Der gerettete Erzähler
Decameronrahmen und städtische. Sprachkultur im italienischen Trecento
0307
2012
978-3-7720-5449-5
978-3-7720-8449-2
A. Francke Verlag
Elisabeth Schulze-Witzenrath
Warum beginnt Boccaccios berühmtes Decameron ausgerechnet mit der Schilderung der tödlichen Pest von 1348? Diese und andere Fragen werden in der Arbeit behandelt, die das Werk neu beleuchtet. Besonders die Arbeiten Francesco da Barberinos lassen uns dabei einige Kommunikations- und Darstellungspraktiken jener Zeit besser verstehen. Die Autorin zeichnet den historischen Weg des geselligen Erzählens von seinen höfischen Ursprüngen in die gehobene Stadtgesellschaft nach und deutet die erste Novelle des Decameron neu. Mondänes Sprechen und frommer Brauch werden in ihr im Erzählen miteinander in Einklang gebracht.
<?page no="0"?> Elisabeth Schulze-Witzenrath Der gerettete Erzähler Decameron rahmen und städtische Sprachkultur im italienischen Trecento <?page no="1"?> Der gerettete Erzähler <?page no="3"?> Elisabeth Schulze-Witzenrath Der gerettete Erzähler Decameron rahmen und städtische Sprachkultur im italienischen Trecento <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Umschlagillustration: Paris, Bibliothèque Nationale, Ms. It. 482, fol. 5r. © 2012 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8449-2 <?page no="5"?> 5 Inhalt Vorbemerkung .......................................................................... 7 Loqui inter gentes Francesco da Barberino und die geselligen Redeformen des frühen Trecento .................................................................. 9 1. Die Frage nach der mittelalterlichen Konversationskultur ...... 9 2. Der „modus loquendi inter gentes, sedendo vel ad recreandum seu conferendum“ ..................... 12 3. Allgemeine Gesprächsregeln ................................................. 17 4. Die Gespräche mit „licterati“ ............................................... 22 5. Das Gespräch mit Frauen und das ,Novellen‘-Erzählen ......... 29 6. Die Unterhaltung mit „giovani“ .......................................... 50 7. Die Unterhaltung mit „artigiani“ und „gente tutta maggior“ .. 56 8. Redeformen für die städtische Geselligkeit ........................... 66 „Regulae amoris“ und „motti obscuri amoris“ ..................... 66 Gesellige Redeformen für Frauen ........................................ 73 9. ,Novelle‘ und ,Exemplum‘ ................................................... 80 „Novum“ und „exemplum“ in den Documenti d’amore .......... 81 „Novella“ und „essemplo“ im Reggimento e costumi di donna .. 95 Der gerettete Erzähler Zur Rahmenerzählung des Decameron und der Vorgeschichte der Motivfolge Pest - Erzählen .......................... 103 1. „Questo orrido cominciamento“: die bedrohten Erzähler des Decameron ..................................................................... 103 2. Die epische Motivfolge Seesturm - geselliges Erzählen im Filocolo ........................................................................... 116 3. Die „bufera infernal“ und die liebenden Erzähler des Inferno ........................................................................... 136 <?page no="6"?> 6 4. ,Liebende‘ und ,gerettete‘ Erzähler im Decameronrahmen ..... 147 Die höfisch-gesellige Erzählsituation und die Entwicklung der Novellenthemen ........................................................... 147 Die Übernahme und Anpassung der epischen Motivfolge .... 164 5. Der ,gerettete Erzähler‘ des Decameron ................................. 171 ‚Liebende Erzähler‘ des Frühwerks ...................................... 171 Boccaccios Abschied vom höfischen Erzählen ..................... 180 Anfang im Namen des Herrn Der Fall Ciappelletto und die paradoxe religiöse Rede ............. 195 1. Die erste Novelle des Decameron im Licht der Forschung ..... 195 2. Paradoxes religiöses Erzählen .............................................. 198 3. Paradoxe religiöse Deutung ................................................ 204 4. Novellenerzählen im Namen des Herrn .............................. 208 Literaturverzeichnis ................................................................. 211 <?page no="7"?> 7 Vorbemerkung Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen war die wohl jedem Leser des Decameron vertraute Verwunderung über den merkwürdigen Einfall Boccaccios, die Rahmenhandlung seiner unterhaltsamen Novellensammlung mit der Schilderung der tödlichen Pest von 1348 zu beginnen. Dazu kamen Zweifel daran, dass in einer traditionsgebundenen Zeit, wie es die mittelalterliche war, ein solcher Gegenwartsbezug ohne jede Hilfestellung der literarischen Tradition erfolgt sein sollte. Von der beträchtlichen Anzahl der vorgebrachten Erklärungen vermag aber keine restlos zu überzeugen, einschließlich der von André Jolles geäußerten Vermutung einer Verwandtschaft des Decameronrahmens mit der orientalischen ‚Halserzählung‘, gegen die strukturelle ebenso wie hermeneutische Gründe sprechen. Nachforschungen zum literarischen Werdegang Boccaccios führten mich bald zu der questioni-Episode des frühen Filocolo, die schon lange mit dem Decameronrahmen in Verbindung gebracht wird, bisher aber nur in ihrer sozusagen verstümmelten Form. Betrachtet man diese Episode jedoch als Ganzes in ihrem Zusammenhang, so sieht man sich auf eine Motivfolge des antiken Epos verwiesen, die eine ähnliche Vorstellung rekreativen geselligen Erzählens unter dem Eindruck einer überstandenen Katastrophe aufweist. Offenbar hat diese antike Episode Boccaccio im Filocolo und später im Decameron vor Augen gestanden. Ihre Einbeziehung erweitert den literarhistorischen Kontext des Decameronrahmens und trägt zu seinem tieferen Verständnis bei. Als Konsequenz treten die zeitgebundenen Neuerungen sowie die Erzählerrollen des Decameron klarer hervor und es wird die wechselseitige Beeinflussung von Novellensammlung und Rahmen erkennbar. Darüber hinaus zeigt sich, dass der mit dem Decameron aufkommende „europäische Typus der Rahmenkomposition: das Erzählen um des Erzählens willen“ 1 in einer genuin abendländischen Tradition steht. 1 Viktor Šklovskij, „Der Aufbau der Erzählung und des Romans“, in ders., Theorie der Prosa, hrsg. und übers. von Gisela Drohla, Frankfurt a.M. 1966, S. 62-88, hier: S. 81. <?page no="8"?> 8 Unterhaltung, die ohne äußeren Zwang nur um ihrer selbst willen geschieht, dazu in einer künstlerisch anspruchsvollen Form, so wie es im Decameron vorgeführt wird, war im Mittelalter lange Zeit eine Angelegenheit des höfischen Milieus. Ihre höchsten und kunstvollsten Formen waren dort Trobadorlyrik und Minnesang. Daneben und darunter gab es weitere sprachliche Unterhaltungsformen, zu denen in bestimmten Situationen auch das Erzählen gehörte. Ein Blick auf die höfischen Verhaltenslehren und ihre Vorschriften zum geselligen Sprachverhalten gibt darüber einschlägige Auskunft. Mit den beiden Werken Documenti d’amore und Reggimento e costumi di donna des Dante-Zeitgenossen Francesco da Barberino sind uns für das städtische Italien zwei solcher höfisch ausgerichteten Verhaltenslehren für Männer bzw. Frauen erhalten, die detaillierte Empfehlungen zum geselligen sprachlichen Umgang mit verschiedenen Gesprächspartnern geben. Darunter befinden sich auch Empfehlungen zum Erzählen, das der Autor in mehreren Varianten und Situationen vorführt. In einigen Fällen verdient die angestrebte Unterhaltung bereits den Namen „Konversation“. Folgt man Barberinos Ausführungen im einzelnen, bekommt man nicht nur einen lebendigen Eindruck von der erstaunlich fortgeschrittenen Sprachkultur im Florenz des frühen Trecento, man stößt auch auf eine gezielte Verwendung des Begriffes „novella“, die geradewegs zum Decameron führt. Dieser historische Weg des geselligen Erzählens von seinen höfischen Ursprüngen in die gehobene Stadtgesellschaft wird in den beiden ersten Beiträgen nachgezeichnet und bestimmt ihre Reihenfolge. Abschließend wird die erste Novelle des Decameron neu gedeutet. Sie ist ein anschauliches Beispiel für das Niveau der damaligen Unterhaltungskultur, in der mondänes Sprechen und frommer Brauch im Erzählen miteinander in Einklang gebracht werden konnten. <?page no="9"?> 9 Loqui inter gentes Francesco da Barberino und die geselligen Redeformen des frühen Trecento 1. Die Frage nach der mittelalterlichen Konversationskultur An der Existenz einer mittelalterlichen Konversationskultur bestehen in der Forschung verbreitet Zweifel. Wer, so fragt man sich, besaß im Mittelalter genügend Muße, Bildung und sprachliche Kompetenz für dergleichen und bei welchen Gelegenheiten hätte eine der Kurzweil dienende gesellige Unterhaltung stattfinden sollen? Hinzu kommt, dass die Quellenlage zu dieser Frage nicht allzu ergiebig ist, was freilich auch eine Folge von Forschungsinteressen ist. Jedenfalls sieht Rüdiger Schnell, der das Problem kürzlich aufgegriffen hat, die Voraussetzungen für eine gesellige Konversationskultur im Mittelalter nur im klerikalen Milieu gegeben, weshalb er dafür plädiert, das Phänomen auf die „fazete“ Unterhaltung von Klerikern, Hofbeamten und Gelehrten einzuschränken, die, unter Männern und meist in lateinischer Sprache stattfindend, ihren ‚Sitz im Leben‘ vorzugsweise bei Tisch gehabt habe 2 . Konversation zwischen Männern und Frauen in der Volkssprache ließe sich dagegen für das Mittelalter kaum annehmen, weil diese Gespräche da, wo sie, wie in der höfischen Dichtung, nachweisbar und inhaltlich greifbar sind, meist auf Liebe fixiert gewesen seien, es sich also um ein „engagiertes, emotionsgeladenes, zielgerichtetes Reden“ handele, dem es an der für die Konversation notwendigen Distanzhaltung fehle 3 . Und auch die lateinisch abgefassten „literarischen Werbedialoge“ des Andreas Capellanus (um 1180/ 1190) will Schnell nicht gelten lassen, weil sie „zu zielstrebig, argumentativ zu konsequent strukturiert“ seien, um als kurzweilig-galante Unterhaltung gelten 2 R. Schnell, „Konversation im Mittelalter. Bausteine zu einer Geschichte der Konversationskultur“, in: Konversationskultur in der Vormoderne. Geschlechter im geselligen Gespräch, hrsg. von dems., Köln/ Weimar/ Wien 2008, S. 121-218. Zur Forschungslage siehe ebd., S. 121ff. 3 S. 150. <?page no="10"?> 10 zu können 4 . In der Novellistik schließlich, die der Konversation nahesteht, hält er das Decameron mit seinem geselligen Rahmen wegen des „fast ausschließlichen“ Themas Liebe für „noch stark dem mittelalterlichen ‚Modell‘ verhaftet“ und dem zeitlich früheren Novellino möchte er lieber einen Platz in der Geschichte der Gattung Fazetie als in derjenigen der Novelle zuweisen 5 . Nun führt aber Andreas Capellanus in seinem Traktat De amore mit Dialogen, mit „iudicia amoris“ und „regulae amoris“ ein detailliertes System geselliger höfischer Redeformen vor, die nach Redesituation und Kunstfertigkeit allesamt unterhalb der Hochform der offiziellen Trobadorlyrik anzusiedeln sind 6 . Besonders aufschlussreich sind die acht Musterdialoge über die Liebe im sechsten Kapitel des ersten Buches, die mehr als die Hälfte des ganzen Werkes einnehmen 7 . Sie sind nach sozialen Rängen (plebeius, nobilis, nobilior) gestaffelt, wobei ein Mann jeden Ranges mit einer Frau jeden Ranges spricht (mit Ausnahme des Falles „nobilis nobiliori“, weshalb es nur acht Gespräche sind). Die jeweilige Redefähigkeit der Gesprächspartner - ihre „sermonis facundia“ - ist von ihrem Rang abhängig: je höher dieser und je verbindlicher damit die höfische Lebensform für die Beteiligten ist, desto umfangreicher und komplexer sind die Redebeiträge, desto gezielter der Einsatz rhetorischer Mittel und desto reicher das Repertoire der Sprachhandlungen. Auch der Inhalt der Dialoge ändert sich mit dem Rang der Sprecher: je besser und vollkommener sie das Reden über die Liebe beherrschen, desto mehr sehen sie vom persönlichen Fall und der konkreten Situation ab und wenden sich statt dessen einer Erörterung der Liebesdoktrin zu oder auch der Gesprächsführung selbst. Die eigentliche Intention des Liebesgespräches wird dabei aufgegeben, das Liebesanliegen ist nur noch Anlass zum Reden. Offensicht- 4 S. 148. 5 Weil er in der Empfehlung, die Geschichten am gegebenen Ort weiterzuerzählen - „sì li potrà [...] e dire e raccontare (in quelle parti dove avranno luogo), a prode et a piacere [...].“ - „künftige gesellige Zusammenkünfte bei Tisch“ erkennen will (S. 185), was der Text so natürlich nicht hergibt. (Zitat: Il Novellino, hrsg. von Guido Favati, Genova 1970, „Prologo“, S. 118.) 6 A. Capellanus, De amore libri tres, hrsg. von E. Trojel, Kopenhagen 1892, Nachdruck München 1964 ( 2 1972), Kap. I, 6; II, 7 und 8. 7 205 von insgesamt 361 Seiten der Trojel-Ausgabe. <?page no="11"?> 11 lich kommt es in erster Linie auf den normgerechten Vollzug des Gesprächs an und nicht auf den Erfolg einer wie immer gearteten ‚Verführung‘ 8 , ja, wie die zum Teil widersprüchlichen Argumente der Gesprächspartner zeigen, nicht einmal auf eine Definition der rechten höfischen Liebe. Die Dialoge sind vielmehr ein sich selbst genügendes Sprachspiel, für das der Begriff „amor“ als Metapher dient 9 . Ob man sie als Abbild oder Vorbild gesellig-galanter Unterhaltung anzusehen bereit ist, hängt nicht zuletzt vom Kunstwillen und der Kunstfertigkeit ab, die man den Adressaten von De amore zubilligt 10 . Ein reines Phantasieprodukt ihres Autors, das keinerlei Bezug zur Realität hatte, dürften sie aber auf keinen Fall gewesen sein. Und sie erfüllen durchaus die notwendigen Voraussetzungen für Konversation, einschließlich des Kriteriums der Distanzhaltung 11 . Wie eng im Übrigen Reden und höfische Liebe für Andreas Capellanus miteinander verflochten waren, belegt die neunte der „regulae amoris“: „Amare nemo potest, nisi qui amoris suasione compellitur.“ 12 Auch in den frühen vulgärsprachlichen Verhaltenslehren des romanischen Kulturraums wird dem geselligen Umgang mit Einzelnen oder mit Gruppen, einschließlich der Frauen, große Aufmerksamkeit geschenkt. Da diese mondänen Verhaltenslehren, die sich 8 Die These einer Verführungsstrategie, die allerdings scheitere, hat Schnell in seiner Dissertation vertreten (Andreas Capellanus. Zur Rezeption des römischen und kanonischen Rechts in De amore, München 1982, S. 25ff.). In den Dialogen 5 und 8, die er eingehender analysiert, vermutet er außerdem parodistische Züge. 9 Auf einen ähnlichen Fall von Überschneidung und metaphorischer Austauschbarkeit der Ausdrücke „chanter“ und „aimer“ und ihrer Derivate in der altfranzösischen „chanson d’amour“ hat Paul Zumthor hingewiesen („De la circularité du chant“, Poétique Bd. 1/ 1970, S. 129-140). Zumthor spricht allerdings von Katachrese statt von Metapher (S. 137). Seiner Folgerung, die Liebeslyrik sei daher letztendlich ihr eigener Gegenstand, muss man jedoch nicht zwingend zustimmen. 10 Natürlich hat man sie sich nicht als privates tête-à-tête vorzustellen, sondern als Muster für eine galante Liebesunterhaltung im öffentlichen Raum. Siehe hierzu unten, S. 47f. und S. 74, Anm. 195. 11 Zum distanzierten Sprechen im höfischen Dialog und in der Konversation siehe die erhellenden Ausführungen von I. Nolting-Hauff, Die Stellung der Liebeskasuistik im höfischen Roman (Heidelberger Forschungen. 6), Heidelberg 1959, S. 66ff. 12 De amore libri tres, III, 8, S. 310. <?page no="12"?> 12 in der Regel an einzelne soziale Gruppen der höfischen Gesellschaft wandten, am höfischen Lebensstil ausgerichtet waren, liegt die Annahme nahe, dass ihre Anweisungen der höfischen Liebesgeselligkeit und ihren Erfordernissen verpflichtet sind und dass sie aus einem ähnlichen Geist entstanden sind wie der Traktat des Andreas Capellanus. Tatsächlich finden sich in altfranzösischen Liebesratgebern und okzitanischen „ensenhamens“ zahlreiche Hinweise auf Redeformen der Liebesgeselligkeit, unter anderem auf das Erzählen. Auch in italienischen höfischen Verhaltenslehren, die mit einiger Verzögerung folgten, nehmen die Redeanweisungen einen herausragenden Platz ein 13 . Neben der speziellen Liebessituation wird in ihnen zunehmend das Sprachverhalten im Allgemeinen berücksichtigt und es entwickeln sich sehr bald auch Regeln für den geselligen sprachlichen Umgang. Einen aufschlussreichen Einblick in diese Entwicklung gibt uns der 1264 in Barberino di Val d’Elsa geborene und 1348 in Florenz gestorbene Francesco da Barberino, der zwei umfangreiche Verhaltensratgeber verfasst hat, den einen unter dem Titel Documenti d’amore für seine männlichen Landsleute, den anderen mit dem Titel Reggimento e costumi di donna für Frauen. Das breitere Spektrum von Redeanweisungen findet sich begreiflicherweise in der Verhaltenslehre für Männer, die hier zuerst betrachtet werden soll. 2. Der „modus loquendi inter gentes, sedendo vel ad recreandum seu conferendum“ Die Documenti d’amore sind ein komplexes, aus mehreren Textarten zusammengesetztes Werk. Einem vulgärsprachlichen „ensenhamen“ 13 Zu den okzitanischen „ensenhamens“ siehe D. A. Monson, Les ‚Ensenhamens‘ occitans. Essai de définition et de délimitation du genre (Bibliothèque française et romane. Études littéraires. 75), Paris 1981. Der erste eigenständige höfische Ratgeber in Italien ist das noch in provenzalischer Sprache abgefasste Ensenhamen d’onor (vor 1257) von Sordello da Goito. Zur mittelalterlichen mondänen Didaktik allgemein siehe C. Segre, „Le forme e le tradizioni didattiche“, in: Grundriss der Romanischen Literaturen des Mittelalters, hrsg.von H. R. Jauss und E. Köhler, Bd. VI, 1, Heidelberg 1968, S. 58-145, bes. S. 90ff. („Gli ensenhamens“); A. Parducci, Costumi ornati. Studi sugli insegnamenti di cortigiania medievali, Bologna 1927. <?page no="13"?> 13 in unterschiedlichen Strophen aus Sieben- und Elfsilbern ist eine lateinische Übersetzung in rhythmisierter Prosa beigefügt, die im erhaltenen Autograph in zwei Kolumnen um den italienischen Text herum angeordnet ist; zudem gibt es, in je zwei weiteren Kolumnen rechts und links, einen ausführlichen lateinischen Kommentar zu dieser Übersetzung 14 . Man nimmt an, dass der Text im Wesentlichen zwischen 1309 und 1313 verfasst wurde, als Barberino, der ghibellinischer Herkunft war, möglicherweise aus politischen Gründen zu einem längeren Aufenthalt in Frankreich an den Höfen von Avignon, Paris und Navarra weilte 15 . Der stark enzyklopädische Kommentar, an dem er fast sechzehn Jahre gearbeitet haben will 16 , ist wohl erst nach der Rückkehr nach Italien 1313 fertiggestellt worden 17 . Eine Bemerkung Barberinos in der unvollständig erhaltenen Erstfassung des Reggimento e costumi di donna deutet zudem dar- 14 Siehe die Beschreibung des maßgeblichen Manuskripts (Codex Barberinus 4076) in der von Francesco Egidi besorgten Ausgabe der Documenti d’amore (4 Bde., Roma 1902-1927, Nachdruck: Edizioni PiZeta, San Donato 2006), Bd. 4, S. XVIIIf. Text und Kommentar sind auch graphisch voneinander abgesetzt: der Text ist in „scrittura libraia“, der Kommentar in „lettera notarile“ geschrieben. 15 Zu den Daten siehe Dizionario biografico degli italiani, Bd. 49, Roma 1997, S. 688; ferner Ch. Franco, Arte e poesia nel Reggimento e costumi di donna di Francesco da Barberino, Ravenna 1982, S. 13ff. Maria Prandi weist darauf hin, dass Barberino im Frühjahr 1315 in einem Florentiner Dokument als „utriusque iuris doctor“ bezeugt ist, sich aber im Werk und noch in dessen Explicit als „scolaris utriusque iuris“ bezeichnet, was auf einen Abschluss der Documenti d’amore vor 1315 hindeutet („Vincenzo di Beauvais e Francesco da Barberino“, Italia medioevale e umanistica Bd. 19/ 1976, S. 133-161, hier: S. 140). 16 „Illa vero que in glosis sunt [...] cum multis vigiliis, laboribus atque studiis per annos sexdecim fere tradidi ad hunc statum“ (I documenti d’amore, hrsg. von M. Albertazzi, 2 Bde., Lavis 2008, Bd. 1: Versi volgari e parafrasi latina, Bd. 2: Glossae, hier: Bd. 2, S. 145, zu V. 1273). Ich zitiere nach dieser neuen Ausgabe der Documenti d’amore, in der Marco Albertazzi die Rechtschreibung und Zeichensetzung modernisiert und außer mit einer hilfreichen Verszählung den Text auch mit Anmerkungen vor allem zu den Stellenverweisen Barberinos versehen hat. Für die Randbemerkungen des Autographs sowie bei offensichtlich falschen Lesungen und grammatischen Abweichungen korrigiere ich nach der Ausgabe von Egidi bzw. zitiere sie in Zweifelsfällen parallel. 17 Die häufigen Vor- und Rückverweise deuten nach Prandi auf eine relative Unabhängigkeit der beiden Texte auch in zeitlicher Hinsicht („Vincenzo di Beauvais e Francesco da Barberino“, S. 142). <?page no="14"?> 14 auf hin, dass er zunächst ein einziges, offenbar sprachübergreifendes Werk in mehreren Teilen geplant hatte 18 , an dem er schon vor dem Frankreichaufenthalt gearbeitet haben muss. Dieses umfassende Erziehungsbuch wäre mit seiner Zweisprachigkeit und dem breit gefächerten Adressatenkreis unter den lateinischen und vulgärsprachlichen Erziehungswerken der Zeit eine Ausnahmeerscheinung gewesen. Die Entscheidung, statt seiner zwei getrennte vulgärsprachliche Einzelwerke zu verfassen, muss in Frankreich gefallen sein, wo Barberino, wie er sagt, die „quaternos interlineatos“ des ersten Entwurfes nicht zur Hand hatte 19 . Vermutlich hat er sich dort auch für die provenzalische „ensenhamen“-Form der Documenti d’amore entschieden, deren höfisches Flair seinen eigenen und den Neigungen der gehobenen Florentiner Kreise entgegenkam 20 . Zugleich beließ er es in diesem Teil aber bei der für ein Erziehungsbuch ungewöhnlichen Verbindung eines „volgare“-Textes mit einem solchen in „gramatica“. Der ‚Kerntext‘ des vulgärsprachlichen „ensenhamen“ setzt mit einer mehr skizzierten als ausgeführten allegorischen Erzählung ein: Amor hat den Autor damit beauftragt, seine Getreuen zusammen- 18 „Indella prima parte porremo certa doctrina per amaestramento delle donne di qualunque etade e condizione sieno, con molti belli exempli; indella seconda, ad amaestramento di ciascuno uomo vulgare, porremo molte belle auctoritadi e detti di molti savi uomini in volgare; indella terza, per coloro che sanno gramatica, porremo molte universali auctoritati di savi auctori in gramatica. Indell’ultima extraordinaria, porremo generalemente di molte cose utili et dilettevoli in gramatica, che non si convegnano a ogna maniera di gente.“ (Zitiert nach Francesco da Barberino, Reggimento e costumi di donna, hrsg. von G. E. Sansone, Roma 2 1995, Appendice: „La prima redazione: problemi e conferme“, S. 229-307 [erstmals in Filologia romanza Bd. 3/ 1956, S. 371ff.], hier: S. 275; zur Datierung der beiden Fassungen siehe S. 246f.) 19 Auf die diesbezügliche Frage seines fiktiven Gegenübers antwortet er: „quia in comitatu Provincie ac comitatu Venesis pro arduissimis negotiis necessario vacans et melanconia magna oppressus et quaternos interlineatos illius operis hic non habens, hec [Documenta] michi ab Amore iniuncta proposui fini dare.“ (Documenti d’amore, Bd. 2, S. 25, zu V. 99.) 20 Dazu würde passen, dass Daniela Goldin in den Documenti d’amore eine starke provenzalische Sprachkomponente festgestellt hat und aufgrund zahlreicher Passagen seiner Verhaltensbücher in Barberino einen „abile cronista dell’ambiente tardo-cortese“ sieht („La mescidanza linguistica nei Documenti d’amore di Francesco da Barberino“, Lingua Nostra Bd. 32/ 1971, S. 101-109, hier: S. 103, Anm. 16). <?page no="15"?> 15 zurufen, um ihnen durch den Mund der Eloquentia seine Lehren verkünden zu lassen. Gemeinsam mit anderen „servi“ hat der Autor auf der „maggior rocca“ Amors die Worte der Eloquentia aufgeschrieben, die er auf Geheiß der Curialitas denjenigen Gefolgsleuten zugänglich machen soll, die nicht anwesend sein konnten. Zwölf Allegorien werden sie in den zwölf Teilen des Werkes vortragen. Nach der Beschreibung der dem Proöm vorangestellten Miniatur, die diese Szene darstellt, sowie einer ausführlichen Erklärung und Definition Amors und seiner allegorischen Begleitfiguren 21 äußert sich Barberino noch zur außergewöhnlichen Form seines Buches. Unter Rückgriff auf den Vorgang der Verkündigung und mit offensichtlicher Anspielung auf das Pfingstwunder erklärt er dazu, alle Anwesenden hätten das Gehörte verstanden, ein jeder in seinem Idiom. Er selbst habe die Lehren als „vulgare rimatum et latinum prosaicum vel metricum“ vernommen. Eine Stimme habe ihm den Auftrag erteilt, sie in beiden Sprachen aufzuschreiben 22 , damit auch diejenigen sie vernehmen und verstehen könnten, die sie nicht gehört hätten. Während der lateinische Text den meisten zugänglich sei („pluribus est comune“), habe er den italienischen Text für seine adligen Landsleute geschrieben, die jener Sprache nicht mächtig seien: Rimas autem vulgares ad nobilium utilitatem de patria mea, qui latinum non intelligunt, scribere volui. 23 21 Nach Antoine Thomas könnte Barberino sich die Anregung zu der allegorischen Einleitung bei der Cour d’amour eines anonymen provenzalischen Verfassers des frühen 13. Jahrhunderts geholt haben (Francesco da Barberino et la littérature provençale en Italie au Moyen Âge, Paris 1883, S. 64ff.). Auch zum Breviari d’Amor (1289/ 1290) des Matfré Ermengaud sieht Thomas Parallelen, etwa die Titelanalogie und die Figur des advocatus diaboli (S. 62f.). Man könnte noch die Doppelung von Text und erklärendem Kommentar anführen, wobei Matfré freilich die Texte Anderer, nämlich der Trobadors, zitiert und erläutert. Sowohl die Cour d’amour wie auch das Breviari d’Amor hat Barberino mit großer Wahrscheinlichkeit gekannt, obwohl er sie, gegen seine Gewohnheit, im Kommentar der Documenti d’amore nicht erwähnt. Dies spricht dafür, dass es sich bei den Übereinstimmungen um allgemeines Gedankengut handelte. Zu Weiterem siehe unten, S. 19f. 22f. 22 „Tolle pennas duas et scribe secure, dum tamen teneas unam altam et reliquam depressam, et sic utrunque uno concursu resummes.“ (Bd. 2, S. 26) 23 Bd. 2, S. 36. <?page no="16"?> 16 Die lateinischen Glossen - so hatte er schon ganz zu Anfang erklärt - habe er verfasst, um seine Absichten darzulegen und den Vorwurf zu entkräften, er habe es nur auf den „amor carnalis“ abgesehen 24 . Diese Äußerungen bestätigen noch einmal, dass die Documenti d’amore - wie es ihr Titel ja anzeigt 25 - eine Verhaltenslehre höfischen Ursprungs sind, die sich an Adlige richtet, aber auch an Bürger und Gebildete, die Ambitionen auf einen adligen Lebensstil hatten. In ihrem umfassenden didaktischen Bestreben sind sie dem Convivio Dantes ähnlich, wo es freilich um die Vermittlung philosophischen Wissens in umgekehrter Richtung - von den Gebildeten zu den des Lateinischen Unkundigen - ging. Die in solchen Absichten zum Ausdruck kommende Offenheit für die jeweils andere Lebenswelt zeugt von der engen Durchdringung der Schichten im damaligen Florenz, die offenbar den wechselseitigen sprachlichen Austausch ebenso möglich machte 26 wie die Übernahme ursprünglich adliger Verhaltensformen und deren Anpassung an die Lebenssituationen der Stadt. Die Redevorschriften rangieren dabei in den Documenti d’amore weiterhin an prominenter Stelle, denn sie finden sich in deren erstem und zugleich umfangreichstem Teil, der unter der Herrschaft der Allegorie der Docilitas steht. 24 „Fuerunt itaque quidam qui testum hunc respicientes dampnabant, dicentes me ad amorem carnalem totaliter habuisse respectum. Quam ob rem presentes glosas, ad denotandum proprie intentionis motum et actum circa latinum testum pariter et vulgarem, texere ac locare decrevi [...].“ (Bd. 2, S. 5) In seiner Amordefinition unterscheidet Barberino zwischen „divinus amor“ und „licitus mundanus amor“ (S. 7); nicht dem „amor illicitus“ (ebd.) rede er das Wort, sondern einem „spiritualiter“ verstandenen (S. 27). 25 Der Plural „documenti“ entspricht dem provenzalischen Gattungsbegriff „ensenhamen“. Damit erinnert der Titel an Sordellos Ensenhamen d’onor, dessen Explizit lautet: „Explicit Documentum honoris domini sordelli“ (Monson, Les ‚Ensenhamens‘ occitans, S. 21 mit Anm 23). Im fortlaufenden Text bedeutet „documentum“ das einzelne „ensenhamen“ bzw. die „Belehrung“. Siehe auch Monson, S. 15ff., zum Begriff „ensenhamen“. 26 So können z.B. die Anmerkungen des lateinischen Kommentars der Documenti d’amore zur Einteilung und zum Wesen der Philosophie (Bd. 2, S. 55ff.) als Vermittlung von enzyklopädischem Allgemeinwissen für das empfohlene Gespräch mit „phylosophy“ verstanden werden - vorausgesetzt, ein Adliger konnte sie lesen und verstehen oder sich übersetzen lassen. <?page no="17"?> 17 3. Allgemeine Gesprächsregeln Unter den siebenundzwanzig „documenta“ 27 der Docilitas ist das sechste dem gesitteten Reden gewidmet. Es gehört mit 135 Versen zu den längsten „documenta“ des ersten Teils 28 . In ihm wird die Beschäftigung mit dem Reden folgendermaßen begründet: [...] Amor vuol che li servi suoi sien tali che non pur sol da’ mali si guardin, ch’ènno detti e son peccato, ma vuol veder ornato ciascun de’ suoi di costumi e di senno. 29 Der „Amor divinus“ wünscht, dass seine Diener beim Reden nicht nur Fehler vermeiden, wie sie im vorausgehenden fünften „documentum“ besprochen worden sind, sie sollen sich dabei auch mit „costumi“ und „senno“ geschmückt zeigen. Zwar müssen nicht alle Menschen nach derselben Weise leben, wie der Kommentar weiter ausführt, aber von seinen Dienern verlangt Amor eine sittsame Lebensweise („quod [...] moraliter vivant“), wenn schon nicht um ihrer selbst willen, dann wenigstens um Anderen nicht durch Unsitten zu missfallen. Denn es beleidigt Amor, wenn der Mensch, dem Vernunft und Einsicht gegeben sind, wie ein „animal brutum“ lebt. Darum sind nicht nur die „pauperes spiritu“, die Armen im Geiste, denen bekanntlich das Himmelreich gehört, in seinem Dienst gern gesehen, sondern auch die „scientiat[i] et magis licterat[i]“. Mit diesen und weiteren biblischen und theologischen Zitaten und Anspielungen 30 fordert Barberino die Gebildeten und Gelehrten 27 Wegen der Zweisprachigkeit der Documenti d’amore erscheinen fast alle Begriffe bei Barberino in doppelter sprachlicher Form. Ich halte mich in der Regel an die lateinische Sprachgestalt des Kommentars als Sprache des argumentierenden Diskurses. 28 Länger sind nur das 24. „documentum“ mit 183 Versen (über verschiedene zu vermeidende „Laster“) und das 22. mit 179 Versen (für „giovani [...] a chi convien servir alchun signore“; Bd. 1, S. 95ff. bzw. 81ff.); letzteres entspricht einem provenzalischen „ensenhamen del escudier“. 29 I, 6, Bd. 1, S. 24, V. 276ff. 30 Das vollständige Augustinuszitat in Barberinos Worten: „Et illud Augustini Super Matheum XI: ‚veniunt rudes et celum rapiunt, et nos cum licteris nostris descendimus in infernum‘.“ (Bd. 1, S. 53, zu V. 269; siehe auch Albertazzis Stellenangaben dazu, Anm. 266 bzw. 265.) <?page no="18"?> 18 („nos cum licteris nostris“) auf, wie die adlig-höfischen Adressaten des Proöms und mit größerem Gewinn als jene „ignari et rudes“ Amor zu dienen und seine Lehren zu beherzigen. Seine nachfolgenden Ratschläge gelten demnach für alle maßgeblichen gesellschaftlichen Gruppen. Zu Beginn des „documentum“ hatte er drei Gelegenheiten bzw. Arten des Redens unterschieden: Son, certe cose fare, viçi che rendon la persona molto dispiacevol e stolto, sedendo, andando, et a tavola stando. Sunt quedam vitia etc. Istud VI documentum in hac prima globula fundat tria modum loquendi inter gentes, sedendo vel ad recreandum seu conferendum et modum eundi per viam et modum standi ad mensam. Sed in presenti documento de primo tantum tractat, et sequentia in sequentibus documentis. 31 Die erste Art ist das „loqu[i] inter gentes, sedendo vel ad recreandum seu conferendum“, das heißt das Gespräch beim geselligen Zusammensitzen, wenn man „sich erholen“ oder „sich austauschen“ und „besprechen“ will. Dieses beiläufige und erholsame Reden in geselliger Runde, das eine erste Form von Konversation ist, soll Gegenstand des sechsten „documentum“ sein. Der „modus standi ad mensam“ oder das Tischgespräch kommt am Ende des achten „documentum“ über Tischsitten zur Sprache sowie noch einmal im 22. „documentum“, das sich an die „giovani [...] a chi convien servir alchun signore“ richtet. An beiden Stellen wird in aller Kürze empfohlen, bei Tisch wenig und kurz und nur über heitere Dinge zu reden bzw. unangenehme Themen zu vermeiden 32 . Zum dritten Gesprächstyp, dem „modus eundi per viam“, 31 Text: Bd. 1, S. 24, V. 269ff.; Kommentar: Bd. 2, S. 52. 32 I, 8, Bd. 1, S. 41, V. 602ff.: [...] qui parlar ti convien poco e breve. Né qui tractar si deve d’altro che netto e allegro dilecto. bzw. I, 22, Bd. 1, S. 84, V. 1313ff.: Dispiàcemi chi serva parlar di medico a signor servendo: se non forse ubidendo quand’esso l’à da .llui in mandamento. <?page no="19"?> 19 trägt das 13. „documentum“ über das Grüßen und Begegnen bei, in dem erörtert wird, wann man dem Gruß weitere Worte hinzufügen kann und wann man es besser unterlässt 33 . Seine Darlegungen zur geselligen Unterhaltung beginnt Barberino mit einer weiteren Bestimmung der Gesprächssituation: Se tu sedrai in via o in piaça con gente, actendi prima di che (s)quadra son lima: o tu li conoscevi, o e’ son nuovi. 34 Die Annahme, dass man sich auf der Straße oder auf einem Platz („in via / o in piaça“) zur geselligen Unterhaltung trifft, setzt eine mediterrane Lebensweise voraus, bei der Menschen sich in einem öffentlichen, nicht weiter geschützten Raum begegnen und länger aufhalten können. Nicht zuletzt aus dieser Öffentlichkeit und der daraus folgenden Zufälligkeit der Begegnungen erwächst der erste Rat, sich zunächst ein Bild von seinem Gegenüber zu machen: „actendi prima / di che (s)quadra son lima“. Falls man es mit Leuten zu tun habe, die man nicht kennt („e’ son nuovi“), solle man zuhören und schauen, von welcher Art sie sind: [...] indura, guardando et ascoltando, il dir e l’atto: tu quasi in picciol tracto conoscerai chi nel tuo cerchio gira: 35 Barberino übernimmt hier einen Rat, der sich schon bei den Provenzalen in Redeanweisungen für Frauen findet. So im Breviari d’Amor des Matfré Ermengaud, der hierzu das „ensenhamen“ des Garin lo Brun zitiert: Donas, qu’ie . us ve vezer ab somos de sezer, vos al comensamen gardatz premieiramen 33 I, 13, Bd. 1, S. 51f., V. 739f. 757f. Beim Grußritual erörtert Barberino hauptsächlich die Gestik (Verneigen, Entblößen des Kopfes, Umarmen). Zum Thema des Grußes in den mittelalterlichen Erziehungslehren siehe auch F. Lebsanft, Studien zu einer Linguistik des Grußes. Sprache und Funktion der altfranzösischen Grußformeln, Tübingen 1988, S. 240ff. 34 I, 6, Bd. 1, S. 25, V. 293ff. 35 Ebd., V. 299ff. <?page no="20"?> 20 qui es ab cui parlatz; sas paraulas augatz, e seguon qu’auziretz, e vos li respondretz, que neis lo seu parlar vos podetz assenar + quals y tanh le respos, si . s cove, mals o bos; quar homs savis e mois foll al parlar conois, [...]. 36 Frauen mussten in Situationen des „domnejar“ - und um eine solche handelt es sich bei Matfré Ermengaud 37 - sehr genau wissen, mit wem sie sich einließen. Das erklärt, weshalb diese Verhaltensregel für sie von Bedeutung war. Barberino macht daraus in städtischer Umgebung eine allgemeine, auch für Männer geltende Regel, deren Anwendungsbereich er auf jedes Gespräch ausdehnt. Wenn das Ergebnis der Prüfung positiv ausfällt, so fährt Barberino fort, antworte man in angemessener Weise: Se comincian costoro, e lor parlar è gentil et honesto, parla per simil testo: se non, ti taci e fingi altro pensero. 38 36 Le Breviari d’Amor de Matfré Ermengaud, hrsg. von P. T. Ricketts, Bd. 5, Leiden 1976, S. 165 (V. 30461ff.): „Frauen, wenn jemand euch besuchen kommt, sollt ihr zu Beginn bei der Aufforderung, Platz zu nehmen, als erstes feststellen, mit wem ihr redet; hört auf das, was er sagt, und entsprechend dem, was ihr hören werdet, sollt ihr ihm antworten, denn an seinem Reden könnt ihr erkennen, welche Antwort sich darauf ziemt, ob sie passend ist, schlecht oder gut; denn wer klug und gewitzt ist, erkennt den Toren an seiner Rede [...].“ (Übersetzungen stets von mir) Matfré Ermengaud muss Garins Text in- und auswendig gekannt haben, denn er setzt die Zitate je nach eigenem Bedarf zusammen. Die genauen Stellenangaben für Garin lo Brun findet man bei R. Richter, Die Troubadourzitate im Breviari d’Amor. Kritische Ausgabe der provenzalischen Überlieferung, Modena 1976, hier: S. 257. 37 Sämtliche hier zitierten Stellen entstammen dem an die Frauen gerichteten Teil des Breviari d’Amor, der überschrieben ist: „Cosselhs en qual manieira las donas se devon captener en amor“ („Ratschläge, wie Frauen sich in der Liebe verhalten sollen“, S. 155ff.). 38 Bd. 1, S. 26, V. 305ff. Auch diese Empfehlung ist im provenzalischen Text vorgezeichnet: „e seguon qu’auziretz, e vos li respondretz“. <?page no="21"?> 21 Anderenfalls schweige man und verhalte sich so, als ob man mit anderen Dingen beschäftigt sei. Ist man aber zu einem Gespräch bereit, so rede man mit den Anderen über ihre jeweiligen Tätigkeiten, wobei man darauf achte, lieber wenig als viel zu reden: Se buona è lor maniera, e cominciar o tractar ti conviene, tracta di quelle mene che si convien al proprio esser d’essi. Ma che non rincrescessi guarda ch’el poco non ti può dar danno; 39 Was hier abgehandelt wird - die grundsätzliche Übereinstimmung der Beteiligten in Fragen des gesitteten Verhaltens („il dir e l’atto“, „Se buona è lor maniera“), die Aufmerksamkeit für das Gespräch und seine Teilnehmer und die erforderliche Menschenkenntnis („guardando et ascoltando [...] / tu quasi in picciol tracto / conoscerai chi nel tuo cerchio gira“), die Fähigkeit und Bereitschaft zur Erwiderung auf gleichem sprachlichem Niveau („parlar gentil et honesto“ - „parla per simil testo“), die Selbstbeschränkung im Reden - sind wichtige allgemeine Voraussetzungen für das Gelingen der Konversation. In späteren Zeiten verstehen sich diese Dinge von selbst, nicht aber in den Anfängen der geselligen Unterhaltung, verlangen sie doch von den Beteiligten ein großes Maß an Selbstbeherrschung und gegenseitiger Rücksichtnahme, die beide wesentliche Errungenschaften des Zivilisationsprozesses sind 40 . Zum Ausgleich wird dem Einzelnen die Freiheit zugestanden, sich aus der Gesprächsrunde mit einer Erklärung zurückzuziehen, die für die Anderen nicht kränkend ist: E se (caso leggero) doppo alchun’ora ti vien di partire fàllo con alcun dire, che sembli te non ischifar lor tiera. 41 39 V. 313ff. 40 Zur Selbstdisziplin und Rücksichtnahme siehe Schnell, „Konversation im Mittelalter“, S. 123, sowie ausführlich N. Elias, Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt a.M. 1976, S. 312ff. 41 V. 309ff. Der Kommentar nennt als möglichen Grund für solchen Rückzug allerdings nur „ungeziemende Reden“ („loquentibus et tracta[n]tibus <?page no="22"?> 22 4. Die Gespräche mit „licterati“ Nach dieser Vorbereitung kommt Barberino zum Gegenstand der Unterhaltung. Konversation verlangt einen Gegenstand, der die Teilnahme aller Anwesenden am Gespräch ermöglicht, nicht als ständige aktive Teilnahme, denn auch Zuhören ist Teilnahme, aber doch im Wechsel von Passivität und Aktivität, so dass jeder Teilnehmer einmal das Gespräch führen kann. In einer arbeitsteiligen Gesellschaft mit sehr unterschiedlichem Bildungsstand, wie es die in den Städten des italienischen Trecento bereits war - worauf auch Barberinos Unterscheidung von „ignari et rudes“ und „licterati“ hinweist -, war das nicht leicht zu erreichen. Bisherige Regeln zum sprachlichen Umgang besagten nur, dass man sich allgemein auf Charakter oder Stimmung des Gegenübers einstellen solle. Ich zitiere dazu wieder aus dem Breviari d’Amor: Domna deu doncs amezurar sas paraulas e deu parlar ab savis de savieza et ab los guais de guaieza, honran majormens los estranhs, don dis Guaris, los bos companhs: Seguon qu’ome veiretz d’eis semblan le seretz; quan sabretz son talan, siatz li d’eis semblan; sias guaia als guais e valretz ne trop mais, inhonesta“, Bd. 2, S. 55). Auch in diesem Fall findet sich eine ähnliche Regel zum höflichen Umgang im „ensenhamen“ des Garin lo Brun, wenn dieser der Frau empfiehlt, das Gespräch mit einem aufdringlichen Liebhaber nicht im Zorn zu beenden, sondern einfach abzubrechen, wie es ihr als Frau zusteht: ni respondez irada se sos diz no . us agrada, c’assez se pot breumen partir de parlamen e desloingnar solaz domna can non li plaz. (Garin lo Brun, „El tremini d’estiu ...“, V. 323ff., in: Testi didattico-cortesi di Provenza, hrsg. von G. E. Sansone, Bari 1977, S. 53-74, hier: S. 63.) <?page no="23"?> 23 e cortez’ als cortes e sera vos grans bes. Mas entre’omes senatz devetz estar en patz; savi captenemen devetz far en parven e guardar de trop rire e de foudatz a dire. Rires, quan no a luoc, torna tost az enuoc. Sazos es qu’om deu rire e sazos qu’om cossire. Qui entr’omes senatz vol trop parlar foudatz ni entre . lls folls grans sens, non es ben conoichens; folls no sab que responda, qui de sen l’apreonda. 42 Primärer Gegenstand einer höfischen Unterhaltung zwischen Mann und Frau war natürlich das „domnejar“, bei dem die Frau das rechte Maß finden und diejenigen, die ihr den Hof machten, mit „bells semblans“ und „guai solass amoros“ bei Laune („alegres e joios“) halten musste, damit sie ihr Lob sangen, ohne dass sie selbst jedoch ihre Ehre aufs Spiel setzte 43 . Diese höfische Unterhaltung war ein 42 Le Breviari d’Amor, Bd. 5, S. 172f., V. 30635ff. (Richter, Die Troubadourzitate, S. 262f.). Übersetzung: „Eine Frau soll also ihre Worte abwägen und mit Weisen über Weises reden und mit Fröhlichen über Fröhliches, dazu die Fremden besonders ehren, so wie es Garin, der tüchtige Gesell, sagt[: ] ‚So wie ihr die Leute seht, genauso sollt ihr ihnen begegnen; sobald ihr ihre Art kennt, tut es ihnen gleich; seid fröhlich mit den Fröhlichen und ihr werdet umso angesehener sein, seid höfisch mit den Höfischen und es wird euch von großem Nutzen sein. Aber unter Vernünftigen müsst ihr vernünftig sein, kluges Verhalten müsst ihr zeigen und euch hüten, zuviel zu lachen und Torheiten zu reden. Lachen am falschen Ort bringt schnell Ärger. Es gibt eine Zeit zum Lachen und eine Zeit zum Nachdenken. Wer unter vernünftigen Leuten zuviel törichte Reden führen will und unter Toren allzu verständig redet, ist nicht wohlberaten; ein Tor weiß nicht zu antworten, wenn einer ihm vernünftig kommt.‘“ 43 Le Breviari d’Amor, Bd. 5, S. 164, V. 30434ff. Vgl. auch S. 167, V. 30520ff.: Domna doncs guardan sa honor e son fin pretz e sa valor, trempan sos digz e son solatz, deu prejador sofrir em patz ab qu’ell sia savis e pros, <?page no="24"?> 24 außergewöhnlicher Balanceakt, den Matfré Ermengaud in seinen „Cosselhs en qual manieira las donas se devon captener en amor“ beständig von neuem beschwört. Von seinem sprachlichen Verlauf vermögen die Dialoge in Andreas Capellanus’ De amore eine wenn auch idealisierte Vorstellung zu geben. Ganz zweifellos war dieser selbstzweckhafte Gesprächstyp zwischen den Geschlechtern eine frühe Form von Konversation. Doch gab es im höfischen Umfeld auch andere Unterhaltungen wie etwa die mit Fremden, denen eine Frau höfisch begegnen sollte („honrar majormens los estranhs“, V. 30639), und für solche Gelegenheiten waren wohl die hier zitierten Regeln vorgesehen. Wie die Regeln zum Kennenlernen des Gegenübers ließen sich auch diese Regeln leicht verallgemeinern und den Erfordernissen in der Stadt anpassen. Daraus ist in den Documenti d’amore die Empfehlung geworden, einen jeden auf das anzusprechen, was er aus seinem persönlichen Wissen zur Unterhaltung beitragen könne: „tracta di quelle mene / che si convien al proprio esser d’essi.“ Barberino hat dazu auch konkrete Beispiele genannt, wobei er, wie im Mittelalter üblich, nach einer bestimmten Rangordnung vorgeht, die in diesem Fall von den sprachgewandten „licterati“ angeführt wird: quar precz d’ome foll ni janglos pros dona non deu escoutar, quar ab lui non pot som pro far, quar dona suefre prejador per guazanhar pretz e valor, gen responden e domnejan, sa honor e som pretz guardan, satisfazen als prejadors qu’en puescon dir bonas lauzors. „So darf eine Frau, die ihre Ehre und ihren lauteren Ruf und ihr Ansehen hütet, die in ihren Reden und ihrer Unterhaltung Maß hält, ruhig einen Verehrer dulden, wofern er verständig und trefflich ist, denn Werbung von einem Toren oder einem, der sich lustig macht, darf eine kluge Frau nicht anhören, weil sie von ihm keinen Nutzen haben kann; eine Frau duldet nämlich einen Verehrer, um Ruhm und Ansehen zu gewinnen, indem sie auf höfische Weise antwortet und das Werbungsspiel betreibt, immer ihre Ehre und ihren Ruf hütend und die Verehrer so belohnend, dass sie ihr Lob singen können.“ <?page no="25"?> 25 e se questi seranno religiosi, di Dio parlerai. S[e] con medici serai, tracta con lor del conservar santade; e di moralitade co’li philosophi e lor seguitanti. Co li iuriste astanti tracta del governar che fa iustitia; e tracta di militia tra cavalieri, e d’arme, e di prodeça. 44 Das ist offensichtlich eine pragmatische, den neuen Umständen angepasste Empfehlung, wie man zwischen Beteiligten verschiedener Herkunft und Bildung eine Unterhaltung in Gang bringen kann, die über beiläufige Alltäglichkeiten hinausgeht. Nicht zuletzt um dieses zu ermöglichen, trägt Barberino selbst in seinem enzyklopädischen Kommentar viel Wissen zusammen. So schiebt er im vorliegenden Fall beispielsweise einen längeren Exkurs über Definition und Einteilungen der Philosophie einschließlich Zitaten und namentlicher Nennung großer Philosophen ein 45 . Mit solchem und ähnlichem Wissen versehen ließ sich ein begrenzt begonnenes Gespräch bei Bedarf auch mit anderen Themen fortsetzen. Im Übrigen war die Abgrenzung von Gebildeten und Ungebildeten nicht so klar, wie man vielleicht denken könnte. Das geht aus dem Kommentar zum Gespräch mit Ärzten hervor, in dem auch mehr darüber zu erfahren ist, wie Barberino sich die hier vorgeschlagene Unterhaltung vorstellt. Bei den Ärzten („physici corporales“) unterscheidet er zwischen „physici“ und „cirurgici“. Erstere sind die angeseheneren, die auch das erfreulichere Gesprächsthema liefern: [...] bona est lictera nam de conservatione sanitatis pulcer est tracta[t]us et non aborretur. Immo etiam multi nobiles utuntur libro super hac materia compilato. 46 Mit dem „schönen“ und „nicht abstoßenden“ Traktat über die Gesundheit ist wohl einer der beliebten, oft reich illuminierten Trakta- 44 S. 26f., V. 319ff. 45 Bd. 2, S. 56f., zu V. 324 („cum phylosophis“). 46 Ebd., S. 55. Sowohl die Ausgabe von Albertazzi wie die von Egidi weisen in diesem Abschnitt neben unterschiedlichen Lesarten offensichtliche Druckfehler auf (z.B. Egidi, Bd. 1, S. 86: „de conservatione santitatis“). <?page no="26"?> 26 te gemeint wie das verbreitete Tacuinum sanitatis oder das Regimen corporis, das Aldobrandino di Siena 1256 für Beatrix von Savoyen, Gräfin der Provence, verfasst hat. Gesundheitstraktate wurden im Mittelalter vor allem für Adlige verfasst, wie ein Zeitgenosse bezeugt: The Tacuinum [...] was invented to suit men of our age, especially the rich and noble who ask only for the results of knowledge and are little interested in the probability and theory of a cure. This book is therefore of use to Kings and Magnates in whose rooms it should never fail to find a place. 47 Barberinos Bemerkung, dass von diesem Buch über die Gesundheit auch zahlreiche Adlige Gebrauch machten, geht in dieselbe Richtung und ist hier wohl als Hinweis für „licterati“ und andere Nicht- Adlige auf ein ‚gehobenes‘ Gesprächsthema zu verstehen. Die ästhetische Bewertung des Traktates („pulcer“) dürfte neben dem Gegenstand auch der Illuminierung zuzuschreiben sein, denn Barberino war ein großer Bewunderer der „pittura“, der die Zeichnungen für die Miniaturen seiner eigenen Werke selbst angefertigt hat 48 . Aus all diesem wird ersichtlich, dass es ihm weniger um die informative als vielmehr um die unterhaltsame Seite der Gespräche zu tun war. Dies unterstreicht auch die unmittelbar folgende Bemerkung, mit der er einige Themen ausschließt, die dem gewünschten Erholungs- und Unterhaltungswert („loco solatii“) abträglich seien: Non enim decet loco solatii tractare de pillolis, potionibus, gerapighera, cresteris atque similibus. 49 Allenfalls mit Chirurgen, denen das Volk gemeinhin die Kunstfertigkeit des Schneidens und ähnlicher Dinge zuweise, lässt Barberino 47 So schreibt der christliche Arzt Budahyliha Byngezla aus Bagdad (gest. um 1100); zitiert bei C. Hoeniger, „The Illuminated Tacuinum sanitatis Manuscripts from Northern Italy ca. 1380-1400: Sources, Patrons, and the Creation of a New Pictorial Genre“, in: Visualizing Medieval Medicine and Natural History, 1200-1550, hrsg. von J. A. Givens / K. M. Reeds / A. Touwaide, Aldershot 2006, S. 51-81, hier: S. 53. 48 Zu den Miniaturen als integralem Bestandteil des Werkes siehe D. Goldin, „Testo e immagine nei Documenti d’amore di Francesco da Barberino“, Quaderni d’italianistica Bd.1, 2/ 1980, S. 126-138, bes. S. 134f.; zu Barberino als „designator“ ebd., S. 131f. Generell zum Vorrang des Malers vor dem Schriftsteller: Documenti d’amore, Bd. 2, S. 60 (zu I, 6, V. 353). 49 Ebd., S. 55, zu V. 321. „Man darf nämlich, wo es um Erheiterung geht, nicht über Pillen, Tränke, Arzneien, Klistiere und ähnliches reden.“ <?page no="27"?> 27 solche Themen gelten, weil es in deren Beruf nichts gebe, über das man ergötzlich reden könne („non est quod in eorum arte delectabiliter tractes“). Man könne sich aber mit ihnen über die Wirkung von Kräutern, Wässern und Ähnlichem austauschen: potes tamen conferre cum illis de virtutibus et effectibus erbarum, aquarum, f[l]orum et sim[i]lium. (Ebd.) Für das Gespräch mit Ärzten, das nicht nur unter Konversationsaspekten zweifellos zu den schwierigen Gesprächen gehört und deswegen öfter die Aufmerksamkeit auf sich zieht 50 , nennt Barberino also nicht nur Ziele der Unterhaltung und Mittel, sie zu erreichen, er zeigt auch die Grenzen auf, die nicht überschritten werden dürfen, sofern nicht der Unterhaltungscharakter Schaden nehmen und der Erholungswert („recreatio“) gemindert werden soll. Vor allem darf das Gespräch aufgrund seines Gegenstandes (chirurgische Kunst, „abschreckende“ Dinge) keinen ernsthaften Charakter annehmen. In der persönlichen Betroffenheit und fehlenden Distanz der Beteiligten, die dieselbe Wirkung haben kann, scheint er dagegen keine Gefahr zu sehen, jedenfalls nicht ausdrücklich. Man kann eine solche Betroffenheit in dem Verb „conferre“ impliziert sehen, das das allgemeine „[ad] conferendum“ („zum Austauschen / Beraten“) des Eingangs hier an einer Stelle aufnimmt, an der ein ernsthafter Informationsaustausch durchaus plausibel erscheint: „potes tamen conferre cum illis de virtutibus et effectibus erbarum, aquarum, f[l]orum et sim[i]lium“ 51 . Ein gewisser Informationswert wird der Konversation in diesem frühen Entwurf also offenbar nicht abgesprochen. 50 So bei Petrarca, der in seiner Invectiva contra medicum (1352) statt des gängigen scholastisch geprägten Gesprächs, das den handwerklichen Charakter des Berufes verdecke, ein humanistisch gebildetes Gespräch zwischen Arzt und Patient fordert. Siehe dazu Klaus Bergdolt, „Der Dialog mit Ärzten aus der Sicht Petrarcas“, in: B. Guthmüller / W. G. Müller (Hrsg.), Dialog und Gesprächskultur in der Renaissance (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung. 22), Wiesbaden 2004, S. 47-58. Petrarcas und Barberinos Gesprächsvorstellungen sind also im Anlass wie auch im Milieu sehr unterschiedlich, nähern sich aber im Ergebnis bemerkenswert einander an. 51 Die Empfehlung „tracta con lor del conservar santade“ lässt ebenfalls den Gedanken an persönliches Interesse zu. <?page no="28"?> 28 Es fällt auf, dass bei den Ärzten wie auch bei den zuvor genannten Gesprächspartnern das Problem der Spezialisten keine ausdrückliche Erwähnung findet, obwohl es wegen der besonderen Gesprächsthemen naheläge. Aus späteren Jahrhunderten ist bekannt, dass diejenigen gefürchtet waren, die mit ihren Spezialkenntnissen langweilten und die Konversation störten, die „pédants“ 52 . Barberino hat sich zu diesem Punkt nur indirekt im Zusammenhang mit der vorausgeschickten Empfehlung geäußert, Anderen nicht durch zu vieles Reden lästig zu werden („Ma che non rincrescessi / guarda“ - „Caveas attamen ne ob nimium illis sis tedium“ 53 ). Sie richtet sich, wie man der Erläuterung des Kommentars entnehmen kann, an beide Seiten, den das Gespräch suchenden Nicht-Spezialisten und den Spezialisten („etiam si tu scias ultra quam ipsi“): Sunt enim quidam qui tantum locuntur quod signi boni [Egidi: siquid boni] dicunt et poterat placere: generant ex superfluitate fastidium. Et etiam sepe sunt in circulo aliqui qui dicere vellent, qui non discernunt, etiam si tu scias ultra quam ipsi qua de re non confidas[,] ad multiloquium si forsan certus sis nullum ibi esse qui sciat nec si te videntur ascultare libenter, cum sepe contingat quod illud quod hostendunt recipere placitum corde gerunt exosum. 54 Es gebe Leute, die beim Reden kein Ende fänden und daher auch im guten Falle Überdruss erzeugten. Oft gebe es in einer Runde auch solche, die reden wollten und nicht davon abließen, auch wenn man mehr von einer Sache verstehe als sie; deswegen solle man nicht allzu vertrauensselig zu einer langen Rede („multiloquium“) ansetzen, auch wenn man sicher sei, dass es unter den Anwesenden keinen Experten gebe und man augenscheinlich Gehör finde; oft werde nämlich äußerlich gelassen aufgenommen, was zutiefst verhasst sei. Reden schade dann mehr als Schweigen. Eine Reihe von Zitaten zu dieser Lebensweisheit mündet in den bekannten Satz „Et illud si tacuisses, phylosophorum fuisses [...]“. Wissen ist für Barberino also kein sicheres Kriterium für das Gelingen einer Unterhaltung. Vielmehr kommt es auf das rechte Maß im 52 Siehe hierzu Ch. Strosetzki, Konversation. Ein Kapitel gesellschaftlicher und literarischer Pragmatik im Frankreich des 17. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1978, S. 87ff. 53 Bd. 1, S. 26, V. 317f. 54 Bd. 2, S. 55, zu V. 317. Obwohl die Stelle syntaktisch schwierig ist, ist der Sinn einigermaßen klar. <?page no="29"?> 29 Reden und die Aufnahmefähigkeit der Zuhörer an. Oder: gute Konversation ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme aller Beteiligten, seien sie Redner oder Zuhörer. Eine Regel, die nicht oft genug betont werden kann, nicht nur in einer Gesprächskultur, die erst im Entstehen begriffen ist. 5. Das Gespräch mit Frauen und das ‚Novellen‘-Erzählen Auf die Gruppe derjenigen, die aufgrund ihrer Profession eine Universität besucht haben und des Lateinischen kundige „licterati“ sind, lässt Barberino eine Gruppe von Gesprächspartnern folgen, die man als ‚höfisch‘ bezeichnen kann, weil die ihr Angehörenden entweder adlig sind oder sich, sei es aus Gründen des gesellschaftlichen Ansehens oder auch nur aus Gründen der Muße, eines höfischen Lebensstiles befleißigen. Angeführt wird diese Gruppe von den „cavalieri“, denen „donne“ und „giovani“ folgen: e tracta di militia tra cavalieri, e d’arme, e di prodeça. Con donne, di netteça e d’onestà, con belle novellette che non sien spesso dette: loda e mantien lor honor e lor stato. E se contra è da lato alchun, rispondi a scusa et a difesa: ch’ell’è vilta, contesa, contra color con chui perde, hom vincendo. Li giovani veggendo d’intorno a te, parlerai di sollaçi; ché perciò non son paçi li savi tal fiata istender l’arco. „Ma per questo io non parco“, dice Ragion a colui che dicesse cosa che non decesse: ch’assai sollaçi son honesti e begli. 55 55 Bd. 1, S. 27, V. 327ff. <?page no="30"?> 30 Für die Unterhaltung mit den „cavalieri“ werden noch einmal tätigkeits- und sachbezogene Themen empfohlen: „tracta di militia / [...] e d’arme, e di prodeça“. Im Fall von „donne“ und „giovani“ kommt es jedoch zu einer weitreichenden Änderung. Zwar heißt es, man solle mit Frauen über „onestà“, „Ehrbarkeit“, „Gesittung“ sowie über „netteça“, „Reinlichkeit“, „Wohlerzogenheit“, „Eleganz“ reden 56 , über Dinge und Verhaltensweisen also, für die sie bekanntermaßen und vor allem in der höfischen Gesellschaft zuständig waren. Der Zusatz „con belle novellette“ ergänzt die Forderung aber um den ästhetischen Aspekt („belle“) und „che non sien spesso dette“ fügt noch den Charakter der (Quasi)Neuigkeit bzw. der Unverbrauchtheit der Rede hinzu. Wie kommt es zu dieser Abweichung? Und was haben solche Erzählungen mit dem Thema „netteça e onestà“ zu tun? Im Kommentar zur Stelle meldet sich ein gewisser „Garagraffulus Gribolus“ zu Wort. Dieser ist eine fiktive Figur, die in den Documenti d’amore bald in der Rolle des begriffsstutzigen Schülers auftritt, bald in der des Widerspruchsgeistes eine vorgetragene Lehrmeinung angreift 57 . So auch hier: Inter dominas etc. Dixit Garagraffulus Gribolus quod ista erat mala lictera, et allegavit Ovidium, De arte amandi, et alios pro se multos allegavit, etiam dicta domine Auliane de Anglia et domine Bonbachaie de Pisis, et dicta 56 In der lateinischen Übersetzung sind ital. „onestà“ und „netteça“ zu „munda et honestatis eloquia“ zusammengezogen: „Inter dominas, munda et honestatis eloquia cum delectabilibus, nec dictis sepius recita novellettis“ (Bd. 1, S. 27). Munda kann hier auch „wohlgeformt“ bedeuten und sich auf den sprachlichen Ausdruck beziehen. Im allgemeinen Sinne von „gesittet“, „gebildet“ bzw. „Gegenständen der Gesittung, der Bildung“ legt Barberino das Adjektiv mundus (und das davon abgeleitete Verb) der Docilitas in den Mund: „Vos iuvenes [...] venistis ad meam presentiam ut per mea monita corda vestra mundentur et munda congnoscant, per que possent notari [...].“ (Bd. 2, S. 29, zu V. 125) 57 Vgl. seine Charakterisierung in der folgenden Episode, in der (allegorische) Äpfel unter den Schülern verteilt werden sollen: „Surrexit Garagraffulus Gribolus, qui ad istas scolas ex casu accesserat vice ista, et inquid: ‚Quid de pomis istis facturi sumus, et quomodo illa inter tot homines dividemus illesa? Melius - inquid - faceres si bona dares commestibilia poma nobis.‘ Rixerunt ex hiis ex astantibus plurimi: erat enim iste novus in scolis, et tanquam novitius loquebatur et erat preterea moris sui ut videbis in partibus libri huius in glosis, semper se ad omnia contrarium ponere, ac diversis modis homines fatigare.“ (II, 6, Bd. 2, S. 330, zu V. 3360) <?page no="31"?> 31 domini Guillelmi de Bergadamo, subiungens quod ipse volebant audire de hiis que pertinent ad amandum [...]. 58 Frauen wollten, so behauptet er, vor allem von Liebe reden hören („de hiis que pertinent ad amandum“). Das bewiesen die Ars amandi Ovids 59 , die „dicta“ des Trobadors Guilhem de Berguedan, der als ein großer Frauenverführer galt 60 , sowie Aussprüche zweier offenbar adliger Frauen, einer domina Auliana aus England und einer domina Bonbachaia de Pisis 61 . Der Einwand, der hier erhoben wird, gibt einen gängigen Vorwurf der klerikal geprägten Laienkultur gegen den höfischen Amorbegriff und die Rolle der Frau in der höfischen Kultur wieder, gegen den sich Barberino selbst immer wieder verwahrt hat 62 . An dieser Stelle bedient er sich zu seiner Widerlegung des scholastischen Disputationsschemas. Der Einspruch des Garagraffulus Gribolus liefert ein Gegenargument, die obiectiones „Sed contra“, gegen das zuvor gesetzte höfische Argument („Videtur, quod non“) 63 . Darauf antwortet Barberino zunächst im Ganzen (responsio principalis, „Respondeo dicendum“), indem er den Einwand mit Hilfe der Unterscheidung von „bonae“ 58 Bd. 2, S. 57, zu V. 329. 59 Wohl das Werk als Ganzes, keine einzelne Äußerung. 60 Vgl. Biographies des troubadours. Textes provençaux des XIII e et XIV e siècles, hrsg. von J. Boutière, A. H. Schutz und J.-M. Cluzel, Paris 1964, S. 527 (Nr. XCIII); ferner Il Novellino, S. 223ff. (Nr. XLII). 61 Nach Albertazzi, Bd. 2, S. 57, Anm. 289, handelt es sich bei der letztgenannten um eine Monna Bombaccaia contessa di Montescudaio. Zur nicht weiter bekannten Auliana aus England siehe Thomas, Francesco da Barberino et la littérature provençale en Italie, S. 172, Anm. 2. 62 So bereits im Kommentar zum Proöm der Documenti d’amore: „Ubi tamen de mundano [amore] expresse locutus vel tacite locutus videor, [...] et si non ad Amorem divinum adaptari possint, non dubito me unquam de illicito amore locutum, sed licitum commendans illicitum semper damnavi et dampno.“ (Bd. 2, S. 27) Siehe auch oben, S. 16, Anm. 24. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang seine gewundenen Ausführungen zur höfischen Tugend der „pietate“ („Ista ponitur loco misericordie divine“) und ihrem Gegenstück „crudeltate“ (u.a.: „quedam superba durities, nullo rationis motu iuvata nullisque limitibus conclusa, sed omni effrenata et cruda voluptate circumdata.“), sowohl im italienischen Text wie besonders im Kommentar (Bd. 1, S. 8f., V. 75ff.; Bd. 2, S. 23 und 20). 63 Zur scholastischen Disputationsmethode siehe M. Grabmann, Die Geschichte der scholastischen Methode ( 1 1909/ 1911), 2 Bde., Reprint Graz 1957, Bd. 1, S. 316ff.; Bd. 2, S. 220f. <?page no="32"?> 32 und „malae [dominae]“ zurückweist und die letzteren von der Überlegung ausschließt: Non recito effrenata verba ipsius, sed dico quod male locutus est. Nam aut loquitur de bonis aut de malis; si de malis, liber iste non tractat de illis; si de bonis, plana est lictera. 64 Dann setzt er sich mit dem Gegenargument selbst auseinander (responsiones ad obiectiones, „Ad primum“): Et esto quod alique truffas forsan referri appertenent [appeterent, Egidi], dico quod si eis placere desideres, honeste loquentem magis te amabunt et ne dum bone, verum etiam male, sique interfuerint, te laudabunt. Talium tamen laudes non queras. In favorem huius lictere facit quod Folchettus de Marsilia inquid, quod qui honestam amat magis amat quam qui vagam, cuius scilicet honeste habita gratia carior extimatur et intimius conservatur; hoc in lingua sua. 65 Auch wenn manche Frauen wirklich die leichte Unterhaltung lieben sollten („esto quod alique truffas forsan referri appeterent“ 66 ), so werde man selbst noch bei den schlechten unter ihnen („ne dum bone, verum etiam male“), an deren Zustimmung freilich nichts gelegen sei, mehr Erfolg mit gesitteten Gesprächen haben. Als Beweis für diese Behauptung („In favorem huius lictere“) verweist er auf den Trobador Folquet de Marseille, der gesagt habe, wer eine sittsame Frau („honestam“) liebe, liebe mehr als einer, der nur eine schöne („vagam“) liebe; auch werde die Gunst, die eine sittsame Frau in Ehren gewähre („cuius [...] honeste habita gratia“) höher geschätzt und vertraulicher behandelt („carior estimatur et intimius conservatur“). Nun hat Folquet de Marseille, soweit uns bekannt ist, eine derartige Äußerung nicht getan. In einer Tenzone zwischen ihm und einem Trobador mit Namen „Tostemps“ geht es zwar um die Frage, ob eine sittsame Frau, auch wenn sie dem Liebhaber ihre Zuneigung nicht zeige, einer anderen vorzuziehen sei, die sich wohl zuvorkommend erweise, dies aber bei mehreren Liebhabern zugleich tue, es geht aber nicht darum, ob die Liebe zu 64 Bd. 2, S. 57f., zu V. 329. 65 S. 58. 66 Ich folge Egidis Lesart. „Truffa“ scheint nach altfranzösischem „trufe“ bzw. italienischem „truffa“ gebildet zu sein. Für letzteres gibt Battaglia die Bedeutung „sciocchezza, baia, chiacchiera“ an (Grande Dizionario della lingua italiana, Bd. 21, Torino 2002, S. 424). <?page no="33"?> 33 der einen oder der anderen als solche größer oder besser sei 67 . Die eine wie die andere Streitfrage hat freilich mit der Auseinandersetzung um die rechte Art der Unterhaltung mit Frauen nicht unmittelbar zu tun. Auch gibt nicht etwa Folquet de Marseille, sondern Tostemps der ehrbaren Frau den Vorzug. Doch wird in der Tenzone die höfische Position bekräftigt und der weit über höfische Kreise hinaus bekannte und angesehene Folquet hat immerhin ihr Thema gestellt. Vorausgesetzt, Barberino beziehe sich tatsächlich auf diese uns erhaltene Tenzone, so hat er sie ins Grundsätzliche gewendet und aus dem Streit um den Vorzug der Dame einen Streit um die größere Liebe gemacht („honestam amare“ = „honeste“ oder „magis amare“), den er mittels einer weiteren verdeckten Gleichsetzung („honeste amare“ = „honeste loqui“) als Argument in der Auseinandersetzung um die rechte, nämlich höfische Art der Unterhaltung mit Frauen einsetzt („In favorem huius lictere“). Letztlich läuft seine Argumentation auf die Äquivalenz von „honeste(am) amare“ und „honeste loqui“ hinaus, wobei Ziel das „honeste loqui“ ist, für das er die Autorität des Folquet de Marseille bemüht. Anregungen zu diesem „honeste loqui“, fügt er hinzu, finde der Leser in vielen Teilen seines Werkes, dazu „novellettae“ im Überfluss: De honestate ista de qua cum illis habes loqui, habes in partibus pluribus huius libri et maxime infra in parte IJ in tertio documento; de novellettis autem sine fine invenies in hoc libro ut ita loquar. (Ebd.) Eher nebenbei zitiert er dann eine Äußerung des Trobadors Peire Raimon, der mit solchen kurzen Erzählungen viel Erfolg bei seiner Dame gehabt habe („ad se honeste amandum multum adtraxerat“): Et dixit in lingua sua petrus Raymundi quod cum istis brevibus novellettis animum domine sue ad se honeste amandum multum adtraxerat. contra quem est Augustinus scilicet quod nunquam cum eis aliter debemus loqui quam aspere. (Ebd.) 67 PC 155, 24. Vgl. Le poesie di Folchetto di Marsiglia, krit. hrsg. von P. Squillacioti, Pisa 1999, Nr. XXIV, S. 430ff. Am nächsten kommen dem von Francesco da Barberino wiedergegebenen Gedanken die Verse 37-40: mas de bona dona prezan say qu’en es pus ondratz sos dos: sitot no . m fay d’amar semblan no . m cal, sol m’am ses cor vaire. <?page no="34"?> 34 Zwar führt er gegen dieses Vorgehen sogleich ein Dictum des Kirchenvaters Augustinus ins Feld, aber der Stelle lässt sich doch entnehmen, dass es offenbar eine höfische Tradition für das Erzählen vor Frauen gab und dass er um diese Tradition wusste. Tatsächlich ist altfranzösischen Liebesratgebern und okzitanischen „ensenhamens“ zu entnehmen, dass das Erzählen ein Bestandteil des höfischen Liebesgespräches sein konnte. Sogar im lateinischen Liebestraktat des Andreas Capellanus begegnet man ihm. Dort erzählt in dem Dialog „Loquitur nobilis nobili“ der adlige Liebhaber seiner adligen Partnerin, wie er zufällig in den „paradisus Amoris“ gelangt ist und dort gesehen hat, wie die Frauen im Jenseits je nach ihrem Liebesverhalten auf Erden belohnt und bestraft werden. Die Positionierung dieser Erzählung auf einem mittleren sozialen Niveau, nämlich zwischen dem der „plebeii“, wo nur das Notwendigste an Worten gemacht wird, und dem der „nobiliores“, die Beispiele höchster höfischer „facundia“ vorführen, ist ein Hinweis darauf, dass Erzählen unter den höfischen Redeformen ein mittleres Ansehen genoss. Jedenfalls steht für Andreas Capellanus das Erzählen, das durch Veranschaulichung überzeugt, deutlich unter der argumentierenden Redeform. Erzählen ist dafür aber einer größeren Zahl, eben den „nobiles“, zugänglich, zu denen beide Dialogpartner gehören. Ganz oben in der Hierarchie der höfischen Diskursformen stand natürlich der Vortrag poetischer Texte der Trobadors mit musikalischer Begleitung in großer Öffentlichkeit. Der visionsartigen Erzählung vom „paradisus Amoris“ und der Belohnung und Bestrafung der Frauen im Jenseits war in der Folgezeit ein großer Erfolg in der höfischen didaktischen Literatur beschieden: Noch im Decameron findet sich ein Echo in der „caccia infernale“ der Novelle V, 8. In den direkten altfranzösischen Nachfolgetexten von De amore (Drouart la Vache, Livres d’amours, um 1290; Livre d’Enanchet, vor 1250 in Oberitalien entstanden 68 ) ist bei einem insgesamt reduzierten höfischen Diskurssystem das Erzählen jedoch auf der Strecke geblieben. Dafür fällt ihm in den Liebesratgebern Consaus d’amours und Commens d’amours, beide wahrschein- 68 Erhalten in einer Abschrift aus dem Jahr 1287. Vgl. Das Livre d’Enanchet, hrsg. von W. Fiebig (Berliner Beiträge zur Romanischen Philologie, Bd. 8,3/ 4), Jena/ Leipzig 1938, S. XXXVf. und XLIII. <?page no="35"?> 35 lich von Richard de Fournival verfasst (vor 1260 bzw. 1250), eine umso wichtigere Rolle zu. Im Consaus d’amours, einem streng gegliederten, philosophisch inspirierten Traktat in achtzehn Kapiteln, in dem der Verfasser eine bald als „bele tres douce suer“, bald als „douce damoisele“ 69 angeredete Dame über die höfische Liebe belehrt, wird das Erzählen zur Einstimmung auf die Werbungsrede vor einer großen Dame empfohlen, der der Liebhaber sich nicht ohne weiteres zu erklären wagt. In diesem Fall soll er sich zunächst mit Geschichten von Liebe und Liebesfreuden Gehör bei ihr verschaffen, bevor er in einem geeigneten Augenblick seine Liebeserklärung vorträgt: [...] et quant il verra que la dame l’orra volentiers parler, si doit contes conter ki toukent a amours, et de coses ki toukent a soulas et a joie; et lors, quant il verra point de toukier, entre ces paroles, de se matiere, si prenge hardement en son cuer, et moustrece belement sa proiere et sa besoingne: „Ma dame [...].“ 70 Für die Frau gelten andere Regeln. Sie darf dem Mann zwar durch Blicke, Gesten und auch Worte ihre Liebe zu erkennen geben, aber keinesfalls eine „priiere d’amours“ äußern: Savés que la femme doit faire lors: ele doit atraire l’homme u en maniere de parler a lui d’aucune besoigne, u en maniere de juer, et lui moustrer samblant d’amours u par regardemens amoureus, u par biau parler amiabliement, sans faire nule priiere. Car a ce ne m’acorderai je ja, que femme doive priier homme d’amours; mais tous autres samblans puet ele bien moustrer, par coi ciex se puist bien apercevoir de l’amour k’ele a a lui; et se ciex est si malostrus k’il ne s’en sace apercevoir, s’en soit li damages siens. 71 Ob unter das „biau parler“ der Frau das Erzählen einschlägiger Geschichten fällt oder welche höfischen Redeformen sonst dazu gehören, bleibt jedoch ungeklärt. Am Schluss seines Traktates erzählt der Autor selbst die Geschichte vom „paradisus Amoris“ aus De amore, das er einst als junger Ritter betreten haben will und aus dem er reumütig und eines Besseren belehrt zurückgekehrt sei 72 . 69 Il Consaus d’amours, I, 1 u. ö., bzw. VI, 1 und VII, 11. Text nach: „Il Consaus d’amours di Richard de Fournival“, hrsg. von G. B. Speroni, Medioevo Romanzo Bd. 1/ 1974, S. 215-278. 70 Il Consaus d’amours, XIII, 4, S. 265. 71 XIV, 1f., S. 266. 72 XVIII, 1ff., S. 275ff. Was der Autor mit diesem Selbst-Beispiel bezweckt, ob er der Gemeinschaft der Liebenden nur ein weiteres Mitglied gewinnen <?page no="36"?> 36 Auch im Commens d’amours, in dem in Form eines Mustergesprächs zwischen zwei Liebenden die höfische Liebeswerbung im engeren Sinne vorgestellt wird, gehört das Erzählen zunächst in die Vorbereitungsphase. Der Liebende soll durch Seufzer und Blicke seine Gefühle kundtun, dabei weder zu forsch noch zu zaghaft sein und nicht mit Parallelgeschichten sparen: Et por chou il ne doit mie estre trop hardis ne trop cowars; trop hardis, pour trop tost commencier sa proiere; trop couvars, k’il ne laisse mie oubliier sa besoigne, et qu’il ne li face souvenir d’amer par amours par aucun biau mot, si comme d’amoureuses hystoires, ou de Troies ou d’autres, et en contant biaus examples, si comme Paris ravi Helayne et Tristrans Yseut. 73 Sobald er glaubt, sein Gegenüber in der rechten Weise vorbereitet zu haben, soll er es unauffällig mit höfischen Worten ansprechen: Et quant il voit qu’il a bien fait son commencement par biaus samblans dire et moustrer, et par devant li souvent souspirer doucement, si ke ele puist en son corage concevoir et penser et jour et nuit ke il le voeille amer, dont doit il, quant lius et tamps vient, parler a li courtoisement en encontrant, sans li arrester, pour les mesdisans; et doit dire ensi […]. 74 Hier ist, eingehender noch als im Consaus d’amours, beschrieben, wie der Mann durch seine Worte und Gesten und vor allem durch geeignete Erzählungen die Phantasie der Frau mit Gedanken vom Lieben und Geliebtwerden beschäftigen soll - „li face souvenir d’amer par amours“ - solange, bis sie sich vorzustellen beginnt, dass er sie lieben wolle 75 . Recht präzise sind die für diese Wirkung geeigneten Geschichten bezeichnet: Heldentaten aus Liebe wie die aus trojanischen oder anderen Sagen bekannten („amoureuses hystoires, ou de Troies ou d’autres“) und herausragende Liebesgewill oder ob er die „bele tres douce suer“ auch zur Liebe zu seiner Person überreden will, bleibt offen, da auch die Schlussbitte mehrdeutig ist: „Et je pri Diu que il vous laist assener a boine amour et loial, de lekele vous puissiés bien joïr; si vous pri que vous priiés Diu ke il me laist, par se misericorde, prochainement joïr de mes amours. Amen.“ (XVIII, 17, S. 278) 73 „Li Commens d’amours de Richard de Fournival(? )“, hrsg. von A. Saly, Travaux de linguistique et littérature Bd. 10, 2/ 1972, S. 21-55, hier: S. 43, Z. 77-83. 74 Ebd., Z. 83-88. 75 Nach Andreas Capellanus ist die Liebe eine „passio quaedam innata procedens ex visione et immoderata cogitatione formae alterius sexus“ (De amore I, 1, S. 3: „Quid sit amor“). Der Vorschlag Richard de Fournivals zielt auf die Konditionierung dieser „cogitatio“ beim Gegenüber. <?page no="37"?> 37 schichten wie die von Paris und Helena oder Tristan und Isolde („biaus examples, si comme Paris ravi Helayne et Tristrans Yseut“) sollen es sein. In dem anschließenden Gespräch zwischen Liebhaber und Dame gibt es sodann mehrere, zum Teil breit ausgeführte erzählende Einlagen, deren Umfang von zwei bis zu siebzig Zeilen reicht. Acht von ihnen trägt der Mann vor, der auch den größten Teil des Gespräches bestreitet, nur eine die Frau, die generell nur kurze Einwände (eingeführt durch „Ele respondera par aventure“) erhebt. Der größere Teil der Beispielgeschichten von meist dunkler Herkunft wird in Beziehung zur Situation der Konversationspartner gesetzt 76 , bisweilen nur in eine Beziehung metaphorischer Art 77 . In den länger ausgeführten Geschichten ist die Applikation ein kasuistisches Kunststück 78 . In Richard de Fournivals Liebesabhandlungen tritt uns das Erzählen also in zwei, wo nicht drei Funktionsvarianten entgegen: als ein einstimmendes, die Phantasie der Zuhörerin anregendes Erzählen in einem allgemein unterhaltenden Gespräch, das dem Liebesgespräch vorausgeht; als ein demonstratives, überredendes Erzählen innerhalb des Liebesgespräches bzw. der Liebesbelehrung, und als ein Erzählen mit kasuistisch-spielerischem Charakter, das in den längeren Erzählungen des Commens d’amours das exemplarische Erzählen ablöst. Hinsichtlich der Themen kann auch ein scheinbar fernerliegendes Geschehen als Exemplum dienen, sofern es nach dem „sensus allegoricus“ auf die Liebessituation anwendbar ist. Bei den frei schwebenden unterhaltenden Erzählungen und auch bei den in das Liebesgespräch eingebundenen komplexeren bzw. uneindeutigen Fällen scheint dagegen die Liebesthematik obligat zu sein. Schließlich lässt sich noch festhalten, dass hauptsächlich der Mann sich als Erzähler betätigt. Grund dafür ist seine generelle Vorrangstellung im Liebesgespräch, die sich aus der Werbung und deren Begründungs- und Überredungszwängen, also aus seiner Rolle als höfischer Liebender ergibt. Der Frau hingegen fällt gemeinhin die Rolle der Zuhörerin zu. Daneben genügen ihr für die ihr von den höfischen Spielregeln auferlegte Zurückhaltung und Ablehnung schon knappe Erwiderungen. 76 Beispiele 1, 2 und 5. 77 Beispiele 3 (Fesselung), 4 (Belagerung) und 7 (Vergiftung). 78 Beispiele 6, 8 und 9. <?page no="38"?> 38 Es kommt indessen auch vor, dass beide, Mann und Frau, abwechselnd erzählen. Dies ist der Fall im anglonormannischen Donnei des amants eines unbekannten Verfassers vom Ende des 12. Jahrhunderts, das uns in 1244 Achtsilbern erhalten ist 79 . Wie die Bezeichnung „Le Donei des amanz“, die sich im Text selbst findet 80 und nach prov. domnei zu domnejar, ,den Hof machen‘, ,umwerben‘, gebildet ist, schon besagt, handelt es sich um ein Liebesgespräch bzw. eine galante Unterhaltung. Im Text wird dafür auch noch der Ausdruck „desputeisun“ gebraucht (V. 141). Träger der Unterhaltung ist ein nicht näher bestimmtes Liebespaar, das der Autor an einem schönen Frühlingstag in einem Garten belauscht hat und dessen Gespräch, insbesondere die „ensamples“ (V.145), er in Reime gesetzt und aufgeschrieben hat, zur Erinnerung für die „gevene gent“, vor allem aber für einen nicht mit Namen genannten „juvenals“, der sich daran ergötzen und zur rechten Zeit daraus Nutzen ziehen soll 81 . Im „donnei“ selbst geht es nun vordergründig nicht mehr, wie in den bisherigen Liebesgesprächen, um erste Annäherung und Liebeserklärung, sondern um den Liebesbeweis. Der Mann fordert ihn mit dringenden Bitten und Klagen, die Frau verweigert ihn mit allerlei Befürchtungen und Ausreden. Daraus ergibt sich ein lebhafter Redewechsel, in dem zuerst der Mann mit literarischen Beispielen von weiblichem Mut aufwartet („Or pernez garde de Heleine, / E de Didun e de Ymaine, / E de Ydoine e de Ysoud“, V. 391-393) und dazu eine Geschichte von einem nächtlichem Treffen Isoldes mit Tristan erzählt (V. 453-662) und dann die Frau mit Beispielen von männlichem Undank kontert (V. 684-712) und ihrerseits eine passende Geschichte vom Undank einer Schlange gegenüber ihrem Retter erzählt (V. 753-928). Es folgen eine weitere Erzählung des Mannes sowie längere Reden der Frau, die vielleicht Kommentare zu vorausgegangenen Erzählungen waren, denn 79 Le Donnei des amants, hrsg. von G. Paris, Romania Bd. 25/ 1896, S. 497-541 (Text und Beschreibung). 80 S. 502, V. 115f.: Ki demande de cest roman[z], Le Donei ad num des amanz. 81 S. 503f., V. 173-208. <?page no="39"?> 39 der erhaltene Text ist ganz offensichtlich unvollständig 82 . Es deutet aber alles darauf hin, dass das Erzählen nicht nur gleichgewichtig auf beide Geschlechter verteilt war, sondern dass es faktisch schon ein Erzählen um des Erzählens willen war, so wie es im höfischen Liebesgespräch ja das Argumentieren um des Argumentierens willen gab 83 . In den provenzalischen „ensenhamens“ lässt sich das Erzählen im höfischen Liebesgespräch zwar nicht mit ähnlich konkreten Beispielen belegen, wohl aber lässt es sich erschließen. Zudem erscheinen hier erstmals feste Termini, nämlich die Ausdrücke „novela“ und „(unas) novas“, ersterer zwar noch nicht in der uns bekannten Bedeutung, sondern in allgemeinem Sinne für höfische Unterhaltung, letzterer für Erzählungen über höfisches Verhalten, die ein „joglar“ vorträgt. So rät Amanieu de Sescas in seinem Ensenhamen de la donzela, einen lästigen und aufdringlichen Liebhaber, den die „donzela“ vom Thema abbringen möchte, ohne auf unhöfische Weise grob und kurz angebunden zu sein, um „novelas“ anzugehen: Et si fort vos enueia son solatz e . us fa nueia, demandatz li novelas: „Cals donas son pus belas, o Gascas o Englezas, ni cals son pus cortezas, pus lials ni pus bonas? “ E s’il vos ditz: „Guasconas“, respondetz ses temor: „Senher, sal vostr’onor, las donas d’Englaterra son gensor d’autra terra. […].“ 84 82 Zu den Lücken und ihrer Ausfüllung siehe die Vermutungen von Gaston Paris, Le Donnei des amants, S. 528ff. Zur literarischen Einordnung der Erzählungen ebd., S. 534ff. 83 Die Beteiligung beider Geschlechter, die Verschiebung der Proportionen zwischen Dialog und Erzählen zugunsten des letzteren, das seinen Zweck in sich selbst findet, die breit gestreute Thematik der (vermuteten) Erzählungen, die Liebenden in der Erzählerrolle und der Garten als Ort der Veranstaltung - all dies sind Merkmale, die eine typologische Verwandtschaft des Donnei des amants mit dem Decameron Boccaccios nahelegen. 84 Zitiert nach: Testi didattico-cortesi, S. 237-256, hier: S.245, V. 303ff. <?page no="40"?> 40 Hinter dem Ausdruck „novelas“ verbergen sich hier, wie das angeführte Beispiel zeigt, joc partit-ähnliche Fragen und Antworten. Garin lo Brun, dessen „ensenhamen“ für die „domna“ das älteste erhaltene Beispiel der Gattung überhaupt ist, sieht im „gen parlar“ den höchsten Ausdruck weiblicher „cortezia“; als seine allgemeinen Grundsätze nennt er „bel respos“, „bon acuillimen“, „un breu saludar“ sowie überlegtes und ruhiges Sprechen, Schweigen- und Zuhörenkönnen usw., als spezielle Formen das Liebesgespräch und die öffentliche Liebesgeselligkeit. Zu letzterer verweist er auf die Formen der troubadoresken Lyrik („vers novels ni chanços“, „sons e lais“, V. 525 bzw. 541), bei ersterem auf Redeformen, die mit einer Reihe von Synonymen („parlamenç [...] avinenç“, „bels diz“, „bels solaz“, „plazers“, V. 329ff.) bezeichnet werden, welche ganz allgemein ‚Rede gemäß höfischen Wertvorstellungen‘ bedeuten und beiden Geschlechtern zugänglich sind 85 . Das Wort „novella“ fällt in einem Passus, der den Dienerinnen der „domna“, „sas serviris privadas“ (V. 231-242), gewidmet ist. Diese sollen nicht nur ihrer Herrin ergeben dienen, sondern auch ihr Äußeres pflegen, höfisch gesittet und sprachlich gewandt sein: e s’on gen las apella de neguna novella, sapchan se ben defendre e gardar de reprendre. 86 Die zentralen Ausdrücke dieser Stelle entstammen dem Vokabular des „domnejar“, des Frauendienstes: „apellar“ steht mit verschiedenen Zusätzen - „de plus“ (V. 319), „de s’amor“ - für das Werben des Mannes; „se defendre“ steht für die Entgegnung der „domna“ auf dessen Antrag. Von einer erzürnten Antwort für einen ungeliebten Antragsteller, was dem „reprendre“ entsprechen mag, wird abgeraten 87 . Bleibt die Frage, was „novella“ bzw. „apella[r] de neguna novella“ in diesem Zusammenhang bedeutet. Sicher nicht „fa[re] ri- 85 Zitate nach: Garin lo Brun, Insegnamento alla donna, in: Testi didattico-cortesi, S. 53-74. 86 S. 60, V. 239ff. 87 V. 323f.; siehe oben, S. 21, Anm. 41. In Amanieu de Sescas’ Ensenhamen de la donzela begegnet in ähnlichem Zusammenhang das Substantiv zum Verb „se defendre“: „D’autras defensios / podetz far avinens, / si us . play, may de cinc cens, / ses dir deschauzimennns / e ses far falhimens.“ (S. 246, V. 338f.) <?page no="41"?> 41 chiesta di qualche informazione“, um „informazioni sulla loro padrona“ zu erhalten, wie Sansone übersetzt bzw. kommentiert, weil dies kein höfisches Verhalten - „gen apella[r]“ - wäre 88 . „Novela“ bedeutet aber auch nicht „Erzählung“, und zwar schon deswegen nicht, weil die „serviris“ darum angegangen werden 89 und das Erzählen, wenigstens anfangs, eine Sache des werbenden Mannes war, der nicht um Dienerinnen warb. Ebensowenig ist die ursprüngliche Wortbedeutung „Neuigkeit“ hier ausreichend. Am ehesten passt eine erweiterte Wortbedeutung wie ,unterhaltende Rede‘, ,Unterhaltung‘ bzw. Redeweise, die Bestandteil einer (nicht öffentlichen) höfischen Unterhaltung sein kann und um deren Gewährung es an der Stelle gehen würde. Dies träfe sich mit der Wortbedeutung von „novelas“ in de Sescas’ Ensenhamen de la donzela 90 . Auffällig ist auch, dass die mit dem Ausdruck „novela“ bezeichneten Tätigkeiten wieder Personen der mittleren höfischen Hierarchieebene („serviris“, „donzelas“) zugeordnet werden, es sich also um einen Zeitvertreib auf mittlerem Niveau handelt. Das trifft auch auf das Ensenhamen de l’escudier von Amanieu de Sescas zu, in dem der Knappe den in geselliger Runde vorgetragenen „paraulas e razos / e novas e ser- 88 In Sansones Übersetzung lautet die Stelle: „e se con gentilezza si fa loro richiesta di qualche informazione, sappiano ricusarsi opportunamente ed evitare di dir male.“ Der Kommentar dazu: „Nel senso che le ancelle [...] non debbono dare informazioni sulla loro padrona né sparlarne.“ (Testi didattico-cortesi, S. 78 bzw. 93) Es ist jedoch nicht zu sehen, was im Sinne des höfischen Sprechens an einer solchen Befragung aus Neugier „gen“ („con gentilezza“) gewesen wäre, außer es handelte sich um den z.B. von Ovid empfohlenen Versuch, über die Dienerin die Liebe der Herrin zu gewinnen. Abgesehen davon, dass die Abwehr dann nicht Sache der Dienerin gewesen wäre, passt dieser Fall aber nicht in das Schema der höfischen Werbung. 89 Mit „de“ wird hier ein finales, kein instrumentales Objektverhältnis bezeichnet, das mit „ab“ angeschlossen wird. 90 Levy weist für „novela“ auch die Bedeutung ,Geschwätz, Klatschereien‘ nach sowie für „nova“ die Bedeutung ,Gespräch, Unterredung, Unterhaltung‘ (Provenzalisches Supplementwörterbuch. Berichtigungen und Ergänzungen zu Raynouards Lexique roman, Leipzig 1907, Nachdruck: Olms, Hildesheim/ New York 1973, Bd. 5, S. 428 bzw. 426). Als stammverwandt und bedeutungsnah mögen die beiden Wörter gelegentlich ausgetauscht worden sein. <?page no="42"?> 42 mos“ gut zuhören soll, damit er sie „gen retenir“ kann und sie nicht wie die „malapres“ sogleich vergisst 91 . Dem Erzählen als höfische Beschäftigung eines Ritters begegnet man - freilich ohne dass es direkt benannt würde - in dem zwischen 1170 und 1180 verfassten „ensenhamen“ „Qui comte vol apendre ...“ des Arnaut-Guillem de Marsan 92 . Dort liegt eine klassische höfische Lehrsituation vor. Der Ich-Erzähler gibt einem jungen Ritter, der nicht weiß, wie er lieben soll („amar vuelh e no sai“, V. 72), Ratschläge zum rechten ritterlichen Verhalten, wie er selbst sie einst von einem „maistre d’amors“ gelernt hat, und führt ihm zugleich selbst solches Verhalten vor. Es ergibt sich so ein hochritterlicher Lebensentwurf, in dem Reichtum und Gelehrsamkeit als unadlige Lebensziele gering, „iauzimen“ und höfische Sitte, Kühnheit und eine prächtige Ritter-Ausrüstung dagegen hoch geschätzt werden 93 . Auf explizite Anweisungen zum Gespräch mit einer geliebten Dame verzichtet der Erzähler. Dass es aber auch für ihn selbstverständlich zum Leben eines Adligen gehörte, zeigt die Bemerkung, dass die Dame der Liebeswerbung eines Ritters, der prächtig aufzutreten und Ehre zu gewinnen wisse, schneller nachgeben werde: si de s’amor l’apela, ans s’en fa pus isnela. 94 Marsan äußert sich auch zu den möglichen Inhalten solcher galanten Gespräche und zwar an derselben prominenten Stelle, die in höfischen Belehrungen üblicherweise dem Reden eingeräumt wird, am Beginn seiner Belehrung. Die zahlreichen Beispiele höfischer Helden und Liebender, die er dem jungen Ritter zur Nachahmung empfiehlt, sind nämlich ebensoviele Vorschläge für das Liebesgespräch: 91 Testi didattico-cortesi, S. 195-208, hier: S. 198, V. 112ff. 92 Zur Identität des aus einer angesehenen Familie im Südwesten Frankreichs stammenden Arnaut-Guillem de Marsan und zur Datierung seines „ensenhamen“ siehe R. Lejeune, „La Date de l’ensenhamen d’Arnaut-Guillem de Marsan“, Studi medievali Bd. 12/ 1939, S. 160-171. Texthinweise und -zitate nach Testi didattico-cortesi, S. 119-136: Arnaut Guilhem de Marsan, Insegnamento al cavaliere. 93 Siehe V. 169ff. 436ff. 469ff. 479ff. 502. 94 S. 133, V. 525f. <?page no="43"?> 43 Apenretz d’En Paris, com Elena conquis, [...] Aprendetz d’En Tristan, que valc be atrestan. [...] Aprendes d’Eneas: aquel no . us oblit pas, [...] De Linaura sapchatz com el fon cobeitatz e com l’ameron totas donas e . n foron glotas [...] D’Ivans, lo filh del rey, sapchatz dire, per quey fon el pus avinens de negus homs vivens: [...] D’Apoloines de Tir sapchatz contar e dir com el fon perilhat el e tot son barnat, [...] Sapchatz del rey Artus que say que . us valra pus, [...]. 95 Die ersten drei mit „apenretz com“ eingeführten Beispiele sind klare Vorbilder höfischen Verhaltens, ebenso das vierte, mit einem allgemeinen „sapchatz“ eingeführte. Dann folgen, mit „sapchatz dire“ bzw. „sapchatz contar e dir“ angeschlossen, zwei Gegenstände vorbildlicher höfischer Rede, bevor am Ende der Reihe noch einmal das bloße „sapchatz“ wiederholt wird. Jede Empfehlung für sich genommen bezieht sich also entweder auf ein Vorbild höfischen Verhaltens oder auf einen Gegenstand vorbildlicher höfischer Rede. Die ganze Reihe aber kann aufgrund der gleitenden Übergänge und der Bedeutung des Verbs „aprendre“, das sich auf nichtsprachliches ebenso wie auf sprachliches Verhalten beziehen kann, offensichtlich in beiderlei Sinn verstanden werden. Die höfische Rede nun, die hier ins Auge gefasst ist, kann den Umständen nach nur galante oder Liebesrede sein, auch wenn es an konkreten Hinwei- 95 S. 124ff., V. 195-281. <?page no="44"?> 44 sen auf eine Liebessituation fehlt. Dieses Verständnis wird durch die Beispiele und ihre Herkunft gestützt. Es handelt sich nämlich überwiegend um Helden höfischer Romane mit Liebeshandlungen, um Paris aus dem Roman de Troie des Benoît de Sainte-Maure, um Tristan und Eneas aus den nach ihnen benannten Romanen, um Apollonius von Tyros, dessen abenteuerliche Geschichte im Mittelalter in verschiedenen Ländern und Sprachen verbreitet war, um Yvain und Artus aus dem Artuszyklus, sowie um einen gewissen Linaura, einen vorbildlichen Ritter, der aber mehreren Frauen zugleich den Hof machte, worauf er vom eifersüchtigen Ehemann einer dieser Geliebten getötet und der Frau als Speise vorgesetzt wurde; ein nach 1200 entstandener nordfranzösischer Lai d’Ignauré verknüpft mit dieser Figur die Herzmäre 96 . Nicht alles, was von diesen Personen behauptet wird, ist klar und verständlich und in den uns erhaltenen Texten wiederzufinden, etwa die prächtige Kleidung, durch die sich „Ivans, lo filh del rey“ ausgezeichnet habe, oder die Namen und Handlungen derjenigen, die in das gewaltsame Ende von Linaura/ Ignauré verstrickt waren, und das, was über Tristan gesagt wird, wobei es in den beiden letztgenannten Fällen auch erhebliche sprachliche Unklarheiten gibt 97 . Klar ist aber, dass eine Rede über 96 Zu den literarischen Erscheinungsformen der Figur siehe M. di Febo, „Ignauré. La Parodie ‚dialectique‘ ou le détournement du symbolisme courtois“, Cahiers de recherches médiévales et humanistes Bd. 5/ 1998, S. 167-201. Zum provenzalischen Ursprung: R. Lejeune, „Le Personnage d’Ignaure dans la poésie des troubadours“, Bulletin de l’Académie Royale de langue et de littérature françaises de Belgique, Bd. 18/ 1939, S. 140-172; ferner Jean Mouzat, der davon ausgeht, dass es sich um die Figur eines „roman“ gehandelt habe („Remarques sur ‚Linhaure‘ et sa localisation“, in: Mélanges Rita Lejeune, Gembloux 1969, Bd. 1, S. 213-218). François Pirot, Recherches sur les connaissances littéraires des troubadours occitans et catalans des XII e et XIII e siècles, Barcelona 1972, spricht ebenfalls von „roman“, lässt die Ursprungsfrage aber offen (S. 506-514). Von den übrigen Namensnennungen Marsans beziehen sich nach Lejeune nur Paris/ Elena, Tristan und Eneas auf die bekannten nordfranzösischen Romane. Den andern liegen nach ihrer Überzeugung provenzalische Versionen des jeweiligen Stoffes zugrunde („La Date de l’ensenhamen d’Arnaut-Guilhem de Marsan“, S. 169f.). Siehe auch die ausführlichen Erläuterungen von Sansone zu den jeweiligen Namen (Testi didattico-cortesi, S. 156ff.). 97 Zur Divergenz zwischen Chrétien de Troyes’ Yvain und Marsans Charakterisierung der Figur siehe Pirot, S. 477-479. Die sprachlichen Verständnisschwierigkeiten diskutiert ausführlich Sansone, bes. S. 157ff. (zur Tristandarstellung) und S. 161ff. (zu Linaura). <?page no="45"?> 45 diese Helden tendenziell narrative Rede sein musste. Dabei hat man sich natürlich nicht irgendeine große Vortragsform vorzustellen, sondern kurze Erzählungen, bei denen passende Episoden ausgewählt wurden 98 , wie es von einem über gewisse Grundformen des höfischen Redens hinaus nicht weiter gebildeten Ritter zu erwarten war, so wie man es im Donnei des amants sehen kann. Marsan selbst stellt seinem noch unerfahrenen Schüler mit seinen Ausführungen zu den jeweiligen Namen einen Vorrat an solchen ausbaufähigen Kurzerzählungen zur Verfügung. Sein „ensenhamen“ macht also auch für den provenzalischen Bereich das Erzählen im höfischen Liebesgespräch wahrscheinlich, obwohl der Verfasser, vielleicht aus aristokratischem Stolz, sich dazu nur indirekt äußert. Im Übrigen scheint er selbst ein beispielhaft erfolgreicher ‚liebender Erzähler‘ nach Art des Peire Raimon gewesen zu sein, lässt er sein Werk doch mit einer erotischen Ruhmrede und einem Katalog von neun namentlich genannten Damen enden, die ihm ihre Liebe geschenkt hätten, wozu noch all die andern kämen, die ihn im Geheimen geliebt hätten, deren Namen er deshalb verschweigt 99 . Barberinos Empfehlung, Frauen „con belle novellette / che non sien spesso dette“ zu unterhalten, ist also nicht einfach ein Ersatz für fehlende andere Themen im Gespräch mit Frauen, sondern ein bewusstes Anknüpfen an die höfische Gepflogenheit des galanten Erzählens, in dem die gesellschaftlichen Pflichtthemen „onestà“ und „netteça“ mit dem weiblichen Wunschthema der Liebe verbunden werden konnten. Dem höfischen Verhaltenskodex entstammt auch die anschließende Empfehlung, Ehre und Status der Frauen zu loben und aufrecht zu erhalten: „loda e mantien lor honor e lor stato“ (V. 332). Sie war ein Grundgebot ritterlichen Verhaltens, das z.B. Robert de Blois in einer Onor es dames übertitelten Belehrung, die 98 Die Auswahl für das Liebesgespräch mochte dabei nach anderen Gesichtspunkten erfolgen als sie für die didaktischen Absichten des „ensenhamen“ und seine Auswahl maßgeblich waren. So war z.B. Linaura ein Muster höfischer Tugenden, dem es aber an der „mezura“ in der Liebe fehlte (siehe Mouzat, „Remarques sur ‚Linhaure‘“, S. 215), und mit Eneas ließ sich ebensogut für wie gegen die höfische Liebe argumentieren. Die beiden explizit als Redegegenstand eingeführten Helden Yvain und Apollonius dagegen waren als Muster geduldiger Liebe und endlich erfolgter Belohnung ohne weiteres in einem Liebesgespräch zu verwenden. 99 S. 135f., V. 583ff. <?page no="46"?> 46 seinem Enseignement des princes eingefügt ist, in der folgenden Weise formuliert hat: Tout a premier vos chesti mout, Que si vilain ne si estout Ne soiez que nuns de vos die Des dames lait ne vilonie. Mout s’empire, mout se honist Li hons qui vilonie an dist. Qui es dames honor ne porte La soie honor doit estre morte. 100 Barberino selbst verweist auf eine Kanzone des Raimon d’Anjou, derzufolge die Ehrung der Frauen eine Frage der „virtus“ der Männer sei 101 . Die Ehrung der Frauen schloss stets als selbstverständlich auch ihre Verteidigung gegen üble Nachrede ein, von der man im didaktisch-allegorischen Roman des ailes des Raoul de Houdenc lesen kann: Se ilh ot de dame mesdire, K’ilh face une autre chançon dire. Por coi? - Por ce n’est pas raison Que de nule dame par non Oie chevaliers vilonie Dire, qu’il ne la contredie En toz poins, et li doit desplaire; Car, ki cortois est, il doit faire S’amur as dames si comune K’il les aint trestoutes por une. 102 Bei Barberino liest sich das wie folgt: 100 Robert de Blois, Sämmtliche Werke, hrsg. von J. Ulrich, 3 Bde., Berlin 1889-1895, Reprint: Genève 1978, Bd. 3, S. 11 (V. 315-322). Zu diesem Teil des Werkes von Blois siehe auch Segre, „Le forme e le tradizioni didattiche“, in: Grundriss der Romanischen Literaturen des Mittelalters, Bd. VI, 1, S. 101 und Bd. VI, 2, S. 149. 101 „Dominus autem Raymundus de Andegavia, in illa distesa qua tractat de dominabus honorandis, que XXV stantiarum est solum, de hoc videtur concludere, licet non clare, quod ideo a viris honorande sunt domine quia non tenemur, nam si teneremur non esset tantum virtutis in nobis.“ (Bd. 2, S. 70, zu V. 477) 102 Raoul de Houdenc, Li Romans des eles, hrsg. von A. Scheler, Brüssel 1868, V. 329-338. <?page no="47"?> 47 E se contra è da lato alchun, rispondi a scusa et a difesa ch’ell’è viltà, contesa contra color con chui perde, hom vincendo. In der lateinischen Übersetzung: Quod si forsan aliquis e contra surrexerit, ad excusationem respondeas et defensionem ipsarum. Nam vile contendere noscitur contra illos cum quibus si obtineas perdere comprobaris. 103 Gegen solchen Einspruch und gegen misogyne Herabwürdigung, in welcher Form auch immer, sei die Ehre der Frauen aufrecht zu erhalten, alles andere sei schimpflich, erläutert er im Kommentar. Abschätziges Reden über Frauen bringe einem Mann keine Ehre - „si vincis verbis, perdis facto“ -, da jene ohne eigenes Verschulden nicht ‚satisfaktionsfähig‘ seien 104 . Offensichtlich rechnete Barberino damit, dass der eine oder andere Leser seiner Empfehlung zu einem höfischen Verhalten gegenüber Frauen mit Vorbehalt, ja sogar mit Widerstand begegnen könnte. Ob sich solche Vorbehalte infolge des Eindringens ursprünglich bürgerlicher Familien in die städtische Aristokratie verstärkt hatten oder ob Barberino hier nur das übliche Maß an Misogynie berücksichtigt, mag dahingestellt bleiben 105 . Das Faktum als solches spiegelt sich aber noch in Boccaccios Auseinandersetzung mit den Einwänden des Publikums gegen sein Erzählen für Frauen sowie in seiner Selbstverteidigung als galanter Erzähler in der „Introduzione“ zur vierten Giornata des Decameron 106 . An dieser Stelle ist eine Überlegung zum konkreten Ort des höfischen galanten Erzählens angebracht. Entgegen dem Eindruck, 103 Documenti d’amore, Bd. 1, S. 27, V. 333ff. Albertazzi interpungiert: „Quod si forsan aliquis e contra surrexerit ad excusationem, respondeas et defensionem ipsarum.“ Ich folge dem Text von Egidi (Bd. 1, S. 89). 104 „nam non vincis te maiorem, nec parem, [...] nec credas quod si natura eas fecit debiliores, humiliores et timidiores quod non absque ratione contingit sit in eis minor virtus sed minus posse quod non est eorum culpa sed amplioris possibilitatis defectus.“ (Bd. 2, S. 58) 105 „Et quidam sunt qui nituntur cotidie ut auctoritates que faciant contra eas exquirant, et corum [Egidi: eorum] fame detrahant et honori.“ Diese würden freilich auch oft - wegen mangelnder Menchenkenntnis? - von schlechten Frauen hereingelegt: „hos enim tales sepe vidi magis quam alios etiam a vilibus mulierculis decipi et ligari.“ (Albertazzi, Bd. 2, S. 58, zu V. 332) 106 Siehe unten, S. 180. <?page no="48"?> 48 den die Empfehlungen der Liebesratgeber erwecken könnten und den auch die bei Barberino zitierte erotische Ruhmrede des Peire Raimon zu bestätigen scheint, hat man sich beim galanten Erzählen - wie überhaupt beim höfischen ‚Liebesgespräch‘ in De amore oder anderweitig, wofern nicht ausdrücklich anderes vermerkt ist - kein intimes tête-à-tête zwischen Mann und Frau vorzustellen. Vielmehr handelt es sich um eine Begegnung im ‚öffentlichen Raum‘, d.h. an einem Ort und in einer Situation, in denen eine soziale Kontrolle des Verhaltens der Beteiligten gegeben und gesichert war. Konkret heißt dies, dass die gesellige Paarbildung innerhalb größerer geselliger Gruppen stattfand, wie zum Beispiel in Decameron VI, 1, wo im Rahmen einer Reisegesellschaft ein Ritter einer Dame eine Novelle erzählt, um ihr den Weg zu verkürzen. Oder im Prosa-Lancelot, wo die Paare Lancelot/ Guenièvre und Galehot/ Dame de Malehaut Liebesgespräche zu viert führen 107 . Auch in der Malerei sieht man oft in größeren geselligen Gruppen gemischt- oder gleichgeschlechtliche Zweier- oder Kleingruppen, die sich auf die eine oder andere Weise unterhalten, so in der höfischen Gesellschaft im Liebesgarten des Trionfo della morte im Camposanto von Pisa 108 . Dieser gesellige ‚öffentliche Raum‘ des höfischen Liebesgespräches und des galanten Erzählens ist deutlich von der öffentlichen Vortragssituation der Trobadorlyrik zu unterscheiden, die, weil alle auf ein einziges Redezentrum ausgerichtet waren, gewissermaßen ‚große‘ Öffentlichkeit war. Die Brigata des Decameron bewegt sich zunächst in einem solchen ‚öffentlichen Raum‘, bevor mit der Einrichtung des Reihumerzählens eine einheitliche ‚große‘ Öffentlichkeit mit wechselnden Redezentren hergestellt wird 109 . Wie gesehen, stellt Barberino in seiner Empfehlung zur Unterhaltung mit Frauen das Erzählen in den Zusammenhang der höfisch vorgeschriebenen Ehrung der Frauen. Das schließt eine Änderung der ursprünglichen Gesprächssituation ein, die er im Kommentar erläutert. Nachdem er dort nämlich zunächst das Vorgehen des Peire Raimon, sich die Anziehungskraft des Erzählens erotisch zu- 107 Siehe auch unten, S. 192. 108 Vgl. L. Battaglia Ricci, Ragionare nel giardino. Boccaccio e i cicli pittorici del Trionfo della Morte (Piccoli Saggi), Roma 2 2000 ( 1 1987), mit Abbildungen. 109 I, „Introduzione“, 103ff. und 111f. <?page no="49"?> 49 nutze zu machen, mit dem Ausspruch des Augustinus zurückgewiesen hatte, dass man niemals anders als barsch mit Frauen reden solle („nunquam cum eis aliter debemus loqui quam aspere“), erklärt er nun, sein Rat, vor Frauen zu erzählen, sei ohnehin anders gemeint und schließe ein Verhalten wie das des Peire Ramon schon an sich aus: […] lictera ista loquitur non de dominabus quas quidam amant carnaliter, sed de coniuntis et de illis que presunt nobis, scilicet quia viri eorum [sic] sunt domini nostri et expedit necessario coram illis ex casu sepe nos loqui, et de illis cum quibus occurrit ut sepe colloquium licitum habeamus. 110 Nicht um die Aufwartung vor Frauen, die man liebe, gehe es, sondern um die Aufwartung vor Frauen, denen man durch Verwandtschaft und Freundschaft verbunden sei („coniuntae“ 111 ), sowie vor solchen, deren Männer „unsere Herren“ seien. Denn es geschehe nicht selten, dass man unverhofft vor diesen sprechen müsse („expedit necessario coram illis ex casu sepe nos loqui“). Die Nötigung zur Rede vor höhergestellten Frauen („ill[ae] que presunt nobis“) ergab sich aus der Lebensform der „Herren“ („domini nostri“), in den italienischen Städten also aus der Lebensform des alten und neuen Adels, die ritterlich-höfisch war und nicht auf den Adel beschränkt blieb, sondern nach Barberinos eigener Aussage mehr und mehr auch von anderen Ständen übernommen wurde 112 . Zu den sozialen Pflichten gehörte daher die Ehrung der Frauen, in die Barberino neben den erwähnten Äußerungen des Lobes und der Erge- 110 Bd. 2, S. 58, zu V. 329. 111 Zur Bedeutung dieses Begriffs vgl. die über Liebesbeziehungen hinausgehenden Beziehungen der Mitglieder der Brigata im Decameron sowohl zwischen den Frauen: „si ritrovarono sette giovani donne tutte l’una all’altra o per amistà o per vicinanza o per parentado congiunte“ wie zwischen Frauen und Männern: „alcune ne fossero congiunte parenti d’alcuni di loro“. Besonders hervorgehoben wird die Wortführerin Pampinea: „la quale a alcun di loro per consanguinità era congiunta“ (I, „Introduzione“, 49. 79 und 87). 112 Vgl. die Äußerung im Reggimento e costumi di donna: „[...] fuor gentilezza di nazione, molti son popolari artefici e altri assai, e anco ricchi, che vogliono menare como gentili lor modi e lor vita [...]“ (Reggimento e costumi di donna, S. 16). Zur Übernahme des adligen ‚modo di vita‘ durch Bürgerliche siehe W. Paravicini, Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters, München 1994, S. 51. <?page no="50"?> 50 benheit 113 nun auch das zwanglose, kurzweilige Gespräch einschließt. Für diese öffentlichen sowie für nicht näher erläuterte „colloqui[a] licit[a]“, in denen kein bestimmter Redegegenstand vorgegeben war, soll man die „novellettae non sepius dictae“ bereithalten. Damit überführt er die höfische Gepflogenheit des Erzählens vor Frauen aus dem galanten höfischen Liebesgespräch in eine gesellige Situation in größerer Öffentlichkeit, von der geringere erotische Gefahren ausgehen. Wer aber auf Sicherheit bedacht sei, fügt er an, solle sich lieber an den Rat des Augustinus halten: „Securius tamen credo consilium Augustini.“ (Ebd.) Angesichts der Affektsublimierung, die in einem höfischen Gespräch mit Frauen zu leisten war, war dieser Rat durchaus angebracht. Indem Barberino die höfische Gepflogenheit des Erzählens aus der Liebesgeselligkeit in eine öffentliche gesellige Situation überträgt und sie in den Mittelpunkt einer darin unumgänglichen Unterhaltung zwischen den Geschlechtern stellt, entwickelt er erstmals in Italien eine Vorstellung vom geselligen sprachlichen Umgang zwischen Männern und Frauen 114 , wie er einige Jahrhunderte später als galante Konversation zum sprachlichen Standard der europäischen Gebildeten gehören sollte. Ganz nebenbei greift er damit auch der literarischen Entwicklung in der Novellistik vor. 6. Die Unterhaltung mit „giovani“ Auch die sich anschließende Empfehlung zum Gespräch mit den „giovani“ geht über die sachlichen ersten Gesprächsempfehlungen hinaus. Klarer noch als im Fall des Gesprächs mit Frauen gibt Barberino hier ein freies Thema vor: „Li giovani veggendo / d’intorno a te, parlerai di sollaçi“ 115 . „Sollaçi“ lässt sich mit ,kurzweilige Unterhaltung‘ übersetzen und dürfte auf die Redeform der „facetiae“ 113 Vgl. dazu seinen Hinweis: „De hiis quidam que ad ipsarum laudem pertinent habes supra documento secundo satis plene.“ (Bd. 2, S. 58) 114 In den Empfehlungen für die Erziehung der Frauen im später fertiggestellten Reggimento e costumi di donne ist er freilich sehr viel restriktiver und warnt vor den Gelegenheiten, die Diebe machen. Siehe im Folgenden, S. 73f. und S. 78f. 115 Die lateinische Übersetzung dazu: „Coneris preterea si iuvenes coram te videris solatiosa referre.“ (Bd. 1, S. 27) <?page no="51"?> 51 zielen, auf das „parlar piacevole per indurre riso e festa con gentil modo“, um es mit einer Formulierung aus späterer Zeit zu sagen 116 . Die scherzhafte Rede zwischen Wortwitz, Spott und schwankhafter Erzählung war seit jeher eine Männerdomäne. Für Cicero sind „facetiae“, die zum Lachen bringen, ein ebenso angenehmer wie nützlicher Bestandteil der öffentlichen Rede, weil die durch sie erzeugte Heiterkeit dem Redner Wohlwollen, Bewunderung und Erfolg einbringt und weil sie ihn als jemanden erkennen lassen, der Anstößiges durch Lachen zu entschärfen vermag 117 . Dafür verlangen sie Rücksichtnahme auf die Zuhörer, auf Sachverhalt und Zeitpunkt der Rede („rationem [...] hominum, rei, temporis“, LVI, 229) sowie Mäßigung beim Scherzen („moderatio“, LIX, 238). Possenreißerei und mimische Clownereien sind zu vermeiden („ne aut scurrilis iocus sit aut mimicus“, LIX, 239), zotiges Reden ist verpönt, übrigens auch bei Männergelagen („obscenitas, non solum non foro digna, sed uix conuiuio liberorum“, LXII, 252). Bedeutende Redner haben sich durch „facetiae“ hervorgetan (LXXI, 290). Soweit Ciceros Einlassungen zu diesem Redegenre im forensischen und epideiktischen Kontext. Petrarca, der sich in seinen Rerum memorandarum libri auf Cicero bezieht, sieht den Zweck der „facetiae ac sales“ vornehmlich in der Erholung von der Anspannung ernsten Redens: Pars eloquentie lenior in manibus est. Ut enim in cogitationibus inque actibus humanis, sic in verbis quoque seriis contracta fatigatio iocorum vicis- 116 Baldassarre Castiglione, Il libro del Cortegiano, hrsg. von B. Maier (Classici Italiani. 31), Torino 3 1981, S. 260 (II, 42). Der Name der Gattung geht auf Poggio Bracciolinis Sammlung Facetiae (entstanden 1438-1450, gedruckt ab 1470) zurück. 117 „Suauis autem est et uehementer saepe utilis iocus et facetiae“; „[...] est plane oratoris mouere risum: uel quod ipsa hilaritas beniuolentiam conciliat ei, per quem excitata est; uel quod admirantur omnes acumen, uno saepe in uerbo positum, maxime respondentis, non numquam etiam lacessentis; uel quod frangit aduersarium, quod impedit, quod eleuat, quod deterret, quod refutat; uel quod ipsum oratorem politum esse hominem significat, quod eruditum, quod urbanum, maximeque quod tristitiam ac seueritatem mitigat ac relaxat odiosasque res saepe, quas argumentis dilui non facile est, ioco risuque dissoluit.“ (De oratore, II, LIV, 216 und LVIII, 236, zitiert nach: Cicero, De oratore, hrsg. und übers. von E. Courbaud, Paris 4 1966, Bd. 2, S. 96 und 105.) <?page no="52"?> 52 situdine mitigatur. Quod genus vel facetiae appellare possumus vel sales, quod sermonibus nostris sapidissimum condimentum prebeant [...]. 118 Dann gibt er eine Zusammenstellung römischer, griechischer und moderner Beispiele, darunter auch einige „iocos[a] muliebr[a] verb[a]“ 119 . Auch für Poggio Bracciolini ist es ehrbar und dazu oft notwendig, sich durch Scherzreden von anhaltender Sorge zu erholen und Entspannung und Heiterkeit zu finden: Honestum est enim ac ferme necessarium, certe quod sapientes laudarunt, mentem nostram variis cogitationibus ac molestiis oppressam, recreari quandoque a continuis curis, et eam aliquo iocandi genere ad hilaritatem remissionemque converti. 120 So hätten es schon unsere Vorfahren, „prudentissim[i] ac doctissim[i] vir[i]“, gehalten 121 . Poggios Männergesellschaft des „bugiale“ verzichtet dabei durchaus nicht auf misogyne und anzügliche Reden 122 . Schließlich hat Giovanni Pontano Ciceros risus-Lehre aufgenommen und fortentwickelt. In seinem 1509 veröffentlichten Traktat De sermone löst er die „facetudo“ aus dem rhetorischen Kontext und macht sie zur Unterhaltungs- und Konversationskunst 118 Rerum memorandarum libri, hrsg. von G. Billanovich (Edizione nazionale delle opere di Francesco Petrarca, Bd. 14), Firenze 1943, S. 68, I, 37 („De facetiis ac salibus illustrium“). 119 Von vierundzwanzig Abschnitten (mit teilweise mehreren „dicta“) enthalten drei Abschnitte „dicta“ von Frauen, darunter zwei moderne Beispiele und ein römisches. 120 Gian Francesco Poggio Bracciolini, Facezie, hrsg. von M. Ciccuto, Milano 1983, S. 108. 121 „[N]ostros Maiores, prudentissimos ac doctissimos viros, facetiis, ioci et fabulis delectatos [...].“ (S. 108) Unter den Humanisten gibt es die Auffassung, dass Witzreden, bissige Ironie und spöttische Rede wegen der notwendigen sprachlichen Gewandtheit generell den Gebildeten vorbehalten seien; siehe hierzu R. Schnell, „Männer unter sich - Männer und Frauen im Gespräch. Geschlechterspezifische Aspekte der Konversation“, in: ders., Konversationskultur in der Vormoderne, S. 387-440, bes. S. 391ff. Zu den antiken philosophischen Anfängen der Gattung sowie ihrer Entwicklung im Frühhumanismus siehe H. Weber, „La Facétie et le bon mot du Pogge à Des Périers“, in: Humanism in France at the End of the Middle Ages and in the Early Renaissance, hrsg. von A. H. T. Levi, Manchester/ New York 1970, S. 82-105, bes. S. 83ff. 122 Zu diesem Zug in der Unterhaltung mittelalterlicher und humanistischer gelehrter Männergesellschaften siehe ausführlicher Schnell, „Männer unter sich“, S. 396ff. 399ff. <?page no="53"?> 53 schlechthin 123 , deren Vertreter in jeglicher Rede über ein zivilisiertes, „urbanes“ Sprechen hinaus mit launigen Worten die Zuhörer unterhalten und erfreuen: Et urbanos quidem vocavere, quod ii oratione uterentur et cive et eo qui in urbe conversaretur digna [...]; facetos vero, quod in congressionibus collocutionibusque domesticis, familiaribus item ac popularibus in sermonibus, verba cum iucunditate facerent cumque audientium voluptate ac recreatione. 124 Anders als der „urbanus“, der sich Sprache, Sitten und Institutionen der Stadt aneignet, ist ein „facetus“ derjenige, der beim Reden auf Zerstreuung und Erholung von des Lebens Mühsal sinnt, der seine Rede mit Witz zu würzen weiß, der durch Erzählen von Geschichten und kurzweiligen Vorfällen Sorgen vertreibt und Kummer besänftigt, der nie die „urbanitas“ aufgibt und ins Bäurische oder Ungesellige verfällt, wenn es die Sache selbst nicht verlangt, der so wenig wie möglich mit Worten angreift, außer wenn er herausgefordert wurde, und auch dann noch höflich bleibt, der auf Zeit, Ort, Publikum und seine eigene Stellung Rücksicht nimmt und Maß hält in Wort und Scherz, damit er sich nicht selbst lächerlich macht. Schließlich weiß ein „vir facetus“, dass die Mühe, die er auf die witzige Rede verwendet, eher zur Erholung beiträgt als bloßer Müßiggang 125 . Natürlich vermeidet er auch anstößiges Reden und bewahrt in allem die Haltung eines Ehrenmannes 126 . 123 Siehe M. Hinz, Rhetorische Strategien des Hofmannes. Studien zu den italienischen Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1992, S. 196- 198. 124 De sermone libri sex, hrsg. von S. Lupi und A. Risicato, Lucani 1954, S. 9, I, 8. 125 „[...] qui e iocis suavibusque e dictis oblectationem tantum quaerat ac recreationem post labores, qui et salem habeat in dicendo et quae ipse dicit tanquam illo condiat, qui leporem admisceat, qui verba apta idonea concinnata iocisque accommodata usurpet, vultumque illis adiungat ubi opus est ac gestum, qui fabellis narrandis recitandisqe iocosis ac ludicris rebus et curas sedet et deliniat molestias, qui non discedat urbanitatis e finibus aut e cive in rusticum atque agrestem transeat ex ingenuo in servum aut servo persimilem, ni forte res ipsa ita tulerit; qui minime volens offendat dictis, nisi lacessitus, idque tamen urbane; qui et temporis et loci et audientium et sui ipsius et quam gerit personae et aetatis et negociorum et publicae privataeque letitiae habeat ac tristitiae moerorisque rationem idque cum primis curet, et in singulis ut retineat modum, ne et verba profundat et iocos; qui denique summo id studio videat, ne, cum alios in risum provocat, ipse ab <?page no="54"?> 54 So weit wie Pontano geht Barberino in seiner Empfehlung nicht, und das nicht nur, weil er Ciceros Schrift De oratore wohl noch nicht gekannt hat 127 , sondern auch, weil es sich beim Gespräch mit den „giovani“ ja nur um einen Teilaspekt der Gesprächskunst handelt, die er vermitteln will, nicht um das Gesamtideal des redegewandten Städters bzw. Höflings oder des Redners, das seine Mitstreiter entwerfen 128 . Dennoch fügen sich seine Bemerkungen zu den „sollaçi“ mühelos in die Tradition der Fazetiendiskussion ein. So verwendet er das zentrale Motiv der Entspannung und argumentiert, dass selbst die Weisen gelegentlich den „Bogen entspannen“, ohne deswegen „paçi“ zu sein: ché perciò non son paçi li savi tal fiata istender l’arco. In der lateinischen Übersetzung: cum propterea, si quandoque arcum laxaverint sapientes, minime videantur insani. 129 Wenn man nämlich den Bogen beständig unter Spannung halte, werde man im rechten Augenblick den Pfeil nur auf eine mittelmäßige Bahn lenken 130 . Weil Verbissenheit („nimia assiduitas“) ebenso schädlich sei wie Müßiggang („otiositas“), ruhe der Weise bisweilen aus, um seine Tatkraft zu stärken. Genauso solle man ab und zu seine Sorgen durch Freuden unterbrechen: astantibus risui habeatur trivioque dignior iudicetur quam honestorum atque ingenuorum hominum audientia ac consessu; demum etiam qui intelligat, perinde ut cessatio omnis quiesque conceditur relaxandi gratia utque reditus ad labores ac negocia non sit gravis, sic iocos, dicta, sales, lepores facetiasque concedi, ne vitam cogitationesque nostras omnis studiaque in iis collocasse aut in ocio desidiaque aut in marcescentia potius non appareat.“ (S. 17f., I, 12) 126 „[...] oscenitatem ad parasitos et mimos relegabit [...]; ita ut nunquam ab honesto recedat ab eaque animi compositione, quae ingenui hominis est propria.“ (S. 177, VI, 1) 127 Andernfalls hätte er in der lateinischen Übersetzung bzw. im Kommentar wohl den originalen Ausdruck „facetiae“ (statt „solatiosa“) verwendet. 128 Vom „orator“ über den „(vir) urbanus“ bzw. „facetus“ bis zum „cortegiano“ Castigliones reichen die hier einschlägigen Menschenbilder. 129 Bd. 1, S. 27, V. 339f. 130 „[S]i arcum continuo tensum teneas, opportuno tempore modico spatio sagittabis cum illo, et modicum eius ad quod emictetur sagitta operatoribus [Egidi: operabitur] tua.“ (Albertazzi, Bd. 2, S. 58) <?page no="55"?> 55 [...] sapiens dum quiescit agit ut melius agat. Unde interpone tuis quandoque gaudia curis, quia id quod caret alterna requie durabile non est. 131 Die Metapher vom Entspannen des Bogens dürfte von Dante stammen, der sie in der Divina Commedia für die Vernachlässigung höfischer Werte einsetzt, auf die keiner mehr Mühe verwende 132 . Mit der Notwendigkeit des Entspannens zur rechten Zeit hat Barberino ihr eine positive Wendung gegeben. Was die Schicklichkeit betrifft, lässt Barberino nur jene „sollaçi“ zu, die „honesti e begli“ seien, von denen es im Übrigen genug gebe: „Ma per questo io non parco“, dice Ragion a colui che dicesse cosa che non decesse: ch’assai sollaçi son honesti e begli. Per hoc tamen - inquid Ratio - non indulgeo indecentia referenti: cum pulcra sint plurima et honesta solatia. 133 Die Forderung nach Wahrung des Schicklichen bei der Scherzrede kann der Öffentlichkeit der in Frage stehenden Gesprächssituation - „in via o in piaça“ - zu verdanken sein. Sie erfolgt aber ebenso sehr mit Rücksicht auf die Gesprächspartner. Denn die Empfehlung richtet sich ja vornehmlich an „nobiles“ und ihre Nutznießer sind „giovani“, was in diesem Kontext ungewohnt und neu ist. Vielleicht kann sogar der Adressat der Empfehlung selbst ein „giovane“ sein. Die „giovani“ sind aber zweifellos in die Nähe der „jeunes“ bzw. „joven“ der höfischen Gesellschaft zu rücken, die der Erziehung bzw. der „documenti d’amore“ bedurften und in deren Gegenwart daher keine unhöfischen Redeweisen - „cosa che non decesse“ - angezeigt waren. Andererseits galten Lachen und Scherzen in moderater Form - „sollaçi [...] honesti e begli“ - als Teil der 131 Ebd. 132 Purg. XVI, 47f.: „[...] quel valore amai / al quale ha or ciascun disteso l’arco.“ Es spricht Marco Lombardo, ein vollendeter Hofmann, den Giovanni Villani in seiner Chronik „savio“ nennt und dem er eine schlagfertige Antwort gegenüber einem pompös auftretenden Adligen in den Mund legt. Näheres in Die Göttliche Komödie, übers. von H. Gmelin, Kommentar, Bd. 2, S. 260ff. 133 B. 1, S. 27, V. 341ff. Barberinos Übersetzung widerspricht der Deutung, die Albertazzi durch seine Anführungszeichen nahelegt. <?page no="56"?> 56 ‚höfischen Freude‘ 134 , weshalb man sie auch städtischen jungen Adligen nicht verwehren konnte. Barberino führt hier also die ‚urbane‘ Tradition der Fazetien und die höfische Scherzrede zusammen 135 und vermeidet so die in Männergesellschaften übliche Tendenz zu anstößiger Rede, ein Umstand, der gegebenenfalls die Verbindung dieses Konversationstyps mit der Konversation mit Frauen erleichtert, wie wiederum das Decameron beweist. Die Empfehlung für das Gespräch mit den „giovani“ ist also ein weiterer Schritt auf dem Wege zur geselligen Konversation. 7. Die Unterhaltung mit „artigiani“ und „gente tutta maggior“ Barberino hat seine Redeempfehlungen nicht auf den Umgang mit jenen Schichten seiner Heimatstadt beschränkt, die in ihrem Müßiggang ein besonderes Bedürfnis nach geselliger Rede und Unterhaltung entwickelten. Er hat vielmehr auch die arbeitende Bevölkerung, die „artigiani“, einbezogen: Dìcoti ancor di quegli ch’ ànno lor arte, perché veggia bene che con ciascun convene che parli del miglior dell’ arte sua, [...] Onde di lor ti trado: con dipintor dirai del disegnare, e poi del compensare e del continuar co’ lo scriptore; poi dirai col sartore del trar ad ago, e lavorar d’ intagli; di pietre e di crestagli e di cinture all’ orafo ti stendi. 134 Vgl. Th. Zotz, „Urbanitas. Zur Bedeutung und Funktion einer antiken Wertvorstellung innerhalb der höfischen Kultur des hohen Mittelalters“, in: Curialitas. Studien zu Grundfragen der höfisch-ritterlichen Kultur, hrsg. von J. Fleckenstein, Göttingen 1990, S. 392-451, hier: S. 402 und 432. 135 Über den Zusammenhang von „curialitas“ und „urbanitas“ im hohen Mittelalter siehe Zotz, „Urbanitas“, bes. S. 411ff. („elegans et urbanus als höfisches Verhaltensideal im 12. Jahrhundert“). Zur Bedeutungsspanne des Begriffs ‚urbanus‘ zwischen eleganter, scherzhaft-ironischer Redeweise und verfeinerten Umgangsformen siehe ebd. passim. <?page no="57"?> 57 Di confetti contendi, quando ti troverrai con spetiali; di borse e di sendali con setaioli, e di lor conditione. D’ un cappel di falcone, e d’ un bello stampar, col calçolaro; di nèsti e di pomaro, giardini et erbe, col lavoratore; così dal lor amore porai seguir e servigio, e piagere: ché tu non puoi manere sença li lor mistieri alchuna volta. 136 Mit jedem der angeführten Handwerker solle man „del miglior del arte sua“ reden und mit den nicht angeführten solle man es ebenso halten („e tu degli altri, a simil, prendi modo“, V. 374). Dass diese Empfehlungen nicht auf ‚Geschäftsverhandlungen‘ zielen, sondern auf eine allfällige Unterhaltung „in via o in piaça“, ist auch der abschließenden Bemerkung zu entnehmen, dass sich mit ihnen „amore [...] e servigio, e piagere“ der „artigiani“ gewinnen ließen, was gewährleiste, dass man im Bedarfsfalle auf deren Dienste zählen könne („ché tu non puoi manere / sença li lor mistieri alchuna volta“). Auch dem eigenen Ruf nutze es, wenn man die handwerklich Tätigen nicht gering und, wie sinngemäß ergänzt werden darf, eines Gespräches unwürdig erachte, denn die Natur habe jeden auf seine Art mit Würde versehen 137 . Einigermaßen befremdlich wirkt angesichts dieser Empfehlung allerdings der zusätzliche Rat des Kommentars, man solle mit den „artigiani“, wenn man sie nicht verärgern wolle, nicht über die Betrügereien reden, die sie sich zuschulden kommen ließen. Und dann werden diese Betrügereien in einigen Fällen ganz detailliert beschrieben: Si enim eis [sartori] placere intendis, tabulando [Egidi: fabulando] cum illis non loquaris de furtis et dolo ipsorum, de quibus habes infra in parte Prudentie documento XVIIIJ. 136 Bd. 1, S. 28ff., V. 346ff. 137 S. 28, 349ff.: e che la fama tua non puote crescer, se li parvi isdegni: ché secondo sé degni à facti tutti Natura in lor grado. <?page no="58"?> 58 Non enim convenit ut cum eis [spetiali] tractares quomodo fraudant candelas et cerea et quomodo balaustras et alia vilia que per nemora colligunt, et habundanter accipiunt, pro lignis indorum carissima vendunt. Non de ipsorum [setaioli] fraudibus quas ut etiam predicti aurificies vana conperiendo et vilia colorando componunt. […] nec placeres illis [lavoratori] si diceres quomodo in seminibus fructibus et mensuris decipiunt locatores, quomodo frumentis viliora miscent et terram et spelte ac vene palleas minutas precisas atque similia. 138 Offenbar betrügt wenigstens die Hälfte der Handwerker, und dies scheint allgemein bekannt und akzeptiert zu sein. Man erhält hier also Einblick in Spannungen innerhalb der städtischen Gesellschaft, die im Gespräch aber höflich übergangen werden sollen, nicht zuletzt im Hinblick auf den Nutzen der „artigiani“: Quis enim nobilibus in vilibus serviret officiis nisi essent et viles preterea si cum eis vivere sciveris, ne dum in ipsorum artibus verum etiam in armorum exercitiis et aliis onera tibi gravia sublevabunt? 139 Wer nämlich stünde den Adligen in gemeinen Verrichtungen bei, wenn es jene nicht gäbe? Im Übrigen würden sie, wenn man mit ihnen umzugehen wisse, außer in ihrem eigenen Gewerbe auch beim Waffendienst und anderen beschwerlichen Angelegenheiten zur Hand gehen. Nach den „artigiani“ widmet sich Barberino noch einem besonderen Problem („disgroppo un nodo“): der Gesprächssituation „in camera o in sala“. Ma qui disgroppo un nodo, se fossi in camera o in sala poi: ché quivi convien noi certe altre cose veder e notare; (e salvo il ragionare, che cosa nuova, occorrendo, richiede). 140 Anders als „in via o in piaça“ unterliegt das Zusammentreffen von Gesprächspartnern und damit die Unterhaltung „in camera o in sala“ 138 Bd. 2, S. 58f. In dem im ersten Fall genannten „documentum“ des siebten Teils wird noch einmal eine längere Liste betrügerischer Handwerker aufgeführt und diesmal im Zeichen der Prudentia vor ihnen gewarnt (Bd. 1, S. 365f., V. 6120ff.). 139 Bd. 2, S. 61, zu V. 371. 140 Bd. 1, S. 29, V. 375ff. <?page no="59"?> 59 nicht dem Zufall, sondern hat schon aus räumlichen Gründen einen offiziösen oder offiziellen Charakter. Daher gilt es in diesem Fall, über die von jeder neuen Situation geforderte Geistesgegenwart und Anpassungsfähigkeit hinaus noch andere Dinge beim Reden zu beachten. So kann man es etwa mit außergewöhnlichen Gesprächspartnern zu tun haben: S’ un gran signor vi siede, o gente tutta maggior che tu sia, […]. 141 Die als „gran signor“ oder „gente tutta maggior che tu“ Bezeichneten unterscheiden sich durch ihren Rang nicht nur von den einem Gewerbe nachgehenden „artigiani“, sondern offensichtlich auch von den zuvor genannten „cavalieri“ und den adligen oder nichtadligen „licterati“, den „giudici“ und „medici“ aus Familien, in denen man seit Generationen gewohnt war, Ritter zu sein und die Standesehre aufrecht zu erhalten 142 . Sie sind die Großen und Mächtigen aus den alten Adelsfamilien mit politischem und gesellschaftlichem Einfluss, in deren Kreis seit dem 13. Jahrhundert zunehmend reiche Kaufleute und Bankiers der „arti maggiori“, insbesondere der „arte di Calimala“, Aufnahme fanden 143 . Letztere fehlen bemerkenswerterweise in Barberinos bisheriger Aufzählung von Stadtbewohnern, obwohl sie ihren sozialen Aufstieg durch die Übernahme der adeligen Lebensform unterstrichen und daher mit zu den bevorzugten Adressaten der Documenti d’amore gezählt haben dürften. Das Gespräch mit diesen alten und neuen Magnaten stellt nun besondere Anforderungen. 141 V. 381f. 142 Als ein „cavaliere da scudo o [...] solenne giudice o [...] solenne medico o [...] altro gentile uomo li cui antichi ed ello usati sono di mantenere onore, nella cui casa sono o sieno usati d’esser cavalieri“, die für Barberino eine Gruppe bilden: „costor pongo in un grado in questo caso e lasso il più e ’l meno a quella discrezione che Dio dà loro.“ Wenige Seiten später berücksichtigt er neben dem Adel allerdings auch den Reichtum als Grundlage des Ranges: „[…] cavaliere da scudo, giudice o [...] altro che simile grado mantengono per richezza o gentilezza o simile cagione […].“ (Reggimento e costumi di donna, I, S. 14, Z. 1ff., und II, S. 23, Z. 33f.) 143 Zur Entwicklung des Florentiner Adels sowie der sozialen Struktur der Bevölkerung und ihren politischen Implikationen siehe B. Stahl, Adel und Volk im Florentiner Dugento, Köln/ Graz 1965. <?page no="60"?> 60 S’ un gran signor vi siede, o gente tutta maggior che tu sia, dimanderai in pria di che voglion udir, se dicon „parla“. E s’ a così contarla non ti senti fornito, sì aspecta seguir alchuna detta; e se ti manca, il meglio è che tu taccia. 144 Wird man in einer solchen Runde zum Reden aufgefordert, soll man sich zunächst durch Nachfragen vergewissern, was gewünscht wird. Dies gilt allerdings, wie der Kommentar erläutert, nur für diejenigen, die auf alles zu antworten wissen, anderenfalls gibt man sich möglicherweise der Lächerlichkeit preis 145 . Fühlt man sich nicht gewappnet, einer entsprechenden Aufforderung Folge zu leisten, warte man ab, bis die Rede auf etwas kommt, zu dem man beitragen kann. Dies wird bei einiger Erfahrung im Umgang mit Leuten nicht lange auf sich warten lassen. Unter der Randglosse „fabulas occurrere similes“ erläutert Barberino dann an einem Beispiel, wie man „segu[endo] alchuna detta“ eine eigene Geschichte einbringen kann: Et in hoc pono casum. Incipiet unus fabulando tractare de una musipula, vel de uno cane: videbis alios sequi eundem tractatum quasi coacti videantur ad idem [Egidi: .] quo casu inspicienda sunt loca et tempora et persona, et si non convenit de materia illa tractari tunc vel ibidem finge aliquam fabulam reducendo initium tuum per aliquam viam ad propositum, vel funda super aliquo ex dictis eorum aliquam questionem, ne adstantes quid intendas percipiant; et adaptato principio aliquam fabulam prosequaris ad aliam tendentem materiam que ibi conveniat et concludas. Videbis quod illi conclusioni tue adherentes ad similia se convertent, tu autem cum hoc feceris illos altercari permicte [...]. 146 144 Bd. 1, S. 29f., V. 375ff. 145 „[I]stud non est dictum pro omnibus, cum hoc sit expertissimi hominis ad loquendum et qui sciat universaliter respondere: magna enim de te postea fieret derisio si super eo quod petierint non loquaris.“ (Bd. 2, S. 61) 146 Ebd. Diese bemerkenswerte Stelle auf Deutsch: „Ich gebe ein Beispiel. Einer beginnt mit einer Geschichte von einem Mäuschen oder einem Hund. Du wirst sehen, dass die Anderen wie unter Zwang demselben Thema folgen. In diesem Fall musst du Ort und Zeit und Person beachten. Wenn du aber nicht über diesen Gegenstand reden willst, musst du dir entweder eine andere Geschichte ausdenken und deinen Anfang auf irgendeine Weise mit dem Thema verbinden oder du musst zu irgendetwas, was <?page no="61"?> 61 Wenn man aber nichts vorzubringen habe, sei es besser zu schweigen. Auf die Hinweise zur Fortführung bzw. zum Wechsel des Gesprächsthemas folgt der Rat, wie vorzugehen sei, wenn man „cum proprio motu“ ein Thema wählen könne. Zunächst im italienischen Text: E quando parli, abbraccia brievi e gran cose (l’ ordine servato ch’ io t’ ò di sovra dato) [...]. 147 Der Kommentar erläutert dann detailliert, warum in diesem Fall „brievi e gran cose“ angesagt seien: quo casu non formes fabulas et collationes tuas de vilibus, non de muribus, non de ranis, sed de maioribus que tibi occurrunt dum tamen ut hic dicitur inter magnos sis, nam inter parvos loqui magnifica parva essent. Et dic parvos intellectu nam aliquando parvi natione sapientiores sunt maioribus suis natu. 148 Geschichten und Anekdoten über niedere Gegenstände wie Mäuse und Frösche sind für die Großen unangebracht, sie sind etwas für die kleinen Leute, sofern diese, was freilich nicht immer zutrifft, „klein“ an Verstand sind. In einem solchen Fall würden nämlich große Gegenstände zu kleinen gemacht. Auch sollte die Erzählung dem Ort, der Zeit und dem Publikum entsprechend kurz sein. Nicht das ganze Unglück des Apollonius von Tyros solle erzählt werden, sondern etwas, das in der Kürze wirkt 149 und von dem der Erzähler meint, dass es für die Zuhörenden neu ist. Ferner sollten große Taten der Vorfahren erzählt werden, die die Herzen erbauen: gesagt worden ist, eine Frage vorbringen, so, dass die Umstehenden nicht merken, was du vorhast, und dann, nachdem der Anfang gemacht ist, mit einer Geschichte fortfahren, die von einem anderen Gegenstand handelt und dazu passt, und die sollst du zu Ende führen. Du wirst sehen, dass jene sich deiner Rede anschließen und sich Ähnlichem zuwenden. Du aber hast sie auf diese Weise dazu gebracht, das Thema zu wechseln.“ 147 Bd. 1, S. 30, V. 389ff. Welche „Ordnung“ beim Reden zu beachten ist, wurde im „documentum“ I, 5 gezeigt. 148 Bd. 2, S. 61. 149 Diese Forderung löst vorbildlich die Novelle ein, deren „Lakonismus“ sich nicht primär von lateinischen Stilvorbildern herleitet, wie Walter Pabst meint (Novellentheorie und Novellendichtung. Zur Geschichte ihrer Antinomie in den romanischen Literaturen, Heidelberg 2 1967, S. 19). <?page no="62"?> 62 Et nota quod lictera dicit brevia, unde intelligas quod loco tali et tempore ac inter tales te referre non decet totum in Fortunium [Egidi: infortunium] Pollonii, vel Messaticam sed aliqua que habeant in brevitate dulcedinem. Et quod ad illum vel illos quibus loqueris si perpendere poteris habeant novitatem, et ut corda eorum crescere facias, recita de magnificis gestibus precedentium. (Ebd.) Darauf folgt eine lange Liste von Themenvorschlägen „quod in Istoriis legitur“, beginnend bei den Büchern des Alten Testaments, aus denen bevorzugt Wunderwerke wie die prächtige assyrische Stadt Susa, der Tempel Salomons und die Stadtmauer Babylons ausgewählt und auch beschrieben werden, und fortfahrend mit römischen und persischen Kaisern und vielen Kriegen „ex Titu Livio“, den „brevia dicta“ der provenzalischen und den „dicta et actus“ - wohl Kanzonen und Viten - der modernen italienischen Dichter „et multorum proborum“, den Taten griechischer und spätantiker Herrscher sowie, „ubi non omnino sunt vetera“, dem Trojanischen Krieg, der Tafelrunde und den „Facta Brictanie“, bei denen aber die Auslassung der „vilitates Cornuallienses“ gefordert wird, ausgenommen Tristans Geschichte. Die „lectura gestuum“ der mittelalterlichen Epiker wird hingegen wegen ihrer allzu offensichtlichen Unwahrheiten abgelehnt 150 . Diese bunte Sammlung von Gegenständen ist ein aktueller Querschnitt dessen, was damals in der Unterhaltung mit Großen auf Interesse stieß, eingeschlossen deren Sympathien für ‚Weltwunder‘ und Antipathien gegen bestimmte moderne Literatur 151 . Zugleich gibt sie einen Eindruck davon, was man, nicht ohne Mühe, an Bildung erwerben konnte. 150 „De paladinis autem loqui hodie videtur exosum, nec multa cura lectura gestuum Guillelmi de Auringia et similium, quorum fabule tam aperta fingunt mendacia [...].“ (S. 63) Der Überdruss am Heldenepos hat wohl eher mit einem gewandelten Rezeptionsinteresse zu tun; siehe hierzu E. R. Curtius, „Der Archipoeta und der Stil der mittelalterlichen Dichtung“, Romanische Forschungen Bd. 54/ 1940, S. 105-164, bes. S. 131. 151 Schon in Raimon Vidals „Abril’ issia e mays intrava ...“, einem provenzalischen „ensenhamen“ für einen „joglar“ (entstanden zwischen 1211 und 1213), wird zwischen zwei Publikumstypen mit deutlich differierenden Interessen unterschieden: den „homes joves“, die die lyrischen Vortragsformen und geselligen Spielformen lieben (V. 1247ff.), und den „pros“, die mehr Gefallen an höfischen Erzählungen finden (V. 1596ff.). Frauen waren, entsprechend ihrer Rolle in der höfischen Geselligkeit, in beiden Fällen anwesend. Text in: Raimon Vidal, Poetry and Prose, hrsg. von W. H. W. Field, Chapel Hill 1971, Bd. 2: Abril issia. <?page no="63"?> 63 Barberinos letzter Ratschlag zur Sache betrifft den Fall, dass in der Unterhaltung mit Großen auch „mottetti“ erwünscht sein sollten. Diese solle man sich im Geiste gut zurechtlegen, bevor man sie vorträgt: E se persone quelle parlassen di mottetti, dàlli prima ne la tua mente cima, e poi gli parla a punto e brevi e pochi. 152 Weiterhin folgen noch Ratschläge zum allgemeinen Verhalten beim Sprechen, etwa der Rat, zwischen den eigenen Beiträgen auch andere zu Wort kommen zu lassen („e lassa dir in meço a tue novelle“ 153 ), sowie Bemerkungen zum Verhalten beim Vortrag: Sedendo in questi lochi, parli la lingua, e dorman l’ altre membra; [...]. 154 Man soll sich also zurückhalten und möglichst wenig gestikulieren. Im Kommentar dazu wird auf das vorhergehende „documentum“ verwiesen, in welchem sachfremdes, übermäßiges Gestikulieren als kindische Folge einer wenig ,gefestigten‘ und gesitteten Persönlichkeit erklärt worden war: Mover come fanciullo le mani o ’piedi o la testa, o far atti, parlando su gran fatti, semblan fermeça poca del parlante: e mostran lui costante lo fermo star, e costumato, e saggio, e di nobil coraggio: et ognun dice: „Quey sa quanto lice“. 155 152 Bd. 1, S. 30, V. 393ff. Zu den „mottetti“ siehe unten, S. 69ff. und 76ff. 153 V. 392. „novelle“ ist hier keine Gattungsbezeichnung, sondern meint Neuigkeiten, unbekannte Erzählungen. Vgl. auch die Übersetzung ins Lateinische: „et sine quod alii de suis referent novitatibus infra tuas.“ 154 Bd. 1, S. 30, V. 397f. 155 Bd. 1, S. 23, „documentum“ I, 5, V. 257ff. Der Kommentar erläutert dazu: „Movere manus etc. Ista lictera multos tangit. Aliqui enim loquentes tecum dant tibi de digitis in pectus. Alii arengando faciunt ut ystriones actus alii sotios expuendo vituperant et se magis. Alii oculos ad celum levantes se graves hostendunt [...] Alii se super cruribus agitabunt et repercutient palmas suas. Alii interponunt gerundia ut etiam cogitent quid dicturi, et alia infinita similia de quibus intelligit Amor iste.“ (Bd. 2, S. 52) Vgl. auch die <?page no="64"?> 64 Auf eine dem jeweiligen Redeinhalt angemessene Gestik geht Barberino hier nicht ein 156 . Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das „documentum“ I, 6 der Documenti d’amore Empfehlungen für erholsame und gesellige Gespräche mit fast allen Ständen und Einwohnern der Stadt gibt, jedenfalls mit allen, die der Sprache ‚mächtig‘ sind 157 . Diese Anweisungen erfolgen im Namen Amors, d.h. aus der Perspektive und nach Vorgaben der höfischen Kultur, die den städtischen Verhältnissen angepasst werden. Zu den geringsten Veränderungen kommt es bei den müßigen Gruppen adligen Standes oder adliger Lebensart, den „donne“, „giovani“, „gran signor“ und „maggiori“. Die vorgeschlagenen Themen bleiben hier höfisch, zumal im Gespräch mit den Frauen. Im Gespräch mit den städtischen Magnaten werden sie freier und allgemeiner und können das gesamte historische und kulturelle Wissen umfassen. Im Fall der „donne“ und „giovani“ ist die Argumentation stark von Fragen des Anstands - dem richtigen Umgang mit dem anderen Geschlecht bzw. der nicht anstößigen Rede - bestimmt. Doch kommen bereits explizit ästhetische Aspekte ins Spiel, und die der jeweiligen Situation angemessene kurze Erzählung („novellette“, „sollaçi“, Exempla 158 ) gewinnt Erziehung des jungen Mädchens aus gutem Hause: „E s’ella è domandata o mandata a parlare, rispondi e parli temperatamente; e ’l suo parlare sia basso, colle sue mani e l’altre membra ferme, ché ’l movimento e il mutar delle membra significa in fanciulla troppi vezzi, e nella grande mutevole core.“ (Reggimento e costumi di donna, I, S. 10, Z. 37ff.) 156 Zu dieser höheren Stufe der Beredsamkeit siehe etwa Brunetto Latini, La rettorica, hrsg. von Francesco Maggini, Firenze 2 1968, S. 78f. 157 Nicht alle sind dies in gleichem Maße, wie sich sehr schön in der vierten Giornata des Decameron zeigt. In der Novelle IV, 7 ist die des Mordes an ihrem plötzlich verstorbenen Geliebten Pasquino verdächtigte arme Wollspinnerin Simona nicht imstande, das Vorgefallene mit Worten hinreichend zu erklären, weshalb sie bei einer Ortsbegehung dem Richter den Hergang in actu vorführt und dabei ebenfalls an einem vergifteten Salbeiblatt stirbt. Ihr Gegenpol ist die wortgewaltige und stolze Ghismonda der ersten Novelle des Tages, die sich mit einer großen Rede vor ihrem Vater rechtfertigt und diesem die Schuld für ihr Vergehen zuweist. Simona und Pasquino, der für seinen „maestro lanaiuolo“ die Spinnwolle verteilt, gehören zu den „poveri“, die wahrscheinlich nicht einmal in den „arti minori“, hier der „arte della lana“, organisiert waren, Ghismonda ist Tochter des Fürsten Tancredi von Salerno. 158 Im Kommentar zu den Themen der Gespräche mit „maggiori“ heißt es „narra“, „recita“ oder „dic“, und die Quellen werden als „Istoriae“ be- <?page no="65"?> 65 an Ansehen. Alles deutet darauf hin, dass es sich auf dieser sozialen Ebene um eine gesellige Unterhaltung vom Typ der späteren Konversation gehandelt hat. Orte der Unterhaltung waren „sala o [...] camera“, nicht nur im Fall der großen Herren, sondern aus Schicklichkeitsgründen wohl auch im Fall der Frauen 159 . Hingegen passte die Unterhaltung mit „giovani“ auch auf den öffentlichen Platz und die Straße („in via o in piaça“), an denen die Gespräche mit den anderen städtischen Gruppen angesiedelt sind. Obwohl es offensichtlich Gelegenheiten zum längeren Verweilen gab („Se tu sedrai in via / o in piaça con gente [...]“ 160 ), ist von einer größeren Zufälligkeit und Beliebigkeit dieser Begegnungen mit Gesprächspartnern, die nicht höfisch sozialisiert waren, auszugehen. Dem trägt die Empfehlung Rechnung, sich zunächst ein Bild davon zu machen, mit wem man es zu tun hat, sowie der nachfolgende Rat, im Gespräch bei den Tätigkeiten der jeweiligen Partner anzusetzen, was sich je nach Bedarf und Fähigkeiten auch weiterführen ließ. Auf dieser Grundlage konnte sich eine städtische Kommunikationskultur der „urbanitas“ entwickeln, die alle Stadtbewohner einschloss und die zwischen dem kunstsprachlichen Charakter der festlichen Begegnungen in der höfischen Gesellschaft auf der einen und der ‚Sprachlosigkeit‘ und „rusticitas“ der ländlichen Bevölkerung auf der anderen Seite neue Möglichkeiten der sprachlichen Geselligkeit bis hin zur Konversation eröffnete. Wie groß der Beitrag der Documenti d’amore zur Realisierung dieses Entwurfs einer städtischen Kommunikationsgesellschaft war, ist schwer zu sagen. Nach der Zahl der erhaltenen Handschriften zeichnet. Der Thematik nach (große Taten, Schicksalsfügungen) tendieren solche Erzählungen zum Exempel. Die Randnotiz „exempla“ bezieht sich an dieser Stelle allerdings primär auf die vom Autor intendierte Beispielfunktion der gesamten Aufzählung. 159 Die Frauen „unserer Herren“ („domini nostri“), die es zu unterhalten gilt, deuten auf ‚geschlossene‘ Veranstaltungen hin. 160 Bd. 1, S. 25, V. 293f. Siehe auch die verschiedenen Tätigkeiten, die beim Zusammensitzen in der Öffentlichkeit verrichtet werden und die ein Vorübergehender mit seinem Gruß tunlichst nicht stören soll: „Bona doctrina est hec, ut si aliquem [vides] sedere cantantem, vel legentem aut plures insimul conferentes, vel alia facientes per que colligis illos sedere libenter tu, qui bene scis quod si ad eos accesseris surgent, non molestes per accessum tuum quietis commodum eorundem, si vitare potes.“ (I, 13, Bd. 2, S. 99, zu V. 734) <?page no="66"?> 66 scheint der Einfluss des Werkes eher gering gewesen zu sein 161 . Dagegen steht jedoch das Zeugnis Boccaccios, der bestätigt, dass Barberinos Schriften auch ein halbes Jahrhundert nach ihrer Fertigstellung noch in hohem Ansehen standen 162 . Aber selbst wenn die Documenti d’amore eher ein Dokument guter Absicht als gelungener Umsetzung sein sollten 163 , verdient ihr bisher unbeachtet gebliebenenes Konzept geselliger Unterhaltung alle Aufmerksamkeit. 8. Redeformen für die städtische Geselligkeit „Regulae amoris“ und „motti obscuri amoris“ Die Documenti d’amore enthalten zwei Sammlungen von Redeformen, die einen mehr oder weniger starken Unterhaltungscharakter haben, nämlich die 150 „regulae amoris“ im fünften und die 50 161 Es gibt nur zwei Handschriften aus dem frühen Trecento, das Autograph (Barberiniano 4076) sowie eine weitere, unvollständige Fassung (Barberiniano 4077), an der der Autor mitgewirkt hat. Zwei weitere Handschriften datieren aus dem späten 14. oder frühen 15. Jahrhundert. Hierzu Egidi, I Documenti d’amore, Bd. 4, S. XIVff.; Albertazzi, I Documenti d’amore, Bd. 1, S. IXff. Das geringe Echo könnte dem komplexen Gesamtentwurf und der damit verbundenen Zweisprachigkeit anzulasten sein. Parducci macht für die „poca fortuna“ der höfischen Verhaltenslehren in der Toskana (und auch für ihre formalen und inhaltlichen Besonderheiten) die schwierigen ritterlichen Lebensverhältnisse im Commune di Firenze verantwortlich (Costumi ornati, S. 162). 162 „[...] Franciscum de Barbarino [...] hominem quidem honestate morum et spectabili vita laudabilem. Qui, et si sacros canones longe magis quam poeticam noverit, non nulla tamen opuscula rithimis vulgari ydiomate splendidis, ingenii sui nobilitatem testantia, edidit, que stant et apud Ytalos in precio sunt.“ (Genealogie deorum gentilium, hrsg. von V. Zaccaria, in: Tutte le opere di Giovanni Boccaccio, hrsg. von V. Branca, Bd. 7-8, Milano 1998, Bd. 2, S. 1531f. [XV, 6]) Die Forschung hat sich bis in neueste Zeit allzu bereitwillig und ausschließlich das zwiespältige Urteil über die poetischen Fähigkeiten Barberinos zu eigen gemacht. 163 Wie so oft kommt hier das Decameron unserer Vorstellungskraft zu Hilfe, indem es den nicht zuletzt auf Sprache gegründeten ‚höflichen‘ Umgang der niederen und höheren Stände miteinander vorführt. So in der Novelle von „Cisti fornaio“, der, weil mit einer „anima nobile“ ausgestattet, Messer Geri Spina und die päpstliche Gesandtschaft auf elegante Weise dazu bringt, seinen Wein so zu trinken, wie dieser es verdient (VI, 2). <?page no="67"?> 67 „motti obscuri amoris“ im sechsten „documentum“ ihres zweiten, der Industria unterstellten Teils 164 . Die größere Gruppe der „regulae amoris“ ist in metrischer Form gehalten und verbindet Belehrung mit Unterhaltung. In meist drei oder vier gereimten Sieben- oder Elfsilbern handeln die „regulae“ von Gegenständen „que ad bene agendum vel malum vitandum, seu bene loquendum pertinere censetur“. Man könne sie nach altem Brauch auch Sprichwörter nennen, erklärt der Autor - „forte proprius possent hec proverbia vel parabole appellari“ 165 -, der die „regula“ daher als „brevis utilitas ordinata“ definiert (ebd.). Von welcher Art die Inhalte sind, zeigen einige Beispiele: Poco val cominciare o meço intrare, a chi del fin non si puote laudare. 166 Megli’è divider che perder la preda, e danno ognun leggero chi sa portar è saggio per riparar contra l’altro ch’è maggio. 167 Non è honesto tutto ciò che lice, né lice sotto spetie d’onestate con tinta cappa covrir falsitate. 168 Wie man an der Alltäglichkeit der zitierten Regeln erkennen kann, ist der Begriff „amor“ in dieser Sammlung in einem noch weiteren Sinne als im Titel der Documenti d’amore zu verstehen, nämlich als (rechte) Lebensführung oder Lebensweisheit schlechthin. Nach Barberinos eigenen Worten finden sich die meisten dieser nützlichen Hinweise mit anderen Worten auch in anderen Teilen seines Werkes. Von Nutzen sei die Sammlung dennoch, weil sie gewissermaßen einen Auszug für denjenigen biete, der nicht das Ganze besitze, und weil die Glossen wie ein Register zu diesem Ganzen dienen könnten. Auch seien die „regulae“ wegen ihrer Kürze leichter im Gedächtnis zu behalten als die „documenta“ 169 . Die „regulae 164 Albertazzi, Bd. 1, S. 135-181 und S. 183-193. 165 „antiquorum mos fuit probata verba et deliberata in se utilitatem habentia proverbia appellare.“ (Bd. 2, S. 238, zu V. 2220) 166 Regula III, Bd. 1, S. 135. 167 Regula VII, Bd. 1, S. 136. 168 Regula XXVIII, Bd. 1, S. 142. 169 „[R]espondebo: [...] quia qui librum totum habere non posset, cum istis regulis poterit pertransire. [...] quoniam ex istorum glosis quasi per tabulam <?page no="68"?> 68 amoris“ sind demnach eine eher ‚pragmatische‘, auf die allgemeine Lebenspraxis bezogene Redeform, die nicht mehr als den Namen mit den 31 „regulae Amoris“ des Andreas Capellanus gemein hat, die sich strikt auf die höfische Liebe beziehen. Dies zeigt sich auch im Kommentar, wo Barberino zu jeder einzelnen Regel eine Gebrauchssituation vorführt. Zu der zitierten siebten Regel z.B. erzählt er die Geschichte vom Kaufmann, dem ein Straßenräuber seine beiden Pferde mitsamt der Ware wegnimmt. Der Räuber wird kurz darauf von einem zweiten Räuber vor die Wahl gestellt, freiwillig eines der Pferde oder mit Gewalt beide herzugeben. Als er sich weigert, nimmt der andere ihm nach einem Kampf beide Pferde ab. Dem neuen Besitzer begegnet der Kaufmann, der, als er erfahren hat, was geschehen ist, dem Räuber mit der besagten Regel antwortet und darauf die Hälfte seines Besitzes zurückerhält: Tunc mercator dixit ad eum verba istius regule: ita ex hiis motus Ghinus unum restituit sibi equum. 170 Hier wird zunächst die Lebensweisheit ‚wer nicht teilen kann, wird alles verlieren‘ in actu am Fall des ersten Straßenräubers demonstriert, der sich weigert zu teilen und darauf unter Gewaltanwendung alles hergeben muss. Sodann wird am Beispiel der erneuten Begegnung des Kaufmannes mit dem zweiten Räuber die Macht der Rede vorgeführt, da dieser, ohne auf weitere Gewalt zu rekurrieren, sich der Macht des Wortes und der Einsicht beugt. Der hier zum Ausdruck kommende Glaube an die Wirkung der Erfahrung wie auch des Wortes, das diese Erfahrung festhält und thematisiert 171 , zeugt von großem zivilisatorischem Optimismus, ist aber wohl auch die Voraussetzung für eine derartige Sammlung. Der Autor jedenfalls gibt sich überzeugt, dass ein mit den in den „regulae amoris“ niedergelegten Erfahrungen wohlversehener Leser jeder Lebens- und Gesprächssituation gewachsen sein werde: libri materie licet non singule sed pro maiori parte, ad notitiam revocantur. [...] quia brevitate sua facilius quam documenta poterunt memorie commendari.“ (Bd. 2, S. 239f., zu V. 2220) 170 Bd. 2, S. 244. 171 Der erste Überfall geht noch ‚sprachlos‘ vonstatten ohne die Aufforderung zum Teilen. <?page no="69"?> 69 [...] pauci poterunt de aliquibus tecum loqui, ut si has bene ad manum habeas, non plene valeas respondere cum illis. 172 Einen stärker geselligen und ausgesprochen sprachspielerischen Charakter haben die „motti“ oder „mottetti“ 173 . Daniela Goldin hat sogar von einem „gioco poetico di società“ gesprochen 174 . Für die „mottetti“ gilt dasselbe wie für die „regulae“: „que in ipso [documento] dicuntur, sunt pro maiori parte in partibus aliis libri dicta“ 175 . In ihrem Fall ist das Gemeinte zudem an den anderen Stellen „forte clarius et utilius quam hoc loco“ gesagt, während es des erläuternden Kommentars bedarf, um die „mottetti“ selbst zu verstehen, die „copert[i], obscur[i], pulcr[i], et duplic[es] aliquando“ sind 176 . Dies hat seinen Grund darin, dass man diese Redeform dann verwendet, wenn man nicht oder nicht von jedermann verstanden werden will: [...] expedit [...] certorum usum habere mottorum, cum voluerimus ad [Egidi: ab] astantibus non intelligi vel si ad [ab] aliquibus non ad [ab] omnibus qui nobiscum existent. 177 Dafür kann es mehrere Gründe geben. Entweder möchte man Einspruch erheben, ohne damit allgemeines Missfallen zu erregen: [...] cum aliquis non laudandum laudat in publico vel contra laudandum vituperat, tuque interrogatus vel a te motus respondens times illis omnibus displicere, nec vis a veritate diverti. 178 oder man ist selbst in indirekter Weise angegriffen worden und kann weder direkt antworten noch schweigen: Aliquando etiam occurrit quod aliquis in publico per indirectum te tangit. Cui si respondeas aliquando te accusas, si omnino taceas confiteri aliquando videreris. 179 172 Bd. 2, S. 239. 173 Barberino verwendet beide Formen im Italienischen wie im Lateinischen unterschiedslos, häufiger jedoch „mottetto“ bzw. „mottettum“. 174 „Un gioco poetico di società: I ‚mottetti‘ di Francesco da Barberino“, Giornale storico della letteratura italiana Bd. 150/ 1973, S. 259-291. 175 Bd. 2, S. 313, zu V. 3128. 176 Bd. 2, S. 314; ebenso im italienischen Text: „quegli / coverti, oscuri, e begli / e doppi alquanti“ (Bd.1, S. 182, V. 3137f.). Goldin spricht von „trobar clus“ („i Mottetti sono [...] una prova isolata e paradossale di trobar clus“, S. 260). 177 Bd. 2, S. 314, zu V. 3128. 178 Ebd. 179 Ebd. <?page no="70"?> 70 In diesen Fällen kann die dunkle Ausdrucksweise eines „mottetto“, in dem man entweder „per modum duplicem vel metaphoricum“ spricht oder über Dinge, die nur von Eingeweihten verstanden werden, die angemessene Antwort sein 180 . Die „mottetti“ stellen erhebliche Ansprüche an die sprachliche, rhetorische und metrische Kunstfertigkeit des Redners 181 , weshalb sie wohlbedacht und ausgefeilt sein müssen 182 . Eine metrische Form müssen sie aber nicht notwendig haben, und je nach Anlass und Beteiligten („ut loca exigunt tempora et persone“) können sie „licteraliter vel vulgariter“, lateinisch oder volkssprachlich, abgefasst 180 Boccaccio preist das Motto als besonderen Schmuck der Rede, dessen verdeckter oder schwer verständlicher Sinn nicht jedem zugänglich ist; wegen seiner Kürze hält er es zudem für eine Redeweise, die Frauen besonders angemessen sei, von diesen aber inzwischen schändlicherweise vernachlässigt werde: „Valorose giovani, come ne’ lucidi sereni sono le stelle ornamento del cielo e nella primavera i fiori ne’ verdi prati, cosí de’ laudevoli costumi e de’ ragionamenti piacevoli sono i leggiadri motti. Li quali, per ciò che brievi sono, molto meglio alle donne stanno che agli uomini, in quanto piú alle donne che agli uomini il molto parlare e lungo, quando senza esso si possa far, si disdice, come che oggi poche o niuna donna rimasa ci sia la quale o ne ’ntenda alcun leggiadro o a quello, se pur lo ’ntendesse, sappia rispondere: general vergogna è di noi e di tutte chi vivono. Per ciò che quella vertú che già fu nell’anime delle passate hanno le moderne rivolta in ornamenti del corpo [...]. Io mi vergogno di dirlo, per ciò che contro all’altre non posso dire che io contro a me non dica: queste cosí fregiate, cosí dipinte, cosí screziate o come statue di marmo mutole e insensibili stanno o sí rispondono, se sono addomandate, che molto sarebbe meglio l’aver taciuto; e fannosi a credere che da purità d’animo proceda il non saper tralle donne e co’ valenti uomini favellare, e alla loro milensaggine hanno posto nome onestà, quasi niuna donna onesta sia se non colei che con la fante o con la lavandaia o con la sua fornaia favella: il che se la natura avesse voluto, come elle si fanno a credere, per altro modo loro avrebbe limitato il cinguettare.“ (Decameron, I, 10, 3ff.; Teilwiederholung in VI, 1, 2f.) Die Mehrzahl der Motti in der sechsten Giornata des Decameron wird übrigens von Männern vorgebracht. 181 Goldin hat diese Kunstfertigkeiten, mit besonderem Akzent auf dem „ludismo grafico“ und auf der Metrik, detaillierter beschrieben („Un gioco poetico di società“, S. 265-271). Siehe auch ihre Bemerkungen zu einzelnen „mottetti“ (S. 272-290). Die graphischen Spielereien weisen zumindest Barberinos „mottetti“ als schriftlich konzipierte Texte aus. 182 „Sed attende quod ea prius quam emictas foris in corde pluries revolvas et limes, ut dicitur tibi supra parte prima documento VJ circa finem.“ (Bd. 2, S. 314, zu V. 3128) <?page no="71"?> 71 sein 183 . Auf die hypothetische Frage, warum nicht auch seine lateinischen Versionen „mottetti“ seien, antwortet Barberino, dass dann beides unverständlich geblieben wäre, zudem entsprechende Streitreden meist in Volgare stattfänden und im Übrigen ein jeder sein eigenes Idiom wählen könne. Die „licterati“ könnten sie aber, „sumpto ex hoc vulgari exemplo“, leichter nachbilden als umgekehrt die „inlicterati a latino, quod penitus ignorant“ (ebd.). Auch Frauen könnten „mottetti“ verwenden, wovon in einem „altro libro“ - dem Reggimento e costumi di donna - zu reden sein werde 184 . Weil Barberino ein besonderes Interesse für die „mult[i] inveniendi mod[i]“ der gängigen lyrischen Formen bei den „iuvenes“ annimmt „qui ad hoc anelant et nesciunt“, nimmt er an dieser Stelle die Gelegenheit wahr, deren Metrik und Struktur eingehend zu beschreiben 185 . Daraus kann man schließen, dass die „mottetti“ für ihn zumindest in formaler Hinsicht den poetischen Redeformen nahestanden. Allerdings weisen die Exempla, anhand derer er sie, wie schon die „regulae“, im Kommentar erläutert, eher auf alltägliche Gebrauchssituationen hin, allerdings auf solche Situationen, in denen die Beteiligten Wert darauf legen, ihre Befähigung zum ‚bel parlare‘ zu demonstrieren. Dies sei am Beispiel des „mottetto“ XXXIX gezeigt: Caro impetra amor di Petra, chi so’ petra petre impetra. Die lateinische Übersetzung lautet: Carum impetrat Petre amorem, qui sub petra petre impetrat. 186 Im Kommentar gibt der Autor dazu die folgende Erläuterung: ille impetrat carum amorem Petre, quod est proprium nomen qui sub petra Petre, idest sub soliditate ipsius mulieris Petre impetrat, idest efficitur petra scilicet solidus. 183 Ebd. 184 Bd. 1, S. 182, V. 3142ff. 185 Bd. 2, S. 315f. Es handelt sich um die elf gebräuchlichsten „modi inveniendi“ wie Kanzone, Ballata, Sonett usw., dazu zwei aus der Mode gekommene und drei ganz neue. 186 Bd. 1, S. 191. <?page no="72"?> 72 sowie das folgende Exemplum, in dem der Sinn des „mottetto“ veranschaulicht und seine Anwendungsmöglichkeit vorgeführt wird: [...] quidam qui multum dissolutus erat cepit amare quandam nomine Petram vel eam cepit in uxorem. Contigit quod iste, amore istius Petre, factus est solidus, stabilis et constans et continens; voluisti commendare vel amorem vel coniugium vel virtutem illius mulieris et, cum aliqui essent ibi, noluisti hoc aperte dicere, ne vilipenderes primum statum istius, unde dixisti hoc mottum. 187 Der Wunsch, ein Lob auszusprechen oder ein Kompliment zu machen („voluisti commendare“), ohne einem der Betroffenen zu nahe zu treten („ne vilipenderes primum statum istius“) führt hier zu einem Motto, das seine Dunkelheit wie seine sprachliche Brillanz der gehäuften Verwendung der Paronomasie („petra“ als Name und als bekannte Metapher 188 ; „impetrare“ = ,erlangen‘ und ,zu Stein werden‘) sowie den Klangverfahren der Alliteration und des chiastisch angeordneten Binnenreims verdankt 189 . Darin zeigt sich das Streben nach dem „bel parlare“, das die „mottetti“ von den „regulae“ mit ihrer moralischen und lebenspraktischen Zielsetzung abhebt. Ihren eingangs erörterten Gebrauchssituationen zufolge erweitern sie jedoch ganz allgemein das Spektrum sprachlicher Reaktionsmöglichkeiten, indem sie dem Redner Wege aufzeigen, wie er unter erschwerten Bedingungen seine Meinung äußern und sich gegebenenfalls zur Wehr setzen kann. Was dagegen ihren geselligen Charakter angeht, so setzen sie zwar Geselligkeit und entsprechende Sprachgewandtheit voraus, um ihre Wirkung entfalten zu können, sind aber nach ihrer Intention und mit der angestrebten Dunkelheit selbst nur eingeschränkt geselligkeitsstiftend. Günstige Bedingungen für eine gesellige Verwendung scheint es in der Unterhaltung mit großen Herren gegeben zu haben 190 . Auch im Reggimento e costumi di donna treten sie uns in einer leicht veränderten Form als geselliges Spiel entgegen. 187 Bd. 2, S. 326. 188 Man denke an Dantes Rime petrose. 189 Siehe die Beschreibung dieses „mottetto“ bei Goldin, „Un gioco poetico di società“, S. 287. 190 Siehe oben, S. 63. <?page no="73"?> 73 Gesellige Redeformen für Frauen Die Erziehungs- und Verhaltensregeln des Reggimento e costumi di donna richten sich - wie die der Documenti d’amore - an ein stadtbürgerliches Publikum mit aristokratischen Ansprüchen, das sich an der höfischen Lebensform orientiert. Dabei unterscheidet Barberino sehr genau nach Ständen von der „figliuola d’imperadore“ und „del re“ hinab bis zur „figliuola di mercatante“ und „di lavoratore di terra“ und schließt sogar die weiblichen Bediensteten des Hauses (Kap. 11-14) ein 191 . Die Sprachkultur der Frauen, wie er sie versteht, ist prinzipiell nach höfischem Vorbild konzipiert, unterliegt aber stärkeren Einschränkungen 192 . So sind die „bei modi di parlare“ zwar vornehmstes Erziehungsziel, aber lobenswerter als eine „donzella [...] bene parlante“ ist eine „che [...] poco parla“ 193 . Eine Frau, die „gran parliera“ ist, wird für „matta e leggera“ gehalten und genießt wenig Ansehen 194 . Macht man einer Frau einen Antrag, der ihre Ehre verletzt, so soll sie sich taub stellen und das Gespräch abbrechen. Das Liebesgespräch konzediert Francesco nur der 191 Alle darunter Anzusiedelnden - „ogni generazione di femmina di comune stato e di più basso e povero“ - werden im 15. Kapitel abgehandelt. 192 Einengende Verhaltensvorschriften betreffen generell vor allem die Frauen aus niederem Adel und aufsteigendem Bürgertum („figliuola di cavaliere da scudo, giudice o d’altro che simile grado mantengono per richezza o gentilezza o simile cagione“); die Töchter der Ränge vom „marchese“ an aufwärts genießen größere Freiheit und müssen weniger beaufsichtigt werden: „però che quelle guarda la potenzia e la dottanza de’ padri loro, e quasi tutti quelli che nella corte sono, e ancor quelle, son lor guardia di notte e di giorno.“ (Reggimento e costumi di donna, II, S. 23, Z. 31ff. und S. 24, Z. 8ff.) Jedoch müssen sie früher ein gesittetes Verhalten an den Tag legen (I, S. 14, Z. 5ff.). Die Freiräume wachsen also nicht gleichmäßig „mit absteigender sozialer Skala“ (M. Zimmermann, „Eine toskanische Frauendidaxe aus dem XIV. Jahrhundert: Francesco da Barberinos Reggimento e costumi di donna“, in: Ordnung und Lust. Bilder von Liebe, Ehe und Sexualität in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, hrsg. von H. J. Bachorski, Trier 1991, S. 25-43, hier: S. 32). 193 I, S. 10, Z. 18; II, S. 25, Z. 6 ff. Siehe auch R. Ortiz, „De avinen parlar en domnas ensenadas“ in: ders., Francesco da Barberino e la letteratura didattica neolatina, Roma 1948, S. 179-196, bes. S. 182ff. 194 XVI, S. 183, Z. 31ff. In Documenti d’amore VII, 4 wird davor gewarnt, eine „gran parliera“ zur Frau zu nehmen (Bd. 1, S. 276, V. 4492). <?page no="74"?> 74 frisch Vermählten 195 . Auch in Gesellschaft („tra gente“) ist Schweigen für Frauen besser als Reden, was freilich für jedermann gilt 196 . Trotz dieser wenig freizügigen, aber verbreiteten Vorstellungen behandelt Barberino in den Kapiteln XVIII und XIX des Reggimento e costumi di donna, wenn auch in auffallender Kürze, einige Formen öffentlicher Sprachgeselligkeit, an denen sich Frauen beteiligen können. Kapitel XVIII unter dem Patronat der Industria beginnt mit der Vorstellung eines Redetyps, der „quistione“ genannt wird: Omai comincia a due valenti donne questa Industria a parlare; or non vi incresca di lei ascoltare: Facciovi dodici quistioni. La prima si è se Iddio ama come noi; la siconda, che cosa è il divino amore; la terza, che cosa è il generale amore, il quale si converte generalmente in tutte cose che insieme s’hanno a conservare; la quarta, che cosa è amore licito mondano; la quinta, che cosa è l’amore inli- 195 Und auch dort nur auf der höchsten sozialen Ebene. Dieses ausführlich dargestellte Gespräch, das ein „re“ mit seiner Angetrauten in der Hochzeitsnacht führt, kommt dem Werbungsgespräch des Typs „nobilior nobiliori“ bei Andreas Capellanus nahe, mit anderm Resultat als dort natürlich (Reggimento e costumi di donna, V, S. 54-57 sowie die Fortsetzung S. 63f.). Es darf ausnahmsweise als ein ‚intimes‘ Liebesgespräch gelten, dessen „dolcezza“, die „in piazza“ untersagt wäre, nur in der Situation „da solo a sola“ keine Scham auslöst („non lassa vergognare“). Was gesprochen wird, ist von Amor eingegeben und muss nicht immer glaubwürdig sein. Selbst der Frau ist es bei dieser Gelegenheit erlaubt, freier zu reden („può dicer ciò che la faccia più cara“): Ver è che nova donna con marito, in tempo e caso d’amore e sollazzo, può dicer ciò che la faccia più cara, ché ancor l’omo la donna laudando non crede ogni ora quanto narra e dice, ma questa cosa per amor gli lice: queste son voci che pigne dolcezza, amor le fa fermare e sicurtà non lassa vergognare. Ancor da solo a sola procede tal parladura che ’n piazza disdice: chi prova amor sa ch’esto scritto dice, e chi nol prova non vo’ che lo ’ntenda. (S. 69, Z. 28ff.) Im Rahmen der königlichen Hochzeitsfeierlichkeiten sind übrigens auch Liebesgesellschaftsspiele zugelassen (S. 63-68). 196 I, S. 10, Z. 33ff. <?page no="75"?> 75 cito del mondo; la sesta, che è amistà; la settima, che è benivolenza; l’ottava, che è unanimità; la nona, che è concordia; la diecima, che diferenza è tra amore e amare; l’undecima, che è cortesia; la dodecima, che è gentilezza. 197 Da die beiden „valenti donne“ auf die Fragen nicht zu antworten wissen, bitten sie Industria, selbst die Antworten zu geben, was diese mit kurzen Definitionen tut, z.B.: [...] l’amore mondano licito è uno mezzo intra due persone igualmente sé amanti, i quali i’ lor voleri in una cosa congiugne e congiunti conserva. 198 Wie aus der einfachen Struktur der Fragen sowie daraus zu ersehen ist, dass Fragen und Antworten von derselben Instanz kommen, haben Barberinos „quistioni“ trotz der Namensähnlichkeit nichts mit der höfischen dilemmatischen „questione d’amore“ zu tun. Es handelt sich vielmehr um Wissensfragen und um Wissensvermittlung auf einem gehobenen, der höfischen Kultur nahe stehenden Niveau. Wenn eine bestimmte Redeform Pate gestanden hat, dann wohl die scholastische Definition mitsamt der scholastischen Lehrsituation, an die sich Barberino hier erinnert haben mag. Für ein solches Vorbild spricht, dass die der Industria in den Mund gelegten Fragen und Antworten weitgehend mit den Problemen und Definitionen identisch sind, die er selbst im Kommentar zum Proöm der Documenti d’amore gibt und in denen scholastisches Denken sich mit höfischen und stilnovistischen Amor-Vorstellungen paart 199 ; nur die beiden letzten Fragen zur „cortesia“ und „gentilezza“ haben dort keine direkte Entsprechung 200 . Aus der Situation des Lehrgesprächs zwischen Industria und den „donne“ lassen sich natürlich keine Schlussfolgerungen für eine praktische Anwendung der „quistioni“ 197 S. 211, Z. 12ff. 198 S. 212, Z. 3ff. 199 Die Definitionen des Reggimento e costumi di donna sind zum Teil wörtliche Übersetzungen des Kommentars der Documenti d’amore; vgl. die dortige Definition des „amor licitus mundanus“: „[...] est medium inter duos eque amantes, eorum in unum vota coniungens et coniunta conservans.“ (Bd. 2, S. 7) Den „amor illicitus mundanus“ betreffend beruft sich Barberino auf Guido Guinizzelli. Zum stilnovistischen Einfluss auf die Documenti d’amore siehe G. Marruzzo, „Composizione e significato de I documenti d’amore“, Giornale italiano di filologia, n.s. Bd. 5/ 1974, S. 217-251, hier: S. 244f. 200 Es sei aber daran erinnert, dass die „cortesia“ als Curialitas zusammen mit Eloquentia in der allegorischen Einleitung der Documenti d’amore auftritt. <?page no="76"?> 76 ziehen. Soviel nur scheint sicher, dass das vermittelte ‚philosophische‘ Wissen dem weiblichen Publikum des Reggimento e costumi di donna - wie in den Documenti d’amore dem männlichen - zwar von allgemeinem Nutzen für gesellige Gespräche gewesen sein mag 201 , dass aber diesen Gesprächen damit keine bestimmte Form vorgegeben war. Näher an einer „questione d’amore“, jedenfalls in der Form, ist die „contenzione“ des Kapitels XIX, das unter der Herrschaft der Iustitia steht. Obwohl Barberino mehrere „contenzioni“ ankündigt (S. 213), gibt er nur ein einziges Beispiel mit der beliebten Frage, ob dem Mann oder der Frau der erste Platz in der Schöpfung gebühre. Eine „donna“ vertritt im Gespräch mit einem „cavaliere“ den Vorrang der Frau, zwei Begleiter des „cavaliere“ („di que’ che son col cavaliere“) widersprechen ihr, sie entgegnet und Iustitia fällt das abschließende Urteil, das zwischen den beiden Standpunkten vermittelt („l’uno e l’altra necessari al mondo“, S. 214). Bis auf die Allegorie der Iustitia und die personelle Doppelbesetzung der einen Position, vielleicht noch die allzu offensichtlich parteiische Aufteilung der Positionen zwischen den Geschlechtern, hätte die „contenzione“, nach allem, was wir vom Partimen bzw. der „questione d’amore“ wissen, tatsächlich so ausgetragen werden können. Sie ist also eine inhaltlich freiere, dabei nicht unbedingt an ein Metrum gebundene Form des geselligen Streitgesprächs in einem mehr oder weniger höfischen Ambiente 202 . Unmittelbar auf das „contenzione“-Beispiel folgen die „mottetti“: „Seguitano alquanti mottetti, che le donne danno a cui lor piace, e risposte che vi possono accadere“ (S. 214). Barberino gibt vier Beispiele, ich zitiere das zweite: 201 Dass Philosophie und Liebe als Gesprächsthemen zumindest junger Männer eng zusammengehörten, zeigt noch die Erzählung von der Erziehung des Cimon durch die Liebe im Decameron: „[...] usando co’ giovani valorosi e udendo i modi i quali a’ gentili uomini si convenieno, e massimamente agli innamorati, prima, con grandissima ammirazione d’ognuno, in assai brieve spazio di tempo [...] valorosissimo tra’ filosofanti divenne [...].“ (V, 1, 18) 202 Man beachte das ritterlich-höfische Personal („que’ che son col cavaliere“). Zu ihrem Charakter als Streitgespräch vgl. die Definition in den Documenti d’amore: „Contentio est super similibus inter duos, de quibuscumque similis ordo. Et [...] versiculorum numero non [ligatur].“ (Bd. 2, S. 315f., zu V. 3128) <?page no="77"?> 77 Grande amor t’è o la morte dimor t’è se grava morte. Risponde: Dolc’ amor m’è quel ch’am’or me; dunqu’amor m’è convien arme. 203 Weitere „mottetti“ können die Leserinnen nach den gegebenen Mustern selbst bilden: „quinci da te gli altri prendi“ 204 . Wie man sieht, ist das „mottetto“ 205 hier ein gesellschaftliches Sprachspiel, bei dem abwechselnd im selben Versmaß und mit demselben oder einem ähnlichen Reim, mit Klang- und Wortwiederholungen um die Wette formuliert wird. Thema ist in drei der vier Beispiele „amor“, im vierten die - vielleicht metaphorisch zu verstehende - Natur („il fiore“). Den Anstoß zum „mottetto“ geben, wie es hier heißt, die Frauen („che le donne danno a cui lor piace“), und obwohl Frauen als Antwortende nicht ausgeschlossen und Männer gar nicht genannt werden, kann man wohl davon ausgehen, dass die „risposta“ in diesem Falle meist eine Aufgabe der Männer war. So stellt sich das „mottetto“ im Reggimento e costumi di donna als eine gesellige Redeform im höfischen Geiste dar, wie man sie nach der Beschreibung seiner Gebrauchssituationen in den Documenti d’amore 203 S. 214. Goldin („Un gioco poetico di società“, S. 291) liest teilweise anders: Grande amor t’è o la morte dimor’ t’è s’e’ grav’amorte. Risponde: Dolc’amor m’è que’ ch’amorme; dunqu’ amor me’ convien arme. 204 Ebd. Vgl. auch Documenti d’amore, Bd. 2, S. 314, zu V. 3128: „Sed quero: quare Amor de istis non fabricavit numero plura? Dic quod per ista quasi capere poteris omnem modum [...]“. 205 Die Bezeichnung „motto“ wird im Reggimento e costumi di donna nicht verwendet. <?page no="78"?> 78 nicht erwartet hätte. Auch die dort im „documentum“ I, 6 angesprochenen „mottetti“ in der Unterhaltung mit großen Herren lassen sich mit den hier vorgeschlagenen Sprachspielen zwischen Männern und Frauen nicht recht in Einklang bringen. Man hat also die Wahl zwischen der Annahme einer unerwarteten Formenvielfalt des „mottetto“ und der Annahme terminologischer Unsicherheit. Zudem sucht man in diesem Zusammenhang vergeblich einen genaueren Hinweis Barberinos darauf, wo und wann solche geselligen Sprachspiele im Leben seiner Adressatinnen ihren Platz hatten. An früherer Stelle des Reggimento e costumi di donna hatte er die jungen Frauen nämlich aufgefordert, nicht selbst an ihnen teilzunehmen, sondern sich vertreten zu lassen und dadurch höheres Ansehen zu gewinnen: Se tu se’ giovane e bella non andar per tuo quistioni nelle corti, ma là poni tuo procuratori; e quelli non pagar pur d’atti belli, ché ne prendon sicuranza, cheggionti magior prestanza. 206 Es ist daher davon auszugehen, dass solche höfischen Sprachspiele für Frauen eher geduldet als gern gesehen waren 207 . Schließlich äußert sich Barberino auch zur Novelle und der Frage ihrer Eignung für Frauen. Wenn es in den Documenti d’amore (I, 6) hieß, dass sich darin genügend „novellettae“ fänden, aus denen sich der Leser bedienen könne, um vor Frauen zu erzählen, wird nun aus der Perspektive des Reggimento e costumi di donna und der Erziehung der Frau das Novellenerzählen kritischer gesehen. Die bei allen Pädagogen tief verwurzelte Furcht vor der geheimen Verführungsmacht des Wortes im Allgemeinen und der schönen Ge- 206 XVI, S. 186. 207 Für Männer waren sie in dieser Form möglicherweise erst gar nicht in Erwägung zu ziehen, denn die „mottetti“ der Documenti d’amore haben ernsthaftere Anlässe. Zu den geschlechterspezifischen Besonderheiten der Unterhaltungsformen siehe C. Cazalé Bérard, „Lo spazio ludico femminile e le regole del gioco sociale nel Reggimento e costumi di donna di Francesco da Barberino“, in: Passare il tempo. La letteratura del gioco e dell’ intrattenimento, 2 Bde., Roma 1992, Bd. 2, S. 475-509. <?page no="79"?> 79 schichten im Besonderen, die schon das Lesenlernen zu einer Gefahr für Frauen macht 208 , lässt Barberino die Warnung aussprechen: Fugga d’udire tutti libri e novelle, canzoni e ancor trattati d’amore, ch’egli è agevole a vincer la torre c’ha dentro da sé lo nimico mortale; onde colei che ’l nimico cacciar non può da sé, almeno no gli de’ dare tal nodrimento che ’l faccia ingrassare. 209 Zwar mag an dieser Stelle mehr an das Vorlesen und Vortragen allgemein verführerischer Texte als an das gesellige Erzählen gedacht sein, und das Verbot gilt ausdrücklich auch nur für ein heiratsfähiges, aber noch nicht verheiratetes Mädchen, das sich ohnehin allergrößte Zurückhaltung auferlegen muss. Doch auch die verheiratete Frau hat offensichtlich nur in der Theorie mehr Freiheit: „Che poniano che la donna, poi ch’ella è maritata, si possan sofferire certe altre cose“ 210 . Irgendwelche konkreten Folgerungen zieht Barberino aus dieser Ausnahme im Reggimento e costumi di donna nämlich nicht, und die „certe altre cose“ bleiben, sicher nicht ohne Absicht, im Dunkeln. Umso erstaunlicher ist, dass er dem Novellenverbot selbst zuwiderhandelt, indem er in den ersten zehn Kapiteln des Reggimento e costumi di donna ausdrücklich solche erzählt. Das wirft die Frage auf, welche Vorstellung Barberino mit dem Begriff der Novelle verbindet. 208 So liest man in seinen Anweisungen für die Tochter aus der städtischen Aristokratie („figliuola di cavaliere da scudo o di solenne iudice o di solenne medico o d’altro gentile uomo“): „E questo è ’l tempo nel qual a me pare che [la fanciulla], se piace alli suoi, imprender può legere e anco a scrivere alquanto con esso. Ma sovra questo punto non so ben ch’io mi dica, ché molti lodano ciò e molti biasmano ciò, quando la donna è grande. Pur noi vediano ch’assai più tosto cade colei c’ha facultà del suo cadere: e però sono gli freni, per infrenare i malvagi voleri. E bene è scritto, come voi savete, che non è cosa che sia men filice, ch’egli è felicitate di peccare: che cioè vuol dire, ch’è ria la possibilità dello mal fare. E, sanza dubbio, per lo non potere molti falli si lassano dalla gente; e se tu togli un punto all’animo ch’è mal disiderante, vien poi ragion che spegne il volere.“ (Reggimento e costumi di donna, S. 14f.) Töchter von Herrschern sollten Lesen und Schreiben lernen, weil es ihnen als Regentinnen von Nutzen sein könnte; Mädchen der unteren Stände wird es dagegen ganz untersagt (S. 12 bzw. S. 16). 209 III, S. 30, Z. 20ff. 210 II, S. 24, Z. 36f. <?page no="80"?> 80 9. ‚Novelle‘ und ‚Exemplum‘ Im Proöm der Documenti d’amore spricht Barberino von einem „lib[er] Floris novellarum“, das er verfasst habe. In dessen „novellae“, die er in seinen anderen Schriften gekürzt habe, habe er bald mehr, bald weniger ausdrücklich vom „amor mundanus“ in seiner erlaubten Form gesprochen: Ubi tamen de mundano [amore] expresse locutus vel tacite locutus videor, ut [...] in libro Floris novellarum, quas ad brevitatem reduxi in multis aliis dictis meis, etsi non ad Amorem divinum adaptari possint, non dubito me unquam de illicito amore locutum, sed licitum commendans illicitum semper damnavi et dampno. 211 Von dieser - allem Anschein nach stark höfisch geprägten - Sammlung in der Vulgärsprache haben wir keine weitere Kenntnis. Doch wissen wir oder können erschließen, dass nicht wenige ihrer Erzählungen wie auch derjenigen, mit denen Barberino die Verhaltensregeln der Documenti d’amore und des Reggimento e costumi di donna veranschaulicht hat, auf „novas“ provenzalischer Trobadors zurückgehen 212 . Daher sieht die Forschung in Barberino schon lange eine wichtige Station auf dem Weg zur italienischen Novellistik 213 . Weil er zudem die Erzählungen in den Documenti d’amore abwechselnd oder gleichzeitig als „exemplum“ und „novum“ und im Reggimento e costumi di donna als „essemplo“ und „novella“ bezeichnet hat, ist Barberino für Walter Pabst der Kronzeuge für die These vom ursprünglich exemplarisch-belehrenden Charakter des Novellenerzählens. In der verloren gegangenen vulgärsprachlichen Sammlung Fiori di novelle seien - so Pabst - „moralisierende Exempla und Inhaltsangaben belehrender novas der Trobadors zum ersten Mal literarisch gleichberechtigt in einer neuen Sprache neben einander 211 Bd. 2, S. 27. 212 Zu den bei Barberino überlieferten provenzalischen Novellen siehe E. Müller, Die altprovenzalische Versnovelle, Halle a.d.S. 1930, S. 116-142; Thomas, Francesco da Barberino et la littérature provençale en Italie, II, 1, S. 104ff. („Auteurs provencaux cités par Barberino et connus par d’autres monuments“). 213 W. Pabst, Novellentheorie und Novellendichtung. Zur Geschichte ihrer Antinomie in den romanischen Literaturen, S. 9f. und 20ff.; zuvor R. Besthorn, Ursprung und Eigenart der älteren italienischen Novelle, Halle a.d.S. 1935, S. 183-185. <?page no="81"?> 81 getreten“ 214 . In der Tat ist das ungeachtet des sprachlichen Ursprungs scheinbar gleichberechtigte Neben- und Füreinander der Bezeichnungen im lateinischen und im vulgärsprachlichen Text Barberinos erstaunlich. Nicht weniger erstaunlich ist freilich, wenn beide Ausdrücke denn wirklich gleichberechtigt waren, der Titel der verlorenen Novellensammlung, in dem das neue „novella“ das ehrwürdige „exemplum“ verdrängt hat. Wenn die neue Gattung vom Ansehen der alten hätte profitieren wollen oder müssen, wäre eigentlich das Umgekehrte zu erwarten gewesen. Diese unklare Situation lässt sich nur durch eine Untersuchung der beiden Begriffe im jeweiligen Kontext erhellen, wobei zu prüfen ist, ob und wie die Inhalte sich unterscheiden und welchen Zweck Barberino in den Documenti d’amore und im Reggimento e costumi di donna jeweils mit ihrer Verwendung verfolgt. „Novum“ und „exemplum“ in den Documenti d’amore Zunächst ist festzuhalten, dass in den Documenti d’amore die Ausdrücke „exemplum“ und „novum“ tatsächlich einige Male nebeneinander für ein und dieselbe Erzählung verwendet sind. Diese Nennungen befinden sich im lateinischen Kommentar - nur in ihm gibt es Erzählungen - und in den stichwortartigen Randverweisen, die dem Kommentar in unregelmäßigen Abständen beigegeben sind 215 . So findet sich in zwei Fällen am Rand der Hinweis „exemplum“ und im Text unmittelbar daneben die Bezeichnung „novum“ 216 . Einmal folgt umgekehrt auf ein „novum“ am Rand in der gegenüberliegenden Textspalte die Bemerkung „per hoc [novum] quam per alia exempla“ 217 . Man könnte versucht sein, dieses Nebeneinander unterschiedlicher Bezeichnungen mit den unterschiedlichen Textkategorien - fortlaufender kommentierender Text bzw. ‚Randhinweis‘ - zu erklären, doch gibt es auch einen Fall, wo auf ein „novum“ am Rand einer Spalte am Rand der nächsten Spalte ein 214 Novellentheorie und Novellendichtung, S. 10. 215 Diese Hinweise stammen vom Autor. Sie sind nur in der Ausgabe von Egidi wiedergegeben, auf die ich mich daher, wenn nötig, beziehe. 216 Documenti d’amore (Egidi), Bd. 1, S. 199; Bd. 2, S. 9. 217 Egidi, Bd. 2, S. 387 und 390 (Blatt 64 verso, c und d). Im ersten Fall handelt es sich um eine Eröffnungserzählung, ein „novum inductivum“; Näheres hierzu unten, S. 87. <?page no="82"?> 82 „aliud exemplum“ folgt 218 . Demnach scheinen die Begriffe für Barberino hier austauschbar zu sein, zumindest aber nicht so festgelegt, dass sie nicht auch füreinander eintreten könnten. Sieht man von den genannten Fällen ab, so wird in den Documenti d’amore jedoch nur jeweils der eine oder der andere Ausdruck verwendet. Dabei begegnet „exemplum“ weitere dreiundzwanzig Male in der Funktion des Randhinweises. Diese Fälle befinden sich bis auf zwei alle im ersten, der Docilitas unterstellten Teil. Sie reichen vom kurzen Autoritätenzitat über die knappe Anekdote bis hin zur längeren Erzählung von zwanzig und sogar mehr Zeilen 219 . Zusätzlich gibt es Exempla, die nicht am Rand als solche angezeigt werden. Diese finden sich mehrheitlich im zweiten Teil, dem der Industria, wo sie die 150 „regulae“ und 50 „mottetti“ erläutern. Das Besondere dieser als „exemplum“ bezeichneten Beispielerzählungen liegt darin, dass sie den Inhalt einer Redewendung und zugleich deren rechten Gebrauch illustrieren. Als Beispiel hierzu die Regel XXVIII: Non è honesto tutto ciò che lice, né lice sotto spetie d’onestate con tinta cappa covrir falsitate. Non omne quod licitum est honestum, nec licet sub spetie honestatis nigra cappa coperire quod falsum. Non omne etc. In hac XXVIII regula expone principium sic non omne quod licitum est, honestum subaudi est concordat cum regula iuris Digestorum ubi dicitur: „Non omne quod licet honestum est.“ Exemplum vide: quidam mercator cum obviasset uxori publice in platea osculatus est illam. Illa autem turbata maledixit ei et ipse inquid: „Nonne michi est licitum cum sis uxor? “ Respondit hec domina testum istius regulae usque ad § „Nec licet.“ Deinde mercator domum rediens hanc uxorem egregie verberavit. Traxerunt illuc vicini et redarguebant eundem. Ipse autem dicebat quod uxorem istam ad actus inconvenientes invenerat. Illi autem honestatem scientes 218 Egidi, Bd. 1, S. 48 und 50 (Blatt 5 recto b und verso c). 219 Die durchschnittliche Länge eines Exemplums lag zwischen acht und zwanzig Zeilen (J. Th. Welter, L’Exemplum dans la littérature religieuse et didactique du Moyen Âge, Paris/ Toulouse 1927, S. 80). Es gab auch kürzere, die dann vom Prediger weiter zu entwickeln waren, sowie längere mit mehr als vierzig Zeilen. In diesen Fällen sieht Welter den Autor die Rolle wechseln: „substituant le rôle de conteur à celui du moraliste [il] cherche plutôt à intéresser qu’à instruire et moraliser son auditoire ou ses lecteurs.“ (Ebd.) <?page no="83"?> 83 uxoris dixerunt ad eum istius regulae complementum. Quod etiam facit contra ypocritas [...]. 220 Das mit der Formel „vide exemplum“ eingeleitete Exemplum liefert in der zweigeteilten Erzählung zwei aufeinanderfolgende Situationen derselben Personen, in denen beide Teile der (Doppel)Regel angewendet werden können. Es können auch mehrere Exempla für eine einzige Regel gegeben werden: Molti vediàn ch’ènno appellati amanti; ma pochi son ne la gratia d’Amore: non per defecto di lui, ch’è Signore, ma per lor viç(i)o e più volte per vanti. Multos videmus appellatos amantes, pauci tamen in gratia sunt Amoris: non ob eius, qui Dominus est, defectum, sed eorum exigente vitio sepiusque iactantia causam dante. 221 Multos etc. amantes. Istud, sive velis intelligere de Amore divino, sive de licito mundano, stare potest. [...] pone ergo exemplum in utroque. In divino dicas: in Ecclesia cathedrali multi erant canonici. Dixit quidam ad episcopum: „O quam multos habetis et bonos ministros ipse.“ Respondit ut in testu lictere huius regule. In mundano sic: viginti scutiferi seu domicelli erant semel simul florentie. Unusquisque se iactabat de quadam domina. Dixit quidam qui audiebat eos ad sotium: „O, isti habent bonum tempus.“ Respondit sotius testum istius regule. 222 Die zwei angeführten Exempla geben hier ausnahmsweise die beiden Auslegungsmöglichkeiten der Regel in einem religiösen („de Amore divino“) und einem höfischen Sinne („de licito mundano“) 220 Documenti d’amore (Albertazzi), Bd. 1, S. 142; Bd. 2, S. 255. Übersetzung des Exemplums: „Ein Kaufmann, der in der Stadt (auf einem Platz) seiner Frau begegnete, küsste diese in aller Öffentlichkeit. Sie aber erzürnte sich und beschimpfte ihn. Und er: ‚Darf ich das etwa nicht, da du doch meine Frau bist? ‘ Darauf antwortete die Frau mit den Worten dieser Regel bis zum § ‚nec licet‘. Als der Kaufmann darauf nach Hause kam, verprügelte er die Frau nach allen Regeln der Kunst. Die Nachbarn kamen angelaufen und erhoben Einspruch. Er aber sagte, er habe seine Frau bei ungeziemendem Tun überrascht. Doch jene, die die Ehrbarkeit der Frau sehr wohl kannten, antworteten ihm mit dem Rest der Regel, der auch auf Heuchler passt.“ 221 „Regula“ IV, Documenti d’amore, Bd. 1, S. 136. 222 Bd. 2, S. 243. Die Satzfolge „‚O quam multos habetis et bonos ministros ipse.‘ Respondit ut in testu lictere huius regule.“ liest Egidi „O quam multos habetis et bonos ministros ipse Respondit ut intestu lictere huius regule“ (Bd. 2, S. 93). <?page no="84"?> 84 wieder. Im Normalfall gibt es nur eine kurze Beispielerzählung, die sogar kürzer sein kann als die vorausgehende diskursive Erklärung der Regel. Bei den „mottetti“ tritt an die Stelle der Erzählung öfter nur eine durch „inducitur in ...“ eingeleitete Angabe der Gebrauchssituation, wie das folgende „mottetto“ XLVIII zeigt: Lo divino non è di vino: e vi è men ancor divino. Divinus non est de vino: et adhuc minus divinus. Divinus etc. Expone istam licteram isto modo, et erit clara. Divinus: idest homo qui nititur ad divinandum. non est de vino: idest non habet istam insaniam a vino, licet a nimia potatione vini non excusetur ebrius, ebrietas tamen excusat errantem certo limite. Hic autem cum non sit ebrius nec demens non excusatur. Sequitur et adhuc minus divinus: idest ille qui tendit ad divinitatem, et posset dici quod ista lictera forte a me non fuit bene collecta ab Amore, quia videtur impropria: nam divinus tendens ad divinitatem nullo modo sentit de vitio propter hoc, unde cum dicat hic minus videtur aliquid reliquisse, tu autem exponas et adhuc minus, idest nullo modo. Inducitur hoc contra quosdam dolosos qui cum te iniuste offenderint, si videant se postea propterea sequi dampnum ut a te pacem habeant, dicunt se tunc ebrios extitisse et ita de similibus poteris similia reportare. Posset etiam induci ad laudem illorum qui ad Deum tendunt. 223 223 Documenti d’amore, Bd. 1, S. 193; Bd. 2, S. 328. Übersetzungsversuch: „Die Gottesbegeisterung kommt nicht vom Wein. Und genauso wenig die Begeisterung überhaupt.“ Kommentar: „Divinus etc. Leg diesen Satz wie folgt aus und er wird klar sein. divinus d.h. einer der nach der Gottesbegeisterung trachtet. non est de vino d.h. er hat seine Begeisterung nicht vom Wein. Ein vom übermäßigen Weingenuss Trunkener darf nicht entschuldigt werden, obwohl Trunkenheit einen Irrenden bis zu einem gewissen Grad entschuldigt. Dieser aber, der weder betrunken noch wahnsinnig ist, muss nicht entschuldigt werden. Darauf et adhuc minus divinus d.h. einer der nach dem Rausch trachtet, und man könnte sagen, dass ich diesen Satz nicht zu recht von der Liebe gefolgert (hinsichtlich der Liebe aufgestellt) habe, weil er unzutreffend erscheint, denn ein (Liebes)Trunkener, der nach dem (Liebes)Rausch trachtet, hat nichts Lasterhaftes an sich, [aber] da, wo es heißt, dass er weniger trunken sei, scheint etwas Trunkenheit [wie vom Weine] im Spiel zu sein. Du aber leg et adhuc minus aus: auf keine Weise, gar nicht. Anzuwenden ist dieses [„mottetto“] gegen gewisse arglistige Personen, die, wenn sie dich zu Unrecht angegriffen haben und sehen, dass ihnen später ein Schaden daraus erwachsen könnte, behaupten, dass sie damals betrunken gewesen seien, damit sie vor dir Ruhe haben. Und so kannst du Ähnliches zu Ähnlichem vorbringen. Es könnte auch zum Lob jener angewendet werden, die nach Gott trachten.“ <?page no="85"?> 85 Wieder werden zwei Möglichkeiten, das „mottetto“ auszulegen, vorgeführt, eine religiöse Auslegung, die wegen des Wortes „divinus“ angezeigt ist, und dazu die im Kontext des „ben parlar“ immer naheliegende, hier sehr verknappte Rede vom „amor mundanus“ bzw. dem Liebesrausch. Und es gibt zwei Möglichkeiten, es anzuwenden, die jedoch nur benannt und nicht am Beispiel vorgeführt werden, nämlich die - nicht zur Auslegung auf den „amor mundanus“ passende - Anwendung als Replik auf eine alltägliche Schutzbehauptung und die passende Anwendung zum Lob der religiösen Ekstase. Barberino verwendet also im Kommentar der Documenti d’amore nach mittelalterlicher Gewohnheit Exempla, um dem Leser die gegebenen Verhaltensvorschriften anschaulich und verständlich zu machen 224 . Diese Exempla entsprechen ganz dem gängigen Typ und können verschiedenen Zeiten, Ländern und Literaturen entstammen. Bisweilen gehen sie daher auch auf provenzalische „novas“ zurück, die nach Müller ja zum Exemplum tendierten 225 . Wofür verwendet Barberino aber die Bezeichnung „novum“? Soll sie auf eine andere Art des Erzählens verweisen? Auch das Wort „novum“ wird in den Documenti d’amore sowohl im fortlaufenden Text des Kommentars wie als Randhinweis verwendet. Die so bezeichneten Erzählungen stehen in der Mehrzahl am Anfang und am Ende der zwölf Teile, jeweils vor und nach den Belehrungen der allegorischen Figuren. Sie sind offensichtlich Bestandteil der Lehrsituation und haben als solche einen institutionellen Charakter. Das wird an mehreren Stellen deutlich. So gibt der Autor auf die Frage seines fiktiven Lesers, warum das erste „novum“, das die Docilitas erzählt, nicht im Text, sondern im Kom- 224 Dazu lässt er sich bald von den Allegorien auffordern, bald fordert er selbst den Leser auf mit Worten wie: „exemplifica de“, „pone / vide exemplum“ usw. Die Sprechsituation des Kommentars (Leseranrede durch den Kommentator/ Erzähler, Erzähleranrede durch die Allegorien? ) ist überaus komplex und auch schwankend - sei es, weil sich hier die Gattungen Kommentar und Erzählung überschneiden, sei es, weil die Erzählhaltung noch nicht durch Tradition und lange Übung gesichert war. 225 Die altprovenzalische Versnovelle, S. 17: „[enthält] meist neben der reinen erzählung eine Belehrung“, und noch pointierter S. 142: „Das charakteristikum der altprovenzalischen versnovelle ist aber gerade [...] das starke moralisch-didaktische element [...].“ Dagegen ist aber zu bedenken, dass eine affirmative Darstellung des Ideals der höfischen Welt und Lebensart nicht dasselbe ist wie eine direkte Aufforderung zur Verhaltensnachfolge. <?page no="86"?> 86 mentar stünde, zur Antwort, der Text sei „solius Amoris“, die „nova“ aber seien eine Zugabe der allegorischen Figuren „ut doctores faciunt in ordinariis librorum lecturis“ und man könne sie wie dort anhören oder auch nicht: que qui vult colligere potest, qui autem dormire vel sompniare potest et male. 226 Ihren didaktischen Zweck erklärt er so: Sed antequam ipsius [Docilitatis] documenti substantiam attingamus recitandum est quoddam novum, quod ipsa Docilitas ut alliceret audientium animos recitat in hunc modum: […]. 227 Und ein andermal noch ausführlicher: Sed antequam ulterius procedamus, bonum est videre quem modum incipiens hec domina [Industria] tenuit nobis pluribus ad scolas venientibus et coram, vel sub ea sedentibus. Et dic quod, licet non dicatur in testu, tamen in Dei nomine inquohavit postea ut alliceret animos iuvenum ad discendum facilius et intrandum quoddam novum quod infra sequitur recitavit. Audite illud. 228 Einleitende „nova“ sollen also die Aufmerksamkeit der jungen Zuhörer anstacheln („ut alliceret audientium animos“) und ihre Bereitschaft zum Lernen („ut alliceret animos iuvenum ad discendum facilius et intrandum [ad scolas]“) steigern. Das stimmt im Prinzip mit der Intention des Exemplums überein, ist jedoch weniger zielgerichtet 229 . Barberino findet für die mit den „nova“ verfolgte Intention bisweilen skurrile Bilder mit höfischen Assoziationen. So möchte die Dame Eternitas (Teil XII) mit einem „novum“ die Schüler von der Bewunderung für ihre Schönheit ab- und auf das Wesentliche hinlenken: 226 Bd. 2, S. 30, zu V. 117. 227 S. 29. Die Docilitas selbst führt ihr „novum“ so ein: „Vos iuvenes“, inquid illa, venistis ad meam presentiam ut per mea monita corda vestra mundentur et munda cognoscant, per que possent notari [Egidi: Punkt nach „notari“] unde volumus ante omnia mentes vestras aliqua dulcedine irrigare.“ 228 S. 193. 229 Nach dem Tractatus de diversis materiis praedicabilibus des Étienne de Bourbon ist der Zweck des Exemplums „ut [...] doctrina citius caperetur, [...] facilius cognosceretur, [...] fortius in memoria retineretur, [...] efficacius opere adimpleretur“. Siehe L’Exemplum, hrsg. von C. Bremond, J. Le Goff und J.-C. Schmitt (Typologie des sources du Moyen Âge occidental. 40), Turnhout 1982, S. 30f. <?page no="87"?> 87 Miramini, iuvenes, formam meam; miraremini magis si possibile vobis esset videre formam foccoris mei. Et ideo quoniam admiratio inducit animorum instabilitatem in singulis, intendimus ante lecture initium quoddam novum vobis ad aliquale sola[t]ium breviter recitare. 230 Umgekehrt lüftet die Dame Gloria (Teil VIII) ihren Schleier gerade, um Blick und Aufmerksamkeit der Jünglinge auf sich zu ziehen: [...] stantibus coram illa multis suam audituris lecturam, velo aliquantulum elevato, ut in eam inspicientes iuvenes actentius cumprehenderent proferenda, inquid ad illos: „Habuit olim dux Austrie duos filios [...]. 231 Neben den formelhaften sprachlichen Wendungen zur Einführung der „nova“ gibt es auch den Begriff des „novum inductivum“, der dessen institutionellen Charakter belegt: Sed antequam ulterius procedamus, dic michi: „Nunquid ista domina more aliarum precedentium dominarum in isto suo principio novum inductivum ad discipulos aliquod recitavit? “ 232 Auch am Ende des Unterrichts haben Erzählungen ihren festen Platz. Sie dienen hier der Erholung und Entspannung der Schüler vom Ernst der Belehrung und sind ein „solatium“ 233 für die vorausgegangenen Mühen. So gibt die Docilitas am Ende der ersten Lesung „quasi loco solatii“ den Schülern Ratschläge für den Umgang mit dem Gehörten 234 . Die ihr folgenden Allegorien schließen ihre Lesungen mehrheitlich mit erzählten „nova“ ab, die wiederum formelhaft eingeführt werden 235 . Auch zwischendurch erzählt eine Allegorie zur eigenen Erholung ein „novum“: „Spes volens [...] a lectura illo sero 230 Bd. 2, S. 561, zu V. 6951. 231 S. 496, zu V. 6260. 232 VII. Teil (S. 411, zu V. 4254a); die „domina“ ist hier die Prudentia. 233 Gemäß den Redeempfehlungen in I, 6 sind „solatiosa“ oder „sollaçi“ grundsätzlich die für das Gespräch mit „iuvenes“ oder „giovani“ geeigneten Gegenstände; „iuvenes“ sind aber auch die fiktiven und die realen Adressaten der „documenta“. - Für verwandtes prov. „solatz“ gibt Levy u.a. die Bedeutungen ,Unterhaltung‘, ,Kurzweil‘, ,Vergnügen‘, ,scherzhafte Rede‘ an (Provenzalisches Supplementwörterbuch, Bd. 7, S. 772). 234 Bd. 1, S. 350 (Egidi). Der Randhinweis lautet hier „exemplum“. An späteren Schluss-Stellen lautet er in ähnlichen Fällen „loco novi“ (Bd. 3, S. 335; S. 366 [Egidi]). 235 Z.B.: „Nunc a te quero: „Nunquid ista domina more aliarum in ista sua conclusione novum aliquod recitavit? “ (Albertazzi, Bd. 2, S. 372, zu V. 3780) <?page no="88"?> 88 quiescere recitavit“ 236 . Manchmal verweigert oder kürzt die Lehrerin das abschließende „novum“, weil sie von der Lesung ermüdet ist - „plurimum fatigata“ 237 - oder weil sie glaubt, alles Notwendige getan zu haben - „lecturam partis sue totaliter perfec[erat]“ 238 . Dann fordern die Schüler mit Nachdruck ihr Recht 239 : Cridaverunt scolares: „Nova nova“ et ipsa que fatigata nimium videbatur inquid: „Cum omnia huius partis dicta plana sint et per glosas etiam planiora ad quid amplius egetis exemplis vel ad dictorum probationem argumentis. Nonne recordamini quod Quintilianus libro V De oratoria institutione inquid: „In rebus apertis tam stultum est argumentari quam in clarissimum solem mortale lumen inferre.“ Adhuc rumor insonuit: „Nova nova“, tunc ipsa sic dicens cepit: „Vos scitis quod in libro qui dicitur Brutus, circa principium, legitur quod ,Brictania continens quicquid mortalium usui congruit‘; et Iulius Celsus dicit Britones ,leporem aut gallinam aut anserem gustare fas non putant‘. Si igitur Garagraffulo Gribulo eunti ad habitandam Britaniam et desideranti ad hesum anseres gallinas et lepores, huiusmodi venatio sit vetita, quid ei proderit ibi esse, omnium abundantiam rerum et per consequens anserum leporum et etiam gallinarum, nichil attendite: igitur vos habetis hoc libro variorum scripta novorum et etiam exemplorum. Ite primo et illa discite quia nil vobis utilitatis afferret habere tot dona in diversis partibus huius libri et illa per neglegentiam ingnorare cum vero illa sciveritis vobis alia ministrabo.“ Tunc Garagraffolus Gribolus surrexit et inquid: „Cum licentia vestra loquar.“ Et illa inquid: „Placet.“ 240 „Non omnia scripta libri possumus sic in brevi memorie commendare. Sed quod vos dixeritis, et simul cum aliis iam reconditis colligemus et postea si temporibus vite nostre illa plene concipimus non modicum laboramus.“ Et dicta domina videns quod novum non poterat commode preterire inquid: „Or audite: licet laborum continuitas nos valde oppresserit proposuimus, tamen annuere votis vestris. Sed quia rarum esset quod intendimus dicere nisi a vobis debite colligatur, ortamur devotionem vestram figere dictis nostris non aures tantummodo sed et mentem.“ In etate III tempore Abesab Scitius quod floruit Eritheya sibilla que alias Babillonica nuncupatur [...].“ 241 In diesem Disput lehnt die Lehrerin Discretio den Wunsch der Schüler nach einem „novum“ als unnötig ab, weil das Vorgetragene klar und hinreichend dargelegt worden sei, und stützt ihre Ableh- 236 S. 399, zu V. 4146. 237 S. 353, zu V. 3588; ähnlich S. 372, zu V. 3780; S. 491, zu V. 6226. 238 S. 372, zu V. 3780. 239 So auch am Ende des fünften Teils („nam instantibus ex scolaribus quibusdam [...]“, S. 385, zu V. 4001). 240 Albertazzi liest irrtümlich: „Et illa inquid: ‚Placet non omnia scripta libri possumus [...]‘“. 241 S. 372. <?page no="89"?> 89 nung mit einem antiken Autoritätenzitat. Die Schüler bleiben jedoch uneinsichtig. Daraufhin exemplifiziert sie am Dümmling der Klasse Garagraffulus Gribolus, dass auch eine Fülle von geistigem Nahrungsangebot unnütz ist, wenn kein Gebrauch davon gemacht wird, und fordert, die schon gehörten Geschichten erst einmal zu verarbeiten. Der Dümmling meldet sich zu Wort und besteht, seinem Naturell gemäß, darauf, dass man nicht alles so schnell behalten könne, mündliche Erläuterungen und Erzählungen aber besser im Gedächtnis hafteten, so dass man sie später im Leben begreifen und fleißig anwenden könne. Die Discretio erkennt, dass sich das „novum“ nicht umgehen lässt und fordert, dass man ihren Worten wenigstens mit Verstand zuhöre („figere dictis nostris non aures tantummodo sed et mentem“). Dann erzählt sie in paradoxer Intention nicht wie gefordert eine vergnügliche Geschichte, sondern von der fatalen Prophezeihung der Kassandra, worauf die Schüler mit Betroffenheit reagieren. Am Ende einer Lesung kann es auch nicht-erzählende Darbietungen geben, die von Barberino am Rand gleicherart als „novum“ bezeichnet werden, so die Selbstdarstellungen der Iustitia und der Constantia einschließlich der Verabschiedungsszene der letzteren 242 oder auch eine erzählte „quaestio“ 243 . Oder am Ende von Teil XI eine Bitte des Erzählers um Auskunft über den Aufenthalt der Constantia, die ihm wenige Tage später in einem Traum zuteil wird, den er dann berichtet 244 . „Novum“ scheint in diesen Fällen ,Gespräch, Unterhaltung‘ zu bedeuten, ähnlich prov. „novas“, das ja auch nicht immer eine Erzählung war. Barberinos Äußerung „ut doctores faciunt in ordinariis librorum lecturis“ lässt vermuten, dass die Verwendung von einladenden oder entspannenden, jedenfalls unterhaltenden „nova“ zu Beginn und am Ende einer Lesung eine Gepflogenheit mittelalterlicher Lehre war. Ob dies der Realität entsprach, lässt sich nicht sicher sagen. Selbst der Gebrauch von Exempla war in den „sermons universitaires“ sehr unterschied- 242 Bd. 3, S. 309f.; Bd. 2, S. 342ff. (Egidi); Bd. 2, S. 524, zu V. 6533; S. 353ff., zu V. 3588b (Albertazzi). 243 Bd. 3, S. 250 (Egidi); Bd. 2, S. 491, zu V. 6226 (Albertazzi). 244 Das Ganze wird mit „loco novi“ angekündigt (Bd. 3, S. 366ff. [Egidi]); ebenso am Ende von Teil X die Diskussion zwischen der Innocentia und dem Garagraffulus Gribolus um die „caritas“ (Bd. 3, S. 335f. [Egidi]). <?page no="90"?> 90 lich 245 . Nur in Predigten setzte man gern Exempla ans Ende, gefolgt von einer Moral oder Exhortatio an die Zuhörer 246 . In der zitierten Auseinandersetzung zwischen der Discretio und ihren Schülern um das abschließende Erzählen werden nun auch unterschiedliche Einstellungen zum Erzählen deutlich. Während die Lehrerin das „novum“ ablehnt 247 und rigoros für die belehrende, erläuternde und veranschaulichende, kurz die exemplarische Funktion des Erzählens eintritt und dies durch ihre Beispiele beweist, die vom antiken Autoritätenexempel über das ad hoc gebildete eigene Exempel bis zur aufschreckenden Schlusserzählung reichen 248 , vertreten die Schüler den Anspruch auf das erquickliche und gefällige Erzählen des „novum“, das sie hier gleich mehrfach und im Plural einfordern („Nova nova“). Vertreten durch die Dümmlingsfigur können sie es aber nicht anders denn als mündliches Erzählen definieren („Sed quod vos dixeritis“), das besser in der Erinnerung haften bleibe. Die Mündlichkeit scheint dabei das „novum“, das „Neue“, zu garantieren und dieses den unterhaltsamen Charakter. Was die Mündlichkeit des „novum“ in der Lehrsituation 249 der Documenti d’amore bedeutet, davon gibt die nachfolgende Beschreibung eine Vorstellung: 245 Nach Bremond / Le Goff / Schmitt, L’Exemplum, S. 56f., schwankt er zwischen gar nicht und häufig. 246 L’Exemplum, S. 160f. In einer Predigt „Ad pueros et adolescentes“ gibt es sogar „une véritable cascade“ von sieben aufeinanderfolgenden Exempla (ebd.). Auch bei Barberino erzählt die Allegorie der Spes am Ende ihrer Lesung eine Folge von drei „nova“: „Sed ante omnia rogo te: ‚Audias tria nova que in fine lecture ista domina nobis scolaribus recitavit? ‘“ (Bd. 2, S. 402, zu V. 4205b) 247 Auch die Gratitudo lehnt zu Beginn von Teil XI das entspannte Erzählen ab: „non potuit, aut noluit, hic nobiscum stare in fabulis maxime cum longas haberet materias recitare.“ (S. 547, zu V. 6748.) 248 Zum „exemplum terribile“ zwecks Steigerung der Aufmerksamkeit siehe R. Schenda, „Stand und Aufgaben der Exemplaforschung“, Fabula Bd. 10/ 1969, S. 69-85, bes. S. 79. 249 Diese entspricht generell derjenigen auf mittelalterlichen bildlichen Darstellungen, z.B.: „Venit igitur super se stans ut doctor ad discipulos, et in cathedra sedens legit.“ (Bd. 2, S. 337, zu V. 3416a) „[R]evolvit se ad scolares nos sedentes ante eam et inquid [...].“ (S. 377, zu V. 3827) Geradezu herrschaftlich ist der Auftritt der geflügelten Spes sowie ihre Anrede an die Schüler: „cordis depressis et alis clausis sedit et inquid ad iuvenes adscultantes: ‚Domini, recolimus nos legisse [...].‘“ (S. 390, zu V. 4053) <?page no="91"?> 91 Modo quero a te nunquid [Egidi] 250 hec domina recitaverit aliquod pulcrum novum in fine. Respondeo quod sic. Clauso autem libro in quo sue partis lecturam compleverat, ait ad suos: „Ei qui dedit nobis gratiam perveniendi ad hunc locum gratias referamus, et ante discessum vestrum audite quod reportantes in vestris cordibus recondatis. Tempore Abesab, in etate tertia, cum Eritreia Sibilla que alias Babillonica dicitur claruisset et cepisset optima dicta proferre, accesserunt ad illam VII filii Asser [...]. 251 Als sie am Ende ihrer Lesung angekommen ist, schließt die Allegorie der Gloria das Buch, aus dem sie den mitschreibenden Schülern vorgetragen hat, und dankt Gott. Dann trägt sie von sich aus und ohne Buch den Schülern noch ein „novum“ - so der Randhinweis - vor, das diese „mitnehmen und in ihren Herzen bewahren sollen“. Das mündliche Erzählen ohne Buchvorlage ist hier in den Verbformen „recitaverit“ und „audite“ impliziert, obwohl beide Verben auch beim Vorgang des Vorlesens aus einem Buch verwendet werden. „Recitare“ („vortragen“) ist aber das Standardverb in Verbindung mit „novum“, seltener stehen „dicere“ 252 oder „inquid“. Auch „audire“ geht eine enge Verbindung mit „novum“ ein, mit „audi quoddam novum“ wird etwa ein „novum“ zwischen zwei „documenta“ eingeschoben 253 und mit „audisti novum de illis de Pergama“ wird in der Regula LXXIV auf ein solches angespielt 254 . Mündlich erzählte „nova“ können natürlich wie Exempla aus Büchern stammen 255 , für Exempla ist dies jedoch die Norm; die klassische Einleitung lautet in ihrem Fall „legitur in libro [...]“ 256 . 250 Albertazzi fälschlich: „Modo quero a te: inquid hec domina, recitaverit aliquod pulcrum novum in fine.“ 251 S. 506, zu V. 6388. 252 Z.B. ist zu der oben zitierten Bemerkung des Garagraffolus Gribolus („Sed quod vos dixeritis“) sinngemäß „novum“ hinzuzufügen. 253 S. 399. Der Autor übernimmt hier die Rolle der Lehrerin und wendet sich mit deren Aufforderung zum Zuhören an den Leser: „Sed antequam ad sequens venias documentum audi quoddam novum quod hic ista domina Spes volens [...] a lectura illo sero quiescere recitavit [...].“ Ebenso am Ende dieses Teiles (VI): „Sed ante omnia rogo te: ‚Audias tria nova que in fine lecture ista domina nobis scolaribus recitavit. [Albertazzi: recitavit? .]‘“ (S. 402, zu V. 4205b). 254 S. 278. Dies ist der einzige Fall, wo die Regel statt durch ein Exemplum durch ein „novum“ erläutert wird. 255 Vgl. z.B. S. 385, zu V. 4001 („legimus in quodam libello“); S. 390, zu V. 4053a („recolimus nos legisse“). 256 Zu den literarischen Quellen der verschiedenen Exemplatypen siehe Welter, L’Exemplum dans la littérature religieuse et didactique, S. 105ff.; zu den <?page no="92"?> 92 Vor allem anderen ist es aber ihr Unterhaltungswert, der die „nova“ von den Exempla unterscheidet. Weil sie keine direkte Lehre vermitteln, sondern der allgemeinen Einstimmung auf das Lernen oder der Erholung davon dienen, haben sie nur einen lockeren Bezug zum jeweiligen Thema, das durch sie allgemein und abstrakt illustriert oder vorbereitet wird: Beispiele dafür liefern die „discrezione“ der klugen Tochter eines normannischen Herzogs, die unter sieben Prätendenten denjenigen herausfindet, der sie um ihrer selbst willen liebt, oder die „patientia“ eines zweiten Hiob 257 . Oder es wird nur erzählt, aber keine Moral aus dem Erzählten gezogen 258 . Wichtig für den Unterhaltungscharakter ist die Erzählweise. So sind „nova“ durchweg länger als Exempla. Die durchschnittliche Länge eines Exemplums lag unter zwanzig Zeilen 259 , das längste „novum“ der Documenti d’amore erreicht aber 106 (Egidi: 143) Zeilen 260 . Dabei ist zu bedenken, dass Barberino nach eigener Aussage die „nova“ gegenüber seinem „liber Floris novellarum“ schon gekürzt hat, so wie er es etwa mit der Erzählung über Ugolino de Folcalchiero getan hat 261 . ,Novellistisches‘ Erzählen besaß jedenfalls Einführungsformeln „fertur“, „legitur“, „sicut ego vidi“ usw. ebd., S. 81. Vgl. auch zu „Regula“ XXXIV, S. 257: „Legitur in libro qui construit arma cordis [...].“ Ebenso zu LX, S. 272. 257 Erzählt von der Discretio (S. 359-362, zu V. 3607) bzw. von der Patientia (S. 377f., zu V. 3827). 258 So in den beiden von der Prudentia in ihre Lesung eingeschobenen „nova“ provenzalischer Herkunft (Teil VII, S. 428f., zu V. 4709, und S. 450f., zu V. 5274f.) oder im „novum inductivum“ der Spes, deren Ermahnung sich auf die noch kommenden Lehren bezieht: „Rogo igitur, amici, ut mea monita velitis admictere, que secuntur infra per huiusmodi partem nostram [...].“ (Teil VI, S. 392, zu V. 4053a) 259 Siehe oben, S. 82, Anm. 219. Das Exemplum kann auch deswegen kurz sein, weil es in eine andere Redeform (Predigt, Traktat) eingebettet ist, durch die sein Verständnis gesichert wird. 260 Es ist das oben zitierte „novum“ der Discretio; das „novum inductivum“ der Prudentia hat 82 (107) Zeilen. Von den drei abschließenden „nova“ der Spes (S. 402ff., zu V. 4205b) ist das erste 106 (110) Zeilen lang, das sich unmittelbar anschließende zweite, das einen Vorfall aus derselben Familie erzählt, 24 (31) Zeilen; das dritte bringt es auf 20 (27) Zeilen. Die kürzeste als „novum“ bezeichnete Erzählung (S. 36, zu V. 145) hat vier (fünf) Zeilen und illustriert im fortlaufenden Text eine konkrete Belehrung, ist also eigentlich ein Exemplum. 261 „Folchet, qui novum hoc, licet sub latioribus verbis, recitat [...]“ (S. 451). Siehe zu diesem „novum“ im Folgenden. Zur Darstellungsweise der „no- <?page no="93"?> 93 eine gewisse Breite, die nur durch die Mündlichkeit eingeschränkt wurde 262 . Hinzu kommt in den „nova“ eine stärkere Dialogisierung und auch Individualisierung. So tragen die Personen meist Namen (an Stelle von „quidam“ im Exemplum), wie überhaupt der konkrete Einzelfall ein sicheres Kennzeichen für eine sich als „novum“ gebende Erzählung ist 263 . Die erzählten Geschichten müssen dabei nicht unbedingt modern oder höfisch sein, sofern sie neu im Sinne von wenig gehört und nicht oft wiederholt sind. Wie schon in der Unterhaltung mit hohen Herren (I, 6) können daher auch weniger bekannte antike oder biblische Stoffe erzählt oder variiert werden 264 . Zusätzlich werden schon, wie später in der Novelle, Normen in Frage gestellt 265 . Insgesamt geht die Tendenz im „novum“ va“ provenzalischer Herkunft äußert sich Müller, Die altprovenzalische Versnovelle, S. 128ff. Er hält Barberinos Erzählungen generell für „vermutlich stark gekürzt[e] Inhaltsangaben“ der provenzalischen Originale. Dagegen sprechen jedoch schon die Redewechsel und der Detailreichtum der „nova“. 262 Vgl. die Empfehlung dazu in I, 6. (oben, S. 61 mit Anm. 149). 263 Dies entspricht der „storicizzazione“ in der Entwicklung vom Exemplum zur Novelle; vgl. E. Malato, „La nascita della novella italiana: un’ alternativa letteraria borghese alla tradizione cortese“, in: La novella italiana. Atti del Convegno di Caprarola settembre 1988, Roma 1989, Bd. 1, S. 3-45, hier: S.24. Ein besonders treffendes Beispiel hierfür ist die erwähnte, einer provenzalischen Prosanovelle entstammende Geschichte (siehe Müller, S. 138), wie ein gewisser Ugolinus de Folcalcherio durch seinen Mut seiner Dame das Leben rettete und zum Dank ihre Hand erhielt (S. 450f., zu V. 5274f). Eingeleitet wird sie explizit als Ausnahmefall: „Crederem bene de aliquibus quos cognosco quod ipsi pro eis [dominae suae] ponerent vitam suam, sed omnes homines non sunt [Albertazzi: „sunt. Ugolinus“] Ugolinus de Folcacherio, qui cum semel quandam suam dominam sociaret [...].“ Über die Akzentverschiebung vom belehrend Allgemeinen ins unterhaltend Besondere, wie sie hier vorliegt, siehe auch Pabst, Novellentheorie und Novellendichtung, S. 12f. 264 Zu den Inhalten der altprovenzalischen „novas“ siehe Müller, Die altprovenzalische Versnovelle, S. 6. 265 So handelt die Schlusserzählung der Patientia von zwei ungleichen Brüdern, von denen der eine zunächst mit großer Geduld die Launen seines Bruders erträgt, diesen aber schließlich für ein Vergehen mit dem Tode bestraft, ohne Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Dies kommentiert die Erzählerin: „Videte igitur quod talis patientia non poterat dici virtus“ (S. 386, zu V. 3998). In der Bewertung des Kommentars wird hier also ein nach dem Buchstaben normgerechtes Verhalten problematisiert. Die Problematisierung eines solchen Verhaltens durch Erzähler oder Zuhörer ist später im Decameron ein geläufiges Verfahren; vgl. hierzu H.-J. Neuschäfer, Boccaccio <?page no="94"?> 94 erkennbar zu einem Erzählen, das gefälliger ist als im Exemplum und das dem Prinzip der „delectatio“ gehorcht 266 . Barberino kann so vom „pulcrum novum“ sprechen 267 wie zuvor in der höfisch inspirierten Unterhaltung mit Frauen von „belle novellette“ (I, 6). „Pulcrum“ ist für ihn, wie wir gesehen haben, ein Werturteil, das mit ästhetischen und unterhaltenden Qualitäten zu tun hat. Auch wenn sich in den Documenti d’amore hinter der Bezeichnung „novum“ bisweilen ein Exemplum verbirgt und umgekehrt, die Begriffe also, weil noch nicht hinreichend gefestigt, füreinander eintreten können, so kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass unterschiedliche Vorstellungen mit ihnen verbunden sind. Dafür spricht auch die gezielte Bemerkung der Discretio in der Auseinandersetzung um das „novum“: „vos habetis hoc libro variorum scripta novorum et etiam exemplorum“ (S. 372) - „ihr findet in diesem Buch mannigfaltige ‚nova‘ aufgeschrieben und auch Exempla“. Zudem ist zu beobachten, dass sich in den Randhinweisen der Documenti d’amore im Laufe des Werks die Begriffswahl von „exemplum“ zu „novum“ verschiebt. „Exemplum“, das anfangs fast ausschließlich und entsprechend der Anzahl der eingeschobenen Erzählungen sehr oft verwendet ist, wird von Teil III an völlig durch „novum“ abgelöst, mit dem dann vor allem die - weniger zahlreichen - Erzählungen der allegorischen Gestalten bezeichnet werden. Dieses Vorrücken des Begriffs (und Sachverhalts) „novum“ bei einem Autor, der eine besondere Aufmerksamkeit für gesellschaftliches Verhalten besaß, lässt auf die zunehmende Durchsetzung und Ausbreitung des unterhaltsamen Erzählens schließen, das aus der laizistischen höfischen Kultur hier sogar in deren Vermittlung eindringt, wo es das belehrende Exemplum zurückdrängt. und der Beginn der Novelle. Strukturen der Kurzerzählung auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit, München 1969, bes. Kap. 3. 266 Vgl. Malato, „La nascita della novella italiana“, S. 26. Die „partecipazione emotiva ed eventualmente critica“ des Lesers oder Zuhörers, die Malato bei der Novelle, zumal der des Decameron, konstatiert (S. 25), ist bei Barberino hingegen noch nicht auszumachen. 267 S. 114, zu V. 932; S. 506, zu V. 6388. <?page no="95"?> 95 „Novella“ und „essemplo“ im Reggimento e costumi di donna Es ist nur folgerichtig, wenn in dem später vollendeten Reggimento e costumi di donna die Bezeichnung Exempel weiter in den Hintergrund tritt. Nur zweimal werden hier Beispielerzählungen als „essemplo“ angekündigt: „E aduce di ciò uno essemplo“ bzw. „[...] di questa matera parlerò / per certi essempri“ 268 . In einigen Fällen konstruiert der Autor selbst ein passendes Beispiel: „Di ciò possiamo porre un picciolo assemplo. Va una donna a filare a finestra [...]“ 269 . Ansonsten sind die Exempla, die das jeweilige Ge- oder Verbot belegen oder veranschaulichen bzw. der Abschreckung dienen 270 , ohne eine solche Ankündigung in den Text eingefügt und die Bezeichnung „essemplo“ wird allem Anschein nach vermieden. Die Beispielerzählungen sind in der Regel nicht länger als einige Zeilen, können aber kurze Dialoge enthalten 271 . Handelnde Personen tragen gelegentlich Namen, und das Geschehen kann an einem bestimmten Ort spielen 272 . Längere Exempla nähern sich schon der Erzählweise des „novum“ bzw. der „novella“ an. Weitaus häufiger begegnet im Reggimento e costumi di donna für eingeschobene Erzählungen das Wort „novella“, und zwar durchaus im Sinne einer bestimmten Textart, also als Gattungsbegriff. Die längste dieser „novelle“ hat 124, die kürzeste 25 Zeilen 273 . In der Erzählweise gibt es keinen prinzipiellen Unterschied zu den „nova“ der Documenti d’amore. Auch die „novelle“ sind durchweg in Prosa gefasst; in zwei Fällen wechselt der Erzähler zwischen Vers und 268 Reggimento e costumi di donna, V, S. 75, Z. 22, und XVI, S. 197, Z. 11f.; im zweiten Fall folgt eine Reihe von drei Exempla. 269 V, S. 76, Z. 19; ferner: II, S. 25, Z. 5ff. 21ff. 270 Z.B. das von der Bestrafung der kannibalischen Gelüste einer Schwangeren (XVI, S. 193, Z. 13ff.). 271 Die längsten Beispiele mit 28 bzw. 24 Zeilen entfallen auf den fünften Teil (S. 74ff.). Noch kürzer als Exempla sind die Autoritätenzitate, „simiglianze e concordanze di [...] detti di savi e di filosafi della divina legge e dell’umana“ (IV, S. 33, Z. 18) in ebenfalls bestätigender Funktion. 272 Typisch: „Una donna ebe in Siena“; „Una donna da Pisa“ (XVI, S. 202, Z. 9; S. 203, Z. 16). 273 S. 135ff. (Teil IX) bzw. S. 26f. (Teil II). In beiden Fällen weist der Autor auf den Umfang hin: „sì come stanco della mia gran novella / io mi convegno alquanto riposare“ (S. 138, Z.12f.); „E io di ciò vi dico una brieve novella, la qual di fatto fu lunga e noiosa.“ (S. 26, Z. 33f.) <?page no="96"?> 96 Prosa 274 . Dialoge, auch längere, sind gang und gäbe und die Protagonisten tragen überwiegend Namen. Die Ereignisse in fünf von insgesamt zehn Novellen haben sich, wie in der späteren Novellistik üblich, in der näheren Vergangenheit zugetragen, jedoch nicht in Italien, jedenfalls nicht ausdrücklich. Dafür sind die restlichen fünf Novellen in Frankreich angesiedelt - wie es scheint eine Ausbeute der Reisen des Autors in diesem Land: Passando me per Alvernia, fummi mostrato presso a Nostra Dama dal Poggio uno castel, del nome del qual non mi ricorda, il qual era d’uno savio cavaliere e d’uno accorto, il cui nome ancor non mi posso ricordare. Avea una sua figliuola ch’avea nome suora amabile [...]. 275 Essendo io una fiata a Parigi, dissimi uno cavaliero del re di Castella una novella di maravigliosa constanza d’una donna vedova di quel reame [...]. 276 Die Auslassung von Eigennamen korreliert in diesen Fällen offensichtlich mit der persönlichen Verbürgung des Autors für die Authentizität des Geschehens bzw. der Erzählsituation 277 . In einer Novelle, wo es um das geduldige Warten eines Mädchens auf den rechten Ehemann geht, wird die Erzählsituation ausführlicher mitgeteilt, was hier zur Folge hat, dass sich aus der erzählten Geschichte auch eine Moral für ihre zufälligen Zuhörer („la compagnia e me“) ableiten lässt: Esssendo io alla detta badia [offenbar ein gern besuchter Ort, an dem in der Novelle der König die Ehe stiftet], l’abate, contandomi questa novella, mi mostrò uno giovane disceso di quella gente, dicendomi: - Vedi che l’uomo talora crede l’indugio esser rio, ch’è buono; ché messer Ugonetto, poniamo ch’avesse trovato uno buono [marito], non l’avria [sua figlia] possuta poner 274 In den Novellen der Teile V und VIII. Ramiro Ortiz vermutet, dass die Prosa im Reggimento e costumi di donna eine Folge dieser narrativen Einlagen sein könnte und dass Barberino in einer Überarbeitung den ganzen Text habe rhythmisieren wollen („Il Reggimento del Barberino nei suoi rapporti colla letteratura didattico morale degli ‚Ensenhamens‘“, in: Francesco da Barberino e la letteratura didattica neolatina, S. 85-146, bes. S. 140ff.). 275 VII, S. 124, Z. 20ff. 276 VI, S. 113, Z. 34ff. 277 Zwei weitere Fälle: „Una si mostrava indemoniata ed era molto bella e i suoi capelli avea molto cari [...]. Andòvi un mio caro amico in compagnia d’uno suo cugino; vide sua maniera ed ebe conosciuta sua mattezza.“ (II, S. 26, Z. 35ff.) „Una eromita fue a Noion in Piccardia [...]. Ebe in quella contrada, sicondo che mi disse uno canonico della chiesa maggiore, una gente di giovani […].“ (X, S. 145, Z. 4ff.) <?page no="97"?> 97 in grande luogo. - E quinci confortava la compagnia e me se non così tosto potavamo esser spigliati dal re, dicendo: - Voi sarete tardati da Dio tanto, che voi verrete al punto ch’arete migliore spigliamento, se voi arete ragione e serete pazienti. 278 Als Ergebnis solcher Erzählereinschübe bekommt das Erzählen einen stark persönlich geprägten Charakter. Dies und möglicherweise auch die Volkssprache führen in den „novelle“ des Reggimento e costumi di donna zu einem Erzählen, das noch freier wirkt als in den „nova“ der Documenti d’amore 279 . Bleibt noch zu sagen, dass sich auch im Reggimento e costumi di donna das Erzählen als eine Form des „bel parlare“ präsentiert. So verspricht der Autor „una legiadra e bella novella“ oder „una novella [...] pur bella“ und im Proöm ganz generell „belle novellette“ 280 . Die „novelle“ des Reggimento e costumi di donna präsentieren sich also als Beispiele des neuen unterhaltenden Erzählens, zumal sie neben der gefälligen Darstellungsweise auch das Erkennungszeichen der höfischen Liebe aufweisen, die dort Gegenstand oder wenigstens Motiv des Erzählens ist. Wie in den Documenti d’amore lehrt und erzählt Barberino nämlich auch hier im Auftrag, aber nicht im Auftrag Amors, sondern in dem der Onestade, an die sich seine Dame mit dem dringenden Wunsch nach einer Darstellung der „costumi ornati“ für Frauen gewandt hat. Eloquenzia und Industria sind nach höherem Willen für Inhalt und rechte sprachliche Form des Werks zuständig, er selbst soll nur die schreibende Hand sein 281 . Adressaten des Werks sind Frauen „che vogliono caminare per la via de’ costumi“ 282 , wobei unter „costumi“ hier höfisch geprägte 278 III, S. 32, Z. 29ff. 279 Vgl. das Urteil von Thomas über die Novellen des Reggimento e costumi di donna: „[...] le style en est facile et animé. La narration montre déjà plus d’art que l’on n’en trouve dans le Novellino, et la langue de l’auteur fait pressentir celle que saura si bien employer le maître du genre, messer Giovanni Boccaccio.“ (Francesco da Barberino et la littérature provençale en Italie, S. 43) 280 „Proemio“, S. 5, Z. 20f. und öfter. 281 „Proemio“, S.1, Z. 25f.: che nulla briga aràe di pensare, ma sol della penna volger sulla carta. 282 S. 1, Z. 6. Ein nicht geringes Problem ergibt sich hier aus der Lese(un)fähigkeit der Frauen. Grundsätzlich ist Barberino der Überzeugung, dass die meisten Frauen, ausgenommen potentielle Regentinnen, besser nicht <?page no="98"?> 98 Verhaltensweisen zu verstehen sind und man sich das Publikum dementsprechend als die weibliche Ergänzung desjenigen der Documenti d’amore vorzustellen hat 283 . Barberino verharrt nun nicht in der Passivität des bloß Schreibenden. Vielmehr schlüpft er in die Rolle der Eloquenzia und der Industria, und auch seine Dame gewinnt immer mehr an allegorischer Qualität 284 . Zudem entwickelt sich im Verlaufe der zwanzig Kapitel eine bisweilen launige Beziehungsgeschichte zwischen ihm und seiner Angebeteten, die wiederholt von ihm aufgesucht wird, damit er ihr die Fortschritte des Werkes zeigen und aus ihrem Anblick neue Kraft schöpfen kann 285 . lesen (und schreiben) lernen sollten, weil dies die Möglichkeiten zu Fehltritten vermehrt (I, S. 14f.). Er rechnet daher damit, dass Frauen sich sein Werk vorlesen lassen müssen: „E priego ancor questa cotal donzella che legga o leger faccia tutte le parti“ (III, S. 31, Z. 10), aber auch: „pertanto che gli legitori e le donne che legeranno vorranno tal fiata inducer le sue figlie a bella costumanza“ (I, S. 16, Z. 34f.). 283 Dieser Konzentration auf den Stadtadel bzw. die Bürger mit adliger bzw. höfischer Lebensführung widerspricht auch nicht die Darstellung weiterer weiblicher Lebensformen im Reggimento e costumi di donna. Was zählt, ist deren Ausführlichkeit und damit ihr jeweiliges Gewicht. 284 Die Eloquenzia zum Autor: „E va, comincia; ed ecco Industria teco e io che ti sarò nella tua lingua, e parla omai come tu fossi uno uomo che solo da te ti movessi a dittare, e vieni tessendo la tela indorata, ché noi t’aparechiamo i fili ad oro.“ („Proemio“, S. 5, Z. 25ff.) Die Identität der Dame, auf die der Autor in VI, S. 104f., eine große Lobrede hält, bleibt im Werk ungeklärt, ja wird als geheimnisvoll hingestellt. Einige Interpreten haben ihr Vorbild in der „Intelligenzia“ aus dem gleichnamigen anonymen und Dino Compagni zugeschriebenen Werk sehen wollen (Thomas, Francesco da Barberino et la littérature provençale en Italie, S. 47); Charles Franco plädiert für eine Deutung als „Sapienza divina“ (Arte e poesia nel Reggimento e costumi di donna, S. 45ff.). 285 Siehe etwa II, S. 20f.: „E ancor vegno a voi per dimostrarvi e per legervi prima quel poco che n’è fatto, e per saver se vi piacesse ch’io altro modo tenesse“; VI, S. 106, Z. 15ff.: „ - Come è ella [l’ovra] innanzi? / - Madonna, i’ son già nella sesta parte / e ho speranza omai, con vostra forza, / tosto menarla al suo beato fine; “ usw. Eine der amüsanten, stark dialogischtheatralischen Szenen findet am Tor ihres Palastes statt (IV, S . 37, Z. 14ff .) : - Aprite, aprite, aprite, aprite! Chi è qua dentro risponda, per Dio, ch’i’ sono stanco di pur gir cercando. - Questo sarà lo spiacevol Francesco! Dì che non vegna, se non ch’i’ me n’esco. <?page no="99"?> 99 Dank dieses allegorischen Rahmens gerät das Reggimento e costumi di donna zu einem Abbild des höfisch gesitteten Gesprächs zwischen den Geschlechtern, in dem der Autor, wie in den Documenti d’amore gefordert, die Frauen ganz wörtlich „di netteça e donesta con belle novellette“ unterhält und damit zugleich als „fedele servo“ einem Wunsch seiner Dame entspricht. Unter dem äußeren Anschein des neuen höfisch geprägten Erzählens lebt nun aber im Reggimento e costumi di donna die alte Intention des Exempels weiter. Das ist an der Stellung der „novelle“ am Kapitelende zu erkennen 286 , wo sie - anders als die „nova“ - nicht der Entspannung der zuhörenden Schüler dienen, sondern nach Exempelart die vorausgegangenen Belehrungen über die nach Lebensphasen und sozialen Ständen abgehandelten „costumi ornati“ zusammenfassen und illustrieren. Z.B. handelt die „novella“ am Ende des ersten Kapitels von einem noch sehr jungen Mädchen, das ein Ritter wegen seiner schon untadeligen Sitten als Ehefrau einer englischen Königstochter vorzieht, und der Autor weist ausdrücklich darauf hin, dass diese „novella“ zu Erziehungszwecken verwendet werden kann: Ma pertanto che gli legitori e le donne che legeranno vorranno tal fiata inducer le sue figlie a bella costumanza, per essemplo porete legere qui una legiadra e bella novella. 287 Der Hinweis, dass die Novellen „per/ ad essemplo“ erzählt seien, wiederholt sich in schöner Regelmäßigkeit, ja in diesem Zusammenhang tritt das Wort „essemplo“ öfter auf, als es für die Textart Exemplum im Reggimento e costumi di donna verwendet wird. Oft verbindet sich mit ihm der Hinweis auf die Institution des Erzählens am Ende der Belehrung: e io in questa fin, per servare l’ordine comenciato, pongo ad essemplo una cotal novella: uditela, per Dio, ch’ell’è pur bella. 288 Bei der dann doch folgenden Begegnung trägt der Autor der Dame unter anderem ein Sonett vor (S. 38f.). 286 Nur die ersten zehn Kapitel des Reggimento e costumi di donna verfügen über „novelle“. 287 I, S. 16, Z. 34ff. Es folgt die Novelle. 288 V, S. 90, Z. 25ff. <?page no="100"?> 100 Ora seguita qui una novella per seguitar lo ’ncomenciato stilo sicché ciascuna per essa porràe, prender da quella, sì come le tocca, exempro e guardia e cautela verace; ch’ell’ha in sé utilità e parti molte [...]. 289 In einigen Fällen wird die Moral der Geschichte explizit formuliert: Or dice la contessa, nota qui, che chi ne truova un buono [marito] solo Iddio laudi e, se le manca poi, non cerchi invani; et ancor color che trovato hanno i rei, vedi che vana cerca fanno ancora. 290 In anderen bleibt sie offen: [...] ma sì ti voglio, per indurre al bene, una novella d’una santa donna contare in su la fine d’esta parte: tra’ne quel frutto che ti tocca in parte. 291 Vom Vergnügen („diletto“) am Erzählen ist nur in einem Fall die Rede: [...] E noi facciàn qui fine; ma per posare a diletto leggendo, una novella che cade alla parte vedi qui scritta: leggila se piace. 292 Einmal wird auf den mnemotechnischen Nutzen des Erzählens hingewiesen: Ma per memoria e per esemplo a tutte, udite una novella [...]. 293 Und einmal heißt es, dass Erzählen auch der Erholung diene: Ora si segue alcuna novelletta che pone questa parte alla suo [sic] fine, 289 IX, S. 134, Z. 37ff. Weitere Fälle: „Proemio“, S. 5, Z. 20f.; III, S. 31, Z. 19. 290 VII, S. 120, Z. 12ff. Siehe auch III, S. 32, Z. 29ff.; IX, S. 137, Z. 38f.; X, S. 146, Z. 21ff. 291 VIII, S. 124, Z. 16ff. Weitere Beispiele IV, S. 43, Z. 35; V, S. 93, Z.11ff. 292 VI, S. 113, Z. 31ff. Vgl. auch im Proöm, in allerdings nicht ganz eindeutiger Beziehung: „[...] ben porrai tal fiata, per dare alcun diletto a chi ti legerà, di belle gobbolette seminare, e anco poi di belle novellette indurrai ad exemplo.“ (S. 5, Z. 19ff.) 293 IV, S. 42, Z. 12f. <?page no="101"?> 101 ch’ogni trattato sta ben coll’essemplo e ogni stato riposo richiede. 294 Angesichts solcher Äußerungen kann kein Zweifel daran bestehen, dass Barberino mit den „novelle“ des Reggimento e costumi di donna eine didaktische Intention verbindet. Anders als die „nova“ im Kommentar der Documenti d’amore sollen sie zuallererst belehren. Dieser exemplarische Charakter entspricht der Gattung des „ensenhamen“, der das Reggimento e costumi di donna eindeutiger zuzuordnen ist als die Documenti d’amore mit ihrer komplexen Textform. Daran ändert auch der Name „novella“ nichts, den Barberino offensichtlich gewählt hat, um die belehrende Absicht zu verschleiern und sich den Erwartungen seines (weiblichen) Publikums anzupassen 295 . Wo er vorrangig Nutzen vermitteln will, lockt er mit Unterhaltung 296 . Im Vergleich mit den so viel entspannteren „nova“ der Documenti d’amore bestätigt sich hier einmal mehr die Erfahrung, dass Erziehungsliteratur für Frauen strenger und moralisierender zu sein pflegt als solche für Männer. Barberinos Gebrauch der Bezeichnungen „novum“ und „novella“ ist für neue Wortprägungen ungewöhnlich gezielt und sicher. 294 X, S. 144f., Z. 47ff. 295 Lucia Battaglia Ricci, die noch im Decameron die Novelle ganz nahe beim Exemplum und Boccaccios Text als einen „trattato di comportamento construito con cento novelle“ sehen möchte, zitiert zum Beweis die oben genannten Stellen im Reggimento e costumi di donna, an denen Barberino die beiden Begriffe nebeneinander verwendet („,Una novella per esempio‘. Novellistica, omiletica e trattatistica nel primo Trecento“, Studi sul Boccaccio Bd. 28/ 2000, S. 105-124; bes. S. 116ff.). Die Setzung beider Begriffe - „Una novella per esempio” - zeigt aber gerade an, dass diese nicht denselben Inhalt haben und zeugt von einer begrifflichen „realtà fluida, in bilico tra varie tendenze e varie tentazioni“, wie sie dann auch selbst konstatiert (S. 119). 296 Diese Absicht hat Cathérine Guimbard auch für die Wahl der Volkssprache und des Stils im Reggimento e costumi di donna nachgewiesen: „La scelta del volgare è suggerita dalle ragioni stesse dell’esposizione: convincere per educare. L’argomento della bellezza non va interpretato in chiave estetica, semplice gusto di pura armonia, la bellezza mira al conseguimento di un fine di seduzione/ convinzione.“ („Francesco da Barberino e la scelta del volgare“, in: Il Volgare come lingua di cultura dal Trecento al Cinquecento. Atti del Convegno internazionale Mantova 2001, hrsg. von Arturo Calzona, Francesco Paolo Fiore, Alberto Tenenti und Cesare Vasoli [Centro Studi L. B. Alberti. Ingenium. 7], Mantova 2003, S. 9-23, hier: S. 11.) Als Erziehungsziel Barberinos definiert sie ein „educare al vivere comunitario“ (S. 16). <?page no="102"?> 102 Dass die „nova“ in den Documenti d’amore sich vom Exempelcharakter lösen und die als „novelle“ ausgegebenen Exempla des Reggimento e costumi di donna vom Ansehen höfischer Erzählformen zu profitieren suchen, ist aber auch ein untrügliches Indiz für den Erfolg des neuen Erzählkonzeptes. Es muss in den städtischen Kreisen, die an der höfisch-mondänen Kultur interessiert waren, so viel Prestige besessen haben, dass der erfahrene Barberino bei seiner Vermittlung der „costumi ornati“ auf die neue Begrifflichkeit nicht glaubte verzichten zu können, obwohl deren Implikationen seinen didaktischen Intentionen nicht oder nur teilweise entsprachen. Sein Sprachgebrauch dokumentiert also nichts weniger als eine Gleichwertigkeit von Exemplum und Novelle oder gar eine Geringschätzung letzterer 297 . Er dokumentiert ganz im Gegenteil das große Ansehen des mündlichen Novellenerzählens, das sich bald darauf in der Form des Novellenzyklus auch literarische Wertschätzung erobert hat. 297 Eine solche wollte Pabst in der Diminutivform „brevibus novellettis“ in den Documenti d’amore I, 6 erkennen (Novellentherie und Novellendichtung, S. 15). Man kann aber nicht genug betonen, dass beim Urteil über das Novellenerzählen der jeweilige Kontext zu beachten ist, so dass die Aussage „No bon trobaire mas noellaire fo“ aus der Biographie des Elias Fonsalada, auf die Pabst sich stützt, nur besagt, dass dieser es nicht mit den berühmten Trobadors und deren Kunstfertigkeit im Dichten und Vortragen aufnehmen konnte, wohl aber ein vorzüglicher Novellenerzähler und eben kein „gewöhnlicher Neuigkeitenkrämer“ (ebd., S. 16) war. <?page no="103"?> 103 Der gerettete Erzähler Zur Rahmenerzählung des Decameron und der Vorgeschichte der Motivfolge Pest - Erzählen 1. „Questo orrido cominciamento“: die bedrohten Erzähler des Decameron Das Problem der Pestschilderung in der Rahmenerzählung des Decameron ist so alt wie das Decameron selbst. Schon Boccaccio hat es für nötig gehalten, seinen Leserinnen, denen er im Proöm ein Werk zur Aufheiterung, zum „passamento di noia“ 1 , in Aussicht stellt, für den ernsten und bedrückenden Anfang eine Erklärung zu geben: Quantunque volte, graziosissime donne, meco pensando riguardo quanto voi naturalmente tutte siete pietose, tante conosco che la presente opera al vostro iudicio avrà grave e noioso principio, sí come è la dolorosa ricordazione della pestifera mortalità trapassata, universalmente a ciascuno che quella vide o altramenti conobbe dannosa, la quale essa porta nella sua fronte. 2 Er rät ihnen, die Pestschilderung als ein Hindernis zu betrachten, dessen Überwindung das Vergnügen an den nachfolgenden Novellen noch steigern werde: Questo orrido cominciamento vi fia non altramenti che a’ camminanti una montagna aspra e erta, presso alla quale un bellissimo piano e dilettevole sia reposto, il quale tanto piú viene lor piacevole quanto maggiore è stata del salire e dello smontare la gravezza. 3 Zwar sei es auch ihm selbst lieber gewesen, wenn er das angestrebte Ziel auf einem andern Wege hätte erreichen können, doch habe er die Dinge nun einmal so erzählen müssen, wie sie sich zugetragen hätten: 1 G. Boccaccio, Decameron, a cura di V. Branca (Einaudi tascabili. Classici), Torino 14 2008 ( 1 1980), „Proemio“, 14 (Zahlen ohne den Zusatz „S.“ verweisen auf die durchgezählten Sätze des jeweiligen Teils des Decameron und anderer Werke Boccaccios). 2 I, „Introduzione“, 2. 3 Ebd., 4. <?page no="104"?> 104 E nel vero, se io potuto avessi onestamente per altra parte menarvi a quello che io desidero che per cosí aspro sentiero come fia questo, io l’avrei volentier fatto: ma per ciò che, qual fosse la cagione per che le cose che appresso si leggeranno avvenissero, non si poteva senza questa ramemorazion dimostrare, quasi da necessità constretto a scriverle mi conduco. 4 Obwohl die Abbildung der Wirklichkeit dem Mittelalter als ästhetische Norm noch fremd war und Boccaccio hier gegenüber einem weiblichen, also nicht gelehrten Publikum argumentiert, ist seine Erklärung von der Literaturwissenschaft durchweg akzeptiert worden. So meint etwa - um ein prominentes Beispiel anzuführen - Vittore Branca, Boccaccio habe das Bedürfnis gehabt, seine Novellensammlung fest in der Realität zu verankern: „di ancorarla in modo saldo alla realtà, in un’occasione veramente eccezionale, quale la terribile peste del 1348“ 5 . Für die Schilderung der Seuche gelte diese Realitätstreue freilich nur bedingt, weil Boccaccio hier um der Nobilitierung seiner tragischen Eröffnung willen zur imitatio gegriffen habe und der Pestschilderung des Paulus Diaconus in dessen Historia Langobardorum gefolgt sei: […] nonostante queste esperienze dirette e dolorose, ubbidiendo insieme a canoni della poetica medievale e a inclinazioni del suo temperamento di scrittore, egli non rinunciò a ricorrere a una preziosa filigrana tutta letteraria. Egli volle cioè arrichire la nobiltà della sua tragica ouverture, volle impreziosire culturalmente i ritmi fantastici del suo grandioso trionfo della Morte, ricorrendo anche a uno dei procedimenti più ardui e prestigiosi del- 4 Ebd., 7. 5 „Un modello medievale per ‚L’introduzione‘“ (1946), in: V. B., Boccaccio medievale. Nuovi studi sul Decameron, Firenze 6 1986 ( 1 1956), S. 381-387, hier: S. 381. Siehe auch Luigi Russo, Letture critiche del Decameron, Bari 1973 ( 1 1956), S. 39: „il bisogno che il Boccaccio ha, uomo moderno, di richiamarsi a un’esperienza storica di vita, a far nascere le sue favole da questo mondo e in questo mondo“; oder Giovanni Getto, der meint, auf der Suche nach einem „fondamento plausibile di verità“ für die Erzählerrunde des Decameron habe sich „spontan“ die Pest angeboten: „solo una causa talmente straordinaria, sradicatrice di ogni abitudine sociale, come la peste, poteva offrirsi spontanea alla mente dell’autore […]“ („La cornice e le componenti espressive del Decameron“ [1955], in: ders., Vita di forme e forme di vita nel Decameron, Torino 4 1986, S. 1-33; hier: S. 9). Ähnlich hat Walter Pabst vom „originellen Einfall“ der Rahmengesellschaft und der Pestschilderung gesprochen (Novellentheorie und Novellendichtung. Zur Geschichte ihrer Antinomie in den romanischen Literaturen, Heidelberg 2 1967 [ 1 Hamburg 1953], S. 75). <?page no="105"?> 105 la poetica classica e medievale: cioè l’imitatio, la gara con un testo particolarmente autorevole in senso storico e letterario. 6 Schon in einem früheren Aufsatz hatte Branca gezeigt, dass Boccaccio sich auch in anderen Fällen bei angeblich selbst erlebten oder von Augenzeugen vernommenen Ereignissen literarischer Schemata bedient und damit zugleich den Vorschriften der zeitgenössischen Poetik wie seiner persönlichen Neigung folgt: Ogni volta che la sua fantasia narrativa vuole presentare fatti reali e storici, sembra non sappia quasi mai avvicinarli direttamente nella loro immediatezza, ma soltanto attraverso lo schermo di precedenti narrazioni letterarie. 7 Für die besondere Verbindung von Pestkatastrophe und Erzählen im Decameronrahmen weiß er allerdings kein solches Schema anzugeben. Da ihm aber die vom Autor erwähnte Kontrastwirkung und die daran anknüpfenden wirkungsästhetischen Erklärungsversuche 8 als nicht ausreichend erscheinen, sucht er nach einem anderen, tieferen Sinn dieser Kombination, den er im Rahmen seiner These eines „mittelalterlichen“ Boccaccio in einer an Dantes Divina Com- 6 Branca, „Un modello medievale per ‚L’introduzione‘“, S. 382f. 7 Branca, „Schemi letterari e schemi autobiografici“ (1944), in: Boccaccio medievale, S. 191-249, hier: S. 235. In dem Beitrag geht es um das lange Zeit als autobiographisch mißverstandene Liebesmotiv in den Jugendwerken des Autors sowie um zwei Episoden aus dem Alterswerk De casibus virorum illustrium. Auch die „contemporaneizzazione narrativa“, wie Branca die Erzählweise des Decameron zuletzt charakterisiert hat („Una chiave di lettura per il Decameron. Contemporaneizzazione narrativa ed espressivismo linguistico“, in: G. B., Decameron, S. VII-XXXIX; dort S. VIII zur Pest), setzt in aller Regel eine Vorgabe, eine ‚precedente narrazione letteraria‘ voraus, die ‚modernisiert‘ werden kann. 8 Auf dem wirkungsästhetischen Kontrast von Pest und geselliger Erzählerrunde insistiert vor allem die ältere Forschung, die sich einer nicht weniger phantasievollen Metaphorik als der Autor selbst bedient. Vgl. z.B. H. Hauvette, Boccace. Étude biographique et littéraire, Paris 1914, S. 213: „un prélude sombre, dont les tragiques accords et l’orchestration sinistre font ressortir, par contraste, la grâce et le piquant des couplets et des mélodies sentimentales [...].“ A. Momigliano, Storia della letteratura italiana, Milano 8 1953 [ 1 1934/ 1935], S. 85: „[...] la peste è come un’ombra su cui la luce della campagna e il ritmo delle danze sembrano più riposanti.“ A. Moravia, „Boccaccio“ [1953], in: ders., L'uomo come fine, Milano 3 1964, S. 135-158 (wieder in: P. Brockmeier [Hrsg.], Boccaccios Decameron [Wege der Forschung. 324], Darmstadt 1974, S. 69-92): „[...] la peste nutre del suo orrore le piacevolezze della villa come il terreno grasso di cadaveri di un cimitero i fiori che vi crescono sopra.“ (S. 143; deutsch: S. 77.) <?page no="106"?> 106 media angelehnten Vorstellung findet. Danach ist im Sinne der mittelalterlichen Poetik die Pest mit ihrem Sittenverfall die ideale Eröffnung einer „commedia umana“, eines Werkes komischen Stils, das die Erzählerrunde in dem „ideale itinerario“ eines moralischen Aufstiegs von den Lastern der Großen (Giornata I) über die Themen Fortuna, Amore und Ingegno (Giornate II-IX) zu den Beispielen höchster Tugend (Giornata X) führt 9 . Soweit ein Beispiel für die mannigfachen Versuche, aus der Problematik des Decameronrahmens einen Ausweg zu finden. Brancas Beobachtungen zu Boccaccios sonstiger literarischer Vorgehensweise machen es mehr als wahrscheinlich, dass es auch für den Decameronrahmen einen literarischen Hintergrund gibt. Diese Möglichkeit hat die italienische Forschung jedoch nicht sonderlich interessiert, abgesehen davon, dass oft nur einzelne Bestandteile und nicht die Rahmenerzählung als Ganzes ins Auge gefasst wurden. So ging etwa für Letterio di Francia die „prima idea fecondatrice“ zum Rahmen zwar möglicherweise vom Buch der sieben weisen Meister aus, Boccaccio habe aber mit seiner „geniale invenzione piena d’attualità e così palpitante di vita reale“ dessen „goffa e monotona finzione“ weit hinter sich gelassen 10 . Carlo Muscetta hat zusätzlich das Schema des Gastmahls aus den Saturnalien des Macrobius ins Spiel gebracht 11 . Attilio Momigliano und nach ihm Mario 9 Branca, „Coerenza ideale e funzione unitaria dell’Introduzione“ ( 1 1960), in: Boccaccio medievale, S. 31-44, hier: S. 34ff. Dieser „medievalisierenden“ Interpretation hat Joachim Küpper widersprochen, für den das kontingente Weltbild des Decameron epistemologisch der Renaissance und ihrem ‚Diskurs‘ zuzuordnen ist; nur im Rahmen gebe es eine perfekte Ordnung, allerdings als fiktive und von Menschen gesetzte („Affichierte ‚Exemplarität‘, tatsächliche A-Systematik“, in: K.W. Hempfer [Hrsg.], Renaissance. Diskursstrukturen und epistemologische Voraussetzungen. Literatur - Philosophie - Bildende Kunst [Text und Kontext. 10], Stuttgart 1993, S. 47-93, bes. S. 50 ff.). 10 Letterio di Francia, Novellistica (Storia dei generi letterari italiani), Bd. 1: Dalle origini al Bandello, Milano 1924, S. 112. Das Buch der sieben weisen Meister kann Boccaccio in Gestalt des mittellateinischen Dolopathos des Johannes da Alta Silva, des altfranzösischen Roman des sept sages oder einer italienischen Bearbeitung aus dem 13. Jahrhundert bekannt gewesen sein. Siehe dazu di Francia, S. 86f., sowie Kindlers Neues Literatur Lexikon, Bd. 19, München 1992, S. 509ff. 11 Giovanni Boccaccio, in: Letteratura italiana Laterza, hrsg. von C. Muscetta, Bd. 8, Roma/ Bari 3 1989, S. 157. <?page no="107"?> 107 Marti haben dagegen auf Boccaccios Vorliebe für den höfischen Lebensstil hingewiesen; mit der poetischen Darstellung des „gusto dell’amabile conversare“ aus der ritterlich-höfischen Literatur sah Marti das Problem des Rahmen als gelöst an 12 . Ein beachtenswerter Beitrag ist jüngst von Lucia Battaglia Ricci gekommen, in dem das Fresko des Trionfo della Morte im Camposanto von Pisa als Inspirationsquelle Boccaccios und „fonte figurativa“ des Decameronrahmens zur Diskussion gestellt wird 13 . Auch darüber, ob der Rahmen als „poesia“ zu werten sei oder nicht, hat man vielfach diskutiert. In dieser Debatte spielt die emotionale Kontrastwirkung von Pestschilderung und geselliger Erzählerrunde eine herausragende Rolle 14 . In Deutschland hatte eine positivistisch orientierte Forschung schon früh, wenn auch ohne großen Erfolg, versucht, für die Rahmenerzählung bzw. das Einschachtelungsverfahren antike Vorbilder wie Ovids Metamorphosen 15 oder Homers Odyssee ins Gespräch zu bringen 16 . Einen nachhaltigen Anstoß hat die Diskussion erst durch André Jolles 17 und seine These vom ‚Halsrahmen‘ bekommen. Jolles interessierte sich für die „Lebensgeschichte“ 18 der Rahmenerzäh- 12 „La cornice [...] scaturisce, più che da antecedenti letterari, da una delle predilezioni del Boccaccio cavaliere e cortigiano, da quel suo amore per le raffinatezze [...].“ (A. Momigliano, Storia della letteratura italiana, Milano 8 1953, S. 85) M. Marti, „Interpretazione del Decameron“, Convivium N.S. Bd. 25/ 1957, S. 276-289, S. 282: „[...] il problema della cosidetta cornice ci si è dissolto fra le mani.“ 13 Ragionare nel giardino. Boccaccio e i cicli pittorici del Trionfo della Morte (Piccoli Saggi), Roma 2 2000 ( 1 1987). 14 Siehe dazu Pier Luigi Cerisola, „La questione della cornice del Decameron“, Aevum Bd. 49/ 1975, S. 137-156, bes. S. 141f. Cerisola gibt einen Überblick über die Bemühungen einer ganzen Generation von italienischen Forschern um den Decameronrahmen. Er selbst spricht ihm wegen der komplexen Architektur eine „posizione di assoluta indipendenza e preminenza“ zu (S. 138). 15 Mit der Episode der Minyas-Töchter in Metam. III, 732-IV, 415 (M. Landau, Die Quellen des Dekameron, Stuttgart 2 1884 [ 1 1869], S. 314f.) 16 E. Misteli, Die italienische Novelle, Aarau 1915, S. 17. 17 „Einleitung zur neuen deutschen Ausgabe des Dekamerons“, in: G. Boccaccio, Das Dekameron, Leipzig: Insel, 1923, S. VII-XCVI. 18 Seinen ‚formgeschichtlichen‘ Ansatz kennzeichnet die folgende Bemerkung: „Untersuche wer Lust hat, was im daktylischen Hexameter, in der ägyptischen Hohlkehle, im Sonett, im ionischen Kapitäl und in der Rahmenerzählung auf dem glücklichen Einfall eines Künstlers beruht, was sich aus der Technik als Notwendigkeit ergeben mußte und was endlich aus so- <?page no="108"?> 108 lung. Letztere ist für ihn eine „komplizierte Form“, die aus mehreren „einfachen Formen“ 19 zusammengesetzt ist, nämlich aus „ungleichartigen Geschichten“, die „zusammengehalten werden in einer Weise, die sich nicht aus den Geschichten selbst ergibt“ 20 . Sie gehört zu den „ziemlich späten Komplexen“ der literarischen Entwicklung 21 und es gibt eine ältere und eine jüngere Art: Bei einigen [Rahmenerzählungen] bildet der Rahmen eine selbständige Erzählung, die zwar Veranlassung gibt, die erhaltenen Geschichten mitzuteilen, aber doch ihren eigenen Weg nimmt. Bei andern besteht der Rahmen aus einer mehr oder weniger genauen Schilderung der Personen, die erzählen, und des Milieus, wo erzählt wird. 22 Beiden ist der lehrhafte Zweck gemeinsam, die Verbreitung einer Lebensweisheit oder einer moralischen These, beide sind aber auch mehr oder weniger „Halserzählungen“. Das bedeutet, dass sich in ihnen „entweder jemand das Leben [rettet], indem er seine Geschichte erzählt, oder [...] ein gefährlicher Termin überschritten“ wird, während man erzählt 23 . Als Beispiele nennt Jolles die Rahmenerzählungen des Pantschatantra, von Tausendundeiner Nacht, des Papageienbuches und der Sieben weisen Meister. Auch in der Rahmenerzählung des Decameron erkennt er Spuren einer Halserzählung: Sind wir hier nicht in dem alten Rahmen? Die Geschichten, die sie [die Erzähler] sich bald erzählen werden, dienen, wenn nicht direkt, so doch indirekt dazu, den fatalen Termin, der über Tod und Leben entscheidet, zu überwinden. Nicht aus purem Leichtsinn ziehen diese zehn jungen Leute zur Zeit, da ihre Mitbürger auf das äußerste bedrängt werden, nach draußen, ins Freie [...] - Nein, wir fühlen hier deutlich den Zwang, die Halserzählung, die Geschichte, die über den Tod siegt. 24 zialen oder ökonomischen Verhältnissen zu erklären ist - mir scheint die Lebensgeschichte dieser Formen wichtiger als ihre Abstammung.“ („Einleitung“, S. IX) 19 Hierzu sein Buch Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft. 15), 6 Tübingen 1982 ( 1 1930). 20 „Einleitung“, S. XI. 21 S. X. 22 S. XI. 23 S. XVI. 24 S. XVIII. <?page no="109"?> 109 Die Verbindung von Pest und Erzählen im Decameron ist für Jolles also eine Variante des Schemas vom Erzählen in Lebensgefahr, wie es im orientalischen Rahmen üblich war. Zwar entgeht ihm nicht, dass der Zusammenhang zwischen Erzählen und fatalem Termin im Decameron lockerer ist als in der Halserzählung, weshalb er das Decameron „auf der Scheide zwischen der älteren und der jüngeren Form“ des Rahmens sieht, in der das Terminmotiv „meistens verschwunden“ ist. Die für die orientalischen und auch die mittelalterlichen Rahmenerzählungen kennzeichnende Verbindung von „Lebensweisheit und Moral“ sei aber erhalten geblieben. Er sieht sie vor allem in den Novellen ausgedrückt in deren thematischer „Steigerung [...] von der Fortuna zum Amor in seinen verschiedenen Formen, von Amor zur Großmut“ 25 , während der ornamentale und dekorative Rahmen durch seinen „strengen Stil“ die „lebhafte, realistische Darstellungsart der einzelnen Novellen dämpfen“ soll 26 . Fast gleichzeitig mit Jolles hat der russische Formalist Viktor Šklovskij in seiner Theorie der Prosa über die verschiedenen Möglichkeiten der Einschachtelung von Erzählungen nachgedacht. Neben dem aufschiebenden Erzählen der orientalischen Sammlungen, dem Prinzip der „Retardation“, sieht Šklovskij ein beweisendes oder widerlegendes Erzählen im Rahmen eines „Disput[es]“, das freilich der schriftlich fixierten Literatur vorbehalten sei 27 . Mit den orientalischen Sammlungen haben Juden und Araber viele vertraute Erzählstoffe nach Europa gebracht, für den Rahmen gilt das jedoch nicht: Zur gleichen Zeit entstand ein europäischer Typus der Rahmenkomposition: das Erzählen um des Erzählens willen. Ich meine das Dekameron. 28 Auf welche Weise dieser europäische Rahmentyp entstanden ist, lässt Šklovskij offen und es interessiert ihn offensichtlich auch nicht. Jolles’ Versuch, den Decameronrahmen an die orientalischen Rahmenerzählungen anzuschließen, ist in Deutschland von Otto 25 S. XCIII. 26 S. LXX. 27 „Der Aufbau der Erzählung und des Romans“, in: V. Šklovskij, Theorie der Prosa, hrsg. und übers. von Gisela Drohla, Frankfurt a.M. 1966, S. 62-88, hier: S. 81. 28 Ebd. <?page no="110"?> 110 Löhmann aufgegriffen und auf die nackten Fakten reduziert worden. Für Löhmann steht fest, dass Boccaccio [...] von den orientalischen erzählsammlungen das prinzip übernommen [hat], eine anzahl von personen zu vereinigen, die innerhalb einer fortlaufenden handlung, in einem begrenzten zeitraum und zu einem bestimmten zweck, eine reihe von geschichten erzählen. 29 Einige Jahrzehnte später hat Hans-Jörg Neuschäfer die Abweichungen des Decameronrahmens vom Halsrahmen im Kontext seiner Deutung der neuen Form der Novelle interpretiert 30 . Da im Decameron nicht mehr wie in der Halserzählung das Problem der Pestseuche durch „Geschichtenerzählen noch überhaupt durch menschlichen Verstand lösbar“ ist, vielmehr die Pestsituation und das weitere Schicksal der Erzähler am Ende ungeklärt bleiben, sieht er einen „unaufgelösten Rest“ 31 ganz wie in den Novellen, die sich durch Ambivalenz und Vieldeutigkeit der Personen und des Geschehens von den bisherigen mittelalterlichen Erzählformen absetzen. Das ungeheure Ausmaß der Pestkatastrophe verschärfe die Problematik noch, denn dadurch werde „wohl zum ersten Mal so grundsätzlich […] die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Natur gestellt“, und genau dies „scheint […] die Funktion der Pest im Rahmen zu sein, dass sie ein solches Abwägen von miseria und dignitas ermöglicht“ 32 . Andererseits steht im Decameronrahmen nun das Erzählen nicht mehr unter Zwang, sondern wird erstmals zum „Selbstzweck“: 29 O. Löhmann, Die Rahmenerzählung des Decameron. Ihre Quellen und Nachwirkungen. Ein Beitrag zur Geschichte der Rahmenerzählung (Romanistische Arbeiten. 22), Halle a.d.S. 1935, S. 70. Im Einzelnen verweist für Löhmann der Grundgedanke des Decameron, „einen gefährlichen zeitraum durch erzählen von geschichten verstreichen zu lassen“, sowie die gleichmäßige Verteilung der Geschichten auf mehrere Tage auf die Sieben weisen Meister, die thematische Anordnung der Geschichten hingegen auf das Pantschatantra (S. 68f.). Allerdings habe Boccaccio das Grundschema „selbständig weitergebildet, indem er es mit elementen aus eigenen erlebnissen (pest, novellenerzählen als geselliges Spiel) verwob“ (ebd.). 30 Boccaccio und der Beginn der Novelle. Strukturen der Kurzerzählung auf der Schwelle von Mittelalter und Neuzeit (Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste. 8), München 1969. Zur Herkunft des Rahmens siehe S. 128: „[...] das Decameron [schließt] offensichtlich noch an die Tradition des Halsrahmens an [...].“ 31 Ebd., S. 128. 32 S. 131. <?page no="111"?> 111 Im Decameron ist die Kunst des Erzählens [...] nicht mehr zweckgebunden, sondern frei; wohl zum ersten Mal so ausdrücklich wird damit eine ‚zweckfreie‘ Kunst thematisiert. 33 Mit dieser Propagierung zweckfreier Kunst und seinem Vorgriff auf das Menschenbild der Renaissance setzt der Decameronrahmen für Neuschäfer Wendemarken in der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte. Über Neuschäfer ist die Halsrahmenthese auch in Italien rezipiert worden, wo man ihr jedoch eher mit Skepsis begegnet 34 . Nicht unerhebliche Einschränkungen - die Abschwächung des Terminmotivs und die Nutzlosigkeit des Erzählens im Angesicht der Bedrohung durch die Pest - haben allerdings schon die Verfechter der These machen müssen. Außerdem lassen sie bei ihren Überlegungen außer Acht, welche Bedeutung das Motiv der Geselligkeit für den Decameronrahmen hat. Auch im Hinblick auf dessen narrative Struktur sind sie durchaus nicht einer Meinung. Während Neuschäfer Boccaccios Rahmenerzählung mit einem „novellistischen Fall“ gleichsetzt und geneigt ist, in ihr eine Art von Novelle zu sehen 35 , hat Jolles sie dem jüngeren Typ des Rahmens zugeord- 33 S. 129. 34 Giulio Ferroni sieht im Decameronrahmen ein „schema antropologico, presente presso le culture più diverse“ und fügt hinzu: „già nel mondo arabo, la raccolta delle Mille e una notte si era presentata come una serie di racconti in ‚riquadro‘, destinati ad allontanare un pericolo mortale“ (Storia della letteratura italiana, Bd. 1: Dalle origini al Quattrocento, Milano 1991, S. 289). Achille Tartaro spricht zwar von den orientalischen Rahmenerzählungen als „antecedenti“ des Decameronrahmens, betont aber ihre „differenza“ und hält den Hinweis auf die Episode der „questioni d’amore“ im Filocolo und auf die Comedia delle ninfe fiorentine für „più pertinente“ für das Rahmenschema („La prosa narrativa antica“, in: A. Asor Rosa [Hrsg.], Letteratura italiana, Bd. 3: Le forme del testo. II. La prosa, Torino 1984, S. 623- 713, hier: S. 659f. [„L’esperienza narrativa del Boccaccio“]); unter seinen Literaturangaben (S. 657, Anm. 33) findet sich Neuschäfers Buch, nicht jedoch Jolles. Michelangelo Picone bezieht sich bei seiner Unterscheidung von Rahmentypen auf Šklovskij, weicht mit der Identifikation des Halsrahmenschemas im Decameron, das Boccaccio starken Eingriffen („capitali trasformazioni“) unterzogen habe, aber signifikant von diesem ab („Preistoria della cornice del Decameron“, in: Studi di italianistica in onore di Giovanni Cecchetti, hrsg. von Paolo Cherchi, Ravenna 1988, S. 91-104; Zitat: S. 98). 35 „Die Rahmenerzählung hat […] die doppelpolige menschliche Natur und die Dialektik ihrer Möglichkeiten und Grenzen zum Thema, und sie hat <?page no="112"?> 112 net, der nur eine „Schilderung der Personen, die erzählen, und des Milieus, wo erzählt wird“ und keine „selbständige Erzählung“ mehr sei. Und Tzvetan Todorov hat im Anhang seiner Grammaire du Décaméron als Beispiele für „récits enchâssants“ zwar bekannte Rahmenerzählungen behandelt, speziell die von Tausendundeiner Nacht und des Manuscrit trouvé à Saragosse von Jan Graf Potocki, die Rahmenerzählung des Decameron aber ganz beiseite gelassen 36 . Daher lohnt ein kurzer Blick auf die narrative Struktur beider Typen 37 . In den orientalischen Rahmenerzählungen gibt es märchen- oder mythenhafte Personenkonstellationen und Intrigen wie z.B. die um den jungen Königssohn, den seine Stiefmutter verleumdet und dem weise Männer zu Hilfe kommen, indem sie durch Erzählen eine Entscheidung über sein Los verhindern, bis der Prinz wieder selbst sprechen und sich verteidigen kann (Die sieben weisen Meister), oder wie die um das junge Mädchen, das durch Erzählen erreicht, dass der König ihre Tötung immer wieder aufschiebt und sie schließlich heiratet (Tausendundeine Nacht). Das Erzählen ist hier eine Handlung, durch die eine bedrohliche Situation umgekehrt bzw. verändert wird 38 . Im Decameronrahmen hingegen gibt es nichts Vergleichbares. Die Erzähler bilden eine nach Alter, sozialer Herkunft und kultureller Identität homogene Gruppe, als Charaktere sind sie in der Mehrzahl farblos 39 , und ihre Bedrohung geht von einem Naturereignis aus, das durch eine nicht genau bestimmbare höhere Fügung verhängt worden ist 40 . Ihr Handeln - die gemeinsame dieses Thema in die offene Form eines einmaligen und paradoxen […] novellistischen Falles gebracht.“ (Boccaccio und der Beginn der Novelle, S. 134.) 36 T. Todorov, Grammaire du Décameron (Approaches to Semiotics. 3), The Hague/ Paris 1969, S. 85 ff. („Appendice: Les Hommes-récits“). 37 Einen ausführlichen Vergleich findet man bei Lars Peter Rømhild, „Osservazioni sul concetto e sul significato della cornice nel Decameron“, Analecta romana instituti Danici Bd. 7/ 1974, S. 157-204, bes. S. 160ff. 38 Todorov nennt dies ein Erzählen, das die Handlung vorantreibt („qui fait avancer l’action“) und unterscheidet es von einem Erzählen, das ein „acte transparent“ sei (Grammaire du Décameron, S. 92). 39 Im Wesentlichen müssen die Charaktere aus den mehr oder weniger sprechenden Namen und aus ihrem Vorkommen in früheren Werken Boccaccios erschlossen werden; zu den männlichen Charakteren, die plastischer hervortreten, siehe unten, S. 159f. 40 I, „Introduzione“, 8: „[…] pervenne la mortifera pestilenza: la quale, per operazion de’ corpi superiori o per le nostre inique opere da giusta ira di Dio a nostra correzione mandata sopra i mortali […].“ <?page no="113"?> 113 Flucht aus der Stadt, der Landaufenthalt und das Erzählen - verringert allenfalls indirekt die Gefährdung durch die Seuche, und dass der Aufenthalt abgebrochen wird, obwohl vom Ende der Pest nicht die Rede sein kann, gehört zu den wiederholt festgestellten Widersprüchen des Rahmens 41 . Weil sich an der Ausgangssituation nichts ändert, gibt es keine ‚Geschichte‘ im strengen Sinne. Strukturell haben wir es im Decameronrahmen vielmehr mit einer lockeren Abfolge von Pest und Flucht aufs Land mit anschließendem Erzählen zu tun, bei der das Prinzip des post hoc propter hoc herrscht, d.h. das zeitlich vorausgehende Ereignis dient jeweils zur Begründung des folgenden. Wegen der Pestgefahr verlässt die Gesellschaft die Stadt 42 und begibt sich aufs Land, wo in der Folge als geselliger Höhepunkt des festlich-fröhlichen Beisammenseins das Erzählen eingeführt wird 43 . Diese lockere Abfolge der zentralen Motive ist die strukturelle Ursache für die Interpretationsbedürftigkeit des Decameronrahmens und die vielfältigen Interpretationsversuche. Zu beachten ist ferner, dass der Decameronrahmen eine weit größere Anzahl von Erzählungen zusammenhält als etwa der Rahmen im Buch der sieben weisen Meister und auch kein Schachtelverfahren wie in Tausendundeiner Nacht oder im Pantschatantra vorliegt, sondern nur die lineare Reihung - diese allerdings mit einer wohlbedachten thematischen Anordnung, die man wohl mit der mittelalterlichen Exemplaliteratur in Verbindung bringen muss. Alles in allem reduzieren sich daher die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Rahmentypen neben dem Motiv des Erzählens, das nun einmal für jeden Erzählrahmen konstitutiv ist, auf ein sehr abstraktes, ganz unterschiedlich besetz- und verwendbares Motiv, nämlich das von der ‚Bedrohung des Erzählers‘. Von dieser Übereinstimmung abgesehen sind die Unterschiede so beträchtlich, dass der Decameronrahmen eher eine selbständige Neuschöpfung als eine Variation der Halserzählung zu sein scheint. Bevor man sich aber mit einer historisch-biographischen Erklärung der Motivfolge Pest - Erzählen 41 F. Fido, „Il sorriso di Messer Torello (Decameron, X, 9)“, Romance Philology Bd. 24/ 1969, S. 154-171, bes. S. 154ff.; ausführlich C. de Michelis, „Contraddizioni nel Decameron“, in: Miscellanea di studi in onore di V. Branca, Bd. 3: Boccaccio e dintorni, Firenze 1983, S. 95-110. 42 I, „Introduzione“, 63ff. 43 Ebd., 111. <?page no="114"?> 114 zufriedengibt, sollte man einen Blick auf andere ‚Zwänge‘ der Rahmenerzählung und ihre Erklärung durch die Forschung werfen. Einer dieser Zwänge betrifft nach der Aussage des Autors die Namen der Erzählerinnen: Li nomi delle quali io in propria forma racconterei, se giusta cagione da dirlo non mi togliesse, la quale è questa: [...] 44 Er wolle nämlich vermeiden, dass die Frauen sich wegen ihres freieren Redens, das während der vergangenen Pestzeit zulässig gewesen sei, schämen müssten und böswillige Zungen ihnen etwas anhängen könnten. Daher werde er sie nach ihren jeweiligen Eigenschaften benennen: E però, acciò che quello che ciascuna dicesse senza confusione si possa comprendere appresso, per nomi alle qualità di ciascuna convienienti o in tutto o in parte intendo di nominarle: […] 45 Trotz dieser Erklärung und obwohl die „precisione storica“ einen großen Teil des novellistischen Vergnügens ausmacht, wie Branca belegt 46 , hat Boccaccio die bedeutungsvollen Namen der Erzählerinnen ersichtlich aus seinen früheren Werken übernommen, aus der Caccia di Diana und dem Filocolo, aus der Comedia delle ninfe fiorentine und der Amorosa visione. Branca kommentiert dies kurz und bündig: L’asserzione della convenienza di nomi alla qualità delle donne, ne sottolinea il carattere letterario proprio mentre sono presentate come reali. 47 Ein weiteres Beispiel für literarische Herkunft oder für Überformung der vorgeblichen Wirklichkeit durch die literarische Tradition ist das Zusammentreffen der Erzähler in der Kirche Santa Maria Novella in Florenz. Nach dem Besuch des morgendlichen Gottesdienstes haben die sieben jungen Frauen beschlossen, die pestver- 44 Ebd., 50. 45 Ebd., 51. 46 In seinem Kommentar zu I, „Introduzione“, 50 (S. 30, Anm. 1), wo er den Autor selbst (Dec. IX 5, 5) zitiert: „ardirò […] dirvene una novella, la quale, se io dalla verità del fatto mi fossi scostare voluto o volessi, avrei ben saputo e saprei sotto altri nomi comporla e raccontarla; ma per ciò che il partirsi dalla verità delle cose state nel novellare è gran diminuire di diletto negl’intendenti, in propria forma, dalla ragion di sopra detta aiutata, la vi dirò.“ 47 Ebd., S. 31, Anm. 1. <?page no="115"?> 115 seuchte Stadt zu verlassen, und suchen dafür männlichen Schutz und männliche Begleitung, als sich drei junge Männer einfinden, „[i quali] andavan cercando per loro somma consolazione, in tanta turbazione di cose, di vedere le lor donne, le quali per ventura tutte e tre erano tralle predette sette, come che dell’altre alcune ne fossero congiunte parenti d’alcuni di loro“ 48 . Obwohl eine Begegnung in der Kirche zu den „costumanze sicure“ gehörte, weshalb Boccaccio in diesem Fall keine weitere Erklärung für nötig gehalten haben mag, ist die Macht der „canoni letterari“ 49 auch hier nicht zu übersehen. Bernhard König hat nämlich gezeigt, wie Boccaccio in seinen frühen Werken (Filostrato, Filocolo, Elegia di Madonna Fiammetta, Comedia delle ninfe fiorentine) wiederholt die der antiken Literatur entstammende schicksalhafte erste Begegnung eines Liebespaares an religiösem Ort bzw. aus religiösem Anlass eingesetzt hat, um damit die vorgeblich eigene oder die Liebesgeschichte Anderer auszuschmücken 50 . Unmittelbares Vorbild dafür war ihm Petrarcas Begegnung mit Laura an einem Karfreitag, für die wiederum, als Musterfall einer plötzlichen Liebesverirrung, das Zusammentreffen von Dido und Aeneas als Vorbild gedient hat, die sich in Vergils Aeneis zum ersten Mal bei der Betrachtung des im Bau befindlichen Junotempels zu Karthago begegnen. Das Zusammentreffen der Liebenden unter den Erzählern des Decameron in der Kirche Santa Maria Novella ist eine freie Wiederholung dieser klassischen ‚Begegnung im Tempel‘, was nicht nur durch die Wiederkehr von Namen - Fiammetta, Filostrato, Panfilo - aus den früheren ‚Tempelbegegnungen‘ Boccaccios 51 bestätigt wird, sondern auch dadurch, dass das ferne vorbildliche Paar Aeneas und Dido ebenfalls ein zukünftiger Erzähler und seine Zuhörerin waren. 48 I, „Introduzione“, 79. 49 Branca sieht Boccaccios Darstellung seiner vorgeblichen ersten Begegnung mit der von ihm geliebten Fiammetta im Filocolo von einem ähnlichen „concorrere insieme di costumanze sicure e di canoni letterari“ geprägt („Schemi letterari e schemi autobiografici“, S. 212). 50 B. König, Die Begegnung im Tempel. Abwandlungen eines literarischen Motivs in den Werken Boccaccios, Hamburg 1960. 51 Zumal der Figur der Fiammetta; siehe König, S. 43, Anm. 20 („Im Decameron schließlich, in dessen Einleitung Fiammettta zum letzten Male in einem Tempel begegnet […]“). <?page no="116"?> 116 In den vorgenannten Fällen greift Boccaccio jeweils auf Elemente aus seinem frühen Prosawerk Filocolo zurück, in dem er die weit verbreitete Geschichte des Liebespaares Florio und Biancifiore nacherzählt hatte. Dieses Werk, ein „centone di tipo medievale“, der die verschiedenartigsten christlichen und heidnischen, mittelalterlichen und antiken Elemente mischt 52 , ist in vieler Hinsicht eine stilistische und materiale Vorübung des jungen Boccaccio für sein späteres Schaffen. Unter anderem enthält es, wie man seit langem gesehen hat, eine Vorstufe der Erzählerrunde des Decameron. Was man hingegen bis vor kurzem nicht gesehen hat, ist die Tatsache, dass auch im Filocolo der Held zuvor eine Katastrophe überstanden hat. 2. Die epische Motivfolge Seesturm - geselliges Erzählen im Filocolo Zu Beginn des vierten Filocolo-Buches führt Fortuna den melancholischen Liebenden Florio, der auf seiner Suche nach der verlorenen Biancifiore den Namen Filocolo angenommen hat, und seine Freunde zu einem Garten, in dem sich eine festliche Gesellschaft versammelt hat. Vornehme höfische Jünglinge erblicken die Fremden und laden sie ein, an ihrem Fest teilzunehmen. Als Florio aufbrechen will, fordert ihn eine schöne Dame, die eine natürliche Tochter des Königs von Neapel ist und Maria heißt, von ihren Freunden aber Fiammetta genannt wird, zu weiterem Verweilen auf. In einer kleinen Gruppe begibt man sich zu einer schattigen Wiese, wo die Gesellschaft sich während der Mittagshitze um eine Quelle lagert und mit Gesprächen vergnügt, bis Fiammetta vorschlägt, dem Ganzen eine Ordnung zu geben: Acciò che i nostri ragionamenti possano con più ordine procedere e infino alle più fresche ore continuarsi, le quali noi per festeggiare aspettiamo, ordiniamo uno di noi qui in luogo di nostro re, al quale ciascuno una quistione d’amore proponga, e da esso a quella debita riposta prenda. E certo, secondo il mio avviso, noi non avremo le nostre quistioni poste, che il cal- 52 Als „un poderoso anche se discontinuo sforzo di impiego di materiali culturali reperiti nel mare procelloso dell’erudizione medievale“ charakterisiert ihn der Herausgeber Antonio Enzo Quaglio („Introduzione“ zum Filocolo, in: Tutte le opere di G. Boccaccio, hrsg. von V. Branca [I Classici Mondadori], Bd. 1, Milano 1967, S. 47-59, hier: S. 50 bzw. 47). <?page no="117"?> 117 do sarà, sanza che noi il sentiamo, passato, e il tempo utilmente con diletto sarà adoperato. 53 Der Vorschlag wird angenommen und sie selbst zur Königin des Spieles erkoren, das auf ihr Geheiß der Gast mit einer ersten „quistione d’amore“ eröffnet. Es folgen zwölf weitere „quistioni“, dann kehrt man zum Fest zurück, wo Florio in höfischer Form von Fiammetta und ihrer Gesellschaft Abschied nimmt. Diese sogenannte questioni-Episode ist die „forma embrionale“ des Decameronrahmens, wie Pio Rajna es formuliert hat 54 , denn sie enthält bereits alle für das spätere Werk wesentlichen Elemente. Eine exklusive Gruppe von Männern und Frauen lagert sich während der Zeit der größten Tageshitze an einem locus amoenus. Aus ihrer Mitte wird der Vorschlag zu einer geordneten gemeinsamen Unterhaltung gemacht, die hier noch die Form dilemmatischer Liebes-Streitfragen hat, welche von einem „re“ zu entscheiden sind. Die Darlegung der Streitfragen wächst sich in zwei Fällen (questione IV und XIII) zu Novellen aus, die Boccaccio mit leichter Abänderung ins Decameron (X, 4 und 5) übernehmen wird. Frauen haben bei dem Geschehen eine dominierende Rolle. So überlässt der zunächst vorgeschlagene Ascalion die Königsrolle der an Schönheit und höfischer Gesittung alle überragenden Fiammetta und krönt sie mit einem Lorbeerkranz - im Decameron wird die Wortführerin Pampinea, die auch den Vorschlag zum Novellenerzählen macht, zur Königin des ersten Tages gekrönt und Panfilo, der König des letzten Tages, beendet das Erzählen. Im Filocolo wie im Decameron hilft das gesellige Spiel den Beteiligten, die Zeit „utilmente e con diletto“ zu verbringen und sich selbst und ihre Gäste aufzuheitern, wozu im Decameron auch noch die Leser kommen. Kurz, das gesellige Procedere und sein Zweck stimmen in beiden Texten grundsätzlich überein. Trotz des unterhaltenden Charakters des questioni-Spieles gehört die Episode zu den schicksalhaften Widrigkeiten und Prüfungen, die der Held des Filocolo bei seiner Suche nach der Geliebten zu bestehen hat. Tatsächlich ist das Schiff, das ihn und seine Begleiter 53 Filocolo, hrsg. von A. E. Quaglio, in: Tutte le opere di G. Boccaccio, Bd. 1, S. 61-675, hier: S. 382 (IV, 17, 5). 54 „L’episodio delle questioni d’amore nel Filocolo“, Romania Bd. 31/ 1902, S. 28-81; hier: S. 34. <?page no="118"?> 118 von Pisa nach Sizilien bringen sollte, unterwegs in einen Seesturm geraten und musste im Hafen von Neapel Zuflucht suchen. Dort halten ungünstige Winde die Reisenden während der Wintermonate fest. Filocolo, der wegen des Verlustes der Geliebten ohnehin melancholisch ist 55 , wird durch das erzwungene Warten noch melancholischer: Videro Filocolo e’ suoi compagni Febeia cinque volte tonda e altretante cornuta, avanti che Noto le sue impetuose forze abandonasse: né quasi mai in questo tempo videro rallegrare il tempo. Per la qual cosa gravissima malinconia e ira la disiderosa anima di Filocolo stimolava, dolendosi della ingiuria che da Eolo ricevere gli pareva. 56 Vergeblich versucht er auf einsamen Gängen ans Meer mit Opfern und Bittgebeten zu erreichen, dass die Götter ihn zu der fernen Geliebten weiterziehen lassen. Als endlich das Frühjahr und günstige Winde nahen, wird er noch einmal durch einen verwirrenden Traum erschreckt und in tiefe Melancholie geworfen. Der Traum bildet als Allegorie eines Zusammentreffens verschiedener Vögel sein unglückliches Liebesschicksal ab und endet mit einem großen Unwetter: E così stando, mi parve vedere il cielo chiudersi d’oscuri nuvoli, molto peggio che quella notte, che noi di morire dubitammo, non fece. E picciolo spazio stette ch’egli ne cominciò a scendere un’acqua pistolenziosa con una grandine grossa, con venti e con tempesta simile mai non veduta: e i tuoni e’ lampi erano innumerabili e grandissimi. [...] E tutta questa pistolenzia parea che sopra il dolente uccello cadesse: la quale [una tortola] dolendosi con l’alie chiuse tutta la sostenea. 57 55 Giovanni Palmieri hat den von Florio angenommenen Namen „Filocolo“ als „amante della malinconia e del suo corteggio di iracondi passioni“ oder, kürzer, als „amante melanconico“ gedeutet und die Liebesmelancholie der Figur besonders im zweiten und dritten Buch auf ihre medizinischen Stereotypen (Symptome, Remedia) untersucht („Filocolo philocaptus: lo stereotipo della melanconia amorosa nel Boccaccio“, Il Verri Bd. 42/ 1997, S. 109-141, S. 117ff.). Er weist darauf hin, dass Boccaccio das Wissen der griechisch-arabischen Medizin über die Krankheit des „amor (h)er(e)os“ nicht zuletzt durch die lateinischen Übersetzungen zugänglich gewesen sein dürfte, die am Hof von Neapel in großer Zahl angefertigt wurden (S. 134ff.). 56 Filocolo, IV, 11, 1 (S. 371f.). 57 IV, 13, 9f. (S. 376f.). <?page no="119"?> 119 Der allegorische Sturm, der über die klagende Turteltaube hereinbricht, erinnert den Träumer an den vorausgegangenen realen Seesturm, den er und seine Gefährten zu bestehen hatten („il cielo chiudersi d’oscuri nuvoli, molto peggio che quella notte, che noi di morire dubitammo“). Hier führt der Autor auch im Bild Liebeshandlung und nautische Katastrophe als Ursachen für die „gravissima malinconia e ira“ zusammen, die den Helden in dieser Phase befallen haben, wie zu betonen der Erzähler nicht müde wird 58 . Der Bekämpfung dieses melancholischen Zustandes dient das nun folgende Geschehen. So führt der väterliche Freund Ascalion, dem Filocolo seinen Traum erzählt, den Bekümmerten zu einem Spaziergang ans Meer 59 : „andiamo e la piacevole aere su per li salati liti prendiamo: e ragionando, del nostro futuro viaggio ci proveggiamo passando tempo.“ (14, 2) Spaziergänge an frischer Luft und Ortswechsel, der Anblick erfreulicher Dinge und Gespräche mit Freunden gehörten nach damaliger medizinischer Lehre zu den Mitteln, die der Melancholie entgegenwirken 60 . Diese zählte zu den „accidentia animae“, die bekämpft werden müssen, weil sie die Gesundheit schädigen 61 . Als hilfreich galten Musik und Gesang 62 sowie die 58 Vgl. allein im Kapitel IV, 12, S. 374: „da malinconia gravato“; „pieno di malinconia e tutto turbato nel viso“ (1); „Giovane, caccia da te ogni malinconia“ (2); „ma ciò alla presente malinconia non m’induce“ (3); „cacciando da sé ogni malinconia“ (4); dazu noch mehrfach „turbato“, „turbazione“. Palmieri versteht diese gesteigerte Melancholie als „temporaneo stato d’animo“, der von der Liebesmelancholie zu unterscheiden sei („Filocolo philocaptus“, S. 119), was aber im Rahmen der Handlung schwer nachvollziehbar ist. 59 In III, 9ff. hatte Ascalion, damals vergeblich, versucht, Florio durch sexuelle Ablenkung - ein seit Ovid bekanntes „remedium amoris“ - von seiner Liebesmelancholie zu heilen; hierzu siehe Palmieri, „Filocolo philocaptus“, S. 124ff. 60 Siehe die Zitate aus einschlägigen spätmittelalterlichen Ratgebern bei G. Olson, Literature as Recreation in the Later Middle Ages, Ithaca/ London 1982: Taddeo Alderotti (13. Jahrhundert), De conservatione sanitatis, S. 55: „Inducatur gaudium et letitia et solatium eundo spatiatim, videndo res pulcras et delectabiles sibi [...]“; Gentile da Foligno (um 1300), Consilia, f. 63v.: „Inter alia singulariter procuret non remanere solitarius nec profundare se ad tristitiam et cogitamina. Ad hoc multum valet conuersatio cum dilectis et mutatio de terra in terram [...].“ (Olson, S. 58, Anm. 32 bzw. S. 59, Anm. 33; Hervorhebungen von mir.) 61 Hierzu ausführlich Olson, Literature as Recreation in the Later Middle Ages, S. 40ff., sowie E. Arend, Lachen und Komik in Giovanni Boccaccios Decameron (Analecta Romanica. 68), Frankfurt a.M. 2004, S. 118ff. („Medizinische Grundlagen von delectatio und recreatio“). <?page no="120"?> 120 Ablenkung durch Tanz, Spiel und angenehme Unterhaltung mit schönen jungen Menschen in lieblicher Umgebung 63 , dazu schwierige Unternehmungen, Jagd und Vogelstellerei 64 , ja selbst die Aussicht auf gute Geschäfte konnte der Melancholie entgegenwirken 65 . Die Wirkung der Musik zeigt sich im Filocolo unmittelbar, wenn die lieblichen Klänge, die aus einem Garten zu den Freunden dringen, so beruhigend auf Filocolos Gemüt wirken, dass er anhält und gebannt lauscht (ähnlich Parzival, der beim Anblick der Blutstropfen im Schnee in Gedanken versinkt): [...] pervenuti allato ad un giardino, udirono in esso graziosa festa di giovani e di donne. E l’aere di varii strumenti e di quasi angeliche voci ripercossa risonava tutta, entrando con dolce diletto a’ cuori di coloro a’ cui orecchi così riverberata venia: i quali canti a Filocolo piacque di stare alquanto a udire, acciò che la preterita malinconia, mitigandosi per la dolcezza del canto, andasse via. Ristette adunque ad ascoltare: e mentre che la fortuna così lui e i compagni fuori del giardino tenea ad ascoltare sospesi, un giovane uscì di quello […]. 66 62 Vgl. dazu die Fortsetzung des Zitates aus Alderotti, De conservatione sanitatis, S. 55: „Inducatur gaudium et letitia et solatium [...] audiendo cantilenas et instrumenta sibi placentia“, sowie Ugo Benzi, Consilia ad diversas aegritudines (um 1400), f. 13: „[...] sit diligentissimum studium in dando sibi alacritatem et bonam spem et permutando cogitationes suas quadam die ad unam rem delectabilem et honestam, alia die ad aliam. Et hoc aut videndo diuersa ornamenta pulchra vel ioculatoria, aut audiendo sonos et cantilenas [...].“ (Zitiert bei Olson, S. 58, Anm. 32 bzw. S. 60, Anm. 36; Hervorhebung von mir.) 63 Vgl. Roger Bacon, De retardatione accidentium senectutis cum aliis opusculis de rebus medicinalibus, hrsg. von G. Andrew und E. Withington, Oxford 1928, S. 137f.: „[…] sedere cum iuuenculis pulcherrimis decenter indutis et cum eis loqui, velut tempus postulat et requirit, et ludis delectari […].“ 64 So bei Gentile da Foligno: „Ad hoc multum valet [...] tentare aliqua que videantur difficilia in consecutione et aucupari et venari.“ (Consilia, f. 63 v., zitiert bei Olson, S. 59, Anm. 33; Hervorhebung von mir.) 65 So in der Fortsetzung des angeführten Zitates aus Taddeo Alderotti: „Inducatur gaudium et letitia et solatium [...] et annuntientur et promittantur sibi magna lucra de mercationibus lucrativis, vel alio modo.“ (Consilia, S. 55; zitiert bei Olson, S. 58, Anm. 32; Hervorhebung von mir.) 66 IV, 14, 3 (S. 377f.). Vgl. dazu außer der zitierten Stelle bei Alderotti aus den Consilia ad diversas aegritudines des Ugo Benzi (um 1400): „[...] sit diligentissimum studium in dando sibi alacritatem et bonam spem et permutando cogitationes suas quadam die ad unam rem delectabilem et honestam, alia die ad aliam. Et hoc aut videndo diuersa ornamenta pulchra vel ioculatoria, aut audiendo sonos et cantilenas [...].“ (Zitiert bei Olson, S. 60, Anm. 36; Hervorhebung von mir.) <?page no="121"?> 121 Die höfliche Einladung zur Teilnahme an der fröhlichen Festgesellschaft und das nachfolgende questioni-Spiel kommen gerade recht, um die tiefe Melancholie des Helden zu bekämpfen. Ja, sie bewirken, dass Filocolo nach der Begegnung zu einer Besichtigung der Schönheiten und Sehenswürdigkeiten Kampaniens bereit ist, was seine Melancholie weiter dämpft: egli andando per li vicini paesi di Partenope si diletteva di vedere l’antichità di Baia, e il Mirteo mare, e ’l monte Mesano, e massimamente quel luogo donde Enea, menato dalla Sibilla, andò a vedere le infernali ombre. Egli cercò Piscina Mirabile, e lo ’mperial bagno di Tritoli, e quanti altri le vicine parti ne tengono. Egli volle ancora parte vedere dell’inescrutabile monte Barbaro, e le ripe di Pozzuolo, e il tempio d’Apollino, e l’oratorio della Sibilla, cercando intorno il lago d’Averno, e similmente i monti pieni di sulfo vicini a questi luoghi: e in questa maniera andando più giorni, con minore malinconia trapassò che fatto non avria dimorando. 67 Erst danach kehrt sie wieder, nun jedoch in einer abgemilderten Form der Liebesmelancholie 68 , aus der ihn die Nachricht reißt, dass sein Schiff endlich zur Abfahrt bereit steht. Die questioni-Einlage des Filocolo ist also ein Antidot gegen die Melancholie des liebeskranken Helden in einer Situation, die diesem ausweglos erscheint. In der herkömmlichen Geschichte von Florio und Biancifiore ist die questioni-Einlage unbekannt. Im Filocolo retardiert sie den Fortgang der Handlung, da der Aufenthalt in Neapel dem Helden nur verlorene Zeit und keinerlei Erkenntnis über den Verbleib der Ge- 67 IV, 73, 4, S. 455; Hervorhebung von mir. 68 In einem Garten hat Filocolo nun einen Tagtraum, der an Petrarcas Kanzone „Di pensier in pensier, di monte in monte ...“ (Rime CXXIX) denken lässt und in dem das glückliche Ende seiner Suche vorweggenommen ist: „Ma ritornato in Partenope, e con malinconia aspettando tempo, avvenne che con grandissima malinconia un giorno in un suo giardino si racchiuse solo e quivi con varii pensieri s’incominciò in se medesimo a dolere, e dolendosi, in nuove cose di pensiero in pensiero il portò la fantasia, portandogli davanti agli occhi, che il loro potere aveano nella mente raccolto, nuove e inusitate cose.“ (IV, 74, 1, S. 456) Mit seiner Hyperfunktion von „cogitatio“ und „vis imaginativa“ ist der nachfolgende Tagtraum ein klassisches Liebessymptom; vgl. J. Küpper, „(H)er(e)os. Petrarcas Canzoniere und der medizinische Diskurs seiner Zeit“, Romanische Forschungen Bd. 111/ 1999, S.178-224. Quaglio hält die Affinität zu Petrarca daher auch für zufällig („Note“, S. 886). <?page no="122"?> 122 liebten beschert 69 . Lange hat man geglaubt, solche Einschübe und Erweiterungen, von denen es im Filocolo nicht wenige gibt, der Unerfahrenheit des jungen Autors zuschreiben zu sollen. Die neuere Forschung hat jedoch gezeigt, dass die questioni sich als Teil einer christlichen Umdeutung des Stoffes lesen lassen, die den Roman im Ganzen kennzeichnet. So wird in der zentralen siebten der dreizehn „questioni“ von der Königin Fiammetta der „amore onesto“, die christliche Gottesliebe, ausdrücklich über den irdischen „amore per diletto“ des höfischen Liebeskonzeptes gestellt 70 . Auch Filocolos Traum vor und seine Vision nach der Episode stellen nach dieser Sichtweise heidnisch-höfische und christliche Elemente einander gegenüber. Unübersehbar christliche Akzente setzen schließlich die Handlungserweiterungen in Buch I und Buch V (Pilgerfahrt von Biancifiores Eltern; Schicksal des Paares nach seiner Wiedervereinigung mit Unterweisung Florios und seines Gefolges im christlichen Glauben und anschließender Taufe) 71 . Durch solche Zusätze wird im Filocolo aus der Suche nach der verlorenen Geliebten eine quasi religiöse „quête“ und Erweckung des Helden, worauf nicht zuletzt auch die Konzentration auf dessen Person im Titel hinweist 72 . Surdich hat die christliche Umdeutung des Stoffes mit der religiösen (und bürgerlichen) Gesinnung am Hof des re Roberto in Verbin- 69 Ihre Sonderstellung ist unter anderem daran zu erkennen, dass sie schon bald eine eigene handschriftliche Tradition hatte; siehe hierzu Quaglio, „Note“, S. 854. Zur strukturellen Sonderstellung der Episode innerhalb des Romans siehe auch Caroline Emmelius, Gesellige Ordnung. Literarische Konzeptionen von geselliger Kommunikation in Mittelalter und früher Neuzeit (Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext. 139), Berlin 2010, S. 113f. 70 Siehe Victoria Kirkham, „Reckoning with Boccaccio’s questioni d’amore“, Modern Language Notes Bd. 89/ 1974, S. 47-59; wieder in: dies., Fabulous Vernacular. Boccaccio’s Filocolo and the Art of Medieval Fiction, Ann Arbor 2001, S. 186-199, bes. S. 191ff. Fortgeführt und vertieft worden ist diese Deutung durch Luigi Surdich, „Il Filocolo: Le ‚questioni d’amore‘ et la ‚quête‘ di Florio“ (1975), wieder in: ders., La cornice di amore. Studi sul Boccaccio (Saggi di letteratura italiana), Pisa 1987, S. 13-76. Für Surdich ist die Episode eine wichtige Etappe in Florios/ Filocolos höfischer und menschlicher Entwicklung (S. 49. 52). 71 Surdich, S. 64ff. Kirkham, S. 196ff. Für Kirkham erhält Boccaccios Nacherzählung durch die christliche Umdeutung auch eine kohärentere poetische Struktur. 72 Surdich, S. 55ff. S. 67. Muscetta, Boccaccio, S. 56f. <?page no="123"?> 123 dung gebracht und dies anhand der Einstellung zu Liebe und Ehe in den questioni d’amore im einzelnen belegt 73 . Boccaccios Absicht bei der Einfügung der questioni-Episode scheint es also gewesen zu sein, der Neapolitanischen höfischen Gesellschaft und ihrer von ihm bewunderten Kultur ein Denkmal zu setzen, wie er es ähnlich schon in der Caccia di Diana getan hatte 74 . Wie aber ist er auf den Einfall gekommen, seinen liebeskranken Helden durch einen Seesturm an der kampanischen Küste stranden zu lassen, um ihn mit dieser Gesellschaft zusammen zu bringen? In einer Zusammenstellung von Quellen und Vorbildern des Filocolo hat der Herausgeber Alberto Enzo Quaglio auf die „ansiosa, febbrile conoscenza del mondo classico“ des jungen Boccaccio hingewiesen und dabei an erster Stelle den Einfluss Vergils genannt 75 : tanto larga quanto vaga, orecchiata da lontana, riflessa: nella sua opera il Boccaccio avvertì, per sollevare la pagina nell’olimpo eroico dei duelli o adornarla di qualche miniature mediante la ripresa di figure significanti, quali simboli, nella zona del sentimento (da Didone ad Eurialo e Niso), o anche nobilitarla con dotti richiami archeologici. 76 James H. McGregor hat zudem gezeigt, dass Boccaccio in den frühen Werken bei der Darstellung antiker religiöser Riten und Gebräuche kontinuierlich auf die Aeneis zurückgegriffen hat 77 . Akzeptiert man für den Filocolo die These von der christlichen Umdeutung, dann liegt eine Anlehnung an Vergil besonders nahe, galt Vergil doch seit der Spätantike als ein Prophet des Christentums, den überdies Dante als seinen Führer im Jenseits und seinen Lehrer in Dichtungsfragen in die italienische Literatur eingeführt hatte. Tatsächlich erinnert nun die Abfolge der Ereignisse um die questioni-Episode - Sturm und Schiffbruch des Helden, Landgang und 73 Surdich, S. 23ff. S. 43ff. Siehe dagegen die Rückkehr zu höfischen Werten in den Decameron-Versionen der Novellen zu den „questioni“ 4 und 13 (Surdich, S. 278). 74 Zum literarischen Hintergrund und den Quellen der „questioni“ siehe Rajna, „L’episodio delle questioni d’amore nel Filocolo“. 75 „Tra fonti e testo del Filocolo (I)“, Giornale storico della letteratura italiana Bd. 139/ 1962, S. 321-369; S. 513-540; hier: S. 323. 76 Ebd., S. 327f. 77 The Image of Antiquity in Boccaccio’s Filocolo, Filostrato and Teseida (Studies in Italian Culture. 1), New York/ Bern 1991, S. 16. Der Filocolo enthält nach McGregor eine Fülle heidnischer Elemente und Beispiele für „nearly every Roman epic theme“ (S. 57). <?page no="124"?> 124 Begegnung mit einer liebenswerten Frau, auf deren Anregung hin gesellig erzählt wird - an den Anfang der Aeneis und es deutet einiges darauf hin, dass Boccaccio, wie schon bei der Tempelbegegnung, auch in diesem Fall dem antiken Autor gefolgt ist. Bei Vergil hält der Held, von Sizilien kommend, auf das ihm verheißene Italien zu, als seine Widersacherin Juno den Gott der Winde Aeolus anstiftet, ihn an der Erreichung seines Zieles zu hindern. Ein gewaltiger Sturm zerstreut darauf die Flotte des Aeneas und verschlägt ihn selbst an die libysche Küste. Bei einem Landgang gelangt er mit einem Vertrauten in die von der Tyrerin Dido neu erbaute Stadt Karthago und in den Tempel der Juno, wo sich seine verloren geglaubten Gefährten schon eingefunden haben und gerade von den Karthagern Hilfe erbitten. Aeneas gibt sich zu erkennen und wird von Dido gastfreundlich aufgenommen, die zu seinen Ehren ein Fest veranstaltet. Während des Festes verliebt sich Dido auf Betreiben der Venus in den Gast, den sie schließlich nach vielen Fragen zu Troja und dessen Helden bittet, den Untergang der Stadt und seine eigenen Irrfahrten von Anfang an zu erzählen: „immo age et a prima dic, hospes, origine nobis insidias“ inquit „Danaum casusque tuorum erroresque tuos; nam te iam septima portat omnibus errantem terris et fluctibus aestas.“ (I, V. 753-756) Aeneas kommt der Aufforderung im zweiten und dritten Gesang des Epos nach und Dido verliert darüber endgültig ihr Herz an ihn: „infelix Dido longumque bibebat amorem.“ (V. 749). In Boccaccios Episode ist es die launische Fortuna, die den Helden Filocolo vorübergehend von seinem Ziel abbringt, indem sie ihn in einem gewaltigen Sturm Schiffbruch erleiden lässt: Ma la misera fortuna, che niuno mondano bene lascia gustare sanza il suo fele, non consentì che lungamente questa fede fosse a’ disiosi giovani servata; ma, avendo già costoro dopo il terzo giorno assai vicini al luogo ove, quando nella nave entrarono, aveano diliberato di riposarsi, riposti, le bocche di Zeffiro richiuse e diede a Noto ampissima via sopra le salate acque: e Nettunno in se medesimo tutto commosse con ispiacevol mutamento. Onde dopo poco spazio i giovani, non usi di queste cose, quasi morti in tale affanno, sanza ascoltare alcun conforto, nella nave si riputavano. 78 78 Filocolo, IV, 6, 4 (S. 367). <?page no="125"?> 125 Die Schilderung des Unwetters steht der Vergilischen an Breite und Eindringlichkeit wie auch an Topoi nicht nach 79 . Zudem lässt Boccaccio seinen Helden am Punkt der tiefsten Hoffnungslosigkeit mit einer langen Klage das Schicksal und die Götter anrufen, wie es auch Aeneas getan hat 80 , so dass der Herausgeber ein „quadro di derivazione virgiliana“ feststellt 81 . Tatsächlich bezieht sich Florio wenig später, als er im Hafen von Neapel („ne’ porti dell’antica Partenope“) auf günstigen Fahrtwind wartet, in einer neuerlichen Klage ausdrücklich auf seinen Vorgänger: E tu, o sommo Eolo, spietato padre di Cannace, tempera le tue ire, ingiustamente verso me levate. Apri gli occhi, e conosci ch’io non sono Enea, il gran nemico della santa Giunone: io sono un giovane che amo, sì come tu già masti. 82 Die Feststellung „io non sono Enea“ ist ein Kryptozitat von Dantes „Io non Enea, io non Paulo sono“ (Inf. II, 32), das hier im übernächsten Satz weitergeführt wird mit „io non sono Macareo, né mai in alcuna cosa t’offesi“. Die Doppelung zeigt, dass es sich nicht um eine zufällige Übereinstimmung mit der Stelle in der Divina Commedia handelt, wie Quaglio annimmt 83 , auch wenn die Vergleichsinhalte es nicht mit dem Danteschen Gang in die Unterwelt aufnehmen können: Florio/ Filocolo, der wie ein Bruder mit der Waise Biancifiore aufgewachsen ist, bevor sich beide ineinander verliebten, weist eine Verwechslung mit Macareus zurück, der seine Schwester Canace, die Tochter des Aeolus, schwängerte und so dessen Zorn auf sich zog 84 . 79 „[L]’emisperio tutto chiuso d’oscurissimi nuvoli“, „il mare aver mutato colore“, „i marinari, da doppia notte occupati“, „levate […] le vele e spezzato l’albero“, „li mari erano alti a cielo […]“, „e già tolto avea loro l’uno de’ timoni, e dell’altro stavano in grandissimo affanno di guardare“, „focosi baleni con pestilenziosi tuoni“, „i marinari […] quasi morti sopra la coperta della nave prostrati giaceano vinti“, „e quasi ogni speranza di salute […] era perduta“ (IV, 7, S. 367f.); Vergils descriptio mit ähnlichen Einzelheiten Aen. I, 81-91. 102-123. 80 Filocolo, IV, 8, 3-14 (S. 368ff.); vgl. Aen. I, 94-101. 81 „La tempesta che coglie Florio, novello Enea, e la sua invocazione alla divinità compongono un quadro di derivazione virgiliana: come confesserà l’autore nel paragrafo seguente.“ (Filocolo, „Note“, S. 846, Anm. 11) 82 IV, 12, 10 (S. 373). 83 „Note“, S. 848, Anm. 19. 84 Vgl. Ovid, Heroides XI. <?page no="126"?> 126 Dennoch gilt - wie auch bei Dante 85 -, dass die rhetorische correctio „io non sono ...“ eine wie immer geartete Ähnlichkeit mit dem Schicksal der Genannten suggeriert: Boccaccios Helden widerfährt so ein zumindest ähnliches Schicksal wie Macareus und eben wie Aeneas, dem Begründer Roms, mit dem Florio, der sich am Ende zum Christentum bekehrt, auch die Frömmigkeit gemeinsam hat. Solche zunächst abwegig erscheinenden Vergleiche und sprachlichen Wendungen des Textes geben einen Eindruck von der Belesenheit des jungen Autors und dem komplexen poetischen Beziehungsgeflecht, das er im Filocolo errichtet hat 86 . Auch der Ort der Begegnung mit der Festgesellschaft hat einen Bezug zu Vergil, befindet er sich doch in der Nähe von dessen Grab, wohin es Florio auf seinem Gang ans Meer geführt hat: „verso quella parte ove le reverende ceneri dell’altissimo poeta Maro si posano“ 87 . Die Begegnung mit Fiammetta ist zwar keine Tempelbegegnung wie in der Aeneis, was in Anbetracht von Florios Suche nach der Geliebten auch unangebracht gewesen wäre, eine Tempelbegegnung findet sich jedoch zu Beginn des Romans zwischen dem Autor und seiner Dame, die denselben Namen Maria trägt wie die Fiammetta der Festgesellschaft und wie jene eine natürliche Tochter des Königs von Neapel ist: Avvenne che un giorno la cui prima ora Saturno avea signoreggiata, essendo già Febo co’ suoi cavalli al sedecimo grado del celestial Montone pervenuto, e nel quale il glorioso partimento del figliuolo di Giove dagli spogliati regni di Plutone si celebrava, io, della presente opera componitore, mi ritrovai in un grazioso e bel tempio in Partenope, nominato da colui che per deificare sostenne che fosse fatto di lui sacrificio sopra la grata; e quivi con canto pieno di dolce melodia ascoltava l’uficio che in tale giorno si canta […]. Ove io 85 Dantes „Io non Enea, io non Paulo sono“ impliziert bei aller Bescheidenheit die Ähnlichkeit der eigenen Sendung mit der der Genannten. 86 Zum Phänomen der indirekten Imitation („oblique imitation“, McGregor) im Filocolo siehe unten, S. 135. 87 Filocolo, IV, 14, 2 (S. 377). Auf dem Vergil-Monument befand sich seit dem Altertum die angeblich vom Autor selbst stammende Aufschrift mit der Wendung „tenet nunc / Parthenope“; mit diesem alten Namen bezeichnet Boccaccio hier und auch sonst im Filocolo Neapel. Boccaccio selbst datiert einige rhetorische Briefe mit „Apud busta Maronis“; siehe Quaglio in Filocolo, „Note“, S. 851, Anm. 1. <?page no="127"?> 127 dimorando […] apparve agli occhi miei la mirabile bellezza della prescritta giovane, venuta in quel luogo a udire quello ch’io attentamente udiva […]. 88 Kaum wird der Autor dieser Frau ansichtig, fängt sein Herz zu zittern an und es zeigen sich die seit Dante und den Stilnovisten bekannten Symptome der beginnenden Liebe 89 . Wenig später begegnen sich beide ein weiteres Mal in einem zweiten „Tempel“: […] avvenne che un giorno, non so come, la fortuna mi balestrò in un santo tempio dal prencipe de’ celestiali uccelli nominato, nel quale sacerdotesse di Diana, sotto bianchi veli, di neri vestimenti vestite, cultivavano tiepidi fuochi divotamente; là dove io giungendo, con alquante di quelle vidi la graziosa donna del mio cuore stare con festevole e allegro ragionamento, nel quale ragionamento io e alcuno compagno domesticamente accolti fummo. 90 Während dieser festlichen Zusammenkunft von Frauen und Männern, die mit Versatzstücken christlicher und heidnischer, klerikaler und höfischer Provenienz ausgemalt ist, werden unter anderem die wechselvollen Liebesabenteuer des spanischen Prinzen Florio vorgetragen („dopo molti venimmo a parlare del valoroso giovane Florio, figliuolo di Felice, grandissimo re di Spagna, recitando i suoi casi con amorose parole“). Die Dame beklagt, dass noch kein Dichter die Liebe des Paares Florio und Biancifiore angemessen besungen habe („non essere con debita ricordanza la loro fama essaltata da’ versi d’alcun poeta, ma lasciata solamente ne’ fabulosi parlari degli ignoranti“ 91 ), und bittet den Autor bei seiner Liebe zu ihr, dies nachzuholen: […] io […] pietosa de’ loro casi, ti priego che per quella virtù che fu negli occhi miei il primo giorno che tu mi vedesti e a me per amorosa forza t’obligasti, che tu affanni in comporre un picciolo libretto volgarmente parlando, nel quale il nascimento, lo ’nnamorento e gli accidenti de’ detti due infino alla loro fine interamente si contenga. 92 Die Nacherzählung der Liebesgeschichte von Florio und Biancifiore erwächst hier aus einer höfischen geselligen Situation, wobei der Erzähler ein Liebender, ein „fedele d’amore“ ist und seine Zuhöre- 88 Filocolo, I, 1, 17, S. 63f. 89 Siehe dazu Quaglio, Filocolo, „Note“, S. 718f., sowie König, Die Begegnung im Tempel, S. 39f. 69f. 90 Filocolo, I, 1, 23, S. 65. 91 Filocolo, I, 1, 25, S. 65. Von den zahlreichen Fassungen des Stoffes scheint Boccaccio demnach die volkstümlichere vorgelegen zu haben; siehe aber Quaglio in Filocolo, „Note“, S. 719, Anm. 83. 92 I, 1, 26, S. 65f. <?page no="128"?> 128 rin bzw. Leserin, die ihm den Auftrag erteilt, empathisch an dem fremden Liebesschicksal Anteil nimmt. Dieser höfischen Redebzw. Erzählsituation begegnet man im Jugendwerk Boccaccios wiederholt in immer neuer Form 93 . Wie man sieht, steckt der Filocolo voller Anspielungen auf Personen und Motive des Anfangs der Aeneis, die bald verdoppelt und verschoben, bald mit Motiven anderer Herkunft gekreuzt und in ihrem ursprünglichen Sinn verändert werden. Das Vergilische Paar Dido/ Aeneas ersteht gleich doppelt, in Gestalt des Erzählers und seiner Dame mit eigener Tempelbegegnung, Liebesbeziehung und Erzähler/ Zuhörer-Beziehung sowie in Gestalt des Paares Florio und Fiammetta/ Maria, das in seinen Namen und Erlebnissen bald das Rahmenpaar, bald das antike Vorgänger-Paar spiegelt 94 . Im zweiten Fall kommt es nicht zu einer Liebesbeziehung, weil Florio in seiner Wahl nicht mehr frei ist: Nobile Fiammetta, se gli’iddii mai mi concedessero ch’io fossi mio sì com’io sono d’altrui, sanza dubbio vostro incontanente sarei […]. 95 Das Liebesmotiv tritt stattdessen in der Form der zeitgenössischen höfischen Liebesgeselligkeit auf, von deren Galanterie diese Abschiedserklärung zeugt. Wie die Paare begegnet auch der Seesturm mehrfach, sowohl als ‚reales‘ Ereignis, das Florio trifft, wie auch als Allegorie oder Metapher für die Gefahren der Liebe, letzteres in dem zitierten Traum des Helden und noch einmal in der Anrede des Autors an seine Leser: Adunque, o giovani, i quali avete la vela della barca della vaga mente dirizzata a’ venti che muovono dalle dorate penne ventilanti del giovane figliuolo di Citerea, negli amorosi pelaghi dimoranti disiosi di pervenire a 93 Siehe unten, S. 171ff. 94 Fiammetta, die im Filocolo zum ersten Mal im Werk Boccaccios auftritt, wird später, in der Elegia di Madonna Fiammetta, als zweite Dido ein ähnliches Schicksal wie ihre Vorgängerin erleiden. Zum Dido-Bild und seinem Wandel in Boccaccios Werk siehe R. Hollander, Boccaccio’s Two Venuses, New York 1977, S. 171ff., Anm. 90. 95 Filocolo, IV, 72, 2 (S. 455). Caroline Emmelius sieht Florio und Fiammetta aber zeitweise die „Rollen von Minnedame und Minneherr“ übernehmen (Gesellige Ordnung, S. 120). Der tatsächliche Verehrer Fiammettas ist Caleon, welcher die zentrale siebte questione vorträgt und allgemein als ein Doppel des Autors gilt; hierzu sowie zum stilnovistischen Ton der Beziehung siehe Quaglio, „Note“, S. 871f. <?page no="129"?> 129 porto di salute con istudioso passo, io per la sua inestimabile potenza vi priego che divotamente prestiate alquanto alla presente opera lo ’ntelletto, però che voi in essa troverete quanto la mobile fortuna abbia negli antichi amori date varie permutazioni e tempestose, alle quali poi con tranquillo mare s’è lieta rivolta a’sostenitori; onde per questo potrete vedere voi soli non essere sostenitori primi delle avverse cose, e fermamente credere di non dovere essere gli ultimi. 96 Die auf dem Meer der Liebe segelnden „giovani“ können aus dem Filocolo ersehen, dass sie nicht die ersten Liebenden sind, die Fortunas Wankelmütigkeit und Stürme ertragen müssen („quanto la mobile fortuna abbia negli antichi amori date varie permutazioni e tempestose “) , so wie sie auch nicht die letzten sein werden 97 , und sie können aus ihm Hoffnung schöpfen, selbst wieder in ruhigere Gewässer zu gelangen. Neben dem epischen Sturm und dem Liebesmotiv teilt der Filocolo mit der Aeneis auch das Motiv der von einer Frau dominierten festlichen Geselligkeit. Bei Vergil richtet die selbst flucht- und leidgeprüfte Dido den gestrandeten Trojanern ein prächtiges Fest aus (I, V. 636ff.). Als nach dem Mahl die Weinkrüge herbeigebracht werden und fröhliches Lärmen im hell erleuchteten Saal einsetzt (V. 723ff.), bringt sie einen Trinkspruch auf die Verbrüderung von Tyrern und Trojanern aus. Darauf beginnt der Sänger Iopas zur Zither von der Erschaffung der Welt, der Menschen und Tiere, des Sternenhimmels und der Jahreszeiten zu singen: personat aurata, docuit quem maximus Atlas. hic canit errantem lunam solisque labores, unde hominum genus et pecudes, unde imber et ignes, Arcturum pluviasque Hyadas geminosque Triones; quid tantum Oceano properent se tingere soles hiberni, vel quae tardis mora noctibus obstet. ingeminant plausu Tyrii, Troesque sequuntur. (I, V. 740ff.) 96 Filocolo, I, 2, 1, S. 66f. 97 Wie später im „Proemio“ des Decameron hat die Lektüre hier eine Trostfunktion, die allerdings noch auf den Parallelfall beschränkt ist. Klassisch ist der Topos der Trostrede ‚non primus, non ultimus‘. Siehe hierzu G. Chiecchi, „La lettera consolatoria a Pino de’ Rossi di Giovanni Boccaccio“ (1979), in: ders., La Parola del dolore. Primi studi sulla letteratura consolatoria tra Medioevo e Umanesimo (Medioevo e Umanesimo. 110), Roma/ Padova 2005, S. 271. <?page no="130"?> 130 Bis spät in die Nacht geht die Unterhaltung der Festteilnehmer, wobei vor allem Dido kein Ende der Fragen zum Schicksal der Gäste findet: Nec non et vario noctem sermone trahebat infelix Dido longumque bibebat amorem, multa super Priamo rogitans, super Hectore multa; nunc quibus Aurorae venisset filius armis, nunc quales Diomedis equi, nunc quantus Achilles. (I, V. 748ff.) Endlich bittet sie Aeneas, „insidias […] Danaum casusque tuorum / erroresque tuos“ (V. 754f.) zu erzählen, und es beginnt dessen lange Erzählung (Aeneis II und III), die der Leser im Bewusstsein der doppelten Spannung des erzählten Geschehens und seiner fatalen Wirkung auf die Zuhörerin zur Kenntnis nimmt. Das Vorbild für diese Szene wie für den ganzen Anfang der Aeneis findet man in der Odyssee, und zwar in der Phäaken-Episode (Gesang V-VIII). Odysseus, von Kalypso entlassen und gen Ithaka steuernd, ist kurz vor Erreichung des Ziels in einen von Poseidon erregten Sturm geraten und hat sich mit göttlicher Hilfe an den Strand der Phäaken gerettet, wo er von der Königstochter Nausikaa aufgefunden und zum Haus ihres Vaters gewiesen wird. Dort erfährt er gastfreundliche Aufnahme. Man veranstaltet zu seinen Ehren Spiele und ein Festgelage, bei dem der Sänger Demodokos die Anwesenden mit Gesang unterhält. Er singt vom Streit des Odysseus und des Achilles, davon, wie Hephaistos Ares und Aphrodite überraschte und vor den Göttern bloßstellte sowie vom trojanischen Pferd. Der lauschende Odysseus verbirgt nur mühsam seine Tränen, und Alkinoos, der es bemerkt, fragt ihn nach einigem Zögern nach seiner Herkunft und seinen Erlebnissen. Odysseus berichtet darauf in Gesang IX-XII von seinen Irrfahrten. Die wichtigsten Motive der Aeneis-Episode sind hier vorgegeben: der durch einen zürnenden Gott ausgelöste Seesturm, der den Helden in Lebensgefahr bringt; dessen große Schicksalsklage; seine wiederum durch göttliches Eingreifen erfolgende Rettung; die gastfreundliche Aufnahme an einem Königshofe, wo er im Rahmen einer festlichen Unterhaltung von der überstandenen Mühsal erzählt. Das mythische Volk der Phäaken, das Odysseus aufnimmt und ihn anschließend nach Ithaka geleitet, ist dabei in der Art eines <?page no="131"?> 131 ionischen Adelsstaates geschildert 98 , weshalb Gesellschaft und Geselligkeit eine große Rolle spielen 99 . In seiner Antwort an Alkinoos preist Odysseus das gesellig-festliche Verhalten seiner Gastgeber, wobei er besonders die Unterhaltung durch den Sänger hervorhebt, an die er mit seiner Erzählung anschließt: Weitgepriesener Held, Alkinoos, mächtigster König, Wahrlich, es füllt mit Wonne das Herz, den Sänger zu hören, Wenn er, wie dieser hier, im Gesang Unsterblichen nahkommt. Ja, ich sage, ich kann mir nichts Erfreulichers denken, Als wenn alles im Volk teil hat an festlicher Freude Und in den Häusern rings die Schmausenden lauschen dem Sänger, Sitzend in langen Reihn, und alle Tische beladen Stehen mit Brot und Fleisch, und der Schenke den Wein aus dem Kruge Fleißig schöpft und geht umher und füllt in die Becher. Siehe, das nennt mein Herz die schönste Wonne des Lebens! Doch es gefällt dir jetzt, nach meinem traurigen Schicksal Mich zu fragen, damit ich noch mehr beseufze mein Elend. Aber was soll ich zuerst, was soll ich zuletzt dir erzählen? […] 100 Karl Reinhardt hat die „Gesellschaft“ und den geselligen Umgang, wie er in der Phäakenepisode geschildert ist, als eine Errungenschaft der Odyssee herausgestellt: Erst in der Odyssee gibt es Gesellschaft. […] Worin zeigt sich Gesellschaft? Zum Beispiel darin, dass sich ein Jüngerer in ihr ausweist, dass ein Fremder als ihr zugehörig erkannt wird, dass man einander ansieht, was man ist, dass man, ohne voneinander zu wissen, sich als zugehörig empfindet, dass man gemeinsame Unterhaltung, gemeinsamen Sport, gemeinsame Kurzweil pflegt und schätzt. Dass es als höchster, edelster der Genüsse gilt, in Gesellschaft dem Sänger zu lauschen. 101 Zu den Lebensformen einer hoch entwickelten adligen Gesellschaft gehört auch die höfliche Zurückhaltung gegenüber dem hilfsbedürftigen Fremden, die Alkinoos bei der Frage nach der Herkunft 98 W. H. Roscher, Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Leipzig 1902-1909, reprogr. Nachdruck: Hildesheim 1965, Bd. 3, Sp. 2203ff.: „Phaiaken“, hier: Sp. 2204f. 99 Nach Wilhelm Mattes findet Odysseus in der Phäaken-Episode zu seinem alten sozialen Ich vor Irrfahrten und Leiden zurück (Odysseus bei den Phäaken. Kritisches zur Homeranalyse, Diss. Würzburg 1958, bes. S. 143ff.: „Odysseus’ Erweckung“). 100 Homer, Odyssee, IX, 2-14, in der Übersetzung von J. H. Voss, bearb. von H. Rupé (Tempel-Klassiker), Berlin/ Darmstadt 1956. 101 Die Ilias und ihr Dichter, hrsg. von H. Hölscher, Göttingen 1961, S. 496. <?page no="132"?> 132 des Odysseus an den Tag legt und die später Caleon bei der Frage nach der Identität Florios zeigen wird 102 , sowie, allem Anschein nach, die Reflexion über Bedingungen und Formen von Geselligkeit 103 . Vor allem das Erzählen in festlich-geselliger Runde. In der heroischen Welt des Epos werden heroische Taten erzählt. Im Fall der Odyssee sind die Geschichten ursprünglich selbständige Sagen, Märchen, Schwänke und Wundererzählungen, die durch die Icherzählung einer epischen Zentralfigur zugeordnet und heroisiert worden sind 104 . Bei Vergil ist der heroische Aspekt von Anfang an gegeben: Aeneas erzählt vom heldenhaften Untergang Trojas, von dem seine Zuhörer bereits gehört haben, von dem sie nun aber aus der Sicht eines Augenzeugen und eines Betroffenen dazu erfahren können; danach erzählt er von seinen eigenen Irrfahrten auf dem Weg in die neu zu gründende Heimat Rom. In beiden antiken Epen bildet die erste Episode faktisch eine Art von Rahmenerzählung 105 , deren Gegenstand das letzte große Abenteuer des 102 „[…] disse Caleon: ,Deh, dolce amico, se a voi non fosse noia, a me molto sarebbe a grado di vostra condizione conoscere più avanti che quello che il vostro aspetto representi, acciò che forse, conoscendovi, più degnamente vi possiamo onorare: però che tal fiata il non conoscere fa negli onoranti il debito dell’onorare mancare.‘“ (Filocolo, IV, 16, 7, S. 380f.) Worauf Filocolo nicht weniger höflich entgegnet: „Niuno mancamento dalla vostra parte potrebbe venire in onorarmi, ma tanto n’avete fatto avanti, che soprabondando avete i termini trapassati. Ma poi che della mia condizione disiderate sapere, ingiusto saria di ciò non sodisfarvi, e però, quanto licito m’è di scoprirne, ve ne dirò. Io sì sono un povero pellegrino d’amore, il quale vo cercando una mia donna a me con sottile inganno levata da’ miei parenti: […] e il mio nome è Filocolo, di nazione spagnuolo, gittato da tempestoso mare ne’ vostri porti, cercando io l’isola de’ siculi.“ (Ebd., 8f., S. 381) Anders in der Aeneis, wo das Zurückhalten der Frage dem Liebesmotiv geopfert ist: Didos drängendes Fragen nach den Umständen der Eroberung Trojas ist bereits Zeichen ihrer aufkeimenden Leidenschaft. 103 Ähnlich wie Odysseus reflektiert auch Filocolo darüber (Filocolo, IV, 16, 1, S. 379f.); siehe dazu Emmelius, Gesellige Ordnung, S. 121f. 104 Vgl. dazu K. Reinhardt, „Die Abenteuer der Odyssee“, in: ders., Tradition und Geist. Gesammelte Essays zur Dichtung, hrsg. von C. Becker, Göttingen 1960, S. 47-124, bes. S. 50ff. Die Odyssee steht der klassischen Rahmenerzählung, die nach Jolles „ungleichartige Geschichten“ zusammenhält (siehe oben, S. 108), noch näher als die Aeneis. 105 Besonders augenfällig ist das Rahmenschema in der Aeneis, weil es sich dort sofort im ersten Buch entwickelt und im vierten Buch mit dem Aufbruch des Aeneas endet. In der Odyssee beginnt die eigentliche Odysseus- Handlung erst im fünften Gesang. <?page no="133"?> 133 Helden, seine äußerste Gefährdung und Rettung und daran anschließend die Rückkehr in die menschliche Gemeinschaft sind. Besiegelt wird diese Rückkehr durch ein großes Fest, dessen Höhepunkt der Vortrag des Sängers und die anschließende Erzählung des Protagonisten sind. Da in beiden Epen der erzählende Held in einem doppelten Sinne, nämlich physisch wie menschlich, gerettet ist, kann man die Episode und die ihr zugrunde liegende Motivfolge auch die eines ‚geretteten Erzählers‘ nennen. Auch im Filocolo ist der Held einer Katastrophe entkommen. Seinen physischen und materiellen Nöten kommt hier ein wohlwollender Freund des Vertrauten Ascalion nach 106 . Für die menschlichen und psychischen Bedürfnisse sorgt hingegen die Festgesellschaft, die den Fremden an ihrem geselligen Leben teilnehmen lässt. Ihr Verhalten zeigt die von Karl Reinhardt in der Odyssee beobachteten Umgangsformen einer aristokratischen Gesellschaft. So erkennt ein junger Mann, der Florio/ Filocolo und die Seinen sieht, wie sie dem aus dem Garten ertönenden Gesang lauschen, bei ihrem bloßen Anblick die edle Herkunft: [...] mentre che la fortuna così lui e i compagni fuori del giardino tenea ad ascoltare sospesi, un giovane uscì di quello, e videli, e nell’aspetto nobilissimi e uomini da riverire gli conobbe. 107 Er setzt unverzüglich seine Freunde in Kenntnis: Per che egli sanza indugio tornato a’ compagni, disse: Venite, onoriamo alquanti giovani, ne’ sembianti gentili e di grande essere, i quali, forse vergognandosi di passare qua entro sanza essere chiamati, dimorano di fuori scoltando i nostri canti. (Ebd.) Diese begeben sich zu den Fremden und erkennen ihrerseits sogleich Filocolo als den Edelsten und den Anführer, den sie mit gebührender Ehrerbietung zu ihrem Fest bitten: Lasciarono [die Feiernden] adunque le donne alla loro festa, e usciti del giardino se ne vennero a Filocolo, il quale nel viso conobbero di tutti il maggiore, e a lui, con quella reverenza che essi avevano già negli animi compresa che si convenisse, parlarono, pregandolo che in onore e accrescimento della loro festa gli piacesse co’ suoi compagni passare con loro nel 106 „E da un amico d’Ascalion onorevolemente ricevuti furono nella città, e quivi la loro nave fecero racconciare tutta, e di vele e d’albero e di timoni migliori che i perduti la rifornirono […].“ (Filocolo, IV, 10, 2, S. 371) 107 IV, 14, 4, S. 378. <?page no="134"?> 134 giardino, con più prieghi sopra questo strignendolo che esso loro questa grazia non negasse. 108 Filocolo nimmt die Einladung nicht weniger höflich an. Gemeinsam begeben sich dann alle in den Garten, wo sie von den Frauen freundlich empfangen werden. In der mittelalterlichen höfischen Gesellschaft sind es die gemeinsamen Werte von „nobiltà“ und „cortesia“, die das Gefühl der Zusammengehörigkeit auch unter Fremden stiften und zu einer gastfreundlichen Aufnahme und einem geselligen Miteinander führen 109 . Im weiteren Verlauf wird Filocolo nach dem Muster des höfischen Minnedienstes in die Gruppe aus Männern und Frauen integriert 110 . Höfische Verhaltensmuster sind auch für die Wahl des Ortes und der Unterhaltung der Gesellschaft ausschlaggebend: Ersterer ist, wie später in der Rahmenerzählung des Decameron, ein Garten, ein hortus conclusus, dem für den geselligen Teil ein zweiter, noch lieblicherer locus amoenus folgt 111 . Das Spiel der questioni d’amore ist eine in mehreren Varianten belegte Unterhaltungsform, die den Interessen der vom höfischen Geist geprägten Gesellschaft entspricht und hier die Stelle besetzt, die im antiken Vorbild die Abenteuererzählung einnimmt 112 . 108 IV, 14, 5, S. 378. 109 Siehe hierzu das einschlägige Kapitel „Nobiltà, cortesia und persönliche condizione: Die Etablierung der geselligen Runde als sozialer Körper“ bei Emmelius, Gesellige Ordnung, S. 117ff. Emmelius analysiert den Gruppenbildungsprozess im Filocolo in seinen einzelnen Phasen von der homosozialen Gruppe der einladenden Männer über die Einbeziehung der Frauen bis zur gegenseitigen Identifikation der Beteiligten. 110 Emmelius, Gesellige Ordnung, S. 120: „Florio und Fiammetta [begeben sich] in die Rollen von Minnedame und Minneherr.“ 111 IV, 17, 3f., S. 381. Siehe auch Emmelius, S. 113ff., die in diesem Zusammenhang von „Entrückung“ spricht sowie von Neapel/ Parthenope als einem utopischen „Nicht-Ort“ (S. 113); das sind Neapel und seine höfische Gesellschaft für Boccaccio aber gerade nicht. 112 Auch die zweite Tempelbegegnung des Erzählers mit seiner Dame zu Beginn des Filocolo ist trotz der etwas seltsam anmutenden mythisch-religiösen Verkleidung ihrer Umgebung („sacerdotesse di Diana, sotto bianchi veli, di neri vestimenti vestite, cultivavano tiepidi fuochi divotamente“) eine höfischgesellige („vidi la graziosa donna del mio cuore stare con festevole e allegro ragionamento“), in die er und seine Gefährten ähnlich höflich aufgenommen werden („nel quale ragionamento io e alcuno compagno domesticamente accolti fummo“). Das Resultat dieser Begegnung ist die würdige Nacherzählung der Geschichte des unglücklichen Liebespaares Florio und Biancifiore (I, 1, 23ff., S. 65). <?page no="135"?> 135 Trotz der Abweichungen ist die grundsätzliche Anlehnung der questioni-Episode des Filocolo an die epische Ereignisfolge Seesturm, Rettung und Aufnahme in geselliger Runde kaum zu bezweifeln. Die Ähnlichkeiten und Parallelen mit der Anfangsepisode der Aeneis und deren Vorgängertext reichen von narrativen Makrostrukturen bis hin zu sprachlichen Mikrostrukturen. Dabei können Übereinstimmungen natürlich auch ohne direkte materielle Abhängigkeit nur aufgrund eines verwandten geistigen Klimas wie z.B. der aristokratischen Gesinnung und Lebensformen zustande gekommen sein. Geselligkeit und Unterhaltung sind aber unverkennbar vom selben Typ, auch wenn Boccaccio die einzelnen Motive in seinem Sinne weite entwickelt hat. Solch freie und bisweilen gegenüber der ursprünglichen Verwendung verschobene Übernahme („oblique imitation“) vor allem von antiken Motiven oder Personen hat er im Filocolo oft angewendet, und sie wirkt sich dort geradezu „befreiend“ aus 113 . Auf diese Weise hat er etwa in einer nach Vergil und Dante kontaminierten Szene Florio und Biancifiore ihre Liebe zueinander entdecken lassen 114 . Einen kuriosen Fall ‚obliquer‘ Imitation nach der Aeneis bietet auch zu Beginn die Genealogie der Maria, in der der Kampf der - vom Papst unterstützten - Anjou gegen die Staufer an die Feindschaft der Juno gegen Rom anknüpft und nach dem Muster ihrer Intrige gegen Aeneas in Aeneis I modelliert ist 115 . Und so mag Filocolo im Rahmen der christlichen Überformung des Stoffes auch als ein Nachfolger des Vergilischen „pius Aeneas“ erscheinen 116 . 113 McGregor, The Image of Antiquity, S. 170. Nach McGregor handelt es sich bei dieser Art von Imitation um ein verbreitetes episches Verfahren etwa bei Vergil und Dante. Branca spricht von einer Neigung Boccaccios zur ‚Kontamination‘, die er dessen mittelalterlicher Technik und poetischer Phantasie zuschreibt („Tradizione medievale“, S. 12). 114 Filocolo I, 45-II, 4, S. 123-128. Florio und Biancifiore lernen Lesen mit Ovids Ars amatoria; Venus, die das gewahr wird, schickt wie in der Aeneis Amor, hier in der Gestalt von Florios Vater, der sie küsst und die Liebe in ihnen weckt. Vorbild dieser Szene gemeinsamen Lesens ist die Erzählung von Francesca da Rimini in der Divina Commedia (Inf. V), doch anders als Dantes Liebende schließen Florio und Biancifiore nur ihre Bücher und lernen nicht weiter, ohne den nächsten Schritt zu tun. Zu den einzelnen Hinweisen auf Vergil und Dante siehe Quaglio in Filocolo, „Note“, S. 752ff. 115 Filocolo I, 1, 1ff., S. 61ff. 116 Vgl. dazu das Urteil von Muscetta über die Figur: „nel viaggio di ritorno [Buch V] vediamo il giovane principe trasformarsi da personaggio di romanzo cavalleresco a eroe di tipo nuovo, rispetto ai modelli classici ed epici <?page no="136"?> 136 Im vierten Buch des Filocolo, dieser ‚Urform des Decameron‘, erinnert nun nicht das Geringste an eine Bedrohung vom Typ der Halserzählung, da der Held die bedrohliche Katastrophe ja bereits hinter sich gelassen hat. Andererseits hat aber die in der Halserzählung fehlende Verbindung von Geselligkeit und Erzählen hier und in den epischen Vorläufertexten ein ähnliches Gewicht wie im Decameron. Daher spricht alles dafür, die Rahmenerzählung des Decameron eher in dieser abendländisch-epischen als in der orientalischen Tradition zu sehen. Damit wird freilich die verbreitete, auf Salvatore Battaglia zurückgehende Überzeugung endgültig obsolet, Boccaccios Rahmenverfahren sei ein „schema lirico“ 117 . Nach Battaglia geben die „avventure psicologiche e brevi stati d’animo“ des Romans der Episode des Filocolo eine „motivazione lirica“, die in den folgenden Rahmenvarianten der Comedia delle ninfe fiorentine und des Decameron erhalten bleibe 118 . Lyrische Zustände konstituieren aber per se kein Rahmenverfahren, und das questioni-Spiel als solches ist weder das eine noch das andere, weswegen die Bezeichnung schon immer fragwürdig war. Mit Blick auf Leistung und Herkunft des Rahmenverfahrens sollte man daher richtiger von einem ‚epischen‘ als von einem ‚lyrischen‘ Schema sprechen und mit Blick auf die ganze Motivfolge besser von der „neapolitanischen“ als von der „questioni-Episode“ des Filocolo. 3. Die „bufera infernal“ und die liebenden Erzähler des Inferno Kein Geringerer als Dante war vor Boccaccio auf den Anfang der Aeneis und die dort geschilderte pathetische Erzählsituation aufmerksam geworden. In seiner Divina Commedia hat er zweimal auf sie Bezug genommen. Die Divina Commedia, in der die abgeschiedenen Seelen Dante über ihr Schicksal Auskunft geben, kann als di Ulisse e del pio Enea.“ (Boccaccio, S. 56f.) Muscetta spricht von einem „colorito anticheggiante“ des ganzen Werkes (ebd.). 117 S. Battaglia, „Schemi lirici nell’arte del Boccaccio“ (1935), in: ders., Giovanni Boccaccio e la riforma della narrativa, Napoli 1969, S. 135-154. Noch Branca spricht von „schema lirico“ („G. B. Profilo biografico“, in: G. B., Tutte le opere, Bd. 1, S. 3-203, hier: S. 44). 118 „Schemi lirici nell’arte del Boccaccio“, S. 139. Im Decameron korrespondiere sie schließlich mit der „sensibilità lirica delle novelle“(! ) (S. 154). <?page no="137"?> 137 eine Sammlung von Erzählsituationen und zugehörigen Erzählungen angesehen werden 119 , deren höherer Zweck die Läuterung des Jenseitswanderers ist, der damit wiederum seinen Lesern ein Vorbild gibt. Mit diesen Erzähleinlagen, die wegen ihrer Aktualität und der Prominenz der Betroffenen für die Zeitgenossen einen fait divers- Charakter gehabt haben dürften, hat Dante zur Bildung eines Publikums beigetragen, von dessen Erwartungen und Kompetenzen eine Generation später das Decameron profitieren konnte 120 , dessen Novellen ja eine durchaus anspruchsvolle Lektüre sind. Im zweiten Höllenkreis gelangt Dante an einen dunklen Ort, wo die Verdammten von einem sturmähnlichen Wirbelwind umhergetrieben werden. Er erkennt daran, dass es sich um die „Fleischessünder“ („i peccator carnali“, V. 38) handelt, und erbittet von Vergil weitere Aufklärung über die Bewohner des Kreises. Vergil antwortet mit einem Katalog antiker und moderner Liebender und ihrer Schicksale. Zwei der Seelen erregen Dantes besondere Neugier, weil sie ihm auch im Sturm unzertrennlich zu sein scheinen. Vergil rät ihm, sie bei ihrer Liebe („Per quell’amor che i mena“, V. 78) anzusprechen. Auf Dantes entsprechende Worte hin lösen sich die Seelen aus der Schar der übrigen Verdammten und eine von ihnen wendet sich so an ihn: „O animal grazïoso e benigno che visitando vai per l’aere perso noi che tignemmo il mondo di sanguigno, Se fosse amico il re dell’universo, noi pregheremmo lui della tua pace, poi c’hai pietà del nostro mal perverso. Di quell che udire e che parlar vi piace, 119 Vgl. die Feststellung von Giorgio Padoan zu Boccaccios Verständnis der Divina Commedia: „Egli insomma legge la Comedìa come se si trattasse di una grande raccolta di novelle.“ („Mondo aristocratico e mondo comunale nell’ideologia e nell’arte di Giovanni Boccaccio“ [1964], in: ders., Il Boccaccio. Le Muse il Parnaso e l’Arno, Firenze 1978 [Biblioteca di lettere italiane. Studi e testi. 21], S. 1-91, hier: S. 30). 120 Vgl. E. Auerbach, Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter, Bern 1958, S. 238: „Dante schuf sich sein Publikum, aber er schuf es nicht nur für sich; er schuf auch das Publikum für die Späteren.“ <?page no="138"?> 138 noi udiremo e parleremo a vui, mentre che ’l vento, come fa, ci tace.“ 121 Während der höllische Sturm „schweigt“, gibt die Seele sich und ihren Begleiter als unter der Macht Amors stehende Liebende zu erkennen, die wegen ihrer Liebe zu Tode kamen: „Amor, ch’al cor gentil ratto s’apprende, prese costui della bella persona che mi fu tolta; e ’l modo ancor m’offende. Amor, ch’a nullo amato amar perdona, mi prese del costui piacer sì forte, che, come vedi, ancor non m’abbandona. Amor condusse noi ad una morte: Caina attende chi a vita ci spense.“ (V. 100-107) Dante erkennt aus diesen Worten, wen er vor sich hat, und versinkt in tiefes Sinnen, aus dem ihn sein Führer in die Gegenwart zurückruft. Seine Wissbegier ist aber noch nicht befriedigt, er fragt daher nach dem genauen Hergang des Geschehens und erhält die Antwort: E quella a me: „Nessun maggior dolore che ricordarsi del tempo felice nella miseria; e ciò sa ’l tuo dottore. Ma s’a conoscer la prima radice del nostro amor tu hai cotanto affetto, dirò come colui che piange e dice.“ (V. 121-126) Es folgt die bekannte Geschichte der gemeinsamen Lancelot-Lektüre von Francesca da Rimini und Paolo Malatesta mit der gegenseitigen Entdeckung ihrer Gefühle. Als Francesca geendet hat, sinkt Dante vom Mitleid überwältigt ohnmächtig nieder. Es ist leicht ersichtlich, dass Francesca im ersten Teil ihrer Rede, in dem sie sich Dante zu erkennen gibt, zu Gedanken und Terminologie des „dolce stil nuovo“ greift 122 . In ähnlicher Weise spiegelt sich wenig später in der Haupterzählung das Vergehen der Liebenden „in einer Szene eines altfranzösischen Liebesromans“ 123 . Nicht 121 V. 88-96. Zitiert nach: Dante Alighieri, La Divina Commedia, testo critico della Società Dantesca, rived. nel testo e comment. da G. A. Scartazzini/ G. Vandelli, Milano 19 1965. 122 Siehe etwa Hermann Gmelin in Die göttliche Komödie. Kommentar, I. Teil: Die Hölle, Stuttgart 1954, S. 118f. Ebenso Scartazzini/ Vandelli zur Stelle. 123 Gmelin, ebd., S. 122. <?page no="139"?> 139 ganz so leicht erkennbar ist der Einfluss der Aeneis in dieser Begegnung. Immerhin beginnt Francesca die Erzählung ihres Schicksals in V. 121ff. mit einem Hinweis auf Vergil: „Nessun maggior dolore / che ricordarsi del tempo felice / nella miseria; e ciò sa ’l tuo dottore.“ Worauf dieser Hinweis sich bezieht, ist jedoch umstritten. Sein erster, sentenzenartiger Teil enthält nach Meinung mancher Kommentatoren eine von Boethius übernommene allgemeine Lebensweisheit, die, nach Francescas wie nach Dantes Überzeugung, der in die Hölle verbannte Vergil an sich selbst erfahren habe 124 . Diese Feststellung verdankt sich Boccaccio, der in seinem Kommentar zur Divina Commedia Boethius als Autorität für die Lebensweisheit zitiert hat 125 , um dann so fortzufahren: „e ciò sa ’l tuo dottore“, cioè Virgilio, il quale, e nel principio della narrazion fatta da Enea de’ casi troiani a Didone e ancora nel dolore di Didone nella partita d’Enea, assai chiaramente il dimostra. Nach Boccaccio spielt Francesca hier auf das Wissen des Autors Vergil um eine ihrer eigenen entsprechende Gemütsverfassung an 126 , das in seinem Werk niedergelegt sei. Von den zwei Stellen der Aeneis, die er als Belege anführt, betrifft die zweite die verlassene Dido, deren Gemütszustand zwischen Selbstvorwürfen, Erinnerung an das verlorene Liebesglück und Verfluchung des untreuen 124 Vgl. den Kommentar von Scartazzini/ Vandelli zur Stelle sowie Gmelin, S. 121: „Die Sentenz ist vielverbreitet […]. Deshalb ist auch die Bezugnahme auf Virgil […] durchaus rein menschlich aus dem Wissen um die augenblickliche Situation heraus zu verstehen: er ist wie Francesca eine in die Hölle verbannte edle Seele.“ 125 „[...] veramente grandissimo dolore è, e questo assai chiaro testimonia Boezio [...] dicendo: ‚Summum infortunii genus est fuisse felicem‘ [...].“ (G. B., Esposizioni sopra la Comedia di Dante, hrsg. von G. Padoan, in: V. Branca [Hrsg.], Tutte le opere di Giovanni Boccaccio, Bd. 6, 2, Milano 2 1994 [ 1 1965]; hier: S. 322.) Die Sentenz, die im Original einen etwas anderen Wortlaut hat („nam in omni adversitate infelicissimum est genus infortunii fuisse felicem“; De consolatione II, pr. 4, 2), deckt sich allerdings nicht völlig mit der Äußerung Francescas, weil in ihr der Vorgang der Erinnerung nicht explizit genannt ist. 126 Dazu passt die Bezeichnung Vergils als „dottore“, die nach Gmelin „in Fällen der Belehrung und der Weisheit“ Verwendung findet (Kommentar, I. Teil, S. 60, zu Inf. II, 140). <?page no="140"?> 140 Aeneas schwankt 127 . Die als erste genannte - und in der Tat zutreffendere - Stelle, die „narrazion fatta da Enea de’ casi troiani a Didone“, bezieht sich aber auf Aeneas, der zu Beginn seiner Erzählung vor Dido eine Äußerung ähnlichen Inhaltes wie Francesca tut. Er begegnet der Aufforderung Didos nämlich ebenfalls mit dem Einwand, wie schmerzlich das verlangte Sich-Erinnern für ihn sei: infandum, regina, iubes renovare dolorem, Troianas ut opes et lamentabile regnum eruerint Danai, quaeque ipse miserrima vidi et quorum pars magna fui. Dann aber beugt er sich Didos Wunsch: sed si tantus amor casus cognoscere nostros et breviter Troiae supremum audire laborem, quamquam animus meminisse horret luctuque refugit, incipiam. 128 Auch Francesca reagiert auf das Begehren Dantes zunächst mit dem Argument des Erinnerungsschmerzes, wobei sie zum Teil des Aeneas Worte aufnimmt („Nessun maggior dolore […]“ - „infandum […] dolorem“) und sich eben auf Dantes Begleiter und „Lehrer“ als den Autor dieser Worte beruft („e ciò sa ’l tuo dottore“). Danach gibt sie, wiederum mit ähnlichen Worten wie Aeneas: „Ma s[e] […] tu hai cotanto affetto […]“ - „sed si tantus amor […]“, dem Wunsch Dantes nach und erzählt ihre Geschichte. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass dieser Entgegnung der Francesca die Redefigur aus dem Erzähleinsatz der Aeneis zugrundeliegt und dass ihr Zuhörer - und dessen Leser - dies auch erkennen sollten. Boccaccio hat es erkannt, wie sein Kommentar zeigt. Hinter der Verwendung der Redefigur des Aeneas steht bei Francesca jedoch eine andere Motivation als bei ihrem Vorgänger. Dem schiffbrüchigen Aeneas ging es bei der Festgeselligkeit zu Karthago in erster Linie darum, sein Gegenüber für sich einzunehmen, um Hilfe zu erhalten. Francesca als Verdammte hingegen kann sich von ihrem Zuhörer weder Hilfe noch sonstiges Entgegenkommen erwarten und versteht Dantes Aufforderung zum Erzählen auch 127 Vgl. dazu Aen. IV, 550ff. 590ff. Auch Francesca ‚verflucht‘ ihren Mörder („Caina attende chi a vita ci spense.“). Zu ihrer Einsicht in die eigene Schuld siehe im Folgenden. 128 Aen. II, 3-6. 10-13. <?page no="141"?> 141 nicht als einen ‚Befehl‘ wie Aeneas die Aufforderung der Dido („iubes renovare“, Aen. II, 3). Sie hat einen anderen Grund für den schmerzlichen Akt der Erinnerung. In seiner Studie über Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie hat Hugo Friedrich am Beispiel des fünften Gesangs des Inferno das Verhältnis von Schuld und Strafe in der Divina Commedia untersucht. Ein Verdammter, so Friedrich, ist einerseits ein „Reueloser“, einer, dessen „Bereitschaft zur Schuld ewig ist“ 129 . Dies zeigt sich in Francescas Aussage „Amor […] / che, come vedi, ancor non m’abbandona“, die Friedrich so kommentiert: […] das ist nicht die Seligkeit in der Unseligkeit, der Trost in der Verdammnis. Das wäre modern gedacht. Ungetrennt in der Hölle kreisen die Liebenden weiter, weil ihre Liebe, das ist ihre Schuld, auch in der Hölle weiterdauert. Ihr Sündigsein findet kein Ende und keine Hoffnung auf die Erlösung vom falschen Tun. 130 Zum andern wollen die Verdammten aber auch ihre Strafe, weil sie der „negative Beitritt zur Rechtsordnung“ ist: Das Paradoxon, dass die Strafe der negative Beitritt zur Rechtsordnung ist, spiegelt sich im seelischen Paradoxon, dass im Verdammten die Furcht vor der Strafe sich in den Willen zur Strafe verwandelt. […] Da der Sündige auch im Jenseits weiter existiert, kann er gar nicht anders, als die Strafe wollen, weil sie ihn im Sein erhält, dem er nicht zu entgehen vermag. Die Identität von Bösesein und Strafe ist vollendet und wird lediglich szenisch auseinandergelegt. 131 Schuld und Strafe sind demnach nicht mehr zu trennen: Im strafmetaphysischen Sinne ist dies alles ein und dasselbe: das Wissen vom Bösesein und der Strafwille auf der einen, das Fortsündigen auf der anderen Seite. […] Die Strafe der Reuelosen verändert ihren sündigen Habitus nicht. 132 Das treibende Motiv für Francescas Erinnern und Erzählen ist also gleichzeitig die Wiederholung ihrer Sünde wie die Bereitschaft zum Erleiden der Strafe, und jedes von beiden ist schmerzlich und doch von ihr gewollt. In diesem neuen, metaphysischen Sinne sind die Worte des Aeneas in ihrem Munde zu verstehen. 129 Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie. Francesca da Rimini, Frankfurt a.M. 1942, S. 135. 130 Ebd. 131 S. 132f. 132 S. 134. <?page no="142"?> 142 Außer dem Erzähleinsatz der Francesca kann auch die „bufera“, die die Seelen im zweiten Höllenkreis umhertreibt und die während des Gesprächs Dantes mit Francesca „schweigt“ („tace“, V. 96), vor dem Hintergrund der Aeneis gesehen werden. Denn ein tatsächliches Aussetzen dieses Sturmes ist ja nicht möglich, weil er die den Liebessündern auferlegte ewige Strafe ist und kurz zuvor noch gesagt wird, dass er nie zur Ruhe komme („La bufera infernal, che mai non resta“, V. 31). Man hat daher nach Erklärungen für Francescas „mentre che ’l vento, come fa, ci tace“ gesucht. Gmelin etwa sieht das Aussetzen des Windes als „notwendig für die gottgewollte Unterrichtung Dantes“ an 133 . Hinzu kommt eine Textunsicherheit. Die Überlieferung der Stelle schwankt zwischen „ci tace“ und „se tace“ 134 . Der Text der Società Dantesca hat die lectio difficilior „ci tace“ 135 , und im Kommentar wird die Wendung dementsprechend lokal in dem Sinne gedeutet, dass Francesca von einem Ort am Rand der vom Wind beherrschten Zone spreche, wo Dante und Vergil sich aufhalten und wohin sie sich begeben habe: „dove la bufera non infuria o è men violenta“ 136 . Tatsächlich ist der Ort der Liebessünder ‚von außen‘, aus der Sicht des Betrachters und nicht der eines Betroffenen, beschrieben. Er macht auf Dante den Eindruck eines sturmgepeitschten Meeres, auf dem die Liebenden von der „bufera“ hin und her geworfen werden: Io venni in luogo d’ogni luce muto, che mugghia come fa mar per tempesta, se da contrari venti è combattuto. La bufera infernal, che mai non resta, mena li spirti con la sua rapina: voltando e percotendo li molesta. Quando giungon davanti alla ruina, quivi le strida, il compianto, il lamento; bestemmian quivi la virtù divina. (V. 28-36) 133 Kommentar, I. Teil, S. 117f. Ähnlich kommentiert Anna Maria Chiavacci Leonardi (Commedia. Inferno, Bologna: Zanichelli 1999, S. 92). 134 Siehe Dantis Alagherii Comedia, krit. hrsg. von F. Sanguineti (Archivio Romanzo), Firenze 2001, S. 30. 135 La Divina Commedia (Scartazzini/ Vandelli), S. 40. 136 S. 37, Anm. zu V. 31 („non resta“). Ebenso E. Pasquini/ A. Quaglio (Hrsg.), Commedia, Milano: Garzanti 1987, S. 82; Chiavacci Leonardi, Commedia. Inferno, S. 92. <?page no="143"?> 143 Die „bufera infernal“ ist, entsprechend dem Gesetz des „contrappasso“, ein leicht verständliches - und von Dante auch sogleich verstandenes 137 - Bild für die Liebesleidenschaft, die die Bewohner des zweiten Höllenkreises umtreibt. Darin gleicht sie dem metaphorischen Seesturm im Filocolo. Es liegt auf der Hand, dass für die erzählende Francesca dieser (metaphorische) Sturm der Außenwelt „schweigen“ kann, solange sie dem Sturm der Leidenschaft in ihrem Inneren erinnernd Ausdruck und Stimme verleiht. Nicht umsonst trifft sie - und nicht der Erzähler Dante - die Feststellung: „mentre che ’l vento, come fa, ci tace.“ Das Aussetzen der „bufera“ wäre demnach nicht als Strafpause für Francesca (und Paolo) zu verstehen 138 , sondern als Verinnerlichung der äußeren Strafe, die in der Begegnung mit Dante an ihren wahren Platz im Innern der verdammten Francesca zurückkehren würde. Allerdings setzt der Sturm nicht erst aus, als Francesca zu erzählen beginnt oder als sie sich Dante als Getreue Amors zu erkennen gibt. Vielmehr wird sein Verstummen von ihr bereits wahrgenommen, als sie ihrem Gegenüber für seine menschliche Anteilnahme und sein Mitgefühl dankt (V. 88ff.). Offenbar wird für sie in der Begegnung mit dem „animal grazioso e benigno“, das in der Dunkelheit der Hölle ihrem und Paolos Liebesschicksal „pietà“, mitfühlendes Interesse, entgegenbringt, eine Menschlichkeit und Gemeinschaft sichtbar, der sie eine besondere Bedeutung beimisst, weil sie und ihre Liebe in dieser Gemeinschaft zwar nicht vor dem Sturm der Leidenschaft und der Strafe gerettet sind, wohl aber teilnahmsvoll angenommen werden. Auch daher ist Francesca bereit, sich zu erinnern und zu erzählen. Das Entgegenkommen gegenüber einem Anteil nehmenden Gleichgesinnten wäre somit ein weiteres, sozusagen irdisches Motiv für ihr Erzählen, hinter dem das Motiv der Geselligkeit aufscheint, und das „ci“ in der Äußerung über das Schweigen der „bufera“ würde den ideellen Ort bezeichnen, an dem solche Menschlichkeit und Geselligkeit angetroffen 137 Vgl. V. 37-39: Intesi ch’a così fatto tormento enno dannati i peccator carnali, che la ragion sommettono al talento. 138 Friedrich betont, dass Dante auf die Strafpause der mittelalterlichen Visi literatur verzichtet habe (Die Rechtsmetaphysik, S. 136 und 184f.); das setzen der „bufera“ in Inferno V übergeht er. <?page no="144"?> 144 oder hergestellt werden, nicht aber einen wie immer gearteten konkreten Ort 139 . Für welche Interpretation man sich auch entscheiden mag, fest steht, dass Dante hier auf den Spuren Vergils eine überaus intensive poetische Szene gelungen ist. Was Francesca mit Dante verbindet, ist, wie aus den Versen ihrer Selbstvorstellung hervorgeht, die Gemeinschaft der „fedeli d’amore“. Diese steht als Gemeinschaft von Gleichgesinnten in Liebesdingen in der Tradition der höfischen Liebesgeselligkeit. Daher haben wir es in Inferno V trotz des jenseitigen Ortes und seiner metaphysischen Implikationen auch mit einem höfischen Erzählen zu tun, bei dem, wie später im Filocolo, Liebe und Geselligkeit das Bindeglied zwischen den Beteiligten und der Gegenstand ihres gemeinsamen Interesses sind. In einer solchen Erzählergemeinschaft ist wenigstens ein Beteiligter ein von der Liebe Betroffener, sei es in Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft. Außer den ewig Liebenden Francesca und Paolo ist hier der Zuhörer Dante ein eben noch Liebender, der über seine Liebe auch berichtet hat. Dies erklärt sein besonderes Interesse an den Bewohnern des zweiten Höllenkreises, das nicht gewöhnlicher „curiositas“, sondern dem eigenen „Heilsbedürfnis“ entspringt 140 . Und sie erklärt sein Mitleid mit ihnen, vor allem im ersten Teil des Gesangs. Tatsächlich ist „pietà“ geradezu ein Kennwort dieses sehr emotionalen Höllengesangs 141 . Im Laufe der Begegnung tritt zu der Betroffenheit Dantes als ehemals Liebender noch seine Betroffenheit als Autor und Erzähler dieser Liebe. So begegnet er in den stilnovistischen Wendungen von Francescas Selbstvorstellung den Worten und Wendungen seines eigenen Berichtes und ihrer Wirkung auf die Leserin Francesca; daher sein langes, betroffenes Schweigen (V. 109ff.), aus dem Vergil ihn in die 139 Die Erklärung von Scartazzini/ Vandelli, dass Francesca wegen des am Standort Dantes und Vergils nachlassenden Sturmes „avrà ed esprimerà l’impressione che il vento ivi taccia“ (S. 37, Anm. 31) bleibt an der Oberfläche des Textes. „Ci“ als Personalpronomen aufzufassen - „a noi“, „per noi“ - (so D. Mattalìa, La Divina Commedia [I Classici Rizzoli], 2 Bde., Milano 2 1966 [ 1 1960], Bd. 1, S. 126, zur Stelle), kommt der hier angenommenen Bedeutung näher, setzt aber eine größere Vertrautheit zwischen Francesca und Dante/ Vergil voraus, als tatsächlich besteht. 140 Friedrich, S. 85; zum Begriff der „curiositas“ siehe S. 148ff. 141 Vgl. V. 72: „pietà mi giunse“; V. 87: „poi c’hai pietà del nostro mal perverso“; V. 117: „mi fanno tristo e pio“; V. 140: „sì che di pietade / io venni men“; daneben mehrfach weitere affektische Ausdrücke. <?page no="145"?> 145 Wirklichkeit zurückholt, und sein Wunsch, genauer zu erfahren, wie sich Francescas Geschichte zugetragen hat. Als sie von der gemeinsamen Lancelot-Lektüre berichtet und den Autor des Romans beschuldigt, ihr und Paolos Verführer gewesen zu sein („Galeotto fu il libro e chi lo scrisse: “, V. 137), wird er dann so von Mitleid ergriffen, dass er ohnmächtig wird: Mentre che l’uno spirto questo disse, l’altro piangea, sì che di pietade io venni men così com’io morisse; e caddi come corpo morto cade. (V. 139-150) Boccaccio erkennt hier neben dem Mitleid mit dem Paar Francesca und Paolo vor allem ein Mitleid Dantes mit sich selbst: „questa compassione […] non ha tanto l’autore per gli spiriti uditi quanto per se medesimo“, das neben dem Mitleid mit dem Liebenden Dante auch das Mitleid mit dem Autor Dante einschließen dürfte, auch wenn Boccaccio dies so deutlich nicht sagt 142 . Jedenfalls werden im fünften Gesang des Inferno nicht nur diejenigen verurteilt, die der Liebe verfallen sind, sondern implizit auch die Liebesliteratur und ihre Verfasser 143 . Umso bemerkenswerter ist es, dass später in Anspielung auf die Szene der Lancelotlektüre das Decameron den Untertitel „prencipe Galeotto“ tragen wird. Doch zurück zu unserer Motivfolge und zum Erzähleinsatz der Francesca da Rimini. Dante hat nicht nur den ersten Fall einer persönlichen Schicksalserzählung in seiner Divina Commedia nach dem Vorbild des Erzähleinsatzes der Aeneis geformt. Auch in der letzten 142 „[I]l quale [l’autore] dalla coscienza rimorso, conosce sé in quella dannazion dovere cadere, se di quello che già in tal colpa ha commesso non sodisfa con contrizione e penitenzia a colui il quale ha, peccando, offeso, cioè Idio.“ (Esposizioni sopra la Comedia di Dante, S. 324f.) 143 Friedrich hat in einem Kapitel über das Mitleid dargelegt, dass Dante in Inferno V in „eigener Schuld betroffen“ sei und dass dort die „hohe innerweltliche Gesittungsstufe des Amore“ gerichtet werde (Die Rechtsmetaphysik, S. 189) sowie „die Dichter der spiritualen Minne in die Schuld gerückt“ würden (S. 198). Er sieht aber keinen Anteil Dantes an Francescas Verführung durch die Literatur und keinen Zusammenhang dieser Szene mit der Überwindung des dolce stil nuovo in der Divina Commedia (S. 194ff.). Welchen Sinn aber sollte sonst bei einem Autor, der seiner Mittel so sicher war wie Dante, die Steigerung des Mitleids von V. 72 über V. 117 bis zu V. 142 haben? <?page no="146"?> 146 Begegnung des Inferno greift er noch einmal darauf zurück. Als Graf Ugolino von seinem und seiner Söhne und Enkel schrecklichem Ende im Hungerturm zu Pisa berichtet, beginnt er seine Rede mit den Worten des Aeneas: […] tu vuo’ ch’ io rinovelli disperato dolor che ’l cor mi preme già pur pensando, pria ch’ io ne favelli. Ma se le mie parole esser dien seme che frutti infamia al traditor ch’ i’ rodo, parlare e lacrimar vedrai inseme. 144 Wieder haben wir, auf zwei Terzinen verteilt, die Vergilische Redefigur vor uns, freilich in einer dem tiefsten Höllenort entsprechenden, ‚höllisch‘ verzerrten Form. Ihr erster Teil ist hier dem Text der Vorlage näher als in Inferno V. Dante verlange - so Ugolino - eine Erneuerung seines „Verzweiflungsschmerzes“ („tu vuo’ ch’ io rinovelli / disperato dolor“ - „infandum, regina, iubes renovare dolorem“ begann Aeneas), der ihm schon bei der bloßen Ernerung das Herz abschnüre: „che ’l cor mi preme / già pur pendo“ - letzteres variiert das abschließende „quamquam animus minisse horret luctuque refugit“ des Aeneas (V. 12) 145 . Francescas schmerzliche Erinnerung an den „tempo felice“ wird zum Verzweiflungsschmerz des sich der Greuel des Sterbens erinnernden Vaters - eine Rückkehr zur Situation des Aeneas, der bei Vergil auf die Greuel des Untergangs Trojas zurückblickte. Anders der zweite Teil der Redefigur, in dem sich die Bosheit eines Bewohners der Tolomea offenbart, der als Grund des Erzählens - neben dem metaphysischen Willen zu Schuld und Strafe - nur noch den Willen zur Diffamierung des verhassten Feindes kennt 146 , während Francesca und Aeneas auf die menschliche Anteilnahme ihres Gegenübers reagierten. Diese exakt abgestimmte Doppelverwendung und Abwandlung eines Vergilischen Motivs am Anfang und am Ende der Höllenwanderung sprechen nicht nur für ein überlegtes dichterisches Vorgehen Dantes, sondern auch für seine genaue Kenntnis der Aeneis. Beides macht es schwer vorstellbar, dass Sturm und Ret- 144 Inf. XXXIII, 4-9. 145 Siehe auch Scartazzini/ Vandelli zur Stelle. 146 Dante hat ihm zuvor Hoffnung auf ein gerechtes Urteil der Nachwelt gemacht (Inf. XXXII, 138). Zum Verhältnis der Verdammten zu ihrem Nachruhm auf Erden siehe Gmelin, Kommentar, I. Teil, S. 133 (zu Inf. VI, 89). <?page no="147"?> 147 tung, Geselligkeit und Erzählen und sogar eine Liebesverführung rein zufällig in Inferno V nebeneinander stehen sollten. 4. ‚Liebende‘ und ‚gerettete‘ Erzähler im Decameronrahmen Die höfisch-gesellige Erzählsituation und die Entwicklung der Novellenthemen Branca hat dargelegt, dass die endgültige Niederschrift des Decameron nach dem Abklingen der Pest im Frühjahr des Jahres 1349 erfolgt sein muss: es sei nicht vorstellbar, dass Boccaccio die Pestschilderung begonnen habe, noch während die Seuche wütete. Doch gilt ihm dieser terminus post quem nur für das „componimento ultimo dell’opera, non per il lavoro generale di sistemazione“ 147 , das eine über viele Jahre andauernde Sammeltätigkeit gewesen sei. Als terminus ante quem setzt er das Jahr 1351 an, in dessen Frühjahr die Begegnung mit Petrarca stattfand, die eine so große Neuorientierung in Boccaccios Leben und literarischen Aktivitäten gebracht habe, dass fortan für eine längere intensive Arbeit am Decameron keine Zeit mehr gewesen sei 148 . Giorgio Padoan hat Brancas Überlegungen zur Entstehung des Decameron aufgenommen und vertieft 149 . Er geht von drei Schritten aus: der „pubblicazione“, einer vorausgehenden „sistemazione organica“ und „revisione definitiva“ der gesammelten Novellen, die er in dem von Branca eingegrenzten Zeitraum ansiedelt, sowie einer noch davor anzusetzenden „genesi“ des Ganzen mit „sedimentazioni e stratificazioni“, von denen er einige aufzudecken versucht 150 . Wie er an Übereinstimmungen in den Rahmen der Giornate bzw. einzelner Gruppen derselben zeigt, muss die Publikation in Teilen erfolgt sein (3 - 3 - 3 - 1), ähnlich derjenigen der Divina Commedia, jedoch in 147 Branca, „Per il testo del Decameron. La prima diffusione del Decameron“, Studi di filologia italiana Bd. 8/ 1950, S. 29-143: „[…] le pagine della tragica ouverture, come quelle dei proemi a varie novelle, poterono essere scritte proprio per ultime.“ (S. 37, Anm. 11) 148 S. 42ff. Branca argumentiert damit gegen eine späte Fertigstellung in den Jahren 1353/ 1354. 149 „Sulla genesi e la pubblicazione del Decameron“, in: ders., Il Boccaccio. Le Muse il Parnaso e l’Arno, Firenze 1978, S. 93-121. 150 S. 93. <?page no="148"?> 148 viel kürzeren Zeitabständen, wie es der schnellen Schreibweise Boccaccios auch in andern Werken entsprach 151 . Für die erste Phase der „raccolta di materiali, di primi abbozzi, di raggruppamenti di racconti“ bis zum definitiven Plan setzt Padoan wie Branca einen längeren Zeitraum an. Die ältesten Teile der Sammlung sind danach die Giornate I und X, deren Themen sich auf die Nenner „vizi“ (I in absteigender Linie vom Porträt des Ser Ciappelletto in I, 1 an) und „virtù“ (X in aufsteigender Linie bis zur Griseldis-Novelle, X, 10) bringen lassen 152 . Ihr erbaulicher Charakter rückt sie in die Nähe der Facta et dicta memorabilia des Valerius Maximus, zumal die erste Giornata auch „dicta“ in Gestalt von „motti“ enthält. Vom Werk des Valerius Maximus gibt es zwei zeitgenössische „volgarizzamenti“, die, wie Maria Teresa Casella plausibel gemacht hat, beide Boccaccio zugeschrieben werden können 153 . Padoan vermutet nun, dass Boccaccio die Arbeit an dem zweiten, unvollendet gebliebenen „volgarizzamento“ abgebrochen habe, als die Vorstellung eines eigenen vulgärsprachlichen Äquivalents in ihm Gestalt angenommen hatte 154 . Nach der Valerius Maximus-Nachfolge, die für ein frühes Entstehungsstadium der Giornate bzw. Novellen spricht, ist Padoans weiteres Argument die „ambientazione fiorentina“, d.h. die Situierung der Novellen in und um Florenz, in der er einen Hinweis auf späte Entstehung erkennt. Mit Hilfe dieser beiden Kriterien bildet er zwei Gruppen von Novel- 151 S. 94ff. 152 Neben den thematisch-motivischen berücksichtigt Padoan bei seinen Überlegungen auch stilistische Indizien wie die neue „narrativa decameroniana, realistica e concreta“ (S. 106). 153 Casella, „Il Valerio Massimo in volgare: dal Lancia al Boccaccio“, Italia medioevale e umanistica Bd. 6/ 1963, S. 49-136, bes. S. 125f. Dann ausführlich in: dies., Tra Boccaccio e Petrarca. I volgarizzamenti di Tito Livio e di Valerio Massimo (Studi sul Petrarca. 14), Padova 1982. Casella datiert die beiden volgarizzamenti zwischen 1336 und 1342 (Tra Boccaccio e Petrarca, S. 281). 154 „Sulla genesi e la pubblicazione del Decameron “, S. 108: „quasi il Boccaccio abbia lasciato cadere l’idea della rielaborazione di quel volgarizzamento per comporre in proprio dei ‚facta et dicta memorabilia‘“, und noch einmal zusammenfassend S. 113: „Valerio Massimo poté ispirare l’iniziale idea di narrare ‚facta memorabilia‘ […]“ Casella geht von einer weiteren, also dritten Redaktion des Valerius Maximus aus und nimmt als Grund für den Abbruch Boccaccios neu erwachtes Interesse an Livius an, argumentiert allerdings nur im Kontext der volgarizzamenti (Tra Boccaccio e Petrarca, S. 282). <?page no="149"?> 149 len, eine frühe mit den Giornate X, I, II, IV und V und eine späte, die die Giornate VI, VII, VIII und IX umfasst. Die Giornata III leite von der ersten zur zweiten Gruppe über. Innerhalb der zweiten Gruppe ist die „ambientazione fiorentina“ stark, wenn auch ungleichmäßig verteilt. Sie reicht von drei von zehn (VII) bis zu acht von zehn Novellen (VI). In der ersten Gruppe schwankt sie zwischen null (X und IV) und zwei von zehn Novellen (IV). Soweit Padoans anregende Überlegungen. Dass Boccaccio, nachdem er sich zweimal mit unterschiedlichem Erfolg als Übersetzer des Valerius Maximus versucht hatte, auf den Gedanken gekommen sein kann, ein eigenes vulgärsprachliches Pendant zu dessen beliebtem „Erbauungs-, Unterhaltungs- und Nachschlagewerk“ 155 zu verfassen und der bunten Reihe von Genera seines bisherigen Schaffens ein weiteres hinzuzufügen, ist eine durchaus überzeugende Vorstellung. Dies umso mehr, als fast zeitgleich Petrarcas Rerum memorandarum libri nach demselben antiken Vorbild entstanden (1343-1345). Das so konzipierte Ur-Decameron versammelte wie sein Modell ‚facta‘ und ‚dicta‘ in lockerer thematischer Anordnung 156 , hatte vermutlich den Charakter einer erbaulich-unterhaltsamen Exemplasammlung und dürfte zunächst noch ohne Rahmen ausgekommen sein, wie es ja auch in den Facta et dicta memorabilia einen solchen nicht gibt, sondern nur ein Vorwort sowie Überleitungen und gelegentliche Kommentare des Autors zu den einzelnen Kapiteln und Themen. Wann also, an welchem Punkt der Genese entstand die Idee eines alles umschließenden Rahmens? Gibt es einen Zusammenhang zwischen ihr und bestimmten Novellen? Und wann ist unsere Motivfolge mit welchen Folgen für das Ganze hinzu gekommen? Man kann davon ausgehen, dass Boccaccio schon sehr bald kommentierende Rahmen um einzelne Novellen verfasst hat. Padoan hat darauf hingewiesen, dass die Einführung zur Novelle I, 10 fertiggestellt - und veröffentlicht - war, bevor das Konzept des - späten - sechsten Tages feststand, dessen erste Novelle diese Einfüh- 155 E. Schmalzriedt, in: Kindlers Neues Literatur Lexikon, Bd. 16, München 1991, S. 1011. 156 Die endgültige Themenanordnung dürfte sich erst nach und nach entwickelt haben. <?page no="150"?> 150 rung fast wörtlich wiederholt 157 . In der frühen zehnten Giornata finden sich zudem Hinweise darauf, dass mehrere ihrer Novellen von Anfang an zu einer Rahmung tendierten. So weisen die aus dem Filocolo übernommenen Novellen X, 4 und 5 Kommentare auf, in denen eine questione-ähnliche dilemmatische Frage aufgeworfen wird 158 , die sich hier aber nicht auf den Sachverhalt der soeben erzählten Novelle bezieht, sondern auf die Sachverhalte der vorausgegangenen Novellen: Che adunque qui, benigne donne, direte? estimerete l’aver donato un re lo scettro e la corona, e uno abate senza suo costo avere riconciliato un malfattore al Papa, o un vecchio porgere la sua gola al coltello del nimico, essere stato da aguagliare al fatto di messer Gentile? Il quale giovane e ardente, e giusto titolo parendogli avere in ciò che la tracutaggine altrui aveva gittato via e egli per la sua buona fortuna aveva ricolto, non solo temperò onestamente il suo fuoco, ma liberalmente quello che egli soleva con tutto il pensier disiderare e cercare di rubare, avendolo, restituí. Per certo niuna delle già dette a questa mi par simigliante. 159 Und: Che direm qui, amorevoli donne? preporremo la quasi morta donna e il già rattiepidito amore per la spossata speranza a questa liberalità di messer Ansaldo, piú ferventemente che mai amando ancora e quasi da piú speranza acceso e nelle sue mani tenente la preda tanto seguita? Sciocca cosa mi parrebbe a dover credere che quella liberalità a questa comparar si potesse. 160 Die Erzählerinnen Lauretta (X, 4) und Emilia (X, 5) rufen zu einer Abwägung der „liberalità“ der Helden ihrer Novellen mit derjenigen der Helden in den anderen Novellen auf, wobei Lauretta mit allen vorausgegangenen Novellen der Giornata (1-3) konkurrieren will, Emilia nur mit der letzten (4). Dieser Wettstreit der Erzähler untereinander beginnt mit der zweiten Novelle, deren Erzählerin 157 Padoan, „Sulla genesi e la pubblicazione del Decameron“, S. 105. 158 Soweit ich sehe, ist dies nur von Edoardo Sanguineti bemerkt worden: „[…] in X, 4 e 5 […] della struttura della quaestio rimarrà in cornice, non a caso, esplicita memoria, tanto da coinvolgere in contagio, finalmente, la giornata terminale tutta, con tanto di ritmi emulativi, e tanto di sottolineatura nella corsa al rialzo.“ („Gli ,schemata‘ del Decameron“, Studi di filologia e letteratura Bd. 2/ 3/ 1975, S. 141-153, hier: S 151) Sanguineti vertritt die Überzeugung, dass die Novelle „presso Boccaccio, nasca come quaestio“, mit einer „struttura […] da quaestio imborghesita“ (S. 151.152). 159 Decameron, X, 4, 47f. 160 Decameron, X, 5, 26. <?page no="151"?> 151 Elissa der selbstverständlichen „magnificenzia“ eines Königs (X, 1) nicht ohne satirische Note die „mirabil magnificenzia“ eines Klerikers gegenüberstellt: Dilicate donne, l’essere stato un re magnifico e l’avere la sua magnificenzia usata verso colui che servito l’avea non si può dire che laudevole e gran cosa non sia: ma che direm noi se si racconterà un cherico aver mirabil magnificenzia usata verso persona che, se inimicato l’avesse, non ne sarebbe stato biasimato da persona? 161 Er setzt sich mit den Novellen 3-5 fort und findet seinen Höhepunkt in einer hitzigen Diskussion über die fünfte Novelle: Chi potrebbe pienamente raccontare i varii ragionamenti tralle donne stati, qual maggior liberalità usasse, o Giliberto o messer Ansaldo o il nigromante, intorno a’ fatti di Madonna Dianora? Troppo sarebbe lungo. 162 Hier geht die Auseinandersetzung nicht mehr um die Konkurrenz der bisher erzählten Novellen, sie kehrt vielmehr zur ursprünglichen questione-Frage zurück, zum Handeln der drei Protagonisten der soeben erzählten Novelle. Fiammetta, die Erzählerin der folgenden Novelle (6), reagiert darauf mit der Bemerkung, unklare Fälle seien nach ihrer Meinung „nelle scuole tra gli studianti“ zu erörtern, nicht aber von Frauenrunden, in denen vielmehr so erzählt werden müsse, dass nichts unklar und offen bleibe; deshalb nehme sie von einer Novelle Abstand, die möglicherweise eine „cosa dubbiosa“ enthalte, und werde eine andere erzählen: Splendide donne, io fui sempre in opinione che nelle brigate, come la nostra è, si dovesse sí largamente ragionare, che la troppa strettezza della intenzion delle cose dette non fosse altrui materia di disputare: il che modo piú si conviene nelle scuole tra gli studianti che tra noi, le quali appena alla rocca e al fuso bastiamo. E per ciò io, che in animo alcuna cosa dubbiosa forse avea, veggendovi per le già dette alla mischia, quella lascerò stare e una ne dirò, non mica d’uomo di poco affare ma d’un valoroso re, quello che egli cavallerescamente operasse in nulla movendo il suo onore. 163 161 Decameron, X, 2, 3. 162 Decameron, X, 6, 2. 163 Decameron, X, 6, 3f. Dasselbe Argument in der „Conclusione dell’ autore“, 21 („più distesamente parlar vi si conviene“). Die „sete di più steso stile“ eines Laienpublikums war nach Angaben des Autors des ersten Valerius Maximus-Volgarizzamento auch Anlass für die Glossierung der Facta et dicta memorabilia durch Dionigi di San Sepolcro sowie für seine eigene, darauf basierende Neubearbeitung. Für den ganzen Wortlaut siehe M. T. Casella, <?page no="152"?> 152 Damit ist der Wettstreit beendet und in den verbleibenden Novellen der zehnten Giornata, die sich weiteren „cose magnifiche“ zuwenden, wird nicht mehr als sonst im Decameron üblich aufeinander Bezug genommen 164 . Der Wettstreit in den ersten Novellen der zehnten Giornata ist im Decameron ein einmaliger Vorfall. Er dürfte dadurch zustande gekommen sein, dass die aus dem Filocolo übernommenen questione- Novellen zur Exempla-Thematik (X, 4 und 5) in Boccaccios Augen auch in dem neuen Zusammenhang der Exemplasammlung nach einer abwägenden Stellungnahme verlangten. So ist in der vierten Novelle die unterdrückte „questione“ in die Geschichte selbst hineingenommen, indem messer Gentile seinen Gästen den eigenen Fall unter dem Deckmantel eines ähnlichen Falles vorlegt 165 . Und nach der fünften Novelle greifen die Zuhörerinnen, entgegen der Vorgabe der Erzählerin, auf die alte Verfahrensweise zurück 166 . Ja, Boccaccio hat offenbar versucht, das vergleichende Abwägen der „questioni d’amore“ in die Praxis des einfachen Reihumerzählens zu überführen, indem er die Vergleichsobjekte von den Protagonisten der Einzelerzählung zu den Protagonisten der anderen Erzählungen verschoben hat, wobei das tertium com- „Nuovo argumenti per l’attribuzione del volgarizzamento di Valerio Massimo al Boccaccio“, Studi sul Boccaccio Bd.10/ 1977/ 1978, S. 109-121, hier: S. 111. 164 In den anderen Giornate dienen Bezugnahmen auf vorangegangene Novellen als punktuelle Anknüpfungen, nicht zum Aufbau dilemmatischer Positionen. 165 „Egli è alcuna persona la quale ha in casa un suo buono e fedelissimo servidore, il quale inferma gravemente; questo cotale, senza attendere il fine del servo infermo, il fa portare nel mezzo della strada né piú ha cura di lui; viene uno strano e mosso a compassione dello ’nfermo e’ sel reca a casa e con gran sollicitudine e con ispesa il torna nella prima sanità. Vorrei io ora sapere se, tenendolsi e usando i suoi servigi, il suo signore si può a buona equità dolere o ramaricare del secondo, se egli raddomandandolo rendere nol volesse.“ (Decameron, X, 4, 26f.) 166 Die Nähe zu den „questioni d’amore“ ist in beiden Fällen auch terminologisch unterstrichen: so fällt beidemale der Ausdruck „dubbio“ bzw. „dubbioso“ (X, 4, 25: „vi priego mi diciate quello che sentite d’un dubbio il quale io vi moverò.“ sowie X, 6, 4: „alcuna cosa dubbiosa“, bezogen auf die nun gerade nicht erzählte Novelle) und es ist von den „varii ragionamenti“ der Zuhörer die Rede (X, 4, 28 bzw. X, 6, 2), die im ersten Fall auch zu einem gemeinsamen Urteil führen („tutti in una sentenzia concorrendo“). <?page no="153"?> 153 parationis der „magnificenzia“ bzw. „liberalità“ jeweils konstant blieb. Doch ein solches Verfahren ließ sich nicht über eine größere Anzahl von Erzählungen durchhalten. So hat er es nach der fünften Novelle wieder aufgegeben, nicht ohne noch einmal an das alte Spiel zu erinnern, das in der Brigata nun allerdings ungeordnet abläuft und in einer „mischia“, einem Durcheinander endet, das die grundsätzliche Distanzierung von der Erzählweise der „cas[i] dubbios[i]“ provoziert. Fiammettas Erklärung, solche Fälle gehörten nicht vor ein Frauenpublikum, ist jedoch insofern unzutreffend, als es sich in X, 4 und 5 um Fragestellungen handelt, die typischerweise in - gemischten - höfischen Runden vorgetragen und vorrangig von Frauen gelöst wurden, freilich nach festen Regeln, wie im Filocolo zu sehen war 167 . Sie muss deshalb noch einen anderen Sinn haben. Caroline Emmelius hat ihn in der Absage an das kasuistische gesellige Kommunikationsmodell des Filocolo gesehen, dem im Decameron das konsensorientierte gesellige Novellenerzählen gegenübergestellt werde 168 . Das wird auch durch die Äußerung des Königs unterstrichen, der offensichtlich dem „novellare“ den Vorzug vor dem „quistionare“ gibt: Ma poi che il re alquanto disputare ebbe conceduto, alla Fiammetta guardando, comandò che novellando traesse lor di quistione [...]. 169 Immerhin war es Boccaccio gelungen, durch das abwägende Vergleichen in den Kommentaren einen Zusammenhang zwischen den ersten fünf Novellen der Giornata herzustellen. Parallel dazu begann sich eine Gesprächssituation abzuzeichnen, die der des Filocolo ähnlich, jedoch viel freier war 170 . Allerdings waren mit dieser Ge- 167 Vielleicht dachte Boccaccio in dieser Phase der Decameron-Genese noch an eine andere, einheitliche Erzählerrunde. Nach X, 6, 3 scheinen ja nur Frauen zu streiten und im ganzen Decameron richtet sich die Zuhöreranrede bekanntlich nur an Frauen (genau wie im „Proemio“ und in der „Conclusione“ des Autors). Padoan hält in Analogie zur Comedia delle ninfe fiorentine einen ersten Plan des Decameron mit sieben Giornate und sieben Erzählerinnen für möglich („Sulla genesi e la pubblicazione del Decameron“, S. 105). 168 Siehe Gesellige Ordnung, S. 297ff. („casi d’amore und die Vermeidung ihrer Verhandlung: Zum minnekasuistischen Palimpsest des Decameron“), bes. S. 317f. 169 X, 6, 2. 170 Emmelius sieht im Decameron eine zunehmende „kompetitive Einstellung“ der Erzähler am Werk (S. 322), worin die Gefährdung der sozialen Balance <?page no="154"?> 154 sprächssituation noch keinerlei Hinweise auf Anlass und Umstände des Erzählens gegeben, wie sie zu einer vollständigen Rahmenerzählung gehören. Die beiden Filocolo-Novellen scheinen nun nicht nur eine wichtige Rolle bei der Entstehung des Rahmens und damit bei der Abkehr von der Vorlage des Valerius Maximus gehabt zu haben, sondern auch eine Scharnierfunktion für die Weiterentwicklung des Konzeptes der ganzen Sammlung. Die Erzählerin Lauretta führt ihre Novelle (X, 4) nämlich wie folgt ein: Giovani donne, magnifice cose e belle sono state le raccontate, né mi pare che alcuna cosa restata sia a noi che abbiamo a dire, per la qual novellando vagar possiamo, sí son tutte dall’altezza delle magnificenzie raccontate occupate, se noi ne’ fatti d’amore già non mettessimo mano, li quali a ogni materia prestano abondantissima copia di ragionare. E per ciò, sí per questo e sí per quello a che la nostra età ci dee principalmente inducere, una magnificenzia da uno inamorato fatta mi piace di raccontarvi, la quale, ogni cosa considerata, non vi parrà per avventura minore che alcuna delle mostrate, se quello è vero che i tesori si donino, le inimicizie si dimentichino e pongasi la propia vita, l’onore e la fama, ch’è molto piú, in mille pericoli per potere la cosa amata possedere. 171 Die in den ersten drei Novellen vorgeführten Beipiele für „magnanimità“ vom König bis zum Adligen 172 können nach Ansicht Laurettas nur noch durch Großherzigkeit in „fatti d’amore“ übertroffen werden, die auch der Jugend der Erzählerrunde besser zu Gesicht stünden und deren Folgen es allemal mit den Folgen der Tugenden großer Herren aufnehmen könnten. Diese von der Erzählerin Lauin der Geselligkeit zum Ausdruck komme. Dieses „im Vollzug des novellare nach und nach entwickelte Prinzip einer erzählerischen Agonistik“ zeige sich im zehnten Tag in verdichteter Form (S. 324). Die Kommentare zu den Novellen 4 und 5 sind für sie ein Rückfall aus dem konsensualen geselligen Kommunikationsmodell des Decameron in das kasuistische Modell des Filocolo, „ein - offenbar unbeabsichtigtes - Versehen des Erzählers“ (S. 327). Bei dieser gewagten Feststellung bleiben allerdings nicht nur Padoans Überlegungen zur Entstehung des Decameron außer acht, es wird auch unausgesprochen die definitive Anordnung der Giornate mit der Reihenfolge ihrer Entstehung gleichgesetzt. Dem ist schwerlich zu folgen. 171 X, 4, 3f. 172 Die „magnificenzia“ ist in der zehnten Giornata primär eine Tugend der Könige und hohen Würdenträger, während die „liberalità“, die im Sinne von Freigebigkeit ebenfalls eine Herrschertugend ist, hier die Großtaten von Angehörigen anderer Stände bezeichnet. In den Novellen 4 und 5 werden beide Begriffe nebeneinander benutzt. <?page no="155"?> 155 retta vorgeschlagene Ausweitung des Tugend-Themas ermöglicht die nachfolgende Übernahme der beiden questione-Novellen aus dem Filocolo. Wir haben es an dieser Stelle also offenbar mit einer engen Wechselwirkung von Themenwahl und Rahmenentstehung zu tun: Das Thema der Novellen 1-3 führt zum Liebesthema der questione-Novellen, deren Rahmen wiederum den Rahmentyp der drei voraufgehenden Novellen generiert. Nicht minder wichtig ist, dass die Stellungnahme der Lauretta sich wie ein Hinweis auf die Überzeugung des Autors liest, dass die „fatti d’amore“ die naheliegende Erweiterung der Exempla-Thematik waren. Selbstverständlich ging es Boccaccio dabei zunächst um die höfische Form der Liebe, die sein bisheriges Schaffen geprägt hatte 173 , also um die Macht Amors, die Unterwerfung unter seine Gesetze, die Gleichheit aller vor ihm und seine veredelnde Kraft. Dieses Programm führen im Decameron die vierte und fünfte Giornata in mannigfacher Abwandlung vor, erstere mit der unglücklich endenden Variante des Themas („di coloro li cui amori ebbero infelice fine“), letztere mit der mit glücklichem Ausgang („di ciò che a alcuno amante, dopo alcuni fieri o sventurati accidenti, felicemente avvenisse“). Zwei Novellen zu dieser Thematik haben nachweislich Parallelen in der höfischen Literatur: die in V, 8 erzählte „caccia infernale“ unter anderem im fünften Dialog des Andreas Capellanus und die Herzmäre von IV, 9 in der Vida des Trobadors Guillem de Cabestaing 174 . Im zweiten Fall bekennt Boccaccio sich sogar ausdrücklich zu seinen provenzalischen Quellen („secondo che raccontano i provenzali“, 4). Auch in anderen Novellen der Giornate IV und V begegnet man Vorstellungen des höfischen Liebeskonzeptes, bald in originärer Form (V, 9), bald in abgewandelter, teils stilnovistischer Ausprägung (V, 1; IV, 1; ironisiert auch in IV, 2). In der vierten Giornata wird das höfische Liebesthema geradezu systematisch durch das soziale Paradigma, vom hochadligen Niveau bis zu dem der Florentiner Wollweber, durchgespielt. Dass im Übrigen der zeitliche (und gedankliche) Abstand der beiden Giornate zu den Exempla-Novellen nicht groß war, zeigen die Novellen IV, 1-3, die den unglücklichen Ausgang der Liebesgeschichte mit einem klassi- 173 Zur Vielfalt sowie zur Kontinuität von Boccaccios Schaffen siehe Padoan, „Sulla genesi e la pubblicazione del Decameron“, S. 103f. 174 Siehe Brancas Anmerkungen zur Stelle, Decameron, S. 670f. bzw. 563f. <?page no="156"?> 156 schen Fehlverhalten („vizio“) eines der Beteiligten erklären 175 . Andererseits muss es überhaupt einen solchen Abstand gegeben haben, weil sonst die Filocolo-Novellen in einer dem Liebesthema gewidmeten Giornata, etwa der fünften, ihren Platz hätten finden können. Offensichtlich war in der Anfangsphase des Decameron der Plan noch nicht sehr klar und die einzelnen Entwicklungsschritte folgten daher schnell aufeinander. Mit der Entscheidung für das höfische Liebesthema nahm auch die Vorstellung der Erzählsituation konkretere Züge an. Mündliches Erzählen war im 12. und 13. Jahrhundert ein Bestandteil des höfischen Diskurssystems. Es war prosaische Verbrauchsrede, deren Regeln uns in Werken der mondänen Didaktik von Andreas Capellanus’ De amore über altfranzösische Verhaltenslehren bis hin zu provenzalischen „ensenhamens“ erhalten sind 176 . Der Mann erzählt hier in seiner Rolle als werbender höfischer Liebender eine oder mehrere Geschichten zum Thema Liebe, die Antwort der Frau beschränkt sich in der Regel auf knappe Erwiderungen 177 . Man trifft aber auch schon auf den wechselseitigen Austausch von Erzählungen mit breiter gestreuter Thematik 178 . Über die Rezeption des höfischen Erzählens in den italienischen Städten gibt uns das Werk des toskanischen Adligen Francesco da Barberino theoretisch und praktisch Auskunft. So heißt es in dem an seine männlichen Landsleute gerichteten Erziehungs- und Bildungstraktat Documenti d’amore zum Gespräch mit Frauen: Con donne, [tracta] di netteça e d’onestà, con belle novellette che non sien spesso dette: loda e mantien lor honor e lor stato. In der lateinischen Übersetzung: 175 In IV, 1 mit der „crudeltà“ des Fürsten Tancredi; in IV, 3 mit dem „vizio“ der „ira“, von dem diese Novelle abschrecken soll; und in IV, 2 werden gleich mehrere „vizi“ demonstriert: die „vanagloria“ der Protagonistin, die „ipocrisia“ des Frate Alberto und der Geistlichen sowie die „lealtà viniziana“. 176 Hierzu siehe oben, S. 34ff. 177 Siehe oben, S. 36f. 178 So im anglo-normannischen Donnei des amants eines unbekannten Verfassers aus dem ausgehenden 12. Jahrhundert; siehe oben, S. 38f. <?page no="157"?> 157 Inter dominas, munda et honestatis eloquia cum delectabilibus, nec dictis sepius recita novellettis: lauda insuper et manuteneas earundem statum pariter et honorem. 179 Barberino empfiehlt hier, mit Frauen ein zwanglos-geselliges Gespräch über Dinge der Gesittung und der Ehrbarkeit zu führen und dabei „belle novellette“ einzustreuen. Dass er auf eine bestimmte Textform zurückgreift bzw. zurückgreifen kann, zeigt, dass das mündliche Erzählen zu seiner Zeit bereits eine feste sprachliche Institution war, die er selbst sich im Reggimento e costumi di donna zunutze gemacht hat 180 . In der Tat trifft man im ausgehenden Duecento und in der ersten Hälfte des Trecento auf eine lebendige mündliche Erzähltradition, die aus Sammlungen von Exempla und anderen kurzen Texte schöpfen konnte, die damals in großer Anzahl entstanden 181 . In dieser Tradition steht auch die im Decameron vorgeführte Erzählpraxis, wo jedes Mitglied der Brigata über ein ‚Repertoire‘ von Novellen verfügt 182 . Im Proöm des Novellino wird die mündliche Weitergabe von Erzählungen geradezu zum Programm erhoben: [...] facciamo qui memoria d’alquanti fiori di parlare, di belle cortesie e di belli risposi e di belle valentie, di belli donari e di belli amori, secondo che per lo tempo passato hanno fatto già molti. E, chi avrà cuore nobile et intelligenzia sottile, sì li potrà simigliare per lo tempo che verrà per innanzi et argomentare e dire e raccontare (in quelli parti dove avranno luogo), a prode et a piacere di coloro che non sanno e disiderano di sapere. 183 Auch in Barberinos Empfehlung mag der Zusatz „novellette / che non sien spesso dette“, sofern er nicht lediglich aus dem Wort abge- 179 Documenti d’amore, I, 6, V. 329ff. (Bd. 1, S. 27). Siehe auch oben, S. 29ff. und 45ff. 180 Dort begibt er sich in die Rolle eines Erzählers für Frauen und versucht, vom zeitgemäßen Begriff der Novelle zu profitieren. Siehe oben, S. 97ff. 181 Siehe hierzu J. Ahern, „Dioneo’s Repertory: Performance and Writing in Boccaccio’s Decameron“, in: E. B. Vitz/ N. Freeman Regalado/ M. Lawrence (Hrsg.), Performing Medieval Narrative, Cambridge 2005, S. 41-58. 182 Ahern, S. 47f. Gleiches gilt übrigens für musikalische Darbietungen in instrumentaler oder vokaler Form (ebd.). Siehe auch L. Marino, The Decameron ‚Cornice‘: Allusion, Allegory and Iconology (L’Interprete), Ravenna 1979, S. 29. 183 Il Novellino, hrsg. von G. Favati (Studi e testi romanzi e mediolatini. 1), Genova 1970, S. 118f. <?page no="158"?> 158 leitet ist, auf die mehrfache mündliche Weitergabe von Erzählungen verweisen. Erzählen vor Frauen in geselliger Runde, galante Unterwürfigkeit der männlichen Erzähler und immer häufiger eine Beteiligung der Frauen am Erzählen - das war das Modell, das Boccaccio in der Literatur und zunehmend auch in der kulturellen Praxis vorfand, als er für seine um die Liebesthematik erweiterte vulgärsprachliche Exempla-Sammlung eine passende Erzählsituation suchte. Die Erzählungen waren sowohl Liebeswie andere Geschichten unterschiedlicher Herkunft, bald mit lockerer, bald mit strenger narrativer Struktur. Bisweilen hießen sie Novellen, sie konnten aber auch anders benannt sein, wie er selbst es noch im Decameron vorführt: „novelle, o favole o parabole o istorie“ („Proemio“, 13) 184 . Die Erzählintentionen konnten exemplarisch-überredend, belehrend, einstimmend oder auch rein unterhaltend sein. Anlass und äußere Situation der Beteiligten waren in den literarischen Varianten stets höfisch stilisiert, d.h. der Aufenthaltsort war ein locus amoenus, vorzugsweise ein Garten 185 , und es ging um gesellige Unterhaltung, wozu neben dem Erzählen Vergnügungen wie Gesang und Tanz, Spaziergänge oder das Baden in klarem Quell gehörten. Ein solches Ambiente hatte Boccaccio schon einmal im Filocolo geschildert, wo sich eine gleiche Anzahl von edlen Männern und Frauen mit dem questioni-Spiel vergnügte. In der Comedia delle ninfe fiorentine mit ihrer bukolisch-mythologischen Szenerie hatte er in einer ähnlichen 184 Das Novellenerzählen hat seinen Ursprung also nicht ausschließlich im questioni d’amore-Spiel und auch die Novellenstruktur dürfte kaum vorrangig auf den Kasus zurückgehen, wie Jolles angenommen hat (Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft. 15), 6 Tübingen 1982 [ 1 Halle a. d. Saale 1930], S. 182f.) und Emmelius weiter ausführt (Gesellige Ordnung, S. 297ff.). Siehe auch die Kritik an der These von Jolles bei Paolo Cherchi, „From controversia to novella“, in: M. Picone / G. Di Stefano / P. D. Stewart (Hrsg.), La Nouvelle: formation, codification et rayonnement d’un genre médiéval. Actes du colloque international de Montréal 1982 (Biblioteca romanica), Montreal 1983, S. 89-99. 185 Siehe den Nachweis dafür, dass die Gärten des Decameron in der Tradition des mittelalterlichen Liebesgartens stehen, bei Edith G. Kern „The Gardens in the Decameron Cornice“, Publications of the Modern Language Association of America Bd. 46/ 1951, S. 505-523 (wieder in: Brockmeier [Hrsg.], Boccaccios Decameron, S. 244-270). <?page no="159"?> 159 Situation sieben Nymphen erzählen lassen, die den durch die Wälder streifenden Naturburschen Ameto mit ihren Liebesgeschichten zähmten. Dem höfischen Original zufolge brauchte es aber vor allem galante männliche Erzähler. Daher stellte er nun den sieben jungen Frauen in Santa Maria Novella, die im Begriff sind, die Stadt zu verlassen, drei junge Männer zur Seite, die auch in Pestzeiten nicht von ihrer Liebe lassen und deren Damen sich unter den sieben befinden: Ne’ quali né perversità di tempo né perdita d’amici o di parenti né paura di se medesimi avea potuto amor non che spegnere ma raffreddare. De’ quali l’uno era chiamato Panfilo e Filostrato il secondo e l’ultimo Dioneo, assai piacevole e costumato ciascuno: e andavan cercando per loro somma consolazione, in tanta turbazione di cose, di vedere le lor donne, le quali per ventura tutte e tre erano tralle predette sette, come che dell’altre alcune fossero congiunte parenti d’alcuni di loro. 186 Die numerische Aufteilung 7: 3 hat einerseits mit Zahlensymbolik zu tun, andererseits mit der stilnovistischen Gewohnheit, die Dame im Kreise anderer Frauen auftreten zu lassen. Zudem trägt sie dazu bei, eine erotische Spannung in der Brigata herzustellen 187 . Erzählt wird reihum, also von allen Teilnehmern der Runde einschließlich der Frauen. Die drei Männer mit den sprechenden Namen Panfilo, Filostrato und Dioneo haben aber eine deutlich hervorgehobene Rolle: nicht nur sind ihre Charaktere klarer konturiert als die der Frauen, sie sorgen auch für die großen Themensetzungen bzw. wenden. So ist der älteste Teil der Sammlung, der zehnte Tag mit dem Thema der großmütigen Taten „intorno a’ fatti d’amore o d’altra cosa“, dem glücklichen und höfisch gewandten Liebenden Panfilo zugeordnet. Filostrato, der glücklose höfische Liebende 188 und Nachfolger des unglücklichen Caleon aus dem Filocolo, gibt am vierten Tag das höfische Liebesthema vor und zwar in der tragi- 186 Decameron, I, „Introduzione“, 78f. 187 Siehe L. P. Rømhild, „Osservazioni sul concetto e sul significato della cornice nel Decameron“, Analecta romana instituti Danici Bd. 7/ 1974, S. 169ff. 188 „Amorose donne, per la mia disaventura, poscia che io ben da mal conobbi, sempre per la bellezza d’alcuna di voi stato sono a Amor subgetto, né l’essere umile né l’essere ubidente e il seguirlo in ciò che per me s’è conosciuto alla seconda in tutti i suoi costumi m’è valuto, che io prima per altro abandonato e poi non sia sempre di male in peggio andato; e cosí credo che io andrò di qui alla morte.“ (III, „Conclusione“, 5) <?page no="160"?> 160 schen Variante: „quello che a’ miei fatti è più conforme“ 189 . In seiner glücklichen Variante wird es dann für den folgenden fünften Tag von einer Frau (Fiammetta) vorgeschlagen. Auch der nächste Erweiterungsschritt geht von einem männlichen Erzähler aus. Dioneo, wie die beiden Anderen ein „[giovane] assai piacevole e costumato“, dazu aber „sollazzevole uomo e festevole“ 190 , ist seinen Gefährten in Charakter und Ansichten diametral entgegengesetzt, wovon auch das Privileg zeugt, das er sich ausbedungen hat, vom festgesetzten Tagesthema abweichen zu können. In Liebesangelegenheiten hängt er einem antihöfischen Realismus an und tritt überhaupt in durchaus sophistischer Manier für ausgewogene Verhältnisse ein. Als er zum König des siebten Tages gewählt worden ist, schlägt er als Thema vor: „le beffe le quali o per amore o per salvamento di loro le donne hanno già fatti a’ lor mariti, senza essersene essi o avveduti o no“ 191 . Unter den mittelalterlichen Schwänken ist der erotische Schwank der häufigste Typ, der inhaltlich und ideell im Gegensatz, ja in einer ergänzenden und kompensatorischen Beziehung zu den höfischen Liebesgeschichten steht, in deren Umfeld er entstanden ist 192 . Eine thematische Erweiterung in dieser Richtung lag also grundsätzlich nahe. Freilich galten erotische Schwänke als unpassend für ein weibliches Publikum, wie sich auch bei Francesco da Barberino zeigt, der in ihnen einen Unterhaltungsgegenstand für junge Männer sieht: Li giovani veggendo dintorno a te, parlerai di sollaçi; [...] Coneris preterea si iuvenes coram te videris, solatiosa referre; [...] 193 189 III, „Conclusione“, 6. 190 I, „Introduzione“, 79; I, „Conclusione“, 14. Siehe auch Brancas Anmerkung zur ersten Stelle. 191 VI, „Conclusione“, 6. 192 Siehe hierzu die Ausführungen über den französischen Schwank bei Per Nykrog, Les Fabliaux (Publications romanes et françaises. 123), Genf 2 1973, bes. S. 228ff. Nach Nykrog ist das „fabliau“ ein „genre courtois burlesque“, dessen Publikum eine „orientation intellectuelle [...] double“ besaß (S. 237). Zur italienischen Novelle ebd., S. 259f. Boccaccio hat das „fabliau“ in Neapel kennengelernt (Padoan, „Mondo aristocratico e mondo comunale“, S. 8f.). 193 Documenti d’amore, I, 6, V. 337f., Bd. 1, S. 27. Auch für einen Weisen seien sie nicht anstössig, denn: „assai sollaçi son honesti e begli“ (ebd., V. 344). <?page no="161"?> 161 Erschwerend kommt in diesem Fall hinzu, dass die Geschichten, die Dioneo für den siebten Tag wünscht, den erotischen Betrug nur auf Seiten der Frauen sehen. Daher erheben einige Frauen der Brigata Einspruch, so dass Dioneo sein Thema rechtfertigen muss: Auch in diesen schweren Zeiten, in denen alle Gesetze außer Kraft gesetzt seien, solle die Ehrbarkeit allenfalls im Reden, nicht im Tun ausgeweitet werden („se alquanto s’allarga la vostra onestà nel favellare“), und das auch nur zur eigenen Aufheiterung und der Aufheiterung Anderer („non per dover con l’opere mai alcuna cosa sconcia seguire ma per dar diletto a voi e a altrui“ 194 ). Aufgabe sei es daher, eine „beffa“ schön zu erzählen („pensi ciascuna di dirla bella“ 195 ). Auch das Erzählen erotischer Schwänke wird also als Übung im „bel parlare“ begriffen, die unter bestimmten Umständen beiden Geschlechtern angemessen sein kann 196 . Eine weitere Rechtfertigung liefert Filostrato mit seiner Erklärung, Frauen müssten solche Geschichten nicht nur anhören, sondern auch überall selbst erzählen, damit die Männer erführen, dass auch sie hintergangen werden könnten und sich deswegen ihrerseits beim Betrügen der Frauen mehr Zurückhaltung auferlegten: Carissime donne mie, elle son tante le beffe che gli uomini vi fanno, e spezialmente i mariti, che, quando alcuna volta avviene che donna niuna alcuna al marito ne faccia, voi non dovreste solamente esser contente che ciò fosse avvenuto o di risaperlo o d’udirlo dire a alcuno, ma il dovreste voi medesime andar dicendo per tutto, acciò che per gli uomini si conosca che, se essi sanno, e le donne d’altra parte anche sanno: il che altro che utile esser non vi può, per ciò che, quando alcun sa che altri sappia, egli non si mette troppo leggiermente a volerlo ingannare. Chi dubita dunque che ciò che oggi intorno a questa materia diremo, essendo risaputo dagli uomini, Dioneo selbst nennt die zu erzählenden Novellen „ragionamenti sollazzevoli“ (VI, „Conclusione“, 12). 194 VI, „Conclusione“, 10. 195 Ebd., 15. 196 Dem entspricht nach dem Ausflug, den die Frauen allein in die „Valle delle donne“ gemacht haben, ein Mottowechsel zwischen Pampinea und Dioneo, in dem der von Frauen an Männern begangene Betrug und das Reden darüber gegeneinander ausgespielt werden: „E al palagio giunte a assai buona ora, ancora quivi trovarono i giovani giucando dove lasciati gli aveano; alli quali Pampinea ridendo disse: ‚Oggi vi pure abbiam noi ingannati.‘ ‚E come? ‘ disse Dioneo, ‚cominciate voi prima a far de’ fatti che a dir delle parole? ‘ (VI, „Conclusione“, 33f.) <?page no="162"?> 162 non fosse lor grandissima cagione di raffrenamento al beffarvi, cognoscendo che voi similmente, volendo, ne sapreste beffare? 197 Damit wird das Thema der betrügerischen Ehefrauen auf kasuistische Weise als frauenfreundlich ausgegeben und die Schwankthematik gewissermaßen in einer ‚höfischen‘ Variante eingeführt. Diese Umdeutung ist dem durch seine unglückliche Liebe als besonders höfisch ausgewiesenen Erzähler Filostrato in den Mund gelegt. Nimmt man die Kommentare und Reaktionen der Erzählerinnen zu den einzelnen Novellen hinzu, wird die Aufnahme der Schwankthematik der Giornate VII und VIII in das Repertoire einer gemischten und überwiegend weiblichen Erzählerrunde also mehrfach gerechtfertigt. Aber noch in der „Conclusione dell’autore“ bildet die Verteidigung dieser Neuerung den Kern von Boccaccios Argumentation, wenn er Vorwürfe des weiblichen Publikums wegen der Freizügigkeit einzelner Novellen zurückweist 198 . Die männlichen Erzähler sorgen also für die wesentlichen Themensetzungen, so wie es ihrer Rolle als höfische Erzähler entspricht. In zwei Fällen sind dies die Themen, die höfischen Ursprungs oder doch vor höfischem Hintergrund zu sehen sind und die über das Spektrum der Facta et dicta memorabilia hinausgehen. Die Themenvorschläge der Frauen folgen den Vorgaben oder sind frei. Nur ein wichtiges Thema wird von einer Frau (Elissa) gesetzt, die „motti“. Sie werden ausdrücklich als ‚weibliches‘ Thema eingeführt: […] come ne’ lucidi sereni sono le stelle ornamento del cielo e nella primavera i fiori de’ verdi prati e de’ colli i rivestiti albuscelli, cosí de’ laudevoli costumi e de’ ragionamenti belli sono i leggiadri motti; li quali, per ciò che brievi sono, tanto stanno meglio alle donne che agli uomini quanto più alle donne che agli uomini il molto parlar si disdice. 199 Dem widersprechen allerdings die Fakten. Tatsächlich kommen am sechsten Tag nämlich auf drei Motti von Frauen sieben von Männern, und kaum anders ist das Verhältnis am ersten Tag (zwei zu 197 VII, 2, 3ff. 198 Drei von vier Vorwürfen der „Conclusione dell’autore“ sind Frauen in den Mund gelegt: „troppo licenzia“ (3), „alcune [...] non essendoci, sarebbe stato assai meglio“ (16), „piene di motti e di ciance“ (22). 199 VI, 1, 2. <?page no="163"?> 163 vier) 200 . Die Motti des sechsten Tages gehören nach Padoan zur jüngsten Schicht des Werkes, derjenigen der „ambientazione fiorentina“. Motti sind aber auch von der höfischen Sprachkultur des „bel parlare“ 201 geprägt, wie an den Novellen I, 5 und 9 zu sehen ist. Sie können zudem als modernes Pendant der Valerianischen „dicta“ angesehen werden 202 , runden also das Konzept auch im ursprünglichen Sinne ab. Die verbleibenden Giornate und ihre Themen, die sämtlich von Frauen vorgeschlagen werden, füllen dieses Themengerüst mit Hilfe von Verallgemeinerung, Ausweitung oder Spezialisierung auf. So erweitern die „beffe che tutto il giorno o donna a uomo o uomo a donna o l’uno uomo all’altro si fanno“ der achten Giornata das Schwankthema und nehmen zusätzlich die lokalen Malerschwänke um Buffalmaco und Calandrino auf, die auch auf die neunte Giornata übergreifen. Ähnlich verallgemeinern die Novellen des fünften Tages das höfische Liebesthema des vierten Tages. Beide zentralen Tagesgruppen korrespondieren einander. Die zweite Giornata mit der Fortuna-Thematik und die dritte, die wiederum dieses Thema variiert, sind ein Produkt der Auseinandersetzung mit Valerius Maximus und gehören in die frühe Entstehungsphase 203 . Die neunte mit freiem Thema dient der Erreichung der Zehnerzahl und schafft eine Atempause vor den Taten der „magnificenzia“ und „libera- 200 Darum klagt die Erzählerin, die Frauen hätten zu ihrer Schande diese Fähigkeit weitgehend verlernt. Dieselbe Argumentation in denselben Worten bei Pampinea zu Beginn von I, 10. 201 Der Ausdruck „bel parlare“ begegnet im Novellino: „un bel parlare, ovvero una cosa, da mettere in conto fra i buoni“; zur Herkunft des Phänomens heißt es zuvor: „Et acciò che li nobili e ’gentili sono nel parlare e nell’opere molte volte quasi com’uno specchio appo i minori - acciò che il loro parlare è più gradito però che esce di più dilicato stormento - facciamo qui memoria d’alquanti fiori di parlare […].“ (Il Novellino, S. 118f.) 202 Bei Valerius Maximus sind „facta et dicta“ freilich gemischt wie in der frühen ersten Decameron-Giornata; insofern ist die sechste Giornata eine Ausnahme. 203 Auch für Padoan gehört die zweite Giornata in die Gruppe der frühen Novellen. In der dritten Giornata ist die siebte Novelle noch eine Variati von X, 4, während die Giornata im Ganzen bereits zur Gruppe der ‚flo tinischen‘ Novellen überleitet („Sulla genesi e la pubblicazione del De ron“, S. 108ff.). <?page no="164"?> 164 lità“ 204 als großem Schlussthema. Die Themen der Giornate und ihre definitive Abfolge stellen insgesamt ein kunstvolles Arrangement dar, das vor dem Hintergrund der Facta et dicta memorabilia neue eigene Akzente setzt. So etwa dürfte in großen Linien die Entwicklung und thematische Diversifikation der Novellen des Decameron in Wechselwirkung mit dem Konzept der höfisch-geselligen Rahmensituation verlaufen sein. Die Rahmensituation selbst wurde darüber mit geeigneten Motiven (Liebesgärten, Wanderung, Tanz- und Gesangseinlagen, einem burlesken Liebesstreit zwischen einem Dienerpaar) weiter ausgebaut. Auch die Einteilung in „giornate“, also Tageseinheiten, ergab sich bei einer größeren Anzahl von Erzählungen und einem längeren Aufenthalt ganz natürlich aus der höfisch-geselligen Situation. Man muss dafür nicht einmal auf damalige (höfische) Festgepflogenheiten verweisen. Die Übernahme und Anpassung der epischen Motivfolge Wie konnte nun eine über die Einzel- und Tagesrahmen hinausgehende Rahmenhandlung aussehen, die das Werk zu einer Einheit zusammenschloss? Wie ließ sich die gesellige Runde von ‚liebenden‘ und nicht liebenden Erzählern und Zuhörern zusammenführen und aus welchem Anlass und in welcher Absicht sollte erzählt werden? Im Filocolo hatte Boccaccio sich auf epischem Boden bewegt und seinen liebenden Helden nach dem Schiffbruch auf eine höfischgesellige Runde treffen lassen, über deren Vergnügungen er seine Melancholie eine Zeitlang vergessen konnte. Dies ließ sich schon wegen des anderen Verhältnisses von Rahmen und Erzählungen im Decameron nicht wiederholen. Auch hätten sich die realistisch-konkreten Novellen nicht für eine höfische Festgesellschaft wie die des Filocolo geschickt. Noch weniger passten eine bukolisch-mythologische Szenerie und ihre christlich-allegorische Auflösung, wie sie in der Comedia delle ninfe fiorentine gegeben waren, zu dem neuen Erzählwerk, das nach einer Erzählsituation mitsamt Begründung 204 Die thematische Festlegung der einzelnen Giornate verhindert nicht, dass einzelne Themen (Schwänke, Liebesgeschichten) verstreut auch in anderen Giornate auftreten. Erst zu einem relativ späten Zeitpunkt dürfte zudem die feste Institution der letzten freien Novelle in Schwankform eingefügt worden sein, die von der zweiten Giornata an Dioneo vorbehalten ist. <?page no="165"?> 165 verlangte, die für sich sprach und möglichst gegenwartsnah angesiedelt war. In dieser poetischen Notlage kam Boccaccio die Realität zu Hilfe in Gestalt der Pestkatastrophe, die mit ihren Schrecken über Florenz hereinbrach und die Stadt in den Ausnahmezustand versetzte. Zu Tausenden raffte sie die Einwohner dahin, untergrub jede Autorität und zerrüttete die öffentliche Ordnung. Die Sitten verfielen, Hemmungslosigkeit und Ausschweifung griffen um sich, ein jeder dachte nur noch an die eigene Rettung. Die einen versuchten, dem Unheil durch eine zurückgezogene und maßvolle Lebensweise zu entgehen, die anderen durch das genaue Gegenteil, indem sie sich jederzeit und überall jeder Lustanwandlung hingaben. Wieder andere glaubten, sich durch Kräuter und Wohlgerüche vor der Ansteckung schützen zu können. Viele ließen Haus und Hof mitsamt Kranken und Sterbenden im Stich und flohen auf ihre Güter auf dem Land, um dem Elend in der Stadt zu entgehen und ihre Abwehrkräfte durch allerlei Vergnügungen zu stärken, wie sie von den zeitgenössischen hygienischen Ratgeber empfohlen wurden. Von all diesen Greueln gibt die Pestschilderung im Decameron ein anschauliches Bild. In diesem realen Geschehen fand Boccaccio die Situation, die er für den Rahmen seiner Novellensammlung verwenden konnte: Die Pest gab eine plausible und hinreichende Begründung für eine gesellige Erzählerrunde ab, in deren Kontext er das Erzählen so darstellen konnte und musste, wie es ihm vorschwebte: als einen erquicklichen, höfisch-gesitteten und kunstvollen Zeitvertreib. Auch das notwendige literarische Muster war zur Hand mit der questioni- Episode des Filocolo, deren Katastrophenkontext sich der neuen Situation ohne größere Schwierigkeiten anpassen ließ: Die Pest als Naturkatastrophe konnte den Seesturm der epischen Motivfolge ersetzen und sogar wie dieser einer überirdischen Einwirkung zugeschrieben werden 205 . Allerdings mussten die Akteure der Erzählung ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, wie es zur Zeit der Pest ja zahlreiche Einwohner von Florenz getan hatten. Bewirkt wurde dies durch die rhetorisch glanzvolle Rede der Pampinea, die an die Stelle der Schicksalsklage des epischen Helden trat. In der Rede rief Pampinea die Gefährtinnen auf, die verseuchte Stadt zu verlassen und sich in 205 I, „Introduzione“, 8. <?page no="166"?> 166 einer freundlicheren Umgebung heiterer Geselligkeit hinzugeben, ohne dabei wie so viele andere gegen Moral und gute Sitte zu verstoßen - eine Erklärung, die Erzähler und Autor gegen mögliche Kritik absicherte 206 . Im Zusammentreffen der „giovani“ mit ihren „donne“ in Santa Maria Novella klang noch einmal das Vergilische Motiv der Tempelbegegnung an. Die weiteren Orte des geselligen Zusammenseins der Brigata lagen außerhalb der Stadt 207 und waren Gärten oder andere loci amoeni wie schon im Filocolo. Wichtigste Gemeinsamkeit aber war die Geselligkeit, in die das Erzählen eingebettet war. In der epischen Motivfolge war der aristokratisch-gesellige Charakter des Erzählens von Anfang an ein fester Bestandteil, da die Geselligkeit mit ihrer psychisch wie sozial wohltuenden Wirkung die Unbill kompensierte, die dem Helden durch die Katastrophe widerfahren war. Das war der Wirkung vergleichbar, die das Erzählen in geselliger Runde in Pestzeiten haben sollte. Im Decameron musste freilich die gestörte Geselligkeit zunächst von den Betroffenen selbst wiederhergestellt werden 208 . Dies geschieht in mehreren Schritten vom Treffen der Brigata in Santa Maria Novella bis zur Etablierung einer geselligen Ordnung am ersten Aufenthaltsort 209 . Leitender Gedanke bei diesem Tun ist die Bekämpfung der Melancholie. Mit ihr nimmt Boccaccio das Motiv wieder auf, das schon im vierten Buch des Filocolo zur Teilnahme des Helden an der geselligen Runde und ihrem questioni-Spiel geführt hatte. Auch im Decameron führt der Weg zum geselligen Erzählen über die Vermeidung der Melancholie. Zwar ist die Melancholie nun nicht mehr wie im Filocolo durch Liebe und Katastrophe gemeinsam verursacht, 206 Ebd., 53-72. 207 Jedoch in ihrer Nähe, was der historischen Realität entsprach und nach Surdich gegen einen Evasionscharakter der Rahmenhandlung spricht (La cornice di amore, S. 252f.). Zu den Gärten siehe auch Kern „The Gardens in the Decameron Cornice“. 208 Dabei geht es nicht um eine wie immer geartete gesellschaftliche Erneuerung, sondern um einen „riparo al processo di destrutturazione in atto“ (Surdich, La cornice di amore, S. 243). Nach Klaus Grubmüller lässt Boccaccio die Brigata das Florenz vor der ‚Unglücksdekade‘ von 1338-1348 beschwören („Boccaccios Florenz“, in: W. Frick [Hrsg.], Orte der Literatur, Göttingen 2002, S. 68-82, hier: S.81f.). 209 Ausführlich analysiert diesen Prozess Emmelius, Gesellige Ordnung, S. 230ff. <?page no="167"?> 167 weil das Liebesmotiv 210 in den Hintergrund tritt und die Pestkatastrophe alleinige Ursache ist. Sie ist darum aber nicht weniger gegenwärtig und bedrohlich, vielmehr bestimmt sie leitmotivisch mehr oder weniger offen das Handeln der Brigata: vom Hinweis Pampineas auf den deprimierenden Anblick der Verwüstungen in der Stadt 211 über das Versprechen, dass man auf dem Lande „festa“, „allegrezza“ und „piacere“ finden werde 212 , über Dioneos Drohung daselbst „o voi a sollazzare e a ridere con meco insieme vi disponete […] o voi mi licenziate“ 213 und Pampineas Antwort: „Dioneo, ottimamente parli: festevolmente viver si vuole, né altra cagione dalle tristizie ci ha fatto fuggire.“ 214 bis in das Schlusswort Panfilos: „per dovere alcun diporto pigliare, a sostentamento della nostra santà e della vita, cessando le malinconie e’ dolori e l’angosce, le quali per la nostra città continuamente […] si veggono“ 215 . Nach den medizinischen Überzeugungen der Zeit diente die Bekämpfung der Melancholie überdies der Pestprophylaxe. So findet man in der Pestliteratur, etwa in dem zeitgenössischen Traktat Consiglio contro a pistolenza des Tommaso del Garbo, dieselben hygienischen Ratschläge wie sie schon bei der Bekämpfung von Filocolos Melancholie angeführt worden sind. Man solle, heißt es da, „con ordine prendere allegrezza“, also trübsinnige Gedanken meiden und statt dessen an „cose dilettevoli e piacevoli“ denken, Umgang mit „persone liete e gioconde“ pflegen, sich in Maßen in freier Luft, etwa in Gärten aufhalten „ove sieno erbe odorifere, e come sono vite e salci, quando le vite fioriscono“, ferner „bevitori e [...] feminacciole“ meiden sowie „usare canzoni e giullerie e altre novelle piacevoli sanza fatica di corpo, e tutte cose dilettevoli che confortino altrui“ 216 . Bei 210 Dieses in einem höfischen Kontext unerlässliche Motiv, das der Motivfolge seit der Aeneis inhärent ist, hat zweifellos den Zugang zu ihr erleichtert. 211 I, „Introduzione“, 56ff. 212 Ebd., 65. 213 Ebd., 93. 214 Ebd., 94. 215 X, „Conclusione“, 3. 216 Die Stelle im Ganzen: „Ora è da vedere del modo del prendere letizia e piacer in questo tal tempo di pistolenza e nell’animo e nella mente tua. E sappi che una delle più perfette cose in questo caso è con ordine prendere allegrezza, nella quale si osservi questo ordine, cioè prima non pensare della morte, overo passione d’alcuno, overo di cosa t’abi a contristare, overo a dolere, ma i pensieri sieno sopra cose dilettevoli e piecevoli. L’usanze sieno <?page no="168"?> 168 allen diesen Dingen solle man aber Maß halten und auf ein „gaudium temperatum“ achten 217 . Die Brigata des Decameron befolgt diese Ratschläge genauestens und setzt sie bis in Einzelheiten wie den Ortswechsel 218 oder die Art ihrer musikalischen Unterhaltung um, die ebenfalls ein „tempered pleasure“ ist 219 . Noch bei der Entscheidung zwischen Spiel und Novellenerzählen spielen hygienische Überlegungen eine Rolle. Denn beim Erzählen, so argumentiert Pampinea, würden anders als bei „tavolieri e scacchieri“, schädliche Erregungen der Beteiligten vermieden und allen gleicher „diletto“ zuteil: [...] se in questo il mio parer si seguisse, non giucando, nel quale l’animo dell’una delle parti convien che si turbi senza troppo piacere dell’altra o di chi sta a vedere, ma novellando (il che può porgere, dicendo uno, a tutta la compagnia che ascolta diletto) questa calda parte del giorno trapasseremo. 220 con persone liete e gioconde, e fugasi ogni maninconia, e l’usanza sia co non molta gente nella casa ove tu ai a stare e abitare; e in giardini a tenpo loro ove sieno erbe odorifere, e come sono vite e salci, quando le vite fioriscono e simile cose. E non si vuole stare troppo la notte nè in giardini, nè in altri luoghi all’aria, però che l’aria di notte senpre è più nociva e sospettosa che quella del dì. E vuolsi chifare d’usare con bevitori e con feminacciole co’ mangiatori ingordamente e con ebri, avegna che non si vuole patire la sete, ma bei assai ordinatamente, come detto è di sopra. E usare canzone e giullerie e altre novelle piacevole sanza fatica di corpo, e tutte cose dilettevoli che confortino altrui.“ (Consiglio contro a pistolenza, S. 40-41, zitiert bei Olson, Literature as Recreation in the Later Middle Ages, S. 175, Anm. 16.) Siehe auch Brancas Kommentar, Decameron, S. 35, Anm. 7. 217 Belege hierzu bei Olson, S. 48ff.; Arend, Lachen und Komik, S. 122. 218 Selbst eine Aussage wie die über die Frische der Landluft („l’aere assai più fresco“, „Introduzione“, 67) ist im Rahmen der medizinischen Vorschriften zu verstehen (Olson, S. 182). 219 Instrumente und Tempoangaben in der Rahmenhandlung lassen die musikalischen Aktivitäten der Brigata als ein solches erkennen; siehe E. M. Beck, Singing in the Garden. Music and Culture in the Tuscan Trecento (Biblioteca musicologica. Universität Innsbruck. 3), Innsbruck/ Wien/ Lucca 1998, S. 40. Zur Zurückweisung von Dioneos neun Liedvorschlägen am Ende des fünften Tages („Conclusione“, 9ff.) bzw. zum kontemplativen Charakter von Fiammettas Spiel auf der Vielle ebd., S. 56f. 220 I, „Introduzione“, 110f. Siehe Olson, S. 180f., der hierzu aus Arnaldo di Villanovas Introductionum medicinalium (Kap. 85, f. 32) zitiert: „Ludus per se immutat corpus speciebus exercitii et accidentibus animi, scilicet delectatione, tristitia, ira, et studio, sicut in ludo scacorum et alearum et omnem quidem ludum quem sequitur amissio seu lucrum concomitatur timor aut spes et sequuntur letitia vel tristitia.“ Was für die durch Spiele erzeugten <?page no="169"?> 169 Der letzte und entscheidende Eingriff in die Motivfolge betraf die epische Abenteuererzählung, die Boccaccio nach dem Filocolo mit seinem questioni-Spiel im Decameron ein weiteres Mal veränderte und aktualisierte. In seinen bisherigen Werken hatte er sich je nach Vorlage und Zweck unterschiedlicher Erzählgenera bedient. Mit den „novelle, o favole o parabole o istorie“, die schriftliche und mündliche erzählende Kurzformen verschiedener Art und Herkunft aufnehmen, passte er sich den Gewohnheiten und dem Erwartungshorizont seines aristokratisch geprägten Florentiner Publikums an, übrigens auch dadurch, dass die Novellen durchweg das Idealbild einer „civiltà cittadina“ und eines Bürgers vorführen, der das aristokratische Wertesystem zur wahren „gentilezza“ verinnerlicht hat 221 . Zugleich gab er die Zweckgebundenheit und Beispielhaftigkeit der Exemplasammlung zugunsten von Unterhaltung und ästhetischer Zielsetzung auf, wie sie im höfischen Erzählen gang und gäbe waren 222 . Diese Tendenz zu einem sich selbst genügenden unterhaltsamen Erzählen wird durch die Aufnahme der „ragionamenti sollazziosi“ und der „motti“ aus dem eher mündlichen Repertoire verstärkt und zugleich durch das kunstvolle Arrangement der Sammlung gesteigert, das die ästhetischen Unterschiede zwischen den Genera einebnet und auch die Beispielhaftigkeit der ursprünglichen Exempla verblassen lässt. Dank solcher Verfahren bietet das Decameron ein mehr oder weniger einheitliches Bild von zweckfreiem ‚bel parlare‘ oder ‚schönem Erzählen‘, das zur damaligen Zeit in Italien literarisch noch keineswegs selbstverständlich, jedenfalls nicht unumstritten war. Da diesem Erzählen wegen der Verbindung mit der Pestkatastrophe als auslösendem Ereignis je- Gemütserregungen gilt, gilt natürlich auch für andere Leidenschaften - einer der Gründe für die Unterdrückung expliziter Liebesäußerungen in der Rahmenhandlung. 221 Dies hat überzeugend Surdich dargelegt (La cornice di amore, S. 256ff.), unter anderem mit Hinweis auf die Rückkehr zu höfischen Werten in den aus dem aristokratischen Filocolo ins bürgerliche Decameron übernommenen Novellen X, 4 und 5 (ebd., S. 278). 222 Selbst in den questioni d’amore und in den Dialogen des Andreas Capellanus, die scheinbar der Indoktrination und der Bestätigung der höfischen Normen dienen, ist der Spiel- und Unterhaltungscharakter stärker als das doktrinäre Moment. Zudem spielte die repräsentative Funktion in den geselligen Unterhaltungsformen der höfischen Kultur eine nicht zu unterschätzende Rolle. <?page no="170"?> 170 doch eine diätetische Funktion im Dienst der Aufheiterung der Erzähler zukam 223 , konnte es auch einem größeren Publikum nahegebracht werden - mit durchschlagendem Erfolg, wie die Aufnahme des Decameron bei den Zeitgenossen zeigt 224 . Abgesehen von dem „orrido cominciamento“ mochte an der Rahmenlösung, die Boccaccio so gefunden hatte, problematisch erscheinen, dass am Ende des Erzählens die Gefahr für die Erzähler nicht behoben war, weshalb ihre Rückkehr in das noch immer verseuchte Florenz eine eigene Begründung erforderte, des Inhalts, dass die wiedergewonnene Geselligkeit vor Anfechtungen von innen und außen zu bewahren sei 225 . Aber schon im Filocolo und im antiken Epos war die Rettung in gewisser Weise eine vorläufige gewesen, weil sie nur eine Teillösung der Handlung und der großen Aufgabe des Helden darstellte. Zudem konnte Boccaccio im Vertrauen auf das Wissen seiner Leser um das inzwischen erfolgte Ende der Seuche und auf die Wirkungsmacht des selbst Erlebten das weitere Schicksal der Erzähler offen lassen. Jedenfalls scheint die poetische Faszination der Erneuerung der antiken Motivfolge für ihn stärker gewesen zu sein als etwaige erzähllogische Bedenken 226 . Nicht zuletzt auch deswegen, weil das Decameron mit der Schilderung der für den Sturm eintretenden Pest eine rhetorisch überaus effektvolle Eröffnung erhielt, deren konkreter Anlass den Lesern 223 Arend spricht im Zusammenhang der humoral-medizinischen Einordnung des Decameron von einem „sanguinischen Projekt“ (Lachen und Komik, S. 121). Zur moralphilosophischen Dimension siehe Kurt Flasch, Giovanni Boccaccio: Poesie nach der Pest. Der Anfang des Decameron italienisch-deutsch (excerpta classica.10), Mainz 1992, S. 113f. 224 Branca hat dargelegt, dass das Decameron seine ersten Erfolge im „außerliterarischen“ Milieu von Florenz und andern italienischen Städten hatte: „nel cerchio del ceto medio, mercantesco e municipale, remoto dalle forme culturali più nuove e aristocratiche di quel fervido primo umanesimo“; selbst die Kopisten der ersten Stunde waren „del tutto occasionali, persone delle più diverse condizioni e professioni“ („Per il testo del Decameron. La prima diffusione del Decameron“, hier: S. 136 und 137). Das ‚literarische Milieu‘ ist für Branca offensichtlich der Frühhumanismus um Petrarca, der jedoch nicht mit der Kultur der herrschenden Stadtaristokratie gleichzusetzen ist. Und es versteht sich von selbst, dass das Bürgertum eine Darstellung, die seinem idealisierten Selbstbild entsprach, erfreut aufnahm. 225 X, „Conclusione“, 6f. 226 Für die rationalistischen Erklärungsversuche, die ein solches poetisches Vorgehen auslösen kann, vgl. etwa Emmelius, Gesellige Ordnung, S. 235f. <?page no="171"?> 171 noch gegenwärtig war und die ihm selbst die Gelegenheit bot, die erlebte Katastrophe literarisch festzuhalten, wie er es, illustre Vorbilder vor Augen, wahrscheinlich schon früh geplant hatte. Petrarca hat ihm dafür großes Lob gezollt 227 . Seine Erzähler hat er im Übrigen selbst in einem höheren Sinne für ‚gerettet‘ erklärt: „O costor non saranno dalla morte vinti o ella gli ucciderà lieti.“ 228 5. Der ‚gerettete Erzähler‘ des Decameron ‚Liebende Erzähler‘ des Frühwerks Es gibt im Decameron aber auch einen im wahren Sinne des Wortes ‚geretteten Erzähler‘, nämlich den Autor selbst. Im „Proemio“ erläutert Boccaccio mit großem rhetorischem Aufwand 229 die Motive 227 Zum mittelalterlichen Historiker Paulus Diaconus als unmittelbarem Vorbild siehe Branca, „Un modello medievale per l’Introduzione“, S. 383ff. Von antiken Pestdarstellungen hatte Boccaccio dagegen nur indirekte Kenntnis. - Über die Pestschilderung hat Petrarca im Begleitbrief zu seiner lateinischen Übersetzung der Griseldis-Novelle so geurteilt: „[...] patriae nostrae statum, illius scilicet pestilentissimi temporis, quod prae omnibus nostra aetas lugubre, ac miserum mundo vidit, meo quidem iuditio, et narrasti proprie, et magnifice deplorasti.“ Von Anfang und Ende sowie der „Introduzione“ zum vierten Tag abgesehen, hat Petrarca das Decameron, das für ihn ‚Trivialliteratur‘ war („ad vulgus et soluta scriptus oratione“), nach eigener Aussage nur überflogen: „[...] si dicam legi, mentiar. [...] excucurri eum et festini uiatoris in morem, hinc atque hinc circumspiciens, nec subsistens, animaduerti [...].“ Dennoch: „Delectatus sum in ipso transitu [...].“ (F. Petrarca, Opera, 3 Bde., Basilea 1554, Bd. 1, S. 600.) 228 So am neunten Tag, als sie eichenbekränzt von einem Spaziergang in eine paradiesische Morgenlandschaft zurückkehren (IX, 4). In dieser Szene und ihren Details verdichten sich für Battaglia Ricci die Hinweise darauf, dass das Decameron ein „ribaltamento parodico“ bzw. „un consapevole e polemico ribaltamento“ (Ragionare nel giardino, S. 178 bzw. 184) der in den Bußpredigten der zeitgenössischen Bettelorden verkündeten Botschaft des Trionfo della morte im Camposanto von Pisa ist. Es ist aber eher fraglich, ob Boccaccio nach der Erfahrung der Pest eines Anstoßes durch ein bildliches memento mori für seine Botschaft des „memento vivere“ (Flasch, Giovanni Boccaccio: Poesie nach der Pest, S. 112) bedurfte. Battaglia Riccis Parallele belegt jedoch, dass damals solche harten Kontraste wie die des Todes (der Pestschilderung) und der fröhlichen „brigata nel giardino“ nicht unüblich, ja vielleicht um ihrer Wirkung willen sogar gesucht waren. 229 Siehe Brancas Kommentar, S. 5ff. <?page no="172"?> 172 und Absichten seines Werkes. Er beginnt mit der feierlichen Sentenz - „Umana cosa è aver compassione degli afflitti“ -, die in das überraschende Bekenntnis mündet, auch er selbst habe einmal solchen Trostes bedurft: Umana cosa è aver compassione degli afflitti: e come che a ciascuna persona stea bene, a coloro è massimamente richesto li quali già hanno di conforto avuto mestiere e hannol trovato in alcuni; fra’ quali, se alcuno mai n’ebbe bisogno o gli fu caro o già ne ricevette piacere, io sono uno di quegli. 230 Dann berichtet er von der hohen, leidvollen Liebe, in deren Dienst sein bisheriges Leben gestanden habe: […] dalla mia prima giovanezza infino a questo tempo oltre modo essendo acceso stato d’altissimo e nobile amore, forse piú assai che alla mia bassa condizione non parrebbe, narrandolo, si richiedesse, quantunque appo coloro che discreti erano e alla cui notizia pervenne io ne fossi lodato e da molto piú reputato, nondimeno mi fu egli di grandissima fatica a sofferire, certo non per crudeltà della donna amata, ma per soverchio fuoco nella mente concetto da poco regolato appetito: il quale, per ciò che a niuno convenevole termine mi lasciava contento stare, piú di noia che bisogno non m’era spesse volte sentir mi facea. 231 In der größten Not habe er Trost von einem Freund empfangen, ohne dessen „piacevoli ragionamenti“ und „laudevoli consolazioni“ er zweifellos nicht mehr unter den Lebenden weilen würde. Wie alle Dinge auf Erden habe seine Liebe aber ein Ende genommen und nach dem Wegfall aller Qual sei sie ihm eine schöne Erinnerung geblieben: […] il mio amore, oltre a ogn’altro fervente e il quale niuna forza di proponimento o di consiglio o di vergogna evidente, o pericolo che seguir ne potesse, aveva potuto né rompere né piegare, per se medesimo in processo di tempo si diminuí in guisa, che sol di sé nella mente m’ha al presente lasciato quel piacere che egli è usato di porgere a chi troppo non si mette ne’ suoi piú cupi pelaghi navigando; per che, dove faticoso esser solea, ogni affanno togliendo via, dilettevole il sento esser rimaso. 232 Der abgeklärte Rückblick auf die Liebesnöte seiner jungen Jahre weist bemerkenswerte Parallelen zum Eingangssonett von Petrarcas Canzoniere auf: den jugendlichen Fehler, das vanitas-Motiv und das Motiv der Scham sowie das rhetorische Verfahren des „ordo artifi- 230 „Proemio“, 2. 231 „Proemio“, 3. 232 „Proemio“, 5. <?page no="173"?> 173 cialis“ der Subjekte 233 . Doch im Unterschied zu Petrarca sucht der Erzähler Boccaccio kein Mitleid, sondern will Anderen in ihren Nöten beistehen zum Dank für die Wohltat, die er selbst seinerzeit empfangen hat. Diese Anderen sind für ihn vor allem die heimlich liebenden Frauen, die, von ihren Angehörigen müßig im Hause gehalten, vielerlei nicht immer erfreulichen Gedanken ausgeliefert sind, denen sie nicht entfliehen können. Ihrer „malinconia“ will er mit seinen hundert Novellen abhelfen, aus deren Lektüre sie „parimente diletto delle sollazzevoli cose in quelle mostrate e utile consiglio“ ziehen können: „le quali cose senza passamento di noia non credo che possano intervenire.“ 234 Ist es ein Zufall, dass Boccaccio sich zu Beginn seines Werkes mit Hilfe der Schifffahrts- und Unwettermetaphorik („ne’ suoi piú cupi pelaghi navigando“ 235 ) als einen aus den Stürmen der Liebe geretteten Erzähler präsentiert, der erklärt, aus Dankbarkeit und aus Mitleid für die Frauen schreiben zu wollen? Wie kommt er zu dieser Selbstdarstellung und wie ist das Publikum aus liebenden Frauen zu verstehen angesichts der Tatsache, dass die Mehrheit der Leser des Decameron doch Männer gewesen sein dürften? Janet Smarr hat in einem Buch über den „Narrator as Lover“ im Werk Boccaccios gezeigt, dass von der Caccia di Diana bis zum Corbaccio der Autor als ein Erzähler auftritt, der für eine Frau erzählt, die er liebt oder einmal geliebt hat 236 . In mehreren Werken trägt die 233 Siehe hierzu Brancas Anmerkung, S. 10, sowie ders., „Implicazioni strutturali ed espressive fra Petrarca e Boccaccio e l’idea dei Trionfi“, in: Convegno internazionale Francesco Petrarca (Atti dei Convegni Lincei. 10), Roma 1976, S. 141-161, bes. S. 142ff. Branca liest aus diesen zeitnah entstandenen Gemeinsamkeiten über die identische Präsentation des jeweiligen Werkes hinaus eine „convergenza in problemi, in interessi, in soluzioni analoghe“ beider Autoren (S. 145). 234 „Proemio“, 11 und 14. 235 Derselben Metaphorik begegnet man zu Beginn des Filocolo in der Leseranrede an die „giovani, i quali avete la vela della barca della vaga mente dirizzata a’ venti che muovono dalle dorate penne ventilanti del giovane figliuolo di Citerea, negli amorosi pelaghi dimoranti disiosi di pervenire a porto di salute con istudioso passo […].“ Siehe oben, S. 128f. 236 J. Smarr, Boccaccio and Fiammetta. The Narrator as Lover, Urbana/ Chicago: Univ. of Illinois 1986. Im ersten der von ihr besprochenen Werke, der Caccia di Diana, und im letzten, dem Corbaccio, fehlen Anrede und Widmung an die Frau, dafür ist der Erzähler hier selbst in die Handlung involviert. <?page no="174"?> 174 Geliebte den Namen „Fiammetta“ 237 . Die hartnäckige Diskussion um die historische Identität dieser Fiammetta hat längst der Erkenntnis Platz gemacht, dass hier ein weiteres literarisches Schema vorliegt und dass es folglich nur darum gehen kann, die Bedeutung zu verstehen, die Boccaccio dem Motiv des liebenden Erzählers im jeweiligen Werk gegeben hat. Smarr verweist für seinen Ursprung auf die Trobadors 238 und sieht die Funktion in einer Art von Rahmung („framing device“), die dem Autor erlaube, sich zu seinen Absichten zu äußern 239 . Dieser Befund kann noch weiter präzisiert werden. Wie oben gesehen gibt es eine eigenständige höfische Diskursform des mündlichen Erzählens. Sie unterscheidet sich von der Trobadorlyrik durch weniger prominente Sprecher und einen geringeren künstlerischen Anspruch sowie dadurch, dass sie in privater und nicht wie jene in öffentlich geselliger Situation ausgeführt wird. Zudem handelt sie das Liebesthema gewöhnlich in ‚objektiver‘ Form ab, das heißt der höfisch Liebende erzählt nicht seine eigene Geschichte, sondern die eines Anderen, wobei er auf die Parallele zum eigenen Fall verweist in der Hoffnung, dass das Erzählte die Geliebte überzeugen oder doch milder gegen ihn stimmen möge. Dies ist die Situation, die Boccaccio in seinen frühen Werken spielerisch abwandelt, wobei an die Stelle des mündlichen Erzählens von Angesicht zu Angesicht das schriftliche Erzählen tritt. Darüber hinaus variieren neben den erzählten Geschichten (und Gattungen) 237 Erstmals im Filocolo; siehe oben, S. 116. 238 „Since the troubadours, centuries of poets have presented themselves as lovers. So when Boccaccio startet his literary career in the pose of a lover, he had already a long tradition behind him.“ (S. 2) 239 „Introduction“, S. 2 und 6. Als Boccaccios Absicht definiert Smarr: „to seduce and to educate, to draw the soul toward pleasure and toward truth“ (S. 5), womit sie an Robert Hollanders Boccaccio’s Two Venuses (New York 1977) anknüpft, im Gegensatz zu diesem aber für eine auf Ovids bzw. Dantes Spuren erfolgte Verbindung der sinnlichen und der himmlischen Liebe bei Boccaccio plädiert. Die unterschiedlichen Liebesauffassungen würden sowohl im Text wie in der „framing device“ vertreten. Dabei sei der Erzähler nicht immer auf der Höhe seines Textes und es bedürfe eines verständigen Lesers, um den rechten Sinn auszumachen. Boccaccios Vertrauen in die Fähigkeit der Leser zu einem vernunftgeleiteten Verständnis der Texte - dies ihre ergänzende These - nehme aber zusehends ab („his growing distrust oft the power of reason“; „a gradual disillusionment with readers“, S. 165 und 227). Einzig das Decameron sei ein „cheerful moment of respite“ (S. 174). <?page no="175"?> 175 die Befindlichkeit und Ziele des Erzählers sowie das Auftreten der Frau. Im Filocolo etwa erwächst aus einer Situation höfischer Liebesgeselligkeit und Liebesunterhaltung der Auftrag der Geliebten an den Autor, die alte Geschichte von Florio und Biancifiore den „fabulosi parlari degli ignoranti“ zu entreißen und in eine würdigere Form („un picciolo libretto volgarmente parlando“) zu bringen. Außer durch Anteilnahme wird die Geliebte auch von dem Wunsch getrieben, zum Ruhm des standhaften Liebespaares beizutragen („io, non meno vaga di potere dire ch’io sia stata cagione di rivelazione della loro fama che pietosa de’ loro casi“). Der Autor-Erzähler, obwohl an seinen Fähigkeiten zweifelnd, nimmt den Auftrag als ein Zeichen, das ihn für die Zukunft seiner eigenen Wünsche hoffen lässt („prendendo per quello migliore speranza nel futuro de’ miei disii“ 240 ). Im Filostrato geht der Erzähler von einer questione d’amore aus, die er oft gehört habe - von der Frage nämlich, was einem Verliebten angenehmer sei, die Geliebte zu sehen, mit ihr zu reden oder liebevoll an sie zu denken - und bei der er mehrmals aus Überzeugung die Position des liebevollen Gedenkens vertreten habe. Die Abwesenheit der Geliebten hat ihn nun eines Besseren belehrt und er sucht Erleichterung, indem er in der Nacherzählung des Schicksals des Troilus, der von der geliebten Criseida getrennt wurde, seinen bislang geheimgehaltenen Schmerz offenbart 241 , hoffend, dass die Geliebte die Ähnlichkeiten erkennen möge: [...] se avviene che leggiate, quante volte Troilo piangere e dolersi della partita di Criseida troverete, tante apertamente potrete conoscere le mie medesime voci, le lagrime e’ sospiri e l’angoscie; e quante volte la bellezza e’ costumi, e qualunque altra cosa laudevole in donna, di Criseida scritta troverete, tante di voi esser parlato potrete intendere. [...] E se così siete avveduta come vi tegno [...] potrete comprendere quanti e quali siano i 240 Filocolo, S. 65f. Siehe auch oben, S. 127. 241 Filostrato, hrsg. von V. Branca, in: Tutte le opere di G. B., hrsg. von V. Branca, Bd. 2, Milano 1964, „Proemio“, 25, S. 21: „[...] e pensai di volere con alcuno onesto ramarichio dare luogo a quella [la mia concetta doglia nel petto nascosa] e uscita del tristo petto, accioché io vivessi e vi potessi ancora vedere e più lungamente vostro dimorassi vivendo. [...] E il modo fu questo: di dovere in persona d’alcuno passionato sì come io era e sono, cantando narrare li miei martiri.“ <?page no="176"?> 176 miei disii, dove terminino e che cosa più ch’altro dimandino e se alcuna pietà meritino. 242 Ein ähnliches Anliegen bewegt den Erzähler des Teseida, der - „bene avventurato già [...] ora infelicissimo“ - die zürnende Geliebte - „ingiustamente di piacevole sdegnosa siete tornata“ -, die gern Erzählungen hört oder liest - „vaga d’udire e tal volta di leggere una e altra istoria, e massimamente l’amorose“ -, mit einer Geschichte umstimmen möchte, in der sie Parallelen zu ihrer beider Liebe erkennen kann: [...] ciò che sotto il nome dell’uno de’ due amanti e della giovane amata si conta essere stato, ricordandovi bene, e io a voi di me e voi a me di voi, se non mentiste, potreste conoscere essere stato detto e fatto in parte [...]. 243 Darüber, so hofft er, wird ihr Zorn sich legen und sie ihm wieder wohlgesonnen werden. In der Comedia delle ninfe fiorentine ist die Erzählsituation weiter gefasst, wenn der Autor an alle jene appelliert „che [...] gli amorosi avvenimenti d’udire si dilettano“: „E però chi ama, ascolti; degli altri non curo: la loro sollecitudine gli abbia tutti.“ 244 In den der allegorischen Amorosa visione vorangestellten Sonetten spricht er aber wieder die geliebte Frau an; das Erzählen ist hier eine Fortsetzung des Denkens an sie („’nmaginar vostra biltate“) und soll sie ehren („farvi i’ onore“): Il dolce inmaginar che ’l mio chor face della vostra biltà, donna pietosa, recam’una soavità si dilectosa che mette lui con mecho in dolcie pace. [...] Et però volend’i’ perseverare pur nello ’nmaginar vostra biltate, cerco con rime nuove farvi i’ onore. 245 242 Ebd., S. 22f. Das eigentliche Proöm enthält eine weitere Anrede und Anrufung der Geliebten als seiner Muse sowie der liebenden Zuhörer (I, 2-6, S. 25f.), der Schluss ist ein „congedo“ an die „canzon mia pietosa“ (IX, S. 226ff.). 243 Teseida delle nozze d’Emilia, hrsg. von A. Limentani, in: Tutte le opere di G. B., Bd. 2, S. 246. 244 Comedia delle ninfe fiorentine, hrsg. von A. E. Quaglio, in: Tutte le opere di G. B., Bd. 2, Kap. I, 1 (S. 679 und 681). Der Epilog an den Freund Niccolò di Bartolo del Buono verzichtet auf den Liebesdiskurs. 245 Amorosa visione, hrsg. von V. Branca, in: Tutte le opere di G. B., hrsg. von V. Branca, Bd. 3, Milano 1974, S. 23f. (2. Sonett, V. 1ff. und 9ff.). <?page no="177"?> 177 Und die liebenden Leser - „O chi che voi siate, o gratiosi / animi virtuosi, / in cui amor come ’n beato loco / celato tene il suo giocondo focho“ - ruft er hier auf, sich der Ehrung seiner Geliebten anzuschließen: „Rendete a llei ’l meritato alloro! “ 246 Im Ninfale fiesolano bekennt er sich zu einem Auftrag, den Amor ihm durch die Geliebte gegeben hat, die „amorosa storia molto antica“ des Hirten Africo und der Nymphe Mensola zu erzählen, die überdies eine aitiologische Geschichte über Fiesole und Florenz ist. Auch hier wendet er sich an die Gemeinde der liebenden Leser, insbesondere die Frauen und fordert sie auf, ihn zu verteidigen und für ihn einzutreten: Or priego qui ciascun fedele amante che siate in questo mia difesa e scudo contro a ogni invidioso e mal parlante e contro a chi è d’amor povero e ’gnudo; e voi care mie donne tutte quante, che non avete il cor gelato e crudo, priego preghiate la mia donna altera che non sia contro a me servo sì fera. 247 In der Elegia di Madonna Fiammetta schließlich wird die traditionelle Rollenverteilung gleich doppelt umgekehrt: der Autor gibt selbst die Erzählerrolle auf und überlässt sie der Frau, die über den fernen, untreuen Geliebten klagt und ihr unglückliches Schicksal anderen „innamorate donne“ erzählt, auf deren Mitleid sie hofft 248 . Bis auf den letzten Fall, der in der Tradition der Ovidischen Heroidenbriefe steht, präsentiert Boccaccio in seinem Frühwerk das Erzählen also durchweg als das „ragionamento d’amore“ eines Liebenden vor seiner Dame oder vor einem Kreis von „fedeli 246 S. 24 (3. Sonett, V. 1ff. und 23). In der Schlussanrede des Erzählers an die Geliebte werden diese Motive (Schönheit, Ehrung) wieder aufgegriffen und mit den üblichen Beteuerungen und der Bitte um „pietà“ verbunden (Amorosa visione, Version A, Canto L, S. 147f.). 247 Ninfale fiesolano, hrsg. von A. Balduino, in: Tutte le opere di G. B., Bd. 3, S. 292, Ottava 4. Der Epilog richtet sich an Amor mit dem Wunsch, dass das Werk nicht „ignoranti e villane persone“ in die Hände fallen möge, sondern nur „animi gentili“ und „costumati“ als Leser finden möge (S. 420, Ottava 470f.). 248 Elegia di Madonna Fiammetta, hrsg. von C. Delcorno, in: Tutte le opere di G. Boccaccio, hrsg. von V. Branca (I Classici Mondadori), Bd. 5, 2, Milano 1994, „Prologo“, 1, S. 23. Den anderen Frauen will sie auch als mahnendes Beispiel für wandelbares Liebesglück dienen („Prologo“, 4, S. 23 und Kap. IX, 10, S. 187). <?page no="178"?> 178 d’amore“. Am deutlichsten ausgeprägt und besonders einheitlich ist diese höfische Attitüde in den Werken bis zum Teseida. Da ein Autor im Vorwort in der Regel Auskunft über seine Absichten gibt, darf man, wenn er sich als höfischer Erzähler präsentiert, auf eine höfische Intention schließen, zumal wenn das, was er erzählt, ebenfalls einen höfischen Charakter hat. In Boccaccios Fall, darüber ist sich die Forschung einig, verweist die höfische Erzählerrolle und die thematische Ausrichtung der frühen Werke auf seinen Wunsch, die Erwartungen des Publikums am Hof von Neapel zu treffen. Nun muss man sich freilich vor Augen halten, dass die kulturtragenden Schichten am Hofe der Anjou mit vulgärsprachlicher italienischer Literatur wenig im Sinn hatten. Der Gelehrtenkreis um König Robert war lateinischsprachig und seine Orientierung scholastisch-theologisch, medizinisch-philosophisch und seit Ende der 20er Jahre des Trecento früh-humanistisch 249 . Der König selbst war vermutlich des Italienischen nicht mächtig und es ist unklar, ob es in seiner Bibliothek vulgärsprachliche Texte gab 250 . Das Interesse der inzwischen überwiegend italienischen 251 Hofaristokratie galt der angesehenen französischen bzw. provenzalischen Kultur und Literatur, was die höfisch-aristokratischen Tendenzen verstärkte und erklärt, warum Boccaccios poetisches und erzählerisches Werk erst mit großer Verspätung von der lokalen Kultur zur Kenntnis genommen wurde 252 . Die italienisch-sprachige Kultur in Neapel war in der ersten Hälfte des Trecento weitgehend eine Angelegenheit 249 A. Barbero, Il mito angioino nella cultura italiana e provenzale fra Duecento e Trecento, Torino 1983, S. 143ff. und 154ff. 250 Siehe F. Sabatini, Napoli Angioina. Cultura e società, o.O. 1975, S. 83f. und 71ff. Die „canzonieri in lingua d’oc, romanzi e poemi in lingua d’oil“, die für Boccaccios literarischen Werdegang von Bedeutung waren (Branca, „Profilo biografico“, S. 38), müssen in anderen Bibliotheken untergebracht oder älterer Herkunft gewesen sein. Zur französischen Überformung des Hofes und der Kultur unter Karl von Anjou siehe Sabatini, S. 33ff. 251 Der Frauenkatalog zu Beginn der Caccia di Diana weist z.B. ausnahmslos Frauen aus neapolitanischen Adelsfamilien aus. 252 Erste Kopien des Decameron und des Filostrato wurden erst Ende Trecento/ Anfang Quattrocento von kampanischen Kopisten angefertigt (Sabatini, S. 114f.). Ähnliche Nichtbeachtung widerfuhr den vulgärsprachlichen Werken anderer Autoren, etwa der Divina Commedia. Boccaccios lateinische Werke fanden dagegen frühe Beachtung. <?page no="179"?> 179 der Florentiner Kolonie 253 . Diese Bankiers und Geschäftsleute teils bürgerlicher, teils adliger Herkunft hatten jedoch über ihre merkantilen Interessen hinausgehende höfische Ambitionen und pflegten einen höfischen Lebensstil ganz so, wie auch in Florenz „popolo grasso“ und Altadel dem gesellschaftlichen Leitbild einer adlighöfischen Lebensform anhingen. Florenz hatte seit den Zeiten Karls I. von Anjou enge politische und ökonomische Beziehungen zu Neapel unterhalten, die durch die guelfische Allianz, die Finanzgeschäfte seiner Compagnien und die zeitweilige Ausübung politischer Funktionen durch Angehörige des Hauses Anjou immer wieder aufgefrischt und vertieft wurden 254 . Das idealisierte Bild Karls I. von Anjou als eines „eroe cavalleresco“ hielt sich in der Stadt bis ins 14. Jahrhundert und zwar bemerkenswerterweise in der Novellistik (Novellino LX; Decameron X, 6) 255 . Boccaccio dürfte daher in Neapel neben dem Hof auch und vor allem seine Landsleute im Visier gehabt haben. Nach Florenz zurückgekehrt konnte er die eingeübte höfische Erzählerrolle beibehalten, weil das Publikum hier grundsätzlich gleichgestimmt war; bisweilen schwächte er sie jedoch ab und nahm Anregungen aus dem neuen Milieu auf, etwa unter dem Einfluss Dantes 256 . So bleibt die höfische Exordial- und Proömialto- 253 Sabatini, S. 95: „Nella prima metà del secolo a Napoli la cultura volgare sembra appannaggio quasi esclusivo della colonia fiorentina e circola, si può dire, solo all’interno di questa oasi sociale.“ 254 Ein herausragendes Beispiel für die Fähigkeit der bürgerlich-merkantilen Gesellschaft von Florenz zur Verschmelzung mit der höfisch-aristokratischen von Neapel ist der erfolgreiche Politiker, Heerführer und Staatsmann Nicola Acciaiuoli aus der Bankiers-Familie der Acciaiuoli, der vom Bankier zum Großen Seneschall des Regno di Napoli aufstieg und dessen Geschicke über mehr als zwei Jahrzehnte lenkte. Er war seit Kindheitstagen mit Boccaccio befreundet, der sich später freilich bitter enttäuscht von ihm zeigte. Siehe dazu C. Ugurgieri della Berardenga, Gli Acciaiuoli di Firenze nella luce dei loro tempi. 1160-1834 (Biblioteca storica toscana. 12), 2 Bde., Firenze 1962, hier: Bd. 1. 255 Barbero kommentiert dies so: „Un Carlo protagonista di ‚maravigliose prodezze‘ e di amori cortesi poteva piacere ad una Firenze guelfa ormai fino in fondo dell’anima e nello stesso tempo avida di darsi una vernice cavalleresca [...].“ (Il mito angioino, S. 52) 256 Zum literarischen Ambiente und der höfisch geprägten „società borghese“ im damaligen Florenz siehe Branca, „Profilo biografico“, S. 58f. Nach Enrico Malato hat Boccaccio dagegen in Florenz seine bürgerlichen Wurzeln wiedergefunden und der Blick auf das bürgerlich-kaufmännische Publikum habe ihn dazu veranlasst, die Novelle aus ihrer Randposition als Erzählform <?page no="180"?> 180 pik ein sichtbares Verbindungsglied zwischen den frühen Werken und dem Decameron mit seinen vielen Erzählerrollen. Ein besonderes Gewicht in dieser eindrucksvollen Reihe höfischer Selbststilisierungen, die fast eine eigene Tradition begründet, hat die Aussage des „Proemio“. Boccaccios Abschied vom höfischen Erzählen Außer im „Proemio“ tritt der Autor des Decameron noch in der „Introduzione“ zur vierten Giornata und in der „Conclusione dell’ autore“ auf. Die älteste dieser drei Autoreinlassungen ist die „Introduzione“ zum vierten Tag. Sie dürfte entstanden sein, als die ursprüngliche Exemplasammlung um das höfische Liebesthema erweitert wurde. Bis dahin war die geplante Sammlung von „cento novelle, o favole o parabole o istorie che dire le vogliamo“ nach der Art des Vorbildes vermutlich nicht nur ohne Rahmen, sondern auch ohne prononcierte Erzählerfigur ausgekommen 257 . Gleichzeitig mit dem höfischen Liebesthema nahm Boccaccio aber die Rolle des höfischen Erzählers wieder auf und zwar so, wie er sie in den unmittelbar vorausgehenden Werken entwickelt hatte, wo er nicht mehr für die eine geliebte Frau, sondern für viele Liebende erzählt hatte, unter denen die Frauen besonders hervorgehoben werden (Ninfale fiesolano, Elegia di Madonna Fiammetta). Die neue Beschränkung auf ein reines Frauenpublikum, wie sie in der „Introduzione“ zum vierten Tag ausgeführt ist, war eine (Teil)Rückkehr zur ursprünglichen höfischen Situation 258 , von der zu erwarten war, dass sie Kritik auslösen würde. Boccaccio hat das in Kauf genommen der „classi subalterne“ herauszuführen und zur literarischen Form der neuen „società mercantile“ zu machen („La nascita della novella italiana: un’alternativa letteraria borghese alla tradizione cortese“, in: La novella italiana. Atti del Convegno di Caprarola settembre 1988, Roma 1989, Bd. 1, S. 3-45). Für eine Feinjustierung des Konfliktes bürgerlich vs höfisch in der Bewertung des Decameron siehe unten, Anm. 287. 257 Umso mehr, als Boccaccio die Möglichkeiten der höfischen Erzählsituation in den vorausgehenden Werken fast ausgeschöpft hatte. 258 In der Elegia di Madonna Fiammetta ist der Wunsch nach einem Frauenpublikum anders zu bewerten, weil die Erzählerin sich von den Geschlechtsgenossinnen Solidarität erhofft, von Männern dagegen Schadenfreude erwartet, weshalb diese als Leser ausgeschlossen werden („del tutto il niego loro“, „Prologo“, 2). <?page no="181"?> 181 und seine Position spöttisch-ironisch, unter anderem mit der Beispielerzählung von den „papere“, verteidigt 259 . Nach dieser ersten Autoreinlassung, die dem Werk einen höfischen Stempel aufdrückte, verging eine längere Zeit mit weiterem Sammeln und Ordnen von Novellen und nicht zuletzt mit der Suche nach der passenden Rahmenhandlung. Inzwischen kam es 1348/ 1349 zur Großen Pest und 1350/ 1351 zu Boccaccios ersten persönlichen Begegnungen mit Petrarca, darunter einem längeren Aufenthalt mit intensivem geistigem Austausch in Petrarcas Haus in Padua im Frühjahr 1351 260 . Wie die Pestseuche zur definitiven Form der Rahmenerzählung geführt hatte, so führte die Begegnung mit Petrarca, wie Branca gezeigt hat, zum Abschluss des Decameron. Die frühhumanistischen Bestrebungen und die moralische Nachdenklichkeit, die die neuen Freunde teilten und die von da an das Spätwerk Bocca cios prägen, schlossen ein weiteres „vulgare cane[re] in triviis carmen“ 261 aus, und sei es auch in der Form höfischen Erzählens. Dies blieb nicht ohne Auswirkung auf die „Conclusione dell’autore“ und das „Proemio“ zum Decameron, deren Abfassung in diese Übergangszeit fällt. So signalisiert die ironische Zurückweisung der Einwände der Leserinnen im Schlusswort bereits, dass der Autor auf Distanz zu seiner höfischen Erzählerrolle geht, auch wenn er sie nicht ausdrücklich aufgibt, was nach der weitgehenden Fertigstellung und der mutmaßlichen Teilpublikation des Werkes kaum mehr möglich war und zudem auch dessen Gesamttenor widersprochen hätte. Das Proöm hingegen verlangte nach einer ernsthafteren und vor allem klaren Lösung. Als Ausweg bot sich eine letzte Variante des ‚narrator as lover‘ an, nämlich der Wechsel zur Rolle eines Erzählers, dessen 259 Unter Verwendung der gängigen höfischen Metapher vom „Frauendienst“: „Adunque da cotanti e da cosí fatti soffiamenti, da cosí atroci denti, da cosí aguti, valorose donne, mentre io ne’ vostri servigi milito, sono sospinto, molestato e infino nel vivo trafitto.“ (IV, „Introduzione“, 8) Ob die Verteidigung in Vorwegnahme verfasst wurde oder erst nach der Teilvorveröffentlichung, hängt von der Antwort auf die Frage ab, ob es letztere gegeben hat. Jedenfalls kann man aber wohl von einer Überarbeitung und Glättung der „Introduzione“ nach Fertigstellung des Ganzen ausgehen. 260 Siehe hierzu Branca, „Profilo biografico“, S. 85ff. 261 So Boccaccio einige Jahre nach dem Decameron über sein früheres Dichten (Ecloga XII, V. 48f., in: Bucolicum Carmen, hrsg. von G. Bernardi Perini, in: Tutte le opere di G. B., hrsg. von V. Branca, Bd. 5, 2, S. 834). Siehe auch Branca, „Per il testo del Decameron“, S. 41. <?page no="182"?> 182 Liebe den Weg aller irdischen Dinge genommen hat und vergangen ist. Dieser ‚gerettete‘ Erzähler blickt mit Wohlwollen auf die stürmische Zeit seiner Liebe zurück, die auch die seiner höfischen Werke war: „sol di se nella mente m’ha al presente lasciato quel piacere che egli è usato di porgere a chi troppo non si mette ne’ suoi piú cupi pelaghi navigando“ 262 - hier ist die Schifffahrt Metapher für die Liebe und zugleich für die Dichtung 263 . Mit dieser letzten Variante seiner höfischen Erzählerrolle im Proöm des Decameron bringt Boccaccio die lange, wechselvolle Geschichte seiner Liebe zu einem Abschluss und nimmt zugleich Abschied von seinem höfisch geprägten Frühwerk 264 . Aus der Rolle eines geretteten Erzählers gewinnt er auch seine neue Begründung des Erzählens als Dank für den Trost, den er von einem Freund in den Zeiten der Liebesnot empfangen hat. Das Motiv des liebenden Freundes, der Trost spendet, hatte er schon einmal im Filostrato verwendet 265 . Im Decameron will der gerettete 262 „Proemio“, 5. 263 In der schon zitierten Ekloge wird die Metapher bzw. Metonymie „amores“, die in der Antike die Liebesdichtung bezeichnet, sogar für das künftige humanistisch inspirierte Werk verwendet: „puero carmen vulgare placebat. / […] ast nunc / altior est etas, alios que monstrat amores.“ (Ecloga XII, V. 51ff.) 264 „Il Decameron coronò veramente l’esperienza giovanile del Boccaccio, e concluse i suoi saggi narrativi e romanzeschi riprendendo per l’ultima volta, quasi a fissarle definitivamente, le figure - o meglio i simboli - della sua giovinezza appassionata.“ (Branca, „Per il testo del Decameron“, S. 34) 265 Filostrato, II, 13, V. 1-6. Pandaro versucht dort den liebesbekümmerten Troilus im Gespräch („ragionando“) aufzurichten, indem er seinen Blick auf „compagni in simili disiri“ lenkt: Lascia l’angoscia tua, lascia i sospiri e ragionando mitiga il dolore, ché sì faccendo passano i martiri, e molto ancora menoma l’ardore quando compagni in simili disiri colui si vede il quale è amadore; Pandaro weiß freilich aus eigener Erfahrung, dass die Liebe ein Ende nur aus sich selbst finden kann: „ch’amor di cuor non potea esser tolto / se non da sé per lungo tempo sciolto.“ Auch dieser Gedanke kehrt im „Proemio“ wieder. Das Motiv des Liebestrostes im Gespräch mit Freunden begegnet noch einmal im Corbaccio, ebenso eine Variation der Sentenz über die Dankbarkeit (Corbaccio, hrsg. von G. Padoan, in: Tutte le opere di G. B., hrsg. von V. Branca, Bd. 5, 2, S. 444f. bzw. S. 441 [23ff. bzw. 2]). <?page no="183"?> 183 Erzähler die (noch) in Liebe verstrickten Frauen trösten. Diese „donne che amano“ haben der Decameron-Forschung immer wieder Kopfzerbrechen bereitet 266 . Zuletzt hat Smarr sie als die „passionate and melancholy readers [who] lost their psychological balance“ gedeutet, wobei der Grund für den Verlust der inneren Ruhe nicht allein „sexual passion“, sondern „the loss of rational government in general“ sein könne 267 . Eine solche moralisch-didaktische Interpretation ist nach dem Blick auf die Motivreihe des höfischen ‚liebenden Erzählers‘ aber eher unwahrscheinlich. Es empfiehlt sich vielmehr, den Text zunächst einmal wörtlich zu nehmen. Dabei ist nicht zu übersehen, dass die apostrophierten Frauen hier nicht gerade unter höfischen Bedingungen vorgestellt werden. Vielmehr ist ihr Lebensraum das ‚stille Kämmerlein‘ („ristrette da’ voleri, da’ piaceri, da’ comandamenti de’ padri, delle madri, de’ fratelli e de’ mariti, il piú del tempo nel piccolo circuito delle loro camere racchiuse dimorano e quasi oziose sedendosi […]“ 268 ), wo sie im Verborgenen lieben („dentro a’ dilicati petti, temendo e vergognando, tengono l’amorose fiamme nascose“) und keine Ablenkung von trüben Gedanken finden: […] dimorano e quasi oziose sedendosi, volendo e non volendo in una medesima ora, seco rivolgendo diversi pensieri, li quali non è possibile che siempre sieno allegri. E se per quegli alcuna malinconia, mossa da focoso disio, sopraviene nelle lor menti, in quelle conviene che con grave noia si 266 Nach Überzeugung mancher stehen die Frauen für ein vulgärsprachliches, nicht gelehrtes Publikum, nach anderen generell für ein ästhetisch weniger anspruchsvolles. Beides überzeugt nicht restlos, weil Boccaccios literarische Unternehmungen bis zum Decameron damit kaum in Einklang zu bringen sind. Näher kommt der Sache die Annahme Padoans, dass es sich bei der Vorstellung eines weiblichen Publikums um ein soziokulturelles ‚Relikt‘ aus dem neapolitanischen höfischen Ambiente handelt: „Il continuo richiamarsi alle donne e il porre l’elemento femminile come centro animatore, diretto od indiretto, di un racconto [...] segnano dunque con ogni probabilità il permanere nell’autore di un atteggiamento appreso nell’ambiente culturale e sociale, più che fiorentino, partenopeo [...].“ („Mondo aristocratico e mondo comunale“, S. 10) Zur Diskussion des Problems siehe Smarr, Boccaccio and Fiammetta, S. 169ff. 267 Boccaccio and Fiammetta, S. 172. Ähnlich auch V. Kirkham, „Boccaccio’s Dedication to Women in Love“, in: dies., The Sign of Reason in Boccaccio’s Fiction (Biblioteca di lettere italiane. 43), Firenze 1993, S. 117-129, bes. S. 125ff. 268 „Proemio“, 10. <?page no="184"?> 184 dimori, se da nuovi ragionamenti non è rimossa: senza che elle sono molto men forti che gli uomini a sostenere; il che degli innamorati uomini non avviene, sí come noi possiamo apertamente vedere. Essi, se alcuna malinconia o gravezza di pensieri gli affligge, hanno molti modi da alleggiare o da passar quello, per ciò che a loro, volendo essi, non manca l’andare a torno, udire e veder molte cose, uccellare, cacciare, pescare, cavalcare, giucare o mercatare: de’ quali modi ciascuno ha forza di trarre, o in tutto o in parte, l’animo a sé e dal noioso pensiero rimuoverlo […]. 269 Männer hingegen können, so die Argumentation des Autors, wenn ihnen wegen „alcuna malinconia o gravezza di pensieri“ Ablenkung und Aufheiterung nottun, vielerlei Zerstreuungen nachgehen vom „andare a torno, udire e veder molte cose“ über das „uccellare, cacciare, pescare, cavalcare, giucare“ bis hin zum „mercatare“. Boccaccio fasst hier erstmals unterschiedliche Bedürfnisse des stadtbürgerlichen Publikums ins Auge, für das er seit der Comedia delle ninfe fiorentine geschrieben hat. Die meisten von ihm genannten und zur Ablenkung von trüben Gedanken geeigneten Betätigungen der Männer verweisen auf die Welt des Adels und selbst das „mercatare“, das wohl auf den erwerbsbürgerlichen Teil des Publikums zielt, war dem italienischen Adel nicht fremd. Noch entschiedener und auch ausführlicher hatte drei Jahrzehnte zuvor Francesco da Barberino seinen Mitbürgern adlige Betätigungen zur Bekämpfung der Melancholie empfohlen: Vienti una cosa grande di dolore, né puoi riparar fiore: non vi pensar, e serà il tuo migliore. E perché dal pensier possa astenere, vien’ tra gente a sedere e parla, et odi, et prendi alcun mestiere: sonar, cantar, trovar o cavalcare, cose gentili a .ffare, lègger be’ libri e novità cercare, guardar in arme, in schiere et in trepelli, e balli honesti e belli, armeggiatori e giostrator’ con quelli, ponendo sempre la tua mente a questo: tal giuoco è te honesto, che non convien a quello e non v’ è presto. 269 Ebd., 10ff. <?page no="185"?> 185 In der lateinischen Übersetzung: Occurrit tibi grande aliquid dolorosum, nec resistere ad id potes in eo: non cogites, et partem assequeris meliorem. Utque valeas a cogitaminibus abstinere, ad sedendum te pertrahe inter gentes, cum quibus et loquere ac audito summasque aliquid exercendum: sonare scilicet, vel cantare, componere seu etiam equitare, nobilia facere, libros pulcros legere ac exquirere novitates, in arma inspicere, acies et trepella, decentia correa et honesta, armigeros insimul et giostrantes, mentes [Egidi: mentem] ad hoc semper propriam adhibendo: quod tale solatium tibi convenit quod [Egidi: quod non] illi, eo quod talis alius aptus ad simile non existit. 270 Gesang, Tanz und Turnier, um nur diese herauszugreifen, gehörten zum adlig-höfischen Festleben, von dem die Frauen als Mitwirkende und Zuschauerinnen an sich nicht ausgeschlossen waren. Aber Barberino handelt von solchen Ablenkungen nur in seiner Verhaltenslehre für Männer. In der Verhaltenslehre für Frauen, dem Reggimento e costumi di donna, gesteht er den Frauen nur die Vergnügungen zu, die auf das Haus beschränkt bleiben 271 . Er zweifelt sogar daran, ob es 270 Documenti d’amore, VI, 3, V. 4115ff., Bd. 1, S. 249f. - Wie gegenwärtig die adligen Beschäftigungen im städtischen Bewusstsein waren, zeigt Ambrogio Lorenzettis zwischen 1337 und 1340 entstandenes „Securitas“-Bild im Palazzo Pubblico von Siena. Der „Buon Governo“ ermöglicht den Bauern ungestörte Feldarbeit, den Kaufleuten Warentransport auf sicheren Straßen („mercatare“) und dem Adel den unbehelligten Ausritt zur Wahrnehmung seines Privilegs der Beizjagd („uccellare“). Bemerkenswert ist auch die rein ritterlich-höfische Ausmalung des Ratssaals im Palazzo Comunale von San Gimignano u.a. mit Jagd- und Turnierszenen (siehe hierzu C. J. Campbell, The Game of Courting and the Art of the Commune of San Gimignano, 1290- 1320, Princeton 1997). Und Folgore da San Gimignano hat in seinen Monatssonetten ein Bild vom adligen Festleben in der Stadt und auf dem Land entworfen, das zwar ein Wunschbild, aber keine reine Erfindung war, wie das Securitas-Bild zeigt (Folgore da San Gimignano, Sonetti, hrsg. von G. Caravaggi, Torino 1965, S. 45-58). Es macht im Übrigen den Landaufenthalt der Brigata des Decameron weniger ungewöhnlich und lässt ihn als ein ganz und gar maßvolles Vergnügen erscheinen. 271 Siehe hierzu C. Cazalé Bérard, „Lo spazio ludico femminile e le regole del gioco sociale nel Reggimento e costumi di donna di Francesco da Barberino“, in: Passare il tempo. La letteratura del gioco e dell’intrattenimento, 2 Bde., Roma 1992, Bd. 2, S. 475-510, bes. S. 491ff. <?page no="186"?> 186 richtig sei, Frauen das Lesen beizubringen 272 . Boccaccios Position im „Proemio“ ist weniger restriktiv. Zwar sieht er wie Barberino die Frauen weiterhin an das Haus gebunden und von jeder Tätigkeit außer Hauses abgeschnitten, doch gesteht er ihnen zu, sich durch seine „cento novelle, o favole o parabole o istorie“ von ihren trüben Gedanken 273 ablenken zu lassen. Ja, sie werden gerade dadurch, dass sie nur so Ablenkung finden können, zum idealen Publikum für ihn, das er sich ausdrücklich als ein höfisch gesinntes wünscht: nicht für jene schreibe er, denen „l’ago e ’l fuso e l’arcolaio“ genügen 274 , sondern für „quelle che amano“ 275 . In derselben Weise hatte schon Dante in der ersten Kanzone der Vita nuova sich an Frauen gewandt, die „intelletto d’amore“ haben, und die „pure femmine“ als Zuhörerinnen ausgeschlossen 276 . Sich auf die Liebe zu verstehen und zu lieben hieß im Trecento aber nicht zuletzt, jene Bildung zu haben und jene Kulturtechniken zu beherrschen, für die der höfische Liebesbegriff in seiner metonymischen Erweiterung stand 277 . Was von einem solcherart höfisch gebildeten Frauenpublikum zu erwarten war, zeigt die erste Novelle der sechsten Giornata, die von einer höfischen Erzählsituation handelt. Ein Ritter bietet einer Dame an, ihr mit einer Erzählung einen längeren Fußmarsch auf angenehme Weise zu verkürzen: „vi porterò […] a cavallo con una delle belle novelle del mondo.“ - 272 Siehe oben, S. 79. 273 Dass „pensieri“ trübsinnige Gedanken sind, zeigt unter anderem die oben zitierte Stelle aus Documenti d’amore, VI, 3. 274 Vgl. dagegen den Rat, den Barberino noch drei Jahrzehnte zuvor für die „figliuola di cavaliere da scudo“ und ihresgleichen gibt: „E sicondo l’usanza della terra e voler di sua madre, o borse fare o cucir o filare imprenda pienamente, sì che, poi che sarà con suo marito in casa, possa malinconia con ciò passare [! ], oziosa non stare e anco in ciò alcuno servigio fare; ché non sa se ventura la volgesse al di sotto, sì che la converria sua vita trarne.“ (Reggimento e costumi di donna, S. 14) 275 „Proemio“, 13. 276 Siehe die „ragione“ zu der Kanzone „Donne ch’avete intelletto d’amore ...“ : „[...] e pensai che parlare di lei non si convenia che io facesse, se io non parlasse a donne in seconda persona, e non ad ogni donna, ma solamente a coloro che sono gentili e che non sono pure femmine.“ (Vita Nuova XIX, 1) Dante baut hier eine höfische Rezeptionssituation auf, die zumindest der Fiktion nach eine mündliche ist. 277 Man denke nur an den Titel des Erziehungs- und Bildungsbuches Documenti d’Amore, wo documenti eben „Lehren“ bedeutet und diese das gesamte wohlerzogene Betragen betreffen, nicht nur die Liebe im engeren Sinne. <?page no="187"?> 187 eine zweifach galante Geste, weil das Reiten in Paaren als besonders höfisch galt 278 . Er erzählt seine Geschichte jedoch so ungeschickt 279 , dass die Zuhörerin darunter physisch zu leiden beginnt und schließlich der quälenden Situation mit einem „motto“ ein Ende macht: […] a madonna Oretta, udendolo, spesse volte veniva un sudore e uno sfinimento di cuore, come se inferma fosse stata per terminare; la qual cosa poi che piú sofferir non poté, conoscendo che il cavaliere era entrato nel pecoreccio né era per riuscirne, piacevolmente disse: „Messer, questo vostro cavallo ha troppo duro trotto, per che io vi priego che vi piaccia di pormi a piè.“ 280 Die hochentwickelte kulturelle Sensibilität der adligen Dame reicht von - hier: passiver - Erzählkompetenz und Kenntnis der Regeln des Erzählens über die vollkommene Affektkontrolle und Sublimierung bis zur verbalen Konfliktlösung durch die Kunst des „bel parlare“. Zudem beweist die Dame literarische Kenntnisse, denn mit einem „zu harten Trott“ wurden in den einschlägigen mittelalterlichen Geschichten liebesunwillige Frauen bestraft 281 , so dass ihr 278 Siehe hierzu J. Bumke, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, 2 Bde. (dtv. 4442), München 1986, Bd. 1, S. 293. Siehe auch unten, S. 192, zu den Illustrationen der ältesten Decameron-Handschrift. Der Vergleich der Novelle mit ihrer vermutlichen Quelle, einem Exemplum, in dem die Wendung „portare a cavallo“ Rätselfunktion hat (A. Freedman, „Il cavallo del Boccaccio. Fonte, struttura e funzione della metanovella di Madonna Oretta“, Studi sul Boccaccio Bd, 9/ 1975/ 1976, S. 225-241), lässt den bei Boccaccio erreichten Fortschritt zum „bel parlare“ erkennen. 279 „[…] cominciò una sua novella, la quale nel vero da sé era bellissima, ma egli or tre e quatro e sei volte replicando una medesima parola e ora indietro tornando e talvolta dicendo: ‚Io non dissi bene‘ e spesso ne’ nomi errando, un per un altro ponendone, fieramente la guastava: senza che egli pessimamente, secondo le qualità delle persone e gli atti che accadevano, profereva.“ (VI, 1, 9) 280 VI, 1, 10f. 281 So bei Andreas Capellanus im Dialog „Loquitur nobilis nobili“: „equitabant caballos scilicet macilentes valde et graviter trottantes“ (De amore, I, 6, S.94); im altfranzösischen Lai del trot: „Molt estoient en grief torment / e trotoient si durement / qu’il n’a el mont sage ne sot / ki peüst soffrir si dur trot / une lieueté seulement, / por .XV. mile mars d’argent.“ (Les Lais anonymes des XII e et XIII e siècles. Édition critique de quelques lais bretons, hrsg. von P. M. O’Hara Tobin [Publications romanes et françaises. 93], Genf 1976, S. 342, V. 161ff.), sowie in dem italienischen Sirventes Ell dio d’Amore: „Mal chavalcava ella ... / Un ronçin copidendo trotava [...]“ (abgedruckt bei Gianfranco Contini in seiner Rezension der von Branca <?page no="188"?> 188 „motto“ neben der Zurückweisung auch den koketten Hinweis enthält, dass sie eine solche Strafe nicht verdiene. Der Erwerb so komplexer Sprachfähigkeiten, wie sie in dieser Novelle dargestellt bzw. eingefordert werden, war eine erhebliche zivilisatorische und kulturelle Anstrengung und nicht jedermanns Sache. Wie man dem spöttischen Kommentar der Erzählerin Filomena entnehmen kann 282 , fiel er Männern offenbar schwerer als Frauen. Zugänglich war er aber beiden Geschlechtern, wie sich in der Rahmenerzählung zeigt und übrigens auch in der Fortsetzung der Novelle VI, 1, in der ein differenzierteres Bild des erzählenden Ritters gezeichnet wird: Il cavaliere, il quale per avventura era molto migliore intenditore che novellatore, inteso il motto e quello in festa e gabbo preso, mise mano in altre novelle e quella che cominciata aveva e mal seguita senza finita lasciò stare. (12) Wenn Boccaccio sich daher im Decameron an ein Publikum richtet, das ausschließlich aus Frauen besteht, so entspricht dies nicht realen Zuständen, sondern ist die Folge seiner Selbststilisierung: höfisch stilisierte Zuhörerinnen sind die notwendige Ergänzung seiner eigenen Rolle als höfischer Erzähler 283 . Es verwundert im Übrigen nicht, dass in einer der von ihm geliebten Spiegelungen „Proemio“ und Rahmenerzählung bis in die Terminologie hinein in dem Ziel übereinstimmen, durch „piacere“ die „malinconia“ zu vertreiben, war dies doch, wie gesehen, verbreitete medizinische Lehre und das besorgten Ausgabe der Amorosa visione, Giornale storico della letteratura italiana, Bd. 123/ 1946, S. 97, V. 101f.). 282 „Messer lo cavaliere, al quale forse non stava meglio la spada allato che ’l novellar nella lingua […].“ (VI, 1, 9). Der Spott könnte auch dem Ritterideal allgemein gelten, ist also ambivalent. 283 Die konkrete Rezeptionssituation zwischen ihm und seinem weiblichen Publikum ist im Decameron uneinheitlich. Im „Proemio“ wird sie nicht näher bestimmt; der Kontext von höfischer Liebe sowie „ragionamenti“ und „consolazioni“ des Freundes (4) legt hier aber die Fiktion des mündlichen Erzählens nahe. Vom „Lesen“ (der Frauen) ist dann am feierlichen Beginn der „Introduzione“ zum ersten Tag (3 und 7) die Rede. In der „Introduzione“ zur vierten Giornata haben nur männliche Kritiker die bisherigen Novellen „gelesen“: „Sono adunque, discrete donne, stati alcuni che, queste novellette leggendo, hanno detto che voi mi piacete troppo [...]“ (5); Boccaccio selbst spricht dort bald von „raccontare“, bald von „scrivere“. Erst in der „Conclusione dell’autore“ befindet er sich eindeutig in der Situation eines Schriftstellers, der sich an seine Leserinnen wendet. <?page no="189"?> 189 Lesen oder Hören von vergnüglichen Geschichten eines der empfohlenen Heilmittel. Liebes- und Pestregime trafen sich in diesem Punkte keineswegs zufällig 284 . Beachtenswert ist aber, dass die darin zum Ausdruck kommende Ästhetik des Erzählens höfischer Herkunft war. Das belegen auch die zitierten Ratschläge Barberinos und Boccaccios, aus denen hervorgeht, dass Melancholie - wie ihre häufigste Ursache, die Liebe - nach herrschender Überzeugung eine vornehmlich adlige Angelegenheit war. Bleibt zu fragen, wie die Titel, die Boccaccio seinem Werk gegeben hat, mit diesen Überlegungen in Einklang zu bringen sind. Besondere Schwierigkeiten bereitet allgemein der Haupttitel Decameron. Gebildet in volkssprachlicher Weise wohl nach dem Hexaemeron des Ambrosius von Mailand und anderen mittelalterlichen Traktaten über die Erschaffung der Welt, hat man ihm die prorammatische Bedeutung eines bestimmten Weltentwurfs geben wollen, etwa die eines „Zehntagewerkes der Poesie“ 285 . Branca hält auch eine parodistische Absicht für nicht ausgeschlossen 286 . Gegen diese Annahme spricht jedoch, dass eine religiöse Parodie im Mitte alter allenfalls auf niedrigem, karnevaleskem Niveau möglich gewesen wäre, das im Decameron nicht gegeben ist. Eher wäre an einen laizistisch-höfischen Gegenentwurf zum theologisch-klerikalen Weltbild zu denken. Doch muss diese Frage wohl offen bleiben. Weniger enigmatisch, wenn auch nicht unumstritten, ist die Bedeutung des Untertitels „cognominato prencipe Galeotto“, der ein- 284 Auf die identischen Symptome und Remedia von Liebeskrankheit und Melancholie weist Rüdiger Schnell hin, der daraus folgert, die Rahmenhandlung habe „therapeutische Funktion für das Zielpublikum des Decameron“ („Mittelalter oder Neuzeit? Medizingeschichte und Literaturhistorie. Apologie weiblicher Sexualität in Boccaccios Decameron“, in: Gotes und der werlde hulde. Literatur in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Heinz Rupp zum 70. Geburtstag, hrsg. von R. Schnell, Stuttgart 1989, S. 240-287, hier: S. 266). Tatsächlich haben eher die Novellen die therapeutische Wirkung und die Rahmenhandlung weist nur exemplarisch den Weg zu ihr. 285 Flasch, Giovanni Boccaccio: Poesie nach der Pest, S. 34. Im Sinne einer „Poesie nach der Pest“ verstanden, verrät dieser Gedanke leicht seine Herkunft. Dazu siehe die kritischen Ausführungen von Jan Söffner (Das Decameron und seine Rahmen des Unlesbaren, Heidelberg 2005, S. 24ff.), dessen eigene Deutung von der im Decameron abgebildeten ‚Unlesbarkeit‘ der Welt aber nicht weniger modern ist. 286 Decameron, S. 3, Anm. 1. <?page no="190"?> 190 mal mehr auf die ‚höfische‘ Intention 287 des Decameron verweist. Galeotto/ Galehot ist im Prosa-Lancelot ein mustergültiger Ritter und Freund des Titelhelden, der der Königin Guenièvre den höfischen Rat gibt, Lancelot für seine treuen Dienste mit einem Kuss zu belohnen. In ihrem Bericht über die gemeinsame Lektüre dieser Szene und deren Folgen bezeichnet Francesca da Rimini bei Dante das Buch und seinen Verfasser als ihren und Paolos Ratgeber: „Galeotto fu ’l libro e chi lo scrisse.“ 288 Mit dem Untertitel des Decameron nimmt Boccaccio diese Wendung auf, wobei der Zusatz „prencipe“ zum Namen „Galeotto“ den höfischen Charakter unterstreicht. Die Frage ist allerdings, welchen ‚höfischen Rat‘ das Decameron nach Überzeugung seines Autors den Leserinnen und Lesern geben konnte. Der vorherrschenden Interpretation zufolge ist es der Rat eines Liebesratgebers, wenn nicht sogar eines Kupplers, der sich aus der Lektüre der Novellen gewinnen lasse 289 . Dagegen spricht jedoch, dass es in den 287 Padoan hat in seinem gewichtigen Beitrag „Mondo aristocratico e mondo comunale nell’ideologia e nell’arte di Giovanni Boccaccio“ von der „adesione di fondo al mondo comunale e mercantile“ (S. 36) des Decameron- Autors gesprochen, die begrenzt werde durch eine tiefe Sympathie für die aristokratische höfische Welt: „Questa adesione del Boccaccio è però limitata in parte dalle sue vive simpatie per il mondo aristocratico e cortese [...].“ (S. 34) Diese doppeldeutige Haltung - „Boccaccio vive in una ambiguità ideologica di fondo“ (S. 41) - wie auch das ihr folgende widersprüchliche Urteil der Kritik resultieren aus der Diskrepanz der äußeren Realität und der Ideologie des Trecento. Die Ideologie, das gesellschaftliche Leitbild der städtischen „borghesia“ war aristokratisch-höfisch (vgl. Padoan, S. 63: „Il mondo che il Boccaccio esalta [...] è quello dei re e dei gran signori, della liberalità e della cortesia, e la Firenze di due generazioni prima [...].“), die Realität aber war merkantil-bürgerlich (und der Adel hatte ökonomisch daran seinen Anteil). Das Decameron erzählt erstmals ernsthaft von bürgerlichen Menschen und ihrer Lebensrealität (Padoan, S. 34: „la borghesia mercantile diviene essa la protagonista principale del Decameron“), damit aber auch von deren höfischem Wunsch- und Selbstbild und ihrem Ideal höfischer Lebensformen. Dieses höfische ‚immaginario‘, dem aus gutem Grund auch der Autor anhängt, weil die höfische Ästhetik damals die fortschrittlichere war, ist die eine Seite des Decameron. Die andere ist die Darstellung bürgerlicher Protagonisten, durch die es zur Entwicklung eines bürgerlichen Selbstbewusstseins beiträgt. Bis zur Entwicklung einer eigenen bürgerlichen Ideologie und eines bürgerlichen „immaginario“ vergehen aber noch einige Jahrhunderte. 288 Inferno, V, 137. 289 Einen Überblick über die Deutungen gibt Hollander, Boccaccio’s Two Venuses, S. 102ff. Dabei geht es immer auch um Dantes Auffassung in Inferno V. <?page no="191"?> 191 Novellen nicht nur um Liebesdinge geht und die verbalen und nonverbalen Verhaltensweisen, die sie zu angeblichem „utile consiglio“ und „diletto“ der Leserinnen vorführen, oft höchst zweifelhafter und keineswegs immer höfischer Natur sind 290 . Auch spricht dagegen, dass die Forschung vom Gedanken der Exemplarität der Novellen abgekommen ist und in ihrer fehlenden bzw. überwundenen Vorbildlichkeit inzwischen den Hauptunterschied zum Exemplum sieht 291 . Nimmt man allerdings bei der Auslegung die Rahmenerzählung hinzu und betrachtet das Decameron als Ganzes - wie es der Untertitel ja nahelegt - dann ist der Rat zuallererst auf das Verhalten der Brigata zu beziehen, also auf ihren Aufenthalt auf dem Lande, die gesellige Unterhaltung mit Gesang und Tanz, das Erzählen und die Reaktionen darauf. Dies würde bedeuten, dass die Leser des Decameron der Erzählerrunde darin folgen sollten, die Novellen als vergnüglichen Zeitvertreib zu nehmen 292 , sie also eben nicht mehr exemplarisch als Handlungsanweisungen zu lesen. In der herkömmlichen exemplarischen Weise wäre dann nur noch die Rahmenhandlung selbst zu verstehen, nämlich als ein nachahmenswertes Beispiel für den Umgang mit dem erzählenden „bel parlare“ 293 oder, modern interpretiert, mit der Literatur. Dass dies so verstanden worden ist, ist Boccaccio kannte die höfischen Romane aber gut genug, um sich ein eigenes Urteil zu bilden. Da er zudem das Motiv der Lektüre, die zwei Liebenden die Augen öffnet, schon im Filocolo frei verwendet hatte (siehe oben, S. 135, Anm. 114), darf man ähnliches für den Vergleich Buch / Galeotto vermuten. Hollander versteht den Untertitel als Warnung vor der Verführung zur Liebeslust (S. 106). 290 Walter Pabst hat gezeigt, dass Boccaccio mit dem Hinweis auf den Nutzen auf ironische Weise der mittelalterlichen Poetik Tribut zollt (Novellentheorie und Novellendichtung, S. 27ff., bes. S. 34). Den Ursprung des Novellenerzählens sieht Pabst übrigens in „joglaresker Unterhaltung“ oder „Spielmannsgaukelei“ (S. 33). 291 Zur Diskussion um das Exemplum siehe Küpper, „Affichierte ‚Exemplarität‘, tatsächliche A-Systematik“, S. 58, Anm. 48. Für das Decameron weist Küpper nach, dass in den Novellen die Strukturelemente des Exemplums aufgenommen, aber unterlaufen werden und damit epistemologisch das Weltmodell der Renaissance vorbereitet wird (S. 65ff.) 292 Dass die Reaktionen der Zuhörerinnen auf die Novellen überwiegend ästhetischen Prinzipien gehorchen und polyvalente Lesarten darstellen, hat Lucia Marino betont (The Decameron ‚Cornice‘. Allusion, Allegory and Iconology [L’Interprete], Ravenna 1979, S. 46ff. 62). 293 Die Vorbildlichkeit des „bel parlare“ wird auch im Proöm des Novellino beschworen, dort aber nicht narrativ in einem Rahmen umgesetzt. <?page no="192"?> 192 aus den Illustrationen der ältesten vollständig erhaltenen, um 1360 im Umfeld des Autors entstandenen Handschrift des Decameron (B.N. Paris, It. 482) zu ersehen. Diese zeigen über dem Incipit mit der Galeotto-Ansage zwei einander zugewendete Paare zu Pferde, von denen das rechte Ginevra darstellt, die Lancelot küsst, das linke hingegen ein Paar im höfischen Gespräch, vermutlich Galehot und die Dame de Malehaut. Wie Daniela Delcorno Branca nachgewiesen hat, handelt es sich um die freie Variation eines toskanischen Illustrationstyps (zwei untereinander angeordnete berittene Paare im Gespräch), wie er sich um 1300 für den Anfang arturischer Romane herausgebildet hatte 294 . Im Prosa-Lancelot treffen die Paare Lancelot/ Guenièvre und Galehot/ Dame de Malehaut wiederholt zu höfischen Liebesgesprächen zu viert zusammen 295 . Die Federzeichnung in der ersten Initiale des Decameron-Textes - das „H“ zu „Umana cosa ...“ - zeigt ergänzend den Autor in cathedra, der einem gemischten Publikum, darunter Frauen in der ersten Reihe, aus seinem Buch vorliest. Wie Maria Grazia Ciardi Dupré dal Poggetto annimmt, war der Illustrator der von dem Kaufmann Giovanni d’Agnolo Capponi kopierten Handschrift der Autor selbst 296 . Delcorno Branca spricht hingegen vorsichtiger von einem „commento iconografico, certamente di un lettore acutissimo, [...] dovuto alla diretta ispirazione o addirittura alla mano dell’autore“ 297 . Wie dem auch sei, insofern Boccaccios ‚höfischer‘ Rat so gemeint gewesen sein dürfte, wie er von seinem Illustrator verstanden worden ist, setzt sich das Decameron von der Auffassung der Divina Commedia ab, in der die Feststellung „Galeotto fu ’l libro e chi lo scrisse“ eine Verurteilung der (Liebes)Literatur bedeutet und zwar sowohl aus Sicht der Sünderin Francesca, die die höfische Liebesgeschichte als Handlungsanweisung (miss)verstanden hat und darüber schuldig geworden ist, wie aus der des Jenseitswanderers Dante, der am Beispiel Francescas die Verführungsgewalt der Liebesliteratur begreift und sich als Autor solcher 294 „‚Cognominato prencipe Galeotto‘. Il sottotitolo illustrato del Parigino It. 482“, Studi sul Boccaccio Bd. 23/ 1995, S. 79-88. 295 Lancelot. Roman en prose du XII e siècle. De la Guerre de Galahot contre Arthur au deuxième voyage en Sorelois, hrsg. von A. Micha (Textes littéraires français), Bd. 8, Genève 1982, S. 125f. (Kap. LIIa, 130). 296 „Boccaccio ‚visualizzato‘ dal Boccaccio I. Corpus dei disegni e cod. Parigino It. 482“, Studi sul Boccaccio Bd. 22/ 1994, S. 197-224. 297 „‚Cognominato prencipe Galeotto‘“, S. 80. <?page no="193"?> 193 schuldig fühlt. In der Divina Commedia wird die exemplarischdidaktische Intention und Rezeption von Literatur nicht in Frage gestellt, ganz im Gegenteil: Dante versteht sein Werk als einen exemplarischen Prozess der Läuterung, den er selbst durch das Beispiel der erzählten Schicksale der Jenseitsbewohner erfährt und den er seinen Lesern vermitteln will. Sein jüngerer Landsmann Boccaccio hingegen will mit seinen Novellen nur noch die Melancholie der Leser(innen) mildern und ihre trüben Gedanken durch Unterhaltung vertreiben, wie er am Ende seines Werkes noch einmal bekräftigt: „[le] mie novelle, scritte per cacciar la malinconia delle femine“ 298 . Der beschwerliche Anfang der Wanderung, auf der er sie als ein ‚geretteter‘ und selbst Trost spendender 299 Erzähler begleitet, soll ihnen dabei die nachfolgenden Freuden umso größer erscheinen lassen: Questo orrido cominciamento vi fia non altramenti che a’ camminanti una montagna aspra e erta, alla quale un bellissimo piano e dilettevole sia reposto, il quale tanto piú viene lor piacevole quanto maggiore è stata del salire e dello smontare la gravezza. 300 *** Für seine eigene ‚Wanderung‘ als Erzähler hin zum Decameronrahmen hat sich Boccaccio einmal mehr an einem ‚schema letterario‘ orientiert. Nachdem er die aus der Antike stammende Motivfolge von Katastrophe und Erzählen zuerst im Filocolo als epische Episode eingeführt und mit dem höfischen questioni-Spiel an Stelle des Erzählens besetzt hatte, hat er eineinhalb Jahrzehnte später diese ‚neapolitanische Episode‘ seines Frühwerkes zur Grundlage der Rahmenerzählung einer Novellensammlung gemacht, nun mit der zeitgenössischen Pest als auslösender Katastrophe und dem Novellen-Erzählen als einer durch die höfische Liebesgeselligkeit geadelten neuen Unterhaltungsform. Mit dieser Kombination antiker, moderner und zeitgenössischer Elemente hat er für seine vielgestal- 298 „Conclusione dell’autore“, 23. 299 Die Schilderung der Pest lässt sich nach rhetorischer Lehre in die Exordialtopik der Trostrede einordnen, derzufolge universale Katastrophen das Individuum zur Therapie seines eigenen Schmerzes disponieren; siehe hierzu Chiecchi, „La lettera consolatoria a Pino de’ Rossi di Giovanni Boccaccio“, S. 271f. 300 I, „Introduzione“, 4. <?page no="194"?> 194 tige Novellensammlung einen Rahmen geschaffen, der ihr eine große poetische Ausstrahlung verliehen und sie zu einem Werk der Weltliteratur gemacht hat. Mit dem orientalischen Halsrahmen, in dem das Erzählen ein zweckgebundenes Sprachhandeln Einzelner in einer Zwangssituation war, wobei sein Unterhaltungscharakter und seine ästhetische Dimension notgedrungen im Hintergrund blieben, hat der Decameronrahmen und die in ihm wiederbelebte antike Tradition des rekreativen geselligen Erzählens nach überstandener Gefahr nichts weiter gemeinsam als die offenbar anthropologische Erfahrung, dass das Erzählen in einer Ausnahmesituation eine besondere Wirkungskraft entfaltet, sei es, dass es direkt Leben rettet oder indirekt - durch Befreiung von der Melancholie 301 . 301 Die Bewunderung für das Decameron hat der Novellendichtung über Italien hinaus zu einem mehrere Jahrhunderte währenden Erfolg verholfen, der sich in einer langen Reihe von Novellenzyklen niedergeschlagen hat, in denen der Decameronrahmen und seine Motivfolge in immer neuen Variationen aufgenommen wurde. Unter der Vielzahl der Variationen ragt in der französischen Renaissance das unvollendete gebliebene Heptaméron der Marguerite de Navarre heraus, in dem die Pest in (wohl unbewusster) Rückkehr zur ursprünglichen Besetzung des Katastrophenmotivs auf ein alltägliches Unwetter und seine Folgen herabgestimmt ist, während das Erzählen zu langen Diskussionen führt, in denen die Autorin sich für ihre gesellschaftserzieherische Intention einmal mehr der Liebesthematik bedient. Als letzter hat Goethe, wohlbewandert in der Weltliteratur, die Motivfolge des Decameronrahmens aufgegriffen und mit bewährter Hintergründigkeit neu gedeutet. In den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1794/ 1795) setzt er an die Stelle der Naturkatastrophe die von Menschen gemachte große gesellschaftliche Katastrophe der Revolution und ihrer Kriege, die sich einschließlich der Folgen noch einmal im kleinen Kreis einer adligen Familie wiederholt, als ein junger revolutionärer Hitzkopf einen hinzugekommenen Gast im Gespräch beleidigt und vertreibt. Die Gastgeberin beschwört daraufhin die Anwesenden, wenigstens in Gesellschaft die ungelösten und strittigen Fragen der Gegenwart hintanzustellen und zu „geselliger Bildung“ und Unterhaltung zurückzukehren. In solcher Geselligkeit, die man gerade dann benötige, „wenn auch alles völlig drunter oder drüber gehen sollte“, kann das Erzählen vorübergehend „einen Augenblick reiner und ruhiger Heiterkeit gewähren“ (Goethes Werke, 14 Bde., hrsg. von Erich Trunz [Hamburger Ausgabe], Bd. 6, Hamburg 3 1958, S. 137ff. und S. 143). Wie man weiß, sind die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten unvollendet geblieben. <?page no="195"?> 195 Anfang im Namen des Herrn Der Fall Ciappelletto und die paradoxe religiöse Rede 1 1. Die erste Novelle des Decameron im Licht der Forschung Novellenerzählen ist eine Form des ‚bel parlare‘, die dem geselligen Zeitvertreib dient. Religiöse Rede dagegen handelt von den ewigen Dingen und vom Seelenheil des Menschen. Wegen dieser unterschiedlichen Zielsetzung ist es wenig wahrscheinlich, dass beide Redeformen in ein und derselben Rede zusammentreffen. Geschieht dies aber doch einmal, dann ist die unausweichliche Folge, dass es schwierig wird, den Sinn einer solchen Rede zu verstehen. Am Anfang und am Ende des Decameron werden Novellen erzählt, die dem Leser vermutlich aus diesem Grunde Verständnisschwierigkeiten bereiten. So hat bereits Petrarca der Novelle X, 10 von der Unterwerfung der Griselda unter die unmenschlichen Prüfungen des Grafen Gualtieri, die auch vor dem Hintergrund des sonst im Decameron geschilderten Verhaltens von Frauen ganz unbegreiflich ist, eine religiöse Deutung gegeben, die den Text nicht im wörtlichen, sondern in einem übertragenen, ‚anagogischen‘ Sinne versteht 2 . Moderne Interpreten haben Ähnliches versucht, 1 Unter dem Titel „Decameron I, 1 und die paradoxe religiöse Rede“ zuerst erschienen in: Semiotische Prozesse und natürliche Sprache. Festschrift für Udo L. Figge zum 60. Geburtstag, hrsg. von A. Gather und H. Werner, Stuttgart 1997, S. 482-490. 2 Vgl. seinen Kommentar zur lateinischen Übersetzung der Novelle: „Hanc historiam stilo nunc alio retexere visum fuit, non tam ideo, ut matronas nostri temporis ad imitandam huius uxoris patientiam, que michi vix imitabilis videtur, quam ut legentes ad imitandam saltem femine constantiam excitarem, ut quod hec viro suo prestitit, hoc prestare Deo nostro audeant […].“ (F. Petrarca, Opere latine, hrsg. von A. Bufano, Bd. 2, Torino 2 1977, S. 1336) Hingegen zieht der Erzähler der Novelle die anzügliche Folgerung, der Ehemann hätte es verdient, an eine Frau geraten zu sein, die ihr Glück bei einem Anderen gesucht hätte: „Al quale non sarebbe forse stato male investito d’essersi abbattuto a una, che quando fuor di casa l’avesse in camiscia cacciata, s’avesse sì ad un altro fatto scuotere il pelliccione, che riuscita ne fosse una bella roba.“ (Decameron, X, 10, 69) - Zum ‚vierfachen Schriftsinn‘ mittelalterlicher Auslegungskunst siehe etwa Dante, Convivio II, 1. <?page no="196"?> 196 indem sie X, 10 in Beziehung zu I, 1 setzten, wo es ganz offensichtlich um religiöse Dinge geht 3 . Diese Novelle, mit der das Decameron eröffnet wird, macht den Leser aber nicht weniger ratlos. Denn in ihr wird von einem - man könnte sagen - doppelten religiösen Betrug erzählt: von der betrügerischen Beichte des Schurken Ser Ciappelletto und der Verehrung als Heiliger, die ihm als Folge seiner Beichte nach dem Tod zuteil wird. Nicht genug damit, kündigt der Erzähler Panfilo das Ganze auch noch ausdrücklich als eine fromme Eröffnung des geselligen Erzählens an, gemäß dem Brauch, dass man alle Dinge im Namen des Herrn beginnen müsse: Convenevole cosa è, carissime donne, che ciascheduna cosa la quale l’uomo fa, dallo ammirabile e santo nome di Colui, il quale di tutte fu facitore, le dea principio. Per che, dovendo io al vostro novellare, sí come primo, dare cominciamento, intendo da una delle sue maravigliose cose incominciare, acciò che, quella udita, la nostra speranza in Lui, sí come in cosa impermutabile, si fermi, e sempre sia da noi il suo nome lodato. (I, 1, 2) 4 Und am Ende will er seine Novelle gar als Beweis für die Güte Gottes gegenüber den Menschen verstanden wissen, la quale non al nostro errore, ma alla purità della fé riguardando, cosí faccendo noi nostro mezzano un suo nemico, amico credendolo, ci essaudisce, come se a uno veramente santo per mezzano della sua grazia ricorressimo. (90) Mit dieser religiösen Einordnung einer eigentlich skandalösen Erzählung hat man sich immer schwergetan 5 . Benedetto Croce etwa hat ihrer ungeachtet die Novelle I, 1 „tra le più satiriche, quasi di 3 Vittore Branca sieht im Decameron einen „itinerario [...] ‚a principio horribilis et fetidus, in fine prosperus, desiderabilis et gratus‘“ und eine „galleria di figure da Ciappelletto-Giuda a Griselda-Maria“ („Tradizione medievale (1950)“, in: ders., Boccaccio medievale e nuovi studi sul Decameron, Firenze 6 1986 ( 1 1956), S. 3-30, hier: S. 18). Für M. Cottino-Jones gibt es hingegen eine Entwicklung von Ciappelletto als „figura diaboli“ zu Griselda als „figura Christi“ („Fabula vs Figura: Another Interpretation of the Griselda Story“, Italica Bd. 50/ 1973, S. 38-52, hier: S. 50). 4 Text nach G. Boccaccio, Decameron, hrsg. von V. Branca (Einaudi tascabili. Classici), Torino 14 2008 ( 1 1980). Die römische Ziffer verweist auf die Giornata, die erste arabische auf die Stellung der Novelle in der Giornata und die letzte auf den jeweiligen Satz. 5 Zur Geschichte der Rezeption von I, 1 siehe L. Fassò, „La prima novella del Decameron e la sua fortuna“, in: ders., Saggi e ricerche di storia letteraria, Milano 1947, S. 33-90. <?page no="197"?> 197 anticipato volterianismo“ gezählt und das künstlerische und schauspielerische Ingenium ihres Protagonisten, seine „capacità artistica di comporre e recitare una parte, commovendo e trascinando lo spettatore“, bewundert 6 , worin ihm viele Interpreten gefolgt sind. Hans-Jörg Neuschäfer zweifelt, ob der Widerspruch zwischen erbaulichem Kommentar und frecher Betrugsgschichte beabsichtigt oder nur einer „Ungeschicklichkeit“ Boccaccios zuzuschreiben sei, und hält die Novelle für eine Parodie der Heiligenlegende - auch dies eine verbreitete Auffassung 7 . Giovanni Getto dagegen hat hinter dem „presunto carattere religioso“ eine „preoccupazione meramente letteraria“ des Autors entdeckt, nämlich die, den Topos der verkehrten Welt zu gestalten 8 , und Guido Almansi ist darüber noch hinausgegangen, indem er, auf ganz modernen Pfaden, in I, 1 eine „metanovella“ mit einer geheimen literaturtheoretischen Botschaft erkannte: Ser Ciappellettos Beichte könne als ein „analogue of the literary process“ gelesen werden; er selbst sei „a negative print of the writer, who is the master of all deception“, und das Ganze sei folglich eine „novella on literature as falsehood, or falsehood as literature“ 9 . Gegen diese modernistische Deutung sowie gegen die 6 Er nennt ihn mehrfach einen „artista“ und einen „spirito bizarramente geniale“ (B. Croce, „Il Boccaccio e Franco Sacchetti“, in: ders., Poesia popolare e poesia d’arte, Bari 2 1946, [ 1 1929], S. 81-105, hier: S. 86ff.). 7 H.-J. Neuschäfer, Boccaccio und der Beginn der Novelle. Strukturen der Kurzerzählung auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit, München 2 1983 ( 1 1969), S. 98f., Anm. 9. Vgl. auch E. De Negri, „The Legendary Style of the Decameron“, Romanic Review Bd. 43/ 1952, S. 166-189, hier: S. 178f.; E. Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern 5 1971 ( 1 1946), S. 219f.; R. Hollander, „Boccaccio’s Dante: Imitative Distance“, Studi sul Boccaccio Bd. 13/ 1981/ 82, S. 169-198, hier: S. 180. 8 G. Getto, „Struttura e linguaggio nella novella di ser Ciappelletto“, in: ders., Vita di forme e forme di vita nel Decameron, Torino 4 1986 ( 1 1958), S. 34-77, hier: S. 77. Siehe auch S. 57: „il Boccaccio esclud[e] ogni impegno morale e religioso, pur lavorando su di una materia che è morale e religiosa […]“; „[un] suo alto esercizio stilistico, condotto sul tema del rovesciamento“. 9 G. Almansi, The Writer as Liar. Narrative Technique in the Decameron, London 1975, S. 19-62 („Literature and Falsehood“), hier: S. 28f. und S. 47. Siehe auch G. Mazzotta, „The Decameron: The Marginality of Literature“, in: Critical Perspectives on the Decameron, hrsg. von R. S. Dombroski, London 1976, S. 129-143, hier: S. 135f., sowie neuerdings A. Gier, „Narrator in fabula. Boccaccio Gualtieri und Ser Cepperello“, Italienische Studien Bd. 15/ 1994, S. 57-71, hier: S. 69f. <?page no="198"?> 198 verbreiteten Zweifel an der im Text behaupteten religiösen Intention der Novelle sei jedoch an die mittelalterliche Überzeugung erinnert, dass vor jeder anderen Deutung der wörtliche Sinn des Textes ausgeschöpft sein sollte. In diesem Sinne muss also für I, 1 zunächst nach dem oder den Redemustern gefragt werden, die es erlauben, die Novelle mitsamt ihren Widersprüchen als die religiöse Eröffnungsrede zu verstehen, als die sie von ihrem Erzähler so nachdrücklich herausgestellt wird. Dazu soll im Folgenden ein Vorschlag gemacht werden. 2. Paradoxes religiöses Erzählen Die ‚verkehrte Welt‘ in I, 1 zeigt sich nach Getto in der „situazione del dannato santificato, del furfante elevato agli altari“ 10 . Tatsächlich ist Ciappelletto ein Bösewicht, wie es im Decameron keinen zweiten gibt. In einem Portrait, das auch wegen seiner Ausführlichkeit in Boccaccios Novellensammlung einmalig ist, wird er als ein moralisches Monstrum dargestellt, dem nichts heilig ist, weder Ehre noch Anstand, weder Recht noch Gesetz, weder Gott noch die Heiligen, der vor keiner Untat, vom Meineid bis zum Mord, zurückschreckt und obendrein ein lasterhaftes und ausschweifendes Leben führt (10ff.) 11 . Frevelhaft ist auch Ciappellettos letzte Tat, die er in conspectu mortis begeht und von der die Novelle handelt. Von Musciatto Franzesi, einem in den Ritterstand aufgenommenen reichen Kaufmann, als geeigneter Vertreter seiner finanziellen Interessen nach Burgund geschickt, dessen Bewohner „uomini riottosi e di mala condizione e misleali“ (8) sind, erkrankt Ciappelletto, noch bevor er seine schlechten Eigenschaften dort recht entfalten kann, und es ist abzusehen, dass es mit ihm zu Ende gehen wird. Vom Krankenlager aus muss er mit anhören, wie seine Wirts- 10 „Struttura e linguaggio nella novella di ser Ciappelletto“, S. 77. 11 Zu Parallelen und möglichen Quellen des Portraits siehe Brancas Kommentar, Decameron, S. 53, Anm. 2; ferner R. Klesczewski, „Antike und mittelalterliche Traditionen in der Menschendarstellung bei Boccaccio: das Portrait Ser Ceparellos“, in: Italia viva. Studien zur Sprache und Literatur Italiens. Festschrift für Hans Ludwig Scheel, hrsg. von W. Hirdt und R. Klesczewski, Tübingen 1983, S. 224-236, und C. Ó Cuilleanáin, Religion and the Clergy in Boccaccio’s Decameron, Roma 1984, S. 157, Anm. 21. <?page no="199"?> 199 leute, zwei Brüder aus Florenz, die dem Geldverleih nachgehen, die prekäre Situation beklagen, in die sein Tod sie unweigerlich bringen wird: „Che farem noi“ diceva l’uno all’altro „di costui? Noi abbiamo de’ fatti suoi pessimo partito alle mani: per ciò che il mandarlo fuori di casa nostra cosí infermo ne sarebbe gran biasimo e segno manifesto di poco senno, veggendo la gente che noi l’avessimo ricevuto prima e poi fatto servire e medicare cosí sollecitamente, e ora, senza potere egli aver fatta cosa alcuna che dispiacer ci debbia, cosí subitamente di casa nostra e infermo a morte vederlo mandar fuori. D’altra parte, egli è stato sí malvagio uomo, che egli non si vorrà confessare né prendere alcuno sagramento della Chiesa; e, morendo senza confessione, niuna chiesa vorrà il suo corpo ricevere, anzi sarà gittato a’ fossi a guisa d’un cane. E, se egli si pur confessa, i peccati suoi son tanti e sí orribili, che il simigliante n’averrà, per ciò che frate né prete ci sarà che ’l voglia né possa assolvere: per che, non assoluto, anche sarà gittato a’ fossi. E se questo avviene, il popolo di questa terra, il quale sí per lo mestier nostro, il quale loro pare iniquissimo e tutto il giorno ne dicon male, e sí per la volontà che hanno di rubarci, veggendo ciò si leverà a romore e griderà: ‚Questi lombardi cani, li quali a chiesa non sono voluti ricevere, non ci si voglion piú sostenere‘; e correrannoci alle case e per avventura non solamente l’avere ci ruberanno ma forse ci torranno oltre a ciò le persone: di che noi in ogni guisa stiam male se costui muore.“ (23ff.) Dies ist eine äußerst bedrohliche Situation für den Todkranken, muss er doch damit rechnen, nicht nur nach seinem Ableben kein christliches Begräbnis zu erhalten („sarà gittato a’ fossi a guisa d’un cane“, 25), sondern nicht einmal sein Leben unter menschenwürdigen Umständen beschließen zu können, weil seine Gastgeber ihn schon vorher auf die Straße gesetzt haben werden („mandarlo fuori di casa nostra“, 23). Daher zögert Ciappelletto nicht lange. Er lässt die beiden Brüder zu sich rufen und verspricht ihnen, Abhilfe zu schaffen, da er im Himmel ohnehin nichts mehr zu verlieren habe: „Io non voglio che voi d’alcuna cosa di me dubitiate né abbiate paura di ricevere per me alcun danno. Io ho inteso ciò che di me ragionato avete e son certissimo che cosí n’averrebbe come voi dite, dove cosí andasse la bisogna come avvisate: ma ella andrà altramenti. Io ho, vivendo, tante ingiurie fatte a Domenedio, che, per farnegli io una ora in su la mia morte, né piú né meno ne farà; e per ciò procacciate di farmi venire un santo e valente frate, il piú che aver potete, se alcun ce n’è; e lasciate fare a me, ché fermamente io acconcerò i fatti vostri e’ miei in maniera che starà bene e che dovrete esser contenti.“ (28f.) Dem Mönch, den die Brüder daraufhin kommen lassen, spielt er die Komödie eines gottesfürchtigen und überaus gewissenhaften <?page no="200"?> 200 Menschen vor, der seine letzte Beichte ablegt, und tut dies so gekonnt, dass dieser ihn in der Überzeugung verlässt, einem Heiligen in seiner letzten Stunde beigestanden zu haben. Die Dinge verlaufen auch weiter nach Ciappellettos Wunsch. Der Mönch erwirkt beim Kapitel des Klosters, dass die Leiche Ciappellettos feierlich in der Klosterkirche aufgebahrt und anschließend dort beigesetzt wird. In einer Leichenpredigt schildert er die Tugenden des vermeintlichen Heiligen so eindringlich, dass das versammelte Volk in Ekstase gerät, dem Toten die Kleider vom Leibe reißt und nach der Beisetzung alsbald beginnt, an seinem Grabe Kerzen zu entzünden und in Nöten seine Hilfe anzurufen. Kurz, es verehrt Ciappelletto als Heiligen. Selbst von Wundern, die in seinem Namen geschehen seien, ist zu hören, wie der Erzähler zum Schluss der Novelle berichtet. Obwohl Ciappelletto durch eine schwierige Situation zum Handeln gezwungen wird, ist seine falsche Beichte ein unverzeihliches Sakrileg, das noch verschärft wird durch seinen kaltblütigen Handel mit dem Himmel, den er vor den Brüdern ausbreitet und der durch keine „ragion di mercatura“ und keine „vaghezza di artista“ zu entschuldigen ist 12 . Umso erstaunlicher ist es, dass seine Verehrung 12 Erstaunlicherweise wird von den Interpreten fast ausschließlich der ‚esprit de corps‘ als Motiv für Ciappellettos Handeln gesehen. So von Almansi: „a plan […] undertaken out of loyalty to colleagues and compatriots“ (The Writer as Liar, S. 41) oder von Mario Baratto: „un’invenzione rischiosa, attuata per salvare due compatrioti in un paese straniero e ostile“ (Realtà e stile nel Decameron, Vicenza 1970, S. 80). Nach Branca ist es die „ragion di mercatura“, die Ciappelletto bestimmt, „che piuttosto di mettere in pericolo il dominio dei banchieri italiani in Borgogna, piuttosto di ribellarsi alla ‚ragion di mercatura‘ sceglie di perdersi per l’eternità con piena coscienza della sua dannazione“ („L’epopea dei mercatanti“, in: Boccaccio medievale, S. 134-164, hier: S. 158). Dies aber ist in Ciappellettos Situation nicht nur ziemlich unrealistisch, sondern setzt auch Eigenschaften wie Solidarität und Verantwortungsgefühl voraus, die sich seinem zuvor gezeichneten Portrait nicht ohne weiteres einfügen wollen und die z.B. auch dem historisch bezeugten Auftraggeber Musciatto Franzesi bekanntermaßen abgingen (hierzu Branca, ebd., S. 159). Getto hat dem „spirito di colleganza (o se si preferisce, di omertà)“ immerhin ein Bündel weiterer Eigenschaften des „uom d’affari“ hinzugefügt, nämlich Realismus, Eitelkeit, Wettkampfgeist und das Streben nach Interessenausgleich; das Eigeninteresse Ciappellettos - „ché fermamente io acconcerò i fatti vostri e’ miei“ - hat er aber nicht weiter benannt („Struttura e linguaggio nella novella di ser Ciappelletto“, S. 53f.). Croce hatte in seinem Sinne präzisiert: „questa vaghezza di artista […] lo rende cosí pronto a offrirsi di trar d’impaccio i suoi ospiti, e non <?page no="201"?> 201 durch die Menge Erfolg hat, da in seinem Namen vorgebrachte Bitten erhört werden und Wunder geschehen (auch wenn der Erzähler der Novelle bei letzteren einen gewissen Vorbehalt macht: „e affermano molti miracoli Idio aver mostrato per lui e mostrare tutto giorno a chi devotamente si raccomanda a lui.“ [88]). Dies bedeutet nämlich, dass Ciappellettos gotteslästerlicher Umgang mit dem Sakrament der Beichte, seine „enorme, calcolata empietà“ 13 , vom Himmel gebilligt, ja allem Anschein nach geradezu belohnt wird. Eine solche Belohnung steht offensichtlich nicht im Einklang mit der christlichen Überzeugung von der Notwendigkeit eines gottgefälligen Lebens und der Gewissheit der Strafe, wenn der Lebenswandel lasterhaft ist. Sie ist ein religiöses Paradox 14 . In diesem Paradox, nicht in dem verwerflichen Handeln Ciappellettos oder der kritikwürdigen Leichtgläubigkeit des Mönchs und seiner Mitbrüder oder dem frommen Wahn der Menge liegt das zutiefst Anstößige der Novelle, das es uns unmöglich scheinen lassen will, sie als Gottes „wunderbares Wirken“ - „una delle sue maravigliose cose“ - zu verstehen. Nun ist aber die paradoxe Gottwohlgefälligkeit betrügerischen Handelns in religiösen Texten nicht unbekannt. So sind schon aus dem Alten Testament Jakob und David als Parallelen zu Ciappelletcertamente la sollecitudine di evitare ad essi un male, che non è cosa che gli possa premere.“ („Il Boccaccio e Franco Sacchetti“, S. 87) Nur Ó Cuilleanáin weist auch auf Ciappellettos Furcht vor der „terrible exclusion from society of a purely animal death and burial“ hin (Religion and the Clergy in Boccacio’s Decameron, S. 159). 13 Branca, „L’epopea dei mercatanti“, S. 158. 14 Es handelt sich um ein Paradox im weiteren Sinne, das „gegen das Vorverständnis“ (H. Schröer, Die Denkform der Paradoxalität als theologisches Problem. Eine Untersuchung zu Kierkegaard und der neuen Theologie als Beitrag zur theologischen Logik, Göttingen 1960, S. 29) - in diesem Fall das christliche Vorverständnis von moralischer Gerechtigkeit - verstößt. Davon zu unterscheiden ist das Paradox im engeren oder logischen Sinne, dessen Aussage gegen den Satz vom Widerspruch verstößt und aufgelöst werden kann oder nicht. In jedem Fall wird die widersprüchliche Aussage eines Paradoxons vom Sprecher für eine „treffende Wirklichkeitsbeschreibung“ gehalten (Schröer, S. 30f.). Vom Konzept der ‚verkehrten Welt‘ unterscheidet sich das Paradox dadurch, dass es jederzeit begegnen kann, während die ‚verkehrte Welt‘ an bestimmte Ausnahmesituationen - etwa den Karneval - gebunden ist. Dass eine solche Ausnahmesituation in I, 1 nicht gegeben ist, spricht gegen Gettos Deutung. <?page no="202"?> 202 to herangezogen worden: Jakob, der sich durch Betrug den väterlichen Segen erschleicht, und David, dessen Leben eine Folge von listigen und skrupellosen Taten ist, vom Kampf gegen Goliath bis zum bestellten Mord um der Frau willen, die er begehrt 15 . Aber auch im Neuen Testament gibt es eine Betrugsgeschichte, die sogar noch mehr Ähnlichkeit mit der Novelle I, 1 hat. Es handelt sich dabei um die Parabel vom betrügerischen oder auch klugen Verwalter 16 (Lk. 16, 1ff.): Ein Verwalter wird bei seinem Herrn verklagt, weil er dessen Güter verschleudere. Der Herr fordert Rechenschaft von ihm und kündigt seine Entlassung an. Darauf geht der Verwalter hin und erlässt den Schuldnern des Herrn einen Teil ihrer Schulden, um sie sich für die Zukunft gewogen zu machen. Ob dieses klugen Handelns wird er von seinem Herrn gelobt. Wie in der Novelle des Decameron geht es in der biblischen Erzählung um den Verwalter eines großen Vermögens, der in einer bedrohlichen Situation 17 bedenkenlos die Mittel anwendet, die seine Stellung und seine Menschenkenntnis ihn gelehrt haben. Ähnlich wie Ciappelletto, der seinen Betrug auf das Beichtsakrament und die religiösen Gefühle und Bedürfnisse der Mitmenschen baut, nimmt auch der Verwalter des Gleichnisses mit dem Schuldenerlass einen nach außen hin frommen Akt vor 18 , mit dem er in Wahrheit seinen eigenen Vorteil verfolgt und seinem Herrn schadet. Auch in der Gleichniserzählung wird die bedrohliche Situation in direkter Rede angekündigt und der Bedrohte reagiert in direkter 15 Siehe T. K. Seung, Cultural Thematics, New Haven/ Conn. 1976, S. 200f.: „The audacity and ingenuity of Ciappelletto are not much different in kind from the audacity and ingenuity of some of Yahweh’s great favorites. […] Ser Ciappelletto is a Boccaccian David or Jacob.“ 16 Beide Bezeichnungen sind gebräuchlich; die entsprechenden Bewertungen finden sich dicht nebeneinander in V. 8 des Gleichnisses. 17 Der drohenden Arbeitslosigkeit, die auch in Ciappellettos Geschichte schon eine Rolle gespielt hat - bei der Annahme des Angebots von Muciatto Franzesi (18). 18 Es war jüdische Praxis, einen Kredit zu streichen und ihn in Naturalien umzuschreiben, um auf diese Weise wucherische Transaktionen zu verschleiern und sich formal gesetzestreu zu verhalten. Über diesen möglichen ökonomischen Hintergrund der Parabel siehe J. D. M. Derrett, „Fresh Light on St Luke XVI, 1. The Parable of the Unjust Steward“, New Testament Studies Bd. 7/ 1960/ 61, S. 198-219. <?page no="203"?> 203 Rede, hier im Gespräch mit sich selbst, wobei er, anders als Ciappelletto, die Gründe seines Handelns offenlegt: Quid faciam quia dominus meus aufert a me villicationem? fodere non valeo, mendicare erubesco. Scio quid faciam, ut, cum amotus fuero a villicatione, recipient me in domos suas. (3f.) Den genauen Plan hält er aber ebenfalls zurück; dafür wird die Ausführung in zwei exemplarischen Fällen gezeigt: Convocatis itaque singulis debitoribus domini sui, dicebat primo: Quantum debes domino meo? At ille dixit: Centum cados olei. Dixitque illi: Accipe cautionem tuam: et sede cito, scribe quinquaginta. Deinde alii dixit: Tu vero quantum debes? Qui ait: Centum coros tritici. Ait illi: Accipe litteras tuas, et scribe octoginta. (5ff.) Die Erzählung endet mit der Feststellung der Anerkennung durch den Herrn 19 , an die sich unmittelbar die erste Deutung anschließt: Et laudavit dominus villicum iniquitatis, quia prudenter fecisset: quia filii huius saeculi prudentiores filiis lucis in generatione sua sunt. (8) Dies ist ein ähnlich paradoxes Resultat, wie es sich in der Novelle ergibt, weil der betrügerische Verwalter ausgerechnet bei demjenigen Anerkennung findet, dem er mit seinem Betrug Schaden zugefügt hat. Die biblische Parabel vom betrügerischen Verwalter zeigt, dass auch eine skandalöse Erzählung in religiöse Rede Eingang finden kann, wenn eine entsprechende Intention vorliegt 20 . 19 Der Herr könnte ein wucherischer Unternehmer sein, der in der Öffentlichkeit integer erscheinen möchte und deshalb den Schuldenerlass billigt. Siehe D. O. Via, Die Gleichnisse Jesu. Ihre literarische und existentiale Dimension, München 1970, S. 149; Derrett, „Fresh Light on St Luke XVI. I“, S. 216f. 20 Lk. 16, 1-9 gehört seit den frühesten Zeugnissen zum festen Bestand der liturgischen Lesungen - siehe T. Klauser, Das römische Capitulare evangelicorum. Texte und Untersuchungen zu seiner ältesten Geschichte, Münster 2 1975 ( 1 1935) - und war daher dem Kleriker Boccaccio mit Sicherheit bekannt. <?page no="204"?> 204 3. Paradoxe religiöse Deutung Wer die Novelle I, 1 als Satire und Kritik an übertriebener Wundergläubigkeit und Heiligenverehrung und der Rolle des Klerus dabei lesen will, kann dies ohne große Schwierigkeiten tun. Er wird jedoch feststellen müssen, dass die Kritik des Erzählers an religiösen Einrichtungen und Gepflogenheiten sehr nuanciert ist - so wird z.B. zwischen der Leichtgläubigkeit des Mönchs, derjenigen seiner Mitbrüder oder der Menge je nach der Situation unterschieden 21 -, und er wird zu dem Ergebnis kommen, dass sie sich nicht nur im Rahmen des Zeit- und Gattungsüblichen hält, sondern auch dem Ziel der Unterhaltung untergeordnet bleibt 22 . Auch die parodistische Intention ist leicht zu erkennen, so wenn der Frate den Bösewicht Ciappelletto gemäß den Empfehlungen der neuen Beichtliteratur befragt und wenn dieser in seinem ‚Sündenbekenntnis‘ ein Selbstportrait entwirft, das das genaue Gegenteil seines wahren Portraits ist 23 , dafür aber dem neuen Modell des städtischen laizistischen Heiligen entspricht 24 . Die Möglichkeit des parodistischen Ver- 21 Während der Prior und die übrigen Brüder vom Erzähler als „creduli“ - und das bedeutet wohl auch: begierig, den Ruf ihres Klosters durch einen neuen Heiligen zu vermehren - bezeichnet werden (84), wird die Leichtgläubigkeit des frommen Frate gegenüber dem Sündenbekenntnis Ciappellettos entschuldigt: „e chi sarebbe colui che nol credesse, veggendo uno uomo in caso di morte dir cosí? “ (74) Bei der Predigt wird hingegen die Verantwortung dem Frate gegeben: „e in brieve con le sue parole, alle quali era dalla gente della contrada data intera fede, sí il mise nel capo e nella divozion di tutti coloro che v’erano […].“ (86) 22 Ó Cuilleanáin, Religion and the Clergy in Boccaccio’s Decameron, S. 263f. 23 An dieses komisch wirkende Gegen- und Nebeneinander zweier Sprechweisen, einer vergrößernden, hyperbolischen in Ciappellettos Charakterzeichnung durch den Erzähler und einer dagegen gesetzten verkleinernden (mit vorgetäuschter entgegengesetzter Vergrößerung) in der Selbstbezichtigung im Rahmen des Sündenbekenntnisses, knüpft Marga Cottino-Jones ihre Feststellung vom „comic paradox“ in I, 1 (An Anatomy of Boccaccio’s Style, Napoli 1968, S. 23-51). Es handelt sich hier jedoch eher um Parodie oder um Palinodie (Mazzotta, „The Decameron: The Marginality of Literature“, S. 136). 24 Siehe hierzu die erhellenden Ausführungen von C. Delcorno, „Studi sugli Exempla e sul Decameron. II: Modelli esemplari in tre novelle (I, 1, III, 8, II, 2)“, Studi sul Boccaccio Bd. 15/ 1985/ 86, S. 189-214, hier: S. 195ff. Zur Analyse der Beichte siehe auch Getto, „Struttura e linguaggio nella novella di ser Ciappelletto“, S. 54ff. <?page no="205"?> 205 ständnisses spiegelt sich auch in der Reaktion der Zuhörerinnen, die die Novelle loben und stellenweise sogar über sie „lachen“: „La novella di Panfilo fu in parte risa e tutta commendata dalle donne“ (I, 2, 2). Die religiöse Intention dagegen entbehrt solcher Augenfälligkeit. Sie muss vielmehr vom Erzähler erst explizit, ja gegen den gegenteiligen Eindruck plausibel gemacht werden. Dies geschieht in zwei Schritten. Zuerst in einer breit angelegten Einstimmung der Zuhörer auf die Erzählung, in welcher der Erzähler nach der schon zitierten Ankündigung derselben als „una delle sue maravigliose cose“ sich des längeren über die Mittlerrolle der Heiligen zwischen der Gnade Gottes und den Menschen auslässt: La quale [la grazia di Dio] a noi e in noi non è da credere che per alcun nostro merito discenda, ma dalla sua propria benignità mossa e da’ preghi di coloro impetrata che, sí come noi siamo, furon mortali, e bene i suoi piaceri mentre furono in vita seguendo ora con Lui eterni son divenuti e beati. Alli quali noi medesimi, sí come a procuratori informati per esperienza della nostra fragilità, forse non audaci di porgere i prieghi nostri nel cospetto di tanto giudice, delle cose le quali a noi reputiamo oportune gli porgiamo. (4) Dabei lässt Gott in seinem unerforschlichen Ratschluss seine Barmherzigkeit auch dann walten, wenn der Mensch den falschen Fürsprecher gewählt hat 25 : E ancor piú in Lui, verso noi di pietosa liberalità pieno, discerniamo, che, non potendo l’acume dell’occhio mortale nel segreto della divina mente trapassare in alcun modo, avvien forse tal volta che, da oppinione ingannati, tale dinanzi alla sua maestà facciamo procuratore che da quella con eterno essilio è iscacciato. E nondimeno Esso, al quale niuna cosa è occulta, piú alla purità del pregator riguardando che alla sua ignoranza o allo essilio del pregato, cosí come se quegli fosse nel suo cospetto beato, essaudisce coloro che ’l priegano. (5) Dies ist ein deutlicher Hinweis auf den anstößigen Punkt der Novelle, gegen den der Erzähler sich vorsichtshalber schon einmal absichert: Il che manifestamente potrà apparire nella novella la quale di raccontare intendo: manifestamente, dico, non il giudicio di Dio ma quel degli uomini seguitando. (6) 25 Auf eine öffentliche Disputation des Thomas von Aquin zum Thema der Heiligenverehrung mit einem noch deutlich kirchengläubigeren Ton weist Kurt Flasch (Giovanni Boccacccio. Poesie nach der Pest. Der Anfang des Decameron, italienisch-deutsch, Mainz 1992, S. 143ff.) hin. <?page no="206"?> 206 Den zweiten Teil seiner religiösen Auslegung gibt er, nachdem er die Novelle beendet hat. Und zwar stellt er zunächst Vermutungen darüber an, ob Ciappellettos Seele gerettet worden sei, was er zwar für möglich, aber wenig wahrscheinlich hält: Cosí adunque visse e morí ser Cepparello da Prato e santo divenne come avete udito. Il quale negar non voglio esser possibile lui esser beato nella presenza di Dio, per ciò che, come che la sua vita fosse scellerata e malvagia, egli poté in su lo stremo aver sí fatta contrizione, che per avventura dio ebbe misericordia di lui e nel suo regno il ricevette: ma per ciò che questo n’è occulto, secondo quello che ne può apparire ragiono, e dico costui piú tosto dovere essere nelle mani del diavolo in perdizione che in Paradiso. (89) Es entspricht kirchlicher Erlösungslehre, dass die Seele bis zuletzt die Möglichkeit zur Umkehr und Rettung hat. Dante etwa hat dieser Lehre in den Schicksalen des Manfredi (Purg. III, 121ff.) und des Buonconte da Montefeltro (Purg. V, 100ff.) Gestalt verliehen 26 . Im Falle Ciappellettos leugnet der Erzähler jedoch die Rettung im letzten Augenblick, um gerade daraus seine Schlussfolgerung für die Bedeutung des Erzählten zu ziehen: E se cosí è, grandissima si può la benignità di Dio cognoscere verso noi, la quale non al nostro errore, ma alla purità della fé riguardando, cosí faccendo noi nostro mezzano un suo nemico, amico credendolo, ci essaudisce, come se a uno veramente santo per mezzano della sua grazia ricorressimo. (90) Dies knüpft zwar folgerichtig und in verkürzter Form an die Einführung der Novelle an, ist aber dennoch nach deren Verlauf eine überraschende Änderung der Blickrichtung vom Protagonisten und seinem genüsslich geschilderten Betrug auf die irrtümlich seine Fürbitte Erflehenden, die in der Ezählung eine ganz untergeordnete Rolle gespielt hatten, ja deren „purità della fé“ eher als eine Art religiösen Massenwahns erschienen war. Und es ist zugleich eine paradoxe Deutung, denn die Aufforderung, in Wundern, die im Namen eines Verdammten geschehen und die somit eher ein Versagen der göttlichen Weltordnung anzeigen, gerade die unermessliche Güte Gottes am Werk zu sehen, ist eine Aufforderung zu nem paralogischen Schluss. Auch eine auf den Protagonisten zen- 26 Auf diese Parallelen verweist Branca im Kommentar, S. 70, Anm. 3. Das neutestamentliche Urbild ist die Bekehrung des Schächers am Kreuz (Lk. 23, 42f.). <?page no="207"?> 207 trierte Deutung wäre übrigens paradox gewesen, ja sie hätte zu einem klassischen theologischen Paradox - dem Widerspruch zwischen Allmacht und Erlösungswillen Gottes einerseits und schuldhafter Zurückweisung dieses Willens durch den Menschen andererseits 27 - Anlass geben können. Aus dem theoretisch-theologischen Bereich solcher Erörterungen verschiebt der Perspektivenwechsel das Paradox also in den näherliegenden Bereich der religiösen Lebenspraxis der Zuhörer, die gleich den Bittflehenden der Novelle auf eine Erhörung ihrer in gutem Glauben vorgetragenen Bitten hoffen dürfen, auch wenn ihnen dabei ein im normalen Leben folgenschwerer Irrtum unterlaufen sollte: „facendo noi nostro mezzano un suo nemico, amico credendolo“ 28 . Und der Erzähler bezieht auch gleich die gegenwärtigen Notzeiten in seine Schlussfolgerung ein: E per ciò, acciò che noi per la sua grazia nelle presenti avversità e in questa compagnia cosí lieta siamo sani e salvi servati, lodando il suo nome nel quale cominciata l’abbiamo, Lui in reverenza avendo, ne’ nostri bisogni gli ci raccomanderemo, sicurissimi d’essere uditi. (91) Der Hinweis auf die lebensbedrohende Pest („nelle presenti avversità“) lässt keinerlei Zweifel an der Ernsthaftigkeit der religiösen Sinngebung der Novelle durch den Erzähler Panfilo. Dass eine solche Deutung wiederum nur durch ein Paradoxon möglich wird, ist angesichts des paradoxen Geschehens der Novelle nicht verwunderlich 29 - umso weniger auch, als das Paradox als Denkform, die die 27 Zu diesem unausweichlichen Paradox der ‚Gnadenwahl‘ Gottes oder des Menschen als eines ‚simul iustus et peccator‘ siehe W. Joest, „Zur Frage des Paradoxon in der Theologie“, in: Dogma und Denkstrukturen. Festschrift für Edmund Schlinck, hrsg. von W. Joest und W. Pannenberg, Göttingen 1963, S. 116-151, hier: S. 146ff. 28 Die Antithese unterstreicht das Paradox. 29 Auch Deutungen von der Art „Ciappelletto vincitore del suo duello dialettico con il frate, è vinto nel cospetto di Dio“ (G. Padoan, „Mondo aristocratico e mondo comunale nell’ideologia e nell’arte di Giovanni Boccaccio“, Studi sul Boccaccio Bd. 2/ 1964, S. 81-216, hier: S. 164) sind letztlich Paradoxa, nicht anders als die Redensart ‚Gott schreibt auch auf krummen Linien gerade‘, auf die man das Novellengeschehen auch reduzieren könnte. <?page no="208"?> 208 Aufmerksamkeit auf wesentliche und neue Einsichten zu lenken vermag, in der religiösen Rede einen festen Platz hat 30 . 4. Novellenerzählen im Namen des Herrn Wie ernst ist es aber dem Autor Boccaccio mit dem religiösen Sinn seiner ersten Novelle? Welches Redemuster hat er vor Augen, und wie lässt sich generell der religiöse Sinn mit dem Konzept der Novelle als einer der Unterhaltung dienenden geselligen Redeform vereinbaren? Auch wenn es aus grundsätzlichen Erwägungen immer ratsam ist, die Positionen des Erzählers und des Autors auseinander zu halten, erübrigt sich im Fall der Novelle I, 1 eine solche Unterscheidung, weil nicht zu erkennen ist, was die Meinung des Autors derjenigen des Erzählers an Wesentlichem noch hinzufügen sollte. Man darf daher wohl Auslegung und Meinung des Erzählers Panfilo als Auslegung und Meinung des Autors Boccaccio nehmen - als eine unter den zahlreichen und vielfältigen, denen er im Decameron durch seine Erzähler Ausdruck verleiht. Über die Novelle hinausgehend bleibt jedoch zu fragen, warum der Autor Boccaccio seinen Novellenzyklus mit einer religiösen Erzählung beginnt und warum er ihn mit wenigstens einer weiteren solchen in I, 2 fortsetzt. 30 Zur Debatte über das Paradox als theologische Denkform siehe Schröer, Die Denkform der Pardoxalität als theologisches Problem sowie Joest, „Zur Frage des Paradoxon in der Theologie“. - Auch die Parabel vom betrügerischen Verwalter, an die mehrere Deutungen angehängt sind, über deren Zugehörigkeit zum ursprünglichen Text gestritten wird, gibt zu paradoxen Folgerungen Anlass (Lk. 16, 9-12); erst im letzten Satz (13) liegt der religiöse Sinn klar auf der Hand. Moderne Deutungen dieses im Neuen Testament einmaligen und verwirrenden Textes sehen in ihm einen Verweis auf die Notwendigkeit entschlossenen Handelns des Menschen angesichts der eschatologischen Krise (P. Dschulnigg, Rabbinische Gleichnisse und das Neue Testament. Die Gleichnisse der PesK im Vergleich mit den Gleichnissen Jesu und dem Neuen Testament, Frankfurt a.M. 1988, S. 345 und S. 348f.) oder ein Bild der „unendliche[n] Freiheit Gottes“, der mit dem Menschen „sein göttliches ‚Spiel‘ treibt“, und, im Gegenzug, der „freien Selbstverfügung als d[er] dem Gottesreich allein gemäße[n] Haltung“ des Menschen (E. Biser, Die Gleichnisse Jesu. Versuch einer Deutung, München 1965, S. 108). <?page no="209"?> 209 Der Beginn eines Werkes im Namen des Herrn ist eine Konstante mittelalterlicher Literatur. Da Boccaccio sich in seinem „Proemio“ zum Decameron als ein aus Liebesstürmen geretteter Erz ler ausgibt, der aus Dankbarkeit für den einst von einem Freund empfangenen Trost anderen, und zwar „verliebten Frauen“, beistehen möchte - womit er in einer höfisch-mondänen Rolle auftritt -, holt der Erzähler Panfilo diesen bis dahin fehlenden Beginn im Namen des Herrn gewissermaßen für ihn nach 31 . Darüber hinaus haben die mittelalterlichen Exemplasammlungen, in deren Fahrwasser sich das Decameron bewegt, oft eine religiös bestimmte Anordnung 32 . Ausschlaggebend für Boccaccio dürfte aber das Vorbild der Facta et dicta memorabilia des Valerius Maximus gewesen sein, denen auch Petrarca in Rerum memorandarum libri nachgeeifert und von denen Boccaccio in den Jahren um 1340 eine Übersetzung angefertigt hatte 33 , die sicher nicht ohne Einfluss auf seinen späteren Entschluss geblieben ist, eine eigene Sammlung von erinnerungswürdigen Geschichten - eben das Decameron - zu verfassen. Von den neun Büchern der Facta et dicta memorabilia ist das erste religiösen Dingen wie kultischen Handlungen - darunter solchen, die vorgetäuscht werden 34 -, Vorzeichen, Träumen und Wundern gewidmet. Im Decameron entsprechen dem die Novellen 1-2 bzw. 3 des ersten Tages. Für den komplexen Anfang des Decameron waren also drei literarische Traditionen vorbildlich: die mittelalterliche Exemplatradition, 31 Ich teile nicht die Auffassung von Flasch (Giovanni Boccaccio. Poesie nach der Pest, S. 121ff.), dass man in dem Wort „nome“ der Wendung „dallo ammirabile e santo nome di Colui, il quale di tutto fu facitore“ eine direkte Anspielung auf den Ockhamschen Nominalismus zu sehen hat. Wohl aber scheint es plausibel, die von diesem ausgehende Problematisierung der Sprache als allgemeinen philosophischen Hintergrund für die Novelle in Betracht zu ziehen, überzeugender jedenfalls als die moderne Deutung im Sinne literarischer Autoreferentialität. 32 Beispielsweise folgt die Anordnung im Dialogus magnus visionum et miraculorum des Caesarius von Heisterbach den Stationen eines christlichen Lebens; in der Disciplina clericalis des Petrus Alfonsi sind Anfang und Ende durch Exempla mit religiöser Thematik hervorgehoben. 33 Siehe M. T. Casella, Tra Boccaccio e Petrarca. I volgarizzamenti di Tito Livio e di Valerio Massimo, Padova 1982. 34 Diese Exempla sind nur in den Auszügen der spätantiken Epitomatoren Iulius Paris und Ianuarius Nepotianus überliefert. <?page no="210"?> 210 die Tradition der mittelalterlichen höfischen Literatur und die antike literarische Tradition. Was nun die Vereinbarkeit von geselligem Novellenerzählen und religiöser Rede angeht, so ist diese etwa im Novellino noch so selbstverständlich gegeben, dass dessen Verfasser seine „fiori di parlare, di belle cortesie e di belli risposi e di belle valentie, di belli donari e di belli amori“, kurz die Kunst des ‚bel parlare‘ und des ‚schönen Handelns‘, ganz selbstverständlich an Jesu Wandeln und vor allem Reden auf Erden anschließen konnte 35 . Dies ist nicht mehr Boccaccios Position, der ein viel zu differenziertes Bewusstsein von der Unterschiedlichkeit und Eigenart der Redeformen hatte und tief vom Eigenwert der Dichtung überzeugt war. In der Form des Paradoxons, das geistreich und uneindeutig ist und nicht notwendig zur Annahme der religiösen Aussage zwingt, konnte aber auch er sich die religiöse Rede zu eigen machen und zugleich den Anspruch auf gesellige Unterhaltung durch Parodie und Satire religiöser Rede- und Lebensformen wahren 36 . Das unvermittelte Nebeneinander von nach Herkunft und Zweck unterschiedlichen Rede- und Lebensformen, dem wir auch in den weiteren Novellen in verschiedenerlei Gewand immer wieder begegnen, gibt Zeugnis von der großen kulturellen Vielfalt und der ungeheuren Spannung, die Autor und Publikum des Decameron in einem fruchtbaren Moment der italienischen Geistes- und Literaturgeschichte auszuhalten vermochten. 35 Siehe den Anfang des Prologs: „Quando lo Nostro Signore Gesù Cristo parlava umanamente con noi, in fra l’altre sue parole ne disse che dell’abondanza del cuore parla la lingua.“ (Il Novellino, hrsg. von G. Favati, Genova 1970, S. 117) 36 Darum ist auch I, 2 eine paradoxe religiöse Erzählung: der Jude Abraham bekehrt sich zum Christentum, nachdem er die Verderbnis am päpstlichen Hof mit eigenen Augen gesehen und erkannt hat, dass die christliche Religion dennoch blüht und gedeiht; er verblüfft damit seinen christlichen Freund, „il quale aspettava dirittamente contraria conclusione a questa“ (28). Eine zusätzliche paradoxe Deutung des Erzählers ist hier unnötig, wie auch die antiklerikale Satire viel ausgeprägter ist als in I, 1. Die Novelle I, 3, mit der bekannten Ringparabel, die wir wohl auch noch der religiösen Thematik zurechnen würden, wird von der Erzählerin Filomena nach einem strengeren Maßstab jedoch nicht mehr so eingeordnet: „Per ciò che già e di Dio e della verità della nostra fede è assai bene stato detto, il discender oggimai agli avvenimenti e agli atti degli uomini non si dovrà disdire […].“ (3) <?page no="211"?> 211 Literaturverzeichnis Texte Andreas Capellanus, De amore libri tres, hrsg. von E. Trojel, Kopenhagen 1892, Nachdruck München 1964 ( 2 1972). Biographies des troubadours. Textes provençaux des XIII e et XIV e siècles, hrsg. von Jean Boutière, Alexander H. Schutz und J.-M. Cluzel, Paris 1964. Boccaccio, Giovanni, Decameron, hrsg. von Vittore Branca (Einaudi tascabili. Classici), Torino 14 2008 ( 1 1980). Ders., Filocolo, hrsg. von Antonio Enzo Quaglio, in: Tutte le opere di Giovanni Boccaccio, hrsg. von Vittore Branca, Bd. 1, Milano 1967, S. 61-675. 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