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Das Anti-Glücksbuch

Warum uns das Glück kein Glück bringt

0912
2012
978-3-7720-5454-9
978-3-7720-8454-6
A. Francke Verlag 
Georg Römpp

Haben Sie auch genug von Lebensratgebern, die uns den kürzesten Weg zum Glück zeigen wollen? Hier kommt endlich das Kontrastprogramm: Georg Römpp zeigt, warum der Wunsch, glücklich zu sein die Quelle von viel Unglück ist: Wir sind so damit beschäftigt dem Glück hinterher zu rennen, dass wir die kleinen Zufriedenheiten und Freuden im Alltag und im Augenblick überhaupt nicht mehr wahrnehmen und genießen können. Warum wird der Popanz des großen Glücks dennoch weiter angebetet? Weil eine ganze Industrie von Besserwissern und >>Mach dich locker<<-Ideologen daran verdient und ihre Weisheiten unters Volk bringen möchte. Aber nun wird aufgeräumt mit der Glücksdiktatur - philosophisch, psychologisch und politisch. Das Glück hat uns kein Glück gebracht. also weg damit! Ein unterhaltsam geschriebenes Buch für Querdenker, die bereit sind, das Selbstverständliche in Frage zu stellen.

<?page no="0"?> DAS ANTI - GLÜCKS BUCH G E O R G R Ö M P P <?page no="1"?> Das Anti-Glücksbuch <?page no="3"?> Georg Römpp DAS ANTI-GLÜCKSBUCH Warum uns das Glück kein Glück bringt <?page no="4"?> Dr. Georg Römpp, Jahrgang 1950, studierte Volkswirtschaftslehre, Politikwissenschaft und Philosophie in Tübingen und Bonn; Promotion in Philosophie in Bonn, zahlreiche Veröffentlichungen in Fachzeitschriften und Autor mehrerer Sach- und Studienbücher, darunter „Kant leicht gemacht. Eine Einführung in seine Philosophie“ (2. Auflage 2007), „Der Geist des Westens“ (2009) und „Ludwig Wittgenstein. Eine philosophische Einführung“ (2010). Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. www.francke.de ∙ E-Mail: info@francke.de Einbandgestaltung: Peter Lohse, Büttelborn Satz: typoscript, Walddorfhäslach Printed in the EU ISBN 978-3-7720-8454-6 <?page no="5"?> 5 Inhalt Worum es geht - und worum nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Warum man beim Glück nicht gleich zur Sache kommen kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.1 Wie wir von Glückssachen sprechen können . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.2 Warum wir uns fragen sollten, ob der Begriff ‚Glück‘ nützlich ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2. Eine ganz kurze Geschichte des Begriffs ‚Glück‘ . . . . . . . . . . . . . 25 2.1 Ein Geschenk der Götter verwandelt sich in das Glück im Jenseits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.2 Ein kalkulierbares Vergnügen wird zum Glück des Individuums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.3 Warum uns die Geschichte des Glücksbegriffs zur Frage nach seinem Nutzen führt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2.4 Wie wir den Begriff ‚Glück‘ aus der Perspektive der Lebenskunst abgrenzen können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 3. Warum wir im Streben nach Glück die falsche Richtung auf’s Ganze einschlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 3.1 Mit dem Glück soll es um’s Ganze gehen, obwohl das Leben aus Einzelheiten besteht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 3.2 Wir sehen unser Leben aus der Vogelperspektive, aus der wir es nicht leben können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3.3 Wir wollen im Glück keine Kontraste und würden uns deshalb bald langweilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3.4 Aus der Glücksperspektive erscheint uns alles Leiden als Unglück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 4. Warum wir im Streben nach Glück das Wirkliche und Individuelle überspringen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 4.1 Mit dem Glück suchen wir das Allgemeine und verlassen das wirkliche Erleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 4.2 Es geht uns damit um die große Einheit, obwohl wir doch viele sind und vieles wollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 4.3 Wir stellen uns ein Leben ohne Dynamik vor, das niemand haben möchte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 4.4 Mit der Glücksvorstellung beginnen wir in Phantasien von ‚hätte‘ und ‚würde‘ zu leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 <?page no="6"?> 6 5. Warum wir im Streben nach Glück mit den falschen Gewichten wiegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 5.1 Mit der Vorstellung ‚Glück‘ wollen wir das Leben messen, bewerten und vergleichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 5.2 Wir versuchen die Leben verschiedener Menschen gleichnamig zu machen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 5.3 Wir versuchen zu bilanzieren und machen das eigene Leben gleichförmig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 5.4 Der Glücksbegriff bringt uns auf den Gedanken, wir könnten erst als Zombies glücklich sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 6. Warum wir im Streben nach Glück alles Anderssein und Anderswerden gefährden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 6.1 Wir beurteilen das Glück anderer Menschen und setzen uns damit an ihre Stelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 6.2 Wir unterwerfen uns dem Zwang zum Glück und üben ihn selbst aus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 6.3 Durch die Glücksvorstellung lassen wir unser Leben durch fremde Perspektiven leiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 6.4 Die Glücksperspektive macht es uns schwer, neu zu beginnen und anders zu werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 7. Warum wir im Streben nach Glück nach einem falschen Selbst suchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 7.1 Wir streben mit der Glücksvorstellung nach Selbstbestimmung, aber können wir wissen, was das ist? . . . . . . . . . . . 147 7.2 Aus der Glücksperspektive vergessen wir, dass von einem Selbst nur in konkreten Situationen die Rede sein kann . . . . . . . 151 7.3 Im Streben nach Glück halten wir uns an falsche und zu allgemeine Vorstellungen von Selbstbestimmung . . . . . . . . . . 157 7.4 Mit der Glücksperspektive neigen wir ohne Not zu einem therapeutischen und psychologistischen Selbstverständnis . . . 164 8. Warum wir im Streben nach Glück unsere Freiheit gefährden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 8.1 Wir folgen einer falschen Vorstellung von Freiheit und vergessen, dass wir ihre Spielräume selbst erschaffen müssen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 8.2 Erst jenseits der Glücksperspektive können wir uns frei aneignen, was die Zeit und ihre Moden uns bieten . . . . . . . . . . . . 177 8.3 Der Glücksbegriff macht es uns schwer, die Situation unserer Freiheit zu erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 8.4 Die konkreten Freiheiten finden wir, indem wir die Welt nicht unter dem Zwang der Glücksvorstellung umdeuten . . . . . 188 <?page no="7"?> 7 9. Fazit: Warum das Streben nach Glück der Kunst des Lebens widerspricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 9.1 Warum die Suche nach Glück nicht glücklich macht und wir besser auf sie verzichten sollten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 9.2 Wie wir von der Glücksperspektive zur Kunst des Lebens kommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 <?page no="9"?> 9 Worum es geht - und worum nicht Es ist nur fair, dem Leser/ der Leserin gleich zu sagen, was er/ sie nicht erwarten sollte. In diesem Buch wird nicht erklärt, wie man glücklich sein muss. Es wird auch niemandem vorgeschrieben, was man tun muss, um den Glücksvorstellungen des Autors zu entsprechen. Wen nach solchen Anleitungen gelüstet, der findet auf dem großen Markt der Bücher von Glücksautoren genügend Material. Allerdings könnte es nützlich sein, einen Tipp von Friedrich Nietzsche zu berücksichtigen: „Dem Individuum, sofern es sein Glück will, soll man keine Vorschriften über den Weg zum Glück geben: denn das individuelle Glück quillt aus eigenen, jedermann unbekannten Gesetzen, es kann mit Vorschriften von Außen her nur verhindert, gehemmt werden.“ Was erwartet werden kann, ist also etwas ganz anderes, das aber - hoffentlich - mehr Unglück verhindert, als dies mit Glücksanleitungen welcher Art auch immer möglich wäre. Es geht um einige ziemlich einfache Gedanken, die bei der Frage nach dem Glück meistens vergessen werden. Dieses Buch entstand aus zwei Beobachtungen. Am Anfang war die Erfahrung, dass Menschen, denen es besonders wichtig ist, glücklich zu sein, in der Regel sehr unglücklich sind. Natürlich liegt der Gedanke nahe, das gehe darauf zurück, dass sie das Fehlen dieser ‚Sache‘ besonders intensiv empfinden, so wie der Durstige nur noch an Getränke denkt und der Drogensüchtige an Heroin. Ich glaube nicht, dass es sich so verhält, obwohl es das in Einzelfällen auch geben mag. In der Regel verhält es sich genau umgekehrt. Die Glückssucher hatten sich zuvor selbst das Leben schwer gemacht, weil sie aus irgendeinem dunklen Grunde glaubten, nach so etwas wie Glück streben und dieses Streben zum wichtigsten Inhalt ihres Lebens machen zu müssen. Mit dem Glück als Ziel des Strebens scheint also etwas nicht zu stimmen. Vielleicht ist das nicht nur bei einigen Menschen so, sondern möglicherweise zeigt sich darin eine allgemeine Einsicht? Vielleicht ist es ja grundsätzlich falsch und schadet uns, wenn wir nach Glück suchen? Heißt das aber, dass wir uns resignierend mit dem Unglück abfinden und auf alles Begehren verzichten sollten? Das gerade ist nicht gemeint. Im Folgenden wird weder Verzicht gepredigt noch zur Resignation angeleitet. Wir können nach allem Möglichen streben und vieles davon erreichen und unseren Spaß damit haben. Aber auch die beste Lebenskunst wird wenig Erfolg haben, wenn wir uns ‚das Glück‘ zum Ziel setzen. Die zweite zum Staunen anregende Beobachtung war, wie selbstverständlich wir davon ausgehen, dass es sich bei ‚Glück‘ um eine ‚Sache‘ in Vielleicht wirken viele Glückssucher gerade deshalb so unglücklich, weil sie nach Glück suchen? <?page no="10"?> 10 der Welt handelt, die im gleichen Sinne existiert wie andere Gegenstände in der Welt, so dass auch auf die gleiche Art über sie gesprochen werden kann - also etwa wie über Steine, Bäume oder Zwerghasen. Dabei ist doch in den meisten Fällen nicht einmal deutlich, von welcher Art diese ‚Sache‘ ist - ist sie ein Gefühl, ein Zustand oder ein Erlebnis, und gibt es das nur vorübergehend oder dauernd? Wenn man dann noch fragt, was denn im Einzelnen darunter verstanden wird, dann kommt man zu so vielen ganz unterschiedlichen Vorstellungen, dass man den Gedanken an eine einheitliche Sache bald aufgibt. Dennoch geht es für viele Menschen offenbar nur darum, wie ‚es‘ erreicht werden kann und wie man in den Zustand gelangen kann, in dem man ‚es‘ hat. Das Problem ist dann scheinbar prinzipiell dasselbe wie mit Zwerghasen. Hier muss man nur wissen, wie man einen bekommen kann und ihn möglichst artgerecht am Leben erhält, wenn man sich ein solch niedliches Tier halten will. Nur, leider, Glück ist kein niedliches und auch noch pflegeleichtes Tier. Wir lassen bei einer solchen Auffassung ganz außer Acht, dass es sich bei ‚Glück‘ zunächst um einen Begriff handelt. Diesen Begriff drücken wir sprachlich aus, so dass wir uns mit anderen Menschen verständigen können. Ein Begriff ist allerdings nicht identisch mit einem Wort. Über diese Unterscheidung gibt es eine nahezu uferlose Diskussion mit vielen Spitzfindigkeiten. Für unsere Zwecke können wir zunächst aber ganz einfach sagen: ein Begriff ist der Gedanke oder die Vorstellung oder auch die Idee, den oder die wir mit einem Wort ausdrücken wollen. Diesen Gedanken oder diese Vorstellung können wir prinzipiell auch mit einem anderen Wort zum Ausdruck bringen. Etwa können wir statt ‚Glück‘ auch sagen ‚happiness‘ oder ‚bonheur‘ und meinen so ungefähr dasselbe damit. Ob wir uns mit diesem Begriff oder dieser Vorstellung ‚Glück‘ aber wirklich auf eine ‚Sache‘ beziehen, die wir vernünftigerweise erstreben sollten, ist durch die bloße Tatsache, dass es ihn gibt und wir ihn verwenden, offenbar noch nicht gesagt. Vielleicht handelt es sich ja um einen Begriff, der in der Regel so verwendet wird, dass er uns gerade schadet und sich keineswegs als nützlich erweist? Und bezieht sich der Begriff ‚Glück‘ denn überhaupt auf einen Gegenstand, von dem wir sagen können, dass es ihn ‚gibt‘? Sollte es ihn nicht geben, so würde daraus allerdings nicht folgen, dass wir alle unglücklich sein müssen. Es könnte vielmehr sein, dass der Begriff ebenso wie sein Gegenteil (‚Unglück‘) ganz einfach falsch ist und deshalb beides nicht existiert - jedenfalls nicht so, wie es uns diese Begriffe nahelegen. Vielleicht gibt es ja nur Freude und Leid, Schmerz und Lust, Spaß und Langeweile und Vergnügen und Unannehmlichkeiten. Vielleicht Gibt es Glück wie andere Dinge in der Welt und können wir darüber so reden und denken wie über Zwerghasen? ‚Glück’ ist zunächst ein Begriff; und bei allen Begriffen sollten wir uns fragen, ob sie richtig und nützlich sind. <?page no="11"?> 11 machen wir uns mit einem Begriff wie ‚das Glück‘ nur unnütze Probleme, die unsere Freude am Leben ernsthaft beeinträchtigen können. Die Sache wird noch komplizierter, wenn wir berücksichtigen, dass kaum zwei Menschen sich bei dem Begriff ‚Glück‘ dasselbe denken, wenn man genauer nachfragt. Das erkennt man allerdings oft erst dann, wenn das Aufsagen der sogenannten ‚sozial erwünschten‘ Antworten zu Ende ist. Wenn uns ein Unbekannter über unsere privaten Ansichten befragt, dann antworten wir in der Regel so, dass wir uns möglichst gut darstellen und einen guten Eindruck machen. Das ist für ein in Gesellschaft lebendes Wesen, wie wir es sind, eine praktische und naheliegende Reaktion. Schließlich müssen wir auf beschränktem Raum mit anderen Menschen auskommen und sehr individuelle Ansichten könnten das beträchtlich erschweren. Ob wir das, was wir sagen, auch wirklich meinen, ist aber eine ganz andere Frage. Wenn wir uns alle aber etwas ganz Verschiedenes vorstellen, wenn wir das Wort ‚Glück‘ hören, dann wird es schwierig, einfach von Glück zu reden und darüber etwas zu sagen, was alle oder die meisten oder wenigstens viele angeht. Aber auch wenn wir dieses Problem auf sich beruhen lassen wollen, so bleibt doch die praktische Schwierigkeit bestehen. Bevor wir darüber vernünfteln, wie man ‚es‘ denn erreichen könne, sollten wir auf jeden Fall zunächst fragen, ob es sich dabei überhaupt um ein vernünftiges Ziel handelt, das anzustreben uns wirklich nützt und nicht vielleicht mehr Schaden als Nutzen anrichtet. Marilyn Monroe bemerkte in dem Film ‚Blondinen bevorzugt‘ zu ihrer von Jane Russell gespielten Freundin: „Ich möchte, dass Du Glück findest und aufhörst, Spaß zu haben.“ Wenn wir den Zustand des Glücks damit bezahlen, dass wir keinen Spaß mehr haben können, dann ist es möglicherweise eine klügere Entscheidung, in erster Linie nach Spaß, Freude, Vergnügen, Lust und anderen angenehmen Erlebnissen und Gefühlen zu suchen, und die Suche nach Glück auf sich beruhen zu lassen. Friedrich Nietzsche war übrigens sogar der Meinung, dass kein Mensch nach Glück strebt und wenn doch, dann ist dieser Mensch nicht gerade in bester Verfassung: „Das Begehren nach ‚Glück‘ charakterisiert die halb- oder nicht geratenen Menschen, die ohnmächtigen - alle andern denken nicht an’s ‚Glück‘, sondern ihre Kraft will heraus.“ Der Maler Paul Klee dagegen sah das Streben nach Glück mehr von der komischen Seite: „Der Glückliche, das ist ein halber Idiot, dem alles gedeiht und Früchte trägt. Steht auf seinem kleinen Besitz, die eine Hand hält die Gießkanne, die andere zeigt auf sich selber, als den Nabel der Welt. Es grünt und blüht. Von Früchten schwere Zweige neigen sich auf ihn.“ In Aldous Huxleys Buch ‚Schöne neue Welt‘ gibt es sogar eine Stelle, an der jemand gegen die Diktatur des Glücks aufbegehrt und das Recht auf Unglück als ein Menschenrecht fordert. So weit müssen wir nicht unbe- Dass Menschen nach Glück streben, ist nicht so selbstverständlich, wie es zunächst aussieht. <?page no="12"?> 12 dingt gehen. Aber es scheint doch nicht ganz selbstverständlich zu sein, dass wir alle nach Glück streben und uns nur darum kümmern müssen, wie wir ‚es‘ am besten und schnellsten erreichen können. Vor allem aber ist es nicht selbstverständlich, dass es sich um einen richtigen und nützlichen Begriff handelt. Vielleicht hindert er uns gerade daran, dass wir besser, angenehmer und gelungener leben. In diesem Buch wird behauptet, dass ‚das Glück‘ ein vollkommen überflüssiger und sogar schädlicher Begriff ist. Das gilt jedenfalls dann, wenn man sich ‚das Glück‘ als Ziel setzt und ‚das Glück‘ als Sinn des Lebens anstreben will. ‚Glück‘ ist dann nichts anderes als ein alter Irrtum mit großen und schädlichen Folgen. Wir werden also verschiedene negative Folgen untersuchen, die sich in der Regel dann einstellen, wenn man sich mithilfe dieses Begriffes versteht. Vor allem wird es darum gehen, dass das wirkliche und individuelle Erleben dadurch nicht positiv beeinflusst, sondern gerade beeinträchtigt wird. Es wird sich zeigen, dass Glück kein vernünftiges Ziel des menschlichen Strebens darstellen kann. Dass dieser Begriff nicht sinnvoll und nützlich ist, bezieht sich aber in erster Linie auf seine Verwendung als Kriterium für die Bewertung und Beurteilung des Lebens und als Anleitung für die Orientierung des Strebens. Nichtsdestoweniger kann es daneben doch sinnvoll sein, diesen Ausdruck als Bezeichnung für ein bestimmtes Phänomen zu verwenden. Es geht also auch darum, den Begriff ‚Glück‘ auf seine sinnvolle Verwendung einzuschränken und ihn damit von seiner unsinnigen und schädlichen Verwendung zu befreien. In der sinnvollen Verwendung meinen wir mit ihm das, was man auch als ‚Glücksmoment‘ oder ‚Glückserlebnis‘ bezeichnet. Das ist offensichtlich etwas ganz anderes als ‚das Glück‘. Mit letzterem ist ein ganz besonderer Zustand des ganzen Lebens gemeint, als Glücksmomente dagegen bezeichnen wir ganz besondere Gefühle oder Empfindungen oder Erfahrungen. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass sie im positiven Sinne über das hinausgehen, was wir sonst an Schönem und Angenehmem erleben. Sie unterscheiden sich davon vor allem durch ihre Intensität. Es kann aber auch sein, dass wir darin qualitativ etwas anderes erleben als in Erfahrungen von Freude, Vergnügen, Spaß oder Lust. Meistens geht es dann um ein Gefühl umfassender Richtigkeit, in dem Zustände von Unzufriedenheit, Schmerz oder Unlust ganz einfach nicht mehr vorhanden sind. Wir wissen vielleicht noch, dass wir solche Zustände erlebt haben, aber das zählt in einem Glücksmoment nicht mehr. Niemand wird in Abrede stellen wollen, dass ‚Glück‘ in diesem Verständnis sinnvoll als ein beschreibender Begriff verwendet werden kann, Vielleicht ist die Vorstellung ‚Glück’ nur ein alter Irrtum mit großen und schädlichen Folgen für unser Leben? Von Glücksmomenten oder -erlebnissen können wir sinnvoll sprechen … <?page no="13"?> 13 mit dem wir etwa in der Rückschau bestimmte Gefühle oder Erlebnisse bezeichnen. Eine ganz andere Frage ist es aber, ob es hilfreich oder nicht vielleicht sogar schädlich ist, wenn wir ‚das Glück‘ als einen Maßstab gelten lassen, mit dem wir über solche Empfindungen und Erlebnisse hinaus unser ganzes Leben oder sogar das anderer Menschen bewerten, und den wir darüber hinaus als Orientierung für unser Tun und Lassen in der Zukunft und in unserem ganzen Leben verwenden wollen. Wenn wir von Glück in diesem Sinn sprechen, so meinen wir offensichtlich etwas ganz anderes als dann, wenn wir nur einzelne Glückserlebnisse und Glücksgefühle damit bezeichnen. Wir sprechen dann etwa davon, dass unser Leben bisher glücklich - oder unglücklich - war, dass der eine glücklicher ist als der andere und wir selbst doch glücklicher - oder unglücklicher - sind als der andere. Wir können auch ‚das Glück‘ zum Ziel unseres ganzen Lebens machen und dann nach Mitteln und Wegen suchen, um ‚das Glück‘ zu erreichen. Auch in solchen Ausdrücken meinen wir in der Regel nicht Glücksmomente oder Glücksgefühle. Das wäre schon deshalb nur schwer möglich, weil solche ganz besonderen Gefühle nur schwer durch unsere Bemühungen erzeugt werden können. In der Regel kommen sie über uns, ohne dass wir sie geplant und erstrebt hätten. Vermutlich ist es sogar eine der Besonderheiten von Glücksgefühlen, dass wir sie nicht durch unsere gezielten Anstrengungen herbeizwingen können. Wir können vielleicht einige Bedingungen dafür herstellen, aber es gibt keinen Schalter, mit dem wir dieses Licht einfach aufleuchten lassen könnten. In diesem Buch geht es also nicht um Glück im Sinne von Glücksmomenten oder Glücksgefühlen oder Glückserlebnissen oder Glückserfahrungen. Es geht vielmehr um die Vorstellung ‚das Glück‘. Einen solchen Ausdruck verwenden wir ganz anders als die Begriffe, mit denen wir uns auf Glückserlebnisse beziehen. Es geht dabei nicht um einzelne - wenn auch besonders intensive - Gefühle, sondern um einen ganz besonderen Zustand, der sich von allen anderen Zuständen unterscheiden soll, in denen wir gewöhnlich leben. Es wäre ein Irrtum, wollten wir ‚das Glück‘ als eine ununterbrochene Abfolge von Glücksgefühlen auffassen. Das ist mit dieser Vorstellung nicht gemeint. Außerdem werden wir noch sehen, dass eine solche Kontinuität von Glückserlebnissen genau das nicht bieten könnte, was wir uns meistens unter dem Zustand des Glücks vorstellen. Wir sprechen von einem solchen Zustand vor allem in zwei Zusammenhängen. Zum einen beurteilen und bewerten wir unser eigenes und das Leben anderer Menschen danach, ob und wie sehr dieser Zustand in ihm verwirklicht ist bzw. wie nahe wir ihm kommen oder gekommen sind. Zum anderen verwenden wir … aber wir sollten nicht nach etwas so Allgemeinem wie ‚dem Glück’ streben und das Leben damit bewerten. Wir sollten uns fragen, ob die Kunst des Lebens so etwas wie das Glück und nicht nur Glückserlebnisse braucht. <?page no="14"?> 14 Ausdrücke wie ‚das Glück‘ als Bezeichnung für das Ziel unserer Anstrengungen in dieser Welt - ‚Glück‘ ist in diesem Sinne hauptsächlich ein Begriff für das, was wir im Leben anstreben. Es geht in diesem Buch um diesen Begriff und diese Vorstellung, den und die wir stets von jener Vorstellung unterscheiden sollten, wie wir sie in Ausdrücken wie ‚Glücksmomente‘ o. ä. verwenden. Wir werden in diesem Buch deshalb darüber nachdenken, was es mit sich bringt, wenn wir unser eigenes Leben und das anderer Menschen mithilfe der Vorstellung ‚Glück‘ beurteilen und unser Streben an dieser Idee orientieren. Im Folgenden werden einige Zweifel daran geweckt, dass wir auf diese Weise das Richtige für unser Leben tun. Es wird auf den Vorschlag hinauslaufen, auf ein Streben nach Glück besser zu verzichten und uns statt dessen an sinnvolleren Zielen zu orientieren wie etwa Freude, Spaß, Vergnügen oder Lust - je konkreter und individueller, desto besser. Hier können wir mit guten Aussichten auf Erfolg die Kunst des Lebens einsetzen, mit der wir in der Regel viel mehr erreichen, als wenn wir unsere Bemühungen durch die Vorstellung ‚das Glück‘ leiten lassen. Wir werden sehen, dass der Begriff ‚Glück‘ falsch ist wegen seiner Folgen für unser Leben, und wir werden schließlich zu dem Ergebnis kommen, dass die Kunst des Lebens nicht ein Mittel darstellt, um ‚das Glück‘ zu erreichen, sondern dass uns diese Kunst dann am besten glückt, wenn wir auf die Vorstellung ‚Glück‘ gerade verzichten. <?page no="15"?> 15 1. Warum man beim Glück nicht gleich zur Sache kommen kann 1.1 Wie wir von Glückssachen sprechen können Man möchte glauben, es sei immer am besten, gleich mit der Sache selbst anzufangen und sich nicht mit der Frage nach Begriffen oder der Geschichte des Denkens über die Sache aufzuhalten. Es gibt aber gute Gründe, dann anders vorzugehen, wenn wir uns fragen, ob es tatsächlich sinnvoll und nützlich für uns ist, wenn wir im Leben nach ‚dem Glück‘ streben. Wir müssen deshalb zunächst deutlich machen, warum von der Bedeutung des Begriffes bzw. der Vorstellung ‚Glück‘ die Rede sein muss, obwohl es doch um ein sehr praktisches und nicht um ein theoretisches Problem geht. Gerade bei einem so eng mit der Gestaltung des Lebens verbundenen Begriff wie Glück ist es keine Selbstverständlichkeit, dass wir uns eigens auf ihn als Begriff richten statt einfach auf die Sache. Wir neigen zu der Vorstellung, dass Glück doch so etwas wie ein ‚Gegenstand‘ ist, der vorhanden ist (oder nicht), und bei dem es nur darauf ankommt, wie ‚es‘ gestaltet wird, bzw. wie ‚es‘ am besten und am vollkommensten erreicht werden kann. Aber vorhanden ist es eben zunächst als ein Wort, das eine bestimmte Bedeutung hat und deshalb einen Begriff zum Ausdruck bringt - wir könnten auch sagen: eine Vorstellung, eine Idee, einen Gedanken oder ganz allgemein etwas, das in unserem Kopf vorhanden ist. Das ist offenbar eine Bedingung dafür, dass wir darüber reden und uns mit anderen Menschen über so etwas wie ‚Glück‘ verständigen können. Sonst könnte niemand ein Buch darüber schreiben, das andere Menschen lesen, um sich mit dem Autor und dann vielleicht mit noch anderen Menschen darüber zu unterhalten - auch wenn es nur durch Schreiben und Lesen geschieht. Glück ist also zunächst ein Wort, das eine Bedeutung hat, und das ist auch der Grund dafür, dass wir ganz allein für uns darüber nachdenken und dabei darüber entscheiden können, ob Glück ein nützliches und sinnvolles Ziel für unser Leben sein soll, oder ob es vielleicht besser ist, sich andere Ziele zu setzen. Auch wenn wir der Meinung sind, Glück sei doch ein ganz selbstverständliches Lebensziel und kein vernünftiger Mensch könne daran zweifeln, haben wir diesen Gegenstand nicht selbst und unmittelbar vor uns. Statt dessen sprechen/ schreiben und denken wir darüber. Wir verwenden also das Wort ‚Glück‘ und verbinden damit einen bestimmten Begriff oder Gedanken, um über etwas Aufschluss zu gewinnen. Letztlich geht es dabei Zunächst ist ‚Glück’ immer ein Wort, mit dem wir einen Begriff bzw. eine Vorstellung verbinden, …. <?page no="16"?> 16 natürlich immer um einen besseren Umgang mit der ‚Sache‘. Aber eben um dies zu erreichen, müssen wir als Menschen Wörter und Begriffe gebrauchen, mit denen wir uns etwas denken. Wenn wir das einsehen, dann muss das Nachdenken über die Nützlichkeit des Zieles ‚Glück‘ für unser Leben etwas anders aussehen als zunächst gedacht. Statt von einer Beziehung des Wortes zu einer ganz unabhängig davon vorhandenen ‚Sache‘ gehen wir jetzt von einer etwas komplizierteren Beziehung aus. Zunächst hatten wir vielleicht die Vorstellung, die ‚Sache‘ bestimme die Vorstellung, welche durch das Wort ausgedrückt wird, so dass wir auch sagen können: das Wort drückt die ‚Sache‘ aus. Aber nun hat sich zwischen das Wort und die ‚Sache‘ etwas eingeschoben, was wir als Denken bezeichnen können und das Begriffe, Ideen oder Gedanken erzeugt, die wir in dem Wort zum Ausdruck bringen. Das Wort drückt also jetzt nicht mehr einfach die ‚Sache‘ aus, sondern eine Vorstellung, die zum einen durch die ‚Sache‘ und zum anderen durch das Denken geformt wurde. Was wir über das Glück sagen, hat nun nicht mehr nur mit der ‚Sache‘ zu tun, sondern auch mit dem, was wir darüber denken und bereits früher darüber gedacht haben. Zuvor konnten wir annehmen, dass die gleiche ‚Sache‘ Glück durch mehrere Wörter ausgedrückt werden kann. Nun kann es mehrere Wörter für den gleichen Begriff geben - etwa können wir ‚happiness‘, ‚bonheur‘ oder ‚Glück‘ sagen. Wir meinen immer noch eine ‚Sache‘, aber wir bringen nun doch zunächst einen Begriff zum Ausdruck. Es hat sich jetzt also etwas zwischen die Sache und das Wort eingeschoben, das nicht unbedingt und vollständig auf die ‚Sache‘ selbst zurückgehen muss. Was wir als ‚Glück‘ bezeichnen, ist demnach also nicht einfach nur durch eine Sache bestimmt, die sich etwa selbst diesen Namen gegeben hat, sondern auch durch das, was wir uns dabei gedacht haben. In der Regel haben wir uns nicht vollständig selbst ausgedacht, was wir in einem solchen Begriff zum Ausdruck bringen. Zwar sollten wir uns zumindest etwas denken, wenn wir sprechen, aber was wir mit einem Begriff meinen, das ist doch weitgehend nicht in unserem ganz individuellen Kopf entstanden. Zum größeren Teil gibt dieses Denken das wieder, was uns in einer langen Geschichte des menschlichen Sprechens und Denkens überliefert wurde. Wir machen also Gebrauch von dem, was andere vor uns - und vielleicht schon eine sehr lange Zeit vor unserem Leben - gedacht haben und das wir nun für unser eigenes Verstehen und Wissen übernehmen können und müssen. Wir haben also nun nicht mehr nur die ‚Sache‘, die bestimmt, was wir unter der Vorstellung ‚Glück‘ verstehen und meinen. Wir haben zusätzlich noch einen Gedanken, der unser Verständnis mitbestimmt, und der uns aus der Geschichte des Denkens und des Sprechens überliefert wurde. Wir können also nicht von ‚Glück‘ sprechen, ohne das Denken zu berücksichtigen, … und deshalb haben wir es zunächst mit dem Denken und seiner Geschichte zu tun. <?page no="17"?> 17 das sich in einer sehr langen Entwicklung in der Geschichte der Menschen in dieser Vorstellung ‚Glück‘ niedergeschlagen hat. Dieses Ergebnis hat einige Konsequenzen, die unser Denken über ‚das Glück‘ ganz entscheidend verändern. Wir können eigentlich überhaupt nicht mehr sagen, dass es so etwas wie Glück ‚gibt‘, ohne dass dazu das Denken und seine Geschichte gehört. Das heißt natürlich nicht, dass wir nun sagen müssen, es gibt nur Unglück und die Welt ist ein Jammertal. Wenn wir nicht von einer ‚Sache‘ Glück sprechen können, so gilt das natürlich auch für ihr Gegenteil. Soll das heißen, dass es Glück und Unglück dann überhaupt nicht gibt? Das wiederum wäre eine zu weitgehende Folgerung. Diese Vorstellungen bzw. Begriffe bleiben so lange wirksam, wie wir sie für uns gelten lassen und uns mit ihrer Hilfe orientieren. Was Menschen für wirklich halten, ist in seinen Folgen in der Regel sehr wirklich. Die wichtige Konsequenz besteht also darin, dass wir uns dann, wenn wir solche Vorstellungen für unser Leben bedeutsam werden lassen, nicht auf eine unabhängig von Begriffen und von unseren Ideen bestehende ‚Sache‘ berufen können. Wir verwenden solche Ausdrücke wie ‚Glück‘ vielmehr dadurch sinnvoll, dass wir uns mit ihnen auf Gedanken beziehen, die in der Geschichte des Denkens der Menschen entstanden und dadurch wirksam geworden sind. Genau in diesem Sinne ‚gibt es‘ das Glück - also nicht in dem Sinn, in dem es Zwerghasen gibt. Wir bringen damit etwas zum Ausdruck, was uns wichtig ist, und wir können uns mit anderen Menschen über etwas verständigen, was uns gemeinsam interessiert. Das gelingt deshalb so gut, weil wir dafür Gedanken und Begriffe verwenden, die in unserer gemeinsamen Geschichte entstanden sind, so dass sie weitgehend selbstverständlich und problemlos verstanden werden. Es hilft also nichts, wenn gegen die Auffassung, Glück sei zunächst ein Wort und dann ein Begriff, eingewendet wird: „Aber das Glück gibt es doch, das erlebt man doch, man ist doch glücklich oder unglücklich.“ Hätten sich diese Begriffe nicht so entwickelt, wie dies tatsächlich der Fall war, so könnten wir überhaupt nicht auf diese Weise reden. Darüber hinaus muss man etwas genauer hinsehen, was in solchen Situationen geschieht. Man kann sehr verschiedene Zustände meinen, wenn man behauptet, glücklich zu sein. Weiter oben haben wir schon gesehen, dass es mindestens zwei Verwendungsweisen dieses Begriffes gibt. Eine davon meint ein besonderes, angenehmes Gefühl, das sich in vielen Fällen deutlich von anderen ähnlichen Empfindungen unterscheiden lässt, und das wir als Glücksmoment oder Glückserlebnis bezeichnen. Das kann eine durchaus sinnvolle Verwendung sein. Die andere Verwendung dagegen ist sehr allgemein, und Weil ‚Glück’ ein in der Geschichte des Denkens entstandener Begriff ist, deshalb können wir darüber nachdenken. Wir können deshalb nicht sagen, ‚Glück’ gibt es einfach - jedenfalls dann nicht, wenn wir darüber sprechen. <?page no="18"?> 18 wir sprechen in diesem Fall in der Regel nicht von Glücksmomenten oder Glückserlebnissen, sondern von ‚dem Glück‘, das wir etwa zum Ziel unseres Lebens machen wollen. Gegen diese Verwendung gibt es eine ganze Reihe von Einwänden, die in diesem Buch noch eingehend dargelegt werden. Aber zunächst muss ganz deutlich werden, dass es sich dabei um eine bestimmte und keineswegs notwendige Verwendung eines Begriffes handelt - nicht um einen Bezug auf eine Sache, die ganz unabhängig von unserem Denken und von der Geschichte existiert, in der sich dieses Denken entwickelt hat. Natürlich kann man auch sehr verschiedene Zustände meinen, wenn man von Glücksmomenten oder Glückserlebnissen spricht. Man nimmt etwa ein entspannendes Bad, hat einen beruflichen Erfolg, verbringt einen schönen Abend, lernt einen netten Menschen kennen, isst Amarena-Eis, hat Sex oder streichelt eine Katze usw. Das alles kann man nun mit dem Ausdruck ‚Glück‘ zusammenfassen. Aber es ist nicht üblich, hier von ‚dem Glück‘ zu sprechen. Mit diesem Begriff meinen wir aufgrund der Geschichte des Denkens, in dem sich unsere Begriffe, Vorstellungen und Ideen entwickelt haben, in der Regel etwas weit Allgemeineres, nämlich einen Zustand, den man sich als Ziel des Lebens setzen kann und mit dessen Hilfe man sein eigenes Leben und das anderer Menschen bewerten und beurteilen kann. Nur wenige Menschen werden sich Amarena-Eis, Sex und Katzenstreicheln als Lebensziel wählen. Die Geschichte des Denkens hat sich also so entwickelt, dass eine bestimmte - wenn auch reichlich unpräzise und weite - Bedeutung in der Vorstellung ‚das Glück‘ Vorrang hat. Diese Bedeutung geht also nicht auf eine ‚Sache‘ zurück, sondern sie ist durch die Entwicklung unseres Denkens und Sprechens begründet. Man kann es sich in dieser Lage auch nicht einfach machen und sagen, dass wir uns unter ‚dem Glück‘ eben etwas vorstellen, das allen solchen angenehmen Situationen gemeinsam ist, die wir gerade als mögliche Glückserlebnisse genannt haben. Dagegen spricht schon, dass es sich um eine ganz subjektive und willkürliche Aufzählung handelte, die andere Menschen ganz anders vornehmen würden. Mit etwas so Allgemeinem würden wir also anderen sehr Unrecht tun, wenn zufällig nicht das dabei ist, was diese anderen Menschen als Glücksmomente oder Glückserlebnisse bezeichnen möchten. Aber es gibt noch einen weit wichtigeren Einwand gegen eine solche Auffassung von ‚dem Glück‘ als dem Allgemeinen in allen solchen Fällen von Glücksmomenten. Die scheinbare Gemeinsamkeit so verschiedener Erlebnisse besteht nur dann, wenn wir den Begriff ‚Glück‘ entsprechend verwenden können. Er müsste also nicht etwas Eigenes bezeichnen, sondern das, was wir in so vielen Erlebnissen finden können. Dafür müsste der Begriff ‚Glück‘ aber anders sein, als er sich tatsächlich in der Geschichte des Denkens entwickelt hat. In Wahrheit haben wir eben Allerdings müssen wir uns in der Kritik an die Bedeutung von ‚Glück’ halten, die sich in der Geschichte entwickelt hat. <?page no="19"?> 19 auf der einen Seite den Begriff ‚Glück‘ in Ausdrücken wie ‚Glücksmomente‘ oder ‚Glückserlebnisse‘, wo wir bestimmte Gefühlserlebnisse oder Erfahrungen damit meinen, und wir haben auf der anderen Seite den Begriff ‚das Glück‘, wie wir ihn zur Beurteilung des Lebens oder als Ziel für das Leben verwenden. Dass wir in Glückserlebnissen etwas erleben, das wir in dem Sinn als etwas Angenehmes bezeichnen können, als wir es lieber haben als nicht haben wollen, ist sicher richtig, aber damit ist noch nicht gesagt, dass es ‚gleichförmig‘ genug ist, um damit den Begriff ‚das Glück‘ erschöpfen zu können. Wir wollen auch lieber keine Zahnschmerzen als Zahnschmerzen, aber wir reden nicht von Glück, nur weil wir frei von Zahnschmerzen sind, obwohl wir die Befreiung von solchen Schmerzen vorübergehend als Glücksmoment empfinden können. 1.2 Warum wir uns fragen sollten, ob der Begriff ‚Glück‘ nützlich ist Es ging bis hierher also eigentlich nur darum, dass ‚das Glück‘ ein Wort ist und dieses Wort nicht eine ‚Sache‘ zum Ausdruck bringt, die frei von Denken und von der Geschichte des Denkens ist. Es drückt vielmehr einen Begriff bzw. eine Vorstellung aus. Auf dieser Grundlage können wir uns nun fragen, ob dieser Begriff einen für unser Leben nützlichen und hilfreichen Gedanken enthält oder nicht. Wir sollten die Frage, ob es das Glück gibt oder nicht und wie wir es denn am besten erreichen können, deshalb zunächst am besten ganz einfach vergessen und uns besser vorher damit befassen, ob es sich überhaupt um einen nützlichen Begriff handelt oder nicht - möglicherweise erübrigt sich dann die weitere Untersuchung jener Fragen. Wir haben keinen guten Grund für die Annahme, das Denken, das sich in der Vorstellung ‚das Glück‘ niedergeschlagen hat, müsse in jedem Fall zu einem sinnvollen und nützlichen Ergebnis führen. Die erste wichtige Frage in Bezug auf einen Begriff wie ‚das Glück‘ ist deshalb nicht, ob es so etwas ‚gibt‘. Viel wichtiger ist die Frage, welchen Vorteil es uns bringt, nicht von den vielen einzelnen Erlebnissen zu sprechen, aus denen sich unser Leben zusammensetzt, sondern einen so allgemeinen Begriff wie ‚das Glück‘ zu verwenden und diese Vorstellung als Ziel für das ganze Leben aufzufassen, so dass wir damit das eigene und auch fremdes Leben beurteilen können. In Angelegenheiten, die mit wichtigen Lebensfragen zu tun haben, ist es keineswegs gleichgültig, welche Begriffe und Vorstellungen wir dafür verwenden, auch wenn wir diese Begriffe mit verschiedenen Worten zum Ausdruck bringen können. Diese Frage nach dem Nutzen von Begriffen geht letztlich auf die Einsicht zurück, dass wir mithilfe von Worten etwas tun, und dass diese Mög- In der traditionellen Bedeutung ist ‚das Glück’ nicht identisch mit Glücksmomenten oder Glückserlebnissen. <?page no="20"?> 20 lichkeit eines Handelns mit Worten von deren geschichtlich im Denken entwickelter Bedeutung nicht unabhängig ist. Zwischen den Worten und den ‚Sachen‘ arbeitet also nicht nur das Denken und seine Geschichte, sondern hier wirkt auch noch das, was wir mit den Worten tun oder zumindest tun wollen. Bei einem Begriff wie ‚Glück‘ ist also in Wahrheit nur das wichtig, was aus der Geschichte des Denkens stammt, und das, was wir mit der Verwendung eines solchen Wortes tun oder tun wollen. Wenn wir nach dem fragen, was wir mit Worten tun, so können wir von uns selbst ausgehen oder von anderen Menschen, die die Worte verstehen. Im ersten Fall verwenden wir die Sprache etwa dazu, um uns selbst darzustellen. Wir ‚drücken uns aus‘. Das können wir allerdings in der Regel nicht alleine, sondern nur im Gespräch mit anderen Menschen. Wir können uns die anderen Menschen jedoch auch nur vorstellen und verwenden dann Wörter zwar nur für uns selbst, die aber eigentlich doch an andere adressiert sind, obwohl sie gerade nicht gegenwärtig sind. Schließlich können wir aber auch nur auf uns selbst Bezug nehmen und über uns nachdenken. Dann sind andere Menschen weder wirklich noch in Vorstellungen gegenwärtig. Wenn wir genauer hinsehen, so könnten wir jedoch daran zweifeln, ob das wirklich so ist. Auch wenn wir ganz alleine über uns selbst nachdenken, ohne uns dabei auf andere Menschen zu beziehen, so geschieht das doch in der Regel so, dass das, was wir von anderen Menschen gelernt und übernommen haben, dabei stets eine wichtige Rolle spielt. Wie auch immer sich das im Einzelfall verhalten mag - auf jeden Fall müssen wir dabei doch die Sprache so gebrauchen, wie wir dies im Prinzip auch gegenüber anderen Menschen tun würden. Dies gilt auch dann, wenn wir im Selbstgespräch und im Nachdenken über uns selbst etwas anderes ausdrücken, als wir es im Gespräch mit anderen tun würden. Vielleicht wollen wir ja nicht jeden an unseren Selbstgesprächen teilhaben lassen. Manche Menschen reden von sich selbst in solchen Fällen als von so großartigen und perfekten Lebewesen, wie sie dies im Gespräch aus Höflichkeit nie wagen würden; andere beschreiben sich im Selbstgespräch als so klein und hässlich, dass wir den geschickten Selbstdarsteller aus Gesprächen mit anderen überhaupt nicht mehr wiedererkennen würden. Aber unabhängig davon, wie dies im einzelnen aussieht, verwenden wir die Wörter in solchen Fällen doch zur Darstellung von uns selbst und nicht einfach so, dass wir uns auf etwas in der Welt beziehen. Das gilt natürlich auch für einen Ausdruck wie ‚Glück‘. Wenn wir uns mit seiner Hilfe selbst beschreiben, so geht es dabei nicht um eine objektive Sache in der Welt, sondern um das, was und wie wir sein und uns selbst sehen wollen. Wir tun also In jedem Fall tun wir etwas mit einem Wort wie ‚Glück’ wir beschreiben also nicht nur. Etwa stellen wir uns mit solchen Begriffen dar, und diese Funktion gehört im Grunde zu der Bedeutung. <?page no="21"?> 21 etwas mit den Worten, und was wir tun, lässt die ‚Sache‘ nicht unbeeinflusst. Wir beschreiben nicht einfach etwas, das unabhängig von den Worten vorhanden wäre, sondern wir ‚konstruieren‘ uns - die einen entwerfen sich als ‚Masters of the Universe‘ und die anderen als unschuldige kleine Häschen, aber in beiden (und den vielen anderen) Fällen erzeugen wir etwas, indem wir die Worte verwenden. Nehmen wir nun den zweiten Fall. Auch wenn wir mit anderen Menschen sprechen, so stellen wir nicht einfach nur einen neutralen und abstrakten Bezug der Wörter zu den Sachen oder vielleicht auch Gefühlen in der Welt her. In der Regel wollen wir etwas erreichen, wenn wir mit anderen Menschen sprechen. Das muss kein materieller Vorteil sein, es kann auch sein, dass wir Zuneigung, Wertschätzung, Achtung, Bewunderung oder auch Respekt gewinnen wollen - in manchen Fällen wollen wir mithilfe unserer Worte aber vielleicht auch Furcht und Schrecken verbreiten. Entsprechend wählen wir unsere Worte. Wir belassen es also nicht bei einem Bezug auf die Sachen oder Gefühle in der Welt, sondern gestalten unser Sprechen auch dadurch, dass wir die Worte in dem Sinn ‚richtig‘ verwenden, dass wir erwarten können, sie werden bei anderen Menschen die gewünschten Wirkungen hervorrufen. Diese Erwartung entscheidet mit darüber, mit welchen Worten wir auf Sachen oder Gefühle Bezug nehmen. Etwa verwenden wir den Ausdruck ‚Glück‘ nicht in jeder Situation und gegenüber allen Menschen. In alltäglichen Redesituationen wählen wir besser andere Ausdrücke, die nicht ganz so feierlich klingen. Wollen wir nun nachweisen, dass wir uns mit diesen verschiedenen Worten auf eine identische ‚Sache‘ beziehen, die wir verschieden ausdrücken, so könnten wir dies nur, indem wir diesen Bezug auch tatsächlich ganz unmittelbar herstellen. Genau das aber können wir offenbar nicht so einfach, wie wir es uns zunächst vorgestellt hatten. Dieser Bezug ist immer durch das Denken und seine Geschichte zum einen und durch die Ziele, die wir mit den Worten verfolgen, zum anderen ‚vermittelt‘ - d. h. er besteht nur, indem er durch etwas geht, das in der ‚Mitte‘ steht und die Worte von den ‚Sachen‘ trennt. Diese ‚Mitte‘ ist nicht neutral, sondern sie wirkt daran mit, wie die ‚Sachen‘ überhaupt in den Worten ankommen können. Ob ein Wort ‚richtig‘ ist oder nicht, dies hängt also auch von der Situation ab, in der wir sprechen. Wir verwenden gegenüber den gleichen Menschen andere Ausdrücke, um etwas zu erreichen, wenn die Situation anders ist - bei einer Geschäftsbesprechung sprechen wir anders als abends in geselliger Runde. Mit einem Wort wie ‚Glück‘ und mit der Verwendung seiner in der Geschichte des Denkens und der Verständigung zwischen Menschen entstandenen Bedeutung tun wir also etwas, indem wir uns mit uns selbst oder mit anderen Menschen verständigen und etwas bei uns selbst oder In verschiedenen Situationen verwenden wir die Begriffe anders, weil wir etwas anderes damit tun. <?page no="22"?> 22 bei anderen zu erreichen suchen. Wie wir von dieser ‚Sache‘ sprechen, geht also auch darauf zurück, wie wir was bei wem damit erreichen wollen. Davon bleibt natürlich die ‚Sache‘ nicht unberührt. Wir sprechen offenbar verschieden von ihr und wir wählen die Worte mitsamt ihrer Bedeutung so, dass wir bei uns selbst oder/ und bei anderen Menschen etwas erreichen - indem wir uns etwa uns selbst gegenüber so darstellen, wie es uns gefällt, oder anderen Menschen gegenüber so, dass wir ihnen gefallen, oder dass sie sich so verhalten, wie wir uns dies eben wünschen. In verschiedenen Situationen und mit verschiedenen Zielen beim Sprechen können wir in der Tat etwas ganz Verschiedenes mit den Worten tun. Offenbar dient uns der Begriff ‚Glück‘ keineswegs nur dazu, um diese ‚Sache‘ noch besser in den Griff zu bekommen. Aber das macht diesen Begriff noch lange nicht sinnlos. Vor allem macht es ihn nicht wirkungslos. Vielmehr setzen wir ihn bei seinem Gebrauch auch ein, um auf diese Weise etwas zu tun oder zu erreichen. Das muss im übrigen nicht bewusst geschehen, wie es etwa in der Sprache der Werbung oder der Politik der Fall ist, wo versucht wird, bestimmte Begriffe zu ‚besetzen‘, die auf die Kunden von Unternehmen oder von politischen Parteien so positiv wirken, dass sie die entsprechenden Produkte kaufen oder die Politiker wählen. Wir lassen das, was wir mit ihm tun wollen, im Grunde stets mit in die Bedeutung eines Begriffes eingehen, wenn wir sprechen - obwohl dies einmal deutlicher und einmal verborgener sein kann. Wenn wir immer etwas tun, wenn wir einen Begriff erfinden und verwenden, so legt sich bei dem Begriff ‚Glück‘ nun die Frage nahe, ob wir denn das Richtige tun, wenn wir diesen Begriff als Bewertungsmaßstab für unser Leben und als Kriterium für das Streben gelten lassen. Tun wir damit etwas, was für uns nützlich ist oder nicht - oder schaden wir uns vielleicht sogar? Bei dieser Frage setzen wir nicht voraus, es müsse so etwas wie ein ‚Wesen‘ von Glück geben, das eine sachliche Grundlage für diesen Begriff darstellen könnte. Wir bleiben weiter bei der Frage nach der Aufklärung eines Begriffes oder einer Vorstellung bzw. einer Idee, der bzw. die für unser Leben nicht gerade unwichtig ist. Wir haben darauf aufmerksam gemacht, dass die Bedeutung von ‚Glück‘ auch daraus stammt, was wir mit diesem Begriff tun. Diese Frage schließt im Grunde diejenige ein, was dieser Begriff denn mit uns tut. Schließlich hat er eine Bedeutung, die wir nicht individuell für uns und für die jeweils gegebene Situation erfinden können, sondern die uns aus der Geschichte und dem Denken längst vergangener Generationen überliefert wurde. Vielleicht tut er etwas mit uns, das uns das Leben erschwert, Was wir mit ‚Glück’ meinen, hängt also davon ab, was wir mit diesem Begriff tun wollen. Also sollten wir uns fragen, ob das, was wir mit dem Begriff ‚Glück’ tun, auch richtig und nützlich ist. <?page no="23"?> 23 statt sich nützlich zu machen, wie das eigentlich die Aufgabe von Begriffen ist. Bevor wir mit dem Begriff ‚Glück‘ über unser Leben und das anderer Menschen urteilen und ihn zur Orientierung für unser Streben verwenden, sollten wir uns also vor allem darüber klar werden, was es mit ihm auf sich hat und ob er überhaupt nützlich ist. Darüber wird nicht so entschieden, dass wir auf die ‚Sache‘ deuten und dann darüber sprechen, wie wir ‚es‘ - das irgendwie und irgendwo wie ein Stein oder ein Baum oder ein Zwerghase existierende Glück - erreichen können. Sinnvoll ist ein Begriff dadurch, dass er uns Nutzen bringt, nicht indem er sich auf etwas bezieht, das es ‚gibt‘. Wenn der Begriff dagegen in diesem Sinne falsch ist, dann heißt das auch, dass die Sache falsch ist, weil ihr Begriff, mit dem wir es primär zu tun haben, keinen Nutzen hat. Wenn die Verwendung des Begriffes und der Vorstellung ‚Glück‘ für uns nicht nützlich ist, so macht es keinen Sinn, noch weiter darüber nachzudenken, wie wir nach Glück streben sollen, können oder sogar müssen. Wir müssen dann ganz einfach nach besseren Begriffen suchen, die für die Bewertung des Lebens und als Orientierung für unser Streben sinnvoller sind als der des Glücks. Vermutlich macht es einen Unterschied für unser Leben, ob wir solche Begriffe verwenden wie ‚Glück‘ oder nicht. Darin liegt die Antwort auf den bei dem Vorschlag, nach einem Begriff zu fragen, immer naheliegenden Einwand, dass es doch auf die Sache ankomme und nicht auf den Begriff. Wie wir über das sprechen, was wir anstreben, hat Folgen für das, was wir anstreben, und auch für das, was wir in diesem Streben erreichen können. Wir sollten uns deshalb auf die Frage konzentrieren, was für Folgen es für unser Leben hat, wenn wir mit dem Begriff ‚Glück‘ unser Leben beurteilen und bewerten und durch ihn unser Streben im Leben orientieren. Es handelt sich nicht um eine Sache, deren Begriff wir von Natur aus und notwendig in den Mittelpunkt unseres Lebens stellen müssten. Wäre dies notwendig, so hätten wir keine andere Wahl. Da es aber nicht notwendig ist, sollten wir die Frage stellen, warum wir dies tun, und ob wir überhaupt einen Vorteil davon haben, und wenn ja, welchen. Dass wir aus der Bedeutung des Begriffes nicht entnehmen können, es müsse sich um eine sinnvolle und nützliche Vorstellung handeln, werden wir gleich in einem ganz kurzen Abriss über die Geschichte dieses Begriffes sehen. Damit werden wir noch deutlicher zu der wirklich wichtigen Frage finden, ob und warum wir dem Begriff ‚Glück‘ denn überhaupt eine besondere Bedeutung einräumen sollten. Den Begriff ‚Glück’ klären wir nicht durch die Suche nach der ‚Sache’, sondern wir überprüfen die Verwendung des Begriffes. <?page no="25"?> 25 2. Eine ganz kurze Geschichte des Begriffs ‚Glück‘ 2.1 Ein Geschenk der Götter verwandelt sich in das Glück im Jenseits Der Anfang Wir haben gesehen, dass wir unsere Vorstellungen und Begriffe von Glück nicht einfach auf eine entsprechende ‚Sache‘ in der Welt beziehen können. ‚Glück‘ ist vielmehr ein Begriff (wir könnten auch sagen: eine Bedeutung, eine Idee, eine Vorstellung), der unser individuelles Leben und dann auch das Zusammenleben der Menschen sehr stark beeinflussen kann, wenn wir ihn als Orientierung für unser Leben gelten lassen in dem Sinn, dass wir die mit ihm verbundene Vorstellung bzw. Idee realisieren und in die Wirklichkeit umsetzen wollen. Er beschreibt also nicht, sondern mit ihm schreiben wir uns etwas vor - und möglicherweise schreiben damit die einen den anderen etwas vor, und es ist noch nicht ausgemacht, dass uns diese Orientierung zum Besten gereicht. Die Lage wird jedoch noch komplizierter, wenn wir uns die Geschichte dieses Begriffs ansehen. Hier finden wir eine merkwürdige Lage. Auf der einen Seite beanspruchen heute viele Autoren, die etwas zum Thema ‚Glück‘ beitragen möchten, eine Traditionslinie von der Antike bis in unsere Zeit ziehen zu können, was die Unterstellung voraussetzt, die verschiedenen Wörter dafür in verschiedenen Sprachen ließen sich so ineinander übersetzen, dass sie sich auf eine ‚im Wesentlichen‘ identische ‚Sache‘ beziehen, die nur verschieden - manchmal besser und manchmal schlechter - aufgefasst wurde. Auf der anderen Seite finden wir jedoch dann, wenn wir genauer hinsehen, nicht sehr viel, was wirklich die Annahme einer solchen Identität rechtfertigt. Dies gilt vor allem dann, wenn wir uns die Inhalte ansehen, die mit diesem Begriff verbunden wurden. Das ist unser Thema in diesem Kapitel. Wir werden danach jedoch sehen, dass sich einige Strukturen in diesem Begriff doch durchhalten - wir werden aber auch sehen, dass es sich gerade um die am meisten kritikwürdigen handelt. Als sich Menschen zum ersten Mal mit dem Thema ‚Glück‘ beschäftigten, geschah dies in dem Denken, das man als Philosophie bezeichnete. Allerdings handelte es sich zu dieser Zeit noch nicht um das, was wir heute als das entsprechende akademische Fach kennen. Die Philosophie war in den Anfängen unseres Wissens und Denkens im antiken Griechenland für alles Wissen zuständig, das über das handwerkliche Können hinausging. Dazu gehörte natürlich auch das praktische Wissen, das sich mit der Frage <?page no="26"?> 26 beschäftigte, wie wir richtig handeln und leben sollen. Schon aus der Antike - noch vor Platon und Aristoteles - ist eine wichtige Wendung in der Auffassung von Glück bekannt. Galten zuvor das Schicksal und die Vorsehung durch die Götter als Grundlagen von Glück und Unglück, so entfaltet sich nun ein Bewusstsein von dem Einfluss der Menschen auf das Glück, das durch Klugheit auch bei widrigen Umständen errungen oder bewahrt werden könne. Solche Gedanken finden sich etwa bei Demokrit, und Heraklit wies darauf hin, dass Glück und Unglück ‚der Seele gehören‘. Er wollte damit sagen, dass die Seele dem Schicksal nicht einfach ausgeliefert ist, sondern durch eigene Tätigkeit in einem beträchtlichen Ausmaß über Glück und Unglück entscheidet. Diese Wendung hatte sogar zur Folge, dass im Griechischen ein älterer Ausdruck für Glück verschwand und an seiner Stelle fast nur noch der Ausdruck ‚Eudaimonia‘ gebraucht wurde, was wörtlich einen Zustand meint, in dem ein ‚guter Dämon‘ in der Seele die Führung hat. Bei Aristoteles wird dieser Gedanke schließlich die Gestalt annehmen, dass von Glück nur noch auf der Grundlage einer Ausbildung und eines Einsatzes von Vernunft und vernünftiger Tätigkeit die Rede sein soll. Deshalb kann der Mensch erst im (Stadt-)Staat glücklich sein, weil er nur im Zusammenleben mit anderen Menschen in die Künste und Wissenschaften eingeübt werden kann. Was gibt uns das Recht, bei einer solchen Veränderung der Bedeutung noch eine Kontinuität mit dem zu unterstellen, was Menschen zuvor dachten, und darüber hinaus einen Zusammenhang herzustellen mit dem, was wir heute damit meinen? Von einer identischen Sache kann man in diesem Fall ja nicht in dem Sinn sprechen, dass sie uns von der Natur vorgegeben wäre und wir uns nur an sie anpassen müssten. Die Identität muss hier in unseren Vorstellungen und Ideen anzutreffen sein. Aber wie soll man feststellen, ob die Menschen wirklich vor und nach dieser Wendung ‚im Wesentlichen‘ dasselbe gemeint und dieses ‚Selbe‘ nur verschieden aufgefasst haben? Das Problem ist in diesem Fall besonders schwierig zu lösen, da sie sogar einen neuen Ausdruck in der gleichen Sprache verwendet haben. Vor allem aber: was berechtigt uns zu sagen, es handle sich vor und nach dieser Bedeutungsverschiebung um das, was wir unter Glück meinen - wenn wir doch nicht einmal genau wissen, was wir darunter verstehen? Wir können darauf keine eindeutige und befriedigende Antwort finden. Nichtsdestoweniger herrscht die Auffassung vor, es sei die ‚gleiche‘ Sache. Eigentlich ist aber auch diese Auffassung ein Gedanke, den wir uns machen, und mit dem wir vermutlich etwas erreichen wollen, wenn wir ihn mit Begriffen ausdrücken. Die Entwicklung des Begriffs ‚Glück’ führt zunächst von einer Gabe des Schicksals zur Leistung der Menschen. Handelt es sich aber dann wirklich noch um denselben Begriff? <?page no="27"?> 27 Das Gute und das Glück Nur wenig später gab es gleich noch eine wichtige Wendung in der Auffassung vom Glück, und auch hier kann es zweifelhaft sein, ob wirklich noch dasselbe gemeint wurde, nachdem diese neuen Gedanken den Begriff verändert hatten. Diese Wendung bestand darin, dass nun das Glück eng mit der Frage nach dem ethisch richtigen Leben verbunden wurde. Diese Verbindung beeinflusst im Grunde bis heute die Untersuchungen über diese Fragen, und niemand kann diese Verbindung vollständig auflösen, obwohl später die Frage nach dem Glück und die Frage nach dem ethisch guten Leben viel stärker voneinander unterschieden wurden. Bei Platon aber wurde der Gedanke des Glücks noch ganz selbstverständlich in der Philosophie des guten Lebens behandelt. Allerdings war sein Gedanke nicht sehr nahe an den Vorstellungen, welche die nicht philosophisch geschulten Menschen zu jener Zeit mit diesem Begriff verbanden - was Platon zu dem Gedanken führte, dass seine Vorstellung richtig und die der anderen Menschen dementsprechend falsch sein musste. Nach dieser Vorstellung weiß vom Glück nur derjenige das Richtige, der sich mit der ‚Idee‘ des Guten vertraut gemacht hat, was selbstredend nur der Philosoph kann. Als ‚glücklich‘ wird nun der Mensch bezeichnet, der ‚gut‘ ist, und umgekehrt kann derjenige, der nicht ‚gut‘ ist, auf keinen Fall glücklich sein, auch wenn es vielleicht so aussieht, dass der Böse doch irgendwie ein angenehmes Leben führen kann. Dieser Gedanke hat sehr lange gewirkt. Viele Jahrhunderte später wird Fichte dies so auf den Punkt bringen: „Nicht das ist gut, was glücklich macht, sondern nur das macht glücklich, was gut ist.“ In der Antike entstand in diesem Zusammenhang noch ein weiterer Gedanke, der das Denken über das Glück sehr weit von unseren alltäglichen Vorstellungen entfernt - obwohl diese Vorstellungen sicherlich nicht so genau definiert werden können. Wenn nur der gute Mensch glücklich sein kann, und wenn wir berücksichtigen, dass es auf Erden in unserem von Bedürfnissen und Trieben geplagten Körper sehr schwer ist, vollständig gut zu sein, so liegt der Gedanke nicht ganz fern, dass wir vollkommen gut nur sein können, wenn wir uns von der körperlichen Existenz möglichst weit entfernen. Nur dann haben wir gute Aussichten, uns gegen die vielen Versuchungen zu wehren, denen der Mensch durch seine Körperlichkeit ausgeliefert ist. Wir können dann besser darauf achten, dass wir die Idee des Guten in der Welt jenseits der Körper erkennen und uns an sie angleichen. Das führte zu dem Gedanken, dass ein dauerndes Glück nur möglich sei, wenn wir uns so weit wie es geht vom Körper trennen und in erster Linie im reinen Denken existieren. Das entspricht sicher nicht unseren modernen Vorstellungen vom Glück, aber im Rahmen der damals vorherrschenden Gedanken war diese Die Entwicklung führt weiter zur engen Verbindung von Ethik und Glücksfragen. <?page no="28"?> 28 Überlegung konsequent. Als Ziel des Lebens wurde ein vollkommener Bezug zu dem ‚Guten an sich‘ gedacht, den wir eben nur im Denken einnehmen können. Nur im Denken aber können wir glücklich werden, weil wir nur darin vollkommen ‚gut‘ sein können. Wirklich glücklich kann also nur der Philosoph Sokrates sein, weil nur er wirklich weiß, was das Gute ist. Besagter Sokrates war allerdings ein armer Straßenprediger mit einem bösen Weib namens Xanthippe, der sich schließlich auf Geheiß des Staates vergiften musste. Nicht unbedingt das, was wir als glücklich bezeichnen würden. Wir können eine solche Wendung im Begriff des Glücks nun nicht einfach dadurch hinwegdisputieren, dass wir von verschiedenen Mitteln auf dem Weg zu einer gleichbleibenden Sache ‚Glück‘ sprechen. Hier müssen wir bei unserer schon gefundenen Einsicht bleiben, dass wir eine solche Sache einfach nicht aufzeigen können. Wir können nur den Gedanken von einer solchen gleichbleibenden Sache haben, und dazu brauchen wir Ausdrücke in den verschiedenen Sprachen, die wir wechselseitig ineinander übersetzen können. Für solche Übersetzungen benötigen wir aber nicht den Bezug auf eine identische Sache, sondern nur das Bewusstsein, dass solche Ausdrücke sich auf die gleiche Vorstellung beziehen. Das war offenbar die vorherrschende Meinung in der Geschichte des Denkens, und deshalb nehmen wir auch heute noch an, es habe sich um eine Veränderung innerhalb des identischen Begriffes ‚Glück‘ gehandelt. Aber es fällt schwer, bei solchen Wendungen in der Auffassung von Glück, von denen wir jetzt schon einige angeführt haben, noch von einer Identität der mit diesem Ausdruck gemeinten Sache zu sprechen. Noch schwerer fällt es, das, was in diesem in erster Linie ethischen Denken über das Glück gemeint war, an das anzuschließen, was wir heute - vermutlich - als Glück zu bezeichnen bereit sind. Eine weitere scheinbare Lösung für solche Schwierigkeiten aus der Geschichte des Begriffs ‚Glück‘ kommt ebenfalls nicht infrage. Wir können nicht einfach sagen, hier handle es sich eben um die Ansichten von Philosophen, was die normalen Menschen sowieso nichts angehen müsse. Eine solche Lösung müsste eine von zwei möglichen Annahmen unterschreiben. Sie müsste entweder doch eine Sache ‚Glück‘ behaupten, die unabhängig von dem Sprechen darüber einfach vorhanden ist, was aber aus den dargelegten Gründen nicht möglich ist. Oder sie müsste nachweisen, dass die sogenannten ‚normalen‘ Menschen im Unterschied zu den Denkern immer und kontinuierlich eine bestimmte Bedeutung von Glück beibehalten haben. Das ist jedoch nicht möglich, weil die Geschichte eines Begriffs in erster Linie eine Geschichte der philosophischen und wissenschaftlichen (manch- Bald entstand auch der Gedanke, glücklich könne man nur jenseits der irdischen und körperlichen Welt werden. Es wird immer fraglicher, ob wir wirklich von einer Kontinuität im Begriff ‚Glück’ sprechen können. <?page no="29"?> 29 mal auch literarischen) Beschäftigung mit ihm ist. Deshalb können wir Platons Denken nicht einfach aus diesem Begriff ausschalten. Wir können das auch deshalb nicht, weil die nachfolgenden Denker die von ihm begründete Verbindung zwischen Glück und Ethik weiterentwickelt und sie lange Zeit nicht aufgegeben haben. Was zur Zeit von Platon und Aristoteles gedacht wurde, kann also nicht einfach aus der Geschichte des Begriffs ‚Glück‘ gestrichen werden. Wir können das auch deshalb nicht, weil in der Antike bereits die Grundlagen für einen Gedanken entwickelt wurden, der später im Christentum zur vollen Blüte kommen sollte und zu einer für das menschliche Leben in vielen Jahrhunderten folgenreichen Abwertung des irdischen Lebens führte. Diese neue Veränderung im Begriff des Glücks ist eigentlich eine konsequente Folge der gerade genannten Wendung: wirklich ‚gut‘ kann nur das jenseitige Leben sein, weshalb im Grunde Gott zur Norm für alles menschliche Glück wird, das deshalb als irdisches nicht mehr sehr hoch geschätzt wird. Auch hier können wir fragen, ob es sich nur um eine neue Interpretation für eine gleichbleibende Sache handelt, oder ob damit nicht vielleicht ein anderer Begriff entwickelt wurde, der eine andere Sache bezeichnet. Eine eindeutige Antwort werden wir aber auch in diesem Fall nicht finden. Wir müssen uns damit abfinden, dass wir in der Regel der Auffassung sind, es handle sich um die Geschichte eines Begriffs und nicht um eine Abfolge verschiedener Begriffe, obwohl wir auf keine Weise einen Bezug auf eine allen diesen Begriffen gemeinsame Sache ‚Glück‘ herstellen können. Der Staat und der Endzweck Wir haben schon erwähnt, dass sich in der Antike auch der Gedanke findet, die nähere Bestimmung des Guten und des Glücks könne nur in der Praxis des (Stadt-)Staates geschehen. Dies wurde vor allem von Aristoteles ausgeführt, und bei ihm finden wir eine weitere Wendung im Begriff des Glücks. Wir könnten hier von einer Polis-Orientierung des Glücks sprechen. Diesem Gedanken zufolge ist das Glück ‚vielen gemeinsam‘, d. h. sie finden es nur im Zusammenleben in der Polis, wo sich freie Menschen selbst regieren und deshalb auch über die Bedingungen des Glücks gemeinsam befinden müssen. Der einzelne Mensch ist demzufolge kaum in der Lage, ganz privat für sein Glück zu sorgen. Im Grunde kann er alleine nicht einmal richtig darüber befinden, was er darunter zu verstehen hat. Glück wird nach dieser Auffassung eine öffentliche Angelegenheit und ist in erster Linie ein Thema für die richtige Gestaltung des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens. Der antike Begriff von Glück legte die Grundlage für die christliche Vorstellung von Glück. Aber es entstand auch die Frage, ob Glück privat ist oder nur in der Gemeinschaft existiert. <?page no="30"?> 30 Ein ganz privates Glück dagegen wäre für Aristoteles aus grundsätzlichen Gründen kaum denkbar gewesen. Darüber hinaus kann man bei Aristoteles noch eine Veränderung im Begriff des Glücks finden, die für die Probleme sehr wichtig ist, welche durch diesen Begriff später entstehen. Das werden wir bei den kritischen Fragen nach dem Nutzen der Vorstellung vom Glück noch sehen. Nach Aristoteles wird von uns Menschen alles um eines anderen willen getan: „Alle tun alles wegen eines Guten, das ihnen das höchste Gut vorstellt.“ Das, wegen dem alles getan wird, heißt für ihn ‚Glück‘. Erst das Glück ist also dasjenige, das um seiner selbst willen getan bzw. gesucht wird und in sich Ziel ist. Das bedeutet für alles andere, dass es nicht um seiner selbst willen getan wird. Dort, wo dies doch geschieht, ist das nur deshalb der Fall, weil in einer solchen Tätigkeit auf dem Wege einer ‚Teilhabe‘ eben dieses Ziel Glück selbst angetroffen wird. Im Grunde haben nach dieser Konzeption nun alle Tätigkeiten Wert nur aufgrund der Tatsache, dass in ihnen das Endziel - das Glück - wenigstens bis zu einem gewissen Grad vorhanden ist. In allen anderen Fällen haben die Tätigkeiten nur dadurch einen Wert, dass sie ein Mittel für den Endzweck des Glücks darstellen. Damit entwickelt sich auch eine bestimmte Vorstellung über den Zusammenhang zwischen dem für unser Leben wichtigen Zeithorizont auf der einen Seite und der Bewertung des Lebens sowie der Orientierung unseres Strebens auf der anderen Seite. Aristoteles zufolge muss das Glück das ganze Leben hindurch bestehen, damit wir überhaupt von einem glücklichen Leben sprechen können. Damit beginnt der Gedanke, mithilfe des Begriffes ‚Glück‘ könne und solle das Leben bilanziert werden. Nach dieser Vorstellung ist es sinnvoll, das Leben unter der Perspektive des Ganzen zu bewerten, was natürlich zu einer Abwertung des einzelnen Augenblicks führt. Wir können schon an dieser Stelle darauf hinweisen, dass man gegen diesen Aspekt des Begriffs ‚Glück‘ einiges vorbringen kann, wenn man sich fragt, ob dieser Begriff tatsächlich nützlich ist und etwas zu einem besseren individuellen Leben beiträgt. Wir werden weiter unten eine etwas eigenwillige Auffassung von Adornos Hinweis dagegen setzen, demzufolge das Ganze gerade das Unwahre ist. Zen-Buddhisten würden gegen Aristoteles’ Orientierung des Glücks am ‚ganzen Leben‘ aber vielleicht einfach darauf hinweisen, es genüge, jeweils einen Tag in Frieden zu verbringen, um das ganze Leben in Frieden zu leben. Wie dem auch sei - nun beginnt in der Bedeutung des Begriffs ‚Glück‘ eine neue Auffassung von Erfüllung und Genügen im Leben. Ein solches Sich-erfüllen und Genügen gibt es erst im Glück, das wiederum nur im Das Glück erscheint nun als Endziel des Lebens … … aber es soll doch ein dauernder Zustand sein, und wir können mit diesem Begriff das Leben bilanzieren, … <?page no="31"?> 31 Ganzen des Lebens erreicht werden kann. Weil der Begriff des Glücks aber verlangt, es müsse über die gesamte Zeit des Lebens bestehen, so wird damit ausgeschlossen, dass es im Einzelnen und im konkreten Leben eine Erfüllung und ein Genügen geben kann. Damit beginnt eine Auffassung von der Bedeutung des Begriffes ‚Glück‘, der zufolge es niemandem mehr erlaubt sein soll, unterhalb der Ebene des Ganzen sein Genügen zu finden. Bei Aristoteles stand diese Orientierung am Ganzen in Zusammenhang mit einem grundsätzlich ‚teleologischen‘ Denken - d. h. was etwas ist, ist erst an seinem Ende zu erkennen, wenn es fertig ist und sein Telos bzw. inneres Ziel ausgebildet hat. Damit ist natürlich der Gedanke verbunden, über das, was etwas wirklich ist, und damit auch über das Glück könne erst dann geurteilt werden, wenn alles Werden aufgehört hat. Auch unter diesem Aspekt der Bedeutung des Begriffes ‚Glück‘ lässt sich einiges gegen seine Nützlichkeit einwenden. Wir werden weiter unten näher darauf eingehen, dass dieser Aspekt sich auch heute noch in diesem Begriff findet. Deshalb gibt es unter der Perspektive des Glücks immer noch die Tendenz, das Werden gering zu schätzen und alles Erleben und Erfahren nur von einer vorgestellten ‚Vollendung‘ her aufzufassen. Unter dieser Perspektive tendieren wir zu der Auffassung, alles Werdende sei unvollkommen und deshalb nicht so wertvoll wie das, was schon ganz in sein Ziel gekommen ist. Wenn wir etwas von seinem Ende her auffassen, dann schließt das ein, dass es zuvor noch nicht richtig ‚wirklich‘ ist. Deshalb wird alles Unvollendete und Werdende nicht ganz als Wirklichkeit angesehen, da es sich nur im Prozess der ‚Verwirklichung‘ befindet und nie wirklich ist außer an seinem Ende. Das wird später zu der seltsamen Auffassung führen, man könne einen Menschen eigentlich erst nach seinem Tode als glücklich bezeichnen. Die Sinne und die Vernunft Eine neue Wendung im Begriff des Glücks bringt bereits in der Antike die Stoa. Diese Richtung des Denkens wird oft in einem starken Gegensatz zu Epikurs sogenannten ‚Hedonismus‘ gesehen. Das ist allerdings eine so starke Übertreibung, dass sie eigentlich schon falsch ist. Sie geht vor allem darauf zurück, dass es über Epikurs Denken sehr viele Irrtümer gibt. Gerade diese Irrtümer haben dazu geführt, dass bisweilen unsere heutigen Auffassungen von Glück im Anschluss an Epikur gesehen werden. Das ist sicherlich nur in einem sehr beschränkten Sinne richtig. Zunächst aber sollten wir in Bezug auf die Stoa beachten, dass sich hier eine Auffassung von … so dass wir nur noch ‚im Ganzen’ Erfüllung finden können, nicht im Einzelnen. Eine neue Wendung: in der Stoa wird Glück zur Übereinstimmung mit sich selbst und mit der Welt, … <?page no="32"?> 32 Glück als ‚Übereinstimmung mit sich selbst‘ findet, worin wir eine neue Wendung in der Bedeutung des Begriffes ‚Glück‘ erkennen können. Nach dieser Auffassung kann es Glück im Grunde nur geben im Zustand einer Übereinstimmung mit der ‚Natur‘. Glücklich ist also ein Leben nach den Regeln einer Vernunft, welche als der ‚Eine Logos‘ Natur und Mensch umfasst. Wir sollten hier allerdings nicht unseren modernen Begriff von Natur heranziehen, sondern wir müssen den stoischen Naturbegriff beachten, der eigentlich die übergreifende Vernunft im Kosmos bedeutet. Dann lässt sich leicht erkennen, dass der auf dieser Grundlage entwickelte Begriff von Glück mit unseren modernen Vorstellungen von Selbstverwirklichung nicht sehr viel zu tun hat. Vor allem ist die Vernunft hier nicht subjektiv, und das zu findende Selbst gibt es nicht im Inneren des Menschen, sondern nur in der kosmischen Vernunft. Für den Menschen geht es nach dem stoischen Gedanken im Glück also um ein Ziel, das nur in der einheitlichen göttlichen Vernunft gefunden werden kann. Erst in ihr kommt das Leben zur Erfüllung und kann glücklich genannt werden. So weit ist die Stoa also nicht von platonischen und von aristotelischen Gedanken entfernt, obwohl die neue Wendung im Begriff des Glücks doch nicht zu verkennen ist. In diesem Sinne von Natur als göttlicher Vernunft im Kosmos heißt glücklich leben dann ‚gemäß der Natur leben‘. Ohne Tugend im Sinne von moralischer Vervollkommnung konnte es allerdings auch für die Stoiker kein Glück geben. Im Grunde soll es für das glückliche Leben sogar schon ausreichen, ein gutes Leben zu führen, weil die Tugend die seelische Verfassung darstellt, auf der alles Glück beruht. Deshalb ist die richtige Vernunft die entscheidende Grundlage für das Glück. Auch hier wird wieder deutlich, wie wenig die Vorstellungen vom Glück in der Geschichte der Menschheit, wie sie sich in der Geschichte des Denkens spiegelt, miteinander übereinstimmen. Es geht hier nicht darum, dass der ‚Weise‘ deshalb tugendhaft ist, weil er über die entsprechende Klugheit verfügt und deshalb sein Leben entsprechend gestalten kann. Er gilt vielmehr schon deshalb als glücklich, weil er über die Vernunft verfügt. Aus diesem Grund gehört nun etwas zum Glück, was als ‚Apathie‘ bezeichnet wird. Man könnte das, was hier gemeint ist, als ‚Leidenschaftslosigkeit‘ bezeichnen. Damit wird der Weise beschrieben, der glücklich ist, weil er in seinem Wesen Vernunft ist. Allerdings gibt es auch noch eine andere Perspektive, und unter dieser kann die ‚Apathie‘ der Stoikern als eine Haltung aufgefasst werden, in der man nicht ‚am Leiden leiden‘ soll. Weise wäre in diesem Sinne ein Mensch, der das Leiden an seinen Zahnschmerzen darauf einschränken kann, was er konkret empfindet, der aber nicht gleich gegen die ganze Welt wütet, weil sie gerade ihn mit dieser Unannehmlichkeit geschlagen hat. Die Stoa wendet sich also nicht gegen … was nur in der Leidenschaftslosigkeit erreicht werden kann, in der die ‚schlechte’ Vernunft besiegt ist. <?page no="33"?> 33 das Gefühlsleben als solches, wie es der Ausdruck ‚Apathie‘ nahe legen könnte. Sie wendet sich vielmehr gegen den Affekt als eine Art von Unvernunft, die schlecht ist, weil sie eine Neigung zu Ungestüm und Heftigkeit mit sich bringt. Von diesen Gedanken ist Epikur nicht so weit entfernt, wie man sich das oft vorstellt, wenn man von seinem ‚Hedonismus‘ - also von seiner Lehre vom Glück als Sinn des menschlichen Lebens - spricht. Nichtsdestoweniger findet sich hier doch auch eine erneute Wendung in der Geschichte des Begriffs ‚Glück‘. Als Hedonismus könnte allerdings auch die ganze antike Philosophie bezeichnet werden, obwohl damit etwas ganz anderes gemeint war, als wir uns das heute so vorstellen. Es ist jedenfalls nicht ganz richtig, wenn wir bei Epikur eine Orientierung an der Sinnenlust finden zu können glauben. Das Ziel des Glücksstrebens, das in der Stoa ‚Apathie‘ hieß, wird bei Epikur nun als ‚Ataraxie‘ bezeichnet, was man als ‚leidenschaftslose Ruhe der Seele‘ wiedergeben könnte. Was Epikur also so besonders in der Geschichte des Begriffs ‚Glück‘ macht, ist nicht das, was er schließlich konkret seinen Mitmenschen anriet, denn darin findet sich recht wenig von einer vermeintlichen Orientierung an der Lust der Sinne. Das Besondere ist hier vielmehr die grundsätzliche Orientierung des Guten an der Lust, was aber in der Tat nur einen Teil seiner Position ausmacht. Richtig aber ist in der Tat, dass das Gute und das Glück bei Epikur schmecken, klingen und nach etwas aussehen sollen - beides soll also für die Sinne da sein. Nichtsdestoweniger sah der konkrete Hedonismus von Epikur doch ganz anders aus. Bei genauerer Betrachtung mutet seine Glücksvorstellung ziemlich langweilig an. Danach sollen Gefühle wie Freude und Heiterkeit weit höher zu schätzen sein als die Sinnenlust. Vor allem aber steht noch über der Freude die ‚Ataraxie‘ - also eine Form von Leidenschaftslosigkeit - und die Schmerzlosigkeit. Gesucht wird hier statt der Lust der Sinne eine einfache Lebensweise, die es erlaubt, ohne Furcht vor dem wankelmütigen Schicksal zu leben. Statt Sinnenlust gibt es in Epikurs Anleitung zum Glück den Verzicht und die Bescheidenheit - was man nicht hat, kann einem nicht genommen werden. Epikurs Glück ist also in seinen konkreten Empfehlungen keineswegs das des Sinnenmenschen, sondern das eines in der Verborgenheit lebenden Menschen, der von seinem Tempel der Weisheit aus gelassen das bunte Gewimmel und Streben der gewöhnlichen Menschen betrachtet. Dieser Begriff von Glück ist zwar einerseits sehr weit von Platons Behauptung entfernt, man müsse zuerst die Idee des Guten kennen, womit man quasi automatisch glücklich sei. Andererseits ist es aber nur bedingt möglich, unsere heutigen Vorstellungen von Glück daran anzuschließen. Darüber täuscht man sich zu leicht hinweg, wenn man unsere Zeit als ‚hedonistisch‘ bezeichnet - sie ist es jedenfalls nicht im Sinne Epikurs. In Epikurs ‚Hedonismus’ sollen das Gute und das Glück schmecken und klingen und nach etwas aussehen. <?page no="34"?> 34 Das Glück im Jenseits Nach der Antike geschah in Bezug auf den Begriff ‚Glück‘ lange Zeit ebenso wenig wie in der ganzen Philosophie - jedenfalls nichts, was heute noch Bedeutung beanspruchen könnte. Erst als die christliche Religion sich so weit etabliert hatte, dass die Voraussetzungen für eine philosophische Reflexion des Glaubens gegeben waren, konnten auch neue Wendungen im Begriff ‚Glück‘ geschehen. Eine solche Bedeutungsveränderung fand etwa statt, als in der mittelalterlichen christlichen Denkschule der Scholastik das Glück nun als ‚Genuss Gottes‘ (fruitio dei) aufgefasst wurde - ein Ausdruck, der sich etwa bei Anselm von Canterbury findet. Damit wurde das Glück in den Bereich des jenseitigen und ewigen Lebens verschoben, in dem der Mensch in der Anschauung Gottes sein Glück finden sollte. Als Maßstab für alles Glück galt nun die ‚ewige Glückseligkeit‘ nach einem gottgefälligen Leben. Von dieser Entgegensetzung zwischen einem irdischen, unvollkommenen Glück und einem jenseitigen, vollkommenen Glück her wird nun bestimmt, was im menschlichen Leben überhaupt Glück heißen kann. Damit wird bis zu einem gewissen Grad der Gedanke aus der Antike zurückgenommen, durch den die Bedeutung von Glück von einem Göttergeschenk zu einer menschlichen Tätigkeit umorientiert worden war. Der Orientierungsmaßstab für alles Glück wird nun die Schau Gottes in der jenseitigen Welt, die nicht durch die menschliche Leistung erreicht werden kann, sondern ein Geschenk der Gnade Gottes ist. Ein Rest von Tätigkeit des Menschen bleibt darin aber doch noch erhalten. Der Mensch kann sich sein Heil dadurch verdienen, dass er sich gemäß der Vernunft verhält, die identisch mit Gott selbst ist. Das Gericht Gottes, das über die Erlangung des ewigen Glücks entscheidet, wird insofern auch als das eigene Gericht des Menschen aufgefasst, als er selbst auch Vernunft ist - wenn auch nicht reine und vollkommene Vernunft. Ist aber das, was nun mit dem Begriff ‚Glück‘ gemeint wird, immer noch dasselbe wie in der Antike? Wo ist das Gemeinsame des Begriffs, wenn wir zusätzlich zu den verschiedenen vorangegangenen Wendungen auch noch diese christliche Veränderung der Bedeutung berücksichtigen? Zwar soll es sich bei Glück immer noch wie bei Aristoteles um das handeln, um dessen willen gestrebt und gehandelt wird, aber inhaltlich wird es nun in der Anschauung Gottes jenseits des irdischen Jammertales gesucht. Man muss dabei auch bedenken, dass das Irdische jetzt gerade deshalb als ein Jammertal angesehen wird, weil eine bestimmte Vorstellung vom letzten Ziel des menschlichen Lebens verfolgt wird. Zu dieser Vorstellung gehört Im Mittelalter kommt es zu neuen Wendungen im Begriff des Glücks, das nun ins Jenseits verschoben wird, … … während der Mensch in seinem irdischen Leben nur damit beschäftigt sein soll, es sich zu verdienen, … <?page no="35"?> 35 es, dass alles Glück in einem Jenseits zu suchen ist, weshalb das, was für den Menschen auf Erden zu erreichen ist, nicht mehr sehr gut aussieht. Wer als Maßstab für das menschliche Leben nur die ewige Seligkeit in der Anschauung Gottes kennt, für den muss das normale Leben auf der Erde eben wie der Weg durch ein Tal des Jammers aussehen. Wer nicht solche hohen Ansprüche hat, der wird wahrscheinlich zu einer ganz anderen Auffassung über den Wert des irdischen Lebens kommen. Wie in der Antike ist also auch jetzt der Begriff ‚Glück‘ eng mit der Auffassung von dem verbunden, was das menschliche Leben ausmacht und worin der Sinn des ganzen Universums zu sehen ist. Die Auffassung vom Glück änderte sich innerhalb des Christentums noch einmal fundamental, als die Reformation zu einer bleibenden Spaltung in diesem Glauben führte. Der Protestantismus unterhielt grundsätzlich keine sehr gute Beziehung zu einem Thema wie Glück - um das zu erkennen, muss man nur die sinnliche Weltlichkeit katholischer Barockkirchen mit der Kargheit protestantischer Kirchen vergleichen. Zwar wird die Vorstellung beibehalten, dass Glück keineswegs eine irdische Angelegenheit sein könne. Es kommt aber der Gedanke hinzu, dass es für den Menschen überhaupt nicht richtig und angemessen sei, einen Anspruch auf Glück in einem ewigen Paradies zu erheben, in dem die Guten belohnt werden. Eine solche Orientierung des rechten Lebens durch den Blick auf den himmlischen Lohn erscheint nun verdächtig, weil sie eine zu große Selbstliebe verrät, die von vornherein nicht gottgefällig sein kann. Der Gedanke, wir könnten durch gute Taten Ansprüche auf entsprechende Belohnungen gegen Gott erwerben, erscheint als Ausdruck eines gotteslästerlichen Hochmuts. Deshalb kann Glück eigentlich überhaupt nicht mehr als der Zentralbegriff einer Ethik aufgefasst werden, wie das im mittelalterlichen Denken durch die Gleichsetzung der Anschauung Gottes mit der Vollendung des Glücks noch möglich war. Den lieben Gott durch gute Taten dazu bewegen zu wollen, uns mit ewigem Glück zu belohnen, erscheint nun als Anmaßung, die gerade keiner Belohnung wert ist. 2.2 Ein kalkulierbares Vergnügen wird zum Glück des Individuums Die Berechenbarkeit des Glücks Erst als das christliche Denken seine Kraft verloren hatte, konnte im Denken der Aufklärung der bei Epikur in Ansätzen vorhandene Gedanke wieder gedacht werden, Glück sei vor allem ein Maximum an Lust und Vergnügen. Im englischen Denken wird bald von ‚pleasure‘ gesprochen, … und im Protestantismus das Glück nur noch als Gnade gedacht wird, die man sich nicht einmal verdienen kann. <?page no="36"?> 36 und bei Hegel wird Anfang des 19. Jahrhunderts im Deutschen auch in der Philosophie der Begriff des ‚Vergnügens‘ weitgehend synonym mit ‚Glück‘ verwendet. Davon wird etwas unterschieden, was eine Zeit lang als ‚Glückseligkeit‘ bezeichnet wird. Hegel beschreibt es etwas umständlich so: „Glückseligkeit dagegen ist nicht nur ein einzelnes Vergnügen, sondern ein fortdauernder Zustand zum Teil des wirklichen Vergnügens selbst, zum Teil auch der Umstände und Mittel, wodurch man immer die Möglichkeit hat, sich, wenn man will, Vergnügen zu schaffen.“ Aber auch bei diesem Dauerzustand geht es doch in erster Linie um Vergnügen, nur dass es sich nicht um ein einzelnes Vergnügen handelt, sondern um das Anhalten dieses Zustands möglichst für das ganze Leben. Dieser Begriff ist den Vorstellungen von Glück in der gegenwärtigen Welt sicher näher, als es die christliche Verlagerung von Glück in eine jenseitige Welt war. Das ist kein Wunder, denn schließlich ist das heute die westliche Welt bestimmende Denken zum guten Teil in der Aufklärung entstanden - obwohl die Aufklärung nicht hätte stattfinden und sich auswirken können, wenn sie sich nicht gerade gegen die zuvor gedachten Gedanken des Christentums hätte wenden können. Mit dieser Wendung wird der Gedanke eines sogenannten ‚hedonistischen Kalküls‘ möglich. Damit ist die Vorstellung gemeint, das Problem, wie das Maximum an Vergnügen erreicht werden kann, lasse sich im Prinzip wie in einer Rechenaufgabe lösen. Diesem Gedanken liegt eine Veränderung im Begriff des Glücks zugrunde, die es fraglich erscheinen lässt, ob es sich wirklich noch um dasselbe handelt, wenn nun von Glück als Vergnügen die Rede ist statt wie zuvor von Glück als ‚Eudaimonia‘ oder in der Zeit der christlichen Philosophie von ‚Beatitudo‘. Bei dem utilitaristischen - d. h. die Nützlichkeit einer Handlung als ihren Wert auffassenden - Denker Jeremy Bentham wird später sogar von Glück die Rede sein als etwas quantitativ Messbarem. Er sprach in der Tat von ‚units of pleasure‘, wobei das Vergnügen auf keine Weise mehr von irgendwelchen Qualitäten des Erlebens abhängen soll, sondern von Eigenschaften wie Intensität, Dauer, Nähe oder Reinheit. Diese radikale Form eines sich auf die Nützlichkeit konzentrierenden sogenannten Utilitarismus war allerdings zuvor schon von ähnlich denkenden Philosophen infrage gestellt worden. Grundsätzlich hielten aber alle diese Denker daran fest, dass sich allgemeine Einsichten über das menschliche Glück darauf beschränken müssen, Regeln für dessen Erreichen aufzustellen, wenn es um das Handeln von Menschen geht, die sich durch ihre Taten oder durch ihr Unterlassen wechselseitig beeinflussen. Auf Einsichten in das Glück selbst und in seinem Wesen dagegen kann man nach dieser Auffassung durchaus verzichten. Aber wenn Menschen handeln, dann verbessern oder Die Vorstellung von Glück als Lust und Vergnügen kehrt jedoch bald zurück, … … aber auf eine ganz andere Weise, als es sich Epikur hätte vorstellen können. <?page no="37"?> 37 verschlechtern sie in vielen Fällen die Glücksmöglichkeiten anderer Menschen. Dafür und nur dafür will der Utilitarismus Regeln aufstellen. Schon in dem Verzicht auf Aussagen über das persönliche und private Glück steckt eine wichtige neue Wendung im Begriff des Glücks. Diese Vorstellung soll nicht nur ohne Zusammenhänge mit grundlegenden Einsichten in das Wesen des Menschen und der Welt auskommen können. Vielmehr soll es nur noch ein Denken über das Glück geben, insofern Probleme zwischen Menschen entstehen, wenn sie in der Welt handeln und dadurch das Vergnügen anderer Menschen beeinflussen. Für solche Situationen will der Utilitarismus eine einfache Regel angeben. Sie besteht einfach in dem Vorschlag, stets so zu handeln, dass damit das größte Glück - aufgefasst als Vergnügen - der größten Zahl von Menschen ermöglicht wird. Um das beurteilen zu können, muss man offenbar auf den gerade erwähnten ‚hedonistischen Kalkül‘ zurückgreifen, also auf eine Rechenaufgabe, in der Glück addiert und subtrahiert werden kann. Das setzt natürlich voraus, dass alles Glück nun als vergleichbar aufgefasst wird - d. h. man muss annehmen, es könne immer ausgerechnet werden, um wie viel genau das Vergnügen anderer Menschen vergrößert wird, wenn das eigene Vergnügen um einen gegebenen Betrag verkleinert wird. Es handelt sich also um ein messbares Glück, mit dem man im Prinzip genau so umgehen kann wie mit Äpfeln, die man abwiegen kann, so dass man die gleiche Menge zurückgeben kann, die man sich zuvor geliehen hat. In das Denken über das Glück muss also so etwas wie Geld eingeführt werden. Geld ist ein allgemeines Tauschmittel, mit dem man sehr verschiedene Dinge gleichnamig machen kann. Man weiß etwa, wie viel man für eine Flasche Champagner ausgegeben hat, so dass man auch wissen kann, wie lange man dafür arbeiten muss. Auf dieser Grundlage kann man sich ausrechnen, ob das Vergnügen am Champagner so groß ist, dass es das Missvergnügen durch die dafür notwendige Arbeitszeit zumindest ausgleicht. Damit entsteht eine ganz einfache Regel, mit der man über den Kauf der Flasche Champagner entscheiden kann: Kaufe sie nur dann, wenn das Vergnügen durch den Genuss größer ist als das Missvergnügen durch die notwendige Arbeitszeit, um den Champagner zu bezahlen. In dieser Konzeption muss das Glück also so aufgefasst werden, dass es vollkommen gleichnamig gemacht werden kann. Das gilt prinzipiell schon innerhalb des Lebens eines einzelnen Menschen. Sein Glück durch Champagner-Konsum muss durch ein gemeinsames Maß quantitativ vergleichbar sein mit dem Glück, das durch ‚making love‘ oder durch Spazierengehen oder durch das Hören von Beethoven-Sonaten entstehen kann. Dieses Das Glück wird nun messbar, aber das Denken darüber beschränkt sich auf das Zusammenleben der Menschen. Das Glück soll unter eine Regel gebracht werden, die das größte Glück der größten Zahl ermittelt. <?page no="38"?> 38 gemeinsame Maß muss aber auch und vor allem zwischen verschiedenen Menschen gelten. Das Glück des einen durch das Hören der Musik von Norah Jones muss durch Messen vergleichbar sein mit dem Vergnügen, das der andere durch Opernarien von Anna Netrebko empfindet. Das führt natürlich vor allem in der politischen Entscheidung über Gesetze zu schwierigen Situationen. Etwa muss das Missvergnügen, das der eine Mensch durch Steuerzahlen empfindet, auf eine messbare Weise mit dem Glück verglichen werden können, das Menschen durch den höheren Aufwand für die öffentliche Sicherheit und den dadurch ermöglichten besseren Schutz vor Verbrechen gewinnen. Ebenso muss jenes Missvergnügen beim Steuerzahlen aber mit dem Vergnügen verglichen werden, das Menschen durch den Empfang von steuerfinanzierten Sozialleistungen empfinden. Man kann sich leicht vor Augen führen, wie sich der Begriff des Glücks nun verändert hat im Vergleich zu dem, den Platon in der Antike gedacht hatte, oder zu dem, den das christliche Denken im Mittelalter favorisierte. Aber der Utilitarismus konnte bei seinem Gedanken von der Gleichnamigkeit und Gleichwertigkeit des Glücks nicht stehen bleiben. Bei den wichtigeren und folgenreichen Positionen wurden durchaus qualitative Unterschiede im Glück akzeptiert. Bei John Stuart Mill findet sich die Auffassung, es sei besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein, und ein unzufriedener Sokrates sei bestimmt glücklicher als ein zufriedener Depp. Eigentlich widerspricht dies dem utilitaristischen Prinzip fundamental, weil damit die Vergleichbarkeit durch Messen nicht mehr möglich ist. Die Relativität des Glücks Zum Utilitarismus und seinen Folgen gehört aber auch noch eine Wendung im Begriff des Glücks, die auf die Vorstellung von der Relativität des Glücks zurückgeht. Dies wiederum hängt damit zusammen, dass nun kein Zusammenhang mit einer Vernunft mehr notwendig erscheint, die das, was Glück heißen soll, von den Einsichten einer Ethik oder einer Metaphysik abhängig macht. Was Glück heißt, kann jetzt im Grunde individuell bestimmt werden und nur relativ auf die Besonderheiten eines einzelnen Menschen gelten. Jedenfalls war das die radikale Position, die bei Denkern wie John Stuart Mill jedoch um Gedanken aus einer ganz anderen Tradition ergänzt wurde, wie das etwa in der Einführung von qualitativen und über-individuell geltenden Maßstäben für Glück der Fall ist. Dass das Vergnügen eines (menschlichen) Schweins geringer zu bewerten ist als das eines anständi- Ein erster Hinweis auf die Schwierigkeiten, die daraus entstehen werden: wie vergleicht man Glück? Die Utilitaristen mussten deshalb doch wieder qualitative Unterschiede im Glück zulassen. <?page no="39"?> 39 gen Menschen, stammt im Grunde aus einem viel älteren Denken und wurde im Utilitarismus nur gedacht, weil die radikale Position zu sehr den Intuitionen der meisten Menschen widersprach. Aber der einmal in den Begriff ‚Glück‘ eingeführte Individualismus blieb in der Folgezeit dennoch wirksam, auch wenn kaum jemand die radikalen Konsequenzen daraus ziehen wollte. Das führte auch dazu, dass nun jeder, der schreiben konnte und wollte, sich darüber auslassen durfte, was das Glück denn sei. Vor allem in Frankreich erschien in dieser Zeit eine Fülle von Schriften zu diesem Thema. Diderot wies irgendwann darauf hin, dass damit eigentlich immer nur die individuellen Geschichten und Vorstellungen der Autoren erzählt wurden. Nun wurde es sogar möglich, Drogenkonsum für das Erleben von Glück zu empfehlen, und auch ein durch Verbrechen erzeugtes Glück konnte durchaus als solches bezeichnet werden. So weit hatte der Utilitarismus nun doch nicht gehen wollen, auch wenn er es am Anfang abgelehnt hatte, das Glück durch ethische Kriterien bestimmen zu lassen. Es war deshalb nicht ganz falsch, wenn Saint-Just im 18. Jahrhundert das Glück als eine ‚neue Idee‘ eben dieses Jahrhunderts bezeichnete. Er wies damit auf eben die Frage, mit der wir uns hier beschäftigen: Handelt es sich tatsächlich stets um die gleiche ‚Sache‘, wenn Glück in die Sinnenlust verlegt wird oder wenn Glück in der ‚Einheit mit sich selbst‘ gesucht wird, wie dies etwa von Rousseau formuliert wurde, oder wenn Glück als Seelenruhe aufgefasst wird? Zur Illustration sei hier noch Thomasius herangezogen, der um 1700 lebte und arbeitete und als wahres Glück bezeichnete einen Zustand „einer ruhigen Belustigung, welche darinnen besteht, dass der Mensch weder Schmerzen noch Freude über etwas empfindet und in diesem Zustande sich mit anderen Menschen, die eine dergleichen Gemütsruhe besitzen, zu vereinigen trachtet.“ Man könnte darin einen späten Nachhall aus der Stoa hören, aber auch Epikur ist entgegen dem weit verbreiteten Missverständnis hier noch gegenwärtig. Vermutlich hat das aber nur wenig mit dem zu tun, was wir uns heute unter Glück vorstellen. Einen Zustand ohne Schmerzen mögen die meisten Menschen damit meinen, ein Leben ohne Freude aber sicherlich nicht. Eine Antwort auf eine solche merkwürdige Vorstellung von Glück gab bereits Hobbes, der den Gedanken vom notwendigen Kontrast in den Begriff des Glücks einführte. Glück kann demnach keineswegs als Seelenruhe aufgefasst werden, sondern nur als ein ‚andauerndes Fortschreiten von einer Begierde zur anderen‘. Es kann also nur in einem Prozess entstehen, in dem auf Begierde Erfüllung folgt, die wieder neue Begierde erzeugt, so dass Weil das Glück individuell bestimmt werden soll, deshalb wird es grundsätzlich relativ. Glück als ruhige Lust wird kritisiert durch den Verweis auf das notwendige Kontrasterleben. <?page no="40"?> 40 der Weg zur Erfüllung wieder aufgenommen werden kann. Dies hat später Schopenhauer noch radikaler formuliert und auch die Konsequenz daraus gezogen, dass Glück ohne den bewusst bleibenden Kontrast zu Schmerz und Leiden eigentlich nur Langeweile ist. Glück ohne Vernunft In der Neuzeit können wir eine weitere Wendung im Begriff ‚Glück‘ bei Kant finden. Jetzt wird die Annahme aufgegeben, dass alles Handeln prinzipiell am Ziel des Glücks orientiert ist, wie sie Aristoteles eingeführt hatte. Damit wird nicht nur eine neue Vorstellung von Glück geprägt, sondern auch ein Zusammenhang zurückgenommen, der bisher weitgehend unangefochten alles Denken über Glück geprägt hatte. Wenn wir nach Vernunft streben und deshalb auch einen vernünftigen und wahren Begriff vom Glück suchen, so kann Glück nach Kants Überlegung eigentlich nicht als Orientierung für das Handeln gelten. Der Grund ist sehr einfach: es handelt sich offenbar um eine vielgestaltige Sache ohne erkennbares einheitliches Ziel - was Menschen als ihr Glück ansehen, lässt sich überhaupt nicht auf einen einheitlichen Begriff bringen. Wenn wir aber nicht allgemein angeben können, worum es sich handelt, dann können wir Glück auch nicht als vernünftiges Ziel auffassen, denn die Vernunft hat es nur mit dem Allgemeinen zu tun. Das Glück kann darüber hinaus aber auch nicht einen Zweck darstellen, den die Natur dem Menschen vorgesetzt hat, denn sonst hätte sie ihn sicherlich mit besseren Mitteln für die Erreichung dieses Zieles ausgestattet. Außerdem gibt es noch einen guten Grund dafür, dass sich der Mensch das Glück nicht als seinen Endzweck setzen kann. Er könnte dies nur dann auf eine vernünftige Weise tun, wenn er alle Beziehungen zwischen Zielen und Mitteln überschauen könnte. Nur in diesem Fall könnten wir wissen, ob und wie unsere Handlungen in der Wirklichkeit der Welt tatsächlich mit diesem Ziel so zusammenhängen, dass sie uns ihm näher bringen oder von ihm entfernen. Aber für ein solches Wissen ist die Welt viel zu kompliziert. Unsere Handlungen können zunächst unbekannte Nebenfolgen oder gegen unseren Willen auch ganz andere als die gewünschten Folgen haben. Wir wissen also nie genau, ob sie auf lange Frist das gewünschte Ziel erreichen oder uns nicht gerade von ihm entfernen werden. In vielen Fällen meinen wir, zielgerichtet zu handeln, aber der Lauf der Welt verwandelt unsere Handlung so, dass sie in Wahrheit einen Beitrag dazu leistet, um das Ziel in noch weitere Ferne zu rücken. Als Orientierung für vernünftige Regeln des Handelns kann der Begriff des Glücks Kant zufolge also überhaupt nicht herangezogen werden. Deshalb kann er auch nicht für die Bestimmung des Guten in der Ethik verwen- Nach Kant kann das Glück weder ein Ziel der Natur noch der Vernunft sein, … <?page no="41"?> 41 det werden. Eigentlich handelt es sich nur um eine schwankende Idee des Verstandes, der dazu Einbildungskraft und auch die Sinne benötigt, weshalb sie niemals rein vernünftig sein und deshalb auch nicht wirklich als wahr bezeichnet werden kann. Darüber hinaus können wir das Gute auch niemals genau vom Angenehmen unterscheiden, wenn wir uns für die Bestimmung des Guten am Glück orientieren. Die Aussicht auf Glück kann uns deshalb sowohl zu einem unanständigen als auch zu einem moralisch guten Verhalten motivieren. Allein mit Hilfe des Begriffes ‚Glück‘ kann das Gute also nicht vom Bösen unterschieden werden. Deshalb besteht nach Kant der einzige Zusammenhang zwischen dem Guten und dem Glück darin, dass ein gutes Leben uns ‚glückswürdig‘ machen soll. Zwar verbindet Kant schließlich doch in dem Begriff eines ‚höchsten Gutes‘ das gute Leben mit dem Glück, aber dies soll doch nur eine ‚Idee‘ der Vernunft sein. Eigentlich wissen wir aber überhaupt nichts davon, obwohl es sich doch nahe legt, so zu denken, dass das gute Leben schließlich zumindest im ewigen Leben doch noch durch Glück belohnt wird. Der Begriff ‚Glück‘ kann also überhaupt keine allgemeine Geltung beanspruchen, die ihm für alle Menschen die gleiche Bedeutung verleihen würde, so dass sich alle mit dem gleichen Begriff verstehen und Glück als letztes Ziel ihres Handelns auffassen müssten. Hier findet sich die in der Aufklärung gewonnene Einsicht in die Relativität des Glücks wieder, die allerdings nun radikaler und gründlicher formuliert wird. Bei Kant beginnt darüber hinaus explizit die Einsicht, dass wir es beim Glück zunächst nicht mit einer Sache in der Welt zu tun haben, sondern mit einem Begriff und einer Vorstellung. Er bezeichnete es deshalb als einen vom Verstand ‚gemachten‘ Begriff, wobei der Verstand dabei nicht alleine am Werk ist, sondern von der Einbildungskraft und auch von den Sinnen beeinflusst wird. Es handelt sich folglich auf keinen Fall um einen sehr deutlichen Begriff. Wahrscheinlich können wir ihm nur deshalb eine gewisse Bedeutung für den Menschen - und nicht nur für einzelne Menschen oder für einzelne Gruppen oder geschichtliche Epochen - zuschreiben, weil wir in der Regel darauf verzichten, ihn vollständig deutlich zu machen. Er hat also nur deshalb überhaupt eine Bedeutung, weil wir uns darauf beschränken zu glauben, er werde schon ‚irgendeine‘ Bedeutung haben, die wir nur leider nicht so deutlich angeben können. Kants Denken führte auf allen Gebieten des Wissens zu der grundsätzlichen Einsicht, dass sich alles Denken am ‚Subjekt‘ orientiert und nicht an unabhängig vom Denken existierenden Dingen oder Ideen. Das Subjekt wurde nun auch in der Philosophie des Glücks zu der Instanz, die letztlich … und wir können nur sehr wenig dafür tun, und das Glück und das Gute haben kaum etwas gemeinsam. ‚Glück’ wird nun aufgefasst als ein von Menschen gemachter Begriff, der keine allgemeine Geltung besitzt. <?page no="42"?> 42 allein über dessen Gestalt entscheiden muss. Die philosophische Ethik ist jedenfalls nicht mehr in der Lage, dem Menschen sagen zu können, wie sein Glück aussehen müsse. In der Folge dieser Entwicklungen im Begriff des Glücks können der Philosophie des Glücks dann nur noch zwei Aufgaben zugeschrieben werden. Zum einen kann sie sich an einer praktischen Ratgebertätigkeit beteiligen, die aber auch von ganz anderen Disziplinen ausgeübt werden kann. Zum anderen kann sie Beiträge zur Frage nach dem Glück im Staat erbringen. Dies betrifft aber nur die Frage, wie individuelle Subjekte, die alle ihre eigenen Vorstellungen vom Glück haben, gemeinsam zu einer Maximierung ihres Glücks finden können. Diese Überlegungen gehen also von der Einsicht aus, dass das menschliche Glück zu einem großen Teil davon abhängt, wie die Menschen zusammenleben. Diese Einsicht kann aber auf der Grundlage von Kants Philosophie nicht zu einer Entscheidung darüber führen, wie das Glück denn aussehen müsse. Es geht vielmehr nur um die Verfahren, wie Menschen sich im Staat darüber einigen können, welche Vorstellungen von Glück verwirklicht werden sollen, wenn Konflikte zwischen ihnen zu erwarten sind. 2.3 Warum uns die Geschichte des Glücksbegriffs zur Frage nach seinem Nutzen führt Am Anfang dieses Kapitels hatten wir uns die Frage gestellt, ob es sich bei ‚Glück‘ denn tatsächlich um eine einheitliche Vorstellung handelt und der Begriff im Laufe seiner Verwendung wenigstens ungefähr im gleichen Sinn verwendet wurde. Das war gleichzeitig die Frage, ob er überhaupt im vollen Sinne einen Begriff darstellt - oder ob vielleicht verschiedene Ausdrücke ohne gute Gründe so ineinander übersetzt und dabei gleichgesetzt wurden, dass die irrtümliche Vorstellung entstehen konnte, es handle sich um eine identische Idee; und natürlich sollte man nicht ausschließen, dass der identische Ausdruck (etwa im Latein ‚beatitudo‘ oder in deutscher Sprache ‚Glück‘) mit ganz verschiedenen Vorstellungen oder Ideen verbunden wurde, so dass der Gedanke von einem Begriff ganz einfach auf einem Irrtum beruhte. Möglicherweise übersetzen wir auch heute noch zu skrupellos und zu ungenau. Was in der Antike im Griechischen ‚Eudaimonía‘ hieß, ist nicht so einfach mit ‚Glück‘ wiederzugeben. Auch der im englischen Utilitarismus übliche Ausdruck ‚happiness‘ bedeutet nicht ganz das, was ‚Eudaimonía‘ meinte. Das lässt sich schon daraus ersehen, dass hier ganz selbstverständlich von ‚pleasure‘ und vom Gegenteil als ‚pain‘ die Rede war. Statt von ‚pleasure‘ schrieb der Utilitarist John Stuart Mill übrigens auch ‚benefit‘, ‚advantage‘, ‚good‘ und ‚happiness‘, und an die Stelle von ‚pain‘ konnte er auch setzen ‚mischief‘, ‚evil‘ und ‚unhappiness‘. Solche In der Moderne wird das Glück zu einer Sache des Subjekts, das sich mit anderen Subjekten verständigen muss. <?page no="43"?> 43 relativ einfachen Entgegensetzungen waren im griechischen Begriff aber nicht gemeint, der viel umfassender zu verstehen ist. Jetzt ist aus der kurzen Geschichte des Denkens über Glück sehr deutlich geworden, wie extrem groß die Spannweite des Begriffes ‚Glück‘ ist, wenn wir seine Entwicklung betrachten. Das muss nicht ausschließen, dass sich doch etwas Gemeinsames findet, das sich auch heute noch im Begriff ‚Glück‘ findet. Wir werden in den weiteren Kapiteln sehen, dass es solche Gemeinsamkeiten durchaus gibt - allerdings handelt es sich nicht um Inhalte, sondern mehr um sehr allgemeine Strukturen wie etwa die Orientierung an der Vorstellung von einem Ganzen oder der Summe des Lebens, und wir werden gerade diese Bedeutungselemente einer eingehenden Kritik unterziehen. Darüber hinaus ist aber auch deutlich geworden, dass der Begriff ‚Glück‘ wie alle wichtigen Begriffe eine lange Geschichte des Denkens hinter sich herschleppt. Jedes Mal, wenn wir einen solchen Begriff verwenden, haben wir deshalb nicht in erster Linie eine ‚Sache‘ gegenwärtig, sondern wir sind auch auf eine Vergangenheit bezogen. In ihr haben Menschen, die längst verstorben sind, Begriffe geschaffen und geprägt, die wir heute deshalb so verwenden, wie wir dies tun, weil sie sich in dieser Vergangenheit entwickelt haben - m. a. W.: weil Menschen in der Vergangenheit auf eine bestimmte Weise gedacht haben, orientieren und bewerten wir unser Leben heute so, wie wir es tun und nicht anders. Wäre diese Geschichte anders gewesen, so würden wir uns und unser Leben heute anders auffassen. In Wahrheit ist die Vergangenheit deshalb nicht so ganz vergangen. Sie hat sehr viel mit unserer Gegenwart zu tun und mit der Art und Weise, wie wir mithilfe des Denkens und unserer Begriffe uns selbst und unsere Welt verstehen und entsprechend handeln. Die damals entstandenen Begriffe prägen immer noch das, was wir heute als einen Begriff wie etwa ‚Glück‘ ansehen - auch wenn wir darin keine wirkliche Einheitlichkeit, sondern nur eine lockere Gemeinsamkeit in sehr allgemeinen Strukturen erkennen können. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass solche Begriffe aufgrund ihrer langen Entwicklung eine besonders respektvolle Behandlung verdienen. Es kann durchaus sein, dass so manche alte Begriffe eine lange Geschichte von Irrtümern hinter sich herschleppen. Man sollte nie ganz ausschließen, dass es sich um Begriffe handelt, die nie wirklich nützlich waren. Diese Möglichkeit besteht schon deshalb, weil die Begriffe, die aus der Vergangenheit auf uns gekommen sind, auch damals nicht ihre Bedeutung aus dem Bezug auf eine unabhängig von ihnen bestehende ‚Sache‘ bezogen haben konnten. Unsere Vorfahren haben sich nicht einfach die ‚Sachen‘ Der Begriff ‚Glück’ ist in einer langen Geschichte geprägt worden, … … und so etwas wie eine durch die Natur selbst gegebene Sache hat sich darin an keiner Stelle gemeldet. <?page no="44"?> 44 selbst angesehen und dann die entsprechenden Begriffe geschaffen, die zu den ‚Sachen‘ passten - auf jeden Fall wäre das bei einer Idee wie ‚Glück‘ nicht möglich. Wäre es doch so, dann freilich müssten wir nur in Betracht ziehen, dass die Probleme vielleicht daraus entstehen, dass diese Begriffe heute nicht mehr so richtig zu den Sachen passen, die sich möglicherweise stark verändert haben. Dann würde das Problem nur darin bestehen, dass die Begriffe nicht flexibel genug auf eine veränderte Welt eingestellt werden können. Das kommt etwa in den Sozialwissenschaften durchaus vor und auch in den Naturwissenschaften können wir von einem besseren oder schlechteren ‚Passen‘ der Begriffe zur Welt sprechen. Aber das Problem sieht anders aus in solchen Fällen, wenn die ‚Sachen‘ nicht in der Natur vorkommen, sondern nur in der Kultur oder im Geist existieren, d.h. wenn wir sie nicht einfach anfassen oder sehen, hören oder riechen können. In diesem Fall wurden die vor langer Zeit geprägten Begriffe im Grunde nur und immer durch eine lange Entwicklung aus der Geschichte geformt und in ihrer Bedeutung gestaltet. Eigentlich gibt es dafür keinen Anfang. Manchmal kann man allerdings eine bestimmte Zeit und vielleicht sogar eine Region angeben, in der solche Begriffe die Ausprägung erfahren haben, die heute noch für uns von Bedeutung ist. Aber auch was man damals über die ‚Sachen‘ gedacht hat, entstand nicht durch eine originale Begegnung mit ihnen, sondern war selbst durch das bestimmt, was wiederum andere Menschen zuvor sich über diese Sachen vorgestellt und in ihren Begriffen zum Ausdruck gebracht hatten. Auch an diesem Anfang begann die Entwicklung der Begriffe also nicht dadurch, dass sich die ‚Sachen selbst‘ bei den Menschen gemeldet haben, die sich dann darüber Gedanken machten und Begriffe prägten. Die ‚Sachen‘ selbst können sich nicht ausdrücken, sondern dies können nur Menschen, die sich miteinander verständigen, indem sie sich Begriffe über eine Sache bilden, welche darin das wird, als was wir sie kennenlernen. Nichtsdestoweniger können wir mit einem gewissen Recht annehmen, dass der Anfang dieses Prozesses in Bezug auf den Begriff des Glücks für uns im Westen einige Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung in Griechenland stattfand. Dies ist vor allem deshalb richtig, weil zu dieser Zeit die ersten gründlicheren Überlegungen zu diesem Begriff angestellt wurden. Sie wurden durch verschiedene Umstände bedingt relativ gut überliefert, so dass sich spätere Generationen immer wieder darauf berufen konnten. Diese Überlegungen waren für eine lange Periode des Denkens so überzeugend, dass man über das Glück lange Zeit kaum noch eigens nachdenken und darüber neue Ideen ausarbeiten musste. Es genügte für die Menschen vieler Jahrhunderte, dass sie nur die Gedanken aufnahmen, die lange zuvor diesen Begriff geprägt hatten. Den Anfang der Begriffsgeschichte von ‚Glück’ können wir zwar in der griechischen Antike finden, … <?page no="45"?> 45 Wir können aus der Geschichte des Begriffs ‚Glück‘ also vor allem lernen, dass wir uns keineswegs sicher sein können, dieser Begriff sei tatsächlich nützlich für unser Leben und nicht ganz einfach ein langer Irrtum, den wir besser aufgeben sollten. Zumindest bei wichtigen Begriffen, mit deren Hilfe wir unser Leben verstehen wollen, sollten wir uns immer wieder fragen, ob sie uns wirklich dabei helfen, unser Leben besser zu leben. Wir sollten nicht von vornherein ausschließen, dass sie uns vielleicht im Gegenteil Probleme machen, die nicht notwendig sind und die wir durch andere Begriffe leicht vermeiden könnten. Es kann in solchen Fällen sein, dass die Probleme in erster Linie durch Begriffe entstehen, die in ihrer Bedeutung eine solche Geschichte des Denkens mit sich herumschleppen, die für unsere Situation in der Gegenwart überhaupt nicht hilfreich ist. Wir können bestimmte Erfahrungen auch mit dem Begriff des ‚Glücks‘ beschreiben. Aber wir tun dies nie auf eine von der ‚Natur selbst‘ vorgegebene Weise. Wir müssen unsere Erfahrungen also nicht mithilfe dieses Begriffes beschreiben. Wir könnten auch ganz anders darüber sprechen und würden dann auch anders denken - und vor allem würden wir unser Leben auf eine andere Weise leiten lassen. Wir können und sollten uns also fragen, warum wir in der Erfahrung eines Mangels gerade den Begriff des fehlenden ‚Glücks‘ verwenden und nicht einfach dabei bleiben zu sagen, ‚meine Wohnung ist zu klein, mein Auto zu langsam, und meine Frau könnte auch schöner sein‘. Welche Begriffe wir verwenden hat Folgen für die Art und Weise, wie wir mit solchen Problemen umgehen. Es ist also nicht gleichgültig, dass wir heute dazu neigen, gerade den Begriff des fehlenden Glücks für eine Beschreibung der Differenz zwischen dem, was wir möchten, und dem, was wir haben, zu verwenden. Es macht einen Unterschied für unser wirkliches Leben, wie wir darüber sprechen. Jeder solche Begriff bringt eine Bedeutung mit sich, die in erster Linie aus seiner Geschichte stammt. Wir sollten also bei der Frage nach dem Glück nie außer Acht lassen, dass wir diese Frage nur deshalb gerade auf diese bestimmte Weise stellen, weil wir es uns auf der Grundlage einer bestimmten Geschichte gerade so haben sagen lassen. Diese Geschichte hätte auch ganz anders sein können und wir würden dann ganz andere Fragen stellen. Nichtsdestoweniger müssen wir berücksichtigen, dass es diesen Begriff gibt, d. h. er ist in einer langen Geschichte des Denkens entstanden, in der sich ebenso das menschliche Selbstverständnis entwickelt hat. Wir Men- … aber die lange Geschichte des Begriffes ‚Glück’ beweist keineswegs seine Nützlichkeit. Wir können uns nicht auf eine Sache Glück beziehen wir haben nur die verschiedenen Begriffe, … … mithilfe derer wir uns als Menschen verstehen, die durch Kultur und Geschichte geprägt sind. <?page no="46"?> 46 schen in der westlichen Kultur verstehen uns heute also in der Tat u. a. mit Hilfe dieses Begriffes. Zumindest tun das viele oder sogar die meisten Menschen. Natürlich schließt die Tatsache, dass der Begriff ‚Glück‘ zu den Vorstellungen gehört, die an wichtiger Stelle in unser Selbstverständnis gehören, noch kein Urteil über seinen Nutzen ein. Aber wir müssen auch festhalten, dass es sich bei ‚Glück‘ doch um einen der Begriffe handelt, die für Zwecke unserer Selbstverständigung eine große Bedeutung besitzen. Sie beziehen sich zwar nicht auf eine Sache und lösen vermutlich auch kein konkretes Problem, aber wir erzeugen mit ihnen Gemeinschaft. Mit ihrer Hilfe gewinnen wir die Grundlagen für eine Verständigung unter Menschen, in der wir uns versichern können, dass wir einer gemeinsamen Welt angehören bzw. gemeinsam einer Welt gegenüberstehen. Wir könnten den Begriff ‚Glück‘ also auch einen ‚Horizont-Begriff‘ nennen - er ist einer der Begriffe, mit denen wir uns die Vorstellung eines Horizontes verschaffen, von dem her wir uns als Menschen einer gemeinsamen Kultur und Geschichte verstehen können. Diese sinnvolle Funktion eines Begriffes wie ‚Glück‘ sollte uns aber nicht daran hindern, weiter die Frage zu stellen, ob ein Selbstverständnis mithilfe dieses Begriffes zu guten Ergebnissen führt, oder ob ein anderes Selbstverständnis zu einem besseren Leben beitragen würde. Die Lehren aus der kurzen Geschichte des Begriffes ‚Glück‘ schließen sich also sehr gut an die Einsichten an, die wir aus der Diskussion über den Zusammenhang der Begriffe mit den Sachen gewonnen hatten. Es hatte sich gezeigt, dass es keine ‚Sache‘ gibt, um die es in der Bewertung des Lebens unter der Perspektive des Glücks oder in der Orientierung des Strebens an dieser Vorstellung geht. Wir folgen dabei Begriffen, die wir uns als Menschen gebildet haben, und diese Begriffe sind nicht durch die Natur einer Sache selbst so, wie sie sind, sondern sie sind in der Geschichte des Denkens und der Kultur entstanden. Was wir mit dem Begriff ‚Glück‘ als ‚Sache‘ ansehen, ist also das Ergebnis einer bestimmten Entwicklung des Selbstverständnisses, das wir uns als Menschen gebildet haben. Es stammt nicht aus der ‚Natur‘ oder dem ‚Wesen‘ des Menschen, sondern aus der Geschichte der Menschen und ihres Denkens über sich selbst. 2.4 Wie wir den Begriff ‚Glück‘ aus der Perspektive der Lebenskunst abgrenzen können Bei der Untersuchung der Frage, wie wir von Glück sprechen können, und in der ganz kurzen Geschichte des Glücksbegriffes sind uns schon einige Aspekte der Vorstellung ‚Glück‘ begegnet, mit denen sich dieser Begriff zunächst ganz vorläufig etwas näher beschreiben lässt. Wir sollten jedoch beachten, dass eine solche Skizze von der Perspektive abhängig bleibt, aus Um den Nutzen dieses Begriffs zu prüfen, müssen wir ihn also als Ergebnis einer langen Geschichte untersuchen. <?page no="47"?> 47 der wir sie entwerfen. Es kann nach allem, was bereits deutlich geworden ist, nicht mehr um den Blick auf eine Sache gehen, von welcher jemand, der diesen Begriff verwendet, ein exklusives Wissen beanspruchen könnte, weil er über einen begriffs- und sprachfreien Zugang zu einer solchen Sache verfügt. Auch in der folgenden Untersuchung nehmen wir eine bestimmte Perspektive ein, unter der wir mit dem Begriff ‚Glück‘ umgehen. Das schließt auch ein, dass wir nicht die eine und einzige und ewig wahre Definition dieses Begriffes geben können. Eine solche ‚wahre‘ Definition gibt es ebenso wenig wie eine von unseren Begriffen und Vorstellungen und damit von der Geschichte des Denkens unabhängige ‚Sache‘, auf die wir jenen Begriff beziehen könnten. Unsere Bedeutung dieses Begriffes orientiert sich an dem Blickwinkel der Frage, ob wir mit der Vorstellung ‚das Glück‘ im Leben etwas Nützliches anfangen können, so dass uns die Lebenskunst besser gelingt. Das heißt nicht, eine solche Bedeutung könne erfunden werden so, wie sich Politiker und/ oder Journalisten bisweilen Probleme ausdenken, um dann ‚Skandal‘ schreien und sich durch Lösungen für solche Probleme profilieren zu können, die sonst niemand gehabt hätte. Das Kriterium für die Richtigkeit einer solchen Bedeutung ist vielmehr die Entwicklung des Begriffs in der Geschichte und seine Verwendung in der Gegenwart. Hier müssen wir uns also auf ein gewisses Ausmaß an Interpretation und auf kulturgeschichtliches Wissen verlassen, mithilfe derer wir den Begriff in seiner vorherrschenden Bedeutung auffassen können. Wir haben auch schon darauf hingewiesen, dass sich aus der Geschichte kaum bestimmte Inhalte für diesen Begriff entnehmen lassen. Aber nichtsdestoweniger gibt es doch einige Strukturen und ‚Charakterzüge‘ in diesem Begriff, die wir für eine Untersuchung im Hinblick auf seine Nützlichkeit verwenden können. Zwei solche sehr allgemeine Aspekte der Bedeutung von ‚Glück‘ haben wir bereits herangezogen, als wir uns fragten, was wir mit diesem Begriff üblicherweise tun. Zunächst tendieren wir mit dem Begriff ‚Glück‘ dazu, unser eigenes Leben und ebenso das anderer Menschen zu bewerten und zu beurteilen. Darüber hinaus setzen wir diesen Begriff ein, um ein Ziel zu bezeichnen, das wir zur Orientierung all dessen verwenden können, was wir im ganzen Verlauf unseres Lebens anstreben wollen. Schon mit dieser ganz allgemeinen Beschreibung einiger wichtiger Funktionen des Begriffes ‚Glück‘ lässt er sich von anderen Begriffen unterscheiden, die wir bisweilen ähnlich gebrauchen, und die manchmal sogar als Ersatzbegriffe für ‚Glück‘ genannt werden. Etwa gibt es Begriffe, mithilfe derer beansprucht wird, man könne etwas auf eine objektive Weise beschreiben, das unter gewissen Perspekti- Zwei sehr allgemeine Aspekte der Funktion und Bedeutung des Begriffes ‚Glück’, … … mit deren Hilfe er von nur scheinbar ähnlichen Begriffen abgegrenzt werden kann. <?page no="48"?> 48 ven wie Glück aussieht. Ein wichtiger Unterschied ist allerdings, dass sie sich nicht darauf beziehen, wie etwas aus der Perspektive des Erlebenden aufgefasst wird. Etwa sprechen manche Autoren in dem Versuch, Wissenschaftlichkeit in die Frage nach dem Glück zu bringen, lieber von ‚Lebensqualität‘. Das hat den Vorteil, dass es so scheint, als wäre die Subjektivität des Glücks beseitigt, so dass der Begriff einen Inhalt hat, der auch objektiv festgestellt werden kann. Dasselbe gilt im übrigen auch für einen Begriff wie ‚Lebenszufriedenheit‘ und ähnliche Begriffe, die in der empirischen Glücksforschung verwendet und deshalb mit Blick auf diese spezielle Zielsetzung definiert werden. Der Begriff ‚Lebensqualität‘ wird vor allem für Zwecke des Vergleichens verschiedener Länder oder Regionen herangezogen und deshalb durch passende objektive Indikatoren gemessen. Eigentlich stammt dieser Begriff aber aus der Erkenntnis, dass die Wirtschaftswissenschaft sich schwer damit tut, den Wohlstand von Nationen auf aussagekräftige Weise zu messen. Traditionell wurde und wird der Wohlstand eines Landes durch das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf gemessen. Je höher dieser Wert ist, desto größer ist der Wohlstand in einem Land. Das hat allerdings einige Nachteile, die aus der Berechnung dieses Wertes stammen. Etwa erhöht jeder Autounfall das Bruttoinlandsprodukt, weil die Reparaturkosten, aber evtl. auch Krankheitskosten als Leistungen in dieses Wohlstandsbarometer eingehen. Es kommt also zu der unsinnigen Folge, dass ein Land umso reicher erscheint, je mehr Autos nach Unfällen repariert werden müssen und je mehr behandlungsbedürftige Krankheiten vorkommen. Übrigens wird ein Land auf diese Weise auch dadurch reich gerechnet, dass mehr Bürokratie einen Zuwachs an Wohlstand suggeriert, weil die Gehälter der Angestellten im öffentlichen Dienst in das Bruttoinlandsprodukt eingehen. Um solche Probleme zu vermeiden, wurde das Konzept der ‚Lebensqualität‘ entwickelt, das eine Vielzahl von Faktoren verwendet, um den Wohlstand in einem Land einschätzen zu können. Solche Indikatoren können das körperliche, psychische und soziale Befinden betreffen. Man kann auch die verfügbare Freizeit berücksichtigen und die Chancen, auf politische Entscheidungen einzuwirken, oder das Ausmaß, in dem man Angst vor Verbrechen haben muss. Entscheidend ist dabei also die Möglichkeit, die einzelnen Faktoren für verschiedene Gruppen bzw. Länder messen und auf dieser Grundlage Vergleiche anstellen zu können. Allerdings muss es auch gelingen, zumindest in einem ausreichenden Ausmaß den Zusammenhang mit der Verwendung des Glücksbegriffes in der Alltagssprache aufrecht halten zu können. Viele Probleme mit dem Begriff der ‚Lebensqualität‘ stammen daraus, dass Forschern dies nicht in entsprechendem Grade gelungen ist. Der Blick von außen und auf objektive Faktoren: der Begriff der ‚Lebensqualität’. <?page no="49"?> 49 Darüber hinaus wird der Begriff der ‚Lebensqualität‘ auch in der medizinischen Ethik verwendet. Die durch bestimmte Behandlungen erreichbare Lebensqualität kann als Grundlage für Therapieentscheidungen herangezogen werden. Das kann manchmal zu dem Ergebnis führen, dass die Lebensqualität für einen bestimmten Menschen dann als höher eingeschätzt wird, wenn auf eine lebensverlängernde Behandlung verzichtet wird, die besonders belastend wäre. Auch hier geht es also nicht in erster Linie um das subjektive Erleben, sondern um solche Faktoren, die auch von anderen Menschen beschrieben werden können, wie etwa die Einschränkung der Bewegungs- oder der Kommunikationsfähigkeit oder sogar der Intensität des Erlebens und Wahrnehmens aufgrund von Chemotherapie. Dieser Begriff wird also ebenfalls unter der Perspektive der Suche nach möglichst objektiven Faktoren definiert, um zu einer ‚von außen‘ vernünftig erscheinenden und deshalb begründbaren Entscheidung zu kommen. Eine ganz ähnliche Perspektive wird bei den Begriffen herangezogen, die die sogenannte ‚empirische Glücksforschung‘ verwendet. Aus unseren bisherigen Überlegungen ist bereits deutlich geworden, dass auch eine solche Forschung nicht beanspruchen kann, eine unabhängig von begrifflichen und geschichtlichen Festlegungen irgendwo in einer ‚Welt an sich‘ vorkommende ‚Sache Glück‘ zu bestimmen und die Bedingungen ihres Auftretens anzugeben. Untersucht wird dabei ein Konstrukt, das Forscher so festgelegt haben, dass es mithilfe solcher Indikatoren gemessen werden kann, die forschungs- und messtechnisch gerade praktikabel sind. Damit tritt dasselbe Problem auf wie beim Begriff der ‚Lebensqualität‘: der Forschung gelingt es nur schwer, den Zusammenhang mit der alltäglichen Verwendung des Begriffes ‚Glück‘ in ausreichendem Maße herzustellen. Natürlich sollte man nicht verlangen, dass ein solches Konstrukt exakt das wiedergibt, was ‚man‘ alltäglich unter ‚Glück‘ versteht. Das wäre schon aufgrund der diffusen Verwendung dieses Begriffs nicht möglich. Die Entscheidung über den Sinn solcher begrifflicher Festlegungen ergibt sich im Grunde aus dem Nutzen, den die damit ermöglichten Untersuchungen für die Menschen erbringen, die sich unter solchen Begriffen verstehen. Das gilt natürlich auch dann, wenn eine solche Forschung als Psychologie durchgeführt wird. In der Regel fasst sie ‚Glück‘ als ein eigenes und besonderes Gefühl auf, d. h. sie ist Teil der Emotionspsychologie. So weit sie Gehirnforschung ist, muss sie sich bei der Feststellung von Glückserlebnissen auf die Selbstauskünfte der Versuchspersonen verlassen und kommt in der Regel wieder zu psychologischen Konzepten wie in der Emotionspsychologie zurück. Natürlich stimmt eine solche Auffassung nicht mit der Geschichte dieses Begriffs überein. Dies gilt auch dann, wenn man die Brüche und Veränderungen in dieser Entwicklungsgeschichte berücksichtigt. Empirische Glücksforschung als Perspektive auf das messbare statistische Glück. <?page no="50"?> 50 Was auf diese Weise als Ergebnis per Selbstauskunft gewonnen wird, gibt in der Regel an, welche Bedeutung jemand einem Selbstverständnis unter diesem Begriff ‚Glück‘ zumisst. Es gibt also an, wie wichtig es für jemanden ist, sich als glücklich oder unglücklich zu bezeichnen. Die Frage richtet sich also im Grunde auf die Bedeutung eines bestimmten Selbstverständnisses. In einer Kultur, in der ein solches Selbstverständnis mehr Bedeutung hat, wird deshalb auch ein höheres Glücksniveau gemessen. In der Gehirnforschung bezieht sich der Begriff von Glück, der hier verwendet wird, manchmal sogar nicht mehr auf ein Gefühl, zu dem in der Regel auch eine Stellungnahme bzw. eine Einstellung gehört, die dieses Gefühl in den Zusammenhang eines Lebens einstellt. Hier geht es letztlich nur noch um vegetative Reaktionen, womit auch die minimale Bedeutung des Begriffes ‚Glück‘ vollständig aufgegeben wird, die wir aus der wechselvollen Geschichte seiner Entwicklung mit der notwendigen Vorsicht entnehmen können. Für unsere Fragerichtung nach dem, was wir mit dem Begriff ‚Glück‘ tun und ob das für unser Leben nützlich ist, ist eine solche Forschung deshalb nicht hilfreich. Sie will sich wissenschaftlich mit einem bestimmten Phänomen (wie etwa dass wir uns mithilfe des Begriffes ‚Glück‘ verstehen) beschäftigen und muss deshalb zuvor diesen Begriff auf eine bestimmte Weise abgrenzen und definieren. Das muss sie auf eine solche Weise tun, dass damit empirische Forschung möglich wird, für die das und nur das existiert, was messbar ist, so dass es mithilfe mathematischer und vor allem statistischer Verfahren beschrieben werden kann. Damit wird auf eine bestimmte Weise festgelegt, was wir mit dem Begriff ‚Glück‘ tun und wozu er nützlich sein soll: in diesem Fall tun wir mit ihm das, was für die empirische Forschung notwendig ist, und er soll sich so nützlich machen, dass dabei quantitative Ergebnisse gefunden werden, für die sich möglichst viele Menschen interessieren. Die Grundlage einer solchen Forschung ist natürlich keine ‚Sache Glück‘, die man auf diese Weise in den Griff bekommen könnte, sondern eine bestimmte Verwendung des Begriffes, und was herausgefunden wird, bezieht sich genau auf diesen Begriff und nicht auf ‚das Glück‘. Das ist stets so, wenn wir Untersuchungen zum Thema ‚Glück‘ anstellen. Aber aus Gründen der für die empirische Wissenschaft notwendigen Perspektive kann es in ihr nicht um die Frage gehen, ob die Vorstellung ‚Glück‘ für das Leben der Menschen nützlich oder schädlich ist. Darüber hinaus gibt es noch eine ganze Reihe anderer Begriffe, die von dem einen oder anderen Autor bzw. Forscher schon als mit dem des ‚Glücks‘ verwandt bezeichnet wurden. Mögliche Kandidaten sind etwa: Zufriedenheit, Seligkeit, Sinnerfüllung, Selbstverwirklichung, Wohlbefinden, Vergnügen, Freude, Spaß, Lebensbejahung - oder vielleicht auch Lebenszufrieden- Empirische Glücksforschung als Psychologie und Gehirnforschung - und ihre Grenzen. <?page no="51"?> 51 heitskompetenz oder Positiverfahrungen. Möglicherweise lassen sich noch viele andere finden, die eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Begriff ‚Glück‘ aufweisen. Wenn man die Geschichte des Begriffs betrachtet, so wird jedoch rasch deutlich, dass es sich hier allenfalls um verabsolutierte und als das Ganze genommene Teilbereiche dessen handelt, was unter ‚Glück‘ verstanden wurde, oder es wurde eine bestimmte Theorie über das, worin wir das ‚Glück‘ finden sollen, mit der geschichtlich entstandenen Bedeutung dieses Begriffs verwechselt. Bei manchen Begriffen ist das sehr deutlich. Etwa kann man sich vermutlich leicht darauf einigen, dass zu unseren Vorstellungen von Glück auch gehört, dass jemand generell zur Lebensbejahung neigt. Aber eine solche Bejahung ist subjektiv durchaus auch unter Bedingungen möglich, die in traditionellen Glückslehren gerade als unglücklich bezeichnet werden müssen. Man kann sich hier etwa religiöse Lehren vorstellen, die zu einer Bejahung des Lebens aus Gründen seiner Gottgegebenheit führen, auch wenn es in keinem uns vertrauten Sinn als glücklich bezeichnet werden kann. Dasselbe gilt auch für den Begriff der Sinnerfüllung. Möglicherweise haben christliche Märtyrer ihr Leben auch noch in einem qualvollen Sterben als erfüllt mit Sinn angesehen, aber wir werden ihr Schicksal deshalb doch nicht als glücklich bezeichnen. ‚Selbstverwirklichung‘ ist ein mit vielen Problemen verbundener Begriff und wir werden weiter unten noch auf seinen Zusammenhang mit Glück eingehen. Aber man kann sich gewiss Situationen vorstellen, in denen ein gewisses Maß an Selbstverwirklichung gelingt, obwohl dies keineswegs mit Glück in irgendeinem Sinn verbunden ist. Sicher werden die meisten Menschen darin übereinstimmen, dass Zufriedenheit oder Wohlbefinden viel weniger ist als Glück und dasselbe gilt wahrscheinlich auch für Freude und Spaß. Vor allem fehlt hier der Bezug auf das Ganze, den wir alle mit Glück verbinden. ‚Positiverfahrungen‘ ist ein so allgemeiner Begriff, dass kein Mensch außerhalb eines bestimmten Wissenschaftsjargons diesen Ausdruck verwendet oder ihn gar an die Stelle von Glück setzen wird. Bei dem Begriff ‚Lebenszufriedenheitskompetenz‘ schließlich versteht sowieso niemand, was damit gemeint sein könnte und warum man ihn statt ‚Glück‘ verwenden sollte. Es scheint, dass diese Begriffe von ‚Glück‘ für unser Unternehmen nicht sehr viel beitragen können. Aber mit dieser negativen Abgrenzung können wir es natürlich nicht bewenden lassen. Wenn wir den Nutzen - oder möglichen Schaden - durch den Begriff bzw. die Vorstellung ‚Glück‘ untersuchen wollen, so müssen wir doch wenigstens einige wichtige Aspekte einer ausreichend bestimmten Bedeutung von ‚Glück‘ einführen. Wir müssen eine vorherrschende Bedeutung zugrunde legen, die heute für viele Menschen gilt und die ihr Verständnis von Glück prägt. Nur dann können wir darüber … Und ein Bündel anderer und verwandter Begriffe, die den des Glücks doch nicht ersetzen können. <?page no="52"?> 52 entscheiden, ob diese Vorstellung nützlich ist oder nicht und erkennen, ob es hilfreich ist, das Leben mit ihrer Hilfe zu bewerten und durch die Vorstellung ‚Glück‘ unser Streben leiten zu lassen. Wir brauchen also bis zu einem gewissen Ausmaß eine Bedeutung dieses Begriffes, um wissen zu können, ob es gut für uns ist, nach Glück zu streben. Einen ersten Schritt in diese Richtung haben wir schon zurückgelegt. Wir haben bereits in der Einleitung auf eine weitgehend unproblematische und sicher nicht schädliche Verwendung des Begriffes ‚Glück‘ für ein bestimmtes Gefühl unter anderen Gefühlen hingewiesen. Wir sprechen in solchen Fällen von Glückserlebnissen oder von Glücksmomenten und meinen dann nicht etwas, was unser ganzes Leben bestimmt, sondern eine Empfindung, die prinzipiell ebenso aufgefasst wird wie ein Gefühl der Freude, der Lust, des Vergnügens oder auch das Gefühl, dass wir gerade unseren Spaß haben. Allerdings ist sie intensiver, bewegt uns tiefer - und dauert leider in der Regel nicht so lange, wie wir uns das wünschen würden. Außerdem ist es nur sehr schwer bis unmöglich, dieses Gefühl gezielt und mithilfe geeigneter strategischer Planungen anzustreben. Wir können zwar eine gewisse Bereitschaft für solche Momente erzeugen, aber Glücksmomente selbst können wir doch nicht aus eigener Kraft herstellen. Ein zweiter Schritt war damit getan, dass wir eine Abgrenzung von dieser Verwendung des Begriffes ‚Glück‘ vorgenommen haben. Wir haben gesehen, dass wir den Ausdruck ‚das Glück‘ vor allem in solchen Zusammenhängen verwenden, in denen wir sagen, dass wir nach ‚dem Glück‘ streben und unser Leben durch die Suche nach ‚dem Glück‘ bestimmen lassen wollen, so dass wir unser eigenes Leben und womöglich auch das anderer Menschen schließlich durch das Maß ‚des Glücks‘ beurteilen und bewerten können. Wir verwenden den Begriff ‚Glück‘ also im allgemeinen so, dass damit nicht Glückserlebnisse oder Glücksmomente gemeint sind, sondern etwas, das wir zur Orientierung und als letztes Ziel für unser Streben verwenden und deshalb auch als Maß zur Beurteilung und Bewertung unseres eigenen Lebens und dann auch desjenigen anderer Menschen heranziehen wollen. Aus dieser Verwendung lassen sich einige wichtige Aspekte der Vorstellung ‚Glück‘ ableiten, die sehr eng untereinander zusammenhängen. Darüber hinaus sind sie auch in der Geschichte dieses Begriffes immer wieder sehr wichtig geworden, obwohl sie keineswegs einen durchgängigen Bestand des Denkens über Glück darstellen. Schließlich haben diese Aspekte noch den Vorteil, dass sie sich in sehr vielen oder vielleicht sogar den meisten Vorstellungen von Glück auffinden lassen, die wir aus der Interpretation der Verwen- Zwei erste Schritte in Richtung einer ausreichenden Angabe der Bedeutung von Glück … … und nun werden sechs Aspekte des Begriffes ‚Glück’ entwickelt und kritisiert. <?page no="53"?> 53 dung dieses Begriffes in der Literatur und anderen Manifestationen der Kultur entnehmen können. Dabei lassen sich sechs Aspekte des Begriffes ‚Glück‘ auffinden, die wir in den folgenden Kapiteln (3. - 8.) entwickeln und kritisieren werden. <?page no="55"?> 55 3. Warum wir im Streben nach Glück die falsche Richtung auf’s Ganze einschlagen 3.1 Mit dem Glück soll es um’s Ganze gehen, obwohl das Leben aus Einzelheiten besteht Die Suche nach Glück wird zunächst zu einer fragwürdigen Angelegenheit, weil wir mit dieser Leitvorstellung für unser Denken und Handeln eine falsche Richtung auf’s Ganze einschlagen. Wir sollten also zunächst untersuchen, ob der Begriff ‚Glück‘ nicht vielleicht ein wenig zu viel an ‚Ganzheit‘ in sich enthält, um wirklich nützlich zu sein. Immanuel Kant hat dieses Problem bereits im 18. Jahrhundert ähnlich gesehen. Er wies allerdings nicht ausdrücklich darauf hin, dass der Begriff ‚Glück‘ vielleicht schädlich sein könnte. Aber die Orientierung an einem Ganzen führt seiner Überlegung zufolge auf einen inneren Widerspruch in diesem Begriff, und ein solcher Begriff kann mit Sicherheit nicht nützlich sein. Kant wies zunächst auf die geringe Präzision in der Vorstellung ‚Glück‘ hin, die dazu führt, dass ein Mensch, der nach Glück strebt, nie so genau sagen kann, was er eigentlich will. Wenn man nicht weiß, was man will, so wird man vermutlich nicht allzu viel erreichen können. Schon deshalb kann man bei einer solchen Zielsetzung nicht ausschließen, dass darin so manches unvereinbar und widersprüchlich sein dürfte. Die innere Widersprüchlichkeit der Vorstellung ‚Glück‘ stammt darüber hinaus aber auch direkt aus der Bedeutung eines angestrebten ‚Ganzen‘, die wir auch heute noch in diesem Begriff finden. Einerseits können wir nur aus der Erfahrung entnehmen, was für unser Glück gut ist. Erst nach dem Kosten können wir wissen, ob wir Erdbeer- oder Schokoladeneis bevorzugen. Wir können die Mittel für das Glück und die einzelnen Elemente eines solchen Zustands also nicht vernünftig und ein für alle Mal bestimmen, sondern müssen warten, was wir im Laufe der Zeit darüber herausfinden. Also bleibt dieser Zustand auch immer vorläufig, denn grundsätzlich verhält es sich natürlich immer so wie bei der Erfahrung mit Eiscreme. Damit ist aber nicht vereinbar, dass andererseits (in Kants Worten) „zur Idee der Glückseligkeit ein absolutes Ganzes, ein Maximum des Wohlbefindens, in meinem gegenwärtigen und jedem zukünftigen Zustande erforderlich ist.“ Auch wenn wir uns bereits zwischen Erdbeer- und Schokoladeneis Der Begriff des Glücks will auf´s Ganze gehen, weshalb er einen Widerspruch enthält, … <?page no="56"?> 56 entschieden haben, können wir doch nicht ausschließen, dass wir durch Amarena-Eis noch viel mehr Genuss gewinnen können, und wer weiß, welche Eissorten noch erfunden werden … Niemand zwingt uns aber, in dieser Lage das gering zu schätzen, was wir aus der Erfahrung darüber gelernt haben, was gerade für je mich gut ist. Vielleicht sollten wir zur Auflösung dieses Widerspruchs besser jene Idee aufgeben, die uns ein solches ‚Ganzes‘ als Ziel vorsetzt? Das Problem liegt also darin, dass wir einerseits nur aus der Erfahrung entnehmen können, was uns glücklich macht, obwohl wir andererseits damit doch etwas Ganzes erreichen wollen. In der Erfahrung haben wir nichts anderes als eben Erfahrungen - d. h. nie ein Ganzes, sondern immer nur Einzelheiten. Dennoch streben wir mit der Vorstellung ‚Glück‘ immer etwas Ganzes an - und nicht nur etwas, das uns gerade jetzt und hier Spaß macht. In Wahrheit haben wir in der Erfahrung aber gerade nichts Ganzes vor uns, sondern nur den Strom des Lebens, in dem wir bestimmte Erlebnisse kennen lernen und prüfen, ob und wie viel sie zu unserem Glück beitragen können. Weil wir das, was uns glücklich macht, erst nach und nach auf diese Weise erfahren, können wir diese vielen Faktoren nicht von vornherein so zusammenstellen, dass sie ‚im Ganzen‘ zum Glück führen. Ohne die Vorstellung ‚Glück‘ hätten wir damit vermutlich kein großes Problem - in der Regel lernen wir im Laufe der Zeit ganz gut, wie wir unsere Wünsche aufeinander abstellen und unsere Erfahrungen miteinander verträglich machen. Aber leider gehört zu jener Vorstellung eben der Gedanke, dass wir ein solches Ganzes anstreben müssen, und dies ist mit der Wirklichkeit unseres Lebens nicht vereinbar und hindert uns daran, das Leben mit Kunst zu gestalten. Kant gab auch einige Beispiele für Widersprüche zwischen den verschiedenen Wünschen, deren Erfüllung in die Vorstellung ‚Glück‘ gehören kann: „Reichtum kann zu Sorge, Neid und Nachstellung führen; Erkenntnis und Einsicht kann zu einem schärferen Auge für Übel führen; ein langes Leben kann ein langes Elend werden.“ Nichts von dem, was wir anstreben, führt uns also mit Sicherheit zu dem Ganzen, das wir uns mit dem Begriff ‚Glück‘ vorstellen. Das Ergebnis von Kants Überlegungen ist deshalb ernüchternd: der Mensch „ist nicht vermögend, nach irgend einem Grundsatze mit völliger Gewissheit zu bestimmen, was ihn wahrhaftig glücklich machen werde, darum, weil hiezu Allwissenheit erforderlich wäre. Man kann also nicht nach bestimmten Prinzipien handeln, um glücklich zu sein, sondern nur nach empirischen Ratschlägen (…), von welchen die Erfahrung lehrt, dass sie das Wohlbefinden im Durchschnitt am meisten fördern.“ Die Vorstellung ‚Glück‘ führt uns also auf die Suche nach dem Ganzen, gibt uns aber keine Anleitung, um es auch zu erreichen. Das ist deshalb so, weil sie uns auf eine falsche Fährte lockt, auf der wir nichts erreichen können, das der Mühe wert sein könnte - wer will schon etwas so Abstraktes wie das … denn wir können nicht wissen, ob das, was wir wollen, sich tatsächlich in ein Ganzes fügt. <?page no="57"?> 57 ‚Ganze‘, wenn er auch die vielen angenehmen und interessanten Einzelheiten und Erfahrungen haben kann, aus denen das Leben besteht? Ohne jene Vorstellung wird uns eigentlich nichts von dem genommen, was wir in der wirklichen Welt an guten Dingen genießen können. Sie führt uns deshalb nur in die Irre. Kann ein solcher Begriff nützlich sein? Es ist kein Zufall, dass auch heute noch zu den zentralen Bedeutungen des Begriffes ‚Glück‘ eine Tendenz gehört, stets die Richtung auf das Ganze einzuschlagen. Wir können diese Richtung also nicht einfach aus dieser Vorstellung ausstreichen. Wiederum können wir auf Kant zurückgreifen - dieses Mal auf seine Definition des Glücksbegriffes, die an zentraler Stelle die Ausrichtung an einem ‚Ganzen‘ betont. Eine solche Definition ist nicht willkürlich, sondern soll den Begriff so umschreiben, wie er aus der Tradition in das gegenwärtige Verständnis eingegangen ist - und als ‚Gegenwart‘ können wir in diesem Zusammenhang über Kants Lebenszeit hinaus auch noch unsere Zeit verstehen. Als ‚Glück‘ bezeichnen wir nach dieser Auffassung „das Bewusstsein eines vernünftigen Wesens von der Annehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochen sein ganzes Dasein begleitet.“ Lassen wir diese Vorstellung ‚Glück‘ für uns gelten, so darf es uns also nicht genügen, dass es einzelne angenehme Erlebnisse gibt. Vielmehr muss das Wissen, dass das Leben nur Angenehmes zu bieten hat, ununterbrochen im ganzen Leben bewusst sein. An einer anderen Stelle hat der gleiche Philosoph ‚Glück‘ etwas anders definiert als den „Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht.“ Damit wird im Prinzip nichts Anderes zum Ausdruck gebracht. Auch hier wird uns die Vorstellung nahegelegt, es möge uns in erster Linie nicht um konkrete Erlebnisse und Erfahrungen gehen, sondern wir sollten einen Zustand anstreben, in dem auf irgendeine Weise das ‚Ganze der Existenz‘ zum Ausdruck kommt. Als Ziel wird uns also nicht geraten, danach zu streben, dass einzelne Wünsche erfüllt werden, und dabei in Kauf zu nehmen, dass andere unbefriedigt bleiben, sondern unter der Perspektive des Begriffes ‚Glück‘ muss unbedingt alles im Ganzen ‚nach Wunsch und Willen‘ gehen - vorher dürfen wir uns nicht an den einzelnen Erfahrungen und Erlebnissen erfreuen. Kant führt im Einzelnen nichts darüber aus, was geschieht, wenn wir beim Wünschen nicht genügend aufpassen und nicht alle unsere Wünsche miteinander vereinbar sind. Beispielsweise ist der Wunsch nach Drogenkonsum - ob Nikotin oder Kokain - mit dem Wunsch nach einem langen Leben nur selten vereinbar. Es ist aber deutlich, dass Kant den Begriff des Glücks wegen solcher Probleme nicht für sinnvoll hält. Dieser Begriff wäre nur dann realistisch, wenn wir voraussetzen könnten, dass die Natur selbst und unsere gesamte Umwelt wirklich und in der Tat mit dem ‚ganzen Zwecke‘ des Menschen zusammenstimmen. Sinnvoll könnte jener Begriff Es soll dabei also nicht um einzelne angenehme Erlebnisse gehen, sondern um das Ganze der Existenz. <?page no="58"?> 58 also eigentlich nur sein, wenn unsere Welt so geordnet wäre, dass es erst gar nicht zu Widersprüchen zwischen unseren verschiedenen Wünschen kommen kann - es müsste also eine Welt sein, in der man etwa Nikotin und Kokain konsumieren und damit ein langes und gesundes Leben führen könnte. Wir können uns eine solche Welt vielleicht vorstellen, aber wir sollten sie nicht als wirklich unterstellen und vor allem sollten wir nicht auf der Grundlage einer solchen Unterstellung handeln. Eine solche aus der Tradition stammende Definition von ‚Glück‘ können wir durchaus noch in den Vorstellungen wiederfinden, die wir heute mit diesem Begriff verbinden. Wenn wir die Vorstellung ‚Glück‘ für die Orientierung des Strebens und die Beurteilung und Bewertung des Lebens heranziehen, dann geht es uns nicht um einzelne angenehme Gefühle, sondern gerade um solche Gefühle, mit denen wir immer etwas mehr verbinden wollen als nur dieses oder jenes Angenehme. Es muss darin sozusagen mehr angenehm sein als nur das konkret gerade Erlebte. Auf der anderen Seite können wir aber doch nicht behaupten, dass Glück irgendwo jenseits von einzelnen Erlebnissen oder Gefühlen stattfinden könnte. Es geht auch bei der Suche nach Glück immer um ein konkretes Erlebnis oder Gefühl - ‚wo‘ sollte es denn sonst geschehen? Aber wenn wir den Begriff ‚Glück‘ verwenden, so behaupten wir, darin müsse unbedingt etwas mehr zu finden sein als nur eben dieses Konkrete und Einzelne. Dieses ‚Mehr‘ ist gewissermaßen der Restbestand aus dem Anspruch auf das ‚Ganze‘, den wir traditionell mit dem Begriff ‚Glück‘ erheben. Auch wegen diesem diffusen Anspruch auf ‚mehr‘ weiß man nicht so recht, was man erreichen will, wenn man mit dem Begriff ‚Glück‘ das bezeichnet, was man - irgendwie, eigentlich und letztlich - will. Dieser Bezug auf das Ganze ist im Übrigen in einem gewissen Ausmaß auch in der Verwendung des Begriffes ‚Glück‘ enthalten, in der eigentlich keine Probleme mit ihm auftreten. Wir haben bereits in der Einleitung die Verwendung des Begriffs ‚Glück‘ in Ausdrücken wie ‚Glücksmomente‘ oder ‚Glückserlebnisse‘ als ganz unproblematisch von der Verwendung in solchen Ausdrücken wie ‚das Glück‘ unterschieden. Probleme haben wir nur darin vermutet, dass wir uns mit ‚das Glück‘ eine allgemeine Orientierung für unser Streben vorgeben und ‚das Glück‘ für eine noch allgemeinere Beurteilung und Bewertung des ganzen Lebens heranziehen. Aber bis zu einem gewissen Grad gibt es auch in dem Ausdruck ‚Glücksmoment‘ einen solchen Bezug auf das Ganze. Solche Gefühle unterscheiden sich auch dadurch von anderen angenehmen Empfindungen, dass wir in solchen Erlebnissen mit der ganzen Welt und mit dem ganzen Leben zufrie- Mit dem Begriff ‚Glück’ geht es nicht um das, was wir konkret erleben, sondern immer um ‚mehr’. Leben wir ‚im Ganzen’, oder betrachten wir auf diese Weise das Leben nicht aus der Vogelperspektive? <?page no="59"?> 59 den sind. Alles andere ist in einem solchen Moment nicht mehr richtig gültig und besitzt in diesem Erleben keine große Bedeutung mehr. Insofern sind Glücksmomente von anderen Empfindungen nicht nur durch eine besondere Intensität unterschieden, sondern auch dadurch, dass sie in einem gewissen Sinn keine isolierten Erlebnisse sind. Nichtsdestoweniger meinen wir damit aber doch abgrenzbare und vorübergehende Erlebnisse, auch wenn wir uns ihr Andauern noch so sehr wünschen, und damit bleibt auch der Bezug auf ‚das Ganze‘ bewusst als etwas im Erleben und in der Erfahrung Geltendes. Wir glauben dabei also nicht, die Dimension des Erfahrens verlassen zu müssen, um einen Bezug auf etwas herzustellen, das unsere individuellen und persönlichen Erfahrungen übersteigt. Deshalb unterscheidet sich dieser - unschädliche - Bezug auf ein Ganzes fundamental von jener - abträglichen - Orientierung an einer phantasierten Ganzheit, die wir mit dem Begriff ‚das Glück‘ als Ziel und für die Bewertung des ganzen Lebens gelten lassen. Aus diesem Erlebnisinhalt von Glücksmomenten oder Glückserlebnissen folgt demnach keineswegs, dass die Orientierung am Ganzen im Begriff ‚das Glück‘ hilfreich oder doch wenigstens nicht schädlich ist. Wenn wir diesen Begriff also unter dem Aspekt untersuchen, dass wir mit ihm das Leben bewerten und unserem Streben eine Orientierung geben wollen, so müssen wir ungeachtet dieses Erlebnisinhalts von Glücksmomenten doch prüfen, ob das mit ihm gemeinte Ganze uns bei einer solchen Bewertung und Orientierung hilft oder nicht. In Ausdrücken wie ‚Glücksmoment‘ oder ‚Glückserlebnis‘ hat der Begriff ‚Glück‘ eben eine ganz andere - unschädliche - Bedeutung als dann, wenn wir ihn für die Zielbestimmung und die Bewertung des Lebens heranziehen. Die Tendenz zu einer fraglosen Orientierung am ‚Ganzen‘ und zu einem Abstrahieren vom Nutzen dieses Blickwinkels ist im Glücksbegriff schon in den antiken Auffassungen anzutreffen. Hier wurde in Zusammenhang mit der Frage nach dem Glück nach ‚dem Guten‘ gesucht, das nie in einer einzelnen Handlung oder einem einzelnen Verhalten oder einer einzelnen Haltung liegen soll. Gerade im Gegenteil wird unter dieser Perspektive jede Handlung, jedes Verhalten und jede Haltung von vornherein darauf hin betrachtet, wozu sie gut ist, d. h. inwieweit ‚das Gute‘ in ihr verwirklicht ist. Sie wird also so aufgefasst, dass sie in sich auf etwas anderes verweist, was bei konsequenter Durchführung dann natürlich zu der Frage führen muss, wozu das Ganze denn gut ist. Aus diesem gedanklichen Zusammenhang ist die Frage nach dem Glück in der Geschichte des Denkens ursprünglich entstanden. Der Begriff ‚das Auch in Glücksmomenten finden wir einen Bezug auf etwas darüber hinaus, aber anders als beim Begriff ‚das Glück’. Diese Perspektive auf das Ganze entstand bereits am Anfang des Denkens über das Glück, … <?page no="60"?> 60 Glück‘ gehört deshalb eigentlich in eine Tradition, die das Denken nicht am Einzelnen, sondern am Allgemeinen orientieren wollte. Diese Tendenz wurde vor allem von Denkern wie Platon und Aristoteles begründet. Platons Denken war im Grunde daran ausgerichtet, wie wir eine solche Perspektive von ganz oben bzw. von ganz außen gewinnen können. Dies galt also nicht nur für einen Begriff wie ‚Glück‘, sondern für alles Wissen und auch für alles, was wir als gut oder böse bezeichnen können. Das Einzelne auch der Natur erschien ihm eigentlich nicht als wirklich erkennbar. Darin steckt natürlich auch ein richtiger Gedanke. Alles, was wir wahrnehmen, verändert sich ständig. Wenn wir heute etwas darüber wissen, dann ist das morgen schon nicht mehr so ganz richtig, weil sich die Sache selbst verändert hat. Die moderne Naturwissenschaft hat dieses Problem dadurch aufgelöst, dass sie zur ‚Gesetzeswissenschaft‘ geworden ist, d. h. sie beschränkt sich darauf, allgemeine Gesetze auszuarbeiten, mit denen sich bestimmte Eigenschaften der in der Welt wahrnehmbaren Dinge erklären lassen. Diese Gesetze müssen sich nicht ändern, wenn sich die Gegenstände, für die sie Voraussagen machen, marginal ändern. Für Platon stand dieser Gedanke noch nicht zur Verfügung. Er war deshalb der Meinung, dass wir nur dann etwas wirklich erkennen können, wenn wir jenseits der sinnlich wahrnehmbaren und stets veränderlichen Welt noch eine Welt von unvergänglichen Urbildern der Dinge annehmen. Etwa gibt es dann nicht nur die tatsächlich in der Welt vorkommenden Bienen, sondern auch noch die ‚Idee‘ der Biene. Diese ‚Idee‘ ist das, was alle die einzelnen Bienen erst zu Bienen macht. Das Denken und Erkennen besteht dann letztlich darin, diese ‚Ideen‘ zu ‚schauen‘ und auf diese Weise einen Zugang zum ewigen Wesen der Dinge zu gewinnen. Grundsätzlich wurde dieser Gedanke auch für das eingesetzt, was in der Antike als gutes Leben bezeichnet wurde und was eigentlich mehr ein ‚richtiges‘ als ein glückliches Leben bedeutete. Es sollte dabei vor allem darauf ankommen, dass ein an der ‚Idee‘ - wir könnten auch sagen: am ‚Wesen‘ - des Menschen ausgerichtetes Leben geführt wird. Dass ein solches Leben dann auch glücklich sein muss, war für Platon wohl mehr oder weniger selbstverständlich. Für unser Thema ist hier wichtig, dass das Prinzip dieses Gedankens von den ‚Ideen‘ schon am Anfang des Denkens, in dem die heute noch vorherrschende Bedeutung des Begriffes ‚Glück‘ begründet wurde, auch auf das Glück angewandt wurde. Gut bzw. glücklich sollte das Leben nach dieser Auffassung also nicht deshalb genannt werden, weil dies oder jenes schön und angenehm war und es nach dieser oder jener Hinsicht dem entsprach, was wir als menschlich bezeichnen. Es sollte vielmehr nur deshalb glücklich heißen, weil es sich an einer von Anbeginn aller Zeiten an feststehenden ‚Idee‘ vom guten Leben orientierte. ‚Glück‘ konnte in diesem … und stand in engem Zusammenhang mit einer Theorie darüber, was wir eigentlich wissen können. <?page no="61"?> 61 Denken also nur aus dem Grund zu einer für das Leben wichtigen Vorstellung werden, weil diese sich auf ein Ganzes bezog. Dieses Ganze wurde in der Antike als etwas Ewiges und Unwandelbares aufgefasst, das sich ganz prinzipiell von dem Irdischen und Fragmentarischen unterscheidet, wo sich in der Regel über kurz oder lang alles wandelt und nichts ewig gleich bleibt. Platon hätte sicherlich seine Freude an Piano-Sam aus ‚Casablanca‘ gehabt: „The fundamental things apply - as time goes by.“ Es ist aber eine andere Frage, ob diese Vorstellung für unser Leben nützlich ist - und dabei lassen wir die Frage nach ihrer Wahrheit ganz außer Betracht, die heute kaum noch jemand bejahend beantworten wird. Seit Platons Zeit haben sich die gedanklichen Grundlagen unseres Wissens entscheidend verändert. Aber die Vorstellung von Glück als einem Kriterium, mit dem wir das ganze Leben und vielleicht auch die ganze Welt betrachten und beurteilen können, finden wir grundsätzlich auch heute noch in diesem Begriff. Kann Glück aber als eine solche ‚Ganzheit‘ erfahren werden, obwohl es doch nirgends anders geschehen kann als in einzelnen Erlebnissen? Wenn wir den Begriff ‚Glück‘ stets auf das Ganze beziehen, ist diese Sache dann eigentlich als solche überhaupt erlebbar? Gibt es das überhaupt, was wir in diesem Sinn als Glück bezeichnen? Wirklich gibt es nur die einzelnen und konkreten Erlebnisse, die wir aber gerade nicht meinen, wenn wir von ‚dem Glück‘ sprechen. Dennoch verwenden wir diesen Begriff immer wieder und bewerten unser Leben und das anderer Menschen mit seiner Hilfe und behaupten sogar, es komme im Leben nur darauf an, glücklich zu sein oder zu werden. Vielleicht lassen wir uns dabei nur von der fixen Idee eines antiken Philosophen an der Nase herumführen? 3.2 Wir sehen unser Leben aus der Vogelperspektive, aus der wir es nicht leben können Sollten wir denn unser Leben überhaupt unter der Perspektive des Ganzen beurteilen? Vielleicht ist es besser, wenn wir nur die einzelnen Erlebnisse und Erfahrungen bewerten? Sollten wir danach streben, dass es im Ganzen gelingt, oder besser darauf achten, dass wir den heutigen und dann den morgigen Tag zufrieden verbringen? Es könnte sein, dass man mit einer Orientierung am Ganzen in die Gefahr gerät, sein eigenes Leben nur aus der Perspektive eines Vogels aufzufassen, aus der man es zwar betrachten, aber nicht wirklich leben kann. In der Tat bewerten wir mit dem Begriff des Glücks unser Leben genau so. Wir richten unser Streben so aus, Deshalb neigen wir auch heute noch dazu, Glück unter der Perspektive des Ewigen und Unveränderlichen zu denken. Das Ganze erleben wir nicht - unser Leben geschieht in einzelnen Erlebnissen, … <?page no="62"?> 62 als ob wir das Leben aus der Vogelperspektive sehen würden - also von ziemlich weit oben und von sehr weit außen. Das ist eine Folge davon, dass wir uns mit dem Begriff des Glücks immer am Ganzen orientieren, nicht aber am Einzelnen. Wir wollen das Ganze in den Blick bekommen und verlieren deshalb den Blick für das konkrete und wirkliche Einzelne. Wir orientieren uns mit der Vorstellung ‚Glück‘ in der Tat auf eine merkwürdige Weise an etwas nur Allgemeinem, weil dieser Begriff den Blick auf eine vorgebliche Ganzheit des Lebens von uns verlangt. Statt uns an der Individualität des einzelnen Lebens auszurichten, nehmen wir aus Prinzip eine Position aus der Vogelperspektive ein. Wir akzeptieren damit eine allgemeine und von außen her eingenommene Perspektive auf das ganze Leben und nicht auf die einzelnen Situationen. Ein solcher Blickwinkel ist sicherlich bisweilen sehr nützlich und manchmal sogar notwendig. Etwa kann er hilfreich sein, wenn bei einer komplizierten Krankheit die Krankengeschichte erhoben werden muss. Dann wird das ganze Leben zum Thema, aber nur unter der Perspektive, was darin für die Entwicklung gerade dieser bestimmten Störung wichtig war. In manchen Situationen kann es sogar notwendig sein, dass wir das eigene oder ein fremdes Leben im Ganzen auf sehr einfache Begriffe bringen, etwa wenn jemand ein historisches Werk schreibt und dafür sehr viele Menschen nur nach der Bedeutung auffasst, die sie in einer bestimmten Epoche besaßen. Im Unterschied zu solchen Situationen wird uns mit dem Begriff ‚Glück‘ aber eine Perspektive von außen und auf das Ganze vollständig ohne Zusammenhang mit ihrer Vorteilhaftigkeit in konkreten Lebenslagen aufgedrängt. In Wirklichkeit ist das Glück des eigenen Lebens nicht aus der Vogelperspektive zu erleben - davon können wir eigentlich nur reden. Schließlich lebt man nie das ganze Leben auf einmal. Es gibt auch kein Bewusstsein, in dem die Summe des Lebens zu erleben wäre. Eigentlich gibt es überhaupt keine solche Summe. Es gibt nur die Einzelheiten, die wir zu verschiedenen Zeiten erleben. Zwar neigen manche Menschen dazu, bisweilen darüber zu sinnieren, wie die Summe aus ihrem Leben aussehen müsste oder könnte. Man versucht dann, das Leben als Ganzes zu ‚bilanzieren‘. In der Regel stellt man aber bei genauerer Betrachtung immer fest, dass man dabei eigentlich etwas ganz anderes tut. Im Grunde beschreibt man die gegenwärtige Stimmung, die man dann auf das ganze Leben ausdehnt. Natürlich verändert sich die Bilanz deshalb mit der jeweiligen Stimmung und sagt eigentlich nichts anderes aus als eben die Befindlichkeit eines gegebenen Augenblicks - vielleicht auch einiger Wochen oder auch nur einiger Tage. Es kann allerdings auch vorkommen, dass uns gerade jemand irgendwelche allgemeinen Weisheiten über das Leben und wie es sein soll, damit es richtig ist, gesagt hat, und wir glauben ihm und beurteilen dann das Leben nach den Kriterien, die er uns vorgesagt hat. Ist unser … weshalb es ein Problem darstellt, ob und wie wir es als eine ‚Summe’ auffassen können. <?page no="63"?> 63 eigenes Leben nicht so, wie dieser Jemand es für richtig hält, dann ist die Bilanz plötzlich viel negativer als sie es zuvor und ohne diese Weisheiten gewesen wäre. Wir neigen alle sehr stark dazu, anderen Menschen zu glauben, vor allem, wenn sie in der Presse schreiben oder Glücksratgeber verfassen oder auch nur einfach die Begabung besitzen, so zu reden, als wären sie mit einem überlegenen Wissen ausgestattet. Kann ein solcher Begriff also wirklich nützlich sein, der uns dazu bringt, das Leben aus der Vogelperspektive zu betrachten und damit die einzelnen Augenblicke, Stunden, Tage, Wochen, Monate immer im Hinblick auf das Ganze zu bewerten? Kann der Begriff des Glücks hilfreich sein, um eine Orientierung für das Streben im Leben zu bieten, wenn wir mit ihm das Leben nicht je von diesem Moment aus, sondern quasi von außen her mit einem Blick auf das Ganze verstehen? Die Vogelperspektive auf das Leben bedeutet, dass es aus einer Sichtweise betrachtet wird, die wir nie wirklich einnehmen können. Wenn wir es versuchen, täuschen wir uns grundsätzlich - man lebt immer nur einen Tag und nicht das ganze Leben. Die Perspektive des Glücks suggeriert aber, dass wir immer das gesamte Leben leben würden. Sie legt uns die Vorstellung nahe, dass das Leben woanders und bei anderen Menschen geschehen würde, denn was heißt es anderes, als das eigene Leben wie das eines anderen Menschen aufzufassen, wenn wir es von außen und von oben und als Ganzes in den Blick nehmen wollen? Das heißt natürlich nicht, dass wir uns auf den jeweiligen Augenblick beschränken und die Vergangenheit und die Zukunft ignorieren sollten. Solche Ratschläge sind immer wieder zu hören, aber sie werden durch die Wiederholung nicht besser. Sinnvoll sind sie nur für Menschen, die die Angewohnheit haben, nur in der Vergangenheit oder nur in der phantasierten Zukunft zu leben - was sich bei manchen Menschen sehr stark miteinander verbindet. Würden wir normalen Menschen aber versuchen, radikal nur im Augenblick zu leben, dann würden wir auf vieles verzichten. Wir könnten in diesem Falle nicht einmal Musik hören. Dazu gehört nämlich, dass wir Töne im Gedächtnis behalten und den im Augenblick gehörten Ton mit diesen vergangenen Tönen verbinden können. Nur dann entsteht die Wahrnehmung von so etwas wie einer Melodie. Aber wir könnten auch nicht Musik hören, wenn wir den Bezug auf die Zukunft vollkommen ausblenden würden. Zum Musikhören gehören nämlich auch Erwartungen über den weiteren Verlauf der gehörten Tonfolgen. Es kann sein, dass diese Erwartungen eingelöst werden, aber es ist auch möglich, dass die erwarteten Töne nicht zu hören sind. In beiden Fällen schließen wir aus der Vergangenheit über die Gegenwart auf die Zukunft Wir versuchen das Leben aus der Vogelperspektive zu betrachten, was wir aber nicht wirklich können, … … obwohl wir auch nicht wirklich und radikal im Augenblick leben können, ohne dass unser Leben verarmt. <?page no="64"?> 64 und können nur deshalb aus dem Zusammenhang einer Tonfolge eine Melodie hören und ihre Besonderheit erkennen. Im Prinzip ist das auch bei solcher Musik nicht anders, die gerade nicht auf Melodien beruht, wie etwa in der Improvisationsmusik - vor allem also im Jazz. Ein radikal durchgeführtes ‚Leben im Augenblick‘ würde uns also um alle solche Vergnügen bringen, die Mozart, Miles Davis oder auch die Rolling Stones uns bieten können. Darüber hinaus geht jeder einigermaßen intelligente Mensch mit seiner Vergangenheit um und beschäftigt sich mit der Gestaltung der Zukunft. Man versucht aus der Vergangenheit zu lernen und das Gelernte geht in Planungen für die Zukunft ein. Das ist kein Vorgang, der nur für sehr junge Menschen gilt, sondern der im ganzen Leben wirksam ist - aber eben im Leben in seinem Verlauf über einzelne Erlebnisse und Wahrnehmungen von der je gegebenen Lage aus, und nicht im Leben, wie es von außen und aus der Vogelperspektive betrachtet wird. Der Begriff des Glücks führt jedoch dazu, diesen Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht mehr aus der je gelebten Gegenwart aufzufassen, sondern so, als ob er ‚irgendwo‘ in der objektiven Welt stattfinden würde. Man sieht sich dann selbst nur noch als ‚jemanden‘ in der Welt und vergisst, dass eben diese Sicht von einer bestimmten Stelle aus geschieht und nicht von außen und von weit oben. Natürlich hat eine Sicht von außen und weit oben auf sich selbst in manchen Situationen auch ihre Berechtigung. Wenn wir Musik nicht nur hören, sondern auch ausüben wollen und sogar erwägen, ob uns das so gut gelingen kann, dass andere Menschen daran Gefallen finden, dann ist es sehr sinnvoll, dass wir zumindest begrenzt eine gewisse Vogelperspektive einnehmen und uns fragen, wie es mit unseren eigenen Fähigkeiten im Vergleich zu anderen Menschen mit gleichen Ambitionen bestellt ist. Das gilt nicht nur, wenn jemand eine Karriere als professioneller Musiker plant, sondern auch schon dann, wenn wir im Familien- oder Bekanntenkreis unser Talent zur Geltung bringen wollen. Wer möchte schon seinen geschätzten und vielleicht sogar geliebten Erbonkel mit dilettantischem Klavierspiel verärgern? Es macht also keinesfalls Sinn, die Vogelperspektive von außen und ganz weit oben einzutauschen gegen eine ‚Maulwurfs‘-Perspektive - also den Blick nur auf das bisschen Erde zu richten, das man in einem gegebenen Augenblick gerade bewegt. Man gibt auf diese Weise nicht nur so einfache, intensive und kostengünstige Vergnügungen wie Musikhören auf. Man wird auch bald auf ganz konkrete Schwierigkeiten treffen, weil wir in einer arbeitsteiligen Wirtschaft leben und deshalb Leistungen für andere Menschen erbringen müssen, damit wir selbst wiederum Leistungen von wieder anderen Menschen erwerben können. Dafür müssen wir aber auf Wir sollten die Vogelperspektive also nicht durch eine Maulwurfs-Perspektive ersetzen, … <?page no="65"?> 65 der Vergangenheit aufbauen und für die Zukunft planen. Wenn wir nicht für die voraussichtlichen Wünsche produzieren, die in der nahen Zukunft zu Nachfrage führen, könnten wir bald keinen Absatz mehr für unsere Produkte und damit für unsere Arbeit erwarten. Es wäre mit einer Haltung der radikalen Augenblicklichkeit also relativ schwierig, für den eigenen Lebensunterhalt und sogar noch den der Familie zu sorgen. In einem gewissen Ausmaß ist es also durchaus sinnvoll, auch eine Perspektive quasi von außen einzunehmen. Die Kunst des Lebens besteht zu einem guten Teil in der Fähigkeit, hier das richtige Maß zu finden. Aber wenn wir mithilfe des Begriffes ‚Glück‘ unser Leben bewerten und daran unser Streben orientieren, dann gehen wir mit Sicherheit weit über das Maß hinaus, in dem es sinnvoll ist, eine solche Vogelperspektive einzunehmen. Dann sehen wir unser ganzes Leben aus fremder Perspektive. Eine solche Perspektive ist solange sinnvoll, als es um konkrete Selbstbeurteilungen wie etwa der Fähigkeit zur Musikausübung oder für einen bestimmten Beruf oder zu bestimmten Leistungen für andere Menschen geht. Sie ist aber nicht mehr sinnvoll, wenn wir sie auf das ganze Leben richten. Für diese Situation hatte Seneca den berühmten Rat: „Fange auf der Stelle zu leben an und zähle jeden Tag als einzelnes Leben.“ Damit war natürlich nicht gemeint, dass das Leben erst dann beginnt, wenn man das gelesen und verstanden hat. Gemeint ist vielmehr etwas, was sich gegen die Ganzheits- Perspektive wendet, nämlich die Einsicht, dass alles eben von der Stelle aus geschehen muss, an der man gerade steht. Der Begriff ‚Glück‘ dagegen suggeriert uns die Vorstellung, wir müssten uns zum Himmel aufschwingen und von da aus das ganze Leben beurteilen und es mithilfe dieser Idee von sehr weit außen führen. Die Vogelperspektive, auf die der Begriff ‚Glück‘ uns verpflichten möchte, oder die andere uns aufdrängen wollen, wenn sie uns zumuten, uns unter diesem Begriff verstehen zu sollen, hat demnach einen prinzipiell ‚totalitären‘ Charakter. Als totalitär bezeichnet man Staaten, die ihre Politik nicht am einzelnen Menschen und seinen Wünschen orientieren. Deshalb kennen sie keine Beteiligung der Bürger an der Bestimmung der Politik, und der einzelne ist für sie nur ein Rädchen im Getriebe, auf das es über seine Funktion hinaus nicht ankommt. Politik wird dann von oben herab gestaltet, aber sie nimmt den Bürger doch voll und ganz in Anspruch, d. h. er hat kein Recht auf Privatsphäre, in die der Staat nicht hineinreden darf. Damit unterscheidet sich ein totalitärer Staat etwa von traditionellen Staatsformen wie der Monarchie. Dort herrschte zwar auch nur ein Mensch (oder vielleicht eine kleine Gruppe), aber der Bürger wurde nicht bis in den letz- … aber mit dem Begriff ‚Glück’ treiben wir die Vogelperspektive von ganz oben und weit außen doch zu weit. Wir nehmen mit dem Begriff des Glücks eine Art von totalitärer Perspektive auf das eigene Leben ein, … <?page no="66"?> 66 ten Winkel seines Lebens in Anspruch genommen. Auch wenn er in der Politik nichts zu melden hatte, so galt in den meisten Staaten doch lange Zeit ebenso das Prinzip ‚leben und leben lassen‘. Die Perspektive des Glücks ist also eine totalitäre Perspektive, weil sie uns dazu verpflichten will, unser Leben aus der Vogelperspektive zu bewerten und zu führen. ‚Totalitär‘ heißt eigentlich wörtlich ‚ganzheitlich‘ - und genau so sollen wir unser Leben leben, wenn es nach den Fanatikern des Glücks geht. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass - wie in der sogenannten ganzheitlichen Medizin - nicht nur der Körper berücksichtigt wird, sondern auch die Seele, der Geist oder wie immer man das bezeichnen will, was in unserem Leben über die physiko-chemische Grundlage hinaus wichtig ist. ‚Ganzheitlich‘ in diesem negativen Sinn des ‚Totalitären‘ ist der Begriff des Glücks, weil der einzelne Mensch, der jeweils in einer Stunde, an einem Tag oder während einer Woche sein Leben zu leben hat, auf diese Weise gezwungen wird, eine Perspektive auf sein ganzes Leben einzunehmen, obwohl er nie das Ganze lebt. Er wird durch den Begriff des Glücks also dazu angeleitet, eine ganz abstrakte Perspektive einzunehmen, die kein normaler Mensch jemals wählen würde, wäre sie ihm nicht von anderen Menschen aufgedrängt worden, die er aus irgendeinem Grund als ‚Autoritäten‘ ansieht. Die Folge ist, dass das Leben dadurch selbst einen totalitären Charakter bekommt, der sich aber mit einem abstrakten Zug verbindet. Diese Abstraktheit ergibt sich schon aus der mit dem Begriff des Glücks verbundenen seltsamen Vorstellung, das Leben könne aus der Vogelperspektive gelebt werden und nicht vom ‚je Ich und Jetzt‘ aus. Man abstrahiert durch den Bezug auf das Ganze - die Totalität - von dem, was das Leben eigentlich ausmacht, wenn man es konkret lebt. Hier lässt sich eine Parallele ziehen zu Therapierichtungen aus der Tiefenpsychologie, die bei mehr oder weniger ernsten Lebensproblemen nichts weniger versprechen als die ‚Heilung‘ im Sinne der Wiederherstellung einer ‚Ganzheitlichkeit‘. Solche Richtungen sind bei Menschen sehr beliebt, deren Problem sowieso darin liegt, nach einer wenig durchdachten Perfektion, Ganzheit oder vollkommenen Umwandlung im Sinne einer ‚ganzheitlichen‘ Heilung zu streben. Seriöse Therapien dagegen versuchen in der Regel, die Patienten zu einem besseren und konstruktiveren Umgang mit ihren Problemen zu bewegen und lassen Vorstellungen von ‚Heilung‘, ‚Ganzheit‘ u. ä. auf sich beruhen. Wir sollten auch mit dem Begriff des Glücks so umgehen: am besten fahren wir, wenn wir ihn und seine Vogelperspektive auf das Ganze auf sich beruhen lassen und uns statt dessen mit dem Leben in der gegebenen Stunde, an einem Tag oder in der aktuellen Woche beschäftigen. Es geht nie um die Frage, wie je ich ‚glücklich‘ werden kann, sondern um die wichtigere Frage, wie gerade ich diesen Tag gut lebe. … und tendieren dazu, selbst ‚totalitär’ zu leben, also nicht mehr vom Ich und Jetzt aus. <?page no="67"?> 67 Die Vogelperspektive des Begriffes ‚Glück‘ dagegen fordert von uns, nicht zufrieden zu sein mit einzelnen Zuständen, in denen das Leben angenehm ist, sondern jeder Mensch solle - wie Kant das ausdrückte - nach solchen Zuständen nur unter der Bedingung streben, dass diese Annehmlichkeit „ununterbrochen sein ganzes Dasein begleitet“. Wir können davon ausgehen, dass eine solche Orientierung des Lebens und Strebens mit Sicherheit nicht gerade zu einem angenehmen Leben beiträgt. Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass ein solches Bewusstsein nicht eben realistisch ist. Wer kann schon wissen, was morgen sein wird? Wer also das Bewusstsein braucht, dass die Annehmlichkeiten des Lebens sich über sein ganzes Dasein erstrecken werden, der hat sein Glück eigentlich schon verspielt. Wer sich dagegen mit weniger zufrieden gibt und zunächst auch mit einer angenehmen Stunde, einem schönen Tag oder einer gelungenen Woche einverstanden ist, der hat vermutlich bessere Chancen, ein akzeptables Leben zu führen, als der, bei dem es gleich um das Ganze - also um das Glück - gehen muss. Die Vogelperspektiven-Vorstellung von Glück, wie sie von Kant auf einen insgesamt sehr totalitären Begriff gebracht wurde, der weit verbreitete Ansichten zum Ausdruck bringt, führt aber noch auf weitere Probleme. Der Mensch soll dieser Idee zufolge nach einem Zustand streben, in dem ihm im „Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht.“ Es ist keineswegs ganz sicher, ob jemand jemals glücklich werden kann, wenn ihm immer alles nach Wunsch und Willen geht. Wie viele Menschen führen gerade deshalb ein angenehmes und für sie passendes Leben, weil vieles gerade nicht nach ihren Wünschen und ihrem Willen ging. Man kann nicht davon ausgehen, dass die Wünsche eines Menschen stets so sind, dass sie am besten zum Ausdruck bringen, was für ihn gut ist. Bisweilen ist die Weisheit des Weltlaufs größer, der uns unsere Wünsche in der Regel nicht ganz so erfüllt, wie wir uns das vorgestellt haben. Manchmal gehört es zu den Vorstellungen eben, dass sie Vorstellungen bleiben, weil sie bei der Übersetzung in die Realität genau das verlieren würden, um dessen willen wir sie so schätzen - wie viele Männer wünschen sich Blondinen mit Idealmaßen und können doch nur mit schwarzhaarigen Frauen mit normalem Körperbau leben. In manchen Fällen gehört die Tatsache, dass es sich um eine Vorstellung handelt, sogar gerade zum Inhalt dessen, was wir uns wünschen, ohne dass uns das immer gleich deutlich wäre. Wir müssen hier beachten, dass ‚Wunsch‘ und ‚Wille‘ zwei verschiedene Begriffe sind, die nicht dasselbe bezeichnen. Wünsche sind von sich aus nicht auf die Wirklichkeit bezogen Wir sollten uns nicht fragen, wie wir glücklich werden können, sondern wie wir je diesen Tag gut leben können. Manchmal ist es sogar nicht gut für uns, wenn uns alles nach Wunsch und Willen geht, … <?page no="68"?> 68 und deshalb unter ethischen Gesichtspunkten völlig irrelevant. Man kann sich wünschen, was immer man will und sei es noch so verwerflich und vielleicht schädlich für andere Menschen, und man kann gleichzeitig doch ein guter Mensch sein, der seine Pflicht erfüllt und niemandem schadet. Das hängt damit zusammen, dass Wünsche im Inneren eines Menschen bleiben und sich nicht mit dem Streben verbinden müssen, in der Welt zu einer entsprechenden Veränderung zu führen. Von einem Wollen sprechen wir dagegen erst, wenn wir bereit sind und danach streben, die Wünsche in der Welt Wirklichkeit werden zu lassen, d. h. die Welt so zu verändern, wie es unseren Wünschen entspricht. Das heißt noch lange nicht, dass sie dann auch tatsächlich Wirklichkeit werden. Es könnte ja sein, dass die Welt einfach nicht so ist, dass unser Wollen realisiert werden kann. Zum Wollen gehört aber auf jeden Fall das Streben nach Verwirklichung, das beim bloßen Wünschen fehlt. Wenn zum Glück nun gehört, dass einem Menschen alle Wünsche erfüllt werden, so heißt das also etwas ganz anderes, als wenn wir davon sprechen, dass glücklich ist, wer sein Wollen realisieren kann. Zu vielen unserer Wünsche gehört aber gerade, dass sie nie zu einem Wollen werden. Das kann daran liegen, dass es sich um Wünsche handelt, die wir aus moralischen Gründen eigentlich überhaupt nicht verwirklicht sehen wollen. Nicht jeder will seine Frau betrügen, der sich etwas in der Richtung schon einmal gewünscht hat, und wer hat sich auf der Autobahn nicht schon einmal ein James-Bond-Auto mit eingebautem Raketenwerfer gewünscht, ohne es wirklich zu wollen. Dabei muss es nicht unbedingt um rein moralische Skrupel gehen. Möglicherweise könnte man den Raketenwerfer ja auch einsetzen, um wahnsinnige Raser aus dem Verkehr zu ziehen. Es kann auch einfach um Klugheit gehen - der Verkehr würde eben nicht sicherer ablaufen, wenn Verkehrsteilnehmer Selbstjustiz üben würden. Die mit dem Begriff ‚Glück‘ verbundene Vorstellung, im Leben müsse es darum gehen, dass im Ganzen alles nach Wunsch und Willen abläuft, ist also mit Sicherheit verkehrt und führt nicht zu dem, was sie selbst als Ziel angibt. Ein solcher Vogelperspektiven- Begriff von Glück kann nicht nützlich sein und wir sollten ihn besser aufgeben. Leben besteht aus einzelnen Situationen und der Spruch ‚verbringe einen Tag in Frieden und Du hast dein ganzes Leben in Frieden verbracht‘ ist nicht so ganz dumm - auch wenn er nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Letzte Schlüsse allerdings sind wiederum auf eine Ganzheit bezogen, die grundsätzlich falsch ist. Auf jeden Fall ver- … und wir sollten vor allem zwischen Wünschen und Wollen unterscheiden, … … und zu vielen Wünschen gehört es, dass sie nicht zu einem Wollen oder gar zur Wirklichkeit werden. Die Perspektive des Glücks blickt nur auf das Ganze und ist deshalb für das wirkliche Leben nicht nützlich, …. <?page no="69"?> 69 gisst derjenige, der nach Glück strebt und sich deshalb aus der Vogelperspektive wahrnehmen möchte, die einzelnen Freuden und Annehmlichkeiten, die unter der erhabenen Perspektive auf das Ganze natürlich nicht mehr genügend Gewicht haben, um bemerkt zu werden. Unter dieser Perspektive muss es eben immer gleich darum gehen, dass die ganze Welt unseren Wünschen entspricht und uns sogar noch zu Willen ist. Dass sie uns bisweilen ganz einfach mit Amarena-Eis, Katzen und Wellness-Massagen beglückt, genügt dann natürlich nicht mehr. Diese Unzufriedenheit mit dem konkreten und individuellen Erleben auch dann, wenn es angenehm ist, ergibt sich als natürliche Folge aus der Vorstellung von Glück, die nach einem Ganzen strebt und uns dazu bringt, das Leben aus einer Vogelperspektive zu betrachten - also von außen und ganz weit oben. Dagegen könnte man einen Satz des Philosophen Adorno setzen, der behauptete: ‚Das Ganze ist das Unwahre‘. Das war allerdings hyperkritisch gegen alles Denken in der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung des Kapitalismus gerichtet, so dass dieser Satz in etwa sagen sollte, nicht dieser oder jener Gedanke ist falsch oder unrichtig, sondern die ganze Grundlage dieses Denkens ist unwahr. Aber man kann diesen Satz auch ganz anders verstehen, und dann erhält er einen guten Sinn: die Perspektive auf das Ganze ist das Unwahre deshalb, weil es eben das Ganze ist. Wahr dagegen ist immer nur das Einzelne und Individuelle, nicht das Ganze. Das gilt auf jeden Fall, wenn es um Begriffe wie Glück geht, mit denen wir unser Leben bewerten und an denen wir unser Streben ausrichten. Mit dem Begriff ‚Glück‘ wollen wir angeben, wozu das Ganze denn gut sein soll - aber das Ganze ist stets und als solches das Unwahre, nach dem wir nicht suchen sollten. Die Ganzheit, die mit dem Begriff ‚Glück‘ gemeint ist, ist eine Abstraktion und führt uns von dem Hier und Heute und damit von unserem konkreten Erleben weg, weil sie uns eine Vogelperspektive auf das Leben und auf uns selbst vorgaukelt, in der wir mit Sicherheit nicht das finden, was wir gesucht hatten. 3.3 Wir wollen im Glück keine Kontraste und würden uns deshalb bald langweilen Wenn wir aus der Glücksperspektive fordern, dass das Ganze unserem Wünschen und Wollen entsprechen möge, dann suchen wir eine Einheitlichkeit des Lebens, die nicht nur wenig realistisch ist, sondern die auch gerade das ausschließt, was wir dabei eigentlich suchen. Wenn es keine Unterschiede im Erleben geben soll, dann können wir auch keine Kontraste erfahren. Wenn wir aber keine Unterschiede zwischen Freude und Leid, Schmerzen und Vergnügen, Lust und Unlust, Spaß und Langeweile mehr erleben, dann erreichen wir gerade nicht das, was uns bei der Vorstellung … denn die Sicht vom Ganzen her kann eigentlich nur falsch und verkehrt sein. <?page no="70"?> 70 ‚Glück‘ vermutlich vorschwebt. Das ist einer der Gründe, warum es so schwer ist, klar anzugeben, was wir uns unter Glück vorstellen - wir schließen darin zu viel von den Kontrasten aus, die ein Beschreiben leicht machen würden. Ein monochromes Gemälde ohne deutliche Differenzen im Farbauftrag ist eben weit schwieriger zu beschreiben als ein reich strukturiertes Bild mit opulenter Farbgebung. Wahrscheinlich kann man deshalb bei den bekennenden Glückssuchern so schwer herausfinden, was sie sich eigentlich unter dem Ziel ihres Strebens vorstellen. In der Regel erhält man neben dem, was wir als Glücksmomente oder Glückserlebnisse von ‚dem Glück‘ unterschieden haben, derart schwammige Allgemeinplätze als Antwort, dass man sich kaum vorstellen kann, jemand wünsche sich wirklich ein so langweiliges Leben - und wenn, dann doch sicher nicht länger als für drei Stunden. Friedrich Nietzsche formulierte dieses Problem mit den fehlenden Kontrasten in der Ganzheit und Einheitlichkeit, die wir uns mithilfe des Begriffes ‚Glück‘ vorstellen, auf eine etwas komplizierte Weise so: „Ach, wie wenig wisst ihr vom Glücke des Menschen, ihr Behaglichen und Gutmütigen! denn das Glück und das Unglück sind zwei Geschwister und Zwillinge, die miteinander groß wachsen oder, wie bei euch, miteinander - klein bleiben.“ Damit soll sicher nichts gegen ein wenig Behaglichkeit gesagt sein. Aber man sollte die Suche nach diesem Zustand nicht so weit treiben, dass man die Bedingungen für eine Menge Spaß, Vergnügen und Freude abschafft - auch wenn das vielleicht nicht ganz dem entspricht, das man mit der Vorstellung ‚Glück‘ anstrebt. Zu diesen Bedingungen gehört aber, dass man die Kontraste im Leben nicht restlos einebnet. Das muss man sicher nicht so weit treiben, dass man nur zufrieden ist, wenn man von himmelhochjauchzend in zutodebetrübt stürzt und wieder zurück. Man muss dieses Prinzip, dass alle Lust aus dem Kontrast zu Zuständen der Unlust lebt, sicher auch nicht so verwirklichen wie jener ungehobelte Mensch, der spät abends vom Biertisch aufstand und erklärte: „Jetzt mach’ ich mei’m Hund eine Freud - erst hau ich ihn und dann hör’ ich auf.“ Ob der Vierbeiner an solchen Kontrasten Freude hat, kann man bezweifeln. Aber jenseits solcher Extreme trägt die Perspektive auf ein Ganzes im Begriff ‚Glück‘ doch dazu bei, dass wir seine Bedingungen in den Unterschieden und Kontrasten im Leben ausschalten wollen und damit gerade das Ziel nicht erreichen. Wir würden den Bedingungen für Glückserlebnisse und Glücksmomente besser entsprechen, wenn wir ganz einfach auf so etwas wie das Streben nach Glück in dem durch seine Geschichte zu stark aufgeladenen Sinn verzichten würden. Mit dem Begriff des Glücks wollen wir die Kontraste aus dem Leben nehmen, … … und gewinnen damit bestenfalls ein wenig Langeweile, aber nicht das, was wir eigentlich wollten. <?page no="71"?> 71 Aber Nietzsche meinte wohl nicht nur, dass wir das Angenehme immer dann besonders intensiv empfinden, wenn es im Kontrast zum Unangenehmen erlebt wird. Er war auch der Meinung, dass von Glück überhaupt nicht die Rede sein kann, wenn wir das Leben nicht zusammen mit seinem Unglück und Schmerz nehmen. Vor allem wäre es nur ein sehr schwaches Glück, das wir ohne Kontrasterfahrungen zu seinem Gegenteil erfahren könnten. Wenn wir radikal denken wollen, dann könnten wir sogar sagen, dass es überhaupt kein Glück gibt, wenn es nicht auch das Gegenteil gibt. Das hängt schon damit zusammen, dass wir überhaupt nicht wüssten, um was es sich dabei handelt. Zumindest brauchen wir eine Kenntnis davon, dass es so etwas wie Unglück, Leid oder Schmerz gibt - und das widerspricht eigentlich schon dem Glück als Vorstellung von einer Ganzheit ohne innere Kontraste. Allerdings reicht eine theoretische Kenntnis davon, die sich nur auf eine Bekanntheit mit den entsprechenden Begriffen stützt, hier nicht aus. Bei allen Ausdrücken, die Gefühle oder Empfindungen bezeichnen, müssen wir mit den entsprechenden Erfahrungen selbst vertraut sein, um sie verstehen zu können. Die Bedeutung der entsprechenden Beschreibungen kennen wir eigentlich erst, wenn wir sie aus der Perspektive der ersten Person verwenden - also dann, wenn wir sie in Sätzen zum Ausdruck bringen, die mit ‚ich …‘ beginnen. Nur dann können andere Menschen annehmen, dass der Betreffende eine unmittelbare Kenntnis davon hat und nicht einfach nur etwas nachspricht, was er vielleicht gehört hat, ohne es selbst zu empfinden. Wir müssen also Unglück, Leid und Schmerz erfahren haben, um deren Gegenteil überhaupt sinnvoll bezeichnen zu können, und es genügt nicht, dass wir nur die Begriffe verwenden können. Das hängt auch damit zusammen, dass solche Begriffe immer nur gegen andere Begriffe Sinn gewinnen können. Es verhält sich hier grundsätzlich so wie beim Farbensehen: wir können das Farbensehen nur deshalb bezeichnen und es auch genießen, weil wir uns seine Abwesenheit vorstellen können. Zumindest können wir uns vorstellen, dass die Welt schwarzweiß wäre, und wenn wir alte Filme aus der Zeit vor der Erfindung des Farbfilms ansehen, dann können wir es auch sinnlich erleben. Wenn wir von Glück aber in dem vorherrschenden Sinn sprechen, zu dem eine Sicht aus der Vogelperspektive auf das Leben gehört, dann sollen die eigenen Erfahrungen von solchen Kontrasten gerade nicht existieren. Wir haben weiter oben Kants Definition verwendet, der zufolge Glück das Bewusstsein eines Menschen ist „von der Annehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochen sein ganzes Dasein begleitet,“ so dass diesem Menschen im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht. Ein solcher Mensch würde also kein Unglück kennen - und damit überhaupt nicht wissen, was Glück ist. Wenn er das nicht weiß, wie kann er dann von sich Es genügt nicht, solche Kontraste theoretisch zu kennen, sondern wir müssen sie im Erleben gegenwärtig haben. <?page no="72"?> 72 behaupten, er sei glücklich? Man kann dagegen nicht einwenden, er würde es aber doch empfinden. Wenn er selbst es nicht sagen kann, weil diese Begriffe für ihn keine Bedeutung aus seinem Erleben haben, so können wir nicht sinnvoll behaupten, er werde es aber wohl empfinden. Das nämlich wäre eine Spekulation über diesen Menschen, d. h. wir würden ihn wie ein Objekt in der Welt auffassen, dem wir objektive Eigenschaften zuschreiben, etwa so, wie wir von ihm sagen können, er sei 1,80 m groß, was unabhängig von seinen Empfindungen über seine Körpergröße gilt. Wir müssen uns aber nicht unbedingt auf solche relativ komplizierten Überlegungen einlassen, wenn wir darauf hinweisen, dass der merkwürdige Ausschluss von Kontrasterfahrungen in der Vorstellung ‚Glück‘ einen wichtigen Einwand gegen diesen Begriff darstellt. Mit dem Vogelperspektiven-Begriff ‚Glück‘ und seinem Bezug auf eine undifferenzierte Ganzheit aus dem Blickwinkel von ganz oben und ganz außen wenden wir uns im Grunde gegen das, was wir alle bereits erfahren haben, falls wir das Kleinkinderalter überschritten haben. Der Begriff ‚Glück‘ suggeriert uns gegen alle Lebenserfahrung und gegen die Bedingungen des Erlebens von Freude, Vergnügen, Lust oder Spaß, dass wir auf Dauer solche Empfindungen in einem Leben ohne Unterschiede und Kontraste erfahren könnten. In Wahrheit wird aber genau damit das Erleben unmöglich, das wir anstreben, wenn wir von Glück sprechen. Damit ist nicht gesagt, man müsse sich ständig Schmerzen und Leiden verschaffen, um dann in den Zwischenräumen eine schöne Zeit zu haben. Aber der im Begriff des Glücks enthaltene Anspruch auf das kontrastfreie Ganze eines Lebens aus der Vogelperspektive ist gerade einer der Wege, auf denen wir uns von dem entfernen, was wir uns zuvor eigentlich mit der Vorstellung von Glück gedacht hatten. Der Ausschluss von Kontrasten in der Glücksperspektive ist übrigens auch nicht mit dem bekannten Effekt zu vereinbaren, dass der Wert aller Dinge, die uns zufrieden machen und uns angenehm sind, mit zunehmender Fülle abnimmt. In der Wirtschaftswissenschaft ist dieser Effekt als das Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen bekannt: wer in der Wüste fast verdurstet ist und dann gerettet wird, für den ist das erste Glas Wasser von unschätzbarem Wert und er würde alles dafür hergeben. Auch das zweite Glas ist noch kostbar, aber schon nicht mehr ganz so sehr wie das erste. Beim dritten ist der Wert noch hoch, aber bereits beträchtlich geringer, und auf das vierte könnte man vielleicht auch schon verzichten. Alle weiteren Einheiten von Wasser tragen dagegen kaum noch zur Erhöhung des Wohlbefindens bei. Mit der Vorstellung von Glück schließen wir aber gerade die Gegenwart des Kontrastprogramms im Erleben aus. Deshalb können wir auch vertraute Effekte wie den abnehmenden Nutzen vieler Dinge nicht mehr verstehen. <?page no="73"?> 73 Man kann diesen Effekt natürlich nicht nur bei so extremen Erfahrungen erleben. Wer eine Zeit lang kein Auto besitzt, für den ist der kleinste Gebrauchtwagen ein spürbarer Zuwachs an Lebensqualität. Der Sprung zum Mittelklasse-Neuwagen ist noch sehr angenehm, aber doch schon mit einem weit geringeren Zuwachs an Lebensqualität verbunden, und der Oberklassewagen wird dann eigentlich nur noch wegen der Nachbarn gekauft. Einen solchen Effekt kann man schließlich nur noch durch den Kauf einer Harley-Davidson als Therapie gegen Midlife-Crisis-Symptome vermeiden. Hier setzt dann das Kontrasterleben neu ein, aber nun als Unterscheidung eines langweilig gewordenen Lebens ohne Überraschungen und Abenteuer von dem Leben, das Mann sich so gerne als Abenteuer vorstellt. Ohne solche Kontraste gerät in den Zustand, den wir als Glück bezeichnen möchten, ein Element, das wir eigentlich gerade nicht als Faktor des Glücklichseins auffassen, nämlich die Langeweile. Der Verdacht, Glück müsse ein überaus langweiliger Zustand sein, legt sich allerdings schon aus vielen Darstellungen in der populären Literatur nahe, und wenn wir die Glücksversprechungen der Werbung betrachten, dann scheint Glück nur aus Langeweile aufgrund des Mangels an Kontrasten zu bestehen. Dieser Zusammenhang deutet sich übrigens auch bei manchen Denkern an, so wenn Sigmund Freud darauf hinweist, ‚dass der Mensch glücklich sei, ist in der Schöpfung nicht vorgesehen‘, oder wenn der Philosoph Hegel schreibt: ‚die Epochen des Glücks sind leere Blätter in der Geschichte‘. Hier wird die alltägliche Erfahrung einer profunden Langeweile in Glücksbeschreibungen ausgebaut zu einer Entgegensetzung zwischen dem Geschehen, das wir als Leben bezeichnen könnten, und einem Zustand, in dem nichts geschieht und in dem deshalb auch eigentlich kein Leben stattfindet, der sich aber merkwürdigerweise gerade in der Glücksliteratur immer wieder geschildert findet. Darüber hinaus bringt der Ausschluss von Kontrasten aus der Perspektive des Glücks auch das Problem mit sich, dass damit eine weitere wichtige Unterscheidung innerhalb unseres Wünschens nicht berücksichtigt werden kann. Es gibt auf der einen Seite solche Bedürfnisse, die durch ihre Befriedigung gestillt werden, während andere Bedürfnisse gerade in der Befriedigung nur noch gesteigert werden. Wer hungrig ist, der braucht nur zu essen, und das Bedürfnis nach Nahrung verschwindet - zumindest für eine gewisse Zeit. Im Falle der Begierde nach Macht dagegen kann das ganz anders sein. In der Befriedigung dieser Begierde wird nicht nur ein Bedürfnis gestillt, sondern das Bedürfnis wird durch diese Befriedigung Die Langeweile in vielen Glücksbeschreibungen geht gerade auf diesen Ausschluss von Kontrasten zurück. Außerdem schließt die Idee eines kontrastlosen Glücks viele Wünsche und Bedürfnisse von vornherein aus. <?page no="74"?> 74 ständig noch mehr gesteigert, weil die Macht immer noch mehr Macht will. In der Politik finden sich viele Beispiele für dieses Phänomen - wie wäre es sonst erklärlich, dass Politiker sichere Machtpositionen aufs Spiel setzen, um auf hoch riskante Weise noch mehr Macht zu gewinnen. Offensichtlich ist Macht keine Befriedigung, bei der man es mit einer bestimmten Menge bewenden lassen könnte. Sie scheint vielmehr aus sich selbst heraus nach immer mehr zu verlangen. Ähnlich verhält es sich mit dem Bedürfnis nach Ruhm oder auch nach Selbstdarstellung. Andy Warhol hatte deshalb das Prinzip des Ruhms vollständig missverstanden, als er von den 15 Minuten Ruhm sprach, die jeder Mensch einmal im Leben haben kann - vermutlich würde dieses Erleben nur den Wunsch nach Ruhm anstacheln. Gerade solche sich steigernden Bedürfnisse können nicht in einem Zustand erfüllt werden, der dem Begriff ‚Glück‘ entspricht, so wie wir ihn heute auf der Grundlage einer sehr alten Tradition verwenden. Zu ihnen gehört in der Befriedigung das Erleben eines Mangels, der in der Erfüllung immer schon wieder das Streben nach einer neuen und größeren Befriedigung aufbaut. Wenn der Begriff ‚Glück‘ eine Ganzheit enthält, in der es keine Unterschiede und keine unerfüllten Wünsche mehr geben soll, dann muss er solche Wünsche offenbar ausschließen, denn die Befriedigung solcher Bedürfnisse führt zu einem unbefriedigten Zustand, und dieses Ergebnis ist gerade die Voraussetzung für die zeitweise Befriedigung. Ein solcher Ausschluss von Wünschen war in diesem Begriff aber nicht gemeint. Er soll ja gerade einen Zustand beschreiben, in dem sich die Welt ganz und gar nach den Wünschen und dem Wollen des Menschen richtet. Wenn wir solche Wünsche berücksichtigen, deren Befriedigung aus sich heraus wieder zum Entstehen eines Mangels führt, so können aber eben nicht alle Wünsche in dem Zustand erfüllt werden, den wir mit dem geläufigen Begriff des Glücks beschreiben. Vielleicht ergibt sich die Langeweile in vielen Glücksvorstellungen also auch daraus, dass solche komplizierten Wünsche darin ganz einfach nicht vorkommen (dürfen). Wir malen uns mit dem Begriff ‚Glück‘ eine einfachere Welt aus, als es die ist, in der wir wirklich leben und nach der Erfüllung unserer Wünsche streben. Schließlich führt der mit der Vorstellung ‚Glück‘ verbundene Ausschluss von Kontrasten auch dazu, dass unter der Perspektive des Glücks die Wachheit verloren geht, die der Begriff des Glücks doch eigentlich gerade fordern müsste. Zwar mag manchen Menschen das Glück im Schlaf zufallen, aber man wird auch in diesem Fall nicht sagen, sie könnten es im Schlaf genießen. Weil Glück ganz Glück sein und alles Leiden ausschließen soll, deshalb fordert diese Perspektive geradezu eine herabgesetzte Wachheit des Lebens. Damit ist nicht der Gegensatz zum Schlaf gemeint, sondern das Phänomen, das man auch als ‚Vigilanz‘ bezeichnet, in der man verschiedene Niveaus von Wachheit unterscheiden kann. Ein höheres Niveau an Wach- Im Glück soll es keine Kontraste mehr geben, deshalb setzt das Streben danach die Wachheit des Lebens herab, … <?page no="75"?> 75 heit entsteht bei manchen Menschen gerade in Perioden von Missvergnügen, Leid oder sogar Schmerz, bei anderen dagegen eher in Lebensphasen, die von Freude, Lust und Vergnügen geprägt sind. Unabhängig von solchen individuellen Unterschieden führt der Blick auf das ‚Ganze‘ unter der Vorstellung des Glücks dazu, dass eine ‚totalitäre‘ Ausrichtung in die Perspektive auf das Leben gelangt. Dieser ‚Zwang zum Ganzen‘ erzeugt dann eine Auslöschung der Kontraste. Solche Kontraste sind aber die notwendigen Bedingungen für die Wachheit des Lebens. Diese Wachheit wiederum gehört in das Bewusstsein der Freiheit, und mit der ersteren droht auch die letztere in der Uniformität des ‚Glücks‘-Blickes von oben und ganz weit außen zu verschwinden. Im Grau in Grau einer solchen Perspektive gehen die Unterschiede verloren, die den Prozess der wachen Freiheit in Gang halten. Es ist schwer vorstellbar, wie im Dämmerschlaf der gängigen Glücksvorstellungen etwas entstehen könnte, das zu erleben wert ist. Wir können kaum daran zweifeln, dass Wachheit zu allem gehört, was wir unter dem Begriff des Glücks wirklich anstreben. Auch deshalb enthält die Orientierung an einer Ganzheit, die wir im Begriff des Glücks denken, gerade in sich selbst eine Tendenz, das zu zerstören, was wir im Glück eigentlich zu finden hoffen. Das muss allerdings nicht heißen, dass eine Welt des Unglücks besser geeignet sei, um zu einer erhöhten Wachheit zu gelangen. Auch Zustände des Unglücks können abstumpfen und gefühllos für Kontraste machen. Das hängt aber wiederum damit zusammen, dass der Begriff des Unglücks eben das Negativ des Glücksbegriffes darstellt, weshalb es sich bei ihm ebenso verhält wie mit dem Begriff des Glücks: auch der Begriff des Unglücks hat Teil an jener Ganzheitsorientierung, die für den Begriff ‚Glück‘ typisch ist und die ein wichtiger Grund dafür ist, dass wir die Vorstellung ‚Glück‘ nicht zur Bewertung des Lebens und für die Orientierung des Strebens verwenden sollten. Der Mensch ist offenbar nicht so einfach gestrickt, als dass ihm die kontrastlosen und uniformen Glücksvorstellungen gerecht werden könnten, die alle davon ausgehen, dass die Welt ihm nur im Ganzen zu Wunsch und Willen sein müsste, damit er als glücklich bezeichnet werden kann. 3.4 Aus der Glücksperspektive erscheint uns alles Leiden als Unglück Zur wachen menschlichen Freiheit gehört sicherlich auch eine bestimmte Haltung zu Schmerz und Leiden, und auch hier ist die Vorstellung ‚Glück‘ nicht sehr nützlich für das Leben. Der seltsame Gedanke eines kontrastlosen Ganzen des Lebens, das aus einer Perspektive von ganz oben und sehr weit außen betrachtet wird, gefährdet auch die Freiheit im Umgang … die doch eigentlich in einen Zustand des Glücks gehören sollte. <?page no="76"?> 76 mit Leiden. Natürlich müssen sich die bekennenden Glückssucher nicht unbedingt mit einem solchen Problem abgeben, da für sie ja sowieso nur das Glück als ein vollständig leidensloser Zustand zur Orientierung dienen soll. Aber für die normalen Menschen, die neben Spaß, Freuden, Lüsten und Vergnügungen bisweilen auch mit weniger angenehmen Zuständen und Empfindungen umgehen müssen, kann eine solche Einschränkung der Freiheit in Bezug auf den Umgang mit den weniger angenehmen Seiten der menschlichen Existenz durchaus störend sein. Auch unter diesem Aspekt ist es möglicherweise besser, nicht die Perspektive der Ganzheit und des Verzichts auf Kontraste einzunehmen, die in der Regel mit dem Streben nach Glück verbunden ist. Die Perspektive des Glücks kennt in ihrer Orientierung an einem ‚Ganzen‘ und an der Sicht auf das ganze Leben aus der Vogelperspektive keine Kontraste und will deshalb die Abhängigkeit von Glückserlebnissen von Leid und Schmerz nicht akzeptieren. Weil dieser Zusammenhang aufgelöst ist, deshalb bleibt in ihr auch Leiden nicht Leiden und Schmerz nicht Schmerz, sondern werden zu Unglück. Erst mit der Perspektive aufs Ganze verändern negativ empfundene Erlebnisse ihren Charakter als abgrenzbare Einzelheiten und werden aufgefasst als einzelne Bestandteile einer Ganzheit, die nun als das Gegenteil von Glück aufgefasst wird - d. h. als Unglück, verstanden nicht als ungünstiger Zufall, sondern als Zustand der ganzen Welt oder zumindest der Ganzheit des jeweiligen Lebens. In dieser Situation bleibt das einzelne Leiden nicht mehr ein abgrenzbarer Teil des Lebens, sondern wird zu etwas, das für das Ganze steht. Wenn uns Leid zustößt, so wird nun das ganze Leben zu Unglück und deshalb schlecht. Wir verlernen es unter der Glücksperspektive, so zu differenzieren, dass wir Leiden Leiden und Freude Freude sein lassen können. Leiden ist dann immer mehr als es eigentlich sein müsste. Es gewinnt eine Bedeutung, die es ohne diese Perspektive nicht hätte. Wir beurteilen und empfinden Leiden nun anders, als wir dies aus anderen Blickwinkeln tun würden. Gerade die Glücksperspektive führt deshalb zu einem Leiden am Leiden. Wenn das Unvermeidbare wegen der eingenommenen grundlegenden Lebensperspektive nicht sein darf, dann entsteht das ‚Meta-Leiden‘, d. h. eben das ‚Leiden am Leiden‘. Wer sich das Schienbein an einem Stuhl anstößt, leidet dann nicht nur an dem körperlichen Schmerz, sondern auch noch daran, dass dieser Schmerz gegen seine Vorstellungen von einem richtigen Leben verstößt, das fortwährend Glück sein muss. Dieses ‚Leiden am Leiden‘ stand im Mittelpunkt der antiken Philosophie der Stoa, die wir weiter oben in der ganz kurzen Geschichte des Glücksbegriffes schon erwähnt haben. Gefordert wurde hier vor allem die bewusste Stellungnahme zu Gefühlen, die zu Unangemessenheit bzw. Übertreibung tendieren. Eigentlich ist der stoische Grundgedanke aber hier sehr einfach. Jemand Vor allem aber gefährdet die Perspektive des Glücks die Freiheit, weil mit ihr Leiden zu Unglück wird. <?page no="77"?> 77 stößt sich das Schienbein an einem Stuhl an und empfindet Schmerz. Die Stoiker empfehlen nun keineswegs, so zu tun, als ob man den Schmerz nicht empfinden würde, oder sogar zu versuchen, in einem solchen Fall tatsächlich keinen Schmerz zu fühlen. Aber es ist uns allen bekannt, wie man Probleme mit Leiden und Schmerzen vergrößern kann. Das ist ein Mechanismus, der bereits in sehr einfachen Situationen einsetzt, und der bei wirklich ernsten Problemen noch negativer wirkt. Wer sich das Schienbein gestoßen hat, wird wütend auf den Stuhl, der eigentlich an dieser Stelle überhaupt nicht hätte stehen dürfen. Man wütet vielleicht sogar noch gegen das Eheweib, das den Stuhl dort platziert hat, wo man sich anstoßen musste, und schließlich ist die ganze Welt ein schlechter Platz, weil sie so geschaffen wurde, dass man sich in ihr das Schienbein an Stühlen anstoßen kann. Also hat auch der liebe Gott nichts Rechtes zustande gebracht, und in einer Welt mit einem so unprofessionellen Gott möchte man eigentlich überhaupt nicht leben. Wogegen sich die Stoiker wenden, ist genau diese übertriebene und unangemessene Reaktion. Offensichtlich werden mit ihr die negativen Folgen für den an dem schmerzenden Schienbein schon genug leidenden Menschen noch verstärkt, was vielleicht sogar dann zu einem Zerwürfnis mit dem Eheweib und der ganzen Welt führt, obwohl das Problem doch zunächst nur ein einfacher und schnell vergehender Schmerz war. Die Perspektive, die wir mit der Vorstellung ‚Glück‘ einnehmen, ist also auch deshalb so wenig nützlich, weil sie uns daran hindert, eine solche einfache Haltung einzunehmen, die wir ‚stoisch‘ nennen können - aber nicht müssen, wir können sie auch einfach nur als klug bezeichnen. Den Zugang zu einer solchen Haltung erschwert uns die Perspektive des Glücks, weil sie an einer Ganzheit ohne Kontraste zwischen Leiden und Freuden orientiert ist. Wenn wir uns von diesem Begriff befreien, so wird es wesentlich einfacher, nicht am Leiden zu leiden, d. h. es nicht durch eine falsche Stellungnahme dazu zu vergrößern. Ganz entsprechend sollten wir angenehme Empfindungen nicht verkleinern, indem wir sie mit falschen Beurteilungen verbinden. Das wäre etwa der Fall, wenn wir uns den Genuss einer Erdbeertorte dadurch verleiden lassen, dass wir dabei ein schlechtes Gewissen wegen der vielen Kalorien haben. Den Stoiker schmerzt zwar auch bisweilen das Schienbein, aber er wütet deshalb nicht gegen die ganze Welt, und er überlegt vor dem Genuss der Erdbeertorte, ob er die Gewichtszunahme tolerieren will - und genießt die Süßigkeit dann ohne jede Reue. Jenseits der Perspektive auf das ‚Ganze‘, die uns der Begriff ‚Glück‘ suggeriert, kann das Leiden am Leiden also viel leichter vermieden wer- In der Perspektive des Glücks entsteht das Leiden am Leiden, das das Leiden vergrößert. Die Perspektive des Glücks behindert das freie Stellungnehmen zum Leiden, … <?page no="78"?> 78 den. Wir sind ohne jene Perspektive besser fähig, eine Kontrolle über das Leiden auszuüben und Automatismen in den Gefühlsreaktionen so weit zu vermeiden, wie es eben für vernünftige und kluge Menschen möglich ist. Wir werden dann nicht zu Automaten, die programmiert reagieren, sondern bleiben Stellung nehmende Menschen. Wir müssen aus den Problemen des Lebens nicht mehr machen, als tatsächlich in ihnen enthalten ist, d. h. wir müssen nicht mehr als das unvermeidliche Leiden einstecken, das durch die Welt, wie sie nun einmal ist, erzeugt wird. Wir müssen kein vermeidbares Leiden erdulden, das durch uns selbst und unser unkluges Stellungnehmen zu Gefühlen entsteht. Der Fehler in der Ganzheits-Perspektive im Begriff ‚Glück‘ ist also auch eine falsche Haltung in unserem ‚affektiven Urteilen‘, also in einem Stellungnehmen, das in unsere Gefühle quasi eingebaut ist, und das, was sie für uns sind, auch von der Art und Weise abhängig macht, wie wir uns zu ihnen stellen. Man sollte das Leben also auch deshalb nicht unter dem Begriff des Glücks bewerten und beurteilen und das Streben nicht an der Vorstellung ‚Glück‘ orientieren, weil es sehr hilfreich ist, wenn wir Leiden von Unglück unterscheiden. Für viele Menschen wird Leiden zu Unglück, weil sie das ganze Leben und die ganze Welt unter der Perspektive des momentanen Leidens sehen, das eben dadurch zum Unglück wird, d. h. zu einer Gesamtperspektive auf das Leben und die Welt insgesamt. Dann ist der Zahnschmerz kein Zahnschmerz mehr, sondern ruft eine Welt des Unglücks hervor. Genau das ist der direkte Weg dazu, möglichst intensiv an Zahnschmerz zu leiden. Leider verfügen wir nicht uneingeschränkt über die Fähigkeit, das Umkippen von Leiden in Unglück zu verhindern. Aber wir verfügen über diese Fähigkeit in weit höherem Ausmaß, als wir uns dies zumeist eingestehen wollen. Es kommt sogar noch besser. Diese Fähigkeit lässt sich auch lernen und üben. Den ersten Schritt dazu stellt die Einsicht dar, dass Leiden von Unglück unterschieden werden kann, und dass ein einzelnes Leiden nicht eine Gesamtperspektive auf das Leben und die Welt mit sich bringen muss. Hier hat die vernünftige Freiheit im Stellungnehmen eine weit größere Bedeutung als in der Bestimmung der Intensität von Leiden. Wir können durch bewusste Entscheidung dafür sorgen, dass aus Leiden kein Unglück wird. Wir können auch bis zu einem gewissen Grad mitbestimmen über die Intensität des Leidens. Aber hier sind natürliche Grenzen gesetzt. Dass aus Leiden kein Unglück wird, indem die Gesamtperspektive auf das Leben und die Welt unter einem negativen Vorzeichen vermieden wird, dies ist unserer Freiheit dagegen weit stärker anheimgestellt. Auch hier gibt es natürlich Unterschiede zwischen verschiedenen Men- … und wir geben unsere Freiheit zugunsten der Automatik des Umschlagens von Leiden in Unglück auf. Natürlich hat die vernünftige Freiheit hier Grenzen, … <?page no="79"?> 79 schen, die vor allem auf unterschiedliche Erfahrungen in der formativen Periode des Lebens zurückgehen. Wer den quasi-automatischen Übergang von Leiden zu Unglück als Modell für den Umgang mit unangenehmen Zuständen in seiner Kindheit gelernt hat, der wird es schwer haben, diese Automatik zu durchbrechen und Leiden als Leiden auf sich beruhen zu lassen, ohne daraus gleich eine Gesamtperspektive auf das Leben unter dem Vorzeichen des Unglücks abzuleiten. Aber es ist nicht unmöglich. Wir lernen und verändern uns während des ganzen Lebens. Das ist übrigens sogar eine der interessantesten Erkenntnisse der Gehirnforschung. Das Gehirn ist im Prinzip ein plastisches Organ und nicht so unähnlich einem Muskel. Wir können es trainieren, nicht nur indem wir Denksportaufgaben lösen, Sprachen lernen oder philosophische Gedankengänge nachvollziehen. Es lässt sich auch in Bezug auf die richtige Wahl von Perspektiven bilden, und wir müssen nicht notwendig so unangemessene und das Leben erschwerende Perspektiven wie die unter dem Vorzeichen der Begriffe ‚Glück‘ bzw. ‚Unglück‘ wählen. Wir müssen das Leben nicht aus dem Blickwinkel auf ein Ganzes von sehr weit oben und ganz weit außen betrachten. Die Perspektive des Glücks steht also gegen die Freiheit, sich Stellung nehmend zum Leiden zu verhalten. Wenn wir Glück zum Kriterium für die Bewertung des Lebens und die Orientierung des Strebens machen, dann sehen wir diese Freiheit im Leiden nicht mehr. Es erscheint uns dann notwendig, dass Leiden nur als Teil der Ganzheit erlebt werden kann, die wir als Unglück aus der Entgegensetzung gegen die Ganzheit von Glück auffassen. Ohne die Orientierung an der Vorstellung ‚Glück‘ müssten wir das aber nicht tun. Dieser Blickwinkel ist Teil einer freien Stellungnahme. Wir könnten auch eine andere Perspektive unabhängig vom Begriff ‚Glück‘ wählen, die uns ein besseres Leben ermöglichen würde, weil wir in ihr das Aufleuchten der Freiheit gegenüber dem Leiden erkennen könnten. ‚Glück‘ dagegen ist ein Begriff, der uns dazu bringt, einen Zustand einzunehmen, in dem die Freiheit des Stellungnehmens dahindämmert und langsam verendet. Dagegen sollten wir unsere Freiheit einsetzen, in der wir mit Leiden und Schmerz durch ein praktisches Stellungnehmen so umgehen können, dass daraus nicht Unglück wird. Das aber gelingt nur, wenn wir nicht die aus dem Begriff des Glücks stammende Perspektive auf das Leben und Streben einnehmen und den Irrtum der Orientierung an einer Ganzheit vermeiden, von der wir uns aus einer falschen Tradition und aufgrund von hartnäckigen Vorurteilen zu einem schlechteren Leben verführen lassen. …, die wir aber sehr weitgehend verschieben können, wenn wir die Perspektive des Glücks aufgeben, … … denn ohne sie können wir auf den Blick auf’s Ganze des Lebens von weit oben und außen verzichten. <?page no="81"?> 81 4. Warum wir im Streben nach Glück das Wirkliche und Individuelle überspringen 4.1 Mit dem Glück suchen wir das Allgemeine und verlassen das wirkliche Erleben Wenn wir uns von den zentralen Bedeutungen des Begriffes ‚Glück‘ in der Bewertung des Lebens und in der Orientierung unseres Strebens leiten lassen, so haben wir stets etwas allzu Ganzes im Sinn. Wir streben danach, über alles Einzelne hinausgehen zu können - über die einzelnen Erlebnisse, Erfahrungen und auch über die einzelnen Tage und Stunden. Wir bewerten das Leben aus der Glücksperspektive also grundsätzlich nicht vom Einzelnen her, und wir wollen unser Streben nicht am Einzelnen orientieren. Für unsere Bewertungen und Orientierungen verwenden wir statt dessen eine Vorstellung, mit der wir immer schon über alles Einzelne hinaus sind. Dafür gibt es seit langer Zeit im Denken einen bestimmten Begriff, und wir können das, was wir dann tun, auch so ausdrücken: Wenn wir von Glück sprechen, so ‚transzendieren‘ wir stets - d. h. wir gehen über das hinaus, was wir wirklich erleben. Das kann etwa dadurch geschehen, dass wir alles wirklich Erlebte nur als Mittel für etwas anderes auffassen, das wir als Glück bezeichnen. Jede einzelne Stunde hat dann keinen Wert für sich selbst, sondern nur als Beitrag zu ‚dem Glück‘. Mit diesem ‚Überschreiten‘ oder ‚Transzendieren‘ heben wir die Unterschiede auf, die zwischen den einzelnen Erlebnissen und Erlebnisweisen bestehen, und wir lassen die einzelnen Stunden und Tage des Lebens nicht mehr für sich selbst gelten. Wir unternehmen den merkwürdigen Versuch, die verschiedensten Dinge auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Aus dieser Perspektive können wir dann nicht mehr wahrnehmen, dass der Genuss von italienischem Eis etwas ganz anderes ist als die Lust beim Sex, die sich wiederum sehr stark von der Freude an Musik und vom Behagen bei einem entspannenden Bad unterscheidet. Durch die Orientierung an der Vorstellung ‚Glück‘ gehen wir also nicht nur über das hinaus, was wir jeweils gerade erleben, sondern wir tendieren Unter der Perspektive des Glücks gehen wir über das einzelne und wirkliche Erleben hinaus und ‚transzendieren’ es. Damit vergessen wir die Unterschiede und machen unser Erleben gleichförmig. <?page no="82"?> 82 auch zu einer merkwürdigen Gleichmacherei. Damit verstärken wir die Tendenz zu einem Hinausgehen über das wirklich Erlebte und hoffentlich Genossene noch, die der Begriff ‚Glück‘ sowieso schon mit sich bringt. Ein solches Hinausgehen wäre natürlich sinnvoll, wenn wir in allem Erleben und Erfahren eigentlich und in Wahrheit etwas ganz anderes wollten, das wir dann eben ‚Glück‘ nennen könnten. Aber ist das wirklich der Fall, wenn wir über das wirkliche Erleben hinausgehen und von Glück sprechen? Wir genießen Amarena-Eis oder einen Strandspaziergang - bleiben aber nicht bei diesen konkreten und wirklichen Genüssen, sondern gehen darüber hinaus zu dem Bewusstsein, dass wir beim Eisessen oder Spazierengehen nach ‚dem Glück‘ streben müssen oder wollen. Das können wir natürlich tun, wenn wir damit eine besondere Intensität eines wirklich erlebten Genusses zum Ausdruck bringen wollen. Dann sagen wir damit eben nichts anderes, als dass es sich hier um einen Genuss handelt, der das übliche Maß übersteigt. Eigentlich sprechen wir in solchen Fällen also von Glücksmomenten, verwenden aber zur Abwechslung dafür den Ausdruck ‚Glück‘. Dann wollen wir keineswegs sagen, dass wir nicht nach Amarena-Eis oder einem entspannenden Spaziergang, sondern nach ‚dem Glück‘ streben. So können wir natürlich sprechen, und wir machen dabei auch nichts falsch. In der Regel verwenden wir den Begriff ‚Glück‘ aber ganz anders - nämlich zur Bewertung und Beurteilung des Lebens und zur Orientierung alles Strebens, und wir richten unsere Aufmerksamkeit dabei stets auf ein allzu Ganzes. Wenn wir diese Vorstellung also der Regel gemäß gebrauchen, dann sind wir stets in der Gefahr, genau das Besondere zu verlieren, das wir etwa gerade im Eisgenuss oder während eines Strandspaziergangs - oder wo und wie auch immer - haben können. Schmecken wir das Eis wirklich noch, wenn wir dabei unbedingt ‚das Glück‘ erreichen wollen? Wenn wir die Verwendung dieses Begriffes wirklich ernst meinen, dann können wir sicher nicht mehr völlig in diesem Genuss aufgehen. Darin liegt eine der größten Gefahren von solch allgemeinen Begriffen wie ‚Glück‘. Dieser Begriff ist also nicht einfach nur überflüssig. Wenn wir uns an ihm orientieren, so verlieren wir auch viel von der Intensität des Genusses, der Freude, des Wohlbehagens, der Lust oder der vielen anderen positiven Erlebnisweisen, die es im menschlichen Leben gibt. Man könnte vermuten, dass der Ausdruck ‚Glück‘ in solchen Fällen vielleicht von Menschen gebraucht wird, deren Wortschatz zu gering ist, um andere Begriffe finden zu können, mit denen man besser zwischen verschiedenen positiven Erlebnissen differenzieren kann. Merkwürdigerweise wird der Ausdruck aber auch von durchaus sprachbegabten Menschen verwendet, die sonst keine Schwierigkeiten haben, über ihr Erleben zu sprechen und das eine Erlebnis vom anderen zu unterscheiden. Warum halten sie Das gilt dann, wenn wir nicht bei Glücksmomenten bleiben wollen, sondern nach ‚dem Glück’ streben. <?page no="83"?> 83 es also für notwendig, über die je einzelnen Erlebnisse und Erfahrungen hinauszugehen und eine Vorstellung zu verwenden, die so allgemein ist, dass man das gerade nicht erleben kann, was damit gemeint wird? Die problemlose Verwendung des Begriffs ‚Glück‘ im Sinne von Glücksmomenten oder Glückserlebnissen können wir dabei vernachlässigen und uns auf die Vorstellung ‚das Glück‘ konzentrieren. Mit dieser Frage kommen wir wieder auf die Geschichte des Begriffs ‚Glück‘ zurück. Irgendwann in der Geschichte der Menschheit war der Zeitpunkt gekommen, in dem einige besonders begabte Leute auf die Idee kamen, man dürfe nicht beim Einzelnen bleiben, sondern müsse grundsätzlich und stets nach einem Allgemeinen suchen. Das Problem damit ist nicht so sehr, dass sie überhaupt nach allgemeinen Begriffen suchten. Das kann in vielen Fällen aus ganz praktischen Gründen vorteilhaft sein. Wenn wir etwa erkennen, dass sich viele einzelne Beschwerden auf den gemeinsamen Nenner ‚grippaler Infekt‘ bringen lassen, dann können wir viel leichter nach einem Mittel dagegen suchen, als wenn wir die Beschwerden einzeln auffassen. Es kann in manchen Situationen auch hilfreich sein, wenn wir Gefühle zusammenfassen und mit allgemeinen Begriffen zum Ausdruck bringen, obwohl es doch eigentlich nur die je individuelle Freude oder Lust gibt. Bei der Entscheidung, ob er zum Fußballsehen einen Großbildfernseher aufstellen soll, kann der Kneipenbesitzer natürlich davon absehen, dass auch die Rudelgucken-Freude eigentlich sehr individuell ist. Aber bei dieser praktischen Ausrichtung der Bildung allgemeiner Begriffe wollte man in jener Zeit nicht stehen bleiben. Es sollte aus grundsätzlichen Erwägungen heraus nach dem Allgemeinen gesucht werden. Von nun an sollte nur noch das Allgemeine das Wahre und Richtige sein und das Einzelne galt nicht mehr als das, worauf es wirklich ankommt. Hier begann der Weg zu der Vorstellung, dass wir dann, wenn wir am Eis schlecken, eigentlich nach ‚dem Glück‘ streben müssen, statt einfach das Eis zu genießen. Natürlich kann man sinnvoll sagen, italienisches Eis zu essen mache einen glücklich, solange man damit ganz einfach meint, dass Eis wohlschmeckend ist und sein Verzehr Genuss bereitet. Bis hierher machen wir uns damit keine Probleme. Aber aus der Perspektive der Vorstellung ‚Glück‘ neigen wir zu dem Gedanken, mit dem Eisschlecken sei noch etwas ganz anderes verbunden, das ebenso bei einem beruflichen Erfolg, bei einem Strandspaziergang und bei einer Entspannungsmassage erlebt wird. Dann beginnt das ‚Transzendieren‘, zu dem wir nur neigen, wenn wir den Begriff ‚Glück‘ verwenden, und damit verlassen wir das wirklich Erlebte und wenden uns einem Allgemeinen zu, das wir nicht wirklich erfahren. Dieses ‚Hinausgehen’ über das wirkliche Erleben ist schon in der Geschichte des Begriffs ‚Glück’ angelegt, … … und in dieser Tradition wird nur nach dem Allgemeinen gesucht und das Einzelne vergessen. <?page no="84"?> 84 Auf dieses Allgemeine beziehen wir uns im Grunde nur deshalb, weil wir irgendwann gelernt haben, den Begriff ‚Glück‘ zu verwenden. Aus dieser Gewohnheit heraus hören wir dann auf zu fragen, ob diese Vorstellung nützlich, weniger nützlich oder vielleicht sogar schädlich ist. Sie ist eben irgendwann in der Geschichte der Entwicklung der Begriffe entstanden, die wir gewohnheitsmäßig verwenden. Man kann nicht mehr genau sagen, warum das der Fall war und wozu es gut sein sollte. Aber diese Erfindung führt noch heute dazu, dass sich nicht selten eine Art von Mechanismus einschaltet, der uns dazu führt, beim Genuss von Eis den köstlichen Geschmack zu verlassen und das wirkliche Erleben zu ‚transzendieren‘. Wir gehen dann über das Wirkliche hinaus und verwenden den Begriff ‚Glück‘ für ein Gefühl, das niemand wirklich erlebt. Die Perspektive aus der Vorstellung des Glücks verleitet uns offenbar zu einer Einstellung, in der kein Erleben mehr ‚es selbst‘ sein kann. Sie ist deshalb nicht nur überflüssig, sondern schadet uns auch. Wenn wir diese Einstellung in extremer Weise einnehmen, dann wird alles Erleben so verändert, dass es nicht mehr das wirkliche Erleben ist, sondern uns nur noch als ein Schritt im Verlauf eines Strebens erscheint, das eigentlich über alles wirkliche Erleben und Genießen hinaus zum Glück führen soll - das wir gerade nicht erleben. Es geht dann im konkreten Leben nicht mehr um den Genuss gerade dieser Portion Eis, nicht um die Lust gerade an diesem erotischen Erlebnis, nicht um die Freude an gerade diesem Stück Musik gerade an diesem Ort und während dieser kurzen Zeit. Wenn wir die Vorstellung ‚Glück‘ für die Bewertung und Beurteilung des Lebens und für die Orientierung des Strebens gelten lassen, dann tendieren wir dazu, alles wirkliche Erleben nicht mehr in seiner Wirklichkeit zu belassen. Wir reduzieren alles, was wir erleben, zu einem bloßen Mittel für ein Endziel, das wir als ‚Glück‘ bezeichnen. Das hat eine fatale Folge für das, was wir im Leben anstreben. Das einzelne Erleben selbst hat keinen Wert mehr, weil es stets und von vornherein überschritten wird in Richtung auf etwas, das wir als ‚Glück‘ bezeichnen und nicht wirklich erleben. Wenn alles Erlebbare einen Wert nur hat als Mittel für etwas, das wir nicht erleben, dann kann das, was wir auf diese Weise erreichen, in Wahrheit überhaupt keinen Wert mehr haben. Es wird zu einem bloß Allgemeinen, weil es die einzelnen und konkreten Erlebnisse nicht mehr in sich enthält. Wenn die meisten Menschen das wirkliche Erleben in der Tat nicht als so wertlos erfahren, so hängt dies sehr stark damit zusammen, dass wir im Alltag unseres Lebens klüger sind als dann, wenn wir mit allgemeinen Vorstellungen wie ‚das Glück‘ über das ganze Leben vernünfteln. Diese Tradition des ‚Transzendierens’ verhindert es, nach dem Nutzen des Begriffes ‚Glück’ zu fragen. Unter der Perspektive des Glücks wird alles zu einem bloßen Mittel, und das wirkliche Erleben wird entwertet. <?page no="85"?> 85 Dass Menschen, die ganz ausdrücklich und betont nach Glück streben wollen, in der Regel so unglücklich und unzufrieden wirken, hängt dagegen auch damit zusammen, dass sie das konkrete Erleben für etwas so Abstraktes wie Glück aufgeben wollen. Wer für dieses zweifelhafte Ziel alles wirkliche Erfahren übersteigt, das ihm Freude, Genuss, Lust oder Vergnügen bereiten könnte, der wird mit seinem Leben natürlich nicht gerade zufrieden sein. Einer der folgenreichsten Irrtümer, die aus der Perspektive des Glücks und aus einer Orientierung des Lebens unter dieser Vorstellung entstehen, besteht also darin, dass an die Stelle des wirklich Erlebten etwas ganz anderes gesetzt wird. Gegen eine Bewertung des Lebens und eine Orientierung des Strebens unter dem Vorzeichen von ‚dem Glück‘ spricht demnach, dass Glück in Wahrheit nicht erlebt wird. Niemand empfindet ‚Glück‘ oder sieht ‚Glück‘ oder erlebt ‚Glück‘, sondern er erlebt einzelne angenehme Empfindungen oder Zustände der Zufriedenheit oder Lüste oder Vergnügungen oder Freuden. Aber wenn wir von Glück sprechen, dann sehen wir diese einzelnen Erlebnisse nur noch als Manifestationen oder einzelne Beispiele für etwas Höheres und Übergeordnetes an, das wir als Glück bezeichnen. Vermutlich gibt es keine vernünftige Antwort auf die Frage, warum man diesen Weg zu einer übergeordneten Vorstellung einschlagen soll, wenn sie sich nicht durch ihren praktischen Nutzen ausweisen kann. Schadet es nicht vielmehr, wenn man Zuflucht zu solchen Allgemeinheiten sucht? Verfehlt man dann nicht die einzelnen Freuden, Vergnügungen, Lustgefühle und Spaßerlebnisse, die uns täglich zur Verfügung stehen - einmal weniger und einmal mehr? Wir haben weiter oben gesagt, dass es Glück nicht ‚gibt‘, aber wir wollten damit gerade nicht zum Ausdruck bringen, wir müssten alle ein freudloses und trübes Leben führen. Gesagt war damit nur, dass wir nicht darauf zeigen können wie auf Steine, Bäume und Zwergkaninchen. Es handelt sich vielmehr um eine Vorstellung, die ihre Bedeutung aus der Geschichte des Begriffs ‚Glück‘ entnimmt und nicht aus einem Gegenstand oder einer Sache, die wir unabhängig von diesem Begriff vorweisen könnten. Er wurde irgendwann einmal erfunden, und was er bedeutet, ist in der Geschichte des Denkens entstanden. Es handelt sich um einen der Begriffe, mit denen wir unser Leben zu verstehen suchen. Aber schon deshalb, weil er uns dazu bringt, das Leben als ein allzu Ganzes und deshalb von weit oben und außen zu betrachten, verstehen wir das Leben damit schlechter, als es uns ohne ihn gelingen kann. Jetzt können wir hinzufügen: ‚Niemand erlebt Glück.‘ Was wir wirklich erleben, sind Sonnenaufgänge, ein Frühstück im Freien, An die Stelle des wirklich Erlebten wird nun etwas gesetzt, das wir nicht wirklich erleben. Das ‚Transzendieren’ des wirklich Erlebten führt dazu, dass das Streben nach Glück nicht glücklich macht. <?page no="86"?> 86 Erfolge, gute Bücher, Aufwachen am Sonntag, gute und manchmal schlechte und dennoch unterhaltsame Filme, Zirkusvorstellungen, Wellness-Massagen usw. Das Streben nach Glück dagegen ist ein Bemühen um etwas, das niemand erlebt. Auch deshalb hat das Streben nach Glück schon mehr Menschen unglücklich gemacht, als es durch die nicht immer günstigen Lebensverhältnisse auf unserem Planeten nötig gewesen wäre. 4.2 Es geht uns damit um die große Einheit, obwohl wir doch viele sind und vieles wollen Das Prinzip, an die Stelle des wirklichen und einzelnen Erlebens ein ‚Transzendieren‘ in Richtung eines Allgemeinen jenseits dessen zu setzen, was wir wirklich erleben können, findet sich in der Perspektive des Glücks noch auf eine andere Weise. Dieser Sinn des Begriffes ‚Glück‘ war in der Geschichte seiner Bedeutung einmal sehr wichtig. Nach dieser Auffassung ist Glück das, was alle Menschen wollen. Auch damit geht es um eine ‚Transzendenz‘ - ein Übersteigen - des wirklichen Erlebens in Richtung auf etwas Allgemeines, das wir nicht individuell erleben. Dieses Allgemeine soll jetzt das sein, wodurch angeblich alle Menschen in Bezug auf das beschrieben werden können, was sie wirklich wollen. Was wir wirklich wollen, erreichen wir nach dieser Vorstellung also nicht im konkreten und individuellen Wollen, sondern nur dadurch, dass wir dieses Wollen ‚transzendieren‘ in Richtung auf etwas Allgemeines, das wir nicht individuell wollen, sondern das alle wollen (sollen). Der Begriff des Glücks gehört mit diesem Übersteigen des wirklichen Einzelnen zu einem Denkstil, den man als ‚Metaphysik‘ bezeichnen kann. Der Grundgedanke dieser Vorstellungswelt ist es, dass sich hinter dem Wirklichen und Konkreten immer noch etwas anderes verbirgt, das allgemein und unveränderlich ist und nach dem man um seiner selbst willen streben sollte - also nicht deshalb, weil wir damit einen bestimmten Zweck erreichen können. Deshalb sollte man etwa über das ‚Physische‘ hinausgehen. Der Ausdruck ‚Meta‘ bezeichnet eigentlich dieses ‚über hinaus‘, also ein ‚Jenseits‘ des Physischen im Sinne des konkreten Wirklichen. Friedrich Nietzsche sah in diesem Denkstil das Prinzip einer ‚Hinterwelt‘ am Werk, die hinter der wirklichen Welt sein soll. Er war deshalb auch der Meinung, dass ein Denken nach der Art der Metaphysik etwas für ‚Hinterweltler‘ ist - die Assoziation zu ‚Hinterwäldler‘ hatte er natürlich beabsichtigt. Diese ‚Hinterwelt‘ wird durch das Transzendieren der wirklichen Welt erreicht, und dieses andere ‚dahinter‘ ist das, worauf es eigentlich ankommen soll. Das gilt nach der Forderung dieses Denkstils auch für die Orientierung des Lebens an einem Ziel wie Glück. Es kommt im Leben Glück soll das sein, was alle wollen; deshalb übersteigt es das wirkliche Erleben zu etwas viel zu Allgemeinem. <?page no="87"?> 87 dann nicht mehr auf das an, was wir wirklich und individuell erleben und erfahren, sondern auf ‚das Glück‘. Das erleben wir zwar nicht, wenn wir von dem Gebrauch des Ausdrucks in ‚Glücksmomente‘ usw. absehen, aber es soll doch etwas sein, das ‚hinter‘ dem wirklichen Erleben steht und auf das es angeblich in Wahrheit ankommt. Statt nach Erdbeertorte, Erfolg, Sex und Urlaub, oder Philosophieren, Musikhören und ähnlichen Vergnügungen streben wir alle dieser Vorstellung zufolge eigentlich nach Glück. Diese Vorstellung legt uns also nahe, dass es uns im Leben auf etwas ganz Allgemeines ankommen sollte, das wir alle anstreben, obwohl wir es nur erreichen können, wenn wir das wirkliche und individuelle Erleben, aus dem wir Genuss, Lust und Freude beziehen können, übersteigen. Mit diesem Gedanken kommt das Prinzip der Einheit zur Herrschaft gegen die Erfahrung der Mannigfaltigkeit des Lebens und der menschlichen Wünsche, wie sie sich aus der Beobachtung der Wirklichkeit doch eigentlich nahe legt. Aristoteles etwa sprach davon, dass ‚Eines‘ das Ziel alles Strebens aller Menschen ist: „Alle tun alles wegen eines Guten, das ihnen das höchste Gut vorstellt,“ und das ‚Glück‘ heißen soll. Natürlich wusste auch Aristoteles, dass dieses Gut vielgestaltig ist und die Menschen unterschiedliche Vorstellungen davon haben. Er war aber dennoch der Meinung, dass man Genuss, Ehre, Reichtum und vieles andere gleichnamig machen könne, wenn man sich denkt, dass es sich nur um verschiedene Vorstellungen von diesem ‚höchsten Gut‘ handelt. Wir haben weiter oben schon darauf hingewiesen, dass es in vielen Fällen aus praktischen Gründen sinnvoll sein kann, mit Hilfe eines allgemeinen Begriffes eine Einheit unter dem herzustellen, was eigentlich ganz verschieden ist. Etwa fassen wir viele Tiere unter dem Begriff ‚Katze‘ zusammen. Das ist hilfreich, weil wir auf diese Weise ihr Futter industriell und damit preisgünstiger herstellen können. Es ist aber nicht leicht ersichtlich, warum man im Fall des menschlichen Erlebens eine solche Einheit herstellen sollte, solange dies nicht durch einen bestimmten Zweck nützlich erscheint. Vor allem ist es nicht einzusehen, welchen Nutzen es hat, für das Leben eine Vorstellung mit dem Namen ‚Glück‘ als Ziel zu akzeptieren, das angeblich alle wollen, obwohl es doch niemand individuell und konkret erleben kann. Für Aristoteles war dies aber anscheinend selbstverständlich. Diese Selbstverständlichkeit hat bis heute das Denken geprägt. Nur deshalb konnte der Begriff des Glücks zu einem beliebten Thema gerade bei Philosophen werden - also bei Menschen, die nicht gerade in dem Ruf stehen, sich viel mit dem konkreten und wirklichen Erleben aufzuhalten. Es hat dabei kaum jemanden gestört, dass es sich keineswegs von selbst versteht, wenn wir von Es ist deshalb etwas ‚Metaphysisches’ und gehört zu einer ‚Hinterwelt’. Unter der Perspektive des Glücks geht es um das ‚Eine’, obwohl wir doch viele sind und vieles wollen. <?page no="88"?> 88 den vielen einzelnen Freuden, Genüssen und Lüsten absehen und unsere Energie statt dessen auf etwas richten, das wir gerade nicht erleben, wahrnehmen oder genießen können. Nicht nur das Denken, sondern auch das Leben vieler Menschen wurde damit von dem abgelenkt, was sich eigentlich von selbst verstehen sollte, nämlich von der Pluralität des Strebens und seiner Ziele. Aus der Geschichte des Begriffs ‚Glück‘ können wir also entnehmen, dass damit etwas bezeichnet werden soll, was alle Menschen wollen. Dieses ‚Eine‘ soll aber dennoch nicht so sein, dass man es mithilfe der Erfahrung einsehen und erkennen kann. Auch deshalb gehört die Vorstellung ‚Glück‘ einer metaphysischen Denkart an. Das Metaphysische daran betrifft nicht nur die Tendenz, über alles ‚Physische‘ und konkret und individuell Erfahrbare hinauszugehen. Hinausgehen sollten wir nach dieser Vorstellung auch über eine Erkenntnis, die sich auf die Erfahrung und damit auf das wirklich Wahrnehmbare stützt. Über das so zu gewinnende Wissen hinaus soll es noch ein anderes Wissen geben, das nicht auf der Erfahrung beruht, sondern das wir uns ausdenken können, wenn wir es nur genügend hartnäckig versuchen. In diesen Bereich soll auch das gehören, was wir unter der Perspektive des Glücks anstreben. Wir verzichten mit der Vorstellung ‚Glück‘ also darauf, unser konkretes und individuelles Erfahren für unser Leben einzusetzen, und verlassen uns statt dessen auf etwas Allgemeines, das wir uns nur ausgedacht haben - bzw. das in der Geschichte des Denkens für uns vorgedacht wurde. Wir haben weiter oben schon gesehen, dass Glück in der Geschichte dieses Begriffs in erster Linie als eine sehr allgemeine Idee verstanden wurde. Damit war aber gerade nicht etwas in dem Sinne Allgemeines gemeint, dass es auf der Grundlage der Erfahrung zum Zwecke einer wissenschaftlichen Erkenntnis oder für technische Ziele eingesetzt werden kann. Im Denkstil der Metaphysik geht es überhaupt nicht um solche Zwecke und Ziele. Das einzelne Erlebnis ist nach dieser Vorstellung einfach nicht würdig, groß beachtet zu werden und als Grundlage für allgemeine Einsichten zu dienen. Es befindet sich in einer Entwicklung und verändert sich und kann schon deshalb keine Grundlage für erhabene Erkenntnisse sein, die möglichst ewig und unveränderlich sein sollten. Die Geschichtlichkeit und Veränderlichkeit der Weisen, wie Menschen genießen, sich Lust verschaffen und Freude empfinden, geriet damit weitgehend aus dem Blick. Damit war der Weg frei zu der Vorstellung, das, was in der Metaphysik ausgedacht wurde, müsse eben das sein, was alle Menschen wirklich wollen, obwohl sie es doch nicht individuell und konkret erleben können. Dieses ‚Eine’ erleben wir aber gerade nicht, sondern nur das Viele und Einzelne. Wir können diese Allgemeinheit auch nicht durch ihre Ziele rechtfertigen - sie ist in der Tat nur eine ‚Idee’. <?page no="89"?> 89 Man kann gegen eine solche Metaphysik des Glücks zunächst schon einwenden, dass Menschen sehr Vieles und vor allem sehr Verschiedenes wollen, und wir können nur schwer Gemeinsamkeiten darin finden. Natürlich wollen wir alle genug zu Essen und zu Trinken haben, möglichst oft Sex, wenig arbeiten und frei von Schmerzen sein. Das klingt sehr plausibel, ist aber eigentlich schon falsch. Nicht alle Menschen wollen möglichst wenig arbeiten, andere hungern geradezu danach. Möglichst oft Sex kann das Vergnügen daran beträchtlich mindern, während konzentriert und mit Bedacht zur richtigen Zeit betriebener Sex eine größere Lust verschaffen kann. Nicht alle Menschen wollen frei von Schmerzen sein, und vor allem wollen viele nicht durch Verluste in anderen Lebensmöglichkeiten dafür bezahlen. Können Krankheiten nur durch solche Medikamente gelindert werden, die die Wachheit herabsetzen, so kann die Wahl zwischen der letzteren Eigenschaft und Beschwerdefreiheit bisweilen schwierig sein. Sogar Essen und Trinken haben für verschiedene Menschen einen sehr verschiedenen Stellenwert, wenn man auch zugeben muss, dass Hunger wohl nur von wenigen angestrebt wird (obwohl es auch das bei Asketen geben mag). Jedenfalls zählen wir die Tatsache, dass wir genügend Nahrung zum Überleben haben, in der Regel nicht zu der Vorstellung von ‚dem Glück‘. Was könnte das also sein, was alle Menschen wollen und was wir nach Auffassung der Metaphysik als ‚Glück‘ bezeichnen sollten? Wenn wir nicht genauer sagen können, was das sein soll, sondern nur wiederholen ‚eben das Glück‘, so handelt es sich um einen völlig leeren Begriff, mit dem uns überhaupt nichts gesagt wird. Wenn wir aber genauer sagen, was denn alle Menschen anstreben, so sieht man in der Regel, dass es in Wahrheit doch immer nur einige Menschen sind, die das Genannte wollen. In manchen Fällen sind es möglicherweise sehr viele, aber auch damit können wir noch nicht sagen, dass dies für alle gelten müsse. Der metaphysische Begriff des Glücks verkennt also vor allem, dass es stets bestimmte Menschen sind, die etwas wollen. Man kann ihre Wünsche zwar in vielen Fällen und aus praktischen Gründen zusammenfassen, aber deshalb lassen sich ihre Wünsche dennoch nicht auf einen Nenner bringen. Wenn Gewerkschaften höhere Löhne fordern, so gehen sie mit Recht davon aus, dass ihre Mitglieder gerne ein höheres Einkommen haben wollen - obwohl viele davon vielleicht lieber kürzer arbeiten möchten. Was das höhere Einkommen für den einzelnen an Lust oder Vergnügen bedeutet, das ist sogar vollständig individuell. In den Arbeitsbeziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist es aber sehr sinnvoll, dass man Forderungen gemeinsam stellt und aus pragmati- Im Grunde lässt sich kein Ziel finden, das wirklich so für alle gelten würde, wie es der Begriff ‚Glück’ fordert. Was alle wollen, können wir also nicht angeben, und danach zu suchen hat keinen nützlichen Sinn. <?page no="90"?> 90 schen Gründen von den individuellen Besonderheiten absieht. Das heißt aber nicht, dass sie nicht vorhanden sind. Mit dem Begriff ‚Glück‘ verhält es sich aber anders. Es handelt sich nicht um eine Vorstellung, unter der wir aus praktischen Gründen das zusammenfassen, was viele Menschen wollen, und dabei von den individuellen Wünschen einfach absehen und es den einzelnen Menschen überlassen, was sie dann daraus machen. Dazu müssten wir uns Situationen denken können, die wir mithilfe einer solchen Allgemeinheit besser bewältigen können, als dies ohne einen solchen Begriff möglich ist. Wir müssten den Begriff ‚Glück‘ also grundsätzlich so auffassen können, wie dies bei Lohnforderungen geschieht, wo eine die individuellen Besonderheiten weglassende Verallgemeinerung sinnvoll ist, weil in der Bundesrepublik durch die Institution der Tarifverträge kollektive Lohnforderungen nützlich sind. Die Behauptung, alle Menschen würden nach Glück streben, hat dagegen keinen solchen praktischen Sinn. Es bringt keinen Nutzen, uns auf etwas zu konzentrieren, was angeblich alle Menschen wollen, wenn das wirkliche Erleben doch so vielfältig ist, wie es Menschen gibt. Wenn wir keine praktischen Gründe für die Allgemeinheit finden können, die der Begriff des Glücks suggeriert, dann legt uns dieser Begriff in der Tat nur nahe, uns bloß auszudenken, wohin wir das wirkliche Erleben übersteigen sollten. Deshalb bringt diese Vorstellung die Gefahr mit sich, dass der Begriff ‚Glück‘ vonseiten bestimmter Interessen oder auch durch bestimmte Ideologien ausgefüllt wird. In diesem Fall handelt es sich aber um etwas ganz anderes als das, wonach wirklich alle Menschen streben. Es geht dann um das, wonach alle Menschen nach der Auffassung einiger weniger Menschen streben sollten. In der Regel ist das ziemlich genau identisch mit dem, was diese wenigen tatsächlich wollen. Die wenigen spreizen sich auf und behaupten, das, was sie wollen, müsse der Maßstab für alle sein, weil er angeblich genau das enthält, wonach alle streben - und wenn die anderen es in Wirklichkeit nicht wollen, dann sind sie dumm, böse oder beides. Der Begriff des Glücks konnte in der Geschichte sehr oft dazu missbraucht werden, um ganz spezielle Interessen im Namen einer vorgeblichen Allgemeinheit zu verfolgen, die nur die Interessen weniger Menschen widerspiegelte. Das funktionierte - und funktioniert - deshalb so gut, weil dieser Begriff so allgemein, so leer und so transzendierend ist, dass es sich geradezu anbietet, seine Allgemeinheit mit speziellen Interessen auszufüllen. Vielleicht wendet nun jemand ein, es ließe sich doch sehr einfach feststellen, was alle Menschen wollen. Man muss sie ja nur befragen. Dagegen gibt es jedoch einige wichtige Einwände. Der wichtigste ist sicher, dass es in der Geschichte des Glücksbegriffs nie um eine Definition auf der Grundlage der Erfahrung ging. Das konnte im übrigen schon deshalb nicht der Deshalb wurde der Begriff des Glücks so oft dazu missbraucht, die Wünsche einzelner für alle gelten zu lassen. <?page no="91"?> 91 Fall sein, weil dann die moralische Dimension vollkommen ausgeblendet werden müsste. Wir müssten zulassen, dass zum Begriff des Glücks auch die Erfüllung solcher Wünsche gehört, die wir aus moralischen Gründen nicht zulassen sollten. Das können etwa solche sein, mit denen wir anderen Menschen schaden. Wenn wir den Begriff des Glücks rein empirisch bestimmen wollten, so müssten wir schließlich auch die Wünsche von Dieben und Kinderverführern berücksichtigen, wozu kein normaler Mensch bereit wäre. Natürlich könnte man hier sagen, dass aus bösen Taten in Wahrheit kein Glück zu beziehen ist. Das ist ein sehr alter Gedankengang, der schon bei Platon vorkommt. In einem seiner Dialoge behauptet ein Gesprächspartner, dass Unrecht tun stets besser sei als Unrecht leiden. Er verweist dabei auf Lebenserfahrungen, die uns zeigen, dass die Bösen oft sehr angenehm leben können. Platon wendet dagegen ein, dass derjenige, der Unrecht tut, auf keinen Fall glücklich sein könne. Das geht vor allem darauf zurück, dass er auf diese Weise in Konflikte mit anderen Menschen und mit dem Staat gerät, die sein Glück nachhaltig stören werden. Er wird nicht mehr in Eintracht und Harmonie mit seinen Mitmenschen leben können, wenn er sich nicht an die moralischen Normen hält, die in seiner Gesellschaft gelten, bzw. an das Recht, das im Staat gilt. Auch wenn er nicht erwischt wird, ist es wahrscheinlich, dass ihn sein Gewissen plagen wird, und außerdem wird er stets fürchten müssen, dass seine Taten entdeckt werden, so dass er die Früchte seines Unrechts nie in Ruhe genießen wird können. Aber diese Überlegung funktioniert nur, wenn wir akzeptieren, dass Glück auch mit inneren Widersprüchen innerhalb des wirklichen Wollens verbunden sein kann. Im Falle der unmoralischen oder gegen die Gesetze verstoßenden Wünsche könnte man zwar sagen, dass der Betreffende sein wahres Glück mit diesen Wünschen nicht erreichen kann. Aber das wird doch damit erkauft, dass er nur aus Klugheitserwägungen auf seine unmittelbaren Wünsche verzichtet. Passt ein solcher Verzicht aber tatsächlich zu der Vorstellung von Glück, die in der Geschichte dieses Begriffs entwickelt wurde? Wenn wir nochmals Kant heranziehen, so geht es bei Glück ja darum, dass einem die ganze Welt zu Wunsch und Willen steht. Das ist bei einer solchen Klugheitsüberlegung aber offenbar nicht der Fall - sonst müsste man eben die Klugheit und Berechnung nicht einsetzen, die hier angeraten wird. Außerdem bleibt die Frage offen, ob wir tatsächlich einen Menschen glücklich nennen wollen, der eigentlich Böses im Schilde führen würde und dies nur unterlässt aus Berechnung und aus Furcht vor den negativen Folgen, wenn es bekannt wird, bzw. aus Furcht vor Entdeckung - oder aus Furcht vor der immerwährenden Furcht davor. Der Ausweg einer Befragung, was denn alle wollen, funktioniert auch nicht, … … denn dann müssten wir auch unmoralische Wünsche akzeptieren, … <?page no="92"?> 92 Darüber hinaus dürfte es einige praktische Schwierigkeiten bereiten, wollten wir herausfinden, wonach alle lebenden Menschen tatsächlich streben. Hier gibt es jedoch nicht nur die konkreten Probleme und Kosten, die eine solche Befragung verursachen würde. Bekanntlich sprechen die Menschen dieser Welt sehr viele verschiedene Sprachen. Wir müssten also in allen Sprachen Ausdrücke finden, die genau den Begriff ‚Glück‘ übersetzen, so dass wir tatsächlich überall nach der gleichen Vorstellung fragen. Die meisten Begriffe können wir zumindest so weit übersetzen, dass wir nicht in größere Probleme geraten. Aber bei Begriffen, die sich nicht auf sinnlich wahrnehmbare Dinge beziehen, ist das in vielen Fällen sehr schwierig. Schon bei einer so weit verbreiteten Sprache wie dem Englischen bereitet es sogar bei einfacheren Begriffen große Probleme, wenn man präzise übersetzen will. Solche Schwierigkeiten kennt jeder, der schon einmal das deutsche Wort ‚Kitsch‘ ins Englische zu übersetzen versucht hat - ‚trash‘ ist mit Sicherheit keine Übersetzung dafür, sondern die einzige korrekte Übersetzung ist das englische Fremdwort ‚kitsch‘. Aber auch schon bei noch einfacheren Alltagsausdrücken wie ‚to request‘ gibt es keine präzise Übersetzung - dieses Wort steht zwischen ‚bitten‘ und ‚fordern‘ und dafür gibt es kein deutsches Wort. Wie soll da erst ein komplizierter und in der Geschichte des Denkens und der Menschen in mannigfaltigen Bedeutungen verwendeter Begriff wie Glück angemessen übersetzt werden? Außerdem muss man auch berücksichtigen, dass die Antworten auf solche Fragen in hohem Ausmaß durch die Wahrnehmung ihrer sozialen Erwünschtheit bestimmt werden. Bei entsprechenden Umfragen antworten die meisten Menschen eben so, wie sie glauben, sich darstellen zu müssen oder zu sollen. Es besteht also wenig Aussicht auf eine Einigung über eine einheitliche Definition dessen, was alle Menschen wirklich wollen. Wir sollten besser darauf verzichten, herausfinden zu wollen, wonach alle wirklich streben, nur um einen Begriff zu retten, der aufgrund seiner Allgemeinheit und seiner Orientierung an einem alles konkrete Erleben transzendierenden allzu Ganzen sowieso nicht gerade sehr hilfreich ist. Außerdem wäre er gerade dann nicht nützlich, wenn er so allgemein aufgefasst wird, dass sich alle Menschen in Umfragen auf eine Bedeutung einigen können. Das könnte im äußersten Fall bei sehr einfachen Grundbedürfnissen gelingen. Allerdings handelt es sich gerade in diesen Fällen um solche Wünsche, bei denen wir in der Regel keineswegs von Glück sprechen, sondern höchstens von einer Voraussetzung dafür, nicht unglücklich zu sein. Wer genug zu Essen und zu Trinken hat, der ist noch nicht glücklich, sondern er kann in diesem … und zuvor sogar noch schwierige Übersetzungsprobleme lösen. Die Suche nach dem, was alle wollen, sollten wir also aufgeben, … <?page no="93"?> 93 Zustand immer noch todunglücklich sein; wer hier Mangel leidet, ohne ihn freiwillig zu wählen, der ist hingegen sicherlich nicht glücklich zu nennen - obwohl es sogar hier Ausnahmen gibt. Wir können also in der Tat keine allgemeinen und konkreten Ziele des Strebens nach Glück angeben oder wenigstens genauere Charakterisierungen der Art und Weise dieses Strebens nennen. Wenn wir von Glück aber nur als von dem sprechen, was alle Menschen wollen bzw. anstreben, dann ist der Begriff ‚Glück‘ nicht abgrenzbar und deshalb im Prinzip vereinbar mit allem, was tatsächlich angestrebt wird. Letztlich können wir also überhaupt keine konkrete Bedeutung mit dieser Vorstellung verbinden. Das geht natürlich wieder auf das mit diesem Begriff gemeinte Übersteigen bzw. Transzendieren des wirklichen und individuellen Erlebens der konkreten Menschen zurück. Der Begriff ‚Glück‘ erweist sich also doch als Teil einer metaphysischen ‚Hinterwelt‘ und damit als wenig nützlich. Wir hatten weiter oben festgestellt, dass eigentlich niemand glücklich sein will, weil es sich um eine Vorstellung handelt, der kein wirkliches Erleben entsprechen kann. Vielleicht sollten wir dieses Ergebnis ein wenig korrigieren: Nur ‚Hinterweltler‘ streben nach Glück - und erreichen nie das, was sie sich wünschen, weil sie damit ihre individuelle Wirklichkeit transzendieren in Richtung auf eine Welt, in der es nichts zu erleben gibt. Der Horizont des Erlebens ist für ‚Hinterwäldler‘ ebenso wie für ‚Hinterweltler‘ in der Regel nicht sehr groß. 4.3 Wir stellen uns ein Leben ohne Dynamik vor, das niemand haben möchte Wir haben weiter oben schon auf das Problem mit den fehlenden Kontrasten in den gängigen Glücksvorstellungen hingewiesen. Dieser Mangel hängt natürlich damit zusammen, dass der Begriff ‚Glück‘ ein Ganzes meint, das in sich nicht so unterschieden sein soll, dass es auch andere Zustände enthalten könnte. Glück soll eben ganz Glück sein, und in ihm sollen die Kontraste nicht mehr vorkommen, die bescheidenere Dinge wie Vergnügen, Lust, Spaß und Freude ermöglichen. Diese Annehmlichkeiten hängen eben davon ab, dass es auch Zustände gibt, in denen nicht nur Vergnügen, Lust, Spaß und Freude herrschen. In Zusammenhang mit dem in der Perspektive des Glücks enthaltenen Transzendieren bzw. Übersteigen des wirklichen Erlebens können wir jetzt noch eine bessere und etwas veränderte Sicht auf dieses Problem gewinnen. Dabei sollten wir vor allem auf … und die Perspektive des Glücks den metaphysischen ‚Hinterweltlern’ überlassen. Wenn Glück das Ziel eines Strebens sein soll, dann muss es offenbar von einem Mangel ausgehen, … <?page no="94"?> 94 den Begriff des Strebens achten. Wenn wir Glück wirklich als das Ziel eines Strebens auffassen wollen, dann ist ein bestimmter Kontrast zu einem anderen und nicht glücklichen Zustand auf keine Weise aus ihm auszuschließen, obwohl von Glück doch gerade dann gesprochen werden soll, wenn die Welt sich an alle unsere Wünsche angepasst hat. Wer nach Glück strebt, wird nicht einfach das Fehlen von so etwas Abstraktem wie Glück feststellen. Ihm wird vielmehr bewusst sein, dass es so einiges an Konkretem gibt, das fehlt, und das wird er mehr oder weniger bewusst angeben können. Wenn Glück als etwas Anzustrebendes aufgefasst wird, so muss es offenbar von einem Mangel ausgehen, dem es abhelfen soll. Das aber ist nicht einfach ein Mangel an Glück, sondern ein Mangel an diesem oder jenem. Ohne einen Mangel streben wir in der Regel nach nichts. Deshalb kann es Glück eigentlich nicht geben ohne einen vorangegangenen und konkreten Mangel. Zwar soll Glück der Zustand heißen, in dem er beseitigt wird, aber dafür muss es ihn doch erst einmal gegeben haben - ebenso wie die Stadtreinigung nur dann nach einem Zustand streben kann, in dem der Müll beseitigt ist, wenn es ihn zunächst gegeben hat. Ohne Mangel kein Streben, ohne Streben keine Erfüllung, ohne Erfüllung kein Glück. Offenbar gehört ein vorangegangener Mangel doch so notwendig zum Begriff ‚Glück‘, dass man es nicht einmal denken kann ohne diese unangenehme Situation, in der etwas fehlt, was einem wichtig ist. Die Vorstellung ‚Glück‘ enthält also eine Spannung zwischen einer Erfüllung und dem Mangel, von dem das Streben nach Erfüllung ausgegangen war. Diese Spannung vergessen wir zu leicht, wenn wir uns Glück als einen Zustand vorstellen, der quasi vom Himmel fällt und dann plötzlich da ist, ohne dass er abhängig wäre von dem, was zuvor war und was wir zuvor erlebt haben. Aber diese Vorstellung können wir eigentlich auf sich beruhen lassen, weil sie keine Bedeutung für das wirkliche Leben hat. Damit würde sich der Begriff ‚Glück‘ auf so etwas wie eine Träumerei beschränken, die im Grunde harmlos ist, auch wenn sie uns daran hindert, nach konkreten Freuden und Vergnügungen zu streben, wenn wir ihr zu intensiv nachhängen. Wenn wir die Vorstellung ‚Glück‘ dagegen in ihrer wirklichen Bedeutung für unser Leben auffassen, dann gehört dazu, dass es zum Ziel eines Strebens wird. Gerade in diesem Fall aber kehrt der Kontrast zurück, den die Perspektive des Glücks doch eigentlich ausschließen wollte. Es handelt sich allerdings jetzt nicht mehr um den Kontrast zwischen verschiedenen Erlebnissen, von dem Freude, Vergnügen, Spaß und Lust abhängig sind. Jetzt geht es um den Kontrast zwischen dem, was wir uns als Glück vorstellen, und dem Mangel, von dem das Streben nach Glück ausgeht, und dieser Mangel ist nicht einfach etwas Abstraktes und Unbestimmtes. Er ist im individuellen Leben in der Regel einigermaßen bestimmt, auch wenn wir ihn … und damit gehört ein Kontrast zu dem, was wir uns unter Glück vorstellen, … <?page no="95"?> 95 nicht sehr präzise beschreiben können. Aber auch dieser Kontrast soll unter der Perspektive des Glücks eigentlich nicht existieren. Diese zum Streben nach Glück gehörende Beziehung auf einen zu beseitigenden Mangel bedeutet, dass wir etwas Negatives nicht aus der Vorstellung ‚Glück‘ ausschließen können. Mit Glück meinen wir also offensichtlich einen Zustand, der in seiner eigenen Vergangenheit einen Mangel enthält, und das positive Erleben besteht darin, dass dieser nun beseitigt ist. Wenn als Glück aber nicht irgendein schwaches Gefühl, sondern ein besonders intensiver Zustand bezeichnet wird, so wird auch der frühere Mangel sehr intensiv gewesen sein müssen. Offensichtlich musste zuvor irgendwann in der Vergangenheit erst etwas Negatives erlebt werden, damit dann Glück möglich ist. Wie sich der einzelne Mensch sein Glück vorstellt, das wird vermutlich davon abhängen, wie dieser Mangel aussah. Schon deshalb kann es übrigens kaum gelingen, so etwas wie ein Glück für alle Menschen zu entwerfen. Die Vorstellung von Glück ist ebenso individuell, wie die Wahrnehmung des Mangels im Leben individuell ist. Verschiedene Lebensgeschichten mit verschiedenen Mangelerlebnissen führen also auch zu sehr verschiedenen Glücksvorstellungen. Man sollte sich aber nicht vorstellen, dass das Erleben eines Mangels vollkommen aus dem Zustand des Glücks verschwindet, wenn das aus Mangel entstandene Streben erfüllt wird. Es handelt sich nicht um irgendeine Erfüllung oder die Erfüllung an sich, was immer das sein könnte, sondern um eine Erfüllung, die gerade diese individuelle Mangelsituation beseitigt. Die Erfüllung, die in einer wiederhergestellten Gesundheit liegt, ist eben nicht eine Erfüllung an sich - sie ist nicht abstrakt, sondern das, was durch die Mangelsituation ‚Krankheit‘ bedingt bleibt, von der sie ausgegangen war. Deshalb bleibt in der Erfüllung der Mangel in gewisser Weise erhalten. Er muss sogar erhalten bleiben, wenn die Erfüllung überhaupt als solche erlebt werden soll. Würde er vergessen und wäre er im Erleben nicht mehr virtuell präsent, so wäre die Erfüllung eben keine Erfüllung mehr. Wie die Erfüllung in der Situation des Glücks aussieht, das ist eben jeweils davon abhängig, was dem betreffenden Menschen in seinem früheren Leben besonders gefehlt hat. Dieser Kontrast gehört also zu dem, was für einen Menschen als Glück gelten kann, weil Glück stets eine Beziehung zu einer Vergangenheit hat, in der dieser Zustand nicht erlebt wurde. Weil Glück auf bestimmte und individuelle Mangelzustände bezogen bleibt, deshalb bleibt das, was gefehlt hatte, auch in der Vorstellung von Glück erhalten. Das heißt nicht, dass die Glücksvorstellung deshalb Unglück enthalten müsste. Es heißt nur, dass ihre konkrete Ausgestaltung von dem Negativen … weshalb die Vorstellung von Glück so individuell ist, wie es die Mangelerlebnisse sind, von denen sie ausgeht. Deshalb gehört zu der Perspektive des Glücks eigentlich der Mangel, und damit eine eigene Spannung. <?page no="96"?> 96 abhängig bleibt, von dem das Streben nach Glück seinen Ausgang genommen hat. Das alles muss überhaupt kein Problem darstellen. Auch für konkrete Freuden, Vergnügen, Lust- und Spaßerlebnisse gilt, dass ihr Erleben davon abhängig bleibt, was uns zuvor im Leben gefehlt hat oder was wir zuvor an Angenehmem erlebt haben. Aber mit dem Begriff des Glücks versuchen wir, uns von dieser Vergangenheit zu verabschieden. Das geht schon daraus hervor, dass das Glück stets ein Ganzes sein soll. Das kann es nicht sein, wenn es von einer individuellen Vergangenheit abhängig bleibt. Es ist dann selbst individuell und es macht keinen Sinn, für alle Menschen eine Vorstellung von Glück zu entwerfen. Es hat auch keinen Sinn, Glück als das aufzufassen, was eigentlich doch alle wollen. Wir streben unter der Perspektive der Glücksvorstellung also nach etwas, nach dem wir eigentlich nicht streben können - und in Wahrheit auch nicht wollen, denn wer will schon das haben, was auch alle anderen wollen. Wir haben jetzt im Begriff des Glücks einen neuen Aspekt des Transzendierens am Werke gesehen, das wir zuvor im Übersteigen des wirklichen, konkreten und individuellen Erlebens gefunden hatten. Wir übersteigen mit der Vorstellung ‚Glück‘ auch unter diesem Aspekt das, was wir für einen solchen Zustand doch voraussetzen müssen, damit wir ihn denken und uns vorstellen können. Eigentlich können wir von Glück nicht sinnvoll sprechen, wenn wir es nicht im konkreten und individuellen Erleben finden, aber dennoch wollen wir unter der Perspektive des Glücks in einen Zustand gelangen, in dem es uns gerade nicht um dieses Erleben geht. Ganz ähnlich machen Vorstellungen von Glück keinen Sinn, die nicht den wirklichen Ausgangspunkt in individuellen Mangelsituationen berücksichtigen. Dennoch wollen wir unter der Perspektive des Glücks diese Entwicklung vergessen und uns statt dessen auf einen Zustand des Ganzen konzentrieren. Mit diesem neuen Aspekt des Transzendierens, in das wir mit der Vorstellung ‚Glück‘ geraten, lässt sich erkennen, dass auch ein Vergessen der Entwicklung und der Dynamik des Lebens zu diesem Begriff gehören. Die Vorstellung ‚Glück‘ bringt uns dazu zu vergessen, dass auch solche Zustände, die wir als Glück bezeichnen, in sich eine Entwicklung aufweisen, ohne die sie uns überhaupt nicht das geben könnten, was wir darin erhoffen. Überdies können wir Glück auf dieser Grundlage eigentlich nicht mehr als den Zustand vollkommener Gegenwart auffassen, wie wir dies in gängigen Glücksvorstellungen so oft finden. Hier sollten wir allerdings wieder zwischen der nützlichen Verwendung des Begriffs in Ausdrücken wie ‚Glücksmoment‘ oder ‚Glückserlebnis‘ und dem überhaupt nicht nützlichen Gebrauch im Damit ist ein weiterer Aspekt des ‚Transzendierens’ im Begriff des Glücks gefunden, … … denn wir wollen jede Dynamik aus dieser Perspektive ausschließen, obwohl Glück sich nur entwickeln kann. <?page no="97"?> 97 Sinne von ‚das Glück‘ unterscheiden. Das Erleben von Gegenwart kann in einem gewissen Ausmaß durchaus zu Glücksmomenten oder Glückserlebnissen gehören. Dagegen ist das, was wir mit ‚das Glück‘ meinen, stets an eine Entwicklung gebunden, die von einem Mangelzustand über ein Streben zu dessen Erfüllung geführt hat. Mit der Vorstellung ‚das Glück‘ wollen wir aber gerade diesen Zusammenhang vergessen. Dazu gehört auch, dass der wirkliche und individuelle Mangel die ebenso individuellen Glücksvorstellungen immer noch beeinflussen wird. Wer unter einem Mangel an Kirschkuchen leidet, für den wird sich Glück anders darstellen als für den, der gerade zuviel davon hat. Unter der Perspektive des Glücks überspringen wir also auch den Zusammenhang von Glück und Mangel, der notwendig in die Erfahrung unserer intensivsten angenehmen Erlebnisse gehört. Mit der Vorstellung ‚Glück‘ versuchen wir also, eine weitere der Bedingungen des Angenehmen und Wertvollen im Leben zu übersteigen. Wir versuchen von der Entwicklung abzusehen, die im Ausgang von einem Defizit zu solchen Zuständen führt. Auch auf diese Weise bewegen wir uns von der wirklichen Welt weg, und wir vergessen die Einsicht, dass gerade diese Entwicklung eine der Bedingungen für positive Erfahrungen im Leben darstellt. Mit diesem Transzendieren der Entwicklung vom Negativen zum Positiven als Bestandteil aller Erfüllungen widersprechen wir uns im Grunde selbst. Wir erträumen mit dem Begriff ‚Glück‘ einen Zustand, der sich nicht mit den Voraussetzungen des konkreten und individuellen Genießens und Empfindens von Freude und Genuss vereinbaren lässt. Wir vernachlässigen die Bedeutung von Entwicklung und der Dynamik des Lebens aber noch auf eine andere Weise, wenn wir nach ‚dem Glück‘ streben wollen. Wir schließen mit diesem Begriff auch aus, dass überhaupt eine Entwicklung zu den Zuständen gehört, die wir als Glück bezeichnen wollen. Hier geht es also nicht um den Bezug solcher Erlebnisse auf Mangelzustände in der Vergangenheit, sondern um die innere Dynamik solcher Erlebnisse, wenn sie in einer gewissen Kontinuität stattfinden sollen. Die Vorstellung von Glück als einer Erfüllung im Sinne eines Zustands, in dem die ganze Welt uns zu Wunsch und Willen ist, ist also auch deshalb unsinnig, weil sie nicht auf die Folgen der Erfüllung von Wünschen achtet. Jenseits der Welt des Phantastischen gibt es keinen Zustand, in dem die Erfüllung von Wünschen in eine Situation ohne weitere Entwicklung führt. Etwa führt jede Verbesserung des Lebensstandards dazu, dass neue Wünsche entstehen, die nach Erfüllung verlangen, damit wir den erreichten Zustand der Zufriedenheit wenigstens halten können. Wer sich einen Mittelklassewagen kaufen kann, der schielt meistens schon auf die Oberklasse. Zumindest wird alles Erreichte aber früher oder später zur Gewohnheit, durch die das, was uns zunächst begeistert hatte, nicht mehr als etwas Besonderes erlebt wird. Der Stand von Zufriedenheit, der etwa durch den Mit dem Glücksbegriff schließen wir aber auch die innere Dynamik unseres Erlebens aus, … <?page no="98"?> 98 ersten und lange ersehnten Sportwagen erreicht werden konnte, kann in der Regel nur gehalten werden, wenn man sich nach einiger Zeit wieder etwas Neues und Besseres zulegen kann. Es ist also ausgeschlossen, dass wir einfach auf dem einmal erreichten Punkt bleiben könnten, um das dann gewonnene Niveau an Glück zu halten. Also erfordert gerade der Begriff des Glücks, das wir doch eigentlich als einen Zustand der Erfüllung alles Strebens auffassen möchten, dass es in Wahrheit eine Entwicklung in sich enthält. Es kann sich also nie um einen letztlichen Abschluss handeln, der es uns erlauben würde, in dem paradiesischen Zustand zu bleiben, den wir uns unter dem Titel ‚Glück‘ meistens vorstellen. In der Regel schafft jede Wunscherfüllung neue Wünsche, so dass ein endgültiges ‚nach Wunsch und Willen Gehen‘ schon aus Gründen der menschlichen Wunschökonomie nicht möglich ist. Der Begriff des Glücks ist also auch deshalb so wenig nützlich, weil wir mit ihm die Entwicklung und Dynamik übersteigen, die gerade zu dem gehören, was wir uns unter der Perspektive des Glücks vorstellen. Auch in diesem Sinne transzendieren wir die Wirklichkeit des Erlebens. Wir verstoßen damit gegen die Bedingungen und Voraussetzungen des konkreten und individuellen Genießens und Empfindens von Freude und Lust. Statt dessen sprechen wir von Glück als einem Zustand, in dem eine vollständige und endgültige Erfüllung des Strebens erreicht ist, so dass uns dann alles nach Wunsch und Willen geht. In Wahrheit enthält ein solcher Zustand der Erfüllung aber stets schon seine eigene Auflösung in ein neues Streben. Wenn wir mit der Vorstellung ‚Glück‘ diese Entwicklung als Gesetz des menschlichen Lebens nicht beachten, so verwenden wir einen Begriff, der nicht sehr nützlich ist, wenn wir damit unser Leben bewerten und mit seiner Hilfe unser Streben orientieren wollen. Der Begriff des Glücks lässt also etwas außer Acht, was im menschlichen Leben zu den Bedingungen des Erlebens von Spaß, Genuss, Freude und Lust gehört. Das hängt damit zusammen, dass er in seiner Erhabenheit sehr viel von dem übersteigt und deshalb ignoriert, das wichtig ist für die Weise, wie das menschliche Leben funktioniert. Wir sehen mit diesem Begriff von der ganzen Dynamik und der Entwicklung ab, innerhalb derer wir genießen und Spaß, Freude und Lust erfahren können. Wenn man dies erkennt, so wird es ein wenig rätselhaft, warum sich Menschen gerade an einer solchen Vorstellung orientieren und mithilfe dieses Begriffs ihr Leben bewerten wollen. Er bezieht sich auf eine unveränderliche Statik, die mit dem tatsäch- … und machen uns vor, dass wir immer auf einem einmal erreichten Punkt bleiben könnten. Der Glücksbegriff ist auch deshalb unnütz, weil wir so die Entwicklung und Dynamik des Lebens leugnen. Mit dem Glücksbegriff ‚transzendieren’ wir also auch das wirkliche Funktionieren des Lebens, … <?page no="99"?> 99 lichen Leben so gut wie nichts zu tun hat. Die meisten Menschen stellen sich auf diese Weise eine Situation vor, die in sich nicht auf Veränderung und Entwicklung angelegt ist. ‚In sich‘ heißt in diesem Zusammenhang, dass jeder Zustand, den wir mit Vorsicht als Glück bezeichnen könnten, stets zumindest so weit widersprüchlich ist, dass er sich weiterentwickeln muss. Ist er überhaupt nicht auf Entwicklung angelegt, dann können wir auch kein Glück in ihm finden. Freude, Spaß, Lust und Vergnügen können wir nur dann erleben, wenn wir zwei Bedingungen akzeptieren. Zum einen müssen wir anerkennen, dass es stets einen Ausgang bei einer Situation des Mangels gibt, aus dem ein Streben entsteht, das dann in eine Erfüllung bzw. Befriedigung führt. Ohne den Mangel an Kirschkuchen gibt es eben keinen Genuss an Kirschkuchen. Zum zweiten müssen wir damit leben können, dass eine erreichte Situation der Erfüllung durch das Entstehen von Gewohnheit oder schlicht durch die Ausschöpfung der Möglichkeiten wieder einen neuen Mangel erzeugt, der erneut zu einem Streben führt, das erst in einer neuen Erfüllung vorübergehend zur Ruhe kommt. Der Mangel an Auto führt über seine Erfüllung in Fiat zu einem Mangel an Mercedes, der schließlich nach Erfüllung zu einem Mangel an Porsche führt. Der Begriff des Glücks enthält diese Bewegung vom Streben über ein nur vorübergehendes Anhalten zu einem neuen Streben jedoch nicht. Er konzentriert sich vielmehr auf einen Zustand der Ruhe und des Stillstands, in dem es keine Dynamik und keine Entwicklung gibt. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Veranschaulichungen von Glückszuständen in der Regel eine Welt ohne Entwicklung und Veränderung darstellen. Die vielen ‚das Glück‘ darstellenden Bilder von Sonnenuntergängen, Blumenwiesen und anderen Situationen ohne innere Dynamik und Bewegung sind dafür symptomatisch. Die Bilder vom Glück lassen in der Regel alles weg, was menschliches Genießen, menschliche Lust, Freude und Spaß ausmacht. Das ist der Grund, warum diese Bilder so traurig wirken. Wenn wir den Sinn der Perspektive des Glücks also daran erkennen wollen, ob sie nützlich ist für die Bewertung des Lebens und die Orientierung des Strebens, so zeigt sich dieser Begriff wiederum als wenig nützlich. Wahrscheinlich ist er aber sogar schädlich, weil er uns davon abhält, uns mit dem zu beschäftigen, woraus wir wirklich Freude, Genuss und Lust beziehen können - nämlich aus den konkreten und individuellen Erlebnissen. Statt dessen transzendieren wir sie, wenn wir nach Glück streben, und verirren uns in eine Vorstellung von einem phantastischen Zustand, die wir nicht in einem Erleben verwirklichen können. Etwa tun wir so, als ob wir Glück als eine Erfüllung ohne vorangegangenen Mangel erleben könnten und vergessen so die Voraussetzungen für das konkrete Genießen, die individuelle Freude und die sinnliche und geistige Lust. Darüber hinaus machen … und verstoßen damit gegen die Bedingungen von Freude, Spaß, Lust und Vergnügen. <?page no="100"?> 100 wir uns vor, dass wir auf diese Weise einen Zustand erreichen könnten, der keine innere Dynamik und Entwicklung enthält und der sich auch nicht mehr verändert. Wir lassen uns auf einen Begriff ein, den eine lange Tradition uns mit einem Namen vorstellt, der von einer Welt voller Wunder und Weihen kündet, und achten nicht mehr darauf, wie sehr er uns den Zugang zu dem verstellt, was in der konkreten Welt an individuellem Erleben möglich ist. Wir sollten uns durch den Begriff ‚Glück‘ nicht dazu verführen lassen, die Fülle und den Reichtum dieser Welt zu übersteigen, um uns mit einem glitzernden Begriff voller Widersprüche und Ungereimtheiten zufriedenzugeben. 4.4 Mit der Glücksvorstellung beginnen wir in Phantasien von ‚hätte‘ und ‚würde‘ zu leben Wenn wir unser Streben an der Vorstellung ‚Glück‘ orientieren und unser Leben mithilfe dieses Begriffes bewerten und beurteilen, so transzendieren wir das wirkliche Erleben in Richtung einer über-allgemeinen bloßen Idee. Diese Idee enthält die Vorstellung von einer Ganzheit, von der her wir dazu neigen, unser Leben von weit außen und von weit oben wie aus der Vogelperspektive zu betrachten und dementsprechend zu leben. Das hat Folgen für das Selbstverständnis, mit dem wir unser Leben auffassen. Wir haben bisher schon einige davon untersucht. Es gibt darüber hinaus noch eine besonders gravierende Konsequenz aus der Vorstellung ‚Glück‘, die ebenso aufgrund der Orientierung an einer das wirkliche Erleben transzendierenden Ganzheit entsteht. Wenn wir den Begriff des Glücks für die Bewertung des Lebens und die Orientierung des Strebens verwenden, so neigen wir dazu, in Überlegungen vom Charakter ‚hätte ich …‘ und ‚würde ich …‘ zu denken. Wir tendieren also dazu, unser Leben im Konjunktiv zu führen. Wir gehen dann nicht mehr von dem Zustand aus, wie es ist, und von dem aus wir es verändern können, sondern verstehen es unter dem Vorzeichen von Gedanken wie ‚was wäre, wenn …‘ oder ‚wäre es anders gewesen, was wäre dann …‘. Jeder weiß natürlich, dass solche hypothetischen Fragen niemandem helfen. Normalerweise kommt man auf so etwas nur aus zwei Gründen. Zum einen kann man sich einen Spaß daraus machen, verschiedene Vergangenheiten und mögliche daraus entstehende Gegenwarten durchzuprobieren. In diesem Fall nimmt man das Ganze als ein Spiel, das kurze Zeit Vergnügen macht, aus dem man aber weder Entscheidungsgrundlagen für das Leben noch Veränderungen Die Vorstellung ‚Glück’ verstellt uns den Zugang zum individuellen Erleben, das wir wirklich genießen können. Die Vorstellung ‚Glück’ bringt uns auch dazu, unter der Perspektive von ‚hätte’ und ‚würde’ zu leben, … <?page no="101"?> 101 im Gefühlshaushalt abzuleiten gedenkt. Es handelt sich also um einen harmlosen Spaß wie andere Vergnügungen auch. Zum anderen richtet man sich auf die Zukunft und probiert verschiedene mögliche Verläufe des Lebens aus, die aus verschiedenen Entscheidungen in der Gegenwart entstehen könnten. Dann handelt es sich um Erwägungen, die mit ‚würde‘ beginnen. Man könnte hier von ‚Probehandeln‘ sprechen, oder auch von Experimenten, mit denen wir das beste Verhalten in der Gegenwart für gewünschte Folgen in der Zukunft herausfinden wollen. Wir tun im Grunde dasselbe wie Klimafolgenforscher, wenn sie die möglichen Verläufe der Erderwärmung in Computer-Simulationen durchrechnen. Solche Überlegungen dienen in der Regel dazu, die besten Entscheidungen für die Gegenwart zu finden, also solche, für die eine gute Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie gerade mit den Folgen verbunden sind, die uns am besten unter allen Alternativen gefallen. Ein solches Probehandeln in Gedanken und Vorstellungen kann ein nützliches Werkzeug für die Entscheidungsfindung sein, solange man es nicht übertreibt und sich in einer Phantasiewelt verirrt. Ganz anders verhält es sich aber mit dem Leben in ‚würde ich …‘- und ‚hätte ich …‘-Überlegungen, wenn wir sie auf die Vergangenheit beziehen, die wir bekanntlich nicht mehr ändern können. Gerade dazu neigen aber Menschen, die es für richtig halten, ihr Leben unter dem Kriterium des Glücks zu bewerten und ihr Streben daran zu orientieren. Wer sich mithilfe dieser Vorstellung in einer imaginären Ganzheit seines Lebens verstehen will und damit aus einer Perspektive von außen und sehr weit oben her, der ist aller Erfahrung nach sehr leicht bereit, dieses Ganze aus der Sicht möglicher Veränderungen in seiner Vergangenheit in verschiedenen Varianten durchzugehen. Er tendiert dann dazu, sich ernsthaft vorzustellen, wie es denn gewesen wäre, wenn die oder jene Entscheidung anders getroffen worden wäre, oder wenn dieser oder jener Mensch anders gehandelt hätte, oder wenn die Würfel des Zufalls in der einen oder anderen Situation anders gefallen wären. Dass Menschen solche Vorstellungen haben können, ist vermutlich ein wichtiger Zug unseres Denkvermögens. Ihnen nachzuhängen und mit dem Gestus des Bedauerns an ihnen festzuhalten, ist dagegen keineswegs natürlich und vom Denken vorgesehen. Auf eine solche Idee kommt man vor allem dann, wenn man sowieso bereit ist, das wirkliche Erleben zu übersteigen. Dazu neigen wir aber gerade dann, wenn wir uns aus der Perspektive einer Vorstellung wie ‚Glück‘ verstehen. Das geht vor allem darauf zurück, dass dieser Begriff uns etwas als Ziel des Strebens vorzeichnet, was kein Mensch jemals wirklich genießt, woran niemand Freude hat und an dem keiner Lust emp- … und das ist kein bloßes Spiel mit verschiedenen Möglichkeiten und auch kein nützliches Probehandeln. Mit der Perspektive des Glücks verlassen wir das wirkliche Erleben und spekulieren, wie es hätte gewesen sein können. <?page no="102"?> 102 findet. Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer - und das eine davon zieht das andere nach sich. Auf eine solche Idee kommt man dagegen kaum jemals (außer natürlich zum Spaß), wenn man die Gewohnheit entwickelt hat, sich auf das zu konzentrieren, was wirklich erlebbar ist, und nicht nach Glück strebt, sondern - je nach Situation - nach Freude, Genuss, Spaß, Lust oder manchmal auch nur nach Ruhe und Behaglichkeit. Wer nicht den Fehler begeht, nach etwas so Abstraktem wie Glück zu streben, der sieht die Welt und sein eigenes Leben auch nicht unter der Ganzheitsperspektive, die notwendig ist, um sich in ‚hätte ich …‘- und ‚würde ich …‘-Gedanken zu ergehen und an ihnen festzuhalten, also im Konjunktiv zu leben. Darüber hinaus nehmen solche Gedanken ohne ein Selbstverständnis unter der Vorstellung ‚Glück‘ nicht die gleichen schädlichen Auswirkungen auf das gegenwärtige Leben und die Sicht darauf an. Wer das wirkliche Erleben gegenüber dem transzendierenden Streben nach Glück bevorzugt, der hat nicht die Gewohnheit, sich in der Wirklichkeit seines Lebens negativen Vorstellungen hinzugeben, wie sie so oft aus ‚hätte ich …‘- und ‚würde ich …‘-Überlegungen entstehen. Das wirkliche Erleben aus dem Fokus zu verlieren ist aber gerade eine der schädlichsten Folgen der Orientierung an transzendierenden Vorstellungen wie Glück. Deshalb führt gerade die Ausrichtung an einem Begriff wie Glück dazu, dass solche Gedanken aus dem Bereich des Irrealen nach dem Muster von ‚hätte es …, dann würde ich …‘ die Oberhand gewinnen, die uns nur das Leben schwer machen. Am Beispiel von ‚hätte ich …‘- und ‚würde ich …‘-Vernünfteleien bzw. -Phantasien lässt sich deutlich sehen, wie sehr die Vorstellung ‚Glück‘ aufgrund von zentralen Bedeutungselementen dazu führt, dass wir uns dumm stellen und die Welt dadurch zu einem unwirtlicheren Ort machen, als sie eigentlich sein müsste. Die einzige Entschuldigung für diese Dummheit ist die lange Tradition des Denkens, die uns diesen Begriff überliefert hat und die uns dazu veranlasst, uns so zu verstehen, wie es für uns selbst schlecht ist. Diese Tradition ist so stark, dass wir vergessen, wie sehr wir das Denken und Vorstellen in der Regel doch selbst in der Hand haben und darüber entscheiden können, was wir uns wie vorstellen. Man kann diese seltsame Dummheit sehr gut an Beispielen aus dem Bereich der Vorstellungen von der Art „wäre es doch anders gewesen“ wie etwa „hätte ich doch bloß eine andere Frau (einen anderen Mann) geheiratet“ oder „hätte ich doch bloß einen anderen Beruf gewählt“ sehen. Gerne finden sich die ‚hätte ich …‘-Gedanken auch in der Frageform wie etwa in „würdest Du diesen Beruf oder diese Ausbildung nochmals wählen? “ Solche Vorstellungen sind jedoch nicht nur deshalb schädlich, weil sie sich in jenes Überspringen des wirklichen Lebens und Erlebens einfügen, das durch den Begriff ‚Glück‘ so sehr und so fatal befördert wird, und aus welchem sie in einem hohen Ausmaß motiviert und begünstigt werden. Solche ‚hätte ich …’- und ‚würde ich …’-Vorstellungen verstärken die Entfernung vom wirklichen Erleben. <?page no="103"?> 103 Darüber hinaus ist es auch töricht, solchen Vorstellungen nachzuhängen (oder solche Fragen ernst zu nehmen), und dies lässt sich durch eine einfache Überlegung einsehen. Man setzt dabei einerseits voraus, man wäre damals in der Vergangenheit genau derjenige gewesen, der man eben war. Sonst würde es ja keinen Sinn machen, zu fragen, ob man es damals nochmals machen würde. Die Frage steht ja nicht danach, ob man jetzt - wenn es diese Möglichkeit gäbe - diese Ausbildung nochmals machen würde oder den gleichen Mann (die gleiche Frau) nochmals heiraten würde. Eine solche Frage könnte einen gewissen Sinn haben, und solche Fragen stellen sich uns ihrer Grundstruktur nach immer wieder, auch wenn es ‚nur‘ um die Entscheidung geht, bei der einmal geheirateten Frau zu bleiben oder den Lebensunterhalt weiter mit dem einmal ergriffenen Beruf zu verdienen. Aber die genannte Frage steht ja danach, ob wir, als wir damals eben die waren, die wir waren, die gleiche Entscheidung nochmals treffen würden. Aber andererseits setzt man dabei auch voraus, dass wir damals überhaupt nicht diejenigen waren, die wir eben waren, so dass wir gerade diese Entscheidung getroffen haben. Wir sollen ja bei solchen Phantasien in der Vergangenheit mit einem Wissen ausgestattet sein, das wir nur deshalb schon damals haben können, weil wir uns damals so entschieden haben und nicht anders, und deshalb nun die Erfahrungen haben, mit denen wir es besser wissen würden, wenn wir uns in die Vergangenheit transferieren könnten. Mit diesem Wissens- und Erfahrungsschatz sind wir aber eben nicht genau diejenigen, die sich in der Vergangenheit ohne solche Kenntnisse entschieden haben. Wer sich etwa einmal für einen bestimmten Beruf entschieden hat, ist natürlich nicht mehr der gleiche Mensch, wenn er in die Vergangenheit zurückkehren kann und sich nochmals entscheiden muss. Er weiß inzwischen einiges darüber, was es heißt, diesen Beruf auszuüben. Die Frage, ob er sich nochmals dafür entscheiden würde, setzt aber dann, wenn sie sich wirklich auf eine Vergangenheit bezieht, voraus, dass er kein anderer ist. Wenn wir diese widersprüchlichen Voraussetzungen nicht akzeptieren, so reduzieren sich solche Fragen auf ganz andere, die vollständig problemlos sind, und etwa so oder ähnlich lauten können: ‚Würdest Du jetzt einen neuen Beruf wählen können, wäre es dann der gleiche? ‘ Das ist aber ganz einfach die Frage: ‚Gefällt Dir im Großen und Ganzen und vergleichsweise Dein Beruf? ‘, die auch ganz frei von ‚hätte ich …‘- und ‚würde ich …‘-Überlegungen gestellt werden kann, und in der Regel meinen wir eben genau das und haben nur Spaß an so verklausulierten Formulierungen. Vermutlich nehmen wir solche Überlegungen auch nur aus der Perspektive des Wir lassen uns dann durch die Tradition des Glücksbegriffes dümmer machen, als wir sind. Etwa geraten wir in Widersprüche, indem wir das voraussetzen, was wir doch gerade bezweifeln wollen. <?page no="104"?> 104 Transzendierens des wirklichen Erlebens ernst und lassen uns von ihnen zu trüben Stimmungen verleiten - also aus der Perspektive, zu der uns gerade der Begriff ‚Glück‘ verleitet. Im Ernst können wir also überhaupt nicht sinnvoll fragen, ob wir diese Entscheidung nochmals treffen würden - es sei denn, wir meinen damit, ob wir heute, da wir aufgrund dieser Entscheidung eben die geworden sind, die wir heute sind, diese Entscheidung nochmals treffen würden, wenn denn der unwahrscheinliche Fall eintreten würde, dass solche Entscheidungen nochmals anstehen. Es würde sich in diesem Fall natürlich nicht um genau dieselbe Entscheidung handeln, denn sie findet in einer vollkommen veränderten Situation statt. Also kann so auch nicht auf die ursprüngliche Frage geantwortet werden. Es ist eine Frage, ob wir heute eine bestimmte Entscheidung treffen möchten, und es ist eine ganz andere Frage, ob wir damals mit unserem heutigen Wissen eine andere Entscheidung getroffen hätten. Unser heutiges Wissen haben wir eben nur deshalb, weil wir damals nicht eine andere, sondern genau die Entscheidung getroffen haben, die wir getroffen haben, und aufgrund derer wir eben die sind, die wir sind. Vermutlich will aber jemand, der solche Fragen stellt, eigentlich überhaupt nicht wirklich wissen, ob wir damals mit unserem heutigen Wissen anders gehandelt hätten. Es handelt sich wahrscheinlich nur um eine etwas seltsame Art und Weise, einen anderen Menschen zu fragen, ob er mit einem bestimmten Zug in seinem Leben zufrieden ist oder nicht. Man könnte die Frage also auch viel einfacher formulieren. Möglicherweise kommt es zu solchen Fragen nur deshalb, weil der Frager selbst in einem Geisteszustand ist, der ihn dazu bringt, über der Vergangenheit zu brüten und falsche Entscheidungen zu beklagen. In der Regel ist er dann nicht gerade zufrieden mit seinem Leben und glaubt, diese Unzufriedenheit besser ertragen zu können, wenn er nach falschen Entscheidungen in der Vergangenheit sucht. Aller Erfahrung nach gelingt dies allerdings in der Regel nicht. Die Götter neigen dazu, gerade die im Stich zu lassen, die nach Ursachen für ihre gegenwärtige Unzufriedenheit in falschen Entscheidungen aus der Vergangenheit suchen. Warum sollten die Götter eine solche Torheit denn auch noch belohnen? Es gibt eine Dummheit, für die man selbst verantwortlich ist. Dazu gehört auch das Denken in ‚hätte ich …‘- und ‚würde ich …‘-Überlegungen, wie es durch die Vorstellung ‚Glück‘ nahegelegt wird. Mit solchen Gedankenspielen sind wir im Grunde unwahrhaftig gegen uns selbst, … … und lassen uns meistens und zu leicht nur eine Unzufriedenheit mit unserer Gegenwart einreden. <?page no="105"?> 105 5. Warum wir im Streben nach Glück mit den falschen Gewichten wiegen 5.1 Mit der Vorstellung ‚Glück‘ wollen wir das Leben messen, bewerten und vergleichen Wir haben bisher verschiedene wenig bis überhaupt nicht nützliche oder sogar schädliche Aspekte der Vorstellung ‚Glück‘ diskutiert, die sich aus zwei sehr allgemeinen Bedeutungen dieses Begriffs ableiten lassen. Erstens orientieren wir uns mit dieser Vorstellung an einem imaginären Ganzen, und dies bringt uns dazu, die vielen Einzelheiten, aus denen das wirkliche Leben besteht, gering zu schätzen und zu vernachlässigen. Zweitens übersteigen bzw. transzendieren wir mit dem Begriff des Glücks das, was wir wirklich und individuell erleben, und halten uns statt dessen an ein imaginäres Ziel, das wir gerade nicht erleben können. Es gibt aber noch einige weitere wichtige und sehr allgemeine Bedeutungselemente des Begriffs ‚Glück‘, die ihn nicht dafür geeignet erscheinen lassen, dass wir ihn sinnvoll für die Bewertung und Beurteilung des Lebens und zur Orientierung des Strebens einsetzen. Wir werden noch verschiedene Aspekte von vier weiteren mehr oder weniger schädlichen Bedeutungselementen des Begriffs ‚Glück‘ untersuchen. In diesem Kapitel gehen wir auf eine Bedeutung ein, die auf den ersten Blick, und wenn wir große Ansprüche an die Logik stellen, nicht ohne weiteres mit einer der bisher diskutierten Bedeutungen vereinbar ist. Allerdings sollten wir bei solchen lebenspraktischen Vorstellungen wie ‚Glück‘ keine allzu großen Ansprüche an die problemlose und logisch saubere Übereinstimmung aller Bedeutungskomponenten stellen. Solche Begriffe funktionieren in der Regel auch dann gut, wenn ihre Bedeutung nicht immer ganz harmonisch und aus allen Perspektiven einheitlich ist. Dennoch könnte man es als ein Problem ansehen, dass die Orientierung des Begriffes ‚Glück‘ an einer Ganzheit offensichtlich nicht damit vereinbar ist, dass wir in Bezug auf Glück immer wieder von einem Mehr oder Weniger sprechen - also damit, dass wir Glück auch ‚quantifizieren‘. Wenn wir Glück nur als etwas Ganzes ansehen, dann könnten wir mithilfe dieses Begriffs eigentlich keine Vergleiche anstellen zwischen verschiedenen Bewertungen des Lebens. Wenn es etwas Ganzes ist, dann ist es unteilbar; wenn es aber nicht aus einzelnen Teilen besteht, dann können wir auch nicht von einem Mehr oder Weniger sprechen. Es verhält sich hier wie bei einer Schwanger- Einerseits verstehen wir unter ‚Glück’ stets etwas Ganzes, andererseits sprechen wir von einem Mehr oder Weniger. <?page no="106"?> 106 schaft - entweder ist man schwanger oder nicht, man kann aber nicht mehr oder weniger oder vielleicht nur ein bisschen schwanger sein. Ebenso könnten wir bei der Vorstellung ‚Glück‘ also eigentlich nicht urteilen, dass uns eine bestimmte Lebensweise aus der Glücksperspektive besser oder schlechter erscheint und auf dieser Grundlage entscheiden, welche wir wählen würden, wenn wir die Wahl hätten. Darüber hinaus könnten wir eigentlich auch keine Vergleiche zwischen verschiedenen Menschen anstellen und sie unter dem Aspekt beurteilen, wie sehr sie glücklich oder unglücklich sind. In der Tat gehen wir aber nicht so mit dem Begriff ‚Glück‘ um. Wir verwenden diese Vorstellung vielmehr in erster Linie gerade dazu, um das Leben zu beurteilen und zu bewerten und auf diese Weise verschiedene Leben - vorgestellte oder wirkliche - zu vergleichen. Zu dieser Verwendung gehört auch, dass wir beanspruchen, das Glück verschiedener Menschen zu beurteilen, um schließlich sagen zu können, welcher glücklicher ist und welcher unglücklicher. Wir verwenden diesen Begriff sogar so, dass wir mit ihm Bilanzierungen vornehmen, mit denen wir einen bewertenden Blick auf das ganze Leben werfen wollen. Damit orientieren wir uns einerseits an einer Ganzheit, obwohl wir andererseits dieses Ganze doch wieder relativieren. Wenn wir für ein ganzes Leben zwischen Glück auf der einen und Unglück auf der anderen Seite abwägen wollen, so geben wir den Blick auf das Ganze eigentlich wieder auf, und vergleichen einzelne Zeiten und Zustände miteinander. Darüber hinaus verwenden wir den Begriff ‚Glück‘ zur Orientierung für unser Streben - wir wollen mit seiner Hilfe entscheiden, wonach wir wie streben sollen, um glücklich zu werden oder ‚das Glück‘ zu erreichen. Auch damit wollen wir uns eigentlich nicht von der Ganzheit abwenden, die zum Glücksbegriff gehört. Aber auf der anderen Seite müssen wir für eine solche Orientierung doch zwischen verschiedenen Glücksniveaus unterscheiden, sonst könnten wir nur von ‚Glück‘ oder ‚nicht Glück‘ sprechen. Um uns entscheiden zu können, müssen wir vor unserem geistigen Auge verschiedene mögliche Situationen und Zustände des Lebens in seinem Verlauf präsent haben, zwischen denen wir abwägen, in welcher bzw. welchem ‚das Glück‘ besser verwirklicht werden könnte. Das können wir nur, wenn wir feststellen, in welchen ‚mehr‘ Glück realisiert wird und in welcher ‚weniger‘. Auch in dieser Verwendung können wir also nicht darauf verzichten, das Glück zu messen, um es vergleichbar zu machen. Andererseits wollen wir doch die Orientierung an der Ganzheit nicht aufgeben, die dem Glücksbegriff eigentümlich ist, und geraten damit offenbar in Schwierigkeiten, wenn wir auch auf das Messen nicht verzichten wollen. Eine solche Auffassung von Glück nach seiner Menge, die größer oder kleiner sein kann, setzt aber voraus, dass wir es aus etwas zusammenzäh- Wir wollen es messen, damit wir es bewerten, vergleichen und unser Leben bilanzieren können. <?page no="107"?> 107 len können. Zusammenzählen können wir etwas aber nur, wenn es so weit gleich sein ist, dass wir es ‚auf einen Nenner bringen‘ können. Äpfel und Birnen können wir zusammenzählen, wenn es uns um die Menge an Obst geht, und selbst Katzen und Hunde lassen sich addieren, aber nur wenn wir sie unter dem Begriff ‚Haustiere‘ auf einen Nenner bringen. Der Aspekt aus der gängigen Verwendung des Begriffs ‚Glück‘, den wir jetzt auf seine potentielle Nützlichkeit oder Schädlichkeit untersuchen, setzt also voraus, dass wir ‚das Glück‘ zusammenzählen können. Wir müssen deshalb Elemente finden, aus denen es addiert werden kann, so dass es dann als eine Summe erscheint, die mehr oder weniger groß sein kann. Nur wenn das möglich ist, können wir verschiedene ‚Glückssummen‘ vergleichen. Als Kandidaten für solche ‚Glücksstücke‘ oder ‚Glückseinheiten‘, aus denen sich ‚das Glück‘ zusammensetzen lassen soll, scheinen zunächst die ‚Glückserlebnisse‘ infrage zu kommen. In der Einleitung hatten wir zwischen solchen Glückserlebnissen und dem Begriff ‚das Glück‘ unterschieden. Wir haben diese Unterscheidung schon einige Male verwendet, um den Begriff ‚das Glück‘ genauer zu kennzeichnen, der im Unterschied zu dem der ‚Glücksmomente‘ mehr Schaden als Nutzen anrichtet. Deshalb haben wir den problematischen Begriff ‚das Glück‘ von einer unproblematischen Verwendung wie in ‚Glücksmomente‘ oder ‚Glückserlebnisse‘ abgegrenzt. Diese Abgrenzung funktioniert aber dann nicht mehr, sobald wir nach einem Maß des Glückes fragen, um es vergleichen zu können. Ein wichtiger Zug in der gängigen Bedeutung des Begriffes ‚Glück‘ führt also dazu, dass wir jene Unterscheidung zwischen der bescheidenen Bedeutung von Glück im Sinne von Glücksmomenten bzw. Glückserlebnissen und der erhaben und mit schweren Schritten auftretenden Bedeutung im Sinne von ‚das Glück‘ nicht vollständig durchführen können. Eigentlich sollten wir aber vorsichtiger sagen: diese Unterscheidung ist eigentlich ganz richtig, aber wenn wir von ‚dem Glück‘ sprechen und es deshalb messen wollen, dann gelingt sie nicht mehr. Das sagt aber nichts gegen die Unterscheidung, sondern sehr viel gegen das Verlangen, ‚das Glück‘ messen zu wollen, und damit grundsätzlich gegen die Verwendung der Vorstellung ‚Glück‘ zum Bewerten des Lebens. Damit gerät der sich so pompös aufführende Begriff ‚das Glück‘ in neue Probleme, aus denen erneut deutlich wird, dass er keineswegs nützlich ist, sondern in Wahrheit mehr Schaden als Nutzen anrichtet. Das Problem, mit dem wir es jetzt zu tun haben, lässt sich bereits in der alltäglichen Verwendung des Glücksbegriffes erkennen. Man spricht ganz selbstverständlich davon, dass man glücklich werden wolle, oder dass man nach ‚dem Glück‘ strebt, und tut dabei so, als ob es sich um einen bestimmten und genau definierten Zustand handeln würde, der einmal erreicht und einmal nicht erreicht sein kann. Dann könnten wir aber nicht von einem Wenn wir Glück messen wollen, so müssen wir sein Erleben gleichnamig machen, damit wir addieren können. <?page no="108"?> 108 Mehr oder Weniger sprechen. Wir unterstellen hier vielmehr, es verhalte sich so wie bei dem Zustand ‚satt‘ - man kann nicht ‚satter‘ oder ‚weniger satt‘ sein, sondern nur ‚satt‘ oder ‚hungrig‘, ebenso wie man ‚schwanger‘ sein kann oder ‚nicht schwanger‘, aber nicht ‚ein bisschen schwanger‘. Aber wir sprechen von Glück auch ganz anders. Dann nehmen wir nicht an, im Streben nach Glück sei die natürliche Wahl die zwischen ‚Glück‘ oder ‚nicht Glück‘. Wir sprechen von Glück vielmehr immer wieder so, dass Fragen von mehr oder weniger behandelt werden. Dann geht es nicht um eine Frage der Qualität, bei der wir eigentlich nur mit Ja oder Nein antworten könnten, sondern um eine Frage des Wieviel - und möglichst um mehr. Also müssen wir über ein Kriterium verfügen, mit dem wir das Maß des Glücks bestimmen können. Wenn wir zwei Zustände nach ihrem Glücksgehalt miteinander vergleichen wollen, so müssen wir offenbar zwei Summen bilden, die wir miteinander vergleichen, so dass wir feststellen können, in welchem Zustand das Glücksniveau höher ist. Wir müssen also irgendwie mit dem Problem dieses einerseits/ andererseits umgehen können, wenn wir von ‚dem Glück‘ als Ziel des Strebens sprechen wollen. Das wäre dann einfach, wenn wir Glück einfach als ein spezielles Gefühl ansehen könnten, dessen Intensitäten wir dann von Fall zu Fall miteinander vergleichen würden. Die angenehmen Gefühle beim Anhören von Musik können wir in den meisten Fällen ohne Schwierigkeiten miteinander vergleichen, sofern nicht zu viel Zeit zwischen zwei Situationen des Hörens vergangen ist, obwohl es Probleme geben kann, wenn wir die Gefühle beim Hören von Rockmusik mit denen vergleichen wollen, die uns eine Bach- Kantate ermöglicht. Ganz ähnlich gelingt ein Vergleich zwischen den Intensitäten verschiedener erotischer Erlebnisse sehr oft - obwohl hier doch die Schwierigkeit hinzu kommen kann, dass Erotik mit verschiedenen Partnerinnen/ Partnern durch die verschiedenen persönlichen Beziehungen so unterschiedlich ist, dass man kein gemeinsames Maß mehr verwenden will. Aber wir könnten doch versuchen, grundsätzlich auch dann so zu verfahren, wenn es um die Vorstellung ‚Glück‘ geht. Allerdings gelingt das nur, wenn wir uns auf Glück im Sinne von Glückserlebnissen beschränken. In diesem Fall können wir zwischen solchen Empfindungen einen Vergleich anstellen und haben damit im Prinzip schon etwas Gleichnamiges darin gefunden. Wir können dann auch versuchen, ein Maß herauszufinden, mit dessen Hilfe wir Glückserlebnisse messen, addieren und eine Summe daraus bilden können. Dann könnten wir eventuell auch das negative Pendant zu Glück auf eine entsprechende Weise messen und hätte auf diese Weise ein Maß für Glück und Unglück gefunden. Glück kann also nicht nur als Qualität aufgefasst werden, sondern wir müssen auch seine Quantität beachten. Ein solches Messen und Vergleichen wäre dann einfach, wenn wir Glück als ein spezielles Gefühl ansehen wollten, … <?page no="109"?> 109 Aber das funktioniert eben nicht so einfach, weil wir mit dem Begriff Glück etwas anderes beanspruchen, als nur ein Gefühl mehr gefunden zu haben - neben dem Genuss durch Eiscreme, der Lust an Erotik, dem Behagen an einem entspannenden Bad oder dem Wohlgefühl an einem ruhigen Sonntagmorgen. Wir beschränken die Verwendung des Begriffes ‚Glück‘ nicht auf Glückserlebnisse. Wir sprechen auch in einem anspruchsvolleren Sinn von ‚dem Glück‘, nach dem wir streben und mithilfe dessen wir das eigene Leben und sogar das anderer Menschen beurteilen und bewerten wollen. Deshalb ist uns der Ausweg in den Vergleich und in das Zusammenzählen von Glückserlebnissen oder Glücksmomenten verwehrt. Die Verwendung der Vorstellung ‚das Glück‘ bringt uns offenbar in ein kompliziertes Problem, wenn wir von einem Mehr oder Weniger an Glück sprechen wollen. Aber nur wenn wir das tun, können wir unser eigenes Leben bewerten, indem wir es mit einem anderen und glücklicheren oder unglücklicheren vergleichen, und nur auf diese Weise können wir das Glück verschiedener Menschen gegeneinander abwägen. Nur wenn wir tatsächlich von einem Mehr oder Weniger sprechen können, verwenden wir den Begriff ‚das Glück‘ also so, wie wir das eben tun. Damit sind wir im Grunde schon wieder bei dem Problem, dass wir mit dem Begriff des Glücks stets über das wirkliche Erleben hinausgehen. In diesem Fall gehen wir über die Glückserlebnisse oder Glücksmomente hinaus, um in einem Ganzen wie ‚das Glück‘ etwas zu suchen, das uns ein Vergleichen erlaubt, so dass wir sinnvoll von einem Mehr oder Weniger sprechen können. Das lässt sich gut erkennen, wenn wir den Begriff des Glücks zur Bewertung des ganzen Lebens verwenden. Dann gehen wir einerseits über die einzelnen wirklichen Erlebnisse hinaus. Andererseits aber müssen wir zum Zwecke des Vergleichens zwischen verschiedenen - möglichen oder wirklichen - Leben doch wieder die einzelnen Erlebnisse in Hinblick auf das in ihnen enthaltene Glück miteinander vergleichen, so dass wir das Glück über das ganze Leben zusammenzählen können. Grundsätzlich stellt sich dieses Problem allerdings auch schon bei anderen angenehmen Zuständen. Man könnte etwa die Frage stellen, ob auch nur im Bereich von Lust und Unlust ein Vergleich und damit eine Art von Summierung im eigenen Leben möglich sein kann. Eigentlich gibt es nicht viel oder wenig Lust, sondern Lust wird stets in Begriffen wie ‚schwach‘ oder ‚stark‘ gemessen. Aber sind 10 starke Lüste besser als 20 schwache? Ist eine drei Stunden anhaltende schwache Lust besser als eine 5 Minuten anhaltende starke Lust? Ist fünf Mal Wellness-Massage besser als ein Mal Sex? Das ist vermutlich Ansichtssache. Im Unterschied zu dem Begriff der …, aber genau das ist mit der Vorstellung ‚das Glück’ nicht gemeint. Mit der Suche nach einem Maß des Glücks führt uns dieser Begriff also in unlösbare Probleme. <?page no="110"?> 110 Lust beanspruchen wir mit dem Begriff Glück aber etwas mehr. Schließlich wollen wir das ganze Leben damit bewerten und eine Orientierung für das weitere Streben im Leben finden. Deshalb können wir es hier nicht einfach mit Ansichtssachen bewenden lassen. Wenn wir den Begriff ‚Glück‘ so verwenden wollen, wie wir dies tun, so müssen wir wenigstens für uns selbst einen Maßstab finden, mit dessen Hilfe wir Glück vergleichbar und dann addierbar machen, so dass wir zu einer Summe finden können. Nur dann können wir verschiedene Verläufe des Lebens miteinander vergleichen und entscheiden, ob der eine oder der andere Verlauf glücklicher gewesen wäre oder sein wird. Bei Begriffen wie Lust dagegen können wir diese Frage auf sich beruhen lassen, weil wir damit sowieso nicht einen Bezug auf ein Ganzes herstellen wollen, das alles einzelne Erleben übersteigt. 5.2 Wir versuchen die Leben verschiedener Menschen gleichnamig zu machen Mit dem Begriff ‚Glück‘ geraten wir also in Probleme, weil wir mit ihm einige Dinge tun, die aufgrund der Bedeutung dieser Vorstellung alles andere als selbstverständlich sind, wie etwa Messen, Bewerten und Vergleichen. Wir haben zunächst gesehen, dass man Glück nicht einfach summieren kann. Es wird deshalb schwierig, dann von einem glücklichen Leben zu sprechen, wenn die Summe des Glücks größer ist, und es ein unglückliches Leben zu nennen, wenn die Summe des Unglücks überwiegt. Das würde im übrigen auch nicht ganz unseren Begriffen von einem glücklichen oder unglücklichen Leben entsprechen. Aber wie diese Begriffe auch genau aussehen mögen - auf jeden Fall würde ein solches Vorgehen voraussetzen, dass man eine Maßeinheit findet, mit der Glück und Unglück gemessen werden kann. Es müsste also etwas Ähnliches wie Kilogramm oder Meter oder Kalorien auch für Glück geben. Damit müssten Glück und Unglück in kleine Einheiten geteilt werden können, die dann addiert und gegeneinander verrechnet werden können. Bisher hat niemand ein solches Maß erfunden. Für die Nützlichkeit des Begriffes Glück und seinen Sinn für die Bewertung des Lebens müsste das aber gelingen können, andernfalls sollten wir diese Nützlichkeit ernsthaft bezweifeln. Ein solcher Versuch muss aber darüber hinaus schon aus einem anderen und ganz einfachen Grund scheitern. Mein Glück ist nicht das Glück eines anderen Menschen. Für die Behauptung, es sei doch so, würde es Diese Probleme wären leichter, würden wir Begriffe mit geringerem Anspruch wählen, wie Lust, Spaß, Freude usw. Wenn wir kein Maß für Glück finden können, so können einige Zwecke dieses Begriffs nicht erreicht werden. <?page no="111"?> 111 natürlich nicht ausreichen, darauf zu verweisen, dass verschiedene Menschen die gleichen sprachlichen Beschreibungen für ihr Glück verwenden. Mit den gleichen Worten können unterschiedliche Menschen etwas ganz Verschiedenes meinen. Dasselbe gilt natürlich auch für andere Formen, in denen wir Glück oder Unglück ausdrücken bzw. nach außen darstellen können, etwa Mimik, Gestik oder Laute, mit denen wir keine sprachlichen Äußerungen formen, wie Schreie oder Stöhnen. Die gleiche äußerliche Darstellung von Empfindungen kann in Wahrheit mit einem ganz verschiedenen Erleben verbunden sein. Das individuelle Empfinden kennen wir dadurch noch lange nicht. Dies gilt natürlich auch für die Intensität eines Erlebens. Wir kennen alle Menschen, die einen Zahnarztbesuch als mittlere Katastrophe erleben und mit entsprechenden Begriffen beschreiben. Aber wir wissen auch, dass die einen es ganz einfach gewohnt sind, sich so auszudrücken, und in Wahrheit vermutlich nicht mehr darunter leiden als wir anderen auch. Aber wir können keineswegs ausschließen, dass hinter der übertrieben anmutenden Sprache vielleicht wirklich ein weit überdurchschnittliches Leiden an solchen Misslichkeiten des normalen Lebens steht. Ein gemeinsamer Maßstab für die Quantifizierung des Glücks scheitert also schon daran, dass wir zwischen verschiedenen Menschen keine Einheitlichkeit im Erleben unterstellen können. Deshalb kann es zwischen verschiedenen Menschen keine Möglichkeit geben, das Maß an Glück oder Unglück zu vergleichen, das sie im Leben erfahren. Wenn das so ist, dann können wir natürlich auch nicht dadurch über unser eigenes Glück urteilen, indem wir es mit demjenigen von anderen Menschen vergleichen. Damit fällt im Grunde eine der wichtigsten Funktionen des Glücksbegriffes vollständig weg, nämlich die des Vergleichens mit anderen Menschen und zwischen verschiedenen Menschen. Darüber täuschen wir uns in der Regel hinweg, weil wir uns oft an die Darstellungen halten, die Menschen von ihrem Glücks- oder Unglückzustand geben. Wer zu intensiven Unglücksäußerungen neigt, gilt uns meist als wirklich weniger glücklich als ein anderer, der zu Understatement tendiert. Im Grunde wissen wir aber nie, ob es sich tatsächlich um Understatement handelt; aber wir können auch nicht darüber entscheiden, ob die entsprechenden Äußerungen angemessen sind. Zwischen dem Glück eines Menschen und der Intensität, mit der er es ausdrückt, kann es sehr komplizierte Beziehungen geben. Wenn wir darüber entscheiden wollen, ob die Vorstellung ‚Glück‘ im Großen und Ganzen eher ein nützlicher oder ein schädlicher Begriff ist, dann können wir von dieser komplizierten Lage nicht einfach absehen. In manchen anderen Situationen können wir dies, weil wir es müssen, um Auch wenn wir uns alle ähnlich ausdrücken, so können wir doch nicht wissen, was andere Menschen empfinden, … … und schon daran scheitert der Versuch, das Glück verschiedener Menschen zu vergleichen. <?page no="112"?> 112 wichtige Probleme zu lösen. Im gesellschaftlichen und staatlichen Leben müssen immer wieder Entscheidungen auf der Grundlage einer Abwägung zwischen dem Glück verschiedener Menschen getroffen werden. Einem Raucher mag sein Laster ein beträchtliches Vergnügen bereiten. In öffentlichen Gebäuden hat der Gesetzgeber dennoch dieses seltsame Tun verboten, weil er bei der Abwägung zwischen dem Vergnügen der Raucher und dem Missvergnügen der Nichtraucher zu dem Ergebnis gekommen ist, das letztere wiege insgesamt schwerer als das erstere, und die Unlust an hohen Krankenkassenprämien, wie sie durch die Behandlung von Raucherkrankheiten verursacht werden, habe Vorrang vor der Lust, die Raucher an ihrem ungesunden Vergnügen finden. Hier ist im staatlichen Zusammenleben eine Entscheidung getroffen worden, die viel mit Einsicht und vernünftiger Abwägung und noch mehr mit politischen Mehrheitsverhältnissen zu tun hat. Sie geht aber auch auf Argumente zurück, mit denen eine Abwägung zwischen Glück und Unglück verschiedener Menschen vorgenommen werden kann, obwohl wir letztlich doch nicht feststellen können, wie Glück und Unglück wirklich verteilt sind. Ähnlich ist die Lage, wenn Steuern für staatliche Transferzahlungen an Menschen verwendet werden, die selbst nicht für ihren Lebensunterhalt aufkommen können. Auch hier nehmen wir an, dass die Unlust durch leicht erhöhte Steuern bei den Beziehern von Arbeitseinkommen geringer ist als die Unlust durch Not und Elend bei den Menschen, die kein eigenes Einkommen beziehen können. Wir setzen also voraus, dass ein Vergleich zwischen Glück und Unglück verschiedener Menschen bzw. Menschengruppen möglich ist. In diesem Fall sind solche Abwägungen allerdings nicht die einzigen Argumente, sondern wir verwenden hier auch die Annahme, dass grundlegende Rechte von Menschen eine solche Umverteilung notwendig machen - ganz unabhängig von einem Vergleich zwischen Lust und Unlust bei Steuerzahlern und Empfängern staatlicher Leistungen. Die Menschenrechte führen hier also dazu, dass wir nicht vollkommen utilitaristisch rechnen. Dennoch sind auch in solchen Fällen Vergleiche zwischen dem Glück bzw. Unglück verschiedener Menschen beteiligt - die eigentlich nicht möglich sind, obwohl wir sie unter dem Druck von Problemen doch vornehmen. Der Verweis darauf, dass es kein Fundament in der Sache gibt, um einen solchen Vergleich vorzunehmen, muss uns also nicht daran hindern, dies in bestimmten Fällen doch zu tun. Es sollte allerdings bewusst bleiben, dass daraus Lösungen entstehen, die nicht wirklich auf einer Einsicht in die Glücks- oder Unglückszustände verschiedener Menschen beruhen. Es handelt sich eigentlich um notwendige Entscheidungen, die im staatlichen Leben zwischen Glück und Glück bzw. zwischen Glück und Unglück von verschiedenen Menschen getroffen werden müssen. Aber in Wahrheit Im Zusammenleben der Menschen müssen wir dennoch oft solche Vergleiche verwenden, … <?page no="113"?> 113 beruhen solche Abwägungen nicht auf einer wirklichen Kenntnis der Verhältnisse zwischen den unterschiedlichen Glückszuständen verschiedener Menschen. Sie gehen im Grunde stets auf Erwägungen zurück, die aus der Tradition oder aus ideologischen oder anderen nicht aus einer Sache selbst begründbaren Vorstellungen genommen werden. Das kann bisweilen sehr schwierig sein und der Gesetzgeber macht es sich in manchen Fällen leicht mit solchen Entscheidungen. In anderen Fällen hat er es sich sehr schwer gemacht. Die Bundestagsdebatten über die Zulässigkeit von Forschung mit embryonalen Stammzellen etwa sind ein Beispiel dafür, dass es sich der Gesetzgeber sehr schwer machen und sehr ernsthaft mit solchen Fragen umgehen kann. Hier galt es auch, die Glücksmöglichkeiten von noch nicht einmal geborenem Leben gegen die Chancen abzuwägen, durch neue Therapiemethoden das Unglück schwer kranker Menschen zu vermindern, obwohl die Entscheidungsgründe in stärkerem Ausmaß auf Traditionsbestände Bezug nahmen. Alle solche Entscheidungen gehen darauf zurück, dass im Staat eine bestimmte Lösung für das Problem der Abwägung zwischen dem Glück des einen und dem Glück des anderen gefunden werden muss. Diese Lösung bleibt aber stets eine Entscheidung, die sich daraus rechtfertigt, dass sie ein Problem auflöst, das eben beseitigt werden muss, damit Menschen im Staat zusammenleben können. Sie kann zwar besser oder schlechter getroffen werden, aber auch in den besten Fällen beruht sie nicht auf einer wahren Einsicht in die Dinge, sondern auf der Notwendigkeit einer Entscheidung. Das sind zwei verschiedene Dinge. Die staatliche Lösung hilft uns also nicht, wenn es im persönlichen Leben darum geht, ein glückliches Leben von einem weniger glücklichen oder sogar einem unglücklichen zu unterscheiden, indem wir das Maß an Glück zwischen verschiedenen Leben - oder zwischen zwei verschiedenen Verläufen des gleichen Lebens - vergleichen. Hier versagen die Kriterien, die uns im staatlichen Leben zu einer Entscheidung kommen lassen. Die vorhandenen Entscheidungsverfahren dafür, welches Glück welcher Personen im staatlichen Zusammenhang bevorzugt werden soll, können also nicht das Problem lösen, dass mein Glück nicht das Glück anderer Menschen ist und dass deshalb kein einheitliches Maß möglich ist, das es uns erlauben könnte, auf eine letztlich gültige Weise ein glückliches Leben von einem weniger glücklichen zu unterscheiden. In der Tat drücken wir dann, wenn wir das eine Leben glücklicher nennen als das andere, eigentlich keine Beobachtung und kein Urteil über etwas in der Welt aus. Wir beschreiben nur, was in uns selbst vorgeht, wenn wir verschiedene Men- … aber dabei geht es um die Lösung bestimmter Probleme mithilfe traditioneller und ideologischer Vorstellungen. Solche Lösungen helfen uns nicht, wenn wir im persönlichen Leben zwischen Glück und Glück vergleichen wollen. <?page no="114"?> 114 schen beobachten. Solche Unterscheidungen machen wir in der alltäglichen Konversation ständig. Sie gehen auf Vorstellungen zurück, die wir auf der Grundlage unserer eigenen Wertmaßstäbe gebildet haben, obwohl sie keineswegs denjenigen anderer Menschen entsprechen müssen. Wir vergleichen dann also auf der Grundlage einer Einstellung, die wir mit ‚es wird wohl so sein‘ oder ‚es klingt doch ganz plausibel‘ oder auch ‚das sehen doch die meisten Menschen so‘ umschreiben können. Solche Vergleiche beruhen aber nicht auf einer Einsicht in das Glück anderer Menschen. Sich in solchen Fällen auf unsere Intuitionen oder Vorurteile oder auf Traditionen zu verlassen, ist jedoch in vielen Fällen eine zweifelhafte Lösung. Auf unsere Intuitionen sollten wir nur in unseren eigenen Angelegenheiten bauen, aber nicht dann, wenn es um die Beurteilung anderer Menschen geht. Es sind immer unsere eigenen und individuellen Intuitionen und wir tun anderen in der Regel großes Unrecht, wenn wir unsere Individualität so sehr ausbreiten, dass wir sie auch noch für andere gelten lassen wollen. Wir sollten den Mut haben, unsere Individualität auch als solche anzusehen und daraus nicht allgemeine Erkenntnisse abzuleiten, an die wir andere Menschen anpassen möchten. Es ist durchaus nicht unanständig, ein Individuum zu sein und zu wissen, dass das, was je für mich gilt, eben ganz und gar nicht für andere Individuen passend ist. Es ist ebenso wenig unanständig, andere Menschen als Individuen aufzufassen und zu behandeln. Das schließt die Einsicht in unser mangelhaftes Wissen von ihnen und ihren individuellen Freuden und Leiden und von der Intensität ihres Erlebens und Empfindens ein. Wir fügen keinem Menschen ein Leid zu, wenn wir nicht über sein Glück urteilen und dieses Urteil ganz allein ihm selbst überlassen - natürlich nur, solange er nicht anderen Menschen durch sein Streben nach Glück Schaden zufügt, und solange es nicht durch das Zusammenleben im Staat unumgänglich notwendig wird. Mit der Vorstellung ‚Glück‘ ist aber sehr eng eine Haltung verbunden, die auf solche vorsichtigen Urteile verzichtet und leicht über das Glück anderer Menschen urteilt. Der Begriff enthält eine Tendenz zu dem Anspruch, Glück sei doch eine universelle und für alle Menschen geltende Größe, und die Intensität dieses Zustands könne bei anderen Menschen doch eigentlich ganz leicht gemessen werden. Diese Haltung gehört zu den Gründen, warum dieser Begriff nicht bloß wenig nützlich, sondern sogar schädlich ist. Wir werden auf diesen ‚Imperialismus des Glücklichseins‘ im nächsten Hauptkapitel noch näher eingehen. Mit diesem Ausdruck ist gemeint, dass wir mit dem Begriff des Glücks nicht nur unser je eigenes Leben falsch verstehen, sondern auch eine falsche Haltung gegenüber dem Glück ande- Bei solchen Vergleichen beschreiben wir eigentlich nur, was in uns selbst vorgeht, … … und berufen uns auf Intuitionen oder Vorurteile, in denen wir letztlich nur unsere Individualität darstellen. <?page no="115"?> 115 rer Menschen einnehmen. Wir beurteilen es von unseren eigenen Vorstellungen her und fassen es als ein Ganzes auf. Auf dieser Grundlage glauben wir, uns - und ihnen - etwas über den Stand ihres Glücks sagen zu können. Diese Haltung wird noch schädlicher, wenn wir schließlich den Wert anderer Menschen auch noch unter der Hinsicht einschätzen, wie weit sie es unseren Vorstellungen zufolge im Glücklichsein gebracht haben. In manchen Fällen steckt dahinter die seltsame Lust, andere Menschen gering schätzen zu wollen, und dieser Lust frönen wir, indem wir zu der ebenso seltsamen Vorstellung tendieren, ein geringes Glücksniveau deute auf einen Menschen von geringem Wert hin. In den meisten Fällen urteilen wir aber gedankenlos auf altruistischer Grundlage. Wir bedauern Menschen, die wir als wenig glücklich ansehen - aber wie oft enthält dieses Bedauern wiederum eine Geringschätzung. In den meisten Fällen würden wir anderen Menschen mehr Achtung erweisen, wenn wir sie ganz einfach frei lassen würden von unseren Urteilen über ihr Glück oder ihr fehlendes Glück. Jenseits der im Staat notwendigen Entscheidungen und jenseits der alltäglichen Konversation mit ihren raschen Urteilen in der Orientierung am unterbrechungsfreien Fluss des Miteinanderredens können wir Glück also nicht summieren, weil wir kein Maß haben, mit dem wir Glück messen können. Letztlich geht das darauf zurück, dass wir nicht intersubjektiv nachprüfbar zum Ausdruck bringen können, was wir empfinden. Wir können zwar darüber sprechen, und wir können sogar zu einem weitgehenden Einverständnis kommen, ohne dass noch Probleme für die Verständigung bestehen. Dann sagen wir, dass wir verstanden haben. Wir unterstellen dabei, dass es genau das ist, was der andere zum Ausdruck bringen wollte. Solange keine weiteren Probleme im Gespräch entstehen, können wir bei diesem Glauben bleiben. Was wir wirklich verstanden haben, ist dann ganz einfach gleichgültig. Für die Frage nach der Summierung des Glücks und damit für die Frage nach der Vergleichbarkeit von verschiedenen Leben durch die objektive Bestimmung ihrer Glücksniveaus bedeutet das aber, dass wir nie wirklich wissen können, wie glücklich der andere ist. Wir können also auch keine Vergleiche zwischen seinem Glücksniveau und dem entsprechenden Niveau anderer Menschen anstellen. Die Vorstellung ‚Glück’ verleitet uns dazu, diese Probleme zu vergessen und unmögliche Vergleiche anzustellen, … … weshalb sich der Begriff des Glücks auch unter diesem Aspekt als wenig nützlich erweist. <?page no="116"?> 116 5.3 Wir versuchen zu bilanzieren und machen das eigene Leben gleichförmig Damit ist aber eine weitere Frage nicht vollständig beantwortet, die sich ganz naheliegend stellt, wenn es um die Funktion des Begriffes ‚Glück‘ zur Bewertung des Lebens in seiner Ganzheit geht. Können wir selbst für unser Leben die Summe des Glücks und des Unglücks bestimmen? Können wir abwägen zwischen der einen Summe und der anderen und dann zu einem Ergebnis kommen, das uns bestimmen lässt, ob unser Leben glücklich ist oder nicht? Vermutlich neigen sehr viele Menschen dazu, eine solche Abwägung für sich selbst anzustellen, und darin liegt ein wichtiger Aspekt der aus der Denkgeschichte überlieferten Bedeutung des Begriffes ‚Glück‘. Für den Sinn einer solchen Beurteilung spricht, dass hier die Schwierigkeit nicht auftritt, die eine Abwägung des Glücksstatus zwischen verschiedenen Menschen nur auf der Grundlage von Konventionen, Traditionen oder Ideologien ermöglicht, nicht aber so, dass wir eine Grundlage in der Sache selbst finden könnten. Hier geht es nicht um verschiedene Menschen, sondern es ist nur ein einzelner Mensch beteiligt, der darüber hinaus einen unmittelbaren Zugang zu seinem Erleben von Glück und Unglück besitzt. Er muss diese Erlebnisse deshalb nicht über sprachliche Äußerungen kennen lernen, sondern kann ohne den Umweg über ein Verstehen, wie Menschen sich ausdrücken, das Abwägen beginnen. Damit scheint hier das vorhanden zu sein, was beim Vergleich zwischen Menschen fehlte: ein Maß für das Glück, das damit seiner Stärke nach zumindest für den einzelnen Menschen in seinen verschiedenen - wirklichen oder vorgestellten - Lebenssituationen vergleichbar wird. Ist das wirklich so? Können wir tatsächlich davon ausgehen, dass die Glückserlebnisse eines Lebens selbst so wenig individuell sind, dass man sie messen, addieren und vergleichen kann? Wie soll man etwa das Glück eines gewonnenen Fußballspiels, das jemand als Junge von vielleicht 12 Jahren erleben konnte, in Vergleich setzen zu dem Glück des gleichen Menschen, der mit 30 Jahren einen lange angestrebten beruflichen Erfolg erleben darf? Wie soll man einen einheitlichen Maßstab finden, der das Glück einer frühen Liebe vergleichbar macht mit dem aus einer flüchtigen erotischen Beziehung im Erwachsenenalter? Und wie soll man beides in Bezug auf das Glücksniveau vergleichen mit dem Vergnügen, das das erste schnelle Auto gewährte? Wenn wir schon von Glück reden wollen, so ist es doch nie gleichnamig, sondern hat immer einen eigenen und anderen Namen - es ist eben nichts Ganzes und Einheitliches, sondern es heißt immer anders. Einen Vergleich zwischen Glück und Glück nehmen wir auch bei uns selbst vor, was leichter erscheint, … … aber schon bei einfachen Erfahrungen neue Probleme mit einem gemeinsamen Maß aufwirft. <?page no="117"?> 117 Das Problem mit der fehlenden Vergleichbarkeit von Glück, das wir nicht messen können, weil ein einheitliches Maß fehlt, stellt sich also im Grunde auch für den einzelnen Menschen, wenn er von einer Vergleichbarkeit seiner Glücksbilanz mit der anderer Menschen absieht und sich nur auf seine eigene Bilanz konzentriert. Aber die Bilanz des Glücks zu ziehen ist nicht nur deshalb so schwierig, weil man kein Maß für das Glück hat, mit dessen Hilfe man es gleichnamig machen, messen und dann addieren könnte. Das Fehlen eines Maßes gilt auch für das Unglück. Wenn es aber weder für das Glück noch für das Unglück eine Möglichkeit des Messens gibt, wenn wir also weder das Glück noch das Unglück gleichnamig machen können, es also nicht auf gemeinsame Nenner bringen können, wie können wir dann Glück und Unglück miteinander vergleichen? Wie können wir entscheiden, ob das Glück oder das Unglück in einem Leben größer war? Wenn wir das nicht können, wie wollen wir eine Bilanz aufstellen und entscheiden, ob es ein glückliches oder unglückliches Leben ist? Ähnlich geht es uns allerdings bei vielen anderen Begriffen, die wir im Alltag gebrauchen, und bei denen wir auch kein Maß angeben können. Wir sprechen von Liebe und wissen doch nicht, mit Hilfe welchen Maßes wir die Liebe zur Lebenspartnerin vergleichen können mit der Liebe zu einem Kind, mit der Liebe zum Beruf oder vielleicht auch zum Hobby oder mit der Liebe zur Zimmertigerin von der Gattung Hauskatze. Wir wissen nicht einmal, wie wir die Liebe zu Kricket oder Bridge vergleichen können mit der Liebe zu Fußball und die Liebe zum Roulette mit der Liebe zur Musik von Miles Davis, Mick Jagger oder Johann Sebastian Bach. Dennoch gebrauchen wir den Begriff ‚Liebe‘ - sicher viel zu oft. Bei Gefühlszuständen ist es die Regel, dass wir keinen Maßstab für einen Vergleich haben. Es scheint, dass es hier überhaupt nicht auf die messbare und objektiv vergleichbare Intensität ankommt. Allerdings verfügen wir in der Regel über die Fähigkeit, Unterschiede zwischen Gefühlszuständen so zu bestimmen, dass wir deren Stärke in eine Rangfolge bringen können. Wir beurteilen die Intensität eines Gefühlszustandes also durch seine Qualität, nicht aufgrund der Quantität, die wir messen müssten. Das gilt auch für Zustände der Lust und der Unlust, und für Freude und Leid können wir es analog anwenden. Können wir auf die gleiche Weise aber auch zu einer Summierung von Glückszuständen und Unglückszuständen im eigenen Leben gelangen, so dass wir mit ihrer Hilfe zu einer Bilanzierung kommen können? Und können wir dies überhaupt mithilfe des Gedankens von ‚Glücksmomenten‘, die wir doch bisher möglichst sorgfältig von dem Begriff ‚das Glück‘ unterschieden haben? Diese Probleme gelten für das Messen von Glück und Unglück, so dass ein Bilanzieren schwierig wird. Bei Gefühlszuständen können wir einen Vergleich immerhin über die Rangfolge der Intensität herstellen, … <?page no="118"?> 118 Nun, nicht wirklich. Wir müssen zunächst entscheiden, ob es sich bei dem, was wir als Glücksmomente bezeichnen, genau so verhält wie bei Empfindungen von Lust oder Unlust. Dann können wir fragen, ob der Begriff ‚das Glück‘ hier vielleicht zu unüberwindlichen Schwierigkeiten führt, wenn wir die Summe mithilfe von ‚Glückserlebnissen‘ zu bestimmen suchen. Können wir also bei solchen Erlebnissen stets die Intensität so genau bestimmen, dass wir sie zumindest in eine Rangfolge bringen können? Und selbst wenn das möglich ist, kann dann eine solche Entscheidung über die stärkere oder schwächere Intensität eines Glücksgefühls ausreichen, um zu einer Glücksbilanz für das ganze Leben zu kommen? Können wir damit einen Bilanz-Standpunkt einnehmen und entscheiden, ob wir das je eigene Leben als glücklich oder als unglücklich ansehen sollen? Können wir also wirklich den Begriff der Glücksmomente heranziehen, um eine Bilanzierung des Lebens unter der Perspektive des Glücks vorzunehmen? In diesem Fall müssten wir zugestehen, dass der Begriff ‚Glück‘ nur dann für Bilanzierungszwecke verwendet werden kann, wenn wir akzeptieren, dass wir ihn nur im Sinne der Bedeutung ‚Glücksmomente‘ auf nützliche Weise gebrauchen. Aber wir müssen darüber hinaus auch die Möglichkeit berücksichtigen, dass Glücksmomente etwas ganz anderes sind als Empfindungen von Lust, Freude oder Vergnügen. Vielleicht sind sie so, dass wir mit ihrer Hilfe gerade keine Bilanzierung vornehmen und deshalb auch von Glücksmomenten aus nicht zu einer Vergleichbarkeit von ‚dem Glück‘ innerhalb des eigenen Lebens kommen können. Um diese Fragen zu klären, müssen wir vor allem beachten, dass wir Glücksmomente in der Regel nicht gleichsetzen mit Augenblicken der Lust oder der Freude. In manchen Situationen ist das allerdings durchaus der Fall, und bisweilen reden wir auch nur unüberlegt daher und sagen ‚Glücksmoment‘, wenn wir ganz einfach Lust meinen. In der Regel wollen wir damit aber doch etwas anderes sagen. Wir können das schon sehen, wenn wir versuchen, zwischen den Ausdrücken ‚Lustmoment‘ und ‚Glücksmoment‘ zu unterscheiden. Den ersteren Ausdruck gebrauchen wir so gut wie nie. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass Lust immer schon und von vornherein auf einen Moment in der Zeit bezogen ist. Deshalb müssen wir nicht eigens noch hinzufügen, dass es sich um ein momentanes Erlebnis handelt, denn dies ist immer schon klar, wenn wir von Lust sprechen. Lust bezieht sich auf einen Augenblick und sie ist vorbei nach diesem Augenblick. Wir können zwar die Erinnerung behalten, aber für die Lust selbst genügt es, sie einen Augenblick lang gehabt zu haben, ohne dass wir sie behalten könnten. In sich aber weist die Lust nicht über sich hinaus, d. h. sie hat ihre Zeit, und diese Zeit begnügt sich mit sich selbst. Wir können sagen: die Zeit der Lust ist in sich geschlossen. Die Lust genügt sich selbst, sie verweist nicht auf etwas, das darüber hinausgeht. … aber mit dem Glück stellen sich hier noch ganz andere Schwierigkeiten. <?page no="119"?> 119 Wenn wir aber von einem Glücksmoment sprechen, so meinen wir etwas ganz anderes. Es handelt sich um einen Moment von etwas Größerem, das über diesen Augenblick hinausreicht. Es ist eine momentane Verwirklichung von etwas, das sich nicht in diesem Augenblick erschöpft und nicht mit diesem Punkt in der Zeit beendet ist. Ein Glücksmoment weist immer über sich hinaus und seine Zeit begnügt sich nicht mit sich selbst. Wir können deshalb hier sagen: die Zeit des Glücksmoments ist in sich offen. Die Lust ist in ihrem Augenblick ganz da, und sie bringt nichts über die Lust hinaus mit sich, nichts, was über diesen Augenblick hinausweisen würde. Im Moment des Glücks dagegen ist zwar auch das Glück ganz da, aber es bleibt nicht bei diesem Augenblick. Von einem Glücksmoment aus wird die Welt und unser Erleben anders. Wir erfahren darin eine andere Welt - oder vielleicht auch nur die Möglichkeit einer anderen Welt. Diese Erfahrung ist in einem Glücksmoment ganz wirklich und vollständig, es steht also nichts mehr aus. In diesem Sinne können wir sagen, dass wir in diesem Moment in ein anderes Verhältnis zur Welt im Ganzen geraten. Es geht also in einem Glückserlebnis immer um das Ganze, nicht um einen isolierten Augenblick. Auch wenn dieses Erlebnis nur in einem Moment stattfindet, so beschränkt sich das, was darin erlebt wird, doch nicht auf diesen Augenblick, obwohl es im nächsten Moment wieder vergehen kann. In diesem Moment aber ist nicht nur eine Lust für diesen Augenblick da, sondern es geschieht eine momentane Verwirklichung eines ganz anderen Verhältnisses zur Welt, als dies in einem Augenblick der Lust der Fall ist. In einem Glücksmoment ist für einen Augenblick ein Verhältnis zur Welt präsent, in dem wir uns im Ganzen unserer Existenz in einer Übereinstimmung mit ihr erleben, weil wir sie im Ganzen als übereinstimmend mit unseren Wünschen erleben. Genau dies ist im Augenblick der Lust nicht der Fall. Wir erleben in der Lust nichts über das Empfinden der Lust hinaus, d.h. wir erleben keine Veränderung des Ganzen. Es geht in der Lust nie ums Ganze, sondern immer nur um einen Augenblick. Im Glückserlebnis (das wir natürlich weiter von ‚dem Glück‘ unterscheiden müssen) dagegen geht es im Augenblick ums Ganze. Dieses Ganze ist zwar nur für einen Augenblick präsent, aber in diesem Augenblick ist es als Ganzes und nicht als ein Moment oder Teil anwesend. Was in einem Glücksmoment anwesend ist, ist im Grunde ein ganz anderes Weltverhältnis und es ist genau diese Anwesenheit, die uns berechtigt, hier überhaupt den Begriff des Glücks zu verwenden, auch wenn wir ihn von seiner Verwendung im Sinne von ‚das Glück‘ weiter unterscheiden müssen. Sie lösen sich auch nicht dadurch auf, dass wir statt von ‚Glück’ von Glücksmomenten sprechen, … … denn der Begriff ‚Glück’ darin meint, dass wir etwas Ganzes erleben, das sich nicht auf den Moment beschränkt. <?page no="120"?> 120 Dies erklärt gut, warum wir in einem solchen Augenblick nicht unbedingt große oder intensive Lust empfinden müssen. Was anwesend ist, ist eben nicht einfach nur eine bestimmte Empfindung, sondern ein bestimmtes Bewusstsein. Das unterscheidet solche Momente im Grunde von allen Empfindungen, so dass wir sie nur mit Einschränkungen in eine Reihe mit anderen Gefühlszuständen stellen können. Ein Glücksmoment ist von einem Augenblick der Lust nicht durch die besondere Intensität der Empfindung unterschieden, sondern durch ein ganz besonderes Bewusstsein. In diesem Bewusstsein beziehen wir die Welt auf eine andere Weise auf uns, als dies in einem Augenblick der Lust der Fall ist. Darin finden wir die Bedeutung des Begriffes ‚das Glück‘ in einer harmlosen Version wieder, so dass dieser Begriff hier in einem anderen und sicher weniger oder überhaupt nicht schädlichen Sinn gebraucht wird. Nur weil diese Bedeutung in einem gewissen Ausmaß erhalten bleibt, können wir überhaupt von Glücksmomenten sprechen. In einem Glücksmoment erfasst uns dementsprechend das Bewusstsein, dass die Annehmlichkeit des Lebens ununterbrochen unser ganzes Dasein begleitet, also nicht nur diesen kurzen Augenblick - obwohl dieses Bewusstsein doch nur in einem Augenblick geschieht. Es schadet dabei auch nichts, dass uns vielleicht bewusst sein kann, dieser Zustand werde in Kürze wieder vergehen. Es bleibt uns dennoch in diesem Moment das Bewusstsein, dass uns nicht nur in diesem Augenblick, sondern im Ganzen unserer Existenz alles nach Wunsch oder Willen geht, auch wenn wir wissen, dass dies im nächsten Moment schon wieder ganz anders sein wird. Daran ändert auch nichts, dass wir - sofern wir uns im Glückserlebnis noch einen Rest von Verstand bewahrt haben - wohl wissen, dass die Welt sich durchaus nicht um uns kümmert und sich nicht darum schert, ob sie mit unseren Zwecken übereinstimmt oder nicht. Im Augenblick des Glücks erleben wir doch dieses Verhältnis, von dessen mangelnder Realität und Realisierbarkeit wir genau wissen können. Wir wissen auch, dass diese Annehmlichkeit in Wirklichkeit auf keinen Fall ununterbrochen unser Dasein begleiten wird. Ein Glücksmoment ist also nicht so sehr eine Empfindung als ein Bewusstsein, obwohl er kein Wissen einschließt. Dieses Bewusstsein bezieht sich auf das Ganze, obwohl es nur in einem Erlebnis besteht. Gerade wegen dieser Besonderheiten ist es aber vollständig unmöglich, Glückserlebnisse - und entsprechende Erlebnisse von Unglück - so zu addieren, dass eine Bilanzierung für das ganze Leben sinnvoll werden könnte. Daran ändert es nichts, dass wir sie wie viele andere Empfindungen und Erlebnisse nach ihrer Intensität vergleichen und vielleicht sogar in eine Rangfolge bringen können. Glücksmomente sind einzelne Erlebnisse in der Zeit, die aber doch eine gewisse momentan bleibende Gesamtschau auf das Weil Glückserlebnisse keine bloßen Empfindungen sind, deshalb sind sie für das Bilanzieren wenig brauchbar. <?page no="121"?> 121 Leben enthalten. Natürlich sehen wir darin nicht wirklich das ganze Leben, weil sie eben Momente sind, d. h. in der Zeit abgeschlossen, und sich nicht auf das Ganze erstrecken. Insofern sollten wir diesen Begriff weiter genau von dem Begriff des Glücks unterscheiden. Der Begriff des Glücksmoments ist bei weitem nicht so allgemein wie der des Glücks. Gemeinsam hat er mit dem Glücksbegriff jedoch einen inneren Bezug auf das Allgemeine - in einem kurzen oder längeren, aber nie sehr langen Zeitraum erscheint uns alles richtig und gelungen. Gerade diese Gemeinsamkeit verhindert es jedoch, dass wir aus der Addition von Glückserlebnissen so etwas wie eine Glücksbilanz für das ganze Leben ableiten könnten. Glücksmomente unterscheiden sich unter dem Aspekt eines Bezuges auf etwas Ganzes also nicht so grundsätzlich von dem, was der Begriff ‚Glück‘ bedeutet, obwohl die Differenz dazu unter anderen Aspekten sehr groß und wichtig ist. Deshalb können wir auch dann nicht zu einer Bilanzierung des Lebens unter der Vorstellung ‚Glück‘ kommen, wenn wir dafür auf den pompösen Begriff ‚Glück‘ verzichten und uns auf Glücksmomente beschränken. Es ist nicht möglich, solche momentanen Erfahrungen, die im Augenblick eine Gesamtschau auf das Leben enthalten, wiederum zu addieren und davon die Unglücksmomente abzuziehen, in denen nicht nur Schmerz oder Leid erlebt wird, sondern die ganze Welt in einem besonderen Licht paradoxerweise zappenduster erscheint. Deshalb bringt uns auch der Umweg über den Bezug auf Glücksmomente statt auf Glück nicht weiter, wenn wir nach einer Möglichkeit des Bilanzierens unter der Glücksperspektive suchen. Das gilt auch dann, wenn wir vorübergehend etwas weniger auf den Unterschied zwischen Glück und Glücksmomenten achten. Wir sollten dies aber sowieso nur ausnahmsweise tun, denn schließlich handelt es sich um den Unterschied zwischen etwas, was es geben kann (Glücksmomente), obwohl es nur schwer bis überhaupt nicht anzustreben ist, und etwas, was es nicht ‚gibt‘, weil es sich um eine widerspruchsvolle und teilweise einfach unsinnige, vor allem aber schädliche Vorstellung handelt (‚das Glück‘). Der wichtigste Grund für die Unmöglichkeit einer Addition von Glückserlebnissen ist also eigentlich ganz einfach: Es gibt kein übergeordnetes Gesamtbewusstsein, in dem alle Glücks- und Unglücksmomente zugleich stattfinden würden. Die Momente folgen einander, möglicherweise sogar in großen Abständen - wessen Leben besteht schon aus einer dichten Folge von Glücks- oder Unglücksmomenten. Jeder Glücksmoment bringt sein eigenes Bewusstsein mit sich, und dasselbe gilt für Unglücksmomente. Bewahren können wir nur die Erinnerung daran. Wollen wir aus diesen Erinnerun- Wegen ihrem Bezug auf ein Ganzes können wir sie nicht addieren, auch wenn wir sie in eine Rangfolge bringen. Wir können also keine Bilanz ziehen, weil es kein ‚Gesamtbewusstsein’ für alle Glücksmomente gibt. <?page no="122"?> 122 gen aber eine Bilanz erstellen, die sich auf das ganze Leben erstreckt, so haben wir es wieder mit dem Problem des Gleichnamigmachens und der Addition zu tun. Dasselbe gilt natürlich in Bezug auf verschiedene Leben, die wir uns vielleicht vorstellen, um zu entscheiden, welches besser gewesen wäre. Darüber hinaus wäre es mit dem Addieren allein allerdings auch nicht getan, da wir offenbar auch noch die Unglücksmomente subtrahieren müssten. Wir müssten also nicht nur Glücksmomente gleichnamig machen, sondern auch noch Glücks- und Unglücksmomente gegeneinander aufrechnen können. Auch wenn wir also die Unterscheidung zwischen Glück und Glücksmomenten zu relativieren bereit sind, so würde das nichts daran ändern, dass eine Summierung von Glück und Unglück nicht durchführbar ist. In dieser Lage ist es natürlich auch nicht möglich, die Summe des Glücks gegen die Summe des Unglücks aufzurechnen und dann zu bilanzieren und so zu einem Urteil über das Glück oder Unglück des ganzen Lebens zu kommen. Das Leben ist glücklich in dem Moment des Glücks und unglücklich im Moment des Unglücks. Das gilt auch dann, wenn wir nicht so über-allgemeine Begriffe wie Glück oder Unglück verwenden, sondern uns auf die besondere Qualität von Glücksmomenten konzentrieren, die sich von allen anderen Empfindungen durch ein besonderes Bewusstsein unterscheiden. In dieser Beschränkung auf den bescheideneren und sinnvolleren Begriff des Glücksmoments können wir allerdings sagen, dass das Leben ganz glücklich ist im Moment des Glücks und ganz unglücklich im Augenblick des Unglücks. Das hilft uns allerdings nicht weiter, wenn wir unter dem Bann der Vorstellung ‚Glück‘ glauben, eine Bilanz für das Leben aufstellen zu müssen. Mit dem Versuch des Bilanzierens betrügen wir uns also im Grunde selbst. Wir nehmen die Stimmung des Augenblicks oder höchstens von Tagen oder Wochen und projizieren sie auf das ganze Leben. Was wir dann erhalten, ist eben keine Bilanz, sondern ein Ausdruck für eine vorübergehende Stimmung. Daran ändert auch nichts, dass wir statt von Glück von Glücksmomenten sprechen können. Hier gibt es zwar ein momentanes Bewusstsein des Ganzen. Es handelt sich aber nicht um eine Kontinuität, sondern Glücksmomente sind ‚augenblicklich‘ und diskontinuierlich und unterscheiden sich unter diesem Aspekt nicht so sehr von Spaß, Freude, Lust oder Vergnügen. ‚Glück‘ ist also auch unter der Perspektive der Bilanzierung des eigenen Lebens nicht gerade eine Vorstellung, unter der wir uns auf eine nützliche Weise verstehen könnten. Der Begriff eignet sich auch nicht, um im eigenen Leben einen Urteilsmaßstab für sein ‚Gelingen‘ zu gewinnen. Deshalb können wir natürlich auch nicht verschiedene alternative Verläufe des Lebens in der Vorstellung miteinander vergleichen, um dann zu sagen, welcher glücklicher gewesen wäre - ganz abgesehen davon, Das Leben ist deshalb im Moment des Glücks glücklich und im Moment des Unglücks unglücklich. <?page no="123"?> 123 dass wir über einen anderen Verlauf sowieso nichts wissen können. Wir sind in solchen Fällen immer auf haltlose Spekulationen angewiesen, auf die man sich jenseits der Pubertät besser nicht einlassen sollte. Wenn der Begriff des Glücks aber nicht für eine Bilanzierung des Lebens taugt, dann kann er auch nicht hilfreich sein, wenn es um die Orientierung des Strebens geht. Die Vorstellung von einer Bilanz kann nur den Sinn haben, als Maßstab für eine solche Orientierung zu dienen. Wenn eine Bilanzierung also nicht möglich ist, dann ist natürlich auch eine Orientierung mithilfe der Vorstellung ‚Glück‘ nicht sinnvoll. Wir sollten also auch unter der Perspektive dieses aus der Geschichte des Denkens über ‚Glück‘ auf uns gekommenen Bedeutungselementes besser auf diesen Begriff verzichten und nach konkreten Dingen wie Spaß, Freude, Genuss und Lust streben - und besser noch nach den ganz konkreten Erlebnissen und Gegenständen, die wir wirklich haben oder erleben wollen. Der Hedonist wird umso erfolgreicher sein, je konkreter seine Wünsche sind und je weniger er nach Allgemeinheiten wie Glück strebt. 5.4 Der Glücksbegriff bringt uns auf den Gedanken, wir könnten erst als Zombies glücklich sein Wir haben gerade aufs Neue gesehen, dass die Vorstellung ‚Glück‘ nur wenig nützlich und wahrscheinlich sogar ziemlich schädlich ist, weil wir mit ihrer Hilfe das Leben unter der Perspektive einer gewaltsam und künstlich hergestellten Ganzheit betrachten. Damit reduzieren wir die bunte Vielheit des Lebens und der schönen - und bisweilen weniger schönen - Dinge und Erlebnisse auf eine unwirkliche Einheit und müssen dann doch Schiffbruch erleiden, wenn wir mithilfe dieses Begriffes unser Leben bilanzieren wollen. Es handelt sich um eine Vorstellung, mit der wir stets aufs Ganze gehen wollen und deshalb dazu neigen, das Individuelle und Wirkliche gering zu schätzen. Statt dessen wollen wir diesen Begriff für Zwecke des Bilanzierens des Lebens einsetzen, obwohl er sich dafür keineswegs eignet. Darüber hinaus ist mit dem Transzendieren der wirklichen Erlebnisse und mit der Orientierung an einer Einheit vor der Vielheit auch eine bestimmte schädliche Vorstellung von der Zeitlichkeit des Lebens verbunden, und damit zeigt sich der Unsinn des Bilanzierens unter der Glücksperspektive nochmals auf eine ganz neue Weise. Von Ovid ist ein berühmter Spruch überliefert, der durch seine Bekanntheit nicht intelligenter wird: „Niemand ist vor seinem Tode und Begräbnis glücklich zu nennen.“ Übrigens war das nicht nur die Meinung dieses Autors, sondern der Gedanke von der Todesstunde als Prüfstein dafür, ob ein Leben im Sinne der Glücksvorstellung gelungen ist, war stoische Tradi- Zum Bilanzieren kann der Begriff ‚Glück’ also nicht hilfreich sein, und auch nicht zur Bewertung und Orientierung. <?page no="124"?> 124 tion von Lukrez über Seneca bis hin zu Montaigne. Aber schon lange zuvor war dieser Gedanke in ähnlicher Form bei Aristoteles vorhanden, der darauf hinwies, dass eigentlich niemand glücklich genannt werden kann, wenn sein Leben nicht als Ganzes glücklich ist - und wann kann man das feststellen außer nach seinem Tod? Jedem dürfte aber auffallen, dass man einen Menschen nach seinem Tod üblicherweise auch nicht glücklich nennt. Möglich wäre das nur in einer religiösen Sprache, die ein Weiterleben nach dem Tode annimmt und zwar so, dass wir der Seele die menschlichen Erlebnisweisen - und falschen menschlichen Begriffe - zuschreiben dürfen. Wir müssten dann also eigentlich sagen, dass nur die Seele glücklich heißen kann, sofern sie nach dem Tode weiterlebt. Das war durchaus eine Vorstellung, die in der Geschichte des Glücksbegriffes lange Zeit sehr wichtig war. Aber sie hängt eben von einer religiös begründeten Auffassung über das Weiterleben nach dem Tode ab. Wenn wir diese Auffassung nicht vollständig teilen wollen, so müssten wir aus Ovids Spruch also die Meinung ableiten, dass wir einen Menschen in Wahrheit nie glücklich nennen können. Das ist zwar in gewissem Sinne richtig, weil dieser Begriff sich nicht zu einer Aufrechnung und Bilanzierung des Lebens eignet, aber das hatte Ovid nicht im Auge. Er war jedoch auch nicht der Meinung, dass es in Wahrheit keine Glücksmomente geben könne und wir stets unglücklich sein müssten. Wenn man die Lebenden aber nicht glücklich nennen kann, und von einem Glück der Toten auch nicht sinnvoll die Rede sein kann, so bleiben als Kandidaten für möglicherweise glückliche Wesen nur solche übrig, die sich in einem Zwischenreich zwischen Leben und Tod befinden. Dafür gibt es den Ausdruck ‚Untote‘ und in Horrorfilmen ist meistens die Rede von Zombies. Aus Ovids Spruch folgt also die Vorstellung von einem Glück, das man nur Zombies zuschreiben kann. Letztlich ist das kein zufälliger Irrtum, sondern darin können wir die radikale Konsequenz aus der Perspektive auf eine unwirkliche Ganzheit und auf das Transzendieren des wirklichen und individuellen Erlebens finden, die wir mit der Vorstellung ‚Glück‘ einnehmen. Sie ist auch eine Folge der Betrachtung des menschlichen Lebens von außen her, die uns durch diese Vorstellung nahe gelegt wird. Aus diesem Blickwinkel ist Glück stets etwas, das wir nur Verstorbenen zuschreiben oder absprechen können. Wir können diesen Begriff in diesem Sinne also nur auf andere Menschen und auf deren vergangenes Leben anwenden. Im nächsten Hauptkapitel werden wir jedoch näher darauf eingehen, warum wir gerade anderen Menschen mit einer solchen Beurteilung großes Unrecht tun. Der Bilanzgedanke in der Glücksperspektive macht uns glauben, man könne erst nach dem Tode glücklich heißen. Mit dem Übersteigen alles wirklichen Erlebens führt der Begriff ‚Glück’ also zu etwas, das nur Zombies erleben. <?page no="125"?> 125 Mit dieser rückwärtsgewandten Perspektive zeigt sich ‚Glück‘ wiederum als eine Vorstellung, die zur Entwertung des Wirklichen und des konkreten Lebens führt. Diesem seltsamen Blick auf das menschliche Leben liegt zunächst die Auffassung zugrunde, es müsse sich ein Maß für Glück und Unglück finden lassen, so dass man eine Bilanz aufstellen kann. Darüber hinaus aber kommt nun die Meinung hinzu, dass ein bestimmter Zeitabschnitt von nicht ausreichendem Glück in der Lage sein soll, alles auszulöschen bzw. zu entwerten, was vorher war, denn ‚glücklich‘ soll deshalb kein Lebender heißen, weil er immer noch in die Gefahr geraten kann, eine Zeit zu erleben, in der er nicht ‚glücklich‘ ist, solange er noch weiterlebt. Das ist im Prinzip die Vorstellung, dass Bauchschmerzen am Abend rückwirkend das nachmittägliche Vergnügen an einem Picknick mit viel Speiseeis entwerten und sozusagen rückgängig machen könnten. Natürlich wird sich dadurch vielleicht die Erinnerung an diesen Nachmittag verändern - jetzt ist es nämlich der schöne Nachmittag, der von Bauchschmerzen am Abend gefolgt war und nicht einfach mehr der schöne Nachmittag mit dem köstlichen Eis. Solche Überlegungen nehmen wir immer wieder und mit guten Gründen vor. Aber was im Bereich des konkreten Erlebens bis zu einem gewissen Grad richtig ist, führt nicht schon deshalb auch dann zu guten Ergebnissen, wenn wir das Wirkliche übersteigen und uns an einer imaginären Ganzheit orientieren. Eine solche Beurteilung vom Ganzen und vom Ende her funktioniert, indem sie sich so am Ganzen des Lebens orientiert, dass das Einzelne und Wirkliche nur noch als Teil der Summe Bedeutung hat. Es verhält sich damit also in etwa so wie bei der Schießbude auf der Kirmes, bei der man 100 Punkte erreichen muss, um den großen Teddybären zu gewinnen. Der einzelne Punkt zählt überhaupt nichts, außer indem er zu der Addition beiträgt, mit der man vielleicht die 100-Punkte-Marke erreicht. Dass der einzelne Schuss Spaß gemacht hat, weil er gelungen war und vielleicht einen kurzen Moment Meditation ermöglicht hat, wird unter dieser Perspektive vollständig bedeutungslos. Deshalb funktioniert die Beurteilung des Lebens aus der Perspektive von Ovid und seiner Gesinnungsgenossen vollständig von außen her. Die Innen-Perspektive, aus der die einzelnen Erlebnisse für sich genommen Bedeutung hatten, wird dagegen vollkommen ausgeblendet. Es geht nicht um den Menschen, der gerade dieses Leben gelebt hat, das vielleicht in der letzten halben Stunde nicht sehr angenehm und vielleicht sogar Leiden war. Das ist in dieser halben Stunde tatsächlich richtig - aber es war eben nicht richtig in der ganzen Zeit davor, wenn wir uns ein übliches Leben vorstellen, das manchmal angenehm und manchmal unangenehm war. Mit dieser Vorstellung von Zeit als ganzer Lebenszeit, von der her der Augenblick für sich genommen bedeutungslos wird, sind wir wieder bei Ein solches Zombie-Glück entsteht aus der Vorstellung, das Einzelne habe nur Bedeutung als Teil eines Ganzen. <?page no="126"?> 126 jener Hauptströmung im Begriff des Glücks, die durch die vielen Variationen in der Geschichte dieser Vorstellung doch weitgehend intakt blieb. Aristoteles hatte darauf hingewiesen, dass Glück durch das ganze Leben hindurch bestehen müsse. Das Leben wird deshalb nun unter der Perspektive einer Bilanz aufgefasst und unter der Perspektive des Ganzen bewertet. Wir hatten schon eine unorthodoxe Interpretation von Adornos Spruch dagegen gesetzt, demzufolge das Ganze das Unwahre ist - nicht weil es ein bestimmtes Ganzes ist, sondern allein schon deshalb, weil wir in der Orientierung am Ganzen das Einzelne und Wirkliche verlieren. Mit dem Begriff ‚Glück‘ verbindet sich aber eine Vorstellung von Lebenszeit als der ganzen Zeit des Verlaufs des Lebens. Deshalb legt sich die Vorstellung nahe, das Leben müsse und könne man beurteilen von einem bestimmten Zeitpunkt außerhalb des Verlaufes des Lebens selbst. Dieser Zeitpunkt wird aber jenseits des wirklichen Lebens angesetzt. Das kann die Form annehmen, dass ein Mensch das Leben eines anderen beurteilt von einem Punkt seines eigenen Lebens aus. Es kann aber auch so geschehen, dass ein Mensch sein eigenes Leben beurteilt von einem - fiktiven - Zeitpunkt außerhalb seines eigenen Lebens aus. Die Zeit, in der hier die Beurteilung unter der Glücksperspektive vorgenommen wird, ist also nicht die des eigenen Lebens. Man tut so, als könnte man einen Zeitpunkt außerhalb der eigenen Zeit des Lebens wählen, um von da aus das eigene Leben ins Visier zu nehmen. Der Ausdruck ‚ins Visier nehmen‘ drückt sehr gut die Äußerlichkeit, die Gewalttätigkeit und die Aggressivität dieser Beurteilung aus. Auf jeden Fall handelt es sich um den Glauben, man könnte die Zeit des eigenen Lebens von einem Zeitpunkt aus beurteilen, der nirgends und nie ist - Glück ist sozusagen die Perspektive auf das eigene Leben von ‚Neverland‘ aus. Die Zeitlichkeit der Glücksperspektive ist die fiktive Einnahme einer Position, von der aus nur ein Blick von nirgendwo her möglich ist. Die Vorstellung ‚Glück‘ legt uns also eine Perspektive von einem zeitenthobenen Gesichtspunkt aus nahe. Die einfache Tatsache, dass das Leben jeweils vom Jetzt aus zu leben ist, gerät damit aus dem Blick. Diese merkwürdige Zeitlichkeit der Perspektive des Glücks hat sehr viel damit zu tun, dass im Begriff des Glücks letztlich immer noch ein Nachklang der platonischen Vorstellung von Ideen wirksam ist, die sich in einem ewigen und unveränderlichen ‚Ideenhimmel‘ befinden. Unter dieser Vorstellung wird das Die Zeit des Glücks darf also nur das ganze Leben sein, obwohl das Ganze doch gerade das Unwahre ist. Damit wird die Zeit des Lebens beurteilt von einem fiktiven Zeitpunkt außerhalb des Lebens, … … und von diesem Neverland des Glücks aus kann das Leben nicht gelebt und auch nicht bewertet werden. <?page no="127"?> 127 Leben von außen und vom ‚Gesichtspunkt des Ewigen‘ her aufgefasst, und diese Auffassung gilt als die richtige und allein wahre. Dabei gerät aus dem Blick, dass das Leben stets von je einem Zeitpunkt innerhalb des Lebens gelebt und angemessen nur ‚von innen‘ beurteilt wird - und eben nicht von außen. Zu der Wirklichkeit des Lebens gehört also die zeitliche Perspektive eines Bewusstseins, das die Beurteilung vom jeweiligen Jetzt aus vornimmt und weiß, dass damit keine Position außerhalb des Lebens und seiner eigenen Zeitlichkeit eingenommen werden kann. Das wirkliche Leben wird im Veränderlichen und Wechselnden gelebt und kann deshalb nicht sinnvoll von einer solchen Vorstellung von Glück her verstanden werden. In extremer Weise wird diese innere Zeitlichkeit des Lebens und die Betrachtung von innen im Zen-Buddhismus zur eigens eingenommenen Position des Lebens. Weder das Ich noch das Leben werden hier von außen anzusehen versucht - obwohl durchaus bewusst bleiben kann, dass auch das bisweilen notwendig ist. Der entscheidende Unterschied zu der in der Vorstellung ‚Glück‘ eingeschlossenen platonischen und ewigkeitsorientierten Auffassung ist jedoch, dass eine solche Perspektive von außen nun zu einer solchen wird, die nur bisweilen aus pragmatischen Gründen der Lebenspraxis eingenommen wird. Sie soll also gerade nicht dazu dienen, um das Leben als Ganzes zu beurteilen. Sie wird vielmehr nur aufgrund ihres konkreten Nutzens in bestimmten Situationen eingesetzt, und vernünftig ist sie nur innerhalb eines solchen Zusammenhangs, in dem sie Vorteile bringt. Aus der Perspektive des Glücks dagegen soll die Perspektive von außen gerade die wahre und ganze sein, die allein Auskunft über die Wahrheit des Lebens geben kann. Ein Zen-Buddhist dagegen kann allen Ernstes sagen: verbringe einen Tag in Frieden und du hast das ganze Leben in Frieden verbracht. Unter der totalitären Perspektive des Glücks und seiner merkwürdigen Zeitlichkeit, die von einer Zeit außerhalb des Lebens aus urteilen will, wäre das gerade nicht möglich. Ein Sicherfüllen und Genügen soll es dieser Vorstellung zufolge nur und erst im Zustand des Glücks geben, das nur das Ganze sein darf und sich über alle Zeit erstrekken muss. Damit wird ausgeschlossen, dass es im Einzelnen und in der konkreten Zeit Erfüllung und Genügen gibt. Das mit der Glücksperspektive transzendierte Wirkliche ist also auch die individuelle und konkrete Zeit des je gelebten Augenblicks, der sich kürzer oder länger erstrecken kann, je nachdem, wie es das wirkliche Erleben verlangt. Der Augenblick einer Augenlust kann sehr kurz sein, während der Augenblick des Vergnügens an einem Musikstück wesentlich länger sein wird. Mit der Glücksperspektive dagegen beginnt eine Auffassung von der Sinnvoll ist die Perspektive von jenseits der Lebenszeit dagegen nur manchmal aus lebenspraktischen Gründen, … … in der Regel transzendieren wir damit aber die individuelle und konkrete Zeit des je gelebten Augenblicks. <?page no="128"?> 128 Zeitlichkeit des Lebens, in der wir in nichts mehr Genügen finden können - außer in einem Ende, das einen Stillstand darstellt, den als Erfüllung zu bezeichnen schwer fällt. Der Bilanzierungsgedanke im Begriff ‚Glück‘ führt also zu der merkwürdigen Vorstellung, man könne erst nach dem Tod erkennen, ob ein Mensch glücklich genannt werden kann. Das schließt natürlich die Vorstellung ein, dass ein Mensch nie glücklich ist, sondern nur gewesen sein kann. Außerdem kann man von seinem Glück überhaupt nur in einer Beurteilung von außen sprechen, die ihm selbst nicht zugänglich ist. In dieser Vorstellung zeigt sich eine Auffassung von der Zeitlichkeit des Lebens, in der es nur als vergangenes seinen Wert haben kann, aber nicht inmitten der Zeit und aus ihr. Zum Begriff ‚Glück‘ gehört also die seltsame Vorstellung, alles im Leben komme erst dann in sein wahres Wesen, wenn seine Zeit vorbei ist, und das gelte auch für das ganze Leben. Die Vorstellung des Glücks fordert also die Einnahme eines Standpunkts jenseits des wirklichen Lebens und nach der wirklichen Lebenszeit. Ein solcher Begriff kann nicht nützlich sein. Nach dem Glücksbegriff hat das Leben also nur als vergangenes einen Wert, aber nicht aus der Mitte der Zeit. <?page no="129"?> 129 6. Warum wir im Streben nach Glück alles Anderssein und Anderswerden gefährden 6.1 Wir beurteilen das Glück anderer Menschen und setzen uns damit an ihre Stelle Wir haben im Zusammenhang mit dem Problem des Maßes für Glück darauf aufmerksam gemacht, dass es keine Möglichkeit gibt, Glück zwischen verschiedenen Menschen vergleichbar zu machen. Wir können nicht sagen, das eine Leben sei glücklicher als das andere, da wir kein gemeinsames Maß für Glück besitzen. Was der eine aus dem Spazierengehen mit dem Hund bezieht, ist eben nicht zu vergleichen mit der Qualität des Erlebens, das der andere mit seinem Porsche auf der Überholspur gewinnt. Aber mit der Vorstellung ‚Glück‘ beanspruchen wir immer wieder, das Leben von außen und von ganz weit oben beurteilen und bewerten zu können. Wenn wir glauben, das ganze Leben nach seiner Bilanz beurteilen zu können, so neigen wir natürlich auch zu der Annahme, wir könnten das Glück verschiedener Menschen miteinander vergleichen. Das geht darauf zurück, dass wir in beiden Fällen eine Vergleichbarkeit durch ein gemeinsames Maß herstellen zu können glauben. Können wir es im eigenen Fall, so glauben wir es eben auch in Bezug auf andere Menschen zu können. Es ist deshalb kein Wunder, dass Menschen, die ihr eigenes Leben unter der Perspektive des Glücks wie von außen und wie von weit oben bewerten, in vielen Fällen auch dazu neigen, andere Menschen auf die gleiche Weise zu beurteilen. Ein solches Beurteilen ist schon dann eine zweifelhafte Sache, wenn wir es auf der Grundlage eines prinzipiellen Wohlwollens vornehmen. Etwa können wir uns in einem solchen Urteilen wünschen, alle anderen möchten ebenso glücklich sein wir selbst - oder nicht so unglücklich. Allerdings kann ein solches Bewerten auch auf der Grundlage von Neid und Missgunst gedeihen. Dann handelt es sich um eine noch zweifelhaftere Folge der Vorstellung ‚Glück‘. Aber grundsätzlich tun wir anderen Menschen in einem solchen Beurteilen stets Unrecht - gleichgültig ob es wohlwollend oder aus niederen Motiven geschieht. Das ist schon deshalb der Fall, weil wir in beiden Fällen beanspruchen, das Glück der anderen zu kennen und es sogar bilanzieren und mit anderem Glück vergleichen zu können. Im Grunde nehmen wir damit an, es handle sich Wir beurteilen unser eigenes Leben von außen und glauben, das auch bei anderen Menschen tun zu dürfen. Aber damit verletzen wir die Individualität anderer Menschen … <?page no="130"?> 130 nicht um Individuen, sondern um auf einen Nenner zu bringende Exemplare einer Klasse, so dass wir die Eigenschaften der Klasse auf die Exemplare übertragen können. Das ist bis zu einem gewissen Grad natürlich auch bei Menschen sinnvoll. Etwa können wir Menschen mit Antibiotika behandeln, weil - fast - alle darauf auf eine bestimmte Weise reagieren, so dass wir nicht für jeden einen individuellen Wirkstoff benötigen. Aber mit einer solchen Auffassung als Exemplar einer Klasse oder Gattung darf natürlich nicht das erschöpft sein, was der einzelne Mensch ist. Über einen Menschen ist eben nicht alles gesagt, wenn wir ihn als einen ‚Fall von Mensch‘ auffassen. Wir nehmen in der Regel an, er/ sie habe selbst das Recht, über das zu bestimmen, was er/ sie ist, und vor allem sollten wir ihn/ sie nicht unter so allgemeine Begriffe bringen wie ‚Mensch‘, außer es gibt einen guten Grund dafür. Außerdem können wir ihm nicht ohne weiteres Beschreibungen von sich selbst aufdrängen oder aufdrücken, es sei denn, dies geschieht aus wichtigen Gründen. Wir sollten ihm grundsätzlich immer das Recht zubilligen, sich selbst oder seine Handlungen anders zu beschreiben, als andere Menschen dies von ihrer anderen Perspektive aus tun. Allerdings gibt es hier einen wichtigen Unterschied. Wenn jemand seine Körpergröße falsch angibt, dann können wir natürlich sagen, dass er sich falsch beschreibt, ob das nun aus einem Irrtum, aus der Unfähigkeit, korrekt zu messen, oder aus Eitelkeit geschieht. Anders verhält es sich aber, wenn er sich so beschreibt, wie nur er selbst es von der Perspektive der ersten Person aus kann. Wir müssen also zwei Fälle unterscheiden. Wenn jemand sagt ‚Ich bin 180 cm groß‘, so spricht er ebenso aus der Perspektive der ersten Person wie in dem Fall, in dem er von sich sagt ‚Ich habe Schmerzen‘. Im ersten Fall jedoch können andere Menschen leicht entscheiden, ob das stimmt oder nicht. Im letzteren Fall dagegen können wir von außen überhaupt nicht herausfinden, ob er die Wahrheit sagt oder nicht. Auf jeden Fall ist es sehr ungewöhnlich und nur im Ausnahmefall zulässig, wenn wir ihm bei einer solchen Äußerung widersprechen. Eigentlich können wir der Behauptung eines Menschen, er habe Schmerzen, kaum jemals widersprechen, ohne eine Frechheit zu sagen. Ob er Schmerzen verspürt, kann eben nur er selbst mit vollkommener Sicherheit wissen. Nur er selbst kann sich deshalb so beschreiben. Im Falle von Glück und Unglück verhält es sich nicht so wie im ersten Fall, in dem jemand etwas von sich sagt, das aus der Perspektive anderer Menschen überprüft werden kann. Die Situation gleicht hier mehr derjenigen wie im Fall einer Aussage vom Typ ‚Ich habe Schmerzen‘. Es gehört schon eine ganze Menge bösartiger Arroganz dazu, jemandem zu widersprechen, der erklärt, er sei glücklich. Die Besserwisserei bezieht sich hier ja nicht auf etwas in der Welt, die wir objektiv beschreiben können, … und nehmen ihnen ihr Recht auf Selbstbestimmung aus ihrer eigenen Perspektive. <?page no="131"?> 131 sondern auf die subjektive Beziehung dieses Menschen zu sich selbst. Im Grunde würden wir damit also behaupten, uns an seine Stelle setzen zu können und ihn von dort aus besser wahrnehmen zu können, als er selbst das tut. Wollen wir das nicht behaupten, so kann jeder über sein Glück nur selbst Bescheid wissen. Dann können wir aber offensichtlich nicht von außen darüber urteilen. Wir können nur über solche Zustände bei einem anderen Menschen urteilen, die sich objektiv beschreiben lassen. Etwa können wir seinen Gesundheitszustand mit Hilfe medizinischer Gutachten beurteilen. Wie er diesen Zustand aber selbst erlebt, also wie er für ihn selbst ist, wissen wir nicht. Bekanntlich werden die gleichen Beschwerden von verschiedenen Menschen sehr verschieden erlebt und verschiedene Menschen gehen mit gleichen Krankheiten ganz unterschiedlich um. Ähnlich können wir das Einkommen eines anderen Menschen mit Begriffen beschreiben, die für alle Menschen gelten, indem wir einfach die Summe in Euro angeben. Aber wie zufrieden ihn sein Einkommen macht, das können wir nicht auf die gleiche Weise erkennen. Dasselbe gilt für den Zustand seines Glücks. Wenn wir dennoch den Glückszustand bei anderen Menschen beurteilen und bewerten wollen, so tun wir etwas, was wir eigentlich nicht tun können. Wenn wir es trotzdem tun, so schließt dies deshalb immer eine gewisse Arroganz ein. Diese Anmaßung gehört zu der Vorstellung ‚Glück‘ wie der Anspruch auf eine Ganzheit oder das Transzendieren des Wirklichen und Einzelnen, also dessen, was wir wirklich erleben. Der Begriff ‚Glück‘ enthält schon durch seine Bedeutung die Tendenz, auf andere Menschen überzugreifen und unsere individuelle Perspektive auch für sie gelten lassen zu wollen, obwohl wir von deren Glück doch eigentlich überhaupt nichts wissen können. Wenn wir die Geltung unseres eigenen Empfindens auch für andere Menschen beanspruchen, so stellt dies einen unberechtigten Übergriff dar, weil wir auch davon unmittelbar überhaupt nichts wissen. Wir können nur Schlüsse ziehen, die etwa so lauten: ich selbst empfinde so, ich bin ein Mensch, der andere ist auch ein Mensch, also muss er ebenso empfinden. In der Regel ist das aber kein gültiger Schluss. Es reicht eben nicht aus, dass wir von einem anderen Menschen wissen, dass er ein Mensch ist - das ist etwas sehr Allgemeines, aus dem wir keine Schlüsse auf etwas so Individuelles wie einen einzelnen Menschen ziehen können. Jedenfalls gilt das dann, wenn es um sein Erleben geht und nicht um objektiv nachprüfbare Eigenschaften wie seine wahrscheinlichen Reaktionen auf bestimmte physische Einflüsse wie etwa auf Antibiotika. Im Unterschied zu dem, was bei solchen objektiven Eigenschaften gilt, gibt es keine haltbare Über sein Glück kann jeder nur selbst urteilen, und wir sollten uns nicht an die Stelle anderer Menschen setzen. Mit der Vorstellung ‚Glück’ tendieren wir zu der Arroganz, es auch bei anderen Menschen beurteilen zu wollen. <?page no="132"?> 132 Begründung dafür, dass wir uns anmaßen, fremdes Erleben vom eigenen Erleben her bewerten zu können und zu dürfen. Es gibt eine weit verbreitete Entschuldigung, um einen solchen Übergriff dennoch zu begehen. Der seltsamen Lust, das Glück anderer Menschen zu beurteilen, frönen wir in vielen Fällen unter moralischen Vorzeichen. Wir nehmen dazu eine Beurteilung anderer Menschen nach ihrem moralischen Wert oder Unwert vor und werfen den Unglücklichen ihre Lage als eine Art moralisches Versagen vor. Wer uns als unglücklich erscheint, dem schreiben wir einen geringeren Wert als Mensch zu im Vergleich zu dem, der auf uns den Eindruck macht, glücklich zu sein. Wir tun also so, als würden wir eigentlich über den moralischen Wert eines anderen Menschen urteilen, was wir uns gerne und leicht zutrauen. Damit haben wir eine vermeintlich gute Entschuldigung, um doch über sein Glück zu urteilen, das eigentlich nur er selbst kennen kann. Ein solches Urteilen ist aber eigentlich sehr merkwürdig, denn unsere moralischen Intuitionen enthalten grundsätzlich nicht die Vorstellung, dass ein glücklicher Mensch auch ein besserer Mensch sein müsse, dem ein höherer moralischer Wert zukommt. Unter moralischen Vorzeichen bewerten wir nur die Handlungen und vielleicht noch die Einstellungen (also seine Handlungstendenz oder -bereitschaft) eines Menschen, nicht aber sein Glück. Es gibt allerdings eine psychologische Theorie, der zufolge bei vielen Menschen eine Tendenz zu einer eigenen ‚Theorie der gerechten Welt‘ besteht. Danach neigen wir aus einem ganz bestimmten Grund dazu, unglückliche Menschen wegen ihres Unglücks als moralisch geringwertig anzusehen. Auf diese Weise können wir glauben, es geschehe ihnen ganz recht und sie verdienten ihr Unglück. Das erlaubt es uns, die Vorstellung von einer grundsätzlich gerechten Welt aufrecht zu erhalten, in der jeder bekommt, was er verdient. Ein negativ denkender Mensch wie Shakespeares Hamlet hätte sich dem Wunsch nach einer ‚gerechten‘ Welt aber vielleicht nicht anschließen wollen, wenn er erklärte: ‚Gib jedem nur, was er verdient, und er kommt aus den Schlägen nicht mehr heraus.‘ Auch diese Meinung verrät allerdings eine beträchtliche Arroganz. Wenn wir annehmen, dass diese Theorie tatsächlich bei vielen Menschen gilt, so kann es also auch Gründe für einen solchen Übergriff auf das Empfinden anderer Menschen geben, die wir nicht einfach als bösartig verurteilen können. Wir wünschen uns eben ganz einfach, es möge in der Welt gerecht zugehen, und nehmen dabei in Kauf, über andere Menschen ungerecht zu urteilen. Nichtsdestoweniger bleibt es doch auch in diesem Fall falsch, das Glück anderer Menschen zu beurteilen und es so gleichnamig zu Diese Arroganz ist auch dann nicht entschuldbar, wenn wir ‚glücklich’ und ‚moralisch wertvoll’ gleichsetzen. Letztlich geht die Arroganz der Glücksperspektive also auf die fundamentalen Mängel dieses Begriffes zurück. <?page no="133"?> 133 machen, dass es zwischen verschiedenen Menschen verrechnet werden kann. Letztlich nehmen wir dabei immer an, der andere müsse ganz genau so sein wie wir selbst. Schon dadurch tun wir ihm großes Unrecht. Die Vorstellung ‚Glück‘ hat stets einen Anteil an diesen Übergriffen und an dieser Arroganz. Mit ihr wollen wir eben stets aufs Ganze gehen und blenden das einzelne und konkrete Erleben aus. Das gilt ebenso für das individuelle Erleben anderer Menschen, das es unter der Perspektive des Glücksbegriffes nicht mehr geben soll. Auch darin können wir eine der negativen Folgen aus dieser Vorstellung sehen. 6.2 Wir unterwerfen uns dem Zwang zum Glück und üben ihn selbst aus Mit der Ausrichtung an einem imaginären und allzu Ganzen jenseits des wirklichen und individuellen Erlebens und mit dem Verstehen des eigenen Lebens von weit außen und ganz oben hängt es zusammen, dass wir unter der Perspektive der Vorstellung ‚Glück‘ eine umfassende Verantwortung nicht nur für unser Leben, sondern auch für unser Glück zu haben scheinen. Diese Vorstellung ist aber eigentlich nur dann notwendig und richtig, wenn wir uns innerhalb des Gedankengebäudes einer Religion verstehen und deshalb gegenüber Gott eine solche Verantwortung akzeptieren müssen. Für Menschen, die sich religiös nicht wirklich gebunden fühlen, kann eine solche umfassende Verantwortlichkeit dagegen nicht in gleichem Sinne gelten. In diesem Fall ist der Gedanke einer Selbstverantwortung für das ganze Leben und dessen Glück grundsätzlich falsch. Das heißt natürlich nicht, dass wir andere dafür verantwortlich machen dürften - außer in sehr gut begründeten Fällen. Aber verantworten müssen wir nur das, was wir anderen Menschen unrechtmäßig antun oder ihnen unrechtmäßig vorenthalten, nicht aber unser eigenes Leben - und schon überhaupt nicht, ob wir glücklich sind oder nicht. Aus der Perspektive des Glücksbegriffes entsteht jedoch leicht die Vorstellung, wir seien zum Glück verpflichtet und müssten uns schuldig oder zumindest minderwertig fühlen, wenn wir nicht glücklich genug sind. Wir haben weiter oben die stoische Kritik an einem ‚Leiden am Leiden‘ erwähnt. Die philosophische Lehre der Stoa empfahl, das Leiden dort zu akzeptieren, wo es nicht zu vermeiden ist, und es nicht durch ein falsches Stellungnehmen dazu zu vergrößern. Wir verhalten uns falsch zum Leiden, wenn wir etwa nicht nur Zahnschmerzen haben, sondern diese Unannehmlichkeit noch vergrößern, indem wir uns darüber ärgern, dass wir sie haben, oder etwa dadurch, dass wir uns vormachen, die ganze Welt müsse schlecht sein, weil wir gerade an Zahnschmerzen leiden. Der gleiche Der Glücksbegriff legt die Idee nahe, wir müssten uns entschuldigen, wenn wir nicht genügend glücklich sind. <?page no="134"?> 134 Mechanismus eines falschen Stellungnehmens setzt auch dann ein, wenn wir uns unter den Zwang setzen, glücklich sein zu müssen. Wenn die Welt sich nicht auf entsprechende Weise an unsere Wünsche anpasst, dann kann das reichlich unangenehm für uns werden. Aber wir können in solchen Fällen auch noch zusätzlich darunter leiden, dass wir unseren selbstgesetzten Forderungen und Ansprüchen nicht genügen können. Mit der merkwürdigen Auffassung, wir müssten unbedingt glücklich sein, geraten wir also in eine fatale Lage. Wir sind nicht nur nicht genügend glücklich, sondern machen uns auch noch selbst unglücklich, weil wir zusätzlich noch darunter leiden, dass wir so unvollkommene Wesen sind, die ihren eigenen und eigentlich ziemlich unsinnigen Forderungen nicht entsprechen können. Dieser Mechanismus geht natürlich wiederum darauf zurück, dass zu den schädlichen Wirkungen der Vorstellung ‚Glück‘ auch der Gedanke gehört, wir müssten uns mit seiner Hilfe nicht nur von außen verstehen, sondern auch von außen beurteilen. Natürlich können wir das nicht wirklich, aber wir fassen uns mit diesem Begriff so auf, als ob wir es doch könnten. Damit übernehmen wir eine Verantwortung, die nicht wirklich besteht. So weit sind wir für unser eigenes Leben natürlich nicht verantwortlich. Jenseits der Religionen und ihren Glaubensgebäuden macht die Vorstellung einer solchen Verantwortung keinerlei Sinn. Unsere wirkliche Verantwortung entsteht immer in einem Verhältnis zu anderen Menschen. Verantwortlich sind wir für Schäden, die wir durch unser eigenes Leben anderen zufügen, sofern dies nicht durch unser eigenes Lebensrecht gerechtfertigt ist. Darüber hinaus müssen wir vermeiden, andere Menschen für unser Leben verantwortlich zu machen, solange sie nicht gegen Recht und Gesetz oder gegen fundamentale moralische Prinzipien verstoßen. Was wir darüber hinaus aus unserem Leben machen, ist unsere eigene Sache. Dies können wir natürlich auch mit den Worten ausdrücken, dass wir für unser eigenes Leben immer ‚selbst verantwortlich‘ sind. Dieser Ausdruck ist jedoch deshalb nicht ganz angemessen, weil mit ‚verantworten‘ eigentlich in der Regel ‚rechtfertigen‘ gemeint ist, und um eine solche Rechtfertigung kann es jenseits dessen, was wir anderen Menschen schulden, gerade nicht gehen. Mit dem Hinweis auf die Verantwortung für unser eigenes Leben kann also nicht gesagt sein, dass wir uns für unser Glück - oder vielleicht für unser Unglück - anderen Menschen gegenüber verantworten müssen. Es kann auch nicht gemeint sein, dass wir uns vielleicht schuldig fühlen müssten, weil wir nicht glücklich genug sind. Natürlich können wir die Tatsache, dass wir uns glücklich fühlen, auch nicht als ein Verdienst ansehen, das wir anderen Menschen gegenüber erworben haben und für Wir beurteilen uns mit dem Glücksbegriff von außen und geraten so in den Mechanismus des ‚Leidens am Leiden’. Aber eigentlich kann es anderen Menschen gegenüber keine Verantwortung für unser Glück geben, … <?page no="135"?> 135 das sie uns Lob oder Bewunderung schulden - obwohl wir für uns selbst durchaus so etwas wie Stolz empfinden können, wenn es uns gelungen ist, auch in widrigen Umständen eine gewisse Zufriedenheit zu bewahren. Aber wenn wir das Leben mithilfe der Vorstellung ‚Glück‘ verstehen und es damit unter der Perspektive der Ganzheit und einer Vergleichbarkeit mit dem Leben anderer Menschen auffassen, so gelangen wir von selbst in die Nähe der merkwürdigen Auffassung, nach der wir unser Leben allen anderen gegenüber verantworten müssten. Dies ist zwar nicht notwendig mit dem Begriff des Glücks verbunden. Aber eine solche Vorstellung legt sich doch nahe, wenn wir unter der Perspektive des Glücksbegriffes unser eigenes Leben von außen und von weit oben her auffassen - also so, als könnten wir außerhalb von uns selbst stehen. Wenn wir das tun, dann begeben wir uns auf eine imaginäre Weise in eine Position, in der wir uns selbst so beurteilen, als wären wir andere Menschen, die uns von ihrer Warte aus bewerten könnten. Wir sehen uns in der Perspektive des Glücksbegriffes also so, als wären wir eigentlich andere Menschen. Der Glücksbegriff legt uns deshalb zu leicht die Vorstellung nahe, Glücklichsein sei eigentlich so etwas wie eine Pflicht. Eine solche ‚Pflicht zum Glücklichsein‘ kennen unsere moralischen Intuitionen aber prinzipiell nicht. Lediglich in der utilitaristischen Ethik gab es bei einigen Autoren Ansätze, aus denen man so etwas herauslesen könnte, aber das sieht bei genauerem Hinsehen doch anders aus. Von dem französischen Philosophen Diderot wurde die utilitaristische Moral allerdings in Bezug auf das Glück tatsächlich so auf den Punkt gebracht. Danach gibt es für den Menschen ‚nur eine Pflicht, nämlich das Glücklichsein‘. Es ist sicher kein Wunder, dass die Epoche der Aufklärung im Terror der Französischen Revolution zu Ende ging - wer die Menschen sogar noch dazu verpflichten will, glücklich zu sein, muss schließlich zum Terroristen werden. Es verhält sich hier wie mit jeder Verpflichtung, die die Menschen über die Vermeidung von Schaden für andere hinaus zu einem bestimmten Empfinden und Vorstellen zwingen will. Damit ist immer die Neigung verbunden, sie weit über das gerechtfertigte Ausmaß hinaus davon abzubringen, nach ihrer eigenen Façon selig zu werden. Explizit von einer solchen Pflicht zum Glücklichsein sprach darüber hinaus ein französischer Schriftsteller, der sich Alain nannte, aber das hat bei ihm eine ganz spezielle Bedeutung. Er wies damit darauf hin, dass man in Gesellschaft von Menschen den Schein der Zufriedenheit oder sogar des Glücks aufrecht erhalten sollte, weil es der Höflichkeit entspricht und dem Gebot, in der Regel eine angenehme Gesellschaft für andere Menschen zu sein. Gemeint ist also eigentlich die Pflicht, auf die Frage ‚Wie geht’s? ‘ nicht zu antworten: ‚Ach, es ist alles ganz schrecklich, John Lennon ist immer noch tot und ich fühle mich auch schon ganz elend! ‘ Offensichtlich … und von einer ‚Pflicht zum Glück’ können wir in unseren moralischen Intuitionen auch nichts finden. <?page no="136"?> 136 würde es zur Erfüllung dieser Pflicht aber auch genügen, möglichst gut den entsprechenden Anschein aufrechtzuerhalten oder, wenn das denn überhaupt nicht gelingen kann, die Gesellschaft anderer Menschen so weit wie möglich zu vermeiden. Allerdings sollte man diese Pflicht auch nicht übertreiben. Andere Menschen können zwar Höflichkeit und in manchen Situationen vielleicht sogar Freundlichkeit verlangen, aber nicht unbedingt, dass man sich das alberne Motto ‚… und immer schön fröhlich sein! ‘ zum Prinzip und zur Gewohnheit macht. Von der moralischen oder quasi-moralischen Beurteilung anderer Menschen wegen ihres Glücks oder dessen Fehlen und von der Vorstellung einer ‚Pflicht zum Glück‘ ist es nicht mehr allzu weit bis zu dem Gefühl, es gäbe so etwas wie einen ‚Zwang zum Glück‘. Auch die Möglichkeit einer solchen Konsequenz ist in der Perspektive auf das Leben enthalten, die der Glücksbegriff eröffnet. Ein solcher Zwang ist im Grunde schon mit dem Gefühl gegeben, es gäbe eine Verantwortlichkeit gegenüber anderen dafür, ihren Glücksvorstellungen zu genügen. Auch das geht wieder darauf zurück, dass wir mit dem Begriff des Glücks und seiner Orientierung an einer Ganzheit eine Perspektive quasi von außen auf das Leben einnehmen zu können glauben - und manchmal sogar glauben, sie einnehmen zu müssen. Damit wird prinzipiell anderen Menschen oder auch einer anonymen Macht das Recht zuerkannt, Verantwortung fordern zu können für etwas, was ausschließlich privat ist. Das ist einer der wichtigsten Gründe dafür, dass Menschen, für die der Begriff des Glücks sehr wichtig ist und die ihr Leben stark durch diese Vorstellung bestimmen lassen, so oft außengeleitet leben und bemüht sind, sich an die Vorstellungen anderer Menschen darüber anzupassen, wie sie glücklich zu sein haben. Wenn wir uns sowieso schon von außen und in einer das wirkliche Erleben übersteigenden Ganzheit bewerten und beurteilen, so liegt es nicht mehr sehr fern, dieses Bewertungsrecht auch gleich anderen Menschen zu übertragen und darin einen ‚Zwang zum Glück‘ zu akzeptieren. Die fatalste Kombination entsteht dann, wenn beide Haltungen zusammenkommen. Dann herrscht auf der einen Seite eine Art von ‚Caritas- Imperialismus‘, der andere Menschen nicht mehr nach der eigenen Façon selig werden lassen will, sondern nur noch nach den Vorstellungen eines externen Experten für Glück. Auf der anderen Seite führt die Orientierung am Begriff des Glücks dazu, dass das eigene Leben nur noch von außen her betrachtet wird, so dass auch gleich anderen Menschen die Befugnis erteilt werden kann, darüber zu entscheiden, wie das eigene Glück auszusehen hat. Wir sollten uns vor Menschen hüten, die einerseits den Zwang zum Dennoch kann der Glücksbegriff uns bis zu einem Gefühl des ‚Zwangs zum Glück’ führen. Diese Tendenz wird vollendet, wenn der ‚Zwang zum Glück’ auch noch ausgeübt wird. <?page no="137"?> 137 Glück für sich akzeptieren und andererseits sich darin gefallen, selbst diesen Zwang unter moralischen Vorzeichen auszuüben. Sie sind in der Regel sehr gerne bereit, auf der Grundlage der Arroganz des Glücksbegriffes jeden Übergriff auf das persönliche und individuelle Erleben eines anderen Menschen zu billigen. Die Voraussetzungen für solche Vorstellungen von einer Verantwortung für das eigene Glück anderen Menschen gegenüber oder von einer Pflicht oder sogar von einem Zwang zum Glück finden sich also letztlich in einigen der fundamentalen Eigenschaften des Glücksbegriffes, der sich wiederum als nicht sehr nützlich erweist. 6.3 Durch die Glücksvorstellung lassen wir unser Leben durch fremde Perspektiven leiten Wenn wir uns unter einer Vorstellung wie ‚Glück‘ verstehen und davon unser Streben beeinflussen lassen, so hat das auch außerhalb des Zwanges oder der Pflicht zum Glück Folgen für die Selbständigkeit, mit der wir unser Leben führen. Indem wir das wirkliche und individuelle Erleben verlassen und uns von weit außen und ganz von oben verstehen, neigen wir auch zu einem Verständnis des eigenen Lebens von den Vorstellungen anderer Menschen her. Es wird schwer, sich wirklich als Individuum aufzufassen, wenn wir einem so allgemeinen Begriff wie ‚Glück‘ Einfluss auf unser Leben gestatten. Wenn man schon einmal das wirkliche Erleben transzendiert hat, so akzeptiert man sehr leicht allzu allgemeine Aussagen von anderen Menschen über das, was man tun und lassen oder empfinden soll. In der Regel ist die Perspektive auf das eigene Leben, die wir mithilfe der Vorstellung ‚Glück‘ einnehmen, nicht aus dem wirklichen und individuellen Erleben entstanden. Meistens übernehmen wir in diesem Fall einfach eine fremde Sichtweise. Das wirkliche Erleben könnten wir weitgehend individuell finden, aber unter der Perspektive des Glücksbegriffes verzichten wir darauf und halten uns statt dessen an das, was uns andere Menschen über die Möglichkeiten des Erlebens sagen. Dieser Zusammenhang kann manchmal auch aus der umgekehrten Richtung bestehen, was allerdings zum gleichen Ergebnis führt. Dann steht am Anfang einer solchen Entwicklung die Bereitschaft, unsere individuelle und konkrete Wirklichkeit einschließlich der Freude, des Vergnügens, der Lust und des Spaßes in ihr in Richtung auf unwirkliche und allzu allgemeine Begriffe zu übersteigen. Daraus entsteht dann eine Empfänglichkeit dafür, das eigene Leben an einer so nutzlosen Vorstellung wie ‚Glück‘ auszurichten, was die Bereitschaft zum Verlassen des Konkreten und Individuellen wiederum verstärkt. Aber es kann auch sein, dass man erst den Begriff ‚Glück‘ allzu bedeutsam werden lässt, und daraus entsteht dann die Der Glücksbegriff bringt uns dazu, fremde Perspektiven für unser eigenes Leben zu übernehmen. <?page no="138"?> 138 Bereitschaft, alles Wirkliche und alles individuelle Erleben zu verlassen, um sich statt dessen an leeren und viel zu allgemeinen Vorstellungen zu ergötzen. Auf die eine oder die andere Weise spielt aber die Tendenz der Glücksperspektive fort vom Individuellen und Wirklichen immer eine Rolle, wenn wir besonders leicht bereit sind, uns von anderen Menschen über grundsätzliche Fragen des Lebens und Strebens belehren zu lassen. Aus dieser Perspektive tendieren wir quasi natürlich dazu, uns von anderen Menschen sagen zu lassen, wie wir glücklich sein sollen oder sogar müssen. Wir sind dann leicht dazu bereit, das, was wir wirklich erleben, so zu beschreiben, wie wir es von anderen gehört haben. Damit kann es aber unversehens eine ganz andere Qualität annehmen. Nach einiger Zeit erleben wir dann auch etwas anderes, nämlich nicht mehr das, was wir eigentlich wahrnehmen, sondern das, was uns andere Menschen vorgesagt haben. Wir wiederholen dann nicht mehr nur das, was wir gehört haben, sondern wir erleben es tatsächlich - oder glauben es zumindest zu erleben. Das kann bisweilen in ernste Probleme führen. Wie sehr wir uns manchmal von anderen Menschen unsere Erlebnisweisen vorschreiben lassen, lässt sich gut an einem Beispiel verdeutlichen, das den meisten Menschen bekannt sein dürfte - entweder aus eigenem Erleben oder aus Erzählungen. Menschen jenseits des ganz jugendlichen Alters berichten häufig davon, dass die Zeit immer schneller vergehe, je älter sie werden. Es ist vielleicht nicht ganz leicht einzusehen, dass man damit in der Regel nicht das eigene Erleben beschreibt, sondern übernommene Beschreibungen erlebt und dabei das wirkliche Erleben völlig falsch wiedergibt. Aber wer genauer hinsieht und gelernt hat, sein Erleben zu differenzieren, der erkennt leicht, dass sich in Wahrheit nur die periodisch wiederkehrenden Ereignisse abnutzen. Deshalb glauben wir, sie kehrten schneller wieder, weil sie uns zu bekannt und vertraut vorkommen, so dass wir annehmen, es könne doch nicht die gleiche Spanne an Zeit bis zu ihrer Wiederkehr vergangen sein wie zu jener Zeit, als sie noch neu waren und uns jedes Mal neu erschienen. Weihnachten, Neujahr, Ostern, Pfingsten, Geburtstage - so sehr anders sind sie nicht, wenn sie im nächsten Jahr wiederkehren. Auch die Jahreszeiten bieten nicht jedes Jahr so viele ganz neue Erlebnismöglichkeiten. Ihre Erscheinungen gleichen sich, das neue Frühjahr unterscheidet sich nicht so sehr vom Frühjahr des vergangenen Jahres, der Herbst bricht mit der gleichen Luft, dem gleichen Licht und den gleichen Veränderungen in den Farben der Welt an wie der Herbst des Vorjahres, und mit Sommer und Winter verhält es sich nicht anders. Wir unterscheiden dann nicht mehr so deutlich zwischen diesen periodisch wiederkehrenden Ereignissen. Des- Wir übernehmen, wie andere ihr Erleben beschreiben, und glauben dann, dies selbst zu erleben. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der Glaube, mit zunehmendem Alter vergehe die Zeit schneller, … <?page no="139"?> 139 halb glauben wir, die Zeit zwischen solchen Ereignissen sei schneller vergangen. Wir machen also eine bestimmte Erfahrung (den Verlust des Neuigkeitswertes von periodisch wiederkehrenden Ereignissen), aber wir beschreiben eine ganz andere Erfahrung (dass die Zeit immer schneller vergeht). Je früher man solche Verwechslungen korrigieren kann, desto besser. Dazu muss aber akzeptieren können, dass wir in erster Linie etwas erleben, weil wir es beschreiben. In vielen Fällen erleben wir deshalb etwas, was uns von anderen Menschen zuvor auf eine bestimmte Weise beschrieben worden war. Wir erleben dann, was uns vorgesagt wurde, im Falle des Beispiels also, dass die Zeit mit zunehmendem Alter immer schneller vergeht, obwohl wir selbst doch nur erfahren, dass alles, was periodisch wiederkehrt, nach einiger Zeit so ganz neu nicht mehr ist. Es macht einen großen Unterschied für das Leben, ob wir jenem Glauben oder dem wirklichen Erleben folgen. Die periodisch wiederkehrenden Ereignisse selbst schreiben uns hier nichts vor. Sie bieten auch die Möglichkeit, sie stets neu auffassen zu können. Es hängt nur von uns ab, die Feste und die Jahreszeiten neu zu hören, zu sehen, zu riechen, zu schmecken und zu empfinden. Natürlich handelt es sich dabei nur um ein Beispiel dafür, dass uns in vielen Fällen andere Menschen sagen, was wir erleben sollen oder müssen. Man kann das im Prinzip gelassen sehen und geschickt damit umgehen. Die Vorstellung ‚Glück‘ hilft uns dabei allerdings überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil, sie verstärkt sogar noch die Tendenz, uns den Glücksvorschriften anderer Menschen anzupassen. Das hängt wiederum vor allem mit dem darin enthaltenen Bezug auf etwas allzu Ganzes zusammen, in dem wir das wirkliche Erleben übersteigen. Wir kommen mit diesem Begriff zu leicht auf viel zu allgemeine Vorstellungen, weil wir nicht mehr auf das achten, was wir wirklich erleben. In dieser Situation neigen wir dann auch sehr leicht dazu, jene ebenso viel zu allgemeinen Vorstellungen zu übernehmen, die uns andere Menschen vorsagen. Genau das glauben wir dann zu erleben, wenn wir uns in der Orientierung des Lebens an der Glücksvorstellung schon von dem entfernt haben, was wir wirklich und individuell erleben. Der Glücksbegriff bereitet also den Boden dafür, dass wir uns von anderen Menschen sagen lassen, was wir erleben und empfinden sollen oder gar müssen. Natürlich geht es nicht immer auf die Vorstellung ‚Glück‘ zurück, dass wir uns in vielen Situationen so verstehen, wie wir dies von anderen Menschen gelernt haben. Aber diese Vorstellung führt doch zu einer besonde- … der auf eine falsche Beschreibung des wirklichen Erlebens zurückgeht, die wir einfach übernehmen. Der Glücksbegriff unterstützt eine Übernahme fremder Beschreibungen und fremden Erlebens. <?page no="140"?> 140 ren und negativen Ausprägung dieser Tendenz. Die Tendenz selbst gehört natürlich zu uns Menschen als ‚sozialen Tieren‘, deren Erfahren und Empfinden durch die Sprache geprägt wird, die wir nicht alleine erfinden oder gebrauchen können. Schließlich kommen wir als Menschen nicht so auf die Welt, dass wir sie anstarren und auf diese Weise lernen, was und wie sie ist und was wir in ihr tun können. Am Anfang wird uns immer gesagt, was die Welt ist. Das geschieht nicht nur mit Worten. Aber wir erfahren die Welt doch zunächst vor allem dadurch, dass uns andere Menschen durch ihre Reaktionen mithilfe von Mimik, Gestik und natürlich auch Worten zu verstehen geben, was die Welt ist und was wir in ihr tun können und sollen. Dass wir uns etwas von anderen sagen lassen müssen, gehört also ganz wesentlich in das menschliche Leben, und ohne diese Notwendigkeit gäbe es für uns überhaupt nicht die Welt, wie wir sie kennen. Diese Situation hat Jean Paul Sartre in einer zunächst negativ anmutenden Formulierung sehr zugespitzt und dramatisch zum Ausdruck gebracht. In seinem schon leicht angestaubten Theaterstück ‚Geschlossene Gesellschaft‘ äußert einer der Protagonisten die Auffassung: ‚Die Hölle, das sind die anderen.‘ Damit ist etwas ganz Einfaches gemeint. Natürlich will der Autor damit nicht behaupten, dass von anderen Menschen nur Unglück und Leiden kommen und es besser sei, alleine zu bleiben und sich in die eigene Traumwelt zu verkriechen. Gemeint ist ein Phänomen, das sicher im Ansatz schon jeder erlebt hat. Im Angesicht der Anderen werden wir zu Wesen, die sich von ihnen her sagen lassen müssen, was wir sind und was wir können oder dürfen. Unter dieser Perspektive wird unsere Freiheit bis zu einem gewissen Grad eingeschränkt oder sogar aufgehoben. Der andere Mensch sagt, wer oder was wir sind, und schon in diesem Augenblick sind wir nicht mehr vollständig frei, zu bestimmen, wer und was wir sind. Zumindest müssen wir uns mit dem auseinandersetzen, was andere sagen, wenn wir sie als Menschen in einer gemeinsamen Welt anerkennen. Sartre, der die Freiheit geradezu als das Wesen des Menschen auffasste, musste dort, wo die Freiheit an ihre Grenze gelangt, natürlich bereits den Anfang der Hölle sehen, auch wenn das eine für den literarischen Effekt übertriebene Formulierung ist. Richtig daran ist aber, dass die Bestimmung unseres eigenen Lebens von den anderen Menschen her prinzipiell immer dann geschieht, wenn wir überhaupt miteinander sprechen und mithilfe der Sprache gemeinsam handeln. So ganz jenseits unserer gewöhnlichen Beziehungen ist es also auch wieder nicht, wenn wir uns von anderen sagen lassen, was wir erleben sollen oder können. Aber das zwingt uns doch keineswegs dazu, mit der Allerdings müssen wir uns schon am Anfang des Lebens sagen lassen, was die Welt ist und was wir erleben, … … und unsere Freiheit ist deshalb immer eingeschränkt, wenn wir als Menschen unter Menschen leben wollen. <?page no="141"?> 141 Vorstellung ‚Glück‘ eine Perspektive einzunehmen, in der wir das wirkliche und individuelle Erleben ganz und gar in Richtung auf etwas viel zu Allgemeines verlassen. Innerhalb der Notwendigkeit, uns mit anderen Menschen zu verständigen und deshalb bis zu einem gewissen Grad auf unsere Individualität zu verzichten, gibt es einen weiten Spielraum. Wir müssen ihn nicht ohne Not einschränken. Mit dem Begriff ‚Glück‘ und seiner allzu allgemeinen Allgemeinheit bewegen wir uns in der Nähe des Extrems, an dem wir uns das eigene Erleben viel zu sehr und zu weitgehend vorschreiben und vorsagen lassen. Das ist gleichzeitig das Extrem, an dem wir sehr wenig vom eigenen wirklichen und individuellen Erleben übrig behalten. 6.4 Die Glücksperspektive macht es uns schwer, neu zu beginnen und anders zu werden Wir haben uns im letzten Kapitel mit dem Problem beschäftigt, dass wir stärker als nötig dazu neigen, uns das eigene Erleben vorschreiben zu lassen, wenn wir das Leben mithilfe der Vorstellung ‚Glück‘ bewerten und unser Streben daran orientieren. In den letzten drei Kapiteln ging es stets um die Andersheit, die uns in anderen Menschen begegnet, und darum, dass sich die Vorstellung ‚Glück‘ auch in dieser Perspektive als wenig bis überhaupt nicht nützlich erweist. Erfahrungen mit Andersheit machen wir aber nicht nur, wenn wir auf andere Menschen treffen, sondern auch dann, wenn wir selbst ‚anders‘ werden. Damit ist natürlich in erster Linie nicht die alltägliche Erfahrung gemeint, dass wir von einem Tag zum anderen nicht mehr ganz und vollständig dieselben sind, weil wir einige Haare verloren haben, neue Erfahrungen gemacht und sich die Verknüpfungen der Zellen in unserem Gehirn dadurch ein wenig verändert haben. Es muss sich aber auch nicht unbedingt um die ganz großen Veränderungen im Leben wie den Übergang von der Kindheit zur Jugend oder von da zum Erwachsenenalter handeln. Auch zwischen diesen Extremen des Wechsels im Leben werden wir immer wieder ‚anders‘ und bleiben über die Jahre nicht die gleichen. Ein Selbstverständnis unter der Vorstellung ‚Glück‘ wirkt sich auch auf dieses Anderswerden innerhalb des eigenen Lebens aus. Vor allem lässt die Einnahme der Glücksperspektive die Bedeutung des Werdens im Leben, in dem wir immer wieder anders werden, nicht unberührt. Wir haben schon gesehen, dass die im Begriff ‚Glück‘ enthaltene Vorstellung von Zeit auf der merkwürdigen Auffassung beruht, das Leben müsse von außen und meistens von sehr weit oben beurteilt und bewertet werden. Die Glücksperspektive schließt es weitgehend aus, die Zeit des Lebens ‚von innen‘ her aufzufassen, d. h. vom jeweils gelebten Augenblick des wirklichen Lebens. In dieser merkwürdigen Auffassung von der Ist der Glücksbegriff nützlich für das Anderswerden und das Sich-verändern innerhalb des Lebens? <?page no="142"?> 142 Zeitlichkeit des Lebens haben wir deshalb einen weiteren Aspekt der Schädlichkeit der Vorstellung ‚Glück‘ erkannt. Wenn wir in der Orientierung an dieser Vorstellung das Leben unter den Vorzeichen von Ganzheit, Erfüllung oder gar von seinem zeitlichen Abschluss her verstehen, so schätzen wir darüber hinaus allgemein und grundsätzlich das Werden gering ein. Wir halten uns statt dessen an Gedanken wie Vollendung und Erfüllung oder suchen nach einer abschließenden Beurteilung von außen, in der das Leben an ein Ende und zu einem Stillstand gekommen ist. Werden, Entwicklung und Veränderung erscheinen dann nur als eine vorübergehende Zutat und als etwas, das ‚eigentlich‘ auch unterbleiben könnte. Worauf es ankommt, das ist nach dieser Auffassung das Ganze, das wir von außen aus beurteilen und bewerten. Dass es in sich Werden, Entwicklung und Veränderung ist, das soll unter dieser Perspektive dann nicht mehr in den Blick kommen. Wenn wir mit der Vorstellung ‚Glück‘ das Werden gering schätzen, so missachten wir eine der wichtigsten Bedingungen des menschlichen Lebens und damit die Voraussetzung für alles, was wir darin Positives finden können. Mit dem Begriff des Glücks wird das Werden abgewertet und das Leben nicht mehr in seinem Verlauf, sondern nur von seiner Vollendung in einem Zustand außerhalb der Zeit her gesehen. Das schließt natürlich ein, dass alles, was in diesem Werden ist, vor dem Ende noch nicht richtig ‚wirklich‘ ist. Nach dieser Vorstellung kommt alles im Leben erst dann in den Zustand, in dem es eine Wahrheit hat, wenn das Werden aufgehört hat - wenn wir also mit der Zeit nicht mehr anders werden. Der kleine Fehler in dieser Auffassung ist nur, leider, dass mit dem Werden das Leben selbst aufhört. Damit zeigt sich wiederum sehr deutlich, dass wir aus der Perspektive der Glücksvorstellung eigentlich überhaupt keinen Zustand des Lebens anstreben, sondern etwas, was sehr dem Ende des Lebens gleicht. Der Mensch, dem dieses vom Werden und Anderswerden abgetrennte Glück zuteil wird, scheint mehr einem Gespenst zu gleichen als einem wirklichen Menschen. Alles, was er in seinem individuellen und konkreten Leben tut, kann unter der Perspektive des Glücks eigentlich schon deshalb nicht als wahre Wirklichkeit angesehen werden, weil es im Prozess des Werdens steht. Als ‚wirklich‘ kann etwas aus der Perspektive der Glücksvorstellung erst an seinem Ende aufgefasst werden. Von Glück soll nur in Bezug auf das ganze Leben die Rede sein können und nicht aus der Innenperspektive des werdenden Lebens in der Vielfalt des wirklichen Erlebens. Wenn das Leben mithilfe des Glücksbegriffes also eigentlich nur von außen beurteilt werden kann, Durch den Blick von außen und weit oben auf das ‚Ganze’ wird alles Werden gering geschätzt,… … und der Mensch, der so in den Blick kommt, gleicht deshalb sehr einem Gespenst. <?page no="143"?> 143 dann streben wir auf diese Weise das Geisterreich des Glücks an, aus dem alles Anderswerden und alle Veränderung gewichen ist. Die Vorstellung vom Glück ähnelt deshalb sehr einem Bild des Todes. Mit der Abwertung des Werdens ist in der Vorstellung ‚Glück‘ in der Regel auch verbunden, dass die Möglichkeiten von Veränderung und Neubeginnen gering geschätzt werden. Neubeginnen ist eigentlich im besonderen Maße ein Anderswerden. Aber die bilanzorientierte Auffassung von Glück und ihre spezielle Perspektive auf die Zeit des Lebens nötigt der Bewertung des Lebens eine Orientierung an einem Ganzen auf, in der die Freiheit des Neubeginnens verloren gehen muss. Wenn wir den Blick von außen und ganz weit oben auf das Leben einnehmen, der mit dem Begriff des Glücks in der Regel verbunden ist, dann bleibt das Vergangene stets auf eine besondere Weise in Rechnung. Dies zeigt sich besonders gut, wenn wir berücksichtigen, dass wir mithilfe des Glücksbegriffes das Leben unter der Perspektive des Blicks auf die ganze Zeit betrachten, so dass die einzelnen Zeiten nicht mehr richtig in den Blick geraten und wir etwa die Vergangenheit nicht als die vergangene und deshalb nicht mehr geltende Zeit auffassen und auf diese Weise auf sich beruhen lassen können. Wir sollten aber nicht vergessen, dass dies nur ein Ausschnitt der Perspektive ist, unter der wir durch die Vorstellung des Glücks dazu neigen, das Individuelle und Wirkliche zu übersteigen in Richtung auf eine fiktive Allgemeinheit und Ganzheit. Was damit ausgeschlossen wird, hat Bertolt Brecht so ausgedrückt: ‚Das Wasser, das du in den Wein gossest, kannst du nicht mehr herausschütten - aber neu beginnen kannst du mit dem letzten Atemzug.‘ Aus der von außen auf das Ganze gerichteten Perspektive des Glücksbegriffes kann niemand jemals glücklich heißen, der nach einer langen Periode des Unglück sein Leben aus eigener Kraft oder vielleicht auch mithilfe günstiger Umstände so ändern konnte, dass er nun Freude, Lust, Genuss und Vergnügen empfinden kann. Glücklich kann man ihn nach den Bilanzierungsregeln der Glückstheoretiker ja nur dann nennen, wenn das dann beginnende Glück der Quantität nach größer ist als das Unglück, das er zuvor erleiden musste. Wenn jene Veränderung also etwa erst in der zweiten Lebenshälfte eintritt, und der Quantität nach nicht in der Lage ist, das Unglück der ersten Hälfte auszugleichen, dann kann dieser bedauernswerte Mensch auf keinen Fall mehr glücklich genannt werden. Bedauernswert ist er allerdings nur dann, wenn er sich dem Diktat der Fanatiker der Vorstellung ‚Glück‘ unterstellt und sich nicht einfach an seinem neu gewonnenen Leben freut. Die unsinnige und schädliche Wirkung eines Selbstverständ- In diesem ‚Geisterreich des Glücks’ können die einzelnen Zeiten nicht wichtig sein, … … und die Freiheit des Neubeginnens und Anderswerdens wird ausgeschlossen. <?page no="144"?> 144 nisses unter dem Begriff des Glücks geht also auch darauf zurück, dass diese Idee, so wie sie sich in der Geschichte entwickelt hat und auf uns überkommen ist, eigentlich die Freiheit des Neubeginnens und Anderswerdens verbietet, weil sie die Glücksposition eines Lebens von außen her vorschreibt, so dass glücklich nur das ganze und bilanzierungsfähige Leben heißen kann. Wer sich so versteht, für den wird das Wasser vermutlich auf immer und ewig im Wein des Lebens bleiben. In dem gerade zitierten Satz von Bertolt Brecht war das dagegen völlig anders gemeint. Es ging nicht darum, dass die Bilanz durch die Vergangenheit verhagelt wird und nie mehr Glück erreicht werden kann. Das Zitat weist vielmehr ausdrücklich auf die Möglichkeit hin, auch noch im letzten Atemzug neu beginnen zu können. Der Hinweis auf das Wasser im Wein, das nicht mehr herausgeschüttet werden kann, ist vielmehr der Rat zum Realismus. Wer mit 40 Jahren erst die Freuden des Sports entdeckt, der wird nicht mehr Profifußballspieler werden können, und wer als Jugendlicher nicht Selbstvertrauen und einen unkomplizierten Umgang mit sehr verschiedenen Menschen gelernt hat, der wird mit 60 Jahren kaum noch zum Partylöwen mutieren (obwohl es Gegenbeispiele gibt). Gemeint ist also nicht das Wasser des Unglücks, das uns dazu zwingt, den Wein der Freude, der Lust, des Vergnügens und all den Spaß nur noch mit dem Bewusstsein zu genießen, dass man dabei ja doch nicht glücklich werden könne, weil sich Glück auf das ganze Leben bezieht und auf eine Bilanz, die vergangenes Unglück aufbewahrt für alle Zeiten. Gemeint ist das Wasser, das Grenzen für die künftigen Möglichkeiten vorgibt - nicht viel anders, als es die körperliche Konstitution, die erworbene Bildung und Ausbildung und die finanziellen Möglichkeiten auch tun. Der Freiheit des Neubeginnens und Anderswerdens tut das keinen Abbruch. Nur der Verzicht auf die Vorstellung ‚Glück‘ mit ihrer Orientierung an einem Ganzen und einer Sicht von außen bietet also den Ausweg aus der Sklaverei, in die wir mit diesem Begriff geraten können. Die Sklaven des Glücks müssen sich im Grunde stets sagen, sie könnten sowieso nicht mehr glücklich werden, wenn sie lange Perioden des Unglück kennen. Die Bilanz des Lebens können sie auch bei noch so großen Veränderungen nach dieser Auffassung nicht mehr ins Positive wenden. Das verhindert schon der Blick von außen auf das Ganze. In der vom Begriff des Glücks nahegelegten Außenperspektive kann sich nichts mehr prinzipiell ändern, wenn einmal eine negative Grundlage gelegt worden ist. Der Verzicht auf diesen merkwürdigen Begriff befreit dagegen von dieser Sklaverei und lässt Raum für Neuanfänge, ohne dass das Wasser den Wein verderben müsste. Allerdings bedeutet das nicht im strengen Sinne ein Nachholen dessen, was man nicht hatte. Nachholen ist bezogen auf Leben immer ein seltsamer Begriff und nur bis zu einem gewissen Grad überhaupt sinnvoll. Er ist Der Gedanke des Werdens und des Lebens in der Zeit dagegen kann uns aus der Sklaverei des Glücks befreien. <?page no="145"?> 145 eigentlich nur dann brauchbar, wenn man ihn richtig versteht. Einerseits gibt es bei genauerer Betrachtung nie ein Nachholen, sondern nur ein Neubeginnen. Das hängt einfach damit zusammen, dass man als Nachholender ein anderer geworden ist, für den das, was man gerne nachholen möchte, nicht mehr das ist, was es für denjenigen gewesen wäre, der es zu einem früheren Zeitpunkt in seinem Leben erlebt hätte. Wer als Kind keinen Teddybären hatte, der kann sich als Erwachsener natürlich einen kaufen und ihn ins Bett mitnehmen. Vielleicht hat er sogar Vergnügen dabei. Es wird aber nicht das sein, was das Kind erlebt hätte. Insofern handelt es sich nicht um ein Nachholen, sondern eigentlich um ein Neubeginnen, und wir sollten uns nicht scheuen, das zu akzeptieren. Dann können wir ebenso gut auf die Entschuldigung verzichten, die wir durch die Bezeichnung ‚Nachholen‘ in der Regel zu finden hoffen. Wenn wir aber nicht so genau sein wollen, dann gibt es natürlich Nachholprozesse im ganzen Leben. Nicht so genau sein heißt hier einfach, im konkreten Fall nicht zu beachten, dass wir eben nicht mehr dieselben sind, wenn wir uns später das holen, was wir früher nicht hatten. Man kann also durchaus sagen, dass jemand durch Motorradfahren mit 60 Jahren das nachholt, was er mit 20 Jahren nicht haben konnte - obwohl das Erleben des 60-Jährigen auf dem Bike natürlich nicht das ist, das der 20-Jährige gehabt hätte. Das hat nicht in erster Linie mit mangelnder Kraft oder Geschicklichkeit zu tun, sondern ganz einfach damit, dass der 60-Jährige durch seine Lebensgeschichte andere Erlebnismöglichkeiten hat, als sie dem 20-Jährigen zur Verfügung standen - was ein Mehr und ein Weniger bedeuten kann. Allerdings ist das auch kein bedeutenderer Unterschied als der zwischen dem einen und dem anderen 20-Jährigen, die zwei verschiedene Lebens- und Bildungsgeschichten hinter sich haben und deshalb auch verschieden erleben, was immer sie tun. Und vielleicht haben die meisten 60-Jährigen mit dem Bike mehr Spaß, als es 20-Jährigen je gelingen kann, was allerdings wiederum von der Lebensgeschichte abhängt und von den Möglichkeiten, die auf deren Grundlage gewonnen wurden. Wir können also auch in Bezug auf die ‚Andersheit‘, die wir in einem inneren Anderswerden in der Selbstveränderung erleben, nicht feststellen, dass sich der Glücksbegriff hier irgendwie nützlich machen würde. Wem es um das Wohlergehen im ganzen Leben geht, der sollte auch deshalb gerade nicht nach einem Ganzen streben, sondern nach den augenblickhaften und nur eine - kürzere oder längere - Zeit lang dauernden Zuständen, die durch die Bedeutung des Begriffs ‚Glück‘ gerade ausgeschlossen werden, also nach Lust, Freude, Vergnügen, Spaß oder auch nach momentanen Wir sollten dabei allerdings nicht Nachholen mit Neubeginnen verwechseln, … … obwohl die Innenperspektive der individuellen Zeit in gewissem Sinne auch ein Nachholen erlaubt. <?page no="146"?> 146 Glückserlebnissen, obwohl diese am schwersten anzustreben sind. Auf diese Weise wird er allerdings nicht bei einem ‚glücklichen Leben‘ und bei ‚dem Glück‘ ankommen. Wer das anstrebt, der wird mit großer Sicherheit nichts erreichen, was er wirklich möchte. Diese Vorstellung enthält viel zu viel von einer solchen Allgemeinheit, die nicht nur der Dynamik und der Veränderlichkeit des Lebens widerspricht, sondern auch den Bedingungen alles dessen, was uns wirklich Spaß, Vergnügen, Freude oder Lust bereitet. Unter der Perspektive des Glücks wird das Leben eben nur im Ganzen gesehen. Aber niemand erlebt das Ganze, sondern immer nur ein Werden in einzelnen Erlebnissen - in Minuten, Stunden, Tagen und Wochen. Dabei hilft uns die Glücksperspektive aber nicht wir erleben nicht das Ganze, sondern ein individuelles Werden. <?page no="147"?> 147 7. Warum wir im Streben nach Glück nach einem falschen Selbst suchen 7.1 Wir streben mit der Glücksvorstellung nach Selbstbestimmung, aber können wir wissen, was das ist? Im letzten Hauptkapitel ging es vor allem um jene Tendenz in der Vorstellung ‚Glück‘, die viele Menschen dazu verführt, sich sehr leicht von anderen Menschen vorsagen zu lassen, was sie erleben und wie sie ihr Leben führen sollen. Die Glücksperspektive enthält also wegen ihrer Orientierung am Ganzen und wegen ihrer Blickrichtung von außen und ganz weit oben eine Neigung zur Fremdbestimmung. Eine Ausrichtung des Lebens an der Vorstellung ‚Glück‘ bringt uns sehr leicht dazu, dass wir uns von anderen her bestimmen lassen und unser wirkliches und individuelles Erleben durch ein anderes Erleben ersetzen, das uns vorgesagt wurde. Diese Konsequenz aus der Orientierung am Begriff des Glücks widerspricht aber eigentlich einem wichtigen und zentralen Bedeutungselement in eben diesem Begriff. Wir haben weiter oben bei der Klärung der allgemeinen und wichtigsten Bedeutungsrichtungen des Begriffes ‚Glück‘ darauf hingewiesen, wie Kant ihn verstand. Dieses Verständnis schließt sich recht gut an die Vorstellungen der meisten Menschen an. Danach handelt es sich bei Glück um einen Zustand, in dem sich die Welt im Ganzen nach unserem Wunsch und Willen richtet. Die Welt ist darin so, wie wir wollen, m. a. W.: sie ist durch unser Selbst bestimmt. Ein Widerspruch zu der im letzten Hauptkapitel entwickelten Konsequenz aus der Vorstellung ‚Glück‘, derzufolge sie eine Tendenz zur Fremdbestimmung enthält, ergibt sich deshalb daraus, dass wir als Glück in der Regel einen Zustand bezeichnen, in dem wir uns vollendet selbst bestimmen können. Wir können uns darin in der ganzen Welt ‚verwirklichen‘, die uns keinen Widerstand mehr entgegensetzt und sich unseren Wünschen vollständig anbequemt. Erste Schwierigkeiten mit einer solchen Selbstbestimmung treten in der Regel dann auf, wenn nicht alle Menschen dasselbe wollen. Die Selbstbestimmung des einen ist dann für andere Menschen kein sehr angenehmer Zustand, denn wenn sich je meine Wünsche durchsetzen, dann werden sie mit großer Wahrscheinlichkeit irgendwo und irgendwann mit denen anderer Menschen zusammenstoßen, auch wenn das nicht sofort und unmittelbar sichtbar ist. Nicht jeder will ununterbrochenen Sonnenschein, und der Wohlstand des einen ist in einer Welt knapper Zum Begriff ‚Glück’ gehört Selbstbestimmung, aber wir haben bereits sehr viel Fremdbestimmung darin entdeckt. <?page no="148"?> 148 Güter in den meisten Fällen nur dadurch zu erreichen, dass der andere weniger bekommt. Aber darüber hinaus kann es unter bestimmten Umständen auch im eigenen Leben nicht so ganz angenehm sein, wenn alle unsere Wünsche erfüllt werden. Möglicherweise sind nicht alle miteinander vereinbar, und die Gewichtszunahme durch das viele Erdbeereis hindert uns an so manchen Vergnügungen. Wenn wir von solchen konkreten Problemen aber zunächst absehen, so können wir uns den Zustand des Glücks, wie er von den meisten Menschen aufgefasst wird, doch als die Erfüllung aller Wünsche und damit als eine vollendete Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung vorstellen. Wir können also auch sagen, dass darin unsere Persönlichkeit verwirklicht ist, der die Welt keinen Widerstand mehr entgegensetzt. Deshalb gehört zu den meisten Glücksvorstellungen auch ein Gefühl der Identität mit der Welt - wir fühlen uns eins mit ihr, weil wir in ihr vollkommen verwirklichen können, was wir sind. Goethe hat diese Vorstellung im ‚West-östlichen Divan‘ so zum Ausdruck gebracht: „Höchstes Glück der Erdenkinder / Sei nur die Persönlichkeit.“ Allerdings wird meistens vergessen, dass die Verse hier noch weitergehen und der Dichter Hatem darauf antwortet: „Kann wohl sein! so wird gemeinet; / Doch ich bin auf andrer Spur: / Alles Erdenglück vereinet / Find ich in Suleika nur.“ Hatem macht uns damit auf einen wichtigen Aspekt aufmerksam. In Wahrheit sehen nur wenige Menschen das Ziel ihres Lebens darin, so etwas wie ein Inneres, das sie als Persönlichkeit bezeichnen, in die Welt zu bringen und in ihr zu verwirklichen. In der Regel sind wir mit sehr viel konkreteren Zielen und Absichten beschäftigt - heiße das Ziel Suleika oder wie auch immer. Und in manchen Fällen ist es auch nur gut für alle Beteiligten, wenn Menschen gar nicht erst dazu kommen, alles zu verwirklichen, was in ihnen ist … . Aber solche Zweifel ändern nichts daran, dass Selbstbestimmung in einem ganz weiten Sinne sicherlich zum Begriff des Glücks gehört. Wir müssen uns deshalb fragen, ob sich dieser Begriff von dieser Seite her vielleicht als nützlicher und sinnvoller zeigt, als dies bisher der Fall war. Wir sollten allerdings nicht von vornherein ausschließen, dass dies möglicherweise gerade nicht der Fall ist. Vielleicht stellt es sich als überhaupt nicht nützlich und sogar als ein Problem heraus, wenn wir unter der Perspektive der Vorstellung ‚Glück‘ die Verwirklichung von so etwas wie unserem Selbst anstreben wollen. Wir müssen uns deshalb zunächst mit den Bedingungen Eine solche Selbstbestimmung können wir etwa als Verwirklichung des Selbst bzw. der Persönlichkeit auffassen, … … obwohl eine solche Verwirklichung nicht unbedingt zu unseren wirklichen Zielen gehören muss. Auf der Suche nach dem Nutzen des Begriffes ‚Glück’ stellt sich also die Frage was ‚Selbst verwirklichen’ heißen kann. <?page no="149"?> 149 dafür beschäftigen, sinnvoll von einem Selbst zu sprechen, so dass wir dann erkennen können, ob es Sinn machen kann, ein solches Selbst verwirklichen zu wollen. Dann können wir darüber entscheiden, ob ‚Glück‘ ein nützlicher und sinnvoller Begriff nach dieser Seite seiner Bedeutung ist, wo wir in seiner Verwirklichung einen Zustand vollkommener Selbstbestimmung finden möchten. Wenn wir Selbstbestimmung zum Thema machen, so sprechen wir von uns als einem ‚Selbst‘ bzw. wir sprechen uns ein ‚Selbst‘ zu. Damit gewinnt der Begriff der Identität Bedeutung für die Frage, ob die Vorstellung des Glücks nützlich, weniger nützlich oder vielleicht sogar schädlich ist. Wenn wir uns auf unsere Identität beziehen, so können wir eigentlich zweierlei behaupten. Zum einen sagen wir damit, dass wir uns von allen anderen unterscheiden. Ich bin nicht der andere, und das geht darauf zurück, dass ich meine Identität besitze und der andere die seine. Hier könnte man Identität auch gleich durch Selbst ersetzen. Zum anderen aber sprechen wir von einer Identität im Verlauf der Zeit, so dass ich derselbe bleibe, auch wenn die Zeit vergeht. Nach zehn Jahren hat sich zwar vieles an mir geändert, und die Schwerkraft hat vielleicht an meinen Körperformen schon etwas mehr von ihrem bösen Werk verrichtet und der Zahn der Zeit hat an mir genagt, aber dennoch sage ich doch, dass ich derselbe bin wie vor zehn Jahren. Daran ist schon zu erkennen, dass der Begriff der Identität doch nicht so ganz einfach anzuwenden ist. Er funktioniert nur, wenn nicht einfach alles gleich bleibt. Wir können ihn nur dann sinnvoll verwenden, wenn einiges gleich bleibt, obwohl sich anderes ändert. Wir müssen also unterscheiden können zwischen dem, was sich ändern darf, und dem, was gleich bleiben soll, wenn wir von Identität sprechen wollen. Das ist manchmal nicht so ganz einfach, obwohl es im Alltag keine allzu großen Schwierigkeiten verursacht. Etwa sprechen wir in der Regel von einem Identitätsverlust, wenn ein Mensch seine Erinnerungen verloren hat. Auf der anderen Seite sehen wir uns nicht in unserer Identität bedroht, wenn wir vieles vergessen, was uns irgendwann begegnet ist. Die Frage ist also, wie viele seiner Erinnerungen ein Mensch verloren haben muss bzw. behalten haben kann, um von einem Verlust seiner Identität oder einer Bewahrung der Identität sprechen zu können. Und was sollen wir sagen, wenn ein Mensch für alle, die ihn kennen, ganz unverändert wirkt, so dass sie ihn in seiner Identität auffassen, er selbst aber jeden Zusammenhang mit seiner Vergangenheit bewusst aufgeben will - vielleicht sogar aus gutem Grund? Auch der zuerst genannte Zug im Begriff der Identität ist nicht ganz so problemlos, wie er zunächst erscheint. Hier geht es darum, dass wir uns ‚Identität’ bedeutet, dass ich nicht der andere bin, und dass ich in der Zeit derselbe bleibe, … … und diese beiden Bedeutungen führen in unendliche Probleme, wenn wir genauer hinsehen. <?page no="150"?> 150 aufgrund unseres Selbstes von anderen unterscheiden wollen. Ich bin also nicht der andere, und der andere ist nicht ich. Auf der anderen Seite sind wir alle in vielen Hinsichten so, wie auch andere Menschen sind. Wie weit müssen wir uns also von anderen unterscheiden, und wie weit dürfen wir so sein wie alle - oder vielleicht wie die meisten - anderen, um immer noch eine Identität zu besitzen? Dass wir uns durch unseren Körper von anderen unterscheiden, sehen wir in der Regel nicht als ausreichend an, um von einer Identität zu sprechen. Auch ein Kind, das als Anencephalos geboren wird, das also ohne Großhirn lebt und nur durch die Stammhirnaktivität eine Zeit lang existieren kann, unterscheidet sich durch seinen Körper von allen anderen Kindern, aber wir sprechen ihm doch keine Identität zu. Dagegen schreiben wir einem Menschen, der stets und überall nur den Meinungen anderer Menschen folgt und niemals eigene Gedanken denkt oder eigene Ziele verfolgt, doch ein Selbst zu - auch wenn wir dieses Selbst vielleicht als schwach entwickelt bezeichnen werden. Darüber hinaus ist es sehr schwer, einem Menschen ein Selbst bzw. eine Identität zuzusprechen, der sich in allem von seinen Mitmenschen unterscheidet. Wenn jemand ganz anders zu sein behauptet, so kann er nicht mehr sagen, wie anders er ist. Das ist einfach eine Folge aus den Gesetzmäßigkeiten unserer Sprache. Wir können nichts voneinander unterscheiden, wenn wir nicht gleichzeitig auch Gemeinsamkeiten zwischen den Unterschiedenen feststellen. Das ist schon in der Alltagssprache ganz deutlich. Wir können in der Sprache eine Katze nicht von einem Hund unterscheiden, wenn wir nicht darauf Bezug nehmen, dass sie insofern identisch sind, als sie ‚Tiere‘ sind. So weit wenigstens müssen sie identisch sein, um sie als ‚Tiere, die bellen‘ und ‚Tiere, die miauen‘ voneinander unterscheiden zu können. Das gilt natürlich nicht nur für solche einfachen Unterscheidungen. Wir können auch den einen Menschen nicht vom anderen unterscheiden, wenn wir nicht zumindest beide als Menschen ansehen, sonst unterscheiden wir sie eben nicht ‚als Menschen‘ von einander, sondern z. B. vielleicht nur als zwei verschiedene Ansammlungen von bestimmten Molekülen. Ob es darüber hinaus noch einen Kern von Identität gibt, mit dem wir uns ohne Gemeinsamkeiten von anderen unterscheiden können, ist nicht ganz klar. Es hängt davon ab, ob wir Identität nur aus der Perspektive eines dritten Beobachters akzeptieren wollen, oder ob wir die Perspektive der ersten Person als Garantie für Identität ausreichend erachten. Wenn wir fordern, dass wir uns aus der Perspektive anderer Menschen von einander unterscheiden und im Verlauf der Zeit gleich bleiben müssen, so sind wir natürlich auf die Sprache angewiesen und können von einem Selbst nur sprechen, wenn wir es Wir können uns nur dann von anderen unterscheiden, wenn wir uns auch als identisch mit ihnen verstehen, … … und es ist fraglich, ob Identität von außen zugeschrieben oder von innen erlebt werden muss. <?page no="151"?> 151 als etwas Allgemeines auffassen, von dem mit allgemeinen Ausdrücken gesprochen werden kann. Wir können aber einem Menschen auch einen Bereich zuschreiben, in dem er ‚für sich‘ ist, ohne dass dieses Verhältnis zu sich selbst für andere übersetzbar sein muss. Dann gibt es Identität vor allem aus der Perspektive der ersten Person, d. h. von je mir aus - und nicht von ihm/ ihr aus. Eine solche Perspektive halten wir etwa für sinnvoll, wenn wir glauben, dass ein Mensch ganz allein über seine Gefühlszustände Bescheid weiß, auch wenn er sie anderen nicht beweisen kann. Wir glauben dann, dass ein Mensch nur selbst wissen kann, dass er Schmerzen hat, wenn er sagt ‚ich habe Schmerzen‘. Ein anderer Mensch darf ihm hier nicht widersprechen. Dies gilt auch dann, wenn von außen kein typisches Schmerzverhalten gefunden werden kann und auch keine der typischen physiologischen Schmerzreaktionen zu finden sind, wie sie von anderen Menschen beobachtet werden können. 7.2 Aus der Glücksperspektive vergessen wir, dass von einem Selbst nur in konkreten Situationen die Rede sein kann Wir haben zunächst gesehen, dass mit dem Gedanken der ‚Selbstbestimmung‘ oder ‚Selbstverwirklichung‘ einige Schwierigkeiten und Unklarheiten verbunden sind, die natürlich dann zu Problemen für den Begriff des Glücks führen, wenn wir diese Idee mithilfe jenes Gedankens einer Bestimmtheit der Welt durch ein ‚Selbst‘ verstehen wollen, wie es eine wichtige Traditionslinie in der Bedeutung dieses Begriffes fordert. Wenn wir nur schwer in einer ausreichenden Eindeutigkeit von ‚Selbst‘ sprechen können, so geraten wir offenbar in noch größere Schwierigkeiten mit dem Begriff ‚Glück‘, wenn wir für das Erreichen dieses Zustandes so etwas wie Selbstbestimmung fordern, als wir sie bis jetzt schon bei der Untersuchung dessen gefunden haben, was dieser Begriff mit sich bringt. Wir können aber einen einfacheren Weg finden, um die Frage nach der Nützlichkeit der Vorstellung ‚Glück‘ in Bezug auf die Bedeutung von Selbstbestimmung und damit von ‚Selbst‘ und ‚Identität‘ in diesem Begriff zu beantworten. Es gibt eine Methode, nach der Bedeutung und der Nützlichkeit eines Begriffes zu fragen, ohne ihn zu hoch zu hängen und ihm solche Bedeutungen aufzuladen, die bei seiner Verwendung eigentlich keine Rolle spielen. Die schwierigen Fragen in Zusammenhang mit Selbst und Identität können wir vermeiden, wenn wir darauf achten, was wir gewöhnlich mit solchen Begriffen tun, d. h. wie wir mit ihnen umgehen und wofür wir sie verwenden. Die Bedeutung solcher Begriffe erkennen wir also, wenn wir feststellen, in welchen Situationen wir uns gewöhnlich ein Selbst oder eine Identität Auch bei Begriffen wie ‚Selbst’ und ‚Identität’ sollten wir zunächst fragen, was wir in der Regel mit ihnen tun. <?page no="152"?> 152 zuschreiben. Dann stellt man rasch fest, dass es in der Regel dabei überhaupt nicht um einen quasi heiligen Gegenstand geht, den wir bei uns selbst anbeten oder um den wir einen Tanz wie um das heilige Kalb aufführen. Es geht ganz einfach um eine gewisse Form des Umgangs mit anderen Menschen. Was wir als Identität und als Selbst eines Menschen bezeichnen, wird im Grunde stets ‚pragmatisch‘ festgelegt, d. h. aus dem Zusammenhang mit etwas, was wir erreichen wollen. Um das zu sehen, sollten wir zunächst eine sehr verengte Sicht auf diesen Gedanken aufgeben, wonach Menschen in ihrem Wesen durch eine ein für allemal festgelegte Identität bestimmt werden. Wir neigen etwa dazu, solche Identitäten durch die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen anzugeben. Aber in Wahrheit sind wir nie ganz und gar das, was wir als Mitglied einer Gruppe, Schicht oder Klasse sind. Niemand ist nur Mann, Frau, Muslim, Christ, CDU-Wähler oder Verwaltungsangestellter. Eine solche Zuschreibung würde in ganz unzulässiger Weise die Freiheit der Menschen beschneiden, denen eine solche Identität zugesprochen wird. Dasselbe gilt aber auch dann, wenn wir uns solche Identitäten selbst zuschreiben und von anderen Menschen verlangen, sie möchten uns gemäß diesem Selbst verstehen und behandeln - wie jener Mensch, der im Restaurant erklärt ‚ich bin ein Promi, für mich muss ein Tisch frei sein‘. In diesem Fall versuchen wir auch die Freiheit anderer Menschen zu beschränken, die uns nur noch so auffassen sollen, wie das unseren eigenen Vorstellungen von uns entspricht. Wir wollen unser Selbst anerkannt wissen, indem wir anderen zumuten, uns unter bestimmten Begriffen auffassen zu müssen. Sie sollen also nicht mehr die Freiheit besitzen, uns unter verschiedenen Begriffen verstehen zu können, die sie selbst wählen. In der Regel gelingt uns das nur sehr begrenzt. Aber wir beschränken damit im Grunde auch unsere eigene Freiheit. Wir geben viele Möglichkeiten auf, wie wir uns selbst verstehen könnten. Damit beschränken wir den Spielraum dessen, was wir eigentlich sein könnten, und tauschen dafür eine starre Vorstellung von Identität und Selbst ein. In gewisser Weise ist es ein Vorteil, dass uns dies in der Regel nur sehr beschränkt gelingt. Meistens sind andere Menschen nicht sehr leicht bereit, unseren eigenen Vorstellungen von Identität zu folgen, und setzen ihre eigenen Begriffe von dem, was oder wer wir sind, sehr nachdrücklich dagegen. Wer seine Identität unbedingt mit ‚Kaiser von China‘ zum Ausdruck bringen will, wird vermutlich bald mit der Zuschreibung einer ganz anderen Identität konfrontiert werden, die etwa lauten könnte ‚Patient der psychiatrischen Universitätsklinik xy‘. Aber auch in harmloseren Fällen können Es geht nicht um das ‚Wesen’ des Menschen, und wir sollten die Freiheit nicht durch zu viele Identitäten beschneiden. Glücklicherweise sorgen die anderen Menschen dafür, dass sich die Verwirklichung unserer ‚Selbste’ in Grenzen hält. <?page no="153"?> 153 wir nicht sicher sein, dass es zu einer solchen Selbstbestimmung kommen wird, in der unsere gewünschten Vorstellungen von einem Selbst und die wirklichen Vorstellungen anderer Menschen von dem, was wir sind, vollständig übereinstimmen. Wir sollten darin nicht den Fluch eines widrigen Schicksals sehen. Vielleicht handelt es sich ja um eine weise Fügung. Wir könnten daraus etwa lernen, dass wir eine Identitätsfeststellung niemals unreflektiert und bloß aus ideologischen Gründen durchführen sollten. Dies lässt sich etwa im politischen Bereich sehr gut erkennen. Es wird heute sehr oft von der islamischen Kultur gesprochen und es werden einzelne Menschen unter dem entsprechenden Begriff verstanden. Dann sind sie ‚Muslime‘ oder ‚Migranten‘, oder es sind ‚Türkischstämmige‘ oder ‚Arabischstämmige‘. Wenn wir hier von Identität sprechen, dann ist das nicht so vollkommen anders, als wollte man z. B. meine Identität dadurch bestimmen, dass man mich als blonden, blauäugigen und großnasigen Bayern definiert. Das sind zwar alles richtige Beschreibungen, denn ich stamme aus Bayern, bin blond und habe blaue Augen und eine große Nase. Aber ich bin keinesfalls bereit, meine Identität dadurch bestimmen zu lassen. Auch der hartnäckigste Bayer ist eben nie nur Bayer, so wie der Muslim nie nur Muslim ist, sondern z. B. auch Ehemann, Steuerzahler, Vater, Patient, Anwalt oder was auch immer. Im Prinzip kommen aber alle solche sogenannten Identitäten nicht näher an einen angeblich fixen ‚Kern‘ der Identität heran, wie dies für Eigenschaften wie ‚blond‘ oder ‚blauäugig‘ gilt. Das wird deutlicher, wenn wir uns fragen, wann sogenannte Identitätsprobleme überhaupt auftreten, also Probleme, die wir lösen, indem wir klären, ‚wer wir sind‘. Das geschieht immer dann, wenn wir gefragt werden, wer wir sind. Eine solche Frage können wir auch im Selbstgespräch stellen und uns selbst darauf hin untersuchen, wer wir sind. Wir machen allerdings gerade in solchen Zuständen der Selbstbesinnung oft den Fehler, diese Frage falsch zu stellen. Wir fragen dann, wer wir denn ‚eigentlich‘ sind. Diese Frage ist einfach unsinnig. Sie ist unsinnig, weil sie nicht dem Gebrauch von Fragen von der Struktur ‚Wer bist du? ‘ entspricht. Sie ist aber auch unsinnig, weil sie zu einer Suche nach einem Selbstverständnis führt, das es nicht gibt, sondern das wir nur durch ein Missverständnis solcher Fragen suchen zu müssen glauben. Sie führt deshalb in unlösbare Fragen, die durch ihre Struktur keine Antworten erlauben und uns so nur in Probleme führen, die wir nicht haben müssen. Die Frage nach dem Selbst oder nach der Identität wird auf diese Weise zu einer der Fragen, mit denen wir uns völlig ohne Grund quälen. Zu untersuchen, warum wir uns selbst solche Probleme machen, wäre in der Tat ein Wir können daraus lernen, dass es kein Selbst gibt, sondern nur ‚Selbste’, die durchaus wechseln können. Das hängt davon ab, in welchen Situationen wir gefragt werden, wer wir sind, … <?page no="154"?> 154 interessantes Thema. Wir suchen manchmal fast zwanghaft nach einem Selbst, das es als eine fixe und unveränderliche Identität in unserem Inneren nicht geben kann. Vermutlich führt uns hier einfach eine lange Tradition in die Irre. Fragen danach, wer wir sind, werden nichtsdestoweniger oft gestellt, und in vielen Fällen müssen wir Antworten auf sie haben. Bei einer Polizeikontrolle etwa kann man in erhebliche Probleme kommen, wenn man eine solche Frage nicht beantworten will. Aber die Frage ist in solchen Zusammenhängen glücklicherweise so einfach und deutlich gestellt, dass die Art der Antwort und die normale Reaktion festgelegt sind. In der Regel muss überhaupt keine Antwort gegeben werden, sondern es genügt das Vorzeigen des Personalausweises oder des Führerscheins. Wird jemand dagegen am Arbeitsplatz von einem Unbekannten gefragt, wer er sei, so wird er auch dort nicht sein ‚eigentliches‘ Selbst enthüllen, sondern in diesem Fall wird er seine Funktion innerhalb der Firma angeben, wie sie durch eine Dienstbezeichnung oder seine Tätigkeit vorgegeben ist. Der gleiche Mensch wird in anderen Zusammenhängen aber ganz anders antworten. Es ist jedoch keine wirklich in der Lebenswelt von Menschen vorkommende Situation denkbar, in der wir danach gefragt werden, wer wir denn ‚eigentlich‘ sind, wenn damit gemeint ist, wer wir denn im Wesen und im innersten Kern sind. Zwar sind solche Fragen möglich, aber sie werden nicht in Handlungszusammenhängen gestellt und nicht von Menschen, mit denen wir auf eine natürliche Weise umgehen, sondern von Menschen, die eine ganz ungewöhnliche Ideologie verfolgen, nämlich die Ideologie des Selbst. Als natürlich sollten wir solche Fragen also auf keinen Fall auffassen. Wir können daraus ersehen, dass von Identität nie ganz allgemein und losgelöst von dem die Rede ist, was wir in der Welt tun und lassen wollen, sondern stets auf eine spezielle Weise und innerhalb von bestimmten Zusammenhängen, in denen wir oder andere Menschen irgendeinen Zweck verfolgen. Die Antworten auf Fragen vom Typ ‚Wer sind Sie? ‘ können deshalb so vielfältig sein wie die entsprechenden Lebenssituationen. In keinem Fall werden wir nur durch einzelne Begriffe festgelegt - außer bezogen auf bestimmte Zwecke. Die Festlegung auf eine Identität von der Art, wie sie im Personalausweis bzw. Reisepass steht, dient den Ordnungsbedürfnissen des Staates, der eine gewisse Kontrolle über den Bürger benötigt, wenn er die Freiheit dadurch sichern will, dass er bestimmte Handlungen einschränkt, die anderen schaden könnten. Etwa sollten nur Menschen ein Auto lenken, die das wenigstens einigermaßen gelernt haben. Das wird durch die Identitätszuschreibung ‚Führerscheinbesitzer‘ nachgewiesen. Also kann die Polizei bei einem Auto- … und die Antworten darauf können je nach Situation sehr verschieden sein. Identität ist also ein Begriff, der nur im Zusammenhang von Zwecken Sinn hat, die sehr verschieden sein können. <?page no="155"?> 155 fahrer klären, ob diese Person in diese Klasse gehört, d. h. ob sie ihre Identität durch ein Dokument nachweisen kann, in dem vermerkt ist, dass eine Fahrprüfung abgelegt wurde. Solche Identitäten geben wir uns auch, indem wir sie uns selbst zuschreiben, was unter der Perspektive bestimmter Zwecke durchaus sinnvoll sein kann. Wir sollten nur nicht den Fehler machen zu glauben, unabhängig von solchen Zwecken könnten wir auf diese Weise bestimmen, wer wir ‚eigentlich‘ sind. Wer einer bedeutenden süddeutschen Kulturnation angehört, der wird sich gerne als Bayer bezeichnen, aber er wird dies nicht dann tun, wenn der Immigration Officer in New York frägt, aus welchem Land er denn komme. In diesem Fall wird sich sogar der überzeugteste Bayer, der eigentlich am liebsten seinen König Ludwig wieder haben und vom Schloss Neuschwanstein aus regiert werden möchte, als Deutscher bezeichnen. Findet er aber auf einem der vielen Oktoberfeste in den USA ein Schild, auf dem freier Zutritt für Münchner geboten wird, so wird er sich nicht als Deutscher, sondern als Münchner bezeichnen, wenn er denn in dieser schönen Stadt geboren wurde. Warum? Weil er so grenzenlos stolz darauf ist, Münchner zu sein, oder weil er darin sein ‚eigentliches‘ Wesen sieht? Wahrscheinlich nicht, obwohl es das geben kann. Vermutlich aber will er ganz einfach Geld sparen und bezeichnet sich deshalb in gerade dieser Situation als Münchner, was er in der Situation beim Immigration Officer keineswegs tun wollte, wo er sich nicht einmal ‚Bayer‘ genannt hat. Das haben wir am Anfang dieses Kapitels so ausgedrückt, dass Identitätsbestimmungen stets ‚pragmatisch‘ geschehen, d. h. in Abhängigkeit von einem bestimmten Zweck, der damit erreicht werden soll. Wir müssen diese pragmatische Herkunft jeder Identitätsangabe und -bestimmung durchaus nicht auf solche Identitäten wie Bayer, Münchner oder vielleicht sogar ‚Großnase‘ eingeschränkt verstehen. Hier ist es unmittelbar deutlich, dass sich niemand durch eine solche Beschreibung vollständig verstanden wissen will. Es handelt sich ganz offensichtlich um Identitäten, die vorübergehend und in Abhängigkeit von einer bestimmten Situation angenommen werden. Aber dasselbe gilt im Grunde für jede Identitätszuschreibung. Eine sehr allgemeine Identität ist etwa die Geschlechtszuordnung. Die Unterscheidung Mann/ Frau gehört sicher zu den fundamentalsten Unterscheidungen zwischen Menschen, und auch heute noch bestimmt sie das Lebensschicksal eines Menschen in einem bedeutenden Ausmaß. Aber wir wissen, dass die Bedeutung dieser Identität für die Unterscheidung zwischen Lebensmöglichkeiten abnimmt. Noch vor wenigen Jahrzehnten hätte die Identität ‚Frau‘ ausgeschlossen, dass man in einer Armee kämpfen lernt oder gar Fußball spielt oder im Vorstand eines Unternehmens sitzt. Heute sind wir glücklicherweise nicht mehr in dieser Lage, aber die Identitätszuschreibung durch die Unterscheidung Mann/ Frau wird immer Unsere Identitäten bestimmen wir also immer ‚pragmatisch’, d.h. bezogen auf bestimmte Zwecke, … <?page no="156"?> 156 noch als sehr bedeutend angesehen. Dies ist übrigens auch da der Fall, wo man sich über solche Identitäten lustig macht. Niemand wird bestreiten, dass diese Unterscheidung wichtig ist für das Leben des einzelnen Menschen. Wir müssen hier nicht die Frage untersuchen, ob es sich dabei um eine von der Natur selbst gemachte Unterscheidung handelt, oder ob sie in einer bestimmten Kultur in frühester Kindheit durch die Erziehung und das Einüben in diese Kultur hergestellt wird. In beiden Fällen wird man darin übereinstimmen, dass hier eine besonders wichtige Identitätszuschreibung vorliegt, deren Bedeutung über die von Identitäten wie Bayer, Blauäugiger oder Großnase weit hinausgeht. Aber wie in diesen Fällen, so liegt auch hier eine Frechheit darin, einen Menschen nur als Mann oder nur als Frau zu verstehen. Wer daran zweifelt, der braucht sich - ob Mann oder Frau - nur Erfahrungen in Erinnerung zu rufen, in denen man genau dieses Gefühl hatte. Auch eine sehr allgemeine und auch wichtige Identität wie die Geschlechtsidentität, die eine sehr häufig gebrauchte Antwort auf die Frage ‚Wer bin ich? ‘ darstellt, reicht also keineswegs aus, um diese Frage erschöpfend zu beantworten und auf diese Weise ein Selbst zu bestimmen. Sie reicht auch in keinem Fall aus, um anzugeben, wer je ich denn ‚eigentlich‘ bin. Wir sind in der Regel keineswegs gewillt, uns als ein Abstraktum ansehen zu lassen, und ‚Mann‘ ist grundsätzlich ebenso ein Abstraktum wie ‚Großnase‘. Frauen wissen in der Regel sehr gut, was es heißt, nur als Frau begehrt zu werden. Aber auch viele Männer sind mit diesem Gefühl vertraut und sind nicht glücklich darüber (aber manchmal doch …). Deshalb ist es nur schwer verständlich, warum lange Zeit Ausdrücke wie ‚Frau-sein‘ mit so bedeutungsschwangerem Nachdruck benutzt wurden. Darüber hinaus verleitet uns der öffentliche Diskurs immer wieder dazu, solche Identitäten zu überschätzen. Kein Muslim ist durch die Identität ‚Muslim‘ ausreichend definiert, ebenso wie kein Migrant nur Migrant ist - aber die Orientierung der Probleme mit der Integration von Migranten an solchen Identitätsfeststellungen behindert deren Lösung auf ganz fundamentale Weise. Wir sollten uns auch nicht von dem Missverständnis leiten lassen, dass Identitäten ein harmonisches System von konzentrischen Kreisen ausmachen würden. Nach dieser Vorstellung würde etwa der weiteste Kreis die Identität als Mensch darstellen und der nächste die Identität als Mann oder Frau, während ein schon engerer Kreis die Identität als Deutscher, Franzose oder Chinese angibt, und in noch wesentlich engeren Kreisen dann Identitäten von der Art Großnase und Blauäugiger möglich sein würden. Ein solch harmonisches System gibt es nicht. Was es gibt, sind zweckorientierte Identitäten, die wir in bestimmten Situationen annehmen und in anderen Situationen nicht. Es gibt also Fragesituationen, in denen wir bestimmte Antworten auf Fragen vom Typ ‚Wer sind Sie? ‘ geben. In der Regel wissen wir durch die Situation ganz genau, welche Antworten wir in ihr auf diese Frage geben können … und das gilt auch für solche Identitäten, die wir gerne als ‚wesentlich’ ansehen. <?page no="157"?> 157 und dürfen. Eine solche Frage wird eben nie ganz beliebig und mit einer vollständig offenen Antwort gestellt. Es verhält sich mit den Fragen ‚Wer sind Sie? ‘ oder ‚Wer bin ich? ‘ im Grunde ganz genau so wie mit allen Fragen. Jede Frage umgrenzt einen Horizont möglicher Antworten, indem sie nur Antworten einer bestimmten Art als sinnvoll und als angemessen gelten lässt. Auf die Frage ‚Brauchen wir den Euro? ‘ lässt sich nur schwer antworten mit ‚Heute wird es regnen.‘ Was ergibt sich daraus für die Nützlichkeit des Begriffes ‚Glück‘, der aus seiner Geschichte neben vielen anderen Bedeutungselementen auch die Orientierung an einer ‚Selbstbestimmung‘ mit sich herumschleppt, wie sich dies schon aus der darin gemeinten Übereinstimmung der Welt mit unseren Wünschen ergibt? Dieser Begriff wird mit Sicherheit nicht nützlich sein, wenn wir bei seinem Gebrauch die darin implizierten Ideen von ‚Selbst‘ und ‚Identität‘ falsch verstehen. Das ist dann der Fall, wenn wir damit unser ‚Wesen‘ zum Ausdruck gebracht glauben. Es ist auch der Fall, wenn wir glauben, auf Fragen vom Typ ‚Wer sind Sie? ‘ oder ‚Wer bin ich? ‘ könnten Antworten gefunden werden, wer ich denn ‚eigentlich‘ bin. Begriffe wie Identität und die Frage nach einem Selbst sind sinnvoll nur in einem grundsätzlich pragmatischen Zusammenhang, also in der Orientierung an einem Zweck. Solche Zwecke können sehr verschieden sein. Man kann seine Identität als ‚Großnase‘ angeben, wenn ein bestimmter Zweck das sinnvoll macht, ebenso wie man auf die entsprechende Frage mit der Identität ‚Deutscher‘ antworten kann, wenn es um andere Zwecke geht. Man kann sich natürlich auch als ‚Mann‘ oder ‚Frau‘ bestimmen, wenn eine Situation es erfordert. Alle diese Bestimmungen sind aber so, dass wir sie nicht in jeder Situation und ohne einen bestimmten Zweck vornehmen. Deshalb sind die Vorstellungen von Selbst und Selbstbestimmung, die wir bei der Orientierung an der Idee ‚Glück‘ verwenden, falsch - vor allem deshalb, weil sie viel zu allgemein sind. Auch deshalb kann der Begriff ‚Glück‘ nicht nützlich sein. Diese Frage sollten wir jetzt etwas näher untersuchen. 7.3 Im Streben nach Glück halten wir uns an falsche und zu allgemeine Vorstellungen von Selbstbestimmung Es scheint, dass die Vorstellung ‚Glück‘ in einer ihrer zentralen Bedeutungen etwas voraussetzt, was eigentlich nur Sinn hat, wenn wir es ganz anders verstehen als so, wie es darin vorausgesetzt wird. Wenn von einem Selbst nur in einem ‚pragmatischen‘ Sinn die Rede sein kann, dann wird es schwierig, ohne weiteres von Glück als einem Zustand zu sprechen, in dem die Welt mit unserem Selbst in Übereinstimmung ist. Dies würde offenbar eine Vorstellung von einem festen und in uns als unser ‚Wesen‘ vorhande- Wenn der Glücksbegriff Selbstbestimmung fordert, so sollten wir Selbst und Identität nicht falsch verwenden. <?page no="158"?> 158 nem Selbst voraussetzen - obwohl von einem Selbst doch nur abhängig von Situationen, konkreten Fragen und mit ihnen verbundenen Zwecken die Rede sein kann. Mit dem Begriff ‚Glück‘ folgen wir also einer falschen Vorstellung von Selbst und Identität und damit von Selbstbestimmung. Diese Vorstellung folgt selbst dem Mu s ter, das wir im Begriff des Glücks immer wieder und unter verschiedenen Perspektiven finden können, also dem Muster des Übersteigens des Wirklichen und Individuellen in Richtung auf etwas allzu Allgemeines und allzu Ganzes. Dieses Muster zeigt sich schon, wenn wir uns die Frage nach der Realisierbarkeit der Vorstellung von einer im Glück enthaltenen Selbstbestimmung stellen. In der Wirklichkeit gibt es immer nur vorübergehend Gefühle einer Übereinstimmung der Welt mit unserem Wünschen und Wollen. Mit der Vorstellung ‚Glück‘ dagegen richten wir uns gegen die Realität an der Möglichkeit einer Dauer und einer umfassenden Verwirklichung einer solchen Übereinstimmung aus. Natürlich haben wir alle es sehr gerne, wenn die Welt so ist, wie es unserem Wünschen und Wollen entspricht. Es kann auch Freude, Spaß, Vergnügen oder sogar Lust bereiten, wenn wir die Welt so erleben. Aber es ist eine andere Frage, ob die Vorstellung ‚Glück‘ wirklich nützlich ist, wenn sie eine solche Übereinstimmung im Ganzen und auf Dauer fordert. Was es in Wahrheit gibt, sind sporadische und vorübergehende Erlebnisse, in denen wir einen solchen Zustand erfahren, die wir durchaus als ‚Glückserlebnisse‘ bezeichnen können - aber nicht als Realisierungen von etwas, das ‚das Glück‘ heißen soll. Wir erleben sie eigentlich auch nur, weil sie von anderen Erfahrungen unterbrochen werden, die ihnen durch den Kontrast erst ihren Wert verleihen. Man könnte versuchen, diesen Problemen dadurch zu entgehen, dass man von Selbstbestimmung nur im Sinne von Selbstdarstellung oder auch Selbstinszenierung spricht. Dazu müsste man den Glücksbegriff allerdings so radikal modifizieren, dass Glück nur noch als eine Situation der geglückten Selbstdarstellung aufgefasst wird. Selbstdarstellung kann manchen Menschen zwar Spaß machen, aber wir finden darin sicher nicht die Übereinstimmung der Welt mit unserem Wünschen und Wollen, die der traditionelle Gehalt des Glücksbegriffes fordert. Darüber hinaus entgeht auch die Vorstellung von einer Selbstdarstellung nicht dem schon angesprochenen Problem, dass wir als ‚Selbst‘ nicht einfach so etwas wie einen ‚Gegenstand‘ in unserem Inneren nach außen und in die Wirklichkeit bringen können. Es würde uns aber auch nichts helfen, mit der Idee ‚Glück‘ statt einer Selbstdarstellung bzw. Selbstinszenierung noch allgemeiner nur ein Sichausdrücken in der Welt zu verlangen. Wir können uns auch nicht selbst Kann Selbstbestimmung zum Begriff Glück gehören, wenn von einem Selbst nur ‚pragmatisch’ die Rede sein kann? Falsch ist zunächst, dass der Begriff Glück eine Übereinstimmung der Welt mit uns auf Dauer und im Ganzen fordert. <?page no="159"?> 159 ausdrücken, ohne dass darin etwas ganz anderes ausgedrückt wird, als wir in unserem Inneren wähnten. Wer sich ausdrückt oder sich darstellt, der stellt sich jemandem dar oder drückt sich gegenüber jemandem aus. Das kann natürlich auch eine Gruppe von Menschen sein. Es kann vielleicht sogar eine Menschengruppe sein, die es überhaupt nicht gibt und die nur in der Vorstellung existiert. Aber auch dann stellt man sich doch jemandem gegenüber dar oder drückt sich selbst gegenüber jemandem aus. Dieser Jemand ist aber keine leere Stelle - er ist nicht Nichts. Als Adressat bestimmt er das mit, was und wie wir ausdrücken oder darstellen. Im Grunde haben wir hier die gleiche Situation wie immer dann, wenn wir anderen etwas sagen wollen. Was wir sagen können, hängt stets auch von den Menschen ab, denen wir es sagen wollen, denn schließlich sollen sie es verstehen. Wir können hier nicht behaupten, dass wir dasselbe nur verschieden ausdrücken würden. Wenn wir genau sind, dann sagen wir jeweils etwas anderes, wenn wir uns verschiedenen Menschen gegenüber deutlich machen müssen. Es ist nicht dasselbe, wenn wir die Grundlagen der Quantenphysik in einem Zeitungsartikel ‚anschaulich‘ oder in einem Fachbuch exakt mit mathematischen Ableitungen darstellen. Ebenso wird im Versuch, sich auszudrücken, ebenso die Situation ausgedrückt, in der man sich gegenüber jemandem Bestimmten darstellen will. Etwa sprechen Teenager mit Gleichaltrigen über die gleichen Themen sehr anders als mit ihren Eltern. Jene Vorstellung von einem festen Selbst irgendwo im Inneren verschwindet also im Versuch, sich an die Adressaten der Selbstdarstellung anzupassen, um überhaupt zu einer Darstellung zu kommen. Darüber hinaus müssen wir auch berücksichtigen, dass unsere Vorstellungen darüber, was zu unserem Selbst gehören soll, nicht einfach vom Himmel gefallen sind. Sie sind in jedem Menschen in einem langen Prozess entstanden, der im Grunde mit der ganzen Lebensgeschichte identisch ist, die stets auch eine Bildungsgeschichte ist. Dabei ist es gleichgültig, welches formale Bildungsniveau man erreicht hat. Was man denkt und sich vorstellt, was man sich wünscht und erhofft, ist in diesem Prozess entstanden, an dem viele Menschen beteiligt waren und nicht nur je ‚ich selbst‘ - in diesem Sinne sind wir alle Plagiateure, nur sind die einen geschickter als die anderen. Deshalb ist der Wunsch, sich selbst auszudrücken und sich selbst darzustellen, auch immer der Wunsch, etwas auszudrücken und darzustellen, was zunächst überhaupt nicht in uns vorhanden war. Es gibt kein Selbst in dem Sinne, dass es immer schon in uns gewesen wäre und dort nur darauf wartete, in die Welt zu kommen. In einer Selbstdarstellung geht es vielmehr um den Wunsch, etwas auszudrücken und darzustellen, was wir Es ändert nichts, wenn wir Selbstbestimmung als Selbstdarstellung auffassen - sie bleibt von der Situation abhängig. Das Selbst ist auch nicht einfach im Inneren gewachsen, sondern wurde in einer Bildungsgeschichte erworben, … <?page no="160"?> 160 erworben und gelernt haben. Wie weit darin ein Stück Individualität vorhanden ist, kann sehr verschieden sein. Das hängt in erster Linie davon ab, in welcher Weise wir uns das Erworbene angeeignet und anverwandelt haben. Auf jeden Fall handelt es sich aber nicht einfach um etwas nur und ganz Eigenes, das nur in uns ist und durch uns selbst dorthin gekommen ist. Das, was wir als Selbst bezeichnen können, ist also nicht im tiefen Inneren versteckt, wo wir es nur auffinden und hervorholen müssten. In Wahrheit ist es schon immer draußen in der Welt. Das ergibt sich wiederum schon daraus, dass von Selbst immer nur in dem genannten ‚pragmatischen‘ Sinn die Rede sein kann, also in Zusammenhang mit Zwecken und Handlungen in der Welt. Wir müssen mit der Frage, wer wir denn sind, konfrontiert werden, damit wir überhaupt zu der Vorstellung von einem Selbst kommen. Diese Frage können wir uns natürlich auch selbst stellen. Aber auch in diesem Fall sind Frage und Antwort von der Situation geprägt, in der es zu einem solchen Problem gekommen ist. Prinzipiell wird dadurch nichts anderes getan als in der Reaktion auf den Verkehrspolizisten, der von jemandem wissen will, wer er ist, und durch die Umstände die Antwort schon so weit vorgibt, dass wir sie leicht mithilfe des Führerscheins geben können, statt lange Erklärungen vorbringen zu müssen. Wenn wir sinnvoll von Selbst und Identität sprechen wollen, so müssen wir uns stets auf Situationen und damit auf andere Menschen beziehen, die uns in solche Situationen stellen. Das kann der Fall sein, wenn wir mit der Frage, wer wir denn sind, konfrontiert werden, und eine Antwort geben müssen, die der gegebenen Situation entspricht, ohne dass wir darin so etwas wie ein Selbst im Sinne eines irgendwo in uns vorhandenen ‚Wesens‘ zu bekunden verpflichtet sind. Durch den inneren Bezug auf andere Menschen ist deshalb eigentlich jeder Versuch, sich selbst zu ‚verwirklichen‘, immer schon eine Art von Selbstinszenierung. Das gilt auch für die Selbstbestimmung, die wir im Begriff des Glücks so unbeweglich und starr auffassen. Dies ist schon deshalb der Fall, weil das Selbst, das wir zu verwirklichen suchen, nicht einfach in unserem Inneren gewachsen ist, sondern durch viele Zuschreibungen durch andere Menschen gebildet wurde. Wir inszenieren uns für andere, wenn wir uns selbst zu verwirklichen suchen, weil das Selbst immer schon eine Sicht auf uns selbst von anderen Personen her und damit von außen darstellt. Das ist nichts Schlechtes oder auf irgendeine Weise ein Mangel. Genau so entsteht das, was wir überhaupt als Selbst und als Identität bezeichnen können. Es macht aber einen Unterschied, ob wir das, was in dieser von uns selbst übernommenen Sicht von außen auf uns entstanden ist, so ernst nehmen, dass wir verstockt und verkrampft versuchen, es zu verwirklichen, oder ob wir es als etwas Bewegliches und nicht ein für allemal unverrückbar Feststehendes auffassen, mit dem wir spielen und an dem wir unse- … weshalb das Selbst immer schon draußen in der Welt ist und nicht ein Inneres zum Ausdruck bringt. <?page no="161"?> 161 re Kreativität austoben können. Das bedeutet gerade nicht, dass wir die erworbenen Identitäten aufgeben müssten und uns auf den langen Marsch zu einem neuen Selbst begeben sollten. Damit würden wir genau wieder dasselbe tun wie zuvor, nur dass es nun andere Identitäten sind, die wir aber auf die gleiche Weise auffassen und von denen wir uns ebenso bestimmen und festlegen lassen. Natürlich kann es vorkommen, dass die überkommenen Vorstellungen von einem Selbst wenig hilfreich oder sogar schädlich sind, so dass es besser ist, sich nach neuen umzusehen. In den meisten Fällen bringt der vollständige und radikale Wechsel einer Identität aber mehr Probleme als Lösungen. Meistens folgt ein solcher Versuch dem gleichen Muster einer Ideologie des Selbst, derzufolge wir in unserem Innersten so etwas wie einen ein für allemal bestimmten Gegenstand vorfinden, den wir dann als Selbst bezeichnen. Einen solchen Gegenstand gibt es nicht. Wenn wir mit einer solchen Vorstellung leben, so werden wir immer Gefangene bleiben - Gefangene der Illusion eines Selbst, von der wir einmal so nachdrücklich durch Hörensagen erfahren haben, dass wir sie zu lange Zeit glauben und uns das Leben damit schwer machen. Von den Zwängen der Selbstbestimmung, die mit einer Orientierung an Glück durch Selbstverwirklichung immer verbunden sind, befreit man sich am besten durch eine unkompliziertere Haltung gegenüber den Identitäten, die man in seiner kürzeren oder längeren Lebensgeschichte erworben hat. Noch besser ist es, wenn man seinen Spaß, seine Freude, sein Vergnügen und vielleicht sogar seine Lust daran findet, mit diesen ‚Selbsten‘ zu spielen. Der Anfang eines befreiten Umgangs mit schwer lastenden Vorstellungen von Selbst und von Identität besteht aber immer darin, sich von der Idee zu befreien, es gäbe so etwas wie natürliche und wesenhaft gegebene Identitäten, mit denen wir geboren werden und die zu uns gehören wie das Amen in der Kirche. Vielleicht muss man dafür einfach einmal erfahren, wie wenig geschieht, wenn man ein Selbst aufgibt, an dem man sich lange Zeit abgearbeitet hat und von dem man krampfhaft glaubte, es unbedingt verwirklichen zu müssen. Allerdings sollte man nicht annehmen, damit wäre endlich der Zustand des vollkommenen Glücks erreicht. Alles, was man tut, hat Folgen, und wir können die Welt nur in einem winzigen Bereich bestimmen und dort diese Folgen kontrollieren. Vielleicht gibt es Menschen, die eine Veränderung nicht ganz so toll finden, oder es bieten sich schlechtere Verdienstmöglichkeiten, oder andere Möglichkeiten verändern sich aufgrund der Tatsache, dass wir nicht mehr einer bestimmten Vorstellung entsprechen wollen. Aber das ist dann nicht mehr eine Frage von Glück oder Unglück, sondern jetzt geht es um Abwägungen zwischen solchen sehr konkreten Folgen einerseits und den Kosten des Beibehaltens von zweifelhaften Identitäts- Von der Ideologie des Selbst befreit uns am besten der spielerische Umgang mit den eigenen ‚Selbsten’. <?page no="162"?> 162 vorstellungen andererseits. Es stellen sich also nun Fragen, die verschiedene Möglichkeiten des konkreten und individuellen Erlebens betreffen. Damit befreit man sich von Zwängen aus der inhaltsleeren Vorstellung ‚Selbstverwirklichung‘, die sich erst aus dem Übersteigen des Konkreten und Individuellen in Richtung einer abstrakten Vorstellung wie ‚Glück‘ ergeben. Man sollte also von einer solchen Haltung nicht einen neuen Glückszustand erwarten. Man sollte besser auf die Vorstellung ‚Glück‘ überhaupt verzichten. Zu einer gelassenen Haltung gegenüber Identitäten und Selbsten gelangt man erst durch das Aufgeben solch abstrakter Vorstellungen. Es gibt auch kein neues Selbst, das man nun anstreben müsste, damit der endgültige Zustand der Erfüllung des Ganzen erreicht wird. Mit solchen Ideen behält man nur auf eine andere Weise das bei, worunter die meisten Selbstverwirklicher leiden, nämlich den verkrampften und verstockten Glauben, es müsse so etwas geben, das man unbedingt erreichen und verwirklichen muss. Der Weg von der abstrakten Vorstellung eines abstrakten Zustands, den wir so gerne als Glück bezeichnen, zum konkreten und individuellen Erleben führt hier über einen weniger ernsten Umgang mit den Selbsten, die wir uns zuzuschreiben gelernt haben. Es kann also nicht darum gehen, die falschen Selbste zu beseitigen und durch ein wahres oder richtiges Selbst zu ersetzen. Das würde die Grundlage des Problems stets nur erneuern. Der Weg zum konkreten und individuellen Erleben führt vielmehr über die Distanzierung von den gewohnten Selbsten, ohne dass wir damit neue oder gar bessere an ihre Stelle setzen sollten. Wenn wir mit etwas zu spielen anfangen, so haben wir schon seine Macht gebrochen. Wir haben erkannt, dass es nicht Ernst damit sein kann. Der Begriff des Spiels ist auch insofern passend, weil es dabei doch stets um etwas geht. Auch wenn der Einsatz beim Pokern vielleicht nur aus Chips besteht, so verbinden wir doch etwas mit dem Gewinnen, und unter Umständen kann es sogar um sehr viel Geld gehen. Auf jeden Fall hat das Spiel Folgen - ebenso wie das Spiel mit den Selbsten und den Identitäten Folgen hat, die man beachten sollte. Aber sobald wir nach den Folgen - nach den Kosten und Erträgen - fragen, haben wir uns eigentlich schon von der Beherrschung durch die Vorstellung von einem naturgegebenen Selbst, das wir als Sklaven der Idee ‚Glück‘ unbedingt verwirklichen zu müssen glauben, gelöst. Nun fragen wir nach den konkreten Ergebnissen und Vorteilen, die die Orientierung an einem bestimmten Selbst für uns bringt, und nach den Kosten oder den Verlusten, die damit verbunden sind. Es ist uns also bewusst, dass es hier nicht um etwas Absolutes geht, sondern um etwas, das relativ auf das damit zu Zu einem freien Umgang mit Selbst und Identität gehört vor allem der Verzicht auf die Glücksperspektive, … … denn nur jenseits dieser Perspektive gelangen wir zum konkreten und individuellen Erleben ohne Zwang zum Selbst. <?page no="163"?> 163 erreichende Ergebnis zu beurteilen und zu bewerten ist. Mit dem gleichen Gedanken wird uns deutlich, dass es sich um etwas handelt, das im Prinzip austauschbar ist, d. h. für das es Alternativen gibt, die vielleicht eine bessere Leistung in Bezug auf das Ziel erbringen können. Eigentlich sind wir schon auf dem Weg zum konkreten und individuellen Erleben, wenn wir überhaupt nach der Leistung fragen, die ein Begriff von Selbst oder von Identität erbringen soll. Das muss alles nichts gegen Selbstbestimmung als ein Ziel im Leben sagen. Aber man sollte unter ‚Selbst‘ nicht etwas viel zu Allgemeines und Abstraktes verstehen. Genau das geschieht aber, wenn wir Glück als einen Zustand auffassen, der erst dann erreicht sein soll, nachdem wir dieses Selbst in der Welt verwirklicht haben. Wenn wir von Selbstbestimmung sprechen, so sollten wir konkret sagen, worum es geht. Wir sollten uns nicht darauf einlassen, dass sich das Selbst ins gänzlich Unverbindliche verflüchtigt, und in Bezug auf dieses undeutliche, abstrakte und wolkige Gebilde dann noch von Selbstbestimmung sprechen. Erst recht nicht sollten wir im Ausgang von einer solchen Vorstellung das Glück als vollendete Selbstbestimmung in der Welt auffassen. Der Begriff des Glücks ist also auch deshalb schädlich, weil er uns eine falsche Auffassung von dem Selbst nahelegt, das wir auf der Suche nach Selbstbestimmung verwirklichen zu können bzw. zu müssen glauben. Scheinbar im Gegensatz dazu missleitet uns der Glücksbegriff jedoch ebenso dazu, an einer Vorstellung vom Selbst als von etwas Unbeweglichem und Unflexiblem festzuhalten. Wir tendieren mithilfe der Vorstellung ‚Glück‘ dazu, von unserem Selbst als etwas Festem und gleichzeitig doch so gering Bestimmtem zu sprechen, dass etwas gänzlich Nebulöses daraus wird. Wie wir durch die Orientierung am Begriff des Glücks das wirkliche und individuelle Erleben übersteigen und es deshalb zu verlieren drohen, so verlieren wir auch das wirkliche und individuelle Selbst aus den Augen, das eben nur in konkreten Situationen wirklich wird. Wir orientieren uns also an einem viel zu allgemeinen, unbeweglichen und deshalb verschwimmenden Begriff von Selbst, wenn wir ihn in Zusammenhang mit der Selbstbestimmung verwenden, die wir in die Vorstellung von Glück einschließen. Aber vor allem setzt der Glücksbegriff ein zu allgemeines und ‚zu ganzes’ Selbst voraus, … … das zu unbeweglich und deshalb zu wenig konkret ist, als dass es wirklich werden könnte. <?page no="164"?> 164 7.4 Mit der Glücksperspektive neigen wir ohne Not zu einem therapeutischen und psychologistischen Selbstverständnis Die Vorstellung von einem fixen Selbst, das gleichsam immer schon fertig in unserem Inneren ruht und darauf wartet, dass wir es verwirklichen und damit zur Selbstbestimmung gelangen, ist offenbar sehr eng mit dem Begriff ‚Glück‘ und der dazugehörigen Perspektive auf die Welt und das Leben verbunden. Das muss nicht heißen, dass jene Vorstellung notwendig nur zusammen mit diesem Begriff auftritt. Aber es gibt doch eine innere ‚Verwandtschaft‘ zwischen beiden - sie kommen darin überein, dass wir mit ihnen dazu neigen, das konkrete und individuelle Erleben zu überspringen und uns statt dessen an sehr abstrakte Vorstellungen zu halten. Wer sein Leben an der Suche nach Glück ausrichtet, der orientiert es deshalb sehr oft auch an der Verwirklichung von so etwas wie einem Selbst - und verfehlt auf diese Weise in der Regel alles das, wofür es sich zu leben lohnt. Es gibt darüber hinaus aber noch eine Besonderheit, die beiden Vorstellungen - der eines fixen Selbst und der vom Sinn einer Orientierung des Strebens an der Idee ‚Glück‘ - gemein ist, und auch darin findet sich, dass der Begriff ‚Glück‘ nicht gerade nützlich ist. Beide Begriffe enthalten eine Tendenz zu einer merkwürdigen, weil in erster Linie therapeutischen Selbstauffassung unter psychologistischen Vorzeichen. Viele Menschen fassen sich in einem solchen Selbstverständnis so auf, als müssten sie dringend von einer Art Krankheit geheilt werden, an der sie überhaupt nicht leiden. Worunter man in einem solchen Selbstverständnis wirklich leidet, ist in der Regel gerade dieses Selbstverständnis, das einem zwanghaft nahelegt, etwas sehr Unbestimmtes erreichen zu müssen, das man als ‚Glück‘ oder als ‚Selbstverwirklichung‘ oder ähnlich bezeichnet. Der Fehler darin ist vor allem die Unbestimmtheit dieses angeblich so wichtigen Zieles und die zwanghafte Vorstellung, unbedingt etwas erreichen zu müssen. Populäre Vereinfachungen der Psychologie haben nach Kräften dazu beigetragen, dass Begriffe wie ‚Glück‘ oder ‚Selbst‘ im Zusammenhang eines überaus allgemeinen Geredes verwendet werden, das im Grunde jedem Menschen ein Selbstverständnis unter einer therapeutischen Perspektive nahelegt. Aus dieser Perspektive muss jeder als ‚krank‘ gelten, der den Vorstellungen der Glücksfanatiker nicht entspricht. Das hat allerdings nichts mit Psychologie als Wissenschaft zu tun. Natürlich handelt es sich bei der Psychologie um ein seriöses akademisches Fach mit intensiv reflektierter empirischer Forschung, mit der interessante Einsichten in Verhaltensnei- Mit dem Selbst enthält die Vorstellung ‚Glück’ eine therapeutische und psychologistische Selbstauffassung, … … die mit Psychologie als Wissenschaft sehr wenig und mit ‚tief psychologischer’ Ideologie sehr viel zu tun hat. <?page no="165"?> 165 gungen und menschliche Reaktionen gefunden werden konnten und können. Tiefenpsychologische Traktate dagegen sind in der Regel das Ergebnis einer allzu lebhaften Phantasie. Dann entsteht um Begriffe wie ‚Glück‘ oder ‚Selbst‘ herum eine Ideologie und eine Art Kult, die Menschen ohne ausreichendes Selbstbewusstsein leicht dazu verleitet, eine Art von Zwang zum Erreichen eines Zustandes zu akzeptieren, in dem wir in der Regel alles wirkliche und individuelle Erleben überspringen. Ein solches psychologistisches - oder auch ‚tief psychologisches‘ - Selbstverständnis mithilfe von Begriffen wie ‚Glück‘ oder ‚Selbst‘ oder ‚Identität‘ ist in manchen Kreisen die heute vorherrschende Form, in welcher der Begriff ‚Glück‘ zum Thema wird. Man strebt dann nach Zielen, die man zwar nicht genau bezeichnen kann, die man aber nichtsdestoweniger krampfhaft und zwanghaft erreichen zu müssen glaubt. Diese Tendenz hat heute die in erster Linie ethische Perspektive auf Glück, wie sie in der Antike zentral war, und die vor allem politische Orientierung der Diskussion um Glücksfragen in der Zeit des Utilitarismus und eigentlich in der ganzen Neuzeit abgelöst. Ein psychologistisches Selbstverständnis ist aber von seinem Ursprung her letztlich immer therapeutisch orientiert, d. h. man fasst sich damit als jemand auf, der eigentlich krank ist und dringend andere Menschen benötigt, die ihn heilen müssen. Jedenfalls gilt dies dann, wenn man als ‚Psychologie‘ etwas bezeichnet, das von dem empirischen Vorgehen der Psychologie als seriöser Wissenschaft weit entfernt ist. Die Erkenntnisse der empirischen Psychologie dagegen können aus prinzipiellen Gründen nicht viel zu einem besseren lebenspraktischen Verständnis von so etwas wie Selbst oder der Vorstellung ‚Glück‘ beitragen. Als Wissenschaft kann die Psychologie nur mit wissenschaftlichen Begriffen umgehen, d. h. mit Begriffen, die sie selbst so definiert hat, dass sie für die empirische Forschung geeignet sind. Das ist aber bei Begriffen wie ‚Selbst‘ und ‚Glück‘ nicht der Fall, wenn wir sie lebensweltlich und alltäglich verwenden. Dass sich der Begriff ‚Glück‘ mit einem psychologistischen Selbstverständnis verbunden hat und deshalb die in jenem Begriff schon zuvor enthaltene Orientierung an einem falschen - weil zu allgemeinem und zu abstraktem - Begriff des ‚Selbst‘ eine Tendenz zu einer Ausrichtung des Strebens an eigentlich und ursprünglich therapeutischen Zielvorstellungen angenommen hat, geht auch auf bestimmte geschichtliche und kulturelle Entwicklungen zurück, die vor mehreren Jahrzehnten einsetzten und deren Auswirkungen bis heute nicht ganz verklungen sind. Die sogenannten 68er Jahre sind in den letzten Jahren in die Kritik gekommen. Von verschiedenen Seiten wird den Gedanken und politischen Strömungen, die sich da- Mit dem psychologistischen Selbstverständnis fühlen sich Menschen krank, die nur an diesem Selbstverständnis leiden. Solche Auffassungen hängen auch mit politisch-kulturellen Veränderungen zusammen, … <?page no="166"?> 166 mals in der Bundesrepublik durchzusetzen begannen, die Verantwortung für schwerwiegende Fehlentwicklungen in der Politik, in der Kultur, im Erziehungswesen und auch bei den Voraussetzungen für eine konkurrenzfähige Wirtschaft zugeschrieben. In der Regel wird dabei ein einzelner Aspekt herausgenommen und für das Ganze gesetzt, das - wie üblich - wesentlich komplizierter ist. Es gibt aber für unsere Frage nach der Nützlichkeit des Glücksbegriffes einen Aspekt, der für die Beurteilung einer psychologistischen und therapeutischen Selbstauffassung wichtig ist. Die damals modische und eigentlich seltsame Kombination von Marxismus und Psychoanalyse hat zu einer sehr lange wirksamen Neigung geführt, einerseits die Freiheit und die Verantwortlichkeit des einzelnen Menschen gering zu schätzen und ihm andererseits Vervollkommnungsvorstellungen aufzubürden, unter denen er auf alle Fälle nach nichts Geringerem als dem ‚Heil‘, der ‚Heilung‘, dem umfassenden ‚Frieden‘ oder einer quasi-religiös verstandenen ‚Ganzheitlichkeit‘ streben sollte. Auf dieser Grundlage hatten Neigungen zu einem ‚tief psychologischen‘ Verständnis und Selbstverständnis von Glück, Selbst und Identität sehr lange leichtes Spiel, wenn sie den ‚Sklaven des Glücks‘ Wege zu einer solchen Vervollkommnung zu offerieren wussten. Die Wirkung solcher Tendenzen war nicht einfach auf die theoretische Ebene beschränkt. Unsere Auffassungen über Freiheit und Verantwortlichkeit stellen nie nur Beschreibungen einer Wirklichkeit dar, die außerhalb und unabhängig von diesen Beschreibungen existiert. Die Theorie ist hier immer unmittelbar praktisch, insofern sie unser Denken über eben diese Wirklichkeit beeinflusst. Wir formen die Wirklichkeit auf der Grundlage der Vorstellungen, die wir uns von ihr machen. Ein gutes Beispiel dafür lässt sich einem kurzen Ausflug in sozialwissenschaftliche Theorien entnehmen. Vor einigen Jahrzehnten entstand in der Politikwissenschaft die sogenannte ökonomische Theorie der Politik, der zufolge politische Parteien nur das eine Ziel kennen, möglichst viele Wählerstimmen zu erhalten. Sie verhalten sich also im Grunde ebenso wie Unternehmen, deren Handeln an dem Ziel der Gewinnmaximierung ausgerichtet ist, nur dass es hier um die Maximierung von Stimmen bei Wahlen geht. Die Folge solcher Theorien war schließlich, dass Parteien sich eben diese Vorstellungen zum Handlungsprinzip gemacht haben - d. h. sie prüfen ihre Programme und ihre politischen Aktionen nun tatsächlich unter dem Aspekt, ob sie zur Stimmenmaximierung beitragen, während sie früher stärker an Weltanschauungen ausgerichtet waren oder den Anschluss an kulturelle Milieus suchten. Man könnte hier von einer sich selbst erfüllenden Theorie sprechen - die Wirklichkeit hat sich inzwischen an die Theorie angepasst, u. a. deshalb weil diese Theorie Glauben fand. … und hier beeinflussen die Theorien ganz unmittelbar die Wirklichkeit. <?page no="167"?> 167 Der prinzipiell gleiche Mechanismus wirkte, als Marxismus und Psychoanalyse bzw. Tiefenpsychologie vor einigen Jahrzehnten die Tendenz zu einem Selbstverständnis förderten, das der Freiheit und der Verantwortlichkeit für das eigene Leben und die eigenen Handlungen nur eine geringe Bedeutung zuschreibt. Wenn nach dem marxistischen Glauben das Sein das Bewusstsein bestimmt, so ist der einzelne Mensch in seinem Denken und Handeln durch die Stellung seiner sozialen Gruppe im Rahmen des Produktionszusammenhangs bestimmt. Aber auch wenn man zugeben musste, dass die sogenannten Produktionsverhältnisse das Bewusstsein nicht vollständig bestimmen, wurden in der Folge des ‚68er-Denkens‘ die Freiheit und die Verantwortlichkeit des Menschen durch die Verabsolutierung der Tiefenpsychologie und insbesondere der Psychoanalyse noch weiter in Frage gestellt. Im Grunde hat man auf diese Weise ein therapeutisches Verfahren zur Behandlung von bestimmten psychischen Krankheiten als Instrument für ein generelles Verständnis des Menschen und seiner problematischen Freiheit missbraucht. Wir können diese Fehlentwicklung noch heute in vielen Bereichen des Verständnisses des Menschen und vor allem im Selbstverständnis vieler Menschen erkennen. Dann verstehen sich ganz normale und üblich gesunde Menschen mit gängigen Problemen und individuellen Tics unter Begriffen, die eigentlich zur Behandlung von psychischen Störungen entwickelt worden sind und nur dort ihre sinnvolle und nützliche Bedeutung besitzen. Diese relativ neue und in der älteren Geschichte dieses Begriffs eigentlich so nicht vorgesehene Verbindung der Idee ‚Glück‘ mit einem ‚tief psychologischen‘ Verständnis des eigenen Lebens und des Verfolgens von Zielen und Absichten hat in dieser Idee die sowieso schon vorhandene Orientierung an einem über-allgemeinen Verständnis des eigenen Lebens und seiner Handlungsmöglichkeiten gefördert und in eine bestimmte Richtung gedrängt. Unter der Vorherrschaft eines psychologistischen Selbstverständnisses mit der Vorstellung eines diffusen Krankseins als Zustand des ganzen Lebens verhindert die Ausrichtung an der Idee ‚Glück‘ das Standnehmen auf dem tatsächlichen Platz, an dem wir uns im Leben befinden. Nur von diesem Platz aus aber werden erst Veränderungen in Richtung auf mehr Freude, Spaß, Vergnügen oder Lust möglich. Wer sich von vornherein unter dem nun mit therapeutischen Vorzeichen versehenen Begriff ‚Glück‘ versteht, für den ist jeder Punkt, an dem er gerade steht, ein falscher Zustand. ‚Richtig‘ kann aus dieser Perspektive nur jene allgemeine Idee sein, die nun unter therapeutischen Begriffen wie ‚Gesundheit‘ oder ‚Heilung‘ auftritt. Damit sind wir wieder bei einer Denkweise, die auch ohne die nun hinzugefügte psychologistische Ausrichtung und Verstärkung grundsätzlich Ein solches therapeutisches Selbstverständnis entsteht vor allem dann, wenn die Freiheit gering geschätzt wird. Der Glücksbegriff ist mit einer Denkweise verbunden, die ein Standnehmen im wirklichen Leben verhindert, … <?page no="168"?> 168 schon zuvor zu einer Orientierung am Glücksbegriff gehörte. Wir hatten schon gesehen, dass zur Glücksperspektive die Ausrichtung an einem nur in der Phantasie existierenden Ganzen gehört. Eine solche Orientierung verleitet uns deshalb dazu, die wirklichen und individuellen Erlebnisse zu übersteigen und statt nach Freude, Vergnügen, Spaß und Lust nach etwas so Allgemeinem und Abstraktem wie Glück zu streben. Damit verwenden wir eine Perspektive, die sich bisher auf keine Weise als nützlich gezeigt hat, auch wenn ihr eine lange Tradition einen täuschenden Glorienschein angedichtet hat. Sie verbindet sich nun mit einer sich selbst als Heilslehre missverstehenden ‚tief psychologischen‘ Denkweise, die in sich eben jene Strukturen aufweist, welche den Begriff ‚Glück‘ so wenig nützlich und eher schädlich erscheinen lassen. Es ist also kein Wunder, dass die Orientierung des Lebens und Strebens an der Vorstellung ‚Glück‘ so oft und bei vielen Menschen mit einem psychologistischen Selbstverständnis verbunden ist. In den meisten Fällen steht der Glücksbegriff am Beginn der Entwicklung eines solchen Selbstverständnisses. Wer hier das individuelle und wirkliche Erleben verlässt, der ist sehr leicht bereit, sich als ein im Ganzen zu therapierendes Wesen aufzufassen. Dann kann das Selbstverständnis auf der Grundlage psychologischer Begriffe, das eigentlich nur für die Therapie bestimmter Krankheiten sinnvoll ist, zu einem nicht mehr sinnvollen und viel zu allgemeinen Selbstverständnis werden. Eigentlich ganz gesunde Menschen fassen sich dann als zu therapierende auf. Das Übersteigen des wirklichen und individuellen Erlebens unter der Perspektive des Begriffes ‚Glück‘ ist in der Regel ein Teil oder sogar die Ursache eines solchen falschen Selbstverständnisses. Gerade dieses Selbstverständnis ist aber keine gute Voraussetzung für eine Veränderung von Zuständen, die man als nicht befriedigend ansieht. Eigentlich unterminiert eine so allgemeine und das wirkliche Erleben überspringende Auffassung des eigenen Lebens geradezu die Grundlagen für die wirklichen Veränderungen, die wir in unserem Leben erreichen können. Wer nicht Stand nehmen kann an dem Punkt, an dem er gerade ist, der findet auch keinen Ausgangspunkt für einen anderen Weg. Begriffe wie ‚Glück‘ oder auch die Orientierung an Konzepten wie Selbst oder Identität verleiten uns dazu, uns in einer solchen Standpunktlosigkeit einzurichten. Wir haben schon gesehen, dass wir mit der Vorstellung ‚Glück‘ das wirkliche und individuelle Erleben überspringen und uns an einem nicht existierenden Ganzen orientieren. Wir transzendieren das, worauf es im Leben wirklich ankommt, und enden bei etwas, das wir nie und nimmer erleben können, denn wir erleben stets nur das Individuelle und Konkrete. Prinzipiell … weil er uns dazu bringt, jenseits des wirklichen und individuellen Erlebens dem ‚Gespenst des Ganzen’ zu folgen. Durch den Glücksblick auf´s Ganze vergessen wir das Standnehmen, das wirkliche Veränderungen ermöglicht, … <?page no="169"?> 169 geschieht dasselbe in einem verallgemeinerten therapeutischen und psychologistischen Selbstverständnis, in dem wir uns selbst ‚im Ganzen‘ als in einem Zustand befindlich definieren, an dem wir nicht sein sollten. Wir definieren unsere Wirklichkeit als etwas Unwirkliches, das nicht sein soll - als etwas Negatives, das im Grunde nur verschwinden soll. Natürlich ist es naheliegend, bei einer Zahnbehandlung eigentlich woanders sein zu wollen. Wir haben aber ein Problem, wenn wir unser ganzes Leben so auffassen, dass es eigentlich doch besser woanders sein sollte. Genau dazu führt uns aber die Vorstellung ‚Glück‘ und das mit ihr so oft verbundene psychologistische Selbstverständnis. Eine solche Selbstauffassung ist aber auch in solchen Fällen schädlich und keine Grundlage für eine erfolgreiche Veränderung, in denen es sinnvoll ist, für wirkliche und individuelle Probleme therapeutische Hilfe zu suchen. Die Krankheitseinsicht kann in diesem Fall der Ausgangspunkt für eine Verbesserung der eigenen Lebenslage sein. Eine solche therapeutische Perspektive wird sich aber auf das tatsächliche Erleben richten und konkrete Probleme lösen wollen. Sich entsprechend der Glücksperspektive ‚im Allgemeinen‘ und ‚im Ganzen‘ auf psychologistische Weise zu verstehen ist dagegen kein Weg zu einer Veränderung, sondern führt zum Überspringen aller Voraussetzungen für wirksame und nachhaltige Therapien. Ein Ausgangspunkt für wirkliche Veränderungen wird immer nur dann gewonnen, wenn wir den Zustand, an dem wir uns gerade befinden, nicht nur als negativ und als etwas verstehen, das eigentlich nicht sein sollte. Dies gilt auch dann, wenn wir diesen Zustand gerne ändern möchten. In der Regel gelingen Therapien immer nur dann, wenn der Patient zumindest so weit mit seinem gegenwärtigen Zustand zufrieden ist, dass er ihn als einen akzeptiert, mit dem er höchst unzufrieden ist. Dann kann es gelingen, dort für den Absprung Stand zu nehmen. Auch auf dem Behandlungsstuhl des Zahnarztes gehen wir mit dieser unangenehmen Situation am besten dadurch um, dass wir uns erst einmal vollständig darauf niederlassen - was nicht nur ein körperlicher Akt ist, sondern in erster Linie ein Geschehen im Bewusstsein. Auch eine solche Situation muss zumindest soweit auch als ein akzeptierter Zustand verstanden werden können, als er eben der momentane Zustand des Lebens ist, außer dem für jetzt nichts ist - auch wenn wir ihn so schnell wie möglich verlassen möchten, um zu einem besseren Zustand zu kommen. Wer den gegenwärtigen Zustand und Zeitpunkt nur als etwas nicht sein Sollendes und nur als etwas zu Beseitigendes auffasst, der befindet sich eben in einem Nirgendwo und Nie, in dem kein Standpunkt zu gewinnen ist, von dem aus ein Absprung zu etwas Besserem gefunden werden kann. … und geraten in ein Nirgendwo, von dem aus wir nur ins Irgendwo kommen, aber nicht zum Besseren. Die Glücksperspektive hindert uns also daran, selbst dort zu sein, wo wir gerade sind, … <?page no="170"?> 170 Dies gilt aber noch viel mehr, wenn es überhaupt nicht um ein an konkreten Problemen orientiertes und deshalb sinnvolles therapeutisches Selbstverständnis geht, also in solchen Lebensumständen, in denen man sich nicht in irgendeinem Sinne als therapiebedürftig definieren kann oder es zumindest nicht sollte. In solchen - normalen - Situationen kann ein Selbstverständnis unter therapeutischer Perspektive auf keine Weise nützlich sein. Auf der Grundlage der Orientierung an der Glücksvorstellung und der falschen Fixierung auf Selbst und Identität neigen wir aber sehr leicht zu diesem Irrtum, vor allem dann, wenn diese Vorstellung durch geschichtlich wirksam gewordene Entwicklungen schon eine psychologistische Färbung angenommen hat. Eine Selbstauffassung unter Begriffen wie Glück, Selbst oder Identität tendiert dann zu einem solchen Selbstverständnis unter therapeutischer Perspektive, auch wenn überhaupt keine therapeutische Bedürftigkeit besteht. Auch diese Tendenz gehört in neuerer Zeit zu den vielen Aspekten der Schädlichkeit der Vorstellung ‚Glück‘. Diese hat mit einer falschen - weil nicht an konkreten Problemen und am individuellen Erleben orientierten - therapeutischen und psychologistischen Selbstauffassung vor allem gemein, dass sie uns dazu bringt, das wirkliche und individuelle Erleben und das Standnehmen in der Gegenwart und im Hier des Lebens zu überspringen. Die Vorstellung ‚Glück‘ verführt uns dann zu einem therapeutischen Selbstverständnis, welches das Standnehmen in der Wirklichkeit des individuell und konkret Erlebten gefährdet. Sie bringt uns an einen Ort im Nirgendwo und Nie. … und führt uns zu einem falschen therapeutischen Selbstverständnis im Nirgendwo und Nie. <?page no="171"?> 171 8. Warum wir im Streben nach Glück unsere Freiheit gefährden 8.1 Wir folgen einer falschen Vorstellung von Freiheit und vergessen, dass wir ihre Spielräume selbst erschaffen müssen Zum Gehalt des Begriffes ‚Glück‘ gehört nun offensichtlich auch so etwas wie Freiheit. Das ist naheliegend, weil wir dann, wenn die Welt sich nach unserem Wünschen und Wollen richtet, nicht mehr durch die äußeren Umstände eingeschränkt sein sollen, und dass die Welt sich nach unserem Wünschen und Wollen richtet, ist eines der Merkmale dessen, was sich in der Geschichte der Idee ‚Glück‘ als Kern der Bedeutung bei aller Verschiedenheit dessen, was damit gemeint sein kann, herausgestellt hatte. Darüber hinaus gehört bei den meisten Menschen sicherlich ein gewisses Gefühl unbegrenzter Freiheit zu dem, was sie sich unter Glück vorstellen. Wenn wir die weiteren wichtigen und zentralen Bedeutungselemente des Glücksbegriffes hinzunehmen, so muss es sich sogar um eine ganz besondere Freiheit handeln, die sich auf nicht weniger als das Ganze bezieht. Es muss also um die ‚Große Freiheit‘ gehen, nicht um die kleinen Freiheiten, die wir uns im Alltag immer wieder nehmen. Diese kleinen Freiheiten müssen wir im Zustand des Glücks übersteigen - transzendieren - können, um dort anzukommen, wo das große Ganze erreicht ist und der Blick von weit außen und ganz weit oben. Wir müssen uns deshalb nun fragen, ob diese mit dem Glücksbegriff verbundene Vorstellung von einer ‚Großen Freiheit‘ nützlich ist oder nicht. Nach dem, was wir im letzten Hauptkapitel gesehen haben, muss sich die zur Idee ‚Glück‘ gehörende Vorstellung von Freiheit in erster Linie um die Verwirklichung eines Selbstes drehen, das wir irgendwie im Inneren tragen und das sich im Glück in die Welt hinein ausbreiten können soll. Es hat sich aber inzwischen herausgestellt, dass es sich dabei um eine sehr merkwürdige Vorstellung von einem Selbst handelt, die mit der Wirklichkeit des Lebens wenig bis gar nichts zu tun hat. Im individuellen und wirklichen Erleben haben wir es mit einzelnen Situationen zu tun, in denen auf ganz verschiedene Weise von einem Selbst die Rede ist und in denen wir ganz verschiedene ‚Selbste‘ Zur Bedeutung des Begriffes ‚Glück’ gehört eine bestimmte Vorstellung von Freiheit, … … die sich bereits in Zusammenhang mit dem ‚einen Selbst’ der Glücksperspektive als zweifelhaft erwiesen hat. <?page no="172"?> 172 zur Geltung bringen. Sie fügen sich nicht zu einem einheitlichen ‚Großen Selbst‘ zusammen, und sie sind auch nicht verschiedene Aspekte oder Ansichten eines ‚letztlich‘ doch im Inneren verborgenen Gegenstandes mit dem Namen ‚Selbst‘. Es handelt sich einfach um die Antworten auf ganz verschiedene Fragen, die nur die allgemeine Form ‚Wer sind Sie? ‘ gemeinsam haben. In allen bisher diskutierten Problemen mit dem Glücksbegriff und mit seiner Verwendung für die Bewertung des Lebens und zur Orientierung des Strebens zeigten sich aber auch schon verschiedene Einschränkungen der Freiheit durch diese Idee. Schon wenn wir uns auf eine abstrakte Ganzheit beziehen, statt uns auf die individuellen und konkreten Einzelheiten des Lebens und Erlebens zu konzentrieren, so schränken wir offensichtlich den Bereich unserer Möglichkeiten ganz erheblich ein. Das ist schon deshalb der Fall, weil wir weniger Zeit und Energie auf das wirkliche Erleben verwenden können, wenn wir uns ständig nur damit beschäftigen, ganz woanders bei einem imaginären Ganzen zu sein, wo wir eigentlich überhaupt nicht sein können. Deshalb stellt natürlich auch die zur Glücksperspektive gehörige Tendenz zu einem Übersteigen des Wirklichen und Konkreten eine Einschränkung der Freiheit dar. Wenn wir die Welt und das Leben immer nur von ganz weit oben und ganz weit außen betrachten wollen, so verlieren wir offensichtlich das, was sie bzw. es uns nur aus der Nähe zu bieten hat, und das ist vermutlich das Beste daran. Aus dieser Betrachtungsweise tendieren wir offenbar dazu, die vielen Freiheiten aufzugeben, die uns im wirklichen und individuellen Leben offen stehen, und flüchten in die Vorstellung einer leeren Freiheit im Reich des Großen und Ganzen. Aber auch die Tendenz zu einer Bewertung des ganzen Lebens und zu einer Summierung der Zustände des Lebens, die sich in Wahrheit nicht gleichnamig machen lassen, ist mit einer Einschränkung und bisweilen sogar mit einem Verlust der Freiheit verbunden. Wir können nicht mehr frei entscheiden, was ein Erleben wirklich für uns bedeutet, wenn wir es von vornherein so umformen, dass es mit allem anderen Erleben prinzipiell gleichförmig sein soll. Genau das müssen wir aber tun, wenn wir es unter der Perspektive einer Bilanzierung auffassen - das allerdings müssen wir nicht tun. Darüber hinaus geraten wir durch die Ausrichtung des Lebens an der Idee ‚Glück‘ sehr leicht in eine Tendenz, uns an den Auffassungen anderer Menschen darüber, wie man leben soll, zu orientieren. Meistens trägt dies nicht gerade zu unserer Freiheit bei, denn in der Regel gelten solche Auffassungen nur für diese anderen Menschen, obwohl wir unsere Freiheit bis zu einem gewissen Grade doch bewahren können, indem wir andere Vor- Aber eigentlich schlossen alle Probleme mit dem Glücksbegriff ein, dass unsere Freiheit beschränkt wird, … … was mit dem Blick auf´s Ganze und von weit oben beginnt und bis zur Fixierung auf ein falsches Selbst führt. <?page no="173"?> 173 stellungen kritisch erwägen und prüfen. Des Weiteren gerät die Freiheit in Gefahr, wenn wir den Prozess des Werdens und Neubeginnens unterbrechen und das eigene Anderswerden abschalten wollen, wie uns das die Glücksvorstellung nahelegt. Und schließlich entsteht eine Tendenz zur Beschränkung der Freiheit aus der Fixierung auf Begriffe wie Selbst und Identität, die unser Leben umfassend einschränken können, wenn wir nicht beachten, dass sie sinnvoll immer nur in einer sehr konkreten Bedeutung und situationsbezogen verwendet werden. Aus den bisher diskutierten fünf Problembereichen der Verwendung der Idee ‚Glück‘ hat sich ergeben, dass dieser Begriff in erster Linie schädlich ist. Zu diesem Schaden gehörte in allen Bereichen auch, dass wir weniger frei sind, wenn wir das Leben aus der Glücksperspektive bewerten und das Streben an diesem Begriff orientieren. Aber die Beschränkung unserer Freiheit durch die Vorstellung ‚Glück‘ hat noch einige spezielle Seiten, mit denen wir uns jetzt noch eigens beschäftigen sollten. Zunächst müssen wir aber die Vorstellung aufgeben, derzufolge Freiheit heißen könnte oder müsste, dass wir uns zunächst selbst quasi erschaffen und dann uns selbst und die ganze Welt an uns selbst anpassen können. Mit dieser Vorstellung würden wir natürlich nur zum Ausdruck bringen, dass wir grundsätzlich nicht frei sein können, denn schließlich müssen wir alle mit den Bedingungen leben, in die wir geboren wurden und die wir nur zu einem kleinen Teil nach unseren Wünschen umgestalten können. Aber wir müssen keineswegs einen solch übertriebenen Begriff von Freiheit akzeptieren, mit dem wir von vornherein negativ über unsere Möglichkeiten entscheiden würden. Wie wir dagegen von Freiheit so reden können, dass darin unser wirkliches und individuelles Erleben vorkommt, können wir zunächst mithilfe der Diskussion über Selbst und Individualität aus dem letzten Abschnitt entnehmen. Wir haben gesehen, dass die Verwendung des Glücksbegriffes in eine Situation führt, in der wir zwar eine besondere Fähigkeit zur Selbstbestimmung behaupten, in der wir in Wahrheit aber nicht sinnvoll von einem Selbst sprechen können. Dafür ist der Begriff des Glücks viel zu allgemein und enthält deshalb eine Tendenz, alle wirklich mögliche Individualität aufzugeben. Von einem Selbst kann auf dieser Grundlage nicht mehr die Rede sein, wenn wir damit etwas mehr meinen als eine fixe Vorstellung davon, wie wir sein sollen, die wir aus der Lektüre, aus dem Fernsehen oder vom Hörensagen aufgenommen haben. Unter der Glücksperspektive können wir von Selbst und Individualität also nur in einem so allgemeinen Sinn sprechen, dass damit alles oder nichts gemeint sein kann - und wenn wir alles mit einem Begriff meinen, so sagen wir damit ebenso wenig, als wenn wir nichts mit ihm meinen. Wir weigern uns mithilfe des Glücksbegriffes also, in den konkreten Gefilden des individuellen menschlichen Lebens und des wirklichen Erlebens zu wandern. Wir müssen Freiheit allerdings nicht als Fähigkeit zur Selbsterschaffung verstehen, … <?page no="174"?> 174 Deshalb macht es nicht sehr viel Sinn, von ‚Freiheit‘ als Selbstverwirklichung oder Selbstbestimmung dann zu sprechen, wenn wir im Sinne der Idee ‚Glück‘ das Selbst, das darin bestimmend sein oder verwirklicht werden soll, so unbestimmt und so abstrakt und nebulös auffassen, dass man überhaupt nicht erkennen kann, wann von einer Verwirklichung bzw. von einer Selbstbestimmung die Rede sein kann und wann nicht. Wenn wir das aber bei dem Selbst der Idee ‚Glück‘ nicht können, so macht es auch keinen Sinn, mithilfe der Orientierung an einem solchen Selbst von Freiheit zu sprechen. Wir haben dagegen die Idee von situationsbezogenen und konkreten ‚Selbsten‘ gesetzt. Wenn wir also an Freiheit als ‚Selbstverwirklichung‘ festhalten, so müssen wir sie als ebenso situationsbezogen und in konkreten Handlungen und Ereignissen sich realisierend auffassen. Das kann offenbar nicht jene ‚Große Freiheit‘ sein, die der Begriff ‚Glück‘ als eine weitgehend leere Vorstellung enthält. Eigentlich kann es überhaupt nicht um ‚die Freiheit‘ gehen, sondern um die Freiheiten im Plural, die wir in der wirklichen Welt der Individuen und der konkreten und nie identischen Situationen verwirklichen und deshalb erfahren können. Der Begriff ‚Glück‘ dagegen schubst uns in eine Richtung, in der es die kleinen und wirklichen Freiheiten gerade nicht geben soll. Unter der Leitung der Idee ‚Glück‘ müssten wir uns darüber hinaus die in dieser abstrakten und allzu allgemeinen Welt mögliche Freiheit als etwas vorstellen, das nur ohne Unfreiheit zu haben wäre. Eine solche Freiheit wäre wie Schwimmen ohne Wasser - wie der Versuch sich zu bewegen, ohne sich von etwas abzustoßen, das von uns unabhängig ist und eine gewisse Mindestfestigkeit aufweist. Mithilfe einer solchen Bewegung müssten wir aus einer Welt, die keine irgendwie geartete und vorgegebene Form besitzt, eine solche Welt gestalten können, die ausschließlich durch das bestimmt ist, was wir gemäß der Idee ‚Glück‘ als ‚Selbst‘ auffassen sollen. Wir haben schon gesehen, dass die mit dem Glücksbegriff verbundene Vorstellung eines ‚Selbst‘ nicht gerade sinnvoll ist. Genau so wenig ist aber der Gedanke einer Freiheit sinnvoll, in der wir eine leere Welt nach unseren Vorstellungen gestalten könnten. Gestalten können wir nur etwas, was schon vorhanden ist, so dass wir uns daran anschließen können, auch wenn das heißt, dass wir dann daran arbeiten müssen. Wir können nur dann frei darüber entscheiden, ob wir uns Blockhütten oder Steinhäuser bauen, wenn die Welt uns die Möglichkeiten für beide Behausungen bietet. In einer Welt ohne alle Vorgaben hätten wir dagegen eine solche Wahl nicht, schon deshalb nicht, weil wir dann weder den Begriff ‚Blockhütte‘ noch den Begriff ‚Steinhaus‘ hätten. Der Begriff einer Wahl setzt also offenbar voraus, dass wir an anderer Stelle gerade keine Wahl haben - zwischen Blockhäusern und Steinhütten können wir nur dann wählen, wenn uns Baumstämme und zum Bauen … sondern können aus der Diskussion von Selbst und Individualität eine konkretere Idee von Freiheit entnehmen. <?page no="175"?> 175 geeignete Steine vorgegeben sind, so dass wir uns dann Vorstellungen von diesen beiden Arten von Behausungen machen und schließlich zwischen ihnen wählen können. Die Idee ‚Glück‘ dagegen suggeriert uns die Vorstellung von einer ‚Großen Freiheit‘, in der wir frei nicht dadurch sind, dass wir aus vorgegebenen Möglichkeiten wählen, sondern indem wir unser ‚Großes Selbst‘ auf eine geheimnisvolle Weise in eine Welt hinein ausbreiten, die selbst absolut leer ist. Natürlich geht das wieder darauf zurück, dass mit jener Vorstellung stets auf etwas ‚Ganzes‘ gezielt wird, was sich in diesem Fall als eine absolut freie Selbstbestimmung ohne irgendwelche Vorgaben darstellt. So war die Sache mit der Freiheit aber natürlich nie gemeint. Sinnvoll können wir von Freiheit nur sprechen, wenn wir sie vor dem Hintergrund einer Unfreiheit verstehen, durch die wir in einem gewissen - geringeren oder größeren - Ausmaß bestimmt werden, so dass wir die Fähigkeit der Freiheit als ein Freiwerden entwickeln können. Wenn wir uns dagegen Freiheit als ein Geschehen in einem quasi leeren Raum vorstellen, in dem wir etwas aus dem Nichts entstehen lassen, was zuvor nicht existierte, so haben wir es nicht mit einem Begriff zu tun, der irgendetwas mit der menschlichen Freiheit zu tun hat. Wir werden dagegen frei, indem wir das anerkennen, was nicht unserer Verfügung untersteht, und damit so umgehen, dass wir Spielräume gewinnen. Im menschlichen Leben ist Freiheit immer eine ‚Spielraum-Freiheit‘. Den Begriff des Spielraums können wir in diesem Zusammenhang in beiden möglichen Bedeutungen auffassen. Zum einen ist wie im technischen Sinne eine Situation gemeint, in der ein Gegenstand nicht so fest mit einem anderen verbunden ist, dass er sich überhaupt nicht mehr bewegen könnte, obwohl er auf der anderen Seite doch auch nicht ganz ‚frei spielt‘, sondern nur innerhalb eines vorgegebenen Raumes. Zum anderen aber können wir auch an Räume denken, in denen Ballspiele oder andere Spiele möglich sind, weil bestimmte Bedingungen erfüllt und damit Einschränkungen gegeben sind, die gerade dieses bestimmte Spiel erfordert. In einem Spielraum ist nicht alles möglich, obwohl gerade dadurch vieles möglich wird. Zu einem solchen Spielraum können wir über die äußeren Verhältnisse wie Größe und Einrichtung des Raumes hinaus auch die Regeln zählen, die nicht nur angeben, wie das Spiel richtig zu spielen ist, sondern die auch seine Grenzen bestimmen. Gerade deshalb eröffnet er die Möglichkeit, gerade dieses be- Ein solcher Begriff muss die wirkliche Freiheit vor dem Hintergrund von Unfreiheit verstehen können. Freiheit finden wir nicht in einem ‚leeren Raum’, sondern als Freiwerden im Gewinnen von Spielräumen. Solche Spielräume machen vieles möglich, weil darin nicht alles möglich ist, und sind deshalb Räume der Freiheit. <?page no="176"?> 176 stimmte Spiel zu spielen. Ein anderer Spielraum mit anderen Grenzen würde uns ein anderes Spiel ermöglichen - aber ohne irgendeinen Spielraum könnten wir überhaupt nichts spielen. Es ist nicht alles möglich, wenn wir Tennis spielen wollen - im Dschungel und im Wüstensand wird es schwierig und wir dürfen den Ball nicht mit dem Fuß stoßen, aber gerade deshalb gewinnen wir die Freiheit, Tennis spielen zu können. Eine Beurteilung des Lebens und eine Orientierung des Strebens aus der Perspektive der Idee ‚Glück‘ bringt neben den vielen anderen Nachteilen also auch noch das Problem mit sich, dass sie es uns schwer macht, die Freiheit zu verwirklichen, die uns in der individuellen Wirklichkeit des Lebens möglich ist - und nicht im Großen und Ganzen und von weit außen und oben her. Ein Selbstverständnis unter jener Idee bringt uns statt dessen dazu, einer Freiheit nachzujagen, die nichts mit der individuellen Wirklichkeit des Lebens zu tun hat. Mit dem Glücksbegriff wird uns nur die Freiheit eines solchen Selbstes versprochen, das wir uns jenseits unserer konkreten und individuellen Lebenswirklichkeit vorstellen müssten. Die Glücksperspektive kann uns aber nicht zu einer solchen Freiheit verhelfen, in der sich das wirkliche Selbst in der konkreten und individuellen Welt als frei erleben kann. Die Idee ‚Glück‘ kann sich also auch auf dem Gebiet der Suche nach Freiheit nicht nützlich machen, weil wir im Nirvana des ‚großen Ganzen‘ keine Spielräume der Freiheit finden können. Zu der abstrakten Welt, die uns der Glücksbegriff vorgaukelt, gehört also auch die fatale Neigung, durch das Transzendieren des Wirklichen und Konkreten unsere ganz reale Freiheit zu ignorieren. Statt dessen hängen wir uns an Vorstellungen davon, wie gleich die ganze Welt uns zu Wunsch und Willen sein könnte. Dieser Begriff trägt deshalb dazu bei, dass wir uns unter Freiheit etwas wenig Realistisches vorstellen. Das führt uns dann sehr oft ins andere Extrem und wir leugnen unsere Freiheit gleich ganz und gar ab. Mit dem Glücksbegriff geraten wir also in ein seltsames Dilemma. Er verleitet uns dazu, dass wir uns die Freiheit als etwas vorstellen, das es nur ganz und gar oder gar nicht gibt. Erst jenseits der Idee ‚Glück‘ können wir uns in der konkreten und individuellen Welt als frei erkennen, indem wir die Freiheit darin selbst machen. Das gelingt aber nicht, indem wir uns von ganz weit oben und ganz weit außen betrachten, wie wir das unter der Perspektive des Glücksbegriffs so gerne tun. Unsere Freiheit stellen wir nur dadurch her, dass wir uns von uns selbst her und bewusst auf die vielen kleinen Handlungen und Haltungen zurückwenden, die unser Leben ausmachen. Dann können wir sie so auffassen, dass wir unsere Entscheidungen darin erkennen können. Deshalb hilft uns die Vorstellung ‚Glück’ nicht dabei, in der individuellen Wirklichkeit Freiheit zu finden. Der Begriff ‚Glück’ kann sich also auch in Bezug auf die menschliche Freiheit nicht nützlich machen, … <?page no="177"?> 177 Wenn wir uns das zur Gewohnheit machen, dann stellen wir nicht nur bald fest, dass wir sehr viele Freiheiten besitzen, sondern wir können auch mehr und mehr Freiheiten gewinnen und erobern. Die ‚Große Freiheit‘, die wir uns unter der Perspektive der Glücksvorstellung vorgestellt hatten, gibt es deshalb zwar immer noch nicht - aber wer wird eine so allgemeine und leere Vorstellung schon vermissen, wenn er jeden Tag und jede Stunde seine Freiheiten entdecken und realisieren kann. 8.2 Erst jenseits der Glücksperspektive können wir uns frei aneignen, was die Zeit und ihre Moden uns bieten Wenn wir jenseits der Idee ‚Glück‘ und der mit ihr verbundenen Vorstellung einer abstrakten Freiheit auf die wirklichen und individuellen Freuden achten, die das Leben zu bieten hat, so müssen wir auch nicht mehr davor zurückschrecken, unser Vergnügen, unsere Lust und unseren Spaß in dem zu suchen, was keineswegs in jenem übertriebenen und abstrakten Sinn aus ‚uns selbst‘ stammt oder unserem Selbst zugehört, den der Glücksbegriff uns zu akzeptieren nahelegt. Mit der Öffnung für ein konkretes, flexibles und situationsabhängiges ‚Selbst‘, das wir von dem abstrakten und alles Wirkliche und Individuelle übersteigenden Sinn befreit haben, den die Vorstellung ‚Glück‘ fälschlich nahegelegt hatte, können wir ganz bequem und zwanglos auch dann ‚selbst‘ sein, wenn wir Konventionen folgen, die nur gelten, weil sie eben gelten und von vielen Menschen befolgt werden. Unter dieser Perspektive kann man dagegen nicht vorbringen, dies stelle einen schrecklichen Zustand der Entfremdung dar, den es zu beenden gilt, wenn man vor sich als anständiger Mensch bestehen will. Auch im Bereich intensiver Freuden und Vergnügungen erfinden wir unsere Welt in der Regel nicht aus dem Nichts der ‚Großen Freiheit‘ heraus selbst, sondern wir folgen sehr oft einfach den Konventionen, die wir vorgefunden haben. Daran stören wir uns nur dann, wenn wir so sehr an die Idee ‚Glück‘ glauben, dass wir in allen möglichen Erfüllungen die Verwirklichung unserer Persönlichkeit oder unseres ‚Großen Selbstes‘ am Werke sehen müssen. Nur dann werden wir einen Zustand, in dem wir Konventionen übernehmen und daran unseren Spaß haben, als einen ‚entfremdeten‘ und auf keinen Fall zu billigenden auffassen wollen. Diese Auffassung geht also auf eine in der Regel mit dem Glücksbegriff verbundene Vorstellung von Selbst und Identität voraus, die nicht nur falsch, sondern auch noch schädlich für die Gestaltung des Lebens ist. … und er verführt uns zu der Vorstellung von der ‚Großen Freiheit’, obwohl wir die Freiheiten selbst schaffen müssen. Jenseits der Glücksperspektive können wir uns auch das aneignen, was uns die Konventionen anbieten. <?page no="178"?> 178 Für die Freiheiten der konkreten und wirklichen Individualität dagegen gewinnt die Orientierung an dem, was uns aus der Geschichte unseres Werdens und unserer Bildung vorgegeben wurde, eine ganz neue und positivere Bedeutung. Das steht nur scheinbar im Widerspruch zu jenem der vielen schädlichen Aspekte der Glücksperspektive, unter welchem sie dazu führt, dass wir uns von anderen Menschen weitgehender das eigene Leben vorschreiben lassen, als dies für uns als in Gemeinschaft lebende Wesen unumgänglich notwendig ist. Entscheidend für diese Schädlichkeit ist nicht, dass wir der Sache nach für unsere Freuden und Vergnügungen Konventionen und Vorstellungen anderer Menschen übernehmen, wichtig ist vielmehr, auf welche Weise wir das tun. Wir können einerseits unter der allzu allgemeinen und abstrakten Perspektive der Idee ‚Glück‘ uns selbst von außen und ganz weit oben ansehen und uns entsprechend ebenso von außen und weit oben vorschreiben lassen, was wir zu genießen und zu empfinden haben. Wir können aber andererseits auch als konkrete Individuen, die sich nicht dieser Perspektive unterwerfen, unsere Freiheiten ergreifen, indem wir ebenso unsere Unfreiheit erkennen und sie von unseren Freiheiten zu unterscheiden lernen. Dann können wir situationsbezogen auswählen und entscheiden, was wir übernehmen und was wir verwerfen wollen, weil nun nicht mehr gleich ‚das Ganze‘ und das ‚Große Selbst‘ auf dem Spiele stehen, das wir nur in der ‚Großen Freiheit‘ einer abstrakten Selbstbestimmung finden zu können glaubten - was dazu führte, dass wir uns verpflichtet fühlten, gerade die Freiheiten des konkreten und situationsbezogenen Selbst gering zu schätzen, die wir jenseits der Vorstellung einer abstrakten Freiheit finden können. Wir gewinnen auf diese Weise eine neue Haltung gegenüber dem, was uns aus der Geschichte und den von anderen Menschen geschaffenen Konventionen überkommen ist und uns Möglichkeiten offeriert, die wir uns nun aneignen können, ohne dass wir darin uns und unsere Freiheiten verlieren müssten. Auch im Ergreifen der vorgegebenen Möglichkeiten, die wir nicht mithilfe unseres imaginären ‚Großen Selbstes‘ geschaffen haben, können wir uns also in jenem Spielraum der Freiheiten begreifen, in dem wir uns selbst gewinnen und eine Erfüllung durch konkrete Freuden, Genüsse, Spaßerlebnisse und Lüste finden können. Die konkrete Individualität, die wir jenseits der so wenig nützlichen Idee ‚Glück‘ finden können, eröffnet uns die Möglichkeit, aus dem auszuwählen, was eine Zeit in ihrem Füllhorn bereitstellt. Dieser Gewinn sollte es uns leichtfallen lassen, die einerseits überzogenen und andererseits abstrakten Ansprüche auf Ganzheit, Erfüllung und auf ein Jenseits des konkreten und individuellen Erlebens aufzugeben, die unsere Freiheit so sehr einschränken, wenn wir unser Leben an der Vorstellung ‚Glück‘ ausrichten. Als konkrete Individuen können wir frei aus den gegebenen Möglichkeiten auswählen, die eine Zeit uns anbietet. <?page no="179"?> 179 Der Gewinn daraus liegt in einem freien Umgang mit dem, was wir in einem sehr allgemeinen Sinn ‚Mode‘ nennen können. Als Mode können wir nicht nur die Gewohnheit bezeichnen, sich nach dem jeweils neuesten Stil zu kleiden - oder, für Gentlemen, den Brauch, die jeweils vorletzte Mode zu bevorzugen, während der Butler sich damit beschäftigt, die jeweils letzte Mode baldigst als getragen erscheinen zu lassen, damit sie der Gentleman künftig selbst tragen kann, ohne als Geck zu erscheinen. Bis zu einem gewissen Grad hat es auch etwas mit Mode in diesem Sinn des letztlich unbegründeten Übernehmens fremder und einfach geltender Vorstellungen und Verhaltensregeln zu tun, wenn es viele Jahrhunderte lang selbstverständlich war, Kinder mit Schlägen zu erziehen, und dasselbe gilt etwa von der aktuellen Mode in den Magazinen, alles und jedes entweder darwinistisch oder mithilfe der Gehirnforschung zu erklären. Aber auch das, was uns im konkreten und wirklichen Erleben Freude, Spaß, Vergnügen oder Lust bereitet, unterliegt in weitem Ausmaß der Mode. Erscheinungen der Mode greifen also weit tiefer in unser Leben ein, als wir uns dies in der Regel vergegenwärtigen. Es handelt sich dabei immer um Regeln oder Konventionen, die man nicht befolgen muss - wie dies etwa bei den staatlichen Gesetzen der Fall ist. Man wird auch nicht als ein moralisch minderwertiger Mensch angesehen, wenn man diesen Regeln nicht folgt. Aber die meisten Leute sehen doch auf einen herab, wenn man nicht der Mode folgt. Es wird einem also gesagt, wie man sich zu verhalten hat, wenn man modisch sein will, was in diesem Fall heißt: wenn man dazugehören, auf der Höhe der Zeit und nicht von gestern oder gar von vorgestern sein will, sondern zu den ‚richtigen Leuten‘ gehören will. Es bedeutet in der Tat eine große Anstrengung, ganz individuell sein Leben zu gestalten. Es ist sogar fraglich, ob dies überhaupt möglich ist. Wahrscheinlich können wir uns überhaupt nicht ganz von den Konventionen lösen, die uns sagen, was uns freut, Spaß macht oder Vergnügen oder Lust bereitet. Vielleicht ist es sogar nicht einmal sinnvoll und vernünftig, seine Freuden unbedingt allzu sehr individuell suchen zu wollen. Man sollte von sich und von den anderen Menschen nicht zu viel verlangen. Ein Mensch, der ganz und gar ohne solche Konventionen auskommen kann, wäre ein wahrer Superman des konkreten Erlebens - ein einsamer Held, der mit besonderen Kräften begabt ist, durch die er sich von den Konventionen seiner Zeit lösen kann und ganz seiner eigenen Individualität lebt, während wir normale Menschen uns von Fall zu Fall vom Geist der Zeit unterscheiden und dann wieder zeitweise in ihm aufgehen. Damit können wir auch mit der Abhängigkeit von Moden umgehen, die uns Lebensmöglichkeiten vorgeben. Auch das, was uns ‚glücklich’ macht, ist den Moden unterworfen und deshalb nie ganz individuell, … <?page no="180"?> 180 Nichtsdestoweniger wird auch uns keineswegs vorgeschrieben, wie weit wir den Konventionen folgen wollen, die uns über die in einer Zeit gerade als chic geltenden Freuden aufklären. Wir haben stets die Freiheit, den Konventionen mehr oder weniger zu gehorchen, sie besser oder schlechter an unsere Individualität anzupassen und ernsthafter oder spielerischer an sie zu glauben. Außerdem gibt es verschiedene Reichweiten der Konventionen. Nur sehr wenige müssen in einer ganzen Kultur befolgt werden, und nicht viele in einer ganzen Gesellschaft. Auch die Mode, wie man sich kleidet, gilt bekanntlich nicht einheitlich, außer in Ausnahmezeiten wie in der Kulturrevolution in China der Mao-Anzug. In vielen Fällen ist man geradezu verpflichtet, sich der vorherrschenden Kleider-Mode zu entziehen, wenn man zu den ‚richtigen‘ Leuten gehören will, etwa zu einer kleineren Gruppe, die sich vielleicht durch einheitlich schwarze Kleidung definiert (wie Kunstkritiker), oder durch Lederhosen (wie bisweilen die Angehörigen einer südeuropäischen Kulturnation), oder vielleicht durch Latexröcke oder was auch immer. Es ist gerade Kennzeichen der Mode, dass man dadurch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe demonstriert, die durchaus auch in eine Subkultur gehören kann, die unter Umständen nicht besonders groß sein muss. Es gehört zu unseren wirklichen Freiheiten, dass auch die konkreten ‚Glückskonventionen‘ durch den Wechsel der ‚Glücks-Modegruppen‘ gewechselt werden können. Die Bedeutung der Erscheinung, die wir in einem allgemeinen Sinne als ‚Mode‘ bezeichnen können, auch in der Gestaltung unserer Freiheiten und damit desjenigen ‚Selbstes‘, das wir in konkreten Situationen finden, führt offenbar zur grundsätzlichen Frage nach dem Stellenwert von Wirklichkeit und Authentizität in unseren konkreten Freiheiten. Wir haben in Zusammenhang mit der Frage nach dem ‚Selbst‘ und wie sich diese Vorstellung aus der Perspektive der Idee ‚Glück‘ darstellt, schon darauf hingewiesen, dass wir nicht zu leichtfertig nur dann von ‚Selbst‘ und einem dem Selbst zugeordneten ‚Glück‘ sprechen sollten, wenn wir eine ‚Authentizität‘ beanspruchen zu können glauben, die aus ‚uns selbst‘ entstanden ist. Der Terror des Authentischen hat schon mehr Menschen ‚unglücklich‘ gemacht als die unkontrollierte und unkritische Übernahme fremder Vorstellungen es je hätte können. Wenn wir uns von der Vorstellung ‚Glück‘ verabschieden und uns auf die Freiheit des wirklichen und individuellen Erlebens konzentrieren, so können wir darauf verzichten, uns mit solchen Problemen herumzuschlagen, die nur aus der falschen Vorstellung von einem abstrakten und aus dem Nichts entstandenen Selbst zurückgehen. Gegen diese terroristische Vorstellung von einem nur durch ein ‚Großes Selbst‘ gelenkten und gestalteten Umgang mit der wirklichen Welt können … obwohl wir es stets zu einer individuellen Angelegenheit machen können. In der konkreten Freiheit jenseits der Glücksperspektive können wir den ‚Terror des Authentischen’ ausschalten, … <?page no="181"?> 181 wir nun die konkrete Freiheit der wirklichen Individualität setzen, die wir in einer Leistung der Aneignung realisieren. In diesem Prozess entsteht ein Selbst aus sehr disparaten Elementen, die keineswegs alle aus dem eigenen Inneren entstanden sein müssen. In einer solchen ‚offenen‘ Identität können wir konkrete und individuelle Freuden, Vergnügungen und Lüste erleben. Auf die Versprechungen des abstrakten und nebulösen Begriffes ‚Glück‘ können wir dann getrost verzichten. Ein solches Aneignen verlangt gerade nicht den Tanz um ein goldenes Kalb namens ‚Selbst‘, wie wir ihn weiter oben als typisch für die Glücksvorstellung gesehen haben. Wir übernehmen in einem solchen Aneignen aber auch nicht einfach das, was uns andere Menschen vorschreiben wollen, sondern wir bewahren die konkrete Freiheit durch einzelne Akte des Stellungnehmens. Auf diese Weise können wir uns auch das zu eigen machen, was wir aus der Geschichte, aus dem, was in der gegebenen Kultur und Gesellschaft gängig ist, oder einfach von den Moden der Zeit übernommen haben, indem wir auswählen, zustimmen oder ablehnen. Wir brauchen dann nicht mehr die so eng mit der Idee ‚Glück‘ verbundene Vorstellung von einer abstrakten Freiheit, in welcher wir ein Selbst in der Welt verwirklichen zu müssen glauben, das durch keine ‚fremden‘ Einflüsse beschädigt sein soll. Das wirkliche und individuelle Selbst entsteht in den konkreten Akten der Zustimmung oder der Ablehnung in Bezug auf das, was vorhanden ist - gleichgültig, ob es sich um hypermodische, nur modische, altmodische oder sogar unmodische Möglichkeiten für Freuden, Vergnügungen, Spaß oder Lust handelt. Das Geschehen der Aneignung ist also ein Wechselverhältnis zwischen dem, was uns gegeben ist, und dem, was wir selbst durch unser Stellungnehmen erschaffen, indem wir uns mit dem, was vorhanden ist, auseinandersetzen. Von einer solchen Freiheit durch Aneignung sind wir jedoch weit entfernt, wenn wir unser Leben mithilfe der Idee ‚Glück‘ beurteilen und bewerten und das Streben an ihr ausrichten. Der Glücksbegriff erhebt zu stark transzendierende Ansprüche, um bei dem konkreten und individuellen Leben bleiben zu können, das wirklich gelebt wird. Deshalb kann er einerseits der unkritischen und unreflektierten - und deshalb nicht aneignenden - Übernahme von fremden Vorstellungen über das richtige Leben nur wenig Widerstand entgegensetzen. Dazu ist die mit ihm verbundene Vorstellung von Selbst und Identität viel zu nebulös und abstrakt. Andererseits kann er jedoch auch keine geeignete Basis zur Verfügung stellen, damit wir uns … und auf den Zwang zu einer künstlichen Originalität verzichten, wie ihn die Glücksvorstellung ausübt. Wir können unsere konkrete Freiheit dann auch in dem finden, was in der wirklichen Geschichte entstanden ist, … … und uns auf die Aneignung des Wirklichen und geschichtlich Gewordenen konzentrieren. <?page no="182"?> 182 das produktiv aneignen können, was uns von der Zeit und der Kultur, in der wir leben, oder auch nur durch die Moden dieser Zeit an Optionen für Freuden, Vergnügungen, Lüste und Spaß vorgegeben werden. Er gibt uns vor allem keine Unterstützung für ein Stellungnehmen zu dem, was uns vorgegeben ist und das wir wählen oder verwerfen können. Nur in einem solchen Stellungnehmen gelangen wir aber zu jener Aneignung, in der die konkrete und individuelle Freiheit entsteht. Es ist auch deshalb kaum einzusehen, wie die Vorstellung ‚Glück‘ nützlich sein könnte. 8.3 Der Glücksbegriff macht es uns schwer, die Situation unserer Freiheit zu erkennen Wir haben nun schon einige Aspekte beschrieben, unter denen die Orientierung an der Idee ‚Glück‘ eine Aufgabe oder zumindest Einschränkung unserer Freiheit fordert bzw. zur Folge hat. Unsere konkreten Freiheiten finden wir besser dann, wenn wir die Glücksperspektive auf sich beruhen lassen und nicht mehr ‚das Ganze‘ und das auch noch von oben und sehr weit außen in den Blick zu fassen suchen, sondern uns am Konkreten und Individuellen orientieren. Es gibt jedoch noch weitere Aspekte, die jene Perspektive als wenig empfehlenswert erscheinen lassen, wenn wir die Möglichkeiten unserer Freiheit bzw. Freiheiten erforschen wollen. Einem besonders wichtigen widmen wir uns in diesem Kapitel etwas näher. Er geht vor allem darauf zurück, dass die Verpflichtung auf die Ganzheits- Perspektive des Begriffs ‚Glück‘ es uns schwer macht, Widersprüche zwischen unseren verschiedenen Willen zu erkennen, klar ins Auge zu fassen und auszuhalten. In der Orientierung am Ganzen, zu der uns die Glücksvorstellung zwingt, darf es solche Konflikte eigentlich nicht geben. Die Suche nach Glück bringt uns deshalb sehr oft dazu, aus der wirklichen Situation unserer Freiheit in solche Selbsttäuschungen zu flüchten, mit denen wir die Konflikte zwischen unseren Willen maskieren. Wir haben weiter oben schon kurz auf den wichtigen Unterschied zwischen dem Wünschen und dem Wollen aufmerksam gemacht (Kap. 3.2). Ein Wunsch muss nicht das Streben nach seiner Verwirklichung enthalten, deshalb müssen wir grundsätzlich nicht moralisch darüber urteilen. Er wird erst dann zu einem Wollen, wenn wir bereit sind und danach streben, ihn in der Welt wirklich werden zu lassen. Ob uns das gelingt, ist dabei nicht entscheidend. Zu der konkreten und individuellen Freiheit, die wir dann finden können, wenn wir auf die mit der Glücksvorstellung nahegelegten abstrakten Ideen von Selbst und Selbstbestimmung verzichten, gehört auch die Bereitschaft, diesen Unterschied im Leben umzusetzen. Das erfordert allerdings, dass wir einige Illusionen über das Wünschen und Wollen aufge- In der konkreten Freiheit haben wir es mit Wollen statt mit Wünschen zu tun, … <?page no="183"?> 183 ben. Eine dieser Illusionen bezieht sich darauf, dass sich unsere Wünsche widersprechen können, wenn wir sie ins Wollen übersetzen, was wir nur sehr ungern akzeptieren. Die Möglichkeit von Widersprüchen innerhalb unserer Freiheiten ist sogar einer der wichtigsten Gründe dafür, dass wir die Spielräume unserer Freiheit oft nicht erkennen. Wir formen solche Widersprüche sehr gerne um und verstecken sie in der Behauptung, dass wir etwas nicht können, obwohl wir es doch wünschen und sogar wollen. Wer das Rauchen aufgeben oder sein Gewicht reduzieren will, der findet in der Regel immer einen Grund für das Verfehlen dieser Ziele, der vermeintlich nicht in seiner Macht steht. Dabei lassen wir außer Acht, dass wir uns immer entschieden haben. Wir ertragen aber nur schwer, dass die Welt sehr oft sachliche Unvereinbarkeiten zwischen unseren verschiedenen Willen entstehen lässt. Wer abnehmen will, der wird in der Regel nicht dadurch daran gehindert, dass sein Wille, das Gewicht zu reduzieren, seinem Nicht-Können gegenüber steht, das jenen Willen zuschanden werden lässt. In Wahrheit gibt es einen Willen, die überflüssigen Pfunde loszuwerden, und einen zweiten Willen, sich an all den Leckereien zu erfreuen, die leider mit so vielen Kalorien kommen. Das Problem besteht also eigentlich darin, dass sich diese beiden unterschiedlichen Willensrichtungen in der schnöden Wirklichkeit widersprechen und deshalb nicht beide verwirklicht werden können. Dummerweise ist die Welt so, dass gerade viele Kalorienbomben lecker sind und deshalb zu leicht unseren Willen zum Vernaschen wecken. Dass sie den Willen wecken, heißt aber noch nicht, dass wir solchen Wünschen ausgeliefert sind. Wir entscheiden über diesen Willen und wir können auch auf die schönsten Leckereien verzichten. Nur eines können wir nicht: hemmungslos schlemmen und gleichzeitig das Idealgewicht halten. In ein Problem geraten wir also nur, wenn wir uns zusätzlich zu dem Willen, möglichst oft köstlich zu speisen, auch noch den Willen zulegen, im Body-Mass-Index im Bereich Normalgewicht zu bleiben. Bei den beiden Willen sind wir frei. Nicht frei sind wir jedoch in Bezug auf die Vereinbarkeit dieser beiden Willen. Hier sind wir ganz einfach den Naturgesetzen ausgeliefert, welche dafür sorgen, dass unser Körper die für das organische Leben überflüssige Nahrung ganz einfach und rücksichtslos in der Form von Fettpolstern für schlechte Zeiten speichert. In dieser Situation schreiten wir in der Regel dazu, den Willenskonflikt einfach abzuleugnen und an seiner Stelle einen Konflikt zwischen dem, was wir wollen, und dem, was wir können, zu sehen. Aber die Naturgesetze schreiben uns keineswegs vor, dass wir von einem ganz anderen Konflikt sprechen als von dem, der tatsächlich besteht. Im Leben gab es immer eine Wahl und es wird immer eine Wahl geben. Deshalb gab es auch immer Entscheidungen und es wird immer um Entscheidungen gehen. Es gab stets Alternativen und es wird immer Alternati- … und leider können sich auch Willen widersprechen, so dass wir nicht beide verwirklichen können. <?page no="184"?> 184 ven geben. Aber wir neigen sehr stark dazu, unsere Freiheit durch ein falsches Selbstverständnis - härter gesagt: durch eine Selbsttäuschung - als viel begrenzter anzusehen, als sie in Wahrheit ist. Der Kern dieser Selbsttäuschung liegt darin, dass wir unser wirkliches Wollen vor uns verbergen, oder er liegt darin, dass wir uns nicht eingestehen, wie wenig wir oft über die Realisierung unseres Wollens bestimmen können. Abnehmen zu wollen ist leicht gesagt, aber diese Absicht ist manchmal schwer zu verwirklichen. Als Begründung können wir dann etwa Wünsche aus dem sogenannten Unbewussten angeben, oder wir berufen uns auf das, was wir als Kind gelernt haben, oder vielleicht kennen wir uns ein wenig in der Gehirnforschung aus und geben als Erklärung Zusammenhänge in den Schaltungen der Gehirnzellen an, vielleicht haben wir sogar noch die neueste Mode der Selbsterklärung kennen gelernt - die Evolutionstheorie als Passepartout für alles und jedes - und verweisen nun darauf, um die Unfähigkeit zu begründen, das Ziel einer Gewichtsreduktion zu erreichen. Das mag für die Vorhersage des Verhaltens von großen Gruppen alles interessant sein. Im Individuum jedoch stehen in Wahrheit nichtsdestotrotz zwei Willen in Konflikt miteinander. Es scheint jedoch sehr schwer zu sein, diese beiden Willen zuzugeben und ihren Konflikt zu akzeptieren. Leichter ist es, nur den einen der beiden Willen zu akzeptieren und den anderen zu verleugnen. Wir sagen dann nicht: ich habe mich für einen der beiden konfligierenden Willen entschieden - sondern wir sagen gerne: ich schaffe es einfach nicht, oder: ich bin schon wieder schwach geworden, oder: mein Unbewusstes ist schon wieder stärker, oder, oder … In Wahrheit ist eine Entscheidung gefallen, zu der wir nicht stehen wollen, und die wir nicht einmal als solche anerkennen wollen. In Wahrheit haben wir also unsere Freiheit verwirklicht, auch wenn uns das Ergebnis nicht befriedigt, weil die Welt uns daran gehindert hat, die beiden Willen zugleich zu verwirklichen. Über die Folgen dieser freien Entscheidung können wir allerdings in der Tat nicht bestimmen. Wenn wir uns für den Genuss von einem Übermaß an Speis und Trank entscheiden, dann werden wir keinen Erfolg bei der Reduktion des Körpergewichts haben, der Blutdruck und die Blutfettwerte werden steigen, und damit wird das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen zunehmen. Weil uns diese Folgen unserer Freiheit nicht gefallen, deshalb leugnen wir die Entscheidung, erkennen nur den Willen zur Gewichtsreduktion an und schieben deren Scheitern auf Faktoren außerhalb unserer Freiheit. Natürlich könnte man sagen, dass wir damit auf eine bestimmte Weise recht haben - aber eben nicht auf die Weise, die wir zum Ausdruck bringen wollen. Es liegt in der Tat außerhalb unserer Freiheit, beide Willen mitein- Wir entscheiden dann zwischen zwei Willen, was wir oft nicht wahrhaben wollen, … … weshalb wir die Folgen der Freiheit gerne ableugnen und einen der Willen als ‚Nicht-Können’ deklarieren. <?page no="185"?> 185 ander zu vereinbaren, aber deshalb handelt es sich nicht weniger um Willen, zwischen denen wir uns in Freiheit entscheiden. Die Maskierung des einen Willens als ein Nicht-Können erinnert dagegen ein wenig an die Geschichte von dem Lehrer, der sieht, dass zwei Schüler auf dem Fensterbrett des Klassenzimmers stehen. Sagt er: „weg da, sonst fällt noch einer in den Schulhof, und dann will es wieder keiner gewesen sein“. Wir neigen in der Tat stark zu der Haltung, es hinterher nicht gewesen sein zu wollen, wenn wir uns so entschieden haben, dass bei zwei - oder sogar mehr - Willen im Konflikt der eine der beiden aufgrund der Naturgesetze nicht realisiert werden kann. Entscheidungen sind eben nicht immer ein Honiglecken. Deshalb leugnen wir unsere Freiheit bei in gegensätzliche Richtungen strebenden Willensrichtungen und finden einen Ausweg in der Behauptung, unser Wille sei durch das Unbewusste, die Evolution oder durch Gehirnfunktionen ausgeschaltet. Sicherlich liegt eine Unfreiheit darin, dass wir die Welt nicht einfach so einrichten können, dass es keine Widersprüche zwischen unseren verschiedenen Willen gibt. Nichtsdestoweniger haben wir uns doch zuvor entschieden. Erst dadurch gibt es überhaupt zwei Willen, die sich in der schnöden Wirklichkeit so widersprechen, dass sie nicht zugleich zu verwirklichen sind. Wir haben uns also in fast allen Fällen, in denen wir auf der einen Seite einen Willen und auf der anderen Seite Hemmnisse außerhalb unserer Verantwortung am Werke glauben, zwischen verschiedenen Möglichkeiten des Wollens entschieden. Wir wollen nur meist nicht dazu stehen. Wir werden uns auch immer wieder zwischen verschiedenen Möglichkeiten entscheiden (müssen). Also sollten wir uns besser als diejenigen Menschen anerkennen, die Entscheidungen getroffen haben. Die Wahl zwischen zwei Alternativen mag nicht immer angenehm erscheinen. Aber es sind eben die eigenen Alternativen, die auf verschiedene Entscheidungen zurückgehen. Die Wahl fällt zwischen verschiedenen Willen, und wer wir sind, bestimmen wir auch durch unsere Willensentscheidungen - ohne dass wir gleich so etwas wie ein ‚fixes Selbst‘ in unserem Inneren vermuten müssten. Wenn wir zu unseren Willensentscheidungen stehen, dann bekennen wir uns dazu, dass die vielleicht unbequeme Entscheidung zwischen Alternativen in erster Linie durch unsere widersprüchlichen Willen bedingt war. Wir wählen dann in dem Sinne uns selbst, dass wir nicht den widrigen Umständen auf falsche Weise die Schuld geben. Natürlich haben die Umstände auf andere Weise durchaus ihren Anteil am Zustandekommen gerade dieser Entscheidungssituation - wäre die Welt anders, könnten wir vielleicht Völlerei treiben und schlank bleiben und Drogen konsumieren und gesund Das Nicht-Können ist aber unsere Unfähigkeit, die Welt so zu verändern, dass sich alle Willen vereinbaren lassen. Wir sollten uns besser als Menschen anerkennen, die Entscheidungen getroffen und sich darin als frei gezeigt haben. <?page no="186"?> 186 sein. Es befreit uns aber nicht aus der Wahlsituation, dass die Umstände daran schuld sein können, wenn wir nicht beide Willen in die Tat umsetzen können, weil sie nicht zu vereinbaren sind - das geht in der Regel darauf zurück, dass die Welt so ist, dass sie nicht beides zulässt. Es geht also bei solchen Erklärungen aus dem Unbewussten oder aus noch anderen Ursachen immer darum, dass man nicht bereit ist, zu dem zu stehen, wofür man sich entschieden hat. Gerade dadurch versäumen wir das wirkliche und konkrete Leben. In der Wirklichkeit gibt es Entscheidungen, die man bewusst getroffen hat. Aus nicht ganz verständlichen Gründen wünschen wir dann aber diese Entscheidungen als Ergebnis einer Größe darzustellen, die wir z. B. als ‚das Unbewusste‘ oder als ‚Neuronenimpulse‘ o. ä. bezeichnen - obwohl diese Größen ihre Bedeutung doch eigentlich in der Bestimmung der Entscheidungssituation haben, nicht in der Wahl zwischen den auf dieser Grundlage gegebenen Möglichkeiten. Wir wollen das Vorliegen einer Entscheidung nicht akzeptieren und wählen die Flucht in eine Erklärung durch Determinanten, die nicht unserer Verfügung unterstehen. Man könnte oft meinen, eine der wichtigsten und bestimmendsten Antriebe des Menschen sei die Angst vor der Freiheit. Diese Angst bleibt aber nicht ohne Folgen. Wir leben auf eine bestimmte Weise, wenn wir für das Ergebnis der Wahl zwischen zwei Willen ein Nicht-Können so verantwortlich machen, dass wir den einen Willen wegleugnen und ihn als Nicht-Können maskieren. Wir leben auf eine andere - und in der Regel bessere - Weise, wenn wir die beiden Willen akzeptieren und dazu stehen, dass nicht beide in die Wirklichkeit umgesetzt werden können. Es ist dieses Akzeptieren, das es uns erlaubt, mit unserer individuellen und konkreten Welt besser umzugehen. Die Einsicht, dass zwei nicht zu vereinbarende Willen am Werke sind, steht meistens am Anfang einer nachhaltigen und erfolgreichen Abkehr von Alkohol, Nikotin oder einem Übermaß an Leibesfülle. Natürlich gilt das nicht nur für solche schädlichen Gewohnheiten, sondern auch im Falle von existenziellen Problemen, die unter Umständen das ganze Leben eines Menschen steuern können. Bei dieser Einsicht muss man nicht unbedingt stehen bleiben. Gerade auf ihrer Grundlage kann man jedoch oft Wege finden, um die verschiedenen Willen doch noch auf die eine oder andere Weise zusammen in der Wirklichkeit realisieren zu können, auch wenn das ein gewisses Maß an Kompromissbereitschaft verlangt. Menschen, die keine Probleme mit Glück oder ähnlichen Zuständen haben und nicht unglücklich sind wie die meisten Glückssucher wegen ihres falschen Suchens, verfügen in der Regel über ein sehr einfaches Wenn wir nicht zu unseren Entscheidungen stehen, versäumen wir das wirkliche und konkrete Leben. In diesem Leben akzeptieren wir, dass es widersprüchliche Willen gibt, die wir nicht beide verwirklichen können. <?page no="187"?> 187 Erfolgsgeheimnis. Sie können ihre verschiedenen Willensbestrebungen so organisieren, dass sie sich nicht widersprechen, d. h. sie können sie in eine Hierarchie bringen und wissen immer, welche Willensbestrebung sie gerade jetzt am Besten verwirklichen sollten. Das heißt nicht, dass sie keine Widersprüche zwischen ihren Willensbestrebungen erkennen und empfinden. Aber sie sind in der Lage, diese Willen so zu hierarchisieren, dass es keine lebenshemmenden Widersprüche zwischen ihnen gibt. Sie können die aus den Verhältnissen in der natürlichen und sozialen Welt resultierenden Widersprüche zwischen Willensbestrebungen ertragen, indem sie sie in eine Hierarchie bringen und auf diese Weise Prioritäten setzen. Das setzt natürlich gerade voraus, dass sie sich nicht an der Glücksperspektive orientieren, die es uns wegen ihrer Orientierung an einer Ganzheit verbietet, die Willen in konkreten Situationen und für überschaubare Zeitperioden geltend in Beziehungen von Über- und Unterordnung zu bringen und damit die einen zuzulassen und die anderen zurückzustellen und auf wieder andere ganz zu verzichten. Ohne die Idee ‚Glück‘ müssen in solchen Situationen nicht gleich Entscheidungen für das ganze Leben und damit aus der Perspektive von sehr weit oben und noch weiter außen getroffen werden. Verlieren wir uns dagegen in dieser Perspektive, so können wir es aufgrund der aus der Tradition auf uns überkommenen Bedeutung von ‚Glück‘ in der Regel nicht akzeptieren, dass in der wirklichen Welt Entscheidungen in Situationen getroffen werden müssen, die wir so nicht geschaffen haben, obwohl wir in ihnen nichtsdestoweniger unsere Freiheiten finden. Dass wir zwischen Völlerei und schlankem Aussehen wählen müssen, konnten wir uns nicht aussuchen - aber solche Alternativen geben uns die Möglichkeit, wählen zu können. Nur ein Selbstverständnis unter der merkwürdigen Perspektive des Begriffs ‚Glück‘ bringt uns dazu, diese Wahl verstecken und sie als Ergebnis eines Wollens und eines Nicht-Könnens ausgeben zu müssen. Von einem Zen-Meister ist die Geschichte überliefert, er habe nach langem Üben im Zen eines schönen Tages auf einem Wochenmarkt einen Verkäufer seine Ware mit dem Spruch anpreisen hören: ‚Es ist alles das Beste! ‘. Daraufhin war das Üben zu Ende, weil der künftige Meister mit einem Schlag die Erleuchtung erlangt hatte. Das ist sicher eine radikale Lösung für die Probleme mit widersprüchlichen Willen, die sich wegen der Verhältnisse in der schnöden Welt so oft nicht gemeinsam verwirklichen lassen. Für uns gewöhnliche Menschen ist ein Zustand wahrscheinlich nur schwer zu erreichen, in dem wir alles als das Beste auffassen. Aber es gibt einen wichtigen ersten Schritt dazu: wir können uns klarmachen, dass wir es meistens mit verschiedenen Willen zu tun haben und nicht mit einem Willen auf der einen und einem Nicht-Können auf der anderen Seite. Wir sollten uns also nicht von der Herrschaft der Idee ‚Glück‘ daran hindern Der Glücksbegriff steht einem Ordnen der Willen entgegen, mit dem wir ein Stück Freiheit gewinnen können. <?page no="188"?> 188 lassen, dass wir wenigstens einen Anfang machen mit dem Weg zu einer klaren Hierarchisierung unserer Willen. Dann bleiben immer noch genug Probleme aus der Tatsache, dass die Welt es uns nicht erlaubt, alle unsere Willen zu verwirklichen. Die schnöde Welt widersetzt sich der Verwirklichung unseres Willens so oft, dass keine Langeweile aufkommt, wie das in einer Welt der Fall wäre, in der alle Wünsche stets erfüllbar und alle Willen vereinbar wären. 8.4 Die konkreten Freiheiten finden wir, indem wir die Welt nicht unter dem Zwang der Glücksvorstellung umdeuten Wir sollten uns nicht vorstellen, die konkreten und individuellen Freiheiten jenseits der unnützen Perspektive der Idee ‚Glück‘ seien der Weg in die Erfüllung aller Träume und Wünsche. Eine solche Phantasie gehört zu dem, was man zusammen mit diesem Begriff vernünftiger- und sinnvollerweise aufgeben sollte. Natürlich bleibt uns die Differenz erhalten zwischen dem, was wir uns wünschen, und dem, was wir bekommen können. Das ist schon deshalb der Fall, weil wir nicht immer im voraus wissen, welche Wünsche wir verwirklichen werden können, so dass es immer vernünftig ist, ein paar Wünsche mehr zu haben - nur für den Fall, dass sich doch mehr realisieren lässt als zunächst gedacht. Weil wir nie so genau wissen, was wirklich realistisch ist, deshalb sind unerfüllte Wünsche sozusagen in die Ökonomie des Lebens eingebaut und gehören zu ihren Funktionsbedingungen. Das Fortbestehen unerfüllter Wünsche muss uns aber dann nicht daran hindern, eine ganze Menge Spaß, Freude, Vergnügen und Lust zu haben, wenn wir die Orientierung an der Idee ‚Glück‘ aufgegeben haben. In der Ideologie des Glücks dagegen kann es eigentlich nicht vorkommen, dass wir ein Wünschen als solches akzeptieren, auch wenn es nicht in ein Wollen und darüber hinaus in eine Realität führen kann. Unter der Vorstellung ‚Glück‘ müssen wir unterhalb der vollständigen Erfüllung alles Wünschens auch die positiven Erfahrungen vor allem als Leiden am Ungenügen erfahren, welches Leiden dann aus dieser Perspektive wiederum stets als Teil eines umfassenden Unglücks betrachtet wird. Auch das Leiden betrachten wir aus diesem Blickwinkel in der Regel nicht in seiner konkreten und individuellen Wirklichkeit, in der es meistens weniger bedeutsam ist als aus der Perspektive auf ein imaginäres Ganzes, das entweder ganz gut oder ganz schlecht sein muss. Jenseits der Orientierung an der Glücksperspektive erwartet uns also nicht ein Zustand vollkommener Erfüllung oder der Freiheit vom Wünschen, wie uns dies der Begriff des Glücks verheißen wollte. Wir sollten Unerfüllte Wünsche gehören zur Ökonomie des Lebens, und wir sollten kein wunschloses Unglück anstreben. <?page no="189"?> 189 durch den Verzicht auf die Idee ‚Glück‘ nicht das erwarten, was diese Perspektive nicht einlösen konnte. Realistischer ist es, die Befreiung von den nicht einlösbaren Versprechungen des Glücksbegriffes zu suchen. Darin können wir einen besseren Zugang zu unserem wirklichen Erleben und zu den konkreten und individuellen Möglichkeiten des Lebens finden. Aber jenseits der Glücksperspektive liegt auch nicht das Reich der Askese und des Verzichts auf den Spaß, die Freuden, Vergnügungen und Lüste, die das Leben für fast alle Menschen zu bieten hat, wenn auch vielleicht nicht immer und nicht oft genug. In der Regel werden wir für den Verzicht auf die sowieso nicht nützliche Vorstellung ‚Glück‘ und die entsprechende Perspektive auf das Leben durch ein Mehr an Spaß, Vergnügen, Freude und Lust sehr gut entschädigt, und wir gewinnen ein höheres Maß an Freiheiten, wenn wir uns von der illusionären Orientierung an der ‚Großen Freiheit‘ befreien. Wir sollten uns das Reich der individuellen und konkreten Freiheiten also nicht so vorstellen, dass darin durch eine kleine Hintertür doch wieder ‚das Glück‘ eingeführt wird, das wir doch gerade als einen unnützen und schädlichen Gast durch die Vordertür hinausgeworfen haben. Dieser Trick ist gerade bei den Fanatikern der Ideologie des Glücks sehr beliebt. Er funktioniert vor allem so, dass eingeräumt wird, auch Leiden und andere unangenehme Erfahrungen seien wohl unvermeidlich, aber eigentlich und in Wahrheit und durch eine wundersame Fügung doch genau das, was im Großen und Ganzen wieder zum Glück, zum Heil oder zur Heilung führt. Was aber in Wahrheit durch eine solche Hintertür eingelassen wird, sind alle Übel und Mängel, die der Begriff ‚Glück‘ durch seine in der Geschichte aufgenommene und tradierte Bedeutung mit sich bringt - und wenn eine solche vermeintliche Lösung durch den Hinweis auf das ‚Große und Ganze‘ begründet wird, sollten wir stets besonders misstrauisch sein, denn das ‚Ganze‘ ist grundsätzlich und stets das ‚Unwahre‘. Wie dieser Trick funktioniert und was daran falsch ist, dies kann eine kleine Geschichte veranschaulichen, in der jener Ganzheitswahn der Sklaven des Glücks sehr gut zum Ausdruck kommt. Wir können in ihrer Kritik auch erkennen, wie die Freiheiten aussehen können, die wir jenseits der Perspektive auf das ‚große Ganze‘ von weit außen und weit oben gewinnen. Sie wird in sehr vielen verschiedenen Versionen erzählt, deren vermeintliche Lehre aber immer gleich ausgedrückt wird. In einer Version wird von einem bösen Derwisch erzählt, der eines Tages in eine Oase in der Wüste gekommen sei und viele kleine Palmenpflanzen erblickte. Da er gerade besonders übel gelaunt war, nahm er einen schweren Stein und legte ihn auf eine der jungen Palmen und freute sich daran, wie sie sich zu Boden Jenseits der Glücksperspektive finden wir kein ‚Großes Selbst’, aber Freiheiten für Spaß, Freude und Lust. Dass Lasten in einem Leben zum Vorteil gereichen, versucht uns eine bekannte Geschichte zu verdeutlichen, … <?page no="190"?> 190 beugte und am Wachsen gehindert wurde. Viele Jahrzehnte später führte den Derwisch sein Weg wieder in die gleiche Oase, wo er sich an seine Tat erinnerte und eine besonders verkrüppelte Palme suchte, in der Meinung, zu einer solchen müsse sich jene mit dem Stein beschwerte kleine Pflanze entwickelt haben. Was er am Ort seiner Missetat fand, war jedoch eine besonders hohe und mächtig gewachsene Palme. Meistens enthält die Geschichte auch noch eine Erklärung zur Nutzanwendung für den Leser, die von der nun sogar sprechenden Palme vorgebracht wird. Sie bedankt sich bei dem bösen Derwisch für seine Tat, denn der Stein habe sie dazu gebracht, mehr Kraft zu entwickeln als alle anderen Palmen, so dass sie schließlich zum höchsten und stolzesten Baum der Oase habe werden können. Wir müssen die Lehre dieser Geschichte also nicht mehr erklären. Merkwürdigerweise gefällt vielen Menschen diese Geschichte und sie fühlen sich von ihr berührt. Wahrscheinlich hängt das damit zusammen, dass sie so perfekt in die Perspektive auf das Leben passt, die uns der Glücksbegriff und seine lange Tradition nahelegen. Leider ist sie nach wesentlichen Hinsichten falsch. Die richtigen Hinsichten dagegen bleiben gerade in einer Perspektive, wie wir sie unter der Vorstellung ‚Glück‘ einnehmen, unberücksichtigt. Das Gefallen an dieser Geschichte resultiert vor allem aus der Vorstellung einer imaginären Freiheit, wie sie durch die Orientierung an der Glücksperspektive entsteht. Das alleine wäre noch kein so großer Fehler. Aber dahinter verschwinden die konkreten Freiheiten, die in solchen und ähnlichen Geschichten zunächst verdeckt werden, obwohl sie bei genauerem Hinsehen darin manchmal doch auch gefunden werden können. Zunächst aber ist die Geschichte nur töricht. So einen Unsinn glaubt nur, wer dem falschen Selbstverständnis unter der Idee des Glücks ganz und gar folgt. Sie ist vor allem deshalb töricht, weil sie die Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Lebensenergie missachtet; und sie ist darüber hinaus töricht, weil sie einen Vergleich mit anderen Möglichkeiten statt mit den eigenen heranzieht. Diese Geschichte mag also zunächst berühren und vielleicht sogar eine gewisse Hoffnung für Menschen bereit halten, die selbst mit schweren Lasten umgehen müssen, die sie aus der Kindheit mitschleppen und die nicht abgelegt werden können. Aber die vermeintliche Lehre dieser Geschichte erweist sich dann doch als töricht aus vier verschiedenen Gesichtspunkten. Sie ist darüber hinaus schädlich und hilft niemandem. Sie kann nur zu Enttäuschungen führen und hält keine nützlichen Lehren bereit. Sie ist unter einem ersten Gesichtspunkt töricht, weil sie nicht wahr ist. Schwere Lasten führen nicht zu einem höheren und schöneren Wuchs des Lebens, sondern zwingen dazu, große Energien nur dafür einzusetzen, die- … deren richtige Lehre aber in der Glücksperspektive vergessen wird, aus der nur die falsche Lehre betont wird. <?page no="191"?> 191 se Lasten zu tragen. Diese Energien stehen nicht mehr für andere Zwecke zur Verfügung. Auch im Leben ist die verfügbare Energie begrenzt. Die Geschichte ist töricht aber auch unter einem zweiten Gesichtspunkt. Sie führt zu Illusionen, die in Enttäuschungen resultieren müssen. Sie hindert Menschen daran, ihre wirkliche Lage zu erkennen. Sie täuscht vor allem über die notwendige Einsicht hinweg, dass die Lasten der Kindheit real sind und nicht einfach abgelegt werden können. Sie führt also zu der Vorstellung, solche schweren Gewichte könnten verschwinden und ihre schädlichen Folgen könnten sich in Nichts auflösen. Sie versucht uns glauben zu machen, die Lasten könnten sich schließlich als ein ‚Glück‘ herausstellen und waren also eigentlich gar keine Lasten. Gewiss ist es nicht gänzlich unmöglich, Lasten zu Chancen umzuformen. Der entscheidende Punkt dabei ist jedoch, dass dies nur ganz wenigen Menschen glückt. Von ‚glücken‘ können wir in diesem Fall sprechen, wenn die Lasten so umgeformt werden, dass sie zu förderlichen Faktoren für den betreffenden Menschen selbst werden. Genau dies ist aber nur ganz, ganz selten der Fall. Die Geschichte ist also töricht, weil sie den Ausnahmefall nonchalant als Regel erscheinen lassen will. Deshalb führt sie im Regelfall in die Irre. Man könnte als Beleg für die beanspruchte Weisheit dieser Geschichte darüber hinaus solche Leistungen anführen, die von Menschen gerade aufgrund eines schweren und meistens unglücklichen Lebens erbracht wurden. Man könnte hier vielleicht manche Schriftsteller, Künstler oder Wissenschaftler nennen. Kafka ist es gelungen, aus dem ‚Prozess‘, den er gegen seinen Vater in einem geheimnisvollen ‚Schloss‘ führen musste, ein eindrucksvolles Stück Weltliteratur zu machen. War Kafka glücklich? Hatte er dadurch das Bewusstsein, ein gelungenes Leben zu leben? Soweit wir über sein Leben Bescheid wissen, war dies wohl nicht ganz der Fall - obwohl wir uns vor solchen Urteilen eigentlich hüten sollten und dieses Beispiel deshalb fiktiv gemeint ist. Darüber hinaus ist die Geschichte auch unter einem dritten Gesichtspunkt töricht, weil sie zwei Ergebnisse eines Lebens unter schweren Kindheitslasten miteinander verwechselt und uns nahelegt, wir sollten diese Verwechslung mitmachen. Das eine Ergebnis besteht darin, wie sich das Leben für den betreffenden Menschen darstellt, und das andere Ergebnis ist die Darstellung dieses Lebens für andere Menschen. Für andere Menschen kann das Leben eines Menschen mit schweren Kindheitslasten ein faszinierendes Schauspiel darstellen. Es kann auch zu Hervorbringungen in Kunst, Literatur oder Wissenschaft führen, um derentwillen wir ihn bewundern. Für ihn selbst aber bleibt unabhängig davon in Geltung, dass diese Lasten Aus der Glücksperspektive darf es kein Leiden geben und wir müssen alle Lasten zu Chancen umdefinieren, … … und wir neigen dann dazu, den Blick von außen mit dem von innen zu verwechseln. <?page no="192"?> 192 seine Lebensenergien in Anspruch nahmen und seine Entwicklungsmöglichkeiten für ihn selbst beschränkten. Er selbst hätte sein Leben vermutlich nicht als ein Schauspiel leben wollen, dem er von außen her zusieht. Schließlich gibt es noch einen vierten Grund, warum diese Geschichte so töricht ist. Sie verleitet uns dazu, uns dann, wenn wir unser Leben verändern wollen und alte Lasten abwerfen möchten, mit anderen zu vergleichen, statt mit gerade und genau unseren eigenen besseren Möglichkeiten. Das hängt natürlich wieder mit der Verwechslung von Innen- und Außenperspektive zusammen. Der erstaunliche Erfolg der schweren Last ist in dieser Geschichte von vornherein aus der Perspektive auf die Palme von außen gesehen, und die Geschichte stellt dies als ganz natürlich hin. Mit diesem Trick streicht sie die Frage danach gleichsam durch, wie es sich mit diesem vermeintlichen Erfolg denn aus der Innenperspektive des Opfers verhalte. Diese kritische Betrachtung könnte die Vorstellung nahelegen, wir würden von vornherein nur über eine vorgegebene Menge an Lebensenergie verfügen, die wir nicht neu erzeugen können. Das ist aber keineswegs der Fall. Lebensenergie ist nicht statisch zu verstehen, sondern in einem dynamischen Sinne, d. h. sie ist variabel und kann verändert und sogar neu erzeugt werden. Aber man sollte sich nicht den Illusionen hingeben, die diese Geschichte ganz selbstverständlich voraussetzt. Auch die Fähigkeit zur Erhöhung der Energiemenge und zu ihrer Wiederherstellung ist von den Voraussetzungen abhängig, die wir in der Kindheit erworben haben. Auch diese Voraussetzungen sind nicht statisch. Vor allem können sie durch eine neue Sicht auf die eigene Vergangenheit verändert werden. Mit einer solchen Veränderung des Bewusstseins, das wir von unserem eigenen Leben und unseren eigenen Chancen haben, verändern sich auch die Möglichkeiten, immer wieder neue Lebensenergien zu erzeugen. Dies kann für verschiedene Menschen auf ganz verschiedenen Wegen geschehen, und es ist für den Erfolg von entscheidender Bedeutung, dass jeder diejenigen Wege findet, die gerade für ihn persönlich die richtigen sind. In der Außenperspektive, die uns von dieser Geschichte nahegelegt wird, geht aber genau dieser Aspekt verloren. Für den einen kann dies eine intellektuelle Einsicht sein, die ihn oder sie dazu befähigt, sich von verhängnisvollen Einflüssen so weit zu distanzieren, dass sie zu einem anfassbaren und damit ‚behandelbaren‘ Gegenstand werden. Für den oder die andere kann eine solche Veränderung daraus entstehen, dass er oder sie zu einer emotionalen Identifikation mit einem anderen Menschen findet, der andere Lebensmöglichkeiten, Lebensbewältigungsstrategien oder Horizonte vorstellt, die man selbst als Modell für sich gelten lassen kann. Man übernimmt solche neuen Horizonte dann, weil Diese Perspektive behindert individuelle Lösungsstrategien, die von dem ausgehen müssen, was wirklich ist. <?page no="193"?> 193 die emotionale Beziehung zu dem Vertrauen führt, der andere Mensch könne und werde die richtigen Wege weisen. Dann entsteht ein Gegengewicht gegen die Horizonte, die lebensfeindlich waren und in deren Licht das Leben nur Probleme bieten konnte. Wieder andere Menschen können bessere Voraussetzungen für die Erzeugung neuer Lebensenergien gewinnen, wenn sie die Autorität von Experten akzeptieren, die ihnen neue Gesichtspunkte für die Bewältigung ihres Lebens vermitteln. Es geht aber stets darum, alte Horizonte aufzubrechen und zunächst in den Bruchstellen die Farben und Formen neuer Horizonte aufleuchten zu sehen. Ein Horizont, der das Leben belastet und zu einer Qual macht, kann nur durch einen neuen Horizont überwunden werden. Jenseits der Glücksperspektive, die von dieser Geschichte stets vorausgesetzt wird, nimmt eben diese Geschichte also vor allem deshalb ein anderes Gesicht an, weil der Blick von der Außenbetrachtung weg und hin zur Aufmerksamkeit für das Geschehen aus der Sicht des Opfers gelenkt wird. Darin werden andere Gesichtspunkte wichtig. Der Hinweis auf den von außen wahrzunehmenden Erfolg der schweren Last, mit der der Baum in dieser Geschichte umgehen muss, zählt nur aus der Glücksperspektive, die von außen und weit oben in erster Linie das ‚große Ganze‘ in den Blick nehmen will. Dabei transzendiert sie das wirkliche, individuelle und konkrete Erleben. Jenseits der Vorstellung ‚Glück‘ brauchen wir ein solches Übersteigen aber nicht, und die Geschichte kann eine Lehre nur von Innen und in Bezug auf das Erleben des Menschen besitzen, der hier metaphorisch von einer Palme vertreten wird. Dann kann uns die Geschichte aber nicht mehr lehren, wie herrlich das Leben auch bei schweren Lasten von außen her anzusehen sein kann. Jenseits der Glücksperspektive wird dagegen der Lebenserfolg wichtig, der aus der Perspektive von außen und weit oben gerade nicht in Erscheinung treten konnte. Er kann sich auch und gerade bei großen Lasten und Belastungen einstellen. Aus der abstrakten und von außen urteilenden Glücksperspektive kommt er aber nicht zur Geltung. Das zeigt uns die Geschichte von der Palme gegen ihre eigentliche Intention sehr deutlich. Wenn wir innerhalb der Geschichte bleiben, so hätte der von jenem Derwisch bei seiner Rückkehr erwartete krumme und verkümmerte Wuchs der Palme durchaus nicht dagegen gesprochen, in ihrem Leben einen großen und zu bewundernden Erfolg zu sehen. Jenseits der von außen und von oben wertenden Glücksperspektive kann zur Geltung kommen, dass jene Palme auch in diesem Fall mehr Widerstände erfolgreich überwunden hätte, als dies irgendeinem anderen Baum gelingen hätte können. Dass sie in der Wahrnehmung von außen nicht den schönsten und mächtigsten Eindruck macht, ändert an dieser Geltung der Innenperspektive nichts. Erst jenseits der Glücksperspektive erkennen wir die Leistung eines Lebens unabhängig vom objektiven Blick an. <?page no="194"?> 194 Die Idee des Glücks bringt uns also dazu, naive und illusionäre Vorstellungen davon zu entwickeln, dass sich alle Lasten zu einem Segen entwikkeln und alle Probleme nur neue Chancen bieten. Jenseits der Glücksperspektive können wir dagegen gelten lassen, dass ihre Last für jene Palme gewiss kein Segen war. Wir müssen ihr auf der Grundlage dieser Einsicht aber kein weniger gelungenes Leben unterstellen. Wenn wir auf die Glücksperspektive verzichten, dann fordern wir nicht mehr einen Erfolg, den wir nur von außen und weit oben beurteilen können. Wir erwarten auch nicht mehr den Nachweis der Freiheit durch einen für andere erkennbaren herrlichen Wuchs. Statt dessen können wir uns selbst und jedem einzelnen Menschen unsere und seine individuellen Freiheiten und das individuelle und nur von uns bzw. ihm selbst her einschätzbare wirkliche Erleben lassen. Wir müssen das eigene und das fremde tatsächliche Leben dann nicht mehr unter dem Zwang der Glücksvorstellung umdeuten und darin alle Lasten und Leiden auf wundersame Weise zum Teil eines imaginären Glückes machen. Wir müssen auch nicht mehr das eigene und das fremde Leben unter der Glücksperspektive summieren und damit das wirkliche Erleben gleichnamig und damit eigentlich namenlos machen. Wir müssen uns selbst und anderen Menschen auch nicht zumuten, uns bzw. sich wie einen Gegenstand in der Welt unter dem Titel eines ‚Selbstes‘ feststellen und darstellen zu müssen. Vor allem müssen wir unsere eigene Geschichte und Wirklichkeit nicht mehr unter dem Zwang der Glücksperspektive umdeuten, damit sie in die Ideologie dieser Vorstellung passt. Wir können dann auch mit dem wirklichen Wuchs des Lebens zufrieden sein, in dem wir unsere konkreten Freiheiten finden. Jenseits der Glücksperspektive können wir einzelnen Menschen ihr individuelles Erleben in ihrer Freiheit lassen. <?page no="195"?> 195 9. Fazit: Warum das Streben nach Glück der Kunst des Lebens widerspricht 9.1 Warum die Suche nach Glück nicht glücklich macht und wir besser auf sie verzichten sollten Es ist an der Zeit, ein Fazit zu ziehen. Wir haben unsere Erkundung in die Nützlichkeit der Vorstellung ‚Glück‘ für die Gestaltung des Lebens begonnen mit der Frage, warum die Suche nach dem Glück auch die eifrigsten Glückssucher in der Regel so wenig glücklich macht. Inzwischen haben wir einige gute Gründe für die Vermutung gefunden, das liege nicht daran, dass sie durch ihre Lebensgeschichte oder durch die Umstände der Zeit benachteiligt sind und deshalb ganz natürlich intensiver nach Glück streben als andere Menschen, die vom Schicksal begünstigter sind. Diese Gründe sprechen vielmehr dafür, das Unglück der Menschen, die ihr Leben unter der Perspektive des Glücksbegriffes bewerten und beurteilen und ihr Streben an diesem Ziel orientieren, habe sehr viel damit zu tun, dass es sich um ein falsches Ziel handelt. Es ist deshalb falsch, weil man mit ihm in der Regel gerade nicht das erreicht, wonach man strebt. Der Irrtum mit dem Glück beginnt schon mit den gängigen Vorstellungen von jenem Zustand, in dem wir das erreicht haben, was wir unter diesem Begriff erstreben. Glücklich zu sein muss schon danach im Grunde ein sehr langweiliges Leben sein, in dem gerade das nicht erhältlich ist, was so sehnlich erstrebt wurde. Jener Irrtum setzt sich dann darin fort, dass wir in diesen Vorstellungen zwei eigentlich ganz verschiedene Dinge durcheinanderbringen. Wir denken an Glücksmomente und sehen den Zustand des Glücks dann als einen in eine unendlich lange Zeit ausgedehnten Glücksmoment. Dabei vergessen wir, dass wir auf diese Weise solchen Momenten etwas ganz Wesentliches nehmen, nämlich die relativ kurze Zeit, die sie dauern. Wir unterschlagen ganz einfach eine ihrer Bedingungen - nämlich die Momenthaftigkeit - und glauben, dass Glücklichsein in der Stetigkeit und Dauer eines solchen Momentes bestehen könne. Der kleine - und doch so große - Fehler dabei ist nur, dass diese Stetigkeit solchen Momenten gerade widerspricht. Glücksmomente gibt es eben nur als Abschnitte innerhalb der Entwicklung eines Lebens, zu dem Veränderungen so gehören, dass Kontrasterlebnisse möglich sind. Die Wirkung von Kontrasten hält allerdings nie sehr lange an, weshalb auch Glücksmomente eben kürzere oder längere Momente bleiben müssen, damit sie überhaupt sein können, was sie sind. Sie auf Glück ist ein falsches Ziel, weil man mit ihm in der Regel gerade das nicht erreicht, wonach man strebt. <?page no="196"?> 196 Dauer stellen zu wollen würde gerade den Bedingungen ihres Auftretens widersprechen. Wir haben uns in diesem Buch dann darauf konzentriert, wie sich die Orientierung an der Vorstellung ‚Glück‘ auf die Gestaltung des Lebens auswirkt, und jene merkwürdige Illusion in den gängigen Vorstellungen vom Glücklichsein weitgehend außer Acht gelassen. Das ist schon deshalb gerechtfertigt, weil die Folgen dieser Orientierung für das wirkliche Leben weit gravierender sind als die Illusionen, die aus den falschen Vorstellungen über einen einmal erreichten Zustand des Glücks entstehen. Letztlich sind die Folgen des Glücksbegriffs für das tägliche Leben entscheidend für den Sinn dieser Vorstellung, denn wo sonst soll das Leben geschehen? Wir haben mit einer Kritik an der zum Glücksbegriff gehörenden Orientierung an der Vorstellung einer ominösen Ganzheit begonnen. Hier wurde deutlich, dass wir auf diese Weise das wirkliche und individuelle Erleben überspringen, in dem unser Leben stattfindet. Wir sind dann weitergegangen zu einer Kritik an diesem merkwürdigen Übersteigen oder ‚Transzendieren‘ des konkreten Lebens. Mit der Idee des Glücks verlieren wir auch auf diese Weise das wirkliche und individuelle Erleben, wie es bereits mit jener Orientierung an einer verschwommenen Ganzheit der Fall war. Weil wir mit der Orientierung an der Glücksvorstellung das Wirkliche und Individuelle übersteigen und an seiner Stelle eine falsche Vorstellung von Ganzheit akzeptieren, deshalb stellen wir uns das Leben mithilfe dieses Begriffes als etwas Messbares und Summierbares vor, das wir dann als Ganzes beurteilen und bewerten können. Daraus ergab sich unser dritter Haupteinwand gegen die Nützlichkeit des Glücksbegriffes. Weil wir das Leben unter der Glücksperspektive als messbar und vergleichbar ansehen, deshalb geben wir unsere Individualität auf und orientieren uns an anderen Menschen, denen wir auf diese Weise einen viel zu großen Einfluss auf die Gestaltung und Bewertung unseres Lebens einräumen. Auf der anderen Seite aber beanspruchen wir mit dem Glücksbegriff, die Welt durch unser Selbst bestimmen zu können, und streben nach so etwas wie einer Selbstverwirklichung. In der Regel lassen wir uns dann aber doch wieder von anderen sagen, wer wir ‚eigentlich‘ sein sollten. Darüber hinaus orientieren wir uns auf der Grundlage der Idee des Glücks an einer sehr abstrakten Vorstellung von Individualität, die wir im Leben nirgends einlösen können, wo es eben konkret zugeht und nicht abstrakt. Am Schluss unserer Überlegungen waren wir bei einem Begriff angekommen, der uns die ganze Zeit schon begleitet hatte - einmal mehr und einmal weniger offensichtlich. Wenn wir das Leben unter der Glücksperspektive beurteilen und bewerten und unser Streben daran orientieren, so gefährden wir offenbar ganz fundamental unsere Freiheit. Mit der Idee des Glücks akzeptieren wir in der Regel eine ganz bestimmte Auffassung von Am Anfang dieses falschen Ziels steht das Überspringen des wirklichen und individuellen Lebens, … <?page no="197"?> 197 Freiheit, in der sich alle die Mängel und Probleme wiederfinden, welche die Vorstellung vom Glück nicht geeignet machen, als nützliches Ziel im Leben zu dienen. Es hat sich gezeigt, dass in der Vorstellung ‚Glück‘ eine Auffassung von Freiheit enthalten ist, die ebenso falsch und nutzlos ist wie der Glücksbegriff selbst. Es handelt sich um eine Freiheit, die wir nur dann als verwirklicht ansehen wollen, wenn sich die ganze Welt nach uns richtet. Es ist eher unwahrscheinlich, dass sie das je tun wird. Eigentlich sollten wir uns einen solchen Zustand aber nicht einmal wünschen, denn vermutlich würden wir damit auch einige der Bedingungen zerstören, die uns eine Menge Spaß, Vergnügen, Freude und Lust ermöglichen. Dies zeigt sich in der mit dem Glücksbegriff verbundenen Vorstellung von Freiheit etwa dadurch, dass sie sich auf eine Ganzheit bezieht, mit der wir es im konkreten und wirklichen Leben nie zu tun haben. Sie ist also genauso übersteigend und transzendierend wie der Begriff des Glücks selbst. Wir gelangen mit ihr in eine abstrakte Welt jenseits des wirklichen und individuellen Erlebens. Zumindest glauben wir das, denn eigentlich gelangen wir mit ihr nirgendwohin. Mit der Glücksvorstellung ist also die Idee von einer Freiheit verbunden, die wir nicht erleben und die wir nirgends im Leben realisieren können. Dagegen haben wir die Freiheiten gesetzt, mit denen wir es im konkreten und individuellen Leben wirklich zu tun haben, und die zweifellos zu den Bedingungen für Spaß, Vergnügen, Freude und Lust gehören. Während der wenig nützliche Begriff einer abstrakten Freiheit, der mit der ebenso wenig nützlichen Vorstellung des Glücks verbunden ist, im Singular steht, geht es bei der Freiheit, die wir ohne den Begriff des Glücks gewinnen können, um die Freiheiten im Plural. Deshalb steht die Glücksperspektive eigentlich gegen die Freiheitsperspektive. Die Freiheit im Sinne der vielen Freiheiten entsteht in den vielen kleinen Entscheidungen, die wir jeweils von hier und jetzt aus treffen. Die Glücksperspektive dagegen nimmt das abstrakte Ganze in den Blick, in dem gerade keine Freiheit ist, weil wir uns nicht ‚im Ganzen‘ entscheiden, sondern in der individuellen und konkreten Wirklichkeit des Lebens. Wenn wir dennoch von einem Ganzen etwa im Sinne der Persönlichkeit oder der Lebenseinstellung sprechen wollen, so handelt es sich nicht um eine Summe, sondern um die Abfolge von einzelnen Entscheidungen. Es ist eine Folge von Akten des Stellungnehmens zu dem, was uns aus der Natur zugemutet wird - aus der Natur, die von außen auf uns zukommt und in der wir mit einigen Mühen die Mittel zur Befriedigung unserer Bedürfnisse und Wünsche finden können, und aus der Natur, die aus eben diesen unseren inneren Antrieben, Wünschen und Begierden besteht, die uns dazu veranlassen, die äußere Natur zu bearbeiten. Das Erfahren unserer Freiheiten gelingt uns stets nur innerhalb dieser Begrenztheit durch die innere und äußere Natur. Dagegen neigen wir aus … und in der Folge gefährden wir mit diesem Irrtum schließlich sogar unsere Freiheit, … <?page no="198"?> 198 der Glücksperspektive dazu, diese Begrenztheit als eine Unfreiheit aufzufassen, die aufgehoben werden müsse, damit ein Verhältnis der Übereinstimmung zwischen dem Menschen und seinem ganzen Leben bzw. der ganzen Welt hergestellt werden kann. Deshalb ist diese Perspektive nicht mit der wirklichen Freiheit zu vereinbaren, die nur in der Gestalt von einzelnen Stellungnahmen und den daraus entstehenden Freiheiten in der konkreten und individuellen Welt geschieht. Den Zugang zu diesen Freiheiten verlieren wir, wenn wir uns einen Zustand vorstellen, in dem die ganze Welt mit unserem Wünschen und Wollen übereinstimmt. Der Begriff der Freiheit ist dann ganz einfach sinnlos geworden. Freiheiten entstehen nur dort, wo wir uns als eingeschränkt und begrenzt erfahren und dagegen oder dafür Stellung nehmen und mit diesen Beschränkungen und Grenzen umzugehen lernen. Ohne die Erfahrung von Grenzen gibt es keine Freiheiten. Wir sitzen eben nicht im Garten und erfreuen uns unserer Freiheit, sondern wir sehen uns erst dann unserer Freiheit ausgesetzt, wenn die Grillparty des Nachbarn zu laut wird und wir uns entscheiden müssen, ob wir Nachsicht üben oder uns beschweren wollen. Die Bedingungen der Freiheit unterscheiden sich im Prinzip nicht sehr von den Bedingungen für die konkreten Freuden, Vergnügen, Spaßerlebnisse und Lüste, die wir in der individuellen Wirklichkeit erleben können. Auch hier müssen wir eine beträchtliche Abhängigkeit von Einschränkungen und Begrenztheiten akzeptieren, um solche angenehmen Zustände zu erfahren. Wenn wir uns im Garten ‚glücklich‘ fühlen, so ist das von einer manchmal sehr komplizierten Konstellation von Ereignissen und Umständen abhängig. Dazu gehören auch Kontraste, Entwicklungen und Veränderungen, mit denen wir durch unser Stellungnehmen einmal besser und einmal schlechter umgehen können. Es kann auch Teil dieser Bedingungen sein, dass wir ge tern ein ganzes Beet von Unkraut befreien mussten und wir uns nebenbei überlegen müssen, wie wir die viel zu vielen Wespen loswerden. Es kann aber auch dazu gehören, dass wir nicht immer im Garten sitzen und darauf warten möchten, bis die Sonne uns den letzten Rest an Verstand aus dem Kopf gebrannt hat. Die Glücksperspektive führt uns also nicht zur Verwirklichung unserer konkret möglichen Freiheiten, sondern in der Regel nur dazu, dass wir unseren Tendenzen zum Narzissmus und zur Egozentrik freien Lauf lassen. Das ist schon darin angelegt, dass wir in dieser Perspektive die Vorstellung hegen, die Welt müsse sich im Ganzen und auf Dauer nach unserem Wünschen und Wollen richten. Deshalb sind die vielen Probleme aus dem Zwang zur Selbstverwirklichung in der Vorstellung ‚Glück‘ schon von vornherein … die wir nur in den Entscheidungen in der individuellen und konkreten Wirklichkeit des Lebens finden können. Wie die Freiheit, so sind auch die konkreten Freuden abhängig von den Begrenztheiten des wirklichen Lebens. s <?page no="199"?> 199 angelegt. Wenn wir diese Perspektive einnehmen und unser Leben mithilfe dieser Vorstellung beurteilen und uns an diesem Begriff orientieren, so geraten wir in eine Tendenz zum Verlust der Elastizität und Flexibilität, die uns in der wirklichen Welt Spaß, Freuden, Lüste und Vergnügungen ermöglichen. Wir verlieren also gerade die Annehmlichkeiten, die diesseits der transzendierenden Perspektive auf die Ganzheit zu gewinnen sind, welche uns die Idee des Glücks vorgaukelt. Das in der Regel so unglückliche Aussehen der Glückssucher hat seine Ursache auch in einer Starrheit in ihrem Verhältnis zur Welt und zu sich. Wenn es immer nur um das Ganze gehen soll, wird die Flexibilität im wirklichen Erleben weitgehend unmöglich. Diese Starrheit betrifft zum einen das Verhältnis zur Welt, in der die Auswahl aus den vielen Möglichkeiten des Lebens beschränkt wird auf das, was aus der Vorstellung des Glücks gerade zulässig erscheint. In der Regel bedeutet das, dass in der Orientierung an dem Jenseits, das zur Glücksperspektive gehört, die Welt der Lust, des Spaßes, des Vergnügens und der Freude scheel angesehen wird. Das gilt jedenfalls dann, wenn sie sich nicht in die Perspektive einer Ganzheit und einer umfassenden Übereinstimmung der Welt mit dem eigenen Wünschen und Wollen einstellen lässt. Diese Seite der Starrheit im Verhältnis zur Welt ist sicherlich einer der wichtigsten Gründe für die Traurigkeit der meisten Glückssucher. Eine solche Einstellung verhindert das, was die fröhlicheren und beweglicheren Menschen gewinnen können, wenn sie sich ihre Neugier auf Anderes bewahren, statt sich auf die Egozentrik der Glücksperspektive zu fixieren. Im Verzicht auf diese seltsame Perspektive öffnet sich der Raum für all die Vergnügungen, Freuden, Lüste und Spaßmöglichkeiten, die die Welt für fast jeden bietet - und vielleicht für jeden, wenn er sich nicht durch Vorstellungen wie ‚Glück‘ bannen und seiner Flexibilität berauben lässt. Aber diese Starrheit betrifft mindestens ebenso sehr das Verhältnis zu sich selbst. Wir haben oben einige der vielen Probleme mit dem Begriff des Selbst diskutiert, die sich aus der Konzentration der Lebensgestaltung auf ein Ziel wie ‚Selbstverwirklichung‘ ergeben. Solche Ziele leiten sich ganz natürlich aus einer Orientierung des Lebens an der Idee des Glücks ab. Schließlich enthält sie in ihrer Kernbedeutung die Forderung, die ganze Welt müsse oder solle sich nach dem Selbst richten, so dass keine Differenz mehr zwischen dem Selbst und der Welt bestehen kann. Damit verbindet sich bei den Glückssuchern in der Regel ein starres Verhältnis zu sich selbst, in dem sie verkrampft danach streben, sich zu verwirklichen. Die Glücksperspektive führt offenbar zu Schwierigkeiten mit einem flexiblen Umgang mit den ‚Selbsten‘, die wir im täglichen Leben immer Die Glücksperspektive dagegen führt in eine Starrheit, die die Möglichkeiten des Lebens beschränkt. Dieser Bann durch die Glücksperspektive wirkt sich auch negativ auf das Verhältnis zu sich selbst aus. <?page no="200"?> 200 wieder als Teil des Verhältnisses zu uns selbst und zu anderen Menschen akzeptieren müssen. Wir tendieren dann zu der Vorstellung, so etwas wie ein Selbst müsse etwas ein für allemal Bestehendes ausmachen, das in uns als etwas Fixes und Unbewegliches existiert. Wir sehen dann nicht mehr, dass von Selbst üblicherweise die Rede ist im Zusammenhang von ganz verschiedenen Fragen nach dem ‚wer wir sind‘, die von anderen Menschen in konkreten Situationen an uns gestellt werden. Es gibt hier keine übergreifenden und absolut geltenden Fragerichtungen, aus denen wir endgültig und mit entscheidender Wirkung für unser Leben bestimmen müssten, wer wir denn sind. Ein Selbstverständnis unter der Vorstellung ‚Glück‘ verleitet uns dagegen sehr leicht zu einer Fixierung auf die Suche nach einem solchen imaginären Selbst. 9.2 Wie wir von der Glücksperspektive zur Kunst des Lebens kommen Die Tendenz, das eigene und das Leben anderer Menschen mithilfe des Glücksbegriffes zu beurteilen und zu bewerten und diese Vorstellung für die Orientierung des Strebens zu verwenden, ist ein sicheres Zeichen für den ‚Geist der Schwere‘. So können wir eine zur Gewohnheit gewordene Einstellung nennen, die für die Probleme, welche sich im Leben eben so stellen, nicht wirklich nach Lösungen sucht. Sie ist vielmehr in die Probleme selbst verliebt und möchte sie deshalb möglichst lange und intensiv behalten. Dieser Geist der Schwere ist also keineswegs eine notwendige Haltung von Menschen, die es aus welchen Gründen auch immer im Leben schwer haben, sondern eine Haltung, sich das Leben aus grundsätzlichen Überlegungen schwer zu machen. Allerdings kann man von außen manchmal nur schwer zwischen diesen beiden Situationen unterscheiden. Wenn aber jemand in Problemen statt in Lösungen denkt, dann kann man ziemlich sicher sein, dass er diesen Geist in sich trägt. Darüber hinaus kann zu diesem Geist noch eine Tendenz gehören, stets auf’s große Ganze zu starren und das Leben von weit außen und oben zu betrachten. Ein solcher Blick von nirgendwo entspricht aber genau der Glücksperspektive. Nach allem, was wir in diesem Buch gefunden haben, ist der Gedanke naheliegend, dass eine Ausrichtung des Lebens an der Vorstellung ‚Glück‘ eine Haltung mit sich bringt, mit der wir schwer durchs Leben stapfen. Wir glauben aus der Glücksperspektive, existenzielle Fragen lösen zu müssen, wenn es etwa nur darum geht, zwischen Orangensaft und Wodka zu wählen. Mit der Idee des Glücks glauben wir, stets ‚aufs Ganze‘ gehen zu müssen. Das hat Folgen für die Art und Weise, in der wir an die einzelnen Entscheidungen und Stellungnahmen zu unseren Möglichkeiten herangehen. Wir Der Glücksbegriff gehört zu der Haltung, sich das Leben grundsätzlich schwer zu machen - zum ‚Geist der Schwere’. <?page no="201"?> 201 verlieren die Freiheiten, die sich aus der Orientierung am wirklichen und individuellen Erleben ergeben, wo es um konkrete Entscheidungen in der Wahl zwischen verschiedenen Handlungen geht. Es ist tatsächlich eine schwierige Sache, zwischen Wodka und Orangensaft zu entscheiden, wenn man glaubt, dabei müsse es gleich um Glück oder Unglück gehen. Die Entscheidung wird dagegen viel leichter, wenn es nur um die Lust und den Spaß am Konsum von Orangensaft oder von Wodka geht. Es steht dann auch nicht mehr die ganze Freiheit und gleich als solche auf dem Spiel, sondern es geht um eine der vielen Freiheiten, die in unser tägliches Leben eingelagert sind. Der mit der Glücksperspektive verbundene Geist der Schwere dagegen ist ein Geist der Unfreiheit. Diese lästige Folge eines Verständnisses des eigenen Lebens von der Suche nach Glück her entsteht aus den Eigenschaften, die den Glücksbegriff so wenig nützlich und in den meisten Fällen ganz einfach schädlich machen. Wir wollen mit dem Glücksbegriff zu viel und erreichen deshalb zu wenig. Man sollte aber nicht glauben, dieser Begriff bringe eine solche Haltung nur zum Ausdruck. So einfach ist die Sache mit den Begriffen nicht - das haben wir ganz am Anfang dieses Buches schon gesehen. In den Fragen der richtigen Lebensgestaltung beschreiben die Begriffe nicht einfach etwas, das unabhängig von ihnen vorhanden ist, sondern sie erzeugen es auch zu einem großen Teil selbst. Wenn wir die Glücksvorstellung für die Bewertung unseres Lebens und für die Orientierung des Strebens gelten lassen, dann übt sie eine Macht aus, die den Geist der Schwere erzeugt. Der Weg der Glücksperspektive in den Geist der Schwere hat offensichtlich Folgen für die Kunst des Lebens. Vielleicht besteht sogar die fatalste und schädlichste Konsequenz der Vorstellung ‚Glück‘ darin, dass wir der Lebenskunst die Grundlagen entziehen, wenn wir uns an diesem ‚schweren‘ Begriff orientieren. Es ist kein Wunder, dass diese Kunst dann sehr gering geschätzt wird, wenn wir das Leben unter der Glücksperspektive auffassen. Dass das Leben Kunst erfordert, wird in der Regel gerade von den Menschen nicht gesehen, die das Streben nach ‚dem Glück‘ in den Vordergrund ihrer Lebensorientierung stellen. In der Tat ist eine solche Kunst in diesem Fall von vornherein mit all den schädlichen Folgen belastet, die eine Bewertung und Beurteilung des Lebens unter der Perspektive des Glücks und eine entsprechende Orientierung des Strebens mit sich bringen. Es wird schwierig, eine Kunst des Lebens zu entwickeln, wenn wir uns unter der Glücksperspektive mit der Tendenz herumschlagen müssen, das wirkliche und individuelle Erleben zu übersteigen und es auf diese Weise zu verlassen. Er erzeugt diesen Geist, weil er von den konkreten Freiheiten weg in die Idee einer abstrakten Freiheit führt. Der ‚Geist der Schwere’ und damit die Glücksperspektive widersprechen der Kunst des Lebens. <?page no="202"?> 202 Eigentlich hat alle Kunst es mit dem zu tun, was sich sinnlich und individuell darstellen lässt. Umgekehrt sollten wir überhaupt nicht von Kunst sprechen, wenn es nicht um etwas Individuelles und Wirkliches geht. Bei einer wissenschaftlichen Theorie, die ein Gesetz für Reaktionen in der natürlichen Welt angibt, sprechen wir deshalb nicht von Kunst. Allerdings kann es in manchen Fällen eine Kunst sein, sie in einer bestimmten Situation für bestimmte Individuen verständlich zu machen. Dann geht es aber nicht um das, was mit ihr behauptet wird, sondern um ihre Vermittlung an sinnliche und individuelle Menschen in einer individuellen Situation. Im Unterschied dazu, womit es die Kunst zu tun hat, suchen wir aus der Glücksperspektive aber gerade das, was im großen Ganzen und jenseits des wirklichen Erlebens geschieht. Es ist also nicht ganz einfach, eine Kunst des Lebens zu entwickeln, wenn wir alles Einzelne zugunsten eines ominösen ‚großen Ganzen‘ transzendieren wollen. Wir verlassen damit gerade das Material dieser Kunst, also all die unendlich vielen Wahrnehmungen, Gefühle und Vorstellungen, die wir alltäglich wirklich haben, und all die vielen Entscheidungen, die in unseren Alltag ebenso wie in nicht alltägliche Situationen eingelagert sind. Die Kunst des Lebens wird auf eine vollständig überflüssige Weise erschwert, wenn wir uns auf ein Jenseits des wirklichen Erlebens konzentrieren und unsere Wirklichkeit zugunsten einer allzu allgemeinen Vorstellung wie ‚das Glück‘ übersteigen. Diese nützliche Kunst wird auf diese Weise mit dem ganzen Geist der Schwere belastet, den die Glücksperspektive mit sich bringt. Unter ihrer Leitung neigen wir dazu, uns an ein imaginäres Ganzes zu halten, das nirgends existiert als in unserer Vorstellung. Diese Orientierung an einem Ganzen hindert uns daran, uns auf das wirkliche Erleben einzulassen und unsere Möglichkeiten des Gestaltens ganz auszunutzen. Das Ganze können wir gerade nicht gestalten. Hier sind wir von allzu vielen Bedingungen abhängig, die nicht unserer Verfügung unterstehen. Die Kunst des Lebens lässt sich also nur erreichen durch eine Veränderung der Einstellung gegenüber dem Leben, die von einem Beurteilen und Bewerten und von der Orientierung des Strebens mithilfe der Vorstellung ‚Glück‘ und damit aus der Glücksperspektive wegführt. Diese neue Einstellung beginnt mit dem Sich-einlassen auf das konkrete und individuelle Erleben, in dem die wirklichen Entscheidungen stattfinden, in denen wir zum Einzelnen Stellung nehmen. Sie fängt also an mit der Entscheidung für die Freiheiten des wirklichen Lebens statt für die jenseits der wirklichen Welt versprochene allgemeine und ganz ‚Große Freiheit‘. Darin gewinnen wir die Offenheit für das Gelingen im konkreten Leben. In dieser offenen Landschaft kann vieles möglich werden. Der Blick aus der Glücksperspektive auf das ‚große Ganze‘ dagegen von weit oben und außen lässt gerade keinen Raum für eine solche Kunst. Die Lebenskunst ist eine Kunst des Gestaltens, das nicht im ‚großen Ganzen’ der Glücksperspektive gelingt. <?page no="203"?> 203 Wir sollten also nicht der seltsamen Vorstellung folgen, eine Kunst des Lebens könne das geeignete Mittel sein, mit dem wir so etwas wie ‚das Glück‘ erreichen oder ihm zumindest näherkommen können. Das geht vor allem darauf zurück, dass sich Ziel und Mittel in diesem Fall grundsätzlich widersprechen. Mit einer Kunst, die sich schon als solche am Einzelnen und Konkreten ausrichtet, lässt sich nicht so etwas Allgemeines wie Glück erreichen. Aber dieses Ziel ist sowieso falsch und führt uns keineswegs zu dem, was wir wünschen und wollen. Wir sollten es deshalb aufgeben, uns hier eine Beziehung zwischen einem Mittel und einem Ziel vorzustellen. Wenn wir auf solche Allgemeinheiten verzichten, wie sie uns aus der Glücksperspektive angeboten werden, so wird das vermeintliche Mittel selbst zu einem Ziel. Die Kunst des Lebens ist gegenüber der Glücksperspektive schon deshalb stets im Recht, weil sie es nicht mit dem allgemeinen und großen Ganzen, sondern mit dem konkreten und sinnlichen Wirklichen zu tun hat. Das kunstvoll gestaltete Leben ist gegenüber der von weit oben und außen ansetzenden Glücksperspektive nicht das Mittel, sondern das Ziel, in dem wir eine Menge Spaß, Vergnügen, Lust und Freude erleben können. Wir haben uns viel zu lange mithilfe solcher Allgemeinheiten wie ‚das Glück‘ verstanden und die Gestaltung des Lebens daran orientiert. Deshalb können wir heute nur schwer einen Zugang zur individuellen Wirklichkeit mit den Freuden, dem Spaß, den Vergnügungen und der Lust, die sie bieten kann, finden. Wir müssen also durch solche über-allgemeinen Vorstellungen wie ‚Glück‘ hindurch zu den unendlichen Variationen dieser Annehmlichkeiten gelangen, die jenseits der falschen Allgemeinheit und Ganzheit der Perspektive auf ‚das Glück‘ auf uns warten. In der Regel sind wir mit den Einzelheiten des wirklichen Lebens ganz zufrieden, und während wir Spaß, Vergnügen oder Lust empfinden denkt keiner daran, dass nun die Welt sich nach unseren Wünschen und unserem Wollen richten müsse und das auch noch für alle Zeit. Vielleicht liegt der ganz winzig kleine und geringe Nutzen des Glücksbegriffes nur darin, dass wir ihn bewusst und gezielt aufgeben können, um uns ebenso bewusst und gezielt dem zuzuwenden, was dem Leben individuell Wert verschafft und uns selbst zu Individuen macht. Wenn wir erfahren, wie wenig nützlich er sich machen kann, dann lernen wir möglicherweise besser, was wir am Wirklichen und Konkreten des individuellen Lebens haben. Wir sollten die Vorstellung vom abstrakten Glück also auf sich beruhen lassen und uns damit von nutzlosen Kriterien für die Bewertung des Lebens und irreführenden Orientierungen des Strebens befreien. Ein kunstvoll gestaltetes Leben ist kein Mittel, um etwas allzu Allgemeines und Abstraktes wie Glück zu erreichen, … … sondern selbst das individuelle und konkrete Ziel, das nur ohne die Glücksvorstellung zu erreichen ist. <?page no="204"?> 204 Eine Kunst des Lebens können wir also erst jenseits der Glücksvorstellung entwickeln. Im allgemeinen ‚großen Ganzen‘ und im Übersteigen des individuellen Erlebens lässt sich die Kunst des Lebens gerade nicht einsetzen. Wie die sinnliche Kunst der Gemälde oder Plastiken, so findet auch jene Kunst nur in der wirklichen und einzelnen Welt des Erlebens statt, nicht im Allgemeinen und im ‚großen Ganzen‘. Hier hat Friedrich Nietzsche einen schönen Spruch beizutragen: „Wir aber wollen die Dichter unseres Lebens sein, und im Kleinsten und Alltäglichsten zuerst.“ Man kann ihm nur schwer widersprechen. Im Wirklichen und Individuellen können wir das Leben formen und gestalten oder auch ‚dichten‘, wie wir dies im Kunstwerk am sinnlichen Material bzw. in der Literatur am Material der Sprache tun. Dazu müssen wir aber auf die Glücksperspektive verzichten und uns auf das einlassen, was aus diesem allzu allgemeinen Blickwinkel gerade verdeckt wird. Eigentlich können wir von Lebenskunst also nur dann sprechen, wenn wir die Vorstellung des Glücks für die Beurteilung und Bewertung des Lebens und für die Orientierung des Strebens aufgeben. Erst dann gewinnen wir statt der abstrakten Freiheit, die wir uns so gerne im Zusammenhang mit Glück vorstellen, die Verfügung über die konkreten Freiheiten und damit wirkliche und individuelle Entscheidungsmöglichkeiten. Diese wirklichen Freiheiten geben uns die Chance, das Leben innerhalb der gegebenen Möglichkeiten kunstvoll gestalten zu können. Wir sollten dabei nicht zu viel wollen - aber auch nicht zu wenig, und eine leichte Selbstüberschätzung ist allemal hilfreicher als zu große Hemmungen. Friedrich Nietzsche hat sehr richtig darauf hingewiesen: „Man ist viel mehr Künstler als man weiß.“ Das Leben kunstvoll zu gestalten beginnt stets im Kleinsten und Alltäglichsten und nicht von weit oben und außen. <?page no="205"?> 077211 Auslieferung August 2011.indd 20 16.08.11 14: 58 <?page no="206"?> JETZT BESTELLEN! 077211 Auslieferung August 2011.indd 20 16.08.11 14: 58 Der freiheitliche Anspruch der neueren Ästhetik geht auf Denker wie Kant und Schiller, Nietzsche und Dewey zurück. Zusehends tritt der ästhetische Weltbezug als ausgeprägter Sinn für Erfahrung hervor. Die Befähigung also und das Potential, das darin liegt, Erspürtes auszudrücken, Wahrgenommenes als Bedeutsames anschaulich zumachen, als Wertvolles mitzuteilen und so Beteiligung, hier und da Identifikation zu ermöglichen. Auf dem Boden kultivierter Sinnlichkeit erwächst die ‚Kunst‘, den Austausch unter Menschen und indirekt Solidarität und Gerechtigkeit zu befördern. Ästhetik ist daher kein bloßes Fach der Philosophie, weder Reservat elitärer Subjektivität noch Sonderdomäne hochgespannten Kunstschaffens. Sie steht nicht für Schein und betreibt nichts Unverbindliches. Ganz im Gegenteil: Als Zenraldimension bereits des Alltagslebens ist das Ästhetische grundlegend für Erfahrung und Gestaltung von Wirklichkeit überhaupt. <?page no="207"?> 077211 Auslieferung August 2011.indd 20 16.08.11 14: 58 Christian Niemeyer (Hrsg.) Nietzsche Die Hauptwerke Ein Lesebuch XXXII, 496 Seiten, g eb. EUR[D] 19,99/ SFr 27,50 ISBN 978-3-7720-8453-9 Die wichtigsten Texte Friedrich Nietzsches in einem Band Seit einhundert Jahren erscheinen schon Nietzsche-Lesebücher, aber noch keines war wirklich den Hauptwerken gewidmet und ließ den Nachlass sowie die Frühwerke (bis 1876) beiseite. Der Herausgeber dieser Auswahl, der angesehene Nietzsche-Forscher Christian Niemeyer, hat eine solche Anthologie gewagt und die wichtigsten Textpassagen ausgewählt und kommentiert. Die andere spektakuläre Entscheidung des Herausgebers betrifft den didaktischen Zugriff: Einer Einführung in Leben, Werk und Wirkung Nietzsches und einer Art Einstimmung mittels ausgewählter Briefpassagen und Sentenzen folgt der eigentliche Quellenteil mit sorgfältigen Erläuterungen zum jeweils präsentierten Werk und zu den ausgewählten Quellentexten. Gep egt werden soll dabei die Tugend des genauen Lesens, der philologischen Exaktheit, der Anstrengung des Begriffs. Gefördert werden soll die Freude des Lesers, der plötzlich entdeckt, dass an Nietzsche doch sehr viel mehr dran ist als bis dato von ihm vermutet. Der Leser soll neugierig gemacht werden auf mehr von, aber auch auf mehr über Nietzsche, diesen so häu g missverstandenen und missbrauchten „neuen Philosophen“. Das Buch ist nicht nur zum ersten Einstieg für Neugierige, sondern auch zum Einsatz in Schule und Hochschule bestens geeignet. 201 , 2 <?page no="208"?> 077211 Auslieferung August 2011.indd 20 16.08.11 14: 58 Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de JETZT BESTELLEN! Stefan Gerlach Immanuel Kant UTB Profile 3485 2011, 144 Seiten €[D] 12,90/ SFr 18,90 ISBN 978-3-8252-3485-0 Eine elementare Einführung in das Denken Immanuel Kants (1724-1804). Ausgehend von den zentralen Problemkonstellationen werden über die Erläuterung der Kernbegriffe die wichtigsten Themenfelder der Philosophie Kants konzentriert dargestellt: Was sind Raum und Zeit? Was sind die Grenzen des Erkennbaren? Sind wir frei? Wie sollen wir handeln? <?page no="209"?> DAS ANTI - GLÜCKS BUCH G E O R G R Ö M P P R Ö M P P Ob es ‚das Glück‘ gibt und wie wir es erreichen können, ist nicht die vordringlichste Frage, die wir uns im Leben stellen sollten. Wichtiger ist die Frage, ob wir wirklich besser dran sind, wenn wir unser Leben an der Suche nach ‚dem Glück‘ ausrichten. In diesem Buch wird erklärt, dass die Vorstellung ‚das Glück‘ vollkommen überflüssig ist und wir uns nur selbst schaden, wenn wir uns ‚das Glück‘ als Ziel setzen und das Leben damit beurteilen. Das heißt aber gerade nicht, dass wir resignieren und auf alles Begehren verzichten sollten. Hier wird weder Verzicht gepredigt noch zur Resignation angeleitet! Es nützt uns in jedem Fall mehr, wenn wir uns nicht am abstrakten ‚Glück‘ orientieren, sondern an konkreten und individuellen Zielen, die wir jetzt und hier mit anderen Menschen erreichen können: Freude, Spaß, Vergnügen oder Lust. Wir sollten uns um die Kunst des Lebens bemühen, statt das Leben mit der Suche nach Glück zu vergeuden. ISBN 978-3-7720-8454-6 DAS ANTI-GLÜCKSBUCH Das Anti-Gluecksbuch_RZ_neu: 25385-2 _Baumeister_Kuenste 14.08.2012 17: 58 Uhr Seite 1