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Nietzsche und seine ästhetische Philosophie des Lebens

1004
2012
978-3-7720-5455-6
978-3-7720-8455-3
A. Francke Verlag 
Wiebrecht Ries

Friedrich Nietzsche (1844-1900) zählt zu den wirkungsmächtigsten und heute intensiv gelesenen Philosophen. Die Nietzsche-Einführung von Wiebrecht Ries zeichnet den Weg seines Denkens sorgsam und einfühlend nach. Bei Nietzsche hat die Kunst den Vorrang vor einer Philosophie der Vernunft. Ihre Fähigkeit, Erfahrung zu transzendieren und zu verwandeln, ermöglicht einen ästhetischen Standpunkt der Existenz. Er misst dem Leib, der Erde, dem Sinn der Mitanwesenheit des Todes im Leben besondere Bedeutung zu. Es geht in seiner Philosophie um eine tragische "Wahrheit" im Leben, der Hochzeit des Lichts mit dem Dunkel des unterirdischen Reiches im Zeichen des fremden Gottes Dionysos.In dem Nachweis tief reichender Korrespondenzen zwischen Kunst / Literatur und Themen Nietzsches (Sprache, Bühne des Traums, Auflösung der Ich-Einheit) wird deutlich, wie entscheidend seine ästhetische Philosophie die Mentalität der Moderne geprägt hat. Die Nietzsche-Lektüren wollen den Leser für die Schönheit der poetisch-musikalischen Sprache Nietzsches sensibilisieren, die seiner Zarathustra-Dichtung und den Dionysos-Dithyramben ihre unverwechselbare Physiognomie verleiht.

<?page no="0"?> NIETZSCHE U N D S E I N E ÄSTHETISCHE PHILOSOPHIE D E S L E B E N S W I E B R E C H T R I E S <?page no="1"?> Nietzsche und seine ästhetische Philosophie des Lebens <?page no="3"?> Wiebrecht Ries Nietzsche und seine ästhetische Philosophie des Lebens <?page no="4"?> Dem Andenken meiner Eltern Johann-Georg Ries und Margarete Ries Umschlagabbildung: Dionysos auf der Amphore des Kleophrades-Malers, um 500 (Ausschnitt) Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2012 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in ISBN 978-3-7720-8455-3 e h t EU <?page no="5"?> Inhaltsübersicht Vorwort 7 Einleitung 9 „ Den Baum und die Liebe des Weinstocks zu preisen “ - Nietzsches Entwurf einer ästhetischen Metaphysik des Lebens. 9 Die Überwindung des Nihilismus 10 Ästhetische Entwürfe zu einer Philosophie des Lebens 12 „ Musik des Südens “ - Klangfarben einer ästhetischen Metaphysik 17 Tod und Verwandlung - Der fremde Gott 20 „ Wahrheit “ als Weib 22 Augenblick der Ewigkeit 24 Zu der Bedeutung menschlicher Animalität 25 Nietzsche als Aufklärer 26 Nietzsches vernehmende Vernunft 28 Positionen einer Nietzsche-Lektüre 31 Die tragische Auffassung des Lebens 34 „ Das wundervolle Phänomen des Dionysischen “ - Zu Nietzsches „ Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik “ . 34 „ Triumph des Daseins “ - Die Bedeutung der Kunst 38 Das „ Problem “ Sokrates 45 Nietzsches Heraklit-Deutung 49 Träume auf dem Rücken eines Tigers 52 „ Was also ist Wahrheit? “ - Das weltbildende Spiel der Sprache 55 Die Philosophie des Vormittags 59 Aus der Schule des Verdachts 59 „ Morgenröthe “ - Schreib-Arbeit in die Tiefe 63 Die unbekannte Welt des „ Subjekts “ 66 Philosophische Meerfahrten 67 5 <?page no="6"?> „ Fröhliche Wissenschaft “ - Spiele ästhetischer Selbsterschaffung 70 Der getötete Gott 75 Die Rede des Dämons 77 Die Philosophie des Mittags 84 Die „ Grundconception “ von „ Also sprach Zarathustra “ 84 Riskante Existenz 91 Drei Verwandlungen 93 Das Lachen des Hirten 95 Im Reich des Dionysos 106 Die Philosophie des Nachmittags 111 Der Wille zur Macht als Kunst 114 „ Jenseits von Gut und Böse “ 116 „ Zur Geneaologie der Moral “ 121 Die Fabel von der „ wahren Welt “ 141 Bejahung des Werdens: Dionysos, ewige Wiederkunft, Wille zur Macht 147 Der europäische Nihilismus 151 Untergang und Verklärung 158 Nachweise 167 Systematisches Literaturverzeichnis 170 1. Ausgaben 170 2. Hilfsmittel (Lexika) 170 3. Einführungen 170 4. Nietzsche-Forschung 171 5. Biographien 171 6. Gesamtdarstellungen 171 7. Einzeluntersuchungen 172 6 <?page no="7"?> Vorwort Die Darstellung der Philosophie Friedrich Nietzsches ist eine vollständige Überarbeitung meiner zuvor im Junius Verlag, Hamburg, erschienenen Einführung. Eine ästhetische Metaphysik des Lebens bestimmt als eine Philosophie der ästhetischen Sinnerkenntnis nicht nur Nietzsches Frühwerk, sondern auch seine späten Schriften. Sie misst dem Leib, der Erde, dem dionysischen Sinn einer Mitanwesenheit des Todes im Leben besondere Bedeutung zu. Ästhetische Vernunft bei Nietzsche vor dem Hintergrund einer Tranzendierung des Bewußtseins und ihrer sprachlichen Welt wird an thematischen Positionen wie Tragödienästhetik, Sprachkritik, Fragmentierung der Ich-Identität, Hochzeit des Lichts mit der Dunkelzone des fremden Gottes Dionysos vorgestellt. Meine Nietzsche-Einführung wendet sich nicht ausschließlich an Studenten/ innen des Faches Philosophie, sondern wurde für Alle geschrieben, die sich an der Musikalität der poetischen Sprache Nietzsches begeistern und sich auf den Weg machen, die symbolischen Strukturen einer fremden „ Weisheit “ in seinen Texten zu entdecken. Ihre Lektüre verweigert sich einer Transformation in fixierbare Lehren. Was vor allem junge Menschen an Nietzsches Philosophie und ihren unruhigen Fragen fasziniert, ist, daß sie als Literatur eine in ihrer Radikalität unüberwindbare Besinnung auf die Schönheit und Grausamkeit des Lebens verkörpert. Über den Transfer von philosophischem Wissen hinaus, ist es meine Intention, den revolutionären Sinn von Nietzsches Begriff der Kunst herauszuarbeiten. Ein weiteres Ziel des Buches ist es, die Nähe der Sinnhorizonte seiner Ästhetik zu den Sprachen des Mythos und des Traums zu verdeutlichen und ein Gespür für ihre jeweiligen Resonanzen in der Dichtung zu wecken. Zitaten aus seinem Werk wurden Texte von Pindar bis Fernando Pessoa zur Seite gestellt. Ihre Spiegelung verleiht dem Buch eine bewußt ästhetische Dimension und zeigt wie entscheidend Nietzsche die Mentalität der Moderne geprägt hat. Ästhetik der Existenz, die Liebe zu Übergang und Untergang, ist eine Philosophie der riskanten Transzendierung des Daseins auf 7 <?page no="8"?> einem Seil ohne Netz, Verwandlung seiner Kontingenz in Literatur. Bei Nietzsche wird sie zur Bühne, auf der Zarathustra, Dionysos und Ariadne verschiedene Stücke seiner Philosophie aufführen. Sein spätes Denken, das mit ihm verbundene tragische Lebensgefühl, fordert die Anerkennung einer dionysischen „ Weisheit “ des Ja- Sagens. Leben und Sterben stehen in dem Licht eines Geschehens, in dem der Würfelwurf unbekannter Götter das Schicksal unserer Endlichkeit bestimmt. Die seinen Zeitgenossen absurd erscheinende Lehre von der ewigen Wiederkehr hat einen kosmologischen und einen ethischen Aspekt. Bis heute gibt es über sie kontroverse Deutungen. Als eine mystische Aufhebung der Linearität der Zeit kann sie nicht gelehrt werden. Alle einseitigen Versuche, Nietzsche zu dem Theoretiker einer schrankenlosen Machtpolitik oder zu einem antiken Weisen zu stilisieren, verfehlen die Spannweite seines Geistes. In der Radikalität seines Fragens nach dem, was den Herzschlag im Rhythmus der „ Musik des Lebens “ ausmacht, ist er ein Metaphysiker und zugleich der Zerstörer der Metaphysik. Was von ihr nach seinen Angriffen übrig bleibt, ist keine Welt als fester „ Thatbestand, sondern eine Ausdichtung über einer mageren Summe von Beobachtungen “ in einem ewigen Fluß. Aus den Stimmen des Mittags und des Abends wird dem auf sie lauschenden Ohr der mitternächtliche Zuspruch zuteil: „ Die Welt ist tief,/ Und tiefer als der Tag gedacht. “ Mein besonderer Dank gilt meinem Freund und Lektor Dr. Bernd Villhauer. Die Gespräche mit ihm über die Entstehungsphasen des Buches, seine hilfreichen Anmerkungen haben die vorliegende Fassung gefördert. Zu kritisierende Versäumnisse verantwortet allein der Autor. Wenn das Buch dazu anregt, Nietzsche erneut zu lesen und es der Lektüre belebende Anregungen und Entdeckungen schenkt, hat es seinen Zweck erreicht. Alle Wünsche des Autors wären erfüllt, wenn die Leser es mit „ ans Meer “ nehmen. Hannover, im Juli 2012 Wiebrecht Ries 8 <?page no="9"?> Einleitung „ Den Baum und die Liebe des Weinstocks zu preisen “ - Nietzsches Entwurf einer ästhetischen Metaphysik des Lebens. Meine Darstellung der Philosophie Nietzsches orientiert sich an einer Perspektive der Interpretation, die ihre Aufmerksamkeit auf ihren Standpunkt einer ästhetischen Welterkenntnis richtet. Sie sieht in Welt und Mensch keine feste Größen, sondern fließende Konturen in dem ewigen Strom des Lebens. Ihr entspricht seine Bejahung des Lebens, die Vergöttlichung von Werden und Vergehen. Das dionysische „ Ja “ zu dem „ Ewigen Ja des Seins “ ermöglicht jedem Menschen, der Zufälligkeit seines Schicksals in der Zeit Ewigkeit zu verleihen. Es kann nicht gelehrt werden. Der Einzelne muß auf eigenem Weg zu ihm finden. Die Aufgabe der Selbstverantwortlichkeit für sein Leben ist angesprochen, wenn Nietzsche in Schopenhauer als Erzieher (1874) schreibt: Niemand kann dir die Brücke bauen, auf der gerade du über den Fluss des Lebens schreiten musst, niemand ausser dir allein. Zwar giebt es zahllose Pfade und Brücken und Halbgötter, die dich durch den Fluss tragen wollen; aber nur um den Preis deiner selbst; du würdest dich verpfänden und verlieren. Es giebt in der Welt einen einzigen Weg, auf welchem niemand gehen kann, ausser dir: wohin er führt? Frage nicht, gehe ihn. (KSA 1, 340) Die Schriften Nietzsches sind Wegmarken seines Denkens, Zeugen einer ihn verwandelnden Selbstüberwindung. Was sie literarisch auszeichnet, ist ihr polyphoner Denkstil, das heißt Bildlichkeit, Differenz, Variation, nicht aber Einheit, Kohärenz und Systematik. Die Ecce homo überschriebene Strophe setzt das Geheimnis des Feuersalamanders „ Nietzsche “ mit der alles verzehrenden, dem Feuer gleichenden erotischen Energie einer solchen Transzendierung ins Bild: Ecce homo Ja! Ich weiss, woher ich stamme! Ungesättigt gleich der Flamme 9 <?page no="10"?> Glühe und verzehr ‘ ich mich. Licht wird Alles, was ich fasse, Kohle Alles, was ich lasse: Flamme bin ich sicherlich. Die Überwindung des Nihilismus Wenn Nietzsche „ die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte “ erzählt, „ die Heraufkunft des Nihilismus “ (KSA 13, 189), dann will er die Krise einer Welt verschärfen, in der jede sichere Grundlage verloren gegangen ist. Garantierte im christlichen Glauben Gott einen transzendenten Lebenssinn, bleibt nach dem „ Tode Gottes “ nur die „ Sinnlosigkeit des Ganzen “ . In ihr ist der Mensch allein mit sich. Die Frage nach dem „ wozu “ scheint unbeantwortbar. Diese Situation, in der das Denken in keinen „ Gott “ mehr ausweichen kann, ist die größte Herausforderung. Die Grundfrage, die seine Philosophie bewegt und der sie sich stellt, ist: Wie wollen wir in einer Welt ohne Gott leben? Ist sie - den Menschen miteingerechnet - ohne jeden übersinnlichen Sinn, dann muß der Sinn von Welt und Mensch in das Leben selbst zurückgenommen werden. Nihilismus ist das Resultat der „ Geschichte eines Irrthums “ . Sie beruht auf einer moralischen Interpretation des Lebens, deren Verfall Nietzsche in der Götzen-Dämmerung (1888) skizziert. Nach der Auflösung der mit Plato beginnenden Metaphysik im Atheismus des 19. Jahrhunderts, ist die „ wahre Welt “ als Lüge erkannt. Am Ende der philosophischen Fabel von einer Welt der Ideen und der Moral steht die Selbstüberwindung des Nihilismus, die Verwandlung eines destruktiven „ Willens zum Nichts “ zum Wollen der Fatalität alles dessen, was war, ist und sein wird. Wie sie gelingen könnte, zeigt der Weg von einem reaktiven zu einem aktiven Nihilismus. Unter der Überschrift Mein neuer Weg zum „ Ja “ notiert er im Herbst 1887: Meine neue Fassung des Pessimismus als ein freiwilliges Aufsuchen der furchtbaren und fragwürdigen Seiten des Daseins (. . .) „ Wie viel ‚ Wahrheit ‘ erträgt und wagt ein Geist? “ Frage seiner Stärke. Ein solcher Pessimism könnte münden in jene Form eines dionysischen Jasagens zur Welt, wie sie ist: bis zum Wunsche ihrer absoluten Wiederkunft und 10 <?page no="11"?> Ewigkeit: womit ein neues Ideal von Philosophie und Sensibilität gegeben wäre. (KSA 12, 455) Auf den extremen Anspruch eines solchen „ Ideals “ unter dem Stichwort „ Experimental-Philosophie “ 1 bezieht sich eine Aufzeichnung aus dem Frühjahr/ Sommer 1888. Sie ist eine Schlüsselstelle seines philosophischen Selbstverständnisses: Eine solche Experimental-Philosophie (. . .) nimmt versuchsweise selbst die Möglichkeiten des grundsätzlichen Nihilismus vorweg: ohne daß damit gesagt wäre, daß sie bei einem Nein, bei einer Negation, bei einem Willen zum Nein stehen bliebe. Sie will vielmehr zum Umgekehrten hindurch - bis zu einem dionysischen Jasagen zur Welt, wie sie ist, ohne Abzug, Ausnahme und Auswahl - sie will den ewigen Kreislauf, - dieselben Dinge, dieselbe Logik und Unlogik der Knoten. Höchster Zustand, den ein Philosoph erreichen kann: dionysisch zum Dasein stehn - : meine Formel dafür ist amor fati . . . (KSA 13, 492) Die dionysische Stellung zum Dasein hat den in der jüdisch-christlichen Weltauslegung zur Herrschaft gekommenen nihilistischen „ Geist der Rache “ überwunden. Sie verkörpert das Pathos einer „ göttlichen Leichtigkeit “ in einem mimetisch erotischen Weltverhältnis des Menschen. Der Sonne lernte ich Das ab, wenn sie hinabgeht, die Überreiche: Gold schüttet sie da in ‘ s Meer aus unerschöpflichem Reichthume, - (KSA 4, 249) Nietzsches Denkanstrengung zielt auf eine Philosophie der ästhetischen Sinn- und Welterkenntnis im Zeichen der Hochzeit von Dionysos und Ariadne. Als ein Paradigma „ des ja-sagenden Denkstandes “ ist der „ ästhetische Zustand “ anzusehen, „ welcher der Intelligenz in den Sinnen, dem Leib, der Erde, dem dionysischen Prinzip in der Bedeutung des Schaffens, Gestaltens, Umfassens, der Leichtigkeit, des Erhobenseins und Freiseins Gerechtigkeit geschehen läßt. “ 2 Die gewollte Bejahung, Segnung und Verklärung des Lebens, Ja- Sagen, das als „ amor fati “ den Übermenschen auszeichnet, ist durch den Doppelbezug des Menschen zu der ihn umgebenden Welt gefährdet. Er läßt sich dahingehend charakterisieren, daß sie ihm im Licht der Sonne „ Heimat “ ist, zum anderen in einem wechselhaften atmosphärischen Bezug bei Sonnenuntergang plötzlich zu 11 <?page no="12"?> einem unvertraut Unheimlichen wird. Es ist eine der wesentlichen Anstrengungen von Nietzsches geistiger Existenz, diese Ambiguität zugunsten einer archaischen Sicht des Lebens aufzuheben. In ihr sind Geburt und Tod der ständige Austausch in einem dem subjektiven Daseinsvollzug gegenüber unzerstörbaren kosmischen Kreislauf. In der Literatur gibt es eine Dichtung von Weltrang, in der diese Weltvision einen lyrisch gesteigerten Ausdruck gewinnt: Rilkes Duineser Elegien und die Sonette an Orpheus Die erste Strophe des sechsten Sonetts fragt beim Anblick der mythischen Figur des thrakischen Sängers: „ Ist er ein Hiesiger? “ Und gibt im Vernehmen seines Gesangs, dessen Zauber das Land der Lebenden und der Toten erschüttert, die Antwort: „ Nein, aus beiden Reichen erwuchs seine weite Natur. “ Um diese „ weite Natur “ geht es in Nietzsches philosophischen Entdeckungen. Verbunden ist sie mit der wilden Natur des Dionysos. Es ist sein Stolz, so sein Bekenntnis im Ecce homo, als Erster das „ wundervolle Phänomen des Dionysischen “ entdeckt zu haben (KSA 6, 311). Der symbolische Sinn dieser Entdeckung ist, daß dieses Phänomen in der Seele die Ahnung von einem erotisch-tödlichen Einklang im Streitlärm des Lebens erweckt. Das Dionysische ist seine Deutung einer Tiefendimension der Welt. Als eine „ poetische Theologie “ (Walter Bröcker) aus dem Geist der Romantik, ist sie den Griechen fremd. Ästhetische Entwürfe zu einer Philosophie des Lebens Nietzsche, der sich in seinen Schriften aus der Basler Zeit als Erzieher und Arzt einer kranken Kultur verstand, sah sich am Ende seines geistigen Schaffens in der Rolle des „ letzten Jüngers “ des Dionysos, der als solcher weder zu Lebzeiten noch später Nachfolger fand. Seine Lehre von Zeit und Werden deutet auf einen dem menschlichen Vorstellungsvermögen entrückten Ort „ jenseits von Mensch und Zeit “ . „ Mittag und Ewigkeit. Fingerzeige zu einem neuen Leben “ (KSA 9, 519) ist Nietzsches Anzeige der Intention, die hinter der „ Grundconception “ seiner Philosophie steht. Ihre Lehre vom Willen zur Macht eröffnet die Perspektive auf eine Welt jenseits ihrer Beschreibung durch die Kategorien der Vernunft. Sie kennzeichnet 12 <?page no="13"?> 13 Raffael, Transfiguration oder Verklärung Christi, 1519/ 1520 (Vatikanische Pinakothek) <?page no="14"?> eine Dynamik, die sich in der ständigen Überwindung jeder erreichten Position des Lebens realisiert. Die Fortentwicklung einer Philosophie der Vernunft, wie wir sie bei Kant und Hegel finden, zu einer ästhetischen Philosophie des Lebens ist durch experimentelle Entwürfe bestimmt, deren Träger nicht das „ Ich denke “ des Descartes ist, sondern das „ Es denkt mich “ , das Rimbaud beschworen hat. Nietzsches neue Weltauslegung gilt einem intuitiv gegebenen Sein als Werden. Seine Geburt der Tragödie (1872) läßt nach dem Ende der christlichen Anthropotheologie die Gestalten vergessener Götter (Apollon/ Dionysos) als Lebensmächte aus dem Weltprozeß hervorgehen. Indem sie davon ausgeht, daß es das Leben selbst ist, das sich in den als Wille zur Macht gedeuteten Prozessen beständiger Selbsttranzendierung auslegt, erneuert sie eine philosophische Reflexion, die in der Begriffslogik Hegels und in der Willensmetaphysik Schopenhauers im Ansatz angelegt war und bei Dilthey zu der beherrschenden Idee seiner Hermeneutik wird. Sein Begriff der Interpretation relativiert den Anspruch, „ Welt “ sei durch die prädikative Struktur der Sprache beschreibbar. Er versucht, dem Realitätserleben eines multiplen „ Ich “ gerecht zu werden. In dessen Wahrnehmungen gleichen die Dinge unter einem von Zwielicht erfüllten Himmel Zeichen, die in ihrer Bedeutung interpretativ nie ausschöpfbar sind. Am Tage gelesen, verdecken sie den dunklen Untergrund einer nächtlichen Welt. Ihn erhellt die Sehkraft der Kunst. Interpretation bei Nietzsche heißt: Unser Verhältnis zur Wirklichkeit ist immer durch Deutungen des Geflechts der Dinge bestimmt. Aus diesem Grund ist Wahrheit ein „ Spiel der Interpretationen “ (Gianni Vattimo), nicht wie in der Metaphysik das oberste Prinzip, aus dem sich kategoriale Bestimmungen des Seienden ableiten lassen. Insofern der Mensch dem Leben nicht enthoben, sondern in das Spiel seiner Kräfte verflochten ist, vermag er in der Kunst eine „ zweite “ Wirklichkeit zu schaffen. In ihr repräsentieren Liebes- und Todesmächte die Dämonie des Lebens. In Also sprach Zarathustra werden Abläufe des Lebens wie auf einer Traumbühne sichtbar und in Bildsequenzen verewigt: Und diese langsame Spinne, die im Mondscheine kriecht, und dieser Mondschein selber, und ich und du im Thorwege zusammen flüsternd, von ewigen Dingen flüsternd (. . .) (KSA 4, 200) 14 <?page no="15"?> Die Konturen einer Tiefenwirklichkeit der Welt erscheinen nicht primär im Sinnhorizont von Sprache und Gedanke. Ihre Wahrnehmung verdankt sich dem Zusammenspiel von Auge und Ohr in einem dem Fluß der Zeit für einen Augenblick enthobenen Zeitfragment. Diese Synästhesie ist einer der Gründe, auf die sich Nietzsches beruft, wenn er die Kunst rühmt. Sie läßt das Alogische in einer Tiefenschicht der ewig werdenden Welt mit sinnlichen Eindrücken kommunizieren. „ Sonnenlicht glitzert in dem Grund und zeigt worüber die Wellen fliessen: schroffes Gestein. “ (KSA 8, 295) Das philosophische Problem, das den jungen Nietzsche bewegt, ist das Verhältnis einer apollinisch lichten Sphäre des Scheins zu einer dunklen Tiefenzone des Seins. Der vierte Abschnitt seiner Tragödienschrift verweist auf Raffaels Gemälde Die Verklärung Christi, an dem dieses Verhältnis als „ Schein des Scheins “ (KSA 1, 39) anzuschauen ist. Der „ dramatische Gegensatz “ (Jacob Burckhardt) einer Lichtwelt des Scheins zu einer Dunkelzone dämonischer Besessenheit - dargestellt durch die Dichotomie seiner oberen und unteren Bildhälfte - , ist in dem Verklärungsgeschehens eines „ leuchtenden Schwebens “ aufgehoben, das Schein ist. Hier haben wir, in höchster Kunstsymbolik, jene apollinische Schönheitswelt und ihren Untergrund, die schreckliche Weisheit des Silen, vor unseren Blicken und begreifen, durch Intuition, ihre gegenseitige Nothwendigkeit. (KSA 1,39) Nietzsche ist der Herold jener „ Philosophen der Zukunft “ , die die Verklärung der Welt verkünden und das sinnliche Spiel lichtdurchfluteter Wellenornamente auf dem Meer des Lebens feiern. Die Rede dieser Philosophen ist die poetische Sprache seiner „ Zarathustra “ - Dichtung. Sie zielt auf eine Aufhebung der Differenz zwischen „ Ich “ und „ Welt “ um die Stunde des Mittags. Ihr musikalisches Pathos beschwört die Repräsentation von Welt. Sie weckt die Assoziation an eine in sich kreisende, ein wenig eintönige Melodie, aus der das Fließen der Zeit hörbar wird. Die dionysische Sprache, die Nietzsche in Also sprach Zarathustra spricht, unterscheidet sich von der begrifflich scharfen Sprache seiner positivistischen Philosophie. Sie verleiht der Dynamik des Werdens eine sich ihr mimetisch anschmiegende poetische Musikalität. Augenblicke von Schwellenübertritte in das Andere der Vernunft 15 <?page no="16"?> sprachlich überhöht in sich bewahrend, zeigt sie eine strukturelle Analogie zu der Sprache des Traums. Der sich in ihr öffnende „ Raum “ , gewährt die Resonanzen eines Geschehens um die Stunde des Mittags, wie es musikalisch aus dem Prélude à l'Après-Midi d ’ un faune von Claude Debussy hörbar wird. Die Sprache einer dionysischen Philosophie geht darauf aus, das Glück eines Mittags-Augenblickes einzufangen: (. . .) das Leiseste, Leichteste, einer Eidechse Rascheln, ein Hauch, ein Husch, ein Augen-Blick - Wenig macht die Art des besten Glücks. (KSA 4, 344) Im Gefühl dieses „ Glücks “ scheint der Lauf der Zeit für einen Wimpernschlag still zu stehen. Abbild der Ewigkeit, offenbart es aus zeitphilosophischer Perspektive einen in sich stehenden Zustand vollendeter Ruhe in einer fließenden Bewegtheit. Der mystische Gedanke einer in sich stehenden Dauer im Strom der Zeit ist ein Blitz, ein epiphanisches Ereignis, dessen Zauber Hölderlins Gedicht Die Meinige von 1786 in äußerster Verdichtung auf knappstem Raum in die unvergeßliche Wortfügung stellt: Im Abendschimmer Stand der Strom. Augenblicke einer aufscheinenden Ewigkeit, in denen für einen Atemhauch die Welt vollkommen ist, finden höchsten lyrischen Ausdruck im Nachtwandler-Lied, dem „ Trunkenen Lied “ . Hier spricht Zarathustra von der Liebe als dem Sinn des Seins. Der Ton seiner Rede verdankt sich der „ Flöte des Dionysos “ . Ihr Klang beschwört die Allgegenwart des Gottes im Festumzug des Lebens. Er ist Zeuge für eine heraklitisch getönte Alleinheitslehre. In ihr ist der „ kleine Ring “ (Goethe) des Einzellebens in sich verjüngender Wiederholung mit dem großen Ring der Welt hochzeitlich verbunden. In dem Verlangen der Lust nach Ewigkeit, dieser Sehnsucht der Liebenden, gründet Nietzsches Entwurf einer erotischen Philosophie. Eben ward meine Welt vollkommen, Mitternacht ist auch Mittag, - (. . .) Sagtet ihr jemals Ja zu Einer Lust? Oh, meine Freunde, so sagtet ihr Ja auch zu allem Wehe. Alle Dinge sind verkettet, verfädelt, verliebt, - (. . .) Alles von neuem, Alles ewig, Alles verkettet, verfädelt, verliebt, oh so liebtet ihr die Welt, - ihr Ewigen liebt sie ewig und allezeit: und auch zum 16 <?page no="17"?> Weh sprecht ihr: vergeh, aber komm zurück! Denn alle Lust will - Ewigkeit! (KSA 4, 402) Mit dieser Selbstbejahung des Werdens als ein Spiel des Seins hat das erotische Pathos Zarathustras die aus dem Nihilismus resultierende Versuchung zur Selbstvernichtung besiegt. Sein antichristliches Evangelium, das die Erde, das Blau südlicher Meere und die Sonne preist, ist die schärfste Absage an einen Nihilismus, der im Aufgang der Sonne nur „ eine Leiche “ sieht (Dostojewski, Die Sanfte). Man sollte sich jedoch vor Augen halten: Zarathustra, das Alter Ego Nietzsches, hat die Versuchung einer nihilistischen Absage an das Leben besiegt, er selbst nicht. „ Ich will das Leben nicht wieder “ , so das Bekenntnis im Nachlaß November 1882 - Februar 1883. „ Wie habe ich ’ s ertragen? Schaffend. Was macht mich den Anblick (der ewigen Wiederkehr - W. R.) aushalten? Der Blick auf den Übermenschen, der das Leben bejaht. Ich habe versucht, es selber zu bejahen - Ach! “ (KSA 10, 137) „ Musik des Südens “ - Klangfarben einer ästhetischen Metaphysik Nachdem sich Nietzsche in seinem Spätwerk aus der Denk- und Gefühlswelt Richard Wagners weitgehend gelöst hat, werden Pathos, Fiktionalität und Dämonie des Schreckens auf eine revidierte Tragödienästhetik bezogen, die für ihn in der Musik von Bizets Carmen hörbar ist. Die auf dunklem Grund aufruhende griechische Heiterkeit wandelt sich dank ihres südlichen Pathos zur „ afrikanischen “ Heiterkeit. Diese Musik ist heiter; aber nicht von einer französischen oder deutschen Heiterkeit. Ihre Heiterkeit ist afrikanisch; sie hat das Verhängnis über sich, ihr Glück ist kurz, plötzlich, ohne Pardon. (KSA 6, 15) Nietzsches Freuden an den Spielen des Scheins ist das Entzücken eines am Leben leidenden Künstlers. Seine tiefste Gefährdung widerfährt ihm durch eine Stille, die als „ ungeheure Stummheit “ hinter der Rhetorik des Lebens lauert. Es gibt Augenblicke, in denen sie atmosphärisch in dem sprachlosen „ ewigen Abendspiel “ von Himmel und Meer fühlbar wird, wie in dem Aphorismus Im grossen 17 <?page no="18"?> Schweigen zu Beginn des fünften Buches der Morgenröthe. Seine Wahrnehmung stellt die fragile Basis, auf der die Stabilität des Menschenlebens beruht in Frage. Die andere Seite der Stummheit als „ Darstellung des Todes “ (Sigmund Freud) ist der Gesang der Sirenen. Ihm widersteht keiner. Seine süße Verheißung eines Glücks, das alle Sehnsucht stillt, verbirgt die Drohung einer Heimholung des Daseins in einen subjektlosen Grund. Dem entspricht die Klage: Oh Meer! Oh Abend! Ihr seid schlimme Lehrmeister! Ihr lehrt den Menschen aufhören, Mensch zu sein! Soll er sich euch hingeben? (KSA 3, 260) Ästhetische Metaphysik reflektiert auf die spannungsreiche Selbstproduktivität des Lebens. Ist sie für Goethe an das Gesetz von Polarität und Steigerung gebunden, für Hegel an das Ineinander von bacchantischem Taumel und einfacher Ruhe, so für Nietzsche an die Erweiterung und Steigerung eines rauschhaften Machtgefühls. In seiner sublimierten Form ist es Wille zur Kunst. Er erschließt dem Auge eines neuen Kolumbus bei seiner Meerfahrt Ausblicke auf reichere, umfänglichere, südliche Horizonte. Die im Frühjahr 1888 skizzierten Entwürfe zu einer physiologischen Ästhetik erfordern besondere Beachtung. Die von ihr gesuchten Erkenntnisse findet sie in einer Zeichensprache des Leibes. Sie lesen zu lernen, ist für ein ästhetisches Weltverhalten jenseits reaktiver oder nihilistischer Einstellungen von größter Bedeutung. Der aesthetische Zustand hat einen Überreichthum von Mittheilungsmitteln, zugleich mit einer extremen Empfänglichkeit für Reize und Zeichen. (KSA 13, 296) Für den späten Nietzsche ist das Kunstwerk ein Resonanzboden, der die Schwingungen einer „ feinen Erreglichkeit des Leibes “ hören läßt. Wie bei Proust hat sie ein „ eigenes Gedächtniß “ , das in die Tiefe vergessener seelischer „ Zustände “ hinabreicht: „ eine ferne und flüchtige Welt von Sensationen kehrt da zurück . . . “ (KSA 13, 296) Eine von ihr inspirierte Kunst läßt Weltgehalte gesteigert wahrnehmen, potenziert sie in der Auffächerung ihrer Farben, Gerüche und Klänge. Die Potenz der Kunst läßt „ Welt “ hörbar werden als Musik des Südens „ als Tanz, als Leichtigkeit und Presto “ (KSA 13, 294): eine mimische Sprache von Grundaffekten, übersetzt in einen musikalischen Rhythmus. (Man denke an die Carmina Burana von Carl Orff.) 18 <?page no="19"?> Das „ Ohr “ des Künstlers nimmt seine Schwingung auf, es besitzt eine Sensibilität für das Flüchtigste. Es genügt der leichteste Sinneseindruck, ein Windhauch, der über ein Kornfeld streicht, um ihn in einer poetischen Sprache zu verdichten, die einen atmosphärischen Weltbezug stiftet. Ein „ Geruch aus Weizenfeldern, der dem Honig “ , der Gabe des Dionysos, „ nahe kommt “ (KSA 8, 517), vermittelt eine unsagbare ontologische Erfahrung. Die Welt ist tiefer als der Tag gedacht. Dieses von der dionysischen Seele empfangene Geheimnis kann nicht gesagt, es kann nur gesungen werden: O h M e n s c h ! G i e b A c h t ! Wa s s p r i c h t d i e t i e f e M i t t e r n a c h t ? „ I c h s c h l i e f , i c h s c h l i e f - , „ A u s t i e f e m Tr a u m b i n i c h e r w a c h t : - „ D i e We l t i s t t i e f , „ U n d t i e f e r a l s d e r Ta g g e d a c h t . „ T i e f i s t i h r We h - , „ L u s t - t i e f e r n o c h a l s H e r z e l e i d : „ We h s p r i c h t : Ve r g e h ! „ D o c h a l l e L u s t w i l l E w i g k e i t - , „ - w i l l t i e f e , t i e f e E w i g k e i t ! “ (KSA 4, 404) Nur dem, der aus Welt des Truges erwacht, wird die mystische Erkenntnis zuteil, daß es eine tiefere Wirklichkeit gibt als die Scheinwelt des Tages. In ihr ist die Lust, die über den Tod hinaus ihre Ewigkeit will, mächtiger als alles „ Herzeleid “ . Man muß hinter dem Mitternachtslied aus Also sprach Zarathustra die Tristan-Musik Richard Wagners hören, um zu verstehen, was die nächtliche Tiefe der Welt gegenüber dem Schein des Wehs (Schopenhauer) am Tag ist. In Das Maisfeld (1941) des italienischen Dichters Cesare Pavese berichtet der Erzähler, wie er als Knabe an einem Maisfeld stehenblieb und dem Rauschen der langen dürren Stengel zuhört, die sich in der Luft bewegen. In ihm wohnt eine tödliche Stille. „ Es ist ein Rauschen, das sich nicht bewegt. Ich begreife, daß ich eine Gewißheit vor mir habe, daß ich den Grund eines ewig gleichen Sees (. . .) berührt habe. “ Dieses Initiationserleben erinnert an Zarathustras Fall in den „ Brunnen der Ewigkeit “ , von dem das Mittags-Kapitel im vierten Teil von Also sprach Zarathustra erzählt. Was dem Knaben in der Erzählung Paveses geschieht, die Berührung des Grundes „ eines ewig gleichen 19 <?page no="20"?> Sees “ , ist ein Wink. Er läßt ahnen, was im Sommer des Jahres 1881 geschah, als Nietzsche von dem „ Gedanken “ der ewigen Wiederkehr überfallen wurde. Die Ausdruckseinheit von Welt-Spiel und Sprachspiel in seinen Texten erfordert, sie - über eine Darstellung ihrer Anbindung an die philosophische Tradition und deren Kritik hinaus - von den literarischen Konstellationen einer privaten Mythologie her aufzuschlüsseln. Poetisch hoch aufgeladen, kreisen Nietzsches Erzählungen um Zarathustra, Dionysos, Ariadne. Die kunstvollen Beziehungen, die zwischen ihnen bestehen, codifizieren Aspekte seiner wechselnden Selbstidentifikationen in einem Seelendrama: „ Diess nämlich ist das Geheimniss der Seele: erst wenn sie der Held verlassen hat, naht ihr, im Traume, - der Über-Held. “ (KSA 4, 152) Die Klage der Ariadne übersetzt dieses Drama in eine Choreographie. An deren Schluß wird Dionysos in „ smaragder Schönheit “ sichtbar. Er bittet die minoische Königstochter: Du hast kleine Ohren, du hast meine Ohren: steck ein kluges “ Wort hinein! - (KSA 6, 401) Ariadne, so der Kommentar des französischen Philosophen Gilles Deleuze, „ besitzt die Ohren des Dionysos: Die Bejahung (des Werdens - W. R.) muß, damit sie die des Seins ist, selbst noch bejaht werden. “ 3 Tod und Verwandlung - Der fremde Gott Dionysos, der fremde griechische Gott, wird für Nietzsche - wie schon zuvor für Hölderlin - zu der maßgeblichen Instanz einer künstlerischen Inspiration über die Mysterien des Lebens und des Todes. Als „ Versucher-Gott “ , „ dessen Stimme bis in die Unterwelt jeder Seele hinabzusteigen weiss “ (KSA 5, 237), hebt er die Differenz zwischen Vernunft (Stadt) und Wahnsinn (Wildnis) auf. In seinen Schriften ist seine vieldeutige Gestalt im griechischen Mythos eine dunkle Metamorphose des Eros, ein Symbol für die Aufhebung der Opposition „ Ja “ und „ Nein “ , „ Schaffen “ und „ Zerstören “ , „ Licht “ und „ Finsternis “ , „ Gott “ und „ Welt “ in einer umfassenden Weltperspektive. In der Antike vereinigt die wandlungsreiche Gestalt des Gottes in sich so getrennte Bereiche wie die Fruchtbarkeit der Weinrebe und den Efeu, das Gewächs des Dunkels. Der Versuch Nietzsches, sie 20 <?page no="21"?> seinem Denken zu integrieren, bleibt problembehaftet, da es für seine Philosophie einen einheitlichen Grund der Welt nicht mehr gibt. Sein Dionysos ist Zeichen für die Ankunft des fremden Gottes vom Meer her. Er segnet die Seele mit einer sie verwandelnden Initiation in das Mysterium der ewigen Wiederkunft. Ihrem Auge wird um die Stunde des Mittags die Vision eines „ alten krummen und knorrichten Baumes “ geschenkt, „ der von der reichen Liebe eines Weinstocks rings umarmt und vor sich selber verborgen war “ (KSA 4, 342). Dieser Baum ist Symbol für die Zweieinheit des Lebens: das durch die Last der Jahre Gebeugte und das vom Licht Überglänzte seiner Früchte. In ihr waltet jener verborgene gesetzliche Bezug von Zeit und Natur, dem Hölderlins spätes Gedicht Die Aussicht (1748) die Worte zuspricht: Daß die Natur ergänzt das Bild der Zeiten, Daß die verweilt, sie schnell vorübergleiten, Ist aus Vollkommenheit, des Himmels Höhe glänzet Den Menschen dann, wie Bäume Blüt ’ umkränzet. „- man kennt die Griechen nicht, solange hier (bei der dionysischen Erfahrung - W. R.) der verborgene unterirdische Zugang noch verschüttet ist “ (KSA 11, 681), notiert sich Nietzsche im Spätsommer 1885. Ihm, der mit dem Totenkult verbunden ist, nähert er sich in einigen herausragenden Textpartien. Sie zählen zu den schönsten Stellen seines Werkes. Über ihnen liegt - wie im Mittags-Kapitel aus dem vierten Teil des Zarathustra - ein fremdes Licht. Der Dionysos gewidmete Aphorismus Nr. 295 aus dem neunten Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse redet weder von der ewigen Wiederkehr noch vom Willen zur Macht, sondern von einer unsäglichen Erfahrung, die uns ihr fremdes Gesicht zuwendet. Es trägt Züge des Sokrates, des „ Rattenfängers der Gewissen “ , aber auch die des fremden Gottes, der bis in die Unterwelt vordringt und zum Heros der abgeschiedenen Seelen wird. Als ein letzter Liebhaber der Ewigkeit erweitert Nietzsche die empirisch deskriptive Psychologie der Liebe, deren analytische Schärfe er an der Literatur des psychologischen Realismus hervorhebt, zu einer Hermeneutik des Lebens. Ihre Wurzeln sind die „ Mysterien der Geschlechtlichkeit “ . Der „ ewige Wille “ zu Zeugung, zu Schwangerschaft und Geburt, wie er in jedem Frühjahr an jungen 21 <?page no="22"?> Müttern mit dem Kinderwagen sichtbar wird, weist über den biologischen Rahmen hinaus und zurück auf das Mysteriengeschehen in Eleusis. Dessen Symbol, die Ähre, enthält in „ jedem Korn Weizen und jedem Mädchen gleichsam alle Nachkommen: eine unendliche Reihe von Müttern und Töchtern in einem “ (Karl Kerényi). Die Mutter- Tochter-Göttin Demeter-Persephone schenkt den Teilnehmern an den Mysterien in Eleusis die Sicht auf dieses ewige Sein. In einer Anspielung auf die eleusinischen Mysterien heißt es in der Geburt der Tragödie, daß der sie stiftende „ Mythus “ seine Verbildlichung „ durch die in ewige Trauer versunkene Demeter “ findet, „ welche zum ersten Male sich wieder freut, als man ihr sagt, sie könne den Dionysus noch einmal gebären “ (KSA 1, 72). Gründet Nietzsche „ das triumphirende Ja zum Leben über Tod und Wandel hinaus “ (KSA 6, 159) auf eine „ Mysterienlehre “ der Geschlechtlichkeit, dann ist eine solche Grundlegung aus dem Geist der Romantik spekulativ. Seine Rede von den „ Müttern des Seins “ , deren Namen „ Wahn, Wille, Wehe “ lauten, ist ein romantisch eingefärbter Schopenhauer. Mit den Griechen hat sie nichts zu tun. In den im Frühjahr gefeierten „ älteren Dionysien “ (Anestherien) ist Dionysos mit dem Totenkult verbunden. Die Seligpreisung im Demeter-Hymnus verheißt dem Mysten die Bewältigung der Todesangst und die Hoffnung auf ein besseres Los im Jenseits. „ Wahrheit “ als Weib In der Vorrede zu der zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft vermutet Nietzsche: „ Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehn zu lassen? Vielleicht ist ihr Name, griechisch zu reden, Baubo? “ (KSA 3, 352) Der Name „ Wahrheit “ ist eine Meronymie für eine Göttin des orphischen Demeterkultes. Sie ist jenes „ Weib “ , das - so erzählt es der homerischen Mythos - sich zur Erheiterung der um ihre Tochter trauernde Demeter unter die Röcke blicken ließ. Indem Baubo Demeter ihre Vulva sehen läßt, bringt sie sie durch deren Anblick und durch unzüchtige Witze zum Lachen. Der französische Philosoph Jacques Derrida hat auf den Zusammenhang zwischen der Frau, dem Leben, der Verführung, der Scham und allen „ Schleier-Effekten (Enthüllung, Verhüllung) “ bei Nietzsche aufmerk- 22 <?page no="23"?> sam gemacht. 4 Der „ stärkste Zauber “ des Lebens, ist im vierten Buch der Fröhlichen Wissenschaft zu lesen, liegt wie „ ein golddurchwirkter Schleier “ über seinen Abgründen. Anders als in Goethes Zueignung (1884) - „ Aus Morgenduft gewebt und Sonnenklarheit “ - wird er von keiner göttlichen Erscheinung dem Dichter als Gabe überreicht, sondern ist als Zeichen für die helle Sinnlichkeit der Frau „ trügerisch “ : „ Ja, das Leben ist ein Weib! “ (KSA 3, 569) Von der Antike her betrachtet, hat sich in der ungöttlichen Wirklichkeit der Moderne der Wind gedreht und ist kälter geworden. In Flauberts Madame Bovary (1857) ist der Mythos von der Kore, eingezogen in ein volkstümliches Leierlied, unauffindbar. Gesungen von der „ rauhen Stimme “ eines blinden Bettlers, erzählt es von den Ähren, welche die Sense des Schnitters erntet. Es singt von dem Mädchen, das sich der Furche zuneigt, aus dem die Ähren wachsen und dem „ der böse Wind “ das Röckchen in die Höhe bläst. Man muß dieses „ Lied “ ernst nehmen, um das parodistische Element in Nietzsches Rezeption des Mythos zu verstehen. Sein zweideutiges Wortspiel von den „ Gründen “ , Gründe zu verdecken, ist eine Anspielung auf eine tabuisierte Zone lasziver Sexualität, der wir unser „ Da “ -Sein in der Welt verdanken. Ist „ Weib “ bei Nietzsche ein Name für die „ Nicht-Wahrheit der Wahrheit “ (Derrida), so zielen die provokativen „ Wahrheiten “ seiner Philosophie auf jene dem Bewußtsein unzugänglichen Tiefenzonen eines Leibgeschehens, dessen „ Sprache “ codifizierte Botschaften des Fremden sind. Der Windstoß, der bei Flaubert das Röckchen des Mädchens in die Höhe weht, ist Windstoß des Todes, der das bißchen Leben ( „ Röckchen “ ) hinwegfegt. Das Laszive dieses Vorgangs zeigt wie in einem Brennglas den Wandel im neuzeitlichen Verständnis der Grundmächte des Lebens, Eros und Thanatos. Von ihm redet auch Nietzsches Philosophie. Vorbei ist die Zeit, da noch ein Gott aus ihnen glänzte. „ Die Beleuchtung und die Farben aller Dinge haben sich verändert! “ (KSA 3, 495). Der Mythos hatte die sakralen Kulte der Liebes- und Todesgötter in der Erzählung einer „ heiligen Geschichte “ (Mircea Eliade) variationsreich gestaltet. Seine Transformation in eine Geschichte der Psyche wird bei Nietzsche zu einer Perspektive auf die Eingeweide des Lebens. 23 <?page no="24"?> Augenblick der Ewigkeit In einer tiefen seelischen Krise in der „ Mitte des Lebens “ , im Sommer 1881, kreist Nietzsches Denken durch die gefühlte Nähe des Todes um die paradoxe Frage: Wie kann das Individuum noch an einem Lebensprozeß Anteil haben, wenn es im Augenblick seines Todes für immer ausgelöscht ist? Die nicht minder paradoxe Antwort, die er für sich gefunden zu haben meinte, war: indem es sich als wiederkehrend denkt. Nicht als dieses vereinzelte Individuum, flüchtige Erscheinung, versehen mit einem ihm durch den Zufall seiner Geburt verliehenen Namen und einer sterblichen Seele, sondern als viele Individuen in einem Kreislauf jeweiliger Individualisierungen im Wellengang der Zeit, die das sterbliche „ Ich “ bewußt nicht erfährt, die es aber in einem ungeheuren Augenblick als einen Durchgang von Inkarnationen erahnt. „ Verwandlung durch hundert Seelen - das sei dein Leben, dein Schicksal: Und dann zuletzt: diese ganze Reihe noch einmal wollen! “ , notiert sich Nietzsche Ende 1882. Leben und Tod haben einen doppelten Aspekt: Leben ernährt sich von Trennung, jeder Tod erschafft neue Lebensgebilde. Man denkt an den Philosophen, Arzt und Zauberer Empedokles: (. . .) Es gibt gar keine Geburt von irgendeinem sterblichen Wesen, und auch keinen Tod; sondern lediglich Mischung und Austausch des Gemischten - Geburt sagen die Menschen dazu. (Fragment 8) Als Gedanke gehört die ewige Wiederkehr in den Gestaltenkreis der religiösen Ideen. Wie er einen Menschen überfallen und zur Obsession werden kann, kommt dem nahe, was die Alte in Antonio Tabucchis Roman Es wird immer später (2002) mit spöttischem Lächeln sagt: „ (. . .) der Gedanke ist geflügelt, du glaubst, einen Gedanken zu haben, und plötzlich kommt er wie der Wind von irgendwoher, und du dachtest, du hättest einen Gedanken, dabei hat er dich, und du bist es, der gedacht wird. “ Die blitzhafte Erscheinung einer Zeittiefe, die das abstrakte Denkvermögen sprengt, ist mit einem in der philosophischen Literatur bezeugten Erfahrungskern einer mystischen Aufhebung des linearen Zeitablaufs verbunden. Die in ihm verschlossene Frucht ist die Erkenntnis, daß alles vereinzelte Sein, dem Gesetz unaufhörlicher 24 <?page no="25"?> Verwandlung unterworfen, als ein Übergang in das lautlose Fließen der Zeit eingelassen ist. „ Steigen wir hinein in die gleichen Ströme, fließt andres und andres Wasser hinzu. “ (Heraklit, Fr. B 12) Seine Wellen, welche eine individuierte Form des Lebens hinweggerissen haben, wirft sie in dem ewigen Rhythmus der Gezeiten verwandelt wieder an das Ufer der Zeit. Der Gedanke der ewigen Wiederkehr ist die Simultaneität des Werdens im Vergehen. Er ist eine Transzendierung der Zeit, die Identität des vergangenen und des gegenwärtigen Augenblicks in einer inneren Zeit. Zu der Bedeutung menschlicher Animalität In dem erbitterten Kampf, den Nietzsche gegen das Christentum führt, spitzt sich an dessen Ende alles auf eine alles entscheidende Alternative zu. Die Kampfschrift Der Antichrist (1888) faßt sie in die Frage: „ - Hat man mich verstanden? - Dionysos gegen den Gekreuzigten (. . .) “ Weltbejahung im Zeichen des fremden Gottes, dessen Polarität von lächeln der Anmut und dämonischer Vernichtungswut die Einheit von Eros und Thanatos repräsentiert, contra Weltverneinung im Zeichen des am Marterholz hängenden toten Gottes, der durch seine Passion auf eine Seligkeit verweist, die jenseits des Lebens liegt. Dieser Gegensatz ist für Nietzsches Philosophie fundamental. Er beansprucht seine Geltung auch für die Zeit, in der er sich in „ Dionysos “ und „ Der Gekreuzigte “ gleichzeitig verwandelt fand. Im Dionysoskult feiert sich das Leben in seiner stets erneuernden Animalität. In ihr die entscheidende anthropologische Größe zu sehen, ist, wie der italienische Philosoph Giorgio Colli schreibt, in Nietzsches Philosophie „ der schwere, entscheidende Gedanke, Vorbote des Sturms, vor dem der ganze Rest der modernen Philosophie zu Heuchelei herabsinkt. “ 5 Das „ vom Furor der Grausamkeit durchglühte Gesicht “ (Montaigne) ist in Nietzsches Projekt der Aufklärung ein Zeichen für die verleugnete Gleichsetzung von Mensch und Tier. Als Gedächtnis speichert die „ grosse Vernunft “ des Leibes früheste Erfahrungen einer kollektiven wie individuellen Historie somatischer Einschreibungen in einem physiologischen Feld von Interaktionen. 25 <?page no="26"?> Der Leib, seine Haut, ist die Schreibtafel von Erinnerungsspuren, in denen die Differenz zwischen befriedigter und unbefriedigter Lust fortlebt. Er ist der Speicher eines ungestillten Begehrens, genährt von dem Traumgedanken eines Gestilltseins in einer verlorenen Zeit. Es kann der Zarathustra-Dichtung nicht hoch genug als ihr Verdienst angerechnet werden, daß sie diese in der Philosophie des 19. Jahrhunderts weitgehend verdeckten Bezüge in den Blick bringt. In Betonung des Ewigkeitsverlangens der Lust steht sie in der größten Nähe zu der Diotima-Rede in Platos Symposion, dem Lieblingsdialog des jungen Nietzsche. In Nietzsches Spätphilosophie symbolisiert der Name Dionysos die wilde Weisheit des Leibes. Sie zeigt pathische Züge der Lust und des Blutes. Der Wille zur Macht ist in ihr ein Wille zur Präsenz, zum Dasein-Wollen, zu einer höchsten Steigerung der erotisch-thanatologischen Impulse des Lebens. Den Durchbruch zu ihrer uneingeschränkten Herrschaft zeigt der Dionysos-Mythos in jener existentiellen Spannung, die ihnen zwischen einer vom Feuer des Weins verzauberten Welt und dem finsteren Wahnsinn der Seele in den Bakchen des Euripides ihren dramatischen Ausdruck verleiht. Nietzsche als Aufklärer Die von Nietzsche in der Götzen-Dämmerung erzählte „ Geschichte eines Irrthums “ (KSA 6, 80 f.) ist die Revision des ontologischen Verständnisses der Wahrheit in der griechischen Philosophie. In der Hinwendung der Vernunft zu den Ideen die Erkenntnis einer „ wahren Welt “ beständigen Seins zu erreichen, ist in ihr ein Versprechen ohne Erfüllung. Aus dem Resultat einer Desillusionierung, der Abschaffung der „ wahren Welt “ , zieht er das verwegene Fazit: Insofern könnte Nihilism, als Leugnung einer wahrhaften Welt, eines Seins, eine göttliche Denkweise sein: - - - (KSA 12, 354) Nietzsche gehört zu der Schule der radikalen Aufklärung. Sein Experiment, den Menschen als ein Stück Natur in eine durch griechische Metaphysik und Christentum verdeckte natürliche Welt mörderischer Leidenschaften zu integrieren, um seiner von Vernunft und Moral verleugneten dunkle Seite ansichtig zu werden, ist das 26 <?page no="27"?> kühne Projekt von der Morgenröthe bis Zur Genealogie der Moral. Seine Ausarbeitung begründet, was Paul Ricoeur im Anschluß an Sigmund Freud eine „ Archäologie des Subjekts “ genannt hat. Ihn als einen Aufklärer zu lesen, die unerläßliche Lektüre der Schriften eines „ freien Geistes “ und seiner Skepsis, heißt, seine Texte zu Demokrit und Epikur als Beiträge zu einer materialistischen Philosophie zu beachten. Die von Montaigne festgehaltene Beobachtung „ Wir sind alle aus lauter Flicken und Fetzen und so kunterbunt unförmlich zusammengestückt, daß jeder Lappen jeden Augenblick sein eigenes Spiel treibt “ , erfährt bei ihm vielfache Bestätigung. Die Pluralität des „ Ich “ , aus dem Traum bekannt, in dem es als eine Gruppe von Personen auftritt, ist ein Thema in seinem Nachlaß. Ein Grundmotiv in den Romanen Dostojewskis - das Handeln ihrer Figuren ist einem fremden Willen, dem Unbekannten in ihnen, unterworfen - gewinnt in Nietzsches Parole eines „ Tuns ohne Täter “ an Brisanz. In Nietzsches Aufklärungsphilosophie ist die Perspektivierung der Moral ein Grundmotiv in dem Programm einer Umwertung der Werte. Als historische Rekonstruktion der Genese moralischer Vorurteile umfaßt sie breit gefächerte Reflexionen. Ihre Fragen: Welche auf (verdrängten) kollektiven Interessen beruhende Bedeutung haben moralische Werturteile? Ist es sinnvoll, vom „ Ich “ einer Handlung zu sprechen? Die letzte Frage wird aus sprachkritischen Gründen verneint. Der Glaube an „ das Ich “ beruht auf einem durch die Grammatik von Subjekt und Prädikat erzeugten Irrglauben, mein „ Ich “ sei der ursächliche Tatbestand des Handelns. Nietzsche hat vor Freud erkannt: das „ sogenannte Bewusstsein “ von dem, was wir tun, ist nur der „ phantastische Commentar über einen ungewussten (. . .) Text “ (KSA 3, 113). Es bedarf einer leichten Verschiebung, damit aus dem „ ungewussten “ Text jener „ unbewusste “ Text wird, gewebt aus Erinnerungen, Träumen, vagen Empfindungen, der ausmacht, was wir „ unser Leben “ nennen. Wollten und wagten wir eine Architektur nach unserer Seelenart (wir sind zu feige dazu! ) - so müsste das Labyrinth unser Vorbild sein. (KSA 3, 152) An der manieristischen Metapher für die Welt, dem Labyrinth, scheitert die Aufklärung, der Sieg über den Minotaurus. Die Herrin 27 <?page no="28"?> des Labyrinths, die kretische Königstochter Ariadne, wird für Theseus zu einem Labyrinth ohne Ausweg. Darauf deutet der kleine Dialog zwischen Dionysos und Ariadne aus dem Herbst 1887: „ Oh Ariadne, du selbst bist das Labyrinth: man kommt nicht aus dir wieder heraus “ . . . „ Dionysos, du schmeichelst mir, du bist göttlich “ . . . (KSA 12, 510) Nietzsches vernehmende Vernunft Gegen die destruktive Energie eines nihilistischen Willens, der in der abendländischen Denktradition zur Herrschaft gekommen ist, wendet sich Nietzsches „ mimetisches “ Denken. Unterschieden von begrifflicher Erkenntnis und ihrer Organisation der Sinneswelt, richtet es sein Interesse nicht auf Logik und Bewußtsein, sondern auf Resonanzen im Klangkörper der Welt, die eine Tiefenwirklichkeit dem Fühlen zugänglich machen. Ihr verleiht ein poetisches Denken literarischen Ausdruck. Das Ohr Zarathustras nimmt die Resonanz einer Rhythmik des Welt- und Zeitgeschehens dicht unterhalb der Schwelle des Bewußtseins in sich auf. Dieses rezeptive Vermögen ist mit der Wahrnehmung einer orphischen „ Doppelwelt “ , dem Reich der Lebenden und der Toten, verbunden. Sie rühmt Nietzsche vor Sonnenuntergang gleich der Rühmung jenes mystischen Baumes, aus dessen Wurzel bei Rilke das Doppelreich des Hades und des Dionysos steigt: Da stieg ein Baum. O reine Übersteigung! O Orpheus singt! O hoher Baum im Ohr! Nietzsche denkt die Welt jenseits der Idee des Seins (Plato) als ein Spiel und ein Rätsel. Er befreit sie von der Methode, die in ihr das Objekt einer eindeutigen Interpretation im Sinne der Metaphysik und der Logik des prädikativen Urteils sieht. Es sind für ihn sinnliche Erfahrungen, welche Primärprozesse unseres Verstehens von Welt strukturieren. Das emotionale Spürvermögen einer vernehmenden Vernunft, das sich zu ihnen zurücktastet und in der Erinnerung beschwört, zeigt Analogien zu Traum und Schlaf. Ihre Kräfte, die sich der Reglementierung des Denkens widersetzen, gleichen der Arbeit 28 <?page no="29"?> der Penelope, die des Nachts das am Tage Gewebte auflöst. Nietzsche überträgt das mythische Bild des Webstuhls auf eine anonyme Tätigkeit in unserer Subjektorganisation. Mit feinsten Fäden verknüpft sie unser Selbstbewußtsein mit leiblicher Ichlichkeit. Aus ihrer Verbindung mit den schöpferischen Prozeßen des Unterbewußten resultieren diskontinuierliche Zustände des Bewußtseins. Sie ähneln den gestreiften Wellen des Tigerrückens, auf dem der Mensch in seinen Träumen reitet (KSA 1, 760). Die Verbindung von Sinnlichkeit und ästhetischer „ Vernunft “ läßt aus der Musik der Welt das Strömen nie versiegender Wasser im Raum der Seele lebendig werden: „ Nacht ist es: nun reden lauter alle springenden Brunnen. Und auch meine Seele ist ein springender Brunnen “ (KSA 4, 136). Das Bild des Brunnens zeigt, wie eng die mundane Resonanzen aufnehmende Ichlichkeit einem vorsprachlichen Gesang verschwistert ist. Das Geheimnis einer gemeinsamen „ Sprache “ von Leib-Ich und Natur liegt in dem mimetischen Verhältnis zwischen leiblichem Ausdruck und einem Rhythmus, der an die Brandung sommerlicher Meere denken läßt. Seine Gestaltung findet es in dem Meerbild „ Wille und Welle “ im Aphorismus 310 aus dem vierten Buch der Fröhlichen Wissenschaft, einem Zwiegespräch der Seele mit Meereswellen: So leben die Wellen, - so leben wir, die Wollenden! - mehr sage ich nicht. (. . .) Treibt es wie ihr wollt, ihr Uebermüthigen, brüllt vor Lust und Bosheit - oder taucht wieder hinunter, schüttet eure Smaragden hinab in die tiefste Tiefe, werft euer unendliches weisses Gezottel von Schaum und Gischt darüber weg - es ist mir Alles recht (. . .) Denn - hört es wohl! - ich kenne euch und euer Geheimniss, ich kenne euer Geschlecht! Ihr und ich, wir sind ja aus Einem Geschlecht! - Ihr und ich, wir haben ja Ein Geheimniss! (KSA 3, 546) Dem von mir gewählten Ausdruck „ Ästhetik des Daseins “ entspricht bei Nietzsche eine Metamorphose des „ freien Geistes “ . Er sehnt sich nach „ den Schiffen “ , widmet sich eine Weile dem Studium des über dem Meer liegenden Spiel des Lichts, um zuletzt zu der Stunde, da die Sonne untergeht, als „ Fisch “ in das maritime „ Blau “ einzutauchen und in ihm sich aufzulösen. Vernehmende Vernunft ist das Medium von Nietzsches Ästhetik. Sie abstrahiert aus den Konstellationen der Dinge ein Geflecht von 29 <?page no="30"?> Zeichen, deren Richtungssinn mit einer Symbolik verbunden ist, deren Intentionen sich seine Philosophie verpflichtet weiß. Hierfür ein Beispiel: Sieht Zarathustra einen Adler, um dessen Hals sich eine Schlange ringelt (KSA 4, 27), so „ be-deutet “ dieses Sich-Umringeln als ein symbolisches Zeichen die ewige Wiederkehr. Alle Lust des Daseins zielt auf Verwandlungen. Von einer schwermütigen Glückstiefe betäubt, verwandelt sich die aus dem Schmerz geborene griechische und dann unter dem Zeichen des Südens stehende „ afrikanische “ Heiterkeit und wird im Dionysos-Dithyrambus Die Sonne sinkt zur „ güldenen Heiterkeit “ des Todes. In einer Nachlaßnotiz Nietzsches aus dem Herbst 1887 lesen wir: Die Tiefe des tragischen Künstlers liegt darin, daß sein aesthetischer Instinkt die ferneren Folgen übersieht, daß er nicht kurzfristig beim Nächsten stehen bleibt, daß er die Ökonomie im Großen bejaht, welche das Furchtbare, Böse, Fragwürdige rechtfertigt und nicht nur . . . rechtfertigt. (KSA 12, 557) Der „ tragische Künstler “ , als den sich Nietzsche in dieser Passage portraitiert, feiert die Rückkehr zu der griechischen Tragödie, die eine „ Ökonomie im Großen “ verkörpert. Ihre leidenschaftlich forcierte Transformation in eine Ästhetik des Tragischen ruft erneut ins Bewußtsein, daß die Lichtfülle der Welt das menschliche Auge blendet. Nur ihre Verwandlung in die Klangwogen der Musik macht sie ertragbar. Kunst als Heiligung und Segnung von Mensch und Welt, ist das Glaubensbekenntnis des Künstlers Nietzsche. Es ist wie alle seine Konfessionen eigentümlich gebrochen, verdeckt es doch seine tiefe Verzweiflung am Leben. Vor diesem Dämon soll eine Kunst schützen, die den „ Olymp des Scheins “ feiert. „ Menschen der Tiefe “ brauchen als Leidende zu ihrer Erholung: (. . .) eine spöttische, leichte, flüchtige, göttlich unbehelligte, göttlich künstliche Kunst, welche wie eine reine Flamme in einen unbewölkten Himmel hineinlodert! Vor Allem: eine Kunst für Künstler, nur für Künstler! (KSA 6, 438) In der artistischen Synthese von Intellekt und Passion schenkt die Kunst dem Ohr jenen musikalischen Rhythmus, der für die sinnfreie Dynamik des Lebens charakteristisch ist. Ihre Souveränität zeichnet jene leidenschaftliche Schönheit aus, die übertragen auf die Ästhetik 30 <?page no="31"?> der Existenz sie mit dem großen „ Stil “ der pathischen Existenz verbindet. Positionen einer Nietzsche-Lektüre Nietzsches ästhetische Philosophie des Lebens fordert dazu auf, sich souverän mit ihr auseinanderzusetzen, um sie mit Argumenten zu verteidigen oder zurückzuweisen, wobei sich ihre Gewichte während der Zeitdauer des Studiums seiner Texte immer erneut verlagern können. Man schreibt über einen Autor von Weltrang und also auch über Nietzsche in der Jugend anders als im Alter. Aber nur in einer solchen ständig differierenden Schreibweise wird man seiner vieldeutigen Erscheinung annähernd gerecht. Meine Darstellung portraitiert Nietzsche den Künstler, den Dichter gegenüber dem Philosophen deutlicher als in früheren Arbeiten. Mögen „ Übermensch “ und „ Wille zur Macht “ nicht zuletzt wegen ihrer fatalen politischen Lesart in der Vergangenheit philosophisch an Faszination verloren haben, der Künstler Nietzsche, der Sog seiner poetischen Sprache, die divinatorische Kraft seiner Intuitionen für eine Tiefenwirklichkeit der Seele, ihre Verwandlung in Gesang, wird lebendig bleiben und unserer Bewunderung gewiß sein. Die Akzente der Interpretation einer Philosophie werden im Lauf der Jahre immer neu gesetzt. Nur dadurch kommt es zu immer umfänglicheren Perspektiven auf ein so vielstimmiges Werk, wie es Nietzsche uns hinterlassen hat. Die kritische Auseinandersetzung mit seinem Autor und seinen vielleicht zweifelhaften lebensgeschichtlichen Motiven bedeutet nicht, daß wir uns von ihm verabschieden, weil er unsere Eigenliebe und unsere moralischen Vorurteile verletzt. Es kann nicht übersehen werden, daß Nietzsche mit zwei Grundsätzen der platonischen Tradition bricht: der aus dem Leib-Seele- Dualismus abgeleiteten Unsterblichkeit der Seele und der Herrschaft eines durch Vernunft geleiteten Seelenvermögens, das die Erkenntnis der Ideenwelt ermöglicht. Die religiöse Tradition der Unzerstörbarkeit der Seele und der philosophische Glaube an die Vernunft hat unser Selbstverständnis geprägt. Ihre Destruktion, Kränkung unserer Eigenliebe, hat man Nietzsche bis heute nicht verziehen. Alexander Nehamas hat recht, wenn er über seine Schriften schreibt: 31 <?page no="32"?> „ Wenn wir uns mit seinen Werken beschäftigen, dann beschäftigen wir uns nicht mit dem elenden kleinen Mann, der sie geschrieben hat, sondern mit dem Philosophen, der aus ihnen hervortritt, mit der großartigen Gestalt, die diese Texte darstellen (. . .) Nietzsche, der selbst immer sein bester Leser (. . .) war, war sich auch dessen bewusst: „ Das Werk, das des Künstlers, des Philosophen, erfindet erst Den, welcher es geschaffen hat, geschaffen haben soll; die „ grossen Männer “ , wie sie verehrt werden, sind kleine schlechte Dichtungen hinterdrein “ (JG, 269). “ 6 Gegen alle Kritik von Seiten selbst ernannter „ Nietzsche “ -Jünger bestehe ich auf meiner Überzeugung, daß hinter Schriften wie Also sprach Zarathustra und Ecce homo sich eine Tragödie ihres Autors verbirgt, die gegen Ende seines bewußten Lebens dem Lachen Zarathustras eine dunkle Färbung verleiht. Es zeigt keinerlei Ähnlichkeit mit der Euphorie einer „ fröhlichen “ Wissenschaft, die in Tanz, Gelächter und Würfelspiel ihre Erfüllung findet. Erinnert sei an jene verstörende „ autobiographische Aufzeichnung “ in einem Kollegheft Nietzsches aus seiner Leipziger Zeit (1869): Was ich fürchte, ist nicht die schreckliche Gestalt hinter meinem Stuhle, sondern ihre Stimme: auch nicht die Worte, sondern der schauderhaft unartikulierte und unmenschliche Ton jener Gestalt. Ja, wenn sie noch redete, wie Menschen reden! Als Stimme des Anderen wird ihr Ton - unvermutet - noch in den höchsten Gedankenschöpfungen Nietzsches hörbar. Ich erinnere an das Gedankengedicht Aus hohen Bergen. Als ein Nachgesang zu Jenseits von Gut und Böse feiert es mit seinem „ südlich verklärten Vorbeigang der Zarathustra-Gestalt “ (Manfred Riedel) die Ich-Spaltung, - „ Um Mittag war ’ s, da wurden Eins zu Zwei “ - in einer leicht wahnhaften Verklärung als „ das Fest der Feste “ : Freund Zarathustra kam, der Gast der Gäste! Nun lacht die Welt, der grause Vorhang riss, Die Hochzeit kam für Licht und Finsterniss . . . (KSA 5, 243) Der literarische Topos „ Hochzeit des Lichts “ ist eine Anspielung auf jenen „ hochzeitlichen Ring “ der ewigen Wiederkehr, durch den sich Nietzsche, ganz eingetaucht in seine Gedankenwelt, als Bräutigam in der Rolle des Dionysos mit seiner Braut Ariadne verlobt wähnte. In der zitierten Strophe ist das Wort „ Hochzeit “ eine Metonymie für 32 <?page no="33"?> Dionysos. In der erotischen Feier der Lebensfülle, die in dem Gott in Erscheinung tritt, ist der Tod mitgegenwärtig. Heraklits Fragment B 15 „ Derselbe aber ist Hades und Dionysos, dem sie toben und feiern “ deutet auf diese Gegenwärtigkeit hin. Der Leser Nietzsches sollte lernen, auf das Hell-Dunkel dieses „ Doppelklanges “ hinzuhören, das aus dem Waffenlärm dieses „ Toben “ hervorbricht, um einen der Wesenszüge an seiner Philosophie zu erkennen. Ihnen ist eine Ästhetik zueigen, die die Doppelnatur des Dionysos, berauschende Sinnlichkeit und tödliche Grausamkeit bewußt macht. Den „ Riss im Vorhang “ , Zeichen für die Ich-Spaltung und für die helle Nacht des Wahnsinns, nimmt bereits viele Jahre zuvor eine erschütternde Passage aus Nietzsches Jugendschrift Fatum und Geschichte vorweg. Sie, die meine „ Einleitung “ beschließen soll, deutet auf ein nie verwundenes Trauma im Leben des Kindes Nietzsche. In einem Lebensrückblick des Jahres 1863 schreibt der Neunzehnjährige: „ Ich bin als Pflanze nahe dem Gottesacker, als Mensch in einem Pfarrhaus geboren. “ Der das Leben im Licht des Tages gepriesen hat wie kein anderer Philosoph, ist er als Orphiker dem nächtlichen Reich der Todesgöttin Persephone zugeneigt? Alle Kunst des Schreibens hat nicht vermocht, den Schatten des toten Vaters auszulöschen. In Nietzsches Texten vermählt er sich mit dem riesigen Schatten des toten Gottes. Die Literarisierung dieses Traumas folgt dem Schema einer Metamorphose: das Bluten der „ Wunde “ , durch den Schmerz der Erinnerung am Fließen gehalten, wird durch seine Verwandlung in Literatur gestillt. In dieser „ Doppelung “ liegt der einzige Sieg des einsamen Schreibens. Ihm hat sich wie andere Große in der Kunst Nietzsche verschrieben. Die Dialektik von Leid und Verwandlung muß bei jenem Satz aus Fatum und Geschichte (1862) mitbedacht werden, der als das Seelenzeugnis der Lebenswunde eines Kindes wie kaum ein zweiter Satz Nietzsche seinen Leser innerlich so tief bewegt: (. . .) der Vorhang fällt, und der Mensch findet sich wieder, wie ein Kind mit Welten spielend, wie ein Kind, das beim Morgenglühn aufwacht und sich lachend die furchtbaren Träume von der Stirne streicht. 33 <?page no="34"?> Die tragische Auffassung des Lebens „ Das wundervolle Phänomen des Dionysischen “ - Zu Nietzsches „ Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik “ . Nietzsches am 2. Januar 1872 bei E. Fritsch in Leipzig erschienenes Buch Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik nimmt innerhalb seines Werkes eine herausragende Position ein. Seine Paten sind die Philosophie Arthur Schopenhauers und die Musik Richard Wagners. Für ein Verständnis seines Denkens ist seine Tragödienschrift von epochaler Bedeutung, ereignet sich doch in ihr in einem übertragenen Sinn, „ die Geburt “ seiner Philosophie. Das philosophische Grundproblem, dem er sich in seiner Basler Zeit zuwendet, ist das Tragische im Bestand der Welt. Ihm gelten verschiedene an der vorsokratischen Philosophie (Heraklit) und an der griechischen Tragödie (Aischylos/ Sophokles) orientierte Lesarten. Das tragische Element in der Handlung der Tragödie gewinnt Ausdrucksformen in Leid und Streit von Göttern und Menschen, von Nietzsche abstrahiert zu dem Gegensatz von Kunst- und Naturmächten. Die Tragödienschrift legt ihn an dem Gegensatzpaar des Apollinischen und des Dionysischen aus. Der delphische Gott Apollo, Gott der Reinheit und des Lichts, repräsentiert die Logos-Sphäre des Denkens von seinem griechischen Ursprung her. Dionysos, der fremde Gott, vereinigt im orphischen Mythos durch seine rituelle Zerreißung und Wiedergeburt in sich die Opposition von Tod und Leben. Er ist nicht nur der Gott des Weines, sondern steht in seinen Metamorphosen - Stier, Schlange - auch mit dem unterirdischen Reich der Persephone in Verbindung. Als ein Gott der Verwandlungen wird er zum Gott des Theaters. Nietzsches Deutung der griechischen Religion stützt sich auf die Mythenforschung der Romantik, vor allem auf Georg Friedrich Creuzers Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen (1809). Nach ihr nahm Delphi, der alte Sonnenort des Apollo, den Dionysos mit gleichen Rechten auf. Von nun an gibt es auch einen dionysischen Apollo. Die griechische Tragödie leitet ihren Ursprung aus den Festliedern her, die zu Ehren des Dionysos gesungen wurden. Sie erzählen von 34 <?page no="35"?> den Taten und Leiden dieses Gottes. Das an dem Verhältnis zwischen Chor und Helden zu Tage tretende „ tragische Phänomen “ kristallisiert sich in der Adaption Nietzsches aus der Doppelbewegung von „ dionysischer “ Weisheit und apollinischer „ Objektivation eines dionysischen Zustandes “ (KSA 1, 62). In ihr spiegelt sich die Eigenstellung einer mythisch-apollinischen Denkform gegenüber ihren kultisch-dionysischen Ursprüngen. An ihr läßt sich die Doppelnatur der griechischen Tragödie erkennen. Während im Licht von Homers Welt die Welt der Götter eine gültige Wirklichkeit ist, werden die Olympischen in der griechischen Tragödie fragwürdig. Da die Tragödie die Taten der Götter und Heroen auf einen finsteren dionysischen Untergrund hin transparent macht, ist die Bedrohung einer fragilen apollinischen Formenwelt in ihr stets präsent. Die Wiederherstellung einer gestörten sakralen Ordnung im Kosmos und in der Polis durch das Opfer des Heros (Gott/ Stier) wird von den Zuschauern hoch affektiv erlebt. Indem sie in dem tragischen Geschehen auf der Bühne ihr eigenes Schicksal im Fremden erkennen, gelingt über Schauder und Jammer eine partielle Versöhnung mit dem Schrecklichen. Die von Nietzsche im Zusammenhang mit diesen Bezügen entdeckte dunkle Seite der griechischen Kultur hat es der Moderne ermöglicht, unterhalb ihrer rationalisierten Fassade die irrationale, dunkle Seite ihres Wesens wahrzunehmen. Die im August 1870 verfaßte Studie Die dionysische Weltanschauung ist mit dem Thema der Kunst als Spiel verbunden. Sie sieht in ihr einen „ verklärenden Spiegel “ auf dem Hintergrund des tragischen Lebensgefühls der Griechen. Aischylos stellt „ die Erhabenheit der olympischen Rechtspflege “ dar, Sophokles bringt ihre „ Undurchdringbarkeit “ auf die Bühne. Höchste Reinheit, so ihr Fazit, erreicht die tragische Kunst in den Tragödien des Aischylos und des Sophokles. Das Zusammenspiel von apollinischer „ Traumwelt “ und dionysischer Unterwelt des Todes, in der Tragödienaufführung als Polarität von Schönheit und Schrecken dargestellt, bildet den Bogen des Lebens, der als Symbol Apollos den Tod bringt (Heraklit, Fragment B 48). Griechische Mythen als Erzählungen vom Ursprung der Welt, von Göttern und Heroen tradieren ein anthropologisches Wissen in Geschichten. Nietzsches Lektüren sieht in ihnen narrative Modelle des Verhaltens gegenüber einer übermächtigen Wirklichkeit und ihren 35 <?page no="36"?> finsteren Fundamenten. Er spielt auf ihre Theogonien (Hesiod) an, wenn davon die Rede ist, aus der ursprünglichen „ titanischen Götterordnung des Schreckens “ habe sich in genealogischen Übergängen eine olympische Götterordnung entwickelt, die „ wie Rosen “ aus „ dornigem Gebüsch “ hervorbrach (KSA 1, 36). Ihre Polyphonie ist Resonanz tonaler Weltsphären. Für den jungen Nietzsche wird sie in der Musik - zur Zeit der Niederschrift der Geburt der Tragödie in den Klangwelten Richard Wagners - hörbar, aber auch mit unterschiedlich schwächerer Akzentuierung in den literarischen Gattungen Epos, Lyrik, Drama. In der Inszenierung auf der Bühne ist das Unheimliche vor den Mauern der Stadt hinter einer Requisite aus dem Dionysos-Kult, der Maske der Schauspieler gegenwärtig. Durch ihren Mund tönen die Stimmen der Götter und Heroen. Die Maske ist Verwandlung ihrer Träger zu göttlich-dämonischen Mächten. Einen schwachen Abglanz der affektiven Wirkung einer solchen Verwandlung kann man noch heute als Zuschauer der Basler Fastnachtsumzüge erleben. Der aischyleische Prometheus und der sophokleische Ödipus sind Zeichen für die Kunstmächtigkeit der Tragödie. Sie, die den Schrecken der Mythen bereits rationalisiert hat, triumphiert über eine untergründige Strömung von Rausch und Tod. Auf der anderen Seite ist das Mythische der Vorzeit eine Erinnerungsspur, die als ein dunkles Element in der Bürgergesellschaft des 5. Jahrhunderts v. Chr. präsent ist. Die griechische Kunst, Erbe des Mythos, ist ein Teil der religiös-politischen Praxis der Polis. In den Tragödienaufführungen an dem jährlichen Fest der Großen Dionysien geht es um rituelle Formen der Begrenzung und Entgrenzung apollinisch-dionysischer Mächte und um die Debatte, was als das Fremde in die eigene kulturelle „ Identität “ integriert wird. Diese Leistung wird von Nietzsche „ modern “ als eine Strategie griechischer Lebenskunst gedeutet. Wie anders hätte jenes so reizbar empfindende, so ungestüm begehrende, zum Leiden so einzig befähigte Volk das Dasein ertragen können, wenn ihm nicht dasselbe, von einer höheren Glorie umflossen, in seinen Göttern gezeigt worden wäre. Derselbe Trieb, der die Kunst in ’ s Leben ruft, als die zum Weiterleben verführende Ergänzung und Vollendung des Daseins, liess auch die olympische Welt entstehn, in der sich der hellenische „ Wille “ einen verklärenden Spiegel vorhielt. So rechtfertigen die Götter das Menschenleben, indem sie es selbst leben - die allein genügende Theodicee! (KSA 1, 36) 36 <?page no="37"?> Nietzsche begreift die olympische Welt neu, indem er sie von ihrem nicht sichtbaren Grund her versteht. Im Ecce homo feiert er das Sichtbarwerden seiner Wurzeln im Rückblick auf seine Tragödienschrift als seine innovative Entdeckung des „ wundervollen Phänomens “ des Dionysischen. An ihm wird - im Gegensatz zur Weimarer Klassik - das griechische Altertum in einem dunkleren Licht sichtbar. Der Basler Gelehrte Johann Jakob Bachofen, dessen Werke Nietzsche gelesen und für seine Tragödienschrift benutzt hat, hatte die ältesten Mythen der Griechen von einem Vorgriechischen, das Vaterrecht vom Mutterrecht her gedeutet. In der Gräzistik seiner Zeit ist Dionysos Thema ihrer Forschung. Historisch wird die Lebenswelt der griechischen Klassik durch epidemische Wellen irrationaler Emotionen erschüttert. Im Athen des Perikles ebben sie ab und kommen durch den Peloponnesischen Krieg erneut an die Oberfläche. Es ist die Mythenforschung der Romantik, die einen Paradigmenwechsel in der Sicht auf das Altertum einleitet. Die Entdeckung einer älteren Kulturstufe der griechischen Welt, die in der kultischen Verehrung chthonischer Gottheiten der „ Todesdimension des Lebens “ und der „ Lebensdimension des Todes “ (Walter Burkert) Tribut zollt, ist für Nietzsches Antike-Bild entscheidend. Inspiriert von dem Kolleg über griechische Kulturgeschichte Jacob Burckhardts, stellt er die Frage: Wie lässt sich der illusionslose, finstere Pessimismus der Griechen mit dem hellen Glanz ihrer Kunst vereinbaren? Sie ist der Dreh- und Angelpunkt der Geburt der Tragödie. Hinter ihr steht die aus der eigenen Lebensproblematik geborene und durch die Lektüre Schopenhauers verstärkte Hamlet-Frage: Wie kann der Mensch angesichts der quälenden Dunkelheiten in seinem Leben es in ihm aushalten? In der Weise, wie sich für Nietzsche diese Frage am griechischen Mythos konkretisiert: „ Welches war das ungeheuere Bedürfnis, aus dem eine so leuchtende Gesellschaft olympischer Wesen entsprang? “ , liegt die berühmt gewordene Antwort schon beschlossen: Der Grieche kannte und empfand die Schrecknisse und Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben zu können musste er vor sich hin die glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen. (KSA 1, 35) 37 <?page no="38"?> „ Triumph des Daseins “ - Die Bedeutung der Kunst Nietzsches revolutionäre Konzeption der Kunst ist seit ihren Anfängen von einer deutlich markierten Intention hinsichtlich ihrer Wertstellung getragen. Jenseits ihrer traditionellen Bestimmung als Mimesis (Nachahmung der Wirklichkeit), liegt sie in der Verbindung von Sprachmagie und konstruktiver Abstraktion. Sie ermöglicht den Blick auf eine Tiefendimension der Realität, in der eine am Sichtbaren der Welt nicht sichtbare „ Wahrheit “ zum Vorschein kommt. Die Zwillingsnatur der griechischen Kunst ist Thema seiner Tragödienschrift. Das Homerische Epos repräsentiert ein Gewebe aus Erzählungen, dessen leuchtende Farben das Elend des Menschenlebens verhüllen. Die von Nietzsche gegen Schillers Gedicht Die Götter Griechenlands (1788) gerichtete These lautet: Nicht der Glanz der Götter, wie er an der griechischen Plastik sichtbar wird, sondern das Dunkel des Leidens und die Undurchdringlichkeit des Willens der Götter bestimmen das tragische Lebensgefühl der griechischen Welt. Strengsten Ausdruck findet es in den zwei Zeilen eines Gedichtes von Pindar (Pyth. VIII, 95 f.): „ Tagwesen! Was ist einer, was ist einer nicht? Der Mensch der Schatten eines Traums. “ In der archaischen Dichtung ist die „ Weisheit des Silen “ - das Beste für den Menschen ist, nicht geboren zu werden, das weitaus zweitbeste aber, so rasch wie möglich dorthin zurückzukehren, von woher er kam - Zeuge für die tief pessimistische griechische Einstellung zum Leben. Diese altgriechische Spruchweisheit war für den jungen Nietzsche prägend, vermittelt durch den Lieblingsdichter seiner Gymnasialzeit, Hölderlin, der sie als Motto dem zweiten Band seines Hyperion (1799) vorangestellt hatte. Auf dem Grund der sieghaften apollinische „ Cultur des Scheins “ liegt das „ Titanische “ , der Schrecken uralter unterirdischer Mächte. Der Glanz der Szene in der Orestie des Aischylos verdeckt in den Eumeniden das Entsetzliche, das als Bluttat mit den älteren Gottheiten der griechischen Religion verbunden war. Verkörperung der Dämonie dieses Entsetzlichen auf der Bühne ist Klytaimestra, die den Blutregen des von ihr mit dem Beil erschlagenen Gatten Agamemnon bejubelt. Von dem schwer atmenden Rhythmus des tragischen Geschehens her wird verständlich, wenn Nietzsche über den „ apollinischen Griechen “ schreibt: „ sein ganzes Dasein mit aller Schönheit und Mässi- 38 <?page no="39"?> gung ruhte auf einem verhüllten Untergrunde des Leidens und der Erkenntniss “ (KSA 1, 40). Das Apollinische hat für Nietzsche die Funktion einer vor dem Fremden schützenden „ Verhüllung “ . 1 Auf ihr beruht die ruhmreiche Aktion der griechischen Kunst. Sie erkennt das Ungeheure auf dem Grund des Lebens an, indem sie sich über ihm aufrichtet. Indem sie die dämonischen Gewalten in das „ lichte Bildgefüge “ (Karl Schefold) ihrer Plastik und ihrer Dichtung stellt, ist sie zugleich „ Schutzmaßregel “ und Befreiung. 2 Die Verklärungskraft der Kunst verdeckt den dionysischen Weltgrund durch apollinische Spiele des Schattens, Kontur der Erscheinungen auf dunklem Grund. Sie stehen im Mittelpunkt einer von Nietzsche gefeierten tragischen Philosophie des Schmerzes. Die rhetorisch-lyrischen Pathosszenen der Tragödie symbolisieren die Leiden des Dionysos. Der in der Moderne variationsreich rezipierte Satz, daß „ das Dasein und die Welt “ „ nur als aesthetisches Phänomen “ ewig „ gerechtfertigt “ sind (KSA 1, 47), besagt - bezogen auf Nietzsches Tragödienrezeption - , daß im tragischen Spiel der Triumph des „ grossen Stils “ siegreich zum Ausdruck kommt. Die Verklärung des Tragischen. wird zum erhabenen Ereignis, „ wenn das Schöne den Sieg über das Ungeheuere davonträgt “ (KSA 2, 596). Die dramatische Kunst der Tragödie realisiert in ihrer Form aus der Sicht Nietzsches eine zentrale Intention seiner Tragödienästhetik: Die Bejahung des aus den „ Kunstwelten des Traumes und des Rausches “ geborenen Mythos der Liebesvereinigung von Semele (Erde) und Zeus (Himmel). Ihre goldene Frucht ist Dionysos. Als jugendlicher Gott eine Schale Wein in der ausgestreckten linken Hand haltend, erscheint er auf dem Aquarell Bacchus unter den Musen des Malers Buonaventura Genelli, das er im Salon von Richard Wagners Landhaus in Tribschen bei Luzern bewunderte. Die Verbindung von Tragödienästhetik und innovativem Kunstbegriff zeigt, daß Nietzsche die griechische Tragödie nicht als den Ausdruck einer Krisenerfahrung der Polis und deren Bewältigung versteht. 3 Ihre auf die Poetik des Aristoteles sich stützende „ moralische “ Lesart, wie sie Hegels Lektüre der sophokleischen Antigone als die dramatische Form der Kollision „ sittlicher Substantialitäten “ zeigt, verdeckt die durch die Geburt der Tragödie eroberte Erkenntnis, daß sie die Intensitätserfahrung eines Schreckens ist, der - so seine 39 <?page no="40"?> moderne Deutung - in der Nachtseite des Seelenlebens haust. Die griechische Tragödie bringt diesen Schrecken in alten Geschichten fluchbeladner Königshäuser auf die Bühne. In der Moderne ist es Kleists Penthesilea (1807), die die Tigerglut des erotischen Begehrens ineins mit den Finsternissen in der Tragödie - man denke an die Bakchen des Euripides - überwältigend auf die Bühne bringt. Wie wenig moralischer Trost aus den Tragödien zu gewinnen ist, betont in der Morgenröthe Aphorismus 240: Nicht die Schuld und deren schlimmer Ausgang liegt ihnen (den Dichtern - W. R.) am Herzen, dem Shakespeare so wenig wie dem Sophokles (im Ajax, Philoktet, Oedipus): so leicht es gewesen wäre, in den genannten Fällen die Schuld zum Hebel des Drama ’ s zu machen, so bestimmt ist diess gerade vermieden. (KSA 3, 201) Polare Weltbezüge als Strukturelement der griechischen Tragödie veranlassen den jungen Nietzsche zu der Frage eines Ausgleichs zwischen den Ahnungen von der Chaotik des Lebens und der Strategie der Kunst, sie mit einem „ Verklärungsschleier “ zu umkleiden. Eine Versöhnung dieses unversöhnlichen Antagonismus leistet die tragische Kunst. Sie zeigt im Drama das Geflecht von apollinischen und dionysischen Handlungselementen im fließenden Licht der Welt. Sieht man in ihr ein kathartisches Element, „ ist das Drama die apollinische Versinnlichung dionysischer Erkenntnisse und Wirkungen und dadurch wie durch eine ungeheure Kluft vom Epos abgeschieden. “ (KSA 1, 62) Die griechische Tragödie hat eine binäre Struktur. Eine von Apollo bewirkte „ Verherrlichung der Ewigkeit der Erscheinung “ im Licht des Tages und eine durch die Dämonie des Dionysos entflammte nächtliche Szene, voll unsäglicher „ Schrecken der Individualexistenz “ (KSA 1, 108). In der Hochzeit der Dunkelheit des tragischen Mythos mit dem Licht, das über dem sakralen Festspiel der Tragödie liegt, ist der finstere Untergrund, auf dem das dramatische Geschehen aufruht, gleichzeitig bewahrt und verwandelt. Die Mächte des Blutes haben die Griechen durch „ rituell-partizipative und mythisch-distanzierende Strukturen “ (Manfred Frank) ihrer Tragödien gebannt. In der Geburt der Tragödie fordert Nietzsche, inspiriert von Schopenhauers Unterscheidung der Welt als Wille und Vorstellung, dazu auf, die Aufmerksamkeit auf einen dunklen Grund des Seins in einem im 40 <?page no="41"?> Licht aufglänzenden „ olympischen Zauberberg “ (KSA 1, 35) zu richten. Aus der Duplizität des Apollinischen und des Dionysischen entwickelt sich die Kunstform der Tragödie. Ihre Chorlyrik verherrlicht beide Sphären: Die dem nächtlichen Reich der Persephone zugeneigte sophokleische Antigone und die Seherin des Apollo, Kassandra. Die ihr zugrunde liegende Struktur, eine Traumprojektion dionysischen Leidens in den apollinischen Schein zu sein, demonstriert die Zusammengehörigkeit des Schönen mit dem Schrecklichen in einer Handlung, in der Götter im Hintergrund wirken. Die Figur des sophokleischen Ödipus ist „ ein Abgrund “ . Was seinen Ruhm und sein Glück begründet hat, ist eine Falle. Sie wurde von Apollo aufgestellt, um ihn zu dem Verworfensten von allen Menschen zu machen. Ihre Transformation in „ das Apollinische der Maske “ heilt jene Augen, die wie die des Königs durch einen Blick in das Grauen der Natur, Vatermord und Inzest mit der Mutter, geblendet sind. Es ist die Heilkraft der Kunst, „ leuchtende Flecken “ „ zur Heilung des von grausiger Nacht versehrten Blickes “ zu erzeugen. (KSA 1, 65) Die Pointe dieser Formulierung liegt in der Negation des platonisch-idealistischen Wahrheits- und Erkenntnisbegriffs. Die Wahrheit ist im Licht des Gottes Apollo unverborgen gegenwärtig. Sie ist tödlich. Der Weg des Ödipus, die von seiner stolzen Vernunft angetriebene Forschung nach Erkenntnis und Wissen, endet nicht wie bei Plato in der geistigen Schau des göttlich Guten und Schönen, sondern bringt den Fall in den Schrecken, in das Leiden. Am Ende steht die Erkenntnis, daß sich der Orakelspruch erfüllt hat, er werde seinen Vater töten und seine Mutter heiraten. Nietzsches Rezeptionsästhetik der Tragödie ist ein Beitrag zu der Bedeutung des tragischen Mythos als „ Verbildlichung dionysischer Weisheit durch apollinische Kunstmittel “ und seiner Funktion in einem tragischen Denkens. Wie tief er der Tristan-Musik Richard Wagners verpflichtet ist, zeigt eine Passage, die die „ Rede “ des Mythos an den Menschen in den letzten Worten aus Isoldes Liebestod - „ ertrinken - versinken - unbewusst - höchste Lust “ - musikalisch vertont sieht (KSA 1, 141). Im Sog von Wagners Tristan-Ouvertüre, dieser musikalisch in sich kreisenden Sehnsucht nach Untergang und Tod, verdunkelt sich für den jungen Nietzsche die Einsicht, daß dem griechischen Geist der Erlösungsweg der Romantik, selige 41 <?page no="42"?> Vereinigung der Liebe mit der hellen Nacht des Nichts, völlig fremd ist. Der Gott des tragischen Mythos ist Apollo, der Gott des Lichts. Die Pfeile seiner Weisheit vernichten den sokratischen Optimismus, der das über die Sterblichen verfügte Los ihres Unterganges rationalisiert. Die dramatische Kunst der griechischen Tragödie erinnert an dieses Los über die Wiederbelebung archaischer Triebkonflikte und ihre Sühne im Seelenkörper der Polis. Was die Kunst der Tragödie vom bürgerlichen Trauerspiel unterscheidet, ist ihre kultisch-religiöse Form in der Darstellung des Streites zwischen Göttern und Menschen. Ihr symbolischer Sinn wird von Hölderlin wie von Nietzsche, wenn auch auf unterschiedliche Weise, gefeiert. Im dem Gegensatz von Apollinischem und Dionysischem betont Nietzsche die der Tragödie immanenten polaren „ Systeme “ männlich/ weiblich; Mensch/ Tier; Stadt/ Wildnis in einem dichten Gewebe sprachlicher Codierungen. Als hermeneutisch produktiv erweisen sich seine Lektüren des Mythos. Ihr Interesse gilt einer tragischen Weisheit, die aus der Verbindung von Mantik (Apollo), Kult des Dionysos und den Eleusinischen Mysterien geboren wird. Ein von ihm zitiertes Fragment eines orphischen Gedichtes erinnert an den von Hölderlin beklagten Unterschied zwischen der Seligkeit der „ Himmlischen “ im Licht und dem Elend der Sterblichen. Aus dem Lächeln dieses Dionysus sind die olympischen Götter, aus seinen Thränen die Menschen entstanden. (KSA 1, 72) Aufmerksamkeit verdienen die von ihm entdeckten Analogien zwischen den „ Sprachen “ des Mythos und des Traums, die im Surrealismus größte Bewunderung findet. (Bereits vor Freud ist der Traum für Nietzsche die Sprache des Unbewußten.) Wie im Mythos so deutet sich der „ künstlerisch erregbare Mensch “ in der Bildersprache des Traums sein Leben: Wie nun der Philosoph zur Wirklichkeit des Daseins, so verhält sich der künstlerisch erregbare Mensch zur Wirklichkeit des Traumes; er sieht genau und gerne zu: denn aus diesen Bildern deutet er sich das Leben (. . .) Nicht etwa nur die angenehmen und freundlichen Bilder sind es, die er (. . .) an sich erfährt: auch das Ernste, Trübe, Traurige, Finstere, die plötzlichen Hemmungen, die Neckereien des Zufalls (. . .) kurz, die ganze 42 <?page no="43"?> „ göttliche Komödie “ des Lebens, mit dem Inferno, zieht an ihm vorbei, nicht nur wie ein Schattenspiel - denn er lebt und leidet mit in diesen Scenen - und doch auch nicht ohne jene flüchtige Empfindung des Scheins; und vielleicht erinnert sich Mancher, gleich mir, in den Gefährlichkeiten und Schrecken des Traumes sich mitunter ermuthigend (. . .) zugerufen zu haben: „ Es ist ein Traum! Ich will ihn weiter träumen! “ (KSA 1, 27) Die Geburt der Tragödie ist die Urkunde für eine neue Konzeption der Kunst. Die Schönheit des Kunstwerkes ist weder wie in der Hegelschen Ästhetik „ das sinnliche Erscheinen der Idee “ noch wie in der Ästhetik Schopenhauers eine Darstellung der Objektivation des Willens. Als Triumph des Scheins ist Kunst eng mit einer Hinwendung der Künstler zu „ dunkleren, volleren, schwebenden Zuständen “ (KSA 13, 224) im weiten Land der Seele verbunden. Sie gleichen Exstasen. Gefeiert wird die „ Heilungskraft “ (Goethe) der Kunst, deren Klänge und explodierende Farben den Pulsschlag des Lebens beleben. Der Apell aus dem Frühsommer 1888 unterstreicht ihre Apotheose: Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens. (KSA 13, 521) Als Stimulans fördert die Kunst das Leben in dem, worauf es selbst aus ist: ein „ mehr “ an Verwandlung und Steigerung der in ihm wirkenden Energien in Prismen von helleren und dunkleren Formen und Farben des Scheins. In dem durch sie bewirkten Formenspiel, das in sinnlich scharfen und zugleich irrealen Bildern das Auge des Künstlers entzückt, wird nur sie dem in seiner Bewegtheit zugleich schön und abgründigen Leben gerecht. Die Geburt der Tragödie fordert von uns die Anerkennung, daß eine ästhetische Rechtfertigung der Häßlichkeit des Lebens möglich ist. Es sind die Künstler, die auf sie schwören. Nietzsches ästhetische Rechtfertigung des Lebens verneint seine religiöse Rechtfertigung. Ihre Formen ermöglichen die Abstraktionen des Geistes. Sie transformieren Erfahrung in Bild und Schrift, verleihen dem Gewesenen in der Zeit Dauer. Ihre Metamorphosen verwandeln das Leid in die Frucht des Gesangs um den Preis eines 43 <?page no="44"?> Verlustes. Eurydike, als Raub des Hades ein Schatten, ist für immer verloren. Unsterblich ist sie als Tote nur im Gesang des Orpheus. Für den jungen Nietzsche „ ist die tragische Gestaltung des Lebens die gehaltvollste “ , da sie sich zu jenen Höhen erhebt, „ wo Leben und Tod an einander grenzen “ : Der dunkle Horizont ist nöthig, damit die Flamme des Lebens in ihrer ganzen Gluth aufleuchte. (KSA 8, 166) Noch aus später Zeit, dem Frühjahr 1888, stammt das folgende Resümee Nietzsches im Blick auf seine Tragödienschrift: Dieses Buch ist dergestalt sogar antipessimistisch: nämlich in dem Sinn, daß es etwas lehrt, das stärker ist als der Pessimismus, das göttlicher ist als „ Wahrheit “ : die Kunst. Niemand würde, wie es scheint, einer radikalen Verneinung des Lebens, einem wirklichen Neinthun noch mehr als Neinsagen zum Leben so sehr das Wort reden, wie der Verfasser dieses Buchs: nur weiß er, - er hat es erlebt, er hat vielleicht nichts andres erlebt - daß die Kunst mehr werth ist als die „ Wahrheit “ . (KSA 13, 227) In der Geschichte der Ästhetik ist Nietzsche - neben Schelling und Schopenhauer - der Erste, welcher das Primat der Kunst im Vergleich mit den Ansprüchen philosophischer Erkenntnis herausstellt. Er löst Kunst aus ihrer Bindung an den konventionellen Begriff der Mimesis (Aristoteles) und befreit sie von jeder Kunsttheorie, die sie an ihr fremden logischen oder moralischen Maßstäben misst. Es zeichnet die apollinische Sprache des Kunstwerks aus, elementare Aspekte der Welt plastisch zu vergegenwärtigen. Sie hebt sie durch die Gebärde sieghafter Leiblichkeit aus der bewegten Fülle des Werdens hervor. Man denke an den gebieterisch ausgestreckten rechten Arm des Apollo auf dem Westgiebel des Zeustempels von Olympia. Die Kunst hat weder Wahrheit als Wertbegriff noch Moral als Tugendlehre sondern einzig sich selbst zum Gegenstand. Auf dieser Selbstreferenz beruht ihre Autonomie. Die Sprachen der Kunst sind für Nietzsche Resonanzen der Rhythmik des Lebens. Als Wort, als Farbe, als Klang geht von ihnen ein Sog aus, der mächtiger ist als die Erkenntnis der Vernunft, die auf prädikative Bestimmungen von Erfahrungsgegenständen beschränkt ist. Die Souveränität der Kunst gegenüber dem Bedeutungsgehalt der Wahrheit, identisch mit dem 44 <?page no="45"?> zu sein was ist, liegt in ihrer kritischen Phantasie. Sie transzendiert das Urteil der Vernunft durch eine Bildsprache, deren Gesetze nach dem Modell des Traums ein „ inneres Paralleluniversum “ (Hinderk M. Emrich) zu der äußeren Realität schaffen. Ihre surrealen Imaginationen öffnen unsere Augen für eine jenseits der Grenzlinie begrifflicher Erkenntnis stattfindenden Aufhebung der Trennung zwischen Wach- und Schlafzustand, Innen- und Außenwelt. Sie schärfen unser Ohr für seelische Vorgänge unterhalb der Schwelle des Bewußtseins. Das Kunstwerk, immer einen Schritt hinaus in ein jenseits alltäglicher Erfahrung, zeigt auf das Geheimnishaft-Undurchdringliche des Lebens. Im Rückblick auf seine Kunstmetaphysik in der Geburt der Tragödie stellt Nietzsche die Frage: ‚ Wie weit reicht die Kunst ins Innere der Welt? Und giebt es abseits vom ‚ Künstler ‘ noch künstlerische Gewalten? ‘ Diese Fragestellung war, wie man weiß, mein Ausgangspunkt: und ich sagte Ja zu der zweiten Frage; und zur ersten ‚ die Welt selbst ist nichts als Kunst ‘ . (KSA 12, 121) Das „ Problem “ Sokrates Den platonischen Sokrates stilisiert Nietzsche in der Geburt der Tragödie zum Paradigma des „ theoretischen Menschen “ . In ihm nimmt die „ tiefsinnige Wahnvorstellung “ Gestalt an, „ dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigiren im Stande sei “ (KSA 1, 99). Die in der griechischen Tragödie erreichte Synthese von dionysischer Musik und apollinisch verklärtem Mythos ist durch den Gegenmythos einer Vernunft ruiniert, der in der welthistorischen Figur der griechischen Sophistik und ihres Repräsentanten Sokrates die rationale Begreifbarkeit der Welt durch Wissenschaft verkündigt. Diese Stilisierung der Sokrates-Figur ist fragwürdig. Die im Zeichen des delphischen Gottes gestellte sokratische Frage nach dem rechten Leben in der Polis und der Rechenschaft über das die eigene Lebensführung (logon didonai) wird gewaltsam zu der Figur einer neuzeitlichen Wissenschaftslogik umgedeutet, die am „ Leitfaden der Causalität “ die Welt rational erklärt und im hybriden Anspruch eines technischen Wissens die „ brutale Undurchdringlichkeit der Welt “ (Susan Sontag) verleugnet. Nietzsches These, der optimistische Geist 45 <?page no="46"?> des Sokrates habe die griechische Tragödie getötet, trifft ein wenn auch eingeschränktes Wahrheitsmoment. Das sokratische Streben nach einer durch vernünftige Gründe begründeten Wahrheit hat eine Wiedergeburt der Tragödie, die Erkenntnis der Irrationalität des Lebens verhindert. Der Wille zur Wahrheit hat für Nietzsche eine tief fragwürdige Komponente, da er die illusionären Grundlagen, auf denen das Leben beruht, in Frage stellt. Für Sokrates hingegen steht hinter ihm ein natürliches Interesse des Menschen an dem, was das Gute in der Führung seines Lebens ausmacht. (. . .) ist es nicht klar, daß beim Gerechten und Schönen viele sich mit dem bloßen Schein begnügen (. . .), auch wenn nichts Wirkliches dahinter steht (. . .) Beim Guten aber gibt sich niemand damit zufrieden, bloß das Scheinbare zu erwerben, sondern jeder strebt dem wirklich Vorhandenen nach und weist den bloßen Schein hier mit Verachtung von sich. Plato, Politeia, 505 d Nietzsche ahnt die Nähe von sokratischer Weisheit und Tod, wie sie in der erotisch geflügelten Sehnsucht nach einer Lebensjenseitigkeit in Platos Phaidon spürbar wird. Indem er dessen Ende mit dem des Symposion kunstvoll ineinander verfugt - ein stilistisches Meisterstück - , verwandelt sich Sokrates, der den Schierlingsbecher als ein Pharmakon des Heilgottes Asklepios trinkt, in einen wundersamen Seelenführer. (. . .) er ging in den Tod, mit jener Ruhe, mit der er nach Plato ’ s Schilderung als der letzte Zecher im frühen Tagesgrauen das Symposion verlässt, um einen neuen Tag zu beginnen; indess hinter ihm, auf den Bänken und auf der Erde, die verschlafenen Tischgenossen zurückbleiben, um von Sokrates, dem wahrhaftigen Erotiker, zu träumen. (KSA 1, 91) In seinem Beitrag aus den Studentenjahren Ueber das Verhältniß der Rede des Alcibiades zu den übrigen Reden des platonischen Symposions (1864) betont er hellsichtig den in der Figur des Sokrates verkörperten apollinisch-dionysischen Doppelaspekt des Eros: Durch den Gegensatz des Sokrates und Alcibiades kommt endlich jene dämonische Doppelnatur des Eros selbst zur Anschauung, jenes Mitteninnen zwischen Göttlichem und Menschlichem, Geistigem und Sinnlichen (. . .) Selbst schon die wundersame Vereinigung philosophischer Reden mit dem Genusse des Weins erinnert hieran. (BAW 2,423) 46 <?page no="47"?> Nietzsches psychologischer Spürsinn für alles Abgründige erahnt die durch den apollinischen Logos mühsam gebändigte erotische Triebhaftigkeit hinter der Maske des Sokrates. Das erotische Element im dialogischen Philosophieren ist eine Verkleidung tiefer liegender Triebwünsche. In dem Aphorismus „ Der sterbende Sokrates “ aus dem vierten Buch der Fröhlichen Wissenschaft projiziert er eigene erotische Anteile in der pädagogischen Arbeit mit seinen Schülern in Basel in den Athener: Ich bewundere die Tapferkeit und Weisheit des Sokrates in Allem, was er that, sagte und - nicht sagte. Dieser spöttische und verliebte Unhold und Rattenfänger Athens, der die übermüthigsten Jünglinge zittern und schluchzen machte, war nicht nur der weiseste Schwätzer, den es gegeben hat: er war ebenso gross im Schweigen. (KSA 3, 569) Nicht anders als Hegel erkennt Nietzsche in dem Typus Sokrates einen entscheidenden „ Wendepunkt “ und „ Wirbel der sogenannten Weltgeschichte “ (KSA 1, 100). Gegen ihn setzt er den Typus Zarathustra. - Die Figur des platonischen Sokrates verkörpert den Typus der nach Gründen fragenden Rationalität. Sie ist die Denkfigur der griechischen Philosophie. So hat Nietzsche Recht, wenn er in dem „ Bild des sterbenden Sokrates als des durch Wissen und Gründen der Todesfrucht enthobenen Menschen “ „ das Wappenschild “ sieht, das „ über dem Eingangsthor der Wissenschaft “ steht (KSA 1, 99). Als Gegner des Dionysos ist Sokrates der „ neue Orpheus “ . Dazu bestimmt, von den Mänaden des athenischen Gerichtshofes zerrissen zu werden, nötigt er durch die Überzeugungskraft des Logos den zweideutigen Gott zur Flucht. Dieser aber rettet sich vor dem Siegeswillen des sokratischen Logos „ in die Fluthen eines die ganze Welt allmählich überziehenden Geheimcultus “ (KSA 1, 88). Diese den 12. Abschnitt der Geburt der Tragödie abschließende Bemerkung entschlüsselt sich aus der Perspektive einer „ werkgenetischen Bedeutungsebene “ (Barbara von Reibnitz) als die Prophezeiung der Wiedergeburt des Dionysos aus dem Werk Friedrich Nietzsches. Sie soll die Herrschaft des Platonismus - die Idee einer „ wahren Welt “ hinter den Erscheinungen - durch die Inthronisierung des fremden Gottes ablösen. Nachdem Sokrates durch die Gleichsetzung von sittlicher Tüchtigkeit (arete), sachlichem Wissen (episteme) und Glückseligkeit (eidai- 47 <?page no="48"?> monia) die Sphäre des Apollinischen als ein „ Tugendwissen “ uminterpretiert hat, führt die in Platos Phaidon erzählte „ Traumerscheinung “ mit ihrer Botschaft „ Sokrates treibe Musik “ ihn an „ die Grenzen der logischen Natur “ . An der Schwelle des Übertritts des Logos in die Sphäre der Kunst, der Musik, stellt Nietzsche die Frage: Vielleicht giebt es ein Reich der Weisheit, aus dem der Logiker verbannt ist? Vielleicht ist die Kunst sogar ein nothwendiges Correlativum und Supplement der Wissenschaft? (KSA 1, 96) Sokrates hat, so Platos Phaidon, die Botschaft des Traumes in der Weise gedeutet, sie habe ihm gesagt, er solle auch im Angesicht des Todes Philosophie betreiben. Für Plato ist sie Erkenntnis des „ göttlich Schönen “ und somit die höchste Musenkunst. Nietzsche betreibt ihre Umwertung. Nicht ein göttlich Seiendes als Weltprinzip, sondern Spiele des Werdens im Strom des Lebens soll philosophisches Denken vergegenwärtigen. In Menschliches, Allzumenschliches tritt Sokrates - vor allem unter dem Lektüreeinfluss des Sokrates-Bildes in Xenophons Memorabilien - als „ Freigeist “ mit einem „ Anflug von attischer Ironie und Lust am Spaassen “ in Erscheinung. Die Götzen-Dämmerung widmet sich in zwölf Abschnitten dem „ Problem des Sokrates “ . In ihnen erscheint Sokrates als der „ grosse Ironiker “ und in dem von ihm überlieferten Wort (aus dem Phaidon) „ ich bin dem Heilande Asklepios einen Hahn schuldig “ (KSA 6, 67) als das „ Verfalls-Symptom “ einer Spätzeit. Aus dem abschließenden Abschnitt wird eine verborgene Sympathie des Sokrates-Kritikers Nietzsche hörbar, wenn er sein Mißtrauen gegenüber dem Leben (zu Unrecht) auf den Athener überträgt. - Hat er das selbst noch begriffen, dieser Klügste aller Selbst-Überlister? Sagte er sich das zuletzt, in der Weisheit seines Muthes zum Tode? . . . Sokrates wollte sterben: - nicht Athen, er gab sich den Giftbecher, er zwang Athen zum Giftbecher . . . „ Sokrates ist kein Arzt, sprach er leise zu sich: der Tod allein ist hier Arzt . . . Sokrates selbst war nur lange krank . . . “ (KSA 6, 73) Der kranke Sokrates ist eine Fehldeutung des platonischen Sokrates. Das geht aus dem in Platos Phaidon berichteten Auftrag des Sokrates 48 <?page no="49"?> an den Euenos klar hervor. Er fordert ihn, ironisch zweideutig, zu seiner baldigen Nachfolge auf. Gemeint ist mit ihr, auch weiterhin das Leben philosophisch zu bewachen. Sokrates stirbt, „ weil er dem Gott und der Stadt, welcher er sein ganzes Leben hindurch gedient hat, nicht untreu werden will, und nicht, weil er dem Leben feindlich gegenüber steht “ , schreibt der griechische Philosoph Johannes Theodorakopoulos. 4 Nietzsches Heraklit-Deutung Das aus der Basler Zeit stammende Fragment Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1873) geht auf sein in dieser Zeit gehaltenes Kolleg über die vorplatonischen Philosophen zurück. Geplant war es als Teil eines Philosophenbuches, das die Geschichte dieser Philosophen unter dem Gesichtspunkt ihrer Lebensform erzählt. In ihm steht Heraklit im Mittelpunkt. Die Darstellung seiner Lehre, der Philologie seiner Zeit stark verpflichtet, ist ein Vorgriff auf die spätere „ Zarathustra “ -Philosophie. Der Logos-Begriff - er ist das Grundwort Heraklits - findet in ihr kaum Beachtung. Betont wird seine Lehre vom „ ewigen und alleinigen Werden “ . Fragment B 53: „ Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. “ In dem „ Streit des Vielen “ , ihrem Waffenlärm, verbirgt sich eine „ ewige Gerechtigkeit “ . Der aus diesem Streit geborene Schmerz, immanent allem Werden, ist keine Strafe für eine Schuld der seienden Dinge (Anaximander). Es gibt „ hinter “ dem Streit der Erscheinungen keine metaphysische Welt der Gerechtigkeit. In der tragischen Vision einer gerechten „ Immanenz des Weltwesens “ (Uvo Hölscher) - „ E i n s ist alles “ (Heraklit, Fr. B 50) - sind die musikalischen Dissonanzen des Weltstreits in einer harmonia aphanes (unsichtbaren Harmonie) aufgehoben. Die Dinge selbst, an deren Feststehen und Standhalten der enge Menschen- und Thierkopf glaubt, haben gar keine eigentliche Existenz, sie sind das Erblitzen und der Funkenschlag gezückter Schwerter, sie sind das Aufglänzen des Siegs, im Kampfe der entgegengesetzten Qualitäten. (KSA 1, 826) Dem mythischen Bild vom „ Funkenschlag gezückter Schwerter “ entspricht bei Heraklit nichts. Es ist ein Zeugnis für Nietzsches 49 <?page no="50"?> ästhetische Metaphysik, für welche die Wirklichkeit die Oberfläche von Wellen einer „ Phänomenalwelt “ ist, Spiel des Scheins. Bei Heraklit ist das ihm zu Grunde liegende Gesetz der logos. Im Fragment B 64 leuchtet es im Bild des Blitzes auf, der alles steuert und - für einen Augenblick - die schön gefügte Ordnung der Physis in die blendende Helligkeit ihres ewigen Da-Seins aus dem Dunkel der scheinbar wahllos durcheinander liegenden Dinge reißt. Der Blitz, der „ das Steuer des Alls führt “ , wirft sein Licht als Vorschein auf Nietzsches spätes Denken einer Weltewigkeit. Sie ist jener „ Mischkrug “ , in dem das Licht der oberirdischen Sonne mit dem „ Blutsakrament der Unterwelt “ (Walter Burkert), dem Granatapfel, die Körner für eine ewig wiederkehrende Ernte zeugt. Im Leben der Tod, in der Nacht der Tag. In der Betonung dieser „ Mitgegenwärtigkeit “ (Klaus Held) liegt das eigentlich Gemeinsame zwischen Nietzsche und Heraklit. Derselbe aber ist Hades und Dionysos, dem sie toben und feiern. (Fragment B 15) (. . .) diese meine dionysische Welt des Ewig-sich-selber Schaffens, des Ewig-sich-selber Zerstörens, diese Geheimniß-Welt der doppelten Wollüste (KSA 11, 611) Nietzsche sieht in Heraklit den Denker des Werdens. Seine Bilanz der Darstellung seiner Philosophie zieht - nicht ohne deutlich kritischem Unterton gegen Platos Behauptung eines beständigen Seins - das Fazit: Das, was er schaute, die Lehre vom Gesetz im Werden und vom Spiel in der Nothwendigkeit, muß von jetzt ab ewig geschaut werden: er hat von diesem größten Schauspiel den Vorhang aufgezogen. (KSA 1, 835) Das kosmische „ Schauspiel “ , das Heraklit eröffnet hat, ist der „ Welt- Anblick “ , dessen ältesten Adel Zarathustra in seiner Rede Vor Sonnen- Aufgang rühmt. Ihr Ausklang ist das heraklitisch gefärbte Gleichnis vom Spieltisch. Oh Himmel über mir, du Reiner! Tiefer! Du Licht-Abgrund! Dich schauend schaudere ich vor göttlichen Begierden. (. . .) Wahrlich, ein Segen ist es und kein Lästern, wenn ich lehre: „ über allen Dingen steht der Himmel Zufall, der Himmel Unschuld, der Himmel Ohngefähr, der Himmel Übermuth. “ (. . .) 50 <?page no="51"?> Oh Himmel über mir, du Reiner! Hoher! Das ist mir nun deine Reinheit, dass es keine ewige Vernunft-Spinne und Spinnennetze giebt: - - dass du mir ein Tanzboden bist für göttliche Zufälle, dass du mir ein Göttertisch bist für göttliche Würfel und Würfelspieler! - (KSA 4, 207 ff.) Nietzsches Spiel-Gedanke ist auf Heraklit Fragment B 52 „ Die Zeit ein Kind, - ein Kind beim Brettspiel; ein Kind sitzt auf dem Thron “ hin orientiert. Hinter der Weltzeit des Kindes „ auf dem Thron “ , das „ spielend Steine hin und her setzt “ (KSA 1, 153), steht Apollo, der während der Belagerung Trojas das Mauerwerk der Achaier so leicht umstürzt „ wie ein Kind den Sand nahe am Meer/ Das, wenn es sich Spielwerke gebaut mit kindischem Sinn/ Sie wieder zusammenwarf mit Füßen und Händen spielend “ (Ilias, 15. Gesang, V. 363 - 65). Das Kind „ auf dem Thron “ ist Symbol für das Spiel des Lebens, seine innere „ Nothwendigkeit “ und seine „ Unschuld “ (KSA 9, 497). In den orphischen Fragmenten ist Dionysos ein Knabe, in der Hand hält er als Spielzeug Ball und Kreisel. Indem Nietzsches Blick auf das älteste Griechentum „ den orphischen Zagreus und den Heraklitischen Aion zusammenschaut “ 5 , zeigt sich ihm „ das dionysische Phänomen “ einer im Doppellicht ewiger Selbstzerstörung und Selbsterschaffung liegenden Welt. Nietzsche steigert und verdichtet es in einer mythischen Weltvision. In dem Fragment 38(12) Und wißt ihr auch, was mir ‚ die Welt ‘ ist? aus dem Sommer 1885 ist sie ein „ Ungeheuer von Kraft “ , ein „ Spiel von Kräften und Kraftwellen zugleich Eins und ‚ Vieles ‘ (. . .) ein Meer in sich selber stürmender und fluthender Kräfte, ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend, mit ungeheuren Jahren der Wiederkehr (. . .) “ (KSA 11, 610) Sein philosophischer Gedanke, die ewige Wiederkehr des Gleichen, wird noch in späterer Zeit - wenn auch unter Vorbehalt - als tragische Weisheit auf den Ephesier und seine von den Stoikern überlieferte Lehre vom „ großen Jahr des Werdens “ bezogen. Im Ecce homo schreibt er: (. . .) es fehlt die tragische Weisheit, - ich habe vergebens nach Anzeichen davon (. . .) gesucht. Ein Zweifel blieb mir zurück bei Heraklit, in dessen Nähe (. . .) mir wohler zu Muthe wird als irgendwo sonst. Die Bejahung des Vergehens und Vernichtens, das Entscheidende in einer dionysischen 51 <?page no="52"?> Philosophie (. . .) das Werden, mit radikaler Ablehnung auch selbst des Begriffs ‚ Sein ‘ - darin muss ich (. . .) das mir Verwandteste anerkennen, was bisher gedacht worden ist. Die Lehre von der ‚ ewigen Wiederkunft ‘ , das heisst vom unbedingten und unendlich wiederholten Kreislauf aller Dinge - diese Lehre Zarathustras könnte zuletzt auch schon von Heraklit gelehrt worden sein. (. . .) (KSA 6, 312 f.) Träume auf dem Rücken eines Tigers Die Beziehung der reflektierenden Vernunft zu dem Ich-Bewußtsein führt bereits im Deutschen Idealismus (Fichte) zu der Erkenntnis, daß das „ Ich “ „ sich selbst nicht festzustellen und festzuhalten vermag “ . 6 Das Ideal einer durch Reflexion erzielten Durchsichtigkeit des „ Ich “ scheitert. Bei Nietzsche ist die Undurchsichtigkeit des Ich-Bewußtseins unter dem Stichwort Die unbekannte Welt des „ Subjects “ ein Grundthema. Das Nächste, der eigene Leib, ist das Fernste. In der in den Weihnachtstagen 1872 für Cosima Wagner verfaßten Vorrede Ueber das Pathos der Wahrheit öffnet Nietzsche, von Schopenhauer inspiriert, einen Spalt zu einer unbekannten Welt in uns. Überwältigend ist der expressive Sog seiner metaphorischen Sprache. Eine solche Sprache finden wir erst bei Kleist und Georg Büchner wieder. O der verhängnißvollen Neubegier des Philosophen, der durch eine Spalte einmal aus dem Bewußtheits-Zimmer hinaus und hinab zu sehen verlangt: vielleicht ahnt er dann, wie auf dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Ekelhaften, dem Erbarmungslosen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend. (KSA 1, 760) Die durch die Kunst erzeugten Träume - nachzulesen in der Literatur und anzuschauen in der Malerei des 20. Jahrhunderts - öffnen Spalten, durch die das Auge aus dem „ Bewusstseinszimmer “ auf den gestaltlosen Triebgrund des Lebens hinabsieht. Sie erzeugen Bilderwelten tiefer Ängste und tabuisierter Lüste. Zugleich schützen sie dadurch, daß sie in zensierter Form die Bühne des Bewußtseins betreten, vor dem gänzlichen Versinken in den Sog einer triebhaften Willenswelt. Hat das Absurde der Träume, in denen das „ Ich “ in viele Figuren gespalten agiert, als Kunstwelt ihre „ höchste Würde “ , so ist 52 <?page no="53"?> „ freilich unser Bewusstsein über unsre Bedeutung kaum ein andres als es die auf Leinwand gemalten Krieger von der auf ihr dagestellten Schlacht haben “ (KSA 1, 47) Wir gleichen in unserem Leben Schlafwandlern. Das Erkenntnisorgan des Bewußtseins hat in der Trias von Traumbewußtsein, Schlaf und Wachbewußtsein eine defizitäre Stellung. Im Dämmer des Tagbewußtseins erblicken wir durch halb geöffnete Türen des Unterbewußten Vorgänge, die maskierten Figuren gleichen und an ein Bühnenbild erinnern. Seine Deutung trifft nie ihren Sinn. Wir haben immer ein falsches Bild über unser Selbst. Die Verwirrung dieser Täuschung, sie erinnert an den Traum, hat der von Nietzsche hoch geschätzte Pascal in den Penseés mit der Vermutung verbunden: Wer weiß, vielleicht ist jene Hälfte des Lebens, da wir glauben zu wachen, nur ein etwas anderer Schlaf, aus dem wir erwachen, wenn wir glauben zu schlafen. “ (Nr. 131) In einem Notat aus dem Frühjahr 1871 - es erinnert an Strindbergs Ein Traumspiel - schreibt Nietzsche: Die Subjektivität der Welt ist nicht eine anthropomorphische Subjektivität, sondern eine mundane: wir sind die Figuren im Traum des Gottes, die errathen wie er träumt. (KSA 7, 165) Es sind dissoziative Bewußtseinszustände, welche die Subjekt-Identität für die Wahrnehmung abgedunkelter Räume der Innenwelt durchlässig machen und Zugänge zu einer der Alltagserfahrung verschlossenen seelischen Tiefenschicht öffnen. Nietzsche schließt an die Romantik an, wenn die Nacht eine geschärfte Wahrnehmung für ein geheimes Leben der Dinge schenkt. Der in der Stille der Nacht sich verdichtende traumartige Weltbezug läßt das unerbittliche Verrinnen der Zeit hören. So in dem durch seine Sprachmagie faszinierenden Aphorismus In der Nacht aus der Zweiten Abteilung „ Der Wanderer und sein Schatten “ von Menschliches, Allzumenschliches vom Sommer 1879: In der Nacht. - Sobald die Nacht hereinbricht, verändert sich unsere Empfindung über die nächsten Dinge. Da ist der Wind, der wie auf verbotenen Wegen umgeht, flüsternd, wie Etwas suchend, verdrossen, 53 <?page no="54"?> weil er ’ s nicht findet. Da ist das Lampenlicht, mit trübem, röthlichem Scheine, ermüdet blickend, der Nacht ungern widerstrebend, ein ungeduldiger Sclave des wachen Menschen. Da sind die Athemzüge des Schlafenden, ihr schauerlicher Tact, zu dem eine immer wiederkehrende Sorge die Melodie zu blasen scheint, - wir hören sie nicht, aber wenn die Brust des Schlafenden sich hebt, so fühlen wir uns geschnürten Herzens, und wenn der Athem sinkt und fast in ’ s Todtenstille erstirbt, sagen wir uns „ ruhe ein Wenig, du armer gequälter Geist! “ - wir wünschen allem Lebenden, weil es so gedrückt lebt, eine ewige Ruhe; die Nacht überredet zum Tode. (KSA 2, 544) Wie naiv der Mensch am Tage in einem gestalthaften Umrißgefüge der Welt dahinlebt, verdeutlicht Nietzsche in der Geburt der Tragödie durch eine der nautischen Metaphorik entlehntes Existenzbild aus dem Paragraphen 63 des vierten Buches von Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung I: Wie auf dem tobenden Meere, das, nach allen Seiten unbegränzt, heulende Wasserberge erhebt und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend; so sitzt, mitten in einer Welt von Qualen, ruhig der Mensch, gestützt und vertrauend auf das principium individuationis. (KSA 1, 28) An diese Passage anknüpfend, skizziert er eine die Literatur der Moderne stark beeinflußende Ästhetik des Schreckens. Sie erinnert an das durch Schopenhauer geschilderte „ ungeheure Grausen “ , „ welches den Menschen ergreift, wenn er plötzlich an den Erkenntnissformen der Erscheinung irre wird, indem der Satz vom Grunde, in irgend einer seiner Gestaltungen, eine Ausnahme zu erleiden scheint “ (KSA 1, 28). Das Einfallstor für diese Ausnahme ist jenes Zeitmoment, in dem sich die vertraute Normalität der Alltagswelt plötzlich ohne ersichtlichen Grund verwandelt und Risse in den Wänden zeigt. Die mit diesem hoch riskanten Augenblick einhergehende Bedrohung der Subjekt-Identität, Grundthema einer Literatur des Phantastischen, ist die Chance, durch das Zerbrechen des Prinzips der Individuation einen Blick auf das im Fluß der Erscheinungen verborgene „ Wesen des Dionysischen “ zu erhaschen, welches zerstörend und rettend das heimliche Begehren des Auges erregt. 54 <?page no="55"?> „ Was also ist Wahrheit? “ - Das weltbildende Spiel der Sprache Die 1873 entstandene, von Nietzsche nicht publizierte Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn ist ein zentrales Dokument für seine sprachkritische Philosophie. An ihrem Anfang steht ein überwältigendes Bild. Seine an Pascal erinnernde, hintergründige Ikonik bezieht sich auf die Nichtigkeit der Vernunft und die Kontingenz der flüchtigen Erscheinung „ Mensch “ in einem Winkel der unendlichen Weiten eines allen menschlichen Sinnansprüchen gegenüber indifferenten Universums: In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der „ Weltgeschichte “ : aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mussten sterben. - So könnte Jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustrirt haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt; es gab Ewigkeiten, in denen er nicht war; wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben haben. (KSA 1, 875) Die neuzeitliche Kosmologie des 17. Jahrhunderts hat den antiken Kosmos-Glauben vernichtet. Das mit der Vorstellung der Welt als einem endlichen, geschlossenen und hierarchisch geordneten Ganzen verbundene Weltvertrauen geht in ihr verloren. In dieser Revolution des Weltverständnisses hat die Ort- und Heimatlosigkeit der Existenz in der Neuzeit ihren Ursprung. 7 „ Die Welt - ein Tor/ Zu tausend Wüsten stumm und kalt “ , dichtet Nietzsche in dem Gedicht Vereinsamt. Die stilistisch grandiose Eingangspassage betont nicht nur die Marginalisierung der Vernunft, sondern mit ihr die Bedeutungslosigkeit des einzelnen Menschenlebens in der Unendlichkeit des Universums. Sie schließt indirekt einen Gedanken Lewins aus Tolstois Anna Karenina ein: In der unendlichen Zeit bildet sich in der Unendlichkeit der Materie im unendlichen Raum ein organisches Bläschen, hält sich eine Weile und zerplatzt dann - und dieses Bläschen bin ich. 55 <?page no="56"?> Die philosophische Relevanz dieser kleinen Schrift liegt in ihrer Sprachkritik. Beruht für Aristoteles der Grund allen Wissens auf der logischen Struktur des Satzes, so relativiert Nietzsche diese Sprachphilosophie durch die These, daß die Bedeutungen der Dinge dem Sprachverkehr nicht als feste Strukturen vorhergehen, sondern im Prozeß des Sprechens allererst erzeugt werden. Unter dem starken Einfluß von Gustav Gerbers Die Sprache als Kunst (1871) vertritt er die Ansicht, daß die Sprache in ihrer Entstehung rhetorischen und nicht logischen Gesetzen folgt. Der Sprachprozeß realisiert sich in einer internen Wechselbeziehung von Metapher und Begriff. Symbolische Repräsentanz gewinnt sie in einem Abstraktionsvermögen des Geistes, das Welt als Metapher liest. Dem kreativen Vermögen einer artifiziellen Sprache korrespondiert ein Grundsatz moderner Ästhetik: Jenes ungeheure Gebälk und Bretterwerk der Begriffe, an das sich klammernd der bedürftige Mensch sich durch das Leben rettet, ist dem frei gewordenen Intellekt nur ein Gerüst und ein Spielzeug für seine verwegensten Kunststücke: und wenn er es zerschlägt, durcheinanderwirft, ironisch wieder zusammensetzt, das Fremdeste paarend und das Nächste trennend, so offenbart er, dass er jene Nothbehelfe der Bedürftigkeit nicht braucht, und dass er (. . .) von Intuitionen geleitet wird. (KSA 1, 888) Aus dem mit dem „ Würfelspiel der Begriffe “ verknüpften Zeichenbegriff resultiert Wahrheit als eine subjektive Interpretation der Welt. Ihre Semantik wird über den gesellschaftlich regulierten Gebrauch sprachlicher Konventionen definiert. Das „ Würfelspiel “ kann als eine Bedeutungstheorie der Sprache und ihrer symbolischen Codierungen verstanden werden, wenn Nietzsche die Frage Was ist Wahrheit? mit dem Verweis auf die metaphorische Struktur der Sprache und ihrer Tropen beantwortet: Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volk fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind (. . .) (KSA 1, 880 f.) Als „ künstlerisch schaffendem Subjekt “ ist dem Menschen der „ Trieb zur Metaphernbildung “ eingeboren. Der Produzent fiktiver Sprach- 56 <?page no="57"?> welten ist ein kleiner Gott. Das Genie des Menschen, seine Kreativität, gewinnt Gestalt in der Sprache. Ihr „ Bollwerk “ errichtet „ auf fliessendem Wasser “ einen „ complizirten Begriffsdom “ (KSA 1, 882). Er schützt jedoch nicht vor dem Einbruch nächtlicher Dämonen. Die fremde Semiotik ihrer Botschaften stellt eine andauernde Gefährdung der Stabilität dieses „ Doms “ dar. Nietzsche ist darin groß, daß er von den Entsetzlichkeiten in der griechischen Tragödie ausgehend eine Ästhetik des Schreckens skizziert, deren Umrisse der Satz andeutet: (. . .) denn es giebt furchtbare Mächte, die fortwährend auf ihn eindringen, und die der wissenschaftlichen Wahrheit ganz anders geartete ‚ Wahrheiten ‘ mit den verschiedenartigsten Schildzeichen entgegenhalten. (KSA 1, 886) Die „ Schildzeichen “ der/ des Fremden erinnern als eine fremde Semiotik, daß das „ Ich “ kein Substrat ist, das am Ursprung der Dinge zu finden ist, sondern eine Illusion. Sie beruht für Nietzsche auf der Satz-Grammatik, die jeder Handlung ein Handlungssubjekt hinzufügt. Nietzsches nominalistische Sprachkritik weist eine Identität zwischen Sache (res) und Begriff (intellectus) zurück. Sie verabschiedet die Korrespondenztheorie der Wahrheit als Übereinstimmung von Satz und Tatsache. Der Horizont der Sprache umfaßt eine Vielzahl von sprachlichen Zeichen. Hinter ihnen steht keine metaempirische Bedeutung, sondern eine durch soziale Konventionen regulierte Semantik. Das heißt: „ Wahr “ sind Aussagen nur unter der Voraussetzung ihrer identischen Bedeutung innerhalb des Gebrauchs einer Semantik und Syntax. Von der Organisation einer Sprachgemeinschaft hängt ab, welches der zahlreichen kulturellen Symbolsysteme als „ Wahrheit “ im Sinne eines „ symbolkontrollierten Verhaltens “ (Ch. Morris) seine Anerkennung innerhalb der Kommunikation dieser Gemeinschaft findet: (. . .) weil aber der Mensch (. . .) aus Noth (. . .) gesellschaftlich und heerdenhaft existiren will, braucht er einen Friedensschluss und trachtet darnach dass wenigstens das allergröbste bellum contra omnes aus seiner Welt verschwindet. (. . .) Jetzt wird nämlich das fixirt, was von nun an „ Wahrheit “ sein soll d. h. Es wird eine gleichmässig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge erfunden und die Gesetzgebung der Sprache giebt auch die ersten Gesetze der Wahrheit (. . .) (KSA 1, 877) 57 <?page no="58"?> Durch die Trennung von Sprache und Leben repräsentieren die „ Conventionen der Sprache “ nie die Welt der Dinge. Als einer fremden Welt ist ihr keine Zuschreibung von Bedeutung adäquat. Mit ihrer sprachlichen Benennung berühren wir nur ihre Oberfläche. Die Ohnmacht der Wörter, das Unsagbare zu sagen, findet seine programmatische Formulierung in dem Satz Tolstois aus Anna Karenina: „ Für ihn nahmen die Wörter dem, was er sah, die Schönheit. “ Ein sprachphilosophische These Nietzsches lautet: Eine Sprache, deren logische Struktur (Subjekt - Prädikat) die Illusion einer Einheit von Mensch und Welt erzeugt, ist von dem subjektlosen Grundes des Lebens getrennt. Von ihr unterschieden ist das Wort der Dichtung. Es ist zeigende Rede. Als Poiesis vergegenwärtigt es „ Welt “ durch das Gitter der Wörter im weiten Raum der Seele. „ Nirgends, Geliebte, wird Welt sein, als innen “ , so Rilke in der siebten Duineser Elegie. Eine poetische Sprache wie in Nietzsches „ Zarathustra “ -Dichtung beschwört durch ihre lyrische Wortmagie das Aufscheinen von „ Welt “ . Sie durchbricht - für Augenblicke - das Entlanggleiten der Sprache an der Oberfläche der Dinge und ragt, analog zu der symbolischen Sprache des Traums in einen sprachlosen Tiefengrund des Lebens. Nietzsches frühe Schrift enthält über ästhetische Reflexionen hinaus zwei Lehrstücke aus dem Bereich wissenschaftlicher Theorien: Wahrheit als Interpretation und Semiotik als Lehre von den sprachlichen Zeichen. Sie sichern ihr bis heute ihre anhaltende Aktualität. 58 <?page no="59"?> Die Philosophie des Vormittags Aus der Schule des Verdachts Um das Jahr 1878 vollzieht sich im Denken Nietzsches ein „ Bruch “ . In der Zuwendung zu der literarischen Tradition der europäischen Aufklärung ist seine thematische Mitte eine „ aus der Schule des Verdachts “ (KSA 2, 13) geborene kritische Symptomatologie. Lebensphänomene werden in ihr als „ Symptome “ interpretiert, zentriert um die Affektpole Liebe/ Haß. Ihr Erkenntnisinteresse richtet sich auf die Bedeutung, welche die Phänomene des Lebens im Sinne einer Semiotik sozialer Klassifikationen und der ihr analogen Genealogie moralischer Zuschreibungen für unser Selbstverständnis besitzen. Im Zentrum der Voltaire gewidmeten Aufzeichnungen zu Menschliches, Allzumenschliches steht eine in der Schule der französischen Moralistik groß gewordene Psychologie. Literarisch bedient sie sich der aphoristischen Form und thematisiert im Vorgriff auf den Roman des 19. Jahrhunderts (Flaubert, Stendhal) und das moderne Drama (Ibsen, Strindberg) die Demaskierung der menschlichen Selbsttäuschungen. Als eine Arbeit des freien Geistes ist ihr Ergebnis desillusionierend: Weder kennen wir uns noch kennen wir die Welt wie sie jenseits des sprachlich strukturierten Schemas des Denkens ist. Über dem menschlichen Dasein liegt der Nebel einer immer währenden Täuschung. In ihm regiert die Verkennung der Realität. Das Illusionäre ist Grundzug des Lebens. Die sokratische Forderung, sich durch Rechenschaftsabgabe von den Eitelkeiten der Selbsttäuschung zu befreien, ist schmerzhaft. Angesichts des Durchdrungenseins der Existenz von Illusionen fast unmöglich. Das ganze menschliche Leben ist tief in die Unwahrheit eingesenkt; der Einzelne kann es nicht aus diesem Brunnen herausziehen, ohne dabei seiner Vergangenheit aus tiefstem Grunde gram zu werden (. . .) (KSA 2, 54). Das Fragile des menschlichen Daseins ist immer durch Wahnwelten bedroht. Sie kommen, wie uns die Literatur lehrt, vor allem in der Destruktivität der erotischen Leidenschaft zum Durchbruch. In dem Formenkreis psychischer Erkrankungen und ihren affektiven Beset- 59 <?page no="60"?> zungen ist die Differenz zwischen Realität und Wahn gelöscht. In geringerem Maße betrifft die Aufhebung dieser Differenz bei Nietzsche auch auf das „ Ich “ , das „ Subjekt “ , das „ Atom “ zu. Sie sind perspektivisch exponierte Vorstellungsprodukte, mehr nicht. Die Konzeptualisierung von „ Wirklichkeit “ beruht auf mentalen Repräsentationen von Dingen durch einen Wahrnehmungsapparat, der das Subjekt in einem von ihm konstruierten internen Wirklichkeitsbezug einschließt. Unter dem Einfluß seiner Lektüre von Friedrich Albert Langes Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart (1866) vertritt Nietzsche auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie die These: Die kognitiven Leistungen des Bewußtseins haben keinen Bezug zu einem externen Sein der Welt. In einem Brief an Carl von Gersdorff, Ende August 1866, faßt er seine Lange-Lektüre in drei Punkten zusammen: 1) die Sinnenwelt ist das Produkt unsrer Organisation. 2) unsre sichtbaren (körperlichen) Organe sind gleich allen andren Theilen der Erscheinungswelt nur Bilder eines unbekannten Gegenstandes. 3) Unsre wirkliche Organisation bleibt uns daher ebenso unbekannt, wie die wirklichen Außendinge. Wir haben stets nur das Produkt von beiden vor uns. (KSB 2, 160) Dem Getrenntsein von den Wurzeln des Seins auf Grund der „ Organisation “ unseres Erkenntnisapparats, hält er „ zur Beruhigung “ das Bild einer durch den Schmerz weise gewordenen Daseinshaltung entgegen. Als ein antikes „ Ideal “ lebt sie im Verzicht auf letzte Lösungen und Erlösungen in einer schwebenden Haltung gegenüber den „ Schätzungen “ der menschlichen Dinge. Da eine durch sie belehrte Existenz gelernt hat, in Schlaf und Traum zu vergessen, genügt sie in einer von pathologischen Affekten gereinigten Seele sich selbst. Das literarische Vorbild einer solchen Haltung findet sich in den Essais von Montaigne. Ihre Lektüre bedeutet für Nietzsche „ ein In-sich-zur Ruhe kommen, ein friedliches Für-sich-sein und Ausathmen “ (KSA 1, 444) „ Systeme “ der Philosophie, so die Mutmaßung Nietzsches, verdanken sich einem latent metaphysischen Bedürfnis nach Sinn, sind Abwehr der Irrationalität des Lebens. Es gibt eine fatale Neigung des menschlichen Geistes nach gedachten Welten. Voltaire hat sie in 60 <?page no="61"?> seinem Candide mit boshafter Ironie verspottet. An ihre Stelle soll eine freimütige, zu nichts verpflichtende Kreativität treten. Sie steht sie im Dienst einer leidarmen Praxis. Es gilt, „ unseren Garten zu bestellen “ (Voltaire). Für Nietzsche ist es der Garten Epikurs. Die von ihm geforderte ästhetische Kreativität, wie sie im Spiel Ausdruck gewinnt, konkretisiert sich in der Artistik einer souveränen Umstellung von Perspektiven auf Konstellationen von Erscheinungen im Strom Lebens. Sie gilt der Phänomenalwelt, richtet sich aber auch auf die Welt der Vergesellschaftung. In Verbindung mit Reflexionen auf jene anthropologischen Faktoren, die ihre Konstitution strukturieren, ermöglicht sie einen Zuwachs an Unabhängigkeit in einer Welt der moralischen Verlogenheit und metaphysischen Illusionen. Der Vorzug von Nietzsches Aufklärungsphilosophie liegt - so hat es sein Freund Overbeck gesehen - , in der Chance, ein wenig freier atmen zu können. Das ist viel. Den freien Geistern, die als „ nachdenkliche Weise, Wanderer und Philosophen “ auf einsamen Wegen zu sich selber sind, widmet Nietzsche den mysteriös-schönen Satz: Geboren aus den Geheimnissen der Frühe, sinnen sie darüber nach, wie der Tag zwischen dem zehnten und zwölften Glockenschlage ein so reines, durchleuchtetes, verklärt-heiteres Gesicht haben könne: - sie suchen die Philosophie des Vormittages. (KSA 2, 363) Die Schule des Verdachts erzieht ihre Zöglinge zu der Erkenntnis, daß es weder erste und letzte Wahrheiten noch anthropologische Konstanten gibt. Sie lehrt, daß es ein Irrtum ist, Tugenden in der Moralphilosophie eine überzeitlich normative Geltung zuzusprechen. In den Lehrstunden, in denen eine skeptische Analyse der Moral, ihres Begriffs und ihrer Wertungen, zur Diskussion steht, wird menschliches Verhalten genealogisch auf die Tugendsysteme einer Zeitepoche und den in ihr herrschenden Machtverhältnisse zurückgeführt. Das Ziel dieser Methode ist die Destruktion dieser „ Systeme “ . Es geht um keine moralische Verbesserung. Den in der Schule der Aufklärung Erzogenen geht es darum, zu erforschen wie Menschen sind, nie wie sie sein sollen. In der Tradition der „ bösen Philosophen “ (Philipp Blom) der französischen Aufklärung vertritt Nietzsche die in den Augen seiner Gegner skandalöse These, es sei nur Schein, wenn die Menschen der Moral folgen: 61 <?page no="62"?> In Wahrheit folgen wir unseren Trieben, und die Moral ist nur eine Zeichensprache unsrer Triebe. . . (KSA 10, 268) Die Schule der Aufklärung will die Belastung des Menschen durch die rigorosen Forderungen einer illusionären (christlichen) Moral brechen. In dem Programm einer Überwindung der Furcht ist Nietzsche der Philosophie der Aufklärung seit der Antike (Epikur) verpflichtet. Die Abteilung Vermischte Meinungen und Sprüche (März 1879) knüpft an Formen antiker Spruchweisheit ebenso an wie an die Sentenzen Montaignes und Pascals. In ihr ist für uns der Aphorismus 408 Die Hadesfahrt von Interesse. Als eine Variante der Fahrt des Odysseus in das Totenreich im 11. Gesang von Homers Odyssee überträgt Nietzsche den Topos der Unterweltsfahrt narrativ auf die philosophische Erkenntnis zu einem Zeitpunkt, da er noch in der Kontinuität des geschichtlichen Wirkungszusammenhanges jener großen Toten steht, deren Namen er zitiert: Auch ich bin in der Unterwelt gewesen, wie Odysseus, und werde es noch öfter sein; und nicht nur Hammel habe ich geopfert, um mit einigen Todten reden zu können, sondern des eignen Blutes nicht geschont. Vier Paare waren es, welche sich mir, dem Opfernden nicht versagten: Epikur und Montaigne, Goethe und Spinoza, Plato und Rousseau, Pascal und Schopenhauer. (. . .) auf jene Acht hefte ich die Augen und sehe die ihrigen auf mich geheftet. - Mögen die Lebenden es mir verzeihen, wenn sie mir mitunter wie Schatten vorkommen, so verblichen und verdriesslich, so unruhig und ach! so lüstern nach Leben: während Jene mir dann so lebendig scheinen, als ob sie nun, nach dem Tode nimmermehr lebensmüde werden könnten. Auf die ewige Lebendigkeit aber kommt es an: was ist am ‚ ewigen Leben ‘ und überhaupt am Leben gelegen! (KSA 2, 533 − 534) Der zweite und letzte Nachtrag zu Menschliches, Allzumenschliches unter dem Titel Der Wanderer und sein Schatten (Sommer 1879) deutet auf den geheimen Zusammenhang einer Philosophie des Vormittages mit der des Mittags, in welcher die wechselhafte Beleuchtung der Dinge, die Gegensätze von Licht und Schatten, Höhe und Tiefe, Ja und Nein in ein übergreifendes Spannungsgefüge integriert werden. Faszinierend zu sehen, wie Nietzsche einer „ schweigsamen Philosophie “ (Giorgio Colli) literarischen Ausdruck verleiht. Sie dringt zu einer Zone vor, in der die Gegenstände ihre Körperlichkeit verlieren. 62 <?page no="63"?> In der Stunde des „ Mittags “ überfällt den Wanderer ein ihm fremdes „ Glück “ : der Stillstand der Zeit, in dem „ Alles in ein Lichtnetz eingesponnen und gleichsam darin begraben “ zu sein scheint (KSA 2, 690). Die im Sommer 1879 im Alter von fünfunddreißig Jahren geschriebene Aufzeichnung Am Mittag dokumentiert - vorbereitet durch eine die nächsten Dinge in die Ferne rückende und den Daseinsrhythmus verlangsamende depressive „ Ruhesucht “ - einen hochriskanten „ Augenblick “ : Wandlung und Übergang in eine entgrenzte Daseinsstufe. Die Zwiespältigkeit der Szene einer existentiellen Grenzerfahrung resultiert aus dem Zusammenschluß höchster Selbst- und Daseinsgefährdung mit seltenstem, der Normalität des Lebensvollzuges verschlossenen Erkenntnisglück. Im Unterschied zu der Aufstiegsbewegung der Seele bei Plato ist es rein passiver Natur. Im ekstatischen Augenblick dieses „ Glücks “ - Nietzsche nennt ihn einen „ Tod mit wachen Augen “ - sieht der Mensch, „ was er nie sah “ : den Ewigkeitszug in dem sich stets wandelnden Antlitz des Lebens. Diese Vision erlischt in dem Augenblick, in dem sie aufleuchtet. Die erneut einsetzende zeitliche Rhythmik des Lebens reguliert, als ob nichts geschehen wäre den Taktschritt des Daseins zwischen der blinden Tätigkeit an seinem Morgen und ihrer Steigerung an seinem Abend. Die Textfassung aus dem Sommer 1879 liegt noch vor dem Gedanken der ewigen Wiederkehr im August des Jahres 1881. Sie enthält Hinweise auf eine innere Disposition Nietzsches für das pathische Einbruchserleben am See von Silvaplana. Ihre endgültige literarische Fassung gewinnt sie im Mittags-Kapitel aus dem vierten Teil von Also sprach Zarathustra. „ Morgenröthe “ - Schreib-Arbeit in die Tiefe Im Winter 1880/ 81 arbeitet Nietzsche in Genua an einer Zusammenstellung seiner bisherigen Gedanken und sucht nach einer auf sie passenden literarischen kleinen Form in Aphorismus und Sentenz. Ihr Pathos bezeichnet er als Passio Nova. Sie ist die Leidenschaft der Erkenntnis. 1 Das Spiel des Lebens ist in seinen tragisch-komischen Zügen ein Maskenspiel. In der Leidenschaft des Schreibens gewinnt es eine mimetisch verdichtete und gesteigerte Repräsentanz. Eine aus 63 <?page no="64"?> fünf Büchern bestehende Aphorismensammlung mit dem Titel Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile widmet sich leidenschaftlich dem Programm einer Umwertung der Werte. Ihr Motiv ist die Überzeugung, daß eine moralische Auslegung des Lebens, heiße sie „ Gott, Tugend, Wahrheit, Gerechtigkeit “ (KSA 3, 16), nicht begründet werden kann. Sie verfälscht den amoralischen Grundzug des Lebens, in dem „ der Raubvogel die Taube frißt und die Laus den Raubvogel “ (August Strindberg). Wie sehr Nietzsche zur Zeit der Niederschrift der Morgenröthe entscheidende Impulse aus der Philosophie Schopenhauers weiterdenkt, zeigt seine Auffassung über das Verhältnis von Erkennen und Handeln. In der Tradition antiker und christlicher Anthropologie kommt dem Denken vor dem Handeln der Vorrang zu. Handlungen sind von Vernunft geleitet und frei (Aristoteles/ Kant). Im Gegensatz dazu und in einem genialen Vorgriff auf die Theorien des 20. Jahrhunderts - der Entdeckung des Unbewußten - behauptet Nietzsche in der Nachfolge Schopenhauers, daß es sich umgekehrt verhält: Handeln im Licht des Tages entspringt in seinen abgedunkelten Ursprüngen Trieben, die von der Vernunft unkontrolliert bleiben. Indem sich seine theoretischen Ansätze zu einer Handlungstheorie auf jene irrationalen Gründe des Handelns richten, die dem Bewußtsein verborgen bleiben, nehmen sie ein Grundmotiv der Ich- Analysen der modernen Weltliteratur von Dostojewski bis Julien Green und Italo Svevo vorweg: die fehlende Adäquanz von Bewußtsein und Handlungen. Wir sind Alle nicht Das, als was wir nach Zuständen erscheinen, für die wir allein Bewusstsein und Worte - und folglich Lob und Tadel - haben; wir verkennen uns nach diesen gröberen Ausbrüchen, die uns allein bekannt werden (. . .) wir verlesen uns in dieser scheinbar deutlichsten Buchstabenschrift unseres Selbst. (KSA 3, 107 f.) Das Handlungssubjekt durchschaut nie, aus welchen Gründen es so handelt wie es handelt. Diese tragische Komik, die alles „ Sichkennen “ als ein „ Sichverkennen “ entlarvt, gibt ihrem Betrachter genügend Anlaß für Gelächter. Beispiele sind: „ Ein Verwirrter, der sich sein Leben lang für einen Ehrenmann hält. Ein religiöser Lump, der ein Heiliger zu sein meint “ (August Strindberg). Der Irrtum der Moral besteht in einer doppelt falschen Annahme. 64 <?page no="65"?> Erstens: es könne hinter dem Orchesterlärm von Affekten, verworrenen Vorstellungen von Stimmen und Instinkten einen „ Dirigenten “ , die Instanz eines autonomen sittlichen Selbst, geben. Zweitens: es könne a priori moralische Handlungen jenseits eines Werte setzenden Handlungsträger geben. „ Gut “ und „ Böse “ sind Akte der moralischen Interpretation. Hinter ihrem von kollektiven Interessen und privaten Egoismen bestimmten Ursprung gibt es weder ein absolut Gutes noch ein absolut Böses. Dieses sich einzugestehen, bedeutet für eine philosophische Psychologie die Erkenntnis: „ Unser Wohlwollen Mitleid, unsere Aufopferung, unsere Moralität ruht auf demselben Unterbau von Lüge und Verstellung wie unser Böses und Selbstisches! “ (KSA 9, 268) Wer dies erkannt hat, verzichtet auf moralische Verurteilungen. Die Abdankung des inneren Richters befreit. Sie setzt der Ausgrenzung des dunklen Anteils im „ Ich “ , des Fremden im eigenen Haus ein Ende. Es bleibt die Diskussion, ob mit dieser „ Abdankung “ nicht jene untrüglich leise Stimme in uns verstummt, von der Sokrates als sein daimonion berichtet und die, ein Echo des inneren Gerichtshofes, untrüglich weiß, daß wir Unrecht begangen haben. Nietzsches Programm einer Entmythologisierung des „ Glaubens an die Moral “ stützt sich auf den „ Hauptsatz “ : (. . .) es giebt keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moral(ische) Interpretation dieser Phänomene. Diese Interpretation selbst ist außermoralischen Ursprungs. (KSA 12, 149) Wie schon bei Heinrich von Kleist hat auch bei Nietzsche der Mensch nie ein zureichendes Bewußtsein von dem, was sein Handeln „ im Grunde “ ist. Aus der Dostojewski-Lektüre haben wir gelernt: In jeder Handlung spielen Faktoren eine Rolle, die uns nicht bewußt sind und aus diesem Grund kein Gegenstand unserer Erkenntnis sein können. 2 Die Reflexion auf die Nichtadäquanz von Handeln und Bewußtsein ist ein Grundthema innerhalb der moralphilosophischen Skepsis Nietzsches und der Literatur der Moderne. 65 <?page no="66"?> Die unbekannte Welt des „ Subjekts “ Der das Rätsel der Sphinx löst, Ödipus, kennt sich selber nicht. Die Übertragung dieser Lehre des Sophokles auf die innere Welt des Subjekts in der Literatur der Moderne bedeutet: Diese „ Welt “ ist ein dunkler Kontinent. Dasein bleibt sich in seinen inneren Konflikten ein Rätsel. Dies zu verkennen, bedeutet, die Wohltat der Illusionen über uns zu verewigen. Nietzsches Topik dieser inneren Welt läßt sich metaphorisch skizzieren. Wir bewohnen die Zimmer eines Hauses, das von den heimlichen Vorgängen im Keller und auf dem Dachboden durch Tapetenwände getrennt ist. Nie wissen wir, welche fremde Gäste diese Teile unseres Hauses bewohnen. Nur die Geräusche ihrer Schritte dringen an unser Ohr. Dantons Frage in Georg Büchners Drama Dantons Tod (1835) „ Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet? “ findet keine Antwort. Wenn Nietzsche erklärt, es sei „ Wille zur Macht “ , so ist das keine Erklärung, sondern eine spekulative Deutung. Nietzsche überträgt die skizzierte Ich-Psychologie auf das Problem der gegen ihren Anschein nie autonomen Handlung. Im Aphorismus „ Die unbekannte Welt des „ Subjekts “ aus dem zweiten Buch der Morgenröthe schreibt er: Die Handlungen sind niemals Das, als was sie uns erscheinen! Wir haben so viel Mühe gehabt, zu lernen, dass die äusseren Dinge nicht so sind, wie sie uns erscheinen, - nun wohlan! mit der inneren Welt steht es ebenso! Die moralischen Handlungen sind in Wahrheit ‚ etwas Anderes ‘ , - mehr können wir nicht sagen: und alle Handlungen sind wesentlich unbekannt. (KSA 3, 109) Die Identität des „ Ich “ ist eine Illusion. Sie verdeckt seine innere Pluralität, die eine Bühne darstellt, auf der ein Orchester aus Stimmen ohne einen Dirigenten spielt. Aphorismus 119 Erleben und Erdichten aus dem zweiten Buch der Morgenröthe erklärt, daß sich unser Bewußtsein in einer ständigen Täuschung über Vorgänge in der inneren Welt des Subjekts befindet. Der Roman Der Process (1914) von Franz Kafka hat diese Selbsttäuschung in dem Verfahren eines fremden Gerichts im Helden Josef K. zum Thema gemacht: 66 <?page no="67"?> (. . .) dass all unser sogenanntes Bewusstsein ein mehr oder weniger phantastischer Commentar über einen ungewussten, vielleicht unwissbaren, aber gefühlten Text ist (. . .) (KSA 3, 113) Die durch den Philologen Nietzsche initiierte Reflexion auf das Verhältnis von Text (Wille) und Kommentar (Bewußtsein) wird zu einem zentralen Bestandteil der Hermeneutik der Psychoanalyse. 3 Für ihn selbst ist, im Unterschied zu Freuds Topik der Psyche, das psychische Geschehen, das wie ein Echo von Wellen an die Oberfläche des Bewußtseins dringt, der verzerrte Ausdruck eines unterhalb ihrer liegenden anonymen Geschehens in unserer leib-seelischen Organisation. Es kann durch die Kur des Redens nicht rekonstruiert werden. Es bleibt die Frage, ob es analog einem Textes sprachlich strukturiert ist. Die Modernität Nietzsches zeigt sich daran, daß er dieses ungewußte Geschehen als einen inneren Monolog im Bewußtseinsstrom charakterisiert. Unter dem Titel Das Unfreiwillige im Denken (Sommer-Herbst 1884) besitzen wir ein frühes literarisches Dokument für die Philosophie der Moderne: Der Gedanke taucht auf, oft vermischt und verdunkelt durch ein Gedränge von Gedanken. Wir ziehen ihn heraus, wir reinigen ihn, wir stellen ihn auf seine Füße und sehen, wie er geht - (. . .) Was bedeutet er? fragen wir (. . .) das heißt: Der Gedanke also wird nicht als unmittelbar gewiß genommen, sondern nur als ein Zeichen (. . .) Der Ursprung des Gedankens ist uns verborgen; es ist eine große Wahrscheinlichkeit, daß er ein Symptom eines umfänglicheren Zustandes ist (. . .) darin daß gerade er kommt und kein anderer, daß er gerade mit dieser größeren oder minderen Helligkeit kommt (. . .) im Ganzen immer beunruhigend und aufregend (. . .) in dem Allen drückt sich irgend Etwas von einem Gesammt- Zustand in Zeichen aus. - (KSA 11, 173 f.) Philosophische Meerfahrten Für die genuin erotische Bewegtheit seines versuchenden Denkens, seiner Themen und Motive, setzt Nietzsche die Metapher der Seefahrt ein. Als ein literarischer Topos repräsentiert sie die ins Offene segelnde Fahrt ohne Ankunft. Das Zeugnis für sie findet man am Ende des fünften Buches der Morgenröthe: 67 <?page no="68"?> Wir Luft-Schifffahrer des Geistes! - Alle diese kühnen Vögel, die in ’ s Weite, Weiteste hinausfliegen, - gewiss! irgendwo werden sie nicht mehr weiter können und sich auf einen Mast oder eine kärgliche Klippe niederhocken - und noch dazu so dankbar für diese erbärmliche Unterkunft! Aber wer dürfte daraus schliessen, dass es vor ihnen keine ungeheuere freie Bahn mehr gebe, dass sie so weit geflogen sind, als man fliegen könne! Alle unsere grossen Lehrmeister und Vorläufer sind endlich stehen geblieben, und es ist nicht die edelste und anmuthigste Gebärde, mit der die Müdigkeit stehen bleibt: auch mir und dir wird es so ergehen! Was geht das aber mich und dich an! Andere Vögel werden weiter fliegen! Diese unsere Einsicht und Gläubigkeit fliegt mit ihnen um die Wette hinaus und hinauf, sie steigt geradewegs über unserem Haupte und über seiner Ohnmacht in die Höhe und sieht von dort aus in die Ferne, sieht die Schaaren viel mächtigerer Vögel, als wir sind, voraus, die dahin streben werden wohin wir strebten, und wo Alles noch Meer, Meer, Meer ist! - Und wohin wollen wir denn? Wollen wir denn über das Meer? Wohin reisst uns dieses mächtige Gelüste, das uns mehr gilt als irgendeine Lust? Warum doch gerade in dieser Richtung, dorthin, wo bisher alle Sonnen der Menschheit untergegangen sind? Wird man vielleicht uns einstmals nachsagen, dass auch wir, nach Westen steuernd, ein Indien zu erreichen hofften, - dass aber unser Loos war, an der Unendlichkeit zu scheitern? Oder, meine Brüder? Oder? - (KSA 3, 331) Diese Aufzeichnung - ihr Pathos erinnert an Baudelaires Gedicht Die Reise ( „ O Tod, alter Kapitän, es ist Zeit! Laß uns die Anker lichten . . . “ ) - entwirft ein für Nietzsches Texte typisches Metapherngeflecht. In ihm symbolisiert der Vogelflug die unendliche Sehnsucht des nach Erkenntnis dürstenden Menschen, seine Unruhe, die ihn auf die Ankunft auf einer „ kärglichen Klippe “ verzichten lehrt. Die Sehnsucht, von der in ihr die Rede ist, ist ein spätes Kind des platonischen Eros. Es trägt die spätromantischen Züge eines gescheiterten Aufbruches in eine Unendlichkeit, die keinen Namen hat. Gleichwohl gilt für ihn die Zeile Leopardis aus seinem Gedicht L ’ infinito (Unendlichkeit): „ E il naufragur m ’ è dolce in questo mare - Und scheitern ist mir süß in diesem Meer. “ In kunstvollen Variationen des Denkmotivs der Unendlichkeit kostet Nietzsche die mit ihm verbundene Perspektive desperater, hoffnungsvoller, resignativer Aufbruchstimmungen aus. Sie ist für seine eine lange Phase seines Denkens prägende Leidenschaft der Erkenntnis repräsentativ. Die Seefahrt nach „ Westen “ , die „ Indien “ - Fahrt, kann als eine Metapher für den Wiederkunftgedanken ver- 68 <?page no="69"?> standen werden. Sie schließt West und Ost, Sonnenuntergang und Sonnenaufgang, Tod und Leben zu einer Kreisfigur zusammen. Die bangen Fragezeichen am Ende der Aufzeichnung - „ Oder, meine Brüder? Oder? “ - zeigen, daß die durch keinen Mythos der Heimkehr (Odyssee) geschützte Meerfahrt des Denkens durch die „ verschlingende Macht “ der unendlichen Räume des Universums und die „ Drohung einer verschlingenden Zeit “ tief gefährdet ist. 4 Nietzsches Pascal-Lektüre - „ Wir treiben auf einer unendlichen Mitte dahin “ (Penseés, Nr. 72/ 4) - korrespondiert in seiner Philosophie eine aquatische Metaphorik: Das auf den Wogen des Meeres tanzende kleine Boot mit der Aufschrift „ Ich “ . In Nietzsches „ Meeresphilosophie “ (Pia Daniela Schmücker) ist der Topos „ Meer “ Zeichen für eine Transzendierung des Denkens: Verlockung in das Andere, in das Über-Hinaus. Die Gefahr dieser Transzendierung bezeugt der Aphorismus 124 Im Horizont des Unendlichen aus der Fröhlichen Wissenschaft. Seine Bildlichkeit ist der Sprache Pascals verpflichtet. Wir haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen! Wir haben die Brücke hinter uns, - mehr noch, wir haben das Land hinter uns abgebrochen! Nun, Schifflein! sieh ’ dich vor! Neben dir liegt der Ocean (. . .) mitunter liegt er da, wie Seide und Gold und Träumerei der Güte. Aber es kommen Stunden, wo du erkennen wirst, dass er unendlich ist und dass es nichts Furchtbareres giebt, als Unendlichkeit. (. . .) und es giebt kein „ Land “ mehr! (KSA 3, 480) Die unendliche Meerfahrt erinnert an Zeilen eines Gedichtes von Giorgios Seferis. Ihr schwermütige Frage lebt von der Erinnerung an „ die Inseln “ : „ Was denn suchen unsere Seelen auf dieser Fahrt. . . von Hafen. . .zu Hafen? . . . Dabei wußten wir doch, wie schön sie waren,. . . die Inseln. . . “ Neben Untergangsszenarien stehen Rettungsphantasien. Im 13. Gesang der Odyssee begegnet dem nach Ithaka heimgekehrten Odysseus die Göttin Athene als strahlend schöne junge Frau. Sie streichelt ihm lächelnd die Hand und sagt: „ Klug müßte der und diebisch sein, der dich überholen wollte in allen Listen, und träte auch ein Gott dir gegenüber! Du Schlimmer, Gedankenbunter, Unersättlicher an Listen! (. . .) Doch reden wir nicht mehr davon, 69 <?page no="70"?> die wir doch beide die Listen kennen! Da du unter den Sterblichen allesamt der weitaus beste bist an Rat und Worten, ich aber unter allen Göttern berühmt durch Klugheit bin und Listen. “ (V. 291 - 299) Auf diese Homer-Stelle bezieht sich der Aphorismus 306 aus der Morgenröthe. In der artistischen Beherrschung des Scheins und der Lüge als einer Form der Klugheit im Dienst von Eigeninteressen wird das griechische Ideal gefeiert, sein zu können, „ was man will “ : Was bewunderten die Griechen an Odysseus? Vor Allem die Fähigkeit zur Lüge und zur listigen und furchtbaren Wiedervergeltung; den Umständen gewachsen sein; wenn es gilt, edler erscheinen als der Edelste; sein können, was man will; (. . .) Geist haben - sein Geist ist die Bewunderung der Götter, sie lächeln, wenn sie daran denken - : diess Alles ist griechisches Ideal! Das Merkwürdigste daran ist, dass hier der Gegensatz von Scheinen und Sein gar nicht gefühlt und also auch nicht sittlich angerechnet wird. Gab es je so gründliche Schauspieler! (KSA 3, 224) „ Fröhliche Wissenschaft “ - Spiele ästhetischer Selbsterschaffung Nietzsches Fröhliche Wissenschaft, Anfang 1882 geschrieben, ist das schönste uns hinterlassene literarische Zeugnis für seine Leidenschaft der Erkenntnis vor dem Hintergrund einer solitären Vereinigung von „ tragischem Wissen und überlegener Heiterkeit “ (Mazzino Montinari). Dem Ideal der Methode der Wissenschaft setzt sie einen sommerlichen Himmel über blaue Meere entgegen. Wie schwer das Manuskript dem Prozeß einer literarischen Selbstgeburt abgerungen ist, zeigt ein Brief vom 3. Juli 1882 an Lou Salomé: Oh welche Jahre! Welche Qualen aller Art, welche Vereinsamungen und Lebensüberdrüsse! Und gegen Alles das, gleichsam gegen Tod und Leben, habe ich mir diese Arznei gebraut, diese meine Gedanken mit ihrem kleinen Streifen unbewölkten Himmels über sich: - oh liebe Freundin, so oft ich an das Alles denke, bin ich erschüttert und gerührt und weiß nicht, wie das doch hat gelingen können (. . .) (KSB 6, 217) Bei allem Leichten und Gelächter enthält die Fröhliche Wissenschaft im Vergleich zu den früheren Schriften, wie die Vorrede zu ihrer zweiten Ausgabe (1887) konstatiert, „ einige Fragezeichen mehr, vor Allem mit 70 <?page no="71"?> dem Willen, fürderhin mehr, tiefer, strenger, härter, böser, stiller zu fragen als man bis dahingefragt hatte (KSA 3, 350). Das Geschenk einer solchen Art des Fragens ist eine Revolution des Denkens. Sie bringt nie gekannte Ausblicke auf Liebe, Freude, Glück. Sie kräftigen das Auge in jenen kritischen Momenten, in denen das Vertrauen in das Leben, in den Wert des Lebens, zum „ Problem “ wird. Er ist nie abschätzbar. Aus diesem Grund wird ihm nur ein offenes Denken gerecht, das sich auf ’ s Meer hinaus wagt, selbst auf die Gefahr des Scheiterns hin. Als Motto für diesen Denkstil könnten Gedichtzeilen des großen portugiesischen Dichters Fernando Pessoa aus dem Jahr 1932 stehen, der Nietzsche intensiv gelesen hat: Was ist ein Leben? Kurze Sonnen und Schlaf. Nutze dein Denken, Denke nicht zu viel. Dem Seemann ist das dunkle Meer ein klarer Weg. Du, in des Lebens wirrer Einsamkeit, Sei dir dein eigener Hafen (Kennst du doch keinen anderen). Das Leben, sein Ineinander von Güte und Grausamkeit, gleicht der Natur des „ Weibes “ . So sieht es die Literatur des 19. Jahrhunderts. Die Schönheit ihrer weiten fließenden Gewänder verbirgt das monotone Spiel von Zeugung, Geburt und Tod. Gegen die Schwermut, die aus dieser Sicht erwächst, beschwört die „ Vorrede “ von 1886 die Griechen als Rettung. Diese kindlichen Künstler sind für uns darin Vorbild, auf welch spielerische Weise sie das Auge geschult haben, sich am Schein des Lebens - „ Sonne, Küsse und erregende Düfte “ (Albert Camus) - zu erfreuen: Oh diese Griechen! Sie verstanden sich darauf, zu leben: dazu thut Noth, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren oberflächlich - aus Tiefe! (. . .) Sind wir nicht eben darin - Griechen? Anbeter der Formen, der Töne, der Worte? Eben darum - Künstler? (KSA 3, 352) In den Bemerkungen zu seinen Dichtungen als „ Ausdruckskunst “ beruft sich Gottfried Benn leidenschaftlich auf Nietzsches Formulierung eines „ Olymps des Scheins “ , mit der er seine „ Artistenmetaphysik “ feiert. 5 71 <?page no="72"?> Die in der frühen Philosophie Nietzsches thematisierte spannungsreiche Beziehung zwischen einem dionysischen Wissen vom Chaos und einem apollinischen Willen zur Form wird auf eine „ griechische “ Haltung zu der Abgründigkeit des Lebens übertragen. Es geht bei den skizzenhaften Entwürfen dieser Projektion um Modelle eines labilen Gleichgewichts zwischen antagonistischen psychischen Strebungen von Selbstverlust und Selbstgewinn. Seine Gefährdung thematisiert der mit Homo poeta überschriebene Aphorismus 153 aus dem dritten Buch: (. . .) ich selber habe jetzt im vierten Act alle Götter umgebracht, - aus Moralität! Was soll nun aus dem fünften werden! Woher noch die tragische Lösung nehmen! - Muss ich anfangen, über eine komische Lösung nachzudenken? (KSA 3, 496) Die „ komische Lösung “ ist Ausdruck einer absolut gesetzten Freiheit. „ Die Ordnung und die Götter sterben, sobald nur ein Mensch seine Vollendung bis zur Freiheit vorangetrieben hat. “ (Maurice Blanchot) Nietzsches Fröhliche Wissenschaft besitzt einen subtilen Spürsinn für unbewußte physiologischen Einprägungen in jedem gedanklichen Konstrukt. Sie entdeckt, daß solche Konstrukte eine „ Auslegung des Leibes und ein Missverständniss des Leibes “ sind (KSA 3, 348). Die Fühlerfahrung des Leibes ist durch das Christentum (Augustinus), durch das cogito des Descartes und das Selbstbewußtsein des für sich seienden Geistes (Hegel) verstellt. Erst die Einebnung des Leib-Seele-Dualismus durch den Materialismus der Aufklärung läßt in der mit allerfeinsten Sinnen begabten Leib-Geist-Organisation ein hochkomplexes „ wissendes Instrument “ (Babette E. Babich) erkennen. In dem Kapitel Von den Verächtern des Leibes aus Also sprach Zarathustra liest man einen Satz, dessen Metaphorik an Hobbes erinnert. Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt. (KSA 4, 39) Gegen den „ schlechten Geschmack “ idealistischer Jünglinge und ihres Willens zur Wahrheit, einer „ Wahrheit um jeden Preis “ , sieht sich eine fröhliche Wissenschaft genötigt, „ eine spöttische, leichte, flüchtige, göttlich unbehelligte, göttlich künstliche Kunst “ (KSA 3, 72 <?page no="73"?> 351) ins Feld zu führen. Sie gesteht mit ihr dem Leben lächelnd zu, daß es keinerlei überzeitliche „ ewige “ Wahrheit kennt. Als eine Darstellung der „ ewigen Komödie des Daseins “ will sie weder wie die Religion das sterbliche Leben erlösen noch wie die Wissenschaft es verbessern. Künstler-Philosophen, die Bindungen an angebliche „ Realitäten “ verabscheuen, verstehen sich darauf, mit den Perspektiven zu experimentieren, die unbekannte Räume erschließen und neue Deutungshorizonte der Welt erobern. Ihre Neugier gilt der Beobachtung wie der tragische Rhythmus des Lebens durch das Irrationale des einzelnen Menschenlebens von einem komischen Rhythmus überlagert ist, der - nimmt man ihn ernst - alle Wahrheitsansprüche der Moral und der Religion der Lächerlichkeit preisgibt. Es sind neben den Melancholikern Schriftsteller und Künstler, die Nietzsches „ fröhliche “ Wissenschaft über den Menschen in dem Punkt anerkennen, daß das menschliche Dasein auf einem illusionären Sinn beruht. Zu Bewußtsein kommt er in der gefühlten Absurdität des Lebens. − Den Schriftstellern der Moderne geht es um narrative Formen von Themen, die in der Morgenröthe und in der Fröhlichen Wissenschaft auf einer abstrakten Ebene behandelt werden. An ihnen entflammt eine Debatte jener tiefen Widersprüche des Lebens, bei denen es sich um Leiden, um die Liebe als Krankheit, um unerfüllte Sehnsüchte, um das Verrinnen der Zeit handelt. Die Komödie hat nunmehr für Nietzsche gegenüber der Tragödie den Vorzug, Wirklichkeit in ihren Codifizierungen neu zu erfinden, indem sie das Scheinhafte des Lebens in den entstellten Formen seiner Charaktere darstellt. Zu Beginn des vierten Buches der Fröhlichen Wissenschaft mit der Überschrift „ Sanctus Januarius “ steht der amor fati-Gedanke. Von Spinoza inspiriert, ist er das Losungswort für die zu erobernde „ Gesundheit “ nach einer langen Krankheit am Leben. Seine Weisheit liegt in einer Selbstrelativierung des eigenen Standpunktes zum Leben und in der daraus resultierenden Anerkennung des Schicksals. Ich will immer mehr lernen, das Nothwendige an den Dingen als das Schöne sehen: - so werde ich Einer von Denen sein, welche die Dinge schön machen. Amor fati: das sei von nun an meine Liebe! (KSA 3, 521) 73 <?page no="74"?> Eingedenk des von Schopenhauer reflektierten Gegensatzes, daß die Dinge als Erscheinungen im Sonnenlicht zwar schön anzusehen sind, sie zu „ seyn “ aber etwas „ ganz Anderes “ ist - eine Differenz, die Nietzsche in der Geburt der Tragödie an der Polarität apollinischer Glanz der Erscheinung und dionysisches Dunkel ihres Grundes thematisiert - , ist die gewollte Bejahung des „ Nothwendigen an den Dingen “ nur unter der Optik der Kunst möglich. Die Kunst ist - folgt man Nietzsches teilweiser Umschreibung der Odyssee - die Kirke auf der Odyssee des Geistes. Der Zauberstab in ihrer Hand, mit dem sie die Dinge berührt, raubt ihnen ihre Schwere und verleiht ihnen, sie verwandelnd, einen Zug des Schwebend-Schönen. Den Typus des Künstlers charakterisiert sein Begehren nach dem Verbotenen. Er will den Gesang der Sirenen zu hören und seiner erotischen Verlockung erliegen. Nur wenn er sich in einen „ anderen “ Odysseus verwandelt, entkommt er durch das Mittel die List dem Bann der mythischen Sängerinnen. Indem Nietzsche in dem Aphorismus Die Frauen und ihre Wirkung in die Ferne den literarischen Topos der Frau als allegorischer Figur des Lebens aufgreift, unterstreicht er, daß die Frau als Schein eine Illusion des Mannes ist. Das Weibliche als das magische Prinzip des Lebens ist erotische Verlockung im Spannungsgefüge von Nähe und Ferne. An den „ stillen Plätzen “ der Frauen wird „ auch die lauteste Brandung zur Todtenstille und das Leben selber zum Traume über das Leben “ (KSA 3, 424 f.). Der Versuchung, „ Ich “ -Erhaltung dem Genuß dieser Stille zu opfern, wird widerstanden, wenn es gelingt, den Sog, der von dem Gesang der Frauen ausgeht, unter die Bedingung der Distanz zu stellen. In dem Aphorismus klingt ein ursprünglicher seelischer Antagonismus nach, den der überlieferte Mythos der Sirenen in der Odyssee (12. Gesang) thematisiert. Es ist der Gegensatz zwischen rationaler List (Odysseus) und Gesang (Sirenen). Nietzsche ahnt in ihm die Differenz zwischen der Rationalität des Logos und der sie in Frage stellenden Musik des Südens, die die Sprengung der Identität der Individualität androht. Leben ist Schein. Ein Kreisel, den „ die Geißel “ eines Gottes treibt (Heraklit, Fragment B 11). Hinter ihm gibt es keine Wahrheit des Seins. Dieser Grundsatz Nietzsches ist die entscheidende Differenz zu Plato und dem Platonismus. Auf den Schein bleibt die Einbildungskraft der ästhetischen Vernunft bezogen. Aus der Perspektive der 74 <?page no="75"?> Kunst, der Welt des ästhetischen Scheins, liegt über dem Leben „ ein golddurchwirkter Schleier “ , der Zauber unverhoffter „ Möglichkeiten “ und Versprechungen: „ verheissend, (. . .) schamhaft, spöttisch “ (KSA 3, 569). Leben ist schön und unergründlich, es verstrickt den Menschen in Illusionen, aus denen ihn erst der Tod befreit. Das Magische, die Verwandlung aller Dinge in Mysterien, herrscht in der Sphäre der Kunst. Der bunte Reigen der Erscheinungen täuscht über die Sinnleere auf der zuletzt leer gefegten Theaterbühne hinweg. Die in ihren Schein Verliebten fragen nicht wie die Philosophen nach dem, was hinter dem vielfach schattiertem Rot des Bühnenvorganges sein mag. Als Künstler-Philosophen huldigen sie dem „ Carpe diem! “ des Horaz und der epikureischen Maxime des Ricardo Reis. Umgib mit Rosen dich, liebe, trinke Schweige. Alles Übrige ist nichts. (Fernando Pessoa) Nietzsche steht auf dem Standpunkt einer über sich aufgeklärten Aufklärung, wenn er die Position einer absoluten Skepsis zurückweist und betont, „ ohne ein periodisches Zutrauen zu dem Leben (KSA 3, 372) könne menschliches Dasein nicht existieren. Das Entzücken an dem „ golddurchwirkten Schleier “ , der die Schatten in Träume einhüllt, läßt die Anamnesis (Erinnerung der Seele) an jenseitige Welt, von der Plato erzählt, vergessen und ermöglicht, „ ohne Angst und Bedauern “ jener Stimme in uns zuzuhören, „ die im Geleucht eines Sommertages “ (Julien Green), beständig vom Ende allen Lebens redet. Der getötete Gott Das südliche Licht über Nietzsches fröhlicher Wissenschaft erfährt eine Eindunkelung. Verursacht ist sie durch die im dritten Buch erzählte Botschaft des „ tollen Menschen “ : „ Gott ist todt! “ (KSA 3, 481) Ihre mythische Sprachform ist apodiktisch, der von ihr ausgehende Schrecken erschütternd. Die Ungeheuerlichkeit, daß wir die Mörder Gottes sind, provoziert unterschiedliche Lesarten. Für Martin Heidegger bedeutet Nietzsches Wort „ Gott ist tot “ (1943) daß das Nichts sich wie eine dunkle Wolke über das menschliche 75 <?page no="76"?> Dasein ausbreitet. Die Intensität des Schreckens, die von der Botschaft vom Gottesmord ausgeht, läßt ihre Nähe zu der Traumvision Rede des toten Christus (1789) von Jean Paul erkennen. In ihr rufen die Toten: „ Christus! ist kein Gott? “ Und Christus antwortet: „ Es ist keiner “ . Nietzsche spricht den Leser direkt an: Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: „ Ich suche Gott! Ich suche Gott! “ - Da dort gerade Viele von Denen zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein grosses Gelächter. Ist er denn verloren gegangen? sagte der Eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der Andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? - so schrieen und lachten sie durcheinander. (KSA 3, 480) Die Rede des tollen Menschen vom Gottesmord „ Wir haben ihn getödtet, - ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! “ (KSA 3, 481) bezieht sich auf den moralischen Gott, den „ Gott der Anklage und Verdammnis “ (Paul Ricoeur). Er ist es, der getötet wurde. Sein Tod erinnert an den von Sigmund Freud erzählten Mythos von der Ermordung des „ Urvaters “ durch die Brüderhorde in Totem und Tabu (1913). In Freuds Erzählung schafft das Schuldbewußtsein der Brüderhorde dem Ermordeten ein dämonisches Weiterleben. In Nietzsches Erzählung lasten die Opferrituale, die für das Sakrileg dieses Mordes errichtet werden müssen, schwer auf dem menschlichem Dasein und seiner Zukunft in der Geschichte. Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, - wer wischt diess Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnfeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? (KSA 3, 481) Die Antwort auf den Tod Gottes ist die Idee des Übermenschen. Zarathustra formuliert die Notwendigkeit seines Auftretens mit den Worten: Gott starb: nun wollen wir, - dass der Übermensch lebe. (KSA 4, 357) Mit dem Tod Gottes hat der Mensch das Zentrum seines jahrtausendealten Selbstverständnisses verloren. Verbunden war es mit einer 76 <?page no="77"?> Ausrichtung seiner Daseinsvollzüge auf einen personal gedachten Gott hin. Nach dessen Tod, dem Untergang der Sonne, die bei Plato jenseits des Seins im Zenit des Ideenhimmels stand, bewegt er sich „ fort von allen Sonnen “ . Es überfällt ihn das Empfinden eines fortwährenden Sturzes. „ Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? “ , fragt der tolle Mensch. Der Verlust des höchsten Lebenssinns Gott ist Ursache einer vertieften Lebensangst. Sie ist Thema im Werk des späten Schelling und bei Sören Kierkegaard. Es wird für Nietzsche zu einer alles entscheidenden Frage, ob es gelingt, die moderne „ Verdüsterung “ , die durch den Verlust des höchsten Wertzentrums Gott entstanden ist, zu überwinden. „ Das grösste neuere Ereigniss, - dass ‚ Gott todt ist ‘ , dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist - beginnt bereits seine ersten Schatten über Europa zu werfen. “ (KSA 3, 573) Das Fragment 11(54) aus dem Frühjahr - Herbst 1881 enthält jene entscheidenden Fragen, die sich nach dem Verlust des Glaubens an Gott einstellen. Verbunden sind sie mit Reflexionen auf jenen Paradigmenwechsel, der sich aus ihm im Sinne des Nihilismus ergibt: Welches sind die tiefen Umwandlungen, welche aus den Lehren kommen müssen, daß kein Gott für uns sorgt und daß es kein ewiges Sittengesetz giebt (atheistisch-unmoralische Menschheit)? daß wir Thiere sind? daß unser Leben vorbeigeht? daß wir unverantwortlich sind? (KSA 9, 461) Das Notat schließt mit einer erschreckenden Prophezeiung künftiger Geschichte, die an die Prophetie eines Menschengottes in den Romanen Dostojewskis erinnert: „ der Weise und das Thier werden sich nähern und einen neuen Typus ergeben! “ Die Rede des Dämons Nietzsche gehört zu der seltenen Gruppe von Menschen, für die Gedanken nie abstrakt sind, sondern verzehrende, das Denken okkupierende Dämonen. In einer gewissen „ Stimmung “ der Seele, in ihrer traumartigen Beleuchtung, erscheint mir, was ich gegenwärtig erlebe wie etwas, was ich schon einmal erlebt habe. Es überfällt Einzelne oft der unabweisbare Gedanke, das gegenwärtige Leben schon einmal gelebt zu haben. Ein Albtraum, denkt man an das 77 <?page no="78"?> Trauma von Nietzsches Kindheit, den Tod des Vaters und die ständige Angst vor seiner Wiederkehr. Unter dem Stichwort Das grösste Schwergewicht legt er den ihn quälenden Gedanken einem Dämon als eine Hypothese in den Mund: Das grösste Schwergewicht - Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: „ Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens muss dir wiederkommen, und Alles in der selben Reihe und Folge - und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht - und du mit ihr, Stäubchen vom Staube! “ - Würdest du dich nicht niederwerfen (. . .) und den Dämon verfluchen, der so redete? Oder hast du einmal einen ungeheuren Augenblick erlebt, wo du ihm antworten würdest: „ du bist ein Gott und nie hörte ich Göttlicheres! “ Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei Allem und Jenem „ willst du dies noch einmal und noch unzählige Male? “ würde als das grösste Schwergewicht auf deinem Handeln liegen! Oder wie müsstest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach Nichts mehr zu verlangen, als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung? - (KSA 3, 570) Biographischer Hintergrund der Versucherrede des Dämons ist der Gedanke der ewigen Wiederkehr, der Nietzsche in einem „ ungeheuren Augenblick “ des Sommers 1881 am See von Silva Plana überfiel. Seine philosophische Würdigung erfordert die Reflexion auf die Alternative, die mit ihm gesetzt ist. Wer weder an einen Gott noch an ein „ Jenseits “ glaubt, wird durch diesen Gedanken in die Enge der Wahl getrieben, entweder an der Wiederkehr der Passion seines Schicksals zu verzweifeln oder sie verzweifelt zu bejahen. Die antinomische Zuspitzung dieser Alternative ruft Sisyphos auf die Bühne. Über ihn schreibt Albert Camus am Ende von Der Mythos Sisyphos (1943), er lehre uns die Treue zur Erde. Sie leugnet „ Götter “ und wälzt Steine. Im griechischen Mythos muß Sisyphos zur Sühne, daß er Menschen, Götter und sogar den Tod überlistete, in der Unterwelt einen Felsblock einen Berg hoch stemmen, der jedesmal wenn er dessen Gipfel erreicht zu haben scheint, wieder in die Tiefe rollt. Wenn wir 78 <?page no="79"?> ihn uns gemeinsam mit Camus als einen glücklichen Menschen vorstellen, dann nur aus einem Grund: Ihm ist in der Hochzeit mit dem Stein - es ist der Stein seines Schicksals - seine Verwandlung gelungen. Gleiches fordert Nietzsche von den Heroen der Zukunft: Drücken wir das Abbild der Ewigkeit auf unser Leben! Dieser Gedanke enthält mehr als alle Religionen, welche dies Leben als ein flüchtiges verachten und nach einem unbestimmten anderen Leben hinblicken lehrten. (KSA 9, 503) Die zeitweilige Überzeugung, daß wir als die Dichter unseres flüchtigen Lebens ihm das „ Abbild der Ewigkeit “ verleihen können, steht in der Nachfolge des platonischen Eros. Im Symposion Platos ist er als Sohn seiner Mutter immer arm und bedürftig, als Sohn seines Vaters hingegen ein gewaltiger Jäger nach dem Schönen. Bei Nietzsche wandelt er sich zu dem großen Jäger nach einer Verewigung des Vergänglichen unseres Lebens. Als Künstler ist Eros eine „ Grundfigur bei Nietzsche “ (Bernhard Waldenfels). Als ein Schaffender und ein Schenkender verklärt er der Sonne gleich die Dürftigkeit seines Daseins. In allen Untergängen feiert er seine Auferstehung. Die Alternative von Verzweiflung und Bejahung löst sich am Ende der Rede des Dämons in einer rhetorischen Frage auf: „ Oder wie müsstest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach Nichts mehr zu verlangen, als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung? “ (KSA 3, 570) Auf die Frage, wie eine solche letzte „ ewige Bestätigung “ aussieht, wäre das Ende des Romans Der Fremde (1940) von Albert Camus eine Antwort. Als eine Gabe des Seins wird sie dem Antihelden Meursault in der Nacht vor seiner Hinrichtung zuteil: „ (. . .) auch ich fühlte mich bereit, alles noch einmal zu erleben. Als hätte dieser große Zorn mich von allem Übel gereinigt und mir alle Hoffnung genommen, wurde ich angesichts dieser Nacht voller Zeichen und Sterne zum erstenmal empfänglich für die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt. Als ich empfand, wie ähnlich sie mir war, wie brüderlich, da fühlte ich, daß ich glücklich gewesen war und immer noch glücklich. “ In einer erotischen Philosophie, die wir bei Nietzsche bewundern - „ Alles “ miteinander „ verkettet, verfädelt, verliebt “ (KSA 4, 402) - , 79 <?page no="80"?> mag der Abschiedsgruß „ Wir werden wohl uns wieder begegnen “ , den Hyperion von der sterbenden Diotima als ihr Vermächtnis empfängt, ein Zeichen der Ahnung für die Aufhebung aller Trennungen in der ewigen Wiederkunft sein. Für Nietzsche lastet der Gedanke der ewigen Wiederkehr als „ das grösste Schwergewicht “ auf seiner Existenz. Seine Negativität - die monotone Verwandlung alles Geschehens in Asche - beruht auf einem Zirkel, der die „ ödipale “ Struktur der Zeit offen legt. In ihr erscheint „ jeder Augenblick wie ein Sohn, der seinen Vater, den vorausgegangenen Augenblick, verschlingt, und er erleidet seinerseits das Schicksal, verschlungen zu werden. “ 6 Alle Zeitfragmente bilden untereinander eine Kette unablässiger Vernichtungen. Die Zeit, deren Staub sich auf alles legt, hat unter diesem Aspekt das Schmerzensgesicht von Leiden und Sterben. Aus griechischer Sicht erscheint das Problem des Verrinnens der Zeit für den Menschen ausweglos. 7 Die Erfahrung der griechischen Tragödie vom Sturz des Menschen aus der Position höchster Macht in den „ Wirbel furchtbaren Unheils “ (Sophokles) macht es schwer, aus der Rede des Dämons die Stimme eines „ Gottes “ herauszuhören. Nietzsches Dionysos, Sisyphos und der Stein, die Nacht, die in Camus ’ Fremden Meursault vor seinem Tod die große Bejahung schenkt, der Weinberg in Cesare Paveses Gespräche mit Leuko, der „ Mittag “ , in dem Zarathustra in den „ Brunnen der Ewigkeit “ fällt, sind moderne Mythen. Sie können tiefenpsychologisch auf eine archetypische Bildlichkeit hin ausgelegt werden, ihr Aussagesinn bleibt offen, da er jenseits einer raum-zeitlichen Welt liegt. Wir finden in ihnen Symbole für unser Leben, für „ die Dynamik der Seele “ (Walter Burkert), ihre Kämpfe und Niederlagen in einer Welt, die im Licht fremder Götter liegt. Im vierten Buch der Fröhlichen Wissenschaft ist der Aphorismus 289 mit der Losung Auf die Schiffe! Zeuge für Nietzsches philosophische Seefahrerleidenschaft. Sie verbindet ihn mit der Idee einer „ neuen Gerechtigkeit “ . In der Tradition der Aufklärung räumt sie jedem Einzelnen das Recht auf seine subjektive Deutung der Welt ein. Sie ist eine notwendige Perspektive in der Perspektivenvielheit mundaner Aspekte. 80 <?page no="81"?> Auch die moralische Erde ist rund! Auch die moralische Welt hat ihre Antipoden! Auch die Antipoden haben ihr Recht des Daseins! Es giebt noch eine andere Welt zu entdecken - und mehr als eine! Auf die Schiffe, ihr Philosophen! (KSA 3, 530) Philosophische Seefahrt ist Metapher für Nietzsches Experimentalphilosophie. Aphorismus 324 In media vita ist das Zeugnis für den befreienden Gedanken, „ dass das Leben ein Experiment des Erkennenden sein dürfe - und nicht eine Pflicht, nicht ein Verhängnis, nicht eine Betrügerei! “ (KSA 3, 552) Ein solches „ Experiment “ steht unter der Bedingung der Bescheidenheit. So heißt es im Aphorismus 374 Unser neues „ Unendliches “ : Aber ich denke, wir sind heute zum Mindesten ferne von der lächerlichen Unbescheidenheit, von unsrer Ecke aus zu dekretiren, dass man nur von dieser Ecke aus Perspektiven haben dürfe. Die Welt ist uns vielmehr noch einmal „ unendlich “ geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie unendliche Interpretationen in sich schliesst. (KSA 3, 627) Nietzsche hat den vier Büchern der Fröhlichen Wissenschaft 1887 ein fünftes Buch mit dem Titel Wir Furchtlosen und die Lieder des Prinzen Vogelfrei hinzugefügt. Es vertieft das Fragezeichen an einer Gleichsetzung zwischen den menschlichen Wertsetzungen und einer ihnen gegenüber indifferenten Welt, von der „ Mensch “ nur ein Teil ist. Weil unsere tiefen Wünsche und „ Bedürfnisse “ nach Sinn, die wir an das Leben stellen, nie mit seiner Amoralität übereinstimmen, (ver)führt die daraus resultierende Enttäuschung zu einem Pessimismus, der wie derjenige Schopenhauers als Weltverneinung Nihilismus ist. Seine religiösen Erscheinungsformen sind Buddhismus und Christentum als Symptome einer tiefen Müdigkeit und einer „ Erkrankung des Willens “ . Ihnen stellt Nietzsche sein Ideal der Gesundheit für freie Geister entgegen. Es ist die „ Lust und Kraft der Selbstbestimmung, eine Freiheit des Willens (. . .), bei der ein Geist jedem Glauben, jedem Wunsch nach Gewissheit den Abschied giebt, geübt, wie er ist, auf leichten Seilen und Möglichkeiten sich halten zu können, und selbst an Abgründen noch zu tanzen. “ (KSA 3, 583) 81 <?page no="82"?> Diese Fähigkeit realisiert der freie Geist. Seine Position, gehalten nur von „ leichten Seilen und Möglichkeiten “ , bewirkt eine „ ästhetische Selbstauflösung der Tragödie in die Komödie “ (Cristoph Menke). Sie begleitet der Prozeß einer „ Genesung “ , der den Ernst der Tragödie in die Heiterkeit der Komödie überführt. Denn: (. . .) alle Götter sind Dichter-Gleichniss, Dichter-Erschleichniss! Wahrlich, immer zieht es uns hinan - nämlich zum Reich der Wolken: auf diese setzen wir unsre bunten Bälge und heissen sie dann Götter und Übermenschen: - Sind sie doch gerade leicht genug für diese Stühle! - alle diese Götter und Übermenschen. (KSA 4, 164) Der Tanz an Abgründen ist ein Spiel, ein Endspiel für Künstler. Es wird auf der Schneide eines Messers geführt. Seine göttliche Leichtigkeit und Heiterkeit auf einer Theaterbühne kippt plötzlich um: Zeichen für die Zäsur, daß „ vielleicht der grosse Ernst erst anhebt, das eigentliche Fragezeichen erst gesetzt wird, das Schicksal der Seele sich wendet, der Zeiger rückt, die Tragödie beginnt . . . “ (KSA 3, 637) Dem Umschlag der Euphorie des Leichtseins und des Fliegens in die Schwermut des Schwerseins begegnen wir in den Schriften Nietzsches immer wieder. Ihn unterläuft der Epilog des Buches durch eine gleichsam enthemmte Fröhlichkeit. Manisch konterkariert sie den Ernst einer seelischen Tragödie mit den stilistischen Mitteln der Parodie. Man vermeint, hinter ihr das Lachen Heinrich Heines zu hören. (. . .) die Geister meines Buches selber fallen über mich her, ziehn mich an den Ohren und rufen mich zur Ordnung. „ Wir halten es nicht mehr aus - rufen sie mir zu - ; fort, fort mit dieser rabenschwarzen Musik. (. . .) Nein! Nicht solche Töne! (KSA 3, 637 f.) Nietzsches Seefahrt auf dem Schiff der Argonauten in Richtung auf ein unbewiesenes „ Indien “ wird begleitet von den Liedern des Prinzen Vogelfrei. Unter ihnen sind lyrischen Kostbarkeiten wie das Gedicht aus dem Sommer 1882: N a c h n e u e n M e e r e n Dorthin - will ich; und ich traue Mir fortan und meinem Griff. 82 <?page no="83"?> Offen liegt das Meer, in ’ s Blaue Treibt mein Genueser Schiff. Alles glänzt mir neu und neuer, Mittag schläft auf Raum und Zeit - : Nur dein Auge - ungeheuer Blickt mich ’ s an, Unendlichkeit! (KSA 3, 649) Das erste Wort „ Dorthin “ öffnet den Blick auf das „ Offene “ des Meeres. Zugleich ist es wie ein Zeigefinger, der der erotischen Bewegtheit von Nietzsches Leidenschaft der Erkenntnis folgt. Im Gedicht verkörpert sie das auf den Wellen tanzende „ Genueser Schiff “ . Seine Bewegtheit wird auf die erste Zeile der zweiten Strophe übertragen ( „ Alles glänzt mir neu und neuer “ ). Nach ihr gibt es eine Zäsur, markiert durch den Bindestrich mit dem Doppelpunkt. Der Mittag „ schläft auf Raum und Zeit “ . Dem mythischen Bild vom Mittagsschlaf auf Raum und Zeit eignet das Da-Sein eines Ewigen in der Zeit. Der Gedanke von der ewigen Wiederkehr im Gedicht verbirgt sich hinter den Sprachzeichen „ Mittag “ und „ Unendlichkeit “ . Das Ende des Gedichts zeigt einen signifikanten Umschlag: Das Bewegte des Zeitaufbruchs in das „ Blau “ unbekannter Meere erstarrt unter dem Medusenblick eines großen anonymen Welt-Auges. Als Sonnenauge blickt es von außen in die Zeit hinein. Vom Lyriker wird es als ungeheuerlicher Blick wahrgenommen, der der Vereinigung mit dem Unendlichen im Augenblick des „ großen Mittags “ etwas unsäglich Bedrohliches verleiht. 83 <?page no="84"?> Die Philosophie des Mittags Unter den Liedern des „ Prinzen Vogelfrei “ findet sich als ein lyrisches Vorspiel zu Nietzsches Zarathustra-Dichtung das Gedicht Sils Maria: Hier sass ich, wartend, wartend, - doch auf Nichts, Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts Geniessend, bald des Schattens, ganz nur Spiel, Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel. Da, plötzlich, Freundin! wurde Eins zu Zwei - - Und Zarathustra gieng an mir vorbei . . . (KSA 3, 649) Das Gedicht, das die Entgrenzung des „ Ichs “ des Sprechers in einer „ Zeit ohne Ziel “ zum Thema hat, hält einen mystischen Augenblick im Prozeß des Schreibens fest: den Vorbeigang der Zarathustra-Figur. Sie ist Vision einer Spaltung: Die Präsenz des Anderen im Augenblick der dichterischen Inspiration. Die „ Grundconception “ von „ Also sprach Zarathustra “ Im Ecce homo hat Nietzsche die „ Grundconception “ seines Werkes Also sprach Zarathustra dargelegt: Die Grundconception des Werks, der Ewige-Wiederkunfts-Gedanke (. . .) gehört in den August des Jahres 1881: er ist auf ein Blatt hingeworfen, mit der Unterschrift: ‚ 6000 Fuss jenseits von Mensch und Zeit ‘ . Ich gieng an jenem Tage am See von Silvaplana durch die Wälder; bei einem mächtigen pyramidal aufgetürmten Block unweit Surlei machte ich Halt. Da kam mir dieser Gedanke. (KSA 6, 335) Am 14. August 1881 schreibt er an Heinrich Köselitz: „ An meinem Horizont sind Gedanken aufgetaucht, dergleichen ich noch nicht gesehn habe - davon will ich nichts verlauten lassen . . . “ (KSB 6, 112). Die Wendung vom „ Sehen “ eines Gedankens, die Unterschrift „ 6000 Fuss jenseits von Mensch und Zeit “ deutet auf ein pathisches Visionserleben Nietzsches hin. Der blitzhafte Augenblick einer Vision, die 84 <?page no="85"?> alles verwandelt, ist aus der Religions- und Literaturgeschichte bekannt. Ich erinnere an das Damaskus-Erlebnis des Paulus, an Augustins Hörerleben „ Nimm und lies! “ (im achten Buch seiner Bekenntnisse), an Dostojewskis „ Ich habe die Wahrheit gesehen “ (in: Traum eines lächerlichen Menschen). Man denke an die Erweckungsvision Ramakrishnas. Er ging als Knabe einst an einem Sommertag zu seinem Vater auf die Reisfelder, als er am Himmel vor einer dunklen Gewitterwolke einen Zug weißer Kraniche erblickte. Vor der Schönheit dieses Anblicks am Blau des Himmels fällt er bewußtlos nieder. Wieder aufgestanden, ist er ein Anderer, ein Verwandelter. (Wie der Hirte in Nietzsches Zarathustra-Dichtung.) Man muß sich diese „ Beispiele “ aus der Religionsgeschichte vergegenwärtigen, um vor aller Reflexion auf die philosophische Bedeutung des Wiederkunftgedankens zu ahnen, was Nietzsche im Sommer 1881 geschah, als ihm in einem ungeheuren Augenblick die Intuition der ewigen Wiederkehr aufleuchtete. Aus der Vision eines kosmischen Weltgesetzes wird sehr bald ein Gedankenexperiment. Von seinen revolutionären Folgen für das Selbstverständnis des menschlichen Daseins und einer aus ihnen resultierenden veränderten Haltung zu den nächsten Dingen des Lebens ist Nietzsche völlig gefangen. Davon zeugen zwei Nachlaßfragmente. Das eine 11 (141) August 1881 ist ein stichwortartiger Entwurf mit der Überschrift Die Wiederkunft des Gleichen. In ihm klingt die Erregung einer visionären Erfahrung unmittelbar nach. Er zeigt, daß Nietzsche die Lehre von der ewigen Wiederkehr prophetisch verkündigen wollte. Das neue Schwergewicht: die ewige Wiederkunft des Gleichen. Unendliche Wichtigkeit unseres Wissen ’ s, Irren ’ s, unsrer Gewohnheiten, Lebensweisen für alles Kommende. Was machen wir mit dem Reste unseres Lebens - wir, die wir den grössten Theil desselben in der wesentlichsten Unwissenheit verbracht haben? Wir lehren die Lehre - es ist das stärkste Mittel, sie uns selber einzuverleiben. Unsre Art der Seligkeit, als Lehrer der grössten Lehre. Anfang August 1881 in Sils-Maria, 6000 Fuss über dem Meere und viel höher über allen menschlichen Dingen! (KSA 9, 494) 85 <?page no="86"?> Das zweite Fragment 11(148) aus dem selben Zeitraum thematisiert den Gedanken zeitphilosophisch. Nietzsche denkt Ewigkeit im Zeichen des „ großen Mittags “ in einer Verbindung von kosmologischer Betrachtung der Physis (Natur) als ein ewig gleiches Werden und einer, wohl auf das Demeter-Persephone-Mysterium zurückgreifenden, anthropologisch-mythischen Auslegung von Tod und Wiedergeburt: Die Welt der Kräfte erleidet keine Verminderung: denn sonst wäre sie in der unendlichen Zeit schwach geworden und zu Grunde gegangen. Die Welt der Kräfte erleidet keinen Stillstand: denn sonst wäre er erreicht worden, und die Uhr des Daseins stünde still. (. . .) Welchen Zustand diese Welt auch nur erreichen kann, sie muß ihn erreicht haben und nicht einmal, sondern unzählige Male. So diesen Augenblick: er war schon einmal da und viele Male und wird ebenso wiederkehren (. . .) Mensch! Dein ganzes Leben wird wie eine Sanduhr immer wieder umgedreht werden und immer wieder auslaufen - eine große Minute Zeit dazwischen, bis alle Bedingungen, aus denen du geworden bist, im Kreislaufe der Welt, wieder zusammenkommen. Und dann findest du jeden Schmerz und jede Lust und jeden Freund und Feind und jede Hoffnung und jeden Irrthum und jeden Grashalm und jeden Sonnenblick wieder, den ganzen Zusammenhang aller Dinge. Dieser Ring, in dem du ein Korn bist, glänzt immer wieder. Und in jedem Ring des Menschen-Daseins überhaupt giebt (es) immer eine Stunde, wo erst Einem, dann Vielen, dann Allen der mächtigste Gedanke auftaucht, der von der ewigen Wiederkunft aller Dinge - es ist jedesmal für die Menschheit die Stunde des Mittags. (KSA 9, 498) Der Gedanke der ewigen Wiederkehr wird im Bild des „ Mittags “ personifiziert. So im Eintrag „ Sils-Maria, 26. August 1881 “ . Er ist die Keimzelle der späteren Zarathustra-Dichtung. Sein Titel ist „ Mittag und Ewigkeit. Fingerzeige zu einem neuen Leben “ : Zarathustra, geboren am See Urmi, verliess im dreissigsten Jahre seine Heimat, gieng in die Provinz Aria und verfasste in den zehn Jahren seiner Einsamkeit im Gebirge den Zend-Avesta. (KSA 9, 519) Es folgt die Skizze Zum Entwurf einer neuen Art zu leben zu einem auf vier Bücher geplantem Weisheitsbuch. Sie enthält das Bild vom „ Ring der Ewigkeit “ , dem „ Annulus aeternitas “ und endet mit der Ermahnung an sich selbst: 86 <?page no="87"?> Die unablässige Verwandlung - du musst in einem kurzen Zeitraume durch viele Individuen hindurch. Das Mittel ist der unablässige Kampf (KSA 9, 520) Ein solches Verwandlungsgeschehen ist mit einem mystischen Erfahrungskern verbunden. Die Einheit des „ Ich “ ist eine Illusion, das „ Individuum “ nicht mehr als „ ein Blitzlicht auf dem ewigen Flusse “ des Werdens (KSA 9, 502). Gegen den Leib-Seele-Dualismus Platos steht: Die Seelen vergehen ebenso wie die Leiber: Siehe, du stirbst und vergehst jetzt und verschwindest: und da ist Nichts, das von dir als ein „ Du “ übrig bliebe, denn die Seelen sind so sterblich wie die Leiber. Aber dieselbe Gewalt von Ursachen, welche dich dies Mal schuf, wird wiederkehren und wird dich wiederschaffen müssen: du selber, Stäubchen vom Staube, gehörst zu Ursachen, an denen die Wiederkehr aller Dinge hängt. (KSA 11, 11) Den mythischen Gedanken einer ewigen Gegenwärtigkeit bezieht Nietzsche auf eine für die Sterblichen nicht sichtbare Einheit des Seins. In deren Gegenwart ist - wie es bei dem frühgriechischen Denker Parmenides heißt - „ Werden ausgelöscht und verschollen Untergang. “ In einer romantischen Überformung des eleatischen Seinsgedankens ließe sich sagen: Im Kreislauf der sich stets erneuernden Einheit des Seins geht nichts verloren, findet sich alles Getrennte wieder und grüßt sich erneut. Die Schönheit dieses mystischen Gedankens sagt nicht, daß er wahr ist. Für ein naturalistisches Denken, wie es Nietzsche zu der Zeit seiner positivistischen Denkphase vertritt, wäre eine solche „ Mystik “ eine Absurdität. Das Drama Also sprach Zarathustra, in einer musikalischen Orchestrierung von Stimmen komponiert, inszeniert die Verwandlung Zarathustras in den Lehrer der ewigen Wiederkehr. Es feiert seine Befreiung zum „ Ja-Sagen “ . Der Untergehende segnet sich selbst. Höchste Theatralik in einer selbstreferentiellen Rhetorik. Die eigentümlich blaß wirkende Zarathustra-Figur ist als Typus eine Umkehrung des historischen iranischen Religionsstifters Zoroaster im 6. Jahrhundert v. Chr.. Er vertrat in seiner Lehre einen strengen Dualismus zwischen Ahura Mazda, dem Gott der guten Schöpfung und dem Gott der Finsternis, Ahriman. Auf sie bezieht sich eine Stelle aus dem Ecce homo. Nach ihr verkörpert sich in Zarathustra das Problem einer „ Selbstüberwindung der Moral “ : 87 <?page no="88"?> Man hat mich nicht gefragt, man hätte mich fragen sollen, was gerade in meinem Munde, im Munde des ersten Immoralisten, der Name Zarathustra bedeutet: denn was die ungeheure Einzigartigkeit jenes Persers in der Geschichte ausmacht, ist gerade dazu das Gegentheil. Zarathustra hat zuerst im Kampf des Guten und des Bösen das eigentliche Rad im Getriebe der Dinge gesehn, - die Übersetzung der Moral in ’ s Metaphysische, als Kraft, Ursache, Zweck an sich, ist sein Werk. (. . .) Zarathustra schuf diesen verhängnisvollsten Irrthum, die Moral: folglich muss er auch der Erste sein, der ihn erkennt. (. . .) Die Selbstüberwindung der Moral aus Wahrhaftigkeit, die Selbstüberwindung des Moralisten in seinen Gegensatz - in mich - das bedeutet in meinem Munde der Name Zarathustra. (KSA 6, 367) Nietzsche zeichnet sich selbst in der Gestalt eines Weisheitslehrers, den der Name eines persischen Propheten schmückt. An der äußersten Grenze des Zweifels an der Moral stellt er die Frage nach einer neuen Stellung des Daseins in einer „ Zeit ohne Ziel “ . Die Vorrede berichtet, wie Zarathustra mit dreißig Jahren seine Heimat verläßt und ins Gebirge geht, wo er zehn Jahre verweilt. Danach entschließt er sich, seine Höhle zu verlassen und zu den Menschen herabzusteigen. Auf seiner Wanderschaft begegnet er einem alten Einsiedler der noch nichts davon gehört hat, „ dass Gott todt ist “ (KSA 4, 14). Nach seinem Abstieg spricht er zu dem auf dem Marktplatz der Stadt versammelten Volk: „ Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. “ Das Volk bittet Zarathustra um den „ letzten Menschen “ , der ihm „ das Glück “ erfinden soll. Am Ende des ersten Teils, der die Lehre vom Übermenschen enthält, nimmt er Abschied von der Stadt und seinen Jüngern. Als sein Vermächtnis hinterläßt er den Aufruf: Todt sind alle Götter: nun wollen wir, dass der Übermensch lebe. “ - diess sei einst am grossen Mittage unser letzter Wille! - (KSA 4, 102) Im zweiten Teil kehrt Zarathustra nach erneuten Jahren der Einsamkeit zu seinen abtrünnigen Jüngern zurück und wirkt als Lehrer des Lebens auf den glückseligen Inseln. Hier trifft er auf eine Gruppe tanzender Mädchen. Ihnen singt er ein „ Tanzlied “ . Es ist ein Spottlied auf den Geist der Schwere, die Schwermut. Sie verleiht der Leichtigkeit des Liedes einen eigentümlich dunklen Klang nachdem „ die Mädchen fortgegangen waren “ und die Sonne untergegangen ist: 88 <?page no="89"?> Ein Unbekanntes ist um mich und blickt nachdenklich. Was! Du lebst noch, Zarathustra? Warum? Wofür? Wodurch? Wohin? Wo? Wie? Ist es nicht Thorheit, noch zu leben? - Ach, meine Freunde, der Abend ist es, der so aus mir fragt. Vergebt mir meine Traurigkeit! Abend ward es: vergebt mir, dass es Abend ward! (KSA 4, 141) Der dritte Teil beginnt mit Zarathustras einsamster Wanderung ans Meer, um dort ein Schiff zu finden, das ihn an das Festland bringt. Während der Überfahrt erzählt er den Schiffsleuten die Geschichte Vom Gesicht und Räthsel. In ihr verbirgt sich der Gedanke der ewigen Wiederkehr. Im Zwiegespräch mit seiner Seele erlebt er Krankheit und Genesung. In der Mittags-Welt Zarathustras erscheint die Welt wie ein „ goldener runder Reif “ in einem Netz aus Licht. Es ist jedoch keine Epiphanie in einem festen Umriß. Sie löst sich im betörenden Singsang der Tiere Zarathustras auf: - Oh Zarathustra, (. . .) Solchen, die denken wie wir, tanzen alle Dinge selber: das kommt und reicht sich die Hand und lacht und flieht - und kommt zurück. (KSA 4, 272) Am Finale des dritten Teils steht der Hymnus auf die Ewigkeit: Die sieben Siegel. Sie enden jeweils mit der Formel: „ Denn ich liebe dich, oh Ewigkeit. “ Die Weisheit Zarathustras, was ist sie anderes als das Geschenk eines Vorbeigangs des Ewigen in der Zeit? Als Gesang ist sie eine „ Vogel-Weisheit “ auf zartesten Füßen: - so aber spricht Vogel-Weisheit: „ Siehe, es giebt kein Oben, kein Unten! Wirf dich umher, hinaus, zurück, du Leichter! Singe! Sprich nicht mehr! - „ sind alle Worte nicht für das Schwere gemacht? Lügen dem Leichten nicht alle Worte! Singe! Sprich nicht mehr! “ - (KSA 4, 291) Im vierten und letzten Teil von Also sprach Zarathustra,1885 als Privatdruck erschienen, wird Zarathustra in der Begegnung mit den „ höheren Menschen “ in Versuchung geführt, aus Mitleid von seiner Weisheit abzulassen: dem Mut zum „ Ja-Sagen “ zu allem. Sein dunkler Schatten ist „ der Wahrsager “ der „ grossen Müdigkeit “ . Seine Lehre ist die Verkündigung einer nutzlosen Passion des Daseins und des großen Ekels an ihr: „ Alles ist gleich, es lohnt sich Nichts, Welt ist 89 <?page no="90"?> ohne Sinn, Wissen würgt “ (KSA 4, 300). Höchste ästhetische Form in der Sprache der Spätromantik erreicht sie in der Philosophie Schopenhauers, in der Lyrik Leopardis, in der Parsifal-Musik Richard Wagners. Ihr letzter Abglanz ist eine säkularisierte „ bürgerliche Kunstreligiosität “ (Hans Mayer). Nach dem Tode Gottes suchen die am „ Sinn “ des Lebens Verzweifelten - „ Der Gewissenhafte des Geistes “ , der „ Zauberer “ , der Papst außer Dienst - Halt bei Zarathustra. Dieser setzt sich lachend die „ Rosenkranz-Krone “ auf, ein Gegenspiel zu der „ Dornenkrone “ des leidenden Messias Jesus. Mit dieser Geste der Bejahung verleiht Zarathustra der Erde Segen und Sinn. Am Ende ist für ihn, dessen Haar weiß geworden ist, erneut die Stunde des Aufbruchs gekommen. Die „ höheren Menschen “ sind geflohen. Die Stunde des spätromantischen Künstlertums, deren tiefe Lebensmüdigkeit „ der Zauberer “ (Richard Wagner) repräsentiert, ist zu Ende. Statt ihrer sind Zarathustras „ Kinder “ nahe. Im Zeichen ihrer Ankunft begegnet er sich selbst. Sie kommen ihm in einer verwandelten Gestalt seiner selbst entgegen: eine Vision der Ankündigung des „ grossen Mittags “ im Zauber von Verwandlung und Verjüngung. Der Schlußsatz des vierten Teils ist in der symphonischen Dichtung des Zarathustra von einem musikalischen Grundton getragen. Er wirkt wie eine Ouvertüre. Wollte man sie in Sprache übersetzen, könnte man von dem Triumph einer Auferstehung über Gräber sprechen: Also sprach Zarathustra und verliess seine Höhle, glühend und stark, wie eine Morgensonne, die aus dunklen Bergen kommt. (KSA 4, 408) Nietzsche hat in verschiedenen Phasen seines Denkens seine Zarathustra-Dichtung auffallend unterschiedlich bewertet. Im letzten Absatz seiner Vorrede zur Genealogie der Moral bindet er ihr Verstehen an ästhetische „ Entzückungen “ : Was zum Beispiel meinen „ Zarathustra “ anbetrifft, so lasse ich Niemanden als dessen Kenner gelten, den nicht jedes seiner Worte irgendwann einmal tief verwundet und irgendwann einmal tief entzückt hat: erst dann nämlich darf er das Vorrecht geniessen, an dem halkyonischen Element, aus dem jenes Werk geboren ist, an seiner sonnigen Helle, Ferne, Weite (. . .) ehrfürchtig Antheil zu haben. (KSA 5, 255) 90 <?page no="91"?> Das „ halkyonische Element “ in der Zarathustra-Dichtung ist ein Symbol für eine von der Dämonie des Dionysischen gelösten Sphäre seelischer Gestimmtheit. In dem Spiel seliger Trunkenheit verliert alles Schwere seinen melancholischen Ernst und wird leicht. Die Seele gewinnt in ihm ihre Fliegleichtigkeit zurück. Riskante Existenz In Zarathustras Vorrede findet sich der Satz, der für Nietzsches Verständnis des menschlichen Daseins grundlegend ist: Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, - ein Seil über einem Abgrunde. (KSA 4, 16) Für Nietzsche ist der Mensch durch keine feste Struktur determiniert. Die ihn charakterisierende Unbestimmtheit und Offenheit ist höchstes Wagnis, das im Bild des Seiles Ausdruck gewinnt. In seinen Handlungen balanciert das Dasein zwischen einem Sich-auf-dem- Seil-Halten, dem Vortasten zu einem ungewissen Ufer und der Gefahr des beständigen Absturzes. In diesem riskanten Stand seiner grundlosen Freiheit sieht Zarathustra die Größe des Menschen: Was gross ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist. (KSA 4, 16 f.) Diese Selbsttranzendierung gewinnt an Dramatik durch den Gegensatz zwischen der Heiterkeit „ vom Lächeln seiner Götter belebter Meere “ (Albert Camus) und dem Schmerz der Existenz, mit grundlegenden Fragen nach einem transzendenten „ Sinn “ ihres Daseins ohne Antwort leben zu müssen. Zarathustras jugendliche Liebe gilt den Menschen, die als Künstler immer „ auf dem Seil “ leben. Sie gilt Denen, die sich Sicherheiten verweigern, weil ihre Seelen in ständigen Verwandlungen sich für ein ungewisses „ Morgen “ opfern. Sie gilt Denen, deren Sehnsucht einem Namenlosen gilt, auf das der hohe Himmel und die Endlosigkeit des Meeres sprachlos deuten. Sie gilt den „ Erotikern “ , die gleich Kerzen an beiden Enden brennen; die sich selbstvergessen, gleich der Sonne, 91 <?page no="92"?> in ihrem Reichtum verschwenden und leichten Herzens über die Brücke gehen: Ich liebe Die, welche nicht zu leben wissen, es sei denn als Untergehende, denn es sind die Hinübergehenden. Ich liebe die grossen Verachtenden, weil sie die grossen Verehrenden sind und Pfeile der Sehnsucht nach dem anderen Ufer. (. . .) Ich liebe Den, dessen Seele sich verschwendet, der nicht Dank haben will und nicht zurückgiebt: denn er schenkt immer und will sich nicht bewahren. (. . .) Ich liebe Den, dessen Seele tief ist auch in der Verwundung, und der an einem kleinen Erlebnisse zu Grunde gehen kann: so geht er gerne über die Brücke. Ich liebe Den, dessen Seele übervoll ist, so dass er sich selber vergisst, und alle Dinge in ihm sind: so werden alle Dinge sein Untergang. Ich liebe alle Die, welche wie schwere Tropfen sind, einzeln fallend aus der dunklen Wolke, die über den Menschen hängt: sie verkündigen, dass der Blitz kommt, und gehn als Verkündiger zu Grunde. (KSA 4, 17 f.) Mit diesen Liebespreisungen hat Zarathustra dem erotischen Pathos seiner dionysischen Seele ein Denkmal gesetzt. Geschichtlich gesehen, ist „ der Blitz “ aus jener dunklen Wolke ausgeblieben, aus dem der Übermensch geboren werden sollte. Es bleibt bei dem Bekenntnis Zarathustras: „ Des Übermenschen Schönheit kam zu mir als Schatten. Ach, meine Brüder! Was gehen mich noch - die Götter an! -“ (KSA 4, 112) Durchgesetzt hat sich in der Geschichte seine Vision vom letzten Menschen, dessen verkümmerte Seele sich um das technisch erzeugbare „ Glück “ eigener kleinbürgerlichen Daseinsfürsorge bekümmert: „ Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern? “ - so fragt der letzte Mensch und blinzelt. (. . .) „ Wir haben das Glück erfunden “ - sagen die letzten Menschen und blinzeln. (KSA 4, 19) 92 <?page no="93"?> Drei Verwandlungen Die Reden Zarathustras setzen ein mit der Rede Von den drei Verwandlungen: Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes: wie der Geist zum Kameele wird, und zum Löwen das Kameel, und zum Kinde zuletzt der Löwe. (KSA 4, 29) Die Rede von den Verwandlungen des Geistes ist ein Gleichnis für den geschichtlichen Weg des Menschen zwischen Tier und dem Kind von Dionysos und Ariadne, dem Übermenschen. Das Kamel, Symbol für den „ tragsamen Geist “ , steht unter dem mosaischen Gebot „ Du sollst “ . Es ist der Gott des Dekalogs, der dem Menschen seine Gebote autoritär auferlegt und ihre Verletzung mit schweren Strafen belegt. Die religiösen Gebote im Judentum und im Islam, die Mord, Diebstahl, Ehebruch verbieten, finden in der Neuzeit Ausdruck in einer säkularen Vernunftmoral. Sie stützt sich argumentativ auf das für sein Tun verantwortliche Subjekt. Im Unterschied zu dem moralischen Gesetz bei Kant, das sich das Subjekt im Rahmen seiner Selbstbestimmung als Freiheit selbst gibt, ist für Nietzsche jede Sollensmoral ein Gefängnis. Die Forderung, sich dem Willen eines Familiengottes in Demut zu unterwerfen, verhindert jede individuelle Freiheit eines existentiellen Selbstentwurfes. Eine religiöse Offenbarung der Moral, auf deren Tradition in den heiligen Schriften sich Judentum, Christentum und Islam berufen, beläßt den Menschen in einem Kind- Vater-Verhältnis. In ihm als Abhängigkeitsverhältnis sieht Nietzsche wie nach ihm Freud das Paradigma der Unfreiheit. Aus ihr gilt es, sich im Prozeß des Erwachsenwerdens zu befreien. Aus diesem Grund eilt der zum Opfer einer autoritären Moral gewordene Geist in die Wüste seiner Freiheit. In ihr wird er zum Löwen. Mit seinem Ich will, geboren aus dem Emanzipationswillen der Aufklärung, daß kein Gott, sondern der Mensch Werte zu schaffen hat, die der Erhöhung und Stärkung des Lebens dienen, besiegt der Löwe im Kampf den jahrtausende alten Drachen Du sollst. Welches ist der grosse Drache, den der Geist nicht mehr Herr und Gott heissen mag? ‚ Du - sollst ‘ heisst der grosse Drache. Aber der Geist des Löwen sagt ‚ ich will ‘ ./ ‚ Du - sollst ‘ liegt ihm am Wege, goldfunkelnd, ein 93 <?page no="94"?> Schuppenthier, und auf jeder Schuppe glänzt golden ‚ Du sollst! ‘ / Tausendjährige Werthe glänzen an diesen Schuppen, und also spricht der mächtigste aller Drachen ‚ aller Werth der Dinge - der glänzt an mir. ‘ (KSA 4, 30) An die Stelle der alteuropäischen Moral, die von christlichen Tugenden wie Gehorsam, Demut und Unterwerfung zehrt, tritt ein Kampf um neue Werte im Zeichen des Willens zur Macht. Der Löwe, Symbol des freien Geistes, hat durch seinen Sieg über den Drachen sich die Freiheit zu „ neuem “ Schaffen erobert. Er selbst verbleibt im Zirkel einer moralisch motivierten Umwertung alter Werte. Ästhetische Werte zu erfinden, die keinem Zweck unterworfen sind, sondern der lustvollen Steigerung des Genußes an der „ Haut “ der Welt dienen, das liegt nicht in seiner Macht. Da ihm die selige Selbstvergessenheit im Spiel des Schaffens eines neuen Würfelwurfes des Daseins fehlt, muß er in der dritten Verwandlung zum Kind werden: Aber sagt, meine Brüder, was vermag noch das Kind, das auch der Löwe nicht vermochte? Was muss der raubende Löwe auch noch zum Kinde werden? Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-Sagen. Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines heiligen Jasagens: seinen Willen will nun der Geist, seine Welt gewinnt sich der Weltverlorene. (KSA 4, 31) Das Kind, die letzte und höchste Verwandlung des Geistes, gleicht in seiner Unschuld dem „ Weltspiel “ des heraklitischen Kindes. Bei Nietzsche ist es die Imagination des schöpferischen Tuns eines Künstlers. Die Seele des Kindes/ Künstlers ist Magie der Verwandlung, sie ist „ die Seele, der Alles Spiel ist “ (KSA 10, 551). Ihr gelingt, was nie gelingt: Die erlösende Verwandlung alles Schweren in Leichtes. Das zweimal genannte „ heilige Ja-Sagen “ ist als das „ ewige Ja zu allen Dingen “ mit dem Gedanken der ewigen Wiederkunft verbunden, der „ höchsten Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann “ (KSA 6, 335). Das aus sich rollende Rad ist als das „ Welt-Rad “ (An Goethe) Symbol einer ewigen Zeit. In ihrem Kleid ist unser flüchtiges Dasein eingewoben und im Kreis seiner Wiedergeburten vor dem Untergang gerettet. Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. (KSA 4, 272) 94 <?page no="95"?> Zarathustras Rede von den drei Verwandlungen kennzeichnet Nietzsches Philosophie als eine Bewegung, die befreit von der Last des Du sollst zu der Geburt des Ich will führt und zuletzt zu der Wiedergeburt des Ich bin als der „ ersten Bewegung eines ewig wiederkehrenden Daseins “ (Karl Löwith) in dem zweckfreien Spiel des Werdens. Das Lachen des Hirten Während seiner Arbeit an Also sprach Zarathustra im Herbst 1883 notiert Nietzsche zu der ewigen Wiederkehr: NB. Der Gedanke selber wird im dritten Theil nicht ausgesprochen: nur vorbereitet. (KSA 10, 520) Vorbereitet wird er im Kapitel Vom Gesicht und Räthsel. Die Geschichte, die Zarathustra während seiner Meerfahrt den Schiffsleuten erzählt, zeigt starke Züge einer Traumerzählung. In ihr schreitet er „ durch leichenfarbne Dämmerung “ mühsam einen Bergpfad aufwärts. Auf seinen Schultern lastet der „ Geist der Schwere “ . Als eine Figur der Depression, aus der sich Zarathustra nicht befreien kann, nimmt sie die Gestalt eines Zwerges an. Höhnisch träufelt er ihm die „ Blei- Gedanken “ ins Hirn, dass alle Weisheit des Wollens, des Werfens und Sich-Entwerfens von der alles verzehrenden Zeit zunichte gemacht und vergeblich ist. Mit der Last des Umsonst, der Entwertung aller Daseinsanstrengung auf dem Rücken, steigt Zarathustra einen Traumweg empor. Nur sein Mut, sein „ Einsiedler- und Adler-Muth “ (KSA 4, 358) hält ihn aufrecht. Er ist es, der ihn zu der Herausforderung eines Zweikampfes auf Leben und Tod ermutigt: Halt! Zwerg! sprach ich. Ich! Oder du! Ich aber bin der Stärkere von uns Beiden - : du kennst meinen abgründlichen Gedanken nicht! Den - könntest du nicht tragen! (KSA 4, 199) Der Zwerg ist neugierig auf den abgründlichen Gedanken Zarathustras. Er springt von seiner Schulter und gibt den Blick frei auf einen „ Thorweg “ . Sein Name heißt „ Augenblick “ . An ihn knüpft eine zeitphilosophische Überlegung zu dem Gedanken einer zyklischen Zeit an. „ Siehe (. . .) diesen Augenblick! “ , sagt Zarathustra zu dem 95 <?page no="96"?> Zwerg: „ Von diesem Thorwege Augenblick läuft eine lange ewige Gasse rückwärts: hinter uns liegt eine Ewigkeit. “ Dann stellt er in einem Selbstgespräch die entscheidenden Fragen: Muss nicht, was laufen kann von allen Dingen, schon einmal diese Gasse gelaufen sein? (. . .) Und sind nicht solchermaassen fest alle Dinge verknotet, dass dieser Augenblick alle kommenden Dinge nach sich zieht? Also - - sich selber noch? (. . .) Und diese langsame Spinne, die im Mondscheine kriecht, und dieser Mondschein selber, und ich und du im Thorwege, zusammen flüsternd, von ewigen Dingen flüsternd - müssen wir nicht Alle schon dagewesen sein? - und wiederkommen und in jener anderen Gasse laufen, hinaus, vor uns, in dieser langen schaurigen Gasse - müssen wir nicht ewig wiederkommen? (KSA 4, 200) Der in diesem Selbstgespräch herrschende Gedanke, daß sich alles Vergangene und alles Zukünftige am „ Thorweg “ in einer endlosen Schleife von Abschied und Ankunft begegnet, deutet auf eine Traumzeit. Sie zielt auf eine parallel zu der linearen Zeitachse situierte Zeittiefe. In ihr, Sammelbecken der Seelenstoffe, finden sich die Gewesenen und die Künftigen wieder, die in den zeitlichen Dimensionen der Vergangenheit und der Zukunft getrennt erscheinen. Für die mythische Substanz des Gedankens der ewigen Wiederkunft - sie erinnert an Hölderlins mythisch-dichterische Vision des Totenreiches - zeugen unsere Träume. In ihnen begegnen uns die Toten „ real “ . Gegen Ende seines fragenden Selbstgespräches spricht Zarathustra „ immer leiser “ ; die Vorstellung vom Kreislauf aller Dinge weckt die Furcht vor den „ eigenen Gedanken und Hintergedanken “ (KSA 4, 201). Plötzlich hört er einen Hund heulen. Das Heulen des Hundes weckt die Erinnerung an das Trauma von Nietzsches Kindheit: Hörte ich jemals einen Hund so heulen? Mein Gedanke lief zurück. Ja! Als ich Kind war, in fernster Kindheit: - da hörte ich einen Hund so heulen. Und sah ihn auch, gesträubt, den Kopf nach Oben, zitternd, in stillster Mitternacht, wo auch Hunde an Gespenster glauben (. . .) (KSA 4, 201) Was es mit „ Mitternacht “ , wenn die Toten erwachen und als „ Gespenster “ die Lebenden heimsuchen, auf sich hat, verrät eine auto- 96 <?page no="97"?> biographische Aufzeichnung des vierzehnjährigen Nietzsche. Sie berichtet von einem Traum, in welchem sein Vater, der Pastor Carl Ludwig Nietzsche, „ im Sterbekleide “ einem Grab entsteigt und in die Kirche eilt. Bei seiner Rückkehr hält er in seinen Armen ein kleines Kind, es ist Nietzsches kleiner Bruder Joseph. Er steigt mit dem Kind wieder in das Grab. Der Traum ist zu Ende. Aber: „ Den Tag nach dieser Nacht wird plötzlich Josephchen unwohl, bekommt die Krämpfe und stirbt in wenigen Stunden. Unser Schmerz war ungeheuer. Mein Traum war vollständig in Erfüllung gegangen. Die kleine Leiche wurde auch noch in die Arme des Vaters gelegt. - “ Eine literarisch verschlüsselte Wiederkehr dieses Traumes, dem aus psychoanalytischer Perspektive ein latenter Wunschtraum des jungen Nietzsche seinen jüngeren Bruder Carl Ludwig Joseph betreffend zu Grunde liegt, ist der Grabtraum Zarathustras (KSA 4, 173 ff.) Er zeigt stark manieristische Züge: das Zerbersten des Sarges und die Fratzen von Kindern, Engeln, Eulen, Narren und kindergroßen Schmetterlingen. Die Wiederkehr des kleinen Bruders ist ambivalent besetzt: Einerseits von „ Wunsch und Abwehr zugleich “ (Anke Bennholdt-Thomsen) begleitet, andererseits die Befreiung von einem Schuldgefühl, das durch heimliche Todeswünsche gegenüber dem Bruder verursacht ist. Wenn Zarathustra sich vor seinen „ Gedanken und Hintergedanken “ fürchtet, was liegt vor dem Hintergrund seiner Traumerfahrung näher, als zu fragen: handelt es sich bei diesen Hintergedanken um die Angst vor der Wiederkehr des toten Vaters, der den zweiten Sohn hinab in sein Grab nimmt? Sicher sind wir nicht, da sie zwischen Traum und Wachen spielt: „ Träumte ich denn? Wachte ich auf? “ (KSA 4, 201) Zwerg und Torweg sind plötzlich verschwunden. Zarathustra steht „ mit einem Male “ allein zwischen wilden Klippen „ im ödesten Mondscheine “ . Vor seinen Augen sieht er einen jungen Hirten liegen, dem hängt eine „ schwarze schwere Schlange “ aus dem Mund. (Man denkt unwillkürlich an ein Bild von Böcklin.) Das Sich-Ringeln der Schlange symbolisiert Nietzsches abgründlichen Gedanken der ewigen Wiederkunft. Die schwarze Schlange ist Symbol für die würgende Schwere des Gedankens. Auf Zarathustras Schrei hin beißt der Hirte ihr den Kopf ab, speit ihn aus und springt als ein Verwandelter auf: 97 <?page no="98"?> Nicht mehr Hirte, nicht mehr Mensch, - ein Verwandelter, ein Umleuchteter, welcher lachte! Niemals noch auf Erden lachte ein Mensch, wie er lachte! Oh, meine Brüder, ich hörte ein Lachen, das keines Menschen Lachen war, - - und nun frisst ein Durst an mir, eine Sehnsucht, die nimmer stille wird. Meine Sehnsucht nach diesem Lachen frisst an mir: oh wie ertrage ich noch zu leben! Und wie ertrüge ich ’ s jetzt zu sterben! - (KSA 4, 202) Das Traumgesicht vom Hirten ist ein schaurig-schönes Bild. Der oralaggressive Akt des Kopf-Abbeißens deutet in entstellter Weise auf ein Überwindungsgeschehen: das Heraufrufen des abgründlichen Gedankens der ewigen Wiederkehr, das in einem nicht mehr menschlichen Lachen die große Befreiung von allem Lastenden feiert. Der aus vergifteten platonischen Quellen des Eros - der Sehnsucht nach Unsterblichkeit - gespeiste „ Durst “ Zarathustras nach dem Lachen des Hirten ist als brennendes Begehrens der ewige Aufschub seiner Stillung. Es ist der Durst des Tantalos. Von ihm erlöst wäre er erst, wenn er im Olymp der Götter Aufnahme fände, denen die Komik alles irdischen Treibens Anlaß für ihr ewiges Gelächter ist. An dieses Gelächter erinnert eine Parodie des Atheisten Zarathustra, die Götter hätten sich „ zu Tode gelacht “ , „ als das gottloseste Wort von einem Gotte selber ausgieng, - das Wort: „ Es ist Ein Gott! Du sollst keinen andern Gott haben neben mir! “ - (KSA 4, 230) Die Klage Zarathustras muß ernst genommen werden, wenn er gesteht, nach dem übermenschlichen Lachen des Hirten süchtig zu sein, obschon er im Traumgesicht der Hirte ist, dem alles Schwere in den Schlund gekrochen ist. Der Schatten, den die schwere schwarze Schlange symbolisiert, ist in dem visionären Bild vom Hirten überwunden. Er hat die dunkle nicht transparente Schatten-Gestalt des Gedankens der ewigen Wiederkehr siegreich integriert. Das Bild dieses strahlenden Sieges steht als die Vision Zarathustras vor uns und verblaßt. Statt ihrer steht das „ Es war “ , geschrieben mit rabenschwarzer Tinte. Ihm gegenüber vermag der Wille nichts. An ihm erfährt er seine Ohnmacht. „ Erlösung “ in der Zeit ist unmöglich. Die Verluste, die in ihr ein Menschenleben zu erdulden hat, sind nicht gutzumachen. Die Einsicht in das in ihm Vernichtete und Unwieder- 98 <?page no="99"?> bringliche läßt verstehen, warum Juden und Christen ihre Hoffnung auf die Ankunft einer messianischen Zeit setzen. Der Zeitphilosophie Nietzsches - sie blieb unausgearbeitet - scheint nicht gelungen zu sein, das Ausbleiben dieser eschatologischen Parusie zu kompensieren. Zuvor vermochten weder der Terminus „ Erinnerung “ bei Hegel als Er-innern noch Hölderlins „ Andenken “ als Treue die Wunden zu heilen, welche die alles verzehrende Zeit schlägt. Die folgenden Zeilen thematisieren die Ohnmacht des Sisyphos: Dass die Zeit nicht zurückläuft, das ist sein (des Willens - W. R.) Ingrimm; ‚ Das, was war ‘ - so heisst der Stein, den er nicht wälzen kann (. . .) Diess, ja diess allein ist Rache selber: des Willens Widerwillen gegen die Zeit und ihr ‚ Es war. ‘ (. . .) Und nun wälzt sich Wolke auf Wolke über den Geist: bis endlich der Wahnsinn predigte: ‚ Alles vergeht, darum ist Alles werth zu vergehn! ‘ (. . .) Alles ‚ Es war ‘ ist ein Bruchstück, ein Räthsel, ein grauser Zufall - bis der schaffende Wille dazu sagt: ‚ aber so wollte ich es! ‘ (. . .) Höheres als alle Versöhnung muss der Wille wollen, welcher der Wille zur Macht ist - : doch wie geschieht ihm das? Wer lehrte ihn auch noch das Zurückwollen? (KSA 4, 180 f.) Alles Wollen und Zurückwollen bringt das im Wellengang der Zeit Verlorene nicht zurück. Jenseits des Gesangs verbleibt Eurydike im Hades. Orpheus wird von den Mänaden des Dionysos zerrissen. Die von Nietzsche gewollte und im amor fati besiegelte Wiederkehr des hinter dem Horizont der Zeit Verschwundenen, mag sie in einer Traumzeit Realität beanspruchen, scheitert an dem Nevermore des Raben in Edgar Allan Poes gleichnamigem Gedicht. Das unmenschliche Lachen des Hirten, das Nietzsche in dem Kapitel Vom Gesicht und Räthsel halluziniert und das bis in Tiefen seiner heimlichsten Träume forthallt, schreibt sich in den Textkörper Also sprach Zarathustra als eine untilgbare Spur ein. Es ist dionysische Trunkenheit. Über sie hat Cesare Pavese in den Gesprächen mit Leuko gesagt, daß sie „ das Leben und den Tod mit sich fortreißt und uns über das Menschliche hinaushebt. “ Sie verstärkt, sobald der Rausch verflogen ist, den brennenden Schmerz eines ewigen Mangels, der schon bei Plato die Lage des Menschen bestimmt. In der erotischen Erschütterung der Seele wie in der Leidenschaft des philosophischen Fragens, so Plato, bricht ein Verlangen auf, das „ im Endlichen “ nie 99 <?page no="100"?> gestillt werden kann. Das Lachen des Hirten ist die Wunde, an der sich jene Liebe Zarathustras zu einer Ewigkeit entzündet, die nie Erfüllung findet. Giorgio Manganellis Amore (1981) fasst die tödliche Differenz in ihr in die Worte: „ Liebe . . . Du fehlst mir, Du fehlst mir sehr. Weißt Du nun, daß dies die Beschreibung unserer Liebe ist - daß ich nie bin, wo Du bist, und Du nie bist, wo ich bin? “ Nietzsches Gedanke der ewigen Wiederkehr, der in Also sprach Zarathustra nur vorbereitend eingeführt wird, schließt die Differenz zwischen einer linear chronologischen Zeit und ihrer zyklischen Kreisform ein. Letztere betont der Zwerg als Negativität: „ die Zeit selber ist ein Kreis. “ (KSA 4, 200) Zarathustra transzendiert diese Differenz, indem er auf eine Zeittiefe zielt, in der sich die Zeitformen auf eine ewige Dauer hin ineinander biegen lassen. In ihr „ leben “ die Toten, die in unseren Träumen wiederkehren. Nach dem Zeugnis von Lou Salomé, Nietzsches vertrautester Freundin, hatte der Gedanke der ewigen Wiederkehr für ihn „ etwas Grauenvolles “ . In ihrem Erinnerungsbuch Friedrich Nietzsche in seinen Werken (1894) schreibt sie: „ Unvergeßlich sind mir die Stunden, in denen er ihn (den Gedanken der ewigen Wiederkehr - W. R.) mir zuerst, als ein Geheimnis, als Etwas, vor dessen Bewahrheitung und Bestätigung ihm unsagbar graue, anvertraut hat: nur mit leiser Stimme und mit allen Zeichen des tiefsten Entsetzens sprach er davon. “ 1 Für Zarathustra ist die Rede des Dämons, daß die „ ewige Sanduhr des Daseins “ immer erneut umgedreht wird, die Rede eines „ Gottes “ . An sie kann man glauben oder nicht. Als eine Lehre ist sie ein Mißverständnis, da sie auf keiner „ Theorie “ fußt, sondern auf einem mystischen Augenblick, in dem die nicht umkehrbare Eingleisigkeit der Zeit aufgehoben ist. Auf ihn hat der italienische Philosoph Giorgio Colli in seinem „ Nachwort “ zu Also sprach Zarathustra hingewiesen (KSA 4, 416). Im Kapitel Der Genesende singen Zarathustras Tiere ihm ein „ Leier- Lied “ . Es ist ein schwebender Gesang, ein Hymnus auf den Zauberschein des sich drehenden Rades der Zeit: Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins. 100 <?page no="101"?> Alles bricht, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, Alles grüsst sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. (KSA 4, 272 f.) Das Mysterium der Natur, der Kreislauf von Wandlung und Verwandlung, von dem die Tiere Zarathustras, Schlange und Adler, singen, nicht aber Zarathustra selbst, provoziert unterschiedliche Deutungen. Man kann in dem Lied der Tiere das Zentrum von Nietzsches Philosophie sehen: Seine unzeitgemäße, weil Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit überwindende Lehre von der Zeit und vom Sein als Figuren des Werdens. Philosophisch berührt sie sich mit Heraklits Lehre vom „ großen Jahr “ , nach dessen Ablauf alles, was gewesen ist, wiederkehrt. Das In-sich-Kreisen des Gesangs „ Alles geht, Alles kommt zurück “ erinnert musikalisch an Richard Wagners Ring-Kompositionen, literarisch an Hölderlins „ Alles Getrennte findet sich wieder “ im Hyperion. Es ist Ausdruck für eine schwermütige Schönheit im monotonen Lied des Lebens. Inhaltlich bleiben die Refrains des „ Leier-Liedes “ als „ Gänge im Kreis “ (Henning Ottmann) leer. Es ist, als ob man bei ihnen das eintönige Rauschen von Meereswellen hört. Es betäubt mehr, als daß es den Menschen in dem Verstehen seines Daseins verwandelt. Epikurs Lehre, daß uns der Tod nichts angeht, da es bei seinem Eintritt uns selbst nicht mehr gibt, ist für Nietzsche die große Befreiung von der Furcht vor einem Gericht im Jenseits und eine wohltuende Negation der Unsterblichkeit der Seele. Er vertritt vehement den Standpunkt der antiken Lehre (Epikur/ Lukrez), daß die aus Atomen gebildete Seele im Tod untergeht. „ (. . .) im Nu bin ich ein Nichts. Die Seelen sind so sterblich wie die Leiber “ , singen die Tiere Zarathustras im Kapitel Der Genesende. Aus dem Sommer 1875 stammt eine längere Aufzeichnung, die sich mit dem Tod auseinandersetzt. Sie stellt im Tonfall Schopenhauers die Frage, ob das Nichtsein in der „ Festlichkeit der Natur “ (Karl Kerényi) Träger des Lebens sein kann und läßt den Wiederkunftsgedanken des Sommers 1881 anklingen. Da das Subjekt vernichtet wird, so haben wir vom Tode nichts zu hoffen, nichts zu fürchten. Aber was kommt auch auf dieses Selbst an! Wir wissen sicher, daß gelebt und gelitten werden wird; wer ist es denn eigentlich, der von jenem Leben und Leiden betroffen wird? Ist es ein absolutes Nichts, dem die Überraschung bevorsteht, Träger des Daseins 101 <?page no="102"?> zu werden? Dann dürfen wir für dies Nichts eine Theilnahme haben, wir sind ja jenes Nichts, an welches die Anwartschaft auf zukünftiges Leben verbunden ist. Was uns bereits begegnet ist zu leben wird uns wieder begegnen (dies „ uns “ im Sinne eines ganz unbestimmten Subjekts). (KSA 8, 162) Gibt es nach dem Tod keine Auferstehung und kein Jenseits als einem „ Ort “ der Seelen, was treibt Nietzsche zu dem Gedanken einer „ ewigen Wiederkunft “ ? Es ist, so meine These, der „ Durst “ nach Verewigung, der ihn am Mittag seines Lebens entgegen aller Gedanken an Selbstmord daran hindert, die Tatsache seiner Vernichtung durch den Tod zu akzeptieren. Seine heimlichen Zweifel an seinem abgründlichen „ Gedanken “ spiegeln die literarische Fiktionen in der Zarathustra-Dichtung. Nicht Zarathustra, sondern der Zuspruch der Tiere verkündet ihm die Wiederkehr seines Lebens und seine Aufgabe, „ der Lehrer der ewigen Wiederkunft “ (KSA 4, 275) zu sein. Aber der Knoten von Ursachen kehrt wieder, in den ich verschlungen bin, - der wird mich wieder schaffen! Ich selber gehöre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft. Ich komme wieder, mit dieser Sonne, mit dieser Erde, mit diesem Adler, mit dieser Schlange - nicht zu einem neuen Leben oder besseren Leben oder ähnlichen Leben: - ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben, im Grössten und auch im Kleinsten, dass ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre, - - dass ich wieder das Wort spreche vom grossen Erden- und Menschen-Mittage, dass ich wieder den Menschen den Übermenschen künde. Ich sprach mein Wort, ich zerbreche an meinem Wort: so will es mein ewiges Loos - , als Verkündiger gehe ich zu Grunde! Die Stunde kam nun, dass der Untergehende sich selber segnet. Also - endet Zarathustras Untergang. “ - - (KSA 4, 276 f.) Dieser Schwanengesang läßt in dem Wiederkunftsgedanken weniger eine Lehre erkennen als vielmehr die strahlende Selbstapotheose des Lehrers Zarathustra in einer unchristlichen Variante der Wiedergeburt. Der Untergang Zarathustras ist eine Verklärung seines Todes und als solche die Bedingung des Aufgangs seiner Sonne. Man sollte bei der Lektüre von Also sprach Zarathustra nie die Tragik vergessen, daß Nietzsches Leben bereits vor dem Sommer 1881 zerbrochen war. Die Basler Professur gescheitert, die liebend-ver- 102 <?page no="103"?> ehrende Beziehung zu Richard Wagner gleichfalls, ständige Krankheiten mit fürchterlichen Anfällen von Erbrechen, die ihn nach dem Ende dürsten lassen. Schon in den Reden des letzten Philosophen mit sich selbst aus dem Sommer 1872 spricht er in der Maske des Ödipus auf leeren Bühne mit einem anderen seiner selbst, seiner eigenen Stimme, in der „ sein Tod widerhallt “ (Philippe Lacoue-Labarte). Höre ich dich noch, meine Stimme? Du flüsterst, indem du fluchst? Und doch sollte dein Fluch die Eingeweide dieser Welt zerbersten machen! Aber sie lebt noch und schaut mich nur noch glänzender und kälter mit ihren mitleidlosen Sternen an, sie lebt, so dumm und blind wie je vorher, und nur Eines stirbt - der Mensch. - Und doch! Ich höre dich noch, geliebte Stimme! Es stirbt noch Einer außer mir, dem letzten Menschen, in diesem Weltall: der letzte Seufzer, dein Seufzer, stirbt mit mir, das hingezogene Wehe! Wehe! geseufzt um mich, der Wehemenschen letzten, Oedipus. (KSA 7, 461) Wie soll dieser Agonie eine Auferstehung in einer ewigen Wiederkehr geschenkt werden? Am Ende des Kapitels „ Von der Seligkeit wider Willen “ aus Also sprach Zarathustra steht die schwermütige Klage: Da naht schon der Abend: die Sonne sinkt. Dahin - mein Glück! - (KSA 4, 206) Das Erleben am See von Silvaplana, Augenblick einer „ unendlichen Lichtfülle und Glückstiefe “ (Bruno Hillebrand), war durch keinen theoretischen Beweis, nur durch seine Wirkung zu retten. In dem gefährlichen Experiment des Nachdenkens über den eigenen Tod kommt alles darauf an, sich den Gedanken der ewigen Wiederkunft „ einzuverleiben “ . Wie der Hirte sich den Kopf der schwarzen Schlange, das Grauen vor der ewigen Wiederkehr der Sinnlosigkeit, oral einverleibt und ausspeit, um als ein göttlich Verwandelter aufzuerstehen, so soll Zarathustra seinem flüchtigen Leben das Mysterium der Verwandlung zu einem Ja seiner ewigen Wiederkunft mittels der Einverleibung einer unsagbaren Erfahrung ermöglichen, die außerhalb der Zeit selbst liegt. Sie verbindet sich für den Tänzer Zarathustra mit dem Augenblick eines mystischen „ Jetzt “ : Jetzt bin ich leicht, jetzt fliege ich, jetzt sehe ich mich unter mir, jetzt tanzt ein Gott durch mich. (KSA 4, 50) 103 <?page no="104"?> Der Gedanke einer ewigen Wiederkehr ist den Christen ein Ärgernis, den Anhängern einer materialistischen Philosophie eine Absurdität. Den meisten Zeitgenossen, sofern sie überhaupt von ihm erfuhren, war er ein Beweis mehr, daß Nietzsche „ in der Welt seiner Gesichte “ (Overbeck) wohl so etwas wie „ verrückt “ geworden sei. Dem eigenen Empfinden bleibt der Gedanke einer ewigen Wiederkehr des persönlichen Lebens fremd. Der christliche Schriftsteller Sören Kierkegaard hat in seiner Schrift Der Begriff Angst (1844) am griechischen Verständnis des Todes dessen stumme Vernichtungsarbeit hervorgehoben. In ihr verläuft sich „ das Größte wie das Kleinste “ wie „ die Schulkinder, und zuletzt die Seele selbst als Schulmeister. “ In seinem Aufsatz Vergänglichkeit (1915) sieht Sigmund Freud in der „ Ewigkeitsforderung “ das Resultat „ unseres Wunschlebens “ , das keinen Anspruch auf einen „ Realitätswert “ erheben kann. Nietzsches ewiger Wiederkunfts-Gedanke ist eine Rebellion gegen das Recht der Zeit, das von jedem Menschen seinen Tod fordert. Er ist Verleugnung der Erkenntnis, daß der Übergang vom Sein zum Nichts definitiv ist. Aphorismus 278 Der Gedanke an den Tod aus der Fröhlichen Wissenschaft sieht den Tod als gierigen „ Ozean “ , der ungeduldig auf jedes Einzelleben wartet. Er ist sich seiner Beute sicher. In seinem „ öden Schweigen “ wird unser unbedeutendes Schicksal für immer versinken, unsere Namen werden vergessen sein. Das sind depressive Bilder. Die Schlußzeilen der kleinen Todesmeditation sind entscheidend. Sie richten sich provokativ gegen ein philosophisches Sterbe- Pathos und das christliche „ memento mori “ : Es macht mich glücklich, zu sehen, dass die Menschen den Gedanken an den Tod durchaus nicht denken wollen! Ich möchte gern Etwas dazu thun, ihnen den Gedanken an das Leben noch hundertmal denkenswerther zu machen. (KSA 3, 523) Erst spät, in dem Dionysos-Dithyrambus Die Sonne sinkt, wird der Tod, der Übergang ins Nichtsein, als „ güldene Heiterkeit “ gefeiert. Zuvor wird die Auslöschung des Gewesenen im Augenblick des Todes, das Verblassen der psyche (Totenseele) durch die Berufung auf die Vorsokratik (Heraklit) un den Mysterienkult von Eleusis verdrängt. In der Vision seines abgründlichen Gedankens bleibt alles Getrennte und in Trennungen Verwandelte in einer „ ewigen Zeit “ , erhalten. 104 <?page no="105"?> Bei der Würdigung des Gedankens, der nicht wie eine Religion gelehrt werden kann, ist aus historischer Sicht anzumerken, daß Nietzsche mit seiner Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen eine griechische Ansicht der Welt wiederholt, die ihm als klassischen Philologen bekannt war. „ Auf Grund der veränderten geschichtlichen Situation hat sich jedoch diese uralte Idee in Nietzsche verhängnisvoll modernisiert. (. . .) Für die Griechen offenbarte die sichtbare Kreisbewegung der himmlischen Sphären einen kosmischen Logos (. . .); für Nietzsche ist die ewige Wiederkunft des Gleichen der „ schrecklichste “ aller Gedanken und das „ größte Schwergewicht “ , weil er im Widerspruch zu seinem Willen zu einer künftigen Erlösung ist. “ 2 Das Gesicht der ewigen Wiederkunft zeigt mythische Züge. Unter dem starren Blick dieser Schicksalsgöttin entrinnt das Individuum nie dem Kreis seiner Wiedergeburten. Immer erneut hat es dieselben Korridore und Flure zu durchschreiten, trifft es die gleiche Frau/ Mann, in die (den) es sich verliebt und die (den) es verliert, um ihr (ihm) erneut zu begegnen. 3 Immer wieder entscheidet der gleiche Würfelwurf des Schicksals über die Wege des Daseins im zyklischen Jahr der Seele. Das Schicksal der Großeltern wiederholt sich in den Enkeln. Das Zwanghafte an dieser, jeden Gedanken an Freiheit lähmenden Vorstellung wirkt auf den Einzelnen so destruierend, daß ihm seine Annahme unmöglich wird. Wie die kosmische Formel von der ewigen Wiederkehr und die personale Entscheidung eines „ Ja “ -Sagens zu dem Wiederkehr-Gedanken zueinander passen, bleibt ein unlösbares Problem. Angesichts dieses Gegensatzes läßt sich die Hypothese formulieren, daß Nietzsche mit seinem Gedanken der ewigen Wiederkehr den christlichen Glauben an ein ewiges Leben durch die Ewigkeit des einen Lebens ersetzen wollte. Seine Einverleibung verändert radikal die Stellung zum Dasein noch in ihren kleinsten Einzelheiten. Das revolutionäre Potential des Wiederkunftsgedankens unterstreicht sein Brief vom 8. März 1884 an Franz Overbeck: Ich weiß nicht, wie ich gerade dazu komme - aber es ist möglich, daß mir zum ersten Male der Gedanke gekommen ist, der die Geschichte der Menschheit in zwei Hälften spaltet. Dieser Zarathustra ist nichts als eine Vorrede, Vorhalle - ich habe mir selber Muth machen müssen, da mir von überall her nur die Entmuthigung kam: Muth zum Tragen jenes Gedankens! Denn ich bin noch weit davon entfernt, ihn aussprechen und 105 <?page no="106"?> darstellen zu können. Ist er wahr oder vielmehr: wird er als wahr geglaubt - so ändert und dreht sich Alles, und alle bisherigen Werthe sind entwerthet. - (KSB 6, 485) Also sprach Zarathustra ist im Werk Nietzsches eine Stufe zu seiner tragischen Philosophie im Zeichen des Dionysos. Ahnt man, welche traumatischen Erfahrungen hinter den Antinomien dieser Dichtung stehen, deren Denkfiguren sich in kein logisches „ System “ transformieren lassen, kann man mit Zarathustra über ihren Autor sagen: Ich liebe Den, dessen Seele tief ist auch in der Verwundung, und der an einem kleinen Erlebnisse zu Grunde gehen kann: so geht er gerne über die Brücke. (KSA 4, 18) Fassen wir die grundlegenden Bildmotive in Also sprach Zarathustra für den Wiederkunftsgedanken zusammen, so sind sie: die geringelte Schlange als Zeichen der Ewigkeit; der Mittag als die Stunde einer höchsten Entscheidung und des Willens zu eigenem Schicksal (amor fati); Dionysos als Mythos des unzerstörbaren Lebens ist Symbol für eine Einigung „ der zeugenden und zerstörenden Kraft “ des Werdens in der Tiefe der Zeit. Im Reich des Dionysos Die an Perspektiven von Raum und Zeit gebundene Organisation unseres Erlebens von Weltgehalten, blockiert die Wahrnehmung einer Tiefenwirklichkeit, deren Erfahrung jenseits der Grenze unseres Bewußtseins liegt. Eine Aufsprengung dieser „ Organisation “ durch das Pathos der lyrischen Sprache zeigt das Kapitel Mittags aus dem vierten Teil von Also sprach Zarathustra. Es erobert der Seele zartere Fühlorgane für „ das güldene Wunder “ : Die im Homerischen Hymnus An Dionysos und auf der Attischen Trinkschale des Exekias (um 530 v. Chr.) dargestellte Meerfahrt des Gottes, vom Weinstock überschattet und von Delphinen umschwärmt. Im Kapitel Von der grossen Sehnsucht aus dem dritten Teil erwartet die Seele im Zwiegespräch mit sich ihr Nahen. Sie erfleht die Ankunft des „ Winzers “ mit dem „ diamantenen Winzermesser “ , den „ grossen Löser “ , den „ Namenlosen, dem zukünftige Gesänge erst Namen finden! “ (KSA 4, 280). Er 106 <?page no="107"?> soll die Seele Zarathustras von der Last ihrer Überfülle erlösen und ihr durch den Schnitt des Messers, das die Traube erntet, die Seligkeit der Erlösung von der Hinfälligkeit ihrer Individuation schenken. Eröffnet der schwere Glockenschlag um Mitternacht (Das andere Tanzlied) dem in der Stille der Nacht geschärften Gehör die ängstigende Wahrnehmung des Verrinnens der (Lebens)Zeit, so schenkt der „ Mittag “ im vierten Teil von Also sprach Zarathustra die mystische Erfahrung des Innestehens aller Dinge im „ goldenen runden Reif “ der Zeit. Das Fremde einer solchen Erfahrung überfällt Zarathustra auf seiner Wanderung. Seine Seele betritt um die Stunde des Mittags die Sphäre des Dionysos. In ihr sieht sie ein hohes mythisches Bild: Einen alten krummen und knorrichten Baum, „ der von der reichen Liebe eines Weinstocks rings umarmt und vor sich selber verborgen “ ist (KSA 4, 342). Das durch die dürren Jahre des Kummers Gebeugte, ja Verkrüppelte des menschlichen Daseins ( „ der alte Baum “ ) ist von dem herbstlichem Reichtum der dionysischen Seele ( „ der Weinstock “ ) umglänzt und in diesem Glanz „ vor sich selber “ verborgen. Ein wunderbares Gleichnis für die Zwei-Einheit des Lebens. In der Herrschaftssphäre des fremden Gottes, symbolisiert durch „ gelbe Trauben in Fülle “ , schwindet das lästige Bewußtsein. Die Zeit bleibt stehen. Der Eintritt durch die Mittagspforte läßt die Seele in einen „ anderen Zustand “ fallen, einen Schlaf, in dem die vitalen Akte herabgesetzt sind, die Augen der Seele jedoch offen bleiben für das Wunder, an dem sie sich nicht satt sehen können: „ den Baum und die Liebe des Weinstocks “ . In der Stunde des Mittags, über der ein fremdes Licht liegt, kommt die Welt als mythische Erscheinung in das Anwesen ihrer Vollendung. Ihre Beschaffenheit „ drückt das Göttliche nicht aus, sondern ist es “ , wie Cesare Pavese in dem nur wenige Tage vor seinem Suizid verfaßten Aufsatz Der Mythos (1950) schreibt. Der Augenblick dieser Verwandlung ist von vollkommener Schwerelosigkeit. Seelisches Ausdruckselement hierfür ist der wundersame Schlaf Zarathustras. Die Sprachkunst Nietzsches, ihr Melos, schenkt ihm eines ihrer schönsten lyrischen Bilder: Wie ein zierlicher Wind, ungesehn, auf getäfeltem Meere tanzt, leicht, federleicht: - so tanzt der Schlaf auf mir. (KSA 4, 343) 107 <?page no="108"?> Konträr zu dem Aufglänzen einer zeitlosen Vollkommenheit der Welt, betont durch die elliptische Weise ihrer Anrufung - „ Oh des goldenen runden Balls “ - , liegt eine fast unmerklich dunklere Tönung über der schattenlosen Helligkeit dieses Mittags. Sie selbst stammt aus der Sphäre des Dionysos. Im griechischen Mythos ist er nicht nur der Herr der Rebe, er steht auch in einer untergründigen Beziehung zu dem Reich der Persephone, der Göttin der Unterwelt. Als die Tiefe „ des mit dem Tod vermählten Lebens “ (Walter F. Otto) berührt er die Seele seines Jüngers Zarathustra in der Feier ihrer höchsten Stunde mit einem Wink, der ihr vom „ Schlaf “ her ihren Untergang andeutet: „ Kam ihr eines siebenten Tages Abend gerade am Mittage? “ (KSA 4, 343) Zur Stunde des höchsten Standes der Sonne, in deren Traumstille die getrennten Bereiche des oberirdischen Tages und des unterirdisch Nächtlichen ihre Wesenszüge tauschen, zu jener Stunde, „ wo kein Hirt seine Flöte bläst “ und „ heisser Mittag “ auf den Fluren schläft, überfallen Zarathustras Seele fremde Ekstasen. Er fällt „ in den Brunnen der Ewigkeit “ . Die Welt ist vollkommen. Der Mittagsgott trinkt „ einen alten braunen Tropfen goldenen Glücks, goldenen Weins “ (KSA 4,343). Die Farbe dieses „ Glücks “ verleiht der flimmernden Helle des Mittags eine dunklere Tönung, sprachlich intoniert durch Assonanzen und ihren schweren Klang: „ einen alten braunen Tropfen goldenen Glücks. “ Der goldbraune Tropfen der Rebe, die aus der Kelter des Dionysos stammt, verheißt der Seele ein fremdes „ Glück “ : Herausgehoben zu werden aus dem Fluß der Zeit und - von sich nichts mehr wissend - heimgeführt zu werden in den dunklen Grund, aus dem alles Seiende hervorgeht und in den hinein es zurückkehrt. Die Stunde der höchsten Erfüllung der Seele, ihr „ Glück “ ist ein Stich ins Herz: - Was geschah mir: Horch! Flog die Zeit wohl davon? Falle ich nicht? Fiel ich nicht - horch! in den Brunnen der Ewigkeit? (KSA 4, 344) Im Augenblick dieses „ Glückes “ hat sich die „ grosse Sehnsucht “ der Seele nach der Nähe ihres Gottes erfüllt. Oder ist es nicht ganz so? Verbirgt sich hinter ihr nicht ein unerfüllter Wunsch: heimgeholt zu werden in den gestaltlosen Grund? 108 <?page no="109"?> Meerfahrt des Dionysos. Attische Trinkschale von Exekias, um 530 v. Chr. 109 <?page no="110"?> Hört man hinter dem Fall Zarathustras in den „ Brunnen der Ewigkeit “ nicht das Losungswort aus Isoldes Schlußgesang in Richard Wagners Tristan „ ertrinken, versinken - unbewußt - höchste Lust! “ ? Deutet in diese Richtung nicht Zarathustras Frage, die er „ seufzend “ nach seinem Erwachen aus dem wundersamen Schlaf ausspricht: „ - wann, Brunnen der Ewigkeit! du heiterer schauerlicher Mittags- Abgrund! wann trinkst du meine Seele in dich zurück? “ (KSA 4, 345) Nie wieder sind „ Tristan-Akkord “ und „ Mittags “ -Augenblick sich so verwandt gewesen. Das Zeiterleben der „ Ewigkeit “ , die Verwandlung der Welt zu einem „ goldenen Ball “ , wie er in Mittags als eine die Linearität der Zeit durchbrechende Erscheinung der Sphäre des Dionysos sichtbar wird, läßt sich nicht halten. Die mystische Einheit von Zeit und Ewigkeit und das Aufglänzen des „ goldenen runden Reifs “ ist der Seele nur im Blitz eines Augenblicks, gleichsam wie „ im Fluge “ gegenwärtig. Zarathustra, im Erwachen aus dem Reich des Dionysos entlassen, erhebt sich von seinem Lager „ wie aus einer fremden Trunkenheit “ . Der Zauber der Stunde des Mittags ist erloschen, die Welt ist ohne Farben, nur die Sonne steht immer noch im Zenit ihrer Bahn. 110 <?page no="111"?> Die Philosophie des Nachmittags Im Mittelpunkt von Nietzsches spätem Denken steht das Programm einer „ Umwerthung aller Werthe “ und ein Durchdenken des „ Willens zur Macht “ . Seine Umwertungsarbeit setzt sich zum Ziel, Werte nicht an einem Ideenhimmel zu suchen, sondern als ein jeweiliger Ausdruck des „ Sinns des Lebens “ im Leben selbst zu finden. Wille zur Macht ist eins mit der Selbstüberwindung des Lebens. Seine alle Grenzen transzendierende Energie ist Steigerung des Formenreichtum des Lebens in der Geschichte seiner Evolution. Eine erste Definition dieses Willens stammt aus dem Jahr 1883 und findet Eingang in Also sprach Zarathustra: Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; (. . .) Und diess Geheimnis redete das Leben selber zu mir: „ Siehe, sprach es, ich bin das, was sich immer selber überwinden muss. “ (KSA 4, 148) Die Verbindung von Leben und „ Wille zur Macht “ betont Mazzino Montinari: Dieser Wille zur Macht ist kein metaphysisches Prinzip wie der Wille zum Dasein oder Schopenhauers Wille zum Leben, er ‚ manifestiert ‘ sich nicht, sondern ist lediglich ein anderes Wort für das Leben selbst, eine andere Art, Leben zu definieren. Leben ist folglich für Nietzsche das Verhältnis von Stärkeren und Schwächeren, aber vor allem der Wille zur Selbstüberwindung alles Lebendigen, das „ um der Macht willen “ seinen eigenen Untergang in Kauf nimmt. 1 Den Machtgedanken schöpft Nietzsche aus der Antike (Thukydides), ferner hat er ihn an Machtspielen zwischen Menschen studiert. Ihre psychologische Analyse fand er bei den französischen Moralisten. Die Beobachtung des menschlichen Lebens, das Studium der Literatur untermauern seine sich an Schopenhauer anlehnende Grundthese: Der Wille, fundiert in einer Triebschicht der Lust und der Grausamkeit, ist in allen Phänomenen des Lebens das eigentlich Mächtige. In den späten Entwürfen, die eine neue Auslegung der Welt versuchen, ist der Wille zur Macht Prinzip der Interpretation. Das heißt: Er ist der unsichtbare „ Hermeneut “ in allen Akten menschlicher Selbstauslegung unter den Perspektiven von Macht und Lust. 111 <?page no="112"?> Der Mensch als Träger des Willens zur Macht ist Teil der natürlichen Welt, in der dieser Wille als Potenz in Natur und Geschichte herrscht. Auf seiner Wirkmächtigkeit beruht auch die psychosomatische Einheit in der Organisation des Subjekts als „ einer Vielheit von Kräften “ (KSA 11, 461). Die Differenz zwischen den Wänden der äußeren und der inneren Welt ist in ihr ausgelöscht. Dies „ sichert den Zusammenhang aller Erscheinungen in einer diesseitigen Welt, die gerade durch ihre innere Stimmigkeit auf kein Jenseits mehr angewiesen ist. “ 2 In seiner Suche nach Strukturen im Strom des Lebens stößt Nietzsche auf einen Antagonismus in allen Erscheinungen des Lebens. Ihm verdankt sich die Vielheit von Willen zur Macht. Sie ist weder auf ein metaphysisches Prinzip (das Eine) noch auf ein faktisch gegebenes Letztes reduzierbar. Wo sich seine Lehre vom Willen zur Macht als ein polares Spannungsgefüge zeigt, dem eine höchst gesteigerte Dynamik eignet, erinnert sie an die Philosophie Hegels, in der jede Setzung (These) notwendig ihr Gegenteil (Antithese) hervorbringt. Als Überwindungsgeschehen hat die Dynamik der Willen zur Macht aquatischen Charakter. Wenn wir uns in ihrem Wellenspiel verlieren, ahnen wir den Zusammenhang von der Zeit und dem Wasser in den Tiefenzonen der Seele. Ihm ist Nietzsche auf der Spur. Das mythische Bild seiner Weltvision findet sich im Fragment 38(12) aus dem Sommer 1885. In ihm, einem Meerbild, das durch die archaische Wucht seiner Sprache bezaubert, ist die „ dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens “ ein „ Meer in sich selber stürmender und fluthender Kräfte, ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend, mit ungeheuren Jahren der Wiederkehr. . .. “ (KSA 11, 610) Auffallend an diesem Fragment ist seine Nähe zu dem Fragment Die Natur aus Goethes „ Tiefurter Journal “ von 1783. Es sagt über den Zyklus ihrer Schaffensdynamik: Sie schafft ewig neue Gestalten; was da ist war noch nie, was war kommt nicht wieder - Alles ist neu und doch immer das Alte. Die mythopoetische Passage Und wißt ihr auch, was mir „ die Welt “ ist? aus dem Sommer 1885 ist gleichsam die Überschrift für Nietzsches „ neue Welt-Conception “ , die ein spätes Notat aus dem Frühjahr 1888 im Sinne einer Verewigung des Weltbestandes festhält: 112 <?page no="113"?> Die Welt besteht; sie ist nichts, was wird, nichts, was vergeht. Oder vielmehr: sie wird, sie vergeht, aber sie hat nie angefangen zu werden und nie aufgehört zu vergehen - sie erhält sich in Beidem . . . (KSA 13, 374) Der Wille zur Macht ist kein „ sinnhafter Ichwille “ (Walter Schulz), der sich auf Zwecke richtet. In ihm verkörpert sich der triebhafte Grundzug des Prinzips der Selbsterhaltung in dem über alle Widerstände und Verluste triumphierenden Leben. Es kennt den Tod als Leiden nicht, weil es blind sich selber will. Über dieses naturhafte Sich-selber- Wollen hinaus kennt es kein Reich der höheren Zwecke. Daß der Mensch an seinen Tod denkt, ist aus der Perspektive des Willens zur Macht, der immer nur sich selber will, eine Treulosigkeit. Verursacht ist sie durch den Stundenschlag der Zeit, der um Mitternacht den schlaflos liegenden Einzelnen an sein Ende mahnt. Narrativ inszeniert dies Das andere Tanzlied aus dem dritten Teil von Also sprach Zarathustra. In ihm, literarische Überhöhung eines von Nietzsche geplanten Selbstmordes, findet man den Dialog Zarathustras mit dem Leben, einer etwas zweideutigen Dame mit „ Gold “ in ihrem „ Nacht-Auge “ und „ verwirrten gelben thörichten Haarzotteln “ . Darauf blickte das Leben nachdenklich hinter sich und um sich und sagte leise: „ Oh Zarathustra, du bist mir nicht treu genug! Du liebst mich lange nicht so sehr wie du redest; ich weiss, du denkst daran, dass du mich bald verlassen willst. Es giebt eine alte schwere schwere Brumm-Glocke: die brummt Nachts bis zu deiner Höhle hinauf: - - hörst du diese Glocke Mitternachts die Stunde schlagen, so denkst du zwischen Eins und Zwölf daran - - du denkst daran, oh Zarathustra, ich weiss es, dass du mich bald verlassen willst! “ - (KSA 4, 284 f.) Die Dynamik des ewigen Werdens, die als ein ständig sich wandelnder Antagonismus einer Vielzahl von monadologisch strukturierten Kraftzentren Nietzsches dionysische Welt charakterisiert, steigert sich auf der Grundlage einer von ihm skizzierten Philosophie des Organismus. Die Form ist flüssig, der „ Sinn “ ist es aber noch mehr. . . Selbst innerhalb jedes einzelnen Organismus steht es nicht anders: mit jedem wesentlichen Wachsthum des Ganzen verschiebt sich auch der „ Sinn “ der einzelnen Organe, - unter Umständen kann deren theilweises Zu-Grunde-Gehn (. . .) ein Zeichen wachsender Kraft und Vollkommenheit sein. Ich wollte 113 <?page no="114"?> sagen (. . .) der Tod gehört zu den Bedingungen des wirklichen progressus: als welcher immer in Gestalt eines Willens und Wegs zu grösserer Macht erscheint und immer auf Unkosten zahlreicher kleinerer Mächte durchgesetzt wird. (KSA 5, 315) Wille zur Macht ist bei Nietzsche eine semantische Bezeichnung für die Dynamik einer Selbstüberwindung des Lebens im Spiel-Raum der Zeit. Als Gedanke ist er darin Hegels Dialektik verwandt, daß er das in sich bewegte Formenspiel des Lebens als Setzung (These) und Gegensetzung (Antithese) zu denken versucht. In dem ewigen Spiel der Zeit, das die Erscheinungen des Lebens ständig in ein antagonistisches Verhältnis zueinander setzt, wandelt es sich im Horizont von Aufgang und Niedergang. Der Wille zur Macht als Kunst Die schöpferische Selbstproduktivität des Lebens gewinnt ihre höchste Steigerung in der Kunst. Nietzsche, der ein Werk mit dem Titel „ Der Wille zur Macht als Kunst “ plante, sieht in ihr ein Modell für den Willen zur Macht. Der erotische Zug an ihm wird an seiner Dynamik sichtbar. Sie gleicht einem von der Liebe berauschten Künstler in der Verschwendung tropischer Farben, betäubender Klänge, schwerer Parfüms. Ständig alle Dinge transzendierend, verwandelt er sie in die Rhythmen einer südlichen Musik. Die alte Dame Kunst, ihr zweideutiges Lächeln täuscht über die schweigende Sinnleere der Welt hinweg und verführt zum Weiterleben: (. . .) es giebt nur Eine Welt, und diese ist falsch, grausam, widersprüchlich, verführerisch, ohne Sinn . . .Eine so beschaffene Welt ist die wahre Welt . . . Wir haben die Lüge nöthig, um über diese Realität, diese ‚ Wahrheit ‘ zum Sieg zu kommen das heißt, um zu leben . . . Die Metaphysik, die Moral, die Religion, die Wissenschaft - sie werden (. . .) nur als verschiedene Formen der Lüge in Betracht gezogen: mit ihrer Hülfe wird ans Leben geglaubt. „ Das Leben soll Vertrauen einflößen “ : die Aufgabe, so gestellt, ist ungeheuer. Um sie zu lösen, muß der Mensch von Natur schon ein Lügner sein, er muß mehr als alles Andere noch Künstler sein . . . Und er ist es auch: Metaphysik, Moral, Religion, Wissenschaft - Alles nur Ausgeburten seines Willens zur Kunst (. . .) (KSA 13, 193) 114 <?page no="115"?> Der verzweifelte Unterton dieser Passage ist nicht zu überhören. Es bedarf des magischen „ Opernguckers “ einer „ großen Sängerin “ und Unterweltsgöttin, um das Elend des Lebens durch seine Gläser in einem Verklärungsschein aufzulösen. 3 Im Gegensatz zu den geistigen Formen Metaphysik, Moral, Religion, Wissenschaft ist die Kunst für Nietzsche kein Abkömmling eines reaktiven Nihilismus, sondern in ihrem Willen zu „ Welten “ schaffenden Setzungen der jugendliche Sohn eines aktiven Nihilismus. Das in ihr pulsierende Gefühl der Kraft richtet sich auf eine Welt, die frei ist von ontologischen Strukturen, moralischen Kategorien und anthropologischen Garantien. Die Welt, die uns etwas angeht, ist falsch d. h. ist kein Thatbestand, sondern eine Ausdichtung und Rundung über eine magere Summe von Beobachtungen; sie ist „ im Flusse “ , als etwas Werdendes, als eine sich immer neu verschiebende Falschheit, die sich nie der Wahrheit nähert: denn - es giebt keine „ Wahrheit “ . (KSA 12, 114) Der „ Werth der Welt “ ist nicht abschätzbar. Aus diesem Grund muß man neue, die Enge des Bewußtseins erweiternde Interpretationen wagen. Sie beleuchten unbekannte Horizonte und verändern beständig unsere Einschätzung über die Welt, in der wir leben. Es ist ihr Wille zum Schein, der den Künstlern Grade der Illumination einer unbekannten Welt des Werdens schenkt. Ihrem Chaos eine ästhetische Formensprache zu verleihen, ist Aufgabe der Kunst. Von der Tragödie als Erbe angenommen: Den Blutdurst der aus der Tiefe der Erde ans Licht drängenden Dämonen durch den Zauber der poetischen Sprache zu besänftigen, ein sie verpflichtendes Ziel, einhergehend mit der Anerkennung eines Wohnorts des Nächtlichen in der Stadt der Seelen. Eine Bilanz seiner physiologischen Ästhetik zieht ein Notat Nietzsches aus dem Herbst 1887: Daraus ergiebt sich, in ’ s Große gerechnet, daß die Vorliebe für fragwürdige und furchtbare Dinge ein Symptom für Stärke ist: während der Geschmack am Hübschen und Zierlichen den Schwachen, den Delikaten zugehört. Die Lust an der Tragödie kennzeichnet starke Zeitalter und Charaktere (. . .) Es ist ein Zeichen von Wohl- und Machtgefühl, wie viel Einer den Dingen ihren furchtbaren, ihren fragwürdigen Charakter zugestehen darf; und ob er überhaupt „ Lösungen “ am Schluß braucht, - diese Art Künstler-Pessimismus ist genau das Gegenstück zum moralisch-religiösen Pessimismus, welcher an der „ Verderbniß “ des Menschen, am Räthsel des Daseins leidet. (KSA 12, 556) 115 <?page no="116"?> Die Bedeutung dieses Notats, ihr ästhetischer Nihilismus, ist in dem in ihm angesprochenen Gegensatz zwischen „ Künstler-Pessimismus “ und „ moralisch-religiösem Pessimismus “ zu sehen. Das Zugeständnis eines „ furchtbaren Charakters “ selbst lebloser Dinge führt in der Ästhetik der Moderne zu einem revolutionären Bruch in ihrer Darstellung als Objekte. Ihm trägt Nietzsches Ästhetik Rechnung. Die Sprachen der Kunst vermitteln die Repräsentanz einer sprachlosen Gegenständlichkeit von Weltsein, in der der Wein in den Trauben des Dionysos reift. Wie diese Gegenständlichkeit durch die Kunst mit einer Dämonie von Aspekten des Innenlebens aufgeladen wird, macht eine Deutung evident, die der Maler van Gogh seinem Bild Das Café in Arles gegeben hat: Ich versuchte auszudrücken, daß das Café ein Ort ist, wo man verrückt werden und Verbrechen begehen kann. Ich versuchte es durch den Gegensatz vom zarten Rosa, blutroter und dunkelroter Weinfarbe, durch ein süßes Grün und Veronese-Grün, das mit Gelb-Grün und hartem Blau kontrastiert. Dies alles drückt eine Atmosphäre von glühender Unterwelt aus. Ein bleiches Leiden, das über das Schaffende Gewalt hat. 4 „ Jenseits von Gut und Böse “ Es dürfte deutlich geworden sein, daß der Bogen von Nietzsches Denken zu dieser Zeit sich durch die Spannung zweier Pole bestimmt: Eine revolutionäre Konzeption der Ästhetik und eine kritische Reflexion auf die Fälscherwerk der Moral. Ein Grundsatz der 1886 erschienenen Schrift Jenseits von Gut und Böse ist, daß die moralische Ausdeutung von Lebensphänomenen eine Reaktion der um sich bekümmerten Subjektivität auf eine Welt ist, in der eine moralische Weltordnung unauffindbar ist. Nietzsches Kritik an dem Absolutheitsanspruch moralischer Normen stützt sich, wie wir gesehen haben, weitgehend auf die französische Moralistik. Sie vertieft eine philosophische Psychologie aus der Schule Flauberts und Stendhals. Der Strom des Lebens ist gleichgültig gegenüber den Worten „ gut “ / „ böse “ . Als „ Wertwörter “ (Ernst Tugendhat) haben sie eine jeweilige Bedeutungsfunktion in der Semiotik einer Gesellschaft. Weder haben sie ein Sein „ an sich “ noch sind sie die Gebote eines Gottes. Menschen verständigen sich intern über das, was sie im 116 <?page no="117"?> Interesse der Stabilisierung ihrer Lebensgrundlagen für „ gut “ oder „ böse “ halten. Eine solche Verständigung findet Ausdruck in einem Grundbestand an Werten, der in Demokratien einer ihn revidierenden Auslegung unterworfen ist. „ Werthe legte erst der Mensch in die Dinge, sich zu erhalten, - er schuf erst den Dingen Sinn, einen Menschen-Sinn! “ , schreibt Nietzsche in Also sprach Zarathustra ( „ Von tausend und Einem Ziele “ ). Seine Kritik an einem metaphysisch „ Guten “ / „ Bösem “ , orientiert an der Methode der Genealogie, kann sich auf eine subjektivistische Moralphilosophie (David Hume) ebenso berufen wie auf die französischen Moralisten. Der eigentliche Bundesgenosse dieser Kritik ist August Strindberg. In seinem Vorwort zu Fräulein Julie (1888) schreibt er zu der Frage der Fortschrittsgläubigen „ wie dem Bösen beizukommen wäre “ : „ Doch zum einen gibt es nichts absolut Böses, denn wenn eine Familie untergeht, ist ja das ein Glück für eine andere Familie, die dadurch aufsteigen kann, und der Wechsel zwischen Aufstieg und Fall macht eine der schönsten Sachen in einem Leben aus, dessen Glück nur noch im Vergleich liegt. “ Nietzsches Entmächtigung des seiner selbst bewußten „ Ich “ ist für die Ästhetik der Moderne entscheidend. Der Aphorismus 17 aus dem Ersten Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse ist die Urkunde der Entthronung des „ Ich denke “ : Was den Aberglauben der Logiker betrifft: so will ich nicht müde werden, eine kleine kurze Thatsache immer wieder zu unterstreichen, welche von diesen Abergläubischen ungern zugestanden wird, - nämlich, dass ein Gedanke kommt, wenn „ er “ will, und nicht wenn „ ich “ will; so dass es eine Fälschung des Thatbestandes ist, zu sagen: das Subjekt „ ich “ ist die Bedingung des Prädikats „ denke “ . Es denkt: aber dass dies „ es “ gerade jenes alte berühmte „ Ich “ sei, ist, milde geredet, nur eine Annahme (. . .) keine „ unmittelbare Gewissheit “ . Zuletzt ist schon mit diesem „ es denkt “ zu viel gethan: schon dies „ es “ enthält eine Auslegung des Vorgangs und gehört nicht zum Vorgange selbst. Man schliesst hier nach der grammatischen Gewohnheit „ Denken ist eine Thätigkeit, zu jeder Thätigkeit gehört Einer, der thätig ist, folglich -“ . Ungefähr nach dem gleichen Schema suchte die ältere Atomistik zu der „ Kraft “ , die wirkt, noch jenes Klümpchen Materie, worin sie sitzt, aus der heraus sie wirkt, das Atom; strengere Köpfe lernten endlich ohne diesen „ Erdenrest “ auszukommen, und vielleicht gewöhnt man sich eines Tages noch daran, auch seitens der 117 <?page no="118"?> Logiker ohne jenes kleine „ es “ (zu dem sich das ehrliche alte Ich verflüchtet hat) auszukommen. (KSA 5, 30 f.) Das „ Ich “ läßt sich durch keine Akte der Selbstreflexion aufhellen. Als ein Oberflächenphänomen ist es - wie im französischen Nouveau roman (Nathalie Sarraute) - eine fluktuierende Bewegung in einer Tiefenzone, in deren Dunkel das Ich-Bewußtsein einige rasch verlöschende Lichtspuren zieht. Jenseits von Gut und Böse (1884 − 85) thematisiert die verdrängte Einsicht, daß die Grausamkeit, die Lust an einem mit Macht verbundenen Wehetun, ein nie überwundener Trieb im Haushalt der Seele ist. Nietzsche, der seinen Blick auf die Geschichte an Thukydides geschult hat, verbindet seine Analysen der historischen Herausbildung von Prozessen der Vergesellschaftung mit Reflexionen auf die mit ihnen verschränkte psychische Internalisierung von Grausamkeit in hoch technisierten Zivilisationen. Er konstatiert, daß fast alles, was wir „ höhere Cultur “ nennen und worauf wir stolz sind, „ auf der Vergeistigung und Vertiefung der Grausamkeit “ beruht (KSA 5, 166). Wenn Nietzsche den „ Kulturmenschen “ in „ den schrecklichen Grundtext homo natura “ (KSA 5, 169) zurückübersetzt und ihn als das zeigt, was er ist, das nie wirklich gezähmte „ wilde Thier “ , das die Leichen seiner Feinde schändet, bedeutet das für das eitle, moralische Selbstbild des Menschen eine ähnlich tiefe Kränkung wie die Lehre Darwins und die Theorie von der polymorphen Sexualität des Menschen durch die Psychoanalyse Freuds. Den Menschen nämlich zurückzuübersetzen in die Natur, über die vielen eitlen und schwärmerischen Deutungen und Nebensinne Herr werden, welche bisher über jenen ewigen Grundtext homo natura gekritzelt und gemalt wurden; machen, dass der Mensch (. . .) vor der anderen Natur steht, mit unerschrockenen Oedipus-Augen und verklebten Odysseus- Ohren, taub gegen die Lockweisen der alten metaphysischen Vogelfänger, welche ihm allzu lange zugeflüstert haben: „ du bist mehr! du bist höher! du bist anderer Herkunft! - das mag eine seltsame und tolle Aufgabe sein, aber es ist eine Aufgabe - wer wollte das leugnen! (KSA 5, 169) Er zitiert zwei mythische Figuren der Antike, um an ihnen die Ambiguität einer „ Rückübersetzung “ des Menschen in den „ ewigen Grundtext homo natura “ zu verdeutlichen: Ödipus und Odysseus. 118 <?page no="119"?> Bei seiner Deutung des Ödipus nimmt er seine These in der Geburt der Tragödie auf, daß nur durch „ eine ungeheure Naturwidrigkeit “ - Vatermord und Inzest - die Natur gezwungen wird, ihre „ Geheimnisse “ preiszugeben (KSA 1, 66 f.). Sigmund Freud hat sie als die von der Kultur tabuisierten Tötungswünsche der Söhne gegen den Vater und ihre auf die Mutter gerichteten Inzestwünsche gedeutet. Die Figur des Odysseus widersteht der Lockung der Sirenen durch eine List. Sie ermöglicht, den Gesang der Sirenen zu hören, ohne diese Lust mit dem Opfer einer Rückkehr in einen tödlichen Naturgrund zu bezahlen. Nietzsche formuliert die von Homer erzählte Selbstbehauptung des Odysseus gegenüber den Sirenen in den Widerstand gegen die Flötentöne „ metaphysischer Vogelfänger “ um. Er unterstreicht mit ihm die Absage an einen (gnostischen) Dualismus, der unser Leben als einen Sturz in die Staubwelt sieht, die Abirrung von einer jenseitigen Lichtheimat der Seele. Die Aufgabe, von der er redet und die darin besteht, die andere, die fremde Seite der Natur anzuerkennen, haben die dunklen Schriftsteller der Aufklärung - zum Beispiel de Sade - als jene souveräne Gewalt verherrlicht, die im Namen Das Andere der Vernunft die Ordnung der Gesellschaft aufhebt und das Gesetz der Natur zum alleinigen Recht erhebt. In dieser Revolte, die dem Gesang der Sirenen, der mythischen Seelenvögel, von einem ozeanischen Glück Tribut zollt, liegt der Skandal für eine bürgerliche Vernunft, deren Genese unter dem Zeichen der Selbsterhaltung und des Triebverzichtes steht. Angesichts der Gewaltstrukturen in einem von Nietzsche spekulativ rekonstruierten „ Grundtext “ der menschlichen Natur, ist es eine zentrale Frage, ob es gelingen wird, über das stammesgeschichtliche Erbe in der menschlichen Natur, Gier und Furcht, Herr zu werden, nachdem die Religionen bei dieser Herkulesaufgabe weitgehend versagt haben. Man kann skeptisch sein, ob die von ihm gewollte Überwindung des „ Geistes der Rache “ zugunsten einer Kultur der zärtlichen Anerkennung alles Seienden im Raum der Geschichte gelingt. René Girard hat in seinem Standardwerk La Violance et le sacré (1972) den Urkonflikt am Beginn unserer Zivilisation offenkundig gemacht, der auf eine Kultur erzeugende „ Gründungsgewalt “ hinweist. Aus tiefenpsychologischer Sicht ist zu Nietzsches Freuds Thema in Totem und Tabu (1912/ 13) vorwegnehmende These, Kultur bestehe in fortlaufenden Transformationsprozessen der Gewalt, 119 <?page no="120"?> anzumerken: In einer dunklen Kammer der Psyche wohnt ein Fremder, ein Schläfer mit den grausamen Zügen eines Tieres. Erneut steht das in der Geburt der Tragödie gestellte Problem einer Zähmung des Dionysos durch Apollon zur Disposition. Verschattet ist sie durch die dunkle Seite des Lichtgottes wie sie ikonographisch in Tizians Gemälde Schindung des Marsyas auf eine unerträglich schreckliche Weise sichtbar wird. Aphorismus 259 aus dem neunten Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse betont die brutale biologische Triebdynamik des Lebens. Sie ist „ Wille zur Macht “ : Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung (. . .) sie gehört in ’ s Wesen des Lebendigen, als organische Grundfunktion, sie ist eine Folge des eigentlichen Willens zur Macht, der eben der Wille des Lebens ist. - Gesetzt, dies ist als Theorie eine Neuerung, - als Realität ist es das Ur-Faktum aller Geschichte: man sei doch so weit gegen sich ehrlich! - (KSA 5, 207 f.) Das achte Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse endet mit einem Hymnus auf Dionysos. Von betörendem Sprachzauber, feiert er „ das Genie des Herzens “ , dem sein Autor sein Leben als Opfergabe geweiht hat. Er sagt weder etwas über die ewige Wiederkehr noch etwas über den Willen zur Macht, sondern ist das bewegende Zeugnis eines Menschen, dessen Seele einmal von einer unsagbaren Erfahrung angerührt und verwandelt wurde. Dieses Unsagbare zeigt Züge des fremden Gottes. Er ist „ das Genie des Herzens “ , „ dessen Stimme bis in die Unterwelt jeder Seele hinabzusteigen weiss “ (KSA 5, 237). Wie wenig eine mit Katharsis verbundene Erfahrung des Heiligen noch ernsthaft Anspruch auf Authentizität in der Moderne zu erheben vermag, zeigt sich in der Auflösung des mit dieser Erfahrung verbundenen Elementes des mysterium tremendum am Ende des Hymnus. Die opernhaft inszenierte Erscheinung des „ Versucher- Gottes “ , in der die erotische Dämonie des Sokrates in der Rede des Alkibiades in Platos Symposion aufscheint, ist eine Burleske auf dem Hintergrund eines ästhetischen Nihilismus. Man hört in ihr bereits den Tonfall von Thomas Manns Parodien des Mythos. 120 <?page no="121"?> (. . .) Man erräth: es fehlt dieser Art von Gottheit und Philosophen vielleicht an Scham? - So sagte er einmal: „ unter Umständen liebe ich den Menschen - und dabei spielte er auf Ariadne an, die zugegen war - : der Mensch ist mir ein angenehmes tapferes erfinderisches Thier, das auf Erden nicht seines Gleichen hat, es findet sich in allen Labyrinthen noch zurecht. Ich bin ihm gut: ich denke oft darüber nach, wie ich ihn noch vorwärts bringe und ihn stärker, böser und tiefer mache, als er ist. “ - „ Stärker, böser und tiefer? “ fragte ich erschreckt. „ Ja “ , sagte er noch Ein Mal, stärker, böser und tiefer; auch schöner “ - und dazu lächelte der Versucher-Gott mit seinem halkyonischen Lächeln, wie als ob er eben eine bezaubernde Artigkeit gesagt habe. (KSA 5, 239) „ Zur Geneaologie der Moral “ Nietzsches Streitschrift Zur Genealogie der Moral, entstanden im Sommer 1887 in Sils-Maria, besteht neben einer „ Vorrede “ aus drei Abhandlungen. Die erste enthält scharfsinnige psychologische Analysen des Christentums und seiner Entstehung aus dem „ Geiste des Ressentiments “ . Die zweite widmet sich einer Analyse des Gewissens. Es ist eine Metamorphose verinnerlichter Grausamkeit, initiiert durch äußere soziale Kontrollinstanzen. Die dritte Abhandlung stellt die entscheidenden Fragen Was bedeuten asketische Ideale? und wie kommt es zu ihrer Aufhebung? Hinter den Ansätzen zu einer Kultursoziologie auf dem Boden der historischen Methode ( „ Genealogie “ ) und dem Aufweis der mit ihr einhergehenden Herausbildung von kultureller „ Identität “ steht die Grundthese: Leben ist Wille zur Macht. Als „ Gesetzgeber “ setzt er die Überwindung ( „ Aufhebung “ ) der Erscheinungen des Lebens aus ihnen selbst heraus über den Gang der Zeit in Kraft. Nietzsche fasst den Gedanken dieser tragischen Gerechtigkeit in einem Satz zusammen, dessen zeitphilosophischer Sinn an das Fragment des Anaximander erinnert: „ Woraus aber das Werden ist den seienden Dingen, in das hinein geschieht auch ihr Vergehen “ (Diels/ Kranz 12 B 1): Alle grossen Dinge gehen durch sich selbst zu Grunde, durch einen Akt der Selbstaufhebung: so will es das Gesetz des Lebens, das Gesetz der nothwendigen „ Selbstüberwindung “ im Wesen des Lebens (. . .) (KSA 5, 410) 121 <?page no="122"?> Die erste Abhandlung „ Gut und Böse “ , „ Gut und Schlecht “ leitet den höchsten philosophischen Begriff der platonischen Philosophie, das Gute, historisch aus dem Ethos der altgriechischen Adelsethik ab. Ihre „ aristokratische Werthgleichung “ , der ursprünglich Gewaltverhältnisse im Sozialgefüge zugrunde liegen, beruht auf der Gleichsetzung von gut, vornehm, mächtig, schön, glücklich, gottgeliebt. Analog zu ihr war Dionysos „ nicht ein Gott erlösungsbedürftiger Unterschichten, sondern stand beim Adel in hohem Ansehen. “ 5 Der „ Sklavenaufstand der Moral “ ist eine historische Erscheinung des jüdisch-christlichen Ressentiments. Geboren aus einem Geist der Rache an allem Gesunden und Starken, wird es „ schöpferisch “ und setzt Werte einer Sollensmoral, deren Akzeptanz auf einem undurchschauten Stück von Falschmünzerei beruht - „ Klugheit niedrigsten Ranges “ wird zur Tugend uminterpretiert: Wenn die Unterdrückten, Niedergetretenen, Vergewaltigten aus der rachsüchtigen List der Ohnmacht heraus sich zureden: „ lasst uns anders sein als die Bösen, nämlich gut! Und gut ist Jeder, (. . .) der allem Bösen aus demWeg geht und wenig überhaupt vom Leben verlangt, gleich uns den Geduldigen, Demüthigen, Gerechten “ - so heisst das, kalt und ohne Voreingenommenheit angehört, eigentlich nichts weiter als: „ wir Schwachen sind nun einmal schwach; es ist gut, wenn wir nichts thun, wozu wir nicht stark genug sind “ - aber dieser herbe Thatbestand, diese Klugheit niedrigsten Ranges, welche selbst Insekten haben (. . .), hat sich Dank jener Falschmünzerei und Selbstverlogenheit der Ohnmacht in den Prunk der entsagenden stillen abwartenden Tugend gekleidet, gleich als ob die Schwäche der Schwachen selbst (. . .) eine freiwillige Leistung, etwas Gewolltes, Gewähltes, eine That, ein Verdienst sei. Diese Art Mensch hat den Glauben an das indifferente wahlfreie „ Subjekt “ nöthig aus einem Instinkte der Selbsterhaltung, Selbstbejahung heraus, in dem jede Lüge sich zu heiligen pflegt. (KSA 5, 280) Das Ressentiment in der Moral ist Ursache für eine Kette verheerender Inversionen: Aus der „ vornehmen Werthungsweise “ gut gleich mächtig wird „ böse “ , aus schlecht gleich ohnmächtig wird „ gut “ . Den Freunden Platos fällt auf, daß Nietzsche sich argumentativ weitgehend auf die naturrechtliche Position des Sophisten Kallikles im Gorgias (481 b - 522 e) stellt. Nach ihr besteht das von Natur aus Gerechte darin, die Begierden nicht zu unterdrücken, sondern sie aus einer Position der Stärke heraus ungehemmt auszuleben. Ebendies ist 122 <?page no="123"?> aber „ den Vielen nicht möglich. Daher tadeln sie solche Menschen (. . .) und sagen, schändlich sei die Zügellosigkeit (. . .) und unterwerfen sich so die von Natur aus Besseren “ (492 a). Aus Scham und Schwäche, ihre Triebe zu befriedigen, preisen die Schwachen „ wegen ihrer eigenen Unmännlichkeit “ die Selbstbeherrschung und die Gerechtigkeit in dem Tugendkanon eines konventionellen Ethos in der Polis. Von Spinoza inspiriert ist der Gedanke, daß nur der, welcher Herr über seine Affekte der Rache und des Neides ist, seinem Charakter Größe und „ Stil “ zu verleihen vermag. Die Vornehmheit eines solchen Habitus der Wohlgeratenheit ist das Gegenteil des dekadenten Charakters, in dem sich Willensschwäche und Selbstmitleid gepaart mit latenter Grausamkeit vereinen. Der Ekel vor diesem Charakter ist die Initialzündung für Nietzsches Aggressionen gegen seine Zeit. Den glänzendsten literarischen Ausdruck für seine Intentionen hinsichtlich der Herausstellung eines destruktiven Triebanteils im Ressentiment der Schwachen, findet man in Strindbergs Prosaskizze Die Weiße Hand und Die schwarze Hand (Herbst 1888). Das Erzähler-Ich findet einen Mann im Graben. Er erzählt dem mitleidigen „ Ich “ von dem Unglück in seinem Leben und jammert, seine arme Hand sei von der Arbeit mit der Erde schwarz geworden. Ihm spricht das „ Ich “ Mut zu: „ (. . .) und um ihm Mut zu machen, sprach ich die herzerfrischend schöne Unwahrheit des Evangeliums aus, dass alle Menschen gleich seien und mir aus bestimmten Gründen die Getretenen unerklärlich sympathisch. “ Mit Tränen in den Augen hört der Mann aus dem Graben solchen Worten zu. Er beteuert, den so Redenden zu lieben. Das „ Ich “ beschenkt ihn mit allem möglichen Wissen, lehrt ihn - theoretisch - „ die schwere Kunst des Lebens “ , spricht bei den Nachbarn gut von ihm und stellt „ seinen lächerlich gemachten Namen “ mit dem seinigen wieder her. Als er dann aus dem Graben heraus ist, richtet sich „ der Getretene “ plötzlich auf, zieht elegante Kleider an. Überzeugt „ er sei meinesgleichen “ , stößt er das „ Ich “ in den Graben, „ um der Welt zu beweisen, dass er es auch war. “ Als das „ Ich “ seine schwarze Hand zurückweist, weil sie sie nicht durch Arbeit, sondern durch die Faulheit des Mannes schwarz geworden ist, platzt es aus dem Mann heraus, er hasse die weiße Hand, die ihn aus dem Graben gezogen hat. 123 <?page no="124"?> Er schlug mir ins Gesicht - mit seiner schwarzen Hand - und alle Getretenen riefen: gut! Oh pfui, pfui! - Diese Aufzeichnung Strindbergs aus dem Nachlaß entspricht in der Dichte ihres visionären Figurendialogs völlig dem Geist von Nietzsches erster Abhandlung aus der Genealogie der Moral. Sie ist ihr schönster Kommentar. Die zweite Abhandlung „ Schuld “ , „ schlechtes Gewissen “ und Verwandtes stellt nach dem Zeugnis des Ecce homo die Grausamkeit „ als eine der ältesten (. . .) Culturuntergründe “ (KSA 6, 353) ins Licht. Aus einer evolutionsbiologischen Perspektive richtet sie ihr Interesse auf die Identität bildende Prozesse, aus denen sich in der Geschichte der Zivilisation das kulturelle Gedächtnis aufbaut: Ein Thier heranzüchten, das versprechen darf - ist das nicht gerade jene paradoxe Aufgabe selbst, welche sich die Natur in Hinsicht auf den Menschen gestellt hat? ist es nicht das eigentliche Problem vom Menschen? (KSA 5, 291) Die Grundfrage Nietzsches, die sich eng mit Freuds später Schrift Das Unbehagen in der Kultur (1930) berührt, ist: Welches sind die Opfer, dank derer aus der „ Thier “ Mensch im Prozeß der Zivisation ein animal rationale wird? Aus ihr heraus entwickelt er eine Theorie über die schmerzhafte Geburt des sozialen Selbst. Verbunden ist sie mit „ der langen Geschichte von der Herkunft der Verantwortlichkeit “ (KSA 5, 293). Voraussetzung für Verantwortung in der menschlichen Sozietät ist die Züchtung des Gewissens, eines im Prozeß der Zivilisation groß gewordenen inneren Wächters über äußere Handlungsakte. Als die Stimme des Vaters, widerhallend aus der Tiefe frühkindlicher Erinnerung, wendet sie sich gegen die in der Biologie der menschlichen Natur wurzelnde Neigung des Vergessens in einem Mechanismus der Verdrängung „ böser “ Triebwünsche. Das folgende längere Zitat aus dem dritten Abschnitt der zweiten Abhandlung der Genealogie der Moral konfrontiert mit erschreckend fremden Zonen der menschlichen Psychohistorie. Es ist das Motto über den Arbeiten des französischen Philosophen Michel Foucault. Gelesen als ein Kommentar zu Franz Kafkas In der Strafkolonie (1914) und auf der Folie des Buches von Walter Burkert Homo necans (1972) betrachtet, ist es ein anthropologisches Dokument ersten Ranges: 124 <?page no="125"?> Wie macht man dem Menschen-Thiere ein Gedächtniss? Wie prägt man diesem theils stumpfen, theils faseligen Augenblicks-Verstande, dieser leibhaften Vergesslichkeit Etwas so ein, dass es gegenwärtig bleibt? “ . . . Dies uralte Problem ist, wie man denken kann, nicht gerade mit zarten Antworten und Mitteln gelöst worden; vielleicht ist sogar nichts furchtbarer und unheimlicher an der ganzen Vorgeschichte des Menschen, als seine Mnemotechnik. „ Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss “ - das ist ein Hauptsatz aus der allerältesten (leider auch allerlängsten) Psychologie auf Erden. (. . .) Es gieng niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nöthig hielt, sich ein Gedächtniss zu machen; die schauerlichsten Opfer und Pfänder (. . .), die widerlichsten Verstümmelungen (. . .), die grausamsten Ritualformen aller religiösen Culte (und alle Religionen sind auf dem untersten Grunde Systeme von Grausamkeiten) - alles Das hat in jenem Instinkte (der Grausamkeit - W. R.) seinen Ursprung, welcher im Schmerz das mächtigste Hülfsmittel der Mnemonik errieth. (. . .) Je schlechter die Menschheit „ bei Gedächtniss “ war, um so furchtbarer ist immer der Aspekt ihrer Bräuche; die Härte der Strafgesetze giebt in Sonderheit einen Maasstab dafür ab, wie viel Mühe sie hatte, gegen die Vergesslichkeit zum Sieg zu kommen und ein paar primitive Erfordernisse des socialen Zusammenlebens diesen Augenblicks-Sklaven des Affekts und der Begierde gegenwärtig zu erhalten. (. . .) die Vernunft, der Ernst, die Herrschaft über die Affekte, diese ganze düstere Sache, welche Nachdenken heisst, alle diese Vorrechte und Prunkstücke des Menschen: wie theuer haben sie sich bezahlt gemacht! wie viel Blut und Grausen ist auf dem Grunde aller „ guten Dinge “ ! . . . (KSA 5, 295 ff.) Nietzsche hat, wie mehrfach betont, den griechischen Historiker Thukydides hoch geschätzt. Dessen kühler Wirklichkeitssinn besaß in seinen Augen eine weit größere Bedeutung als die Philosophie Platos. Die Anbindung der politischen Geschichte Griechenlands zur Zeit des Peleponnesischen Krieges (431 - 404 v. Chr.) an Machtkonstellationen in dessen Geschichtswerk mag ein Motiv gewesen sein, solche Konstellationen auch auf das Geschehen in der organischen Welt auszuweiten. These ist: Alles Geschehen in Natur und Geschichte besteht in Prozessen der Überwältigung und des Herrwerdens über dasjenige, was Macht hat und der stärkeren Macht weichen muß. Man kann bei dieser Sicht der Dinge von einer Moral der Mafia sprechen. Recht als das Naturrecht des Stärkeren (Hobbes) beruht auf Macht. Der Zynismus Nietzsches, Ausdruck starker innerer aggressiver Spannungen, erreicht in dieser Lehre seinen Höhepunkt. 125 <?page no="126"?> Hermeneutisch handelt es sich bei dem Geschehen des Willens zur Macht um das geschichtliche Phänomen einer Verflüssigung erstarrt kultureller Lebensformen. In ihr verjüngt sich das Leben unter Blut und Tränen. Die Interpretation dieser Dynamik eröffnet ein Feld von Differenzen. Auf ihm werden die jeweiligen Festschreibungen von „ Sinn “ und „ Zweck “ in der Geschichte aus der Perspektive der Sieger über die Besiegten immer erneut umgeschrieben. Sie haben - wie Gut und Böse - keine moralische Bedeutung. Der sechzehnte Abschnitt stellt die Frage nach dem Ursprung des „ schlechten Gewissens “ . Nietzsche leitet ihn gattungsgeschichtlich ab und begründet die Genealogie der mit ihr verbundenen „ grössten und unheimlichsten Erkrankung “ in der Geschichte der Seele durch das soziologische Modell pathogener Affektunterdrückung im Rahmen der Abwehrmechanismen tief greifender Konflikte, angesiedelt in der Wildnis innerer Seelenwelten. Der Prozeß einer universalen Vergesellschaftung intimer Lebensbereiche erzwingt auf Grund des pragmatischen Interesses an stabilen Rahmenbedingungen einer Zivilgesellschaft die Verinnerlichung ursprünglich außen geleiteter Instinkte der Grausamkeit und der Vernichtungslust. Das „ schlechte Gewissen “ wird unter die Optik einer pathologischen Triebumschichtung gestellt, wenn die gehemmten und verinnerlichten Aggressionstriebe gegen ihre Träger weit schlimmer wüten als in der „ thieririschen Vergangenheit “ und ihren sakralen Opfer-Riten. Mit dieser Sicht auf auf die menschliche „ Thierseele “ verbindet er sein Konzept des Ursprungs neurotischer Schuldgefühle mit seinem Entwurf einer kritischen Kulturtheorie. Zu den aufregenden Themen der Genealogie der Moral zählt die Entmachtung des Gewissens als einer inneren Strafinstanz. Das schlechte Gewissen, die aus ihm resultierenden kindlichen Schuldgefühle sind für Nietzsche Symptome einer „ tiefen Erkrankung “ . Sie sind endogene Aggressionsinstinkte, deren ungehemmte „ Entladung “ nach außen im Sinne einer gegen Andere gerichteten Abfuhr durch den „ Bann der Gesellschaft “ gehemmt werden. In diesem Mechanismus liegt ein pathogenes Element, das als Lust zur Zerstörung in der Geschichte der Kultur verankert ist. Die Wurzeln des schlechten Gewissens liegen in der Frühzeit der Menschheit. Aus ihrem Dunkel stammt die Angst vor den Ahnen, der Rückkehr der Toten. Ihrer Forderung an die Nachfahren auf eine 126 <?page no="127"?> Einlösung der „ Schuld “ , ihnen kein Hausrecht in ihren Wohnungen zu gewähren, wird versucht im Opferritual genüge zu tun. Auf einer späteren Entwicklungsstufe der Zivilisation sublimiert sich dieser magische Aspekt im Totemismus zu der Furcht vor den Göttern. Mit der Vaterreligion im Monotheismus ist ein Maximum an Schuldgefühl erreicht. Der Sohn Gottes muß sich für die verschuldete Menschheit selbst zum Opfer bringen. In den Religionen ist der Mensch Objekt eines allsehenden Auges. Es ist Zeuge aller heimlichen Schändlichkeiten des Herzens. Dieser „ Zeuge “ muß umgebracht werden. Nur die Auslöschung des verhaßten Blicks des allsehenden „ Vaters “ ermöglicht den Söhnen Spielräume der Freiheit. Es geht um eine Revision der von Eric Robertson Dodds in Die Griechen und das Irrationale (1970) skizzierten Geschichte „ Von der Schamkultur zur Schuldkultur “ und um eine zu erkämpfende Unschuld des Werdens. Der Niedergang des Theismus, einhergehend mit dem neuzeitlichen Prozeß der Säkularisierung, bewirkt auf Grund der Schwächung des Glaubens an eine durch den Souverän „ Gott “ garantierte sittliche Weltordnung und die Bestrafung ihrer Verletzung eine allmähliche Abflachung des Schuldgefühls. Daher ist „ die Ansicht nicht abzuweisen, dass der vollkommene und endgültige Sieg des Atheismus die Menschheit von diesem ganzen Gefühl, Schulden gegen ihren Anfang, ihre causa prima zu haben, lösen dürfte. Atheismus und eine Art zweiter Unschuld gehören zueinander. -“ (KSA 5, 330) In Nietzsches Stellung zum Gottesgedanken in der Genealogie der Moral sollte man weniger Reflexionen zu dem Gott in der neuzeitlichen Metaphysik sehen, sondern eine späte Reaktion auf Jakobs Kampf mit dem Engel (1. Mose 32, 1 - 33), aus dem Jakob mit einer ödipalen Wunde hervorgeht. Überlegungen aus dem 22. Abschnitt der zweiten Abhandlung erkennen in dem Gedanken „ Gott “ eine tiefe Erkrankung der traurigen „ Thierseele “ des Menschen, die gespalten zwischen Geist und Natur, gefangen in wahnhaften Schuld- und Bestrafungswünschen, an ihren inneren Gitterstäben rüttelt: Eine Schuld gegen Gott: dieser Gedanke wird ihm (dem Menschen - W. R.) zum Folterwerkzeuge. Er ergreift in „ Gott “ die letzten Gegensätze, 127 <?page no="128"?> die er zu seinen eigentlichen und unablöslichen Thier-Instinkten zu finden vermag, er deutet diese Thier-Instinkte selbst um als Schuld gegen Gott (als Feindschaft, Auflehnung, Aufruhr gegen den „ Herrn “ , den „ Vater “ , den Urahn und Anfang der Welt), er spannt sich in den Widerspruch „ Gott “ und „ Teufel “ , er wirft alles Nein, das er zu sich selbst, zur Natur, Natürlichkeit (. . .) sagt, aus sich heraus als ein Ja, (. . .) als Gott, als Heiligkeit Gottes, als Richterthum Gottes, als Henkerthum Gottes, als Jenseits, (. . .) als Marter ohne Ende, als Hölle, als Unausmessbarkeit von Strafe und von Schuld. Dies ist eine Art Willens-Wahnsinn in der seelischen Grausamkeit, der schlechterdings nicht seines Gleichen hat: der Wille des Menschen, sich schuldig und verwerflich zu finden bis zur Unsühnbarkeit, sein Wille, sich bestraft zu denken, ohne dass die Strafe je der Schuld äquivalent werden könne, sein Wille, den untersten Grund der Dinge mit dem Problem von Strafe und Schuld zu inficiren und giftig zu machen, um sich aus diesem Labyrinth von „ fixen “ Ideen “ ein für alle Mal den Ausweg abzuschneiden (. . .) diese wahnsinnige traurige Bestie Mensch! Welche Einfälle kommen ihr (. . .) welche Paroxysmen des Unsinns, welche Bestialität der Idee bricht sofort heraus, wenn sie nur ein wenig verhindert wird, Bestie der That zu sein! . . . (. . .) Im Menschen ist so viel Entsetzliches! . . . Die Erde war zu lange schon ein Irrenhaus! . . . (KSA 5, 332 f.) Diese Sätze sind ein geniales Stück Tiefenphilosophie. Ihr zu Grunde liegt eine in den Augen Nietzsches abnorme christliche Anthropologie. Ihre glänzendste Formulierung findet sie in den Penseés Pascals. „ (. . .) Was für eine Chimäre ist doch der Mensch? Welche Sensation, welches Ungeheuer, welches Chaos, welches Ding des Widerspruchs, welches Wunder! Richter aller Dinge, einfältiger Erdenwurm; Hüter des Wahren, Kloake der Ungewißheit und des Irrtums; Glanz und Auswurf des Weltalls. “ (Nr. 434) Mit Pascal verbindet Nietzsche nicht nur die Neigung, die Dinge auf die Spitze zu treiben, sondern auch das tiefe Mißtrauen gegen die menschliche Natur. Bei Pascal radikalisiert es sich aus seinem „ extremen Augustinismus “ (Erich Auerbach) heraus zum Haß auf sie. Die ausschließliche Liebe zu Gott läßt keinen Raum mehr für die Liebe zu sich und den Mitmenschen. Für Nietzsche hingegen ist die Selbstliebe ein Gebot der Humanität. Die zuvor zitierte Passage aus der Genealogie der Moral finden in der Pathologie des Seelenlebens Ausdruck in einem tiefen Begehren nach Strafe. Schon in Menschliches, Allzumenschliches verbindet Nietzsche 128 <?page no="129"?> das grenzenlose Verliebtsein des Menschen in das Gefühl der Macht mit einer fatalen Tendenz zur Selbstbestrafung. Im Aphorismus 137 schreibt er: Gewisse Menschen haben nämlich ein so hohes Bedürfniss, ihre Gewalt und Herrschsucht auszuüben, dass sie, in Ermangelung anderer Objecte, oder, weil es ihnen sonst immer misslungen ist, endlich darauf verfallen, gewisse Theile ihres eigenen Wesens, gleichsam Ausschnitte oder Stufen ihrer selbst, zu tyrannisiren. (KSA 2, 131) In Franz Kafkas Jahrhundertroman Der Process (1914) erkennt Josef K. „ seine Pflicht “ an, das „ dünne beiderseitig geschärfte Fleischermesser “ seiner Henker selbst in die Hand zu nehmen und es sich aus Abscheu über seine schuldhafte Existenz in die Brust zu bohren. Gegen einen solchen Akt der Selbstzerstörung, Folge schwerster Schuldneurose, richtet sich Nietzsches Widerstand. Pascal ist für ihn das demonstrative Beispiel einer Selbstvernichtung des Geistes durch das Christentum. In Ecce homo betont er, daß er „ Pascal nicht lese, sondern liebe, als das lehrreichste Opfer des Christenthums, langsam hingemordet, erst leiblich, dann psychologisch “ , dies unterstreiche „ die ganze Logik dieser schauderhaftesten Form unmenschlicher Grausamkeit “ (KSA 6, 285). Für eine Psychopathologie des Religiösen, deren Konturen sich in dem zitierten Fragment aus der Genealogie der Moral abzeichnen, ist das innere Verhältnis von Angst und Begehren symptomatisch. Bei dem Antipoden Nietzsches, Sören Kierkegard, wird diese Pathologie an der latenten Verbindung von Religion und Erotik sichtbar. 6 Gegen den Herrschaftsanspruch des jüdischen Monotheismus und seiner politischen Theologie verteidigt Nietzsche die Wohltaten des griechischen Polytheismus aus guten Gründen. Die Griechen, deren Verhältnis zu ihren Göttern weder von naivem Vertrauen noch von untertäniger Unterwerfung geprägt war, haben sich durch ihre freizügigen Göttergeschichten das „ schlechte Gewissen “ vom Leib gehalten. 7 Erneut taucht ein Gedanke aus der Geburt der Tragödie, leicht variiert, auf: Die Götter rechtfertigen das Leben der Menschen, indem sie sich nicht anders als diese verhalten. Als die Unsterblichen treiben sie ihren Spott mit den Sterblichen und ziehen sich, wenn es ihnen gelegen kommt, in eine unangreifbare Zone des Entrücktseins von den nichtigen menschlichen Angelegenheiten zurück. Epikurs 129 <?page no="130"?> Götterlehre dient für diese „ Transzendenz “ als Beispiel, das Nietzsche mehrfach lobend erwähnt. Der Atheist Nietzsche glaubt weder an die Existenz Gottes noch an die griechischen Götter, „ denn alle Götter sind Dichter-Gleichniss “ (KSA 4, 164). Er zieht die Konsequenz, daß die Idee eines übernatürlichen Wesens außerhalb von Zeit und Raum weder begründbar noch mit der Realität vereinbar ist. 8 Was ihn und seine Religionskritik von dem gewöhnlichen Atheismus des 19. Jahrhunderts unterscheidet, ist sein intuitiv mythisches Wissen, quer zu aller Aufklärung. Im Rückgriff auf psychische Tiefenzonen erkennt es in Dionysos eine Nachtgottheit, die lachend tötet. Diese Erkenntnis eines tödlichen Aspekts am Grunde des Seins ist für den Entwurf einer tragischen Philosophie bedeutsamer als die psychologische These, man müsse in Gott eine Projektion des Vaters sehen. Der Verfasser der Genealogie der Moral hat den in seiner Jugend verfolgten Ansatz zu einer tragischen Philosophie aufgegeben. Im Vordergrundgrund seines Denkens steht jetzt eine naturalistische Erklärung für die Entstehung von Religionen. Da sich der Wille des Menschen zwanghaft auf einen Lebenssinn hin transzendiert, ist Gott eine Projektion tiefster Wünsche und Bedürfnisse. Sie verdankt sich der Hilfsbedürftigkeit des Menschen in einer ihn überwältigenden Realität, die im Tod ihren härtesten Aspekt zeigt. In dieser Auffassung sind sich Nietzsche, Freud und in der Gegenwart der Philosoph Ernst Tugendhat 9 einig. Es ist die Schwermut der enttäuschten Liebe an einem transzendenten Sinn des Lebens, die Zarathustra sagen läßt: „ Einst sagte man Gott, wenn man auf ferne Meere blickte . . . “ (KSA 4, 109) Die zweite Abhandlung der Genealogie der Moral, die eine „ Psychologie des Gewissens “ entwickelt, endet mit Fragezeichen. Sie gelten dem unerprobten Versuch, einen Typus des Menschen zu denken, den die Evolution noch nicht realisiert hat. Auf den neuen Messias, „ den Besieger Gottes und des Nichts “ , setzt der an der miserablen Kleinheit seiner Mitmenschen und seiner Epoche leidende Nietzsche seine Hoffnungsvision, die in der Geschichte wie noch jede Idee von einem „ neuen Menschen “ gescheitert ist: Dieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen Ideal (der Moral - W. R.) erlösen wird, als von dem, was aus ihm wachsen musste, vom 130 <?page no="131"?> grossen Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus, dieser Glockenschlag des Mittags und der grossen Entscheidung, der den Willen wieder frei macht, der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurückgiebt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts - er muss einst kommen . . . (KSA 5, 336) Die dritte Abhandlung: Was bedeuten asketische Ideale? widmet sich der Frage nach der Funktion des asketischen Ideals innerhalb einer moralischen Weltauslegung. Es ist die sinngebende Funktion, die Nietzsche an ihm herausstellt. Wo sie absolut gesetzt wird, erfüllt sie den Status des Ideals, das sich in seinem Rigorismus gegen das Leben richtet. Der Wille zur Macht, der auch im asketischen Ideal zur Herrschaft kommt, ist, so gesehen, „ ein Wille zum Nichts “ (KSA 5, 412). Das Leben, in dem dieser „ Wille “ herrscht, zeigt einen düsteren nihilistischen Grundzug. Nietzsche analysiert die Werthaftigkeit des asketischen Ideals weitgehend vom Standpunkt einer Optik aus, deren Kriterien sich an Gesundheit und Krankheit ausrichten. Es sind pathogene Verhaltensmuster, die auf „ Werthungsweisen “ des Daseins beständig Einfluß nehmen. Die am Leben leidenden Philosophen (Schopenhauer) und Künstler (Wagner) machen „ die Blonden “ , die Gesunden krank. Als Musiker begabt mit einer schwermütigen Sensibilität für alle Arten von Sonnenuntergängen, sind die Gesänge von einem jenseitigen Reich für ihre Hörer ein „ Mundstück “ des „ An-sich “ der Dinge, „ ein Telephon des Jenseits “ (KSA 5, 346). An einer Stelle, die seine glänzend formulierten Reflexionen zu dem psychologischen Typus des asketischen Priesters vorträgt, schreibt Nietzsche: Von einem fernen Gestirn aus gelesen, würde vielleicht die Majuskel- Schrift unsres Erden-Daseins zu dem Schluss verführen, die Erde sei der eigentlich asketische Stern, ein Winkel missvergnügter, hochmüthiger und widriger Geschöpfe, die einen tiefen Verdruss an sich, an der Erde, an allem Leben gar nicht loswürden und sich selber so viel Wehe thäten als möglich, aus Vergnügen am Wehethun: - wahrscheinlich ihrem einzigen Vergnügen. (KSA 5, 362) Nietzsche hat Anfang 1887 Dostojewski für sich entdeckt. Es ist ungewiß, ob er dessen phantastische Erzählung Traum eines lächerlichen Menschen (1877) gekannt hat. Im Gegenlicht zu der zitierten 131 <?page no="132"?> Passage aus der Genealogie der Moral gelesen, ist sie ihre (teilweise) Bestätigung. Ein junger Mann mit Suizidgedanken wird in einem Traum auf einen anderen Planeten versetzt. Seine Bewohner, Kinder der Sonne, sind schön, unschuldig und unaussprechlich glücklich. Sie, die in der erotischen Sphäre eines „ allgemeinen Verliebtseins “ leben, werden durch den Neuankömmling von der Erde verdorben. Was Nietzsche, den Psychologen, an dem „ asketischen Ideal “ - wie später Sigmund Freud - interessiert, ist die Frage, ob die lebensfeindlichen Triebe im „ Interesse des Lebens selbst “ stehen (KSA 5, 363). Es gibt im Menschen einen denaturierten „ Instinkt “ , der sich gegen das Prinzip der Selbsterhaltung wendet und die eigene Selbstzerstörung mit Lust besetzt. Schon Dostojewskis Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (1864) stellen die Frage: „ (. . .) vielleicht liebt der Mensch nicht allein die Glückseligkeit? Vielleicht liebt er im gleichen Maße auch das Leiden? Und zuweilen liebt der Mensch das Leiden fürchterlich, bis zur Leidenschaft. Das ist eine Tatsache. “ Nicht nur der Sadismus sondern - mehr noch - der Masochismus ist im Haushalt der Seele ein unaustilgbar süßes Gift. Mit seinen Überlegungen im elften Abschnitt der dritten Abhandlung ist Nietzsche auf der Spur des Rätsels, das Schelling in seiner Abhandlung Über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809) in den Blick nimmt, Dostojewski in seinen Erzählungen und Romanen darstellt und Freud im Destruktionstrieb des Menschen meint, erkannt zu haben. Er folgt ihnen aber nur eingeschränkt und auf anderen Wegen. Gehört der Selbstwiderspruch, wie er im „ asketischen Ideal sichtbar wird in einen Lebenshorizont, zu dem die eingeengte Perspektive der Vernunft der Zugang fehlt? Im Unterschied zu Freud entwickelt Nietzsche keine Triebtheorie. Ihm geht es darum, dem „ Für und Wider “ in der Diversität der Perspektiven auf das Leben gerecht zu werden. Darüber hinaus soll man den „ Affektinterpretationen “ gegenüber der Vernunft ihr Recht einzuräumen, da sie Einblicke in unbekannte Tiefenschichten des menschlichen Gefühlslebens ermöglichen. Es giebt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches „ Erkennen “ ; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Wort kommen lassen, je mehr Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser „ Begriff “ dieser Sache (. . .) sein. Den Willen (. . .) eliminiren, die Affekte sammt und 132 <?page no="133"?> sonders aushängen, gesetzt, dass wir dies vermöchten: wie? hiesse das nicht den Intellekt castriren? .. (KSA 5, 365) Es erinnert an das Zauberkunststück der Dialektik - musikalisch intoniert in Wagners Parsifal „ Der Speer nur heilt die Wunde, die er schlug “ - , daß der nihilistische Aspekt des „ asketischen Ideals “ in einen Heilungsaspekt des degenerierenden Lebens umschlägt. Er dient in seiner Funktion als ein Kunstgriff des Geistes gegen den Tod „ der Erhaltung des Lebens “ (KSA 5, 366). Hinter der Dialektik dieses Gedankenganges steht die Überzeugung: der Mensch „ ist das kranke Thier “ (KSA 5, 367). Was die Sonderstellung seiner „ Krankheit “ ausmacht, ist, daß er Geist hat. Es ist die gebrochene Geistnatur des Menschen, die Spaltung, welche die eigene Physiologie graduell durchleuchtet, den Schatten einer dunklen nicht transparenten „ Selbstinstanz “ aber nicht in sie zu integrieren versteht. Diese defizitäre Situation läßt ihn zu dem „ grossen Experimentator mit sich “ (KSA 5, 367) werden. Sein Nein, das er zum Leben spricht, bringt wie durch einen Zauber eine Fülle zarterer Ja ’ s an ’ s Licht; ja wenn er sich verwundet, dieser Meister der Zerstörung, Selbstzerstörung, - hinterdrein ist es die Wunde selbst, die ihn zwingt, zu leben . . . (KSA 5, 367) Die zitierte Passage steht bis in Wortanklänge hinein in der Nähe zu der Dialektik Hegels und ihrer Formel von der „ Negation der Negation “ . Wir erinnern uns bei ihr an die Stelle aus der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes (1807): Der Tod, wenn wir jene Unwirklichkeit so nennen wollen, ist das Furchtbarste, und das Tote festzuhalten, das, was die größte Kraft erfordert. (. . .) Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist er nicht als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht, (. . .) sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die es in das Sein umkehrt. Der Mensch ist das leidende Tier. Sein weit mehr komisches als tragisches Leiden zeigt sich in seinen sexuellen Obsessionen, zuweilen in einer Art von geistiger „ Verrücktheit “ , wie sie das größte literarische Beispiel für sie, der Don Quichote des Cervantes darstellt. 133 <?page no="134"?> Es gibt in ihm einen tief verwurzelten Wahn, das zwanghafte Verlangen nach dem „ Verborgenen “ und dem Mysteriösen. Wo dieser Wahn in den Formen einer religiösen Phantasie schöpferisch wird, erzeugt er die paradoxen Begriffe in einer moralischen Weltauslegung. Ihr düsterer Klang lastet auf den Seelen der Kinder: „ Schuld “ , „ Sünde “ , „ Strafe “ , „ Verdammnis “ . Als innerseelische Instanzen haben sie die Eigenschaft, nach außen gerichtete Projektionen zu werden, die sich gegen unbewußt triebhafte Wünsche richten. Obschon ihnen in der Realität nichts entspricht, wird der Mensch ihr Opfer. Nietzsche schreibt über diese Prozesse auf dem Hintergrund einer von ihm skizzierten Psychohistorie. Sie trägt dem emotionalen Bedürfnis des Menschen nach dem Imaginären Rechnung. Einst warf „ auch Zarathustra seinen Wahn jenseits des Menschen, gleich allen Hinterweltlern “ (KSA 4, 35). Gegen die Überspanntheit einer solchen Transzendierung kämpft er in der Phase seines Denkens, die sich Epikur und Montaigne verpflichtet weiß. Im späten Entwurf einer Biologie des Geistes werden psychische Symptome auf physiologische Prozesse reduziert. „ Der Bauch des Seins redet gar nicht zum Menschen, es sei denn als Mensch “ , heißt es in Also sprach Zarathustra ( „ Von den Hinterweltlern “ ). Angesichts seiner Einsichten in den dionysischen Charakter der Tragödie und des mit ihm verbundenen mythischen Verschuldungskreislaufs der Geschlechter, wirkt das Extreme an diesem Naturalismus flach. „ Sünde “ und „ Schuld “ als pathogene Reaktionsbildungen eines kreatürlichen Leidens: Mit dieser naturalistischen Erklärung will er sich und die Menschen von der christlichen Dämonie der Sünde selbst „ erlösen “ . Ihr glühender Atem, der das Leben vergiftet, durchdringt die Romane Julien Greens, fühlbar wird er in einer Passage Kierkegaards aus seinem Werk Der Begriff Angst (1844), Kapitel IV, § 1 „ Angst vor dem Bösen “ : Die Konsequenz der Sünde geht weiter, sie schleppt das Individuum mit sich wie eine Frau, die ein Henker an den Haaren hinter sich herschleift, während sie in Verzweiflung schreit. Die Angst ist voraus, sie entdeckt das, was kommt, noch ehe sie da ist, so wie man an sich spüren kann, dass ein Unwetter naht; sie kommt näher, das Individuum zittert wie ein Pferd, das stöhnend an dem Punkt stehen bleibt, an dem es einmal gescheut hat. Die Sünde siegt. 134 <?page no="135"?> Bei Nietzsche findet man keine Ontologie der Schuld wie bei Heidegger. Freuds „ Konstruktion “ , das aus dem Vatermord in der Urzeit resultierende Schuldgefühl der Brüderhorde sei Initiator für die Entwicklung der Kultur, bietet für die Hintergründe seiner Moralkritik keine Option. Selbst der „ seelische Schmerz “ ist in dieser Periode seines Denkens kein „ Thatbestand “ , sondern „ eine Auslegung (. . .) von bisher nicht exakt zu formulirenden Thatbeständen (. . .) - ein fettes Wort eigentlich nur an Stelle eines sogar spindeldürren Fragezeichen. “ (KSA 5, 376) Diese Auffassung psychischer Phänomene zeigt als Gegenreaktion auf die Leidensmystik in Wagners Parsifal eine Verdrängung der Sprache des Schmerzes. Die Stimme seiner Lyrik redet von ihr: Die Krähen schrei ’ n Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: Bald wird es schnei ’ n, Weh dem, der keine Heimat hat! (KSA 11, 329) Wissenschaft, die seit ihren Anfängen in der griechischen Philosophie nach Wahrheit strebt, ist in diesem Streben dem „ asketischen Ideal “ verpflichtet. Ihre Methode beruht auf der Distanz zu dem augenfälligen Schein empirischer Befunde und dem reflexionslosen Betrieb des Lebens. Ihre grundsätzliche Wertneutralität gegenüber allen auf Interessen beruhenden Urteilen stützt die These, ihre Entwicklung verdanke sich einer christlichen Askese. Hinter der Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche steht, so Nietzsches Verdacht, uneingestanden die Verzweiflung an ihrem „ Sinn “ . Der an Zwecken orientierte Wissenschaftsbetrieb schließt die Sinnfrage aus. Die „ ethische Irrationalität der Welt “ (Max Weber) wird umgekehrt durch die Tatsache bestätigt, daß Werturteile im kulturellen Leben einer Epoche immer existieren. Keine Zivilisation kann auf sie verzichten. Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel hat das Problem einer Sinngebung des Lebens auf der Linie Nietzsches als ein Dilemma bezeichnet. Für ihn resultiert es aus dem Gegensatz einer Außen- und einer Innenperspektive auf das Leben. „ Wenn das Leben egal ist (. . .) und das Grab sein Ende ist, dann ist es vielleicht lächerlich, dass wir uns so wichtig nehmen. Wenn wir auf der anderen Seite nicht anders können, als uns so wichtig zu nehmen, dann 135 <?page no="136"?> müssen wir uns womöglich am Ende damit abfinden, lächerlich zu sein. Das Leben ist dann vielleicht nicht allein sinnlos, sondern absurd. “ 10 Es klingt für den Leser wie ein Echo auf diese hypothetischen Erwägungen Nagels, wenn Nietzsche in einer Nachlaßnotiz aus dem Frühjahr 1887 im Blick auf die grundsätzliche Wertneutralität des Lebens schreibt: (. . .) zu verlangen, dass diese unsere menschlichen Auslegungen und Werthe allgemeine und vielleicht constitutive Werthe sind, gehört zu den erheblichen Verrücktheiten des menschlichen Stolzes, der immer noch in der Religion seinen festesten Sitz hat. (KSA 12, 238) Seine Aufforderung im vierundzwanzigsten Abschnitt der dritten Abhandlung, den „ Werth der Wahrheit versuchsweise einmal in Frage zu stellen “ (KSA 5, 401), fordert den Verzicht auf eine Letztbegründung von „ Wahrheiten “ . Die „ Liebhaber der Erkenntniss “ sollen ihr Augenmerk auf „ jenes Schauspiel in hundert Akten “ richten, wie Wahrheit und Moral in dem Prozeß ihrer Selbstreflexion zu Grunde gehen. Der mit ihm verbundene Begriff des Perspektivismus, den er aus dem Buch Die wirkliche und die scheinbare Welt (1882) seines Basler Kollegen Gustav Teichmüller übernimmt, erweist seine Berechtigung in einem „ gebrochenen Weltbezug “ (Walter Schulz) vor dem Hintergrund des Willens zur Macht. Auf Grund der ihm immanenten Dynamik ist keine einzelne Perspektive berechtigt, sich absolut zu setzen. Sie muss sich den interpretativen Charakter einer durch sie bewirkten Feststellung eines Aspektes der Welt eingestehen. Sie verdeckt mit ihr die Pluralität von Perspektiven. Ihre konstruktive In- Dienst-Nahme würde unerkannt bleibende Ansichten des Lebens schenken. Ihre Eroberung bedarf einer von Nietzsche erst spät erprobten Kunst der philosophischen Phantasie. Am Ende jenes Prozeßes, in dem sich das christliche Gewissen zum wissenschaftlichen Gewissen sublimiert hat, steht „ die Ehrfurcht gebietende Katastrophe einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlusse sich die Lüge im Glauben an Gott verbietet “ (KSA 5, 409). Die Folgen dieses „ Selbstverbotes “ werden scharf akzentuiert: die Welt der Natur kein Beweis „ für die Güte und Obhut eines Gottes “ ; die Welt der Geschichte kein „ Zeugnis einer sittlichen Weltordnung “ . Die Selbstauslegung des Daseins in Situationen des 136 <?page no="137"?> Leidens bietet keinen Bezug mehr auf ein Tröstliches. Wir sind mit unserem Unglück allein. Die mit diesen Versagungen verbundene Erkenntnis des Schmerzes ist die geschichtliche Situation eines universalen Nihilismus. Sie zu verleugnen, „ gilt allen feineren Gewissen als unanständig “ (KSA 5, 410). In dem Zugrundegehen einer christlichen Interpretation von Mensch und Welt sowohl „ als Dogma “ wie „ als Moral “ wird sich der „ Wille zur Wahrheit “ seiner inneren Unwahrheit als Glaube an Gott und die Moral bewußt. Dieser Glaube verabschiedet sich in dem Augenblick, da er zu der widerwilligen Einsicht kommt, daß er eine Selbsttäuschung war. Nietzsches Thema einer über sich aufgeklärten Illusion ähnelt in seinem gedanklichen Aufbau der Argumentation Sigmund Freuds in Die Zukunft einer Illusion (1927). Dem Augenblick der Erkenntnis in den Wunsch- und Projektionscharakter des Glaubens folgt die Verabschiedung seiner Dogmatik. Der achtundzwanzigste Abschnitt der dritten Abhandlung, Abschluß und Höhepunkt der Genealogie der Moral, zieht die Bilanz aus jene Fragestellungen, die unvermeidlich sind, wenn nach dem „ Tode Gottes “ ein das Dasein verpflichtender religiöser Sinn fehlt. Der aus diesem Mangel resultierenden Lebenskrise hat Tolstois Meine Beichte (1882) ein erschütterndes literarisches Denkmal gesetzt. Der Mensch ist das Lebewesen, das nach dem „ Warum “ und „ Wozu “ seines Daseins Fragen stellt. Sie liegen auf der Linie der sokratisch-aristotelischen Fragestellung nach den Gründen für ein „ gutes “ Leben. In der Neuzeit finden sie wechselnde Erklärungen, jedoch - sieht man von den Religionen ab - keine verbindliche Antwort darauf, was der Sinn des Daseins ist. In dieser Verlegenheit sieht Nietzsche das Ende eines historischen Prozeßes. Seine zyklische Erscheinungsform zeigt die antike Aufklärung, die Sophistik, als eine Traditionskrise, welche die Wertvorstellungen des 5. Jahrhunderts v. Chr. betrifft. Auf die Brüchigkeit moralischer Vorstellungen reflektiert die Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts. Das 19. Jahrhundert stellt Wertvorstellungen unter Ideologieverdacht. Die Verabschiedung einer moralischen Interpretation des Lebens ist die leitende Intention von Nietzsches Moralkritik. Ihr nihilistisches Ergebnis löst eine Sinnkrise aus. Mit ihr sich abzufinden würde bedeuten, jene dürre Faktizität anzuerkennen, daß wir geboren werden, um nach unruhigen Jahren zu sterben und für immer 137 <?page no="138"?> vergessen zu werden. Ein unerträglicher Gedanke. Überwunden wird er - das ist auffallend - in dem narrativen Schema des Mythos von Tod und neuem Leben: Der von den Titanen zerrissene Dionysos- Knabe, wunderbar zu erneutem Leben erweckt/ der gekreuzigte Jesus, auferstanden „ am dritten Tage “ . Vergessen wird er an Tagen, in denen die „ Mysterien des Lichts “ (Odysseas Elytis) die Welt in Gold tauchen. Nietzsche zitiert „ die Abendbeleuchtung der Dinge “ (KSA 9, 598). Der große italienische Dichter Guiseppe Ungaretti hat in La terra promessa der Gabe dieses Lichts die Strophe gewidmet: Mein Dahin, ich schmücks auf, heut abend; es wird Laub zu sehn sein, trocknes, und dazu ein Aufleuchten, hellrot. Im Spiel des Lebens gewinnt und verliert man beständig teils durch glückliche oder unglückliche Umstände teils durch immer nur flüchtige Zuschreibungen ihrer Bedeutung. Jedes Menschenleben steht unter dem Schatten seiner zufälligen Geburt und seiner Vernichtung im Tod, wenn seine Stunde gekommen ist. In der Erfahrung einer Fremdbestimmung des menschlichen Daseins durch Geburt und Tod sieht Nietzsche das Motiv für ihre sie transzendierende Deutungen. Religiös-philosophischen Ausdruck finden sie in den Erzählungen von einer „ wahren Welt “ , die das Schicksal der Seele bestimmt. Im Christentum ist es die Erzählung von der Passion und Auferstehung Jesu. Er selbst will sie durch eine neue Erzählung mit der Überschrift INCIPIT ZARATHUSTRA ablösen. Ihre Lektüre, orientiert an Nietzsches letzten Texten Antichrist und Ecce homo, macht deutlich, daß sie auf die Passionsgeschichte Jesu hin angelegt ist, aufgehoben in einer „ Verklärungsgeschichte “ des Autor-Ichs. 11 Infolge der Reflexion auf die Spannung zwischen einer von den Hochreligionen und den antiken Philosophenschulen geschaffenen religiösen Ethik und der ihr gegenüber indifferenten Welt der Moderne, wird sich das Dasein in der nach wie vor ungelösten Frage „ wozu Mensch überhaupt? “ als Problem auf unklare Weise seiner selbst bewußt. Angesichts dieses Dilemmas sieht Nietzsche, daß mit den durch die Religionen geschaffenen Gottesvorstellungen und der Idee der Erlösung eine, wenn auch brüchige Lösung für das Leiden des Daseins an sich und der Welt gefunden war. Es war das „ asketische 138 <?page no="139"?> Ideal “ , das durch die Bezugssysteme von Sünde und Erlösung in einem Heilsdrama der Seele verhindert hatte, daß das Gefühl einer jeden Sinn auslöschenden Leere so bedrückend fühlbar wird, daß sie die Existenz gleichsam aufsaugt. Es war der vergoldete Rahmen der religiösen Tradition, der auf Grund einer sinngebenden Auslegung der Irrationalität des Lebens ihre moralische Rationalisierung ermöglichte und garantierte. „ Welche Antworten irgendein Glaube auch geben mag “ , schrieb Tolstoi in Meine Beichte, „ jede dieser Antworten verleiht dem endlichen Dasein des Menschen den Sinn des unendlichen, den Sinn, der von Leiden, Entbehrungen und Tod nicht vernichtet wird. “ Ein Echo dieser Überzeugung ist Nietzsches Satz „ (. . .) der Mensch war damit gerettet, er hatte einen Sinn, er war fürderhin nicht mehr wie ein Blatt im Winde, ein Spielball des Unsinns “ (KSA 5, 411 f.). Der Gewinn an (religiösem) Sinn wird durch Verluste (zu) teuer bezahlt, wenn die Ausrichtung des menschlichen Lebens auf ein Jenseits die Entwertung des Diesseits zur Folge hat. Die Religionskritik Nietzsches stützt sich auf die Argumentation Ludwig Feuerbachs. Die mit einer fundamentalistisch religiösen Ausrichtung des Lebens einhergehende Weltentsagung ist zugleich Weltverlust. Ihre Verinnerlichung in der „ Leidenschaft des Religiösen “ (Sören Kierkegaard) verhindert eine Heimat des Daseins auf der Erde. Nietzsche deutet eine gnostische Haltung, die in der Welt das Werk eines bösen Gottes sieht, nicht religiös sondern psychologisch. Sie ist Resultat eines nihilistischen Willens zur inneren Selbstzerstörung in wahnhaften Vorstellungen. Für die Macht ihrer Destruktivität kann die Literatur in den Zeugenstand treten. Sein eigener Wille, das in der Geschichte zerbrochene eschatologische Heilsversprechen im Zeichen des Kreuzes durch den göttlichen Ring der Weltewigkeit zu ersetzen, dem er als Nachfolger des toten Gottes sich „ anverlobt “ wußte, zeigt - wer könnte dies leugnen - wahnhafte Züge. Sie bestimmen auch die Dynamik seiner letzten Texte. In ihnen überlagern sich das Bild des Gekreuzigten und das Bild des Dionysos in der Figur des gekreuzigten Autors. Nietzsches Kulturanthropologie entdeckt: In allen religiösen Deutungen des Lebens ist ein „ Sinn “ generierender Wille am Werk. Er nimmt in Kauf, den Gewinn eines illusionären Ziels mit dem realen Verlust an Heimatrechten auf Erden zu bezahlen. Wird er fanatisch, zeigt sich in ihm das Paradox, etwas zu wollen, was human nicht 139 <?page no="140"?> gewollt werden kann: der „ Hass gegen das Menschliche “ , die „ Abscheu vor den Sinnen “ , die „ Furcht vor dem Glück und der Schönheit “ (KSA 5, 412). Aus diesen Affekten wird der Schluß abgeleitet: Es muß im Menschen ein selbstdestruktives Element geben, das einer auf Selbsterhaltung angelegten Natur widerspricht. Es ist ein Skandal, da es eine das Endliche bedenkende Philosophie zunichtemacht. Der Wille zu einem imaginären „ Sinn der Welt “ , die Unruhe der Suche nach ihm ist ein anthropologisches Phänomen, das rätselhaft ist. 12 Zugleich hat dieser Wille etwas Zwanghaftes. „ Lieber will noch der Mensch das Nichts wollen, als nicht wollen “ (KSA 5, 412), mit dieser an Schopenhauer anklingenden Formulierung schließt die Genealogie der Moral. In dem Willen zu Etwas, das als solches „ nichts ” ist, der paradoxen „ Leidenschaft des Religiösen “ (Kierkegaard), die alle konkreten Zwecksetzungen im Leben ebenso aufzehrt wie die Entzückungen an den erotischen Spielen des Scheins, verbirgt sich ein „ Widerwille gegen das Leben “ (KSA 5, 412). Man findet ihn in der spätantiken Bewegung der Gnosis. Er gipfelt in Vernichtungsphantasien und Todeswünschen und schwört den Segenskräften der Erde ab. Gegen diesen im Kern nihilistischen Willen, diese Krankheit zum Tode, richtet sich Nietzsches Wollen der Anerkennung einer heraklitischen Doppelwelt, in der Tod und Liebe sich vermählen. In ihr ist die „ mädchenhafte Tochter der Getreidegöttin “ Demeter, Persephone, zugleich „ die Herrin der Toten “ (Walter Burkert). Zarathustras Treue zu dem Segen der Erde ist eine Glücksphilosophie. Als ein mythischer Hymnus auf die Sonne, ist diese Treue das Schönste an seiner Philosophie. Der Sonne lernte ich Das ab, wenn sie hinabgeht, die Überreiche: Gold schüttet sie da in ’ s Meer aus unerschöpflichem Reichthume - also, dass der ärmste Fischer noch mit goldenem Ruder rudert! (KSA 4, 249) Die Liebe zur Sonne ist Nietzsches paganes Glaubensbekenntnis. In seinem Licht verblassen die extremen Tendenzen seines Denkens. Es geht um keine Welterlösung. Es zählt nur Eines: „ Nichts Schöneres unter der Sonne, als unter der Sonne zu sein “ (Ingeborg Bachmann). Die Sonne, die das Ruder des ärmsten Fischers in Gold aufscheinen läßt, steht auch über der Philosophie Epikurs. Im Spiegel des Gestimmtseins seiner Seele hat er sie gefeiert. 140 <?page no="141"?> Epikur. - Ja, ich bin stolz darauf, den Charakter Epikur ’ s anders zu empfinden, als irgend Jemand vielleicht (. . .) ich sehe sein Auge auf ein weites, weissliches Meer blicken, über Uferfelsen hin, auf denen die Sonne liegt, während grosses und kleines Gethier in ihrem Licht spielt, sicher und ruhig wie diess Licht und jenes Auge selber. Solch ein Glück hat nur ein fortwährend Leidender erfinden können, das Glück eines Auges, vor dem das Meer des Daseins stille geworden ist, und das nun an seiner Oberfläche und an dieser bunten, zarten schaudernden Meeres- Haut sich nicht mehr satt sehen kann: es gab nie zuvor eine solche Bescheidenheit der Wollust. (KSA 3, 411) Die Fabel von der „ wahren Welt “ Im August des Jahres 1888 verfaßt Nietzsche in Sils-Maria seine „ große Kriegserklärung “ an alles, was bisher für wahr gehalten wurde: die Götzen-Dämmerung (ursprünglicher Titel war „ Müßiggang eines Psychologen “ ). Ihr Tenor ist: „ es geht zu Ende mit der alten Wahrheit. “ (KSA 6, 354) In dieser Kampfschrift wird die Erzählung von der Metaphysik auf einem einzigen Blatt Papier in einer ebenso raffinierten wie vereinfachten Stilisierung in sechs Schritten zu Ende erzählt. Seine Überschrift trägt den Titel Wie die „ wahre Welt “ endlich zur Fabel wurde. Geschichte eines Irrthums. Das erste Stadium ist der Platonismus. In der Platonischen Philosophie kommt die „ Verdopplung “ der Welt in eine untere Welt des sinnlichen Scheins und eine obere Welt des Seins im Sinne eines strikten Dualismus zur Herrschaft. Der die Auslegung der Metaphysik seit Plato bestimmende Gesichtspunkt ist der Bezug von Mensch und Wahrheit. In der Philosophie Platos wird er so gedacht, daß der Mensch „ Wahrheit “ als die ideale Ordnung des Seins erreicht, ja sie „ sein kann “ , insofern sich die Seele den Mächten der sinnlichen Welt entringt und im Aufstieg zu der Welt der Ideen sich in die Verfassung des Weisen und des sittlich Guten zu bringen vermag. 13 Plato schreibt im Symposion: „ Wer aber wahre Tugend hervorbringt (. . .), dem kommt es zu, von den Göttern geliebt zu werden, und (. . .) unsterblich zu sein “ (Symposion, 212 A) 141 <?page no="142"?> In der Philosophie Platos nimmt die Idee des Guten höchsten Rang ein. Aus ihr, deren kultischer Sinn einen starken Bezug zu der Mysterienreligion hat, leitet sich die für die Folgezeit auf abstrakter Ebene die normative Gleichsetzung von Wahrheit und Wert ab. Das zweite Stadium beginnt mit dem Christentum. Es transformiert den Bezug von Mensch und Wahrheit in einen eschatologisch gestimmten Horizont der Zukunft, in dem am Ende aller Tage die Wahrheit in der Gestalt Christi auf dem Thron des Vaters sitzt. Die bei Plato an einem räumlichen Denkmodell orientierten Bestimmungen „ hier “ und „ dort “ , bezogen auf den Aufstieg der Seele zu einem Ideenreich jenseits der empirischen Realität, werden durch die zeitlichen Bestimmungen „ jetzt “ und „ dann “ substituiert. Die radikal gedachte Verzeitlichung der Metaphysik bestimmt das Christentum als eine Verfallsfigur des Platonismus. Als Erlösung kommt „ Wahrheit “ eschatologisch in einem jenseitigen Reich zum Sieg. Im diesseitigen Raum vollzieht sich der Aufstieg zu ihr - Gott ist Wahrheit und das Licht - durch einen einsamen Aufstieg der Seele (Augustinus), nicht aber (wie bei Plato) durch den Denkweg der Philosophie. Das dritte Stadium wird mit der Philosophie Kants eingeleitet. In ihr ist dem Verstand auf Grund der Bedingungen seiner Erkenntnismöglichkeit der Zugang zu einer „ wahren Welt “ verwehrt. Weder die Existenz Gottes noch seine Nichtexistenz ist zu beweisen. Da Erkenntnis bei Kant auf Erfahrung begrenzt ist, sind die mit der „ wahren Welt “ verbundenen Ideen unbeweisbar. Da man sie sich als eine intelligible Welt zu denken vermag, ist die „ wahre Welt “ als ein Postulat der praktischen Vernunft jedoch ein „ Trost “ . In der Kritik der praktischen Vernunft (1788) mildert Kant die Schlußfolgerung der theoretischen Vernunft ab, daß ein Unbedingtes wie die Idee „ Gott “ in der empirischen Welt unauffindbar ist. Der Zusammenhang zwischen Moral und Religion erschließt sich der Philosophie Kants aus dem Phänomen, daß in der Majestät des Sittengesetzes die Idee „ Gott “ aufleuchtet: „ die alte Sonne “ , „ durch Nebel und Skepsis hindurch - bleich, nordisch, königsbergisch “ (KSA 6, 80). Als ein Postulat der praktischen Vernunft schützt der Gottesgedanke die dem Sittengesetz verpflichtete Existenz des Menschen vor der Angst, daß die Natur sie „ gleich den übrigen Tieren der Erde in den Schlund des zwecklosen Chaos der Materie zurückwirft “ (Kritik der Urteilskraft, Paragraph 88). Mit dem Dualismus Erscheinung/ „ Ding an sich “ ist in 142 <?page no="143"?> der kritischen Philosophie Kants die Position einer „ wahren Welt “ mitgesetzt. Daß sie unerkennbar ist, macht in diesem Stadium den entscheidenden Schlag gegen die Metaphysik aus. Jede Rede über die „ wahre Welt “ bleibt im Raum „ einer letzten Unverbindlichkeit “ (Walter Schulz). Das vierte Stadium ist durch den neuzeitlichen Positivismus bestimmt. Er zieht die Konsequenz aus der Philosophie Kants, daß es kein metaphysisches Wissen gibt. Die Hypothese einer „ wahren Welt “ ist ein Glaube, der zu nichts mehr verpflichtet. Ein Satz wie „ Gott ist die Wahrheit “ ist eine Leerformel. Die Erforschung der positiven Tatsachen des Lebens durch die Einzelwissenschaften ersetzt die ideale Ordnung des Seins im Platonismus durch die reale Ordnung einer rationalisierten Welt. Die großen metaphysischen Visionen werden durch eine instrumentelle Vernunft verabschiedet. Im Verbund mit Wissenschaft und Technik zielt sie auf das leidarme „ Glück “ der Menschen ab. Das die Moderne charakterisierende Zeitalter einer Vernunft der Technokraten ist das Gegenteil einer vernehmenden Vernunft, auf die es Nietzsche im Entwurf seiner ästhetischen Philosophie ankommt. Das fünfte Stadium ist das Zeitalter des freien Geistes. In ihm kommt die Verfallsgeschichte der „ wahren Welt “ an ihr Ende. Nach der Tragödie ihres Unterganges kommt das Satyrspiel: „ Heller Tag; Frühstück; Rückkehr des bon sens und der Heiterkeit; Schamröthe Plato ’ s; Teufelslärm aller freien Geister. “ (KSA 6, 81) Das sechste Stadium ist der zu sich selbst gekommene und in sich selbst vollendete Nihilismus. In ihm ist die Differenz zwischen Sein und Schein aufgehoben. Die Wertsetzung in der Differenz zwischen „ Wahrheit “ und „ Lüge “ ist vernichtet. Die philosophische Erklärbarkeit von dem, was Welt ist, fällt auf den Status einer speziellen Mythologie zurück. Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die scheinbare vielleicht? . . . Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft! (Mittag; Augenblick des kürzesten Schattens; Ende des längsten Irrthums; Höhepunkt der Menschheit; INCIPIT ZARATHUSTRA.) (KSA 6, 81) Fazit: Für Kant ist der Satz „ Gott existiert “ durch die Vernunft nicht begründbar, für Nietzsche ist er absurd. Weder können wir den Sinn des Lebens „ Gott “ nennen, noch liegt er außerhalb der Welt. Innerhalb 143 <?page no="144"?> der Welt, von der wir immer nur perspektivische Ausschnitte wahrnehmen, ist über einzelne Sinnzuschreibungen hinaus ein überzeitlicher „ Sinn “ - heiße er Gott oder Moral - nirgends feststellbar. Über eine Welt jenseits von „ wahr “ und „ falsch “ , „ gut “ und „ böse “ läßt sich mit den sprachlichen Mitteln des philosophischen Denkens nichts sagen. Wenn Nietzsches ästhetische Philosophie ihre „ mundane Subjektivität “ anvisiert, hört man aus ihrer Musik nur „ das eintönige, dumpfe Rauschen des Meeres “ , von dem Tschechows Meistererzählung Die Dame mit dem Hündchen (1899) erzählt. Die Fabel von der „ wahren Welt “ , die im Zeitalter des Nihilismus zu Ende erzählt ist, reflektiert sich in einer sie rekapitulierenden Lektüre als die Verkehrung Platos in Zarathustra-Nietzsche. Sie hat Karl Löwith so kommentiert: „ Die im letzten Abschnitt nur angedeutete Fortsetzung (von „ Incipit Zarathustra “ - W. R.) müßte ausgeführt lauten: Ich, Nietzsche-Zarathustra, bin die Wahrheit der Welt, denn ich habe zuerst, über die ganze Geschichte des längsten Irrtums hinweg, die Welt vor Plato wiederentdeckt. Ich will gar nichts anderes als diese ewig wiederkehrende und mir nicht mehr entfremdete Welt, welche in eins mein Ego und Fatum ist; denn ich will selber mich ewig wieder, als einen Ring im großen Ring der sich-selber-wollenden Welt. “ 14 Der Schlußabschnitt der Götzen-Dämmerung, überschrieben mit Was ich den Alten verdanke, enthält die Bilanz von Nietzsches Umwertungsarbeit. Mit ihrer Absage an eine Form des moralischen Lebens, die unter dem Zeichen „ einer Ethik des Verbots “ (Paul Ricoeur) steht, und ihrem Ja zu einer „ ewigen Wiederkehr “ aller Dinge in der Unschuld des Werdens kehrt er zu den Entdeckungen seiner Jugend zurück, die einer Erkenntnis des Dionysischen in der Philosophie Heraklits und seiner Entdeckung in der griechischen Tragödie verpflichtet waren. Der Kreis beginnt sich zu schließen: (. . .) die „ Geburt der Tragödie “ war meine erste Umwerthung aller Werthe: damit stelle ich mich wieder auf den Boden zurück, aus dem mein Wollen, mein Können wächst - ich, der letzte Jünger des Philosophen Dionysos, - ich, der Lehrer der ewigen Wiederkunft . . . (KSA 6, 160) Die Apotheose „ ich, der letzte Jünger des Philosophen Dionysos “ , erreicht eine letzte Zuspitzung in den pseudonymen Briefen aus dem Januar 1889. 144 <?page no="145"?> „ Der Gekreuzigte “ , der am 4. Januar aus Turin an Peter Gast die Botschaft sendet „ Meinem maestro Pietro/ Singe mir ein neues Lied: die Welt ist verklärt und alle Himmel freuen sich “ (KSB 8, 575), hat durch seine Auferstehung als Dionysos die Welt verklärt. Er ist zu dem geworden, was er zu der Zeit seiner bewußten Tagen als Anhänger der Aufklärung nie werden wollte: der Prediger „ einer irreligiösen Religion und einer unphilosophischen Philosophie “ (Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff). Die Zeilen in „ Warum ich ein Schicksal bin “ aus Ecce homo klingen wie eine unbewußte Abwehr dieser in der Katastrophe endenden Entwicklung: Ich will keine „ Gläubigen “ , ich denke, ich bin zu boshaft dazu, um an mich selbst zu glauben (. . .) Ich will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst. . .Vielleicht bin ich ein Hanswurst. . . (KSA 6, 365) Die Schönheit der Rosen, sie überglänzt die Schmerzen der Dornen. Das Bild der „ Rosenkranz-Krone “ in Also sprach Zarathustra kontrastiert dem Bild der „ Dornenkrone “ Jesu. Diesem wird sie unter Schmerzen aufgesetzt, Zarathustra setzt sie sich hingegen selbst auf, freiwillig und lachend. Nimmt Jesus in seiner Passion als Opferlamm sein Kreuz stellvertretend für die Sünden der Welt auf sich, ist in den Leiden des Dionysos der Schmerz geheiligt. Das sind die entscheidenden Differenzen. Griechische Symbolik (Dionysos) und christliche Symbolik (Passion) repräsentieren zwei Grundhaltungen des Daseins: die christliche Daseinsstellung, die in Leiden und Sterben den Fluch Gottes sieht, der über der Welt nach dem Sündenfall liegt; die griechische Daseinsstellung, die in den Mysterien das blutige Opfer als eine Quelle des sich erneuernden Lebens religiös verehrt. Zielt das eschatologische Drama der Passion auf eine Überwindung des irdischen Lebens und die Ankunft eines „ neuen Äons “ , die Königsherrschaft Gottes, so setzt die „ griechische Symbolik “ ihr Siegel auf die Ewigkeit des Lebens. Fruchtbarkeits- und Totenkult sind in ihr weitgehend eins. Die kultische Verehrung des Phallus in den burlesken Umzügen zu Ehren des Dionysos an den Lenäen, einem griechischen Fest, hatte sakralen Charakter. Die christliche Verdammung der Sexualität, der Versuch ihrer Bändigung in der Institution der Ehe, hat ihre siegreich anarchische Macht nie gebrochen. Der Einzelne 145 <?page no="146"?> stirbt, das Rad der Geburten dreht sich unablässig. In seinem Zauberschein reichen sich Eros und Thanatos die Hände. Nietzsche spielt auf die dionysischen Mysterien an, wenn er schreibt: Das ewige Leben, die ewige Wiederkehr des Lebens; die Zukunft in der Vergangenheit verheissen und geweiht; das triumphirende Ja zum Leben über Tod und Wandel hinaus; das wahre Leben als das Gesammt-Fortleben durch die Zeugung, durch die Mysterien der Geschlechtlichkeit. (KSA 6, 159) Schopenhauers böser Blick auf die Zeugungswut des blinden Willens wandelt sich bei Nietzsche zu einem segnenden Blick auf das im Zyklus von Blühen und Verwelken wogende Leben. Am 6. Juli 1874 schreibt er an den Jugendfreund Gustav Krug anläßlich des Todes von dessen Vater und der bevorstehenden Hochzeit seines Freundes: Sehe ich nun auf Dich, so treten wieder die rätselhaft verbundenen Worte: Tod und Hochzeit, so schnell hintereinander vor meine Augen, dass des Lebens und Blühens gar kein Ende abzusehen ist. (KSB 4, 240) Auffallend, wie die Bilder des Lebens und des Todes in den Mysterien aus dem Reich einer Wein- und Ackerbaukultur entstammen. Dionysos, Gott des Weines, getötet, um durch sein Blut in der Rebe ihr sakramentale Heilkraft zu spenden; das Weizenkorn, das in der Erde sterben muß, um Frucht zu tragen (Joh. 12, 24). Ein Fragment des von Nietzsche verkannten Euripides sagt: „ (. . .) man begräbt die Kinder, man gewinnt neue Kinder, man stirbt selbst: da nehmen es die Menschen schwer, wenn sie Erde zu Erde tragen. Notwendig ist ’ s, das Leben zu ernten wie eine fruchttragende Ähre, und daß der eine ist, der andere nicht. “ (Eur. Hypsipyle Fr. 757) Nietzsches an den griechischen Mysterien aufgeladene Lebensfeier, eine durch seine christliche Herkunft gebrochene heidnische Weltfrömmigkeit und die mit ihr verbundenen höchsten Ahnungen, sind narrativ orientiert an dem von mir erwähnten mythischen Bilderkreis. Er verdankt sich einer Kultur, die vergangen ist. Die Wiederbelebung griechischer Mysterienerfahrung in einer postindustriellen Massenkultur scheint unmöglich. Gleichwohl bewegt die Schönheit und die Tiefe ihrer Bilder noch immer. Wir ahnen dunkel, dass sich hinter ihrem sakramentalen Sinn ein Mysterium des Lebens verbirgt. 15 146 <?page no="147"?> Bejahung des Werdens: Dionysos, ewige Wiederkunft, Wille zur Macht Es ist eine Intention Nietzsches, das Auge nicht nur auf die bewegte Meeresoberfläche der die eine Welt bildenden Vielheit der Machtwillen zu richten. Er will vielmehr noch unterhalb ihrer Strömung jenes Geflecht anvisieren, zu dessen Wirkungsbereich der Mensch gehört, eine in ihrer Selbstkonstitution undurchschaubare Verbindung von Machtquanten. Personale Einheit erweist sich in ihr als Fiktion. Als das Zusammenspiel einer „ Vielheit von Willen zur Macht “ (KSA 12, 25) ist Subjektivität ein interpretatives Geschehen. Der in dem philosophischen Denken der griechischen Klassik, des christlichen Mittelalters und der neuzeitlichen Philosophie der Subjektivität in verschiedener Weise spekulativ gefestigte Unterschied von Innen- und Außenwelt gerät in ihm in Auflösung. Bei Nietzsche, der im Unterschied zu Hegel die geschichtlichen Erscheinungsformen des Geistes in einer unauslotbaren Tiefenschicht der Physis fundiert sein läßt, erlischt die Autonomie des Geistes. Wenn er dem, was wie ein Geräusch von Wellen aus der Tiefe des Unbewußten an die Oberfläche des Bewußtseins dringt, in seinen Schriften einen gleichsam chthonischen Zug verleiht, beginnen die allem reflektierenden Denken voraus- und zugrundeliegenden Tiefenschichten ihre Stummheit zu verlieren und in einer fremden „ Sprache “ zu reden. In seiner Philosophie bedroht sie als eine thanatologische Unterströmung die Wärme des Lebensstromes. Bemerkenswert ist bei diesem Verhältnis die von der Forschung schon lange bemerkte Nähe Nietzsches zu Leibniz. Dieser schreibt in seiner Abhandlung über Die Vernunftprinzipien der Natur und des Geistes (1684): Jede Seele erkennt das Unendliche, erkennt alles, aber in verworrener Weise; so wie ich, wenn ich bei einem Spaziergang am Meeresufer das gewaltige Rauschen des Meeres höre, dabei doch auch die besondren Geräusche einer jeden Woge höre, aus denen das Gesamtgeräusch sich zusammensetzt, ohne sie jedoch voneinander unterscheiden zu können. 16 Nietzsches Gedanken der großen Natur ist jener umfassende Horizont, der alles Geschehen in seinem Auf- und in seinem Niedergang umschließt, da ihm Ewigkeit eignet. Seine Anerkennung führt zu 147 <?page no="148"?> einer „ Umdeutung “ des Todes. Sie unterstreicht eine Nachlaßnotiz aus dem Frühjahr-Herbst 1881: Der Tod ist umzudeuten! Wir versöhnen (uns) so mit dem Wirklichen, d. h. mit der todten Welt (KSA 9, 468). Der mit Dionysos verbundene Festcharakter dieser „ Versöhnung “ - „ Es ist ein Fest, aus dieser Welt in die ‚ todte Welt ‘ überzugehen “ (ebd.) - läßt mit einem gewissen Recht eine Verwandtschaft Nietzsches mit den Orphikern konstatieren. Für sie ist, wie der Religionswissenschaftler Klaus Heinrich schreibt, der Tod „ der natürliche Zustand (. . .), die Rückkehr, das Verlöschen, und alle Modelle des Glücks sind Modelle des Todes, eines Zurücksinkens in Schlaf und Schoß. “ 17 In einer Weitung des Bewußtseins erlischt dessen gebundene Weltperspektive, es vollzieht sich der Übergang in den Bereich der „ ewigen Gesetze “ . Über ihr mythisches Recht im oberirdischen Reich wachen die Richter im Totenreich. Der Gebrauch der dionysischen Perspektive öffnet in einer durch sie geschenkten umfänglicheren Sicht dem Auge das Reich der Proserpina. Von Nietzsche wird es in Sätzen geehrt, die Lob und Opfergabe ineins für ihre dem Reich der Lebenden überlegene Herrschaft sind. Sie geben Zeugnis, wie tief Nietzsche als „ Orphiker “ nicht nur mit Bachofen, sondern auch mit Novalis, Hölderlin, Rilke verbunden ist. Die Natur lieben! Das Todte wieder verehren! Es ist nicht der Gegensatz, sondern der Mutterschooß, die Regel, welche mehr Sinn hat als die Ausnahme: denn Unvernunft und Schmerz sind bloß bei der sogenannten ‚ zweckmäßigen ‘ Welt, im Lebendigen. (KSA 9, 486). Diese Einschätzung der „ todten Welt “ - sie trägt Züge des von Novalis erfühlten und verklärten orphischen Todesbewußtseins: „ Lobt doch unsere stillen Feste/ Unsre Gärten, unsre Zimmer “ - bewirkt am äußersten Rand von Nietzsches Experimentalphilosophie eine fast unmerkliche Auflösung seiner Aporien und Selbstwidersprüche. Sie kann als eine Reaktion auf eine letzte Stummheit in allem untergründigen Interpretationsgeschehen verstanden werden. In ihr „ enden die Werke des Meeres, die Werke der Liebe “ (Giorgos Seferis). In einer Tiefenschicht der seelischen „ Räume “ wohnen die stummen „ Todestriebe “ , die ihre Arbeit unterhalb der Schattenlinie der lär- 148 <?page no="149"?> menden Lebenstriebe verrichten. Die Nähe zu Freuds Konzept des Todestriebes ist unverkennbar. Aus der Unruhe von Nietzsches Denkbewegungen bricht eine plötzliche Ruhesucht auf. In der nautischen Daseinsmetaphorik aus dem Mittags-Kapitel im vierten Teil von Also sprach Zarathustra wird nicht mehr der Aufbruch ins Unbegrenzte gepriesen, sondern die „ Heimkehr “ des Schiffes „ in seine stillste Bucht “ (KSA 4, 343). Dieser Wille zur Heimkehr, zur Erde, zur Mutter, ist ein Wink. 18 Er deutet auf die Umarmung der „ schweigsamen Todesgöttin “ (Sigmund Freud) und läßt ahnen, warum er am Mittag seines Lebens, zu der Zeit seines höchsten Sonnenstandes, sein brüchig gewordenes „ Ich “ einer Welle gleich im Leib des Meeres versinken sieht. Aus der Zeit der Niederschrift von Also sprach Zarathustra stammt die Aufzeichnung: (. . .) ein unsägliches Wehgefühl, daß das Leben so wegfließt. Eines Tages sagte ich mir: es kommt alles wieder, und dieser wundervolle Tropfen Schwermuth im Glücke des Eroberers ist vielleicht das Schönste. Zu seinem Jünger sagte er: „ das ist die purpurne Schwermuth, die schönste Muschel, die du am Meere des Daseins auflesen kannst das Gefühl des nahen A b s c h i e d s , die Abendbeleuchtung der Dinge für Könige (KSA 9, 598) Diese Aufzeichnung ist „ für Könige “ . Sie wendet sich an jene, die dem römischen Kaiser Marc Aurel ebenbürtig sind, da sie, wie Nietzsche das Licht lieben, das auf dessen Selbstbetrachtungen liegt. Das „ Wehgefühl, daß das Leben so wegfließt “ , ist Resonanz auf das ständige Dahinschwinden aller Dinge und ihren Wandel. Es wurde von dem Stoiker auf dem Thron der Cäsaren zum Grundthema seiner Reflexionen erhoben. In Nietzsches aquatischer Symbolik ist das Meer eine Metapher für die ewige Wiederkehr. Alles Gewesene, auf seinen Grund Abgesunkene, bringen die Wellen zurück an den Strand der Zeit. Unter den Dingen, die zerstreut sich an ihm finden, liegt als ihr kostbarer Fund „ die schönste Muschel “ . Sie umschließt die Perle der „ purpurnen Schwermuth “ . Ihr Zeichen malt das „ stumme Abendspiel “ des Lichts, sichtbar am Horizont zwischen Himmel und Erde. Es erinnert an jenes wundervolle Abendlicht, das Nietzsche in einer Nachlaßnotiz aus dem Herbst des Jahres 1881 festhält, als er zum 149 <?page no="150"?> ersten Mal „ den Abend über Neapel heraufkommen sah, mit seinem sammtnen Grau und Roth (des) Himmels “ (KSA 9, 607). Die Schwermut, die über der „ Abendbeleuchtung der Dinge “ liegt, ihre Verwandlung in Poesie, hat der argentinische Dichter Jorge Luis Borges in seinem Gedicht Ars poetica zum Thema gemacht. Die folgende Strophe trifft genau den Ton und die Intention von Nietzsches Aufzeichnung „ für Könige “ : Im Tod den Schlaf sehen, im Abendrot ein trauriges Gold, solcherart ist Dichtung, die unsterblich und arm ist. Die Dichtung kehrt wieder wie das Morgen- und Abendrot. Das Verhältnis von ewiger Wiederkehr und Wille zur Macht im Zeichen des Gottes Dionysos wird in Nietzsches Philosophie begrifflich nie völlig transparent. Es bleibt dunkel und zeigt paradoxe Widersprüchlichkeiten. Seine Forderung an den Menschen, dionysisch zu seinem Dasein zu stehen, impliziert die Anerkennung des Verflochtenseins der Fäden unseres Schicksals in das Gewebe ( „ Text “ ) des Lebens. Der dionysische Stand des Einzelnen zu seinem Leben bedeutet nicht nur seine rauschhafte Erhöhung, sondern auch das Ende jeder existentiellen Revolte, das Einverständnis, daß „ die ewige Gleichgültigkeit “ (Walter Schulz) gleich treibenden Wolken an einem hohen Himmel über allen Irrtum und alle Lügen seines Daseins hinweggezogen ist - amor fati. In Anerkennung einer der Gegenaufklärung verpflichteten Erkenntnis, daß wir von unbekannten Göttern in uns regiert werden, fällt für Nietzsche „ das Ich “ , eingebettet in seine flüchtigen Jahre und versinkend in verblassenden Erinnerungen, in ein Weltgeschehen zurück, das es mit dem Leben derer zusammenwürfelt, die vor ihm waren und in ihm weiter existieren. In der Fröhlichen Wissenschaft skizziert er eine kurze Geschichte des Bewußtseins als Psychohistorie. In ihr geht es um Entdeckung einer „ archaischen Erbschaft “ im Menschen. Sie ist für Freud und die analytische Psychologie des Schweizers Carl Gustav Jung von großer Bedeutung. Ich habe für mich entdeckt, dass die alte Mensch- und Thierheit, ja die gesammte Urzeit und Vergangenheit alles empfindenden Seins in mir fortdichtet, fortliebt, forthasst, fortschliesst (. . .) (KSA 3, 416 f.) 150 <?page no="151"?> Die in der Würfelspiel der Zeit eingelassene Subjektivität erkennt im amor fati ihr Vermitteltsein in das Spiel des Lebens an und bejaht es in dem Augenblick ihres Unterganges, wenn sie als ein unscheinbares Partikel der Natur aus dem Theater des Scheins heraus- und in den dunklen Grund des Seins zurücktritt. Zu dieser Heimkehr heißt es in dem Fragment Die Natur aus dem „ Tiefurter Journal “ (1783): „ Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arme entfallen. “ Nietzsche feiert, hingerissen von Wagners Tristan-Musik, den Untergang der individuierten Lebensgestalt als ein dionysisches Glück. Besiegelt wird es durch jene schwermütige Schönheit, die den Untergang der Sonne im Meer schmückt. Der europäische Nihilismus Das durch Mazzino Montinari und Giorgio Colli entdeckte und textlich rekonstruierte „ Lenzer-Heide-Fragment “ , datiert auf den 10. Juni 1887, reflektiert auf das Phänomen des europäischen Nihilismus. Es kennzeichnet das Lebensgefühl in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Iwan Turgenjew gab ihm in dem 1862 erschienenen Generationenroman Väter und Söhne einen ersten literarisch gültigen Ausdruck. Seine Vertiefung erreicht er in den Romanen Dostojewskis. Auf ihn als eine geschichtliche Zäsur zurückblickend, stellt sich Nietzsche die Frage: „ Welche Vortheile bot die christliche Moral- Hypothese? “ (KSA 12, 211) Am Beispiel der christlichen Dogmatik macht er die ehemalige Sonderstellung des Menschen in der Welt deutlich. Legitimiert ist sie durch seine Gottebenbildlichkeit und durch das Dogma der Schöpfung der Welt um des Menschen willen. Der Mensch als imago dei, dieser Glaubensartikel verlieh jedem Einzelnen „ einen absoluten Werth “ . Er steht „ im Gegensatz zu seiner Kleinheit und Zufälligkeit im Strom des Werdens und Vergehens. “ Er war „ das große Gegenmittel gegen den praktischen und theoretischen Nihilismus. “ (KSA 12, 211) Jeder Mensch ist von Gott bei seinem Namen gerufen und geliebt. Er findet in dieser Liebe die Erhöhung seines Personseins. Diesen „ Vor- 151 <?page no="152"?> teil “ bot „ die christliche Moral-Hypothese “ . Sie ist die religiöse Garantie der „ Sakralität der Person “ (Hans Joas). Die in der Schule der christlichen Moral, ihrer Selbstreflexion auf die Seele (Augustinus) und ihrer Erforschung des Gewissens, groß gewordene philosophische Wahrhaftigkeit führt am Ende dazu, daß sich jede moralische Weltauslegung in den sie legitimierenden Glaubenssätzen - nicht zuletzt infolge der Entwicklungen in den Naturwissenschaften - mehr und mehr fragwürdig wird. Es ist der neuzeitliche Widerspruch von Glauben und Wissen, an dem sich der Atheismus des 19. Jahrhunderts entzündet. „ Dieser Antagonismus, das was wir erkennen, nicht zu schätzen und das, was wir uns vorlügen möchten, nicht mehr schätzen zu dürfen: - ergiebt einen Auflösungsprozeß. “ Aus ihm resultiert im Zuge einer Profanisierung aller Lebensbereiche „ eine Herabsetzung der Zuchtmittel, von denen die moralische Interpretation die stärkste war. „ Gott “ ist eine viel zu extreme Hypothese. “ (KSA 12, 212) Eine solche Herabsetzung der moralischen Interpretation des Daseins, Sigmund Freud spricht von „ Ermäßigung “ , führt gegen den Anschein einer Entlastung nicht aus der Sinnbedürftigkeit des Menschen heraus. Im Gegenteil, sie verstärkt den Druck auf seine Verantwortung, den Verlust einer überzeitlich moralischen Orientierung des Daseins zu kompensieren. An die Stelle der christlichen Sündengewißheit tritt eine diffuse Ängstigung. Sie ist die Folge der Furcht, daß der Mensch in der Sorge um sich den Gewinn oder den Verlust seines Unternehmens um sein Selbst alleine zu tragen hat. Diese Entwicklung eines „ atheistischen Existentialismus “ (Jean-Paul Sartre) führt zu einer verstärkten Depressivität. Der Nihilismus erscheint jetzt, nicht weil die Unlust am Dasein größer wäre als früher, sondern weil man überhaupt gegen einen „ Sinn “ im Übel, ja im Dasein misstrauisch geworden ist. Eine Interpretation gieng zu Grunde; weil sie aber als die Interpretation galt, erscheint es, als ob es gar keinen Sinn im Dasein gebe, als ob alles umsonst sei. (KSA 12, 212) Es ist dieses Umsonst, das jede Mühe des menschlichen Daseins im Leben entwertet. Als Sohn eines Pastors hätte Nietzsche sich auf die Weisheit des Kohelet aus dem Alten Testament berufen können: 152 <?page no="153"?> Wie ist alles so nichtig! spricht der Prediger. Wie ist alles so nichtig! es ist alles umsonst! Was hat der Mensch für Gewinn von all seiner Mühe, womit er sich abmüht unter der Sonne? Den fünften Absatz des Lenzer Heide Fragments zeichnen Sätze aus, die das lähmend nihilistische Daseinsgefühls im Komödienspiel „ dieses verfluchten, unerträglichen Lebens “ (Anton Tschechow) in verdichteter Form auf die zeitliche Struktur des Daseins als Langeweile übertragen: Daß dies „ Umsonst! “ der Charakter unseres gegenwärtigen Nihilismus ist, bleibt nachzuweisen. Das Mißtrauen gegen unsere früheren Werthschätzungen steigert sich bis zur Frage „ sind nicht alle „ Werthe “ Lockmittel, mit denen die Komödie sich in die Länge zieht, aber durchaus nicht einer Lösung näher kommt? “ Die Dauer, mit einem „ Umsonst “ , ohne Ziel und Zweck, ist der lähmendste Gedanke, namentlich noch wenn man begreift, daß man gefoppt wird und doch ohne Macht (ist), sich nicht foppen zu lassen. (KSA 12, 213) Nietzsche bezieht den Gedanken des „ Umsonst “ , dieses sich im Leeren drehende Karussell, auf den Gedanken der ewigen Wiederkehr in seiner schrecklichsten Form. In ihr lauern alle Gespenster, wenn er das Echo der Rede des Zwerges aus Also sprach Zarathustra im Ohr schreibt: Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: „ die ewige Wiederkehr “ . Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das „ Sinnlose “ ) ewig! (KSA 12, 213) Es geht ihm in seinem Denkkampf um die Überwindung dieser extremen Form des Nihilismus. Für ihn, den ersten vollkommenen Nihilisten Europas, „ der aber den Nihilismus selbst schon in sich zu Ende gelebt hat, - der ihn hinter sich, unter sich, außer sich hat. . . “ (KSA 13, 190) ist sie an ein mundanes Verständnis des Gedankens der ewigen Wiederkehr gebunden. Seine Voraussetzung ist zugleich jene Nahtstelle, an der Spinoza eine entscheidende Bedeutung zukommt. Seine logisch-ontologische Bestimmung des Gottesbegriffs als Substanz, die alle Dinge als die ihm eigenen Prädikationen umfaßt, richtet sich gegen den extramunden Schöpfergott der jüdisch-christ- 153 <?page no="154"?> lichen Offenbarung. Mit der Zurückweisung jeder anthropomorphen Gottesvorstellung und ihrer Attribute entspricht Spinoza Nietzsches eigener Intention der Überwindung eines „ moralischen Gottes “ , der die Züge des Richters trägt. Er stellt sich auf den Boden des Spinozismus und der mit ihm verbundenen Anerkennung einer sich selber wollenden Welt der Natur, wenn er sich im siebten Abschnitt im Blick auf den Glauben an die „ ewige Wiederkunft “ die entscheidende Frage stellt: (. . .) ist mit der Moral auch diese pantheistische Ja-stellung zu allen Dingen unmöglich gemacht? Im Grunde ist ja nur der moralische Gott überwunden. Hat es einen Sinn, sich einen Gott „ jenseits von Gut und Böse “ zu denken? Wäre ein Pantheismus in diesem Sinne möglich? Bringen wir die Zweckvorstellung aus dem Prozesse weg und bejahen wir trotzdem den Prozeß? - Das wäre der Fall, wenn Etwas innerhalb jenes Prozesses in jedem Momente desselben erreicht würde - und immer das Gleiche. Spinoza gewann eine solche bejahende Stellung, insofern jeder Moment eine logische Nothwendigkeit hat: und er triumphirte mit seinem logischen Grundinstinkte über eine solche Weltbeschaffenheit. (KSA 12, 213 f.) Moral nicht nur als eine Zeichensprache der Affekte sondern als eine christliche Interpretation des Lebens verstanden, ist mit einem Tugendkanon verbunden, dessen sinngebende Funktion in der Geschichte der Zivilisation das Dasein „ vor der Verzweiflung und dem Sprung ins Nichts “ geschützt hat. Ironisch heißt es: Hat man sein „ Warum “ des Lebens, so verträgt man sich mit jedem „ Wie “ . Moral ist der jahrtausende alte Rahmen, der dem Menschen für die Zufälle seines Lebens in den „ heiligen Schriften “ eine Deutung schenkt. In den Traditionen sakraler Riten findet sie ihren symbolischen Ausdruck. Sie verleihen dem zufälligen Eingang des Menschen in die Welt (Geburt) und seinem schmerzhaften Ausgang (Tod) seine rituelle Überhöhung und seinen Segen. Vor allem hat Moral in den Augen Nietzsches die Tiernatur des Menschen, wenn auch in schmalen Grenzen, gezähmt und gegen das Gesetz des Wolfsrudels das Tabu einer Zivilgesellschaft errichtet, die davor schützen sollte, daß die Lämmer von den Wölfen gefressen werden. Würden aber die Schwachen zu der von ihnen noch verdrängten Einsicht kommen, daß ihre moralisch legitimierte Einschrän- 154 <?page no="155"?> kung der Triebnatur des Machtwillens bei den Starken selber nur eine schlecht sitzende Maske ihres eigenen Willens zur Macht und aus diesem Grund als Ressentiment ohne Legalität ist, dann träte ein Zustand „ der hoffnungslosen Desperation “ ein. Gesetzt, dass der Glaube an diese Moral zu Grunde geht, so würden die im Leben Schlechtweggekommenen ihren Trost nicht mehr haben - und zu Grunde gehen. (KSA 12, 215) Er zählt die Symptome dieses „ Zugrundegehens “ aus dem Geist der Rache auf und fundiert sie in einem destruktiven Willen zur Selbstzerstörung, der sich gegen die Grundlagen humaner Selbsterhaltung richtet. In ihm sieht er eine Reaktionsbildung auf jenen schleichenden Prozeß, der das innere Licht auf dem Grund der Seele auslöscht. An dessen Ende droht die Entwertung aller auf Sinn hin orientierter Werthaltungen. Die Frage nach dem Lebenssinn steht auf dem Spiel. Ohne Antwort auf sie, bleibt das Dasein leer. „ Mir scheint, der Mensch muß gläubig sein, oder er muß nach einem Glauben suchen, sonst ist sein Leben leer, immerzu leer. . . Leben und nicht wissen, warum die Kraniche fliegen, wozu die Kinder geboren werden und weshalb die Sterne am Himmel stehen . . . Entweder weiß man, wozu man lebt, oder es ist alles nichts, alles umsonst “ , sagt Mascha in Tschechovs Drei Schwestern (1901). Der Verlust eines wozu hat zur Folge, daß „ alles Dasein seinen „ Sinn “ verloren hat “ (KSA 12, 216). Hat das Dasein seine Ausrichtung auf einen „ Lebenssinn “ verloren, der bei den Vorvätern im Glauben an Gottes Güte und Allmacht seine Absicherung fand, bricht eine mit stark aggressiven Impulsen besetzte Destruktivität in ihm auf. Sie äußert sich in Versuchen einer verzweifelten Selbstbefreiung. In ihr ist dem „ Ich “ in einer absolut gesetzten Ergreifung seines Eigenwillens „ alles erlaubt “ . Ein Thema, das Dostojewski in dem Roman Die Dämonen (1873) mit größter psychologischer Meisterschaft durchgearbeitet hat. Es ist eine offene Frage, ob Nietzsches Position mit derjenigen Dostojewskis gleichgesetzt werden kann. Das Dasein des Menschen ohne Gott ist für ihn einer ästhetischen Moral verpflichtet. Die Relation zwischen einer an der Kunst orientierten Wertsetzung und einer narrativen Dynamik, die sich den Energien des Lebens verpflichtet weiß, beansprucht für sein Denken eine Sonderrolle. 155 <?page no="156"?> Ästhetische Moral unterscheidet sich von der Position Kants. Für sie hat die Geltung moralischer Normen unabhängig vom Dasein Gottes Bestand. Anders bei Nietzsche: Der höchste Wert ist nicht die Sonne des Guten (Plato), sondern die Verklärungskraft der Kunst. Nur sie vergoldet den Horizont des Lebens. Die skizzierte Entwicklung ist eine Etappe in der Geschichte des europäischen Nihilismus. Nachdem die „ Heilmittel “ Gott und das Sittengesetz verbraucht sind, treten an ihre Stelle Technologie, Sozialbürokratie und Unterhaltungsindustrie. Sie erzeugen in der Massengesellschaft „ ein relatives Wohlleben “ , das einhergeht mit einem wachsenden Schwund der Bedeutung von Religion und Philosophie in dem Bewußtsein der Öffentlichkeit. Auf dem Ziffernblatt der Zeit verharrt die Nadel der Geschichte wie ein Zeiger im Zenit zwischen einer bereits Vergangenheit gewordenen Moderne und einer noch ungewissen Postmoderne. Nach dem Willen Nietzsches soll sie ein aktiver Nihilismus auszeichnen. In ihm geht es um die Ästhetisierung von Lebensformen. Zwischen dem Abendrot des „ Heute “ und dem Morgenrot eines neuen Tages wird am Horizont das Zeichen einer Krise erkennbar. In ihr kommt es zur Entscheidung, ob es, so seine illusionäre Hoffnung, „ abseits von allen bestehenden Gesellschaftsordnungen “ zu einer neuen „ Rangordnung der Kräfte “ kommt. Ihr Ausdruck ist eine vage bleibende Vergleichgültigung privater Lebensumstände in einem paradoxen Verbund mit der exzentrischen Stärke einer ich-bezogenen Selbstwahl, wie sie als Narzißmus im Künstler in Erscheinung tritt. Ihre noch ausstehende Realisierung bindet Nietzsche im Übergang zu einer posttragischen Daseinshaltung an die Frage: „ Welche werden sich als die Stärksten (. . .) erweisen? Die Mäßigsten, die, welche keine extremen Glaubenssätze nöthig haben, die, welche einen guten Theil Zufall, Unsinn nicht nur zugestehen, sondern lieben, die, welche vom Menschen mit einer bedeutenden Ermäßigung seines Werthes denken können, ohne dadurch klein und schwach zu werden: die Reichsten an Gesundheit, die den meisten Malheurs gewachsen sind und deshalb sich vor den Malheurs nicht so fürchten - Menschen, die ihrer Macht sicher sind, und die die erreichte Kraft des Menschen mit bewusstem Stolze repräsentiren. “ (KSA 12, 217) 156 <?page no="157"?> In dem Bild einer ästhetisch sich zu dem Spiel des Lebens stellenden Daseinshaltung, die das Stück „ Absurdität “ in ihm liebt und die einem Traum gleichende Lebenszeit ohne Trauer akzeptiert, zeichnet Nietzsche das stilisierte Wunsch- und Gegenbild zu seiner eigenen desperaten Stellung zum Leben. Die Reichsten an „ Gesundheit “ , man mag an Epikur, an Montaigne denken oder an eine literarische Figur wie Felix Krull (Thomas Mann), brauchen keine extremen Glaubenssätze, weil sie als Künstler mit den Perspektiven von „ Wahrheit “ und „ Lüge “ frei zu spielen vermögen und ohne ein Glaubensdogma sich selber genug sind. Da solche starken Naturen, talentiert und ohne moralische Skrupel vom Leben nichts Übermäßiges verlangen, sondern das ihnen zustehende Recht auf „ Glück “ , das sie sich rauben, fürchten sie sich auch nicht vor seiner Unberechenbarkeit. Sie kalkulieren sie als einen Reiz in ihr „ Kartenspiel “ ein. Sie bejahen, jedem ethischen Rigorismus und jeder Leidensmystik abgeneigt, lächelnd ihre fehlbare Endlichkeit und preisen als Künstler die Vergänglichkeit, schenkt sie doch den Dingen vor Einbruch der Nacht einen betäubend sinnlichen Glanz des Schönen. Aus diesem Grund ist für sie dem Gesicht des Lebens nicht mehr jener schmerzlich-schöne Leidenszug eingegraben, wie er aus Johann Sebastian Bachs Passionsmusik und dem Parsifal Richard Wagners hervorbricht. Die immoralistische Haltung einer Künstlerexistenz, die auf eine moralische Rechtfertigung des Elends der Welt verzichtet und statt ihrer den Entzückungen am Schein opfert, provoziert die ironische Frage am Ende: „ Wie dächte ein solcher Mensch an die ewige Wiederkunft? - „ (KSA 12, 217) In einer Welt, deren ältester Adel „ von Ohngefähr “ ist, kommt für das Dasein alles auf eine Ökonomie der Prinzipiensparsamkeit an. Ihre Verteidigung im späten Nachlaß kontrastiert auffällig jener Transzendenz der Leidenschaft, die Nietzsche in Also sprach Zarathustra als eine Liebe der Verschwendung gepriesen hat. Ihr entgegen steht die Aufforderung in der Fröhlichen Wissenschaft: (. . .) wir wollen die Götter in Ruhe lassen und die dienstfertigen Genien ebenfalls und uns mit der Annahme begnügen, dass unsere eigene practische und theoretische Geschicklichkeit im Auslegen und Zurechtlegen der Ereignisse jetzt auf ihrem Höhepunct gelangt sei. (KSA 3, 522) 157 <?page no="158"?> Untergang und Verklärung Mit dem an seinem 44. Geburtstag in Turin begonnenen und am 4. November 1888 nur vorläufig abgeschlossenen Manuskript seiner philosophischen Autobiographie Ecce homo ist der Schlußpunkt einer von ihm seit frühester Jugend praktizierten autobiographischen Selbstreflexion gesetzt. Mit ihr, über der das aus dem Werk Pindars entlehnte Motto Wie man wird, was man ist steht, wollte Nietzsche seinem Projekt einer „ Umwerthung aller Werthe “ eine Vorrede im „ grossen Stil “ vorausschicken. Im Ecce homo erzählt sich Nietzsche die Abenteuer und Seefahrten seines Lebens. Er hört dem Echo des Waffenlärms vergangener Kämpfe an einem „ vollkommenen Tag “ zu, „ wo Alles reift und nicht nur die Traube braun wird “ (KSA 6, 263). Bereits in Jenseits von Gut und Böse hatte er zu der Veränderung des Lebensraumes im Zyklus der Jahre und dem Nachlassen geistiger Spannungen geschrieben: Mit der Kraft seines geistigen Blicks und Einblicks wächst die Ferne und gleichsam der Raum um den Menschen: seine Welt wird tiefer, immer neue Sterne, immer neue Räthsel und Bilder kommen ihm in Sicht. Vielleicht war Alles, woran das Auge des Geistes seinen Scharfsinn und Tiefsinn geübt hat, eben nur ein Anlass zu seiner Übung, eine Sache des Spiels, Etwas für Kinder und Kindsköpfe. Vielleicht erscheinen uns einst die feierlichsten Begriffe, um die am meisten gekämpft und gelitten worden ist, die Begriffe „ Gott “ und „ Sünde “ , nicht wichtiger, als dem alten Manne ein Kinder-Spielzeug und Kinder-Schmerz erscheint, - und vielleicht hat dann „ der alte Mensch “ wieder ein andres Spielzeug, und einen andren Schmerz nöthig, - immer noch Kinds genug, ein ewiges Kind! (KSA 5, 75) Im Zuwachs an Souveränität entwachsen wir unseren höchsten Überzeugungen. Eines Tages, wenn die Zeit reif geworden ist, werden sie wie ein überflüssig gewordenes Spielzeug weggeworfen. In der Fröhlichen Wissenschaft hatte sich Nietzsche im Blick auf die andauernden Korrekturen unserer Vorurteile und Illusionen notiert: Jetzt erscheint dir Etwas als Irrthum, das du ehedem als eine Wahrheit (. . .) geliebt hast: du stösst es von dir ab und wähnst, dass deine Vernunft darin einen Sieg erfochten habe. Aber vielleicht war jener Irrthum 158 <?page no="159"?> 159 Der kranke Nietzsche am Arm seiner Mutter (1891) <?page no="160"?> damals, als du noch ein Anderer warst - du bist immer ein Anderer - , dir ebenso nothwendig wie alle deine jetzigen „ Wahrheiten “ , gleichsam als eine Haut, die dir Vieles verhehlte und verhüllte, was du noch nicht sehen durftest. (KSA 3, 544 f.) Nicht Thesen und Theorien sind für die Tätigkeit des Geistes, seine Nahrung, entscheidend, sondern seine flüchtigen Spiele der Interpretation. Sie sprechen dem nie gänzlich zu entziffernden Text der Welt einen „ Sinn “ zu, der dem sich ständig ändernden Licht gleicht, das auf den Dingen liegt. Wie aus den Spielen ständiger Umdeutungen der biographischen „ Buchstabenschrift unseres Selbst “ (KSA 3, 108) der Sinnzusammenhang eines Skripts wird, der den Menschen Nietzsche zum Autor seiner selbst werden läßt, zeigt sein Ecce homo. Ein Novum in der Geschichte der philosophischen Autobiographie ist die Verabsolutierung der Ich-Rede: „ Warum ich so weise bin “ , „ Warum ich so klug bin “ , „ Warum ich so gute Bücher schreibe. “ Nietzsche versteht sich im Ecce homo als der Zeuge eines weltgeschichtlichen Überganges von der Moderne zur Postmoderne, aus dessen Gewitterzeichen nicht abzulesen ist, was aus ihm erwachsen wird. Gleichwohl deuten Zeichen auf eine von ihm notierte und vorhergesehene Katastrophe: (. . .) wenn die Wahrheit mit der Lüge von Jahrtausenden in Kampf tritt, werden wir Erschütterungen haben, einen Krampf von Erdbeben, eine Versetzung von Berg und Thal, wie dergleichen nie geträumt worden ist. Der Begriff Politik ist dann gänzlich in einen Geisterkrieg aufgegangen, alle Machtgebilde der alten Gesellschaft sind in die Luft gesprengt - sie ruhen allesamt auf der Lüge: es wird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gegeben hat. (KSA 6, 366) Das Schlußkapitel des Ecce homo erklärt mit aggressivem Pathos, warum es sein Los ist, ein einzigartiges „ Schicksal “ zu sein, Mundstück einer skandalösen „ Wahrheit “ , Opfer der Götter, das keinen Nachfolger hat: Ich kenne mein Loos. Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen, - an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Collision, an eine Entscheidung heraufbeschworen gegen Alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, gehei- 160 <?page no="161"?> ligt worden war. Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit. - Und mit Alledem ist Nichts in mir von einem Religionsstifter (. . .) Ich will keine „ Gläubigen “ , ich denke, ich bin zu boshaft dazu, um an mich selbst zu glauben, ich rede niemals zu Massen . . . Ich habe eine schreckliche Angst davor, dass man mich eines Tages heilig spricht (. . .) Ich will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst . . . Vielleicht bin ich ein Hanswurst . . . Und trotzdem oder vielmehr nicht trotzdem - denn es gab nichts Verlogeneres bisher als Heilige - redet aus mir die Wahrheit. - Aber meine Wahrheit ist furchtbar: denn man hiess bisher die Lüge Wahrheit. - Umwerthung aller Werthe: das ist meine Formel für einen Akt höchster Selbstbesinnung der Menschheit, der in mir Fleisch und Genie geworden ist. Mein Loos will, dass ich der erste anständige Mensch sein muss, dass ich mich gegen die Verlogenheit von Jahrtausenden im Gegensatz weiss . . .. (KSA 6, 365 f.) Ein Zwielicht liegt über dem Ecce homo und seiner inneren Gespanntheit. 1 Auf der einen Seite gibt es in ihm jene herbstliche Reife, die, verdichtet in wunderbar lyrischen Passagen, die Versöhnung des eigenen Daseins mit dem Leben in der Formel amor fati feiert. Als ein Zeugnis „ für die Grösse am Menschen “ fordert sie dazu auf, das Notwendige an den Dingen nicht nur (wie die Griechen) zu ertragen, sondern zu lieben, um durch diesen „ höchsten aller möglichen Glauben “ das Vergängliche an ihnen für eine kleine Ewigkeit zu retten. Aus dieser Glaubensposition heraus feiert Nietzsche in gesteigerter Euphorie die Verwandlung seines Lebens, ihrer Siege und Niederlagen, in Literatur: Nicht umsonst begrub ich heute mein vierundvierzigstes Jahr, ich durfte es begraben, - was in ihm Leben war, ist gerettet, ist unsterblich. “ (KSA 6, 263) Auf der anderen Seite gibt es eine von Blitzen erleuchtete Gewitterschwüle. Sie entlädt sich in dem Schrei: Dionysos gegen den Gekreuzigten. Er deutet auf die dunklen Wurzeln antiker Mythen, wie sie in dem fremden Gott sichtbar werden. Als der zerrissene Dionysos Zagreus ist er für Nietzsche Weltsymbol der ewigen Wiederkehr von Krieg und Frieden, Vision eines zerstückelten und wiederhergestellten Körpers im Kreislauf von Werden und Vergehen. Im Rückblick auf seine Geburt der Tragödie, ihre Helden Prometheus und Ödipus, und im Ausblick auf seine Zarathustra-Dichtung wird die Rückeroberung einer tragischen Sicht auf das Leben, in der das Blut des Dionysos und 161 <?page no="162"?> das Rot des Weines sakramentale Symbole sind, durch ein Selbstzitat emphatisch hervorgehoben: Das Jasagen zum Leben selbst noch in seinen fremdesten und härtesten Problemen; der Wille zum Opfer seiner höchsten Typen der eigenen Unerschöpflichkeit frohwerdend - das nannte ich dionysisch, das verstand ich als Brücke zur Psychologie des tragischen Dichters. (KSA 6, 312) Man muß - aus der Distanz des Betrachters einer Tragödie - auf die Aporieen reflektieren, die Ecce homo enthält. Gilt Nietzsches einzige und letzte Liebe der Dame Ewigkeit, liquidiert die Opfergabe dieser „ Liebe “ jegliche existentielle Selbstüberschreitung als Akt der Freiheit. Er war es, den er in Also sprach Zarathustra als den Entwurf des Daseins auf einen höchsten Sinn der Liebe hin gefeiert hat. „ Oh meine Seele, jede Sonne goss ich auf dich und jede Nacht und jedes Schweigen und jede Sehnsucht: - da wuchsest du mir auf wie ein Weinstock “ (KSA 4, 279) Man kann beim Lesen von Ecce homo den Eindruck für sich nicht loswerden: Ein sich zuletzt gleichgültig gewordenes Dasein erhebt in einem letzten verzweifelten Aufschwung den wahnhaften Anspruch, in einem einzigen „ Sonnenblick “ alle Ereignisse in seinem Lebens in einen Text verwandelt zu haben, bei dessen Lektüre für einen Philologen des Schicksals keine Schreibfehler (Zufälle) zu finden sind. Es gibt nur die strahlende Weiße der Blätter. Die Fiktion eines mit Allem Fertig-Gewordenseins, eines Sieges über alle Niederlagen, besiegelt das Ende der unablässigen Selbstüberwindung in dem von Zarathustra gewollten Hinübergang des Menschen zu einem neuen Morgen. Im Ecce homo erscheint er in einem fremden Licht. Verstörend wirkt in ihm die Angst auslösende Überblendung von Süden, Musik und Venedig. Ecce homo ist als die Selbstinszenierung eines „ modernen Künstlers “ das Zeugnis seines Dissoziationserlebens. In einem Fragment 16(89) aus dem Nachlaß Frühjahr - Sommer 1888 schreibt Nietzsche: Die absurde Erregbarkeit seines Systems, die aus allen Erlebnissen Krisen macht und „ das Dramatische “ in die geringsten Zufälle des Lebens einschleppt, nimmt ihm alles Berechenbare: er ist keine Person mehr, höchstens ein Rendevous von Personen, von denen bald diese, bald jene mit unverschämter Sicherheit herausschießt. Eben darum ist er groß als Schauspieler: alle diese armen Willenlosen, welche die Ärzte in der Nähe 162 <?page no="163"?> studiren, setzen in Erstaunen durch ihre Virtuosität der Mimik, der Transfiguration, des Eintretens in fast jeden verlangten Charakter. (KSA 13, 517 f.) Dies ist ein erschütterndes Fragment innerer Selbstbeobachtung, fast prophetisch in der Vorwegnahme des künftigen Schicksals einer Zerrüttung der Identität. Die gesteigerte Nervosität des Künstlers wittert in jedem Gegenwärtigen die Ankunft künftiger Katastrophen. Als eine spätromantische Variante des dionysischen Typus, seiner orphischen Geneigtheit zu dem Reich des Nächtlich-Unterirdischen, ist seine Figur zum Dahinschwinden in der Geschichte verurteilt. Daneben der Schauspieler, verdammt, noch einige Zeit als ein klinischer Fall für Psychiater sich selbst zu überleben. Der entscheidende Gedanke, Schlußstein des Ecce homo, zielt auf ein „ Glück “ , in dem die Qual der Individualexistenz ausgelöscht ist. Als „ tragische Weisheit “ verkörpert sich in ihm das „ neue Lied “ einer Weltbejahung im Zeichen des fremden Gottes Dionysos. Die in ihm gebündelte Polarität von orgiastischer Zeugung und Vernichtung, die die dionysischen Mysterien in ihren Chören feiern, ist die mythische Form der von Heraklit gedachten Einheit der Gegensätze. Es ist die Einheit von Ähre (Demeter) und Blut (Dionysos). Ihr Lob stilisiert er im Ecce homo zu dem Zeichen seiner „ Weisheit “ . Das Ganze ist große Literatur. Als ein Mensch der Moderne glaubt Nietzsche in der Zeit seiner geistigen Gesundheit weder an Dionysos noch sind seine Ausführungen zu Heraklits Gedanken einer Versöhnung im Weltstreit des Logos über eigene philosophische Intentionen hinaus ein von ihm geteilter Glaube. Was uns immer noch zu faszinieren vermag - dies sei bei einer Würdigung seines Ecce homo hervorgehoben - , ist sein an Heraklit und der griechischen Tragödie geschulter Blick, in der Polarität von Dionysos und Proserpina die Geschwisterkinder von Leben und Tod zu sehen. Im Tag die Nacht, in der Nacht den Tag zu ahnen. Am 9. Januar 1889 erfolgt die Reise des kranken Nietzsche von Turin nach Basel. Overbeck berichtet über sie in einem Brief vom 15. Januar 1889 an Heinrich Köselitz: (. . .) N. durch Chloral schlafsüchtig gemacht, doch immer wieder erwachend, aber höchstens zu lauten Gesängen sich steigernd, darunter in der Nacht das wunderschöne Gondellied (. . .), dessen Herkunft ich später entdeckte, während mir beim Hören völlig rätselhaft war, wie der 163 <?page no="164"?> Sänger einen solchen Text noch zustande brachte, bei übrigens völlig eigentümlicher Melodie. Das „ Gondellied “ , von dessen Gesang Overbeck berichtet, ist eines der lyrisch vollkommensten Gedichte Nietzsches. Man erinnere sich: die Euphorie im Ecce homo, welche an einem „ vollkommenen Tag “ die tiefen „ Sonnenblicke “ auf den dem Abend sich zuneigenden Lebenslauf schenkt, wird überschattet von dem Geständnis: Wenn ich ein andres Wort für Musik suche, so finde ich immer nur das Wort Venedig. Ich weiss keinen Unterschied zwischen Thränen und Musik zu machen, ich weiss das Glück, den Süden nicht ohne Schauder von Furchtsamkeit zu denken. (KSA 6, 291) Unmittelbar an diese Stelle schließt sich das „ Gondellied “ an, Musik in einem sich rein übersteigenden Bezug der Seele zu sich selbst. An der Brücke stand jüngst ich in brauner Nacht. Fernher kam Gesang: goldener Tropfen quoll ’ s über die zitternde Fläche weg. Gondeln, Lichter, Musik - trunken schwamm ’ s in die Dämmerung hinaus . . . Meine Seele, ein Saitenspiel, sang sich, unsichtbar berührt, heimlich ein Gondellied dazu, zitternd vor bunter Seligkeit. - Hörte Jemand ihr zu? . . .. In der Innewerdung einer Ursituation des lyrischen Subjekts, eines Traumzustandes sind alle Impressionen - „ Gondeln, Lichter, Musik “ - ganz in den Innenraum seiner Seele verlegt. In einer auf keine Objektivation mehr bezogenen Formensprache fällt ein farblicher Bedeutungsakzent auf. Die Nacht ist braun, nicht aber schwarz oder blau. „ Braun “ ist eine gemischte Farbe. Ihrem spätherbstlichen Stimmungswert entsprechend ist das seelische Hintergrundkolorit zusammengesetzt. Dem Hörer des Gedichts teilt sich ein unbestimmt Fließendes mit. Ihm korrespondiert als Bild eine Wellenbewegung: „ Goldener Tropfen quoll ’ s/ über die zitternde Fläche weg. “ Die in der ersten Strophe des Gedichts zitierten Wahrnehmungsobjekte entgleiten dem Bewußtsein. Die zweite Strophe deutet die Seele als „ Saitenspiel “ . Das 164 <?page no="165"?> lyrische Subjekt, verwandelt, ist das „ Gondellied “ : Als Spiegelung und Echo ein reines „ Traumstück “ und der „ Widerhall einer Melodie, die verloren ging “ (Ralph-Rainer Wuthenow). Das Gedicht schließt mit der klagend bangen Frage nach der Existenz eines zuhörenden Gegenüber, der keine Antwort zuteil wird. Das venezianische „ Gondellied “ Nietzsches ist ein frühes Dokument der literarischen Moderne und steht mit seinen Valeurs noch jenseits der Differenzierung in symbolistische, impressionistische und expressionistische Traditionslinien. Von gleicher lyrischer Vollkommenheit wie das „ Gondellied “ ist Nietzsches sechster Dionysos-Dithyrambus Die Sonne sinkt (KSA 6, 395 - 397). In ihm kommen alle Spannungen, die sein Leben zerrüttet haben, zur Ruhe. Was ihn als lyrisches Sprachspiel auszeichnet ist seine „ vollkommene Übereinstimmung von philosophischer Reflexion, poetischer Bildlichkeit und musikalischem Klang “ (Heinrich Detering). Man muß ihn sich laut vorlesen, um seine Schönheit ganz in sich aufzunehmen. Wolfram Groddeck hat ihm eine exemplarische Lektüre gewidmet, der ich mich in meiner Deutung verpflichtet fühle. 2 Seele und Meer „ stehen “ in einem „ güldenen Abendlicht. Der Dithyrambus kann als eine der großen Todesdichtungen der Moderne gelesen werden. Er vereinigt in sich - schwerelos - symbolische Konstanten in einer Metonymie des Todes: die „ Nacht “ , den „ Schlaf “ , den „ Abend “ , das „ Meer “ . Ihre innere Bewegtheit - „ Tag meines Lebens! / gen Abend gehts! “ - folgt der Neigung der Lebenslinie über den Mittag und Nachmittag hin zu Abend und Nacht. Sie löst sich schmerzlos auf „ wie das Glück des Mittags, dessen Wärme noch von den abendlichen Felsen abgestrahlt wird. “ 3 Steht im ersten Teil die Frage: Schielt nicht mit schiefem Verführerblick die Nacht mich an? . . . beginnt der dritte Teil mit der Anrufung eines zur Todesheiterkeit verwandelten Glücks. Heiterkeit, güldene, komm! du des Todes heimlichster süssester Vorgenuss! 165 <?page no="166"?> Indem das herrschende Zeichen in der Nomenklatur des Todes, die Sonne, dem an seiner Erkenntnis „ verbrannten Herzen “ „ die große Kühle “ eines in den „ Abend “ gleitenden „ Nachmittages “ ankündigt, das Zuendegehen eines Lebenstages, dessen „ Purpur “ über „ weiße Meere “ gleitet, verheißt es eine „ güldene Heiterkeit “ , deren dionysisches „ Glück “ das seiner selbst „ müde “ gewordene Dasein einholt in Wellenspiel und Versinken in „ blaue Vergessenheit “ . Silbern, leicht, ein Fisch schwimmt nun mein Nachen hinaus. Die letzte Zeile gleicht in ihrer Bewegung einer „ grandiosen Null- Linie “ (Pia Daniela Schmücker). Ihre Euphonie, geprägt durch den hellklingenden i-Laut, gedämpft durch e, u, a, klingt in einer waagerechten Klanglinie aus. Sie ist Anzeige des Todes. Ursprünglich hatte Nietzsche erwogen, den Nachen „ in ’ s Nichts “ zu schicken. Die Verknappung „ hinaus “ mit ihrer betonten Silbe i weist, einem Wink gleich, über das Nichts hinaus ins Unbestimmt-Offene, ähnlich der Öffnung im venezianischen „ Gondellied “ : Trunken schwamm ’ s in die Dämmerung hinaus . . . Der Nachen ist Symbol für das Boot des Todes. „ Da steht der Nachen, - dort hinüber geht es vielleicht in ’ s grosse Nichts. - Aber wer will in diess „ Vielleicht “ einsteigen? / Niemand von euch will in den Todes- Nachen einsteigen! “ , heißt es in Also sprach Zarathustra (KSA 4, 259). Der Nachen hat sich in den Fisch verwandelt. Das seiner zufällig menschlich individuierten Lebensgestalt los gewordene Lebenspartikel gibt in der Metamorphose des Todes sich als bewußtlos Aquatisches, „ Fisch “ , der durchsichtig flüssigen Formlosigkeit seines ewig schweigenden Ursprungselement, dem Meer, zurück. In dieser Rückgabe, Opfer des „ principium individuationis “ , erfüllt sich sein Glück. Mit dem Dionysos-Dithyrambus Die Sonne sinkt, Nietzsches lyrisch vollkommenster Dichtung, endet die Unruhe seines Denkens. Der „ silberne Fisch “ , Zeichen für das vom „ Glück “ des Todes eingeholte flüchtige ‚ Ich ‘ , löst sich auf in ozeanisch grenzenlosem Blau. Entgrenzung einer individuierten Form des Lebens in einer durch die Sonne „ vergüldeten Fluth “ ist Zeichen für eine höchste Erfüllung: Die Verabschiedung eines individuellen Denkschicksals in einem Subjektlosen, das keinen Namen hat. 166 <?page no="167"?> Nachweise Einleitung 1 Hierzu Gerhardt, Volker: „ Experimental-Philosophie “ . Versuch einer Rekonstruktion, in: Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1988, S. 163 - 187 2 Kaulbach, Friedrich: Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, Köln/ Wien 1980, S. 288 3 Deleuze, Gilles: Nietzsche und die Philosophie, Frankfurt a. M. 1985, S. 203 4 Derrida, Jaques: Sporen. Die Stile Nietzsches, in: Hamacher, Werner (Hg.), Nietzsche aus Frankreich, Berlin/ Wien 2003, S. 187 ff. 5 Colli, Giorgio: Nach Nietzsche, Frankfurt a. M. 1980, S. 109 6 Nehamas, Alexander: Nietzsche. Leben als Literatur, Göttingen 1991, S. 299 Tragische Gestaltgebung des Lebens 1 Jähnig, Dieter: Nietzsches Kunstbegriff, in: H. Koopmann, J. A. Schmoll (Hg.), Beiträge zur Theorie der Künste im 19. Jahrhundert, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1972, S. 26 − 68 2 Schefold, Karl: Griechische Kunst als religiöses Phänomen, Hamburg 1959 3 Hierzu: Meier, Christian: Die politische Kunst der griechischen Tragödie, München 1988 4 Theodorakopoulos, Johannes: Die Hauptprobleme der platonischen Philosophie, Den Haag 1972, S. 67 5 Wohlfart, Günter: „ Also sprach Herakleitos “ . Heraklits Fragment B 52 und Nietzsches Heraklit-Rezeption, Freiburg/ München 1991, S. 365 6 Schulz, Walter: Der gebrochene Weltbezug, Stuttgart 1994, S. 51 7 Hierzu: Koyré, Alexandre: Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, Frankfurt a. M. 2008 Die Philosophie des Vormittags 1 Hierzu: Brusotti, Marco: Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophische und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von der Morgenröthe bis Also sprach Zarathustra, Berlin/ New York 1997 2 Vattimo, Gianni: Friedrich Nietzsche, Stuttgart/ Weimar 1992, S. 42 3 Hierzu: Ricoeur, Paul: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt a. M. 1974 4 Hierzu: Theunissen, Michael: Negative Theologie der Zeit, Frankfurt a. M. 1991 5 Hierzu: Hillebrand, Bruno: Gottfried Benn und Friedrich Nietzsche, in: B. Hillebrand (Hg.), Nietzsche und die deutsche Literatur, Bd. 2, München 1978, S. 185 − 210 6 Vattimo, Gianni, op. zit., S. 71 7 Tugendhat, Ernst: Spiritualität, Religion und Mystik, in: K. Jacobi (Hg.), Mystik, Religion und intellektuelle Redlichkeit, Freiburg/ München 2012, S. 164 Die Philosophie des Mittags 1 Andreas-Salomé, Lou: Friedrich Nietzsche in seinen Werken, Frankfurt a. M. 1983, S. 255 167 <?page no="168"?> 2 Löwith, Karl: Nietzsche. Zeitgemässes und Unzeitgemässes. Auswahl und Einleitung, Frankfurt a. M./ Hamburg 1956, S. 19 f. 3 Siehe hierzu den Film von Alain Renais „ Letztes Jahr in Marienbad “ Die Philosophie des Nachmittags 1 Montinari, Mazzino: Friedrich Nietzsche. Eine Einführung, Berlin/ New York 1991, S. 99 2 Gerhardt, Volker: Friedrich Nietzsche, München 1992, S. 182 3 Ich nehme Bezug auf Franz Kafkas Roman Der Verschollene (1912). Im sechsten Kapitel verweisen der Operngucker, das rote Kleid, der Sonnenschirm der Brunelda als Requisiten des Theaters auf die Sphäre des Scheins und der Kunst. 4 Zitiert bei Grassi, Ernesto: Kunst und Mythos, Hamburg 1957, S. 116 5 Hölscher, Tonio: Die unheimliche Klassik der Griechen, Bamberg 1989, S. 23 6 Hierzu: Wennerscheid, Sophie: Das Begehren nach der Wunde. Religion und Erotik im Schreiben Kierkegaards, Berlin 2008 7 Hierzu: Veyne, Paul: Die griechisch-römische Religion. Kult, Frömmigkeit und Moral, Stuttgart 2008 8 Hierzu: Tugendhat, Ernst: Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie, München 2006, S. 123 f. 9 Hierzu: Tugendhat, Ernst: Anthropologie statt Metaphysik, München 2010, S. 191 ff. 10 Nagel, Thomas: Was bedeutet das alles? Eine ganz kurze Einführung in die Philosophie, Stuttgart 2008, S. 106 11 Hierzu: Detering, Heinrich: Der Antichrist und der Gekreuzigte. Friedrich Nietzsches letzte Texte, Göttingen 2010 12 Die in diesem Phänomen sich dokumentierende Unruhe ist die Suchbewegung nach einem Unbekannten. Das Begehren nach dem Eintritt in ein imaginäres Schloß ist Thema von Franz Kafkas letztem Roman. 13 Hierzu: Albert, Karl: Platonismus. Platons Erbe und das abendländische Philosophieren, Darmstadt 2008 14 Löwith, Karl (Auswahl und Einleitung): Friedrich Nietzsche. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, Frankfurt a. M. 1959, S. 13 15 Johann Peter Hebel, dem wir das herrliche Gedicht Die Vergänglichkeit verdanken, schließt die Allemannische Gedichte (1803) mit einem Gang auf den Friedhof. Im Anblick eines Grabes sagt er uns im Ton verschwiegener Andeutung: „ Sel Plätzli het e gheimi Tür, und ’ sin no Sachen ehne dra. “ 16 Leibniz, Gottfried Wilhelm: Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade, in: Werke Bd. 2, hg. von E. Cassirer, Leipzig 1924, S. 431 17 Heinrich, Klaus: Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen, Frankfurt a. M. 1985, S. 151 18 Es ist eine philosophische Herausforderung, darüber nachzudenken, daß so bedeutende Repräsentanten der Philosophie und der Literatur wie Nietzsche und Kafka, beide in ihrem Werk Hinweise auf die Heimholung durch den Tod gegeben haben. Nietzsche an der erwähnten Stelle aus dem vierten und letzten Teil von Also sprach Zarathustra, Kafka in seinem Roman Das Schloß. An seinem Ende gibt es eine traumartige Begegnung zwischen der Herrenhofwirtin und K.. In ihr kommt es zu einem Gespräch über ihre „ sehr schönen Abendkleider “ . Die letzten Worte der Wirtin an K. sind ein Wink: „ Ich bekomme morgen ein neues Kleid, vielleicht lasse ich dich holen. “ Hierzu: Ries, Wiebrecht: Nietzsche/ Kafka. Zur ästhetischen Wahrnehmung der Moderne, Freiburg/ München 2007, S. 81 f. 168 <?page no="169"?> Untergang und Verklärung 1 Hierzu: Ries, Wiebrecht: Ecce homo, in: Nietzsche-Lexikon, hg. von Ch. Niemeyer, 2. Aufl. Darmstadt 2011, S. 88 − 90 2 Groddeck, Wolfram: Friedrich Nietzsche. „ Dionysos-Dithyramben “ Bd. 2, Berlin/ New York 1991, S. 391 − 427 3 Detering, op. zit., S. 103 169 <?page no="170"?> Systematisches Literaturverzeichnis 1. Ausgaben KGW Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/ New York 1967 ff. KSA Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/ Berlin/ New York 1980 (text-, aber nicht seitengleich mit der KGW). - Zitiert wird aus KSA, Bd.-Nr., Seitenzahl KGB Nietzsche, Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, fortgeführt von Norbert Miller und Annemarie Pieper, Berlin/ New York 1975 ff. KSB Friedrich Nietzsche, Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/ Berlin/ New York 1986. - Zitiert wird aus KSB, Bd.-Nr., Seitenzahl BAW Friedrich Nietzsche. Jugendschriften in 5 Bänden, hg. von Hans Joachim Mette, Karl Schlechta und Carl Koch, München 1994. 2. Hilfsmittel (Lexika) NHB Henning Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, Stuttgart/ Weimar 2000. NL Christian Niemeyer (Hg.), Nietzsche-Lexikon, 2., erweiterte Aufl. Darmstadt 2011. SAI Karl Schlechta, Nietzsche-Index zu den Werken in 3 Bänden, München 1965. Wagner und Nietzsche. Ein Handbuch, hg. von Stefan Lorenz Sorgner, H. James Birx, Nikolaus Knoepffler, Reinbek bei Hamburg 2008. 3. Einführungen Montinari, Mazzino: Friedrich Nietzsche. Eine Einführung, Berlin/ New York 1991. Vattimo, Gianni: Friedrich Nietzsche. Eine Einführung, Stuttgart/ Weimar 1992. Figal, Günter: Nietzsche. Eine philosophische Einführung, Stuttgart 1999. Über Friedrich Nietzsche. Eine Einführung in seine Philosophie, hg. von Matthias Lutz-Bachmann, Frankfurt a. M. 1985. Ries, Wiebrecht: Nietzsche zur Einführung, 8. Aufl. Hamburg 2009. Stegmaier, Werner: Nietzsche zur Einführung, Hamburg 2011. 170 <?page no="171"?> 4. Nietzsche-Forschung NSt Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, begründet (1972) von Mazzino Montinari, Wolfgang Müller- Lauter, Heinz Wenzel, (seit 2010) hg. von Günter Abel, Werner Stegmaier, Berlin/ New York NF Nietzsche-Forschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft, hg. von Volker Gerhardt und Renate Reschke, Berlin 1993 ff. NNSt New Nietzsche Studies. The Journal of the Nietzsche Society, Begründet und hg. von David B. Allison und Babette Babich, New York 1996 ff. MTNF Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, begründet von Mazzino Montinari, Wolfgang Müller-Lauter, Heinz Wenzel, seit 2010 hg. von Günter Abel, Werner Stegmaier, Berlin/ New York 1972 ff. 5. Biographien Overbeck, Franz: Erinnerungen an Friedrich Nietzsche. Mit Briefen an Heinrich Köselitz, Berlin 2011. Janz, Curt Paul: Friedrich Nietzsche. Biographie, 3 Bde., München 1978 - 79 Ross: Der ängstliche Adler. Friedrich Nietzsches Leben, München 1984. Wuthenow, Ralph-Rainer: Friedrich Nietzsche. Leben, Schriften, Zeugnisse, Frankfurt a. M. und Leipzig 2000. Schmücker, Pia Daniela: Nietzsche im Labyrinth der Krankheit. Eine medizinisch-biographische Untersuchung, Würzburg 1990. Schlechta, Karl: Nietzsche Chronik. Daten zu Leben und Werk, München 1975. 6. Gesamtdarstellungen Andreas-Salomé, Lou: Friedrich Nietzsche in seinen Werken, Frankfurt a. M. 1983. Fink, Eugen: Nietzsches Philosophie, Stuttgart/ Berlin/ Köln/ Mainz 1960. Jaspers, Karl: Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens (1936), Nachdruck der 4. Aufl. 1974, Berlin/ New York 1981. Heidegger, Martin: Nietzsche, 2 Bde., Pfullingen 1961. Löwith, Karl: Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, (1956), Wiederabdruck in: Sämtliche Schriften 6, Stuttgart 1987, S. 101 - 384 Kaufmann, Walter: Nietzsche. Philosoph - Psychologe - Antichrist, übersetzt von Jörg Salaquarda, Darmstadt 1982. Kaulbach, Friedrich: Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, Köln/ Wien 1980. Ottmann, Henning: Philosophie und Politik bei Nietzsche, Berlin/ New York 1987. 171 <?page no="172"?> Müller-Lauter, Wolfgang: Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin/ New York 1971. Gerhardt, Volker: Friedrich Nietzsche, München 1992. Nehamas, Alexander: Nietzsche. Leben als Literatur, Göttingen 1991. Pütz, Peter: Friedrich Nietzsche, Stuttgart 1975. Deleuze, Gilles: Nietzsche und die Philosophie, München 1976. 7. Einzeluntersuchungen Biser, Eugen: „ Gott ist tot “ . Nietzsches Destruktion des christlichen Bewußtseins, München 1962. 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Die andere spektakuläre Entscheidung des Herausgebers betrifft den didaktischen Zugriff: Einer Einführung in Leben, Werk und Wirkung Nietzsches und einer Art Einstimmung mittels ausgewählter Briefpassagen und Sentenzen folgt der eigentliche Quellenteil mit sorgfältigen Erläuterungen zum jeweils präsentierten Werk und zu den ausgewählten Quellentexten. Gep egt werden soll dabei die Tugend des genauen Lesens, der philologischen Exaktheit, der Anstrengung des Begriffs. Gefördert werden soll die Freude des Lesers, der plötzlich entdeckt, dass an Nietzsche doch sehr viel mehr dran ist als bis dato von ihm vermutet. Der Leser soll neugierig gemacht werden auf mehr von, aber auch auf mehr über Nietzsche, diesen so häu g missverstandenen und missbrauchten „neuen Philosophen“. Das Buch ist nicht nur zum ersten Einstieg für Neugierige, sondern auch zum Einsatz in Schule und Hochschule bestens geeignet. 201 , 2 <?page no="176"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Montaigne bildet eine Ausnahme im Mainstream der westlichen Tradition. In einer Zeit fanatischer Religionskriege bezeugen seine „Essais“ humanistische Weisheit und kosmopolitische Toleranz. Montaignes Weg führt von der Selbstschilderung zur Beschreibung der Umstände und Maßgaben des Menschseins insgesamt. „Was weiß ich? “ heißt die Leitfrage eines Philosophierens auf sokratische Weise, inmitten von Menschen und Dingen. Der Essayist findet so zu einer Neubegründung der Skepsis. Veränderung und Vielfalt werden zu Zeichen der Fülle und der Lebendigkeit. Gewissheit des Wissens und restlose Selbsterkenntnis mögen unerreichbar bleiben, nicht aber Loyalität gegenüber der menschlichen Grundverfassung und die Befähigung, das Dasein recht genießen zu können. So gewinnt er Einsichten, die heute, da Polarisierung und Fanatisierung erneut an der Tagesordnung sind, erst recht interessieren müssen. „Neue Erscheinung: ein Philosoph ohne Vorbedacht und Plan.“ Essais II, 12 Hans Peter Balmer Montaigne und die Kunst der Frage Grundzüge der Essais 2008, 128 Seiten, €[D] 19,90/ Sfr 35,90 ISBN 978-3-7720-8261-0 008708 Auslileferung Februar 20011 11 13.02.2008 14: 36: 39 Uhr