus und im rechten Maul Cassius, die beiden Mörder Cäsars. Der präzise Robert John erinnert daran, daß es sich bei den drei Hauptsündern um drei Hauptverräter von „ Kreuz “ und „ Adler “ , der spirituellen und der weltlichen Spitze handelt. Bei Judas unterstreicht er, daß er der „ Schädling der Vita Contemplativa “ gewesen ist. 99 John geht auch darauf ein, daß Dante in der üblichen besonders großen Korrektheit die drei Hauptverräter sogar verschieden bestrafen läßt. Bei Brutus und Cassius hängen noch die Köpfe aus Luzifers Maul heraus, während Judas mit dem Kopf in Luzifers Maul steckt, sodaß nur die Beine heraushängen, was eine zusätzliche Erschwerung ist ( „ e fuor le gambe mena. “ ). In der Dichtung macht Vergil schon darauf besonders aufmerksam. Am wichtigsten für diesen End- und Höhepunkt der Hölle ist aber die Tatsache, daß Luzifer die Hauptverräter weinend verschlingt. Aus allen sechs Augen seiner drei Gesichter fließen Tränen gemischt mit Blut und Geifer. Der Fürst des Bösen ist ja gezwungen, drei seiner eigenen besten Gefolgsleute selbst ununterbrochen zu quälen. Luzifer weint vor Schmerz und Wut. Der Abschluß der Gesamtdarstellung des Bösen ist ein unvergeßlich plastisches Bild der Selbstzerstörung des Bösen. Schon im Dreiunddreißigsten Gesang hat Dante gespürt, wie die Eiseskälte geradezu Schwielen auf seiner Haut hervorrief, sodaß er alles Gefühl verlor und auch selbst gefühllos und hartherzig wurde. Durch den Anblick Luzifers steigert sich dies zu einem Zustand der Erstarrung des reinen Grauens. „ Ich starb nicht 99 Robert John, op. cit., S. 118 133 Dantes Hölle <?page no="152"?> und ich blieb auch nicht am Leben “ , heißt es (Vers 25). Es ist ein schweigendes Grauen lebloser, eisiger tiefer Stille. Durch die Farbsymbolik der drei Gesichter Luzifers sind sie der Hölle zugeordnet, durch die Zahl drei der Zahlensymbolik Dantes wie der Templergnosis. Seine Dreigesichtigkeit erinnert an die dreigesichtigen Köpfe an Templergebäuden. Wie bei allen Mysterieneinweihungen setzt mit dem Erreichen des untersten, tiefsten Punktes die Metanoia ein, die Wende zur Umkehr und zum Aufstieg zur höchsten Erleuchtung. Von hier trug Vergil Dante zu einer Felsöffnung, hinter der eine Art enger Schlupfweg begann, auf dem er wieder selbst gehen konnte. Als sie so weit von Luzifer entfernt waren, wie dessen Grab sich in die Breite dehnte, hörten sie in der Finsternis etwas rauschen. Es war ein Bächlein, dessen dunklem Lauf sie folgten, um heimzukehren in die lichte Welt. Sie stiegen hoch, bis aus des Himmels Herrlichkeit ein Glanz sie traf durch eine runde Öffnung. Wie alle drei Teile der Commedia, so schließt auch dieser mit dem Ausblick auf die große Ordnung des Makrokosmos. Denn die lichte Welt, der Dante nun zu höchster Erleuchtung entgegen schritt, bestand natürlich nicht im Wirrsal und Chaos der irdischen Welt, sondern in der Ordnung des astronomischen wie jenseitigen Himmels: Und dann erblickten wir auf ’ s neu die Sterne. 4. Dantes Läuterungsberg So wenig der Templergnostiker Dante imstande war, eine wörtliche Auslegung von Religion im fundamentalistischen Sinn für sich zu akzeptieren, so wenig das grandiose bildhafte Gleichnis der von ihm geschaffenen dichterischen Hölle im wörtlichen Sinn fundamentalistisch verstanden werden kann, so wenig kann man seine Darstellung des Läuterungsberges wirklich verstehen, wenn man sie wörtlich nimmt. Das zeigt sich schon äußerlich dadurch, daß er sich um die alte kirchliche Auffassung, die das Purgatorium als ein wirkliches Feuer im Inneren der Erde annahm, nicht kümmerte, sondern eben seinen Läuterungsberg geschaffen hat. Das italienische Wort purga bedeutet ja nicht Feuer, sondern Reinigung, das heißt im geistig-seelischen Sinn Läuterung und der deutsche Begriff eines Fegefeuers ist darum schon von vornherein falsch. So hat Dante selbst in seinem Widmungsschreiben an Can Grande della Scala mit Nachdruck erklärt, daß hier „ im esoterischen Sinne “ nach dem Austritt der Seele „ aus der Knechtschaft der 134 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="153"?> irdischen Verderbnis “ der Eintritt der Seele „ in die Freiheit der Kinder Gottes “ gefeiert wird. 100 Der dichterische Ausdruck, den er für diese Feier gefunden hat, besteht im Chorgesang des 114. Psalms, der von den soeben im Läuterungsberg einziehenden Geistern gesungen wird und der natürlich auch nicht wörtlich, sondern gleichnishaft auf die jüdische Haggada verweist. Die Geister, die ein Engel des Paradieses und Himmelsfährmann soeben abgesetzt hat, singen im Chor „ In exitu Israel “ . Die Flucht der Israeliten aus der ägyptischen Gefangenschaft ins Gelobte Land dient als Gleichnis für die Flucht der Seele aus der irdischen und materiellen Verderbnis in die Freiheit des Läuterungsberges. Die Wahl einer jüdischen Metaphorik ist bei einem Templer nicht überraschend, dem es ja um die Suche nach der ursprünglichen Jerusalem-Kirche ging und der sich zu einem Orden bekannte, der seinen Namen vom Salomonischen Tempel entlehnt hatte. Robert John hat außerdem auch noch gezeigt, wie Dante in verschiedenen Gesängen des Läuterungsberges seine Engel in den Templerfarben weiß, grün und rot gekleidet hat. 101 Es sind dies der weiße Fährmannsengel im Zweiten Gesang, die beiden grünen Schutzengel im Tal der Fürsten im Achten Gesang und der rote Engel der Mäßigkeit im Vierundzwanzigsten Gesang. Wie John auch darauf hingewiesen hat, daß es in den ersten siebenundzwanzig Gesängen des Läuterungsberges nicht nur zwei „ Templerringe “ von je dreizehn Namen gibt, einer den Templern besonders heiligen Zahl, sondern noch vier weitere Templerringe von je dreizehn Charakteren der Commedia. 102 Der zweite Teil der Commedia, der den Titel „ Läuterungsberg “ führt, ist in zwei verschiedenen Arten zugleich strukturiert. Einerseits stehen den Gesängen 1 - 27 des eigentlichen Läuterungsberges die Gesänge 28 - 33 des „ Irdischen Paradieses “ gegenüber. Andererseits ist auch der Läuterungsberg auf eine „ reziproke “ Weise aufgegliedert wie die Hölle. So wie Dante in seiner Hölle der Nikomachischen Ethik des Aristoteles entsprechend seine Sündenskala entwickelt hat, so hat er im Läuterungsberg umgekehrt die katholischen sieben Todsünden der Tugendskala zugrunde gelegt, die er daraus entwickelte. Diese Sünden sind Hochmut, Neid, Zorn, Trägheit, Habsucht, Gefräßigkeit und Wollust. Die Tugenden hat er aus der Bibel und klassischen Literatur entlehnt. Schult hat in seiner Einleitung zum Läuterungsberg erklärt, daß wir alle unsere Hölle und unseren Läuterungsberg in uns tragen, obwohl die tiefste Wesensschicht die göttliche Geistwelt des Paradieses bildet. Ganz im Sinn der gnostischen Dreistufigkeit müssen wir jedoch zuerst durch den höllischen Bereich des Körperlichen und Materiellen hindurch, und sodann durch die Zwischensphäre des Seelischen. 100 Zitat aus zweiter Hand nach Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 229 101 Purgatorio 2, 22 - 30; 8, 28 und 24, 137 - 139 102 Robert John, op. cit., S. 159 - 161 135 Dantes Läuterungsberg <?page no="154"?> Die Fahrt durch bessre Flut hat aufgezogen Die Segel nun das Schifflein meines Geistes, Das hinter sich ein Meer läßt grauser Wogen, Und von dem zweiten Reiche will ich singen, Darinnen sich des Menschen Seele läutert Und würdig wird, zum Himmel sich zu schwingen. So beginnt der Erste Gesang des Läuterungsbergs, der entfernt an den Anfang des ägyptischen Totenbuchs erinnern könnte. Dante trifft hier zuerst den Hüter des Läuterungsberges, Cato von Utica, wie es oben bereits beschrieben wurde. Cato fordert Vergil auf, Dante für den Weg vorzubereiten, der nach Vergils Ankündigung durch „ die sieben Reiche “ des Läuterungsberges führen wird. Vergil führt ihn darum an die Küste und gürtet ihn, wie Cato es ihm aufgetragen hat, mit einer Binde von glattem Schilf. Auch benetzt er ihm das Gesicht mit Tau. Durch diesen sinnbildlichen Reinigungsakt, der den Waschungen der antiken Kulte beim Betreten der Heiligtümer entsprach, wird als Voraussetzung für den Läuterungsaufstieg die Demut und die Einsicht in die eigene Schwäche geweckt. Die „ schlichte Pflanze “ aber, die Vergil für diesen Akt gebrochen hat, erneuert sich selbst sofort wieder, denn die Pflanze der Demut kann niemals zerstört werden, da sie das Beste für sich zurückbehält. Im Zweiten Gesang nähert sich ein Schiff, gesteuert von einem weißen Fährmannsengel, dessen Flügel die Segel nicht nur ersetzen, sondern übertreffen, da sich das Schiff mit solcher Schnelligkeit nähert, „ wie nie geflogen ward mit solcher Jähe “ . Die rationalistisch berechnende List des Odysseus kann nicht die Riesenkraft des Fährmannsengels ersetzen, sodaß sein Schiff kentert und untergeht. Der ebenso mächtige wie unnahbare Himmelsfährmann entläßt die mehr als hundert Geister, die er als Passagiere hergebracht hat und verschwindet so rasch und lautlos, wie er gekommen ist. Es ist der Chor dieser Seelen, der den Psalm „ In exitu Israel “ singt. Aber die Schar der Geister ist sich ihres Weges gar nicht sicher und wendet sich an die beiden Wanderer um Auskunft nach dem Ort des Aufstiegs, den diese selber suchen, denn wie es in der Hölle bergab ging, so geht es hier umgekehrt bergauf. Alle List des Odysseus kann nicht mit dem Schiff des Fährmannsengels konkurrieren. Die neu angekommenen Geister staunen über den lebenden Dante an diesem Ort und einer von ihnen umarmt ihn mit solcher Liebe, daß Dante gar nicht anders kann, als sich auch ihm in solcher Liebe zuzuwenden. Da er ihn drei Mal an seine Brust zieht, muß er erleben, daß er gleichsam Luft umarmt hat, worauf sich der Schatten lächelnd zurückzieht, der sich als Dantes Jugendfreund Casella entpuppt, ein Dichter, Sänger und Komponist. Auf Dantes Bitte an ihn, doch zum Trost ein Lied für ihn zu singen, singt dieser sofort eine von ihm vertonte Liebes-Kanzone, Dantes „ Amor che nella mente mi ragionia “ . Es wirkt wie eine kontrapunktische Ergänzung zum gregorianischen Chorgesang. Denn obwohl die 136 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="155"?> Kanzone die Frauenliebe als Quelle echter Gottesliebe preist, wodurch Irdisches und Spirituelles durch die eine und dieselbe Liebe zu einer Einheit verschmolzen werden, beseligt das doch zumindest auch diesseitige Lied nicht nur den lebenden Dante, sondern nicht weniger die anderen Geister und sogar auch den längst abgeschieden gewesenen Vergil. Der ehrwürdige Hüter des Läuterungsberges muß erscheinen, um die Hingerissenen an ihre Aufgabe der Bergbesteigung zu erinnern, worauf sich alle gleich eilends in Bewegung setzen. Wenn aber der Sinn der Szene darin liegt, auch das Gewicht der Diesseitsrealität, und sei es sogar nur als Gleichnis, in Erinnerung zu rufen, so haben solche Einblendungen einen sehr verlebendigenden Effekt. Ein Schweizer Forscher hat die innere Bedeutung der äußeren Bergbesteigung so umschrieben, daß die Wanderung zugleich eine Wandlung ist, die jede äußere Bewegung, jeden Schritt aufwärts dem Ziele näher, jede Hemmung durch die nach unten ziehende Schwere, das mühsame Klettern wie das verzagte Zaudern zum Ausdruck bringt: „ Die einfachste Gebärde hat schicksalhafte Bedeutung. Nur einmal steigt man auf diesen Berg. Jeder Schritt ist eine Entscheidung, jedes Stehenbleiben ein Zurückfallen. Alles geschieht im Sonnenlicht des Bewußtseins und der Verantwortung. Nur wenn wir beides zusammensehen: das Stimmungsmäßige und das Schicksalhafte, das Lyrisch-Musikalische und das Normative - geht uns die ganze Größe der Dichtung Dantes auf. Beide Seiten werden gleich am Anfang in zwei Gestalten verkörpert, in C a s e l l a und C a t o . “ 103 Auf ihrer Suche nach einem Aufstieg stoßen die beiden Wanderer im Dritten Gesang auf eine andere Gruppe von Seelen, die sich hier noch am Fuße des Läuterungsberges mit besonderer Langsamkeit dahinschleppen. Die Schar besteht aus Seelen, die im Augenblick ihres Todes vom Bann des Papstes belegt gewesen waren und die hier auf den Zeitpunkt warten, wenn auch sie mit dem Aufstieg beginnen dürfen. Wie im Fünften Gesang der Hölle Dantes Begegnung mit Paolo und Francesca den Eindruck erweckte, als hätten die beiden die Hölle überwunden, so erweckt auch Dantes Begegnung hier mit König Manfred den Eindruck, daß an dessen genereller Verurteilung etwas nicht stimmt. Der Staufer Manfred, der als König von Sizilien Umgang mit arabischen Philosophen pflegte und sich für die aristotelische Philosophie begeisterte, galt aus diesem Grund als Freigeist. Mit dem Bann war er aber infolge seiner zuletzt antipäpstlichen Politik belegt worden. Er hat Dante so bezaubert, daß dieser ganz von ihm eingenommen ist. Und er bittet Dante, nach seiner Rückkehr auf die Erde seine Tochter Konstanze aufzusuchen und sie vom Aufenthaltsort und Ergehen des Vaters zu benachrichtigen. Manfred soll bei seinem Tod ausgerufen haben: „ Domine, propitius es mihi peccator! “ - „ Herr, sei mir Sünder gnädig! “ , wodurch ihm Gottes Barmherzigkeit zuteil wurde. Auch daß Erzbischof Bartolomeo Pignatelli von Cosenza seine 103 Theophil Spoerri, op. cit., S. 149 137 Dantes Läuterungsberg <?page no="156"?> Gebeine am Fluß Verde (heute Castellano) auf ungeweihter Erde zerstreuen ließ, konnte daran nichts ändern. Das Zerstreuen der Gebeine war den Lesern der Zeit bekannt und wurde von Dante hier noch einmal wiederholt angeführt. Daß Manfred nicht in Dantes Hölle, sondern hier im Läuterungsberg mit sicherer Aussicht auf den Himmel war, warf durch Implikation ein schlechtes Licht auf den Erzbischof, ohne daß es expressis verbis ausgesprochen zu werden brauchte. Aber das war eine Nebenwirkung, um die es Dante wahrscheinlich gar nicht zu tun war. Ihm ging es um etwas ganz anderes, Positives: Nicht der äußere Schein fundamentalistischer Paragraphen, ja nicht einmal nur unsere Werke allein sind ausschlaggebend, sondern vor allem unser wirkliches, echtes inneres Sein ist es, das zählt. „ So erscheint hier der vom Papst gebannte und vom Erzbischof fanatisch über den Tod hinaus Verfolgte als von Gott begnadeter Erlöster. Mit königlicher Würde und lächelnder Überlegenheit berichtet er ohne Anklage und Haß sein trauriges Schicksal und bittet Dante, er möge seiner Tochter, der Königin Konstanze von Aragonien, Kunde von seiner Erlösung bringen und sie auch zur Fürbitte für ihn bewegen. “ 104 Die Seelen am und auch schon im Vorfeld des Läuterungsberges besitzen keinen materiellen Körper mehr, sondern sind ähnlich dem antiken Hades durchsichtige und durchgeistigte Schatten, die jedoch immer noch Freude und Schmerz empfinden können. Eigenartigerweise sind sie in einem gewissen Sinn noch der Zeit verhaftet und haben die normal fließende Zeit des Lebens in der empirischen Wirklichkeit nicht abgestreift, um in eine zeitlose Aufgehobenheit der Ewigkeit einzugehen. Wie in der Zeit vor ihrem Tod nehmen sie die normale Zeit wahr, für die auch am Läuterungsberg ein verläßlicher Chronometer die Gestirne sind. Für Dante selbst, der aber eben ein noch Lebender ist, besteht dazu noch ein Unterschied zu der subjektiv erlebten Zeit, die von der objektiv meßbaren Zeit sehr verschieden sein kann. Als ihm Manfred sein Schicksal erzählt, ist Dante so ergriffen, daß er gar nicht merkt, wie rasch die objektive Zeit fortschreitet. Mit dem Haften an der Zeit hängt auch der Umstand zusammen, daß es Verbindungen zu lebenden Verwandten oder Freunden geben kann, deren Gedanken und Gebete Verschiedenes bewirken können. Sollte Manfreds Tochter beispielsweise für ihn beten, könnte sie die Zeit, die er bis zur endgültigen Zulassung zum eigentlichen Läuterungsberg zu warten hat, sehr verkürzen. Im Vierten Gesang zeigt die Gruppe, zu der Manfred gehört, den beiden Wanderern die Stelle, von der aus ein - wenngleich steiler - Aufstieg möglich ist. Zunächst geht es durch einen anstrengenden Kaminaufstieg und Vergil belehrt Dante, daß es bei diesem Berg - ganz wie beim sittlichen Aufstieg - am Beginn am schwersten ist und von da an immer leichter wird. Die Gruppe von Seelen, der Dante im Fünften Gesang begegnet, ist das Gegenteil der Phlegmatiker des Vierten Gesanges, für welche Belacqua steht. Es 104 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 250 138 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="157"?> sind Seelen von Menschen, die eines gewaltsamen, plötzlichen Todes starben. Sie wurden errettet, da sie sich im letzten Augenblick reumütig Gott zugewandt haben. Das Erscheinen eines Lebenden wie Dante hier an diesem Ort bewirkt große Erregung und rasche Reaktionen. Im Fünften Gesang werden drei Seelen mit ihrem Sterbeschicksal vorgeführt: der Podesta von Bologna, Jacopo del Cassero, den politische Gegner ermorden ließen, als er auf Umwegen nach Mailand reiste, um dort die Stelle des Podesta anzutreten; der Ghibellinen-Führer Buonconte da Montefeltro, der in der Schlacht von Campaldino fiel, in der auch Dante gekämpft hatte, und eine stille und schüchterne Frau, Pia von Siena, die ihr Gatte aus dem Maremmenschloß Pietra bei Massa Maritima hinabstürzen hatte lassen, damit er frei war, die Witwe nach Guido von Montefeltro zu heiraten. Am Beginn des Sechsten Gesanges wird Dante von Seelen plötzlich Getöteter förmlich bedrängt, Botschaften an Verwandte und Freunde zu übernehmen. Als er später seinem Führer Vergil gegenüber Skepsis äußert, ob solche Gebete aus der Welt der Lebenden wirklich helfen können, da klärt ihn Vergil auf, daß der unerschütterliche Entschluß Gottes zwar nicht geändert werden kann, daß jedoch die Macht der Liebe beispielsweise auf die Wartezeiten bis zum Eintritt in den eigentlichen Läuterungsberg Einfluß nehmen können. Im Übrigen vertröstet er Dante darauf, daß er von Beatrice mehr darüber erfahren würde. Der Hauptteil des Sechsten Gesanges ist der Begegnung mit der Seele eines der bedeutendsten italienischen Troubadours in provenzalischer Sprache gewidmet. Es ist Sordello, der wie Vergil, wenngleich zwölf Jahrhunderte später, in der Gegend von Mantua geboren worden war. Diese gleiche Herkunft schafft sofort eine enge Bindung zwischen den beiden Dichtern, wobei Sordello die Rolle des ehrfürchtigen Bewunderers von Vergil zufällt. Für Dante ist diese Begegnung ein Anlaß, Sordello ausgehend von der gemeinsamen Heimatliebe eine große Rede halten zu lassen, die von Mantua auf ganz Italien übergeht, die Zerrissenheit des Landes beklagt und eigentlich die Habsburger beschuldigt, wesentlich mitschuldig daran zu sein, da ihr alleiniges Interesse an Hausmachtpolitik zu einer Vernachlässigung des Kaisertums und damit Italiens geführt hätte. Natürlich hat Dante gerade Sordello diese Rede in den Mund gelegt, da er ihn zu Recht für einen heimatverbundenen (wie er selbst) und leidenschaftlichen politischen Mahner (wie er selbst) hielt, und manche Kommentatoren haben diese Rede für ein verdecktes Selbstbildnis von Dante gehalten. Sordello ist es auch, der die beiden Wanderer weiter bis zum abgelegenen „ Tal der Fürsten “ führt, wo sie übernachten können. Hier befinden sich die Fürsten, die über der Sorge ihrer politischen Verantwortung ihr eigenes Seelenheil vernachlässigt haben. Ihr Aufenthalt in dem blumigen, grünen Tal ist durchaus angenehm. Sie gehören zum Vorpurgatorio mit der sicheren Erwartung auf das irdische Paradies. Die gesamte Atmosphäre ist durch religiöse Versenkung gekennzeichnet. Als die beiden Wanderer eintreffen, singen die Seelen der Fürsten gerade das „ Salve Regina “ , das Bernhard von Clairvaux zugeschrieben 139 Dantes Läuterungsberg <?page no="158"?> wird. Eine der Seelen stimmt danach „ te lucis ante “ an, und die anderen fallen in diese Abendhymne der gregorianischen Kirchenmusik sofort ein. Zu dieser Zeit schweben auch zwei Engel hernieder und nehmen auf beiden Seiten des Eingangs in das Tal Aufstellung. Eine der anwesenden Seelen, jene des Nino Visconti, erkennt Dante, kommt auf ihn zu und ruft noch eine zweite Seele herbei. Eine Schlange - es ist jene des Paradieses, die von Sordello „ unser Widersacher “ genannt wird - taucht am Taleingang auf und wird von den beiden Engeln verjagt. Die zweite Seele ist jene von Currado Malaspina, den Dante zur Zeit der ganzen Jenseitswanderung im Jahr 1300 noch nicht kannte, an dessen Hof er 1306 Schutz und Unterkunft gefunden hatte und an den Florentiner Freunde das kleine Heft mit den ersten Gesängen der Hölle geschickt hatten. Dem Theologen John ist etwas aufgefallen, was ganz gewiß dem weltlichen Literaturwissenschafter leicht entgeht. Im Siebenten und Achten Gesang finden sich Elemente und Züge der katholischen Liturgie. Dante hat ja auch etliches, wenngleich keineswegs alles, von Thomas von Aquin aufgenommen. Der Unterschied zwischen den kirchlichen Eiferern, die jede Kleinigkeit von Gnosis ausgegrenzt wissen wollten, und dem großen Templergnostiker Dante besteht ja eben darin, daß er in seiner Toleranz nichts ausgrenzt, was ihm richtig, wichtig oder nützlich erscheint. So hat er darauf hingewiesen, daß die Seelen im Tal der Fürsten gerade ihr Abendgebet verrichten, als Dante erscheint. Das Gebet ist „ das liturgische Kompletorium des Sonntags. Ein kundiger Leser wird leicht finden, daß Dante in seinem Siebenten Purgatorio - nicht bloß Texte aus dem Kompletorium eingeflochten hat, sondern auch die szenischen Ereignisse dieses und des nächsten Gesanges dem Wortlaut der Liturgie nachformt, - ein ganz besonderer Reiz dieser beiden Gesänge “ und ein typisches Beispiel für die Art des Schreibens dieses Meisters der versteckten Anspielungen. 105 Wie John auch auf die geheime Notwendigkeit der Komposition hingewiesen hat, nach welcher Sordello, der eigentlich kein Fürst war, hier anwesend sein muß. Durch ihn wird nämlich die Zahl des versammelten Kollegiums auf dreizehn gebracht, jene symbolische Zahl, welche den ganzen Kreis der Fürsten als Templerkapitel kenntlich macht. Der Neunte Gesang ist darum besonders wichtig, weil die Zahl Neun die Templergnosis symbolisiert. 106 Ihm entspricht in dem so präzise durchgeformten Epos der Neunte Gesang der Hölle, in dem sich der Eintritt Dantes in die Stadt Dis und die tiefe Hölle vollzieht und der Neunte Gesang des Paradieses, der den Eintritt in die Sonnensphäre bezeichnet. Der Neunte Gesang schildert hier den Aufstieg auf den eigentlichen Läuterungsberg, den Dante wie den Eintritt in die wirkliche Hölle nicht bewußt erlebt, sondern der ihm rückblickend von Vergil geschildert wird. Er berichtet Dante, wie bei Anbruch des Morgens, als er noch 105 Robert John, op. cit., S. 145 106 Vgl. Robert John, op. cit., S. 11 und 272 140 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="159"?> schlief, zum zweiten Mal die heilige Lucia, die Heilige des Lichts (und in der Commedia der Erleuchtung), in seine Entwicklung als eine Bringerin der Gnade eingegriffen hatte. Ein goldener Adler war erschienen, der Dante ergriffen und zum Eingang des wirklichen Läuterungsbergs emporgetragen hatte. Nachdem er sanft abgesetzt worden war, verschwand die Heilige wieder. Dante und Vergil finden das Eingangstor, zu dem natürlich drei Stufen emporführen und das von einem Torhüter-Engel bewacht wird. Dessen Antlitz und Schwert leuchten so grell, daß Dante geblendet wird. Der Engel schreibt mit der Spitze seines Schwertes sieben „ P ’ s “ aus Asche auf die Stirn Dantes, die für „ peccata “ - „ Todsünden “ - stehen und forderte: „ Geh und wasche, wenn du da drin bist, diese sieben! “ Dann schließt er die Tür mit einem silbernen und einem goldenen Schlüssel auf und öffnet sie weit mit der Warnung, daß jeder der zurückschaut, sofort wieder umkehren muß. Bei Thomas von Aquin heißt es: „ Es müssen zwei Schlüssel unterschieden werden, von denen sich der eine auf die Unterscheidung von Würdigen und Unwürdigen bezieht, der andere aber auf die Absolution. “ Was das Verbot betrifft, nicht zurückzuschauen, so erinnert Schult an Orpheus, an Lots Weib und an das Jesuswort bei Lukas (9,62). Im tönenden Klang der ehernen Pforte waren Orgelklang und Chorgesang ambrosianischer Hymnen des „ Te Deum laudamus “ herauszuhören. Im Zehnten Gesang setzt die erste Stufe der wirklichen Läuterung ein und zwar jene von der Sünde Superbia, des Hochmuts. Schon im zweiten Vers verweist Dante darauf, daß nach seiner Überzeugung die Ursache des Hochmuts „ falsche Liebe “ ist. Um den Einzuweihenden in die entsprechende Gegentugend gegen den Hochmut zu initiieren, sind in die Bergwand, an der die beiden nun hinanschreiten, symbolische Bilder in den Marmor eingemeißelt. Was im vorliegenden Zusammenhang wichtig ist, sind die Bezüge dieser Bilder zur Templergnosis. Dante hat drei solche Demutsbilder genannt und beschrieben und mit dem für ihn bezeichnenden Wissen so ausgewählt, daß sie gemeinsam alle drei Wurzeln westlicher oder besser noch atlantischer Kultur abdecken: Das erste Bild ist christlichen Ursprungs, das zweite Bild jüdischen Ursprungs und das dritte Bild entstammt der römischen Antike. Das erste Bild stellt die Szene dar, wie der Erzengel Gabriel Maria die Geburt Christi verkündet. Gabriel war für die Templer überaus wichtig und Maria war überhaupt die Schutzpatronin des Ordens. Das zweite Bild zeigt die Szene, wie König David die Bundeslade nach Zion bringt. Zwei Stiere ziehen den Wagen mit der Lade, vor dem König David, der Eingeweihte, tanzend wahrsagt. Als Bernhard von Clairvaux aber die ersten neun Ritter nach Jerusalem ausgeschickt hatte, wußte er bereits, daß einer der wichtigsten Schätze, nach denen sie suchen sollten, die Bundeslade war. 107 107 Vgl. Laurence Gardner, op. cit., S. 258 und 270 f. 141 Dantes Läuterungsberg <?page no="160"?> Das dritte Bild zeigt den römischen Kaiser Trajan, wie ihn eine Frau am Zügel seines Pferdes zurückhält. Es stellt die Legende dar, wonach Kaiser Trajan einen Feldzug aufgeschoben hatte, um einer Witwe zu ihrem Recht zu verhelfen. Es ging aber darum, daß der (erfundene) Sohn des Kaisers den Tod des Sohnes der Witwe verschuldet hatte. Das Schlüsselwort der Legende, die Trajan zum demütigsten aller Herrscher macht, besteht in der Wendung „ Sohn der Witwe “ , was oben wiederholt erwähnt und einmal erklärt worden ist. Es traf auch auf die Templer als „ Söhne der Witwe “ zu. Der Kaiser hat um der Gerechtigkeit willen der Witwe, die ihren Sohn verloren hatte, seinen eigenen Sohn ausgeliefert. Aber nicht nur der Zusammenhang der drei Demutsbilder mit der Templergnosis ist wichtig, sondern kaum weniger wichtig ist der Sinn der drei Demuts- Aspekte, welche sie sinnbildlich ausdrücken. Das Bild Marias mit dem Erzengel Gabriel steht für die demütige Annahme des Schicksals. Das Bild der Bundeslade steht für die Überwindung des Hochmuts durch Wissen und Anerkennung der von Gott „ nach Maß, Zahl und Gewicht “ gestifteten Ordnung. 108 Das Bild von Kaiser Trajan und der Witwe steht für die Überwindung tyrannischer Willkür und machtbedingter Selbstherrlichkeit durch selbstlose Gerechtigkeit. Sodann erblickt Dante eine große Anzahl von Seelen, die tief gebückt unter schwerer Last von Felsen, die sie tragen, vorgebeugt und niedergedrückt so langsam und schwerfällig näher kommen, daß er sie im ersten Augenblick gar nicht als Menschen erkennt. Es sind die Stolzen, die den Kopf allzu hoch getragen hatten und jetzt so vorgebeugt gehen müssen, als wollten sie den Boden betrachten. Demut sollte die Grundtugend des Menschen sein. In einem gewissen Sinn ist Hochmut die Grundlage aller anderen Sünden. Dante ist sich gerade dieser Gefahr für sich selbst sehr bewußt. Das wird durch den großen römischen Dichter, der ja sein Führer ist, noch verallgemeinert, der ihn auf den Hochmut vieler Mit-Christen hinweist, welche die metaphysische Wahrheit allein gepachtet zu haben glauben. Merkt ihr nicht, daß wir Würmer sind im Leben, Bestimmt zur Bildung nur des Himmelsfalters, Der wehrlos zur Gerechtigkeit muß schweben? So ist der Zehnte Gesang geradezu ein Kabinettsstück templergnostischer Weltschau. Der Elfte Gesang beginnt mit einer Terzinen-Variation des „ Vaterunser “ - Gebetes, was darum besonders hierher paßt, weil es sich um ein Gebet der Demut handelt. Zum Ritual der Katharer gehörte das Beten des „ Vaterunser “ in verschiedenen Variationen. Im Anschluß daran hat der Autor Dante einem ihm befreundeten Miniaturenmaler Oderisi von Gubbio eine Betrachtung in den Mund gelegt, die auch 108 Vgl. Louis Charpentier, op. cit., S. 55 142 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="161"?> für ihn selbst Gültigkeit besitzt. Dieser erinnert daran, wie schnell zu Dantes Zeit der große Malerruhm Cimabues dem Ruhm Giottos hatte weichen müssen, erwähnt aber besonders auch die Vergänglichkeit des Sprachruhms und räumt schmerzlich ein, daß sein eigener Ruhm längst durch jenen seines Schülers Franco Bolognese abgelöst worden ist. Ja, der Ruhm der Welt überhaupt sei wie ein Windesrauschen. Abschließend erklärt Oderisi noch die Anwesenheit von Salvani Provenzano auf dem Läuterungsberg, weil er trotz allen Ruhmeshochmuts eine Tat demütiger Armut gesetzt hatte, als er offen auf dem Marktplatz von Siena saß, um Gaben für den Loskauf seines Freundes Vigna zu sammeln, der bei Karl von Anjou in Gefangenschaft war. Im Zwölften Gesang regt Vergil Dante an, auf den Boden zu blicken, und dieser entdeckt, daß sie über herrlichen Kunstwerken dahinschreiten, die in den Boden gemeißelt sind und die aus dem Mythos wie aus der Geschichte berühmte Szenen wiedergeben. Der Autor Dante benützt hier eine Methode der alten Einweihungsmysterien, Bilder zu benützen, deren Sinn sich tiefer der Seele einprägt als abstrakte Begriffe es tun könnten. Die implizierte Schlußfolgerung aus all den Bildern ist der Hinweis auf unsägliches menschliches Leid, das seit mythischen Zeiten durch Hochmut verschuldet worden ist: ein knapper, aber sehr intensiver Blick auf die Weltgeschichte als selbstverschuldetes Weltgericht des Menschen. Dabei ist nach Dantes Bericht die Form der Darstellung in diesen Bildern so klar und lebendig eindrucksvoll, wie man es nur erwarten kann, wenn Gott selber den Meißel geführt hat. In der üblichen Art Dantes, Präzision mit gnostischer Zahlensymbolik zu verbinden, sind es drei mal vier Bilder, die er beschreibt, wobei er für jedes Bild eine Terzine verwendet, und eine dreizehnte Terzine nicht nur die zusammenfassende Schlußfolgerung bildet, sondern außerdem noch das Ganze auf die Zahl Dreizehn bringt, die den Templern wie die Drei und die Neun besonders heilig ist. Wie es auch genau überlegt ist, daß es um dreimal vier Bilder geht. Denn die Vier bezeichnet in der Gnosis eine Ganzheit oder Totalität und die Drei ist eine der heiligen Zahlen. Zu allem Überfluß stellen die dreizehn Terzinen überdies auch noch ein Akrostichon dar. Die ersten vier Bilder zeigen den Versuch übermenschlicher Wesen, gegen Gott aufzustehen und aufzutrumpfen, die zweiten vier Bilder stellen Menschen dar, die sich gegen Gott empört hatten, und die dritten vier Bilder zeigen Menschen, die zu Unrecht gegen andere Menschen aufstanden und die auch durch Menschen zur Sühne gezwungen wurden. Schult weist zu Recht darauf hin, daß zwischen den positiven Demutsbildern des Zehnten Gesanges und den negativen Hochmutsbildern des Zwölften Gesanges um einer größeren Totalität willen der Autor Dante die Meditation über das „ Vaterunser “ im Elften Gesang eingeschaltet hat, was falscher und übertriebener Demut das Selbstbewußtsein der Gotteskindschaft entgegensetzt. 143 Dantes Läuterungsberg <?page no="162"?> Kein Augenzeuge sah die Wahrheit klarer, Was ich gedrückten Gangs sich sah begeben. heißt es. Auch daß die Bilder nicht an der Seitenwand sind, sondern auf dem Boden, sodaß der Betrachter das Haupt beugen muß, ist göttliche Läuterungspsychologie. Erst als Vergil ihn darauf aufmerksam macht, erblickt Dante einen Engel, der sich ihnen naht. Er zeigt ihnen die Stufen, wo es weiter aufwärts geht, und schlägt Dante mit seinem Flügel auf die Stirn. Da sie beginnen, aufwärts zu steigen, hören sie liebliche Stimmen „ Beati pauperes spiritu “ singen, ein Hinweis auf die erste Segnung der Bergpredigt, deren echt christliche Botschaft von den Templern in hohen Ehren gehalten wurde. Die erste Segnung gilt den Armen im Geiste, die sich selbst erniedrigen und dann erhöht werden. Dante aber fühlt nicht nur, um wie viel leichter es plötzlich geworden ist, emporzusteigen, sondern er erfährt auch, daß eines der sieben „ P “ auf seiner Stirn durch den Flügelschlag des Engels verschwunden ist, die anderen sechs aber blasser wurden. Es ist der bildhaft eindringliche Hinweis darauf, daß nicht nur sein Hochmut innerlich überwunden ist, sondern daß der Hochmut auch die Grundlage aller anderen Sünden bildet. Im Dreizehnten und Vierzehnten Gesang durchwandern Dante und Vergil den Zweiten Kreis des Läuterungsberges, in dem die neiderfüllten Seelen geläutert werden. Zunächst kann Dante nichts sehen, doch hört er vorüberfliegende Stimmen, von denen die dritte ruft: „ Liebet, die euch Leides tun! “ Der echt christliche Geist der Bergpredigt wird von der Templergnosis offenkundig sehr in Ehren gehalten. Vergil klärt Dante auch auf, daß hier, unter den Neidern gegenüber anderen Menschen die Liebe als Mittel der Läuterung dient. Sodann stoßen sie auf eine große Gruppe von Seelen, die ein härenes Bußgewand tragen und einen mitleiderregenden Anblick bieten. Sie sind offenkundig sehr geschwächt, lehnen einer am anderen oder an der Felswand und haben zudem die Augen mit Draht zugenäht, damit sie keine begehrlichen, neiderfüllten Blicke werfen können. Dante fragt, ob eine Seele aus Latium unter ihnen sei. Eine der Seelen antwortet auch darauf: O du mein Bruder, Bürgerin ist jede Der e i n e n wahren Stadt; doch ob sie Pilgrin War in Italien, meint wohl deine Rede. Sowohl das Jenseits wie die Templergnosis als auch der Autor Dante selbst kennen letztlich nur die eine Menschheit als Ganzes, die weder durch Sprachen noch durch Grenzpfähle im Wesentlichen wirklich getrennt werden kann und in der, wie die Antwort der Seele es schon klar macht, alle Menschenbrüder sind. Die gesprächige Seele stellt sich als Sapia aus Siena vor, die den Neid einmal besonders verbrecherisch weit getrieben hatte. In der Schlacht bei Colle, in welcher die Ghibellinen ihrer Heimatstadt von den Florentiner Guelfen geschlagen worden waren, hatte die leidenschaftliche Anhängerin der Guelfen ihren 144 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="163"?> Landsleuten den Sieg nicht gegönnt und sogar Gott gebeten, er möge die Florentiner siegen lassen. Ja, der Anblick der Hetzjagd ihrer Landsleute hatte ihr Freude bereitet. Erst als der Tod nahe war, hatte sie bereut, doch würde in diesem Fall auch das nicht geholfen haben, hätte sie nicht eine Art Heiliger aus Siena, Pier Pettignan, aus Mitleid in sein Gebet eingeschlossen. Die letzte genannte Seele der Neider ist jene von Aglauros, Tochter des Kekrops, die durch den Gott Merkur in Stein verwandelt wurde, weil sie ihrer Schwester Herse die Liebe des Gottes geneidet hatte. Im Fünfzehnten Gesang wird Dante von einer Erscheinung so geblendet, daß er gar nicht fähig ist, hinzusehen. Vergil erklärt ihm, daß das Licht von einem Engel kommt und daß er sich bald daran so gewöhnen wird, daß ihn dieser Anblick in Entzücken versetzen wird. Der Engel aber fordert sie auf, höher zu steigen. Beim Austritt aus dem Zweiten Kreis ertönt eine der acht Seligpreisungen der Bergpredigt: „ Selig sind die Barmherzigen. “ Und gleich darauf eine Variation der Verheißung aus dem Matthäus-Evangelium: „ Sei getrost, du wirst siegen. “ Während sie weitergehen, erklärt Vergil Dante, daß die irdischen Güter ihren Wert verlieren, je mehr an ihnen teilhaben, daß es aber bei den himmlischen Gütern umgekehrt ist. Die Himmelsfreude nimmt um so mehr zu, je mehr man seinen Bruder sie auch genießen sieht. Dann erklärt er auch den Sinn eines unter den Neuplatonikern berühmten Buches Liber de casuis, in dem dargestellt wird, wie das Ausmaß der göttlichen Güte um so mehr zunimmt, je mehr die Aufnahmefähigkeit des einzelnen Menschen steigt. Beim Eintritt in den Dritten Kreis hat Dante Visionen, sodaß er wie in Trance weiter wandert. Die erste Vision zeigte die heilige Maria, die ihren zwölfjährigen Jesus verzweifelt gesucht hatte und überglücklich war, als er nach drei Tagen wieder auftauchte. Die zweite Vision zeigte eine böse, erzürnte Mutter, welche die Bestrafung eines jungen Mannes forderte, der es gewagt hatte, ihre Tochter zu umarmen. Die dritte Vision schließlich verlebendigte den Augenblick, in dem der Erz-Märtyrer Stephan, da er gerade zu Tode gesteinigt wird, Gott bittet, seinen Mördern zu vergeben. Dann steigen die beiden weiter hinan und in den Abend hinein, bis sie plötzlich von Rauch umgeben sind. Die ganze Durchwanderung des Dritten Kreises hindurch im Sechzehnten Gesang sind sie von Rauch eingehüllt. Der Rauch ist so dicht, daß Dante gezwungen ist, sich ganz nahe an Vergil zu halten, um nicht verloren zu gehen. Der physische Rauch versinnbildlicht die geistige Blindheit der Zornigen, die in solchem Affekt Unglück und Verbrechen anrichten. In der durch den Rauch entstandenen Finsternis gelangen vor allem akustische Methoden der Läuterung zur Anwendung. Dante hört denn auch nur allzu bald Geisterstimmen, die einstimmig um Frieden und Erbarmen flehen und anschließend das „ Agnus Dei “ singen. Die Idee vom Lamm Gottes, das die Sünden auf sich nimmt und zutiefst friedliche Eintracht stiften kann, ist denn auch ein besonders gutes Gegengift gegen den Jähzorn. 145 Dantes Läuterungsberg <?page no="164"?> Hier in dieser Rauch-Finsternis findet auch die einzige Begegnung mit einer Seele statt, die trotz ihrer Beschränkung auf den akustischen Bereich von größter Wichtigkeit ist und zwar nicht nur im Hinblick auf die Überwindung des Zorns, sondern im Hinblick auf die Gesamtsituation des Wertzerfalls der Zeit Dantes und nicht nur ihrer Zeit und aller sündhaften Vergehen und Verbrechen. Die Seele mit der Dante spricht, gibt sich zu erkennen als Marco Lombardo, von dem angenommen wird, daß er ein venezianischer Hofmann von hohem Rang und Ruf gewesen sei. Als er sich vorstellt, betont er selbst seine zwei Haupteigenschaften, Weltkenntnis und Tugendliebe, und es wird bald völlig klar, daß nur sein cholerisches Temperament die Schwäche war, weshalb er in diesen Kreis des Läuterungsbergs versetzt worden war. Aus diesem Grund ist es gerade er, an den Dante die zentrale Frage richtet: Die Welt ist heute ganz verödet freilich An jeder Tugend, wie du mir bekräftigst, Und strotzt und schwillt von Bosheit unverzeihlich; Doch bitt ’ ich laß den G r u n d mir deutlich werden, Daß ich ihn sehe und den andern zeige, Denn d e r sucht ihn im Himmel, d e r auf Erden. Schult hat mit seinem Scharfblick für Dantes Kompositionstechnik herausgefunden, daß dieser Sechzehnte Gesang des Läuterungsberges den fünfzigsten Gesang des Gesamtwerks darstellt und damit die zentrale Mittelachse der ganzen Commedia, in der diese zentrale Frage aufgeworfen wird. Deshalb ist es hier, wo Dante dem Marco seine eigenen politischen und philosophischen Leitideen in den Mund gelegt hat, da sie durch die Dialogform in solchem Rahmen lebendiger und nachdrücklicher zur Geltung kommen. Nachdem Marco eine ebenso komprimierte und knappe wie hervorragende Darstellung der Willensfreiheit gegeben hat, worin die Templergnosis und Thomas von Aquin sich einig sind, nennt er als die eigentliche Ursache des Verfalls „ schlechte Führung “ als den „ einzigen Grund der Weltverderbnis “ . Was damals nach Dantes eigenen Anschauungen in der Commedia wie in seinem Werk De Monarchia Fluch unzulänglichen Papsttums und Kaisertums gewesen war. Das mag in der Zwischenzeit durch andere Führungskräfte abgelöst worden sein, obwohl das Kernproblem genau das gleiche ist. In der Theorie wäre schon Franklin Delano Roosevelts Idee der Vereinten Nationen die richtige Heilmethode gewesen, doch an der Praxis hapert es nur allzu oft unendlich. Der Siebzehnte Gesang beginnt mit Visionen Dantes, die an neuplatonische Emanationen erinnern und die entweder von den Gestirnen oder von Gott selber herkommend im Menschen aufsteigen können. Die erste Emanation stammt aus dem griechischen Mythos, ist aber von Dante seinem geliebten Ovid entnommen. Sie schilderte Prokne, die griechische Gattin des Thrakierkönigs Theseus, der ihre Schwester Philomela vergewaltigt und ihr dann die Zunge herausgeschnitten 146 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="165"?> hatte, damit sie ihn nicht verraten könnte. Prokne fand es aber heraus und im Jähzorn ihres Rachedursts tötet sie den kleinen Sohn, den sie mit Theseus hatte und setzte ihm das Fleisch des eigenen Sohnes als Mahlzeit vor. Dann floh sie zusammen mit ihrer Schwester Prokne, von Theseus verfolgt, so rasch, daß den Geschwistern Flügel wuchsen und sich Philomela in eine Nachtigall, Prokne aber in eine Schwalbe verwandelte. 109 Die zweite Vision bezieht sich auf Haman, den Minister des Perserkönigs Ahasverus (Xerxes), der den Juden Mordechai, ehemaligen Vormund der Königin Esther, an einem Baum aufknüpfen lassen wollte und den König überredete, alle Juden ermorden zu lassen. Der König erinnert sich jedoch daran, daß Mordechai eine Verschwörung gegen ihn aufgedeckt hatte, sodaß schließlich nicht Mordechai, sondern Haman selbst hingerichtet wird. Während in der Bibel Haman auf dem Baum aufgeknüpft wurde, den er selbst für den Tod Mordechais vorgesehen gehabt hatte, 110 erblickt Dante in seiner Vision einen „ Gekreuzigten “ . Da der genaue Dante die biblische Quelle gewiß nicht grundlos abgeändert hat, muß das einen sinnbildlichen Sinn haben, der jedoch schwer zu enträtseln ist. Jedenfalls hat der gekreuzigte Haman ein stolzes und wildes Aussehen bei Dante, während er Mordechai einen „ Gerechten “ nennt und ihm denselben Beinamen gab, den Jakobus trug. Die dritte Vision nennt Lavinia, die Tochter der Latinerkönigin Amata, die sich im falschen Glauben, ihre Tochter sei tot, aus falscher Verzweiflung und falschem Zorn selbst das Leben genommen hatte. Die Visionen werden unterbrochen und abgelöst durch das grell blendende Licht des Engels der Friedfertigkeit, der selbst in dem grellen Lichtschein für Dante unsichtbar bleibt. Er löscht Dante mit seinem Flügel das dritte „ P “ auf der Stirne aus und weist den beiden den Weg in den Vierten Kreis. Doch kaum haben sie - die Nacht bricht eben an - diesen Kreis betreten, als Dante fühlt, wie er plötzlich ermattet. Vergil erklärt ihm, daß hier die Trägen und besonders die Herzensträgen geläutert werden: Ergänzt wird hier zum Guten Die Liebe, die das Maß der Pflicht nicht füllte; Hier muß, wer träg im Rudern war, sich sputen. Es folgt eine grundsätzliche Aufklärung Dantes darüber, die sowohl für die Ethik seines Werks wie jener der Templergnosis von größter Wichtigkeit ist, daß es zwei 109 Karl Kerényi weist in seiner Mythologie der Griechen darauf hin, daß es von der Prokne- Tradition Bezüge zu den Unterweltsmysterien der Hekate und der Persephone gibt. Das ist darum hier besonders interessant, weil die Gnosis überhaupt eng mit den Mysterienkulten verbunden war und zudem die ganze Jenseitswanderung von Dante im Grunde eine Parallele jener Einweihungen in Tod und Wiedergeburt darstellt. 110 Vgl. Dante: Die Göttliche Komödie. Übertragen von Richard Zoozmann. Feiburg im Breisgau o. J. (1921), S. 315 und 628 147 Dantes Läuterungsberg <?page no="166"?> Formen der Liebe gibt, eine positive und eine negative. Eine solche Form negativer Liebe hat er beschrieben: Doch sucht sie Böses oder jagt sie wegen Des Guten überheftig oder lässig, So wirkt dem Schöpfer das Geschöpf entgegen. Hieraus kannst du entnehmen, daß die Liebe In euch der Same sein muß jeder Tugend Und aller lasterhaft-strafwürdigen Triebe. Dieser Dualismus, den Dante auch auf dem Gebiet der Liebe so ausführlich herausarbeitet, ist eine zutiefst gnostische Eigenschaft, die von größter Bedeutung für das Werkverständnis ist. Wie im Zentrum der Hölle, im Kreis der Herzensträgheit im Elften Gesang der Aufbau der Hölle erklärt wird, so hier im Zentrum der Herzensträgheit der Aufbau des Läuterungsberges. Dabei ist es außerdem so, daß trotz der großen Wichtigkeit der Verwirklichungsformen (in der Zeit Dantes des Papsttums und Kaisertums oder heute die Vereinten Nationen) die Templergnosis insofern das Wesentliche dadurch deutlich macht, daß sie lehrt, diese Formen müßten durch Liebe erfüllt werden. Daher ist das Hauptthema Nummer eins die Liebe und die Sünde nichts anderes als die irrende Verfälschung oder Zersetzung der Liebe. Daher ist es besonders wichtig, daß im Unterschied zu den oftmals undifferenzierten und vagen Forderungen nach Liebe in Religion, Philosophie und Dichtung, wie Dante in der Commedia gezeigt hat, es viele verschiedene Arten von Liebe gibt und daß er in den Gesängen des Läuterungsberges, die dem Siebzehnten Gesang folgen, die Aufgliederung in drei Arten von negativer Liebe eingebaut hat, die er in der Mitteilung des Plans im Siebzehnten Gesang bereits in drei Terzinen ankündigt. Er hat damit eine Art Kontrollmechanismus eingebaut, der den Weg zur rechten Liebe und damit zum rechten Leben freilegt. Wenn Robert John in seinem Buch die Templergnosis als eine „ Glückseligkeitslehre “ dargestellt hat, 111 dann könnte man ergänzen, daß der Kern dieser Glückseligkeitslehre eine besondere Liebeslehre ist. Die Ankündigung der drei Arten von falscher Liebe aber, von denen jeder eine Terzine gewidmet ist, lautet folgendermaßen, wobei er jedes Mal einen Vertreter ihres Grundtypus beschwört: D e r hofft, wenn Druck des Nachbars Macht verkürze, Eigne Erhebung; und er wünscht nur deshalb, Daß jener tief von seiner Höhe stürze. D e r fürchtet, daß ihm Macht, Gunst, Ruf und Ehren Entgingen, wenn ein andrer mehr emporkommt, Drum will er dies ins Gegenteil verkehren. 111 Robert John, op. cit., S. 256 - 272 148 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="167"?> D e r glaubt beleidigt sich und ist entrüstet, Was ihn so sehr nach Rache macht begierig, Daß nach des andern Schaden ihn gelüstet. Wie solche psychologisch verschiedene Kategorien von Verfehlungen alle aus der Habsucht entstehen können, so sind auch die Verfehlungen des Fünften, Sechsten und Siebenten Kreises, der Geiz und sein Gegenpol die Verschwendung, die Freß- und Trunksucht sowie die Wollust aus der Habsucht entstanden. Die dualistische Denkart, eine positive und eine negative Liebe zu unterscheiden, ist zutiefst gnostisch. Wie auch die drei oben zitierten Terzinen durch ihren jeweiligen Beginn „ Der hofft “ , „ Der fürchtet “ und „ Der glaubt “ die ins Negative gekehrte Komplementärform von Glaube, Liebe und Hoffnung darstellen, die zudem in ihrer Reihenfolge verkehrt worden sind. Im Fünften Kreis wird der Geiz als das Haften am Mammon durch das Haften am Staub des Bodens geläutert, im Sechsten Kreis die Freßsucht durch Hunger und im Siebenten Kreis das Feuer der Brunst der inneren Wollust durch das äußere Feuer gleichsam ausgebrannt: alles im Grunde Dualismen. Hier aber, in der Mittelachse des Vierten Kreises, wird in gleicher Weise die Trägheit durch tätigen Eifer geläutert und die Herzensträgheit durch Liebe: Schnell, schnell, daß uns verlorne Zeit nicht schade Durch zu wenig Liebe . . . Hier, im Achtzehnten Gesang (Vers 103 f.) ist nur von einer einzigen, positiven Art der Liebe die Rede. Einerseits ist natürlich zu wenig Liebe die Ergänzung zur Hauptsünde der Habsucht. Andererseits aber, um die ganze Liebeslehre Dantes zu verstehen, muß zu der sehr wichtigen Aufgliederung der Liebe in Unterarten als nicht weniger wichtig die Re-Integration jeweils aller Formen der postiven wie andererseits auch aller Formen der negativen Liebe verstanden werden. So fügt er an anderer Stelle die positive körperliche und geistige Liebe vor allem, aber auch in der Tabula Smaragdina, irdische und himmlische Liebe zu einem Ganzen zusammen. Dasselbe gilt auch von der kosmogonischen Liebe, über die Vergil im Siebzehnten Gesang vorwiegend spricht, und von der individuellen Liebe, die im Achtzehnten Gesang im Vordergrund steht. Zu der ersten Einsicht, daß es verschiedene, positive wie negative Unterarten der Liebe gibt, und der zweiten Einsicht, daß sie sich alle dennoch zu ein und derselben Urkraft vereinen, kommt als dritte, wichtige Einsicht noch dazu, daß sie durch vernunftbedingte Willensfreiheit um der ethischen Notwendigkeit willen jeweils vom einzelnen Menschen gezähmt und in die richtige Bahn gewiesen werden muß. Wenn aber die Liebe solcherart als eine und dieselbe Urkraft gesehen wird, dann impliziert das auch, daß Hölle, Läuterungsberg und Paradies sich sowohl im Menschen wie auch außerhalb von ihm, im Makrokosmos, befinden. Das aber 149 Dantes Läuterungsberg <?page no="168"?> stimmt wiederum mit der berühmten Tabula Smaragdina des Hermes Trismegistos zusammen, die sagt: Alles, was oben ist, ist unten und alles, was unten ist, ist oben. Von ihm führt eine „ ununterbrochene, geheime und wohlgehütete Traditionskette . . . über Pythagoras, Plato und Seneca bis zu Plotin und Jamblichos “ und darüber hinaus bis zum großen Neuplatoniker der Hochrenaissance, Marsilius Ficinus. „ Wir wissen heute eben, daß die Gnosis keineswegs bloß eine altchristliche Häresie war, sondern eine in den Jahrhunderten um Christi Geburt sich erhebende Geistigkeit, mit Ausstrahlungen ins Heidentum, Judentum und in den Islam. “ 112 Im Achtzehnten Gesang wird Dante von einer großen Gruppe von Seelen überholt, die es eilig haben, ihre frühere Trägheit im Leben wiedergutzumachen. Einer der letzten, ebenfalls Vorübereilende, der genannt wird, ist der Abt des Klosters von Sankt Zeno in Verona, der bedauert, daß Alberto della Scala seinen bösen Sohn, nach ihm, dem Vorübereilenden, zum neuen Abt des Klosters gemacht hat, wodurch die Kirche zu einem Versorgungsinstitut herabgewürdigt worden war. Im Neunzehnten Gesang weist ihnen wieder ein Engel den Weg zum Aufstieg. Sein Zitat der Seligsprechung der Trauernden bezieht sich noch auf die Trägen des Vierten Kreises, die zu träge oder zu feige waren, um des Himmelreiches willen Trauer zu ertragen. Der Engel löscht auch das vierte „ P “ auf Dantes Stirn. Aufgestiegen in den Fünften Kreis sieht Dante viele Seelen mit dem Rücken nach oben auf dem Boden liegen, die „ Adhaesit pavimento “ ( „ meine Seele haftet am Boden “ ) klagen und auf diese Weise Buße dafür tun, daß sie stöhnen und im Staub liegen müssen, so wie sie im Leben am Mammon gehaftet waren. Es ist die Seele Hadrians V., der nur achtunddreißig Tage Papst gewesen war, die auch hier auf dem Läuterungsberg für ihren Geiz im Leben büßen muß. Hadrian weist Dante darauf hin, daß hier am Läuterungsberg jeglicher weltliche Rang verblaßt und vergessen ist und daß hier alle nur „ Mitknechte “ sind unter der Herrschaft des Einen. Die Hauptgestalt des Zwanzigsten Gesanges ist Hugo Capet, der Begründer des französischen Königsgeschlechts, dem auch Philipp der Schöne entstammte, und Dante legt Hugo Capet seine eigenen Vorwürfe in den Mund. Die erste dieser Anschuldigungen gegen Philipp ist, daß er den „ Stellvertreter Christi “ , Papst Bonifaz VIII., hatte gefangen nehmen lassen, wie einst Pilatus Christus selbst gefangen nehmen ließ. Der beste Kommentar zu dieser Stelle stammt von Robert John, der schrieb, daß Hugo Capet trotz der „ Anerkennung “ des Bonifaz als Papst dieser „ viel eher eine Brandmarkung Philipps des Schönen von Frankreich als die Ehrenrettung des durch diesen König so schwer bedrohten Papstes “ im Sinn gehabt hatte. 113 112 Robert John, op. cit., S. 260 113 Robert John, op. cit., S. 131 f. 150 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="169"?> Die zweite Anschuldigung, die Dante Hugo Capet aussprechen läßt, bezieht sich darauf, daß der habgierige, französische König nach der Vernichtung des Templerordens seine Residenz in das Pariser Hauptquartier des Ordens, das immer nur kurz „ der Tempel “ genannt worden war, verlegt hatte: Sah den Pilatus auch, den grimmen, neuern, Der hieran noch nicht satt ist, ohne Vollmacht Zum Tempel sein Piratensegel steuern. Dazu hat John kommentiert: „ Die einzige Stelle, wo Dante offen über den Templerprozeß spricht, hat eben diese Residenzverlegung im Auge. Im Kreise der Geizigen des Läuterungsberges läßt er Hugo Capet, den Stammvater Philipps, seherisch verkünden, daß seinen Nachfahren die Segel seiner Begehrlichkeit in den Tempel tragen würden. 114 Zoozmann hat in seiner Übertragung etwas frei, aber durchaus sinngemäß aus den „ Segeln “ „ Piratensegel “ gemacht. Abschließend berichtet Hugo Capet, wie während der Nachtzeit von den Büßern des Fünften Kreises die Namen von sieben besonders Habsüchtigen ausgerufen würden. Sie entsprechen als abschreckende, konkrete „ lebende “ Beispiele den sieben Übeln, die nach Thomas von Aquin aus der Habsucht entstehen: Verrat, Ruhelosigkeit, Trug, Meineid, Falschheit, Unmenschlichkeit und Gewalttat. Am Schluß des Gesangs erleben Dante und Vergil ein Erdbeben des Läuterungsberges, wobei alle die Seelen des Kreises ihre Bußlitanei unterbrechen, um „ Gloria in excelsis Deo “ zu singen. Als das Beben und gleichzeitig damit der Gesang aufhörte, setzten die beiden Wanderer ihren Weg fort. Im Einundzwanzigsten Gesang bemerken die beiden Wanderer einen Schatten, der ihnen folgt. Der Schatten spricht sie an und klärt sie auf, daß das Erdbeben die Begleiterscheinung sei, wenn eine Seele erlöst würde und in das Paradies aufsteigen darf. Die Freude des Berges, daß wiederum eine Menschenseele in das himmlische Paradies eingeht, löse ein Erdbeben und damit zugleich den Freudengesang der anderen Büßer aus. Er selbst aber, erklärt der Schatten, sei derjenige, der erlöst worden war und der die Ursache von allem war. Er sei die Seele des römischen Dichters Statius. Er war im Mittelalter nach Vergil einer der berühmtesten Epiker, eine Lieblingsfigur unter den römischen Dichtern, der nur heute weitgehend vergessen ist. Der Autor Dante nannte ihn einen „ Tolonesen “ , das heißt einen Mann, der aus Toulouse stammt. Zumeist wird angenommen, daß der Grund dafür eine Verwechslung mit dem römischen Redner Lucius Statius Ursulus gewesen sei. Es ist kaum denkbar, daß Dante sich nicht im Klaren gewesen sein soll, daß der Dichter den Nachnamen Statius hatte, während der Redner nur mit dem zweiten Vornamen Statius hieß. Die „ Herkunft “ aus Toulouse könnte auch sehr leicht eine metaphorische Anspielung auf die zu 114 Robert John, op. cit., S. 131 151 Dantes Läuterungsberg <?page no="170"?> den Templern parallele esoterische Tradition der Katharer sein. Es war nicht nur deren Zentrum, das in Toulouse lag, sondern die rituelle Metapher für deren Einweihung als Katharer war, daß gesagt wurde, „ die Gräfin von Toulouse “ hätte sie geküßt. Wäre das wörtlich gemeint gewesen, dann hätte die Gräfin eine überaus kußfreudige Person sein müssen. Statius wird für einige Zeit Begleiter der beiden Wanderer und da er Dante anstatt Vergil die Vorstellung von der Entwicklung des Menschen von der Urform des Fötus bis nach dem Tod erklärt, erweist er sich als ein Eingeweihter, der nicht nur die aristotelischen, sondern auch die thomistischen Einsichten hinter sich läßt. Sollte es wirklich eine Anspielung sein, dann ist es eine doppelte Metapher, denn der römische Dichter Statius konnte natürlich wie Virgil selbst nur in einen antiken Mysterienkult eingeweiht sein, für den die Katharer-Formel wieder nur eine Metapher ist. Für Vergil aber ist diese Begegnung mit Statius nicht zuletzt darum eine überaus erfreuliche Überraschung, weil er erfährt, welch tiefe Verehrung Statius für ihn als Dichter hegt. Ja mehr noch: Statius bekennt von sich ein, daß er durch Vergil zum Dichter und zum Christen geworden war, da er heimlich die Taufe genommen hatte. Vergil aber ist sich nun trotz seiner Freude über die Verehrung zugleich seiner Ausgeschlossenheit bewußt, da Statius auf dem Weg zum Paradies ist, während er zurück in den Limbus des Ersten Höllenkreises muß. Deshalb umarmt er ihn abschließend nicht so warm wie Sordello, sondern hält Distanz: „ So endet die Erkennungsszene zwischen Statius und Vergil, die vielleicht menschlich intimste und humorvollste Szene des ganzen Purgatorio mit einem tragischen Unterton. “ 115 Erst im nächsten Gesang stellt sich heraus, daß Statius, jünger als Vergil, sich heimlich zum Christentum bekehrt hatte und die Heimlichkeit war der Grund, weshalb er zwölfhundert Jahre auf dem Läuterungsberg hatte zubringen müssen. Es ist keineswegs unwahrscheinlich, zumal wenn man den Gesamtgehalt der Commedia erwägt, daß sowohl die Kränkung des großen Vergil durch die dogmatische Ungerechtigkeit, die ihm durch den Vergleich mit dem paradiesfähigen Statius in Erinnerung gerufen wird, als auch die strenge Bestrafung des Statius zu zwölfhundert Jahren Läuterungsberg gleicherweise Übertreibungen vorstellen, die eine Anklage gegen den starren Fundamentalismus bedeuten, ohne daß sie direkt ausgesprochen werden müssen, wodurch sie Dante in Gefahr bringen hätten können. Als die beiden Wanderer in Begleitung von Statius im Zweiundzwanzigsten Gesang zum Sechsten Kreis aufstiegen, löschte ein Engel das nächste „ P “ von Vergils Stirn. Hier erklärt nun Statius Dante, daß Vergil mit seiner (angeblichen) Vorausschau auf die Geburt Christi der Anlaß zu seinem Übertritt zum 115 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 351 152 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="171"?> Christentum gewesen sei. Es handelt sich dabei um einen Vers von Vergils vierter Ekloge, die tatsächlich Asinius Pollio galt (von Vergil selbst später auf Kaiser Augustus umgedeutet), die mit Christus gar nichts zu tun hatte. Im Mittelalter wurde die Ekloge jedoch allgemein als Ankündigung der Geburt Christi gedeutet und wurde noch Jahrhunderte später vielfach so mißverstanden. Am Schluß des Gesanges fragt Statius Vergil nach dem Verbleib antiker Dichter im Jenseits und dieser gibt ihm Bescheid. Dabei geht Vergil auch auf Gestalten aus dem Epos Thebais des Statius ein und erwähnt Hypsipyle, die den dürstenden Agriviern die Quelle Langia gezeigt hatte. Als die nunmehr drei Dichter in den Sechsten Kreis des Läuterungsberges aufgestiegen sind, kommen sie an einem eigenartigen Baum vorbei, dessen Äpfel süß und lieblich duften. Aus dem Baum heraus ertönt eine Stimme, die erklärt, daß die Früchte nicht für die Seelen des Sechsten Kreises bestimmt sind. Diese Insassen werden von ihrer früheren Gaumenlust hier durch Hunger geläutert. Als positives Beispiel gegen das Schlemmen wird das Goldene Zeitalter mit der Bescheidenheit seiner Menschen genannt und als letztes Beispiel und Höhepunkt der den Templern so heilige Johannes der Täufer, der in der Wüste von Honig und Heuschrecken gelebt hat. Im Dreiundzwanzigsten Gesang stößt Dante auf Gruppen von Seelen, deren Antlitz blaß ist und die so abgemagert sind, daß die Haut sich direkt über die Knochen spannt. Eine der Seelen erkennt er nicht am Aussehen, sondern an der Stimme als Forese Donati, den milderen Bruder des fanatischen Corso Donati. Mit Forese hatte Dante einige Zeit einen Sonetten-Austausch gepflegt. Dieser erklärt ihm, daß die Freßgierigen und Schlemmer hier durch Hunger und Durst geläutert werden. Daran schließt er eine prophetische Warnung vor der schamlosen Mode der Florentinerinnen. Im Vierundzwanzigsten Gesang nennt Forese Dante einzelne Schlemmerseelen beim Namen, darunter Papst Hadrian V. und den ghibellinischen Ritter Messer Marchese, der ein großer Säufer gewesen war. Da Dante mit einer Donati verheiratet war, berichtet Forese auch einiges von dieser Familie. Die Schwester wurde von seinem bösen Bruder Corso, der auch Dante ins Exil geschickt hatte, aus ihrem Kloster entführt und zu einer Ehe gezwungen, worauf sie bald danach starb. Dem Bruder Corso prophezeit er, daß er von seinem eigenen Pferd auf der Flucht zu Tode geschleift werden wird, was acht Jahre später auch eintraf. Die Rückdatierung der Jenseitswanderung auf das Jahr 1300 erlaubt es Dante, eine Reihe von „ eingetroffenen “ Kurzzeitprophezeiungen verkünden zu lassen. Da Dante auf die Seele des Dichters Bonagiunta trifft, zitiert dieser den ersten Vers einer der wichtigsten Kanzonen von Dante aus der Vita Nuova: „ Die ihr der Liebe kundig seid, ihr Frauen “ . In ihr wird die Gestalt Beatrices als Sinnbild der Göttin Sophia enthüllt, und Dante erachtete das Gedicht als besonders typisch für seinen „ neuen Stil “ . Er verrät hier auch seine Art zu schreiben, die ihn von der Sizilianischen Dichterschule unterscheidet: „ Ich halt es solcherweise, daß wenn 153 Dantes Läuterungsberg <?page no="172"?> mich Liebe anhaucht, lausch ich achtsam, und schreibe, was sie drinnen vorspricht leise. “ (24, Vers 52 - 54) Wie beim Eingang in den Sechsten Kreis stößt Dante auch beim Ausgang auf einen Wunderbaum mit süß duftenden Äpfeln, die den Seelen genauso verboten sind. Wie der Baum am Eingang den Baum des Lebens versinnbildlicht, so der Baum am Ausgang den Baum der Erkenntnis. Er ist auch ein Sprößling des ursprünglichen Paradiesbaumes, von dem Eva einen Apfel brach. Die Äpfel dieses Baumes aber hängen unerreichbar hoch und haben die Funktion, den Appetit anzuregen und dadurch die Hungerbuße zu verschärfen. Zwischen den beiden Bäumen besteht eine Spannung wie zwischen Leben und Erkenntnis, um deren Überwindung es geht. Hier, vor der „ Feuerprobe “ im Zweiunddreißigsten Gesang steht der Baum des Lebens am Beginn des Sechsten Kreises und steht für die Harmonie und Einheit paradiesischer Vergangenheit. Nach der Feuerprobe im irdischen Paradies dreht sich dies herum und der Baum der Erkenntnis steht am Beginn und allein, da der Baum des Lebens der fernen Zukunft messianischer Erfüllung angehört. 116 Nun sind es drei Wanderer, die von einem Engel, dem Engel der Mäßigkeit, der ganz in blendendem Rot erstrahlt, angerufen und gefragt werden, wohin sie wollen. Er weist ihnen den Weg aufwärts, entfernt das vorletzte „ P “ und Dante hört die Worte: „ Selig, denen Gnade so leuchtet, daß sie nicht des Gaumens Knechte, daß Qualm und Gier die Brust nicht überladen, nein, daß sie immer hungern nach dem Rechte. “ Der Fünfundzwanzigste, Sechsundzwanzigste und Siebenundzwanzigste Gesang gelten dem Siebenten Kreis der Läuterungsberges, in dem die Wollüstigen geläutert werden. Hier regt Dante mit seiner Frage, wie körperlose Seelen im Jenseits hungern und abmagern können, ein großes Lehrgespräch an, das über Eros und Tod zu einem großen Aufriß von Dantes Vorstellungen über Zeugung und die Entwicklung des Lebens bis nach dem Tode führt. Die Erklärung für das Hungern der Seelen verlangt notwendigerweise eine genaue Darstellung vom Wesen des Seelenleibes auf dem Läuterungsberg. Es ist Statius, der Dante erklärt, daß in dem Augenblick, in dem im Fötus die Gliederung des Gehirns vollendet ist, Gott ihm die unsterbliche Seele einhaucht. Es ist lediglich eine besondere Detailbeschreibung der allgemeinen und alten gnostischen These, daß sich jeweils ein Teil oder Funken des Göttlichen mit der Materie vermischt. Bei der Menschwerdung geschieht dies eben in jenem Augenblick. Dabei geht Statius notwendig von der antiken Vorstellung aus, wonach die Entwicklung des Embryos vom Herz aus gesteuert wird. Nach antiker Vorstellung war das Herz das Zentrum, von dem aus der Mensch geistig geboren wird. Hier geht auch die frühe Entwicklung zur anima vegetativa des Pflanzenbewußtseins und über sie zur anima sensitiva der tierischen Existenz vor sich. 116 Vgl. Gershom Scholem: Die jüdische Mystik. Zürich 1957, S. 197 154 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="173"?> Danach und darüber hinaus entwickelt sich von hier durch die göttliche Aktion die anima intellectiva, die menschliche Geistseele. Zur dichterischen Darstellung der Entstehung dieser anima intellectiva verwendet Dante die Metapher der in der Sonne reifenden Trauben, die zu Wein gekeltert werden. Dante distanziert sich von den Vorstellungen des Aristoteles und Averroës und schließt sich im Hinblick auf die Schöpfung einer individuellen und unsterblichen Seele Thomas von Aquin an. Freilich unterscheidet er sich auch von diesem. Denn während Thomas annimmt, daß die Frühformen der anima vegetativa und der anima sensitiva beim Einhauchen der anima intellectiva verschwinden, ist Dante überzeugt, daß sie erhalten bleiben und sich mit der anima intellectiva vereinigen. Es ist eine parallele, alles umgreifende Synthese wie bei der Urkraft der Liebe. „ Auch die Ausführungen des Thomas von Aquin über die ‚ Unvollkommenheit des weiblichen Samens ‘ und über die ‚ Unreinheit der geschlechtlichen Begierde ‘ bei der Konzeption ignorierte Dante. Männlicher und weiblicher Same sind für ihn gleichwertig und nur qualitativ verschieden von aktiver und passiver Potenz. Während Thomas von Aquin die seit Augustinus allgemein akzeptierte Anschauung der christlichen Theologie von der Sündhaftigkeit der concupiscentia, der geschlechtlichen Begierde, vertritt, lehnt Dante als vom Eros ergriffener, genialer Mensch diese asketisch verbogene Sexual-Ethik der Theologen ab. In der concupiscentia sieht er nichts Unreines, sie ist ihm heilig, wenn sie vom Geist der Liebe geadelt wird. Zwischen Keuschheit und Sinnlichkeit gibt es für Dante keinen notwendigen Gegensatz. Nur wenn Sexus und Eros auseinander fallen und der Mensch ohne geistig-seelische Ergriffenheit, ohne wahre Liebe nach sexueller Befriedigung trachtet, macht er sich der Unkeuschheit schuldig, die im Siebenten Purgatorio-Ring gebüßt wird. “ 117 Mit dieser Grundauffassung ist auch die Lehre vom Schattenleib verbunden, die Dante seinem Statius in den Mund legt und die der historische Statius gar nicht kannte. Weder die Antike noch Thomas von Aquin kannten sie. Die kirchliche Dogmatik, die um mystische und gnostische Erfahrungen wußte, sie jedoch bekämpfte, kennt keine solche Jenseitsvorstellung. Der Templergnostiker Dante dagegen, beschwingt durch die dreifache Gabe seines gnostischen „ Wissens “ , seiner Kenntnis des Kirchenreformers Petrus Johannis Olivi und seiner dichterischen Imginationskraft, beschreibt die gleichsam innerliche Körperhaftigkeit seiner Seelenschatten in seinen Terzinen folgenderweise: Und fehlts der Lachesis an Flachs zum Spinnen, Nimmt sie, gelöst vom Fleisch, an Fähigkeit, Was menschlich ist und göttlich, mit von hinnen. 117 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 378 f. 155 Dantes Läuterungsberg <?page no="174"?> Die andern Kräfte müssen alle schweigen, Gedächtnis aber, Einsicht und der Wille Um vieles schärfer sich als früher zeigen. Unaufgehalten, aus sich selber gleitet Ganz wunderbarlich sie an eins der Ufer: Hier lernt sie erst, welch Weg sie künftig leitet. Sobald ein Ort sie bannt in Grenzen wieder, So strahlt die Bildungskraft aus ihr allseitig, Wie sie es tat, als lebend ihre Glieder. Und wie die Luft, wenn schwer sie drückt der Regen, Durch fremde Strahlen, die sich in ihr spiegeln, Ein buntes Farbenkleid pflegt anzulegen, Wird von der Nachbarluft dort angenommen Auch jene Form, die ihr die Seele aufprägt Durch innere Kraft, sobald sie angekommen; Und dann, vergleichbar eines Flämmchens Schimmer, Das treu dem Feuer folgt, wohin sich ’ s wende, Folgt seine neue Form dem Geiste immer. Weil er durch sie die Sichtbarkeit erhalten, Heißt Schatten sie; und die läßt dann Organe Sich jedem Sinn bis aufs Gesicht entfalten. Daher kommt unser Sprechen, unser Lachen, Daher entstehn die Tränen und die Seufzer, Die längs dem Berg dich achtsam konnten machen. Ganz wie wir nun durch Wünsche sind gelaunet Und durch Affekte sonst, formt sich der Schatten; Und dies ist dessen Grund, was du bestaunet. Einer der gebildetsten Seelenschattenleiber, jener des Statius, beschreibt aus eigener Erfahrung und aus erster Hand Dante, was dieser nicht verstehen hatte können. Statius lehrt Dante, daß die Seele, wenn sie den Leib verläßt, all ihre potentiellen irdischen wie göttlichen Qualitäten mit ins Jenseits nimmt. In dieser Hinsicht ist sie im Grunde dem Karma vergleichbar. Verschwunden sind zunächst mit dem irdischen Körper die pflanzliche und die tierische anima, während die anima intellectiva dafür um so reiner und nachdrücklicher hervortritt. Es geht um eine Art Vergeistigung, ähnlich der, wie sie manche Menschen bei tiefer und intensiver „ platonischer Liebe “ erfahren, die erstaunliche Kraft und Macht zu entfalten vermag. Im Sechsundzwanzigsten Gesang trifft Dante eine Gruppe von Seelen, die wegen ihrer Wollust in „ Durst und Feuer “ brennen. Als Sprecher der Gruppe 156 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="175"?> entpuppt sich Guido Guinicelli, von Dante als „ Vater “ apostrophiert. Er war es nämlich, der mit seiner Kanzone „ Al cor gentile ripara sempre “ ( „ Zum edlen Herz gesellt sich immer Liebe “ ) den „ neuen Stil “ begründet hatte, in dem Dante schrieb und den er in seiner Vita Nuova dargelegt hat. Auch einem zweiten, von ihm verehrten Dichter begegnet Dante noch in diesem Kreis, dem provenzalischen Dichter Arnaut Daniel. Für ihn hat Dante die Verse 140 - 147 dieses Gesangs in provenzalischer Sprache geschrieben. Das war zwar auch eine persönliche Ehrung für Arnaut, aber darüber hinaus für alle provenzalischen Troubadours zusammen. Denn da unter diesen eine Riesenwelle der Empörung gegen den Papst sowie jede nur mögliche Gruppe des Welt- und Ordensklerus ausgebrochen war, da hatten sie nur eine Ausnahme gemacht: den Templerorden. Kein einziges ihrer Sirventes hatte Spott und Zorn über die Templer ergossen. Was aber Arnaut Daniel betrifft, so hat Robert John noch eine sehr interessante weitere Beobachtung mitgeteilt. Es ist ihm nämlich aufgefallen, daß im Codex Vaticanus 3202(H) mit Sirvantes des Daniel die handschriftlichen Randglossen und Kommentare wohl das einzige erhaltene handschriftliche Dokument von Dantes Handschrift darstellen, was den hochgebildeten Theologen zum Hinweis auf eine Dante-Reliquie hingerissen hat. Dante begegnet hier auch zwei einander entgegenziehenden Gruppen von Seelen, die sich bei der Begegnung begrüßen, um daraufhin weiterzuziehen. Die einen sind sodomitische Lüstlinge, die durch Maßlosigkeit der Abart sexueller Liebe zu Tieren verfallen waren, die anderen übertriebene homosexuelle Lüstlinge. Der Siebenundzwanzigste Gesang beschließt nicht nur den Siebenten Kreis des Läuterungsbergs, sondern leitet auch bereits zur Ankunft auf der Höhe des „ Irdischen Paradieses “ über. Auch hier treffen die Wanderer zunächst auf einen Wächter-Engel, der die sechste Seligpreisung der Bergpredigt singt, „ Gesegnet sind die, die reinen Herzens sind “ , und die drei auffordert, den vor ihnen liegenden Feuerwall zu durchschreiten. Obwohl Vergil Dante versichert, daß dieser Gang durch das Feuer zwar Schmerz bringen, aber keineswegs den Tod bedeuten wird, bleibt dieser in einem Schock vor Angst erstarrt stehen. Erst der Hinweis auf Beatrice bringt ihn wieder zurück ins Leben und gibt ihm den Mut, durch die Flammen zu gehen. Damit besteht er als letztes auch die „ Feuerprobe “ , die es symbolisch bis heute in Einweihungsriten gibt. Die Hitze, die ihm entgegenschlägt, ist hier allerdings so arg, daß er am liebsten „ zur Abkühlung “ in flüssiges Glas gesprungen wäre, doch er schafft es, auf der anderen Seite wieder aus dem Feuerwall herauszutreten. Er wird von einem grellen Licht empfangen, das ihn völlig blendet und den im Licht verborgenen Pförtner-Engel völlig verdeckt. Wohl aber hört Dante seine Stimme „ Venite, benedicte Patris! “ ( „ Kommt her, Gesegnete des Vaters “ ). Nach der Löschung des letzten „ P ’“ folgt die Weisung für den weiteren Weg. Die erfolgreiche Ermutigung Vergils durch Beatrice, die Dante den Mut gibt, die Feuerprobe zu bestehen, ist keineswegs einfach das Anfeuern eines Verliebten, 157 Dantes Läuterungsberg <?page no="176"?> sondern so wie sich die Bedeutung Beatrices von der körperlich-sinnlichen Person in das Sinnbild der Sophia, der Weisheit, der Geistigkeit verwandelt, so hat sich mit dem Durchschreiten des Feuers beim Ausgang des Siebenten Kreises des Läuterungsbergs für Dante selbst der Übergang vom Sinnlichen zum Geistigen vollzogen. Diese „ Feuerprobe “ ist die letztmögliche irdische Vorstufe des Durchbrechens des Sperrkreises zwischen den Planetensphären und dem Empyreum auf der diesseitigen Ebene des „ Paradiso Terrestre “ , die dem „ wirklichen “ Durchbrechen dieses gnostischen Sperrkreises im dritten Teil der Commedia des jenseitigen Paradieses vorauszugehen hat. „ Wer diesen entscheidenden Schritt, diese Verlagerung ins Geistige in seinem Leben nicht vollzieht, und in unbedenklichem Sinnengenuß das Glück sucht, verliert sich im Treiben der Welt und wird so den Frieden des Irdischen Paradieses nie erringen. “ 118 Als die drei Wanderer während des Aufstiegs übernachteten, hatte Dante einen prophetischen Traum. Er hatte eine wunderschöne junge Frau auf einer lieblichen Wiese erblickt. Es war die alttestamentarische Lea, Schwester der noch jüngeren Rahel. Als er dann am Morgen erwachte, waren die beiden römischen Dichter schon wach. Vergil sprach die Verheißung aus, Dante werde „ noch heute “ im Paradies sein. Damit würde er als Führer am Ende seines Auftrags und seiner Möglichkeiten angelangt sein. Von da an würde Dante frei sein, zu tun, was er wollte, sei es zu ruhen oder sei es in dem wunderschönen Hain umherzuschweifen. Zugleich aber würde er, als ein für das Paradies reifes Wesen zugleich mit der Krone und der Tiara gekrönt werden, sein eigener Kaiser und sein eigener Papst sein. Einerseits erinnert das an einen einmal in den USA von Lincoln, in der Schweiz von Hesse und in Italien von Pirandello ausgesprochenen Wunsch, niemanden über sich und niemandem unter sich zu haben, sondern „ Mensch an sich “ zu sein. Andererseits geht die Entwicklung in der Commedia natürlich noch darüber hinaus. Denn Dante wird dadurch vorübergehend zum Repräsentanten der Gesamtmenschheit und wird am Ziel des Weges jeglichen Mysterienkultes angelangt sein. Schult betont noch, daß Dante seinen prophetischen Traum beim „ Aufgang “ der Venus, des Morgensterns, gehabt hat, „ der stets in Liebesglut zu brennen scheint “ , da nämlich seine Erleuchtung aus der Liebe geboren sein wird. Vor ihm liegt dann noch die Einführung durch die höchsten Hierophanten Beatrice und Bernhard von Clairvaux in das Himmlische Paradies. Im Achtundzwanzigsten Gesang betritt Dante sodann das Paradiso Terrestre, das Dante in seinem Werk zwischen dem Läuterungsberg, auf dessen Gipfel es sich befindet, und dem Paradiso Celeste eingeschaltet hat. Sowohl dieser Platz als auch die Existenz dieses Irdischen Paradieses sind von größter Wichtigkeit. 118 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 394 158 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="177"?> Verliert man nämlich das eine, so verliert man auch das andere und überdies kann man nur vom Irdischen Paradies aus zum Himmlischen Paradies aufsteigen. Beide sind im Grunde im Inneren des Menschen selbst angesiedelt, wenn auch Dante eine großartige Geographie beider in Form einer grandiosen dichterischen Metapher geschaffen hat. 119 Nach Dantes Darstellung war der aus dem Himmel auf die Erde gestürzte Luzifer mit solcher Wucht im Norden auf die Erde aufgeprallt, daß er einen riesigen Trichter wie einen gigantischen Bombentrichter geschlagen hatte, bis er im Erdmittelpunkt zur Ruhe kam und einfror. In diesem Trichter selbst bildete sich die Hölle, doch auf der Erdschicht, die sich darüber gebildet hatte, lag als das Zentrum der Erde Jerusalem. Hier in Jerusalem befindet sich der Tempelberg mit dem Tempelplatz, der allen drei monotheistischen Religionen heilig ist. Den Juden war er heilig, weil sich dort der Tempel Salomonis befunden hatte, den Christen, weil dort in den Vorhöfen des Tempels Christus gepredigt hatte, und den Moslems, weil von dem berühmten Fels aus, der ihnen als Ur-Kern der Schöpfung gilt, Mohamed auf seinem weißen Roß in den Himmel geflogen war. Für Dante aber war der Platz außerdem noch dadurch ganz besonders wichtig, weil dort das Mutterhaus der Templer stand. Daß auch die neun Ur-Templer dort gegraben hatten, wußte er wahrscheinlich nicht. Nach der dichterischen Kosmogonie Dantes war die Erde in eine nördliche und eine südliche Halbkugel geteilt - ein durchaus gnostischer Dualismus - , wobei ursprünglich die südliche Halbkugel von Land bedeckt war, während die nördliche ein riesiger Ozean bedeckte. Durch den Sturz Luzifers hatte sich alles umgekehrt. Die Erdmassen strebten weg von ihm und bedeckten nunmehr den Norden, während das Wasser auf die südliche Halbkugel überschwappte. Der gefallene Engel des Lichts aber hatte durch seinen Sturz einen Schacht bis in den Erdmittelpunkt geschlagen, dessen Erdreich im Süden als ein Berg aus dem Ozean herausragte und als eine riesige Insel zum Läuterungsberg wurde. Auf dem Gipfel des Läuterungsberges entstand das Irdische Paradies, in dem sich die ersten Menschen Adam und Eva einfanden. Nach der modernen Geographie lag dieses Irdische Paradies in Sri Lanka und tatsächlich zeigen Moslems dort noch heute die Bergspitze des Pic d ’ Adam als Ort des Paradieses vor, und eine „ Adams-Brücke “ verbindet die Korallenfelsinseln von Sri Lanka mit dem indischen Festland. Nach dem wohl größten Sufi-Meister islamischer Mystik Ibn Arabi war das Purgatorio ebenfalls ein Berg zwischen Hölle und Himmel. 120 Die Templergnosis hatte dies höchstwahrscheinlich vom Islam übernommen, und Dante hatte ihm dichterische Gestalt verliehen. 119 Vgl. dazu Robert John, op. cit., S. 173 - 181: „ Das Paradiso Terrestre als antipodischer Tempelplatz “ 120 Vgl. Don M. Asín y Palacios: La escatología musulmana en la Divina Comedia. Madrid 1919, S. 162 ff. 159 Dantes Läuterungsberg <?page no="178"?> Robert John ist es gewesen, der im Gegensatz zu den bedeutendsten Romanisten wie Karl Vossler gezeigt hat, wie Dantes Darstellung des Irdischen Paradieses ein wirkliches „ Meistergemälde “ bildet, in dem „ jeder Pinselstrich sinnvoll und mit Bedacht gezogen ist “ . Und zu Recht hat er das Irdische Paradies auch einen „ Angelpunkt “ der ganzen Commedia in doppeltem Sinn genannt: 121 erstens inhaltlich, da Dante nur im Irdischen Paradies zur Dame seines Herzens Beatrice, der Göttin Sophia, der Weisheit, stoßen kann und da Beatrice ihn nur von hier aus zum Höhepunkt der esoterischen Einweihung im Himmlischen Paradies im Bereich der Sterne erheben kann, und zweitens im Hinblick auf die Darstellung der Templergnosis in der Commedia überhaupt. Diese besondere Ausformung der Gnosis, eben als Templergnosis, mit ihrer Verlegung des Irdischen Paradieses auf die antipodische Stelle von Jerusalem und Zion, war eine bereits von den Templern entwickelte Idee eines gnostischen, zweipoligen Dualismus, den sie bereits bei Clemens von Alexandria gefunden hatten. Dante hat freilich durch seine dichterische Geographie diese Idee zu einer besonderen Vollendung geführt. Dies geschah unter anderem dadurch, daß er den Fluß Lethe gemäß der antiken Tradition im Paradies entspringen ließ und selbst den Fluß Eunoë hinzuerfand. Diese Vervollkommnung diente einer doppelten Funktion: Erstens wurde dem kleinen Fluß Lethe als notwendiger gnostischdualistischer Gegenpol der kleine Fluß Eunoë hinzugefügt. Sie entsprangen am selben Ort, doch floß der eine nach Osten, der andere nach Westen. Zweitens aber wurde durch den Lauf der beiden Flüsse aus dem Gebiet des Paradiso Terrestre eine kreisförmige Nord-Ost-Ecke herausgeschnitten, die den Schauplatz der symbolischen Begegnungen darstellt. Wenn man bedenkt, daß auf den Karten des 12. und 13. Jahrhunderts Jerusalem oft in Form eines Kreises wiedergegeben wurde, 122 dann wird der gnostische Gegenpol des Tempelplatzes in Jerusalem ganz präzise zum Gegenpol des Platzes im Irdischen Paradies gemacht, auf dem sich die letzten Gesänge des Läuterungsberges abspielen. Darum ist es auch ebenso bezeichnend wie sinnvoll, wenn Robert John den „ wirklichen “ Tempelplatz oder Haram esch-Scharif auf Dantes nördlicher Halbkugel als den Gegenpol bezeichnet, während sich im Paradiso Terrestre alles auf dem Läuterungsberg abspielt. Dies ist tatsächlich ein Angelpunkt, der die Vorgänge der Commedia im Irdischen Paradies zum Ereignis einer „ Templer “ -Gnosis macht. Im Achtundzwanzigsten Gesang folgt Dante Vergils Einladung, die herrliche Gegend auf der Höhe des Paradiso Terrestre zu betrachten, und als er auf einer wunderschönen Wiese zu einem Bach oder kleinen Fluß kommt, erblickt er auf der anderen Seite des Wassers eine schöne junge Frau, die Blumen sammelt und singt. Es ist die „ Wirklichkeit “ der Szene, die er in der letzten Nacht geträumt und die sich durch die Erscheinung Leas angekündigt hatte. Nun ist Lea immer das 121 Robert John, op. cit., S. 175 und 174 122 Vgl. Reinhold Röhricht in: Zeitschrift des Deutschen Palästina Vereins, 1891 - 1892 160 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="179"?> Sinnbild tätiger Liebe, die immer dem Erscheinen ihrer Schwester Rahel vorangeht, dem Sinnbild kontemplativer Gottesschau. Die singende schöne Frau, die er auf der Wiese nun sieht, ist Matelda, die in ebensolcher Weise als Vertreterin tätiger Liebe dem Erscheinen des Sinnbilds kontemplativer Gottesschau, Beatrice, vorausgeht. Der kleine Fluß aber ist Lethe, dessen Wasser nach dem Trinken alles Vergangene vergessen läßt. Ihr komplementärer Gegen-Fluß ist Eunoë, dessen Wasser nach dem Trinken alle guten Taten in Erinnerung ruft, die man je gesetzt hat. Matelda bringt ihn in Verbindung mit dem Goldenen Zeitalter des Paradies- Zustandes. Sie ist es, von der man hat sagen können, daß sie Sinnbild und Hierophantin des Irdischen Paradieses ist, und die als Gegenbild zum Niedergang und Wertzerfall der Zeit die Vergangenheitsutopie des Goldenen Zeitalters hochhält. Robert John unterstrich die Tatsache, daß in den Augen der Inquisition sogar schon politische Kritik am Kirchenstaat als Höhepunkt anarchistischer Bosheit gegolten hätte und daß das geistige Ideal der Templer um keinen Preis ausgesprochen werden durfte. „ Man redete daher durch die Blume. Und die in dieser Beziehung dankbarste Sprache der Blume war eben die Sprache der Liebe. Ihr Schleier war dicht und zugleich schmiegsam genug, um alle Gedankengänge mitzumachen und vor den Augen Uneingeweihter dennoch zu verhüllen. “ 123 Für den Eingeweihten aber war sogar die Blumenwiese Mateldas mit Ihrer faszinierenden Lieblichkeit und deren Verweis auf das Goldene Zeitalter ferner Vergangenheit eine klare Kritik der Gegenwart, sodaß es der selbstverständlich stummen Zustimmung des Lächelns der beiden antiken Dichter gar nicht mehr bedurft hätte. Matelda ist es, die jenseits des Lethe-Flusses, durch dessen Wasser alle Vorurteile, alle Mißgunst, aller Haß vergessen werden konnte, auf das irdische Paradies hinweist, als dessen Repräsentantin und Hierophantin sie eine Vergangenheits- und Zukunftsutopie zugleich hochhält, die eine Menschheit, jenseits aller Trennungen durch Konfession, durch Rasse, durch Klasse, durch Geschlecht, durch Landesgrenzen beschwört, welche die Pax Universalis verwirklicht hat. Es ist jene ganzheitliche, eine Menschheit, die durch Toleranz, Hilfsbereitschaft und Liebe zusammen gehalten wird. Darum geht es hier im irdischen Paradies, in das Dante nun eintreten wird als Vorstufe zum letzten und höchsten himmlischen Paradies im astralen Bereich reiner jenseitiger Geistigkeit. Daß es jemals jemand einfallen hat können, als historisches Vorbild der singenden, Blumen pflückenden Matelda ein Mannweib wie Matilde von Toskana anzunehmen, ist unverständlich. Es zeigt aber, welche Blüten eine „ realhistorisch “ orientierte „ Forschung “ treiben konnte. Eine Einführung in das Wesen des Irdischen Paradieses stellt bereits die Einweihungsvision dar, die Matelda vor der Figur Dantes erstehen läßt. Die „ lebendige Luft “ , die hier auf dem antipodischen Tempelplatz die Quelle eines 123 Robert John, op. cit., S. 174 161 Dantes Läuterungsberg <?page no="180"?> Windes ist, der nichts mit irdischer Meteorologie zu tun hat, sondern bereits aus dem Paradies stammt, erfrischt in besonderer Weise. Auch der Samen aller Pflanzen stammt aus dem Paradies, in dem allerdings auch Pflanzen erblühen, die es auf der Erde gar nicht gibt. Zu diesen gehören auch der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis. Wie auch die beiden Flüsse des Paradieses nicht aus irdischen Quellen entspringen, sondern aus jenem Born schöpfen, der aus Gottes Willen stammt. Im Neunundzwanzigsten Gesang wird Matelda zu Dantes Hierophantin für die Einweihung in das Irdische Paradies. Sie gehen beide, durch den Fluß Lethe getrennt, tiefer in den Hain hinein, bis der Fluß plötzlich eine Wendung nach Norden macht. Für die dichterische Jenseitsgeographie Dantes ist dies ein sehr wichtiger Punkt. Es ist nämlich der Punkt der Süd-West-Ecke des Irdischen Paradieses auf der südlichen Halbkugel, der mit der Nord-Ost-Ecke des wirklichen Tempelplatzes in Jerusalem auf der nördlichen Halbkugel korrespondiert. Aber gerade in dieser Nord-Ost-Ecke befindet sich die Al-Aqsa-Moschee, die damals die Mutterkirche des Templerordens gewesen ist, in der König Balduin II. den ersten neun Templern Quartier geboten hatte, damit sie graben konnten und in der es noch heute einen Flügel gibt, „ die weiße Moschee “ genannt, mit gotischen Kreuzgewölben, die den Namen „ der Waffensaal der Templer “ hatte. Genau am antipodischen Gegenpol dieser zentralen Stelle für die Templergnosis nun bleibt Matelda stehen und ordnet an: „ Mein Bruder, höre jetzt und schaue! “ Wie in den alten Mysterienkulten beobachtet nun der Kandidat Dante die von der Hierophantin herbeigezauberten Einweihungsbilder. Es ist ein Zug von Gestalten, der sich von ferne nähert und der das Irdische Paradies repräsentiert. Der Umzug besteht aus sehr genau ausgewählten Figuren in einer ebenso sorgfältig angeordneten Reihenfolge. Er stellt wahrscheinlich das wichtigste Kernstück direkter templergnostischer Überlieferung dar, wobei Dantes dichterisch-symbolische Ausführung wohl von der ursprünglichen esoterischen und darum notwendig ebenfalls symbolischen Darstellung der Urfassung kaum allzu viel abweichen wird. Was kirchliche Vorsicht an historischer Dokumentation zerstört hat, ist in dichterischer Verkleidung erhalten geblieben, und dazu noch durch einen so überragend gelehrten wie imaginativ einfühlsamen Dichter wie Dante. Um es gleich vorwegzunehmen: Der weitaus überwiegende Großteil der von Matelda organisierten Einweihungsszene ist seinerseits wieder nicht allzu weit von zwei ihm verwandten Quellen entfernt: dem ersten Kapitel des alttestamentarischen Buches Ezechiel (oder Hesekiel) und dem vierten Kapitel der neutestamentarischen, geheimen Offenbarung des Johannes, beides prophetische Bücher. Die Templergnosis hat sie keineswegs einfach kopiert, sondern auf ihnen als Quellen ihre eigene Lehre aufgebaut. Beide Bücher beginnen ihre Prophetie mit einer Lichtvision: Ezechiel mit einer Wolke von Feuer, innerhalb dessen es „ lichthelle “ war, und Johannes sogar mit dem Licht von sieben Leuchtern, ganz wie der Umzug Mateldas. Als der Zug 162 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="181"?> noch weiter entfernt war, glaubte Dante zunächst sieben leuchtende Bäume zu sehen, und erst als der Zug nahe herangekommen war, erkennt er sieben hell leuchtende Prachtgeräte, was Wilhelm G. Hertz sogar mit nur einem Prachtgerät im Singular übersetzt hat. Das eine Prachtgerät erinnert an die jüdische Menora, den berühmten siebenarmigen Leuchter, der im Tempel Salomonis aufbewahrt worden war, wo er bereits Erleuchtung symbolisierte. Die falsch gesehenen sieben leuchtenden Bäume aber verwandeln sich nicht in einen, sondern in sieben Leuchter, wie die gehaltsschwere symbolische Zahl Sieben überhaupt die ganze geheime Offenbarung durchzieht und prägt. Da gibt es sieben Mahnungen, sieben Sendschreiben, sieben Siegelvisionen, sieben Zeichenvisionen, sieben Kampfrufe, sieben Babylon-Visionen, sieben Zornschalen, sieben neue Gebote, sieben Visionen der Vollendung sowie sieben Köpfe und Kronen. Die sieben Leuchter hinterlassen sieben farbige Streifen, vergleichbar den sieben Farben des „ Gurts Delias “ , das heißt des Hofes des Mondes (und des Regenbogens der Sonne.) Auch das erste Kapitel von Ezechiel schließt mit einem Regenbogen als Sinnbild der Herrlichkeit Gottes. Auch am Beginn des vierten Kapitels der geheimen Offenbarung steht ein Regenbogen. Die spezifisch templergnostischen Elemente, auf die es ankommt, werden sehr oft dadurch sichtbar, wenn Einzelheiten der Figuren oder Ideen des Umzuges sich von den „ Quellen “ , die aber mehr ein Tarngewand sind, unterscheiden. Sowohl Ezechiel als auch Johannes benützen zur Verherrlichung Gottes den von der Sonne nach dem Regen erzeugten Regenbogen mit den sieben Spektralfarben. Dante fügt der Sonne den Mond hinzu. Der ausschlaggebende Unterschied ist der Mond. Dante spricht von „ Delias Gurt “ . Delia war der Beiname von Artemis. Sie wurde in der Zeit des Hellenismus mit der Mondgöttin Selene gleichgesetzt. In der römischen Kaiserzeit - und das war die Geburtsstunde der Templergnosis - wurde sie jedoch als Mondgöttin der Isis gleichgesetzt. So wie bei den Templern oft Bilder, die an der Oberfläche Marienbilder zu sein schienen, tatsächlich Isisbilder waren, so gaben Ezechiel und Johannes die Tarnung für eine templergnostische Mysterieneinweihung ab. Es gibt ja auch Marienbilder und Marienskulpturen aus dem Mittelalter, wo Maria mit dem Jesuskind auf einer liegenden Mondsichel steht. Zumindest der erste Künstler von Werken solcher Art muß entweder selbst ein Eingeweihter gewesen sein oder aber für einen eingeweihten Auftraggeber gearbeitet haben. Aber die Wichtigkeit der Madonna-Isis-Gestalt ist nicht auf die Delia-Metapher beschränkt. Die sieben Leuchter erzeugen Lichtstreifen in den sieben Farben, die sie als eine Art Lichtstraße, zehn Schritte breit, hinter sich herziehen, sodaß sie wie ein Baldachin über dem ganzen Umzug wirken. Die ersten Figuren, die den Leuchtern folgen, sind 24 weiß gekleidete Greise, wie sie auch in der Offenbarung des Johannes vorkommen. Der Regenbogen signalisiert die Verbindung Gottes mit den Menschen im Allgemeinen und den Zustand des Friedens zwischen Gott und den Menschen im Besonderen. Die Greise der Offenbarung tragen goldene Kronen, die 163 Dantes Läuterungsberg <?page no="182"?> bei Dante gegen „ Lilienzier “ der Stirn ausgetauscht werden. Es ist der ausschlaggebende kleine Unterschied. Es gibt heute noch eine besondere Lilienart, die „ Madonnenlilie “ heißt, und in zahlreichen Maiandachten der katholischen Kirche spielt der Blumenschmuck der Lilien eine besondere Rolle. Hinter dem Gesicht der Madonna aber verbirgt sich das Antlitz der Sophia und der Isis. Die hier naheliegende Frage wäre: Warum tragen die Vertreter der Bücher des jüdischen Alten Testaments, wofür die 24 Greise stehen, „ Marienkronen “ ? Erstens weil sie hier nicht wie die Kronenträger Vertreter weltlicher Macht und Gewalt sind, sondern älteste esoterische Traditionen symbolisieren, denn so wie die auf der Mondsichel stehende Maria die Mondgöttin Isis meint oder zumindest mit meint, so werden die Greise alter religiöser Überlieferung an die Tradition der Mondgöttin herangerückt. Zweitens, weil gerade die Verbindung von zwei verschiedenen Traditionen auf synkretistische Tendenz der meisten esoterischen Traditionen hinweist, denn in der friedlichen Gemeinsamkeit jüdischer und ägyptischer Tradition ist kein Raum für inquisitorische Haßorgien. So wie sich Stern um Stern am Himmel zu zeigen pflegt, so folgen den alttestamentarischen Greisen vier seltsame Tiere, in deren Mitte ein Siegeswagen fährt. Als Insassin des Wagens wird, „ in weißem Schleier . . . unter grünem Mantel, bekleidet mit lebendigem “ , roten „ Feuerglanze “ Beatrice sichtbar. Sie trägt also die Templerfarben. Die Hosianna-Rufe, die dem Umzug vorausgehen und die Anspielungen auf den Empfang Christi in Jerusalem sind, gelten der Insassin des Siegeswagens und nicht dem Greif, der ihn zieht. Er ist nach vielen Kommentatoren ein Sinnbild Christi, der hier aber zum Zugtier Beatrices abqualifiziert wurde. Doppelwesen von Adler und Löwe, das er ist, versinnbildlicht er beide Naturen Christi, die göttliche und die menschliche. Was vom Adler stammt ist Gold und göttlich, was vom Löwen stammt ist Fleisch und Blut, also menschlich. Nun besaß die Templergnosis eine tiefe Verehrung für die menschliche Weisheit von Jesus, was nicht zuletzt die vielen Seligpreisungen aus der Bergpredigt belegen, die im Läuterungsberg zitiert werden. Sie hatte aber wenig übrig für die Sonderstellung von Jesus als Gott, was sie darum auch in ihrer Aufnahmezeremonie in den Orden abgelehnt hat. Das Göttliche trägt jeder Mensch in sich, da es sich nach gnostischer Tradition von Anbeginn an mit der Materie vermischt hatte und nach Dantes Überzeugung in einem bestimmten Augenblick der Schöpfung dem Menschen eingepflanzt wird. Die (gnostische) Hauptgestalt des ganzen Umzuges ist eindeutig Beatrice-Sophia. Der Greif aber, den alle Kommentatoren und sogar Schult infolge der Doppelnatur dieses Geschöpfes für ein Symbol Christi halten, repräsentiert die rein negativ besetzte Ecclesia Carnalis, wie als einziger Robert John entdeckt und auch nachgewiesen hat. Daher taugt der Greif bestenfalls als Zugpferd, während die triumphierende Insassin des Wagens Beatrice ist. 124 124 Robert John, op. cit., S. 205 - 208 164 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="183"?> Die sieben Regenbogenfarben, die als Lichtstreifen den Baldachin des Umzugs bilden, sind ganz wie in der Offenbarung eine neuplatonische Emanation Gottes. Sie kennzeichnen die „ sieben Geister “ Gottes, die alle Qualitäten des Heiligen Geistes sind. Die weiße Kleidung der vierundzwanzig Greise mag ursprünglich eher noch von den Essenern als von den levitischen Priestern des Tempels genommen sein. Die Templergnosis hat bereits von der Übernahme dieser weißen Kleider durch Zisterzienser und Templer gewußt. Sieben Frauen tanzen um den Siegeswagen und dieses ganze Zentrum des Umzuges wird von vier Tieren umgeben. Die drei rechts tanzenden Frauen sind in den Farben der geistlichen Tugenden und das bedeutet hier in den Templerfarben bekleidet, die links vom Wagen tanzenden vier Frauen repräsentieren die vier weltlichen Kardinaltugenden: Gerechtigkeit, Stärke, Mäßigung und „ Klugheit “ (providentia), was auch prophetische Vorausschau und Wahrnehmung esoterischer Weisheit einschließt, weshalb die vierte Frau drei Augen hat. Dieses dritte Auge symbolisiert das Öffnen der elften Chakra, der Stirn-Chakra, wie es oben beschrieben wurde. Die vier Tiere, die den Wagen umgeben, sind, wie es sich für den Rahmen der Offenbarung hier gehört, die vier apokalyptischen Tiere, deren Namen den Hauptsternbildern der Sonnenbahn entnommen sind: Stier, Löwe, Skorpion oder Adler und Wassermann oder Engelmensch. Manchmal werden sie auch Sphinx- Tiere genannt, weil sie wie die ägyptische Sphinx und übrigens auch die babylonischen Cherubin aus vier Teilen zusammengesetzt sind: Stierhinterleib, Löwenpranken, Adlerflügel und Menschenkopf. Nicht zuletzt aber: „ Ähnlich werden wir uns auch die Cherubin auf der Bundeslade des Salomonischen Tempels zu denken haben. “ 125 Wie in der Offenbarung hat jedes der vier apokalyptischen Tiere sechs Flügel, was sie als Engel der höchsten Hierarchie kennzeichnet. Und ganz wie bei Johannes sind auch die sechs Flügel dieser Tiere voll von Augen. Äußerlich betrachtet könnte die Beschreibung vom Argus der Metamorphosen des Ovid genommen sein. In der Sache selbst aber müssen diese Augen als Symbole der astralen Herkunft der Tiere verstanden werden. Als Sternbilder sind sie ja Sternwesen, und die Augen verstehen sich als Umsetzung der Anschauung von den Sternen als Augen des Himmels in ein metaphorisches Bild. Diese Unterstreichung der astralen Herkunft ist darum wichtig und sinnvoll, weil in Dantes gnostischem Umzug die apokalyptischen Tiere und die Gruppe der 24 Greise einander insofern zu einem Ganzen ergänzen, als die Greise die Zeit ordnen, da sie als Zeitenführer oder Äonen den Jahresablauf einteilen, der manches Mal nicht in zwölf, sondern in vierundzwanzig Teilsektoren aufgeteilt worden war, während die vier Tiere den Fixsternhimmel repräsentieren, und damit auch den Raum ordnen, indem sie seine vier „ Ecken “ begrenzen. Ihre 125 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 424 165 Dantes Läuterungsberg <?page no="184"?> symbolische Bedeutung ist eine für den gesamten Makrokosmos, über den Fixsternhimmel hinaus. In der Offenbarung des Johannes steht vor dem Thron im Kristallhimmel über dem Fixsternhimmel ein Seraph. Der Umstand, daß man im Mittelalter jedem der vier Evangelien eines der vier Tiere zugeordnet hatte, sollte nicht dazu verführen, sie in einem engen, fundamentalistischen Sinn mit den vier Evangelien zu identifizieren, wie das Sauter gemacht hat. Im vorliegenden Kontext des Umzuges von Dante sind sie Astralwesen und die räumliche Ergänzung zu den die Zeit ordnenden Greisen oder Äonen. Dante mag durch die Templergnosis gewußt haben, daß diese vier apokalyptischen Tiere „ jene vier esoterischen Symbole “ darstellen, „ die tatsächlich zusammen den Menschen ausmachen “ und die mit der gesamtmenschheitlichen Entwicklung am tiefsten zu tun haben. 126 Durch ihre Tetraktys, ihre Quaternität, fügen sie sich der gnostischen Weltschau auf das beste ein. Nach dem Zentrum des Umzuges, dem großartigen Wagen, umtanzt von sieben Frauen und umgeben von vier Tieren, folgen noch einmal weiß gekleidete Greise: zunächst zwei, die man allgemein für die Evangelisten Lukas und Paulus hält, was mir nicht ganz sicher erscheint. Sodann kommen vier Greise, die für die Verfasser der sogenannten „ Lehrbücher “ des Neuen Testaments stehen: Jakobus, Petrus, Johannes und Judas. Sie tragen keinen Lilienschmuck am Haupt, sondern rote Rosen und andere rote Blumen, die für die Liebe stehen, in die bei Dante nicht nur die ganze Commedia, sondern auch der gnostische Umzug Mateldas ausmündet. Als eine Art letzter Höhe- und Schlußpunkt folgt ganz zuletzt noch ein einzelner Greis, der für den Johannes der Offenbarung steht. Es mag auf den ersten Blick überraschend anmuten, daß der so genaue Dante Johannes in zwei spaltet, und es könnte sich sogar der Verdacht aufdrängen, daß er es nur wegen der Zahlensymbolik macht, denn jener einzelne Nachzügler bringt die letzte Gruppe der Greise auch auf die Zahl sieben und die Gesamtzahl von Beatrices Gefolge auf 49, also 7 mal 7. Tatsächlich aber scheint es mir möglich, daß Dante durch die Templergnosis auch gewußt hat, daß es zwei Johannes gibt, und daß der Johannes der Offenbarung mit dem Evangelisten und Lehrbuchverfasser nicht identisch ist, und das obwohl fast alle bedeutenden Vertreter des frühen Christentums diese Identität als gegeben angenommen haben. Es war nicht nur computerunterstützte Stilanalyse, sondern sehr viel mehr, was heute diese Identität für höchst unwahrscheinlich erscheinen läßt. 127 126 Vgl. Rudolf Steiner: Weltenwunder. Seelenprüfung und Geistesoffenbarungen. In der Gesamtausgabe von Steiners Werken, 129, Dornach 1977, S. 182 ff. 127 Vgl. Jörg Frey, James A. Kelhoffer und Franz Tóth (Hg.): Die Johannesapokalypse. Tübingen 2011. Bei dem nach Patmos verschlagenen Johannes weisen sowohl die Sprache als auch der Inhalt seiner Offenbarung auf eine Herkunft des Autors aus dem Juden-Christentum, das nach der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 aus Jerusalem vorwiegend nach Kleinasien ausgewandert ist. Das würde auch genau zum Hintergrund der Templergnosis passen. 166 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="185"?> Bleibt jetzt nur noch fest zu halten, daß infolge des Vollkommenheitsstrebens von Dante sich auch von der Perspektive der Zahlensymbolik her Mateldas Umzug als ein durch und durch gnostischer erweist. Die Gesamtzahl von Beatrices Gefolge beträgt 49 und das ist 7 x 7. Sieben Leuchtträger, 24 Greise vor dem Wagen, 7 Damen um den Wagen, 4 Tierwesen um den Wagen und 7 Greise nach dem Wagen. „ Im Siebenerrhythmus schwingt die Zeit. Sieben ist die Zahl der Zeitenkreise und Äone, 7 x 7 = 49 deutet auf die Vollendung von Zeit und Äon, auf den Äon der Äonen, auf den Ewigkeitsbereich Gottes und den vollendeten Kosmos hin. Diese 49 Äonen umgeben den Triumphwagen Beatrices. “ 128 Die Veranstalterin und Hierophantin der gesamten Mysterien-Vision ist Matelda, über deren Identität es bis jetzt eine fruchtlose gelehrte Auseinandersetzung gegeben hat. Wir sollten uns hier wohl am besten an den Autor selbst halten, der sie so schildert, daß sie seine eigene Figur des Jenseitswanderers Dantes im Text an Proserpina erinnert, die griechische Persephone, deren römischen Namen der Lateiner Dante vorzieht. Sie wurde Kore genannt, und Karl Kerényi hat zusammen mit C. G. Jung in einem gemeinsamen Buch, dem bisher besten, zu diesem Thema geschrieben. 129 Daß Dante Matelda an Persephone erinnert, hängt nur äußerlich mit dem Umstand zusammen, daß diese in der Nysa-Ebene Blumen pflückte, als sie von Hades in die Unterwelt entführt wurde. Der Kern des Vergleichs zielt auf ein ganz anderes, ja das zentrale Problem des ganzen Mythos, wie er später auch wichtiger Teil des Mysterienkults geworden ist: Dadurch, daß schließlich entschieden wurde, daß Persephone eine Hälfte des Jahres in der Unterwelt verbringen muß - dann ist es Winter - , die andere Hälfte aber in der Oberwelt - dann ist es Sommer - , wurde sie zu einem der berühmtesten Wiedergeburtssymbole. Ein Wiedergeburtsakt, der zur Erleuchtung führt, ist aber nicht nur Ziel, Sinn und Zweck aller Mysterienkulte, sondern auch das Ziel der apokalyptischen Vision Dantes, ja im Grunde des ganzen Werks seiner Göttlichen Komödie. Zusammenfassend konnte über den Umzug im Neunundzwanzigsten Gesang gesagt werden: „ So erkennen wir in den Bildsymbolen dieser apokalyptischen Vision Dantes die ganze Himmelsleiter des Zeichen-Tierkreises, der Planetensphären, des Fixsternhimmels und des Himmlischen Paradieses. Nicht nur kosmische Symbole werden durch diese Gestalten repräsentiert, sondern die kosmischen Sphären werden hier durchsichtig für die in ihnen wirkenden himmlischen Geistwesen, . . . für das Pleroma der Doxa Gottes. “ 130 Daß die Figur der Matelda als Proserpina-Persephone ein Wiedergeburtssymbol darstellt, wird übrigens dadurch erhärtet, daß sie hier zusätzlich die 128 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 423 129 C. G. Jung und Karl Kérenyi: Einführung in das Wesen der Mythologe: Der Mythos vom göttlichen Kind. Zürich - Düsseldorf 1999 130 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 426 167 Dantes Läuterungsberg <?page no="186"?> Funktion einer von Dante öfter gebrauchten Erzählstrategie darstellt, nämlich die Vorankündigung dessen, was sich später am Fluß Lethe ereignen wird und was eine endgültige Verifizierung ihrer Symbolik für die Wiedergeburt darstellt. Dieses Ereignis besteht in der für Dantes innere Entwicklung wichtigen Erfahrung, von Matelda im Fluß Lethe untergetaucht zu werden. Wie in Mysterienkulten folgt den Erklärungen der Hierophantin durch „ Bilder “ - hier des Umzuges - der eigentliche Einweihungsakt nach. Ein Wiedergeburtsakt aber, der zur Erleuchtung führt, ist nicht nur das Ziel aller Mysterienkulte, sondern auch das Ziel der apokalyptischen Vision Dantes als Vorstufe für das Paradies und auf einem noch höheren Einweihungsgrad das Ziel der ganzen Göttlichen Komödie am Ende des Paradieses. Der Dreißigste Gesang setzt die apokalyptische Vision fort. Der Siegeswagen Beatrices hält genau da an, wo Dante stehen blieb, als der Lethe-Fluß plötzlich nach Norden bog. Der Fluß liegt zwischen ihm und dem Wagen. Es ist genau der Punkt des Irdischen Paradieses, der auf der nördlichen Erdhalbkugel dem Tempelplatz entspricht. Einer der vierundzwanzig Greise intoniert drei Mal „ Veni sponsa de Libano “ und dann fallen alle anderen ein. Es ist das Hohelied Salomos „ Komm, Braut vom Libanon “ , über das Bernhard von Clairvaux nicht weniger als 86 Predigten verfaßt hatte, und das eigentlich eine verschlüsselte Klage der Isis um ihren toten Gemahl war. Nach zwei weiteren Begrüßungschören, von denen der erste die „ Ankommende “ segnet, der zweite aber, mitgesungen von hundert plötzlich aufgetauchten Engeln, der Chor eines Vergil-Zitates ist, wonach alle Hänge Lilien streuen sollen. Der Text stammt aus der Aeneis und hatte ursprünglich dem Schwiegersohn des von Vergil verehrten Kaisers Augustus gegolten. Der Zweck des Textes wurde nun von Dante umfunktioniert und gilt nun auch Beatrice. Jedenfalls sind beide Chöre an Beatrice in ihrem Wagen gerichtet. Diese steigt schließlich aus dem „ Gotteswagen “ aus und nennt das einzige Mal in der ganzen Dichtung selbst ihren Namen. Sie zeigt sich in weißem Schleier, grünem Mantel und rotem Kleid. Für den Uneingeweihten sind das die Farben der geistlichen Tugenden, für den Eingeweihten die Templerfarben. Vergeblich wendet sich Dante Trost suchend nach Vergil um. Der ist schweigend verschwunden, nachdem seine Möglichkeiten erschöpft waren und seine Mission erfüllt war. Beatrice, die der zweite Begrüßungschor mit denselben Worten empfing, mit denen Jesus bei seinem Einzug in Jerusalem begrüßt worden war, wird dadurch in ihrer hohen Stellung als Sophia bestätigt. Sie hält Dante seine Schuld vor, indem sie den mitleidsvollen hundert Engeln seine Entwicklung in der Beziehung zu ihr berichtet. Als die Engel den Beginn des 31. Psalms singen und er ihr Mitleid heraushört, ist er zutiefst gerührt, von Reue ergriffen und erlebt eine innere Wende. Die Schuld, die ihm Beatrice vorhält, besteht nicht darin, daß er sich nach ihrem Tod anderen Frauen zuwandte, sondern darin, daß er ihr, Beatrice untreu 168 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="187"?> wurde, als sie „ vom Fleisch zum Geist emporgestiegen “ . In nüchtern prosaischer Weise ausgedrückt, als er sich entgegen den Einsichten und Gelübden seiner jugendlichen Templer-Einweihung in die Welt des Ehrgeizes politischer Macht warf. Beatrice berichtet in seiner Anwesenheit auf der anderen Seite des Flusses den Engeln, daß er allen ihren Versuchen, ihn durch Visionen und Träume zu ermahnen und zu erwecken, widerstand und nicht zum Wesentlichen geistiger Entwicklung zurückkehrte, bis zuletzt nur noch die Gewaltkur geblieben war, ihn durch die Hölle zu schicken. Dantes Weg von seiner „ Verirrung “ und seinem vergeblichen Versuch, an der hungrigen Wölfin vorbei den direkten Aufstieg auf den Berg des Heils zu schaffen, finden hier ihre Erklärung durch Beatrice. Die Erklärung findet in dem lichten Hain jenseits der Lethe statt, der den Kontrapunkt zum finsteren Wald der Verirrung im Ersten Gesang der Hölle bildet. Beatrice hatte ihm ja auch Vergil geschickt und was die Gewalttour durch die Hölle vorbereitet hatte, das hatten die Psalmen singenden Engel mit ihrem Mitleid vollendet. Die Hierophantin Matelda war mit ihrer apokalyptischen Vision eine kräftige Unterstützung gewesen. Jetzt, angesichts der anklagenden Worte Beatrices, gelangte er zu wirklicher Selbsterkenntnis und dadurch zum Schmerz wahrhafter Reue. Er beginnt die notwendige innere Wende zu vollziehen und wendet sich der spirituellen Vervollkommnung zu. Die in den Versen 34 - 36 des Einunddreißigsten Gesanges gemachte Selbstbeschuldigung Dantes mit ihrer implizierten Reue hat dazu geführt, daß der bedeutende Schweizer Literaturwissenschafter Theophil Spoerri, welcher der Interpretation der Commedia ein ganzes Buch gewidmet hat, diese Stelle zum Zentrum und zur Mitte der ganzen Dichtung erklärt: „ Wer sich selbst erkennt und seinen Fall freimütig bekennt, in dem leuchtet das Geisteslicht neu auf, in dem siegt der Geist über das Fleisch. In die warme Geborgenheit ersehnter Liebe führt nur der Schmerz echter Reue zurück. Da wird der irdische Mensch wieder transparent für den himmlischen Menschen, den Engelmenschen. “ 131 Es war aber der freilich erstaunlich unabhängig denkende Theologe Robert John, der gezeigt hat, daß das „ tiefste Erlebnis “ Dantes sich im Vers 123 vollzieht. Es mag ein eigenartiger Zufall sein, daß das Buch Spoerris im selben Jahr erschien wie jenes von John, nämlich 1946. Daß dieses Jahr knapp nach dem Zweiten Weltkrieg lag, ist aber kein Zufall. Es war das Jahr nach dem Gang großer Teile der Menschheit durch die Hölle des Zweiten Weltkrieges. Es besteht zwar insofern ein Unterschied zwischen John und Spoerri, da der aus Ungarn nach Österreich geflüchtete Ordensgeistliche John im Unterschied zu dem neutralen Schweizer nicht in der Ruhe eines friedlichen neutralen Landes leben hatte können. Doch die Weltkatastrophe hatte ihren Schatten auch auf 131 Theophil Spoerri, op. cit., S. 226 169 Dantes Läuterungsberg <?page no="188"?> sensible Menschen in der neutralen Schweiz geworfen, sodaß Spoerri unter der Hölle fast so zu leiden gehabt hatte wie John. In ihrer Rede an die von Mitleid bewegten Engel hat Beatrice unterstrichen, daß erst Dantes Gang durch die Hölle ihn so gereift hatte, daß er des Eintritts ins Paradies würdig geworden war. Der entscheidende Schritt dazu vollzieht sich im Einunddreißigsten Gesang. Er ist von niemandem so tief und richtig gedeutet worden wie von Robert John. 132 Dieser Einunddreißigste Gesang bildet eine Weiterführung und Steigerung des Dreißigsten. An Dante selbst gewendet, verschärft Beatrice ihre Anklagen und fordert ein Reuebekenntnis. Der ist in seinem Schock gar nicht fähig zu sprechen und sogar das kleine „ Ja “ seines Einbekenntnisses mußten mehr ihre Augen von seinen Lippen ablesen, als daß sie es gehört hätte. Beatrice beginnt mit einem neuplatonisch klingenden Hinweis der Verse 22 - 24, der ihn daran erinnert, daß das höchste Gut in der spirituellen Vervollkommnung liege. Sie gemahnt ihn an ihre „ auf Erden zerstreuten Glieder “ . Das wäre für die körperlich verstorbene Jugendgeliebte Beatrice völlig falsch, da sie unversehrt in ihrem Grabe ruhte. Sehr richtig aber ist es, wenn Beatrice als Sinnbild der Weisheit und besonders der Templergnosis spricht. Denn Templeradepten hat es in ganz Italien gegeben. Beatrice beschuldigt Dante weiterhin, er hätte sich weder durch ein „ Mägdlein noch durch andern Tand “ die Seele ins Irdische hinunterdrücken lassen dürfen (Vers 59 - 60). Das „ Mägdlein “ aber ist so wenig wörtlich zu verstehen - Hermann A. Prietze hat es mit „ Liebchen “ übersetzt - wie Beatrice selbst. „ Mägdlein und anderer Tand “ symbolisieren, wenn überhaupt, nicht nur die Liebschaften sondern den Machtehrgeiz des Politikers Dante, der auch öffentlich in der Vita Nuova versprochen hatte, sich der Donna Gentile Philosophiae zuzuwenden. Die wohl wichtigste, notwendigerweise aber geheime Anspielung, ist Beatrices seltsame Redewendung „ Hebe deinen Bart “ (Vers 68). Sie möchte, daß ihn, mehr noch als ihre Worte in seinem Ohr schmerzen können, das trifft, was er nun mit seinen Augen sehen wird. Die Redewendung ist um so auffälliger, als sie gar nicht wörtlich gemeint sein kann, da Dante niemals einen Bart getragen hatte. Die Anspielung auf Bartlosigkeit bezieht sich auf die Tatsache, daß sich im Templerprozeß jene Brüder, die ihren Bruch mit dem Orden sichtbar unter Beweis stellen wollten, vor den Untersuchungsrichtern ohne Mantel und Bart erschienen waren. 133 Dante „ hebt den Bart “ und damit sein Antlitz und erblickt die verschleierte Beatrice-Templergnosis, die auf das „ Tier mit zwei Naturen “ , den Greif, blickt. Er erkennt trotz des Schleiers ihre einmalige „ Schönheit “ und wird durch die damit 132 Robert John, op. cit., S. 205 - 208 133 Vgl. Robert John, op. cit., S. 206 f. und Louis Léon Lucien Lovocat: Procès des frères de l ’ ordre du Temple. Paris 1888, S. 287 ff. 170 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="189"?> gesteigerte Einsicht in seine Schuldhaftigkeit ohnmächtig. Als er wieder erwacht, findet er sich bis zum Kinn im Wasser des Flusses Lethe stehend und sieht Matelda über sich gebeugt, die ihn ganz untertaucht, sodaß er das Wasser auch trinken muß. Sodann zieht sie ihn wieder heraus und bringt ihn auf der jenseitigen Seite von Lethe zu den vier Tugenden, von denen ihn jede umarmt. Hier am Ufer der Lethe sind sie Wassernymphen, am Himmel aber sind sie Sterne. Sie führen Dante zu den „ dreien, die tiefer dringen “ , den anderen drei Tugenden in den Templerfarben. Daraufhin führen sie ihn bis knapp vor die Brust des Greifs, dem Tier mit den zwei Naturen, und fordern ihn auf, in Beatrices „ Smaragde “ zu blicken, ihre „ Strahlenaugen “ . Nun ist in der Commedia nichts zufällig und unüberlegt und auch die Metapher „ Smaragde “ für die Augen hat symbolische Bedeutung. Nach einer Legende war die Gralsschale aus Smaragd. In Ägypten galt der Smaragd als Gegenmittel gegen Gifte und wird heute noch bei Arabern und in Nordafrika von Ärzten getragen. Die größte und wichtigste Sammlung von Koans im Zen-Buddhismus, die bei ihrer ersten Original-Veröffentlichung in China „ Vornehmeste Schrift der Lehre unseres Glaubens “ hieß, trägt in der dreibändigen deutschen Übertragung aus guten Gründen den Titel Die Niederschrift von der Smaragdenen Felswand und trug beim ersten Erscheinen eine Umschlagschleife mit der Aufschrift „ Das Lebensbuch der Zen-Bewegung “ . Der Begriff „ Smaragdene Felswand “ stammt von dem ursprünglichen Sammler dieser Koans und Herausgeber der ersten Original- Veröffentlichung Meister Yüan-wu. Im Zimmer dieses alten Meisters, in dem er von 1111 - 1116 auf dem Djia-schau in dem Zen-Hof „ Wunderquelle “ gewohnt hat, hing an der Wand in chinesischer Kunst-Tuschmalerei das Schriftbild „ Bi-yän “ , das „ Smaragdene Felswand “ bedeutet. Der Sinn wird dadurch so wenig enthüllt, wie er auch im Fall der Smaragd-Augen Beatrices nicht direkt enthüllt wird. Wilhelm Gundert, der Herausgeber der deutschen Übertragung, hat diesen Sinn zu erklären unternommen. Er weist sicherheitshalber auf die Selbstverständlichkeit hin, dass er „ in keiner Weise realistisch-physikalisch “ zu verstehen ist. Nach ihm verrät „ der dichterische Ton “ schon das Faktum einer symbolischen Bedeutung. Diese besteht in der durch Zen „ vertieften Erkenntnis, daß gerade in dem flüchtigsten Schein, der uns die Welt der Dinge vorzuspiegeln scheint, ihr tiefster Sinn sich offenbart: ein unfaßbares Nichts zu sein, das doch kein Nichts ist, sondern irgendwie das einzig Wahre, die Quelle höchster Seligkeit. “ 134 Wie sich dem Jenseitswanderer Dante durch seine von den Smaragd-Augen Beatrice geschärfte Perspektive die tiefere gnostische Einsicht in das Wesen des Greif ergibt, so ergibt ein Blick durch die Perspektive der „ Smaragdenen 134 BI-YÄN-LU. Meister Yüan-wu ’ s Niederschrift von der Smaragdenen Felswand. Verdeutscht und erläutert von Wilhelm Gundert, Bd. I, München 1960, S. 24 171 Dantes Läuterungsberg <?page no="190"?> Felswand “ tiefste Lösungen fernöstlicher Geistigkeit, die eine Parallele zur judeochristlichen Mystik darstellt, zu der im Grunde die Templergnosis parallel läuft. Als Dante auf den Greif blickt, ist dieser unverändert. Als er in die „ Smaragde “ blickt, sieht er plötzlich nicht einen einzigen Greif, sondern abwechselnd einen nur aus Gold und einen anderen nur aus Fleisch. Nachdem er in der Lethe den Irrweg, der zur Ecclesia Carnalis führte, völlig vergessen hat und nachdem ihm die Tugenden und ganz besonders jene in Templerfarben den Blick geschärft hatten, erblickt er durch das Medium der Smaragde von Beatrices Augen die wahre Natur des Greifen, in welchem Gold und Fleisch getrennt sind. Geistliche und weltliche Macht sind in Wahrheit zwei verschiedene, getrennte Dinge. Dante hat in seinem Buch De Monarchia den kirchlichen Syllogismus zitiert, auf Grund dessen dem Papst als Vikar Gottes alle Macht, geistliche wie weltliche, zukommt. Dante hat dies vehement abgelehnt, da er auch hier für eine Gewaltenteilung war. Im selben Buch hat er auch das Wort des Petrus zitiert: „ Was immer du binden wirst auf Erden, das wird auch im Himmel gebunden sein. “ Dante führt aus, daß sich dies nur auf rein Kirchliches beziehen kann. 135 „ Wir dürfen uns nicht wundern, daß eben diese Frage bei Dante eine so ungemeine Rolle spielt. Es gab kein anderes Problem, das für seine Glückseligkeitslehre von gleich aktueller Wichtigkeit gewesen wäre. Das Dies- und Jenseitsheil der Welt stand ihm dabei, wie wir wissen, auf dem Spiel. “ 136 Den abschließenden Höhepunkt des Einunddreißigsten Gesanges bildet die Entschleierung Beatrices, die sie auf Bitten der drei geistlichen Tugenden vornimmt. Diese Entschleierung der Beatrice-Templergnosis ist Dantes „ tiefstes Erlebnis auf dem eigentlichen Boden des symbolischen Tempelplatzes. “ 137 Der Zweiunddreißigste Gesang beginnt mit der Faszination Dantes über Beatrices Lächeln, das so überwältigend ist, daß die ihn noch immer umgebenden Tugenden seinen Kopf zurückzwingen und ihn ermahnen: „ Mäßige dich! “ Selbstverständlich ist diese Faszination zwar durch die wiederholt betonte Schönheit Beatrices ausgelöst, bezieht sich jedoch letztlich auf die Großartigkeit der Templergnosis. Darum ist sie auch nicht an die Schönheit eines bestimmten Körperteiles gebunden, sondern an das Lächeln als äußerlich sichtbaren Ausdruck einer inneren Bewegung. Aber mehr noch: Dante hat im Convivio eine Art Enthüllung dieser Stelle geliefert, wenn er dem hinreißenden Blick und dem Lächeln der „ Dame Philosophie “ die höchste Kraft des Beweises und der Überzeugung zuspricht. 138 Wieder ist es John, der darauf aufmerksam macht, daß im Neuplatonismus, der die ganze Templergnosis durchzieht, zum ersten Mal der Begriff der Überzeugung 135 De Monarchia, 3,7 und 3,8 136 Robert John, op. cit., S. 208 137 Robert John, op. cit., S. 208 138 Convivio, 3, 15 172 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="191"?> in ernsthaftes, philosophisches Denken eingeführt worden ist: „ Wenn daher Dantes Blick so sehr am Lächeln Beatrices hängt, so ist das eine Folge der tiefen Überzeugung, daß er nunmehr den ungehemmten Aufflug ins Reich der Sterne mit Beatrices Hilfe wird schaffen können. “ 139 Der ganze gnostische Umzug vollzieht nun aber eine Wendung um 180 Grad und bewegt sich zurück nach Osten, von wo er gekommen ist. Matelda, Statius und Dante folgen dem Wagen. Es geht durch eine Öde, welche das ursprüngliche Paradies gewesen ist, das Evas Apfelbiß so verwandelt hat. Dann hält der Zug nach über zweihundert Metern beim Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen. Wenn man auf der nördlichen, antipodischen Halbkugel auf dem Haram esch-Scharif von dem Platz der ehemaligen Mutterkirche der Templer, auf dem sich im Süden die Wiedergeburt Dantes im Fluß Lethe vollzogen hat, denselben Weg wie die gnostische Prozession zweihundert Meter nach dem Osten ginge, dann gelangt man nach der religiösen Legende zu jener Tempelzinne, die den Schauplatz der Versuchung von Jesus durch Luzifer gebildet hat. Die Strecke, die Dante daher hinter dem Triumphwagen auf der südlichen Halbkugel zurückgelegt hat, führt spiegelgleich auf der nördlichen Halbkugel von der Stelle der Niederlage der Menschheit durch den Apfelbiß nach der Stelle des Triumphes der Menschheit durch den Triumph von Jesus über den Satan. John hält es zumindest für möglich, daß diese Symbolik bereits von der ursprünglichen Templergnosis geschaffen worden ist und von Dante nur übernommen, aber nicht neu geschaffen wurde. Auf jeden Fall bildet sie eine künstlerisch gelungene Vorankündigung der Entwicklung seines Aufstiegs vom Irdischen zum Himmlischen Paradies. Genau an diesem zwiespältigen Platz von Sieg und Niederlage teilt sich die gnostische Prozession: Der eine Teil verschwindet aufwärts in den Himmel, während die Gestalten des zweiten Teils Zeugen der Zerstörung des Siegeswagens werden. Diese Zerstörung geschieht als Folge des Verkommens der durch den Wagen repräsentierten Kirche zur Ecclesia Carnalis. Beatrice fordert Dante auf, sie sorgfältig zu beobachten, damit er sie nach seiner Rückkehr auf die Erde beschreiben wird können. Der Baum der Erkenntnis verdorrt in Katastrophenzeiten für die Welt und die Menschheit. Das geschah zum ersten Mal durch den Sündenfall Adams und Evas. Sodann nach der Erlösung der Welt durch Christus grünte er wieder. Ein zweites Mal verdorrte er durch die konstantinische Schenkung und die Gründung des Kirchenstaates. Zur Zeit der Jenseitswanderung Dantes lebte der Reichsadler im Wipfel des neuerlich verdorrten Baumes in Erwartung auf eine kommende harmonische Lösung gleichberechtigten Nebeneinanders von Kreuz und Adler. John erklärt zu Recht, daß das Mittelalter die klare Überzeugung von einem göttlichen Naturrecht besaß, das von allen wirklichen Setzungen eines positiven 139 Robert John, op. cit., S. 208 173 Dantes Läuterungsberg <?page no="192"?> Rechts durch die Menschen unabhängig war. Er weiß auch, daß es nur wenige Beiträge zu Einzelheiten darüber gab. Er zitiert jedoch den Namen des berühmten Bologneser Rechtslehrers Rufinus, der die Forderungen dieses Naturrechts in Gebote, Verbote und demonstrierende Ratschläge eingeteilt hatte. Er teilt von den Farben der Pflanzen in den Versen 55 - 60 rot den Geboten zu, violett den Verboten und grün den Ratschlägen. Dante hört dann einen Hymnus, der ihm unverständlich bleibt, weil er auf Erden nicht gesungen wird. Über seinem andächtigen Lauschen schläft er ein. Während im Einunddreißigsten Gesang die Funktion des Greif darauf beschränkt war, im Kontrast zu seiner Spiegelung in Beatrices Smaragdaugen die von der Perspektive der Templergnosis her notwendige Trennung von geistlicher und weltlicher Macht zu demonstrieren, gewinnt er im Zweiunddreißigsten Gesang eine ganz andere Funktion. Zuerst durch seine Ablehnung, vom Holz des Baumes der Erkenntnis zu essen, das zwar im Mund gut schmeckt, aber hinterher im Magen gräßliches Grimmen verursacht. Sodann und mehr noch aber dadurch, daß er seine Deichsel quer zum Stamm des Baumes der Erkenntnis anbindet, wodurch eine Kreuzform entsteht. Das deutet um so klarer auf eine neuerliche Kreuzigung hin, als das Holz der Deichsel dem Holz des Baumes ebenso entnommen ist, wie ihm seinerzeit das Holz für das Kreuz der Hinrichtung von Jesus entnommen worden war. Es wäre nicht überraschend, wenn der Templer Dante bei dieser neuerlichen Kreuzigung an den berühmtesten Märtyrer der Templer, Jaques de Molay, gedacht hätte. Der Kontext würde insofern sehr gut dazu passen, als der Wagen (natürlich samt der Deichsel) ja nun die Ecclesia Carnalis, die entartete Kirche Clemens V. und der Inquisition, repräsentiert, welche die „ Kreuzigung “ des Großmeisters auf dem Gewissen haben. 140 Dante erwacht aus seinem Schlummer durch einen Ruf „ wie - um das Blühen zu sehen vom Apfelbaume “ . Die völlig ohne größeren Zusammenhang schwer verständliche Anspielung auf den Apfelbaum betrifft wieder einmal das Hohelied Salomonis, in dem die klagende Isis von ihrem toten Gatten singt, „ Wie ein Apfelbaum ist mein Geliebter unter den Bäumen. “ 141 Dante vergleicht sein Erwachen aus dem Schlummer mit dem Erwachen von Petrus, Johannes und Jakobus aus ihrer Ohnmacht, worauf sie - und das ist ein wahres Meisterstück der Tarnung - „ verändert ihren Meister sahen in den Gewanden “ . Kein Wunder, war es doch nicht mehr Christus, sondern der gleichfalls auferstandene Osiris. „ Verworren “ und verloren ruft Dante fast in Panik aus: „ Wo ist Beatrice? “ Dante wird auf das neue Laubdach über den Wurzelknorren des Baumes verwiesen, wo sie umgeben von ihren sieben Tugendgefährtinnen neben dem 140 Vgl. Christopher Knight und Robert Lomas, The Second Messiah, op. cit., besonders S. 162 - 178 141 Hoheslied, 2,3 174 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="193"?> Wagen sitzt. Sie kündigt ihm eine neue Vision an, die eine ergänzende Fortsetzung des ersten, positiven Umzuges ist und die jetzt zu einer Schilderung des Untergangs der Ecclesia Carnalis, repräsentiert durch den Wagen, wird. Beatrice fordert ihn auf, diese Apokalypse genau zu beobachten, damit er sie nach seiner Rückkehr auf die Erde beschreiben kann. Es ist ein Auftrag der Templergnosis, die Zerstörung jener entarteten, negativen Kirche zu beschreiben, die durch ihre eigene Umkehrung in das Gegenteil ihrer ursprünglichen Gestalt umgeschlagen ist. Natürlich muß diese Beschreibung in einer sorgfältig verschlüsselten Weise erfolgen, die aber dennoch den wahren Sinn hinter Metaphorik und Allegorie erkennen läßt. Der Adler, der als Vertreter weltlicher Macht im Wipfel des Baumes gehaust hatte, attackiert als erster den Wagen. Er mag als Adler Jupiters zunächst noch die weltliche Macht Roms versinnbildlichen, dessen Attacke die römischen Christenverfolgungen symbolisiert. Die Attacke des Adlers auf die Kirche erfolgt mit solcher Gewalt, daß der Wagen hin und her schwankt wie ein Boot im Seesturm. Als zweite Vision taucht ein vor Hunger abgemagerter Fuchs auf. In Ezechiel 13,4 versinnbildlicht der Fuchs die falschen Propheten. Die Stelle im Hohelied Salomonis „ Fangt uns die Füchslein, die Weinbergverwüster “ wurde im Mittelalter oft auf Häretiker angewendet, welche die ursprüngliche Spiritualiät der Geistkirche durch falsche Lehren gefährden. Die Stelle wendet sich gegen wirkliche Häretiker einer Zeit, in welcher die Gnosis des Urchristentums durch große Kirchenväter wie Origines am Leben erhalten worden war. Das zeigt das Bild, wonach der Fuchs durch Beatrice, als Vertreterin der Geistkirche, vertrieben wird. 142 Dem folgt als dritte Vision ein zweiter Angriff des Adlers, der dieses Mal jedoch mit einer ganz anderen Strategie vorgeht. Er zerstört nicht, sondern bedeckt den Wagen mit einer solchen Menge von Federn, daß der Wagen mehr belastet als zerstört wird. Der zweite Adlerangriff symbolisiert die konstantinische Schenkung. In der vierten Vision taucht als Angreifer von unter der Erde her zwischen den Rädern ein Drache auf und sticht mit seinem Stachel durch den Boden des Wagens hindurch, wodurch ein Teil des Bodens herausgebrochen wird. Er steht für den aggressiven Islam, welcher der Kirche wichtige Gebiete und nicht zuletzt Jerusalem entrissen hat. In der fünften Vision bedeckt der Adler den Wagen einschließlich der Deichsel und den Rädern so sehr mit Federn, daß sich das Gefährt geradezu in ein Ungeheuer verwandelt. Es ist die unkontrollierbare und willkürliche Macht des neuen italienischen, absoluten Regionalfürstentums, welches für die Kirche eine Last darstellt, unter der sie zu ersticken droht. 142 Vgl. Arthur Schult: Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 455 175 Dantes Läuterungsberg <?page no="194"?> Die sechste Vision zeigt, wie aus der Deichsel des Wagens drei doppelgehörnte Häupter hervorwachsen und aus den vier Ecken des Wagens vier einfach gehörnte. Es ist das siebenköpfige und zehnhörnige Untier der Apokalypse. Es stellt den negativen Gegenpol gegenüber den sieben Tugenden dar, einen weiteren gnostischen Dualismus der Commedia. Diese sechste Vision versinnbildlicht die durch Simonie, Nepotismus sowie staatliche Machtpolitik völlig zur Ecclesia Carnalis entarteten Kirche und ganz besonders das Konzil von Vienne, das böseste Krebsgeschwür der Kirche. Die siebente Vision bedient sich gleichfalls einer Metapher aus der Apokalypse: Auf dem Ungeheuer, das aus dem Wagen geworden ist, thront die Hure von Babylon, „ die Mutter aller Greuel auf Erden “ . Neben ihr aber erscheint ein Riese, mit dem sie Küsse tauscht. Wenn ihr Blick auf Dante fällt, wird sie von dem Riesen „ vom Haupte . . . bis nieder zu den Sohlen gegeißelt “ . Die Hure von Babylon repräsentiert Papst Clemens V., und der Riese den französischen König Philipp IV. Der König hielt den Papst tatsächlich wie ein Riese in Gewahrsam, küßte ihn bald und geißelte ihn auch, wenn er den Blick dahin richtete, wo die Macht- und Geldgier des Königs gereizt wurde. Der Gesang schließt damit, daß der scheußliche Riese die Ruine des zum zerbrochenen Zerrbild gewordenen Wagens zusammen mit dem Weibe vom Baum losbindet und in den Wald verschleppt, ein Symbol der Babylonischen Gefangenschaft der Kirche in Avignon. Der Dreiunddreißigste Gesang beginnt damit, daß sich Dante des 79. Psalms bedient, um die Sache der Templer zu vertreten. Die sieben Tugenden, die Beatrice umgeben, singen den Psalm abwechselnd zu dritt und zu viert: „ Deus venerunt gentes. “ Die Fortsetzung „ polluerunt templum sanctum tuum “ spricht der Dichter nicht aus, denn das könnte gefährlich werden. Aber die gebildeten Leser kennen sie: „ Herr, in Dein Erbe sind die Heiden eingefallen und haben Deinen Tempel geschändet. “ Wobei der Psalm den Tempel in Jerusalem meinte, in dem Jesus gepredigt hat, Dante aber natürlich das Hauptquartier der Templer in Paris, das „ der Tempel “ hieß und die Mutterkirche der Templer in Jerusalem auf dem alten Tempelplatz. Robert John spricht es aus: Die Tempelschändung war die Templerverfolgung von 1307 - 1314, die zugleich ein „ Scheintriumph “ der „ babylonischen Hure auf ihrem Drachen “ über die Ecclesia Spiritualis war. 143 Beatrice lauscht bewegt dem Klagegesang und als er geendet hat, erhebt sie sich und beginnt selbst zu singen. So wie sie bei der Vision des gnostischen Umzugs mit den Worten begrüßt worden war, welche die Begrüßungsworte für Jesus bei seinem Einzug in Jerusalem waren, so bedient sie sich jetzt selbst der Worte von Jesus, die dieser im Johannes-Evangelium (16,16) spricht: „ Über ein 143 Robert John, op. cit., S. 216. In der allgemeinen Auslegung der Offenbarung des Johannes wird angenommen, daß „ Babylon “ für „ Rom “ steht. Dementsprechend repräsentiert die Hure von Babylon hier die Ecclesia Carnalis. 176 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="195"?> Kleines, so werdet ihr mich nicht sehen; und aber über ein Kleines, so werdet ihr mich sehen. “ Damit beginnt die letzte Phase des gnostischen Umzugs durch das Paradiso Terrestre. Voran schreiten die sieben Tugenden, Beatrice bildet die Mitte, und auf sie folgen Matelda, Statius und Dante. Schon nach neun Schritten ruft sie Dante zu sich, damit er neben ihr geht. Sie vertraut Dante an, daß es den Wagen nicht mehr gibt, da das Papsttum in der Gefangenschaft von Avignon kein wirkliches Papsttum mehr ist und daß damit keine Kirche mehr besteht. Darauf prophezeit sie, daß dem zugrunde gegangenen Adler ein Nachfolger erstehen werde und beschwört den geheimnisumwitterten und viel diskutierten „ Fünfhundertfünfzehn “ , der die große Hure von Babylon samt ihrem Riesen töten wird. Hier legt Dante ihr eine sehr ähnliche Prophezeiung in den Mund, wie sie der Großmeister der Templer Jaques de Molay auf dem Scheiterhaufen ausgesprochen hatte. Diese war binnen eines Jahres durch den Tod sowohl von Papst Clemens V. als auch von König Philipp IV. eingetreten. Der „ Fünfhundertfünfzehn “ wurde zunächst in der Dante-Literatur so erklärt, daß man sich die Zahl in römischen Ziffern vorstellen mußte. Dann wurde die Zahl Fünfhundert durch den Buchstaben „ D “ ausgedrückt, die Zahl Fünf durch ein „ V “ oder aber auch ein „ U “ und die Zahl Zehn durch ein „ X “ . Daraus ergab sich das Wort „ DUX “ (Führer, Feldherr, Fürst). Aber auch dieser DUX, der im Dante-Schrifttum bereits eine auf die Ewigkeit berechnete, ehrwürdige Stellung eingenommen hatte, wurde wie so vieles andere Falsche von Robert John eliminiert. John ist sicher, daß mit der Prophezeiung Beatrices nur die Wiedererrichtung des Salomonischen Tempels gemeint sein konnte, den zuletzt Clemens V. und Philipp IV. zerstört hatten. Hinter dem „ Fünfhundertfünfzehn “ , welcher der Wiedererbauer sein wird, muß eine Person stehen, denn sein Vorbild ist der 666 der Apokalypse. Aber es gibt keine andere Andeutung Beatrices als den Hinweis, daß die Geschicke selbst bald alles aufhellen würden. Die Lösung des Personenrätsels hat wahrscheinlich zu lange gedauert. Aber das Zahlenrätsel hat natürlich John gelöst: Als nach der Zerstörung des ersten Salomonischen Tempels der zweite durch Zorobabel wieder aufgebaut wurde, war die Fertigstellung im Jahr 515 erfolgt. In diesem Jahr wurde er auch eingeweiht. 144 So wie Vergil im Ersten Gesang der Hölle das Kommen eines templerfreundlichen Papstes der Geistkirche, den „ Veltre “ , voraussagt, so prophezeit Beatrice jetzt in Läuterungsberg mit dem „ Fünfhundertfünfzehn “ einen templerfreundlichen Kaiser oder politischen Führer, der Dantes Traum von der Auflösung des Kirchenstaates erfüllen würde. Ein solcher erwuchs sechs Jahrhunderte nach der Prophezeiung in Garibaldi, der dazu auch noch die Templerfarben zur neuen 144 Esra, 6,1. Vgl. L. Herzfeld: Geschichte des Volkes Jisrael von der Zerstörung des ersten Tempels bis zur Einsetzung des Makkabäers Schimon. Braunschweig 1847, S. 112 und Léopold Dressaire: Jérusalem à travers les siècles. Paris 1931, S. 225 177 Dantes Läuterungsberg <?page no="196"?> italienischen Nationalfahne machte. Dante selbst hatte freilich etliche Zeit gehofft, daß bereits Kaiser Heinrich VII. es sein würde. Sollte die Legende wahr sein, daß dieser durch eine vergiftete Hostie beseitigt wurde, dann hat wohl jemand anderer, der das Gegenteil von Dante wünschte, die Hand im Spiel gehabt. Auf ihrem weiteren Weg halten die sieben Tugenden, die den kleinen Zug jetzt anführen, plötzlich an, und Dante entdeckt die Stelle, an welcher der gnostisch dualistische, komplementäre Doppelfluß Lethe und Eunoë entspringt. Die beiden Flüsse teilen sich sofort, um in die entgegengesetzte Richtung zu fließen. Beatrice erteilt Matelda den Auftrag, Dante vom Wasser des Flusses Eunoë trinken zu lassen, um seine „ erstorbene Lebenskraft zurück zu bringen “ und so findet sich dieser plötzlich wieder im Fluß. Das Bad samt dem Trunk aus dem Fluß tun rasch ihre unglaubliche Wirkung. Jetzt findet sich Dante, wie es im letzten Vers des Gesanges heißt, „ rein und bereit zum Aufschwung in die Sterne “ . Wie bereits erwähnt, enden alle drei Teile der Commedia mit dem Wort „ Sterne “ , wobei allerdings der jeweilige Kontext ein sehr verschiedener ist. Am Schluß der Hölle sind Dante und Vergil unendlich erleichtert, endlich wieder die Sterne des Nachthimmels im Freien zu erblicken. Hier, am Ende des Läuterungsberges, ist Dantes Seele ermutigt und beflügelt, zum Aufflug in die Sterne. Am Ende des Paradieses wird Dante dann selbst Einsicht in die Bewegung der Sterne gewinnen. Robert John hat zusammenfassend überdies gezeigt, wie es auch hier im Läuterungsberg die von ihm „ Tempelringe “ genannten Phänomene gibt, welche das Ganze in eine gnostische Nummernsymbolik der Zahl Dreizehn einordnen. Zunächst hat er ausgeführt, daß die Zahl der Personen von Beatrices feierlichem Umzug insgesamt 39, also 3 x 13 beträgt. Sodann hat er gezeigt, wie die Gesamtzahl der „ heiligen Dinge und Lebewesen “ 13 ist. Weiterhin beträgt die Zahl der sich deutlich voneinander abhebenden Wechselgespräche und Gesänge 13 und schließlich macht die Zahl der im Jenseits genannten Florentiner wiederum 3 x 13 aus. „ Die Gesamtzahl aller dreizehngliedrigen Tempelringe im Gesamtwerk der Commedia beträgt . . . 19 + 17 + 13 + 3 = 52 oder viermal dreizehn. “ 145 Aber auch vier ist die gnostische Zahl der Tetraktys, die eine Totalität ausdrückt. Dazu fällt noch überdies folgendes auf: Im Irdischen Paradies wiederholt sich die Zahl 13 sechs Mal. Am sechsten Tag seiner Wanderung tritt Dante in das Irdische Paradies ein. Er hat diesem Abschnitt aus dem Läuterungsberg sechs Gesänge gewidmet. Diese äußerliche Durchformung des großen Epos durch gnostische Zahlensymbolik allein zeigt schon die geistige Prägung der Herkunft dieser Dichtung, deren Gehalt auch im Läuterungsberg durchgehend dieselbe Geistigkeit atmet. 145 Robert John, op. cit., S. 222 178 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="197"?> Robert John hat darum auch in seiner Zusammenfassung von Dantes Weltgedicht über den Läuterungsberg geschrieben, daß das Wesentliche dieses Teils, die Initiationen, „ von durchaus gnostischer Art “ sind. 146 5. Dantes Paradies Der Erste Gesang des „ Paradieses “ beginnt mit einem gewichtigen Paukenschlag, der die Größe des Unternehmens sichtbar macht und im selben Atem die Unzulänglichkeit eingesteht, dieses Vorhaben auch voll und ganz auszuführen. Es geht um nicht weniger als Dantes Absicht, die Glorie Gottes, die das Weltall durchdringt, und damit die göttliche Urkraft selbst, direkt in Worten „ sichtbar “ zu machen. Schiller hat einmal sogar schon ein weniger anspruchsvolles Vorhaben mit den schlagenden Worten ausgedrückt: Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele nicht mehr. Wenn große Mystiker aller religiösen Traditionen die Vereinigung des göttlichen Seelenfunkens im Menschen mit der gesamten göttlichen Urkraft zu beschreiben versuchen, bedienen sie sich bildhafter Symbole als indirekter Umschreibungen. In der menschlichen Seele, die bei Dante ganz wie in der Gnosis von ihrem göttlichen Ursprung in die Welt der Materie und des Menschen absteigt, liegt das Wissen um ihre Herkunft verborgen, und so bleibt auch Dante nur dieser Weg der indirekten Darstellung. Freilich ist er dadurch gezwungen, sich noch mehr als zuvor ganz zu der von ihm ohnehin geliebten Methode neuplatonischer Mystik zu greifen, um in poetischen, seelenadäquaten Bildern zu sprechen. Die neuplatonische Mystik war ja überhaupt der Gnosis zur Gänze fast immer eng verbunden. Ganz wie ein visionärer gnostischer Prophet berichtet er ja auch von sich, in jenem Reich der göttlichen Urkraft selbst gewesen zu sein und auf die Erde und in den Körper zurückgekehrt in verzückter Sprache von diesen Geheimnissen zu berichten, die sich ihm offenbart hatten. Wenn auch eine wirkliche Wiederholung des Gesehenen nach der Rückkehr aus der irdischen Distanz nicht völlig möglich ist. 147 146 Robert John, op. cit., S. 222 147 Dantes Einstieg in den dritten Teil seiner Commedia entspricht tatsächlich ganz dem Modell der klassischen gnostischen Visionäre, die als Seher bis ins Pleroma vorgedrungen sind und nach ihrer Rückkehr Kunde davon geben. Hans Leisegang hat ein solches Modell am Beispiel von Valentinus beschrieben. Vgl. Hans Leisegang, Die Gnosis, S. 283 f. 179 Dantes Paradies <?page no="198"?> Die erste gnostische Hauptidee besteht darin, daß die göttliche Urkraft und der Geist von der irdischen Materie getrennt sind und der Mensch die Ausnahme darstellt, da er als materiell-irdisches Wesen mit einem göttlichen Seelenfunken ausgestattet ist. Die zweite gnostische Idee, durch die sie sich hauptsächlich vom aristotelischen wie thomistischen Modell unterscheidet, liegt darin, daß göttliche Urkraft und die Welt der Materie durch einen machtvollen Grenzwall total voneinander getrennt sind, der die Welt der Materie umgibt und einschließt. Die dritte Hauptidee aber erklärt das Wesen der Gnosis (= Erkenntnis, Wissen, Weisheit) selbst, das darin besteht, daß sie eine überaus komplizierte Methode entwickelt hat, eben „ die “ Gnosis, um diesen Grenzwall für den Menschen zu überwinden. Dieser Grenzwall hat mitunter verschiedene Namen. Bei etlichen großen Gnostikern ist es das Schlangensymbol des Ouroboros, das sich rings um die ganze Welt der Materie schlingt und sie abschließt. Bei der großen katholischen Mystikerin Hildegard von Bingen ist es ein undurchdringlicher Feuerkranz, der aus einem hellroten und einem inneren dunkelroten Feuerkreis besteht, die sehr verschiedene Bedeutungen haben. 148 In der Templergnosis bei Dante ist es die Sphäre des Kristallhimmels, die den dualistischen Gegensatz von Geist und Materie zugleich betont und sichtbar macht. Dante berichtet in den ersten dreizehn Terzinen, und hier ist es der Dichter selbst, der direkt spricht, daß er ganz im gnostischen Sinne selber im Pleroma gewesen sei. Zwar gäbe es (infolge des Grenzwalls und des dualistischen Gegensatzes) keinen wirklichen „ Rückweg “ der „ Erinnerung “ , doch hat er immerhin aus dem „ heiligen Reich “ „ Schätze “ „ aufspeichern “ können, die nun den „ Inhalt “ des dritten Teils der Commedia ausmachen. In der zwölften Terzine wird als eine mögliche Methode adäquaten Verständnisses durch ihn selbst (wie der verständlichen Übertragung auf den dafür geeigneten Leser) trotz der Distanz (im Zweiten Gesang verwendet er dafür sogar selbst den Begriff des „ Feuerwalls “ ) der „ Bescheid “ genannt, den sich manche von „ Cirrha “ erflehen. Er selbst ist einer von ihnen und Cirrha ist der Sitz des Gottes Apollo, auch des Gottes der Dichtkunst, dessen Hilfe, über die neun Musen hinaus und zusätzlich zu ihnen, Dante für diesen dritten Teil erfleht. Mit dem „ Bescheid “ , den der Gott der Dichtung besser als sonst jemand zu geben vermag, ist die dichterische Methode des Aussprechens von Unaussprechlichem durch indirekte Bilder gemeint, die eine enge Parallele zur Sprache der Mystiker im Allgemeinen und jene der neuplatonischen Mystik im Besonderen darstellt, welche die Gnostiker benützt haben, um durch poetische Bilder gleichsam den Blick durch den Grenzwall hindurch zu eröffnen. Die Vorliebe Dantes für den Neuplatonismus hängt nicht nur mit dem Gehalt dieser mystischen Philosophie zusammen, sondern auch mit der poetischen Methode, die bei Plotin bis in die 148 Vgl. Hans Leisegang, Die Gnosis, S. 22 180 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="199"?> Zahlenmystik hinein Dantes Stil entspricht. Zudem sind die dreizehn ersten Terzinen mit ihren Aussagen geradezu eine Bestätigung dieses vorliegenden Buches, als die ideale Hauptquelle der vernichteten und vergessenen Templergnosis eine Dichtung, und ganz besonders die Dichtung eines Templeradepten vom Weltrang Dantes, zu nehmen. 149 Jedenfalls sind Dantes Eingangsterzinen nicht einfach die traditionelle Bildungsgewohnheit eines alten Topos der Bescheidenheit und sind keineswegs beschränkt auf eine altbewährte Formalität der Rhetorik, sondern das „ Wie “ , die Art und Weise seiner ersten Anrufung Apolls und der Musen, übertrifft nicht nur die Anfänge der beiden ersten Teile seines großen Werks, sondern bringt alles bereits zum Leben, ganz so, wie in seiner Kosmologie nichts moderne, mechanische und abstrakte Beschreibung ist, sondern alles lebt und sich bewegt. Die Richtung aber, auf die sich alles zubewegt, ist immer wieder ein und dieselbe machtvolle Richtung des Strebens nach jeweils immer mehr zunehmender innerer Vollkommenheit. Wenn aber in der neuplatonischen Kosmologie alles eine Art Kreislauf ist, ohne Anfang und ohne Ende, so gibt es doch nur rhetorisch endgültiges Angelangtsein am erwünschten Ziel im himmlischen Paradies, aber nirgends davor und das ist für den Normalmenschen fast so endlos wie der Kreislauf. Wenn Dante die beiden Parnaßgipfel Apollos und der neun Musen beschwört, dann sind dies von ihm ernst genommene, geistig-seelische Kräfte, die ebenso lebendig sind, wie der ganze Makrokosmos lebt. Das Geistige fließt in Form des Lichts in dauernder Bewegung vom göttlichen Ursprung her durch alle Sphärenkreise bis hinunter in den Bereich der Materie, freilich in abnehmenden Graden, während sich die formlose Welt der Materie nach der Erfüllung und Verwirklichung durch Formgebung sehnt. In diesem Sinn ist auch die gnostische Zahlensymbolik für Dante kein seelenloses Spiel mit abstrakten Nummern, sondern der Versuch, das Leben der Ordnung sichtbar zu machen. Arthur Schult hat in seiner Einführung in das Paradies schon auf die für Dante wichtige Gedankentiefe des Macrobius verwiesen, und neuere Arbeiten haben gezeigt, daß Dante zumindest das Somnium Scipionis gekannt hat. Wahrscheinlich hat er auch den Einfluß dieses späten großen, römischen Denkers auf die „ Schule von Chartres “ gekannt, durch welche sogar eine direkte Verbindung zur Templergnosis hergestellt ist. 150 149 Sogar der anti-esoterische, in allen anderen Belangen jedoch hochintelligente Hartwig Sippel, hoher Repräsentant des neuen Templerordens, hat sein Buch über die Templer mit zwei Unterkapiteln über Dante als Höhepunkt abgeschlossen. Hartwig Sippel, op. cit., S. 280 - 294 150 Vgl. Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 480. Dazu auch Louis Charpentier, op. cit., und Wetherbee Winthrop: Platonism and Poetry in the Twelfth Century. Princeton 1972 181 Dantes Paradies <?page no="200"?> Ganz besonders lebendig aber ist der Anblick Beatrices, der Dantes Innerstes so sehr erfüllt, daß er zu einer Metapher des geliebten Ovid als Quelle greift, um sich selbst mit Glaukos zu vergleichen, einem böotischen Fischer, der, durch den Genuß eines Krautes in ein Meerwesen verwandelt, im wörtlichen Sinne „ göttergleich “ wurde. Nur der Vergleich mit einem Gott vermag dem „ Übermenschlichwerden “ Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, das er gerade jetzt erleben darf. Er fühlt sich durchflutet von himmlischem Einklang und Wohllaut und ist auf das höchste erregt durch „ des Klanges Neuheit und des Lichtes Menge “ . Das zeigt sich, nachdem Beatrice ihm erklärt hat, daß er sich gar nicht mehr auf der Erde befinde. Sie erläutert ihm auch, daß im Makrokosmos alle Dinge in Ordnung zueinander stehen und daß diese Form prägende Kraft der Ordnung es ist, durch die wir das Weltall als gottähnlich erkennen können. Manche moderne Kosmonauten gewannen bei ihrem ersten Blick auf das Universum genau diesen Eindruck. Nach Beatrice folgen alle Naturen dieser Ordnung und ziehen auf diese Weise durch das Meer des Seins den verschiedenen, ihrem Dasein entsprechenden Häfen zu. Auch Dantes plötzliches, geradezu blitzartiges Aufwärtsfliegen zum Paradies vollzieht sich im Rahmen genau derselben großen Ordnung, innerhalb welcher es nur ein komplementärer Teil der entgegengesetzten Schwerkraft ist, durch die ein Bach bergabwärts fließt. Alles im Grunde Wunder von Gottes Ordnung der Natur. Der Durchbruch in das himmlische Bewußtsein, gnostisch ausgedrückt die Vereinigung des Seelenfunkens mit der göttlichen Ur-Kraft, wird in insgesamt sieben poetischen Bildern geschildert, von denen das vierte als das „ zentralste “ von sieben sich auch des zentralsten aller mystischen und gnostischen Symbole bedient, des Lichts der Erleuchtung. Das Himmelslicht der Sonne erscheint gleichsam durch eine zweite Sonne oder Lichtquelle verdoppelt. Es ist ein inneres Licht der Erleuchtung, das sich dem äußeren Licht zugesellt. Es ist das Licht des göttlichen Uranfangs im dritten Vers des ersten Kapitels des Ersten Buches von Moses, das „ Licht des Menschen “ , das der Esoteriker unter den Evangelisten Johannes an den Beginn seines Evangeliums gestellt hat (Johannes 1,4) und das Licht des Gnostikers Ptolemaios in seinem „ Brief an die Flora “ , welches der Finsternis des Widersachers entgegengestellt wird, ein Licht, das aus sich selbst besteht, einfach und einzigartig ist in Ergänzung zum natürlichen Sonnenlicht. 151 Durch seinen Aufflug mit Beatrice ist Dante in das jenseitige Paradies gelangt und befindet sich in der himmlischen Sphäre der Seligen, der höheren Geistwesen und Gottes. Es ist jene gnostische Welt, wie sie Hans Jonas im zweiten Teil seines bahnbrechenden Buches geschildert hat. 152 151 Vgl. Hans Leisegang, Die Gnosis, S. 307 f. 152 Hans Jonas: Gnosis und spätantiker Geist. Band II: Von der Mythologie zur mystischen Philosophie. Göttingen 1993 182 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="201"?> Die darin geschilderte mystische Philosophie, vor allem jene des Neuplatonikers Plotin, erklärt, daß es über dem Menschen noch Wesen geben muß, deren Seele und Geist völlig frei vom Irdischen sind, in einer Überwelt, die direkt emporführt zum Göttlichen, das der Materie als Gegenpol gegenübersteht. Jenseits der Saturnsphäre (und bei Dante über dem Kristallhimmel) existieren demnach reine Geister, deren Reich noch größer ist als das Reich des Geistes von der Welt. Hier befinden sich auch drei mal drei Triaden von Geistwesen oder neun Kreise von Engeln. Im Zweiten Gesang seines Paradieses warnt Dante zunächst, ganz wie am Beginn der alten griechischen Mysterien es der Einführende getan hat, die Uneingeweihten davor, ihm bei seiner Reise ins Paradies zu folgen, da sie ihn leicht aus den Augen verlieren könnten und ausweglos zurückbleiben müßten. Sein eigener Aufflug aber geht rascher vonstatten, „ als der Bolzen in sein Ziel einschlägt “ . Und die erste Station ist „ die ewige Perle “ des Himmels und das ist der Mond. Für den heutigen Leser, der schon Mondlandungen in der empirischen Wirklichkeit kennt und ein von der Schule her klar geprägtes Bild einer wissenschaftlichen Astronomie über den Mond in sich trägt, mag es nicht einfach sein, sich die spirituelle Vision von Dantes astrosophischer Weltschau zu vergegenwärtigen. Für ein adäquates Werkverständnis ist es aber unerläßlich. Denn für die Geistigkeit Dantes war der ganze Makrokosmos von göttlichem Licht und göttlicher Energie durchstrahlt, von göttlichem Pneuma durchdrungen und in direkter Parallele auf den Mikrokosmos des Einzelmenschen bezogen. Demnach ist der Mond ein astrologisch-kosmisches Kraftzentrum, in dem qualitativ verschiedene Formkräfte ihr heimliches Leben führen. Ein kleiner Rest davon ist allerdings noch in der heutigen Astrologie erhalten. Beatrice aber erklärt Dante, daß es in der achten Sphäre rings um die Erde, das ist der Fixsternhimmel, viele Lichter gibt. Der Fixsternhimmel aber ist die letzte und äußerste Sphäre nach der Planetensphäre des Saturn und vor dem Kristallhimmel. Dieser bildet jenen „ Grenzwall “ (Vers 86), der nach der Gnosis die fast unbezwingliche Grenze zwischen dem göttlichen Reich des Lichts und dem Reich der Materie und Finsternis darstellt. Da Dante und Beatrice erst auf der ersten Planetensphäre sind und von hier emporblicken, ist es diese Sphäre des Kristallhimmels, von der alles Licht gestoppt und zurückreflektiert wird. In den letzten zwölf Terzinen hält Beatrice einen Vortrag über diese Weltschau, der die überkonfessionelle Weltbedeutung der Gnosis sichtbar macht: So siehst du diese Weltorgane weben, Die, was sie von oben Grad für Grade Empfangen, treu nach abwärts weiter geben. Die Intelligenzen oder „ Engel “ geben allerdings schon vom Empyreum ausgehend die jeweils notwendige geistige Durchdringung von Sphäre zu Sphäre weiter 183 Dantes Paradies <?page no="202"?> hinunter. „ Wie die höchste Intelligenz ihre Güte vertausendfacht durch alle Sterne entfaltet und selbst zugleich darüber kreist als ewige Eins, so bildet die Seele die Einzelglieder des Körpers für verschiedene Tätigkeiten aus und gebraucht sie verschieden. “ 153 Der menschliche Mikrokosmos ist ein Abbild der Ordnung des Makrokosmos, die beide durchdrungen und zusammengehalten werden durch die göttliche Urkraft des All-Einen. Dieses erfüllt durch die Geistseele des Einzelmenschen dieselbe Funktion für den Mikrokosmos, welche die Ganzheit der göttlichen Ur-Kraft für den Makrokosmos erfüllt. Im Dritten Gesang erlebt Dante zum ersten Mal, wie himmlische Seelen der ersten, der Mondsphäre, auf ihn zukommen, die er im ersten Augenblick für unwirkliche Spiegelbilder von Seelen wie jener in der Hölle und im Läuterungsberg hält. Durch die Schilderung dieser Täuschung weist der Autor Dante auf die oben erwähnte Eigenart der höchsten Geistwesen hin, wie sie Jonas in seinem Buch über die mystische Philosophie des Neuplatonismus beschrieben hat. Ermutigt durch Beatrice spricht Dante die erste dieser seligen Seelen an, und es ergibt sich, daß es die Seele von Piccarda ist, der Schwester von Corso und Forese Donati und einer angeheirateten Verwandten von Dante. Sie ist zwar selig und im Himmel, hat aber nur die unterste, erste Sphäre des Himmels geschafft. Denn nachdem sie durch Gewalt aus ihrem Kloster entführt worden war, hatte sie schließlich ihre Freiheit wieder erlangt, aber sie nicht genützt, um wieder in die klösterliche Abgeschiedenheit und ein ganz dem Geistigen gewidmetes Leben zurückzukehren. Als Dante sie naiv fragt, ob sie sich nicht nach einem „ höheren Wohnort “ als der untersten Sphäre sehne, der „ mehr Freundschaft “ und „ weiteres Schauen “ böte, da wird er von Piccarda selbst belehrt: Wenn wir verlangten, höher aufzusteigen, So stritten unsre Wünsche mit dem Willen Des, der uns diesen Ort erteilt zu eigen. Da wird ihm klar, daß in jedem Sektor des Himmels dasselbe Paradies ist. Doch Piccarda setzt ihre Belehrung fort. Sie berichtet ihm, daß sie sich für das Leben im Kloster durch ein großes Vorbild entschieden hätte, einer Frau von so großem Verdienst und reinem Leben, daß sie der ganzen Welt ein Vorbild für den (Nonnen-)Schleier gegeben hatte. Erst ganz am Schluß nennt sie den Namen jenes großen Vorbildes, Konstanze, „ von dem zweiten Schwabensturm geboren. “ Der „ zweite Schwabensturm “ bezieht sich auf die Staufer, die durch ihre Gegnerschaft gegen das Papsttum der Ecclesia Carnalis, gegen den französischen König und gegen etliche italienische Stadtrepubliken Dantes höchste Sympathie genossen. Jene Konstanze war als Kaiserin Konstanza die Gattin des Staufenkaisers Heinrichs VI. gewesen. Piccarda hatte im Kloster den Namen ihres Vorbilds als 153 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 492 184 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="203"?> „ Schwester Konstanze “ angenommen. Wie Piccarda aus ihrem Kloster durch Gewalt entführt worden war, so war Konstanze vom Erzbischof von Palermo überredet worden, aus ihrem Kloster auszutreten. Der Vierte Gesang beginnt damit, daß zwei Fragen gleichermaßen und gleichzeitig so sehr auf Dantes Zunge brennen, daß er nicht weiß, welche er Beatrice zuerst vorlegen soll. Sie aber, als göttliche Weisheit, kennt natürlich beide Fragen und beantwortet ungefragt zuerst die heiklere, da bei ihr von der Antwort die Seligkeit abhängen kann. Die erste Frage hängt mit zwei Problemen zusammen. Zuerst erklärt sie ihm, daß der Seraph vor Gottes Antlitz, jeder der beiden Johannes, aber auch Moses und Maria, also alle, die der Templergnosis besonders teuer waren, in keinem anderen Himmel leben als Piccarda, und daß sie alle dort in jenem einen und einzigen Paradies ewig verweilen würden. Sie genössen nur verschiedene Arten von Seligkeit, wie sie den Atem des ewigen Geistes spüren. Nur um der beschränkten Fassungskraft der Menschen zuliebe wurden sie verschieden „ eingestuft “ . Diese beschränkte Fassungskraft sei auch der Grund, weshalb die Erzengel als Menschenbilder dargestellt werden und weshalb die Kirche sogar Gott Vater Hände und Füße leiht. Der Autor und Templergnostiker Dante läßt seiner Beatrice der Dante-Figur das deshalb erklären, damit es für den Leser keine Möglichkeiten eines Mißverständnisses gibt. Denn der Templergnostiker brauchte gar nicht erst die jüdischen Wurzeln seiner Lehre zu kennen, um keine Hände und Füße für Gott Vater zu benötigen. Das zweite Problem, das Beatrice mit der Antwort auf die erste Frage anspricht, besteht darin, daß Plato im Timaios (42 b) erklärt hat, daß alle Menschenseelen nach einem guten Erdenleben zu „ ihrem “ jeweiligen Planeten zurückkehren würden. Das war aber vielleicht nicht wörtlich, sondern symbolisch gemeint. Denn er hat in seinem Phaidros einen „ überkosmischen Ort “ als wahre geistige Heimat des Menschen angenommen. 154 Auch Beatrice lenkt etwas ein, indem sie erklärt, daß die Aussage im Timaios nur wörtlich genommen falsch sei, daß aber (gnostisch) symbolisch genommen Dantes „ Bogen “ etwas Wahres trifft. Dantes große Liebe gehörte freilich Plotin und dem Neuplatonismus durch ihre Gnostiknähe. Was die zweite unausgesprochene Frage Dantes betrifft, so war sie weniger gefährlich. Beatrice empfiehlt ihm, wann immer „ himmlische Gerechtigkeit “ „ ungerecht “ erscheint, dem Glauben zu vertrauen und nicht ketzerisch aufzubegehren. Im konkreten Detailfall geht es um den Widerspruch, daß Piccarda berichtet hat, Konstanze wäre „ dem Schleier treu geblieben “ , während Beatrice von ihrem Austritt aus dem Orden weiß. Beatrice erklärt dies dadurch zu einem Scheinwiderspruch, da die Worte „ dem Schleier treu bleiben “ auch in einem 154 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 504 185 Dantes Paradies <?page no="204"?> allgemeinen, symbolischen Sinn verstanden werden können und nicht wörtlich genommen werden müssen. Der Jenseitswanderer Dante zeigt sich überzeugt, dankt seiner Führerin und faßt das Ergebnis in der Terzine zusammen: Daß unsern Geist nichts sättigt, muß ich sehen, Wenn ihn das Licht der Wahrheit nicht erleuchtet, Von dem entfernt nichts Wahres kann bestehen. Der Gesang schließt mit der folgerichtigen Frage Dantes an Beatrice, ob nicht gebrochene „ Gelübdezusage “ vom Kloster wegzugehen, durch „ anderes gutes Werk ersetzt “ werden könne. Diese Frage löst in den Augen Beatrices einen Liebesfunken aus. Besonders die letzten beiden Punkte des Abschlusses, die Terzine und die Frage, lassen daran erinnern, daß im Grunde der durchgehende rote Faden durch den ganzen Vierten Gesang von Anfang bis Ende eine Lektion in antifundamentalistischer und pro-gnostischer Denkmethode gewesen ist. Das erweist sich als besonders wichtig im Vorausblick auf die folgenden drei Gesänge. Die erste Hälfte des Fünften Gesanges ist insofern geradezu direkt eine Fortsetzung des Vierten, als sie dem Problem gewidmet ist, ob Gelübde gebrochen werden dürfen. Da Dante einerseits ein kompromißloser Gerechter, andererseits aber kein beschränkter Fundamentalist war, machte das etliche Terzinen notwendig. Grundsätzlich, erklärte Beatrice, ist das Gelübde ein Vertrag mit Gott, der niemals aufgehoben werden kann, ohne erfüllt zu werden. Dabei verweist sie besonders auf „ das höchste Gut “ , das Gott dem Menschen bei der Schöpfung gegeben hat, die Willensfreiheit, durch die der Mensch wirklich über sich selbst und über das Eingehen von Gelübden bestimmen kann. Dann kommt jedoch schon das erste „ Aber “ : Bei den Hebräern kam es auf den Willen an und „ gab es Tausch “ . Als Abraham auf Gottes Befehl bereit war, seinen einzigen Sohn zu opfern, wurde im letzten Augenblick der Sohn vom Allerhöchsten selbst durch ein Tieropfer ersetzt. Er hatte Abraham nur erproben wollen und das Opfer niemals ernst gemeint. Niemand, heißt es sodann, kann aus eigenem „ seiner Schultern Bürde wechseln “ , es sei denn - und jetzt kommt schon das zweite „ Aber “ - , daß die neue Leistung, der „ Ersatz “ , mehr als vollwertig ist. Schließlich jedoch kommt das dritte und größte „ Aber “ : Gewiß darf man bei Gelübden nicht scherzen und natürlich darf man nicht blindlings verfahren. Als aber etwa Jephta, im Gelübde-Ablegen leichtsinnig, im Fall eines Sieges gegen die Ammoniter versprach, das erste zu opfern, was ihm aus dem Hause entgegenkommen würde, da war dies seine Tochter. Daß er sie opferte, war ein Verbrechen. Dante sagt: „ Der lieber ‚ Ich tat Unrecht mit dem Gelübde ‘ hätt ’ bekennen gesollt. “ Als aber Agamemnon seine Tochter Iphigenie der Göttin Diana opferte, da empörte sich jeder „ Tor und Weise “ dagegen. 186 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="205"?> Die ärgste Bösartigkeit und Dummheit zugleich, an welche Beatrice beim Ablegen oder Auflösen von Gelübden denken kann, betrifft die Möglichkeit, daß Habgier Betrüger anstacheln könnte, auch Sünder eines Gelübdebruchs zu überreden, die strengen Lehren der Ecclesia Spiritualis zu mißachten und zu glauben, daß es für Gegenleistung „ Ablaß “ geben könnte, der nicht einmal bei „ offizieller “ Vergebung eintritt. Es läuft also auf eine Verurteilung des Ablaßhandels der Päpste hinaus. Nach dieser letzten Eröffnung „ schießt “ Dante förmlich mit Beatrice zum „ zweiten Reiche “ des Paradieses, der Merkursphäre, empor. Als Dante mit Beatrice in den Merkur „ eintritt “ , ist sie so erheitert, daß der Planet darüber höher glänzt. Das ist keine künstliche, poetische Metapher, sondern eine Beschreibung der gegenseitigen Bedingtheit und Abhängigkeit aller Wesen und Dinge in dieser Weltschau: Beatrice ist ja ein himmlisches Wesen und der Planet ist durch lebende Intelligenzen bewegt und von ihnen durchpulst. Da sogar sie das Gefühl hatte, als ob der Stern lachte, wie muß es dann erst ihm selbst zumute gewesen sein. Besonders wenn man im Zusammenhang mit dieser damaligen Weltschau bedenkt, daß in seinem Horoskop die Sonne mit den Aszendenten Merkur und Saturn im Merkurzeichen Zwillinge stand und er sich von dem beweglichen und überaus sensiblen Merkurwesen sehr angezogen fühlen mußte. Zudem ist ihm die Gerechtigkeit ein besonderes Anliegen, und die erste Seele, der er begegnet, ist die des Kaisers Justinian, dessen Größe in der Kodifizierung des Corpus juris civilis bestand, durch welches das einmalig durchdachte Römische Recht für den Großteil der zivilisierten, westlichen Welt - und dies bis heute - zum Vorbild wurde. Der Merkur ist ja auch der Planet der Rechtsanwälte und Rechtsinterpreten. So wie der Sechste Gesang der Hölle der Geschichte von Florenz gewidmet ist, der Sechste Gesang des Läuterungsberges der Geschichte Italiens, so ist der Sechste Gesang des Paradieses der Geschichte des „ Imperiums “ gewidmet. Und Kaiser Justinian, der Dante hier entgegentritt, ist der geeignete „ Berichterstatter “ . Da er aber natürlich berichtet, was der Autor Dante für richtig hält, bedient er sich bei seinem Abriß einer Geschichte des Imperiums sogar der danteschen Metapher des Adlers und des Adlerflugs. Als Einführung in seinen Abriß berichtet er allerdings von sich selbst, daß er nach der Ankunft des römischen Bischofs Agapetus in seiner Residenzstadt Konstantinopel, wie er es ausdrückt, „ zum richtigen Christentum “ bekehrt wurde. Gegen Ende des Abrisses gibt es auch eine Anspielung auf Versuche Philipps des Schönen, die Kaiserwürde an sich zu reißen und sodann sie sich vom Papst übertragen zu lassen. Den Abschluß des Berichts über den Adlerflug bilden Angriffe auf die Feinde des Adlers vor allem in Dantes eigener Zeit. Er zählt auch die Ghibellinen zu Feinden des Adlers, weil sie ihm nicht wirklich anhingen, sondern das Adlersymbol nur heuchlerisch für ihre eigenen Parteizwecke mißbrauchen. Natürlich gehören die Guelfen ganz offen zu den Gegnern des Adlers, 187 Dantes Paradies <?page no="206"?> die unter Karl von Anjou das französische Liliensymbol dem Adler entgegenstellten. Für Dante war der Idealzustand ein mächtiges Imperium, das alle einzelnen Staaten, welche auch immer und wie mächtig sie auch sein mochten, umfaßte. An seiner Spitze sollte der Friedensmonarch stehen, gleichviel ob deutscher oder römischer Kaiser oder Herr eines anderen Reiches. Er hatte vor allem zwei Aufgaben zu erfüllen: Beschützer des Naturrechts und Hort der Gerechtigkeit und der Pax Universalis zu sein. Er hatte die irdischen Lebensverhältnisse so zu sichern, daß jedem einzelnen die Freiheit gewährt ist, sein Leben im Rahmen seiner persönlichen Fähigkeiten und Vorlieben zu führen. Nur so kann die irdische Glückseligkeit, die Beatitudo temporalis, gesichert werden. Wenn auch nicht auf monarchischer, sondern auf demokratischer Grundlage sind zumindest von der Idee her die Vereinten Nationen ein Verwirklichungsversuch dieses Ideals, das Dante visionär beschworen hatte. Am Schluß des Gesanges weist Justinian Dante auf seinen Genossen in der Merkursphäre hin, auf Romieu de Villeneuve, genannt Romieu, der einst als Pilger an den Hof von Berengar IV. von der Provence gelangt war und alsbald als Vertrauter des Grafen die Führung übernahm. Er war vielfach als Merkurbewohner ausgewiesen: Erstens als Pilger und Wanderer dem Götterboten Merkur zugehörig, zweitens als geschickter Verhandler, der alle vier Töchter Berengars an Könige verheiratet hatte, ein merkurwürdiger Unterhändler, schließlich und nicht zuletzt war er ein Mehrer des Reichtums von Berengar gewesen, noch einmal ein wahrer Merkur-Mensch. Seine Neider, die ihn haßten, inszenierten eine Intrige, durch die er in Ungnade fiel. So wanderte er denn wieder als armer Pilger vom Hof weg, um sein Leben in Armut zu beschließen. Wiederholt sind Parallelen zwischen den Merkurmenschen Romieu und Dante gezogen worden. Denn auch Dante war in der Verwaltung der Stadtrepublik Florenz an der Spitze gestanden, auch er war verleumdet worden und auch er hatte arm im Exil geendet. Unter Absingung eines feierlichen Hymnus, in dem sich die beiden heiligen Sprachen Latein und Hebräisch mischen, verschwindet Justinian im Chor der Seligen. Er hat im Grunde als Sprecher den ganzen Sechsten Gesang allein bestritten, so wie Beatrice allein den Siebenten Gesang bestreiten wird, weshalb die beiden Gesänge als „ Lehrgesänge “ gelten. Der lateinisch-hebräische Hymnus des Justinian bildet allerdings bereits den Beginn des Siebenten Gesanges. Sein Text lautet: „ Hosianna Dir, Du heiliger Gott, der Du mit Deinem Lichte die Lichtwesen dieser Reiche weit überstrahlst! “ Der Hymnus war ansteckend, denn alle Wesen der Merkursphäre begannen sich nach seiner Melodie zu drehen und sangen sie mit. Bis sie alle im Tanz „ gleich rasend schnellen Funken “ im Glanz ihres Lichtes vergingen. Damit ist es an Beatrice, ihren Lehrgesang zu beginnen, und dieser Siebente Gesang ist auch vom Inhalt her insofern ein Gegenstück des Sechsten, als er in 188 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="207"?> Ergänzung zum weltlichen Hauptsymbol Dantes, dem Adler, nun das geistliche Hauptsymbol des Kreuz-Mysteriums erklärt. In größter Verdichtung werden die Hauptpunkte der christlichen Heilslehre abgehandelt. Die Ideen der Doppelnatur Christi, der Erbsünde und der Erlösung werden offenkundig nach dem im Mittelalter ebenso berühmten wie verbreiteten Traktat Cur Deus Homo des Anselm von Canterbury dargelegt. „ Warum wurde Gott Mensch? “ , wird gefragt, und „ wenn uns heute diese scholastischen Deduktionen und Syllogismen auch viel weniger ansprechen, so bleibt doch das Mysterium, von dem hier gekündet wird, das zentrale Geheimnis des Christentums, das zu allen Zeiten neu verstanden werden will. “ 155 Freilich ist der Gesang überdies nicht zuletzt eine besondere Ausbildung des Ganzen durch die Templergnosis. Obwohl nach den jüdischen Quellen, nach denen die ersten Templer in Jerusalem gegraben hatten, der Messias noch gar nicht gekommen war und die alte gnostische Vorstellung von einem Demiurgen oder bösen Gott als ausführenden Architekten der Schöpfung bei einem Blick auf Leid und Elend dieser Welt durchaus plausibel erscheinen mochte, hatte Dante niemals aufgehört, von einer Ecclesia Spiritualis zu träumen, in welcher die Liebeslehre Christi in der Bergpredigt, die in seinem Läuterungsberg eine so dominierende Rolle spielt, alles beherrschen wird. Und dafür legt auch der Siebente Gesang des Paradieses ein beredtes Zeugnis ab, wobei es aber natürlich um ein johanneisch-esoterisches Christentum geht: „ Erst dadurch, daß Christus- Logos, der himmlische Adam, der ‚ Mensch in Gott ‘ durch seine Menschwerdung in das Geschlecht des irdischen, gefallenen Adam einging, wird das geistige Wesen des Menschen wieder frei vom Bann der Natur, kann der Mensch, in dem das göttliche Leben neu ersteht, die Harmonie zwischen Gott, Mensch und Natur wieder herstellen. “ 156 Daß sowohl die jüdische wie die islamische als auch die bei Dante und der Templergnosis so beliebte neuplatonische Mystik die Vereinigung des Seelenfunkens mit der gesamten Urkraft des göttlichen Alls vollziehen konnte, scheint mir impliziert, wenn auch die spezielle christliche Mystik eine Hauptmöglichkeit darstellt. Dabei erscheint es interessant, wie in manchen Fällen sogar in der katholischen Mystik das geistige Hauptwesensmerkmal der Gnosis, der feste Grenzwall zwischen Fixsternhimmel und Pleroma (oder Empyreum), gegeben ist. In der Weltschau der großen Mystikerin Hildegard von Bingen besteht er in einem doppelten Feuerkranz, der aus einem hellroten und einem dunkelroten Feuerkreis zusammengesetzt ist und nicht zufällig mit einem Bild der Weltschau des tibetischen Buddhismus verglichen werden konnte. 157 155 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 514 156 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 514 157 Vgl. Hans Haas: „ Das Scherflein der Witwe “ und seine Entsprechung im Tripitaka. Leipzig 1922 189 Dantes Paradies <?page no="208"?> Dante legt Beatrice die Redemptionstheorie der Kirchenväter in den Mund, wonach Gott in der Erlösungslehre das letzte und höchste Zeichen seiner Liebe der Menschheit vor Augen hielt, indem er den eigenen Sohn sandte, der mit Wort, Tat und Tod die Menschen aus den Klauen des Satans riß. „ Denn seinen Tod verlangten Gott und Juden “ , erklärt Beatrice. Gott benötigte die Sühne von etwas Göttlichem, wozu kein Sterblicher ausreichte. Für die Pharisäer aber war der Tod von Jesus notwendig, damit nicht solche gefährlichen Heilslehren verkündet würden. Wenn aber im Fünften Gesang die an Wahnsinn grenzende Opferung von Jephtas Tochter durch ihren Vater und die nicht weniger entsetzliche Opferung Iphigenies durch ihren Vater angeprangert werden, dann bildet Gott Vater nur aus höheren theologischen Gründen eine legitime Ausnahme. Denn sein Sohn war nicht weniger entsetzt als die anderen Opfer, als er bat: „ Herr, laß diesen Kelch an mir vorübergehen. “ Lediglich Beatrices allgemeines Gebot, daß man scheinbares göttliches Unrecht nicht anzweifeln dürfe, ohne der Häresie zu verfallen, kann hier als Rechtfertigung helfen. Sie setzt die notwendige Größe eines blinden Glaubens voraus, da letzte Wahrheiten mitunter durch die Vernunft allein nicht geklärt werden können. Da die Gnosis aber sich grundsätzlich nicht auf den Glauben stützt, mag dieser auch Berge versetzen können, sondern schon von der Bedeutung des Begriffs her auf Wissen, Erkenntnis und Weisheit zielt, so könnte man es auch für eine kompositorische Feinheit halten, daß Dante seine beiden Gesänge Sechs und Sieben nicht seinem staatlichen Hauptsymbol Adler und geistlichen Hauptsymbol Kreuz gewidmet hat, ohne im Fünften Gesang als Vorstufe und Vorbedingung die Warnung vor möglichen Mißbräuchen bei Opferungen eingeschaltet zu haben. Mußte er doch mit dem leisesten direkten Hinweis im Siebenten Gesang selbst geradezu übervorsichtig sein. Die ganze Commedia ist ein einziger großer Beweis für seine Findigkeit, sich durch Indirektheit und Anspielung der Inquisition zu entziehen. Der Gesang schließt jedenfalls mit einem Hinweis Beatrices auf die Auferstehung des Fleisches, für deren Annahme ein exorbitant großer Glaube notwendig ist. Der Aufstieg in die dritte Paradiessphäre, jene der Venus, vollzieht sich für Dante völlig unbemerkt. Erst als er bemerkt, daß Beatrice immer noch schöner wird, ist ihm bewußt, daß er bereits auf der Venus sein muß. Wie so oft hat auch diese Stelle eine doppelte Funktion. Während er gleich eingangs der Inquisition ihren Tribut entrichtet, indem er Venus einen Wahn und eine Irrtumsgottheit des Heidentums nennt, wird Beatrice, das Sinnbild gnostischer Weisheit, durch die Venus verschönt. Ist sie ja doch die „ Göttin der blühenden Natur und des Glücks “ . Sie erschafft auf ihrem Planeten eine Atmosphäre für den „ Enthusiasmus, die Begeisterung für alles Hohe und Edle “ . Vor allem aber ist sie „ die Göttin der Harmonie und der Liebe. “ 158 158 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 525 190 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="209"?> So ist der Achte Gesang jener der Seelen, die der Liebe ergeben waren, und ihr erster Repräsentant, den Dante anspricht, ist der jung verstorbene Prinz Karl Martell, der Sohn des Karl von Anjou. Er ist in tiefer Liebe der Tochter Rudolfs von Habsburg, Clemenza, verbunden. Zwei Mal war er nach Florenz gekommen und Dante hatte ihn in seiner Zeit des jungen Dichterruhms kennen gelernt, ja war ihm freundschaftlich verbunden gewesen. Die Seele Karl Martells begrüßt ihn mit dem ersten Vers einer Kanzone, der Dante den zweiten Traktat seines Convivio gewidmet hat. Für Dante ist die Begegnung, abgesehen von der persönlichen Freundschaft, auch noch die Verwirklichung des Troubadourtraums von der Gemeinsamkeit des Fürsten und des Dichters. Es gab jedoch noch einen weiteren Grund, der den Autor Dante bewog, Karl Martell so in den Vordergrund zu stellen, und das war ein Grund der Templergnosis. Karl Martell war nicht nur von der Abstammung her ein Anjou, sondern das Land der Troubadours, die Provence, hatte die Gattin seines Großvaters Karls I., Beatrix Berengar, als Heiratsgut mit in die Ehe gebracht. Man erinnere sich nur, daß Walter Map, Geistlicher am Hof Heinrichs II. von England, knapp ein Jahrhundert vorher berichtet hatte, daß es zwar keine Ketzer in der Bretagne, dafür aber um so mehr in Anjou und zahllose in Burgund und Aquitanien gäbe (das sind die Provence und das Languedoc). Nicht nur die Katharer rekrutierten sich aus diesen Regionen, sondern auch besonders viele Templer, und nicht zufällig ist auch Wolframs Gralskönig ein Anjou und stammt der Meister seiner geheimnisvollen Quelle Kyot aus der Provence. 159 Dante ist erfüllt von Freude über die Begegnung, stellt daher auch die Frage nach der Vererbung, da andere Familienmitglieder, vor allem Karl II. und Robert von Neapel vom strahlenden jungen Karl Martell so verschieden sind. Die himmlisch erleuchtete Seele Karl Martells erklärt Dante daraufhin, daß Gottes Weisheit sich als Kraft den Planeten mitteilte, die ein Ausdruck der göttlichen Vorsehung sind und die Erbanlagen des Menschen so steuern, wie es für eine heilsame Ordnung notwendig ist. Die Willensfreiheit freilich gestattet dem Menschen einen wesentlichen Freiraum jenseits der Erbanlagen. Auch die Führung der Engel kann eine gewisse Rolle spielen. Zuletzt warnt Karl Martell davor, daß die Gabe der Willensfreiheit auch den negativen Effekt haben kann, daß manche Menschen ihre Mitmenschen beeinflussen können, und sich entgegen ihre Anlagen zu entwickeln. Die Venussphäre war aber für Dante so wichtig, daß er dem Achten Gesang, welcher der Venus-Urania gegolten hatte, im Neunten Gesang noch einen weiteren über die Venus Pandemia folgen ließ. Der Achte Gesang war einer männlichen Liebe der Freundschaft und vor allem der Troubadour-Freundschaft 159 Zu Walter Map vgl. Eduard Wechßler: Die Sage vom heiligen Gral in ihrer Entwicklung bis auf Richard Wagners Parzival. Halle (Saale) 1898 und Ignaz von Döllinger: Beiträge zur Sektengeschichte des Mittelalters. I. und II. Teil, Darmstadt 1982 (Reprint) 191 Dantes Paradies <?page no="210"?> von Mäzen und Dichter gewidmet gewesen, der Neunte behandelt die Liebe des Eros. Die erste Seele, die Dante in diesem Neunten Gesang entgegentritt, ist die Seele von Cunizza, der Schwester des berüchtigten Tyrannen Ezzelino da Romano, der seine Gewaltherrschaft über einige oberitalienische Städte ausgedehnt hatte. Dante hatte sie als eine hochbetagte, greise Dame noch in Florenz kennen gelernt. Sie war einerseits als Wohltäterin bekannt, die vor allem Opfern der Grausamkeit ihres Bruders geholfen hatte, ja sogar ihren Leibeigenen die Freiheit geschenkt hatte. Andererseits war sie neben dieser Sozialliebe auch eine große Liebhaberin gewesen, drei Mal verheiratet, ohne die zahlreichen Liebhaber zu zählen. Dabei waren es keine reinen Sex-Verbindungen, sondern Herzensliebe gewesen, welche die Grundlage dargestellt hatten, weshalb sie auch im Alter vom Eros zur Agape hatte überwechseln können. Sie verachtete den Pöbel, der ihren Lebenswandel kritisierte, weil er Sex mit Eros verwechselte. Nach einigen Prophezeiungen über einen schurkischen Bischof und einen üblen Lebemann verschwindet sie wieder in der Schar der kreisenden Seelen. Nach ihr tritt als eine Art männliches Pendant und großer Liebhaber Folco von Marseille Dante gegenüber, der einzige Dichter, dem er Einlaß in sein Paradies gewährt hat. Er hatte als Troubadour Adelheid von Rognemarine, die Gattin des Vizegrafen Barral von Marseille, nicht nur glühend besungen, sondern schließlich in einem Lied auch körperliche Liebe gewünscht, was ihn den Aufenthalt bei Hof gekostet hatte. Wie er überhaupt seine Mäzene häufig wechselte. Er hatte auch geheiratet und hatte zwei Söhne. Daß Dante ihn in sein Paradies aufnahm, hatte außer seinem Ruf als großer Liebhaber wohl auch noch andere Gründe: neben seinen Liedern, daß er im Alter Zisterzienser wurde. Er brachte es noch zum Abt und sogar zum Bischof von Toulouse. Als Bischof hatte er die Gründung eines Konvents für bekehrte Katharerinnen unterstützt, wodurch deren Leben gerettet worden war. Einmal ist er auch als durch und durch negative Figur gezeichnet worden, als geld- und machthungriger Schurke, der ein gewissenloser Gefolgsmann der Inquisition geworden war. 160 Ganz so arg kann es wohl nicht gewesen sein, da der gerechte Dante ihn ansonsten in seine Hölle versetzt hätte. Allerdings ging es ihm in der Venussphäre vor allem darum, zu zeigen, wie durch Gottes Liebe auch gefallenen Menschen, wenn sie Liebende waren, verziehen wurde und sie in den Himmel aufgenommen wurden. Die Schlüsselstelle für Folco ist dann wohl der Vers 96, in dem es im Hinblick auf den Planeten Venus heißt: Er „ fühlt meinen Einfluß wie ich einst den seinen “ . Dazu paßt es auch, daß Folco es ist, der Dante auf die neben ihm stehende Rahab aufmerksam macht. Sie war eine Prostituierte aus Kanaan, die durch eine gute Tat Verzeihung und Aufnahme in den Himmel erreicht hatte. Sie nahm nämlich zwei Kundschafter Josuas mit dem Friedensgruß in ihrem Haus auf, wodurch sie dazu mithalf, daß die Israeliten 160 Otto Rahn, op. cit., S. 118 f. 192 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="211"?> Jericho und darauf Palästina gewinnen konnten. Die Gewinnung Palästinas wog für einen Templergnostiker natürlich besonders schwer. Denn dadurch konnte es erst zum Tempelbau kommen. Schult hat zusammenfassend bemerkt, daß die Seelen, denen Dante im Achten und Neunten Gesang begegnet, von der jugendlichen Idealgestalt Karl Martells über die Liebesheldin Cunizza zum Troubadour Folco und zu Rahab, „ von den Höhen der Venus-Urania durch die Stufen der Venus Pandemia bis zur Hure Rahab “ herabführen, um die Verwandlungsfähigkeit von himmlischer und irdischer Liebe zu zeigen und „ damit die grundsätzliche Einheit von Eros und Agape. “ 161 Rahab diente Dante überdies zu einem seiner beliebten drastischen Kontrastbeispiele. Die Hure war beim Einzug der Israeliten von der Geistesmacht Jahwes tief ergriffen worden und hatte sich für die Gewinnung Palästinas eingesetzt, „ das gern der Papst sich aus dem Sinne schlüge “ (Vers 126). Denn der Papst kümmerte sich in jener Zeit nicht um das Heilige Land, sondern nur um die italienischen Probleme im Zusammenhang mit seinem Kirchstaat, auch nicht als schließlich als letzter Brückenkopf Akkon fiel. Die Templer waren hier wieder einmal ihrem Motto gefolgt: „ Die ersten beim Angriff, die letzten beim Rückzug. “ Im verzweifelten Endkampf bei der Verteidigung ihres Stadtschlosses in Akkon hatten die Sarazenen das Schloß unterminiert. Bei der Explosion stürzte das ganze Gebäude über den Verteidigern zusammen. Ein Historiker hat geurteilt, daß mit diesem Knall der Kreuzfahrerstaat gestorben war. 162 Die Beispiele Folcos und Rahabs mögen auch dazu gedient haben, zu zeigen, daß in den ersten drei Sphären des Paradieses noch „ die Schattenspitze von eurer Welt verläuft. “ (Vers 119 - 120). Obwohl sich Dante dieser Anschauung nur im astrologischen Sinn bedient, ist sie für seine Komposition wichtig, in der sich der Aufstieg des Jenseitswanderers Dante in den von jeglicher Trübung freien Sonnenhimmel erst im Zehnten Gesang vollzieht. Der Schritt bezeichnet zugleich den Übergang von der ersten Kardinaltugend, der Besonnenheit, zur zweiten, der Weisheit. Die Sphäre des „ Planeten “ Sonne, der das irdische äußere Licht spendet, steht aber damit symbolisch auch für das davon völlig verschiedene Licht der inneren Erleuchtung. Diese ist auch das Ziel Beatrices für Dante als Hierophantin und Sophia, die ihn zu einer gnostischen Bewußtseinserweiterung und zu einer übersinnlichen, mystischen Anschauung des Göttlichen führt. Da es im Grunde um das zentrale Anliegen der Gnosis geht, stellt Dante an den Beginn einen Hymnus auf die Schöpfung. In der völligen Hingabe des Jenseitswanderers an eine Vorstufe der Erleuchtung entschwindet vorübergehend sogar Beatrice seinem Sinn. 161 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 532 162 Martin Bauer, op. cit., S. 166 193 Dantes Paradies <?page no="212"?> Schon am Beginn weist Dante auf die Schiefe der Ekliptik hin, die in ihrer Relation zur Erde die Vielfalt der Planeten-Konstellationen und den Wechsel der Jahreszeiten bewirkt. Der Hinweis auf die jetzt eben zu Ostern erreichte Stellung des Frühlingsanfangs ist eine Anspielung auf die antiken Mysterien, in denen als Hauptsymbol für die Wiedergeburt, in diesem Fall durch Erleuchtung innerhalb des Lebens, am Beispiel eines durch den Hierophanten hochgehaltenen Mutterkorns der Wechsel der Jahreszeiten versinnbildlicht wird, der nach dem Tod des Winters immer aufs Neue die Wiedergeburt durch den Frühling bringt. Auch die wechselnde Stellung der Planeten zeigt dies an, und die ganze Commedia ist ja nach dem makrokosmischen Rhythmus der Planetensphären gegliedert. Es ist durchaus natürlich, daß Dante die Zwölfzahl des Tierkreises, die zwölf Sternzeichen der Sonnenbahn samt ihrer Zuordnung zu je zwölf Sonnenweisen, großen Geistern hier in der Sonnensphäre, abhandelt. Durchaus bezeichnend für Dante ist es dabei, daß auch die Einleitung des Gesanges natürlich in zwölf Terzinen besteht, während er die Ankunft Beatrices in neun Terzinen, der Zahl Beatrices, beschreibt. Als Dante aus seiner Versenkung in die Herrlichkeit des Göttlichen erwacht und sein Normalbewußtsein wiedererlangt hat, sieht er sich mit Beatrice von den Seelen zwölf der größten Geister der Menschheit umgeben. Um zu einem Dante adäquaten Verständnis dieser zwölf zu gelangen, darf man sie nicht mit unseren heutigen Augen ansehen, sondern wie den „ Planeten “ Sonne mit jenen Dantes. Selbst von diesem Genie kann man nicht verlangen, daß er alles in etlichen kommenden Jahrhunderten Vorgefallene im Detail vorauswissen hätte können. Soweit es möglich ist, Dantes Perspektive nachzuvollziehen, soll dies hier geschehen. Der Sprecher der zwölf ist die Seele des Thomas von Aquin. Der Aquinat aber hat durch seinen Aristotelismus wie durch Eigenes bedeutenden Einfluß auf die Commedia genommen. Dante hat ihm schließlich nicht weniger als dreihundert Verse seines großen Werks gewidmet. Thomas galt ja als Fürst der Scholastik, die gerade dabei war, die Herrschaft über die Theologie der Zeit anzutreten. Freilich war Dante selbst ein Templergnostiker und so ziemlich das Gegenteil eines Scholastikers. So vorsichtig er war, so klar ist es, daß die Worte, mit denen er Thomas einführte, keine reine Empfehlung waren. Diese Einführung hat er klugerweise Thomas selbst in den Mund gelegt, wodurch sie doch wohl nicht anstößig sein konnte: Ich war der Lämmer eins der heiligen Herde, Die so Dominikus auf Wegen leitet, Daß, wer nicht abirrt, fett beim Weiden werde. Die Terzine beschreibt die Vorteile, die ein nicht von blinder Ordensgläubigkeit abirrendes Schaf hat, das Dominikus folgt, der nicht nur den Orden, sondern auch, wenngleich in päpstlichem Auftrag, die Inquisition gegründet hatte. Zwar 194 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="213"?> hatte der Papst kaum und wohl auch nicht Dominikus die praktischen Folgerungen genau durchdacht, doch war es diese Inquisition, die Dantes Templerbrüder eingekerkert und gefoltert hatte, um viele davon verbrennen zu lassen. Allerdings war Thomas selbst nie mit der Inquisition befaßt gewesen und wurde von Dante in gewissem Sinn sogar als politischer Bundesgenosse empfunden. Es wurde ja allgemein angenommen, daß Karl I. von Anjou, der Florenz „ befreit “ und das persönliche Unglück Dantes heraufbeschworen hatte, Thomas hatte vergiften lassen. Dante selbst hatte dies auch im Zwanzigsten Gesang seines Läuterungsberges verkündet. Was wahrscheinlich ebenso positiv zählte, war der Umstand, daß die Frühscholastik eine geradezu revolutionäre Bewegung in der Theologie der Zeit war, die der Vernunft einen bisher noch nicht da gewesenen Platz einräumte. Thomas selbst hatte gleich in dreifacher Weise revoltiert: erstens gegen die eigene, hocharistokratische Familie Siziliens, die nicht wollte, daß er Geistlicher werden und schon gar nicht, daß er in den Bettelorden der Dominikaner eintreten wollte; zweitens gegen den totalitären Staat, den Friedrich II. in Sizilien errichtet hatte und aus dem er nach Paris floh; drittens aber gegen die Pariser Universität, da er mit seinem Lehrer Albertus Magnus, der vorübergehend in Paris gelehrt hatte, nach Köln ging. Albertus muß ein faszinierender Lehrer und ein Polyhistor von unglaublichen Graden gewesen sein. Die seit 1931 erscheinende Gesamtausgabe seiner Werke umfaßt einundvierzig Bände, die sich aus Raumgründen in sehr viel mehr Teilbände aufteilen. Wenn er heute der kirchliche Schutzpatron der Naturwissenschaften ist, aus dessen Kölner Klosterschule die Universität Köln hervorging, der 1931 heilig gesprochen wurde und vielen als Begründer der modernen Naturwissenschaft gilt, dann sah das zu Dantes Zeit ganz anders aus. Damals wurde er wegen seiner naturwissenschaftlichen Interessen als Zauberer und Hexenmeister verdächtigt. Philosophisch doppelt suspekt durch sein Eintreten für den „ heidnischen “ Philosophen Aristoteles wie für den Neuplatonismus, hatte er sich vollständig unmöglich durch den Umstand gemacht, daß er auch Okkultist war. Für die geistigen Vertreter seiner Zeit war er der „ Doktor Universalis “ , für die Dummköpfe ein der Kirche gefährlicher Wirrkopf. Im Unterschied zu seinem Lehrer war Thomas freilich vorsichtig genug, sich in hohem Maße an seine eigene Warnung der Terzine vom „ nicht abirren “ zu halten. Immerhin hat er mit seinen Kommentaren zu Boethius und zu Dionysius Areopagita den engen scholastischen Gedankenkreis definitiv überschritten. Seine Auseinandersetzung mit der Alchemie aber ist zweifellos das am weitesten in das Esoterische vorstoßende Beispiel, das durch C. G. Jung bekannt gemacht wurde. 163 Die erste Licht-Seele, die Thomas Dante vorstellt, „ ihm zur Rechten “ , ist natürlich sein „ Bruder und Meister “ Albertus Magnus, der Weise von Köln. Dieser war übrigens auch der erste namhafte deutsche Astrologe, was ihn für Dante 163 C. G. Jung: Mysterium Conjunctionis. III Bände, Zürich 1952 - 1957 195 Dantes Paradies <?page no="214"?> interessant machte, für die Kölner Bürger aber die okkulte Gefahr vergrößerte. Er sah wie Dante im Makrokosmos alles von himmlischen Kräften bewegt. Der spätere Thomas hat sich von ihm noch weiter entfernt als der frühe, doch der ganz späte Thomas hat, bewegt durch eine mystische Erfahrung, sein ganzes eigenes Werk verworfen, wozu bei Albertus keine Notwendigkeit bestand. Wenn Dante von dieser Verwerfung gewußt haben sollte, dann käme dem Anführer des ersten Zwölferkreises von Sonnen-Weisen noch ein ganz anderer Stellenwert zu. Der dritte im Kreis der zwölf, Gratian, ist einer der wenigen, die nicht nur gottesfromm, sondern auch kirchenfromm waren. Der Grund für seine Auswahl in den Kreis lag zweifellos darin, daß er als geistliches Gegenstück zu Justinians Kodifizierung des weltlichen römischen Rechts durch seine Concordia Discordantium Canonum das Kirchenrecht kodifiziert hatte. Der auf ihn folgende Petrus Lombardus, der sein Hauptwerk, seine Sentenzen, mit dem „ Scherflein der armen Witwe “ verglich (Lukas, 21,1 ff.), gehört der illustren Reihe wahrscheinlich in erster Linie als Schützling und Mitstreiter des Bernhard von Clairvaux an. Daß dieser selbst in jenem Kreis fehlt, hängt lediglich damit zusammen, daß er für eine nicht nur für Dante weit wichtigere Aufgabe auf höchster Ebene aufgespart wird. Was aber das „ Scherflein der armen Witwe “ betrifft, so birgt es Interessantes genug, das die engen dogmatischen Grenzen durchbrechen könnte. 164 Die fünfte Seele ist jene des Königs Salomo, des Erbauers des Tempels, der den Templern den Namen gab. Unverständlich ist die Überraschung mancher Kommentatoren, ihn in diesem Kreis zu finden. In Wirklichkeit ist keiner der andren elf so natürlich und selbstverständlich für die templergnostische Commedia. Es ist kein Zufall, daß er als das „ schönste Licht “ des Kreises beschworen wird und daß er so hohen Geist und so tiefes Wissen birgt, daß kein zweiter jemals „ So hoch im Schauen ward gerissen “ (Vers 114). Am Beginn seiner Herrschaft hatte er in einem Traumgesicht Gott um die Weisheit gebeten, sein Volk gerecht regieren zu können. Die Folge war, daß die Zeit seiner Herrschaft eine Zeit des Friedens und des Wohlstandes war. Sogar die Moslems nannten ihn einen Propheten, der mit den Vögeln sprechen konnte. Vorstufen zum Buch Samuel sowie zum Buch der Könige in der Bibel wurden ihm zugeschrieben. Er ist auch der Verfasser der apokryphen Psalmen Salomos und des gnostischen Werkes Testament des Salomos. Die sechste Seele ist die des Pseudo-Dionysius Areopagita aus dem 6. Jahrhundert, der den Namen des wirklichen Dionysios als Pseudonym benutzte. Dante nennt ausdrücklich seine Engel-Lehre von den neun Hierarchien der Engel, die er selbst für die Commedia übernommen hat. Er war einer der einflußreichsten Neuplatoniker seiner Zeit, was ihn für Dante ebenfalls interessant machte. Eigentlich war es sein ganzes Denkgebäude, das aus Elementen von 164 Vgl. Hans Haas, op. cit. 196 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="215"?> Mystik, Platonismus, kosmisch-neuplatonischer Emanationslehre und dazu noch gemäßigtem Monophysitismus zusammengesetzt war, das im Mittelalter große Faszination ausgelöst hatte. Kein geringerer als Meister Eckhart stand unter seinem Einfluß, und auch für Dante war er der große mystische Theologe. Als siebentes, etwas kleineres Licht tritt Dante wahrscheinlich Osirius entgegen. Wenn es aber Osirius ist, was die meisten annehmen, dann hat sich Dante hier einen kleinen ironischen Scherz geleistet. Zu seiner Kenntlichmachung heißt es nämlich im Vers 120 in der Übersetzung von Hermann A. Prietze (Heidelberg, 1952): „ Auf dessen Schrift sich Augustin gestützt “ . Dante hat diese „ Schrift “ , das Hauptwerk von Osirius, die Historiae adversum Paganos libri VII sehr genau gelesen, hatte aber die genau gegenteiligen Schlüsse daraus gezogen wie Augustinus, nämlich die gottgewollte Gründung des Kaisertums. Vielleicht ist das der Grund, weshalb manche annehmen, nicht zuletzt der besonders kenntnisreiche Schult, daß mit dem siebenten Licht Lactantius gemeint sei. Schult ist es auch, der die von Lactantius gebrauchte Wendung „ avoccato dei templi cristiani “ mit Anwalt vieler „ christlicher Tempel “ übersetzt. Er hatte ja auch ein der Gnosis zumindest sehr nahes dualistisches Weltbild, das sich in seinem Hauptwerk, den Divinae institutiones, zeigt. Von seinen Dichtungen ist De ave Phoenice besonders wichtig. Diese Dichtung behandelt den mythischen Vogel Phoenix, vermischt ganz bewußt „ Heidnisches “ mit Christlichem und erinnert an rosenkreuzerische Wiedergeburtsdichtungen. Wegen seines eleganten Lateins später „ Cicero seiner Zeit “ genannt, war er ein rein sprachliches Vorbild des Augustinus. Der oben zitierte Vers 120 lautet ja im italienischen Originaltext auch „ Del cui latino Augustin si provide. “ Das heißt: der Augustinus mit seinem Latein versorgte. Diesem etwas kleineren Licht folgt mit dem achten eines der größten, von manchen als Dantes Lieblingsphilosoph bezeichnet, die Seele des Boethius. Obwohl wir heute wissen, daß er getaufter Christ gewesen ist, der sogar vier theologische Schriften verfaßt hat, war die durchgehende Geistigkeit aller seiner Schriften neuplatonisch. Sein bekanntestes Buch, in der Todeszelle verfaßt, in die Theoderich der Große den Chef seiner eigenen Hofkanzlei gestoßen hatte, ist auch das Buch, das Dante am tiefsten berührt hatte, De consolatione philosophiae. Es hat bis heute seine Kraft nicht verloren. Dieses Buch atmet den Geist der Stoa, die als eine Glückseligkeitslehre eine echte Parallele zur Templergnostik war, und verbindet die Stoa mit der mystisch-neuplatonischen Wiedergeburtsidee. Dante nennt Boethius „ l ’ anima santa “ und hat ihn sowohl in De Monarchia wie im Convivio oft zitiert. Im Bericht über den Kreis der zwölf Sonnen-Weisen aber hat er ihm drei Terzinen gewidmet, den extrem unkirchlichen Seelen Salomo und Siger von Brabant je zwei Terzinen, den meisten anderen aber nur eine Terzine oder sogar noch weniger. Daß Thomas fünf Terzinen erhielt, hängt damit zusammen, daß durch ihn die Einführung in den Kreis mitgeteilt wird, und die letzte der fünf Terzinen schränkt die Begeisterung für ihn sehr ein. 197 Dantes Paradies <?page no="216"?> Isidor von Sevilla, Beda Venerabilis und Richard von Sankt Viktor erhalten gemeinsam nur eine Terzine. Isidor von Sevilla hat mit den zwanzig Bänden seiner Etymologiae das Wissen seiner Epoche mit geprägt. Seine Wirksamkeit reichte bis in die Neuzeit hinein. Besonders mit den ersten drei Büchern seines Hauptwerks über die sieben freien (weltlichen) Künste hat er für das Mittelalter eine Art Bildungsgrundlage gelegt. Bibelerklärung und das Erbe der antiken Kultur waren seine Hauptanliegen. Das letztere fand besonders Dantes Interesse. Auch Beda Venerabilis war im Mittelalter als Kommentator der Bibel hoch geschätzt worden. Dabei ist eines seiner wichtigsten Werke seine Historia ecclesiastica gentis Anglorum, die später von Alfred dem Großen ins Angelsächsische übersetzt worden war. Es ist ein Vorbild objektiver Quellenauswertung in der Historiographie. Er schrieb auch Gedichte und um seine Persönlichkeit haben sich etliche Legenden gerankt. Zum Namen des Richard von Sankt Viktor fügt Dante den ehrenden Nachsatz hinzu: „ Der mehr als Mensch gewesen im Betrachten “ . Ein Mann der Gerechtigkeit und streitbar wie Dante, nahm er nicht nur die Seite Thomas Beckets gegen den englischen König, sondern stand auch auf der Seite des Bernhard von Clairvaux in seinem Streit mit Abaelard. Der ehrende Nachsatz aber ist wohl der Art zu schreiben des Viktor zu verdanken, bei der alles Metapher, Allegorie und Symbol war, wie in der Mystik, im Neuplatonismus und in der Gnosis. Er war weltoffen und ein tiefer Mystiker zugleich. Daß Dante als zwölfte Seele des Kreises jene des Siger von Brabant genommen hat, sollte zweifellos einen abschließenden Höhepunkt bedeuten. Wieder durch einen Kontrast von den drei vorherigen Seelen verschieden, die gemeinsam nur eine Terzine erhielten. Siger ist wahrscheinlich der erste gewesen, von dem Dante direkten Unterricht erhalten hat. Reinach war nur der erste, der auf diesen Zusammenhang hingewiesen hat. 165 Der überragende Dante-Experte John hat sich ihm angeschlossen. Siger war als Flüchtling nach Orvieto gekommen, und Orvieto war nicht allzu weit von Florenz entfernt, sodaß Dante ihn leicht besuchen konnte. Siger war zu seiner Zeit der bedeutendste Lehrer der Artistenfakultät an der Sorbonne gewesen und das geistige Haupt des dort dominierenden Averroismus. Durch diese arabische Auslegung des Aristoteles war er der Gegenspieler des Thomas von Aquin geworden, der den Reigen eröffnete wie Siger ihn beschließt. „ Sigers Impossibilia, hauptsächlich ein Werk von extremem Freisinn, dessen sich ein Voltaire hätte rühmen können, und des Pariser Bischofs Etienne Tempier Einschreiten dagegen, waren der Grund seiner Vorladung vor den Großinquisitor Simon du Val, der er sich aber durch Flucht an den päpstlichen Hof in Orvieto 165 Salomon Reinach: L ’ Énigme de Siger. In: Revue historique, Jg. 1926, S. 34 - 47 198 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="217"?> entzog. Er lebte dort in leichtem Gewahrsam bis zu seiner Ermordung durch seinen wahnsinnig gewordenen Sekretär 1282 oder 1284. “ 166 Der an der Sorbonne damals gelehrte Averroismus galt wohl aus guten Gründen als Ursache der Häresie eines keineswegs kleinen Kreises des Pariser Klerus. Aber nicht nur das. „ Wir gehen kaum fehl, wenn wir annehmen, daß auch ein Großteil des jüngeren französischen Templerklerus, bei dem der Hang zum Freisinn ohne Zweifel noch ausgeprägter war, zu den eifrigen Hörern Sigers von Brabant zählte. “ 167 Das mag sowohl helfen, die Aufgeschlossenheit des geistigen Templertums in Palästina mit zu erklären, wie es auch verstehen hilft, wieso auch Dante selbst „ eine deutlich erkennbare averroistische Geisteshaltung “ stets erhalten geblieben ist. 168 Dante hat von Siger überhaupt etliches angenommen. Darum konnte er auch eine These des Thomas nicht akzeptieren, sondern er nimmt wie Siger eine Trennung der geistlichen und weltlichen Vorstellungen an. „ Soweit die Theologie den intellektuellen Gehalt des Glaubens darstellt, darf sie sich niemals mittels der Philosophie eine Autorität über die weltliche Ordnung anmaßen. Siger ist für Dante der Märtyrer der reinen Philosophie. “ 169 Schult hat die Anordnung des Kreises der zwölf hell leuchtenden Geister rings um den Mittelpunkt von Dante und Beatrice als lebendigen Nachvollzug des abstrakten Symbols der Sonne gesehen, das aus einem Kreis mit einem eingezeichneten Mittelpunkt bestand. Und er hat diese symbolische Anordnung wohl zu Recht auch als bewußten Hinweis auf einen Initiationsritus gesehen. In diesem Fall hatte die Einweihung mit Thomas begonnen und mit Siger ihren abschließenden Höhepunkt gefunden. Auf jeden Fall sind Auswahl, Kommentierung und Abfolge von Bedeutung für die Templergnosis. Die Beziehung Sigers zu Thomas macht überdies ein allgemeines menschliches Paradox sichtbar: Der frühe Siger steht eindeutig diametral gegen Thomas. Der späte Siger hat sich ihm angenähert. Doch Thomas selbst hatte im Alter eine mystische Erfahrung, auf Grund welcher er sein gesamtes Werk verwarf. Vielleicht ist der Eingang zum Elften Gesang eine Antwort darauf. In den ersten vier Terzinen legt Dante dar, wie Denken, Zustand, ja die gesamte Existenz beim Aufenthalt im hell leuchtenden Sonnenhimmel - der symbolisch für den inneren Erleuchtungszustand steht - verschieden vom normalen Bewußtseinszustand ist, der dominiert wird von Gedanken und Vorstellungen über die Mühen und Plagen und Sorgen des Lebens, von Sorgen und Nöten, Wünschen und Hoffnungen auf Erfolg. Er ist jetzt diesem „ ganzen 166 Robert John, op. cit., S. 12 167 Robert John, op. cit., S. 12 168 Robert John, op. cit., S. 24 169 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 548 199 Dantes Paradies <?page no="218"?> Wust “ entkommen. Auf der normalen Bewußtseinsebene würde das implizieren, daß alle Ausfälle von krassem Egoismus durch Toleranz und Sanftmut überwunden werden sollten. Sodann ergreift noch einmal Thomas von Aquin das Wort. Im „ helleren Verklären “ von Gottes Licht kann er Dantes Gedanken lesen, wie sonst es nur Beatrice konnte, und ohne daß Dante zu fragen braucht, beantwortet er ihm zwei Fragen. Er verspricht in klarer, offener Sprache eine Erklärung der beiden Wendungen „ Fett beim Weiden “ , die bereits als ambivalent bezeichnet worden ist, über die Dominikaner, und „ kein zweiter ward so hoch gerissen “ über Salomo. Allerdings kehrt er die Reihenfolge der Fragen bei seiner Beantwortung um. Aus salomonischer Weisheit heraus bringt er zunächst einen wahren Hymnus auf den Gründer des anderen Bettelordens, den großen, heiligen Franziskus, vor. Dante hat hier eine überaus zarte und zugleich überwältigende Beschreibung des seraphischen, so völlig von Liebesglut durchdrungenen Heiligen gegeben, der sein ganzes Leben „ der Hochzeit mit der Armut “ gewidmet hat. Dann folgt als zweite Antwort eine strafende Verurteilung der Entartung des eigenen Dominikanerordens von Thomas. Das ist zeitgeschichtlich von besonderer Bedeutung. Im Zwölften Gesang, der einen Parallelgesang zum Elften darstellt, vollzieht sich das Umgekehrte: Der General des Franziskanerordens und Kardinal Bonaventura verherrlicht den heiligen Dominikus und endet mit einer Verurteilung des eigenen Franziskanerordens wegen seiner Aufspaltung in Konventualen und Spiritualen und des Kampfes der beiden Fraktionen gegeneinander, was der Geistigkeit seines großen Gründers so ganz und gar nicht entspricht. Es sind jene zwei neuen, städtischen Bettelorden, jene Orden, die für die Kirche plötzlich von großer Wichtigkeit waren, wenngleich für die Templer direkt nach wie vor die Zisterzienser zählen. An der Parallelität der Gesänge Elf und Zwölf und der „ Umkehrung “ in ihnen ist einiges sehr interessant. Zuerst einmal, daß es in Dantes Augen kein Pendant zum großen Franziskus selbst gibt. Als Gegenstück des Gründers der Dominikaner tritt deshalb der Ordensgeneral und erste Führer des Franziskanerordens nach dem Tod seines großen Gründers auf. Diese zwei Leitfiguren beider Orden sind tolerant und weitsichtig genug, um den jeweiligen Gründer des anderen Ordens zu verherrlichen, und sie sind groß und nicht blind genug, um die Entartung ihres eigenen Ordens an den Pranger zu stellen. Einer der Dante-Kommentatoren hat diese Umkehrung „ hübsch “ gefunden. Wenn sie alles ist, hübsch ist sie bestimmt nicht. Dante hat an einem Beispiel, das seiner Zeit und ihrer Geistigkeit nahelag, die Nase des Lesers geradezu gewaltsam auf die traurige Einsicht gestoßen, daß die größten und wunderbarsten Ideale, wenn von Menschen gehandhabt, jeden Augenblick in ihr Gegenteil verkehrt werden können. Schult weist besonders auf die detailliert durchgeführte formale Komposition hin, die den Parallelismus der beiden Gesänge unterstreicht und verstärkt. Im 200 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="219"?> Elften Gesang umfaßt die Schilderung des heiligen Franz von Assisi zusammen mit der Kritik des Dominikanerordens genauso dreiunddreißig Terzinen wie im Zwölften Gesang die Schilderung des heiligen Dominikus mit der Kritik des Franziskanerordens. Am Schluß des Zwölften Gesanges erscheint ein zweiter Kreis von zwölf Sonnen-Weisen, der von Dante sehr viel kürzer beschrieben und von Schult kursorischer kommentiert wird als der erste. Etliche der einzelnen Seelen erscheinen auch von geringerer Bedeutung, doch zweifellos ist ein zweiter Kreis von zwölf Seelen als komplementärer Gegenkreis notwendig und wichtig. Nicht nur, weil er als Gegenstück des ersten Kreises von einem großen Franziskaner angeführt und vorgestellt wird, sondern weil ihm eine besondere Funktion für den folgenden Reigen-Doppeltanz zukommt. Der Anführer dieses zweiten Kreises ist Bonaventura, und gleich nach ihm kommen zwei andere wichtige Franziskaner, Illuminat und Augustin. Illuminat ist jener Bruder, der gemeinsam mit Franziskus vor den Sultan von Ägypten hintrat, um zu versuchen, ihn zu bekehren. Augustin aber ist der erste Ordensmeister des Heiligen Franziskus. Es folgt Hugo von Sankt Viktor, der Lehrer Bonaventuras und Freund des Bernhard von Clairvaux. Der nächste ist Petrus Comestor, der aus Troyes kam und Kanzler der Universität Paris war. Der sodann folgende, Petrus Hispanus, wurde als Johannes XXI. zum Papst gewählt. Nathan, der nach ihm kommt, ist nicht nur der Prophet des jüdischen Königs David, sondern hat als solcher auch den Tempelbau vorausgesagt. Er ist in gewissem Sinn ein Gegenstück zu König Salomo im Elften Gesang. Die achte Seele ist jene des Johannes Chrysostomos, des Patriarchen von Konstantinopel, der als wirkungsvoller Prediger berühmt war. Die Dante-Forschung hat nachgewiesen, daß anstatt des nächsten Namens Anselm Ambrosius gelesen werden sollte, welcher der berühmte Bischof von Mailand war. Die zehnte Seele war die des Aelius Donatus, der nicht nur berühmter Grammatiker war, sondern vor allem auch der Verfasser einer Biographie von Vergil, die Dante geschätzt hat. Ihm folgt Hrabanus Maurus, Leiter der Domschule von Fulda und späterer Erzbischof von Mainz. Der für Dante Wichtigste ist wie im ersten Kreis der zwölfte und letzte, Joachim von Fiore. Er hatte ein Zeitalter des Heiligen Geistes und eine Geistkirche ohne Hierarchien und Sakramente vorausgesagt und war von der Kirche verurteilt worden. Er wurde nicht nur von den Templern und den Franziskaner-Spiritualen verehrt, sondern auch von Dante selbst, der sehr unter seinem Einfluß gestanden hatte. 170 Zusammen mit Joachim von Fiore ist für den Kreis natürlich vor allem der erste besonders wichtig, Bonaventura. Er stand unter dem Einfluß der Mystik sowohl des Hugo von Sankt Viktor wie des Bernhard von Clairvaux und vor allem 170 Vgl. das Kapitel Dantes Joachimismus, in: Robert John, op. cit., S. 44 - 54 201 Dantes Paradies <?page no="220"?> des Dionysios Areopagita. Papst Leo der XIII. hat ihn den „ Fürsten unter den Mystikern “ genannt, was insofern nur zum Teil stimmt, als er auch ein tiefes Verständnis für die rationalistische Scholastik besaß. In seiner Auffassung vom göttlichen Logos nähert er sich der Gnosis an, in seiner Abwehr gegen die Pariser Averroisten nähert er sich Thomas an. Er war auch insofern ein Mann der Mitte, als er zwischen den Konventualen und den Spiritualen eine Versöhnung zu finden suchte. Nachdem er nach dem Lukas-Evangelium auch über das Johannes-Evangelium geschrieben und nach dem großen Vorbild des Franziskus den Berg Alverna besucht hatte, schrieb er sein mystisches Hauptwerk Itinerarium mentis in Deum. Es zeigt, daß er auch an den Neuplatonismus, an Boethius und an Bernhard von Clairvaux angeknüpft hatte. Das Ineinander der Trinität als Lichtmetapher darzustellen ist geradezu dantesk. 171 Der Dreizehnte Gesang ist es, welcher der „ eigentliche Weisheitsgesang der Sonnensphäre “ ist. 172 Das bestätigt auch die Kompositionsform, da dreizehn die Zahl darstellt, „ durch welche der Rhythmus und die Architektur der Commedia bestimmt wird. “ 173 Robert John hat auch gezeigt, daß und warum die beiden Reigen der zwölf Sonnen-Weisen eigentlich den vierten und fünften „ Tempelring “ von je dreizehn Personen darstellen, da Dante als Mittelpunkt hinzugezählt werden muß. 174 Vom Gehalt her sind es zwei wichtige Botschaften, die der Dreizehnte Gesang für die Templergnosis bereithält. Die erste besteht darin, daß die Weisheit des Königs Salomo jener des ersten und des zweiten Adam - und der zweite ist der Christus-Logos! - an die Seite gestellt wird. Das bedeutet, daß auch Salomo ein besonderes, von Gott direkt eingegossenes Wissen besitzt, die „ scientia infusa “ der scholastischen Lehre. Die Templergnosis hatte mit ihrer Herkunft vom Tempel in Jerusalem wahrhaftig ernst gemacht. Um aber der in diesem Fall gewiß besonders heiklen Inquisition den Wind aus den Segeln zu nehmen, hat Dante für diese Sonderbehauptung eine Sondererklärung zur Hand gehabt: Er erklärt, Salomo hätte sich anläßlich seines Traumgesichts bei seinem Regierungsantritt an Gott nicht mit der Bitte am allgemeine Weisheit gewendet, sondern lediglich um das Königswissen der Regierungsweisheit, damit er sein Volk gerecht regieren könne. Salomos Zeit war tatsächlich eine Zeit des Friedens und des Wohlstands. Auch hier zeigt sich die tiefe Einsicht Robert Johns, wenn er im Kern der Templergnosis eine Glückseligkeitslehre erblickt. Wie auch die besondere Feinheit der Komposition Dantes zum Tragen kommt, der diese Mitteilung der besonderen göttlichen Weisheit Salomos ausgerechnet Thomas von Aquin in den Mund gelegt hat, 171 Vgl. I. Teil der Werke des hl. Bonaventura: Mystische und ascetische Schriften. Hg. von Siegfried Johannes Hamburger, München 1923 172 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 559 173 Robert John, op. cit., S. 172 174 Robert John, op. cit., S. 167 f. 202 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="221"?> dessen antisemitische Auslassungen in seiner Summa er nur allzu gut kannte. Dem ganz späten Thomas freilich, der infolge einer mystischen Erfahrung sein ganzes Werk verworfen hatte, wäre eine solche „ Mitteilung “ durchaus zuzutrauen. Doch da Thomas bereits verstarb, als Dante erst neun Jahre alt war, ist es überaus unsicher, ob Dante von dieser geistigen Wende gewußt hat. Die zweite, für die damalige Zeit der Dominanz theologischen Wissens kaum weniger sensationelle Botschaft des Dreizehnten Gesanges liegt darin, daß er die templergnostische Auffassung des Lanzenstiches des römischen Hauptmanns verkündet, der seine Lanze in die Seite des noch lebenden Jesus stach. Diese Auffassung wurde von der Kirche nicht zufällig auf demselben Konzil von Vienne als ketzerisch erklärt und verworfen, auf dem der Templerorden abgeschafft werden sollte. Die Botschaft ist zwar vorsichtig formuliert, doch so, daß sie unmißverständlich klar für jeden ist, der die Zusammenhänge kennt, jedoch leicht unbemerkt zu überlesen für jeden Ahnungslosen. Thomas, der damals bereits achtunddreißig Jahre tot war, hätte wahrscheinlich mit den Konzilsvätern gegen den Plan von Clemens V. gestimmt, wahrscheinlich wäre er aber auch mit ihnen über die Verwerfung der gnostischen Auffassung des Lanzenstichs mitgegangen. Zur Zeit Dantes hatte der von ihm hoch geachtete Petrus Johannis Olivi die Auffassung vertreten, daß der Lanzenstich noch als Peinigung von Jesus gemeint gewesen wäre, was von der Templergnosis übernommen worden war. Am 3. April 1312 wurde die Verwerfung der Lehre von Olivi verkündet, am 6. Mai die Aufhebung des Templerordens - ohne seine Verurteilung - durch den Papst. 175 Ein oberflächlich gebildeter oder oberflächlich lesender Zensor hätte bei Äußerungen, die von Dante dem 1323 kanonisierten Thomas in den Mund gelegt worden waren, kaum etwas Anstößiges gefunden, was immer auch seine Feinde, die Scotisten, behauptet hätten. Am Ende des Gesanges hat Dante die Namen von einigen zumindest zeitweilig berühmt gewesenen Philosophen und Theologen genannt, die er als warnendes Beispiel hinstellt, keine vorschnellen Schlüsse zu ziehen, die nur allzu leicht falsch sein und Unglück auslösen könnten. Natürlich hat er dabei an einzelne Beschlüsse des Konzils von Vienne gedacht, wenn er das auch nicht offen aussprechen konnte. Wichtig ist der Beginn des Dreizehnten Gesanges, in dem Dante ein künstliches Sternbild erfindet, das den Sonnentierkreis durch eine Ausweitung mit dem Fixsternhimmel vereinigt. Dieses Symbol steht für die allumfassende, kosmische Bedeutung der beiden (zwölf plus eins) Sternenkreise. Es begleitet den Doppeltanz der beiden Reigen der einander entgegengesetzt tanzenden Sonnen- Weisen in seiner gesamtkosmischen Bedeutung. Solcher Doppeltanz gehörte in 175 Vgl. Robert John, op. cit., S. 168 und Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 562 203 Dantes Paradies <?page no="222"?> der Antike zum Aufnahmeritual der korybantischen Mysterien, in deren Zentrum die „ Magna Mater “ Kybele, die große Muttergöttin, adäquat zu Sophia, Maria und Isis stand. In diesem Sinn bildete die Sophia-Beatrice zusammen mit dem zu initiierenden Dante den Mittelpunkt, um den sich der Doppel-Kreis-Tanz vollzog. 176 Schult verweist auf Parallelen bei den Nachtfeiern der Essener und der Therapeuten, den jüdischen Priestern beim Laubhüttenfest, dem feierlichen Einweihungstanz der Apostel nach den apokryphen Johannes-Akten. Wie er auch auf die Rolle hinweist, die ein Kreis von zwölf um einen Mittelpunkt bei den Zisterziensern, bei den Tempelherren und auch bei den Grals- und Artusrittern spielt. Der Aufbau des Gesanges ist, wie so oft bei Dante, architektonisch durchdacht. Innerhalb eines Rahmens von zehn Terzinen am Anfang (das Sternbild) und zehn Terzinen am Schluß (der Warnung vor voreiligen Schlüssen) stehen Gruppen von sieben, zwölf und schließlich acht Terzinen, wobei die Zwölfergruppe die Mittelachse bildet. Aus der Siebenergruppe vor ihr geht die Achtergruppe nach ihr hervor. Es ist ein Beispiel der Ars arithmetika der Pythagoräer. Der Vierzehnte Gesang ist auf den ersten Blick seltsam widerspruchsvoll. 177 Der „ Widerspruch “ besteht zwischen den Versen 10 - 66 und 67 - 81. Denn ab Vers 82 geht es bereits hinaus in die nächste Sphäre, die Marssphäre. In den Versen 1 - 66 wird die Auferstehung des Fleisches verkündet als die radikale Wiederherstellung des Körpers am Jüngsten Tag, die strengst mögliche Betonung eines persönlichen Individualismus. Gleich darauf tritt jedoch ein dritter Kreis von zwölf Lichtern auf, die ganz bewußt unbenannt bleiben. Sie stellen das absolute Gegenteil überindividueller Geistigkeit gegenüber der Doktrin von der individuellen Auferstehung des Fleisches dar. Dabei mußten sie doch auch ganz ungewöhnliche Geister vertreten. Es scheint so, daß Beatrices Weisheit in ihrem Vortrag über die Auferstehung des Fleisches nicht so sehr in der Wahrheit der Worte liegt, als in der Klugheit, so zu schreiben, daß die Lehre der Amtskirche zitiert wird, um ihren Autor vor der Inquisition zu schützen. Nur dadurch war es möglich, die Verse 67 - 81 schreiben zu können, ohne Verdacht zu erregen. Nachdem die ungenannten zwölf einen 176 Vgl. Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 559 177 Peter Amelung, der den Kommentar zur sehr guten Ausgabe der Commedia-Übersetzung von Wilhelm G. Hertz im Winkler Verlag schrieb (München, o. J., S. 536), ist so ratlos, daß er mit einem Drittel der Zeilen verglichen mit seinem Kommentar des vorhergehenden und nachfolgenden Gesanges auskam. Der so überaus kenntnisreiche Schult aber projiziert an einer Stelle Dinge in den Text hinein, die mit diesem nicht übereinstimmen. In den Versen 35 und 36 heißt es, daß Dante aus einem der Lichter heraus eine Stimme hörte, die „ Wie die des Engels wohl Marien tönte “ . Aus dem Erzengel Gabriel der Verkündigung macht er König Salomo, zu dem auch das von ihm Gesagte gar nicht paßt. 204 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="223"?> Kreis bilden, müssen sie schon von besonderer Art gewesen sein. Es ist höchst wahrscheinlich, daß es gnostische Engel sind. Ihre Zwölfergruppe scheint allem Anschein nach einem der wenigen gnostischen Quellentexte entnommen zu sein, der klarer und konsequenter durchgeformt als viele andere ist und in dessen Zentrum überdies das Mysterium der Liebe gestellt ist, wodurch er sowohl der ursprünglichen Botschaft von Jesus als auch Dante besonders nahe gewesen sein muß. Es ist das sogenannte Baruch-Buch des Gnostikers Justinus. 178 Nach diesem Baruch-Buch wurde das unerschöpfte All durch drei Schöpferkräfte erschaffen, von denen die beiden männlichen die Namen „ Guter “ und Elohim trugen, während die weibliche Kraft Eden hieß. Aus der Liebesvereinigung des Elohim mit der Eden entstanden zwölf männliche Engel, die Elohim zugehörten, und zwölf weibliche Engel, die Eden zugehörten. Alle diese Engel zusammen erschufen das Paradies, von dem es bei Moses (Buch I, Kapitel 2, Vers 8) heißt: „ Und Gott der Herr pflanzt einen Garten in Eden “ , was bedeuten sollte mit dem Gesicht zur Eden hin, die dem Garten Eden so ihren Namen gegeben hatte. Was die Bäume im Paradies betraf, so waren es Engel. Und der dritte väterliche Engel bildete den „ Baum der Erkenntnis “ , wissend um Gutes und Böses. Die gnostischen Engel aber waren es, die den Menschen erschufen, wobei den männlichen Engeln das Pneuma im Menschen, den weiblichen Engeln aber die Seele im Menschen zugehörte. Nach der Erschaffung der Erde schieden sich die zwölf Engel der Eden in „ vier Ursprünge “ , die untereinander vernetzt waren und die Namen von Flüssen erhielten. Die Engel der Eden, die auf der Erde die Herrschaft hatten, bewegten sich auf der Erde, wobei sie „ in kreisförmigen Reigen “ wandelten. Sie waren aber nicht auf die Erde beschränkt, sondern gehörten auch zum unteren Himmel des Paradieses, der bei Dante die sechs ersten Planetensphären einschließlich der Jupitersphäre umfaßte. Erst vom Einundzwanzigsten Gesang der Saturnsphäre an begann der obere Himmel des Paradieses, dem Elohim angehörte, der sich von Eden getrennt hatte und in das Pleroma aufgestiegen war, das dem Empyreum bei Dante entsprach. Der dritte Reigen der ungenannten zwölf Lichtgestalten im Vierzehnten Gesang besteht aus den zwölf Engeln der Eden. Hätte sie Dante bei ihrem Namen genannt, hätte er sich der Inquisition ausgeliefert. Er hat überdies in der von ihm umgearbeiteten Ordnung zum Führer Dantes zuerst die weibliche Beatrice für den unteren Himmel, und in den letzten Gesängen des oberen Paradieshimmels den männlichen Bernhard von Clairvaux eingesetzt. Die Grenze verläuft freilich erst oberhalb der siebenten Planetensphäre. Die Gestalten sind auch keine spekulativen gnostischen Erfindungen, sondern ihre Modelle waren wirkliche menschliche Gestalten, aus der Lebenszeit Dantes, wobei es hier wohl nicht mehr notwendig ist, darauf hinzuweisen, daß die Beatrice von Dantes Kindesliebe mit 178 Vgl. zum Baruch-Buch Hans Leisegang, Die Gnosis, S. 160 - 164 205 Dantes Paradies <?page no="224"?> der weiblichen Sophia der Gnosis nicht identisch war, auch wenn sie noch irgendwie in ihr steckte. Die Namen hatten die doppelte Funktion der Verschlüsselung und der Vermeidung von allzu vielen fast rein abstrakten Allegorien. Sie waren Symbole im goetheschen Sinn. Der letzte Teil des Vierzehnten Gesanges beschreibt bereits den weiteren Aufflug Dantes zur Planetensphäre des Mars. Hier spielt die Seele eines Urahns von Dante, der ein großer Krieger gewesen war, eine wichtige Rolle, doch findet das seine Steigerung im Siebzehnten Gesang, in dem die Rolle von Dante selbst als geistig-dichterischem Kämpfer für eine gerechte Weltordnung ohne Rücksicht auf die Mächtigen und nicht zuletzt auch ohne Rücksicht auf die öffentliche Meinung der Zeit in Form einer Prophetie gefeiert wird. In die Marssphäre versetzt - „ entrückt zu höherem Heile “ - , bewundert Dante den Blick auf die Sonne so sehr, daß er den antiken Sonnengott Helios anruft und auch das Wunder der Milchstraße preist, die im Convivio höchst wichtig ist und in der Macrobius sein Jenseits angesiedelt hatte. Dante erblickt das gleicharmige Kreuz über dem Kreis, und Schult erinnert daran, daß dies das alte astrologische Symbol des Mars darstellt, sicherheitshalber hier mit einer Metapher für Christus verbunden. Während im Marszeichen das Kreuz auf dem Kreis steht, verwandelt es sich sodann in Dantes Vision in einen Kreisquadranten, was bedeutet, daß das Kreuz nun innerhalb des Kreises steht, wodurch es zum astrologischen Sonnenzeichen wird. Hier kommt es zu einer tief ernsthaften Erwähnung von Christus im Zusammenhang damit, daß der Mensch die Schwere seines Lebens in der gnostischen Welt des Materiell-Bösen in der Nachfolge Christi auf sich nimmt und damit den Willen Gottes auf sich nimmt und Versuchungen, wie Leid, gefaßt erträgt. Dante betont, daß er seit dem Eintreten in die Marssphäre Beatrice und ihre mit jeder Sphärensteigerung schöner werdenden Augen noch gar nicht angesehen hatte, sonst hätten diese Augen gnostischer Weisheit auch hier alles andere überstrahlt. Der Fünfzehnte Gesang ist, wie auch die beiden folgenden Gesänge, der Marssphäre und damit der dritten der antiken Kardinaltugenden, der Tapferkeit, gewidmet. Das erste Seelenlicht, das Dante anspricht, benützt dazu ein Vergil- Zitat, das lautet: „ O du mein Blut, o überreiche Gnade Gottes, wem wurde je zwei Mal des Paradieses Pforte aufgetan? “ Erst nach der sechzehnten Terzine, nachdem Dante nach dem Namen seines Urahns gefragt hat, enthüllt dieser ihn endlich. Er ist Cacciaguida, Dantes Ur-Urgroßvater, dessen Sohn als erster den germanischen Namen Alighieri führte. Aber diese ersten sechzehn Terzinen Cacciaguidos enthalten eine großartige Schilderung des alten Florenz, das nur vom Ponte Veccio bis zum Baptisterium San Giovanni reichte. Der Gesang endet mit Cacciaguidas Bericht, daß er ein guter Kämpfer im Sinn des Mars gewesen sei. Er hatte sich dem Kreuzzug Konrads II. angeschlossen, war von diesem für seine Treue und seinen Mut zum Ritter geschlagen worden und 206 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="225"?> war zuletzt im Heiligen Land auch gefallen. Dante aber benützt diese Gelegenheit, um darauf hinzuweisen, daß dieses Heilige Land dadurch verloren gegangen war, weil sich der Papst nicht darum gekümmert hatte. Im Sechzehnten Gesang fragt Dante Cacciaguida nach dessen Alter und Geburtsjahr. Das Geburtsjahr verrät ihm der alte Krieger nach den Umlaufzeiten des Mars. Von der Verkündung Marias bis zu seiner Geburt hat sich der Mars 580-mal um die Sonne gedreht. Nach dem Almagest des Ptolemäus beträgt die Umlaufzeit des Mars 686 Tage und 22 Stunden, sodaß als Geburtsjahr 1091 herauskommt. Der Urahn zieht es vor, über die anderen Vorfahren eher zu schweigen, als zu berichten. Wenn Florenz in den letzten Generationen herabgekommen war, so war nach seiner Überzeugung die Eingemeindung der umliegenden Dörfer in die Stadt schuld daran, deren fragwürdige Bevölkerung keinen positiven Zuwachs bedeutet hatte. Er zählt dreizehn Dörfer auf und berichtet von drei mal dreizehn Geschlechtern. Zusammen mit der Sonne ist auch die Zahl des Tierkreiszeichens Mars dreizehn. Es ist natürlich auch die Templerzahl und eine Tradition berichtet, daß derjenige, der die Bedeutung dieser Zahl kennt, den Schlüssel zu Macht und Herrschaft besitzt. Nach einer Beschreibung wichtiger Florentiner Familien klingen die letzten drei Terzinen Unglück verheißend aus. In der ersten wird die Geschichte beschworen, wonach das Mars-Denkmal, das an der Arnobrücke gestanden hatte, durch ein Johannes-Denkmal ersetzt worden war. Dante war geneigt zu glauben, daß der erzürnte Mars darum Florenz um den Frieden gebracht hatte. In der letzten Terzine wird beklagt, daß in früheren Zeiten niemals das Banner der Stadt im Staub geschleift wurde, wie das nun nach verlorener Schlacht der Fall war, noch daß früher im Bruderkrieg zwischen Ghibbelinen und Guelfen die Farbe der Lilie in diesem Banner zwischen rot und weiß gewechselt hätte. Im Siebzehnten Gesang prophezeit Cacciaguida Dante seine Zukunft. Dieser bekennt von sich - ein stolzer Marsmensch - „ vierkantig genug “ zu sein, um vor bösen Schicksalsschlägen nicht zu beben. Zwei besonders denkwürdige Stellen sind die 18. Terzine und der Vers 69. In der ersten heißt es: Wie üblich nennt man schuldig den Besiegten. Vergeltung aber kommt und wird beweisen, Daß Wahrheit ist, was man verdunkeln will 179 Es ist eine Neuformulierung des berühmten antiken „ Vae Victis “ und in nur drei Versen verdichtet sie die Geschichte Dantes wie der Templergnosis überhaupt. Die Gewißheit aber, daß „ Vergeltung “ kommen wird, hängt nicht mit einer Idee menschlich geplanter und durchgeführter Rache zusammen, sondern mit der (gnostischen) inneren Sicherheit, wonach die von göttlichen Kräften durch- 179 Ausnahmsweise in der Übersetzung von Hermann A. Prietze zitiert. 207 Dantes Paradies <?page no="226"?> waltete, große makrokosmische Ordnung sich auf Dauer auch im Kleinen beweisen und durchsetzen wird. Es ist eine Vorstellung, welche die östlichen Religionen als „ Karma “ bezeichnet haben. Die zweite Stelle, der Vers 69, ist ein Lob Dantes dafür, daß er in das Exil verbannt allein für sich blieb: Daß du Partei für dich nur wolltest bleiben. Es ist die Einsicht, die durch Dantes Leben gewonnen werden kann und die Goethe einmal allgemein so ausdrückte, daß alles wesentlich Große und Wichtige das Werk von Einzelnen sei. Dante erfährt aus der Prophezeiung, daß er bald die Heimatstadt Florenz mit dem bitteren Geschick des Exils vertauschen wird müssen, daß sein erster Schutzherr Bartolomeo della Scala von Verona sein werde und daß er an dessen Hof auch Can Grande della Scala, damals noch ein Kind von neun Jahren, würde kennen lernen. Vor allem aber sagt ihm Cacciaguida seine große Zukunft voraus. Diese Prophezeiung seines Dichterruhms ist das Positivste. Dein Ruf wird brausen, eine Sturmwindsweise, Die stärker noch die höchsten Stämme rüttelt, Und das dient dir zu nicht geringem Preise. Im Achtzehnten Gesang sind die ersten achtzig Verse noch immer der Marssphäre gewidmet. Da Dante noch dem Süßen wie auch Bitteren der Prophezeiung seines Urahns nachsinnt, fordert ihn Beatrice auf, nicht trüben Gedanken nachzuhängen. Er berichtet: Und jene Frau, die mich zu Gott gewendet, Sie sprach: „ An andres denke, denk; ich weile Dem nahe, der ein jedes Unrecht endet. Das hilft ihm, zu erkennen, daß sein eigener Geist allein nicht ausreiche, um solche Weisheit der Liebe zu verstehen. Er weiß jetzt, daß er sich allein nicht helfen kann: Wenn nicht ein andrer ihm aus Gnade hilft. 180 Sodann erhält zum letzten Mal Cacciaguida das Wort, um als krönenden Abschluß der Marssphäre acht der wichtigsten Seelenlichter dieses Himmelssektors anzuführen. Da sie damit zu einem Teil jener gerechten Weltordnung werden, die Dante anstrebt, seien sie hier genannt. Gleich die beiden ersten sind Kämpfer für das Judentum: Josua, der Palästina für die Juden erobert hatte und im Grunde ein Vorläufer der Templer im Kampf um Jerusalem war, und Judas Makkabäus, der Freiheitskämpfer der Juden gegen König Antiochus IV. von 180 Dieser Vers 12 wird noch einmal in der Übersetzung von Prietze zitiert. 208 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="227"?> Syrien, in dessen Herrschaftsgebiete sie lebten, der sich selbst als Gott ausrufen ließ und den jüdischen Glauben zu unterdrücken versuchte. Die beiden nächsten sind Karl der Große und sein Mitkämpfer Roland. Karl war zweifellos ein Vorkämpfer des Christentums und auf Grund der ursprünglichen Quelle von Karls Biographen Einhard war das auch Roland. Aber zeitweilig war Roland auch ein Gegensymbol zur kirchlichen Herrschaft, und im Mittelalter standen Rolandstatuen als Sinnbild der Eigenständigkeit der Städte mit Marktrecht und eigener Gerichtsbarkeit für Freiheit. Dazu gesellte sich das Sinnbild der Gerechtigkeit. In der italienischen Literatur der Renaissance ist er freilich der kämpferische Held auf Seite Karls. Wieder die beiden nächsten sind Guillaume d ’ Orange und Renvardus (oder Rainouart oder Rennewart). Mit seinem Guillaume d ’ Orange meint Dante kaum die literarische Heldenfigur, die aus dreizehn verschiedenen historischen Guillaumes zusammengesetzt ist, sondern den Grafen von Toulouse (nach anderen der Provence), einen Mitkämpfer Karls des Großen gegen den in Europa eingefallenen, aggressiven Islam. Er steht zu einem Paar vereint mit jenem Rionardo, der ein Heidenkind von hoher Geburt war, das Karl der Große Räubern abgekauft hatte und das er gemeinsam mit seiner Tochter Alice erziehen ließ. Er lehnte die Taufe ab, worauf er zum Küchenjungen degradiert wurde. Herangewachsen, wurde er ein tapferer und berühmter Krieger, der in die Dienste des Guillaume d ’ Orange trat und seine Kindheitsgefährtin Alice heiratete. Zuletzt ging er - wie Guillaume selbst - in ein Kloster, sodaß er wohl die Taufe nachgeholt haben mußte. Die beiden letzten großen Mars-Gestalten sind Gottfried von Bouillon, der durch seine Tapferkeit bei der Einnahme von Jerusalem sich so ausgezeichnet hatte, daß man ihn zum König vorschlug, und Robert Guiscard, der Gründer eines Normannenstaates, der Unteritalien und Sizilien von der Herrschaft der Moslems befreit hatte. Zählt man zu den acht genannten Cacciaguida als Mars-Gestalt hinzu, erhält man die Zahl, die, auch nach der astrologisch-kabbalistischen Theorie, die Zahl des Mars ist. Die zweite Hälfte des Achtzehnten Gesanges führt bereits in die Sphäre des Planeten Jupiter, dessen weißliches Licht das rötliche des Mars ablöst. Himmlische Lichter formen im Fluge Buchstaben, aus denen sich zuletzt die Worte bilden: „ Digite Justitiam Qui Judicatis Terram “ , das ist „ Liebet die Gerechtigkeit, die ihr die Erde richtet “ . Denn die Gesänge über die Jupitersphäre sind der letzten und höchsten antiken Kardinaltugend, der Gerechtigkeit, gewidmet. Ein eigener neuer Musenanruf gilt Euterpe, die zunächst als Muse der Musik und der lyrischen Poesie galt, in spätrömischer Zeit besonders der Lyrik und dem Flötenspiel und im Mittelalter auch noch der Orgel. Zuletzt konzentrieren sich die fliegenden seligen Seelen auf den letzten Buchstaben der Inschrift „ M “ und als sie endlich still stehen, sind aus dem 209 Dantes Paradies <?page no="228"?> M Kopf und Hals eines Adlers geworden. Stand das M als Anfangsbuchstabe für die universale Friedens- und Welt-Monarchie, so der Adler für das Sinnbild Jupiters und der Gerechtigkeit. Für Dante ist es Gott selbst, der den Flug der Seele zu dieser Bilderschrift leitet. Er nimmt es als Zeichen, daß die menschliche Gerechtigkeit vom Himmel stammt, und er endet mit dem Wunsch nach einer zweiten Tempelreinigung und mit der Anspielung auf den nicht genannten, doch deutlich gemeinten Papst Johannes XXII., dem Dante zu Recht vorwirft, durch den Mißbrauch seiner päpstlichen Gewalt persönlichen Reichtum angehäuft zu haben. Durch Handel mit Kirchenämtern und päpstlichen Ablässen hinterließ er bei seinem Tod ein Vermögen, das auf dreiunddreißig Millionen Goldgulden geschätzt wurde. Dante merkt, wie sein Wille zum „ Gutestun “ zusammen mit seiner Freude zunehmend wächst. Der Adler spricht zu ihm und erklärt ihm: „ Gerecht sein heißt: Einklang mit IHM zu erstreben. “ Schult aber belegt durch zwei Zitate im Zusammenhang mit der Botschaft des Adlers, daß die Erlösung von der historischen Tat des Jesus unabhängig ist. Er zitiert zuerst das Wort des Bernhard von Clairvaux: „ Denn sein (Christi) Tod hat Erlösung gespendet, ehe er irdische Wirklichkeit geworden ist. “ Und sodann das Wort der Offenbarung des Johannes von dem „ Lamm, das geschlachtet ist seit Urbeginn der Welt “ . Schult schlußfolgert daraus: „ Die Gegenwart und Liebe Gottes werden zu allen Zeiten bei allen Völkern offenbar. “ 181 Ja, er geht sogar noch weiter: „ Wollte man die Heilsmöglichkeit des Christentums auf die alt- und neutestamentarische Offenbarung “ im Sinn eines Fundamentalismus einengen, dann würde der größte Teil der Menschen der Hölle überantwortet; und eine solche christliche Lehre verdiente die häßlichen Namen, die ihr die größten Gegner unter den modernen Philosophen gegeben haben, sie wäre in der Tat „ keine Religion der Liebe, sondern eine ‚ Metaphysik des Henkers ‘ (Nietzsche), kein Monotheismus, sondern ein ‚ Monosatanismus ‘ (Eduard von Hartmann). “ 182 Wenn den Abschluß des Achtzehnten Gesanges eine heftige Verurteilung der Kirche und des Papsttums bildet, so bildet den Abschluß des Neunzehnten Gesanges eine Aufzählung von negativen weltlichen Monarchen, um den Gegensatz der idealen gerechten Weltordnung, um die es Dante in seiner Dichtung geht, von der entarteten wirklichen „ Weltordnung “ sichtbar zu machen. Er listet folgende Monarchen auf: Kaiser Albrecht I., Philipp IV. von Frankreich, Robert von Schottland, Eduard I. von England, Ferdinand IV. von Kastilien, Wenzel IV. von Böhmen, Karl II. von Anjou, Ferdinand II. von Kastilien, Friedrich II. von Aragon, Jacob II. von Mallorca, Dionys von Portugal, Haakon VII. von Norwegen, Stephan Uros II. von Serbien und Heinrich II. von Zypern. 181 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 611 182 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 611 210 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="229"?> Es mag überraschen, auf der Liste Robert Bruce von Schottland zu finden, der die geflohenen Templer freundlich aufgenommen hatte, und Dionys von Portugal, der den Templerorden in Portugal nicht nur nicht verfolgte, sondern einfach umtaufte und unter dem neuen Namen weiter unterstützte. Es ist dem Templeradepten Dante zuzutrauen, daß er nicht nur das wußte, sondern daß er auch von dem neuen Untergrund-Großmeister des französischen Templerordens und Nachfolger von Jacques de Molay Kenntnis hatte und zudem wußte, daß dieser alle Fortführungsversuche der Templer außerhalb Frankreichs, und das heißt außerhalb seiner eigenen Oberhoheit, als Verrat am ursprünglichen Orden abgetan hat. Im Zwanzigsten Gesang werden zuerst offenkundig als eine Art Ausgleich zu den ungerechten Monarchen sechs besonders gerechte Gestalten vom Adler Dante vorgeführt, von denen fünf Monarchen waren. Die beiden ersten sind der jüdische König David und der römische Kaiser Trajan. Die biblischen Berichte zeichnen die Zeit Davids als eine ideale Zeit. Auch war er der Sänger der Psalmen. Trajan aber hielt die Gerechtigkeit so hoch, daß er einen Kriegszug verschob, nur um einer armen Witwe zu ihrem Recht zu verhelfen. Ezechias (oder Hiskia), König von Juda, hatte die Altäre der falschen Götzen zerstört und den Tempel wieder eröffnet. Konstantin aber wurde von Dante als Herrscher so geschätzt, daß er ihm nicht einmal die Konstantinische Schenkung nachtrug, obwohl er sie für das Krebsübel der verheerenden Weltentwicklung hielt. Dante muß ein echter Visionär gewesen sein, denn es dauerte nicht mehr lange, bis diese „ Schenkung “ als Fälschung nachgewiesen wurde. Wilhelm von Sizilien trug den Beinamen „ der Gute “ nicht umsonst, da sein Tod vom Volk besonders bitter beklagt wurde. Der letzte von ihnen, der Trojaner Ripheus, war kein Herrscher, und von ihm wird noch ausführlicher die Rede sein. Alles in allem sind zwei der sechs Christen, zwei Juden und zwei Vertreter der klassischen Antike. Alle sechs zusammen befinden sich als Lichter in der Pupille oder der Augenbraue des Jupiter-Adlers der Gerechtigkeit. Da Dante ganz überrascht ist, unter den sechs auch zwei „ Heiden “ zu finden, zu denen nach ihm die Juden nicht gehören, stößt er den Ausruf aus: „ Wie kann das geschehen? “ Constantin Sauter gebraucht als Erklärung in seinem Kommentar zum Vers 137 etwas unbedacht den Begriff „ Prädestination “ . 183 Davon kann weder bei Aristoteles noch bei Thomas noch bei Dante die Rede sein. Letzterer betont die menschliche Willensfreiheit wiederholt und mit großem Nachdruck. Wie konnte es aber wirklich geschehen? Darum sei zuerst ein Blick auf die beiden ausgewählten „ Heiden “ geworfen. Bei Kaiser Trajan war Dante gut abgesichert. Denn der heilige Gregor hatte sich die Gnade erbeten, Gott 183 Constantin Sauter: Anmerkungen zum Paradiese. In: Dante: Die Göttliche Komödie. Freiburg im Breisgau o. J. (1921), S. 680 211 Dantes Paradies <?page no="230"?> möge Trajan nach seinem Tod noch einmal seinen Leib zurückgeben, damit er die Taufe nehmen und als Christ sterben könne. Er spielt direkt auf diese Version aus Trajans Leben an. Etwas prekärer sieht es mit Ripheus aus, der als Bürger von Troja Jahrhunderte vor Christus noch nichts von diesem hatte wissen können. Vergil nennt ihn in seiner Aeneis (II, 426 - 428) den gerechtesten aller Trojaner und einen einmalig überzeugten Bewahrer gerechter Gleichheit für alle. Doch die antiken Götter entschieden gegen ihn und so war er dazu verurteilt, im Kampf um Troja zu fallen. Wenn ihn aber die heidnischen Götter so ungerecht im Kampf um Troja zum Tod verurteilt hatten, eine wie großartige Wiederherstellung der Gerechtigkeit war es dann, wenn der christliche Gott ihn sogar ohne Taufe in den Himmel erhob. Das hat einen Heros der Gerechtigkeit wie Dante und ein geradezu göttliches Sinnbild der Gerechtigkeit wie den Adler genug begeistert, ihn so hoch aufsteigen zu lassen. Um aber der Inquisition ihr Recht nicht streitig zu machen, wird Ripheus so geschildert, daß er in Abneigung gegen den heidnischen „ Irrwahn der Völker “ und in heißer Sehnsucht nach Erlösung gelebt hätte. Trotzdem hängt diese Seligsprechung an einem sehr dünnen Faden, den zu spinnen zudem großes Geschick gehört hat. Dante aber hat es fertig gebracht. Die ausschlaggebenden Verse lauten: Regnum coelorum kann Gewalt erleiden Von heißer Liebe und lebendiger Hoffnung, Wo Gottes Wille wird besiegt von beiden. Nicht wie der Mensch dem Menschen unterliege, Sie siegen nur, weil er besiegt sein möchte, Und so besiegt durch seine Liebe siegt. Man beachte die Feinheiten: nicht Gott kann Gewalt erleiden, sondern das Regnum coelorum. Wenn aber Gottes Wille besiegt erscheinen sollte, dann ist das eine Täuschung, denn Gott weiß, daß er seiner Liebe, um die es ihm zu tun ist, nur durch äußerliches Besiegt-Werden zum Sieg verhelfen kann. Tatsächlich hat Gott diese Anstrengung aber nur unternehmen müssen, damit das kirchliche Sakrament der Taufe überwunden werden kann, zu dem in der Regel alle „ drei Frauen “ (Vers 127), Liebe, Hoffnung und der Glaube an die Offenbarung, notwendig sind, welch letztere hier abwesend ist. Die ist aber bei Neugeborenen gewiß auch nicht gegeben. Der Gesang endet jedenfalls damit, daß Dante bemerkt, wie die beiden Lichter, die in der Braue des Adlers die Seelen Trajans und des Ripheus versinnbildlichen, blinken und sich zustimmend heben und senken. Der Einundzwanzigste Gesang bringt nach der Vollendung der vier Kardinaltugenden, die auf aktives Handelns zielen, den Aufstieg in den oberen Teil des Himmels, dessen siebente Saturnsphäre der kontemplativen Versenkung gewidmet ist. Das zielt auf die höchsten Formen innerer Erleuchtung. In einem der 212 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="231"?> blendendsten Abschnitte seines Buches, der Einführungsseite in diesen Gesang, hat Schult auseinandergesetzt, wie die moderne Tiefenpsychologie nicht nur verschiedene Bewußtseinsformen unterscheidet, von der Schicht des bekannten rationalen Wachbewußtseins über die Schicht des persönlichen Unbewußten bis zur Schicht des kollektiven Unbewußten. Das Öffnen dieses individuellen mikrokosmischen Inneren des Einzelmenschen entspricht zugleich einer ebensolchen graduellen Entwicklung des makrokosmischen Überbewußtseins, von der niederen Ebene des kosmischen Bewußtseins bis hinauf zur Ebene des überkosmischen Bewußtseins. Diese beiden Entwicklungsmöglichkeiten ergänzen in komplementärer Weise einander. Dante beschreibt in grandiosen dichterischen Bildern die Entwicklung des Überbewußseins durch den Aufstieg in die siebente Himmelssphäre und damit zugleich das Vordringen zum innersten göttlichen Selbst im Menschen und damit zum Urbild des Menschen, womit diese Traumwanderung ins „ Jenseits “ Hand in Hand geht. „ Das Immanente ist zugleich das Transzendente “ , heißt es da, „ und umgekehrt. “ 184 Der Aufstieg des Einundzwanzigsten Gesanges ist der Aufstieg in die äußerlich gesehen menschenfernsten der bisher geschilderten Planetensphären und zugleich damit zur Öffnung der Einsicht in das tiefste Innere des Menschen. „ Die Tiefen unseres eigenen unbewußten Seelenlebens spiegeln die Höhen und Weiten der übersinnlich-kosmischen Sphären wieder. “ 185 Die Kontemplation stellt mit ihrer vollständigen äußeren Ruhestellung und ihrem Schweigen keineswegs eine negative Seite der vorangegangenen aktiven Kardinaltugenden dar, sondern ist die Voraussetzung und erste Stufe über die Schwelle zu innerer Erleuchtung. Darum wurde der Saturn in der griechischen Antike auch als die Schwelle zur Pforte des Goldenen Zeitalters betrachtet, als sinnbildliche Darstellung des Paradies-Zustandes der ursprünglichen Einheit von Ich und Welt, wie er durch Meditation wiedergewonnen werden kann. Damit vollzieht sich in diesem Gesang auch jene Form der „ Wiedergeburt “ in diesem Leben, wie sie C. G. Jung von drei anderen Formen der Wiedergeburt abgesetzt hat. 186 Es ist die Wiedergeburt sensu strictori, die Wiedergeburt innerhalb des eigenen Lebens. Es ist ein Individuationsvorgang, der zur Erfahrung der Transzendenz des Lebens führt. Nach Jung wird im Mysteriendrama „ diese Transzendenz des Lebens gegenüber seinen jeweiligen konkreten Erscheinungsformen meist durch die Wandlungsschicksale - Tod und Wiedergeburt - eines Gottes oder göttlichen Helden dargestellt. “ 187 In der Mystik und Gnosis geht es dabei um die echte Erfahrung der göttlichen Natur des eigenen Seelenkerns durch 184 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 624 185 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 624 186 C. G. Jung: Die verschiedenen Aspekte der Wiedergeburt. In: Eranos Jahrbuch. Jg. 1946, Zürich, S. 403 187 C. G. Jung, op. cit., S. 406 213 Dantes Paradies <?page no="232"?> seine Verbindung mit dem großen, göttlichen Pleroma. Es ist ein Akt, der keinen Glauben voraussetzt, sondern eben als ein gnostisches Wissen konkret und empirisch vollzogen werden kann. Dabei gibt es vom totalen Nachvollzug bis hinunter zur unbewußten äußerlichen Teilnahme durch bloße Gegenwart beim heiligen Vorgang eine ganze Reihe von Abstufungen. Meister Eckhart, der große christliche Mystiker, spricht von „ scintilla “ , dem Seelenfunken, „ der so lauter und so hoch ist, daß darin keine Kreatur sein mag, sondern nur Gott allein wohnt mit seiner göttlichen Natur “ . Isaak Luria im jüdischen Kabbalismus und Ibn Arabi im islamischen Sufismus beschrieben das Gleiche. Die Samadhi-Erfahrung der vedantischen Tradition im Hinduismus und die Satori-Erfahrung im Mahayana-Buddhismus sind direkte Parallelen dazu. Als aber Li-Orl in der Sternstunde seines Lebens das All-Eine erfuhr, wurde er durch die Seligkeit des Erwachens zu seinem tiefsten Selbst Lao-Tse und der Begründer des Taoismus. Der Einundzwanzigste Gesang stellt durch diese innere Erleuchtungserfahrung auch die entscheidende Wende im gnostischen Sinn dar. Zum „ siebenten Glanzgestirn erhoben “ , in den siebenten Himmel eingegangen, beschreibt Dante folgendes: Sah ich von Goldesfarbe, die durchsonnte Ein Lichtstrahl, eine Leiter solcher Höhe, Daß ihr mein Augenlicht nicht folgen konnte. Es ist das Sinnbild der in den Himmel führenden Jakobsleiter, das Sinnbild des Durchbrechens des gnostischen Sperrkreises zwischen dem Dunkel der materiellen Welt und der Lichtsphäre des Göttlichen. In der Templergnosis von Dantes Commedia liegt dieser Sperrkreis zwischen der siebenten Planetensphäre und dem Fixsternhimmel. Die Leiter aber führt durch alle diese Sphären bis hinauf zum Empyreum. Die Leiter ist von einem Lichtstrahl durchsonnt und die Lichtmetaphorik beherrscht den ganzen Gesang, da weit über die Gnosis hinaus, ja weltweit in allen Traditionen, die Erfahrung des Erreichens jener Bewußtseinsstufe mit Erleuchtung gleichgesetzt wird. Mit der Saturnsphäre ist dabei eine echte, frühe, jedoch keineswegs die letzte und höchste Stufe der Erleuchtung erreicht. Die Lichtseele, die Dante hier begrüßt, ohne vorerst ihren Namen zu nennen, ist von höher oben die heilige Leiter heruntergestiegen. Sie erklärt Dante, daß nicht einmal der allerhöchste, der „ höchstverklärte Seraph “ wirklich Gott gleich sei, diesem Absoluten, das von keinem irdischen Auge oder Verstand erkannt werden könnte. Darum rät er Dante, nach seiner Rückkehr in die Welt den Menschen zu verkünden, daß sie sich nicht anmaßen sollen, zu „ solch hohem Ziel den Fuß zu heben “ . Aus diesem Grund haben die Griechen oftmals die Moira, das Schicksal, über die Götter gestellt. Darum ist auch in der ältesten Phase jüdischer Mystik, der Merkaba-Mystik, nicht von einer Vereinigung des Seelenfunkens mit Gott die 214 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="233"?> Rede, sondern das Äußerste, was Menschen möglich ist, besteht im Erschauen des leuchtenden Thronwagen Gottes. Die Lichtgestalt von oben spricht noch eine weitere Warnung an Dante aus: Der Geist, hellflammend hier, wird Rauch auf Erden; Drum sieh, ob es dort unten fassen könnte, Was ihm im Himmelsraum nicht klar kann werden. Das zwingt Dante zu Bescheidenheit, und so fragt er „ demutsvoll “ nach dem Namen der Lichtseele. Es ist Benedikt von Nursia, der als der Begründer des Mönchstums im Westen gilt, daneben auch als Begründer der klösterlichen Pflege, als Heiler, Friedensstifter und seit 1964 als ein Patron Europas. Was ihn Dante aber besonders nahebrachte, war die Bedeutung, die Joachim von Fiore Benedikt verliehen hatte. Wie schon erwähnt, bestand das Hauptmerkmal von Joachims Concordia Novi et Veteri Testamenti in seiner Weltauffassung einer Lehre von drei aufeinander folgenden Weltepochen, die jeweils 42 Generationen dauerten. Die erste war Gott Vater, die zweite dem Sohn, die dritte dem Heiligen Geist zugeordnet. Diese dritte sollte gerade jetzt, um die Zeit Dantes, beginnen und war dem Mönchstum zugeordnet. Auf diese dritte Weltzeit hatte Joachim seine Hoffnung auf eine Geistkirche gebaut. Natürlich waren die Perioden nicht abstrakt voneinander abgehackt, sondern überlagerten sich. Die dritte Weltperiode fand ihre erste Ankündigung bereits mitten in der zweiten und dieser Frühbeginn der für das Christentum so wichtigen Epoche war von Joachim mit der Gründung des Klosters Monte Cassino im Jahr 529 angesetzt worden. Der Gründer dieses Klosters, zugleich der Gründer des Benediktinerordens und Verfasser der Regula Benedicti, war kein anderer als Benedikt von Nursia, die erste Gestalt, die in diesem so besonders wichtigen Einundzwanzigsten Gesang Dante gegenüberstand. Die Regula Benedicti enthielt eine allegorische Beschreibung der Himmelsleiter, um den kontemplativen Charakter des Ordens zu unterstreichen, ganz wie es zur Saturnsphäre gehörte. Dazu kommt noch für den Templer Dante, daß der Zisterzienserorden eine Art verschärfter Benediktinerorden war, und die Gründung des Zisterzienserordens den unmittelbaren wirklichen Anbruch der dritten Weltzeit ankündigte. Dadurch erhielt Bernhard von Clairvaux, durch seine überragende Wichtigkeit als eine Art zweiter Gründer der Zisterzienser, eine geradezu ungeheure Wichtigkeit und für Dante eine doppelte, da er auch der eigentliche Gründer der Templer gewesen war. Freilich hatte auch Benedikt nicht seinen Orden und dessen Regel ganz aus dem Nichts heraus geschaffen, sondern hatte auf der Mönchsregel des Basileus von Caesarea von der orthodoxen Ostkirche als wichtiger Vorlage aufgebaut. Sie stammte bereits aus dem 4. Jahrhundert. 188 188 In neuerer Zeit wird die Existenz von Benedikt überhaupt angezweifelt. Einzelne Historiker glauben, ein Benediktiner hätte sich als Pseudonym den Namen Gregors des Großen 215 Dantes Paradies <?page no="234"?> Zuletzt übt der heilige Benedikt heftige Kritik an der Verweltlichung der Priester und ganz besonders an der Verkommenheit kirchlicher Würdenträger. Während dieser Strafpredigt kommen viele Lichter die Leiter herab, sprühen Funken und brechen am Ende dieser Anklage in einen betäubend dröhnenden Ruf der Zustimmung aus. Der Zweiundzwanzigste Gesang beginnt mit dem Schrecken, den dieser donnernde Lärm Dante eingejagt hat. Doch Beatrice belehrt ihn, daß er im Himmel sei, daß hier alles in guter Absicht geschieht und daß er nicht nur an ihrem Lächeln lernen und innerlich wachsen soll, sondern auch an dem Schrei der Empörung, der die göttliche Rache heraufbeschwören würde, wie er sie noch vor seinem Tod erleben würde. Vom Autor Dante gemeint war das Erstehen eines machtvollen Kaisers, welcher der Verkommenheit der Kirche ein Ende setzen würde. Erst sechshundert Jahre nach dem Tod wurde sein Traum vom Ende des Kirchenstaates wahr durch die drei großen Führer der Revolution, welche die nationale Einigung Italiens durchführten und eine konstitutionelle Monarchie einsetzten. Einer von ihnen, Garibaldi, war Freimaurer und hat bewußt die Templerfarben zur Nationalflagge von Italien gemacht. Beatrice fordert Dante auf, sich wieder den anderen zuzuwenden, und so steht er denn dem am hellsten strahlenden Licht von vorher gegenüber, das sich nun als Benedikt von Nursia zu erkennen gibt. Benedikt berichtet ihm in knappen Worten die Geschichte der Gründung des Klosters Monte Cassino, wo nach der Vita Benedicti vordem ein Tempel des Apollo gestanden hatte, der durch das Kloster ersetzt worden war. Benedikt stellt auch zwei der neben ihm stehenden Lichter vor: Makarios von Alexandrien und den heiligen Romuald. Nach Benedikt haben Makarios wie Romuald auf ein der Kontemplation gewidmetes Leben der Mönche gesehen, wie sich bei den Benediktinern, solange seine Regel befolgt wurde, auch niemand in weltliche Geschäfte eingemischt hatte. Hier war die Trennung von Kreuz und Adler ganz nach Dantes Wunsch durchgeführt gewesen. Makarios war ein Schüler des Einsiedlers Antonius in Ägypten und wichtig für das Mönchstum der Ostkirche. Romuald war zunächst in das Benediktinerkloster Sant ’ Apollinare bei Ravenna eingetreten, war zwischendurch Einsiedler in den Pyrenäen, wieder in Sant ’ Apollinare und wieder Anachoret. Er gründete etliche Klöster und wurde schließlich wieder selbst Mönch in dem von ihm gegründeten Kloster Monte di Camaldoli nördlich von Bibbiena, in dem er Teile des ägyptischen Einsiedlertums mit der Benediktinerregel verband. Dante hat ihn zweifellos nicht zuletzt deshalb ausgesucht, weil er nach einer Gründerlegende im Traum die Himmelsleiter gesehen hatte. In künstlerischen Darstellungen wird arrogiert und unter diesem falschen berühmten Namen die heute fast ebenso berühmte Biographie Benedikts geschrieben. Diese Zweifel sind aber erst sieben Jahrhunderte nach Dante aufgetaucht, für den der heilige Benedikt eine Gewißheit war. 216 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="235"?> Romuald einmal als Einsiedler und einmal als Kamaldulensermönch gezeigt und besonders oft mit den Attributen eines Buches, eines Totenkopfes und wiederum der Himmelsleiter. Dante ist so ergriffen, daß er Benedikt bittet, er möge sich ihm in seiner früheren Gestalt „ in unverhülltem Bilde “ zeigen. Diesen Wunsch kann ihm Benedikt aber erst im Empyreum erfüllen. Dafür bricht er in Klagen über die Entartung des Mönchstums in späteren Zeiten aus. Die Mauern, die seinerzeit als Abtei dienten, sind jetzt zur Spelunke geworden. Wie auch die Kirche nicht Vermögen horten sollte oder aber Geld an Verwandte und schlimme Anhänger, sondern an Arme geben sollte. Aber höchstens Gott selbst könnte mit so viel Habgier des Klerus fertig werden. Denn nur wirkliche Wunder, wie den Jordan aufwärts fließen zu lassen oder das Meer für den Durchzug der Israeliten zu teilen, wären notwendig, um den Klerus zu bändigen. Dann verschwindet Benedikt mit seiner Schar, welche die Leiter hinauf wie ein Wirbelwind fliegt. Beatrice gelingt es, durch ein Zeichen auch Dante auf die Leiter zu bringen, deren Kraft ihn so schnell emportreibt, daß ihm gar nicht klar wird, wie es geschah, plötzlich im Fixsternhimmel zu sein. Die Darstellung des Aufenthalts hier beginnt mit vier Terzinen, die Dantes eigenes Horoskop beschwören. Dabei zeigt sich, daß er in den Fixsternhimmel in derselben Gestirnsstellung aufsteigt, wie sie zu seiner Geburtsstunde bestanden hatte. Sonne, Merkur und Saturn standen im Zwillingszeichen, das zugleich Aszendent des Horoskops war. Durch seinen Glauben daran mag es für den Astrologen Dante zutreffen, daß er dieser Konstellation der Sterne „ alles verdankt “ , was er „ an Geist, wie viel es sei, errungen “ . Beatrice reißt ihn aus seinen astrologischen Überlegungen mit dem Hinweis, er sei jetzt so nahe „ der letzten Gnadenquelle “ , daß er eine Schärfung seiner Augen brauchen könnte. Aus diesem Grund soll er hinunterschauen auf jenen Teil des Universums, den sie hinter sich gelassen hatten. Dabei wird es klar, daß es Beatrice nicht nur um eine Schärfung der Augen, sondern auch des Geistes geht. Denn als Dante seinen Blick von den Sternbildern abwendet und zurückschaut, erblickt er den winzig gewordenen Globus der Erde, und durch solche Bewußtmachung der ungeheuren Größe des Makrokosmos und seiner Ordnung relativiert sich die Wichtigkeit des Irdischen auf eine ähnliche Winzigkeit. Wie bei Dante alles genau durchdacht und geplant ist, so ist es auch kein Zufall, daß der Gesang mit einer Art „ Familienschau “ der antiken Götter abschließt. Nach Erwähnung des Gründungsjahres des Klosters Monte Cassino 529, dem Jahr, in dem die platonische Akademie in Athen geschlossen wurde, und nach so viel Lob des Mönchstums, das wiederum in Monte Cassino einen Apollotempel durch ein Kloster ersetzt hatte, sollten die antiken Götter, auch wenn sie der Vergangenheit angehörten, nicht noch nachträglich durch konfessionellen Haß verfolgt, sondern in geradezu familiäre Nähe gebracht werden, um so mehr, als diese Götter wie die Antike überhaupt in der Commedia 217 Dantes Paradies <?page no="236"?> durchgehend eine so wichtige und positive Rolle spielen, daß sich im Grunde bereits die Renaissance ankündigt. Darum erscheint nunmehr Jupiter zusammen mit Sohn und Vater, das heißt mit Mars und Saturn, die Sonne erscheint als Sohn des Hyperion, der Mond als Tochter der Latona. Maja und Dion sind die Eltern von Merkur und Venus. Es ist zugleich ein freundlicher Abschied von der Planetensphäre und ein meisterhafter Übergang zu Größerem hin, zum Fixsternhimmel hin. Im Dreiundzwanzigsten Gesang muß Beatrice Dante extra auffordern, nicht den Himmel, sondern „ die Schar von Christi Sieg “ anzusehen, die er sonst übersehen hätte. Nicht auf Christus weist sie ihn hin, sondern auf die „ Schar “ seines Sieges. Als er nun auch Christus selber ansehen will, ist das grelle Licht dieser „ Substanz “ so groß, daß er es nicht aushält, sondern wegschauen muß. Den Substanzbegriff hat Dante dem Hebräerbrief (11,1) entlehnt, wo es heißt, es sei der Glaube, der die „ Substanz gehoffter Dinge “ bilde. Der Glaube aber hat mit gnostischem Wissen nichts zu tun. Die Stelle war gut genug verschlüsselt, daß Dante hoffen konnte, sie werde von den Eingeweihten zwar sofort verstanden, von Uneingeweihten aber als harmlos überlesen. Beatrice, das heißt das Sinnbild der Templergnosis selbst, macht Dante sodann darauf aufmerksam, daß „ hier “ , und das bedeutet im Fixsternhimmel, die Weisheit und Macht gegeben sind, die „ Bahn . . . zwischen Himmel und Erde “ herzustellen, und das heißt wieder den gnostischen Sperrkreis zwischen dem göttlichen Licht und der Welt materieller Finsternis zu überwinden. Um das ja ganz deutlich zu machen, fordert sie ihn auf: „ Tu auf die Augen, schau wie ich beschaffen. “ Dieses „ ich “ ist die Templergnosis, die zwischen bloßem Glauben und gnostischer Erkenntnis wohl zu unterscheiden versteht. Das aber leitet auch über zum wirklichen Höhepunkt des Gesanges, denn im Unterschied zum Eindruck der Schar von Christi Sieg wendet er sich jetzt dem Lächeln Beatrices zu. „ Wenn aller Zungen Wohlklang jetzt beschäftigt “ , damit meint er alle Dichter überhaupt, und dazu noch „ Polyhymnia “ , die Muse der Hymnen, „ samt ihren Schwestern “ , also allen anderen Musen, so könnten sie alle zusammen nicht ein Tausendstel der Wahrheit übermitteln, um diesem „ heiligen Lächeln “ „ gerecht zu werden. “ Dieses heilige Lächeln schafft nicht nur Bewunderung für Beatrice, sondern schuf auch „ Klarheit “ , was das Bild der „ Substanz “ von Christus betrifft. Es hat nichts zu tun mit dem zynischen Lächeln der Auguren, sondern eher mit dem Weisheitslächeln Buddhas. Beatrice weiß das natürlich: „ Macht dich mein Antlitz so in Liebe glühen? “ Er ist so sehr im Anblick dieses Lächelns versunken, daß sie ihn auf den Garten der Seligen hinweisen muß. Die „ Substanz “ Christi ist bereits verschwunden, doch seine „ Scharen “ sind noch da: Maria unter dem Symbol der Rose und die Apostel als Lilien. 218 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="237"?> Der Erzengel Gabriel schwebt in Gestalt eines Lichtkranzes herab und umkreist Maria, wobei er den Wunsch äußert, sie möge ihrem Sohn hinauf ins Empyreum folgen, um es „ noch göttlicher “ zu machen. Hier braucht Dante nicht wegzuschauen, sondern seine Augen folgen ihr mit solcher Aufmerksamkeit und Hingabe, daß sie zuletzt erlahmen. Maria war ja die Schutzpatronin des Ordens und von Jacques de Molay auf dem Scheiterhaufen wird glaubhaft überliefert, daß er seine Henker bat, ihn im Feuer so zu drehen, daß sein Blick auf die berühmte Kirche Notre Dame de Paris fiel. Am Ende des Gesanges steht der feierliche Chorgesang des Hymnus „ Regina Coeli “ . Hier im Kontext der Commedia ist dieser Titel natürlich mehrsinnig. Denn der Autor Dante weiß nur allzu gut, daß auch Isis als Weltmutter zusammen mit dem Fixsternhimmel abgebildet wurde, ja daß die Sumerer in ihrer Bilderschrift ihre Urmutter als Achtstern versinnbildlichten. Der Chorgesang findet in der achten Sphäre des Paradieses statt. Der Vierundzwanzigste, Fünfundzwanzigste und Sechsundzwanzigste Gesang gehören in einem gewissen Sinn inhaltlich zusammen und der Siebenundzwanzigste beginnt zumindest mit einer teilweisen Schlußfolgerung zu den vorherigen drei Gesängen. Dante trifft hier auf die drei Apostel Petrus, Jakobus und Johannes und wird von jedem von ihnen in einem eigenen Gesang über die drei göttlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe geprüft. Seine Erklärungen bilden eine Art Ergänzung zu den vier weltlichen Kardinaltugenden, die in den sieben Planetenkreisen abgehandelt wurden. Die Auswahl der drei Apostel ist wie immer nicht nur sorgfältig durchdacht und geplant, sondern auch symbolträchtig. Es waren gerade diese drei, die Jesus auf den Berg der Verklärung begleiteten, die Zeugen der Wiedererweckung von des Jaïrus Tochter wurden und der letzten Stunden von Jesus im Garten Gethsemane. Dante waren sie so wichtig, daß er seinen drei Söhnen ihre Namen gab. Alle drei Begebenheiten des Auftretens der drei sind nämlich von der Perspektive der Templergnosis her wichtig. Als diese drei Apostel Jesus auf den Berg der Verklärung begleiteten (Matthäus 17,1), ein Aufstieg, der symbolisch den innerlichen Aufstieg zu einer höheren Bewußtseinsebene bedeutete, da wurden sie zuerst Zeugen seiner Verklärung, in welcher er mit Moses und Elias sprach und damit den Kontakt zu templergnostischen Inhalten herstellte. Sodann aber erlebten die drei selber etwas weniger tief reichend, aber doch überaus eindringlich und wirksam einen direkten akustischen Kontakt mit dem Göttlichen. Bei der Wiederbelebung der Tochter des Jaïrus ging es um eine besondere Art von Wiedergeburtserlebnis, und die Wiedergeburt spielte in der Gnosis eine außerordentlich wichtige Rolle. In Gethsemane sagt Jesus nach Johannes nicht nur: „ Ich habe die Welt überwunden “ und wünschte nicht nur, daß die göttliche Liebe in den Aposteln 219 Dantes Paradies <?page no="238"?> sein möge, sondern vor allem ist hier sein Bekenntnis wichtig, in dem er sich (Matthäus 26,39) dem Willen Gottes anheimgibt. Am Beginn des Vierundzwanzigsten Gesanges bittet Beatrice, die ja nicht nur Führerin Dantes durch das Paradies, sondern auch Leiterin seiner paradiesischen Exkursion ist, Petrus, er möge Dante über die Tugend des Glaubens befragen. Wenngleich nur indirekt, so hat doch schon die Antwort Dantes auf die erste Frage eine Beziehung zur Templergnosis. Auf die Frage des Petrus, was der Glaube sei, erklärt Dante, er sei die Substanz gehoffter Dinge. Diese Antwort stammt bezeichnenderweise aus dem Hebräerbrief (11,1), der im Vulgatatext lautete: „ Est autem fides sperandorum substantia rerum . . . “ Zu Dantes Zeit hatte man geglaubt, der Hebräerbrief stamme von Paulus, obwohl er von Johannes stammt. Dante wußte das entweder aus der Templergnosis oder aber sein Instinkt hatte ihn geleitet. Denn die Templergnosis ist zutiefst johanneisch. So ist auch die Antwort gemeint, denn ihr Kern besteht darin, daß ein hoffender Glaubensakt kein gnostischer Erkenntnisakt ist. Der Exoteriker Petrus würde auch einen solchen gar nicht erwarten, ja nicht einmal verstehen. Die Fragen werden scheinbar alle von Dante im Sinn der Kirchenlehre richtig beantwortet, wobei das Endergebnis darin besteht, daß subjektives Bekenntnis und objektive Erkenntnis miteinander kombiniert werden. Dantes abschließendes Glaubensbekenntnis besteht aus zwei mal drei Terzinen, wobei jede der beiden Terzinengruppen mit den Worten „ Ich glaube “ beginnt. Am Schluß gipfelt alles im Glauben an die Dreifaltigkeit. Es ist ein besonders kluger Hinweis durch verborgenen Doppelsinn. Denn abgesehen von den ägyptischen Mysterien gibt es mehr als eine gnostische Quelle, bei der alles aus einer Trias, einer „ Dreifaltigkeit “ , stammt vom Chaldäischen Orakel bis zum Baruch-Buch, und gewiß muß es eine Parallele in der Templergnosis gegeben haben. So wenig wie die Figur des Petrus in der Dichtung konnten die Inquisitoren in der Wirklichkeit sich vorstellen, daß es außerhalb der Amtskirche noch eine andere Dreifaltigkeit gab. So blieb die Belohnung nicht aus. Sie erfolgte in der letzten Terzine des Gesanges: So wand sich dreimal mir ums Haupt im Kreis, Mich segnend im Gesang, als ich geschlossen. Das apostolische Licht, auf das Geheiß. 189 Im Fünfundzwanzigsten Gesang tritt der Apostel Jakobus Dante gegenüber, um ihm Fragen über die Tugend der Hoffnung vorzulegen. Der Autor Dante hat einen hübschen Übergang dazu dadurch gefunden, daß er die symbolische Krönung des Petrus durch dreimaliges Umkreisen seines Kopfes zum Anlaß nimmt, seinem Wunschtraum einer Rückkehr nach Florenz zusammen mit einer Dichterkrönung in dieser Stadt nachzuhängen. 189 Hier zitiert nach der Übersetzung von Wilhelm G. Hertz. 220 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="239"?> Der Apostel Jakobus der Ältere, der Dante gegenübertritt, besitzt, im Gegensatz zu Jakobus dem Jüngeren, von sich aus nur eine sehr indirekte Beziehung zur Templergnosis. Eine indirekte Beziehung aber ist vorhanden und Dante könnte um so eher von ihr gewußt haben, als Beatrice den Jenseitswanderer mit folgenden Worten auf Jakobus aufmerksam macht. O sieh, o sieh! Da kommt der Patriarch, Zu dem man pilgert nach Galicien hin. 190 Genau gesagt pilgerte man den „ Jakobsweg “ nach Santiago de Compostella und dieser Ort war bereits vor dem Christentum ein heiliger Ort keltischer Pilger. Für diese war es die erste Station des siebenstufigen Einweihungsweges eines druidischen Mysteriums, deren siebente und letzte Station Roslin gewesen ist. Dort wurde am Beginn des 15. Jahrhunderts die berühmte Templerkapelle von Rosslyn gebaut, deren Templer-Erbauer sehr wohl noch über den alten Einweihungsweg wußte und aus diesem Grund den Ort zur Erbauung wählte. An den übrigen sechs Orten waren große Kathedralen gebaut worden. Die für die Templergnosis so wichtige Jakobsleiter geht freilich auf den israelitischen Patriarchen Jakob zurück, von dem auch der Name des Apostels stammt. Auf eine templerbezogene Stelle in diesem Gesang (Vers 52 ff.) hat Robert John aufmerksam gemacht. Jakobus, der Dante über die Tugend der Hoffnung prüft, sagt zu ihm: Die Kirche, die da streitet, hat wohl keinen An Hoffnung reicheren Sohn . . . Nach John läßt sich der Autor Dante von Jakobus hier dafür beloben, daß er „ auf die Wiedererrichtung des Tempels “ hoffte. 191 Eine solche Wiedererrichtung war genau das, was der Erbauer der Kapelle von Rosslyn vor Augen gehabt hatte. Wo es aber um die Frage nach der Quelle der Hoffnung geht, zitiert Dante mit „ des allerhöchsten Lenkers höchstem Dichter “ als Quelle die Psalmen Davids: „ Es hoffen Dein . . . die Deinen Namen kennen. “ Ein gnostisches „ Kennen “ , kein kirchliches „ Glauben “ . Es ist wörtlich der Psalm 9,10, in dem es heißt: „ Darum hoffen auf Dich, die Deinen Namen kennen, denn Du verlässest nicht, die Dich, Herr, suchen. “ Ein weiterer templergnostischer Bezug ist im Vers 94 versteckt, in dem Dante zu Jakobus sagt, daß sein Bruder Johannes „ reicher an Erfahrung “ sei. Er schrieb „ reicher an Erfahrung “ , weil er nicht gut schreiben konnte: „ Reicher an apokalyptischer Vorschau auf Verfolgung, Folter und Verbrennen der Templer. “ Die Worte beziehen sich auf jene Stelle der Offenbarung des Johannes (7,9-17), 190 Hier zitiert nach der Übersetzung von Hermann A. Prietze. 191 Robert John, op. cit., S. 216 221 Dantes Paradies <?page no="240"?> wo es heißt, daß eine Schar, die niemand zählen konnte, aus allen Nationen und Stämmen und Völkern vor Gottes Stuhl und dem Lamm standen, angetan mit weißen Kleidern - wie die Templer - die kommen aus großer Trübsal! Auch wenn man nicht im wörtlichen Sinn an die Voraussagen der Offenbarung glaubt, paßt diese Stelle doch zum Geschick der Templer. Zutiefst templergnostisch aber ist die bald darauf folgende Stelle, an der die drei Lieblingsapostel, die in der Bibel immer rings um Christus waren, jetzt plötzlich einen Reigen um Beatrice als Zentrum tanzen, rings um das Sinnbild templergnostischer Weisheit. Zuletzt taucht auch noch Johannes in dem Gesang auf, den Beatrice mit den Worten ankündigt: „ Hier dieser ist ’ s, der an der Brust gelegen / Von unserm Pelikan . . . “ Der Pelikan wurde in esoterischen Kreisen im Mittelalter und in der Renaissance gerne als Symbol für Jesus gebraucht, weil man angenommen hatte, daß er sich - wenn notwendig - mit seinem scharfen Schnabel selbst blutige Wunden zufügte, um mit seinem eigenen Blut die hungrigen Jungen zu füttern. Als Dante im Vierundzwanzigsten Gesang die leuchtende Substanz Christi erblickte, da hielt er das grelle Licht nicht aus, sodaß er wegschauen mußte. Hier aber, beim Erscheinen des dritten Lichts, des Esoterikers unter den Evangelisten Johannes, hilft kein Wegschauen, sondern hier erblindet er. Es läßt sich kaum eine drastischere Art der geradezu „ blendenden “ Wichtigkeit von Johannes denken. Dieser aber nimmt zu Recht an, daß diese äußere Blindheit mit der Abwendung des Auges von allem Äußeren und der völligen Hinwendung zum eigenen Inneren zusammenhängt. Darum fragt er auch Dante darüber: So mußt beim dritten Feuer ich ’ s erfahren, Indem es klang: „ Was blendest du dein Auge, Um das, was hier nicht statthat, zu erfahren? “ Eine häufige, wenngleich unmotivierte Erklärung oberflächlicher Kommentatoren für Dantes Erblindung ist, daß Dante für seine Neugierde, erspähen zu wollen, ob Johannes körperlich anwesend war, zur Strafe mit Blindheit geschlagen wurde. Nicht nur wurde von diesen Kommentatoren die oben zitierte Frage offenkundig überlesen, sondern außerdem auch noch am Beginn des nächsten, des Sechsundzwanzigsten Gesanges, der direkte Hinweise auf innere Erleuchtung und auf die Heilung des Paulus durch Ananias enthält. Im Sechsundzwanzigsten Gesang prüft Johannes Dante über die geistliche Tugend der Liebe. Da die Liebe es ist, von der sowohl Dante wie seine Dichtung zutiefst durchdrungen sind, ist es einer der schönsten Gesänge geworden. Zunächst beruhigt Johannes Dante durch seine Aufklärung, daß seine Sehkraft „ nur verwirrt und nicht vernichtet ist “ . Darüber hinaus erklärt er Dante, daß Beatrice dieselbe Kraft in ihren Augen besäße, die Ananias in den Händen hatte. Dadurch vermag sie, Dantes Sehkraft wiederherzustellen. Es ist aber zumal in christlicher Tradition eine Notwendigkeit, „ das Auge von außen 222 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="241"?> nach innen zu richten, wenn es die höchste Wahrheit der Gottesliebe erfassen will. Darum vollzieht sich jetzt die Prüfung in der Liebe unter Abblendung des physischen Augenlichts. Dante gewinnt hier innere Erleuchtung und Klarheit über die Gottesliebe. “ 192 Diese konnte er nicht durch den Anblick der Substanz Christi, sondern nur durch Johannes erhalten. Die Blindheit ist Metapher und Symbol, wie fast alles in der Commedia. Sie unterstreicht nur besonders nachdrücklich die Notwendigkeit, sich dem eigenen Inneren zuzuwenden, was für viele Formen der Gnosis und für das Praktizieren der Mystik notwendig sein kann. Schon die erste Antwort von Dante führt mitten hinein in den zentralen Kern der gnostischen Tradition, um die es Dante hier geht: Drauf ich: Der Philosophen weise Lehren Und was von Gott den Menschen offenbart, Hat diese Liebe in mir wecken müssen. Das wahrhaft Gute, wenn es recht erkannt, Weckt Liebe auf und tut es um so mehr, Je mehr des Guten es in sich begreift. So muß vor Dem, der so erhaben ist, Daß alles Gute, was sich sonst noch findet, Nichts andres ist als seines Lichts ein Strahl . . . Von dieser Antwort Dantes her wird es besonders verständlich, weshalb im gnostischen Baruch-Buch, in dem die Liebe eine Hauptrolle spielt, als Dreiheit der Weltschöpfer neben dem Elohim und der Eden auch noch „ Guter “ auftritt. Dante spricht von einem ungenannten „ jenem “ , der solche Wahrheit vor ihm ausgebreitet und der ihn „ die erste Liebe “ in all ihrem ewigen Wesen sehen hat lassen. Wenn Sauter in seinem Kommentar annimmt, daß Aristoteles jener erste war, der nach der neuplatonisch-averroistischen Fassung seiner Lehre im Buch der Ursachen die erste Ursache alles Seienden im „ reinen Guten “ sieht, dann kommt er der Wahrheit wohl näher als die Versuche, hier Platos Namen einzusetzen. Versucht man aber, sich in Dante selbst zu versetzen, dann war der erste wohl Siger von Brabant, der gerade diese Lehre gepredigt hat. 193 Für seine eigene Gottesliebe führt Dante nach dem oben zitierten, von ihm ungenannten Philosophen noch zwei weitere Zeugen an: Moses und den ihn prüfenden Johannes selbst. Wenn der ungenannte Philosoph Siger von Brabant ist, dann sind hier durch Aristoteles klassisch-antike, durch Averroes islamische, durch Moses jüdische und durch Siger christliche Elemente verbunden. Das ist bezeichnend für Dante wie für die Templegnosis überhaupt. 192 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 667 193 Constantin Sauter, op. cit., S. 686 223 Dantes Paradies <?page no="242"?> Dieser Gesang, der durch die Persönlichkeit des Johannes dominiert wird, ist für die Templergnosis besonders ergiebig. Das zeigt sich deutlich auch durch die Moses gewidmete Terzine, in welcher Dante das Moses-Zitat gebraucht, wonach Gott Moses erklärt hat: „ Ich will dir all meine Güte zeigen. “ Schult weist darauf hin, daß diese Stelle aus dem Zweiten Buch Moses, Kapitel 37, Vers 19 stammt, die in der lateinischen Vulgata genau so heißt, in der griechischen Septuaginta allerdings: „ Ich will an dir vorübergehen mit meiner Herrlichkeit, meiner Doxa. “ Und er erklärt, daß mit Doxa eigentlich die Schechina gemeint ist. 194 Die Schriftrollen, welche die neun Ur-Templer auf der Suche nach der Jerusalem- Kirche ausgegraben hatten, enthielten gewiß auch nicht das Wort „ doxa “ , sondern eher das Wort „ Schechina “ . Die Schechina war nicht nur der Inbegriff der Präsenz Gottes, sondern war infolge der Bundeslade auf den ganzen Tempel Salomonis übertragen worden. Noch mehr ins Zentrum hätte kaum ein anderes Zitat treffen können. Die Terzine, die sich auf Johannes selbst als Quelle bezieht, lautet: Beweis gibst du in deiner Offenbarung, Die besser noch als jedes andre Buch Das himmlische Geheimnis hat enthüllt. 195 Offenbarung steht hier nicht allgemein für den theologischen Begriff, sondern für den Buchtitel der Apokalypse des Johannes, von dem Dante nicht wissen konnte, daß es ein anderer Johannes als der Evangelist war. Aber der andere steht geistig dem Evangelisten besonders nahe. Der griechische Titel „ Apokalypsis “ bedeutet eigentlich „ Enthüllung “ und das ganze Buch speist sich aus Quellen der jüdischen Propheten Jesaja und Ezechiel sowie des Buches Daniel und frühjüdischer Apokalypse und stand zur Gänze der Templergnosis sehr nahe. Das himmlische Geheimnis beruht ja auf der zuvor zitierten Schechina. Die Gnosis führte zur Erkenntnis und Vereinigung mit ihr. Die goldene Leiter aber führte direkt zu Johannes und niemandem sonst. Dante wußte sehr wohl, wen er als Quelle gewählt hatte. Johannes aber in seiner zustimmenden Antwort faßt noch einmal das Wesentliche zusammen: Und ich vernahm: Durch menschliches Erkennen Und kraft der Bürgschaft, die ihm beistimmt, lasse Dein höchstes Lieben dir von Gott nicht trennen. Nicht um den Glauben geht es, sondern um menschliches Erkennen im gnostischen Sinn. Das ist die erste Botschaft und die zweite ist: Laß dir ja niemals und von niemandem die unteilbare Zusammengehörigkeit von Gott und Liebe trennen. Dante hatte erklärt, daß das Gute Liebe erwecken kann und dies 194 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 670 195 Übersetzung von Hermann A. Prietze 224 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="243"?> um so mehr tut, als es Gutes in sich begreift. „ Je klarer die Kraft des Schauens wird, um so lichter die Liebe, um so höher die Seligkeit. “ 196 Nachdem die innere Schau solche Früchte getragen hat, gibt Beatrice Dante nicht nur seine alte Sehkraft zurück, sondern er ist plötzlich im Besitz einer noch stärkeren Sehkraft als zuvor. Dadurch gewahrt er plötzlich neben den drei Aposteln eine vierte Gestalt. Beatrice eröffnet ihm, daß es Adam ist, der Ahnherr aller Menschen. Dante hat vier Fragen an ihn: Wann wurde der erste Mensch erschaffen? Wie lange konnte er die Freude des Paradieses genießen? Warum war er wirklich aus dem Paradies vertrieben worden und was war die Sprache des ersten Menschen? Die Frage nach dem Zeitpunkt der Erschaffung des ersten Menschen wird von Adam nach den sehr beschränkten Vorstelllungen des Mittelalters über das Alter der Erde und des Menschengeschlechts beantwortet, wie sie auch bis heute von der jüdischen Exoterik geglaubt wird. Die zweite Frage beantwortet Adam mit einer theologischen Haarspalterei. Aber die Antworten auf die dritte und vierte Frage sind zeitlos gültig und bis heute interessant. Zur dritten Frage erklärt Adam, daß die große Sünde nicht im Essen des Paradiesapfels bestanden hatte, sondern in jener Art der Übertretung des göttlichen Gebotes, wodurch er sich Gottgleichheit angemaßt hätte. Das ist eine Formulierung, die bereits die Todsünde des modernen Totalitarismus in sich begreift und damals wie heute das Böse überhaupt bedeutet. Die Antwort auf die vierte Frage ist auch darum interessant, weil Dante hier seine eigene, frühere Überzeugung korrigiert. In seinem Buch De vulgari eloquentia, das um 1304 entstanden ist, hat er Hebräisch als die Ursprache der Menschheit angenommen. Jetzt und hier in der Commedia erklärte er, die Ursprache sei bereits beim babylonischen Turmbau vergessen gewesen. Aber er hypostasiert eine solche Ursprache. Von der modernen Sprachwissenschaft her wird die Existenz einer solchen Ursprache vielfach für unmöglich gehalten, keineswegs aber von der Archäogenetik. 197 Sie hält eine solche „ Urmutter “ für möglich und hat Forschungen nach einer Mitochondrialen Eva angestellt. Diese hatte eine Art Proto-Weltsprache beherrscht. Die komplementäre Ergänzung zu ihr wäre nach der Archäogenetik der Adam des Y-Chromosoms. Für Dante lag die Annahme einer solchen protoweltsprachlichen Urmutter als Vision schon durch die weitgefächerte templergnostische Vorstellung der Einheit von Maria-Sophia-Isis nahe. Wie ja die Templergnosis ungeachtet des Blutzolls 196 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 654 197 Nicht nur der Mystiker Jakob Böhme hatte die Frage nach einer universalen „ Natursprache “ aufgeworfen. Auch in der neueren Sprachwissenschaft gab es immer wieder Versuche in dieser Richtung wie etwa das Buch des Indologen Hermann Beckh: Neue Wege zur Ursprache. Stuttgart 1954 225 Dantes Paradies <?page no="244"?> der exoterischen Ritter für die Christenheit nicht nur übernational, sondern auch überkonfessionell ausgerichtet war mit dem Blick auf eine allumfassende Menschheit. Wie ja vom sprachlichen Begriff her und rein theoretisch der Begriff katholisch auf das Ganze umfassend zielt, was in diesem Fall in der Praxis jedoch zu kollektivegoistischen Vorstellungen von rein einzelkonfessionellen Missionsbemühungen geführt hat. Die dritte und vierte Antwort von Adam sind im Grunde vom Inhalt her miteinander verbunden. Denn jene Monarchen und Diktatoren, die sich gottgleich und gottähnlich dünken oder doch fühlen, vertreten immer einen Kollektivegoismus, gleichgültig ob er von nationaler oder rassischer, klassenbezogener oder ethnischer, konfessioneller oder geschlechtlicher Beschränktheit ausgeht. Während dagegen wahrhaft universalmenschlich ausgerichtete Bewegungen immer von altruistischen Motiven getragen sind. Die göttliche Ebenbildlichkeit oder aber der göttliche geistseelische Seelenkern in jedem Menschen sind die tragende Grundlage dafür. Dante hatte noch keine Vorstellung von wissenschaftlicher Archäogenetik und deren Theorie von einer Mitochondrialen Eva, aber sein Adam denkt auf Grund von Dantes templergnostischer dichterischer Vision in die richtige Richtung. Hermann Brochs Vorstellung von der Dichtung als Ungeduld der Erkenntnis ist hier Ereignis geworden. Adam gibt auch ein praktisches Beispiel für den Wandel sprachlicher Entwicklungen und wählte dazu den Begriff für Gott. Nach Adam soll dieser Begriff in der Ursprache I gewesen sein, woraus später im Hebräischen „ El “ geworden ist. Schult hat auch eine Theorie, weshalb der Begriff der Ursprache I gewesen war: Das I, Jod oder Jota, ist „ der zehnte Buchstabe des Alphabets und zehn ist die allumfassende heilige Zahl, bei der die Pythagoräer schworen und die sie ‚ Mutter des Alls ‘ nannten. Zehn Sephirot hat die Kabbala, die zehnte Sphäre ist der Feuerhimmel Gottes. Auch der hebräische Gottesname beginnt mit dem Jod. Noch heute ist zehn die Grundzahl unseres dekadischen Systems. “ 198 Es ist kein Zufall, daß gerade der von Johannes dominierte Gesang zu solch universaler menschlicher Problematik führt. Im Siebenundzwanzigsten Gesang arbeitet Dante zunächst wieder mit Kontrastwirkung. Einer hymnischen Lobpreisung des Fixsternhimmels folgt die bitterste Anklage des ganzen Werks gegen eine entartete Kirche und ein korruptes Papsttum auf der Erde. O Wonne! O unsägliche Entzückung! O Leben voll von Liebe und von Frieden! O wunschlos-sichern Reichtums Vollbeglückung! 198 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 674 226 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="245"?> So preist Dante den Himmel hier, worauf der himmlische Petrus noch einmal das Wort ergreift zu wahrer Verdammung der damaligen irdischen Zustände. Er fängt mit Bonifaz VIII. an, der zur Zeit der Handlung der Commedia als Papst herrschte. Petrus wirft ihm vor, er hätte sich seines, des Petrus Thron angemaßt und hat seine, des Petrus Grabstätte zu einer Kloake aus Blut und Gestank gemacht. Petrus zitiert auch die Namen von sechs Vorläufern der Päpste als Bischöfe von Rom, die wie er selbst alle Märtyrer geworden waren, wodurch er noch einmal und dadurch verstärkt Kontrastwirkung einsetzt. Er gibt nach den Namen der sechs eine Art prophetischer Vorschau auf Clemens V. und Johannes XXII., die Dante selbst noch erlebt hatte. Clemens V. war bereits zu seinen Lebzeiten von einem Franziskaner-Spiritualen als „ Antichrist “ , sprich Luzifer, bezeichnet worden. Er hatte die Papstwürde von Philipp IV. gekauft und den Sitz der Päpste aus Rom in das französische Avignon verlegt. Schult erinnert daran, daß er gleich zwei Mal, am 18. März und am 25. August, an alle Monarchen und Fürsten, Prälaten und Inquisitoren die Weisung erlassen hatte, in den Templerverhören die Folter anzuwenden. Auf dem Konzil war es besonders ein Zisterzienserabt gewesen, der sich geweigert hatte, den Anschuldigungen zu glauben. Der Nachfolger von Clemens hatte die von Clemens verliehenen Benefizien aufgehoben, um sie noch einmal zu verkaufen. Wie dieser Johannes XXII. auch die Verantwortung dafür trägt, daß etliche wertvolle Schriften des größten deutschen Mystikers Meister Eckhart vernichtet wurden. Petrus verurteilt auch besonders, daß die Symbole des Papsttums auf Kriegsflaggen in Kriegen prangten, die gegen Christen geführt wurden, wie gegen die Colonnas oder im „ Kreuzzug “ gegen die Katharer. Zuletzt gibt er Dante geradezu den Auftrag, nach seiner Rückkehr auf die Erde all diese Anklagen bekannt zu machen. Diese Aufforderung erfüllte wie so vieles in der Commedia eine Doppelfunktion. Erstens waren diese Invektiven viel eindrucksvoller, wenn sie aus dem Mund von Petrus kamen, als wenn Dante selbst sie geäußert hätte, und zweitens war es zugleich auch ein (wenngleich kleiner) Schutz gegen die Inquisition als Ausrede, sie seien nicht Dantes eigene Meinung. Diese Brandrede des Petrus ist gewiß mit ein wichtiger Grund gewesen, weshalb Dante davor zurückgeschreckt war, die letzten dreizehn Gesänge des Paradieses noch während seiner Lebenszeit bekannt zu machen. Nach der Beendigung der Strafrede folgt der Aufflug von Dante und Beatrice in die nächsthöhere Himmelssphäre, in den Kristallhimmel. Schult beschreibt es sehr präzise als den Übergang „ von der Universalgeschichte des Fixsternhimmels “ zu den die „ ganze Natur beherrschenden Urformen “ des Kristallhimmels, des „ primum mobile “ . 199 199 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 677 227 Dantes Paradies <?page no="246"?> Am Ende des Gesanges steht gleichsam als Ergänzung zur Strafpredigt des Petrus gegen Kirche und Papsttum eine Verurteilung des Zustandes der gesamten Menschheit der Zeit durch Beatrice. Unschuld und Glaube sind nur mehr bei den Kindern zu finden. Der Grund der Verderbnis und des Elends ist darin zu suchen, „ daß keiner ist, der herrscht auf Erden “ . Das erklärt den Wunschtraum Dantes nach einer gut funktionierenden Weltmonarchie des Friedens, die wiederum einen entsprechenden Monarchen voraussetzt. Ausgelöst wurden dieser Wertzerfall und Niedergang durch die Habgier der Menschen. Ganz zuletzt prophezeit Beatrice für eine ferne Zukunft eine Wendung zum Guten der Menschheit. Es ist die Hoffnung auf einen Veltro und Dux, wie sie auch des Autors Dante Hoffnung waren. 200 Im Achtundzwanzigsten Gesang beschreibt Dante jene Welt des Kristallhimmels, die Plato den „ Topos hyperuranios “ genannt hat, eine Art überkosmische Sphäre. Man fühlt sich fast ein wenig an Hermann Brochs Tod des Vergil erinnert, in dem der Autor die Endstufen des Sterbeprozesses so darstellt, daß er die Stufen der Weltschöpfung im Buch Moses umgedreht hat, sodaß die Schöpfung Stufe um Stufe versinkt. Auch bei Dante scheint das Irdische völlig zu versinken, wird aber stattdessen durch eine ganz verschiedene Welt der Engel ersetzt. Ein Bild dieser Welt der Engel hatte er ja seit früher Kindheit oft vor Augen gehabt, wenn er im Baptisterium von Florenz zur Kuppel emporblickte, in der sich ein Mosaik der drei mal drei Hierarchien der Engel befand, wie sie der Pseudo-Dionysius Areopagita beschrieben hatte und wie sie Dante jetzt zum Inhalt seines Neunundzwanzigsten Gesangs gemacht hatte. Im Kristallhimmel gibt es deshalb keine Gespräche mehr mit den Seelen von Verstorbenen, da nur Engel anwesend sind, dazu in so entfernter Distanz, daß eine Kommunikation mit ihnen nicht möglich ist. Diese ganze Himmelssphäre ist ein körperloser Raum voll in Bewegung, da von ihm und seinen Intelligenzen (Engeln) die Bewegung aller Planetensphären bewirkt wird und von ihm ausgeht. Es ist der Blick Beatrices, der templergnostischen Weisheit, dem er folgt, worauf er weit draußen unter den leuchtenden Sternen einen besonders hell leuchtenden und besonders schnellen Punkt entdeckt, an dem nach Beatrices Worten „ der Himmel und das ganze Weltall hangen “ . Dieser Punkt der göttlichen Mitte wird von neun immer größer anwachsenden Lichtringen umgeben. Das bedeutet, daß ihm durch Beatrices Blick die Schau möglich wurde, durch welche auf der Ebene dieser Himmelssphäre das Göttliche als sehr hell leuchtender Punkt im Empyreum, umgeben von neun Engelhierarchien, sichtbar geworden war. Die Ordnung dieser neun Hierarchien, wie sie ihm Beatrice nennt und wie er sie für richtig findet, ist Dionysius Areopagita entnommen. Bei Dionysius ist die Stellung Gottes Ursache, Anfang, Sein und Leben. Der Gegensatz des unnenn- 200 Vgl. Robert John, op. cit., S. 121, 189, 219 und 215 - 224 228 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="247"?> baren Gottes zur irdischen Welt wirkt rein gnostisch. 201 Nach seiner Lehre läßt sich durch Reinigung, Erleuchtung und Vollendung ein Zustand erreichen, welcher die normale Bewußtseinsebene durch eine höhere Erkenntnis übertrifft. Er ist darum auch mit dem Gnostiker Basileides verglichen worden. 202 Dabei ergibt sich hier im Achtundzwanzigsten Gesang für den Jenseitswanderer Dante dadurch ein Widerspruch, daß das Urbild des Himmels, wie er es hier sieht, nicht mit dem gewohnten Abbild des Himmels übereinstimmt. 203 Das Urbild im Sinn des Dionysius ist theozentrisch, das Abbild, wie er es in Erinnerung hat, ist im Sinn des Weltbildes von Ptolemäus geozentrisch. Für Beatrice, die Weisheit der Templergnosis, ist es freilich ein Leichtes, ihm das Problem zu erklären. Der Widerspruch, sagt sie ihm, kam dadurch zustande, daß Dante am Beispiel der Planetensphären beobachtet hatte, wie die innersten, kleinsten Kreise der Planetensphären langsamer sind als die äußeren. Hier, vom Kristallhimmel aus gesehen, ist es plötzlich umgekehrt: Die höchsten Intelligenzen des kleinsten Kreises sind weitaus schneller als die größeren Kreise. Die gnostische Führerin macht Dante darauf aufmerksam, daß die Perspektive vom Kristallhimmel her eine andere ist als jene, die er aus seiner Erinnerung von der Erde her kennt. Der äußere Aufstieg in den Himmel ging ja Hand in Hand mit einer Bewußtseinserhöhung des Inneren. Der Jenseitswanderer Dante versteht das auch sofort, und dem Autor Dante ist mit seinem Gleichnis des Auffluges als Metapher des Wechsels der Perspektive eine eindrucksvolle Lektion der Bewußtseinserhöhung gelungen. Jeder wirkliche Lehrmeister gnostischer Erkenntnis oder mystischer Praxis könnte das genauso gut erklären wie Beatrice. Für den ernsthaften Esoteriker unserer Zeit ist das Beispiel überdies noch darum zusätzlich interessant, da die zu Dantes Zeit „ wissenschaftlich beglaubigte “ Perspektive des ptolemäischen Weltbildes längst überholt ist, während die esoterische Perspektive mit Gott, dem Absoluten als Mittelpunkt aber zeitlos gültig und bis jetzt unverändert ist. Der imposante Fortschritt der Wissenschaft beruht ja geradezu darauf, daß sich die jeweiligen Einsichten und Erkenntnisse kontinuierlich durch Verbesserung ändern. Die riesigen Engelchöre singen unter Funkensprühen das Lobpreis Gottes, und Beatrice gibt Dante nach dem Buch De coelesti hierarchia des Dionysius eine Beschreibung der drei mal drei Engelchöre, deren Zahl neun mit ihrer eigenen Symbolzahl zusammenfällt. Die Namen der Engeltypen sind Serafi, Cherubi, Troni; Dominazioni, Virtudi, Potestadi; Principati, Arcangeli, Angelici. 204 Was die drei Engelarten der höchsten Hierarchie betrifft, so sind die Troni als Saturnengel die Schwellenhüter zur rein göttlichen Geisteswelt, die allen irdischen 201 Vgl. Insa Meyer: Aufgehobene Vergangenheit. Gotteslehre. Berlin 2007 202 Vgl. Hans Leisegang, Die Gnosis, S. 213 ff. 203 Vgl. Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 687 204 Dante hat seine eigene, vorherige Ordnung der Engelhierarchien durch jene des Dionysius ersetzt, die er für die einzig richtige hält. 229 Dantes Paradies <?page no="248"?> Schmutz bereits völlig abgelegt haben, die Cherubi als die nächsthöhere Art sind bereits die Engel der höchsten Erleuchtung, und die Serafi, die allerhöchsten, schließlich sind die Engel der gnostisch-mystischen Vereinigung mit dem Göttlichen. Einer von ihnen steht direkt rechts vom Thron Gottes. Es folgen die drei Ordnungen der zweiten und der dritten Triade. Derselben aufsteigenden Stufenfolge der drei Arten von Hierarchien sind die Bewußtseinsebenen der Reinigung, der Erleuchtung und der Vollendung zugewiesen. 205 Dante hat das Zusammenspiel der Engelhierarchien mit der innermenschlichen Entwicklung so ausgedrückt: Und wissen mußt du, daß sie insichschließen Wonnen soviel, als tief sie schauen die Wahrheit, Draus jeglichem Verstand kann Ruh entfließen. Draus kann man sehn, daß sich den Grund bereitet Das Seligsein im Akt des Schauens, niemals In dem der Liebe, die ihn erst begleitet. Und das Verdienst gibt Maßstab für das Schauen, Das Gnade bringt hervor und gutes Wollen: So muß es sich von Grad zu Grad erbauen. Damit wird der Geist noch über die Liebe gestellt. Wobei mit Geist nicht Intelligenz gemeint ist, sondern die Art geistigen Erfassens durch meditativkontemplative Schau. Diese ist es, welche die Gottesliebe im Menschen auslöst, die höchste gnostische Erkenntnis. Dionysius ist nämlich ein wahrer „ Deuterodionysius “ . Er kannte den von den Apokryphen herrührenden Gedankenschatz. Er kannte durch die urchristliche Esoterik, welche der Templergnosis zugrunde lag, die Hierarchie der drei Himmel (Kristallhimmel, Feuerhimmel, Empyreum). Paulus hat damit nichts zu tun. Er strebte von dieser Tradition der Urkirche weg, um sie durch eine neue, von ihm geschaffene Lehre zu ersetzen. 206 Dionysius mußte die urchristliche Esoterik mit ihren drei Himmeln gekannt haben, die auch der Templergnosis zugrunde lag. Ihnen entsprechen auch die drei mal drei Engelhierarchien. Paulus hatte den historischen Dionysius Areopagita beeinflußt, nicht aber den großen Mystiker und geistigen Vermittler Pseudo- Dionysius, mit dem ihn Schult verwechselt. 207 205 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 689, hat auf die Zuordnung der neun Musen zu den Himmelssphären und auf die orphischen Mysterien als deren letzte Quelle hingewiesen. Vgl. auch Franz Creutzer: Symbolik und Mythologie der alten Völker. Leipzig 1821, S. 286 206 Wenn Schult wiederholt auf die Herkunft der Ideen von Paulus hinweist, dann hängt dies mit einer Verwechslung des historischen Dionysius mit dem Pseudo-Dionysius zusammen, um den es hier geht. 207 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 692 230 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="249"?> Es war jener Pseudo-Dionysius gewesen, der auch bereits die Dreistufenlehre der Reinigung, Erleuchtung und Vollendung vertreten hat und der als Mystiker auf die gehobene Bewußtseinsstufe hingewiesen hat, wie sie Beatrice in diesem anschaulich gemacht hat. Dionysius war von Albertus Magnus und dessen Schüler Thomas gleich hinter die Bibel gestellt worden, galt dem Mittelalter als erster unter den Kirchenvätern und wurde von keinem geringeren als Meister Eckhart als sein Lehrmeister betrachtet. 208 Der Neunundzwanzigste Gesang beginnt mit einem astronomischen Gleichnis, um besonders dichterisch und eindringlich zu sagen, daß Beatrice nur einen kurzen Augenblick hatte, um den besonders hell strahlenden Punkt der Gottheit auf dem Firmament zu schauen, worauf sie ihre Erklärungen über die Engel fortsetzt. Dabei darf man nicht vergessen, daß für Dantes Kosmos die Engel einen integralen, existenziell wichtigen Teil des Weltganzen darstellen, weshalb sie auch vom Beginn der Weltschöpfung an hier sind. Das Ganze der Erde besteht dabei aus drei Schichten, die von der untersten, sublunaren Welt der Pflanzen und Tiere aufsteigt über die zweite Schicht des Menschen bis zur dritten Schicht der Engel in ihrem überkosmischen Bereich. Sie sind reine Intelligenzen, deren Funktion in reinem Wirken besteht. Sie sind aber nicht nur eine unteilbare Schicht des Ganzen, sondern besitzen dazu noch ihre eigene funktionelle Wichtigkeit. Diese besteht in ihrer Bedeutung für das Zusammenwirken der organischen Ganzheitlichkeit des Makrokosmos, was keine spätscholastische Spitzfindigkeit darstellt. Dante teilt hier die Überzeugung von Thomas, daß Gott die Welt zwar nicht im wörtlichen Sinn, „ in actu “ , sondern „ potentialiter “ auf ein Mal erschaffen hatte. Vielleicht ebenso wichtig für den Templergnostiker Dante war, daß auch Moses bei der Darstellung der Weltschöpfung die nicht extra genannten Engel dem Himmel zugeschlagen und sofort erschaffen hatte. Für die Vorstellung von einem nicht mechanisch toten, sondern organisch lebenden Kosmos waren die Engel als die „ Liebesgeister “ , welche als Intelligenzen die Sphären bewegten, von existenzieller Notwendigkeit für das Bestehen des Ganzen. Was die Funktion und Wichtigkeit der Engel betrifft, so folgt Dante auch hier Dionysius (und zweifellos der Templergnosis), für den Gott das Überseiende bildet, unerkennbar und fern, und zu dem die Engel die notwendige Brücke bilden. Über diese Brücke wird all die göttliche Kraft, Güte und Liebe quer durch alle Sphären hindurch zur Erde hinuntergeleitet. Wenn Gott nach Dionysius nur als über- oder unerkennbar erkannt werden kann, dann bilden die Engel die über den Verstand gehende Einsicht gnostischer Art. Die Gnosis hatte sie aus vorchristlichen Vorstellungen vor allem ägyptischer, aber auch babylonischer und altiranischer Herkunft übernommen. Ihr hebräischer Name war „ Mal ’ akim “ , 208 Vgl. Kurt Ruh: Die mystische Gotteslehre des Dionysius Areopagita. Texte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Heft 2, München 1987 und Beate Regina Suchla: Dionysius Areopagita. Freiburg im Breisgau 2008 231 Dantes Paradies <?page no="250"?> was Bote bedeutet, wie auch das griechische Wort angelos. Sie waren nicht zuletzt auch Boten des Wissens, welche den gnostischen Sperrkreis überschreiten konnten. Als Jakob die Leiter des Einundzwanzigsten Gesanges sah, erblickte er auch Engel, die auf ihr auf- und abstiegen, doch am obersten Ende der Leiter stand Gott. Es ist bezeichnend, daß die Vielfalt der Engelnamen und Funktionen durch gnostischen Einfluß entstanden sind. 209 Bei Dionysius sind die Engel auch Mittler zu seinem nur durch menschliche Unerkennbarkeit erkennbaren Gott, eine Gotteslehre, die nur Unverstand „ negative Theologie “ nennen konnte, nur weil sie mit der exoterischen Kirchenlehre nicht zusammenstimmt. Dante geht auch auf den Sturz der gefallenen Engel ein. 210 Sie waren durch Hoffart von Gott abgefallen, während die bescheidenen guten Engel, die sich nur als Werkzeug fühlten, treu blieben. Sie erfuhren nicht nur Erleuchtung, sondern lernten auch, daß Gnade empfangen ein Verdienst sein kann. Schließlich wird noch die im Mittelalter viel diskutierte Frage aufgeworfen, ob Engel ein Gedächtnis besitzen. Würde diese Frage völlig getrennt von allen anderen isoliert für sich behandelt, könnte man sie eher als unseriöse Spitzfindigkeit abtun. Aber sie steht hier durch Dante in unmittelbarem Zusammenhang mit wesentlichen Problemen der Metaphysik. Die übliche und normale menschliche Vorstellung von Raum und Zeit besteht erst seit der Erschaffung der Welt und der Menschen. Vorher herrschte der in den monotheistischen Religionen gebrauchte Begriff der „ Ewigkeit “ , in welcher naturgemäß weder Raum noch Zeit existierten. Sie fiel zusammen mit einer unerkennbaren Schöpfergottheit, zu welcher die Engel die Brücke bilden. Dies ist aber nur möglich, wenn sie an der Ewigkeit auch selbst teilhaben, in welcher Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eins sind, sodaß kein Gedächtnis notwendig ist. Genau das aber betont Dante als letzte Eigenschaft der Engelhierarchien. Als Abschluß des Gesanges erfolgt wieder als Kontrast eine Rückwendung zur Erde in ihrem Niedergang und Verfall. Dieses Mal sind es die „ Verirrungen der Schulweisheit “ und die „ unwürdige Verkündigung des Wortes Gottes “ durch die Prediger. Sie lösen den Zorn Gottes aus. Aber auch der Mißbrauch des Ablaßverkaufes und die zunehmende Dummheit auf Erden werden gegeißelt. Allerdings wird im allerletzten Vers das „ Eins-in-sich “ der göttlichen Existenz dem allen gegenübergestellt, die „ unverloren “ weiterbesteht. 209 Vgl. Dorothee Boss von Echter: Die Gesichter der Engel. Gottes Boten und menschliches Wissen. Würzburg 2010. Christine Astell und Eva Leopold: Engel. Weisheit - Heilung - Schutz. München 2005 210 Vgl. Claudia Losekam: Die Sünde der Engel. Die Engeltradition in frühchristlichen und gnostischen Texten. Tübingen 2007 232 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="251"?> Im Dreißigsten Gesang verliert Dante die Hierarchie der Engel aus den Augen. Als er auf Beatrice blickt, ist er überrascht, daß es für sie möglich war, all ihre bisherige Schönheit noch weiter zu übertreffen. Als Sinnbild der Templergnosis ist sie aber darum noch schöner als je zuvor, weil sie ihn noch niemals so weit geführt hatte. Sie spricht den Grund dafür auch direkt aus: „ Nun haben wir vertauscht / Das Körperhafte mit dem reinen Licht. “ 211 Es ist ein geistiges Licht, erfüllt von Liebe, Liebe des wahren Guten und „ alle Wonnen überragend “ . Beatrice verspricht ihm, daß er nun bald beide Arten der himmlischen Heerscharen sehen wird, die Engel sowohl wie die Seligen. Die Seligen aber wird er schauen wie am Tag des Jüngsten Gerichtes. Nach der Kirchenlehre würde dies die voll wiedergewonnene körperliche Gestalt bedeuten. Für die Gnosis aber - und für diese spricht ja Beatrice - geht es zuletzt um die Wiedervereinigung der Geistseele allein mit dem göttlichen All im Pleroma. Sie mag freilich ein rein geistiges Abbild der früheren Körperlichkeit annehmen können. Plötzlich fühlt sich denn Dante nun auch „ von lebendigem Licht umflossen “ und „ emporgeschwungen “ in die allerhöchste Sphäre des Empyreums. Seine Sehkraft ist neuerlich verstärkt, sodaß er sich mit der ganzen Menschheit identifiziert 212 und einen strahlenden Lichtstrom erblickt, der sich aus der Form eines Flusses in einen Kreis und damit in einen See verwandelt. Nachdem er der Aufforderung Beatrices gefolgt ist und aus dem Lichtmeer des Sees mit den Augen „ getrunken “ hat, enthüllen sich ihm die aus dem Wasser aufsteigenden Funken als Engel und die Blumen an seinem Ufer als Selige. Diese Lichtseelen thronen auf Sitzreihen, die vom Ufer des Sees wie in einem Amphitheater aufsteigen, und sodann verwandelt sich das Ganze in die berühmte, goldgelbe Himmelsrose. Das Licht, das alles erfüllt, wird vom Kristallhimmel zurückgeworfen und durchstrahlt die ganze Rose. Beatrice macht Dante auf den „ großen Konvent in weißen Roben “ aufmerksam. Wenn damit nicht überhaupt alle Lichtseelen gemeint sind, dann muß es sich um Templer und Zisterzienser handeln, denn der Prozeß gegen den Templerorden hatte erst sieben Jahre nach der Handlung der Commedia begonnen. 213 Das Wesen des Göttlichen dehnt sich „ in der Form der (höchsten) Sphäre so mächtig aus “ , daß seines Kreises Umfang sogar der ganzen Sonne zu weit wäre. Die Beschreibung seines Bildes stellt eine Parallele zum Erkennen des uner- 211 Übersetzung von Hermann A. Prietze 212 Robert John, op. cit., S. 181 213 Peter Amelung in seinen Anmerkungen zum Paradies in der Übersetzung von Wilhelm G. Hertz, op. cit., S. 546, verweist auch hier auf die Stelle in der Offenbarung des Johannes 7,9-17, an welcher Gestalten, die „ aus tiefer Trübsal kommen “ und in „ weißen Kleidern “ beschworen werden, also die auf dem Scheiterhaufen verbrannten Templer. Es widerspräche dies aber dem strengen Sinn Dantes für Präzision. Eher bin ich geneigt, unter den Weißgekleideten zusätzlich auch noch die ungetauften Essener zu vermuten. 233 Dantes Paradies <?page no="252"?> kennbaren Gottes dar, denn auch aus ihr läßt sich so wenig ein konkretes Bild ableiten, daß die Forderung, man dürfe sich von Gott „ kein Bild “ machen, voll erfüllt erscheint. Nur Strahlen sinds, die ganz sein Bildnis weben, Die auf des erstbewegten Himmels Wölbung Zurückgestrahlt, ihm Kraft verleihen und Leben. Der Abgesang aus dem Reich des Göttlichen beginnt mit Beatrices Hinweis darauf, daß sich bald auch die Seele Heinrichs VII. hier unter den Seligen befinden würde. Worauf, wie fast schon die Regel, am Schluß des Gesanges das Böse einbezogen wird und eine Verurteilung des Niedergangs und Elends der ganzen Erde erfolgt, symbolisiert durch eine neuerliche Verdammung von Papst Clemens V. in die Hölle - die sechste und letzte im Gesamtwerk. Freilich wird er wieder nur der Simonie beschuldigt, denn Dante hält sich streng an den von ihm selbst gesetzten Rahmen der Zeit der Handlung seiner großen Dichtung, die er im Jahr 1300 spielen ließ. Abgesehen davon, daß eine direkte Beschuldigung wegen des Verrats des Ordens lebensgefährlich gewesen wäre. Aber eine seiner geschickten Anspielungen hat er wohl doch angebracht, denn er erwähnt nicht Clemens V. allein, sondern zusammen mit Bonifaz VIII., einem anderen Feind des Templerordens. Für ihn hätten die beiden ganz tief hinunter zu den Verrätern gehört. Schult hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, daß die Verdammung des Papstes die letzten Worte sind, die Beatrice in der Dichtung spricht, was ihre Wichtigkeit besonders unterstreicht. 214 Der Einunddreißigste Gesang beginnt mit einer Schilderung der strahlenden weißen Himmelsrose, dem großen Symbol des Empyreums, in der sich nun die Engel mit den Seligen vermischen, wie die Bienen in eine Blume eintauchen, bevor die Engel wieder zu Gott emporsteigen, wo sie beheimatet sind. 215 Die Biene ist ein uraltes Symbol als heiliges Sonnentier. Schult weist darauf hin, daß in Unterägypten der Pharao als „ Sonneneingeweihter “ durch die Hieroglyphe einer Biene gekennzeichnet wurde und daß der Oberpriester des Tempels der Weltenmutter in Ephesos sich „ Bienenkönig “ nannte. Direkt in das Zentrum der Templergnosis hinein führt aber die Symbolik der Bienen in Vergils Georgica. Hier stehen die Bienen des Aristäus für Erleuchtung und Wiedergeburt. 214 Das Paradies 30, 145 - 148 215 Zur Himmelsrose als dem großen Symbol des Empyreums im Allgemeinen vgl. Friedrich Weinreb: Vom Geheimnis der mystischen Rose, München 1983. Der Autor kommt vom Kabbalismus her und stellt eine echte Parallele zur jüdisch-urchristlichen Tradition der Templergnosis dar. Der Autor erklärt, daß von der Rose als Symbol zu erzählen bedeutet, von der Grundstruktur des Lebens zu sprechen. 234 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="253"?> Die göttliche Strahlkraft der Himmelsrose aber durchdringt sogar die Lichtseelen: Denn Gottes Licht durchdringt und will erhellen Die Weltgesamtheit, wie sie dessen würdig, Sodaß sie nichts ihm kann entgegen stellen. Auch seine eigene Position steckt Dante gegenüber der himmlischen Umwelt ab: Ich, der zum Göttlichen aus Menschenkreisen, Zum Ewigen aus Zeitlichem gekommen. Und von Florenz zum echten Volk und weisen. Natürlich wendet er sich alsbald wieder Beatrice zu, um Fragen zu stellen. Zu seiner schockartigen Überraschung erblickt er jedoch an ihrer Stelle einen Greis „ im Kleid der Seligen “ . Weder die „ Wohlwollensgüte “ noch die „ fromme Haltung “ können seine Beachtung finden. „ Wo ist sie geblieben? “ , ruft er geradezu entsetzt aus. Doch er wird belehrt, daß Beatrice selbst es war, die den Greis gerufen hat, um ihren Platz einzunehmen. Dieser rät ihm, emporzuschauen über die Sitzreihen hin zur dritten Reihe von oben, und da er der Aufforderung folgt, erblickt er sie auch und läßt ein Gebet zu ihr aufsteigen, das mit der Bitte schließt: In mir bewahre deine Gnadenfülle, Daß sich die Seele mein, die du geheilet, Dir wohlgefällig löse aus der Hülle. Nun aber tritt der Greis seine Führerrolle an, fordert Dante auf, seinen Blick über den Paradiesgarten schweifen zu lassen und indem er den Anfang des nächsten Weges beschreibt, stellt er sich nun auch selber vor: Und wird die Himmelskönigin, die im Feuer Der Liebe mich entflammt, drob alle Gnade Dir leihn, weil ich ihr Bernhard bin, ihr treuer. Bernhard von Clairvaux soll bereits als Kind Marienvisionen gehabt haben. Er war es, der Maria als Schutzpatronin des Templerordens inthronisiert hat. Was aber seine Rolle als dritter Führer Dantes durch das Jenseits betrifft, so war Vergil als Eleusis-Eingeweihter der Hierophant gewesen, Dante den Weg der Reinigung zu führen, Beatrice als Templer-Weisheit die Hierophantin auf dem Pfad der Erleuchtung und nun ist es an Bernhard, ihn auf den Pfad der Vollendung zu leiten. Als Schirmherr von gleich zwei französischen Kabbalistenschulen ist Bernhard ein Meister differenziert doppelsinnigen Lobes, denn er weiß nur allzu wohl, daß es neben der christlichen Himmelskönigin Maria auch die ägyptische Himmelskönigin Isis gibt, deren Klagegesang um den toten Osiris, der als Salomos Hoheslied Teil der Bibel ist, er über achtzig Predigten gewidmet hat. 235 Dantes Paradies <?page no="254"?> Dante vergleicht sich in Gedanken mit einem naiven ausländischen Pilger, der angesichts der Reliquie des Schweißtuchs der Veronika so in Ehrfurcht versinkt, wie er selbst angesichts des Himmels und seiner Wunder in Mutlosigkeit zu versinken droht. Bernhard aber reißt ihn von den Gedanken an naive Pilger und an das Martyrium Christi los, indem er ihm vorhält: „ O Gnadensohn, dies Dasein froh und heiter “ Begann er, „ wirst du nicht erkennen, heftest Du so die Augen an den Boden weiter; Er fordert Dante auf, die Augen zu erheben, damit er die Himmelskönigin im fernsten Kreis hoch oben erblicken kann, der dieses ganze Reich hier im Paradies untertan ist. Dante folgt ihm und ist überwältigt vom Anblick, der sich ihm bietet. So schließt dieser Gesang nicht mit einem Kontrast, der das irdische Elend beschwört, sondern mit einer Apotheose der templergnostischen „ Himmelskönigin “ , über deren Identität sich der Autor Dante mit Bernhard eins weiß. Es ist nicht nur so, daß schon in der Hölle Einflüsse der klassischen Antike eine überraschend große Rolle spielen, sondern der höchste christliche Hierophant Dantes Bernhard von Clairvaux reißt Dante aus seinen traurigen Gedanken über das Martyrium Christi am Beispiel des Schweißtuches von Veronika, indem er ihn auffodert, diese Gedanken fahren zu lassen, um „ dies Dasein froh und heiter “ zu „ erkennen “ . Nach dem im Mittelalter vielfach zurückgedrängten Geisteserbe der klassischen Antike, das bei Dante nunmehr in den Vordergrund tritt, kommt auch noch freudige Daseinsbejahnug. Im Grund setzt mit der Commedia der Beginn des Renaissancedenkens ein. Der Zweiunddreißigste Gesang schließt direkt an diese Apotheose an, indem er das Bild beschreibt, das sich Dante bietet, nachdem er Bernhards Aufforderung folgend seinen Blick nach oben gerichtet hat. Der Autor Dante entrollt dieses Bild dem Leser, indem er schildert, wie Bernhard die Namen der Lichtseelen dem Jenseitswanderer Dante nennt und erklärt. Die Himmelsrose erweist sich als in zwei Hälften geteilt. In der linken Hälfte sitzen die Vertreter des Alten Testaments, in der rechten Hälfte die Vertreter des Neuen Testaments. Der Autor Dante beginnt mit der Himmelskönigin, die an der Spitze der rechten Hälfte thront, während sich an der oberste Spitze der linken Hälfte Johannes der Täufer befindet. In der zweiten Reihe der linken Hälfte sitzt Eva, in der dritten Reihe sitzen die zweite Frau Jakobs Rahel neben Beatrice, sodann Sara, Rebekka, Judith, die Befreierin Bethulias, und - nicht genannt, doch eindeutig beschrieben - Ruth, die Ahnherrin des Psalmensängers David. Besonders bemerkenswert ist, daß in dieser linken dritten Reihe auch Beatrice unter den „ Hebräerinnern “ sitzt, eine Tatsache, die von den meisten Kommentatoren sorgfältig verschwiegen wird. Auf der rechten, der christlichen Seite, sitzt zuoberst Maria und unter ihr in der zweiten Reihe finden wir Franz von Assisi, Benedikt von Nursia und Augustinus. Zu Augustinus, der sich aus der gnostischen Sekte der Manichäer 236 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="255"?> gelöst hatte, um Christ zu werden, und der seither jegliche Kosmogonie ablehnte, konnte Dante keine persönliche Beziehung finden. Aber da er als erster der Kirchenväter galt, wurde ihm ein Ehrenplatz in der zweiten Reihe zugewiesen. Bernhards Hinweis auf die verschiedene Haarfarbe der Zwillinge Jakob und Esau sollte darauf hinweisen, daß sie von vornherein für zwei verschiedene Aufgaben bestimmt waren. Sodann macht Bernhard Dante auf eine Kinderschar aufmerksam. Es handelt sich um Kinder, die vor Christus starben. Dante hat sie trotzdem ungetauft im Empyreum angesiedelt. Auch die Kinder, die ungetauft nach Christus starben, hat er nicht der damaligen Kirchenlehre entsprechend in die Hölle verdammt, sondern im „ Limbus “ angesiedelt. 216 Nun lenkt Bernhard zum zweiten Mal Dantes Augenmerk auf Maria und Schult hat richtig beobachtet, daß für Dante eine Schau des Christus-Logos nur durch Maria möglich ist. 217 Im Zusammenhang mit Maria folgt daraufhin noch eine Lobpreisung der Kühnheit und Anmut des Erzengels Gabriel. Die nächsten beiden Lichtseelen, die Bernhard vorstellt, sind Petrus und Adam sowie die Kaiserin Augusta und der Johannes der Offenbarung, der die entsetzliche Zeit der Verfolgung des frühen Christentums (und auch die spätere der Templer) vorausgesehen hatte. Sodann zeigt Bernhard auf Moses, auf Anna, die Mutter Marias und auf Dantes Lieblingsheilige Lucia. Am Schluß des Gesanges fordert Bernhard Dante zum dritten Mal auf, seine Augen auf Maria zu richten, da er von ihr hilfreiche Gnade erhalten könnte und er selbst beginnt damit ein Gebet. Den Beginn des Dreiunddreißigsten Gesanges bildet dieses Gebet des Bernhard, das einen Hymnus an Maria darstellt mit einer anschließenden Bitte um Hilfe auf Dantes letztem und schwierigstem Stück des Weges durch das Jenseits. Die ersten drei Worte des Gebets sind nicht der Name Marias, sondern lauten „ Jungfrau und Mutter “ , was nicht zufällig gleichzeitig auf die Hathor-Isis zutrifft. Bernhard preist die Himmelskönigin dafür, daß sie für Gnade und Güte, Mitleid und Großmut stehe. Darum fleht er sie als Hierophant für Dante an, diesem durch ihre Gnade die Kraft der Augen zu geben - eine Metapher für die höhere Stufe des Bewußtseins - , damit sie der „ völligen Anschauung Gottes “ fähig sind. Er unterläßt es auch nicht, die Himmelskönigin darauf aufmerksam zu machen, daß sich Beatrice durch ihr Händefalten dieser Bitte seines Gebetes anschließt. Der Dreiunddreißigste Gesang ist der Schlußstein im Gebäude dieser Dichtung, durch welche Dante zu einem dichterischen „ Weltbaumeister “ wurde. 218 Gewiß geht es in so manchen großen Dichtungen um eine Totalitätsdarstellung, aber eine so breit gefächerte, inhaltlich universale und detaillierte Architektur ist doch ziemlich einmalig. Man hat die Commedia darum auch mit 216 Robert John hat dies theologisch erklärt. Robert John, op. cit., S. 74 217 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 718 218 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 727 237 Dantes Paradies <?page no="256"?> der umfassenden und genau durchdachten Architektur einer gotischen Kathedrale verglichen und im Hinblick auf die Kathedrale von Chartres ist sogar gezeigt worden, wie sehr dieser Vergleich sinnvoll ist. 219 Der Schönheitsbegriff von Dantes Ästhetik setzt wie wichtige Werke der Theologie und Philosophie seiner Zeit den Glanz der Wahrheit oder Weisheit voraus, der selbst wiederum mit dem Akt des Guten und dadurch mit der Tat und der Stärke zusammenhängt, welche ebenfalls zur Erfüllung dieser höchsten Art von Schönheit notwendig ist. Sie ist nicht einfach ein Anhang und eine Verzierung der beiden ersten Eigenschaften, sondern begreift diese beiden ersten als integralen Teil einer größeren Ganzheit in sich als höchste Schönheit mit ein, wobei zur Verwirklichung zum ernsthaften menschlichen Einsatz auch noch die Gnade dazukommen muß. Das ist der tatsächliche, ursprüngliche Sinn der Musenanrufung, die freilich oft zu einer formellen rhetorischen Formel ausgetrocknet ist. Demgemäß mündet im Sinn der Templergnosis diese Ganzheitlichkeit im Göttlichen. Denn im Göttlichen „ ruht alles Sein auf dem Sinn, alle Macht auf dem Recht “ und führt „ alles Gehorchen in die Freiheit “ . 220 Natürlich ist es bezeichnend, daß es beim Wahren, Guten und Schönen, das später oft zu Weisheit, Stärke und Schönheit wurde, auch um eine Dreizahl geht. Kein geringerer Autor als T. S. Eliot hat die Fähigkeit Dantes bewundert, über die Erleuchtungsproblematik, welche sowohl das Normalbewußtsein als auch die konventionellen sprachlichen Möglichkeiten so übersteigt, in weitgehend plastischer und verständlicher Weise schreiben zu können. Worum es dabei geht, hat Dante selbst so ausgedrückt: Weil meine Sehkraft, größer stets an Klarheit, Jetzt mehr und mehr schon eintrat in die Strahlung Des hehren Lichts, das ansichselbst die Wahrheit, Von da ab war mein Schaun von höherm Range Als unsre Sprache; solchem Anblick weicht sie, Wie auch Gedächtnis solchem Überschwange. Auch im letzten Gesang bringt der Autor Dante nach dem langen Eingangsgebet noch ein zweites Mal die Gottesmutter herein, die ihm nach diesen Terzinen sehr geholfen hat: O Gnadenmeer, das mich mit Mut bewehrte, Den Blick so ganz ins ewige Licht zu tauchen, Bis meine Sehkraft sich darin verzehrte! In seiner Tiefe sah ich im Vereine, Zu einem Band gebunden durch die Liebe, Was sonst im Weltenbuch zerstreut erscheine, 219 Vg. Louis Charpentier, op. cit., S. 69 - 146, besonders S. 87 - 107 220 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 727 238 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="257"?> Wesen, Zufälligkeit und ihr Getriebe Gleichsam verschmolzen hier in solcher Weise, Daß, was ich spräche, blasser Schein nur bliebe. Dann aber folgt, gleichsam als Ergänzung zum langen Eingangsgebet an die Himmelskönigin, die Schlußapotheose, zusammen mit dem Mariengebet der Höhepunkt des ganzen Werks: In diesem tiefen, klaren Wesensreiche Des hehren Lichts erschienen mir drei Kreise, Dreifach gefärbte, aber umfangsgleiche, Schult, der sonst immer die meisten und überzeugendsten Detaildeutungen bereit hat, verzichtet hier auf jede Erklärung der Dreifarbigkeit und zwar aus zwei Gründen: Erstens nimmt er an, daß die Templerfarben nur weiß und rot sind (von den weißen Mänteln der Tempelritter mit dem roten Kreuz) und zweitens basiert sein Kommentar auf der ansonsten sehr guten Übersetzung von Hermann Prietze, in dessen Übertragung der Vers 117 aber wie folgt lautet: Von gleichem Umfang, doch verschiedner Farbe Und der Eingangsvers der darauf folgenden Terzine (118) lautet so: Zwei ihrer glänzten wie zwei Regenbogen Daraufhin nahm Schult wohl an, daß durch die verschiedenen Farben das ganze Spektrum der sieben Regenbogenfarben abgedeckt war, was durchaus einen Sinn ergeben würde. Aber die Regenbogen sind eine reine Erfindung von Prietze. Im italienischen Original ist nicht nur ausdrücklich von „ tri colori “ die Rede, sondern ist im Vers 118 weit und breit kein arcobaleno sichtbar. Robert John aber weiß hier besser Bescheid. Durch sein ganzes Buch hindurch zeigt er immer wieder an Beispielen, daß die Templer drei Farben als Symbol hatten, rot, weiß und grün. Es waren die unabhängigen und nur dem Orden zugehörigen Geistlichen, die grüne Mäntel trugen und in deren Händen auch in hohem Maße die geistige Tradition lag. Wenn Dante die ganze Commedia hindurch ein dichterisches Bild der Templergnosis aufbaute, dann ist es wohl nur billig anzunehmen, daß sich die Dreifarbigkeit auf die Templerfarben bezieht. Wie bei Dante auch nicht überraschend, soll hier noch gezeigt werden, daß bei diesem wichtigen Schlußbild die Symbolik tiefer reicht, als einfach eine Beschreibung der Farben zu geben. Das Bild der drei Kreise ist der wichtige Auftakt der Apotheose, die zuletzt in den drei Schlußterzinen mündet: So stand ich bei der plötzlichen Erscheinung: Ich wollte, wie sich Kreis und Bild bedingen, Erkennen, und die Bild- und Kreisvereinung - 239 Dantes Paradies <?page no="258"?> Doch dazu taugten nicht die eignen Schwingen. Da fuhr ein Himmelsblitz durch meinen Geist Und gab der Sehnsucht Kraft, auch dies zu zwingen, Dann stand die hehre Fantasie verwaist; Schon aber folgte Wunsch und Wille gerne Dem S e r a p h s r a d , das ewgen Gleichschwungs kreist: Der L i e b e , die da Sonnen rollt und Sterne. 221 Wie im ersten Teile der Hölle und im zweiten Teil des Läuterungsberges, so endet auch der dritte und letzte Teil des Paradieses mit dem Wort „ Sterne “ . Im Paradies bestehen die Seelen nicht mehr aus Luft und Licht, sondern nur mehr aus Licht. Himmlische Sphärenmusik verströmt eine Atmosphäre von Ruhe und Frieden. Die Sterne erinnern an die Sternenweisheit der Commedia, die Teil des gesamten, lebenden Organismus des geistdurchwalteten Kosmos sind. Die letzten Terzinen berichten, wie Dante nach der Vision der Triade in den drei Kreisen durch eine blitzartige, letzte und höchste Erleuchtung der alles dominierenden Liebeskraft einsichtig wird, die alles im Universum, sogar auch die Sonne und Sterne, bewegt. Nahezu alle Kommentare erschöpfen sich in einer mehr oder weniger eingehenden Interpretation der Trinität im Sinn der Kirchenlehre, welche die Templergnosis ausgerottet hat, und möchten das als das letzte Wort der Schlußapotheose verstehen. Da die Templergnosis mit ihr nicht übereinstimmte, muß hier eine Interpretation in deren Sinn gegeben werden. Der Hinweis auf die drei Templerfarben des dritten Kreises impliziert bereits, daß es um eine Art von Triade geht, welche mit der Templerlehre übereinstimmt. Überhaupt geht es um die Klärung des Problems der drei Kreise als Ausdruck der Trinität. Zur Klärung des Problems sei hier der Mystiker und Gnostiker der Tiefenpsychologie C. G. Jung herangezogen, der einmal gesagt hat, daß nicht jeder Mensch die Tiefe eines Symbols verstehen kann. Dante aber scheint eine ähnliche Sensitivität und Affinität zur letzten und tiefsten Schicht des Unbewußten, dem „ Kollektiven Unbewußten “ , gehabt zu haben wie Jung. Wie hätte er sonst ihr Wesen im Dreiunddreißigsten Gesang so ausgezeichnet beschreiben können. Nun hat aber C. G. Jung bereits 1941 einen ausführlichen Aufsatz zur Trinität veröffentlicht 222 und diese hat ihn bis zu seinem Spätwerk Antwort auf Hiob 223 beschäftigt. Jung wünschte eine Erweiterung der Trinität zur Quaternität. Es fehlten ihm im katholischen Trinitätsbegriff vor allem die Aspekte des Weiblichen 221 Dies ist die von Zoozmann selbst verbesserte Fassung seiner eigenen Übersetzung in der neueren Dante-Ausgabe, Leipzig o. J., S. 413 222 C. G. Jung: Zur Psychologie der Trinitätsidee. In: Olga Fröbe-Kapteyn (Hg.): Eranos Jahrbuch, Bd. 8, Zürich 1941. Zuletzt „ Versuch einer Deutung des Trinitätsdogmas “ . In: Gesammelte Werke. Bd. XI, 1963 223 C. G. Jung: Antwort auf Hiob. Zürich 1953 240 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="259"?> und des Bösen. Während die ägyptische Triade Osiris-Isis-Horus sowohl das weibliche Element als auch das Problem des Bösen in sich barg, war der Aspekt des Weiblichen in der Trinität der Kirchenlehre nicht vorhanden. Sowohl Dante als auch die Templergnosis haben dies ganz offen durch die ungeheure Bedeutung sowohl Beatrices wie Marias ausgeglichen. In noch weiter gehender Weise haben sie notwendig versteckt dem Weiblichen eine Hauptrolle in ihrem Dreifaltigkeitsbegriff eingeräumt. Das Böse war vor allem durch das Martyrium Christi und durch Implikation seiner Höllenfahrt abgedeckt. 224 Was das Element des „ Weiblichen “ bei Dante betrifft, so hat nicht nur Schult Beatrices Macht zum „ Stärksten “ der ganzen Dichtung erklärt, 225 sondern gehört vor allem auch die Rolle Marias in den vielfachen Funktionen hierher, die ihr in der Commedia zugeschrieben wurde. 226 Maria hat besonders als Weltenmutter wie Isis durch Dante eine unerhörte Wichtigkeit erfahren. Den 15 Terzinen der Marienanrufung Bernhards am Beginn des Dreiunddreißigsten Gesanges kommt jedoch nicht nur quantitativ mindestens eine Gleichstellung gegenüber den 10 Terzinen der Beschreibung der Trinität zu. Im Zweiunddreißigsten Gesang wird Maria drei Mal erwähnt, im Dreiunddreißigsten zwei Mal. Dante hat auch außerhalb des von ihm gebrauchten Trinitätsbegriffes diese Einseitigkeit auszugleichen versucht, da er auf den wirklichen Hintergrund „ seiner “ Trinität nicht hinweisen durfte. Was das Böse betrifft, so haben sogar zwei Benediktinermönche in ihrem Buch an die Überzeugung C. G. Jungs erinnert, daß der Weg der Menschwerdung über den Abstieg in die Unterwelt, in das Unbewußte geht. Jung hat selbst einmal den 224 Der Abstieg Christi in die Hölle war genau jener Einbezug des Bösen, auf den es ankam. Er wird im Brief an die Epheser, 4,9 und im Ersten Brief an Petrus, 3,19 erwähnt und war Teil der Kirchenlehre. Eine durch die Aufklärung gegangene Kirche begann manchen Orts Schwierigkeiten mit der Hölle zu bekommen. Der große protestantische Historiker Adolf von Harnack hat allerdings im 19. Jahrhundert darauf hingewiesen, daß diese „ vertrocknete Reliquie “ einmal zentraler Teil der Erlösungslehre war. Freilich hat der berühmte protestantische Theologe Rudolf Bultmann im Rahmen seiner „ Entmythologisierung “ erklärt, daß sich Höllenabstieg und Auffahrt in den Himmel Christi erledigt hätten. Der eher freizügig orientierte, große katholische Denker des 20. Jahrhunderts, Hans Urs von Balthasar, hat im Gegensatz zu Bultmann als Ausnahmeerscheinung positiv von der „ Mythologie des Höllenabstiegs Christi “ (nicht des Mythos oder Mysterienkults! ) gesprochen. Aber dadurch, daß er die Hölle nicht mehr an einem bestimmten Ort wörtlich gemeint, sondern als inneren Zustand verstanden hatte, war er sowohl dem Gnostiker Dante als auch dem mystischen Psychologen Jung sehr nahe, was viele seiner Kommentatoren nicht wußten. Die ausführlichste theologische Beschreibung der Höllenfahrt Christi findet sich in den Pilatusakten des apokryphen Evangeliums des Nikodemos, das nach den einleitenden Worten des Autors im späten 4. Jahrhundert entstanden ist. 225 Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 726 226 Vgl. Arthur Schult, Dantes Divina Commedia . . ., op. cit., S. 732 241 Dantes Paradies <?page no="260"?> Brief an die Epheser 4,9 zitiert: „ Daß er aber aufgefahren ist, was ist ’ s, denn daß er zuvor hinuntergefahren ist in die untersten Örter der Erde. “ 227 Die beiden Benediktiner betonten, daß es bei Jung um genau dasselbe ging wie im Brief an die Epheser, obwohl viele Christen auf die Psychologie schimpften. Dante aber hat sogar noch im Siebenundzwanzigsten Gesang seines Paradieses in der Strafpredigt des Petrus gegen Papsttum und Kirche und in der Strafpredigt Beatrices gegen die weltliche Menschheit das Böse einbezogen. Ungeachtet der Vorstellungen C. G. Jungs ist Dante als Autor der Commedia nicht von einer Quaternität, sondern von der Trinität ausgegangen. Für ihn waren die drei Farben der Kreise nicht die Ursache der Trinität, sondern ihre Auswirkung. In der Trias Osiris-Isis-Horus war das Weibliche stärkstens vertreten. Für das Verständnis seiner Dichtung ist vor allem wichtig, daß außerdem gleich zwei so verschiedene mögliche gnostische Quellen wie das Chaldäische Orakel, diese „ Bibel des Neuplatonismus “ und das gnostische Baruch-Buch jeweils von einer Triade als Ursprung der ganzen Schöpfung ausgingen. Auch wenn keine der beiden seine wirkliche direkte Quelle gewesen sein sollte, so war wohl auch bei der einzigen sicheren, wenngleich verlorenen direkten Quelle der Templergnosis ebenso eine Trinität der Ausgangspunkt von allem gewesen. Dante konnte diese Trinität betonen, ohne Angst vor der Entdeckung haben zu müssen, denn die Zensoren der Inquisition konnten den Sinn des Begriffes „ Trinität “ nur im Sinn der Amtskirche verstehen, sodaß Dante samt den eingeweihten Lesern völlig auf der sicheren Seite war. Die drei Kreise der Trinität für sich sind jedoch überdies keineswegs das letzte, sondern nur das vorletzte Wort der Commedia. Eine erste, frühe Ankündigung und Vorausschau auf das letzte Wort findet sich schon sehr früh und zwar da, wo Vergil, der „ Vater des Abendlandes “ 228 , vor seinem Abschied von Dante diesen symbolisch krönt. Aus dieser Krönungsszene wird klar, daß es „ nicht der Poet Alighieri aus Florenz ist, der die Kronen trägt “ , sondern Dante als Allegorie „ des ganzen menschlichen Geschlechts “ . 229 An dieser Stelle ist es, an der sich Dante als namenloser Repräsentant der gesamten Menschheit fühlt, wo sich das allerletzte Wort ankündigt, das in den Versen 131 und 144/ 45 gesprochen wird. Der Vers 131 aber lautet: Mi parve pinta della nostra effige, was Zoozmann ziemlich wörtlich mit „ unserem farbentreu gemalten Abbild “ übersetzt. Die freie Übertragung von Prietze ist hier besser: „ In Farbe wie er selbst ein Menschenbildnis “ : Dieses „ Menschenbildnis “ zeigt sich Dante als Vision, 227 Anselm Grün, OSB und Meinrad Dufner, OSB: Spiritualität von unten. Münsterschwarzbach 1994 228 Vgl. Theodor Haecker: Vergil. Vater des Abendlandes. Leipzig 1931 229 Robert John, op. cit., S. 43 242 Der Höhepunkt: Dantes Göttliche Komödie <?page no="261"?> nachdem er nur eine kurze Weile den dritten und letzten Kreis (des Heiligen Geistes) angeschaut hatte. Es ist das Gesicht des Menschen schlechthin, der das Göttliche in sich trägt, wie es Pico della Mirandola schon in seiner großen Rede „ De dignitate hominis “ so nachdrücklich betont hat. Die letzte Erkenntnis, die Dante wie ein Blitzstrahl der Erleuchtung trifft, ist das Antlitz des Menschen, aus dem heraus plötzlich der Deus absconditus, der verborgene Gott, plötzlich als Deus relevatus, als offen sichtbarer Gott, sich enthüllt hat. In diesem Bild des Menschen erscheint plötzlich plastisch und anschaulich jene „ Ebenbildlichkeit “ Gottes, von der Hermann Broch gesagt hat, daß man auf den reinen, besonderen Begriff „ Gott “ noch eher verzichten könne als auf die anerkennende Erkenntnis dieser Ebenbildlichkeit. Wenn auch die Gnosis einen gewissen Elitismus zu implizieren scheint - nur die dritte menschliche Kategorie der Pneumatiker war fähig, die Gnosis zu verstehen - , so ist diese Fähigkeit verwandt mit anderen besonderen Fähigkeiten wie etwa besonderer Begabung auf musikalischem Gebiet und hat nichts zu tun mit der Gleichheit aller Menschen vor Gott und der Tatsache, daß der unsterbliche Seelenfunke in alle Menschen eingesenkt ist. Vor allem aber hat sie nichts zu tun mit jedweder Art von Menschenverachtung. Der Jenseitswanderer Dante selbst ist vom Ersten Gesang der Hölle an bis zum letzten Gesang des Paradieses ein eindrucksvolles Beispiel warmer Menschlichkeit, ja göttlicher wie allgemeiner Menschenliebe. Wenn sich nun ganz zuletzt im dritten Kreis das Antlitz eines Menschen, des Menschen zeigt, dann gilt das für jeglichen Menschen, ganz im Sinne der Schrift: „ Wahrlich ich sage euch, was ihr getan habt einem meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir getan. “ 230 Mit diesem Bild des Menschen untrennbar verbunden ist jene höchste Form der Liebe, in der sich die göttliche Kraft und Macht äußert, die unsichtbar und dennoch ganz wirklich das gesamte Weltall durchwaltet (Vers 144/ 45), und die selbst die Sonne bewegt und alle Sterne. 230 Matthäus 25,39 243 Dantes Paradies <?page no="263"?> III. Zum Fortwirken der Templergnosis Was das Fortleben der Templer betrifft, so ist das Bild der Literatur von dem chaotischen Zustand ihrer eigenen Geschichte nicht sehr verschieden. Viele Talmi-Organisationen, die den Namen benützen, erheben den Anspruch darauf, eine Nachfolgeorganisation zu sein. Hier ist insofern vom Thema dieses Buches her eine Einschränkung schon dadurch gegeben, da hier nur solche Organisationen in Frage kommen, die auf die eine oder andere Weise direkt an die templergnostische Tradition des Ordens selbst und direkt anknüpfen. Damit gehören viele Gruppen, denen es um den schönen Schein hübscher Rüstungen oder Uniformen und klingender Titel geht, von vornherein ausgeschlossen. Es gibt sogar auch Gruppen, die den Namen der Templer als Vorspann für völlig andere Ideen mißbrauchen. Sie setzen dabei bestenfalls die kriegerische Tradition des Ordens, nicht aber seine spirituelle Seite fort. Es ist die kriegerische Seite, die sie mit ihren Ideen verquicken möchten. Sie gehören hier schon gar nicht behandelt. Diese Klärung erfolgte im Hinblick darauf, daß nach einer Überlieferung der letzte Großmeister selbst aus dem Kerker heraus die Gründung von insgesamt vier Zentren angeordnet haben soll. 1 Zwei dieser Zentren, das von Paris und jenes von Edinburgh, haben durch ihre Entwicklung heute im Grunde eine gewisse Weltbedeutung erlangt. Die beiden anderen, von Stockholm beziehungsweise Neapel, sind zwar interessant und werden kurz behandelt, haben jedoch eine nur begrenzte Bedeutung. Das wichtigste Dokument für das Fortbestehen des Ordens in Paris ist die sogenannte „ Charta des Larmenius “ . 2 Eine sehr gute, knapp zusammengefaßte und im Wesentlichen objektive Darstellung dieser Pariser Entwicklung hat Hartwig Sippel gegeben. 3 Er hat der Charta des Larmenius von 1324 als frühem Hauptdokument des Fortlebens etlichen Raum gewidmet. Johannes Marcus Larmenius Hierosolymitanus war der Name des Pariser Großmeisters nach Jacques de Molay. Der Name war selbstverständlich ein Pseudonym „ zum Schutz der eigenen Identität vor Verfolgung und Entdeckung “ . 4 Larmenius gibt sich in dieser Charta von 1324 als Großmeister zu erkennen, der wegen seines hohen Alters seine Würde mit Zustimmung des Obersten Kapitels an Franz Theobald 1 Albert Pike: Morals and Dogma of the Ancient and Accepted Scottish Rite of Freemasonry. Washington, D. C. 1958, S. 820. 2 Genauer: „ Tabula Aurea “ oder „ Charta Transmissionis “ 3 Hartwig Sippel, op. cit., S. 301 - 322 4 Hartwig Sippel, op. cit., S. 310 <?page no="264"?> von Alexandrien - natürlich auch ein Pseudonym - weitergibt. Außerdem will er vier „ Vikare “ einsetzen, entsprechend dem ihm übergebenen Vermächtnis des „ heiligen ehrwürdigen und gesegneten Meisters, dem Märtyrer “ , der „ geehrt und gepriesen “ sei. 5 Die Idee mit den vier Vikaren war vielleicht die Interpretation des Auftrags von Jacques de Molay aus dem Kerker durch Larmenius, die vom letzten Großmeister des alten Ordens vielleicht anders gemeint war. Einer der ersten, wenn nicht überhaupt der erste, der diese Charta als Fälschung erklärte, war Ferdinand Wilcke, ein fundamentalistischer Oberprediger aus Löbejun bei Halle. In seiner besonders umfangreichen Geschichte des Ordens, die neben etlichem Richtigem so manches Unrichtiges enthält, wird als ein Grund, weshalb die Charta eine Fälschung sein soll, angegeben, daß der „ Freimaurerkonvent in Wiesbaden von 1782 “ die Templer von den Logen ausschloß. 6 Der Konvent, der kein allgemeiner Freimaurerkongreß war, sondern ein Konvent der sogenannten „ Strikten Observanz “ in Wiesbaden, hat nicht 1782, sondern 1776 stattgefunden und war überdies kein offizieller Konvent, sondern eine Privatveranstaltung des Freiherrn Gottlieb Franz von Gugomos, eines Jesuitenzöglings, Hochstaplers und Großsprechers, der sich als eines der nur „ sechs wahren Glieder des Innersten Ordens des alten, echten Templerordens “ ausgab. Er wollte diese hohe Würde in Zypern erhalten haben, „ um sein Volk zu retten “ . Die Rhetorik des Oberpredigers war kaum weniger großsprecherisch als jene des Herrn von Gugomos. Zahlreiche Autoren der Templer-Literatur haben die Saga von der Fälschung übernommen und während der Oberprediger sehr bekannt wurde, blieb die einzige wissenschaftliche Untersuchung der Charta, die 1911 durch den britischen Historiker Frederick J. W. Crowe vorgenommen worden war, weitgehend unbekannt. Crowe war außerdem so übervorsichtig, seine Untersuchung durch den damaligen Archivar der Manuskriptsammlung des British Museums, Sir George Warren, überprüfen zu lassen. Dieser hat sie voll bestätigt. „ Die Charta des Jean Marc Larmenius ist demnach ohne jeden Zweifel keine Fälschung und somit das älteste im Original erhaltene Dokument des Templerordens nach seiner ‚ offiziellen ‘ Auflösung im Jahr 1312. “ 7 Das Dokument ist überdies durch die Anwendung der Geometrie des Tatzenkreuzes der Templer verschlüsselt, sodaß es kein Außenstehender lesen konnte. 8 Wer, abgesehen von den Templern selbst, kannte denn damals den Code? Obwohl Larmenius und seine Mitbrüder noch in den alten Templerorden aufgenommen worden waren, stellte diese Nachfolgeorganisation keinen kirchlichen Orden mehr dar. Larmenius und sein Nachfolger wären zweifellos von der 5 Hartwig Sippel, op. cit., S. 306. Es gibt kein Dokument des „ Vermächtnisses “ . Die vier Vikariate mögen als Zentren mißverstanden worden sein oder umgekehrt. 6 Ferdinand Wilcke, op. cit., S. 629 7 Hartwig Sippel, op. cit., S. 305 8 Vgl. die drei „ Codes “ der Templer, auf S. 10 f. dieses Buches 246 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="265"?> Inquisition sofort verhaftet worden, hätte man sie erwischt. Sippel weist auf einige Nachfolger hin und hat auch die ganze Großmeisterliste der Folgezeit abgedruckt. Das nächste wichtige Jahr der Entwicklung war 1705, in dem sich die Organisation die Statuten eines Laienritterordens gab, der jedoch bewußt an die alte Tradition anknüpfte. Der Orden hatte in diesem Jahr unter dem Vorsitz des Philipp von Orléans im Schloß von Versailles ein Generalkapitel abgehalten. Philipp war kein geringerer als jener enge Verwandte des Sonnenkönigs, der von 1715 - 1723 für den unmündigen Ludwig XV. den französischen Staat leitete. Erst seit jenem Großmeister konnte dem Orden in Frankreich keine Gefahr mehr drohen. Bei jenem so wichtigen Generalkapitel wurden die Statuten neu geschrieben und auf 27 Seiten aufgezeichnet, welche die neue Grundlage des Laienordens bildeten. Der Kleinfolioband blieb im Besitz des jeweiligen Großmeisters, bis im Jahr 1871 die Gefahr drohte, daß er von der Commune hätte entdeckt und vernichtet werden können. Damals wurde er dem französischen Nationalarchiv übergeben. Zwar waren die Templer jetzt ein Laienorden, aber der Kirche zumal seit Philipp von Orléans durchaus wieder nahe. Es ist bezeichnend, daß der Konvent von 1754 im Jesuitenkolleg von Clermont abgehalten worden war. Er beschloß, künftige Mitglieder am besten aus der höchsten Aristokratie aufzunehmen und in dem Laienorden die vier weltlichen Kardinaltugenden, die Dantes Läuterungsberg dominieren, besonders zu unterstreichen. Auch einen neuen Namen erhielt der Orden nun: „ Die wohltätigen Ritter der heiligen Stadt “ . Damit war wohl Jerusalem gemeint, aber nicht mehr ausdrücklich genannt. Der Tempel Salomonis war zumindest aus dem Namen des Ordens ganz eliminiert. Allerdings hieß es in den Satzungen weiter, man wolle nicht nur Christus dienen, sondern auch den Tempel des himmlischen Jerusalem (nicht wörtlich im geographischen Sinn) in Anlehnung an die Mystik des Bernhard von Clairvaux wieder errichten. Die entsetzliche Klippe der Französischen Revolution war gewiß nur mit Opfern und Not zu umschiffen gewesen, aber Napoleon erwies sich als freimaurer- und templer-freundlich. Da nun auch Bürgerliche aufgenommen wurden, hatte man 1804 einen Bürger zum Großmeister gewählt. Er hieß Bernard-Raymond Fabré-Palaprat und präsidierte im Jahr 1808 in der Kirche von St. Paul bei einer öffentlichen Zeremonie, bei welcher die kaiserliche Ehrengarde vor dem Tor der Kirche ein Spalier bildete. Nun waren seit der Revolution in Frankreich die vornehmen Templer nicht mehr von der Kirche, doch dafür von Atheisten verfolgt. In der Zeit der Revolution hatte es auch kurz eine atheistische Inquisition gegeben, wenn sie auch einen anderen Namen hatte. Die moderne Zeit kündigte sich an. Dazu gehörte es auch, daß sensationslüsterne Journalisten ihren Beitrag zum Fortschritt und zur Templerverleumdung leisteten. Der große Auftritt von Fabré-Palaprat wurde im Zuge dieser Entwicklung in unserer Zeit, 1963, lächerlich gemacht. Bei 247 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="266"?> Gérard de Sède ist der Theologe und Arzt Fabré-Palaprat ein hergelaufener „ Hühneraugendoktor “ , der von einer lustigen „ Gesellschaft zum Lendenbraten “ herkam. 9 Tatsächlich war er das Haupt einer von ihm gegründeten „ johanneischen Urkirche “ , was direkt zum Ursprung der Templer zurückzuführen suchte, und er hatte sich in der Revolution große Verdienste um Verwundete erworben. Für seine Verdienste und für seinen Mut hatte er das Ritterkreuz der Ehrenlegion erhalten, die Medaille der Stadt Paris und die Décoration de Juillet. Es lohnt sich einen kurzen Blick auf de Sède zu werfen, der das ganze Auftreten der Templer im Jahr 1808 zu einer Art Faschingsschwank gemacht hat. Er war nach dem Krieg Zeitungsverkäufer und Erdarbeiter gewesen, hatte zwei Jahrzehnte als Journalist gearbeitet und war sodann Bauer geworden. Als Bauer traf er den Schweinezüchter Roger Lhomoy, der vorher Fremdenführer im Schloß von Gisors gewesen war. Dieser hatte dort unter dem Verlies des Schlosses eine geheime Grabkammer entdeckt. Nach einer vergeblichen Schatzsuche gemeinsam mit Lhomoy in Gisors schrieb de Sède einen Aufsatz über „ Das Geheimnis von Gisors “ . Dadurch lernte er Pierre Plantard kennen und dessen phantastische Geschichte und schrieb sein Buch Les Templiers sont parmi nous. Mit seinem folgenden Buch L ’ Or de Rennes verbreitete er dann außerdem noch im Zusammenhang mit dem Templerbuch die Münchhausengeschichte und den Faschingsschwank von dem Priorat von Sion, die wichtig für die Templer sein sollte, als historische Wahrheit. Da er selbst ein Schwindler war, nahm er vielleicht an, daß alle schwindeln, und machte aus Fabré-Palaprat eine Faschingsfigur. Oder aber er wendete bewußt die reziproke Methode an und so wie er seinen eigenen Faschingsschwank als historische Wahrheit ausgab, drehte er nun den Spieß einfach um und machte aus der historischen Wahrheit einen Faschingsschwank. 10 Es ist seltsam, daß de Sèdes Unwahrheiten einen seriösen Historiker so beeindruckt haben, daß er die Verspottung von Fabré-Palaprat ausführlich schildert, während er von der historischen Person offenkundig gar nichts wußte. 11 Fabré- Palaprat sollte eine nicht untragische Rolle im neuen Templerorden spielen. Durch seine Tüchtigkeit wurde der Orden wieder international. Mit den Ideen seiner Johanneischen Urkirche versuchte er in Richtung auf Erneuerung der Templergnosis zu wirken, stieß aber natürlich auf den Widerstand der katholischen Mitglieder. Was im alten Templerorden klug getrennt von der Oberfläche kultiviert worden war, das war nun offene Diskussion, und 1813 wurde Fabré- 9 Gérard de Sède: Die Templer sind unter uns. Berlin 1963 10 Gérard de Sède, op. cit., Berlin 1963 11 Martin Bauer, op. cit. S. 234 - 236. Es ist zeitbedingt und dennoch seltsam, daß sogar im Freimaurerlexikon von Eugen Lennhoff - Oskar Posner: Internationales Freimaurerlexikon. München-Zürich-Wien, o. J. infolge seiner überängstlich rationalistischen Haltung der Amtskirche und den Lügen der Jesuiten von Clermont mehr Glauben geschenkt wird als der esoterischen Tradition der johanneischen Kirche. Vgl. Lennhoff - Posner, op. cit., Spalte 1163 248 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="267"?> Palaprat zum Rücktritt gezwungen. Aber die innere Spaltung und Spannung war nun einmal da und der katholische Großmeister Charles-Louis Le Peletier, Graf von Aunay, wurde damit nicht fertig. Die Anhänger Fabré-Palaprats rasteten nicht und nicht nur seine Verdienste im humanistischen Bereich waren so groß, sondern auch seine Persönlichkeit war so überzeugend, daß er schließlich 1826 einstimmig wieder zum Großmeister gewählt wurde. Die Durchsetzung seiner Idee von der johanneischen Urkirche scheiterte allerdings wieder. Im Jahr 1836 wurde ein Exekutivkomitee eingesetzt, auf dessen Druck eine neue Verfassung und katholische Statuten beschlossen wurden. Fabré- Palaprat zog sich, durch Krankheit sehr geschwächt, in seine südfranzösische Heimat zurück, aus der so viele alte Templer gekommen waren. Im Jahr 1838 war es dann so weit, daß ganz entsprechend der allgemeinen politischen Entwicklung in Frankreich der Templerorden auf seinem Konvent ein Bekenntnis zum katholischen Glauben ablegte. Aber die geistige Saat von Fabré-Palaprat überlebte sogar seinen Tod und nach 1840 brachen die alten Gegensätze wieder auf. Da sandte der katholische Großmeister Jean Marie Raoul 1845 einen Legaten nach Rom, in der Hoffnung durch päpstliche Anerkennung die Einheit des Ordens wieder herstellen zu können. Sippel spricht von der „ bis zum heutigen Tag historisch einmaligen Gelegenheit “ . 12 Papst Gregor XVI. empfing nicht nur den Legaten, sondern war auch der Idee der Anerkennung durchaus offen. Er forderte jedoch, daß alle Mitglieder des Ordens die katholische Konfession annehmen. Er hatte Geld und Einfluß gewittert und es war ja von ihm gesagt worden, daß er bereit war, für 100.000 Gulden jeden Toten zu kanonisieren und in die Gemeinschaft der Heiligen aufzunehmen. Wahrscheinlich war er der einzige neuere Papst, der so empfand wie Bonifaz VIII. und Clemens V. zu Dantes Zeiten. Die Bedingung des Papstes erwies sich als nicht erfüllbar. Gerade durch die Internationalisierung des Ordens, wie Fabré-Palaprat sie erreicht hatte, waren zu viele ausländische Ritter keine Katholiken und weigerten sich, ihren Glauben aufzugeben. Also verblieben johanneische Brüder im Orden. Die Zeit von Papst Johannes XXIII. ging jedoch nicht spurlos am neuen Templerorden vorbei, sodaß schließlich nach den drei Kapiteln von Paris 1970, Chicago 1971 und Tomar 1973 die Statuten so geändert wurden, daß bei Neuaufnahmen als Bedingung nicht „ katholisch ’“ , sondern nur mehr „ christlich “ gefordert wurde. Eine Spur der freieren Geistigkeit von Fabré-Palaprat hatte sich durchgesetzt. Das allzu enge katholische Dogma war einem weiträumigeren Christentum gewichen. Für das trotzdem gute Verhältnis zur Kirche war für den Orden vor allem von Wichtigkeit auch die Übernahme des geistlichen Protektorats durch Maximos V. Hakim, Patriarchen von Antiochia, dessen Gebiet den ganzen Nahen Osten von 12 Hartwig Sippel, op. cit., S. 319 249 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="268"?> Alexandrien bis Jerusalem abdeckte. Des Ordens Aufgabe war ja nach wie vor „ Schutz und Beistand für die Christen im Heiligen Land “ . Maximos V. Hakim hatte mit viel Geschick den katholischen Flügel der melkitischen Kirche durch die Aufnahme westlicher Gruppen wesentlich erweitert. Jedenfalls war der Orden im Grunde nach 872 Jahren wieder nach Jerusalem zurückgekehrt. 13 Auch Larmenius hatte noch Jerusalem in seinem Gelübde gehabt. Der Patriarch von Antiochia gehört der griechisch-katholischen Kirche an. Der jetzige Templerorden betrachtet sie als die „ Urkirche “ , wenn sie das auch nicht im Sinn der alten, ursprünglichen Templergeistigkeit ist. Aber die griechisch-katholische Kirche ist jedenfalls die größte christliche Kirche im Heiligen Land. Nicht zuletzt ist auch der Name des Tempels von Jerusalem wieder im Namen des Ordens zurück, denn die Nachfolgeorganisation des Larmenius heißt heute Ordo Militiae Christi Templi Hierosolymitani (O. M. C. T.H.). Hartwig Sippel aber ist ganz im Stil der alten, ursprünglichen Templerstatuten „ Großprior “ von Österreich und überdies noch Legat des Magnum Magisteriums für den Libanon. Der französischen Nachfolgeorganisation, die wieder vom Papsttum anerkannt wird, ist damit im Grunde ein kontinuierliches Fortwirken durch die so bewegten Zeitläufte gelungen, was eine nicht zu unterschätzende Leistung bedeutet. Sie vertreten sehr ähnliche Prinzipien wie der alte Orden, ihr Hauptsitz ist wieder Jerusalem, und sie verteidigen westliche Werte gegen eine neue fanatische Welle machthungriger Mullahs und Politiker, die den Islam nicht als Religion, sondern als religiöse Ausrede für ihre sehr unreligiösen Untaten betrachten. Ihr relativ tolerantes, weiträumiges Christentum rettet sie auch wiederum nicht davor, von einer neuen, in vielen Fällen kaum viel weniger unmenschlichen und grausamen Inquisition bekämpft zu werden als jener der fanatischen Ketzerjäger von einst, der neuen Inquisition des Atheismus. Das Spektrum reicht von relativ friedlichen Atheismus-Missionen bis zur fanatischen Unterdrükkung in Rotchina, Nordkorea und früher sogar dem heruntergekommenen Kuba. Auf die russische Problematik soll hier nicht eingegangen werden. Unmittelbar nach der sogenannten Wende habe ich in Polen einen Aristokraten kennen gelernt, der sich mir als Templer zu erkennen gab und der durch etliche Jahre hilfsbereit, mutig und klug erstaunlich viel Gutes geleistet hatte. Was nach Paris das zweite Zentrum betrifft, das de Molay begründen wollte, so lagen im schottischen Edinburgh die Verhältnisse ganz anders, denn der Regent, König Robert I. , Bruce, war selbst vom Papst mit dem Bann belegt worden und hatte keinerlei Sympathien für Clemens V. Trotz des Bannes erhielt auch er die päpstlichen Schreiben mit der Aufforderung der Verhaftung, Folter und gegebenenfalls Verbrennung der Templer. Nach der ersten solchen Aufforderung wurden alle Templer öffentlich unterrichtet, daß sie zu einer Untersuchung in 13 Hartwig Sippel, op. cit., S. 321 250 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="269"?> Holyrood erscheinen sollten. Es waren aber nur zwei, die tatsächlich kamen, und beide wurden freigesprochen. Damit hatten sich die Anstrengungen des Bruce für die Durchführung der Aufforderungen des Papstes erschöpft. So wie der Beauftragte von de Molay für die Fortführung des Ordens in Paris Larmenius war, so war es in Schottland Pierre d ’ Aumont, dessen Name echt ist, denn er war zuvor Präzeptor der Auvergne gewesen. D ’ Aumont war es gelungen, der Verhaftung zu entgehen und er war zunächst noch in Frankreich geblieben, in der Hoffnung, Jacques de Molay würde freigelassen. Am Abend des 18. März 1314, nach der Verbrennung des Großmeisters, machte er sich mit acht anderen Rittern auf, die Asche des Märtyrers zu bergen. Dabei richteten sie die Spitzen ihrer Schwerter gegen den verglühten Scheiterhaufen, riefen „ Mac Benach “ (vom hebräischen Makbenach, was bedeutet: das Fleisch vom Knochen getrennt). Sie schworen, ihren Meister zu rächen und für die Fortsetzung des Ordens zu sorgen. Sodann gingen sie als Maurer verkleidet nach Schottland, wo sich der schottische Präzeptor Harris unangefochten um sie kümmern konnte. Die schottische Templer-Präzeptur war in Balantradoch (Arniston) in Midlothian. Pierre d ’ Aumont wurde am 24. Juni 1315 auf der schottischen Insel Mull zum Großmeister gewählt. 14 Die Insel Mull war damals darum wichtig, weil an ihr vorbei der einzige offene Seeweg nach Schottland war, der nicht von englischen Schiffen kontrolliert wurde. Drei Monate nach dem Tod des Großmeisters in Paris fand in Schottland die Schlacht von Bannock Burn statt. Bannock Burn ist noch heute eine der wichtigsten Gedenkstätten Schottlands. Die Schlacht wird in der inoffiziellen schottischen Nationalhymne „ Flower of Scotland “ erwähnt, in der Nähe der Gedenkstätte befindet sich ein Reiterstandbild von Robert Bruce und im Bannock Burn Heritage Center kann man die Schlacht genau nachvollziehen. Eine berühmte Beschreibung der Schlacht findet sich in dem langen Epos des Bischofs John Barbour von Aberdeen. Das Bemerkenswerte für die Schlacht ist der Umstand, daß eine kleine Truppe von schlecht bewaffneten Schotten eine dreibis vierfache Übermacht der Engländer in die Flucht geschlagen hatte. Nach der Beschreibung des Bischofs von Aberdeen schien die Schlacht schon fast verloren, als plötzlich eine neue Streitmacht auftauchte, welche die Engländer in die Flucht trieb. Den Auftakt zu dieser Flucht hatte allerdings die Flucht König Edwards mit seinem persönlichen 14 Robert John hat in Die Warte, Nr. 13, S. 1 - 2 vom 5. April 1947 (Beilage zur Zeitschrift Die Furche) unter dem Titel „ Um Dantes Templertum “ einen Aufsatz geschrieben, in dem er annimmt, daß der Templer-Geistliche Peter von Bologna, der auch zu Robert Bruce geflohen war, der Begründer der schottischen Linie der Templergnosis gewesen ist. Das stellt keineswegs einen Widerspruch zu Pierre d ’ Aumont dar. Dieser war der erste Großmeister des schottischen Ritterordens, Peter von Bologna oblag die spirituelle Leitung der Templergnosis. 251 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="270"?> Beschützer gegeben, der kein Gegengewicht gegen den martialischen Robert Bruce war. Der König floh, weil plötzlich unerwartet diese neue Streitmacht auf Seite der Schotten aufgetaucht war und die Engländer attackierte. Nach der Beschreibung des Bischofs bestand die riesige neu aufgetauchte „ Streitmacht “ aus Kutschern des Nachschubs, Freisassen, Marketendern, benachbarten Bauern und sogar auch aus Kindern. Diese „ Entsatzmacht “ soll aus langen Stangen mit daran befestigten Leintüchern Banner gemacht haben. Als der König diese Streitmacht erblickte, ergriff er die Flucht, was die Flucht zuerst seiner Ritter und sodann auch der nachfolgenden Infanterie nach sich zog. David Currie hat wie auch andere diese Schlachtbeschreibung des Bischofs angezweifelt. Nicht nur fand er die Zahl der Entsatz-Streitmacht viel zu hoch, sondern er stellt auch die Frage, auf welche Weise plötzlich der Nachschub zusammen mit Bauern und Kindern in die Schlacht hätten eingreifen können. Zudem hätten die Engländer die Stellung des schottischen Nachschubs genau gekannt und hätten davor so wenig Angst gehabt wie vor ihren „ Bannern “ . Wohl aber hätten sie es mit der Angst zu tun bekommen, wenn plötzlich und unerwartet eine Truppe von Templern aufgetaucht wäre, und seien es auch nur 63 gewesen, die für ihre Kavallerieattacken berühmt waren. 15 Unter den Historikern ist die Ansicht über das Eingreifen der Templer geteilt. Es gibt neben denen, die zustimmen, auch solche, die über einen Ausfall der schottischen leichten Kavallerie als entscheidend am Ende des zweiten Schlachttages berichten. Eine Möglichkeit wäre, daß diejenigen Historiker, welche die Templer nicht erwähnen, dies aus nationalem Stolz getan haben, obwohl an einer solchen Templerattacke bestimmt nicht nur französische Emigranten, sondern auch die bodenständigen schottischen Templer teilgenommen haben oder hätten. In der freimaurerischen Tradition gehen jedenfalls sowohl die Gründung des schottischen Andreas-Ordens durch Robert Bruce auf die Schlacht von Bannock Burn zurück, als auch die Gründung des maurerischen Hochgradsystems des „ Royal Order of Scotland “ , der zunächst auf 63 Mitglieder beschränkt war, eben weil 63 Templer jenen Trupp von Kavallerie bildeten, der zuletzt überraschend eingriff. Eines der frühesten erhaltenen Originaldokumente über die Templer in Schottland nach der Auflösung des Ordens stammt aus Paris. Es ist die oben erwähnte Charta des Larmenius, in der sich folgender Passus findet: „ Mit der höchsten mir durch das Generalkapitel übertragenen Autorität befehle ich, daß die schottischen Templer, die den Orden verlassen haben, verdammt werden und 15 Vgl. Robert Aitken: The Knights Templars in Scotland. In: The Scottish Review. A Quarterly Journal. Vol. XXXII, Glasgow 1898. Vgl. auch David Goudsward: The Westford Knight and Henry Sinclair: Evidence of a 14th Century Scottish Voyage to North America. Jefferson, NC 2010 252 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="271"?> daß sie wie auch die Brüder von St. Johannes zu Jerusalem außerhalb des Kreises der Templer befindlich sein werden, für jetzt und alle Zeit. “ 16 Die nach Schottland geflohenen Templer - ganz besonders samt ihrem Großmeister Pierre d ’ Aumont - werden hier mit dem Johanniter- oder Hospitaler-Orden gleichgesetzt, der durch seine Templerfeindlichkeit zu „ Universalerben “ des Vermögens gemacht und Erzfeind der Templer geworden war. Nach einer anderen Version wurde Pierre d ’ Aumont schon 1313 zum Großmeister in Schottland gewählt und die Versammelten beschlossen, den Orden auf ewige Zeiten fortzuführen. 17 Nachfolger von Pierre d ’ Aumont als Großmeister war der alte Präzeptor von Schottland George Harris, dessen Standort Ballantradoch war. Das Land dort war den Templern von König David I. gegeben worden, der sie auch zu „ Wächtern der königlichen Moral “ ernannt hat. Den größten Teil des 16. Jahrhunderts sollen Nachkommen von d ’ Aumont Großmeister gewesen sein. Vereinzelte Nachrichten finden sich auch im 17. Jahrhundert. So wurde der Kommandeur eines schottischen Dragonerregiments, John Graham of Claverhouse ( „ Bonnie Dundee “ ), nach seinem Tod ein Zeuge für die Anwesenheit der Templer. Er war der Meister eines jakobitischen Templer-Konvents in der Region von Montrose gewesen und fiel im Englischen Bürgerkrieg in der Schlacht von Killiecrankie am 27. Juli 1689. Unter der Brustplatte des Gefallenen entdeckte man das Großkreuz des Templerordens. 18 Claverhouse, der für die Sache der katholischen Stuarts fiel, war selbst Mitglied der anglikanischen Kirche. Es waren die englischen, nicht nur kunst- und kulturfeindlichen, sondern vor allem auch antignostischen Puritaner, welche manche Templer auf die Seite der liberaleren Stuarts brachten. Freilich war es wohl ein Irrtum des berühmten Andrew Michael Ramsay, Jakob I. als Großmeister zu nennen. Ramsay hat in der Geschichte der französischen Freimaurerei als Großredner durch seinen „ Discours “ von 1737 eine wichtige Rolle gespielt. Der idealistische und edle Ramsay war allerdings in ähnlicher Weise verleumdet worden wie die Templer und ist ein Kronbeispiel der geistigen Beschränktheit und der konfessionellen Streitigkeiten der Zeit. Der geborene schottische Kalvinist war durch den hochgesinnten und liberalen Erzbischof und Autor Fénelon formell zum Katholizismus bekehrt worden und hatte von Fénelon und Madame Guyon als geistige Grundhaltung einen mystischen Quietismus übernommen, dessen Anfänge bei der großen spanischen Mystikerin Therese von Avila liegen, die selbst schon ihre bösen Schwierigkeiten mit der Amtskirche gehabt hatte. Auch Madame Guyon wurde sieben Monate in das Gefängnis geworfen. Fénelon selbst wurde in die Provinz verbannt. 16 Zitiert nach Hartwig Sippel, op. cit., S. 306 17 Scottish Review, Vol. XXXII 18 Marsha Keith Schuchard: Restoring the Temple of Vision. Leiden - Boston - Köln 2002, S. 767 253 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="272"?> Ramsay hatte einerseits darauf hingewiesen, daß es bei der Freimaurerei nicht nur um die Handwerker von Steinmetzen und Maurern gehen könne und hatte auch von einem „ renouvellement “ des Templerordens gesprochen. Andererseits hat er die Johannis-Freimaurerei, durch den Namen getäuscht, mit dem Orden der „ Chevaliers de St. Jean de Jérusalem “ gleichgesetzt, der schon vor der Auflösung des Templerordens, aber noch viel mehr danach ein Gegner der Templer gewesen ist. Diese Vermischung von Ramsay, aus Unkenntnis der historischen Sachlage entstanden, wird von einzelnen modernen „ Erneuerern “ als bewußte Täuschung und Irreführung gesehen. Eine Schlüsselstelle in Ramsays Rede war der Hinweis auf die lange zurückliegende Kette von Mysterienkulten von Vorläufern: „ Ja, meine Herren, von den berühmten Festen der Ceres in Eleusis, der Isis in Ägypten, der Minerva in Athen, der (Aphrodite) Urania bei den Phöniziern und der Diana bei den Skythen wurde uns berichtet. “ 19 Ein großer Teil dessen allerdings, was über die Stuart-Maurerei ganz besonders auch im Hinblick auf den Beginn der Hochgrade geschrieben wurde, beruht entweder auf Irrtum oder auf Fälschung. 20 Darum hat auch Robert Lomas die Beziehungen der Stuarts zur Maurerei gänzlich als „ jakobitische cover story “ bezeichnet. 21 Auch damit hat er wohl recht, daß er die öffentliche Gründung der Großloge von England im Jahr 1717 als Reaktion auf die erste größere Stuart- Rebellion von 1715, ein Jahr nach der Thronbesteigung durch die Hannoveraner, gesehen hat, welche dann die Gründung einer Großloge von Irland und von Schottland zur Folge hatte. Eine Schlüsselpersönlichkeit in diesem Zusammenhang war Deuchar, der schließlich seine Loyalität als templerischer Maurer den Stuarts entzog, um sich den nunmehr legitim regierenden Hannoveranern anzuschließen. Von ihm wird später noch die Rede sein. Im Grunde war es natürliche, sozialgeschichtlich bedingte Folge, daß im katholischen Frankreich die Templernachfolge zuletzt in ein katholisches Fahrwasser geriet, im protestantischen England aber zuletzt vor allem in die Freimaurerei ausmündete, gleichgültig ob nun zuerst die Templernachfolger sich der Symbolik der Maurerbruderschaften bedienten oder umgekehrt die Maurerbruderschaften Templer-Aristokraten als „ Schutz “ aufnahmen. Was die Entwicklung in England betrifft, so läßt sich generell sagen, daß ich keine wohldokumentierte Darstellung der Entwicklung bieten kann, wie es zur Verbindung der ursprünglichen schottischen Templertradition mit der Werkmaurerei gekommen ist. Festzustehen scheint, daß sich diese Entwicklung nicht in einem einzigen knappen Schritt vollzogen hat, bevor man von einer „ alten und angenommenen “ Maurerei sprechen konnte. Damit war eine fugenlose Synthese 19 Zitiert nach Albert Lantoine: Le Rite Écossais, Paris 1930, S. 20 f. 20 Vgl. A. C. F. Jackson: Rose Croix: A History of the Ancient and Accepted Rite for England and Wales. Verbesserte Ausgabe, London 1987 21 Robert Lomas: Turning the Templar Key. Beverly, Massachusetts 2007, S. 340 254 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="273"?> vollzogen, mit der zugleich die endgültige Abkehr von jeglicher Art von „ Vergeltungsideen “ verbunden gewesen ist. Es gibt eine indirekte Dokumentation über die frühen Jahre der Templer nach der Auflösung des Ordens in England und einen ihrer Vergeltungsschläge, und es gibt Dokumentationen über einzelne, unzusammenhängende Stufen der Entwicklung vor der endgültigen Vereinigung von „ operativer “ und das bedeutet Werkmaurerei mit der „ symbolischen Maurerei “ , welche symbolisch weitgehend für die gnostische Geistestradition der Templer steht. Wobei wohl auch rosenkreuzerische Ideen mit eingeflossen sind. Diese Schwierigkeit der Darstellung jener Entwicklung spiegelt sich auch in den sechs Bänden von Goulds History of Freemasonry, dem Standardwerk der britischen Freimaurergeschichte, die revidiert und verbessert in vier Bänden von Herbert Poole herausgebracht worden ist. 22 Ein nachweisbares Faktum stellt auch die Geschichte der drei bestehenden sogenannten „ Hochgradsysteme “ der Freimaurerei dar, die alle an das geistige Erbe der schottischen Templer anknüpfen. Allerdings gibt es auch keine lükkenlose Dokumentation für deren kontinuierliche Entwicklung. Es gibt aber gleichsam Fixpunkte dieser Entwicklung, durch welche das Templererbe außer jedem Zweifel steht. Nichtsdestoweniger haben nicht nur die Hochgrade, sondern auch die blauen Johannisgrade das geistige Erbe der Templergnosis aufgenommen, wie ja schon ihr Name sagt. Die oben von Robinson berichteten Beobachtungen zeigen das in aller Deutlichkeit. Allerdings gibt es eine definitive Zusammenfassung dieses Erbes von einem wirklichen Kenner. 23 Von den Hochgradsystemen sind es zwei, die weltweit verbreitet sind, wie die Templer es zu ihrer Zeit waren. Beide haben viele Mitglieder und beide setzen für die Aufnahme in der Praxis den dritten Grad der blauen oder Johannis- Freimaurerei voraus. Der ältere der beiden ist der York-Ritus, auch Ritus des Royal Arch (Königlichen Bogens) oder Amerikanischer Ritus genannt. Als sein direkter Gründer gilt Thomas Smith Webb mit seiner Schrift The Freemasons. Monitor or Illuminations of Masonry aus dem Jahr 1797. Der Ritus setzt sich aus einer Verbindung ursprünglich einzelner, älterer freimaurerischer Rituale zusammen. 24 Es gibt mehrere Hypothesen über die Anfänge dieses Ritus, von denen eine auch die Herkunft von den nach Schottland geflohenen Templern annimmt, doch gibt es keine wirkliche historische Dokumentation. Allerdings ist der letzte, höchste und zwölfte Grad der eines „ Ritter vom Tempel “ und voll von Ideen der Templergnosis. 22 Herbert Poole: Gould ’ s History of Freemasonry. 3. Auflage, London 1951 23 Arturo de Hoyos: Esoterika. The Symbolism of the Blue Degrees in Freemasonry. Washington, D. C. 2005. Vom selben Autor: The Scottish Rite Ritual. Monitor and Guide. Washington 2009 24 John Sheville and James L. Gould: Guide to the Royal Arch Chapter. New York 1870 255 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="274"?> Das zweite große Hochgradsystem, das sogar den Namen „ Alter und angenommener Schottischer Ritus “ führt, wurde 1801 in Charleston (South Carolina) gegründet. Auch die besonders wichtigen Grade des 30. und 33. sind jeweils ganz oder teilweise Templergrade. 25 Das dritte Hochgradsystem führt sogar den Namen „ Königlicher Orden von Schottland “ . Dieser Ritus erklärt seine Herkunft direkt von Robert Bruce aus Dankbarkeit für die entscheidende Hilfe der Templer bei der Schlacht von Bannock Burn. Der Gründungstag fällt demgemäß auf den Sommer-Johannestag des Jahres 1314. Das Ritual weiß sogar genau, wie viele Templer es waren, die damals eingegriffen hatten: dreiundsechzig, welche Zahl realistisch klingt. Aus diesem Grund durfte der Orden zunächst nicht mehr als 63 Mitglieder haben. Erst als er zu einer internationalen Organisation anwuchs, erlaubte man der Provinzialgroßloge jedes Landes wieder 63 Mitglieder. So wurden beispielsweise noch 1878 eine Provinzialgroßloge von Puerto Rico, Panama, Guam und den amerikanischen Virgin Islands gegründet. Dieser Orden hat aber nicht eine so weltweite Verbreitung gefunden wie die beiden anderen Systeme. Die mögliche Herkunft vom schottischen König Robert I. wird sogar im Ritual vorgeführt, da jedes Mal rechts vom Vorsitzenden ein leerer Stuhl (oder „ Thron “ ) für den schottischen König hingestellt wurde, seit der Gründung Großbritanniens einer für den englischen König. Dieser Ritus hat nur zwei Grade und setzt die Mitgliedschaft zu höheren Graden des York-Ritus 26 oder des Schottischen Ritus voraus. Der erste der beiden Grade des „ heredom “ wird in altertümlichen, gälischen Versen tradiert, der zweite Grad ist ein Rosenkreuzergrad, doch verschieden vom höchsten Rosenkreuzergrad des Schottischen Ritus. 27 Ursprünglich gab es auch einen „ Order of St. John and the Temple “ , der sich im Zeitalter der Reformation auflöste, als sein Präzeptor, Sir James Sandilands, 1553 zum Protestantismus übertrat. Sogar der ebenso gelehrte wie gründliche Ordensgeistliche Robert John hat in seiner wissenschaftlichen Wahrheitsliebe herausgefunden, daß Grade des Schottischen Ritus Templergrade sind. 28 Heute gibt es allein in Schottland eine ganze Anzahl nicht-maurerischer „ Tempelritter “ -Organisationen. Die wichtigsten davon sind die „ Great Priory of Scotland “ , der schottische Zweig der großen französischen Nachfolgeorganisa- 25 Das weltweit bis heute benützte Grundlagenwerk von Albert Pike Morals and Dogma ist erstmals 1871 erschienen. Sogar heute gibt es noch Leser, die sich als Fachleute betrachten, und es gar nicht verstehen. 26 Der York-Ritus umfaßt die sogenannte „ Kapitelmaurerei “ und die „ Kryptische Maurerei “ . Die Erinnerung an die neun Urtempler ist dadurch lebendig, daß das „ verlorene Wort “ tief unter dem salomonischen Tempel entdeckt wird. 27 Vgl. Arthur Edward White: The Royal Order of Scotland. Reprint im Kessinger Verlag 2010 28 Robert John, op. cit., S. 133 256 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="275"?> tion. Außerdem die „ Magisterial Grand priory of St. Antony, Scotland “ , die „ Confederation of Scottish Knights Templar “ , der „ Ancient Scottish Military Order of Knights Templar “ und die „ Militi Templi Scotia “ . In Portugal wurde der Templerorden niemals aufgelöst, da es sich der König nicht leisten konnte, angesichts der radikalen Bedrohung durch aggressive Moslems auf die besten Abwehrkämpfer für die Freiheit des Landes zu verzichten. Es gab jedoch eine Umstellung der Statuten dadurch, daß an Stelle des Papstes der König der oberste Herr des Ordens wurde. Außerdem wurde der Orden in „ Christusorden “ umbenannt und im Laufe der Zeit verschwand vieles an Templergnosis. Eine Darstellung dieses Christusordens aus dem Jahr 1756 wurde noch 1994 veröffentlicht und war in den Buchhandlungen Lissabons zu haben. Der Tempel von Jerusalem kommt darin noch immer vor. Herausgeber ist André Jean Paraschi, der auch eine Geschichte der Templer in Portugal geschrieben hat. Wenn aber mit großer Sicherheit behauptet wurde, Jacques de Molay hätte vom Kerker aus auch ein Zentrum in Stockholm zu gründen angeordnet, dann lohnte es sich, einen Blick auf die schwedische Freimaurerei zu werfen. Da zeigt es sich, daß das schwedische System tatsächlich von fast allen anderen insofern verschieden ist, als seine höheren Grade rein christlich sind, es besonders großen Wert auf spirituelle Probleme legt und direkt oder indirekt die Templertradition als Basis hat. Stockholm ist der einzige Ort, an dem es gleich zwei Berichte gibt, die den Titel „ Testament des De Molay “ führen. Der eine davon ist in Lennings Encyclopädie abgedruckt. 29 Er enthält zwar auch Richtiges, doch werden die Fakten mit geradezu abscheulichen und abstoßenden Lügengeschichten vermengt, die behaupten, daß de Molays Neffe, der Graf Fançois Beaujeu, ihn im Kerker besuchen hat dürfen und der danach die sterblichen Überreste des Großmeisters mit jenen des verstorbenen Clemens V. ausgetauscht hätte sowie anderen phantastischen, gruseligen Unsinn. Im dritten Band derselben Encyclopädie wird ergänzend dazu berichtet, daß es im Archiv des Großkapitels des von Karl XIII. gegründeten Staatsordens einen zweiten Bericht, anders als derjenige über die Weiterführung des Templerordens „ im Collegium von Clermont “ , gibt, jedoch „ vervollkommnet und auf geschichtlichen Grundfesten, die diesem fehlten, erbaut. “ 30 Der zum König gekrönte Karl XIII. gründete einen freimaurerischen Staatsorden, in den er das Erbe der Templergnosis integrierte. „ Dieser öffentliche Freimaurerorden, der als Spitze der (schwedischen) Lehrart zu betrachten ist und 29 C. Lenning: Encyclopädie der Freimaurerei. Bd. II, Leipzig 1824, S. 502 - 508 30 Lenning, op. cit., Bd. III, S. 485. Es ist ein ebenso vornehmer wie präziser Hinweis darauf, wo die Fälscher zu suchen sind, denen „ die geschichtlichen Grundfesten “ fehlen, nämlich im Jesuitenkolleg von Clermont. 257 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="276"?> dessen Chef satzungsgemäß immer der König ist “ , besteht bis heute. Er ist gekennzeichnet durch das Streben nach der wahren Religion und sein intellektuelles Niveau wird gekennzeichnet durch den Einfluß Swedenborgs, dessen Lehren Albert Pike als Kabbala ohne Hierarchie bezeichnet hat. „ Sicher ist es jener Seitenzweig der Freimaurerei, der sich vom englischen Stamme am weitesten entfernt hat. Aber dieser Zweig hat in sich logische Entwicklung und seelische Überzeugungskraft. “ 31 Wie sich das im Einzelnen historisch entwickelt hat, ist freilich nur bis in das 18. Jahrhundert zurück direkt nachzuvollziehen. Demnach ist der erste Schwede, der die moderne Maurerei nach Schweden brachte, Graf Axel Wrede-Sparre gewesen, der als Kavallerieoffizier in Paris gedient hatte. Zusammen mit sechs anderen Meistern, alle in Frankreich initiiert, hatte er vor dem Jahr oder im Jahr 1735 eine Loge nach dem „ schottischen “ Ritual einer französischen Loge gegründet. Das bedeutete damals, daß der Name Hirams durch jenen des Jacques de Molay ersetzt wurde. Die meisten, wenn nicht alle Mitglieder entstammten dem schwedischen Hochadel. Die Logentreffen schliefen jedoch schon um 1740 wieder ein. Die bereits 1736 von England aus gegründete Provinzialgroßloge, deren erster Großmeister Graf Carl Fr. Scheffer gewesen war, blieb weiter bestehen. Als dann Carl Friedrich Eckleff, schwedischer Kanzleirat im Auswärtigen Dienst (schleswigischer Abstammung) 1756 die erste schwedische St. Andreasloge „ L ’ Innocente “ gründete, wurden etliche einzelne Brüder der Loge von Wrede- Sparre durch sie aufgesogen. Eckleff hatte vorher bereits einen literarischen Orden der „ Gedankenbauer “ und einen religiösen Orden der „ Fackelbrüder “ gegründet. Im Jahr 1759 fügte er als neunten und höchsten Grad ein „ Ordenskapitel “ hinzu, das den Namen „ Chapitre illuminé de Stockholm “ trug. Seine Loge wurde 1760 von der Großloge von England anerkannt, nachdem er sich mit der englischen Provinzialgroßloge verständigt hatte. 32 Der spätere Karl XIII. wurde Großmeister beider Systeme, die vereinigt wurden, und führte noch zwei zusätzliche Grade neu dazu ein, wodurch die Verbindung mit der Templergnosis hergestellt wurde. Nach Lenning waren diese höchsten Grade „ bereits vor der Entstehung der stricten Observanz “ aus Frankreich oder Genf übernommen worden. 33 Das schwedische System hat Entwicklungen in Dänemark, Finnland und Norwegen gefunden und ist nicht nur durch die Große Landesloge von Deutschland auch dort eingedrungen, sondern hat ihren Weg sogar bis Rußland gefunden, 31 Lennhoff - Posner, op. cit., Spalte 1429, 1436 und 1437 32 Vgl. Johannes Eckleff-Rudbeck: Carl Friedrich Eckleff. Der Begründer der schwedischen Freimaurerei. Ein Lebens- und Zeitbild aus dem Stockholm des XVIII. Jahrhunderts. Berlin 1931 33 Lenning, op. cit., Bd. III, S. 484. Sie waren also älter und besser gesichert als durch die Strikte Observanz. 258 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="277"?> wo sie in der Schilderung der Aufnahmezeremonie von Tolstois großem Roman Krieg und Frieden bezeugt wird. In Neapel, wo nach de Molays Plan das vierte Zentrum gegründet werden sollte, herrschte zwar mit Robert von Anjou der gebildetste König seiner Zeit, doch hatte er nicht nur Karl Martells Söhne um das Königreich Neapel betrogen, sondern es beschuldigt ihn dieser in Dantes Commedia, durch die katalanischen Aristokraten an seinem Hof das Volk von Neapel finanziell aussaugen zu lassen. Vor allem aber war es seine papstfreundliche Politik, welche das Land für die Templer seinerzeit zu einem überaus schwierigen Boden machte, auf dem sie wie in Paris nur im Untergrund existieren konnten. Aber auch im 18. Jahrhundert, in dem auch hier die Freimaurerei hervortrat, war die Inquisition in Süditalien noch lange nicht tot und war demgemäß die Haltung der Herrscher in einem sehr gefährlichen Ausmaß schwankend. Zunächst ist ähnlich wie in Schweden eine große Neigung zu Unabhängigkeit zu beobachten. Im Jahr 1775 wurde der Entschluß gefaßt, eine eigene, große Nationalloge zu gründen, die vom englischen Einfluß unabhängig war. 1776 schlossen sich die Brüder der unabhängig von dieser existierenden englisch orientierten Provinzialgroßloge der „ Großen Nationalloge beider Sizilien “ an. 34 Der Grund für diesen Zusammenschluß war aber wohl nicht so sehr ein spiritueller, sondern war sozialgeschichtlich-politisch bedingt. Denn die Maurerei war in Neapel fortgesetzt von Staatsbehörden unterdrückt und von den Geistlichen verfolgt, sodaß sie in eine Verteidigungsstellung gedrängt war. Aus der radikalen Notwehr heraus ergab sich ein Hang zur Radikalität, welcher in England nicht notwendig war, welcher der italienischen Maurerei aber bis heute geblieben ist. Ein anderer Zug ist die besondere Wichtigkeit des Schottischen Ritus, der ihr ebenso blieb. „ Alle möglichen Systeme waren am Werk, nicht zuletzt die Strikte Observanz. “ 35 Aber es hatte auch außerhalb von dieser templergnostisches Erbe gegeben. In Italien war es aus dem älteren Hochgradsystems des Misraim-Ritus gekommen. Als später der in Montevideo in die Bruderschaft aufgenommene Garibaldi in Neapel in die Loge „ Sebezia “ affilliert wurde, nahm diese nicht zufällig auch den Namen „ Gran Madre Loggia “ oder „ Grande Oriente Napoli “ an. Unter Garibaldi war auch der Memphismit dem Misraim-Ritus vereinigt worden. Er war der militärische Leiter der in Südamerika gestarteten Expedition nach Italien gewesen, die mit dem „ Marsch der Tausend “ das Risorgimento und die Einigung Italiens einleitete und er war es, der die Templerfarben zur italienischen Nationalfahne machte. Es war auch im Rahmen dieser Entwicklung, daß es 1861 eine „ Loggia capitulare Dante Alighieri “ gab, die besonders den Schottischen Ritus förderte. Der Einfluß des Misraim-Ritus hatte früher eingesetzt als Lennhoff 34 Vgl. Lenning, op. cit., Bd. III, S. 4 und 6 35 Lennhoff - Posner, op. cit., Spalte 759 259 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="278"?> - Posner angenommen hatten, nach denen er „ 1805 in Italien ersonnen worden war “ . 36 Raimondo di Sangro, Fürst von Sansevero (1710 - 1771), war bereits um 1750 Großmeister beider Riten für Sizilien. Er hat in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf das Kostbarste die Kapelle von Sansevero erneuern lassen, wobei jedes Familienmitglied als allegorische Figur von einer Gruppe von Skulpturen umgeben ist. Die Figur des Vaters etwa ist als ein Mann dargestellt, der einem Netz zu entrinnen versucht, als eine maurerische Allegorie der Freiheit. Der Fürst kannte den Grafen von Saint Germain und war nicht nur ein Alchemist und Eingeweihter in esoterische Geheimnisse, sondern auch einer der gebildetsten Männer seiner Zeit, Erfinder und Naturwissenschafter, der 150 Jahre vor Henri Becquerel die Radioaktivität entdeckt hatte. Er vereinigte alle Großlogen Siziliens und war selbst der Großmeister von allen. Er stellt in einem gewissen Sinn eine Parallele zu König Karl XIII. von Schweden dar. Der Memphis- und der Misraim-Orden wurden für ganz Italien erst 1881 durch den italienischen Nationalhelden Giuseppe Garibaldi vereinigt. In der kurzlebigen Transpadanischen Republik war 1796 zum ersten Mal die italienische Trikolore grün-weiß-rot aufgetaucht - zufällig die Templerfarben? - , die später durch Garibaldi zu Fahne der Bewegung des Risorgimento gemacht und schließlich 1861 zur Nationalflagge der vereinigten italienischen Monarchie wurde, die 1870 den Traum des Templeradepten Dante erfüllte, den Kirchenstaat abzuschaffen. Die Gösch der italienischen Kriegsmarine sowie die Handelsflagge zeigen auch heute unter anderem das templerische cross pattée. Was die Entwicklung in England betrifft, das schließlich für die Johannis- Maurerei zu einem Zentrum für die Welt geworden ist, so wurde bereits auf das Standardwerk von Gould, History of Freemasonry, verwiesen, das revidiert und verbessert von Herbert Poole in vier Bänden herausgegeben worden ist. 37 Es beschränkt sich vom Inhalt her verläßlich auf Dokumentationen und ist als Darstellung absolut seriös. Die Schwierigkeiten, mit denen es zu kämpfen hat, liegen in der Zeit seiner Entstehung und sind in der kultursoziologischen Tatsache begründet, daß Gould - und Begemann womöglich noch viel mehr - Kinder eines Zeitalters sind, das an die alte „ klassische Physik “ geglaubt hat. Die philosophische Begleiterscheinung war der „ Naive Positivismus “ eines Hippolyte Taine in seiner ganzen, materialistischen Beschränktheit. Der erste Band beginnt als Einleitung mit der Darstellung der antiken Mysterienkulte, der Essener und der culdäischen Kirche. Daran schließt sich, ohne den Versuch eine direkte historische Verbindung zu zeigen, eine Geschichte der „ Alten Pflichten “ der Bruderschaften der Maurer. Eines der abschließenden Kapitel aber trägt den Titel „ Apokryphe Manuskripte “ , obwohl 36 Lennhoff - Posner, op. cit., Spalte 1044 37 Herbert Poole, op. cit. 260 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="279"?> die Freimaurerei niemals den Anspruch erhob, eine Religion zu sein. Aber die dogmatische Sicherheit der Abweisung gegenüber der Ungewißheit auch höchst wahrscheinlicher Zugehörigkeit legte den Begriff „ apokryph “ nahe. So konnte man geistesgeschichtlich Gegebenes, aber durch realhistorische Dokumentation nicht „ beweisbare “ Vorstellungen aufnehmen. Die Lektüre zeigt, daß in der Freimaurerei genauso wie in der Religion die Apokryphen oft zum Interessantesten gehören. Poole listet in seinem Kapitel folgende Titel auf: Das Leland-Locke-Manuskript, den Katechismus der Steinmetzbruderschaften, die Malcolm-Canmore-Charta, Krauses Manuskript der Konstitution des Prinzen Edwin von 926, die Charta von Köln und schließlich die oben erwähnte Charta des Larmenius. Was das Fortleben der Templer in England betrifft, sei ein eigener Exkurs über die Untersuchung des englischen Bauernaufstands von 1381 durch John J. Robinson eingefügt, da er in überzeugender Weise mehreres darlegt: Erstens, daß die Templer in England nach 1314 nicht nur weiter existiert haben, sondern einflußreich und aktiv gewesen sind; zweitens, daß sie mit größter Vorsicht und unter strengster Geheimhaltung vorgingen, sodaß es kaum überhaupt schriftliche Kommunikationen gibt, sondern alles mündlich abgewickelt wurde, was dazu führte, daß Robinson aus den Fakten der Handlungen und ihrer Personen seine freilich schlagenden Schlußfolgerungen ziehen hatte müssen; drittens aber, und nicht zuletzt, daß keineswegs nur die Hochgradsysteme, sondern auch die drei ersten Grade der Johannis-Maurerei Begriffe, Vorstellungen und Ideen der Templer fortgeführt haben. Diese genauere Darlegung der Verhältnisse zwischen 1314 und 1381 aber soll vor allem als allgemeines Beispiel dafür dienen, daß es nicht nur ein solches Fortleben der Templer in England gegeben hat, sondern auch, daß ein so großer, wenngleich geheim gehaltener Einfluß nicht nur bis 1381 währte, sondern auch nach 1382 nicht plötzlich völlig abgerissen sein kann. John J. Robinson ist ein Nicht-Maurer und Privatgelehrter, der durch eine Stiftung die Möglichkeit hat, sich ganz seinen historischen Studien zu widmen und der durch seine Arbeiten auch Mitglied der professionellen „ Medieval Academy “ geworden ist. In seinem Buch Born in Blood hat er ehrwürdige Irrtümer einer nüchtern faktenbezogenen und pragmatischen Analyse unterworfen. 38 So richtete er seinen Blick auf die sogenannten „ Alten Pflichten “ 39 und erinnerte daran, daß es im 14. Jahrhundert in England nur einen christlichen Weg zu Gott gab, den des Dogmas der Amtskirche. Die Alten Pflichten verlangten aber lediglich, daß der Maurer kein „ dummer Gottesleugner “ sei. Robinson schlußfol- 38 John J. Robinson: Born in Blood. New York 1989 39 Bernhard Scheichelbauer hat in seiner Einführung in Die Johannis Freimaurerei, einer der besten Europas, aus guten Gründen „ Die Alten Pflichten der Freimaurer “ zur Gänze abgedruckt. (Innsbruck 2000, S. 133 - 143) 261 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="280"?> gert, daß erst in einer Zeit, in welcher der Papst die Templer verwarf und die Templer den Papst verwarfen, eine so allgemeine, weitmaschige Formulierung notwendig geworden war. Im Abschnitt 4 des Paragraphen 6 der Alten Pflichten lautet der erste Satz bei Scheichelbauer: „ Ihr sollt in Reden und Betragen vorsichtig sein, daß auch der scharfsinnigste Fremde nichts zu entdecken vermöge, was nicht geeignet ist, ihm eröffnet zu werden. “ Die ursprüngliche Form der Alten Pflichten in England war noch vorsichtiger und genauer: Kein Maurer sollte die Geheimnisse eines Bruders enthüllen, um ihn nicht um sein Leben und sein Eigentum zu bringen. Diese Wendung muß unter friedlichen Steinmetzen und Maurern geradezu bizarr wirken, ist aber ein notwendiger und dringlicher Rat, wenn es um Brüder auf der Flucht vor der Inquisition ging, die untertauchen mußten und nicht auffallen durften. Ihr Leben hing buchstäblich vom Gelingen der Geheimhaltung ihrer Person ab. Es war dieser Satz, welcher Robinsons Neugierde für die Freimaurer jener Zeit erweckte, denn ursprünglich hatte er nur den Bauernaufstand von 1381 untersuchen wollen, eine Untersuchung, die ihn nun in überraschende Bereiche und zu überraschenden Einsichten führte. Freilich gibt es auch noch eine andere Möglichkeit. Die „ Alten Pflichten “ , wie wir sie kennen, zumal die meisten, gehen auf Fassungen aus dem 18. Jahrhundert zurück, als symbolische Gnosistradition und operative Maurerei bereits eine einheitliche Verschmelzung darstellten. Nach der templergnostischen Tradition ist aber Gott ein „ Deus absconditus “ , ein verborgener Gott, der in seiner Absolutheit ein „ höchstes Wesen “ darstellt, wie es in den Alten Pflichten formuliert wird. Man mag für ihn, um in der eigenen masonischen Sprache zu bleiben, allenfalls eine maurerische Metapher verwenden, die jedoch das Wesen der Sache in keiner Weise verändert. Dann wäre der Gottesbegriff von der Templergnosis her in die Maurerei gelangt und Robinson hätte aus einem falschen Schluß die richtigen Folgerungen gezogen, als er eine neu erstandene Einheit von templarischen Lehren und operativer Maurerei annahm. Robinson stieß ja bei seinen Nachforschungen auch nur allzu bald auf maurerische Begriffe und zwar auf Worte wie etwa tyler (Logenschließer), cowan (Eindringling in eine Loge) oder due guard (notwendiger oder zuständiger Wächter, Tempelhüter). Sie verstärkten seinen Verdacht. Mitunter schoß er ein wenig über das Ziel, etwa wenn er sogar die Hiramslegende auf die aktuelle Templerverfolgung bezieht. Das mag er allerdings auch aus einem frühen schottischen Ritual haben. Was die „ Lodge “ betrifft, was sowohl Loge wie Unterkunft bedeutet, welche hilfreiche Brüder zur Verfügung stellten, so war sie Teil des Schutzes, welchen die Flüchtlinge erhielten, wozu noch Geldbeträge kamen und Bürgschaft bei den Autoritäten für die flüchtenden Brüder. Robinson glaubt sogar, daß der Begriff „ Freimaurer “ selbst aus der Situation einer Gesellschaft zu gegenseitiger Hilfeleistung entsprungen sein soll. 262 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="281"?> Robinson wußte nicht, daß Pierre d ’ Aumont und seine Gefährten in der Verkleidung von Maurern aus Frankreich nach Schottland geflohen waren und angeblich aus Dankbarkeit für das Gelingen der Flucht oder vielleicht sogar aktive Hilfe von Werk-Maurern die Ausdrucksweise der Bauhütten zu ihrer Geheimsprache gemacht haben sollen, was allerdings nicht belegbar ist. Was er aber sehr wohl wußte, war der Umstand, daß die Freimaurerei das Ziel von mehr Bullen und Encyklicas verärgerter Päpste geworden war als irgend eine andere weltliche Organisation in der Geschichte der Christenheit. Als Robinson in der Maurersprache auf den Begriff „ tyler “ gestoßen war, das nur mit „ y “ geschrieben Logenwächter ( „ Tempelhüter “ ) bedeutet, fiel ihm auf, daß der wichtigste der drei Anführer des Bauernaufstands von 1381 Tyler geheißen hatte. Aber er entdeckte noch viel mehr bei diesem Bauernaufstand, der auch Helfer, Verfechter und Mitstreiter in den Städten gehabt hat. Zum Beispiel entdeckte er, daß die Aufständischen mit Vorliebe Kirchen niederbrannten, in einem Fall sich aber die Mühe machten, die schriftlichen Dokumente und Akten aus einer einzigen Kirche herauszutragen und auf der Straße zu stapeln, um sie dort anzuzünden, um das Gebäude vor der Zerstörung zu bewahren. Einer der Historiker, die ihm als Quelle dienten, berichtete sogar, daß Teile des „ Pöbels “ die Kirche vor Beschädigung schützten. Es war aber gerade die frühere Hauptkirche der Templer in London, die einem ganzen Stadtteil bis heute den Namen „ The Temple “ gegeben hat. Er fand auch heraus, daß das Großpriorat der Hospitaler und dessen Kirche völlig zerstört wurden, ja, daß darüber hinaus der Großprior der Hospitaler, Sir Robert Hale, enthauptet wurde. Sir Robert war der erfahrenste Kriegsmann von König Richard II. gewesen, der „ die königliche Leibgarde befehligt haben sollte “ . 40 Aber der jugendliche König selbst ritt ohne Schutz aus, um mit tausenden von blutdürstigen Rebellen zu verhandeln. „ Es riecht nach Bühnenkunst und das an den höchsten Stellen. “ 41 Die Chronisten, die das alles berichteten, vergaßen, daß Richard II. im Jahr 1381 noch gar nicht regierender König war, sondern beraten, geleitet und manipuliert von einem großen Rat. Der Bericht seiner heldenhaften Leitung des Geschehens während des Aufstandes konnte nur schmeichlerische Erfindung sein, doch legt sie die Zusammenarbeit eines oder mehrerer Mitglieder des Hofes mit den Rebellen nahe. Die Rebellen hatten zwei Forderungen an den König. Erstens sollten alle Verräter des Königs verhaftet und hingerichtet werden. Zweitens aber sollten Leibeigenschaft und Zinsbauerntum abgeschafft werden. Der König stimmte der ersten Forderung unter der Bedingung zu, daß die Verräter von einem ordentlichen Gericht schuldig gesprochen sein müßten und man hätte ihm die Angeklagten zu diesem Zweck zu überstellen. Was die zweite Forderung betraf, 40 John J. Robinson, op. cit., S. 48 41 John J. Robinson, op. cit., S. 48 263 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="282"?> so hatte er dreißig Schreiber mitgebracht, die sofort mit der Abfassung von Vorschlägen für Freilassungstexte zu schreiben begannen. Der König konnte die Stadt ungehindert verlassen, doch setzten die drei Anführer des Aufstandes, Tyler, Strawe und Ball ihren Hauptplan durch. Sie wollten mit ein paar hundert schlecht bewaffneten Rebellen die sicherste und stärkste Festung Englands, den Tower, einnehmen. Er war dreifach geschützt durch ein schweres Tor, durch eiserne Fallgitter und durch eine Zugbrücke. Im Tower selbst befand sich eine Mannschaft von professionellen Soldaten und hunderten von Bogenschützen und eine feindliche Armee hätte sogar mit technischen Hilfsgeräten wie Türmen auf Rollen, die an die Mauer herangeschoben wurden, große Probleme bei der Eroberung gehabt. Als aber die Rebellen eintrafen, war die Zugbrücke einladend herabgelassen, die hinderlichen Fallgitter waren hochgezogen und das Tor stand offen. Die Aufständischen fanden auch die Personen vor, die sie suchten. Der erste war das Oberhaupt der katholischen Kirche in England, der Erzbischof von Canterbury, der zweite der bereits genannte Großprior der Hospitaler, Sir Robert Hale. Außer diesen beiden suchten und fanden sie den Franziskaner John Legge, welcher der mitleidlose Zinseintreiber des Königs war, und William Appleton, Arzt und Berater von John of Gaunt, Herzog von Lancaster, den inoffiziellen aber besonders erfolgreichen Machthaber am Hof, der durch seine 1381 im Parlament durchgesetzte Kopfsteuer für alle Männer und Frauen über 14 Jahre der unmittelbare Auslöser des Aufstandes war. Denn die verarmten Bauern und Handwerker konnten diese einfach nicht mehr leisten. Die Aufständischen hatten des Herzogs Savoy-Palast besetzt und zerstört und alle Bediensteten getötet. Ihn selbst hatten sie aber nicht finden können, da er bei Verwandten im Norden Englands weilte. Die vier im Tower gefangenen Würdenträger wurden auf den Hügel im Tower geführt, wo bereits eine Menge von Schaulustigen wartete, und wurden dort hingerichtet. Der Aufstand brach dadurch zusammen, daß der König Wat Tyler zu Verhandlungen einlud, während denen er, entgegen dem Wort des Königs, verhaftet und hingerichtet wurde. Er war am 7. Juni 1381 mysteriös aus dem Dunkel aufgetaucht, sofort Führer der Rebellen geworden und starb acht Tage später, am 15. Juni. Es wird allgemein angenommen, daß der Name Wat Tyler ein Pseudonym war. Die meisten Historiker nehmen an, daß er ein Dachdecker mit militärischer Erfahrung war. Aber zumindest heute ist das englische Wort für Dachdecker „ tiler “ und nur der freimaurerische Logenhüter ist ein „ tyler “ . „ Tyler wäre der einzige entsprechende Name für den militärischen Führer gewesen, der ein Schwert führen konnte. “ 42 Der zweite Anführer des Aufstandes und Stellvertreter von Tyler war Jack Strawe, ein Mönch von St. Albans. Er legte vor seiner Hinrichtung eine Beichte 42 John J. Robinson, op. cit., S. 55 264 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="283"?> ab, in welcher er erklärte: „ Als erstes und vor allem anderen wollten wir die Verheerung der Hospitaler durchführen. “ 43 Als besonders gut organisiert erwiesen sich die städtischen Rebellen aus York, Scarborough und Beverly. Sie trugen als Kopfbedeckung kapuzenartige weiße Halstücher mit roten Verzierungen. Allein aus Beverly haben fünfhundert Rebellen solche Kopfbedeckungen gehabt. Robinson schlußfolgert zu Recht, daß dies eine wirkliche Organisation und organisierte Leitung voraussetzt. Daran fügt er die ironische Bemerkung, daß es reiner Zufall sein kann, daß weiß und rot die Farben der Mäntel der Tempelritter gewesen sind. Der dritte Anführer des Aufstandes, John Ball, hat auch eine Beichte abgelegt, von der allerdings die meisten Historiker annehmen, daß der Bericht über sie aus einer späteren Zeit stammt. Er sagte darin, daß eine „ geheime Bruderschaft “ hinter der Rebellion stand, wies aber dabei auf die Lollarden hin. Diese hatten eine Bruderschaft gegründet, die gegen die Amtskirche gerichtet war und die vor und nach dem Bauernaufstand als häretisch von Kirche und Staat verfolgt wurde. Die meisten Historiker stimmen darin überein, daß hinter dem Aufstand eine Organisation stehen hatte müssen, die über weite Strecken von England planen und eingreifen konnte. Eine der interessantesten besonderen Einzelheiten des Aufstands ist der Angriff auf das Benediktinerkloster von Bury St. Edwards, bei dem sich beim besten Willen keine Beziehung zur Kopfsteuer herstellen läßt, die den Aufstand ausgelöst hatte. Zwar war die Ermordung des obersten Richters John Cavendish noch durchaus im Rahmen des Aufstandes verständlich, doch keineswegs die Enthauptung des Benediktiner-Priors John de Cambridge. Mit den Köpfen der beiden spielten die Rebellen wie mit Puppen und noch einen dritten Kopf hätten sie gerne gehabt, konnten aber das Versteck des Benediktinermönchs Walter Todington nicht ausfindig machen. Er hatte die Aufsicht über die Besitzungen des Klosters. Robinson hat den Zusammenhang des Angriffs auf das Kloster mit den Rebellen aufgeklärt. Er ergibt sich aus der Chronicle of Bury St. Edmonds 1212 - 1301. Darin findet sich folgender Bericht: „ Am Abend zuvor und am Palmsonntag kam es zu einer Schlacht zwischen den Christen und den Ungläubigen zwischen Akkon und Safed. Zuerst wurden acht Emire und achtzehn Reihen von Ungläubigen getötet, schließlich aber waren die Ungläubigen siegreich durch den Verrat der Templer. “ 44 Diesem Bericht lag der historische Angriff der ägyptischen Armee auf die Templerburg von Safed im Jahre 1266 zugrunde. Der besonders fanatische und brutale Sultan Baibars Rukd ad-Din, der durch die Ermordung des vorherigen Sultans auf den Thron gelangt war, bot der Besatzung freien Abzug an, da er die Festung nicht erobern konnte. Zuerst offerierte er Freiheit und Begnadigung für 43 John J. Robinson, op. cit., S. 58 44 John J. Robinson, op. cit., S. 59 f. 265 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="284"?> alle Torcopolen, in Ägypten geborene Truppen, die den Großteil der Garnison ausmachten. Sie verließen in großer Zahl die Festung. Daraufhin sandten die Templer einen in Syrien geborenen Tempelritter hinaus, um mit Baibars zu verhandeln. Er kam zurück mit der Botschaft, daß alle Templer freien Abzug hatten, mit Garantie sicheren Geleits durch die ägyptischen Linien. Sobald Baibars die Kontrolle über die Festung und die Templer hatte, gab er ihnen die Nacht, um zu überlegen, ob sie lieber zum Islam übertreten oder sterben wollten. Am Morgen waren sie alle aufgereiht vor dem Festungstor, um ihre Entscheidung bekanntzugeben. Bevor sie noch sprechen konnten, rief ihnen ihr Kommandant zu, eher den Tod zu wählen, als den Glauben aufzugeben. Er wurde sofort ergriffen, ausgezogen und es wurde ihm lebend die Haut abgezogen. Die Templer wählten ohne Ausnahme den Tod. Sie wurden sofort enthauptet. Die Geschichte des Verlustes der Festung von Safed und das Martyrium der Templer wurden jedem neu aufgenommenen Templer als leuchtendes Vorbild vorgehalten. Um die Templer zu verleumden, wurde der Bericht irgendwie verdreht und auf den Kopf gestellt, als er in der Chronik von Bury St. Edmonds seinen Niederschlag fand. Die Templer-Märtyrer als Verräter dargestellt zu sehen, mußte das Blut jedes Templers zum Kochen bringen. Dabei war dies keineswegs die einzige Lüge in dieser „ Chronik “ . So wird darin behauptet, die Templer hätten den König von Zypern, seinen Sohn und andere Mitglieder des Haushalts vergiftet. Sollte es wirklich einen Templerbezug zum Bauernaufstand geben, dann, meint Robinson, hätte das Kloster Bury St. Edmonds ein Hauptziel sein müssen. Ja, wenn der Aufstand eine Vergeltungsaktion der Untergrund-Templer oder ihrer Nachfolgeorganisation war, dann ist dieser Aufstand keineswegs ein so drastischer Mißerfolg gewesen, wie er von der Geschichte gesehen wird. Die drei großen Feinde der Templer, die Hospitaler, die Kirche und die Monarchie hatten empfindliche Schläge einstecken müssen. Die Temple Church steht heute noch, das Großpriorat und die Kirche der Hospitaler nicht mehr. Es erscheint Robinson unmöglich, daß der Aufstand von den ursprünglichen Templern herbeigeführt und heimlich geleitet wurde. Ein Templer, der bei der Auflösung des Ordens einundzwanzig Jahre alt war, wäre beim Aufstand neunzig gewesen. Es muß eine Fortsetzungsorganisation am Werk gewesen sein. Man sollte sich an die Stärke von Robinsons Buch halten, die darin besteht, daß er am Beispiel des englischen Bauernaufstands gezeigt hat, daß es sich nicht um eine zufällige und spontane Erhebung gegen die Kopfsteuer gehandelt hat, sondern eine umsichtig organisierte, von Templernachfolgern geleitete Vergeltungsaktion gewesen ist. Die Templer waren zwar scheinbar verschwunden, aber hatten sich keineswegs in Luft aufgelöst, sondern zeigten, daß sie nicht nur noch da waren, sondern auch durchaus von Einfluß gewesen sind. Robinsons Buch hat aber auch zwei Schwächen. Die eine besteht darin, daß er wie so viele Realhistoriker echte Schwierigkeiten hat, geistesgeschichtliche und ganz besonders esoterische Entwicklungen zu verstehen. 266 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="285"?> Das zeigt besonders deutlich seine Hilflosigkeit, wenn er die maurerische Symbolik des Buchstaben „ G “ zu enthüllen versucht. Nach ihm kann die Symbolik des Buchstabens „ G “ einfach mit „ Geometrie “ erklärt werden, in jenem vordergründigen Sinn, den er mit der modernen Freimaurerei seit Gründung der Großloge von England verbindet. Aber wie paßt dies zur geheimen Maurerei der alten Zeit? , fragt sogar er selbst. Auf diese Frage gibt es zwei Antworten. Die erste besagt, daß es sich bei der Geometrie des Buchstabens „ G “ nicht um jene Geometrie handelt, die Robinson als einzige von der Schule her kennt, sondern um eine besondere, „ heilige “ Geometrie, wie sie die gotischen Kathedralenbauer bewegte. 45 Louis Charpentier hat sie besonders anschaulich beschrieben, zusammen mit den Grundlagenskizzen der Kathedrale von Chartres. Dabei spricht er von den Maßproportionen der drei „ Tafeln gleichen Umfangs “ im Grundriß, von denen die eine quadratisch, die zweite rechteckig und die dritte rund ist. Obwohl es aber in seinem Kathedralenbuch sogar ein eigenes Templerkapitel gibt, würde es hier zu weit führen, darauf einzugehen. Hier sei nur ein Satz von ihm zitiert: Ein anderer Weg wird von der geometrischen „ Überlieferung die esoterische Lösung der Quadratur des Kreises genannt “ . 46 Die zweite, nicht alternative, sondern ergänzende Antwort auf Robinsons Frage ist der Hinweis darauf, daß dieses „ G “ ein esoterisches, vielschichtiges Symbol ist, das nicht wie eine mathematische Gleichung durch ein „ Ist-gleich “ - Zeichen und dahinter einen einzigen Begriff erklärt werden kann. Ein zweiter Sinnbegriff, den der Buchstabe „ G “ zusätzlich zur Geometrie hat, ist das Wort „ Gnosis “ , deren Anfangsbuchstaben er ebenso darstellt. Besonders klar und eindrucksvoll hat durch Einbeziehung ihres psychologischen Hintergrunds die Mehrschichtigkeit solch esoterischer Symbole C. G. Jung beschrieben. Durch eine anschauliche Skizze, hat er dies am Beispiel des „ archetypischen “ Symbols des Weiblichen dargetan. 47 Die zweite Schwäche von Robinsons Buch besteht darin, daß er allen maurerischen Geschichtsdarstellungen mißtraut, sogar wenn sie fast überängstlich rationalistisch-empirisch gehalten sind wie das oben erwähnte Standardwerk Gould ’ s History of Freemasonry. Er glaubt auch nicht daran, daß die moderne, symbolische Freimaurerei, abgesehen von spirituellen Traditionen, zumindest auch aus den Steinmetz und Maurerbruderschaften hervorgegangen ist. Daß er in der ganzen Bodleian Library nichts über Steinmetzbruderschaften finden konnte, hängt eher mit seiner mangelnden Suchbereitschaft zusammen. 45 Bernhard von Clairvaux hat die „ heilige Geometrie “ der Maurer des Königs Salomo übersetzt. Vgl. Fußnote 55, S. 20 46 Louis Charpentier, op. cit., 129 f. Vgl. auch Konrad Hecht: Maß und Zahl in der gotischen Baukunst. Nachdruck der Göttinger Ausgabe in einem Band, Hildesheim 1997 47 Jolande Jacobi: Die Psychologie von C. G. Jung. Frankfurt am Main 1995, S. 96 und 53 267 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="286"?> Gould zu lesen hat er offenkundig abgelehnt. Aber die erste Dokumentation für Steinmetzzünfte in England findet sich immerhin bereits 1376. 48 Vor allem hätte er sich nicht an den Begriff der Steinmetzzünfte klammern dürfen. Auch die Maurerbruderschaften und die „ livery companies “ hätten weiterhelfen können. Vor allem aber herrschte eine grundsätzliche Trennung zwischen den lokalen städtischen Zünften und den Bruderschaften der Bauhütten. Auch wenn alle vier Haupt-Dombauhütten auf dem Kontinent gelegen waren, 49 so strahlte ihr Einfluß doch auch nach England aus. Die großartigen gotischen Kathedralen Englands können unmöglich ohne Bauhütten entstanden sein. Das klassische Standardwerk über die Entwicklung der Vor- und Frühgeschichte der offiziellen Freimaurerei von 1717, Gould ’ s History of Freemasonry in der Neuausgabe von Herbert Poole, ist oben kurz besprochen worden. Daraus geht der langwierige Prozeß der Verschmelzung des esoterischen Kerns der Templergnosis mit der Begriffssprache der operativen Werkmaurerei zwar etwas indirekt, doch klar genug hervor. Robinson glaubt, dieser Prozeß wäre im Jahr des Bauernaufstands bereits zur Gänze vollzogen gewesen. Davon kann keine Rede sein. Was es zweifellos gab, war eine gut organisierte, echte Geheimorganisation von Templern, erfüllt von Vergeltungsgedanken. Vielleicht hatte man begonnen, sich um eine „ cover story “ nach außen umzusehen, die dann in den Maurer- und Steinmetzzünften vor allem der Bauhütten gefunden wurde. Vergeltungsgedanken wird man in den freimaurerischen Texten vergeblich suchen. Lediglich dem Wunsch wird Ausdruck verliehen, durch die Schaffung einer friedlichen freien und toleranten Welt eine Wiederholung solcher Verbrechen zu verhindern. Als Robinsons Buch erschien, war es für die meisten Leser eine unerwartete und überraschende Eröffnung. Entweder hatten sie vergessen oder zumeist gar nicht gelesen, daß Albert Pike bereits 1871 über die Templer geschrieben hatte: „ Der Orden verschwand plötzlich. Seine Besitzungen und sein Reichtum waren beschlagnahmt und er schien aufgehört zu haben, zu bestehen. Nichtsdestoweniger lebte er unter anderem Namen und geleitet durch unbekannte Führer weiter und gab sich nur jenen zu erkennen, die durch das Durchlaufen einiger Grade sich würdig erwiesen hatten, mit dem Geheimnis vertraut zu werden. Jene modernen Orden (aber), die sich selbst als ‚ Templer ‘ stilisiert hatten, 50 haben nicht den Schatten eines Anrechts darauf. “ 51 48 Wilhelm Begemann: Vorgeschichte und Anfänge der Freimaurerei in England. Reprint: Darmstadt 1990, Bd. I, S. 70 49 Bern (später Zürich), Köln, Straßburg und Wien 50 Zahllose, oft kleine Gruppen von Neo-Templern in vielen Staaten, die hier gar nicht erwähnt werden, haben nicht das geringste Wissen über die Templergnosis. Einige haben es sogar fertig gebracht, die Suche nach den jüdisch-gnostischen Wurzeln der Jerusalem-Kirche durch „ nordischen “ Antisemitismus zu ersetzen. 51 Albert Pike: Morals and Dogma of the Ancient and Accepted Scottish Rite of Freemasonry. Washington, D. C. 1958 (1. Auflage 1871), S. 821 268 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="287"?> Der moderne Verfasser einer Monographie über Elias Ashmole, den „ Magus der Freimaurerei “ , der von 1617 - 1692 gelebt hat, fand, daß Ashmole ein perfektes Beispiel dafür ist, wie sich die Verschmelzung der esoterischen Ideen mit der maurerischen Organisation und ihrer Begriffssprache vollzogen hat, das heißt der symbolischen mit der operativen Maurerei. 52 Natürlich stand auch der Magus der englischen Freimaurerei Ashmole auf Seiten der Stuarts und gegen die Bilderstürmer, Antignostiker und Shakespeare- Feinde des Puritanismus und später gegen die Militärdiktatur Cromwells. Im englischen Bürgerkrieg hatte er die Artillerieabteilung kommandiert, die Oxford von einer Seite her zu schützen gehabt hätte. Auch bewahrt die Großloge von England in einem Safe rosenkreuzerische Manuskripte aus dem 16. und 17. Jahrhundert auf, die zu den geistigen Vorläufern gerechnet werden. Die „ schottische Maurerei “ tauchte um 1740 in Frankreich auf und über ihre Herkunft gibt es verschiedene historische Theorien. Sie wollte grundsätzlich über die drei Grade der Johannis-Maurerei hinausgehen und der älteste bekannte Grad war der eines „ Schottenmeisters “ . Allerdings soll es bereits - und vielleicht nicht zufällig - eine englische Loge nahe der „ Temple Bar “ in London gegeben haben, die bereits 1733 den Grad eines Schottenmeisters verlieh. Wohl unrichtig ist die Annahme von Albert Lantoine, wonach alle reformatorisch gesinnten, schottischen Logen in Frankreich von den exilierten Stuarts gegründet worden sind. Allerdings weiß er auch um die Vielschichtigkeit und Verschiedenartigkeit der schottischen Obödienzen. 53 Bei der frühen schottischen Maurerei soll es auch eine Beziehung zur Alchemie gegeben haben. Unter den Kreuzfahrern im Heiligen Land gab es vor 1099 auch vier schottische Meister, die Kenntnis von einer Tradition gehabt haben sollen, auf Grund deren Esdras 54 in den ausgehöhlten Grundstein des Tempels das vergessene Meisterwort hinterlegt haben soll. In einem solchen ausgehöhlten Quadratstein hätten sich dann auch drei goldene Schalen mit den Buchstaben I., G. und O. gefunden, den jüdischen Symbolen aller Grundstoffe und jedes konkreten Dinges. Von hier hat sich ein direkter Bezug zu der okkulten Rosenkreuzer- Maurerei ergeben, wie es sie auch in England gegeben hat. Von der schottischen Maurerei in Frankreich hat jedenfalls die deutsche 52 Tobias Churton: The Magus of Freemasonry. The Mysterious Life of Elias Ashmole - Scientist, Alchemist, and Founder of the Royal Society. Rochester, Vermont 2006 53 Albert Lantoine: Le rite écossais ancien et accepté. Paris 1930, S. 13, 68 ff. und 101 ff. 54 Esdras ist eine jüdische apokryphe Figur, die dem Esra des Alten Testaments entspricht. Für die Templergnosis war er von Wichtigkeit, weil er in der Zeit nach der babylonischen Gefangenschaft der Juden eine wesentliche Rolle für den Neuaufbau des zweiten Tempels spielte, da es der Templergnosis um den Aufbau eines dritten Tempels ging. 269 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="288"?> Maurerei Impulse empfangen. Zumindest die Idee hatte Freiherr Karl Gotthelf von Hund in Paris erhalten. Er behauptete hier am Hof des Prätendenten Charles Edward Stuart in Gegenwart von Lord Kilmarnock und Lord Clifford von einem „ Ritter von der roten Feder “ zum Tempelritter eingeweiht worden zu sein. Gleichzeitig sei er zum Heermeister der wiedererstandenen VII. Templerprovinz ernannt worden. Das war offenkundig Hochstapelei. Er gründete in Deutschland die „ Strikte Observanz “ , deren Grundidee zusammen mit der ritterlichen Abstammung das Templertum war. Ihr wurde auch äußerlich dadurch gehuldigt, daß die Ordenskleidung aus einer weißen Tunika und weißem Mantel mit dem roten Templerkreuz bestand. Goethe, welcher der Strikten Observanz nicht unkritisch gergenüberstand, hat im Auftrag des Großherzogs von Weimar das sogenannte „ Templerhäuschen “ im Park von Weimar grundlegend erneuert, das erst im Zweiten Weltkrieg einem Bombentreffer zum Opfer fiel. Auch bei den Illuminaten gab es einen Grad des „ Schottenritters “ und von Frankreich aus ist die schottische Maurerei in die USA ausgestrahlt, wo sie in Albert Pike einen Höhepunkt finden sollte. Der französische Kaufmann Estienne Morin, der seit 1744 in Bordeaux einer Hochgradloge angehört hatte, gründete 1747 in der Stadt Cap-Française in der französischen Kolonie von Saint-Domingue (jetzt Haiti) eine „ Schottische “ Loge. In der nächsten Dekade wurden von der Loge in Bordeaux nicht weniger als sieben schottische Logen in der westlichen Hemisphäre anerkannt. Estienne Morin aber erhielt 1761 ein Patent, durch das er zum Großinspektor für alle Teile der Neuen Welt ernannt wurde. Nachdem es aber schließlich in Charleston (South Carolina) zur Gründung des ersten Obersten Rates des Alten und Angenommenen Schottischen Ritus gekommen war, wurde von einem Mitglied dieses ersten Obersten Rates, dem französischen Kavallerieoffizier Graf Alexandre François Auguste de Grasse Tilly von den USA aus der französische Oberste Rat gegründet. Freilich hat historisch und politisch die geistes- und sozialgeschichtliche Umwelt eine wichtige Rolle gespielt. Das zeigt die Entwicklung am Beispiel des Graveurs und schottischen Wappenexperten Alexander Deuchar, der von 1811 - 1836 Großmeister der Templernachfolger und zugleich Freimaurer war und dessen Familie ihre Gefolgstreue von den Stuarts auf die Hannoveraner übertragen hatte, die bis heute der Freimaurerei verbunden sind. Alexander Deuchar begründete einen schottischen Neuanfang des Templerordens im Jahr 1805, also nur ein Jahr nachdem die wichtige Persönlichkeit des Ex-Priesters Fabré-Palaprat in Frankreich zum Großmeister gewählt worden war. Die formelle Charta für Deuchars Gründung kam ursprünglich vom „ Early Grand Encampment of Ireland “ (vorher: “ High Knight Templars of Ireland Lodge “ ) und wurde dem „ Edinburgh Encampment No. 31 “ übergeben. Der symbolische Begriff des „ Feldlagers “ aus dem Templermilieu spielt bis heute im Ritual des Schottischen Ritus in vielen Sprachen eine Rolle. 270 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="289"?> Damals scheint in der Templertradition das „ große Schwert von Deuchar “ eine besondere Rolle gespielt zu haben, mit dem sich der Stuart-Anhänger Lyon Easter Ogil davongemacht hatte und das von Deuchar wiedererlangt worden war, als er die Neugründung durchführte. Aus der Ritterperspektive der Artusromane ist uns bekannt, welche Wichtigkeit einem Schwert zukommen kann. Im Jahr 1809 suchte Alexander Deuchar gemeinsam mit einem Major Mueller vom Ersten Schottischen Infanterieregiment beim Herzog von Kent, Großmeister des Ordens von England, um die Billigung eines Großkapitels an. Seit 1707 war England mit Schottland zu einem Reich vereinigt, seit 1800 auch mit Irland. Das Großkapitel wurde am 19. Juni 1811 bewilligt. Der Bruder von Alexander Deuchar, David, diente im 3. Bataillon des Ersten Schottischen Infanterieregiments. Während des Feldzuges in Portugal rettete er das Kreuz aus der Templer-Kirche von Tomar, die von den Franzosen zerstört worden war, und präsentierte es bei der Eröffnung des Großkapitels. Das Kommando bei jenem Feldzug in Portugal hatte der damalige Generalleutnant Wellington, der hier in Portugal seine Feldherrnkarriere begann. Das größte, verbreitetste maurerische Hochgradsystem ist der „ Alte und Angenommene Schottische Ritus “ , der sehr jung zu sein scheint. Er wurde in seiner jetzigen Gestalt erst im Jahr 1801 von vier Protestanten, vier Katholiken und drei Juden gegründet und wiederum war die sozialgeschichtliche Umgebung der freiheitlichen Vereinigten Staaten von großer Bedeutung, sodaß er zum führenden Weltzentrum des Ritus wurde. Die Gründung erfolgte in Charleston (South Carolina) und die elf bildeten den ersten „ Obersten Rat “ im Ritus. Sie wurden bekannt als „ the Eleven Gentlemen of Charleston “ , die Gründungsväter des Schottischen Ritus. Der erste Großkommandeur war John Mitchell, der als Stellvertretender Generalquartiermeister der britischen Armee ins Land gekommen war. Aus einem Mangel an direkter Dokumentation und einer verworrenen Mischung von Informationen über die Templergnosis nach der Auflösung des Ordens hatte sich aus dem bestehenden Chaos von Positivem wie Negativem, Irrtümern wie Pedanterie, Verleumdungen wie Lobeshymnen plötzlich wie der Phönix aus der Asche das Wunderwerk der Commedia erhoben, das dieses Chaos zu einer streng proportionierten Ordnung gnostischer Geistigkeit zusammenschloß. Kaum weniger chaotisch war am Ende des 18. und am Beginn des 19. Jahrhunderts der Zustand der Kenntnisse über die Templergnosis durch eine Vielfalt sie tragender Orden und Organisationen. Zwar war es keine Dichtung von Weltrang und dennoch ein geistiges Wunderwerk, das die in Frankreich, Schottland, England und den USA verstreuten Trümmer des Chaos wieder zu einer beispielhaften Ordnung und Ganzheit spiritueller Tradition zusammenschloß. Es ist das Grundlagenwerk des Alten und Angenommenen Schottischen Ritus Morals and Dogma von Albert Pike. Auf dem vorderen Buchdeckel der ersten Auflage prangte das Motto, wie man es auch für Dantes Commedia nicht schlagender in drei knappen Worten ausdrücken hätte können: „ Ordo ab Chao “ . 271 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="290"?> Um es gleich vorweg zu nehmen, die Gnosis kommt im großen Index der neueren Ausgaben 33 Mal(! ) vor. Die Biographie des Autors ist phantastisch, voll von überraschenden äußerlichen Windungen und Wendungen. Geboren 1809 in Boston, aufgewachsen in kleinen Städten ringsum, hatte er sich selbst Unterlagen über das Studium in Harvard besorgt und als Autodidakt den Stoff der ersten beiden Semester bereits durchgearbeitet. Er kann sich aber das Studium nicht leisten, wird zuerst Lehrer und geht sodann abenteuernd in den Westen, zuerst nach St. Louis, später nach Independence Missouri und schließt sich einer Jagd- und Handelsmission nach Taos, New Mexico an. Von hier geht es durch den Llano Estacado schließlich nach Arkansas, wo er endlich etwas zur Ruhe kommt, aber auch nur geographisch. Denn die Lebensabenteuer wechseln einander bunt ab: Journalist, Teilhaber einer Zeitung, Besitzer einer Zeitung, Jusstudium, Rechtsanwalt, Richter am Obersten Gerichtshof von Arkansas, Kommandant einer Kavallerieabteilung im Mexikanisch-Amerikanischen Krieg, Duell mit einem Vorgesetzten, wiederum Rechtsanwalt und aufs Neue setzt die Unstetheit ein: New Orleans, wieder Arkansas, nach Ausbruch des Bürgerkriegs Brigadegeneral bei der Armee der Südstaaten, angeklagt wegen Mißwirtschaft an Geld und Material, Flüchtling, wegen Unbotmäßigkeit und Verrat verhaftet, Gefängnis in Warren, Texas, nach erwiesener Haltlosigkeit der Anschuldigungen, Rücktrittsgesuch und Austritt aus der Armee, den Vertretern beider Seiten, des Nordens wie des Südens, gleich verdächtig, geht er nach New York, sodann nach Kanada, endlich völlige Rehabilitierung mit Entschuldigung durch die Ankläger, Anwalt in Tennessee, Anwalt in Washington, D. C. und Herausgeber der Zeitung Patriot. Bereits durch viele Jahre hindurch Freimaurer. 1859 Souveräner Großkommandeur des Schottischen Ritus, Ehrendoktorat von Harvard, 1871 erste Auflage des Buches Morals and Dogma, 1891 in Washington begraben, 1944 Überführung des Leichnams in das Hauptquartier der Südlichen Jurisdiktion in Washington. Die älteste mir vorliegende Ausgabe von Morals and Dogma nennt als Erscheinungsort Charleston, den Gründungsort des Ritus und als Erscheinungsjahr ganz im Sinne gnostisch-urchristlicher Tradition nicht einfach die Jahreszahl des gebräuchlichen Gregorianischen Kalenders 1881, sondern 5641. Das Werk aber, eine „ Totalitätsdarstellung “ nur einer anderen Art als Dantes große Dichtung, ist eine gedrängte Darstellung, Analyse und Erklärung maurerischer Einzelrituale vom 1. bis zum 32. Grad. Der 33. und letzte Grad ist weniger ein Einweihungsals ein administrativer Grad. Es gibt darin eine klarere Darstellung der Lehre der Templergnosis in kurzer, gedrängter und überaus verdichteter Form als in vielen Büchern, die darüber geschrieben wurden. So heißt es dort: „ Die Templer hatten wie alle geheimen Orden und Vereinigungen zwei Lehren, eine verborgene, vorbehalten den Meistern, das war Johanneismus; die andere öffentlich: die war römisch-katholisch. So täuschten sie ihre Gegner, die sie zu ersetzen suchten. Dementsprechend wurde von der Freimaurerei allgemein 272 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="291"?> vermutet, daß sie aus Dionysischen Baumeistern 55 oder aus deutschen Steinmetzen entstanden sei, die den Evangelisten Johannes als Schutzherrn angenommen hatten, um nicht Roms Verdacht zu erwecken; verborgen erklärte sie, ein gemeinsames Kind der Kabbala und der Essener zu sein. “ 56 Etwas später weiß Pike zu berichten: „ In der Düsternis seines Kerkers errichtete der Großmeister vier Logen in vier Metropolen, in Neapel für den Osten, in Edinburgh für den Westen, in Stockholm für den Norden und in Paris für den Süden. (Die Initialen seines Namens J.: . B.: . M.: ., die sich in derselben Anordnung in den ersten drei Graden finden, sind einer von vielen internen und überzeugenden Beweisen, daß dies der Beginn der modernen Freimaurerei gewesen ist.) Die Legende von Osiris wurde zu neuem Leben erweckt und einverleibt, um die Zerstörung des Ordens zu versinnbildlichen, und die Wiedergeburt von Khurum (Hiram), ermordet im Inneren des Tempels, als Khurum Abai (Hiram Abif ), dem Meister als Märtyrer von Treue und Pflicht, Wahrheit und Gewissen, prophezeite die Erweckung der begrabenen Vereinigung zum Leben. “ 57 Selbstverständlich wird im selben Zusammenhang auch die Leistung Dantes kenntnisreich gewürdigt. Pike erklärt hier, daß sich die Kommentare über die Göttliche Komödie zwar vervielfacht hätten, daß es offenkundig aber noch keinen einzigen gibt, der den besonderen Charakter dieses Werkes verstanden hat. Dieser besondere Charakter aber bestehe „ in einer kühnen Anwendung der Mysterien - wie in der Apokalypse - der Figuren und Zahlen der Kabbala auf die christlichen Dogmen. Seine Wanderung durch die übernatürlichen Welten wird verwirklicht wie die Initiation in die Mysterienkulte von Eleusis und Theben. “ 58 Pike ist auch aufgefallen, daß die Commedia und der Roman de la Rose zwei verschiedene, gegensätzliche Formen des gleichen Werkes sind, nämlich der Einweihung in die Unabhängigkeit des Geistes, eine Satire auf die zeitgenössischen Institutionen und nicht zuletzt die allegorische Formel des großen Geheimnisses vom Rosenkreuz. Der Kenner von Dantes Werk Robert John ging später sogar so weit, mit guten Gründen anzunehmen, daß jener „ Messer Durante “ aus Florenz, der in 232 flüchtigen, aber doch auch sehr hohes Talent verratenden Sonetten, die stark verkürzte Übertragung des Rosenromans ins Italienische geschaffen hatte, niemand anderer als Dante selbst gewesen ist. 59 55 Der Ausdruck „ Dionysische Baumeister “ bezieht sich auf einen Bericht, wonach in Jonien Priester der Dionysos-Mysterien eine Organisation von Baumeistern gegründet haben sollen, die Tempel bauten. Auch Hiram Abif, der Baumeister des Tempels in Jerusalem, soll ein Eingeweihter dieser Organisation gewesen sein. Pike weist diese Berichte zurück. 56 Albert Pike, op. cit., S. 817 f. 57 Albert Pike, op. cit., S. 820 f. 58 Albert Pike, op. cit., S. 822 59 Robert John, op. cit., S. 13. Dasselbe hat auch der Entdecker jener Handschrift im Archiv der Medizinischen Fakultät von Montpellier angenommen. 273 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="292"?> Pike nennt den Rosenroman das Epos des alten Frankreich und ein profundes Buch, das in der äußeren Form des Leichtsinns so gelehrt über die Geheimnisse des Okkultismus Bescheid weiß wie Apulejus. Der Roman war von Guillaume Loris begonnen und als Fragment hinterlassen worden und wurde von Jean de Meung fortgesetzt und vollendet. Das führte zu Pikes abschließendem Urteil, daß die Rose von Flamel, die von Jean de Meung und jene von Dante am selben Stamm wachsen. Eine ebensolche grundsätzliche Parallele könnte man zwischen der Commedia und Morals and Dogma feststellen. Einige unwichtige Details der Anschauungen von Pike stimmen nicht mit den Auffassungen der letzten Zeit überein, wie etwa, daß die neun Ur-Templer ein Gelübde in die Hände des Patriarchen von Jerusalem abgelegt hätten, daß sie ursprünglich gekommen wären, um christliche Pilger vor Überfällen zu schützen, oder welche Rolle Bernhard von Clairvaux und Stephen Harding für den Orden gespielt haben. Aber das wichtige und wesentliche Geistesgeschichtliche kommt klar und deutlich heraus: die gnostische Grundlage des Ganzen samt den Einflüssen durch Kabbalistik und ägyptische Mysterien. Auch die druidischen Einflüsse hat Pike gekannt. Schließlich lieferte Pike gleich eine doppelte Erklärung für die historisch nur im Großen und nicht im Einzelnen dokumentierte Entwicklung der Träger der Templergnosis zur Freimaurerei. Nach ihm war das geheime Ziel der Templer nach der Auflösung des Ordens der Wiederaufbau des salomonischen Tempels im Geistigen und Dantes Traum von der Wiederherstellung und dem Fortleben der Templer hatte hier seine Wurzel. Nach Pike waren die Templer von vornherein, lange vor Pierre d ’ Aumont, mit der Maurerei verbunden. Erstens dadurch, daß der französische Name Frères Maçons im Englischen zu Freemasons korrumpiert worden war, wie die Briten auch aus Pythagore de Croton einen Peter Gower of Groton gemacht hatten. Zweitens aber, weil die Templer an die Krieger-Maurer des Zorobabel angeknüpft hatten, der den Tempel hatte wieder aufbauen lassen. Diese Krieger-Maurer hielten in einer Hand das Schwert und in der anderen die Kelle. So wurden Schwert und Kelle Symbole der Templer. Nach Pike wurde dann aus dem ersten Kunsthandwerker in Bronze Khairum oder Khurum ebenfalls korrumpiert der Name Hiram. Er war der Baumeister des Haikal Kadosch, des heiligen Hauses oder Tempels. Die Kelle des schottischen Rituals war natürlich eine esoterische Kelle, deren dreieckige Platten, in Form eines Kreuzes angeordnet, das kabbalistische Pentagramm ergaben, das auch das Kreuz des Ostens genannt wird. Die zentrale Bedeutung des Pentagramms für die Templer ergibt sich schon daraus, daß sie es zur Verschlüsselung eines ihrer Codes verwendeten. Einen überaus interessanten Hinweis für die Templergnosis enthält das Buch von Pike auch durch die Geschichte, wonach zur Zeit des Hugo von Payens im Osten eine Sekte johanneischen Ursprungs gelebt hat, welche den Anspruch erhob, die wirklichen Mysterien des Urchristentums zu kennen und zu tradieren. 274 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="293"?> Diese urchristliche Sekte schrieb die Gründung ihrer Kirche Johannes zu und erklärte, es gäbe eine kontinuierliche Nachfolge von Johannes durch sie. Das Haupt dieser Sekte, das sich „ Christos “ , der „ Gesalbte “ oder „ Geweihte “ , nannte, hieß zur Zeit des Hugo von Payens Theoclet, weihte ihn in die Mysterien dieser Urkirche ein und bestimmte ihn schließlich zu seinem Nachfolger. Damit bekleidete der Orden der Templer, dessen erster Großmeister Hugo von Payens gewesen ist, das Apostolat einer kabbalistischen Gnosis. Pike, der die Geschichte der Grabungen der neun Ur-Templer nicht kannte, nimmt dies als den einzigen Ursprung der Templergnosis an. 60 Die Mandäer sind heute noch solche Johannes-Christen, die Johannes den Täufer als den einzigen Messias anerkennen. Manchen Gnostikern gilt er als Verkörperung des alttestamentarischen Propheten Elias, eine Auffassung, welche die moderne Anthroposophie übernommen hat. Nach Gershom Scholem haben gerade in einem Kernland der Templer, der Provence, seit dem 12. Jahrhundert berühmte Rabbis kabbalistische Meinungen und Symbolik benützt, um Inspiration von oben auszudrücken. Sie sprachen von einer Erleuchtung durch Elias als Erfahrung spiritueller Erweckung. 61 Bernhard von Clairvaux mit seinem Interesse für zwei kabbalistischen Schulen aber auch Maleachi, der mit dem letzten der Prophetenbücher auch Eingang in das Alte Testament gefunden hat, würden eine Brücke zu den Templern darstellen. Maleachi betont die Wiederkunft des Elias am Tage des Herrn. Für die Christen hatte sich die Vorhersage des Elias durch Johannes den Täufer erfüllt. Übrigens hatten noch 1622 portugiesische Mönche an den Ufern des Euphrat Mitglieder einer gnostischen Sekte getroffen, die sich „ Christen des Heiligen Johannes “ nannten. Es gibt ein Dokument, das aus derselben Sammlung wie die Charta des Larmenius stammt, in dem von einer Lehre der „ Primitiven christlichen Kirche “ berichtet wird, deren Souveränes Haupt und Patriarch Theoclet ist. Das Manuskript ist in griechischer Sprache geschrieben und 1154 datiert. Darin wird auch erklärt, daß es teilweise von einem älteren Manuskript aus dem 5. Jahrhundert entnommen sein soll. Im 19. Jahrhundert veröffentlichte ein „ Ordre de Temple “ , der direkte Herkunft von den Templern für sich in Anspruch nahm, zwei Werke, ein Manuel des Chevaliers de l ’ Ordre du Temple 1811 und ein Levitikon 1831 zusammen mit einer apokryphen Version des Johannes-Evangeliums. Die Lehre, die bis ins 18. Jahrhundert tradiert worden war, wurde vorübergehend durch den Großmeister Fabré-Palaprat wieder in Kraft gesetzt. Dieser hat bereits 1812 erklärt, die Quellen des Urchristentums aufgefunden zu haben, die er unter dem Titel Levitikon ou Exposé de Principes Fondamentaux de la Doctrine des Chrétiens- 60 Albert Pike, op. cit., S. 817 61 Gershom Scholem: Kaballah. New York 1978, S. 43 275 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="294"?> Catholiques-Primitifs 1831 veröffentlichte. Es ist im Wesentlichen der griechische Kommentar einer gnostischen Fassung des Johannes-Evangeliums. Der Name des Buches bezieht sich auf „ Levitikus “ , die lateinische Bezeichnung des dritten Buch Moses, in dem die Gesetze und Gebote niedergelegt sind, die Gott Moses den Israeliten auf dem Berg Sinai aufgetragen hatte. Vor dem Hauptteil befindet sich ein längeres Vorwort von Fabré-Palaprat. Es enthält die angebliche Liste aller Großmeister, beginnend mit Jesus als Nummer eins und Johannes als Nummer zwei bis zu Jean Marc Larmenius als Nummer dreiundneunzig. Von diesem geht es weiter bis Fabré-Palaprat als Nummer einhundertfünfzehn. Diese Liste ist der einzige angebliche dokumentarische Nachweis für die kontinuierliche Existenz der Pariser Fortsetzung des Ordens durch Larmenius. Das Vorwort hatte Fabré-Palaprat geschrieben, nachdem er aus dem Laienritterorden mit den Statuten von 1705 ausgeschieden war und einen neuen Orden begründet hatte, der auf der Basis des gnostischen Urchristentums beruhte. Es mag sein, daß dieser der Vorläufer einer apostolisch-johanneischen Kirche ist, die heute in den USA, in Kanada, Mexiko, Spanien und Indien existiert. Sie vereinigt Ideen der jüdischen Tradition mit dem Corpus Hermeticum, gnostischen Schriften, Teilen des apokryphen Thomas-Evangeliums und der Geheimen Offenbarung Johannes. Es sind alles Elemente sowohl der Templergnosis wie des Schottischen Ritus. Durch einen Geistlichen dieser johanneischen Kirche ist das Levitikon heute ins Englische übersetzt worden. 62 Überdies gibt es in der griechisch-orthodoxen Kirche einen Theoclet, der unter anderem Glaube, Hoffnung und Liebe als Bedingungen der Seligkeit aufstellte. Dabei ist in diesem Fall der Glaube das „ Nicäische oder Athanasianische Symbolum “ . Schließlich hat der ungewöhnliche Bischof und Abgeordnete zum Französischen Nationalkonvent Henri Grégoire, der für die Gleichstellung der Juden und die Abschaffung der Sklaverei eintrat, der vor allem aber Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften war, zu den beiden Manuskripten des Manuel des Chevaliers . . . und des Levitikon erklärt, daß Hellenisten und Kenner der Paläographie es als authentisch und echt anerkannt hätten und es dem 13. Jahrhundert zugewiesen haben. Gewiß gibt es in Pikes Buch über die Rituale des Schottischen Ritus auch Stellen, die bewußt nicht mit der historischen Wahrheit übereinstimmen. Dann handelt es sich um ein paralleles Problem zu Dante. Was bei Dante auf die Verschiedenheit von empirischer mit dichterischer Wahrheit hinausläuft, das wird in Pikes Ritual zur Überhöhung der empirischen Wahrheit durch Symbolik. Um das zu illustrieren, sei hier als ein Beispiel das ägyptische Bild angeführt, das er als Illustration den Ausführungen über den dritten Grad eingefügt hat. Es zeigt auf der linken Seite eine stehende Frauengestalt, die mit erhobenem linken 62 The Levitikon. Übersetzt von Donald Donato, eingeleitet von Jordan Stratford, o. O. 2010 276 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="295"?> Arm in die Himmel zeigt, und vor ihr, auf dem Boden liegend, eine leblose männliche Gestalt, deren eine Hand von der Pranke eines neben ihm sitzenden Löwen gehalten wird. Das Symbol des Löwen versinnbildlicht hier den Sonnengott Aiker, Hüter des Eingangs zum Jenseits. Die stehende Frauengestalt steht für Isis, der liegende Mann für ihren Bruder und Gatten Osiris. Das ägyptische Bild zeigt die Szene, in der Isis den gesuchten toten Osiris wiedergefunden hat und zu neuem Leben erweckt. Der Löwe hält in seiner erhobenen, rechten Pranke ein Ankh-Symbol. Es ist dies eines der zentralsten magischen Symbole im alten Ägypten, das für die Verbindung des Lebens mit seinem Ursprung steht. Obwohl Pike das Bild wegen seines ursprünglichen, besonders plastischen, wirklichen Sinnes gewählt hat, dient es ihm als Symbol für etwas ganz anderes. In den Worten seiner Bildbeschreibung erklärt er, daß es hier um den Meistergriff geht und daß das Ankh- Symbol hier den Hammer des Meisters versinnbildliche, das freimaurerische Zeichen des Stuhlmeisters. Im maurerischen Ritual fällt im dritten Grad dem Stuhlmeister die Rolle des Sonnengottes Aiker zu. Pike verfälscht nicht die Wahrheit des ägyptischen Bildes, sondern er verwendet es einfach als symbolische Darstellung. 63 An anderer Stelle erklärt er, daß bei der Wiedererweckung des toten Hiram (oder eines in den Meistergrad erhobenen Maurers) zunächst der Griff des Lehrlings (der Moral) und des Gesellen (der Philosophie) versagt, ehe schließlich der Meistergriff des Löwen aus dem Hause Judah den Toten zum Leben erweckt. 64 Mit dem Löwen aus dem Hause Judah könnte entweder der jüngste Sohn Jakobs oder aber Christus gemeint sein. Zweifellos meint Pike hier Christus. Aber Pike hatte auch seine eigene Erklärung für den Baphomet. Als Sohn der Aufklärung fühlte er sich wohl von der Vorstellung eines Schädelkults überhaupt abgestoßen. Er meinte, daß es im Baphomet um ein machtvolles Agens der Natur ginge, teilweise entdeckt von Schülern Mesmers, das im Mittelalter von den Alchemisten „ Sulphur “ oder das „ große Werk “ genannt worden war. Die Gnostiker nahmen an, daß dieses Agens den feurigen Leib des Heiligen Geistes bildete und daß dies es war, was in heiligen Riten am Sabbat oder im Tempel als „ hieroglyphische Figur des Baphomet “ und als hermaphroditische Ziege von Mendes verehrt wurde. Die Meister der Alchemie bedienten sich als Sinnbild für ihr Gesetz der Vorsicht des Kopfes einer Ziege. 65 Von den Graden IV-XXXII des Schottischen Ritus sind neun „ Ritter-Grade “ , was ebenso wenig wörtlich zu nehmen ist wie auch alles andere, das in einer Symbolsprache ausgedrückt wird. Symbolisch allerdings verweisen diese Grade auf das Anknüpfen an die Gnosis der Tempelritter und auch die Zahlensymbolik 63 Albert Pike, op. cit., S. 80 64 Albert Pike, op. cit., S. 641 65 Albert Pike, op. cit., S. 734 und 779 277 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="296"?> stimmt. Denn wie bei Dante die Zahl Neun sowohl die Zahl des Templerordens als auch jene der Weisheit Beatrices ist, sind es auch hier neun Rittergrade. Mitunter kommt es auch vor, daß Pike angesichts des Chaos, in das sich die Tradition der Templergnosis zersplittert hatte, Opfer einer falschen Angabe wird. So stimmt seine Angabe nicht, Cagliostro hätte allgemein einen neuen Ritus in die Freimaurerei eingeführt. Aber auch, wenn er nur eine Einführung in die englische Maurerei gemeint haben sollte, ist es unrichtig. Als Cagliostro seine angebliche Gründung des Misraim-Ritus 1788 bekanntgab, hatte dieser Ritus bereits einen eigenen Großmeister in Neapel gehabt, als Cagliostro sieben Jahre alt war. Aber sogar die Einführung in England ist unrichtig, da die legendäre Aufnahme Cagliostros in die schottische Loge „ Esperance “ Nr. 289 in Soho niemals stattgefunden hat. 66 Betrachtet man Pikes Hinweis auf Cagliostro in einem größeren Kontext, dann ist es für seine Zeit und das damals besonders ferne Amerika erstaunlich, daß er den Misraim-Ritus überhaupt kannte und von Cagliostros Behauptung, der Gründer zu sein, gewußt hat. Durch die sizilianische Abstammung Cagliostros war die Möglichkeit ja naheliegend, daß er mit diesem Ritus zu tun hatte. Unmittelbar vor der Erwähnung Cagliostros stellt Pike seine ungewöhnliche Bildung unter Beweis, wenn er über Swedenborg urteilt, sein System sei die Kabbala aber ohne das Prinzip der Hierarchie. Als eineinhalb Jahrhunderte später der polnische Nobelpreisträger Czes ł aw Mi ł osz Swedenborg Dante an die Seite stellte, war diese überraschende Beobachtung dem nicht unähnlich. Der Freimaurer Albert Pike schätzt die Ideen der Templergnosis als „ geheimen “ Weg der Einzelseele zum Göttlichen, aber für „ Vergeltung “ hat er nichts übrig. Das Kapitel über den 30. Grad des „ Ritter Kadosch “ endet denn auch mit Pikes abschließendem Urteil über die Templer, sie seien vielleicht Märtyrer gewesen, jedoch ihre Rächer hätten die Erinnerung an sie entehrt. 67 Schon in Moses V,32,35 spricht Gott die Worte: „ Die Rache ist mein. Ich will vergelten “ und in der Bergpredigt herrscht dieselbe Geistigkeit. Damit ist aber nur die endgültige Abweisung und Überwindung aller „ Vergeltungsideen “ besiegelt. Die geistige Tradition der Templergnosis reicht weiter in die folgenden Grade hinein. So heißt es im Kapitel über den zweiunddreißigsten Grad des „ Königlichen Geheimnisses “ die erste Überlieferung der einzigartigen Offenbarung sei durch die Priesterschaft Israels unter dem Namen „ Kabbala “ bewahrt worden. Die kabbalistischen Lehre war auch der Leitstern der Weisen (aus dem Morgenland) und des Hermes (Trismegistos) und ist im Sephirotbaum, im Sohar und im Talmud beschlossen. Nach dieser Lehre ist das Absolute das Sein, in welchem das Wort ist. Es ist das Wort, welches das Äußerste und den Ausdruck von Sein und Leben bildet. Damit sind wir wieder mitten in der Templergnosis. 66 Albert Pike, op. cit., S. 823 67 Albert Pike, op. cit., S. 824 278 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="297"?> Im längsten Kapitel des ganzen Buches, das dem siebenundzwanzigsten Grad als dem „ ersten wirklichen Rittergrad “ , dem Ritter von der Sonne gewidmet ist, spielt die Alchemie eine besonders große Rolle, jedoch keineswegs allein für sich selbst, sondern im Zusammenhang mit der Kabbala. Auf den Zusammenhang der Alchemie mit der Kabbala wird besonders hingewiesen. „ Maurerei “ , schreibt Pike, sei „ die Suche nach dem Licht “ und die führt direkt zurück zur Kabbala, dieser alten und so wenig verstandenen Mischung aus Absurdität und Philosophie. In diesem geistigen Zentrum würde der Eingeweihte die Quelle vieler Lehren finden, von den hermetischen Philosophen und den Alchemisten bis zu Swedenborg und er schlägt auch die Bogen zu Sanskrit-Quellen. 68 Wesentliche Teile des 32. Grades sind auch mit der Templergnosis verbunden und im 33. Grad taucht auch Jacques de Molay wieder auf. Die Unvereinbarkeit der spirituellen Tradition mit Vergeltung, die für Pike von so großer Wichtigkeit ist, steht aber jenseits der Templergnosis und trifft die exoterische Seite des Templerordens mit seinem inneren Spannungsverhältnis von heroischem Kriegertum und Mönchsexistenz. An diesem hätte der exoterische Orden zumindest dann scheitern müssen, wenn es nicht mehr um Verteidigung gegen Aggression gegangen wäre, sondern um missionarische Offensive. Das zielt auf die grundsätzliche Unvereinbarkeit von Krieg einerseits mit Toleranz und Liebe andererseits. Selbst ein so großer Geist wie Erasmus hatte noch zwei Jahrhunderte nach der Auflösung des Ordens seine liebe Not, als er in seinem Enchiridion Militis Christiani eine Symbiose von Kriegertum mit wahrem Christentum zu konstituieren versuchte. Im Allgemeinen ist es dabei religionsgeschichtlich interessant, zu beobachten, wie die monotheistischen, „ westlichen “ Religionen Judentum, Christentum und Islam eine oft sehr radikale Geschichte von Religionskriegen kennen. Solche scheinen den großen östlichen Religionen Hinduismus, Buddhismus und Taoismus fremd gewesen zu sein. Erst die besonders aggressive Herausforderung durch islamischen Fundamentalismus scheint Hindus so weit gebracht zu haben, aus konfessionellen Gründen zu den Waffen zu greifen. Wie die Gefahr des brutalen sowjetischen Kommunismus der Grund war, daß es im Vietnamkrieg buddhistische Regimenter auf der Seite Südvietnams gegeben hat. Nach der Machtübernahme der Vietkong im Vietnamkrieg vollzog sich übrigens eine echte Parallele zum Schicksal der Templer im 14. Jahrhundert. Eine moderne, materialistisch gesinnte Inquisition vernichtete durch Folter und Mord viele buddhistische Krieger und die öffentliche Meinung ging darüber hinweg, als wäre nichts geschehen, um zur Tagesordnung des gedankenlosen Dahinlebens überzugehen. 68 Albert Pike, op. cit., S. 741. Mit der Überlieferung von Alchemie und Kabbala im Mittelalter, in der Renaissance und im Barock hat sich besonders Gershom Scholem befaßt in seinem Buch Alchemie und Kabbala. Frankfurt 1984 279 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="298"?> Die englische und die französische Geschichte waren in einer Hinsicht parallel verlaufen. In England hatte die Korruption des Stuart-Regimes den Bürgerkrieg ausgelöst und zur Hinrichtung Jakobs I. geführt. Das Ergebnis war freilich die Herrschaft der finsteren, puritanischen Bilderstürmer und Shakespeare-Feinde und die Militärdiktatur Cromwells, die den Stuarts die Rückkehr leicht machte. In Frankreich hatte die Korruption der Bourbonen die Französische Revolution ausgelöst und im Anschluß daran zur Schreckensherrschaft der Bergpartei und der Jakobiner sowie zur Hinrichtung Ludwigs XVI. geführt, was zur Diktatur Napoleons und der Rückkehr der Bourbonen mit Ludwig XVIII. geführt hatte. Allerdings hatte der entsetzliche „ weiße Terror “ während seiner Regierungszeit wiederum eine entscheidende Rolle dabei gespielt, daß im französischen Fortleben der Templer vorübergehend noch einmal die alte templerische Tradition unter Fabré-Palaprat auflebte. Doch die katholische Entwicklung Frankreichs führte zumal nach der Hinrichtung Ludwigs XVI. schließlich zum Aufgeben der Gnosis durch den Orden, der dann eine freilich nunmehr weiträumige christliche Grundlage erhielt. Im protestantischen England, in dem sogar unter den katholischen Stuarts die Freimaurer und Templer Anglikaner gewesen waren, wurde dies unter der Herrschaft der Hannoveraner noch deutlicher und war das Haupt der anglikanischen Kirche durch lange Zeit selbst Freimaurer. Im amerikanischen Süden mit seinem starken französischen Einschlag hatten die Erben der Templergnosis durch eine Vielfalt „ schottischer “ Logen aus Frankreich, England und Schottland zur Bildung des „ Schottischen Ritus “ geführt, der dann durch Albert Pike seine endgültige spirituelle Ausrichtung erhalten hat. Im Grundlagenwerk des Ritus von Pike Morals and Dogma gibt es direkte Hinweise auf das Beibehalten von Ideen der Templergnosis. Mitunter wird sie etwas durch „ moderne “ wissenschaftliche Bemerkungen verständlicher zu machen versucht, was kaum mehr als eine Nebengarnierung darstellt. Ins Zentrum führt die Einsicht, wonach das Universum nicht einfach eine Leere darstellt, sondern erfüllt ist von unendlichen göttlichen Kräften, die Dante als Intelligenzen der Engel bezeichnet hatte. Pike allerdings kommentiert das auch noch „ wissenschaftlich “ nach den Vorstellungen seiner Zeit, indem er von der permanent aktiven Elektrizität, Wärme und auch dem Äther spricht, die das ausfüllen und zumal die Äthertheorie ist wie so vieles von der klassischen Physik des 19. Jahrhunderts heute seit langem überholt. Für uns Heutige klingt die dichterische Phantasie Dantes mit seinen Intelligenzen akzeptabler als die altmodische „ Wissenschaft “ des 19. Jahrhunderts. Aber oft gibt es bei Pike Ideen und Begriffe, die direkt der Gnosis entnommen sind. So kommt nach ihm vom Himmel der spirituelle Anteil des Menschen, von der Erde aber die Materie und der sterbliche Anteil. Bei dieser Betrachtung erwähnt er auch zum ersten Mal die Jakobsleiter, das Symbol des 280 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="299"?> gnostischen Aufstiegs durch den Sperrkreis, und er vergleicht sie mit der mystischen Leiter des Mithras-Kults. Aber Äthertheorie oder nicht, für Pike wie für die Templergnosis spielen nicht nur die göttlichen Kräfte, welche die scheinbare Leere des Universums ausfüllen, eine große Rolle, sondern kommt dabei als Manifestation Gottes dem Licht besondere Bedeutung zu. Wenn auch die kreisenden Planeten an der jeweils von der Sonne abgewandten Seite Schattenkegel werfen, so hat nach Pike doch die Finsternis kein wirkliches Heim im Universum. Später kehrt die „ mystische Leiter “ , die auf dem gnostischen Weg durch die Sphären führt, noch einmal wieder, im Zusammenhang mit der Erklärung, daß das „ königliche Geheimnis “ in der Liebe zur Weisheit besteht, welche die gnostische Sehnsucht nach der Wiedervereinigung der Geistseele mit dem Göttlichen überhaupt wachhält. Nun war die Gnosis, gleichviel ob antik, jüdisch oder christlich nicht nur im Grunde westlich und das heißt mit der Vorstellung eines Menschheitsdramas von Weltschöpfung, Erlösung und Weltende verbunden, sondern sie vertrat durch den Gnostiker Ptolemäus auch einen geozentrischen Standpunkt. Pike geht darüber hinaus. Ausgehend vom Gottesbegriff der Kabbala gelangt er in seinen Spekulationen zu dem Punkt, an dem er erklärt: Das Universum hat keinen Anfang. Das entspricht dem Bild des Menschheitsdramas in den östlichen Religionen. In seiner weltumspannenden Toleranz bezieht er auch die östlichen Religionen ein. Gerade in seinem Templerkapitel erwähnt er wiederholt die vedantische Tradition, welche die mystische Tradition des Hinduismus darstellt. Einmal fällt dabei sogar der Name der Tradition von „ Nyaya “ . Dies könnte ein direkter Hinweis darauf sein, daß er sich bewußt war, daß die Epistemologie dieser Tradition besser als alles andere geeignet sei, esoterische Symbole zu erfassen. Zwar hatte damals Schleiermacher bereits den „ hermeneutischen Zirkel “ entwickelt gehabt, doch konnte Pike ihn noch nicht kennen. Der Sanskritname „ Nyaya “ hat eigentlich die Bedeutung „ Logik “ , doch ist es der vedantischen Nyaya-Tradition besonders um Epistemologie gegangen. Allerdings schloß sich diese Tradition auch durch starke soteriologische Elemente an ihr Schwestersystem Vaishesnika an, dessen Prinzip von Adrishta die Karma-Lehre anerkennt, sodaß man dies auch von der Nyaya-Tradition sagen kann. Die Karma-Lehre aber lag Pike infolge seiner geschichtsphilosophischen Vorstellung nicht nur von der Schuld der Kirche am Schicksal der Templer, sondern auch infolge der Schuld der Rächer der Templer sehr am Herzen. Dies um so mehr, als es ja nicht nur ein persönliches, sondern auch ein kollektives Karma gibt. Zwar hat er vom Zusammenhang des englischen Bauernaufstands mit den Templern kaum etwas gewußt, aber er hat sehr wohl gewußt, daß die von so großen und schönen Menschenrechtsideen ausgegangene Französische Revolution zu einem riesigen Blutbad und der Hinrichtung Ludwigs XVI. geführt hatte. Wie ihm bestimmt auch die mehrfach überlieferte Einzelheit bekannt war, daß unmittelbar 281 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="300"?> nach der Hinrichtung des Königs ein Unbekannter auf das Schafott gesprungen ist und in die Menge gerufen haben soll: „ Jacques de Molay, du bist gerächt! “ Auch von der brutalen Entsetzlichkeit des Tötens hatte der ehemalige Kavallerieoffizier im Mexikanisch-Amerikanischen Krieg eine sehr lebendige Vorstellung. Er mag sehr wohl daran geglaubt haben, daß die Vergeltung der Verbrennung des Großmeisters längst im „ höheren Auftrag “ stattgefunden hatte. Waren doch ganz im Sinn der Prophezeiung von Jacques de Molay auf dem Scheiterhaufen sowohl der verantwortliche Papst als auch der schuldige französische König binnen Jahresfrist vor den Richterstuhl Gottes geladen worden. Die Idee der Karma-Lehre war gewiß nicht ohne Anreiz für Pike. Nun mag das kollektive Karma im Hinblick auf die Templer- „ Rächer “ eine neue Aufgabe zu lösen gehabt haben. Sollte sie diese so erfüllt haben, daß einerseits der „ Ordo Militiae Christi Templi Hierosolymitani “ trotz des Verlusts der tragenden gnostischen Grundidee zu einem weiträumigeren Christentum führen hatte können? Er hat schließlich andererseits Kampf und Kriegertum auch durch humanitäre Bestrebungen ersetzt. Für den Schottischen Ritus war es schon darum einfach, leicht und geradezu natürlich gewesen, Vergeltung und Krieg zu vergessen, da er kein Ritteroden mehr war, sondern da es ihm nur um die Fortführung der spirituellen Tradition der Templergnosis ging. Seine „ Rittergrade “ erinnern nur von der Worthülle her an diese Seite der Vergangenheit und sind rein symbolisch gemeint, was sich der allgemeinen, gnostisch geprägten Symbolsprache harmonisch einfügt. Beide Fortsetzungen, die französische wie die schottische, hatten eine gewisse Weltgeltung erlangt. Waren sie nicht beide einen Schritt weitergekommen? Am Namen des Einweihungsgrades und Buchkapitels über das „ Königliche Geheimnis “ besticht dabei das Epitethon „ Königlich “ darum besonders, weil es an die „ Königliche Kunst “ gemahnt, was Pike später auch selbst ausgeführt hat. Nun besteht aber zwischen „ Kunst “ und der epistemologischen Nyaya-Tradition ein tiefer innerer Zusammenhang. Dieser Zusammenhang reicht weit über dieses eine Kapitel hinaus und betrifft die gesamte esoterische Tradition des Ritus. Vielleicht hat Pike auch darum und nicht nur weil es der höchste eigentliche Einweihungsgrad ist gerade in diesem Kapitel auf die innere geistige Einheit aller Einweihungsstufen hingewiesen. Er schrieb: Jeder Grad des Alten und Angenommenen Schottischen Ritus vom ersten bis zum zweiunddreißigsten lehrt in seinem Ritual genau so wie in seiner Instruktion, daß es die edelste Aufgabe und zugleich die höchste Pflicht des Menschen ist, unaufhörlich und tatkräftig nach dem zu streben, was in ihm spirituell und göttlich ist über das hinaus, was in ihm materiell und sinnlich ist; sodaß auch in ihm wie im Universum Gott, Harmonie und Schönheit herrschen als Ergebnis eines gerechten Gleichgewichts. 69 69 Albert Pike, op. cit., S. 855 282 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="301"?> Das geschieht nicht zuletzt durch die Bewahrung der esoterischen Tradition des Ritus. Aber dieser Ritus und seine Symbole sind ebenso wenig rein verstandesmäßig, begrifflich abstrakt zu erfassen wie eine mystische „ Schau “ oder Werke großer dichterischer Kunst, worunter gewiß nicht fällt, was heute als angebliche Literatur unter dem Titel „ Texte “ produziert wird. Zur „ Kunst “ ist eine andere, den Gegenständen entsprechende Kunst der Auslegung und des Verstehens notwendig. Im Westen und besonders im deutschen Sprachraum ist seit Schleiermacher die Hermeneutik eine solche Kunst der Auslegung, die zwar zur Zeit Pikes bereits bestand, die er aber noch nicht kennen konnte. 70 Im alten Indien war die Lehre des Nyaya eine solche Epistemologie gewesen und wenn auch erst in unserer Zeit zum ersten Mal eine kritische Ausgabe des Nyayasutra in Angriff genommen wurde, so scheint der bewundernswert gebildete Pike das Wesen dieser Lehre gekannt zu haben. Jedenfalls nennt er in diesem Zusammenhang ausdrücklich die im Nyaya angelegte Heilslehre, wonach Wahrheit und Intelligenz nicht Eigenschaften der individuellen Einzelseele, sondern Eigenschaften Gottes sind. Das ist in einer langen Abfolge in der Freimaurerei bis heute tradiert worden, sodaß wir jetzt bei Pike lesen können: „ Wahrheit ist eine göttliche Eigenschaft und die Grundlage jeglicher Tugend. “ 71 So hat auch der große deutsche Dichter der Aufklärung und auch Freimaurer Gotthold Ephraim Lessing von sich einbekannt: Wenn er die Möglichkeit hätte, sich entweder für die Wahrheit oder das Streben nach der Wahrheit zu entscheiden, er würde das Streben nach der Wahrheit wählen, denn die ganze (absolute) Wahrheit sei doch nur bei Gott allein. Die von Pike anempfohlene Arbeit jedes einzelnen an sich selbst aber ist eine der wenigen sicheren, wenn nicht die einzige wirklich sichere Art der Weltverbesserung, denn weder der Wechsel von politischen oder wirtschaftlichen Systemen und Ideologien noch die Gründung von Organisationen sind ein sicherer Weg. Der Austausch eines Systems durch ein anderes, besonders durch eine Revolution oder einen Krieg, hat fast immer in kurzer Zeit zu noch größerem Leid und Unglück geführt als das alte System. Der englische Bürgerkrieg und die Französische Revolution, die hier am Rande genannt wurden, sind keine Ausnahme, sondern die Regel. Darum war auch ein Autor vom Range Camus ’ gegen Revolutionen, aber für Revolten innerhalb eines evolutionären Entwicklungsprozesses, wie er auch gegen „ engagierte Literatur “ war, obwohl er selbst während des Zweiten Weltkrieges mit wirklicher Todesverachtung politisch 70 Zwar hatte es seit Origines eine patristische Hermeneutik und seit Philo von Alexandrien eine jüdische, sowie seit Cassian eine Auslegung des vierfachen Schriftsinns gegeben, die auch von Dante übernommen und in diesem Buch besprochen wurde, doch die wirkliche Kunst epistemologischer Auslegung begann erst mit Schleiermacher. 71 Albert Pike, op. cit., S. 852 283 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="302"?> engagiert gewesen ist und obwohl viele seinen Roman Die Pest als engagierte Literatur einstufen würden. Pike kommt in seinem Kapitel über das „ Königliche Geheimnis “ immer wieder auf die Kabbala zurück, was wiederum mit dem Wesen der Templergnosis zusammenfällt, da die neun Ur-Templer bei ihrer Suche nach dem Urchristentum nach Schriftrollen genau dieser Art gegraben haben, wie sie auch ihren Auftraggeber Bernhard von Clairvaux besonders interessiert hatten. Dieses Interesse hatte einen doppelten Grund gehabt, einen inhaltlichen und einen methodischen. Hier sei zuerst der inhaltliche Grund angesprochen. Pike erklärt bereits ziemlich am Anfang des Kapitels über das „ Königliche Geheimnis “ , daß die wichtigste Tradition der einzigen Offenbarung unter dem Namen „ Kabbala “ von der jüdischen Priesterschaft bewahrt worden ist. Die kabbalistische Lehre sei auch die geistige Grundlage der Weisen 72 und des Hermes 73 und sie sei enthalten im „ Sepher Yezirah “ , dem Sohar und dem Talmud. Nach dieser Lehre ist das Absolute 74 das Sein, in welchem das Wort beschlossen ist, jenes Wort, das der Ausdruck und das Angesprochen-Werden von Sein und Leben ist. 75 Im dritten Absatz nach diesen Ausführungen gibt Pike seine Erklärung des Begriffes „ Königliches Geheimnis “ : „ Die Tradition gibt den Weisen den Titel von ‚ Königen ‘ , weil die Einweihung in ihre Weisheit echte Königswürde konstituiert und weil die große Kunst der Weisen von den Eingeweihten als ‚ Königliche Kunst ‘ bezeichnet wird . . . “ 76 Zumindest ein wichtiger Teil dieser „ Kunst “ bestand in der wirklichen Beherrschung der Astrologie. Sodann wendet sich Pike einer Eigenschaft Gottes sowohl nach der Kabbala wie nach der Templergnosis zu, wenn er ausführt, daß sich Gott manifestiere, indem er den Raum des Universums ausfüllt, den wir töricht „ Leere “ nennen. Was Dante in der Templergnosis mit der dichterischen Metapher der unsichtbaren Intelligenzen bezeichnet hat, das wird hier als jenes Paradox von Leere und Gott präzisiert, welches keineswegs „ das verächtlichste dieser Paradoxe “ darstellt, „ das jüdische und christliche Mystiker in gleicher Weise gebraucht haben, wenn Gott als das mystische Nichts bezeichnet wird. “ 77 Bei Meister Eckhart ist es das Nichts, da Gott als Nicht- Gott geliebt werden soll und die Bezeichnung der Kabbala als „ En-Sof “ verdeutlicht vielleicht noch genauer die Bezeichnung des unpersönlichen göttlichen Urgrunds. 78 72 „ aus dem Morgenland “ . Matthäus 2,9-12 73 Trismegistos: Vgl. den Aufsatz „ Hermetica “ , in: Harper ’ s Encyclopedia of Mystical & Paranormal Experience, Edison, NJ 1991, S. 59 74 Gott, der das einzig total Absolute darstellt. 75 Johannes 1,1-5, wo es heißt: „ Im Wort war das Leben und das Leben war das Licht des Menschen. Und das Licht scheinet in der Finsternis und die Finsternis hat ’ s nicht begriffen. “ 76 Albert Pike, op. cit., S. 842 77 Gershom Scholem: Die jüdische Mystik. Zürich 1957, S. 5 78 Man vergleiche die Darstellung Pikes mit jener Gershom Scholems, Die jüdische Mystik, op. cit., S. 5 284 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="303"?> In einer echten Parallele dazu findet sich der Begriff der Leere (Sanskrit: Shuniata), wie Pike ihn gebraucht in der mahayanabuddhistischen Hua-yen- Lehre, in welcher vom „ tiefen Sinn der Leere “ abgehandelt wird. 79 Wir hätten genug Propheten ohne Philosophie und Philosophen ohne Religion gehabt, klagte Pike; die blind Gläubigen sowohl wie die Nur-Skeptiker glichen einander und sind beide gleich weit entfernt vom ewigen Heil. 80 Im Chaos des universalen Zweifels und des Widerspruchs zwischen Vernunft und Glauben sind nach Pike die großen Männer und Seher stets stark geblieben gegenüber pathologischen Künstlern, die ein reines Schönheitsideal auf das Risiko und die Gefahr hin angestrebt haben, kritisches Denken und die Heilslehre zu verlieren. Damit gelangt er zu einer Art praktischer Lebenslehre des Maßes. In der mittelalterlichen Astrologie war der Saturn unter anderem der Planet des Maßes. In der Templergnosis war er zugleich jener letzte und äußerste Planet der Planetensphären, der vor dem Sperrkreis stand. Dazu stimmt, daß Pike in diesem Kapitel die symbolische Jakobsleiter eingebaut hat, die von hier hinauf in den Bereich des Göttlichen führt. Der Sohn der Aufklärung Pike räumt den Gestirnen und der Astrologie vielleicht nicht einen so wichtigen Raum ein wie Dante und die Templergnosis. Jedoch spielt die Symbolik des Sterns der Wahrheit eine Rolle und über die Astrologie urteilt er nirgends abfällig. Er hat im Gegenteil den größten Respekt vor den Weisen aus dem Morgenland, deren Kunst im Zusammenhang mit dem „ Königlichen Geheimnis “ in der wirklichen Beherrschung der Astrologie bestand. Ja möglicherweise betrachtet er sie gar nicht als erbliche Könige, wie die Fundamentalisten, sondern waren sie nur durch die Königliche Kunst „ gekrönt “ . Damit würde wieder übereinstimmen, daß der Stern von Bethlehem, dem diese Weisen ihren Ruhm verdanken, eine enge, dreifache Saturn-Jupiter-Konjunktion gewesen ist. Auch die wirklichen Weisen und Seher im Allgemeinen, die im Gegensatz zum Panästhetizismus mit Kraft und Nachdruck für eine Lebensphilosophie des Maßes eintreten, tun dies im Hinblick auf eine erhoffte Krönung, hier nicht mit dem Lorbeerkranz der Dichtung wie Dante, sondern durch die Anerkennung als Meister der Königlichen Kunst. „ Allein in der Hoffnung lebend, gekrönt zu werden, waren sie die ersten, das zu tun, was Pythagoras in einer so ergreifenden Weise in seinen wunderbaren Symbolen verbietet; sie zerstören die (ererbten) Kronen und treten sie mit Füßen. “ 81 79 Garma C. C. Chang; Die buddhistische Lehre von der Ganzheit des Seins. Bern - München 1989, S. 162 - 166 80 Hier hat Pike die Einsicht Kants in drei Arten des dogmatischen, skeptischen und kritischen Denkens auf die Heilslehre angewendet. 81 Albert Pike, op. cit., S. 844 f. 285 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="304"?> Dem folgen die Gegensatzpaare seiner Lebensphilosophie des Maßes, die so aussehen: Licht ist das Gleichgewicht von Schatten und Helligkeit. Handeln ist das Gleichgewicht von Trägheit und Aktivität. Autorität ist das Gleichgewicht von Freiheit und Macht. Weisheit ist das Gleichgewicht der Gedanken, die Funken und Strahlen des Geistes sind. Tugend ist das Gleichgewicht in den Affekten. Schönheit ist harmonische Proportion in den Formen. Die herrlichsten Leben sind die korrekten und die Großartigkeiten der Natur sind eine Algebra der Gnaden und des Glanzes. Alles Gerechte ist herrlich; und alles Herrliche muß gerecht sein. 82 Gegen Schluß des Kapitels, gleichsam als Höhepunkt, erklärt Pike, daß im Fall all jener, denen Wissen wünschenswert erscheint und für welche Philosophie mit göttlicher Schönheit erstrahlt, das „ Königliche Geheimnis “ das bedeutet, was der Sohar als das Mysterium der Balance bezeichnet. Es ist dies das Geheimnis des universalen Gleichgewichts. Pike stellt insgesamt sechs Gegensatzpaare von Begriffen einander gegenüber, die einander zugleich widersprechen und bedingen. Dabei zeigt er, wie in einem harmonischen Gleichgewicht jeweils beider die ideale Lösung für den Menschen liegt. Es sind die Gegensätze von Weisheit und Macht, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, Notwendigkeit und Freiheit, Gut und Böse, Autorität und individuellem Handeln und schließlich, am wichtigsten von allen, besonders für die spirituelle Lehre des Ritus: die spirituelle und göttliche Seite einerseits und die materielle Seite im Eingeweihten andererseits. Pikes Erklärung dieses letzten „ Gleichgewichts “ , zeigt besonders nachdrücklich, daß er nicht nur ungewöhnlich gebildet war, sondern auch, daß er oft das Wichtigste in einer einfachen Sprache auszudrücken vermochte, verständlich für jeden intelligenten Menschen von der Straße. Seine Erklärung des letzten und wichtigsten Gleichgewichtszustandes lautet demnach: „ Und dieser letzte Gleichgewichtszustand lehrt uns vor allem uns selbst als unsterbliche Seelen zu achten und lehrt uns Ehrfurcht und Nächstenliebe für andere zu haben, die genau so wie wir Anteil an der göttlichen Natur besitzen, erleuchtet durch einen Strahl göttlicher Geistigkeit, wie wir, mit Mühe ringend auf dem Weg dem Licht zu; fähig wie wir, fortschreitend aufwärts der Vollkommenheit zu, mit dem berechtigten Anspruch geliebt und bemitleidet zu werden, niemals jedoch gehaßt und verachtet zu werden; unterstützt und ermutigt zu werden in dieser Lebensmühe und nicht im Stich gelassen und in der Finsternis allein wandern gelassen zu werden, noch weniger aber hinuntergetreten zu werden in unserem Bemühen aufzusteigen. “ 83 82 Albert Pike, op. cit., S. 845 83 Albert Pike, op. cit., S. 861 286 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="305"?> Dies ist vielleicht die wichtigste Botschaft über das Fortleben der Templergnosis jenseits aller „ Vergeltungswünsche “ und es ist auch das Fortleben von Pico della Mirandolas Rede von der Würde des Menschen und ist der kategorische Imperativ des Schottischen Ritus überhaupt. Hier wird die pragmatisch-praktische Seite der Geistigkeit enthüllt, die ursprünglich von der Templergnosis herkam und die weit über sie hinausweist. So viel zur inhaltlichen Seite des „ Königlichen Geheimnisses “ und nun noch einiges zum methodischen Problem, weshalb der Titel des Kapitels an die „ Königliche Kunst “ anklingt. Die geschieht einerseits um zu vermeiden, daß auch nicht der leiseste Versuch eines Religionsersatzes damit gemeint ist, keinerlei „ Theologie “ also. Gleichzeitig soll der Versuch verhindert werden, durch Profanierung einer „ Kunst “ deren Aussagen auf verstandesmäßig abstrakte Begriffe zu reduzieren und die Komplexität esoterischer Symbole auf die plumpe und platte Oberflächlichkeit materialistischen Denkens einzuschränken. Trotz der Natur der Symbolik des Königlichen Geheimnisses besaß Pike die Gabe, das komplexe Wesen dieser spirituellen Tradition in einer Weise darzustellen, wie sie für jeden nachvollziehbar ist, der für indirekte künstlerische, gnostische oder esoterische indirekte Darstellungsweise durch Symbolik ein Organ besitzt. Vielleicht können echtes Bemühen und Ausdauer helfen, darin einzudringen. Wenn nicht, dann sollte man das Ganze bleiben lassen. Denn es gibt keine ärgere Sünde gegen die Wahrheit und gegen den Geist, als die komplexen Symbole auf die eigene Beschränktheit hinunterzureduzieren, zu reformieren und zu verschlimmbessern. Sie würden dadurch nicht nur gewaltsam mißverstanden, sondern hoffnungslos ruiniert und die neue „ Bedeutung “ wäre eine unfreiwillige Karikatur. Pikes einfühlsame und sorgfältige Weise lädt gewiß nicht zu solchem Mißbrauch ein und vermeidet überdies sorgfältig unnötige künstliche Schwierigkeiten durch unnötige und übertriebene wissenschaftliche Abstraktion. Um genau zu zeigen, worum es ihm geht und wie er es fertig brachte, möchte ich als praktisches Beispiel die Einleitung Alfons Rosenbergs zu Georg Langers Buch Liebesmystik der Kabbala heranziehen 84 , da er den Prozeß dieser Darstellungsweise besonders eindrucksvoll beschrieben hat und da das Beispiel weder von Pikes Darstellungsweise noch vom Inhalt seines Buches verschieden ist. Rosenfeld schildert zunächst das im Grunde gnostische Problem, um das es bei der Liebesmystik der Kabbala geht, indem er von einer Gottesschau spricht, durch die sowohl die jüdische als auch die christliche Mystik gleicher Weise annehmen, daß Gott die Liebe sei, womit hier „ bis in die letzte Konsequenz “ ernst gemacht wird. 85 84 M. D. Georg Langer: Liebesmystik der Kabbala. München 1956, Einleitung von Alfons Rosenberg 85 Alfons Rosenberg in: Georg Langer, op. cit., S. 9 287 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="306"?> Gott wird hier einbezogen in das Drama des Einzelmenschen wie der ganzen Menschheit. Rosenberg nennt ihn den „ König “ , der in Liebe entbrannt ist zu seiner Braut, der Schöpfung, die sich durch den Fall in die Tiefe der Materie von ihm entfernt hat und um deren Rückkehr es im Einzelfall jedes Menschen wie auch im Fall der ganzen Menschheit geht. Langer ist im Grunde so wenig ein professioneller Wissenschafter wie Pike. Er „ steht einfach in der Tradition - er ist ihr Kind und zugleich ihr schöpferischer Verwalter. “ 86 So wie Pike das gesamte Chaos der versprengten Reste der templergnostischen Tradition aus den verschiedenen Quellen „ schottischer Logen “ kannte, so hatte Langer eine „ stupende Kenntnis “ der kabbalistischen Überlieferung. Aber, wie Rosenberg es ausdrückt, „ er gibt sie nicht als Wissenschafter “ , sondern als ein „ Ergriffener weiter und als ein Mensch der Erfahrungen. “ 87 Also ein „ Ergriffener “ mit „ Erfahrungen “ . Die lebendige Anteilnahme, ja wahrhaftige Ergriffenheit mit der dargestellten Tradition tritt in Ausdrucksweise wie Ton von Pikes Buch deutlich zu Tage. Für den zugrunde liegenden Gefühlsreichtum aber legt die frühe Biographie Pikes von Allsopp trotz ihrer Kürze und Einfachheit ein beredtes Zeugnis ab. 88 Am direktesten geschieht dies durch die wiederholt eingestreuten Proben von Pikes Lyrik, Gelegenheitsgedichten im goetheschen Sinn. Sein populärstes Gedicht „ Every Year “ und die Verse von „ Love Blooms But Once “ zeigen ein durch Weisheit verklärtes tiefes Gefühlsleben. Die Vielfalt und der Reichtum der Erfahrungen aber sind stupend. Sie beginnen mit dem Aufbruch des Teenagers aus der kleinen Hafen- und Schiffsbauerstadt in Massachusetts, die damals seine Heimstatt war und wo er in der inneren Spannung zwischen finsterem und gedrücktem Puritanismus einerseits und der Weltoffenheit des Hafens andererseits gelebt hatte. Seit 1816 litt dieses Newburyport unter einer bösen Wirtschaftskrise. 1825 kam der erste Versuch, aus der provinziellen Enge auszubrechen. Er führte zunächst nicht sehr weit, sondern nur zu seiner Geburtsstadt Boston. Da stand der ärmlich gekleidete 16jährige vor dem Registrar von Harvard, der von ihm die Vorauszahlung der Studiengebühren für das Freshman- und Sophomore-Semester einforderte. Wie vor den Kopf geschlagen verließ er deprimiert das Büro. Vierunddreißig Jahre später verlieh ihm die Harvard University ihr Ehrendoktorat. Nach wenigen Jahren als Lehrer und Autodidakt begann sodann der Aufbruch in den Westen mit all seinen Gefahren und Entbehrungen. Von einem der Indianerstämme war er sogar als Mitglied aufgenommen worden. Es folgten die Erfahrungen als Reporter, als Rechtsanwalt und als Richter und auf diese die Entsetzlichkeiten des Mexikanisch-Amerikanischen Krieges als Kavallerieoffizier, die Schicksalsschläge des Wegsterbens von 86 Alfons Rosenberg in: Georg Langer, op. cit., S. 13 87 Alfons Rosenberg in: Georg Langer, op. cit., S. 13 88 Fred W. Allsopp: The Life Story of Albert Pike. Little Rock, Arkansas 1920 288 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="307"?> Gattin und Kindern, die Verleumdungen und der Kampf um die Wahrheit und die langjährige Arbeit der Grundlegung durch Wiederherstellung der Einheit der spirituellen Tradition des Ritus. Das alles hat verhindert, daß das Buch eine trockene, gelehrte Fundgrube von abstrakten religionswissenschaftlichen Paragraphen geworden ist. Denn, wie Rosenberg im Hinblick auf Langer bemerkt, vermag die Religionswissenschaft vieles zu klären und zu festigen, aber auf sich allein gestellt wirkt sie auf Dauer „ als ein bloßes Konservierungsmittel - sie bewahrt zwar das Gewesene, aber sie entzieht ihm als solches allmählich die Lebenskraft - sie macht es museumsreif. “ 89 Wonach Rosenberg verlangt und was er bei Langer findet, ist „ Brot des Lebens “ , geistiges Brot, dessen Herkunft aus dem lebendig Gewachsenen noch zu schmecken ist. Das ist es, was sich auch bei Pike findet, der dazu noch gelegentlich Einsichten von einer Tiefe und Kühnheit produziert, wie sie vielen rein wissenschaftlichen Historikern und Systematikern verborgen bleiben. Vieles davon mag in diesem Grundbuch rein äußerlich erfasst erscheinen, aber in der Atmosphäre der Geistigkeit, die es atmet, ist es dennoch enthalten. Es ist das Produkt einer Sternstunde für den Ritus und konnte im damaligen Amerika nur an einem Ort und nur von einem Mann geschrieben werden. Der Ort war Washington mit seiner Library of Congress und daneben der riesigen Privatbibliothek Albert Pikes, die heute das Kernstück der Bibliothek des „ House of the Temple “ bildet. Die Library of Congress hatte nach ihrer Zerstörung im Krieg von 1812 durch die Übernahme der Privatbibliothek von 6487 Bänden des großen Thomas Jefferson ihren kometenhaften Aufstieg zur größten Bibliothek der Welt angetreten, die sie heute ist. Durch ihren Umfang wie durch ihren Bestand ist sie wirklich zu einer „ Library of last resort “ geworden. Pike war Zeitgenosse eines anderen großen Neu-Engländers, Ralph Waldo Emerson, und stolz auf seine neu-englische Abkunft. Er hat durch seine Anlage wie durch sein persönliches Schicksal die Voraussetzung besessen, den großen Reichtum des Depots der Tradition des Schottischen Ritus zu einer Art von geistigem Brot des Lebens zu gestalten, das sich der völlig Ahnungslose wohl wird erst hart erarbeiten müssen. Dies aber mag nicht nur schwieriger, sondern auch beglückender sein, als das Ganze als Unsinn abzutun. Die Geschichte der Templergnosis ist nur ein Teil der viel längeren Geschichte der Gnosis überhaupt und deren Geschichte wieder ist nur Teil einer noch umfassenderen Geschichte der Menschen im Ringen um Erkenntnis und Erleuchtung, um Erlösung und Heil überhaupt. Die Geschichte zeigt die eigenartigen labyrinthischen Wendungen, welche geistige und spirituelle Entwicklungen nehmen können, bei denen, ganz im Sinn des gnostischen Dualismus, stets positive und negative Kräfte einander gegenüberstehen. Auch zeigt sie, wie aus guten Absichten negative Folgen entstehen können, wie die Kräfte der 89 Alfons Rosenberg in: Georg Langer, op. cit., S. 13 289 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="308"?> Finsternis oftmals durch lange Zeit die Oberhand gewinnen können und wie doch immer wieder auch bedeutende Geister eine segenspendende Kraft zu verbreiten vermögen, in diesem Fall von Dante bis Albert Pike. Freilich ist nichts Erreichtes jemals wirklich gesichert, alles ist immer im Wandel, und Gefahren lauern ständig. Beide großen Nachfolgeorganisationen des Templerordens haben sich ja im Verlauf von Jahrhunderten immer wieder verändert, wie nichts im geschichtlichen Wandel jemals statisch gleich bleibt. Die eine Organisation, die in Paris fortgesetzt wurde, hat die geistige Grundlage der Gnosis abgeworfen, die andere hat nicht nur den ursprünglichen Namen, sondern auch die eigene, religiöse Grundlage abgelegt. Beide aber haben den Geist der Vergeltung überwunden. Weder die Rittertitel der einen noch die Rittergrade der anderen haben das Geringste mit blutigem Kampf und Kriegführung zu tun. Hartmut Sippel hat sein kluges und interessantes Buch mit dem Hinweis geschlossen, daß nach 872 Jahren die neuen Ritter des Templerordens zwar wieder zum Ursprung ihres Ordens Jerusalem zurückgekehrt sind, jedoch nicht um zu kämpfen und zu töten, sondern „ um leidgeprüften Menschen in ihrem existenziellen Kampf in brüderlicher Liebe beizustehen “ . Sie bauen eine Klinik und sie bevorzugen die Unterstützung von solchen Organisationen, die bedürftigen Menschen „ ohne Ansehen von Rasse und Religion zur Verfügung stehen. “ 90 Das könnte wörtlich auch in einer Schrift des Schottischen Ritus stehen, der wie jegliche humanitäre Freimaureri mit dem Tempel Salomonis, mit dem Erbauer dieses Tempels oder überhaupt direkt mit der Templergnosis zu tun hat. Man könnte vielleicht sogar sagen, der letzte Sinn jeglicher Freimaurerei bestehe im Bau am Tempel allgemeiner Menschenliebe. Ja, der Großprior des neuen „ alten “ Templerordens Hartmut Sippel erwähnt in seinem Templerbuch sogar Robert John zwei Mal im Text und einmal Erich Bischoff im Literaturverzeichnis, wenn sie auch im Namensregister fehlen. Das ganze letzte Kapitel seines Buches hat er den Gralsepen und dem großen Dante gewidmet. Beide großen Nachfolgeorganisationen haben sich bestimmt ernsthaft bemüht, vor allem durch persönliche individuelle Selbstveredlung der einzelnen Mitglieder für Frieden und Harmonie zu wirken. Freilich werden stets für beide auch weiterhin jene Gefahren bestehen, die durch die Natur der allgemeinen menschlichen Schwäche und nimmer endenden Unwissenheit gegeben sind. Es ist ja kein Zufall, daß die wirkliche Botschaft Dantes in seiner großen Weltdichtung mehr mißverstanden als richtig verstanden worden ist. Wie auch versucht wurde, die geistige Ordnung Albert Pikes durch Änderungen und Verwirrung zu zerstören. Wie es schließlich auch in der Natur menschlicher Schwäche liegt, daß sich neben den beiden großen Fortsetzungs- 90 Hartwig Sippel, op. cit., S. 322 290 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="309"?> organisationen, dem Ordo Militiae Christi Templi Hierosolymitani und dem Schottischen Ritus auch andere Zweige entwickelt haben, die nach außen hin mit ihnen verwandt erscheinen könnten, ohne doch wirklich etwas mit ihnen zu tun zu haben. Was den O. M. C. T. H. betrifft, so haben die Johanniter das Vermögen der Templer übernommen, aber nichts von der Geistigkeit der Templergnosis. Die Malteser haben das symbolträchtige Templerkreuz und die Sonderstellung eigener Souveränität gewonnen, doch war es dabei geblieben. Der Ritterorden vom Heiligen Grab zu Jerusalem hat nicht nur das Zentrum Jerusalem und zudem den Schutz der Christen im „ Heiligen Land “ übernommen, jedoch ohne von der Geistigkeit der Templer etwas zu verstehen. Die Entscheidung, ob es sich bei diesen Organisationen im Rahmen ihrer Geistigkeit um Positives oder Negatives handelt, kann leicht beantwortet werden, wenn man Dantes Kriterium des Unterschieds zwischen der Ecclesia Spiritualis und der Ecclesia Carnalis an sie anlegt. Beim Schottischen Ritus, der im Grunde die Grade von I bis XXXIII umfaßt, sehen diese Abspaltungen und ihre weiteren Möglichkeiten keineswegs immer ungefährlich aus. Da ist der „ Grand Orient “ von Frankreich, der Atheisten aufnimmt, und damit das zentrale Ziel der Templergnosis, den Durchbruch der einzelnen Geistseele, zum Göttlichen „ abgeschafft “ hat. Einen keineswegs geringeren Mißbrauch stellt die Verwendung des Begriffs „ Loge “ durch eine Art Mafia-Organisation in Rom dar. Bei der „ Freimaurerei “ Fidel Castros wird sich so mancher fragen, ob das Ernst oder eine Parodie ist. Die Gefahr eines fanatischen Fundamentalismus ist springlebendig und sogar die „ Krieger-Idee “ der Templer ist keineswegs tot. Im Jahr 2011 hat dies die Wahnsinnstat eines einzelnen bewiesen, der sich zugleich als fundamentalistischer Christ und auch als „ Krieger “ und „ Tempelritter “ empfunden hat. Er wurde durch seinen Wahn zum Vandalen und Massenmörder, der sein ganzes Land - Norwegen - in Unglück und Trauer gestürzt hat. 91 Solche Gefahren dürfen niemals unterschätzt werden. Wenn die Kirche es fertig gebracht hat, aus dem Urchristentum und der Lehre der Bergpredigt heraus die Inquisition zu kreieren, so können durch das Zusammenspiel von Habgier, Geltungssucht, Eitelkeit und geistiger Beschränktheit jederzeit gefährliche Entwicklungen entstehen. Auch an den bis heute gültigen Umstand sei erinnert, daß größte Geister ihrer Zeit von Erasmus mit seinem Lob der Torheit bis zu Robert Musil mit seiner „ Rede über die Dummheit “ auf eine oft zu wenig beachtete Quelle menschlichen Unheils hingewiesen haben: geistige Stumpfheit. Die bösesten Gefahren sind dazu heute wohl die Vergöttlichung von Macht, von 91 Es existiert ja sogar auch eine Version nordischenTempelrittertums, das an Stelle von Jacques de Molay den germanischen Gott Baldur gesetzt hat und einen „ heidnisch “ fundamentalistischen Wahn darstellt. 291 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="310"?> Materialismus, von Technik, gefördert noch durch veränderte Veränderungen der menschlichen Erkenntnis- und Verstehensmethoden. Daraus kann eine völlige Verkehrung des Sinns in sein Gegenteil entstehen. In dieser Hinsicht trägt jeder einzelne seine Verantwortung und gibt es keine Entschuldigung dafür, den „ Kampf “ jemals aufzugeben. Solange wir atmen und leben, können wir versuchen, das jeweils Bestmögliche aus allem zu machen und besonders solange wir in Freiheit agieren können, ist immer Hoffnung vorhanden. 292 Zum Fortwirken der Templergnosis <?page no="311"?> Namensregister A Abaelard 198 Abraham 130, 186 Adam 86, 90, 159, 173, 189, 202, 225 - 226, 237 Aelius Donatus 201 Agamemnon 186 Agapetus, Bischof 187 Aglauros, Tochter des Kekrops 145 Ahasverus, historisch Xerxes, König von Persien 147 Aiker, ägypt. Sonnengott 277 Aitken, Robert 252 al-Muktafi 55 Albertus Magnus 32 - 33, 93, 114, 195 - 196, 231 Albrecht I., Kaiser 210 Alemandin, Peter 68 Aletheia 37 Alexander der Große 117 Alexander vom Pharä 117 Alfred der Große 198 Ali al-Azhar 23 Ali ibn Abi Talib 130 Alice, Tochter Karls des Großen 209 Alighieri, Jacopo 83, 206 Alighieri, Piero 206 Allgaier, Karl 59 Allsopp, Fred W. 288 Amata 147 Ambrosius Aurelianus 50 Ambrosius, Bischof von Mailand 201 Amelung, Peter 204, 233 Amenhotep III. 35 Amfortas 52 - 53, 56 Amon-Ra 41 Ananias 222 Anastasius II., Papst 114 - 115 André von Montbard 19 Anna, Mutter Marias 237 Anselm von Canterbury 189 Antäus 131 Antiochus IV., König von Syrien 208 Apoll 181 Apophis 35 Appleton, William 264 Apulejus 274 Argenti, Filippo 110 Arihman 85 Aristäus 234 Aristoteles 99, 103, 105, 109, 135, 155, 195, 198, 211, 223 Arnaut, Daniel 157 Aroux, Eugène 78 - 79 Artemis 163 Artus, König 29, 49 - 52, 60, 132 Ashmole, Elias 269 Asín y Palacios, Don M. 159 Assad, Bashar al- 117 Astell 232 Athanassiati, Polymnia 45 Athene, Pallas 128 Attila 117 Atum 35 Augustin, Franziskaner 197, 201 Augustinus 155, 197, 236 Augustus, Kaiser 153, 168 Averroës 155 Aymar de Betmar, Graf von Saint Germain 260 B Baibar Rukd ad-Din, Sultan von Ägypten 265 Balduin I., König von Jerusalem 43 Balduin II., König von Jerusalem 3, 162 <?page no="312"?> Baldur 291 Ball, John 264 - 265 Balthasar, Hans Urs von 241 Baphomet 23 - 26, 30 - 33, 49, 68, 277 Barbour, John, Bischof von Aberdeen 251 Bartholomaeis, V. de 49 Baruch von Bagdad 54 - 55, 57 - 58, 205, 220, 223, 242 Basileides 8, 229 Basileus von Caesarea 215 Bastet 34 - 36 Bauer, Martin 5, 9, 36, 38 - 39, 47, 66, 193, 248 Beatrice IX - X, 23, 31, 44 - 45, 56, 74, 81, 87 - 88, 92, 94 - 95, 98 - 100, 103, 111, 114, 121, 139, 153, 157 - 158, 160 - 161, 164, 166 - 178, 182 - 188, 190, 193 - 194, 199 - 200, 204 - 206, 208, 216 - 218, 220 - 222, 225, 227 - 229, 231, 233 - 237, 241 - 242, 278 Beaujeu, Graf François 257 Beaune, Colette 38 Becher, Otto 94 Becket, Thomas 198 Beckh, Hermann 225 Becquerel, Antoine Henri 260 Beda Venerabilis 198 Begemann, Wilhelm 260, 268 Beit, Hedwig von 33 Beitl, Richard 34 ben Hasdai, Daniel 54 Benedikt von Nursia 215 - 216, 236 Benedikt XIV., Papst 38 Benini, Rodolfo 94 Benn, Gottfried XII Berengar IV. von der Provence 188 Bernhard von Clairvaux 2 - 3, 9, 12, 15 - 17, 19 - 23, 31, 39, 41 - 42, 45, 47, 51, 59, 83, 85 - 86, 88, 95, 98, 107, 139, 141, 158, 168, 196, 198, 201 - 202, 205, 210, 215, 235 - 237, 241, 247, 261, 267, 274 - 275, 284 Bertran de Born 130 Bertrand de Blanchefort 11 Bischoff, Erich 290 Bismarck 34 Bocca, Abate degli 132 Boccaccio, Giovanni 45, 80 - 83, 96, 101, 106, 108, 122 Boehme, Jakob 101 Boethius 195, 197, 202 Bolognese, Franco 143 Bonagiunta Orbicciani 153 Bonaventura, Kardinal 200 - 202 Bonifaz VIII., Papst 94, 102, 106, 121, 125, 129, 150, 227, 234, 249 Bonomel, Ricaut 49 Bosco, Umberto 44 Boss von Echter, Dorothea 232 Bran 62 Broch, Hermann 6, 131, 226, 228, 243 Bronsen, David 76 Brown, Dan 12 Bruce, Robert, Regent von Schottland 69, 210 - 211, 250 - 252, 256 Brutus 133 Bucke, Richard Maurice 77 Buddha 101, 218 Bulst-Thiele, Marie Luise 1 - 4 Bultmann, Rudolf 241 Bumke, Joachim 58 Buondelmonte 130 Butler, Alan 12, 14 - 20, 23, 42, 51 C Cacciaguida 206 - 209 Caccianimico, Venedico 124 Cacus 127 Cagliostro 278 Camus, Albert XIV - XV, 283 Can Grande della Scala IX, 98, 134, 208 Capet, Hugo 150 - 151 Caron, Raimbaud de 70 Casale, Ubertino von 85, 96 Casella 136 Cassero, Jacopo del 139 Cassian 283 Cassius 133 Castro, Fidel 291 294 Namensregister <?page no="313"?> Cato der Jüngere (Cato von Utica) 90 - 91, 136 Cauvin, Jacques 32 Cavalcanti, Guido 106, 113 Cavendish, John 265 Cerchi, P. 101 Ceres 254 Chang, Garma C. C. 285 Charney, Geoffrey de 72 Charon 55, 104 Charpentier, John 30 Charpentier, Louis 2, 14 - 15, 20, 22, 43, 55, 61 - 63, 142, 181, 238, 267 Chrétien de Troyes 48, 51 - 52, 54, 57 - 58, 275 Christus, siehe Jesus Churton, Tobias 269 Ciacco 107 Cicero 36, 197 Cimabue 143 Clair, Henri, von Roslin 43 Clemens V., Papst 38, 68 - 70, 72 - 75, 94, 174, 176 - 177, 203, 227, 234, 249 - 250, 257 Clemens von Alexandrien 6, 86, 93, 125, 160 Clemenza, Tochter Rudolfs von Habsburg 191 Clifford, Lord 270 Clifford, William Hugh 115 Coelestin V., Papst 94, 104 Cohn, Norman 41 Conduiramour 87 Corbin, Henry 7, 77 Creutzer, Franz 230 Cromwell, Oliver 269, 280 Crowe, Frederick J. W. 246 Cunizza da Romano 192 - 193 Currie, David 252 D Dafoe, Stephen 12, 14, 16 - 20, 23, 42, 51 Daniel 118 - 119, 224 Dante V, IX - X, XIV - XVII, 5, 8, 13, 23, 30 - 32, 39, 41, 44 - 46, 54 - 57, 64 - 65, 71 - 72, 74 - 174, 176 - 243, 247, 249, 251, 259 - 260, 271 - 274, 276, 278, 280, 283 - 285, 290 - 291 Daspols, Guillem 49 d ’ Aumont, Pierre 251, 253, 263, 274 David I., König von Schottland 253 David, König 41, 43, 54, 61, 63, 141, 201, 211, 221, 236 Delia 163 Demeter 16 Demurger, Alain 3 - 4, 33, 71 - 73, 75 Deuchar, Alexander 254, 270 - 271 Deuchar, David 271 Diana 186, 254 Diodor von Sizilien 34 Diomedes 128 Dion 218 Dionys von Portugal 210 - 211 Dionysius Areopagita 93, 195 - 196, 202, 228 - 232 Dionysos 16, 273 Dionysos von Syrakus 117 Döllinger, Ignaz von 191 Dominikus, Heiliger 194, 200 - 201 Donati, Corso 101 - 102, 153, 184 Donati, Forese 101, 153, 184 Donati, Piccarda 184 - 185 Duero, Buoso 132 Dufner, Meinrad 242 E Earle, J. 95 Echnaton 24, 32 Eckhart, Meister XVI, 32, 197, 214, 227, 231, 284 Eckleff, Carl Friedrich 258 Eckleff-Rudbeck, Johannes 258 Eden 205, 223 Eduard I. von England 210 Edward II., König von England 72, 251, 270 Edwin, Prinz 261 Einhard 209 Elias 219, 275 Eliot, T. S. 238 295 Namensregister <?page no="314"?> Elohim 205, 223 Ennoia 37 Ephialtes 131 Epikur 112 Erasmus von Rotterdam 279, 291 Esau 237 Esdras 269 Esther, Königin von Persien 147 Etienne de Troyes 67 Etienne Tempier 198 Euterpe 209 Eva 90, 99, 154, 159, 173, 225, 236 Evola, Julius 122 Ezechias, König von Juda 211 Ezechiel 105, 162 - 163, 175, 224 Ezzelino da Romano 117, 192 F Fabré-Palaprat, Bernard-Raymond 247 - 249, 270, 275 - 276, 280 Feirefiz 57, 60 Fénelon, François de Salignac de La Mothe 253 Ferdinand II. von Kastilien 210 Ferdinand IV. von Kastilien 210 Ficinus, Marsilius 37, 150 Finke, Heinrich 68 Fisher, Liozette Andrews 47 - 48 Flamel, Nicholas 274 Flegetanis 57 Folco von Marseille 192 - 193 Fra Accorso 96 Frale, Barbara 68, 71 Francesca da Rimini 105 Frank, Simon XIII Franz Theobald von Alexandrien 245 Franz von Assisi 84, 201, 236 Franz, Marie-Louise von 64 Frasetto, Fabio 96 Frede, Michael 45 Freud, Sigmund 23 Frey, Jörg 166 Friedrich II. von Aragon 210 Friedrich II., Kaiser 113 - 115, 117, 119, 195 Frimutel 52 Fröbe-Kapteyn, Olga 240 Fucci, Vanni 127 Fulcher von Chartres 3 Fulko V. von Anjou 53 G Gabriel, Erzengel 141 - 142, 204, 219, 237 Gabrielli, Cante de ’ 126 Gaddafi, Muammar 117 Galcerand de Teus 9 Gamuret 52 - 54 Ganellon 132 Gardner, Laurence 3, 12, 20, 43, 61, 141 Garibaldi, Giuseppe 177, 216, 259 - 260 Gauvain 52 Gawan 54 - 56 Gelasius I., Papst 115 Geoffrey de Gonneville 9 Geoffrey of Monmouth 49 - 51 Geryon, König 122 - 123, 127 Geudtner, Otto 45 Giotto 143 Giardino, Piero 82 Girolami, Remigio 78 Glaukos 182 Gmelin, Julius 75 Godwin, Malcolm 67 Goeller, Tom 22 Goethe, Johann Wolfgang XIII, 29, 116, 128, 208, 270 Gottfried von Bouillon 21, 43, 209 Gottfried von Straßburg 59 Goudsward, David 252 Gould, James L. 255 Gould, Robert Freke 255, 260, 267 - 268 Gower, Peter 274 Grabmann, Martin 32 Gradlon 62 Graham, John, of Claverhouse ( „ Bonnie Dundee “ ) 253 Grasse Tilly, Graf Alexandre François August de 270 Gratian 114, 196 296 Namensregister <?page no="315"?> Grégoire, Henri 276 Gregor XVI., Papst 211, 249 Gregor, Heiliger 211 Griffolino 130 Großherzog Karl August von Weimar 270 Grumbach, Hugo von 69 Grün, Anselm 242 Guardini, Romano 111 Guénon, René 57, 64, 78 - 79 Gugomos, Gottlieb Franz von 246 Guichard, Xavier 15 Guido von Montfort 117, 139 Guido, Graf von Fontaine 19 Guilelmus Tyrius, siehe Wilhelm von Tyrus Guiley, Rosemary Ellen 48 Guillaume d ’ Orange 209 Guinicelli, Guido 157 Gundert, Wilhelm 171 Gustav Adolf, König von Schweden 34 Guter 205, 223 Guyon, Madame 253 Guyot de Provins 57 - 58 H Haakon VII. von Norwegen 210 Haas, Hans 189, 196 Hadrian V., Papst 150, 153 Haecker, Theodor 242 Hale, Sir Robert 263 - 264 Haller, Johannes 77 Haman, Sohn des Hammedatas und Minister des Königs Xerxes 147 Hamburger, Siegfried Johannes 202 Hammer-Purgstall, Josef von 30 Harding, Stephen 22, 274 Harnack, Adolf von 241 Harris, George 251, 253 Hartmann von Aue 58 Hartmann, Eduard von 210 Hathor 34 - 35, 237 Hecht, Konrad 267 Heinrich der Jüngere, Sohn Heinrichs II. 130 Heinrich I., Graf von Champagne 51 Heinrich I., König 49 Heinrich II. 130, 191 Heinrich II. von Champagne 53 Heinrich II. von Zypern 210 Heinrich VI., Kaiser 184 Heinrich VII., Kaiser 88, 178, 234 Hekate 147 Herakles 127 Hermes Trismegistos 36 - 37, 150, 278, 284 Herodes, König 29, 31 Herodias 24, 31 Hertz, Wilhelm G. 163, 204, 220, 233 Herzeloyde 52 Herzfeld, L. 177 Herzog von Kent 271 Hesse, Hermann 158 Hildegard von Bingen 180, 189 Hiob 240 Hippolytos 65 Hiram Abif 273 Hitler, Adolf XI, 40, 102, 117, 128 Homer 105 Hopkins, Marilyn 8, 13, 36, 67 Horaz 105 Howarth, Stephen 11 Hrabanus Maurus 201 Hübner, Wolfgang 44 Hugo von Sankt Viktor 201 Hugo, Graf von Champagne 14, 18 - 19, 51 Hund, Karl Gotthelf, Freiherr von 270 Husain 23 Hüttig, Albrecht 45 Hyperion 218 Hypsipyle 124, 153 I Ibn Arabi 159, 214 Idries Shah 23, 32 Illuminat, Franziskaner 201 Imbert, Wilhelm 5 Innocenz III., Papst 11 Iphigenie 186, 190 Isabella I. von Jerusalem 53 297 Namensregister <?page no="316"?> Isabella von Anjou 53 Isidor von Sevilla 198 Isis 16, 23, 31, 35, 39, 46, 48, 85, 163 - 164, 168, 174, 204, 219, 225, 235, 237, 241 - 242, 254, 277 Ixoixaco 29 J Jackson, A. C. F. 254 Jacob II. von Mallorca 210 Jacobi, Jolande 267 Jacques de Molay 4, 38, 45, 68, 70 - 73, 211, 219, 245, 251, 257 - 258, 279, 282, 291 Jahwe 41, 193 Jaïrus 219 Jakob der Gerechte 17, 40 - 41, 43, 147 Jakob I. 253, 280 Jakob von Vitry 2 Jakob, Zwillingsbruder Esaus 221, 232, 237, 277 Jakobus, Apostel 147, 166, 174, 219 - 221 Jamblichos 37, 150 Janus 36 - 39 Jason 124 Jean de Meung 274 Jean du Tour der Jüngere 73 Jefferson, Thomas 289 Jesaja 224 Jesus Christus 4, 13, 17, 20, 22, 24, 26, 31 - 32, 34, 40 - 41, 43 - 44, 50, 67 - 68, 101, 129, 141, 145, 150, 153, 159, 164, 168, 173 - 174, 176, 189 - 190, 202 - 203, 205 - 206, 210, 218 - 219, 222, 237, 247, 276 - 277 Jithchaki, Rabbi Schlomo, genannt Raschi 20 Joachim von Fiore 83 - 86, 94, 201, 215 Johannes der Evangelist 103 - 104, 166, 174, 176, 182, 185, 202, 219 - 224, 226, 273, 275 - 276, 284 Johannes der Täufer 24 - 26, 28 - 32, 38, 40, 45 - 46, 59, 153, 207, 236, 274 - 276 Johannes XXII., Papst 96, 210, 227 Johannes XXIII., Papst 249 Johannes, Autor der Offenbarung 53, 67, 84, 94, 103, 162 - 163, 165 - 166, 176, 185, 204, 210, 224, 233, 237, 276 Johannes, Priester 23, 57, 60 John de Cambridge, Benediktiner- Prior 265 John of Gaunt, Herzog von Lancaster 264 John, Robert IX - X, XV, 7, 9, 13, 22, 32 - 33, 37, 41, 56, 72, 78 - 81, 83 - 85, 94 - 95, 97 - 98, 100, 102 - 103, 118 - 123, 133, 135, 140, 148, 150 - 151, 157, 159 - 161, 164, 169 - 170, 172 - 173, 176 - 179, 198 - 199, 201 - 203, 221, 228, 233, 237, 239, 242, 251, 256, 273, 290 Jonas, Hans 182, 184 Joseph von Arimathia 50, 52 Joseph, Sohn des Partriarchen Jakob 24 Josephus Flavius 29 Josua 192, 208 Judas 133, 166 Judas Makkabäus 52, 208 Judith, Tochter der Herodia 236 Jung, C. G. 25, 167, 195, 213, 240 - 242, 267 Jung, Emma 64 Jupiter 25, 57, 131, 175, 209 - 211, 218, 285 Justinian, Kaiser 187 - 188 K Kahn, David 11 Kain 132 Kaiphas, Hohepriester der Pharisäer 127 Kapaneus, König 118, 120 - 121 Karl der Große 132, 143, 209 Karl I. von Anjou 49, 143, 195 Karl II. von Anjou 188, 191, 210 Karl III. von Valois 102 Karl XIII., König von Schweden 257 - 258, 260 Karl, Herzog von Södermanland, siehe Karl XIII. 298 Namensregister <?page no="317"?> Keatman, Martin 51 Kekrops, König 145 Kelhoffer, James A. 166 Kerényi, Karl 147, 167 Kharki, Maruf 22 Khurum Abai, siehe Hiram Abif Kilmarnock, Lord 270 Klingsor 55 Knight, Christopher 3, 10 - 11, 20 - 21, 30, 40, 42 - 43, 49 - 50, 67, 174 Koestler, Arthur 7, 111 Kolpaktchy, Grégoire 35 Konrad II., Kaiser 206 Konstantin, Kaiser 211 Konstanza, Königin von Aragonien 184 Konstanze, Gattin Heinrichs VI. 137 - 138, 184 - 185 Kundrie 56 Kyot 54, 57 - 58, 191 L Lachesis, eine der drei Parzen oder Moiren, Schicksalsgöttin 155 Lactantius 197 Lagercrantz, Olaf 87 Laidler, Keith 12, 23 - 25, 30 - 32, 36 Lambertuccio, Dino di 108 Langer, Georg 287 - 289 Lantoine, Albert 254, 269 Lanzelot 52, 132 Lao-Tse 214 Larmenius, Johannes Marcus 245 - 246, 250 - 252, 261, 275 - 276 Latini, Brunetto 120 - 121 Latona 218 Lavinia, Tochter des Königs Amato 147 Le Peletier, Charles-Louis, Graf von Aunay 249 Lea, Erste Ehefrau des Patriarchen Jakob 158, 160 Legge, John 264 Leisegang, Hans XIII, XV, 8, 30, 37, 41, 45, 65, 124, 179 - 180, 182, 205, 229 Lennhoff, Eugen 248, 258 - 260 Lenning, C. 257 - 259 Leo XIII., Papst 96, 202 Leopold, Eva 232 Lessing, Gotthold Ephraim 283 Levi, König 43 Lhomoy, Roger 248 Li-Orl 214 Lincoln, Abraham 158 Lohengrin 52 Loiseur, Jules 30 Lomas, Robert 3, 10 - 11, 20 - 21, 30, 40, 42 - 43, 49 - 50, 67, 174, 254 Lombardo, Marco 146 Longinus, römischer Hauptmann 85 Loris, Gillaume 274 Losekam, Claudia 232 Lovocat, Louis Léon Lucien 170 Lucia, Heilige 87, 103, 141, 237 Ludwig XV. 247 Ludwig XVI. 280 - 281 Ludwig XVIII. 280 Lukan 105 Lukas, Evangelist 124, 141, 166, 196, 202 Luria, Isaak 214 Luzifer 104, 133 - 134, 159, 173, 227 M Macrobius 36, 44 - 45, 92, 181, 206 Maimonides 105 Maja 218 Makarios von Alexandrien 216 Malachias 39 Malaspina, Currado 140 Malaspina, Moruello 108 Malatesta, Gianciotto 105 Malatesta, Paolo 105 Malek, Jaromir 34 - 36 Malmesbury, William von 50, 52 Manfred, König 132, 137 - 138 Mani 23, 85, 100 Manto, Seherin 125 Mao Tse-tung 117, 128 Map, Walter 191 Marca, Petrus de 70 Maria, Heilige 16, 19, 31, 35, 38, 46, 49, 67, 87 - 88, 103, 141 - 142, 145, 299 Namensregister <?page no="318"?> 163 - 164, 185, 204, 207, 218 - 219, 225, 235 - 237, 241 Marie von Champagne 51 Markion 100 Markos 37, 94 Markus, Evangelist 31 Mars 25, 206 - 207, 209, 218 Martell, Karl 191, 193, 259 Mascheron, Sassol 132 Masseron, Alexandre 97 Matelda, eine „ Anima-Figur “ Dantes 98, 161 - 162, 166 - 169, 171, 173, 177 - 178 Matholwch, König 62 Matilda, Prinzessin 49 Matthäus, Evangelist 84, 88, 145, 219 - 220, 243, 284 Maximos V. Hakim, Patriarch von Antiochia 249 Medea 124 Medusa 110 - 111 Meister Christian, siehe Chrétien de Troyes Melville, Marion 2 Mereschkowski, Dmitri 118 Merkur 25, 145, 187 - 188, 217 - 218 Merlin 29 Messer Marchese 153 Meyer, Insa 229 Meyer, Rudolf 45, 47 Michael der Syrer 3 Michel de Notredame 38 Michelet, Jules 70 Mi ł osz, Czes ł aw 79, 278 Minerva 254 Minos, König von Kreta 105 Minotaurus, siehe Minos Mirandola, Pico della 243, 287 Mitchell, John 271 Mithras 281 Mitochondriale Eva 225 - 226 Mocca 130 Mohamed 130, 159 Moldenhawer, Daniel Gotthilf 70 Mona, Vanni della 127 Montefeltro, Buonconte da 139 Montefeltro, Guido von 129 Mordechai, Sohn des Jair im Buch Esther 147 Moreux, Abbé 63 Morin, Estienne 270 Moses 24, 43, 61, 182, 185, 205, 219, 223 - 224, 228, 231, 237, 276, 278 Mueller, Major 271 Müksch, Manfred 38, 86 Musil, Robert 291 Mut 35 N Napoleon 34, 247, 280 Nathan 201 Nebukadnezar 119 Nectanebo II. 34 Nellmann, Eberhard 54 Neundlinger, Ferdinand 38, 86 Nietzsche, Friedrich 210 Nikolaus III., Papst 125 Nimrod 131 Noffo Dei 122 - 123, 127 Nogaret, Guillaume 37 Nostradamus, siehe Michel de Notredame Numenios 45 O Obizzo II. von Este 117 Oderisi von Gubbio 142 - 143 Ogil, Lyon Easter Ogil 271 Olivi, Petrus Johannis 83 - 85, 155, 203 Origines 86, 93, 175, 283 Orpheus 29, 141 Osiris 16, 23, 35, 48, 174, 235, 241 - 242, 273, 277 Osirius 197 Oslo, Allan 4, 23 Ovid 105, 127, 146, 165, 182 Özbek, M. 32 P Paganis, Hugo de, siehe Payens, Hugo de Pairauds, Hugues de 70 Paraschi, André Jean 257 300 Namensregister <?page no="319"?> Parker, Captain 42 Partner, Peter 30, 39, 78 Parzival 23, 52 - 60, 64, 87 Paulus, Apostel 17, 22, 40 - 41, 50, 80, 166, 220, 222, 230 Payen de Montidier 49, 51 Payens, Hugo de 1 - 3, 15, 19, 21, 43, 274 - 275 Péladan, Joséphin 48 Pelagius, Albano 119 Pelles 52 Perceval 48, 51 - 52 Peredur 62 Pérraud, Hugo von 68 Persephone 16, 147, 167 Petrarca, Francesco 45, 81 Petrus, Apostel 17, 40, 124, 166, 172, 174, 219 - 220, 227 - 228, 237, 242 Petrus Comestor 201 Petrus Hispanus 201 Petrus Lombardus 196 Petrus von Bologna 69 Pettignan, Pier 145 Philipp der Schöne, siehe Philipp IV. Philipp IV., König von Frankreich 4, 30, 37 - 38, 66, 70, 72 - 73, 75, 121, 125, 150 - 151, 176 - 177, 187, 210, 227 Philipp von Mazedonien 34 Philipp von Orléans 247 Phillipe d ’ Alsace 51 Phillips, Graham 50 - 51 Philo von Alexandrien 283 Philomela, Schwester von Prokne 146 Phlegias 109 - 110 Pia, Italienerin aus Siena 139 Picknett, Lynn 8, 12 Pietro della Vigna 117 Pignatelli, Bartolomeo 137 Pike, Albert 46, 245, 256, 258, 268, 270 - 271, 273 - 290 Pilatus 150 - 151 Piobb, P. V. 39 Piquet, J. 116 Pirandello, Luigi 158 Pirodda, Gianfranco 127 Plantard, Pierre 12, 248 Platon 37, 44, 93 - 94, 121, 150, 185, 223, 228 Plotin 45, 93, 95, 150, 180, 183, 185 Pluto 26, 107 Poggeto, Betrando del 96 Pollio, Asinius 153 Polyhymnia 218 Ponsoye, Pierre 55 Poole, Herbert 255, 260 - 261, 268 Posner, Oskar 248, 258 - 260 Priester Johannes, siehe Johannes, Priester Prietze, Hermann A. 170, 197, 207 - 208, 221, 224, 233, 239, 242 Prince, Clive 8, 12 Proklos 93 Prokne, Gattin des Theseus 146 - 147 Proserpina, siehe Persephone Provenzano, Salvani 143 Pruins, Rainald von 69 Prutz, Hans 11, 75 Pseudo-Dionysos, siehe Dionysius Areopagita Ptolemäus 7, 77, 89 - 90, 95, 102, 105, 207, 229, 281 Pyrrhus von Epyrus 117 Pythagoras 37, 150, 285 R Ra 35 Raby, E. J. 44 Rahab 192 - 193 Rahel, Leas jüngere Schwester und Jakobs Lieblingsfrau 158, 161, 236 Rahn, Otto 48, 57 - 59, 64, 192 Raimon V., Graf von Toulouse 57 Raimond-Roger Trencavel, Vizegraf von Carcassone 58 Raimondo di Sangro, Fürst von Sansevero 260 Ramsay, Andrew Michael 253 - 254 Raoul, Jean Marie 249 Raschi, siehe Jithchaki Rashi 51 Rebekka, Frau Isaaks 236 301 Namensregister <?page no="320"?> Reinach, L. 198 Renvardus 209 Repanse de la Schoye 56 - 57, 60 Richard II., König 263 Richard von Sankt Viktor 93, 198 Rilke, Rainer Maria XII - XIII, 111 Rionaro, siehe Renvardus Ripheus, Bürger von Troja 211 - 212 Robert Guiscard 209 Robert I. von Schottland, siehe Bruce, Robert Robert von Anjou 259 Robinson, John J. 37, 70 - 72, 255, 260 - 268 Röhricht, Reinhold 160 Roland, Kriegsheld Karls des Großen 132, 209 Romieu de Villeneuve 188 Romuald, Heiliger 216 Roncelin du Fos 9 Roncelin, Meister, siehe Roncelin du Fos Roosevelt, Franklin Delano 146 Rosenberg, Alfons 287 - 289 Roth, Joseph 76 Rotis, Peter 47 Rubicante 126 Rudolf von Habsburg 191 Rufinus 174 Ruggiero, Erzbischof 132 Ruh, Kurt 231 Ruth, Gattin von Boas 236 S Saher, Purvezji Jamshedji 59 Salome 31 Salomo, König 16, 20, 23, 42, 57, 119, 168, 196 - 197, 200 - 202, 204, 235, 267 Sandilands, James 256 Sapia, Italienerin aus Siena 144 Sara, Frau Abrahams 236 Sauter, Constatin 91, 96, 166, 211, 223 Scala, Alberto della 150 Scala, Bartolomeo della 126, 208 Scharfenberg, Albrecht von 59 Scheichelbauer, Bernhard 261 - 262 Scheffer, Graf Carl Fr. 258 Schiller, Friedrich 179 Schleiermacher, Friedrich Ernst Daniel 281, 283 Schneider, Friedrich 78, 97 Scholem, Gershom 7, 154, 275, 279, 284 Schonfield, Hugh J. 30 Schönwiese, Ernst XII Schröder, Franz Rolf 59 Schuchard, Marsha Keith 253 Schult, Arthur X, 5, 9, 11, 53, 58 - 59, 64, 78 - 79, 81, 87, 94, 99, 101, 104, 106, 108, 110, 112 - 113, 118 - 119, 121, 128 - 129, 135, 138, 141, 143, 146, 152, 155, 158, 164 - 165, 167, 175, 181, 184 - 185, 189 - 190, 193, 197, 199 - 204, 206, 210, 213, 223 - 227, 229 - 230, 234, 237 - 239, 241 Schwietering, Julius 59 Scotus, Michel 126 Sède, Gérard de 12, 248 Sekhmet 35 Selene 163 Seneca 37, 150 Sextus, Sohn des Pompejus 117 Shakespeare, William 269, 280 Sheville, John 255 Siger von Brabant 78, 197 - 199, 223 Simon du Val 198 Simon Magus 37, 124 - 125 Sinclair, siehe St. Clair Sinon, Grieche bei der Belagerung Trojas 130 Sippel, Hartwig 30, 36, 181, 245 - 247, 249 - 250, 253, 290 Sordello, Goito 139 - 140, 152 Spoerri, Theophil 129, 137, 169 St. Clair, William 25 Stalin 40, 117 Statius, Publius Pampinius 98, 127, 151 - 152, 154 - 156, 173, 177 Stein, Walter Johannes 48 Steiner, Rudolf 64, 81, 166 Stephan Uros II. von Serbien 210 302 Namensregister <?page no="321"?> Stephan, Heiliger 145 Stephen of Stapplebrugge 5 Stoke, John 5 Stratford, Jordan 276 Strawe, Jack 264 Strelka, Joseph IX - X, XII, 6, 59, 99 Stuart, Charles Edward 270 Suchla, Beate Regina 231 Swedenborg, Emanuel 79, 258, 278 - 279 T Taine, Hyppolite 260 Tempier, Etienne 198 Thais 124 Theobald III., Graf von der Champagne 20 Theoclet 275 - 276 Therese von Avila 253 Theseus, König der Thrakier 116, 146 Thomas von Aquin 32, 85, 101, 109, 114 - 115, 117, 140 - 141, 146, 151, 155, 194, 198, 200, 202 Thoth 36 Thutmosis III., Pharao 24 Tiberius 41 Titurel 52, 59 - 60 Tolstoi, Leo 259 Tóth, Franz 166 Trajan 212 Trajan, Kaiser 142, 211 - 212 Tycho Brahe 89 Tyler, Wat 263 - 264 U Ubaldini, Orraviano degli 113 Uberti, Farinata 113 - 114, 118, 121 Ugolino della Gherardesca 132 - 133 Urania 191, 193, 254 Urban II., Papst 43 Ursulus, Lucius Statius 151 V Valli, Luigi 78 Veltman, Willem Frederik 77, 81 - 83 Vergil 82, 88, 97 - 98, 102 - 105, 107, 109 - 112, 114 - 118, 120, 122 - 126, 131 - 134, 136 - 141, 143 - 145, 147, 149, 151 - 153, 157 - 158, 160, 168 - 169, 177 - 178, 201, 206, 212, 228, 234 - 235, 242 Veronika, Heilige 236 Vico, Giambattista 84 Vigna, Pietro della 143 Villiers, Gérard von 69 Visconti, Nino 132, 140 Vossler, Karl 160 W Wagner, Richard XIII, 47 Walker, Barbara G. 67 Wallace-Murphy, Tim 8, 13, 21, 36, 67 Walter von der Vogelweide 59 Warren, Leutnant 3, 21, 42 Warren, Sir George 246 Webb, Thomas Smith 255 Weber, Gottfried 59 Weinraub, Eugene J. 51 Weinreb, Friedrich 234 Wellington, Sir Arthur Wellesley, Herzog von 271 Wenzel IV. von Böhmen 210 White, Arthur Edward 256 Wilcke, Ferdinand 5, 10, 25, 30, 47, 69, 75, 246 Wilhelm der Eroberer 16, 49 Wilhelm der Gute von Sizilien 211 Wilhelm von Tyrus 2 William of Poklington 5 Wilson, Charles, Leutnant 42 Winthrop, Wetherbee 181 Wolfram von Eschenbach 46, 48, 52 - 60, 63 - 64, 191 Wrede-Sparre, Axel Graf 258 Y Yüan-wu 171 Yuya 32 303 Namensregister <?page no="322"?> Z Zarathustra 53 Zeus 118 Zoozmann, Richard XVII, 91, 147, 151, 240, 242 Zorobabel 177, 274 Zusanek, Harald 26 - 32, 40, 45 - 46 304 Namensregister
