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Reflexionen des Ikonischen

Jean Pauls narrative Bildlogik in seinen Satiren und seinem Romanerstling

0815
2012
978-3-7720-5458-7
978-3-7720-8458-4
A. Francke Verlag 
Sonja Böni

Der Fokus der vorliegenden Dissertationsschrift liegt auf der Zäsur des in der Forschung in zwei Werkkomplexe geteilten Gesamtwerkes Jean Pauls, auf dem Übergang von den Satiren zu seinem Romanerstling, der Unsichtbaren Loge. Vorgeschlagen wird eine Lektüre, welche in diesem Übergang keinen Bruch, sondern konzeptionelle Kontinuität ausmacht - trotz der Differenzen, die zwischen den beiden Textgattungen durchaus bestehen. Böni legt dar, dass diese Differenzen in dem sich in den beiden Textgattungen jeweils unterschiedlich veräussernden Verhältnis von Bildlichkeit und Narration begründet liegt. Mit ihren Analysen gelingt es ihr, die literarischen Erzeugnisse des Zettelkastenautors nicht länger als defizitäre, sondern als beziehungsreiche, mehrschichtige, vor allem aber als geordnete Gebilde zu begreifen. Es wird deutlich, dass sowohl in den Satiren als auch im Romanerstling eine ikonische Lektüre den Schlüssel zum Verständnis der komplexen literarischen Texterzeugnisse darstellt: Es erhellt, inwiefern der strukturell bedingte Tod der satirischen Narration eine stehende Bilderflut freisetzt, und inwiefern die Sinngenerierungsverfahren des paragrammatisch organisierten Logen-Textes denjenigen von modernen Kunst-Bildern ähneln.

<?page no="0"?> A. Francke Verlag Tübingen und Basel Sonja Böni Reflexionen des Ikonischen Jean Pauls narrative Bildlogik in seinen Satiren und seinem Romanerstling <?page no="1"?> Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur Herausgegeben von Heike Behrens, Annelies Häcki Buhofer, Wolfram Groddeck, Alexander Honold, Rüdiger Schnell und Ralf Simon Band 91 <?page no="3"?> Sonja Böni Reflexionen des Ikonischen Jean Pauls narrative Bildlogik in seinen Satiren und seinem Romanerstling A. Francke Verlag Tübingen und Basel <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Dissertationenfonds der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Basel (Max Geldner-Fond) und der Basler Studienstiftung. © 2012 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISSN 0067-4508 ISBN 978-3-7720-8458-4 <?page no="5"?> 5 Danksagung Grosser Dank für ihre kritischen Lektüren, ihre weiterführenden Hinweise sowie ihre stets engagierte Begleitung meiner Arbeit gebührt meinem Doktorvater Prof. Dr. Ralf Simon und ebenso meinem Korreferenten Prof. Dr. Maximilian Bergengruen. Bedanken möchte ich mich auch bei Prof. Dr. Birgit Mersmann, Dr. Carsten Knigge Salis und Dr. Alessandra Ceresoli für die ausführlichen Lektüren und Diskussionen sowie beim Schweizer Nationalfonds für die finanzielle Unterstützung. Ganz besonders danke ich meiner Freundin, Dr. des. Sonja Grieder, die mich auf meinem Weg mit ihrem kritischen Geist und geschätzten Rat durch dick und dünn begleitet hat. Nicht zuletzt danke ich meinem Lebenspartner, Thomas Luginbühl, und meinen Eltern, Annamaria und Peter Böni-Gamma, ganz herzlich für ihre unermüdlichen Aufmunterungen und ihre Geduld beim Entstehen meiner Arbeit. <?page no="7"?> 7 Inhaltsverzeichnis Danksagung...........................................................................................................5 1 Einleitung.........................................................................................................9 2. Jean Pauls Satiren: die Wort-Irrgärten ......................................................15 2.1. Rhetorische Analyse als Schlüssel zum Verständnis.......................16 2.1.1 Verquere Textualität verunmöglicht unmittelbare Visualisierung (Meine lebendige Begrabung)............................16 2.1.2 Vielschichtige Textbausteine statt Handlungslogik I (Beweis, daß man den Körper nicht blos für den Vater der Kinder, sondern auch der Bücher anzusehen habe) .....................21 2.1.3 Kunst des Vergessens ...............................................................26 2.1.4 Vielschichtige Textbausteine statt Handlungslogik II .........28 2.2. Lektüreprozess als Hysteron Proteron ..............................................31 2.2.1 Exkurs: Tod als Legitimationsmoment der Erzählung ........32 2.3 Struktureller Tod - Verschluckungsverfahren................................35 2.4 Textproduktion als Hysteron Proteron .............................................38 2.5. Kontrolliert assoziative Aneinanderreihung der Gedankenblitze (Einfältige aber gutgemeinte Biographie einer neuen angenehmen Frau von bloßem Holz).....................................................................................41 2.5.1 Commercium-Debatte: Descartes’ Antwort ..........................42 2.5.2 Holzfrau: Commercium ...........................................................44 2.5.3 Holzfrau: res extensa ................................................................45 2.5.4 Holzfrau: res cogitans...............................................................46 2.5.5 Déjà-Vu: Vergessensverfahren, Verschluckungsverfahren, Bildlogik .....................................................................................51 2.5.6 Geordnete Ungeordnetheit ......................................................54 2.6 Rückblick - Vorschau ..........................................................................56 3. Narratologische Analyse der Unsichtbaren Loge ...................................61 3.1. Jean Pauls Schreibpraxis......................................................................61 3.1.1 Wirre Aneinanderreihungen eines pathologischen Autors 61 3.1.2 Versteckte Ordnung, unsichtbare Logik ................................67 3.2. Strukturalistische Interpretationsverfahren .....................................71 3.2.1. Oberflächentexte und Tiefenmodelle .....................................71 3.2.2. Anwendung strukturalistischer Analysemethoden auf Jean Pauls Texte ........................................................................79 3.3 Das konnotative Ordnungsprinzip....................................................89 <?page no="8"?> 8 4. Literarische Bilder im paragrammatischen Textraum ...........................95 4.1. Der im Inhaltsverzeichnis versteckte Bauplan .................................96 4.1.1. Veräusserlichung des Kodes auf inhaltlicher Ebene ..........101 4.2 Textuelle IkonizitätI: Simultaneität..................................................120 4.3. Polyphoner Höhlenraum: die dreifach bestimmte Bildungsstätte ...............................................................................127 4.3.1 Die Christus-Höhle .................................................................129 4.3.2 Die Freimaurer-Loge ..............................................................130 4.3.3 Die Platos-Höhle .....................................................................135 4.4 Textuelle Ikonizität II: Mehrstimmigkeit ........................................140 4.5. Vernetzte Kreisschlüsse.....................................................................144 4.5.1. Thematische Verknüpfungslogik im paragrammatischen Raum.........................................................................................146 4.5.2. Motivische Verknüpfungslogik im paragrammatischen Raum.........................................................................................160 4.5.3 Szenische Verknüpfungslogik im paragrammatischen Raum: Blindekuhspiel ............................................................174 4.6 Textuelle Ikonizität III: Rekursivität ................................................179 4.7. Lexikon und Syntax im paragrammatischen Raum ......................182 4.7.1 Bedeutungsgenerierung, Polyvalenz, Synchronismus ......182 4.7.2 Gesetze der Grammatik durchbrechen und zugleich implizit bestehen lassen .........................................................185 4.8. Der Text als Hieroglyphe ..................................................................189 4.8.1 Reine Signifikanz - mentale Kommunikation ....................192 4.8.2 Literarische Phantasie nach dem Modell der natürlichen Magie ........................................................................................195 4.8.3 Das magische Schrift-Bild-Zeichen.......................................198 4.8.4 Herders Schöpfungshieroglyphe als Muster für Jean Pauls Poesie .................................................................204 5 Epilog ............................................................................................................215 6 Anhang .........................................................................................................219 7 Siglen ............................................................................................................230 8. Bibliographie...............................................................................................234 8.1 Primärliteratur ....................................................................................234 8.2 Sekundärliteratur ...............................................................................235 8.3 Lexika...................................................................................................248 8.4 Internetquellen ...................................................................................249 ... <?page no="9"?> 9 1 Einleitung „[Aus] allen Winkeln des Gehirns kriechen verborgene Einfälle hervor, jede Ähnlichkeit, jede die Stammutter einer Familie von Metaphern, samlet ihre unähnlichen Kinder um sich, und gleich einer wandernden Mäusefamilie, hängt sich ein Bild an den Schwanz des andern; - alle Saiten des hohlen Kopfes tönen zu einem gleichzeitigen Misklang, das Gedächtnis wirft seine gestohlnen Schäze aus, und wie Heu durch die Nässe, erhizt sich der zusammengeraubte Haufen von verwelkten Blumen durch das Getränke. Nur auf diese Weise kann der Parnas mit einem Bedlam weteifern, nur durch das Einsaugen einer solchen Lauge kann der Unsin zu einer pindarischen Höhe aufschiessen.“ (II/ 1, 381) Das Autor-Ich, das sich in der satirischen Skizze Über die Schriftstellerei. Ein Opusculum posthumum zu Wort meldet, beschreibt in diesen Zeilen das, was sich im Dichterkopf abspielt, wenn Dichter - wann immer ihnen ihr „dichterische[s] Feuer“ abhanden kommt - ihrer Phantasie mit künstlichen Reizungen (mit Wein beispielsweise) auf die Sprünge helfen. Als Ergebnis der derart reaktivierten Schöpferkräfte, so das Autor-Ich weiter, resultiere „gereimte[r] Unsin“ (II/ 1, 381) - resultieren, mit anderen Worten, Jean Pauls Satiren. Ihnen, den Satiren, ist der erste Teil der hier vorliegenden Arbeit gewidmet. Im zweiten Teil analysiert die Verfasserin Jean Pauls Romanerstling, die Unsichtbare Loge. Der Fokus ihrer Arbeit liegt folglich auf der Zäsur des in der Forschung in zwei Werkkomplexe geteilten Gesamtwerkes Jean Pauls, auf dem Übergang von den Satiren zum Romanwerk. Vorgeschlagen wird eine Lektüre, welche in diesem Übergang keinen Bruch, sondern konzeptionelle Kontinuität ausmacht, ohne dabei die Differenzen, die zwischen den beiden Textgattungen durchaus bestehen, leugnen zu wollen. Ausgegangen wird von der Tatsache, dass beiden Textgattungen - den Satiren mehr noch als den Romanen - nachgesagt wird, nur schwer lesbar zu sein, wobei dieser Umstand dem unstrukturierten, ja, chaotischen Zustand angelastet wird, in welchem der Autor seine Texte präsentiert. Eine solche Auffassung, so bleibt zu bedenken, kommt dann zustande, wenn von der handlungslogischen als der idealen Textordnung ausgegangen wird. Es wird erläutert, inwiefern ein solcher Ansatz in Bezug auf den vorliegenden Textkorpus zu kurz greift. Ausgehend von der jeweils lediglich rudimentär vermittelten Fabel - denn ‚erzählt’ wird sowohl in den Satiren als auch in den Romanen trotz allem - wird es gelten, alternative Ordnungsmodelle zu eruieren, welche die Satirentexte/ den Romantext anstelle der Handlungslogik organisieren. Indem die Satirentexte wie auch die Unsichtbare Loge hinsichtlich ihres Verhältnisses von Bildlichkeit und Narration untersucht werden, ist es möglich, Jean Pauls literarische Er- <?page no="10"?> 10 zeugnisse nicht länger als defizitäre, sondern als beziehungsreiche sowie mehrschichtige, vor allem aber als geordnete Gebilde zu begreifen. Es wird deutlich werden, dass, obwohl sich die Wechselbeziehung zwischen Bildlichkeit und Narration in den Satiren gänzlich anders veräussert als im Romanerstling, eine ikonische Lektüre in beiden Fällen den Schlüssel zum Verständnis der komplexen literarischen Texterzeugnisse darstellt. In den Satiren, diesen „Sturz[bächen] von gelehrten, kuriosen, abwegigen und einleuchtenden, erträglichen und unerträglichen Assoziationen […] [bleibt eine] innere Ordnung“, bleibt „Sinn“ - wie eben angedeutet - zunächst verborgen, 1 was mit ein Grund dafür sein mag, dass die Forschung Jean Pauls Frühwerk lange Zeit vernachlässigt hat. 2 So eilt dem satirischen Textkorpus bekanntlich der Ruf voraus, lediglich eine notwendige Probierstätte des Autors auf seinem Weg zum empfindsamhumoristischen Schreiben zu sein. Der Mythos, Jean Pauls Todesvision vom 15. November 1790 als initiatorisch in Bezug auf sein Romanschreiben zu betrachten, bedarf jedoch - dies wurde bereits angedeutet - einer Revision. Die vorliegenden Analysen von Jean Pauls Satirentexten sind darauf ausgerichtet, die verbreitete Auffassung Jean Pauls Satirenkorpus betreffend zu modifizieren, indem die als ‚gereimte Unsinnigkeiten’ verschrienen Texte nicht länger bloss als Produkte eines noch unreifen Dichtergeistes angesehen, sondern die Satiren als eigenständige literarische Texte ernst genommen werden. 3 Im Anschluss an Wilhelm Schmidt-Biggemann, der Jean 1 Wilhelm Schmidt-Biggemann: Vom enzyklopädischen Satiriker zum empfindsamen Romancier. Jean Pauls frühe Entwicklung, S. 263. (Im Folgenden zitiert als Frühe Entwicklung.) 2 Vor Schmidt-Biggemanns Monographie werden die Satirentexte hauptsächlich als nötige Vorstufe auf Jean Pauls Weg zum Romanschriftsteller angesehen. Danach entstehen einige wenige Aufsätze, die sich mit den Satiren befassen - wie beispielsweise Peter Sprengels Maschinenmenschen (1977) oder Stephanie Barbé Hammers Kollaps und Kritik (1985). Aktuelle Beiträge bringt die Erschliessung von Jean Pauls Nachlass, welche die Würzburger Arbeitsgruppe um Helmut Pfotenhauer leistet, hervor. Neben regelmässigen Arbeitsberichten aus der Editionswerkstatt, die sich seit 1999 im Jean Paul Jahrbuch finden, sind z.B. Monika Straubs und Monika Vinces „Wetterleuchtende Demant- und Zaubergrube“. Zur Produktivität des Todes in Jean Pauls Exzerpten und literarischen Schriften (2004) und Christian Schwaderers Jean Pauls Quellmaschinerie. Der satirische Nachlass aus textgenetischer Sicht (2010) zu nennen. Der letztgenannte Aufsatz findet sich eingebettet in all jene Aufsätze, die im Anschluss an die Satire-Tagung „‚Pfiffe im Kopf großbrüten’. Poetologie, Ikonizität und Epistemologie in Jean Pauls Jugendsatiren“ entstanden sind, welche am 5. und 6. Juni 2009 in Basel stattgefunden hat. Die Beiträge, für die neben Christian Schwaderer auch Matthias Bauer, Maximilian Bergengruen, Ulrich Gaier, Wilhlem Schmidt-Biggemann und die Verfasserin selbst verantwortlich zeichnen, finden sich im Jean Paul Jahrbuch 45 (2010) abgedruckt. 3 Flankiert werden die Ergebnisse der Verfasserin von Matthias Bauers, Maximilan Bergengruens und Ulrich Gaiers jüngsten Beiträgen zu Jean Pauls Satirentexten, in welchen diese, indem sie aufzeigen, dass auch der empfindsame Zug von Beginn an in <?page no="11"?> 11 Pauls Jugendsatiren als erster nicht nur als ‚Mittel zum Roman’ aufgefasst hat, sondern bestrebt war, ihnen selbst gerecht zu werden, indem er in seiner wegweisenden Studie Maschine und Teufel die intellektuelle Leistung der Satiren betont, wird auf das genuin poetische Potential der Satirentexte näher eingegangen. Damit wird Schmidt-Biggemanns wissenschaftshistorische Perspektive - in der dieser die Reflexionsniveaus der Satiren anhand von wissenschaftshistorischen Modellgeschichten herausarbeitet und beschreibt, wie Jean Paul ausgehend von seinen Exzerpten die Epistemologien seiner Zeit aufgreift, um ihnen seine eigene Auslegung satirischkritisch gegenüber zu stellen - um eine spezifisch poetologische ergänzt. Die vorliegenden Analysen nehmen in dem der Forschung vertrauten Faktum, dass Jean Pauls Satirentexte nicht handlungslogisch organisiert sind, ihren Ausgang. Der Zettelkastenautor Jean Paul generiert aufgrund seiner ihm eigenen Art, sein Wissen zu organisieren, aufgrund seiner „kuriose[n] Enzyklopädik“ 4 also, Texte, die sich sowohl einer unmittelbaren Visualisierung als auch einer narratologischen Sinnrekonstruktion sperren. Mit der Erstlektüre der Satirentexte setzt folglich kein Verstehensprozess ein. Ein am Thematischen orientierter Lesedurchgang ist nicht möglich. Um die alternative Logik, der die Satirentexte statt der Handlungslogik folgen, zu eruieren, wird die Verfasserin exemplarische Close-readings einer späteren (Meine lebendige Begrabung (1790)) sowie einer frühen Satire (Beweis, daß man den Körper nicht blos für den Vater der Kinder, sondern auch der Bücher anzusehen habe (zwischen 1783 und 1784)) durchführen. (Die Schlussfolgerungen aus den Close-readings haben für sämtliche satirischen Texte Jean Pauls Gültigkeit.) Mittels einer rhetorischen Analyse gelingt es ihr die Texte zu entziffern und somit ein Verstehen möglich zu machen. Aus ihren Analysen erhellt, dass Jean Pauls Satirentexte formal wie inhaltlich in sich verharren, dass in ihnen die Handlungslogik zugunsten einer Bildlogik aufgegeben wird. Es wird gezeigt, inwiefern ein solches Textverfahren in einer Arretierung des (horizontalen) Handlungsverlaufs, mit anderen Worten, im strukturell bedingten Tod der satirischen Narration resultiert, und zugleich - auf der vertikalen Textebene - eine stehende Bilderflut freisetzt. Das momenthaft ungestüme Aufflackern eines jeden Bildes, dem seine unverzügliche Auslöschung folgt, wird tetxuell-logisch einerseits als Verschluckungs- und andererseits als Vergessensverfahren beschrieben. Jean Pauls satirischem Schreiben angelegt war, in Jean Pauls Schaffen ebenfalls statt eines Bruches Kontinuität ausmachen. - Matthias Bauer: Das enzyklopädische Ich. Überlegungen zum Regelwerk von Jean Pauls Jugendsatiren am Beispiel der ‚Baierischen Kreuzerkomödie’, Maximilan Bergengruen: Pol und Gegenpol eines Magneten - Zwei Studien zu Jean Pauls Konzept der Doppel-autorschaft in ‚Siebenkäs’, ‚Flegeljahren’ und ‚Komet’, Ulrich Gaier: Mängel der Einbildungskraft als Gegenstände der Satire. 4 Schmidt-Biggemann: Frühe Entwicklung, S. 274. <?page no="12"?> 12 Obwohl oben festgestellt wurde, dass der biographische Mythos nicht länger haltbar ist, der besagt, Jean Pauls Todesvision befähige ihn erst dazu, seine „satirische[] Essigfabrik“ (I/ 1, 15) zu beenden und mit dem Romanschreiben zu beginnen, kommt der Leser von Jean Pauls Gesamtwerk nicht umhin, die Andersgeartetheit der Satiren- und Romantexte zu konstatieren. Die unverkennbaren Differenzen zwischen Jean Pauls Satiren und seinem Romanwerk liegen in dem sich in den beiden Textgattungen jeweils unterschiedlich veräussernden Verhältnis von Bildlichkeit und Narration begründet. In der Unsichtbaren Loge präsentiert sich dieses Verhältnis dahingehend als ein grundlegend anderes als in den Satiren, da in ihr die Arretierung des Handlungsverlaufs einem digressiven und zugleich Ebenen übergreifenden Fortschreiten von einem Handlungselement zum nächsten weicht. Indem Jean Paul die Leser seines Romanerstlings mit seiner ausschweifenden Schreibpraxis regelrecht von der Fabel weg hin an die Seitenränder des Textes drängt, macht er deutlich, dass es ihm nicht darum geht, sie mit der Schilderung eines linearen Handlungsverlaufs zu fesseln. Das Ungenügen einer linearen Textordnung erscheint dabei durchaus kalkuliert, betont der Autor doch immer wieder, wie gross seine „Unlust zu fabulieren“ 5 sei, wie sehr er es hasse, Geschichten zu erzählen. Das alternative, anti-lineare Organisationsprinzip des Logen-Textes, das mit dem Begriff der Digression nur unzureichend erfasst wird, 6 erschliesst sich der Verfasserin über eine Analyse der narrativen Verfahren des Romanerstlings. Es zeigt sich, dass der Zugang zum Ordnungsmodell der Unsichtbaren Loge wie schon bei den Satiren ein bildlogischer ist. Mit dem Terminus ‚Bild’ bezieht sich die Verfasserin in ihrer Romananalyse allerdings nicht auf naheliegende literarische Konzepte von ‚Bildlichkeit’, wie beispielsweise (i) Traumvisionen, (ii) Metaphern oder (iii) Bildkommentare. Untersuchungen dieser sprachbildlichen Phänomene haben andere in der Jean Paul Forschung bereits geleistet - ad (i): So beschreibt beispielsweise Norbert Miller Jean Pauls Visionsdichtung als Bestreben des Autors, Alltäglichkeit auf Unendlichkeit hin zu überschreiten. Literarische Wirklichkeit werde aufgrund punktueller Jenseits-Erfahrungen, aufgrund von Blicken in die Traumwelt, konstituiert. In Bild- und Wortkaskaden würde versucht, die Grenzen zwischen Bild und Bedeutung aufzuheben. 7 Helmut Pfotenhauers Überlegungen zu Jean Pauls Visionen und Träumen, zu den Dämmerzuständen am Übergang vom Wachen zum Schlaf oder vom 5 Kurt Wölfel: Die Unlust zu fabulieren. Über Jean Pauls Romanfabel, besonders im ‚Titan’, S. 51. (Im Folgenden zitiert als Unlust.) 6 Gert Ueding formuliert dies folgendermassen: „Aus einem alten rhetorischen Kunstmittel, der Digression, hat er [SB: Jean Paul] einen ganzen Orchesterklang entwickelt“ (Gert Ueding: Episches Atemholen - über Jean Pauls widerspenstiges Erzählen, S. 65). (Im Folgenden zitiert als Episches Atemholen.) 7 Norbert Miller: Ottomars Vernichtvision. Bemerkungen zum Verhältnis von Traumwelt und Wirklichkeit bei Jean Paul. <?page no="13"?> 13 Schlaf zum Wachen, kulminieren im Begriff des ‚Empfindbildes’, mit dem er Jean Pauls Versuch, eine Poesie an der Grenze des Sagbaren zu etablieren, umschreibt. 8 Ad (ii): Sabine Eickenrodt verknüpft Jean Pauls sprachliche ‚Bildlichkeit’, die sie in Analysen der Mikrostrukturen der Texte herausarbeitet, metaphorologisch mit den zeitgenössischen epistemologischen Diskursen. 9 Waltraud Wiethölter erschliesst die historisch wie epistemologisch vielfältig verflochtenen Textgebilde am Leitfaden des Jean Paulschen Witz-Konzeptes. Sie versteht die unzähligen sprachlichen Metamorphosen, die sie im Werk Jean Pauls ausmacht, allesamt als Ausdruck seines Bestrebens, die poetische Utopie Wirklichkeit werden zu lassen, in der Sprache Wahrheit ausdrücken sowie Hoffnung auf eine Identität mit dem Ewigen stiften zu können. 10 Hans Esselborn bezeichnet mit dem Begriff der Bildlichkeit die Totalität der Sprachfiguren und Vergleichsbeziehungen. Er begreift den kombinierenden Witz als diejenige Kraft, mit der Jean Paul in seiner Poesie überlieferte naturwissenschaftliche sowie literarische Bilder aufgreift, verändert und - auf ihrer Basis - neue erschafft. 11 Ad (iii): Monika Schmitz-Emans schliesslich liest Jean Pauls Erklärung der Holzschnitte unter den zehen Geboten des Katechismus als parodistischen Bildkommentar. Zusätzlich zu den Pseudo-‚Erklärungen’, in denen den Bildern mehr zugeschrieben wird als sie sehen lassen, ist im Text auch eine spielerische Reflexion über die bildende Kunst und ihre Modi des ‚Bedeutens’ enthalten. 12 Die Verfasserin nun wird in ihrer Romanerstlings-Analyse ihren Fokus auf eine narrativ generierte Bildlichkeit legen. Anhand ihrer Ausführungen wird ersichtlich werden, dass das Organisationsprinzip des Logen-Textes auf einer Spatialisierung seiner narrativen Sequenzen gründet. Indem die literarischen Sinneinheiten der Unsichtbare Loge über die Textebenen hinweg zueinander in Beziehung treten und sich fortwährend anders zu integrativen, simultan koexistierenden Verbunden zusammenschliessen, wird 8 Helmut Pfotenhauers Erläuterungen erstrecken sich über mehrere Beiträge: Bilderfluch und Bilderflut. Zu Jean Pauls ‚Hesperus’ (1996), Das Leben schreiben - das Schreiben leben. Jean Paul als Klassiker der Zeitverfallenheit (2000/ 2001), Empfindbild, Gesichtserscheinung, Vision. Zur Geschichte des inneren Sehens und Jean Pauls Beitrag dazu (2003). 9 Sabine Eickenrodt: Augenspiel. Jean Pauls optische Metaphorik der Unsterblichkeit. 10 Waltraud Wiethölter: Witzige Illumination. Studien zur Ästhetik Jean Pauls. 11 Hans Esselborn: Das Universum der Bilder. Die Naturwissenschaft in den Schriften Jean Pauls. 12 Monika Schmitz-Emans: Die ‚Sprache’ der Bilder als Anlass des Schreibens: Spielformen des literarischen Bildkommentars bei Lavater, Lichtenberg, Jean Paul und Calvino. In ihrer Monographie Die Literatur, die Bilder und das Unsichtbare sowie ihrem Beitrag Das visuelle Gedächtnis der Literatur erkundet Schmitz-Emans allgemein mögliche - also nicht ausschliesslich bei Jean Paul beobachtete - Modelle von Text-Bild- Beziehungen. Ralf Simon entwickelt in Der poetische Text als Bildkritik einen Begriff der sprachlichen Bildlichkeit, indem er Sprachphilosophie und strukturalistische Semiotik zusammenführt. Er denkt poetische Bildlichkeit im Text als ikonische Poiesis der Dichtung, sieht aber den poetischen Text, als Text, zugleich dem Bild opponieren. <?page no="14"?> 14 der Logen-Text als ein dynamisch strukturiertes Ganzes vorstellig. Darin, dass die einzelnen Textelemente gleichzeitig mehreren Sinngeflechten angehören und sich folglich nicht auf einen eindeutigen Sinngehalt festlegen lassen, wird die ikonische Dimension ihres Bedeutens offenbar: Als bewegliche Elemente eines im Textraum aufgespannten Netzes von Korrespondenzen generieren sie unablässig neue Bedeutungsdimensionen des Logen- Textes. Derart sind sie Bildelementen vergleichbar, die sich als Bestandteile eines linien-, farb- und formgestalteten Beziehungsgeflechts gegenseitig umdeuten und so das Bild als je neues Sinngefüge vorstellen - denn ebenso wenig wie die poetischen gehen die ikonischen Elemente darin auf, konventionalisierte Referenzbezüge wiederzugeben. Gerade die vielfältig korrelierenden Grenzlinien und mehrdeutigen Farbkontraste machen durch ihr wechselseitiges Bezogensein aufeinander das komplexe Konstrukt Bild aus. - Wie in diesen einleitenden Ausführungen angedeutet und im Folgenden ausführlich expliziert wird, gelingt es anhand einer narratologischen Analyse von Jean Pauls Romanerstling erstaunliche Parallelen zwischen den Sinngenerierungsverfahren des paragrammatisch organisierten Logen-Textes und denjenigen, die sich an modernen Kunst-Bildern beobachten lassen, zu skizzieren. <?page no="15"?> 15 2. Jean Pauls Satiren: die Wort-Irrgärten „Gedanken […] wie Krötenlaich […] [kriechen] […] durch den Kopf und [denken] sich selbst“ (I/ 1, 73) Seit je stellt Jean Pauls satirischer Textkorpus eine besondere Herausforderung, in den meisten Fällen eine Überforderung, für seine Leserschaft dar. Das genuin poetische Potential zu analysieren, das diesen als monströse Schreibkonstrukte, als „Worturwälder und Assoziationswildnisse“ 13 verschrienen Texten eigen ist, hat die Forschung bis anhin versäumt. 14 In diesem Kapitel wird die Verfasserin anhand von exemplarischen Closereadings der Satiren Meine lebendige Begrabung, Beweis, daß man den Körper nicht blos für den Vater der Kinder, sondern auch der Bücher anzusehen habe sowie Einfältige aber gutgemeinte Biographie einer neuen angenehmen Frau von bloßem Holz deren literarische Wirkmächtigkeit herausarbeiten. Sie wird den Prozess einer Satirenlektüre nachzeichnen und ihn - nach erfolgter rhetorischer Analyse der Texte - in seiner Systematik beschreiben. Es wird erhellen, dass die Lektüreerfahrung von Jean Pauls Satiren rhetorisch mittels der Figur des Hysteron Proteron benannt werden kann. Das Hysteron Proteron umschreibt den Umstand, dass in diesen Texten bereits zur Erlangung einer Erstorientierung Textentzifferungsstrategien nötig sind, die normalerweise erst in einem zweiten Schritt auf die erste, am Thematischen orientierte Lektüre folgen. Aufgrund dieser Erkenntnis wird vorgeschlagen, statt der Handlungslogik, welche die Einheit der Satirentexte offensichtlich nicht zu stiften vermag, 15 die Bildlogik als das den Satiren zugrunde liegende alternative Ordnungsmodell zu denken. Statt eines kohärenten Handlungsverlaufs wird in Jean Pauls Satirentexten nämlich eine stehende Bilderflut geschildert, die sich jedoch nicht zu einem Gesamtbild vereinen lässt. In ihr streichen sich kurzzeitig präsente Bilder infolge eines Vergessens- (exemplarisch erläutert am Beweis) beziehungsweise eines Verschluckungsverfahrens (exemplarisch erläutert an Meine lebendige Begrabung) sogleich wie- 13 Günter de Bruyn: Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter: Eine Biographie, S. 66. 14 Eine Ausnahme bilden die berteis erwähnten Beiträge im 45. Jean Paul Jahrbuch (2010), die im Anschluss an die Satire-Tagung „‚Pfiffe im Kopf großbrüten’. Poetologie, Ikonizität und Epistemologie in Jean Pauls Jugendsatiren“ entstanden sind. Der Beitrag der Verfasserin, der in diesem Rahmen entstanden ist, hat das folgende Kapitel mit konstituiert. 15 Dies führt beispielsweise Schmidt-Biggemann aus: Es gibt „keine Handlungen, die die Satire trägt“ (Schmidt-Biggemann: Frühe Entwicklung, S. 280). <?page no="16"?> 16 der durch, sodass die Handlungslogik zugunsten einer Bildlogik aufgegeben wird. Am Beispiel der Analyse der Einfältigen Biographie wird schliesslich dem Umstand Rechnung getragen, dass sich Jean Paul in seinen Satirentexten intensiv mit zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskursen auseinandersetzt. Diese greift er auf, sie in satirische Bilderwelten zu übersetzen. Dabei geht es ihm weniger um das Abbilden der zur Debatte stehenden wissenschaftlichen Theoreme als darum, aus ihnen neue Hypothesen zu ziehen und in seinen Texten subjektiv auszulegen. Anhand der Argumentationspraxis in der Einfältigen Biographie gelingt es der Verfasserin zu zeigen, dass die den subjektiven Auslegungen entstammenden ‚neuen Argumente’ - entgegen der verbreiteten Meinung, Jean Paul würde seine Gedankenblitze in den Satiren in rein assoziativer, gänzlich chaotischer sowie vollkommen beliebiger Reihenfolge anführen - kontrolliert willkürlich vorgebracht werden: In der Einfältigen Biographie werden Descartes’ Theorie des Substanzendualismus, das sich aufgrund dieser dualistischen Metaphysik ergebende Leib-Seele-Problem sowie die in diesem Zusammenhang zeitgenössisch diskutierten Lösungsmodelle (Okkasionalismus, influxus physicus, prästabilierte Harmonie) zwar satirisch verzerrt, jedoch umfassend und detailliert dargestellt. 2.1. Rhetorische Analyse als Schlüssel zum Verständnis 2.1.1 Verquere Textualität verunmöglicht unmittelbare Visualisierung (Meine lebendige Begrabung) „Gedanke[n] mit tausend Schimmerecken“ (I/ 1, 225) Im Normalfall ist die Erstlektüre eines literarischen Textes am Thematischen orientiert: Der Leser sucht im Text nach Inhalt, nach Handlung und baut sich ein kontinuierliches, logisches Gerüst von (Handlungs-)Abfolgen auf. Noch während des Erstdurchgangs beginnt der Text Form anzunehmen und erhält Substanz, erhält Sinn. Bei der Zweitlektüre zielt der Leser darauf ab, narrative Ordnungsmodelle ausfindig zu machen: Es setzt die Analyse des Textes ein, der Versuch also, in seine Tiefen- und Metaebenen vorzudringen sowie seine Hintergrundmodelle zu eruieren, um so die Oberflächensemantik um weitere Dimensionen zu ergänzen. Parallel zu diesem beziehungsweise nach diesem Schritt bildet der Leser Thesen, die er anhand weiterer Durchgänge durch den Text zu festigen sucht oder sich zu verwerfen und durch andere zu ersetzen genötigt sieht. Textentziffe- <?page no="17"?> 17 rungsarbeit und Thesenbildung setzen üblicherweise also nach einer primären Orientierungslektüre ein. Im Falle von Jean Pauls Satiren ist die Lektüreerfahrung jedoch eine ganz andere, um nicht zu sagen, eine der eben beschriebenen diametral entgegengesetzte. Der Versuch, den Texten beim erstmaligen Durchgang Gehalt abzutrotzen, scheitert. Der Leser verliert sich in verquerer Textualität. Aus den einander überlagernden und ineinander verwobenen Textelementen will sich kein kohärentes Vorstellungsbild einstellen. Beispielhaft seien hier zwei Abschnitte aus der Satire Meine lebendige Begrabung. Eine Fraze, die blos vergnügen und nicht nüzen sol 16 angeführt: „Jetzt werd’ ich das halbe bewohnte Europa über meine Frau ausser sich sezen, weil ich etwas Närrisches von ihr vorzubringen vermag. Ich wollte anfangs zu ihrer Apologie eine taugliche Rechtfertigung des einfachen Ehebruchs vorausschreiben; aber ich störe mich in meinem ganzen Bericht und sie können in einen andern Akt hinein, die zwei Apologien. Da nämlich an meinem Todestag das ganze Haus bis an den Stöpsel vol Vettern und Basen und wahrer Freunde war: so hatte mein Hauptfreund, nämlich ein regulierter Chorher, und seine Freundin - nämlich die meinige, oder meine Frau - den Henker davon und gar nichts. Ich wollte nur, ich könnte einen eignen Quartanten über diesen regulierten Chorhern zusammenschreiben und sagen, er wäre mein Vor-, Neben- und Hinterman: kurz seinen nächtlichen kanonischen Horen - d. i. den apokryphischen - lag er munter unter meinem Dache ob und blos meine Frau merkt’ es … Ich will mich doch ändern und eh’ ich weiter fortfahre mehr angenehm als nüzlich zu sein, nur so viel zum Behuf des Ehebrechens fallen lassen: wenn erstlich zu einem Gelehrten und Autodidaktus, der auf mein Wort ausser seinen Leidenschaften nichts so eifrig kalt und eingefroren haben will als seine eigne Frau, zweitens ein Kerl kömt, der die ganze Sache auf sich nehmen will und die Gattin für ihren und ieden andern Gatten zu erkalten klare Maasregeln schon da hat: so steht ein solcher antarktischer Kerl, er mag nun das Queksilber durch stoische oder christliche Mittel in Eis umsezen, drittens schon deswegen kaum mit Gelde zu bezahlen, weil er viertens keines mag. Gerade so kühlen die Spanier ihren Wein durch Schlangen ab, die sie mit ihren eiskalten Fingen die Bouteillen bewickeln und umarmen lassen … Nun wolte der regulierte Chorher an meinem Todestage am allerwenigsten diese dem Betrauern so nöthige Erkältung aussezen; allein das war wegen der Menge Leute und Zeugen durchaus nicht anders zu machen als durch mich.“ (II/ 2, 717) Das Autor-Ich erzählt vom Ehebruch seiner Frau mit seinem Hauptfreund, dem Chorherrn; soviel wird dem Leser nach einmaligem Rezipieren der Passage einsichtig. Schwerlich wird ihm jedoch bereits zu diesem Zeit- 16 Die Satire Meine lebendige Begrabung ist den Satirischen und ernsthaften Schriften der Fünften Abteilung zugerechnet, die zwischen 1789 und 1792 entstanden sind. <?page no="18"?> 18 punkt bewusst sein, dass dem hier erwähnten Autodidaktus, der - um mehr Zeit für seine Studien zu haben - seine Ehefrau lieber unterkühlt als (sexuell) erhitzt sieht, ein Kerl, der ihn in antarktischer, stoischer, ja, christlicher Manier von seinen ehelichen Pflichten befreit, als unbezahlbar vorkommen muss. Auch wird ihm entgehen, dass, in Fortführung des eben Gesagten, der Sexualakt als Erkältung vorstellig wird, und ebenso, dass die lüsternen Umarmungen des Geliebten dem Ehemann den Genuss von kühlem (! ) Wein, d.h. ein friedvolles Zusammensein mit seiner nun befriedigten Ehefrau, ermöglichen. Bezüglich Dichte, Konstruiertheit sowie Vielschichtigkeit unterscheiden sich alle anderen Abschnitte in Meine lebendige Begrabung nicht von den beiden eben zitierten. Bei ihnen allen hat der Leser ein beträchtliches Mass an Entzifferungsarbeit zu leisten, bevor es ihm gelingen mag, sie in Sinn zu übersetzen. Ist ein Text aus derart komplexen Bausteinen aufgebaut, die in keiner Weise kohärent miteinander verbunden zu sein scheinen, greift der Versuch, in ihm einen roten Faden auszumachen, ins Leere. Das Organisationsmodell der Satire folgt offenbar nicht primär einer Handlungslogik, denn diese stellt sich, wie aus eben Beschriebenem zu schliessen ist, als weitgehend kaschierte dar. Es bleibt folglich zu fragen, nach welcher Logik der Satirentext stattdessen organisiert ist. Um dies herauszufinden, hat der Leser keine andere Wahl als den Text abermals zu lesen und alternative Ordnungsmodelle zu konzipieren. Nachdem er also eine vollständige Desorientierung konstatieren musste, beginnt er nun - als zweiten Schritt - mit der Rekonstruktion des Textes. Wie eingangs des Teilkapitels erläutert worden ist, sind Textentzifferungsstrategien sowie Detailanalyseverfahren in einem Lektüreprozess normalerweise das, was auf die erste, am Thematischen orientierte Lektüre folgt. Sie öffnen dem Leser Tiefensowie Metaebenen des Textes und ermöglichen ihm weiterführende Einsichten. Im Falle der Jean Paulschen Satire aber sind sie bereits zur Erlangung einer Erstorientierung unerlässlich, da die Sätze in Meine lebendige Begrabung derart dicht formuliert und durchkonstruiert sind, dass sie sich sowohl einer unmittelbaren Visualisierung als auch einer narratologischen Sinnrekonstruktion sperren. Damit Bilder, die sich üblicherweise im Textfluss unmittelbar einstellen und dem Leser das Gefühl geben, mit dem Text fortzuschreiten, den Text zu verstehen, überhaupt imaginativ visuell werden können, bedarf es intensiver Entschlüsselungsarbeit - beispielsweise einer rhetorischen Analyse. Leistet der Leser diese nicht, entgleitet ihm der Text mit jedem Abschnitt neu. Dies wird an einem weiteren Beispiel, dem Beginn von Meine Lebendigen Begrabung, ersichtlich, bei dessen Erläuterung die Verfasserin den Fokus vorab auf den zweiten Abschnitt legt, um den ersten zwecks interpretatorischer Ergänzung jedoch nicht umhin kommen wird: <?page no="19"?> 19 „Ich glaub’ es sehr gern, daß der korresponiderende Lesezirkel in Mainz meine Sachen lieset und wenig davon erfährt, was ich und meine edlern Eingeweide dabei ausstehen. Die Gesundheit des Körpers läuft parallel mit der Gesundheit der Seele; aber sie divergieret mit der Gelehrsamkeit, Phantasie, dem Wize p., die so wenig zur Seelengesundheit gehören als Korpulenz, Läuferfüsse, Fechterarme zur leiblichen. Wenn ich so lügen könte Muhammed: so würd’ ich geradezu erzählen: ‚Der Engel Gabriel wäre dabei gewesen, da die Seele von diesem oder ienem Konsistorialrath, Domprobst pp. auf die Erde versandt werden solte. Sie wurde wie Pyrmonterwasser auf den Körper wie auf eine Bouteille gezogen; aber wie man mit der Einfüllung des Pyrmonters erst auf die Verrauchung seines besten Geistes wartet weil er sonst die Flaschen zertriebe: so konten die Engel die Seele dieses oder eines Konsistorialraths, Domprobstes p. eben weil sie so ausserordentlichen Geist hatte nicht eher auf den Körper füllen, als bis dieser Geist, der ihn sonst aufgesprenget hätte, ganz verflogen war. So aber wurden sie so dum auf die Erde spediert, daß der Körper 80 Jahre ganz gut hielt’.“ (II/ 2, 713, Hervorhebungen SB) Gesprochen wird hier von der Seele eines Konsistorialrates, die auf die Erde, also zum Körper, gesandt werden soll. In einem ersten Schritt wird dieses Verfahren mit dem Abfüllen von Pyrmonterwasser in Flaschen („Bouteilles“) verglichen. „Wie Pyrmonterwasser“ fungiert dabei zusätzlich als Hyperbaton, da es zwischen den Wortlaut „Sie wurde auf den Körper wie auf eine Bouteille gezogen“ eingeschoben ist. Mit diesem Kunstgriff werden einerseits Seele und Körper mit Pyrmonterwasser und Bouteille parallelisiert und andererseits das Überziehen der Seele über den Körper mit dem Einfüllen von Pyrmonterwasser in Flaschen verglichen. 17 Dieser als Parallelismus (Körper/ Seele, Flasche/ Pyrmonterwasser) inszenierte Vergleich (Überziehen der Seele, Einfüllen des Wassers) wird sogleich antithetisch weitergeführt: „aber wie man mit der Einfüllung des Pyrmonterwassers erst auf die Verrauchung seines besten Geistes wartet, weil er sonst die Flaschen zertriebe: so konnten die Engel die Seele [des Konsistorialraths][…] nicht eher auf den Körper füllen, als bis dieser Geist […] ganz verflogen war.“ (II/ 2, 713, Hervorhebung SB) 17 Der letztgenannte Vergleich „wie auf eine Bouteille“ erweist sich grammatikalisch nur teilweise als stimmig, dann nämlich wenn man ihn im Satzgefüge ohne Hyperbaton liest. Wird das Hyperbaton mit berücksichtigt, sollte es in Bezug auf das Pyrmonterwasser eigentlich „wie in eine Bouteille“ heissen. - Analoges lässt sich im darauf folgenden Teilsatz sagen, in welchem vom Pyrmonterwasser ausgegangen wird, weshalb das ihm zugeschriebene Verb „einfüllen“ auch für das „Auffüllen“ der Seele auf den Körper verwendet wird. Die grammatikalische Unstimmigkeit ist damit diesmal auf die Seite der Aussage über den Körper/ Seele-Komplex verschoben. <?page no="20"?> 20 Die Verfasserin hat in der eben zitierten Passage das Hyperbaton „eben weil sie so ausserordentlichen Geist hatte“ ausgelassen. In diesem nennt das Autor-Ich den Geist, der metaphorisch auf Gelehrsamkeit, Phantasie und Witz des ersten Abschnittes bezogen ist, erneut und impliziert mit dieser Hervorhebung, dass ein Konsistorialrat für gewöhnlich eben gerade keinen Geist (im intellektuellen Sinne) sein Eigen nennen darf. Diese Implikation wird dreifach unterstrichen: Erstens indem der (intellektuelle) Geist mit dem Geist des Pyrmonters (dergestalt erinnert das Wasser an Wein! ) verglichen und dessen Wirkung metaphorisch auf ihn übertragen wird. Der intellektuelle Geist muss also verrauchen, um den Körper nicht auseinander zu sprengen, womit die Geistlosigkeit der Konsistorialräte als biologisch-physikalische Überlebensnotwendigkeit dargestellt wird. Zweitens wäre (zu viel) Geist der seelischen Gesundheit in der Tat abträglich, da im ersten Abschnitt gerade von den geistvollen Eigenschaften Gelehrsamkeit, Phantasie und Witz gesagt wird, sie würden die Gesundheit der Seele beeinträchtigen. So man mens sana in corpore sano, also einen gesunden Geist in einem gesunden Körper, haben will, darf der Geist nicht zuviel Geist (! ) haben. Drittens - und dies führt die Analyse zum letzten Satz des zweiten Abschnittes - leben gerade dumme Körper, Körper die sich nicht mit einer geistreichen Seele belasten, lange - nämlich 80 Jahre lang. Jedem Leser dürfte die Parallelisierung von Körper/ Seele und Flasche/ Pyrmonter sofort einsichtig geworden sein. Es bedarf jedoch einer ersten Übertragungsleistung, das verrauchende Wasser, das bei seiner zweiten Erwähnung als verrauchender Spiritus zu lesen ist, metaphorisch mit dem intellektuellen Geist zu identifizieren und des ersteren Explosivität im Falle eines zu frühen Einfüllens auf letzteren mit zu übertragen. Des weiteren gilt es, die interpretatorische Tätigkeit auf den ersten Abschnitt auszudehnen, um zu erkennen, dass das Verrauchen des (intellektuellen) Geistes - das Verrauchen von Gelehrsamkeit, Phantasie und Witz - unerlässlich ist, so man dem Körper eine gesunde Seele zuführen will. Letztlich findet der Leser ‚geistlos sein’ auch schlicht in der Bedeutung ‚beschränkt sein’ vor. Hat er nun all diese Bedeutungsfacetten in mehrfacher Lektüre rekonstruiert, so ist der Sprung zur letzten, alle vorigen aufaddierenden Paraphrase, die besagt, dass dumme Körper lange leben, ein kleiner. An diesem Punkt - nach mindestens zwei Durchgängen durch den Text - ist dieser in Bildlichkeit übersetzt. Bei abermaliger Lektüre vermag man ihn erstmals zu überschauen, über die witzigen Vergleiche zu lachen und überhaupt den Wortwitz als Form von Komik zu realisieren. Jetzt fällt die abgeschlossene Entzifferung mit dem ersten Verstehen zusammen. Nachdem man die Bilder mühsam hervorgeschält hat, sind sie plötzlich evident. Die Differenz zwischen Text und Bild ist aufgehoben, ‚normales’, auf Verstehen hin orientiertes Lesen wird möglich. <?page no="21"?> 21 2.1.2 Vielschichtige Textbausteine statt Handlungslogik I (Beweis, daß man den Körper nicht blos für den Vater der Kinder, sondern auch der Bücher anzusehen habe) Knapp zehn Jahre früher (1782-1784) beschreibt sich die Lektüreerfahrung von Jean Pauls Satiren im Resultat gleich. Auch in ihnen verliert sich der Leser vorerst in komplexen, dicht konstruierten Textbausteinen, die keine Handlungslogik generieren, bevor es ihm gelingt, sich im Prozess der Relektüre im Text zu orientieren, ihn zu entziffern und die Satire schliesslich - nach erfolgtem erstmaligem Verstehen - als Produkt von Sprach- und Bildwitz zu würdigen. Ein Ausschnitt der Satire Beweis, daß man den Körper nicht blos für den Vater der Kinder, sondern auch der Bücher anzusehen habe, und daß vorzüglich die grösten Geistesgaben die rechte Hand zur glandula pinealis gewählet. Ein Beitrag zur Physiologie 18 beispielsweise liest sich so: „Montaigne widmete einen seiner Versuche dem Daumen; auf dieses berühmte Beispiel wage ich es, nicht nur dem Lobe des Daumens, sondern auch der Hand den grösten Plaz in dieser Untersuchung anzuweisen. Jeden Wahrheitsfreund mus es schmerzen, die götlichen Hände der Schriftsteller zu blossen Nachtretern ihrer Köpfe herabgewürdigt zu sehen. Man vergleiche die Verdienste ihrer Hände mit denen ihrer Köpfe, und enthalte sich dan des Unwillens über eine so alte Ungerechtigkeit! 19 Das Buch verdankt der Hand seines Vaters den dikken Inhalt, und dem Kopfe desselben nichts als sein Bildnis von N. gestochen; das Buch verdankt der Hand Worte und Orthographie, deren Neuheit den Leser bezaubert, und dem Kopfe Gedanken, deren Alter ihm Ekel erregt; ohne Hand kann der Dichter so wenig als der Mahler mahlen; ohne Hand kann der Autor das Buch so wenig schrei- 18 Der Beweis ist den Grönländischen Prozessen der Zweiten Abteilung zugerechnet, die zwischen 1783 und 1784 entstanden sind. Er stellt eine satirische Verzerrung von Diotimas Rede in Platons Symposion dar. Darin umschreibt Diotima das Bestreben der Menschen, bereits zu ihren Lebzeiten das wahrhaft Gute und Schöne zu schauen, sowie ihr Bestreben, Unsterblichkeit zu erlangen, mit den Worten: „‚[H]ier wie dort sucht die sterbliche Natur, nach Möglichkeit ewig und unsterblich zu sein. Sie kann das aber allein auf die Weise, durch die Fortpflanzung, daß sie stets ein Junges an Stelle des Alten hinterläßt’“ (Platon: Symposion, 207d). Nun gibt es die, die „‚vom leiblichen Zeugungsdrang erfüllt sind, […] [und leibliche] Kinder zeugen’“, sowie die, die „‚in der Seele zeugungsbereit sind’“ - zu letzteren sind „‚auch die Dichter’“ zu zählen (Platon: Symposion, 208c-209b). Sie zeugen „‚unsterblichere Kinder[, SB: Bücher,] […] die ihnen unsterblichen Ruhm und Gedächtnis verschaffen, so wie sie selbst auch unsterblich sind’“ (Platon: Symposion, 209b-210a). 19 Thomas Wirtz zufolge seien für Fichte die toten Buchstaben nichts als „‚leeres Geklimper’, mechanisches Spielwerk der ‚Buchstäbler’, die über die Leere ihres Kopfes mit der Bewegung des Schreibarmes hinwegtäuschen wollen“ (Thomas Wirtz: Schleiermacher zum Gedächtnis. Über geglückte Aporien der romantischen Hermeneutik, S. 68). (Im Folgenden zitiert als Schleiermacher zum Gedächtnis.) Jean Paul dreht im Beweis die Argumentation satirisch um, sodass er die Tätigkeit der Hände über diejenige des Kopfes erheben kann. <?page no="22"?> 22 ben als der Sezer sezen, aber ohne Kopf es zu thun, hat der erste dem andern abgelernet c [ c : Wem fält hier nicht die Hand ein, die am Rande alter Bücher stehet und dem Leser die Schönheiten derselben, wie ganze Ärme den Furleuten den Weg, zeigen soll] und beide brauchen ihn nun zu nichts als zum Genus der Früchte ihrer Hände. Ja noch mehr, seitdem der Kopf den neuern Schriftstellern seine Schäze entzog, that die Hand sich zur Freigebigkeit auf, und sie haben es nur der Güte der leztern zu danken, daß ihnen die Feindschaft des erstern weniger empfindlicher fält; sie können nun zwar weniger denken, aber dafür mehr schreiben, für die Sele ihrer geistigen Kinder ist zwar ein Sedezformat zu weit, aber für den Körper derselben auch ein Oktavband zu eng, und stat des Nervengeistes verschwenden sie Dinte. Sie gleichen zwar dem Bären in der Schwäche des Haupts, die Plinius ihm zuschreibt, allein auch in der Stärke der vordern Tazen - eben so stekt in den Scheren des Krebses das Fleisch, das seinem Kopfe mangelt. Und da der Raubvogel weniger mit dem Schnabel als den Klauen die Beute zerfleischt: so ist klar, warum mancher Satiriker besser mit seiner Hand schreibt als mit seinem Munde spricht und die Lesewelt besser als seine Freunde unterhält. - Nichts ist daher undankbarer, als den Händen den Kopf, und der Lea, für deren Gesicht ihr Bauch Lobredner gebiert, die Rahel vorzuziehen, die ihre Schönheit nicht durch Fruchtbarkeit bestätigt; und nichts ist mir unerträglicher, als wenn Journale stat der langen Finger die langen Ohren loben, d [ d : Lange Finger haben heist - ich weis nicht ob überal - stehlen. Ein räuberischer Autor arbeitet mit den Händen, ein dummer mit dem Kopfe] und den Händen den Weihrauch stehlen, um ihn dem Kopfe zu schenken. Eben so müssen oft die Hände des klugen Schreibers den Kopf des dummen Amtmans spielen und das machen, was sie blos mundiren solten - und doch lobt man nicht den Schreiber, sondern den Prinzipal für den wohlgerathenen Aufsaz. So dampft um den frisirten Kopf des Generals der Ruhm, den blos die kriegerischen Fäuste seines Heres erkämpft und verdient haben, und tausend Muskeln verliehren den Lohn ihres Sieges durch das einzige Gehirn, ohne welches sie siegten.“ (II/ 1, 510f., Hervorhebung im Original) Wie nach der erstmaligen Rezeption der Auszüge aus Meine Lebendigen Begrabung leuchtet dem Leser das Hauptargument dieser Passage, nachdem er sie einmal gelesen hat, unmittelbar ein: Die mäanderartig voranschreitenden Sätze machen deutlich, dass es dem Autor-Ich im Beweis darum geht, in Bezug auf die schriftstellerische Tätigkeit die Vormachtstellung des Körpers über die Seele darzulegen. Inwiefern jedoch die einzelnen als Vergleiche und Paraphrasen vorgebrachten Exempla 20 die ein- 20 Im Zweiten Buch der Rhetorik schreibt Aristoteles: „Man muss […] die Beispiele wie Beweise gebrauchen […]. Werden sie vorangestellt, gleichen sie der Induktion […]; wenn man sie aber an den Schluss stellt, gleichen sie Zeugen“ (Aristoteles: Rhetorik 1394a, S. 108). Aristoteles zufolge ist das Exemplum also „als rhetorisches Beweismittel explizit mit der Logik [verknüpft]. Für ihn ist es die rhetorische Variante der logischen Schlußform der Induktion“ (Klein: HWBRh, Artikel ‚Exemplum’, Sp. 61). Es <?page no="23"?> 23 gangs behauptete Hierarchisierung des Körpers über die Seele stützen, ist nicht unmittelbar einsichtig. Die „Exempla[, die] seit der Antike die Funktion eines induktiven Beweises beanspruch[en]“, entwickeln in den Jean Paulschen Satirentexten eine „Eigendynamik“, die offen legt, dass sie „sich niemals vollständig von dem argumentativen Beweisziel, in das [sie] eingespannt [werden], in Besitz nehmen [lassen]“. 21 Ihr Bezug zur Ausgangsbehauptung der Satire muss erst eruiert werden, da er angesichts der thematischen Mannigfaltigkeit und internen Vielschichtigkeit der angeführten ‚Beweise’ interpretatorisches Desiderat bleibt: Der Leser muss die Bezüge zum zentralen Anliegen des Autors - jedermann solle die Unhaltbarkeit der Tatsache einsehen, dass „die götlichen Hände der Schriftsteller zu blossen Nachtretern ihrer Köpfe“ (II/ 1, 510) herabgewürdigt werden - für jeden angeführten Beleg immer wieder neu leisten. In solchen Fällen, in denen die Schlüsselbegriffe im Wortlaut übernommen und ‚lediglich’ mit neuem Bedeutungsgehalt versehen werden, fällt dies dem Leser leichter, als in solchen, in denen diese durch synonyme Benennungen ersetzt und in neuen Kontexten platziert werden. Es ist also leichter, den Gehalt von Sätzen in der Art von (a) mit der Hauptaussage des Autor-Ichs zu verbinden als den Gehalt von Sätzen in der Art von (b): (a) „Das Buch verdankt der Hand seines Vaters den dikken Inhalt, und dem Kopfe desselben nichts als sein Bildnis von N. gestochen; das Buch verdankt der Hand Worte und Orthographie, deren Neuheit den Leser bezaubert, und dem Kopfe Gedanken, deren Alter ihm Ekel erregt.“ (II/ 1, 510, Hervorhebungen (fett, unterstrichen) SB) (b) „Sie gleichen zwar dem Bären in der Schwäche des Haupts, die Plinius ihm zuschreibt, allein auch in der Stärke der vordern Tazen - eben so stekt in den Scheren des Krebses das Fleisch, das seinem Kopfe mangelt. Und da der Raubvogel weniger mit dem Schnabel als den Klauen die Beute zerfleischt: so ist klar, warum mancher Satiriker besser mit seiner Hand schreibt als mit seinem Munde spricht und die Lesewelt besser als seine Freunde unterhält.“ (II/ 1, 510f., Hervorhebungen SB) Während in (a) lediglich der jeweilige pars Hand/ Kopf als Repräsentant des entsprechenden toto Körper/ Geist erkannt werden muss, müssen in (b) stellt einen abgekürzten Beweis dar, dem Beweiskraft durch Fabulae und Historiae - übertragen auf die hier vorgeführte Interpretation: durch Bilder - zuteil wird: „Von den Beispielen gibt es zwei Arten. Die eine Art des Beispiels nämlich ist, früher geschehene Dinge zu berichten [SB: Historiae]. Die andere Art besteht darin, sie selbst zu erfinden [SB: Fabulae]“ (Aristoteles: Rhetorik 1393a, S. 107). - Vgl. auch Jens Ruchatz, Stefan Willer, Nicolas Pethes: Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen; und darin Maximilian Bergengruen: Exempel, Exempel-Sammlung und Exempel- Literatur - am Beispiel von Harsdörffers teuflischer ‚Mord-geschichte’ ›Die bestraffte Hexen‹. (Im Folgenden zitiert als Exempel.) 21 Bergengruen: Exempel, S. 139. <?page no="24"?> 24 deren metonymische Erweiterungen (Tatzen, Scheren und Klauen für Hand sowie Haupt, Schnabel und Mund für Kopf) mitreflektiert werden. Erschwerend kommt in letzterem Fall hinzu, dass die miteinander in Beziehung stehenden Begriffe nicht mehr parallel, sondern je Hauptsatz chiastisch angeordnet sind. Den Bezug zum Haupttopos herzustellen wird aber vor allem dann zu einer wirklichen Herausforderung, so der angeführte Beweis, wie in folgendem Beispiel, intern aufgefächert sowie semantisch erweitert wird: „Nichts ist daher undankbarer, als den Händen den Kopf, und der Lea, für deren Gesicht ihr Bauch Lobredner gebiert, die Rahel vorzuziehen, die ihre Schönheit nicht durch Fruchtbarkeit bestätigt; und nichts ist mir unerträglicher, als wenn Journale stat der langen Finger die langen Ohren loben, […] und den Händen den Weihrauch stehlen, um ihn dem Kopfe zu schenken.“ (II/ 1, 511, Hervorhebungen SB) Die mittlerweile geläufigen Repräsentanten Hand für Körper und Kopf 22 für Geist kommen zu Beginn und Ende des aus zwei Hauptsätzen konstruierten Satzgefüges in paralleler Weise zu stehen. Sie schliessen die metaphorischen Erweiterungen Gesicht und lange Ohren für Geist sowie die metonymischen Bauch und lange Finger für Körper, die zueinander chiastisch angeordnet sind, ein. Im Rahmenparallelismus wird nun die vom Autor proklamierte und bereits mehrmals erwähnte Hierarchie bestätigt, indem die Bevorzugung des Kopfes über die Hände als undankbar sowie die Beschenkung des Kopfes mit demjenigen Gut (i.e. dem Buch), das zuvor den Händen entzogenen worden ist, als unerträglich bezeichnet wird. Auch im ersten Teil des Binnenchiasmus verbleibt der Körper, der metaphorisch von Lea vertreten wird, der Seele, deren Part Rahel repräsentiert, überlegen. 23 Im Innern dieser Opposition wird die hierarchische Beziehung 22 Als ‚körperliches Glied’ tritt der Kopf erst gegen Ende der Satire in Erscheinung: „Beinahe hätte ich meine Abhandlung ohne die Erwähnung des Kopfes beschlossen, dessen Besiz der körperliche Autor allerdings mit dem Zeugnis des Friseurs belegen kann“ (II/ 1, 525). Die Expliziertheit, mit der hier auf den Kopf als noch nicht erwähntem Körperteil aufmerksam gemacht wird, obwohl im Vorfeld in jedem Abschnitt mehrmals auf den ‚Kopf’ verwiesen worden ist, macht deutlich, dass der ‚Kopf’ bis dahin als Repräsentant der Seele fungiert. 23 Mit Lea und Rahel greift Jean Paul zwei Schwestern auf, die im ersten Buch Mose als Töchter von Laban in Erscheinung treten. Jakob, der Rahel (die Jüngere) ihrer Schönheit wegen Lea (der Älteren) vorzieht, tritt in der Absicht in Labans Dienst ein, Rahel zur Frau zu bekommen (Heilige Schrift: Genesis 29,15-18). Nach Beendigung der sieben Jahre, die Jakob versprochen hat Laban zu dienen, gibt ihm dieser jedoch nicht Rahel, sondern Lea zur Frau: „Es ist hier zu Land nicht Sitte, daß man die jüngere vor der ältern weggebe“ (Heilige Schrift: Genesis, 29,26). Laban will Jakob jedoch auch Rahel zur Frau geben, wenn dieser mit Lea „die Festwoche“ vollendet und ihm noch einmal sieben Jahre zu Diensten steht (Heilige Schrift: Genesis, 29,27-30). Gott, der sieht, dass Jakob Rahel lieber mag als Lea, macht Lea fruchtbar: Sie gebiert Jakob vier Söhne (Heilige Schrift: Genesis, 29,31-35). Rahel dagegen bleibt unfruchtbar (Heilige <?page no="25"?> 25 von Körper und Seele noch verstärkt: Von Lea wird nämlich gesagt, es sei ihr Bauch (Körper), der „für ihr Gesicht“ (Kopf), d.h., trotz ihres Gesichts, Lobredner gebäre. (Lea gebiert folglich Kinder, obwohl sie nicht sonderlich hübsch ist. Was an dieser Formulierung erstaunt, ist, dass Leas Gesicht, das für den Kopf (i.e. die Seele) steht, aufgrund von körperlichen Eigenschaften beurteilt wird.) Die fruchtbaren Erzeugnisse des Bauches stehen für verfasste Bücher, was den Körper in seiner Rolle als Vater der Bücher bestätigt. Rahel hingegen - ihrerseits in der Position des Geistes - bleibt trotz ihrer Schönheit unfruchtbar, was übertragen bedeutet, dass die Seele nichts zur Produktion von Schriftstücken beiträgt. Die bislang erfolgte Analyse zeigt: Die argumentative Beweisführung des Autor-Ichs stellt lediglich eine scheinbare Beweisführung dar, da die mutmasslich ziellos angeführten Exempla jeglichen illustrativen Charakters entbehren. Die einzeln aufgerufenen Bilder sind in sich instabil, da sie fortwährend partiell erweitert beziehungsweise überblendet werden. Der Text evoziert aufeinander folgende Bilder, die sich, indem sie in der ihnen jeweils eigenen Weise alle vom selben sprechen, gegenseitig vergessen machen - nicht zuletzt deshalb, weil die aufgerufenen Wortrespektive Inhaltsparaphrasen nur lose mit dem Vorhergehenden verbunden und immer schon in neue semantische Kontexte gestellt sind. Ausserdem stellt sich die angebliche Erhebung des Körpers über die Seele als Scheinerhebung heraus, 24 wenn der Körper einerseits als aus der Seele bestehender definiert wird („Ein Autor braucht keine Sele; denn sein Körper ist seine Sele“ (II/ 1, 509)) und sich andererseits hinter dem (scheinbaren) Lob des Körpers eine Abwertung desselben verbirgt: Die Leistungen des Körpers werden nämlich dahingehend hervorgehoben, als dass er das verrichtet, wozu eine Seele nie „herab[ge]zauber[t]“ werden dürfe, nämlich, ein Buch zu schreiben (II/ 1, 509). Mit der Dauer des Assoziationsfortgangs wird im Schrift: Genesis, 30,1). Einige Jahre später „erhörte [Gott Rahels] […] Gebet und machte sie fruchtbar. Da ward sie schwanger und gebar einen Sohn; […] sie nannte ihn J o s e p h und sprach: Der Herr wolle mir noch einen Sohn d a z u g e b e n ! “ (Heilige Schrift: Genesis, 30,22-24, Hervorhebungen im Original). Tragischerweise stirbt Rahel, die geglaubt hatte, an Kinderlosigkeit sterben zu müssen („Rahel […] sprach zu Jakob: Schaffe mir Kinder; wo nicht, so sterbe ich“ (Heilige Schrift: Genesis, 30,1)), bei der Geburt ihres zweiten Sohnes Benjamin: „Danach brachen sie von Bethel auf, und als sie nur noch ein Stück Weges bis Ephrath hatten, gebar Rahel, und die Geburt kam sie schwer an. Und da sie eine so schwere Geburt hatte, sprach die Hebamme zu ihr: Sei getrost, du hast wieder einen Sohn. Als aber ihre Seele entfloh - denn sie mußte sterben -, da nannte sie ihn Ben-Oni [d.i. Sohn meines Schmerzes] ; sein Vater aber nannte ihn Ben-Jamin [d.i. Sohn des Glücks] “ (Heilige Schrift: Genesis, 35,16-18, Hervorhebungen im Original). 24 An Stellen wie dieser wird evident, dass der Autor - entgegen seiner Ankündigung zu Beginn der Satire - sehr wohl der „Mode“ treu bleibt und vom „schriftstellerische[n] Recht, zu lügen“, Gebrauch macht, statt seine Leser mit „Wahrhaftigkeit“ zu überzeugen (alle: II/ 1, 506). <?page no="26"?> 26 Beweis folglich Bild um Bild fortlaufend durch nachfolgende Bilder ersetzt. Aufgrund dessen, dass sie alle in der ihnen eigenen Weise vom selben sprechen, kann gefolgert werden, dass die Substitution der Bilder als Prozess der Wiederholung erfolgt. Dabei ist es dem Leser unmöglich, sich der aus unzähligen Paraphrasen generierten Bilder, in denen der Text um den Körper/ Seele-Topos kreist, in ihrer sich ähnelnden Unähnlichkeit als je individuelle zu erinnern, denn diese folgen inflationsartig aufeinander, ja, überfluten einander regelrecht. Der Text vollzieht mit anderen Worten eine Praxis des Vergessens auf der Basis der Verwirrung, indem er fortlaufend immer andersartig aufruft, wovon er spricht. Er praktiziert damit, was Umberto Eco in seinem Aufsatz An ‚Ars Oblivionalis? ’ Forget it! als einzig mögliche Strategie, Vergessen zu evozieren, umschreibt. 2.1.3 Kunst des Vergessens Eco führt aus, dass es eine Kunst des Vergessens - ganz im Gegensatz zu ihrem kontradiktorischen Analogon - an sich nicht geben kann. Während die Kunst des Erinnerns, die Gedächtniskunst, uns in die Lage versetzt, uns mittels spezifischer Techniken vorgängig gelernte Inhalte willentlich zu vergegenwärtigen, vermögen wir das Vergessen nicht künstlich zu erzeugen respektive willkürlich abzurufen. 25 Denn einen willentlichen Akt des Vergessens zu proklamieren, bedeutet, das Vergessen wie das Erinnern zu handhaben, ihm folglich Methode sowie ein erlernbares Verfahren zu unterstellen. Erinnern und Vergessen würden also als in ihrer Prozessualität analoge, in ihrem Resultat gegenläufige Gedächtnisvorgänge begriffen; den Mnemotechniken würde eine Technik des Vergessens gegenüber gestellt. Die Gedächtniskunst umschreibt Eco nun folgendermassen: “When I say that a mnemotechnics is a semiotics, I use the term semiotics in the sense given it by Hjelmslev: a mnemotechnics is a connotative semiotics. To assert that the arts of memory are a semiotic phenomenon is little more than banal. Linking y with x in some fashion means using one as the signifier of the other. The fact that the signifier is frequently a mental image (a memory place can be either real or imaginary) does not change things. […] A mnemotechnics is essentially a semiotics because, in its most elaborate form, it uses a syntactic system of loci (rooms of a palace or a theatre, heavenly structures, etc.) destined to hold images, which assume the function of lexical units. These images are in turn linked to a system of res memorandae, which represent the corresponding units of content.” (Eco: Ars oblivionalis, S. 255, Hervorhebungen im Original) 25 Umberto Eco: An ,Ars Oblivionalis’? Forget It! , S. 254. (Im Folgenden zitiert als Ars oblivionalis.) <?page no="27"?> 27 In Bezugnahme auf die „Kunst des Erinnerns“ 26 der antiken Rhetorik definiert Eco das Erinnern als prinzipiell semiotisches Verfahren. Um die natürliche Gedächtnisleistung zu verbessern, entwickelten die antiken Rhetoren eine Art Bildersprache: Das, woran sie sich erinnern wollen (meist der Inhalt einer Rede), übersetzen sie in Bilder. Diese platzieren sie in einem imaginären Gebäude an ganz bestimmten Stellen. Sie verbinden Bilder und Orte also derart, dass sich ein Orientierungsmuster, „ein Magazin von Bildern“, 27 ergibt. Wann immer die Rhetoren den memorierten Inhalt abrufen wollen, schreiten sie im Geiste durch das Gebäude und nehmen so die Bilder in der gewünschten Reihenfolge wieder auf. Orte verweisen also auf Bilder, die ihrerseits wiederum auf die zu memorierenden Inhalte verweisen. Denkt man nun das Vergessen als strukturelles Analogon des Erinnerns, definiert man es wie dieses als semiotischen Akt und damit als mentales Verfahren, das Abwesenheiten zu Anwesenheit verhilft. Mit anderen Worten, man setzt das „ich will mich an ‚A’ erinnern“ dem „ich will ‚A’ vergessen“ gleich. Die mentale Intention „ich vergesse jetzt! “, muss aber scheitern, da ein solch intentionales Vergessen ein Erinnern immer schon impliziert. Denn ebenso wie einem Subjekt, währendem es den Satz „Das ist keine Pfeife“ ausspricht, ebendiese in ihrer Existenz negierte Pfeife geistig gegenwärtig wird, vergegenwärtigt es sich im mentalen „Ich-vergessejetzt“, was es eigentlich aus seinem Gedächtnis verschwinden machen will. Die Tatsache also, dass es im Wesen semiotischer Prozesse liegt, dem, wofür sie stehen, Präsenz zu verleihen, verbietet es uns, das Vergessen als einem solchen Prozess analog funktionierend zu denken: “[Every] assertion […] posits the entities that it names; it renders them present in the universe of discourse with semiotic force, even if only as the entity of a possible world. […] And if intentions are not material facts, they are at least, in some fashion, psychic facts, or they can be postulated as such. This means that every expression determined by a semiotic sign function sets into play a mental response as soon as it is produced, thus making it impossible to use an expression to make its own content disappear. If the arts of memory are semiotics, it is not possible to construct arts of forgetting on their model, because a semiotics is by definition a mechanism that presents something to the mind and therefore a mechanism for producing intentional acts. (Eco: Ars oblivionalis, S. 259, Hervorhebung Original) Als kontradiktorisches Erinnern wird das Vergessen seiner grundlegenden Funktion, zu vergessen, also nie gerecht werden können. Die Idee einer Technik, einer Kunst des Vergessens muss verabschiedet werden. 26 Meike Remscheid: Zwischen Erinnern und Vergessen. Ein Versuch über das Gedächtnis in Leben und Dichtung, S. 24. (Im Folgenden zitiert als Zwischen Erinnern und Vergessen.) 27 Remscheid: Zwischen Erinnern und Vergessen, S. 24. <?page no="28"?> 28 Eco wird auf seiner Suche nach „principles of a technique and of a rhetorical art […] that would permit one to forget in a matter of seconds what one knew“ 28 zwar nicht fündig, doch formuliert er Strategien, die ein Vergessen initiieren, indem sie Erinnerungen an einen Sachverhalt trüben. Wird der Prozess des Verweisens - wie im Beweis - derart gesteigert, dass man die einzelnen Aussagen nur mehr mühsam respektive nicht mehr auseinander zu halten vermag, verwechselt man deren Inhalte respektive vergisst sie. Eco formuliert dies so: “Thus, it is possible to forget on account […] of excess, just as, though it is not possible to destroy the meaning of an assertion pronounced aloud, it is possible to pronounce another assertion in the same moment, so that the two assertions are superimposed. […] One forgets not by cancellation but by superimposition, not by producing absence but by multiplying presences.” (Eco: Ars oblivionalis, S. 259f.) Damit beschreibt er Jean Pauls Verfahren im Beweis: Indem dieser derart viele Umschreibungen beinahe synonymen Inhalts aneinander reiht, überlagern sich deren Aussagen, sodass der Leser jede Aussage in dem Moment, in dem er die nächstfolgende rezipiert, vergisst. Der Haupttopos des Textes - die behauptete Überlegenheit der schriftstellerischen Hand über den schriftstellerischen Kopf - ist zwar omnipräsent, doch vermag der Leser sich an die Gründe, welche in unzähligen Beispielen ausgeführt sind, ihrer nur partiellen Differenziertheit wegen nicht im einzelnen zu erinnern. 2.1.4 Vielschichtige Textbausteine statt Handlungslogik II Wie bereits in Meine lebendige Begrabung geht es folglich auch im Beweis nicht darum, einen kohärenten Handlungsverlauf zu präsentieren. Vielmehr will der Autor durch Witz, Sprachmächtigkeit und Assoziationsreichtum gefallen - was seine Ausführungen zum Verhältnis von Körper und Geist, die sich über 22 Seiten erstrecken, eindrücklich demonstrieren. Jeden noch so abwegigen Einfall vermag er dem Kreise seiner Ausschweifungen in Form eines Exemplum anzugliedern und ihn als Bedeutungsträger in seinem Satirenkosmos zu etablieren. Die Fülle dieser ‚Beweise’ ist dabei derart rhythmisiert, dass sie sich in Assoziationskomplexen zusammenfinden. Das Ende eines solchen Komplexes ist dann erreicht, wenn sich der Text in Form eines fingierten Zwiegesprächs an den Leser wendet. Fingiert deswegen, weil sich die Satire dadurch lediglich selbst in die Position setzt, ihr Fortfahren nach eigenem Gutdünken zu bestimmen. Freilich, dies geschieht faktisch in jedem Text; auffällig im Beweis ist aber die Art und Weise, wie diese Praxis zelebriert wird. Normalerweise wird ein Text in der Art fortgesetzt, wie ein Autor ihn fortgesetzt wissen will, ohne dass dieser 28 Eco: Ars oblivionalis, S. 254. <?page no="29"?> 29 immer darauf hinweist, dass er so fortfährt, wie er fortfährt. Der Beweis aber kündet deswegen explizit an, was folgen wird, respektive fasst zusammen, was dargelegt wurde, weil das, was er sagt zu tun oder getan zu haben, nicht dem entspricht, was der Leser lesen wird beziehungsweise rezipiert hat. Kurz vor dem Ende der Satire führt das Autor-Ich beispielsweise an: „Kaum hab’ ich jetzt z.B. meinen Satir auf einige Zeit entlassen, so komt der Teufel in der Gestalt eines Pavians (diese zwei gleichen meinem gehörnten Schosthier ziemlich) und will mich versuchen. Allein […] ich fahre fort, die Sinlichkeit meiner Kollegen zu entschuldigen.“ (II/ 1, 524, Hervorhebung SB) Die Implikation des letzten Satzes, das Autor-Ich habe bisher die Sinnlichkeit seiner Kollegen entschuldigt, dürfte den Leser einigermassen überraschen. Denn es entschuldigt den unsittlichen Wesenszug seiner Berufskollegen nicht - weder in den vorhergehenden noch in den nachfolgenden Passagen -, sondern stellt ihn als natürlichste Sache der Welt dar: Die „Natur [rächt sich] an einer übermenschlichen Erhöhung immer durch eine thierische Erniedrigung und die Arbeit und die Erhohlung schweifen immer über entgegengesetzte Gränzen aus“ (II/ 1, 524). Um sich dichterisch mit menschlichen Anliegen auseinandersetzen zu können, müsse der Dichter „Menschen kennen lernen“, und so versüsse er sich „das Studium derselben […] durch die Nachahmung derselben“ (II/ 1, 524). Selbst wenn der Dichter sein Haupt also mit „Puder und Pomade“ pflege (d.h., selbst wenn er sich durch seine Geisteskraft über andere erhebt), bleibe er „mit den Thieren der Erde verbrüder[t]“, da er seine Füsse nicht anders als auf diejenigen Strassen aufsetzen könne, auf denen sich auch alle anderen Individuen fortbewegten; und auf diesen Strassen liegt „Staub und Koth“ (II/ 1, 524). Wie nah folglich geistige Höhenflüge und triebhafte Bedürfnisse im Dichter beieinander liegen, drückt das Autor-Ich in folgenden Vergleichen aus: „Nie werd’ ich den Flug und das Götliche der Ode vergessen, die sein trunkner Enthusiasmus am Abend seines Hochzeittages sang; kaum steigt die Lerche höher, wenn sie sich begatten wil. - Ja oft unterbricht das Murren der ungeduldigen Natur die Harmonie der Sphären und das wilde Schwein erschüttert unten durch das Reiben seines geilen Rükken den Baum, auf dessen Gipfel ein Vogel nistet und singt.“ (II/ 1, 524, Hervorhebung SB) Wie in den zuletzt angeführten Beispielen anklingt, wird der Grundtopos Seele/ Leib zu einer oben/ unten-Dichotomie erweitert, die in den Opposita Kopf/ Fuss, Lüfte/ Erde, übermenschliche Erhöhung/ tierische Erniedrigung, Aufbäumen des Pferdes/ Sinken des Reiters 29 sowie Vogel auf dem Baum/ Schwein am 29 „Daher bricht die Tugend des Dichters auf seinem Pegasus den Hals, und wenn das Pferd sich in die Höhe bäumt, sinkt der Reiter“ (II/ 1, 524, Hervorhebung im Original). <?page no="30"?> 30 Boden Ausdruck findet. Abgeschlossen wird dieser Argumentationsstrang, indem das Autor-Ich abermals ‚beweist’, dass die unsittliche Wesensart des Dichters in der Natur begründet liegt: „[H]erkulische Lenden sind immer mit einer herkulischen Kehle gepart“, was unter anderem daran ersichtlich sei, dass „die Vögel nicht nur mit den Flügeln, sondern auch mit dem Schwanze [! ] [fliegen]“ (II/ 1, 254). Obwohl der Text also vorgibt, stringent einer evidenten Logik nach dem Muster ‚das wurde dargelegt, dies wird dargelegt werden’ zu folgen, geht ihm eine solche Logik vollumfänglich ab. Er tut, was er zu unterlassen vorgibt, und unterlässt, was er zu tun vorgibt, spricht sich selbst aber unaufhörlich Zweckmässigkeit 30 sowie Beständigkeit und Zielgerichtetheit in seiner Argumentation 31 zu und gibt unermüdlich an, nicht anders als ‚so’ voranschreiten zu können: „[M]eine Materie [spielt] mir iezt die glücklichste Gelegenheit in die Feder […], die Röthe der deutschen Schamhaftigkeit durch schmuzige Zweideutigkeiten zu prüfen“ (II/ 1, 519). Allerdings wäre der Beweis keine Jean Paulsche Satire, wenn er nebst dem, dass er schreibend widerlegt, was er zu tun sagt, nicht auch zugleich sagte, was er tut. Wie die Verfasserin dargelegt hat, besteht der Beweis aus aneinander gereihten Einfällen, welche die Zentralthese, dass der Leib der Seele überlegen sei, beweisen sollen. Die Einfälle stehen dabei - in Assoziationskomplexen zusammengeschlossen - zwangsvermittelt nebeneinander. Wer sich also fragt, wie denn ein Leser in ein solches Gedankengebilde eindringen, es durchschreiten, geschweige denn es rezeptiv bewältigen können soll, dem gibt der Text zur Antwort: Indem der Leser bei der Lektüre eines Begriffs all dessen Bedeutungen „zugleich denken mus“ (II/ 1, 520), 32 indem er „unnatürliche Ideenverbindungen“ (II/ 1, 517) mitgeht, indem er Paradoxa als Wahrheiten dieses Textes anerkennt (II/ 1, 506, 519), indem er „schöne [Allegorien]“, welche „in [Lügen]“ „verstekt“ sind, erspäht (II/ 1, 525), indem er (explizite) Leerläufe des Textes, 33 die diesem ein Fortkommen erst ermöglichen, als notwendige Bausteine desselben billigt sowie Selbstgespräche desselben 34 als seiner Wesenheit zugehörige akzeptiert. 30 „Hieher passet vortreflich ein Traum des bekanten Schwedenborgs“ (II/ 1, 516). 31 „[I]ch fahre fort, die Sinlichkeit meiner Kollegen zu entschuldigen“ (II/ 1, 524). 32 Indem der Leser also sämtliche Sinngehalte, die einem Wortlaut zukommen können, zusätzlich zu demjenigen, den der Autor im Gefüge des jeweiligen Bedeutungsrahmens aktualisiert, simultan denkt. 33 „Diese Note hätte ich mir durch Weitschweifigkeit, die mich dem schlechtern Leser verständlich und dem bessern ekelhaft gemacht hätte, ersparen können“ (II/ 1, 508). - „[E]ndlich füg’ ich noch hinzu, daß ich nichts mehr hinzuzufügen habe“ (II/ 1, 513). - „Doch halt! ich kan nun deine [SB: Muse] poetische Hülfe entbehren; mir fehlten nur ein par Seiten, die nun meine Bitte ausgefült hat“ (II/ 1, 515). 34 „Übrigens könnte (nebenher anzumerken und die lange Ausschweifung mit einer neuen zu beschliessen) der Verleger seinen Namen auf dem Titelblatte schon über <?page no="31"?> 31 Es darf also gefolgert werden, dass im Beweis von der den meisten Texten zugrunde liegenden Absicht des Autors, in seinem Text vom Ende eines Abschnittes, der an den vorherigen Abschnitt angegliedert ist, zum nachfolgenden Abschnitt überzuleiten und seinen Text somit als ein zusammenhängendes, seiner internen Logik gehorchendes Ganzes vorzustellen, nichts zu spüren ist. Im Beweis vermag der Leser weder auf ein vorhandenes Handlungssubstrat zurückzugreifen noch ein potentiell folgendes zu antizipieren, da Weichenstellungen im Assoziationsfortgang fingiert und deswegen eher der Verirrung des Lesers denn seiner Orientierung zuträglich sind. So begreift sich, was das Autor-Ich in satirischer Manier zu Beginn des Schlussabsatzes anfügt, wie eine Leseanleitung für die gesamte Satire: „Ich würde dieser Abhandlung ein dreifaches Register beigefügt haben, wenn ihr gedankenvoller Inhalt nicht iedes entbehrlich machte“ (II/ 1, 516f.). Offenkundig bleibt dem Leser nichts anderes übrig, als sich in wiederholten Lektüredurchgängen Zugang zu dieser, der Gedanken vollen (! ) Satire zu erarbeiten, um sie schliesslich von hinten her zu verstehen. 2.2. Lektüreprozess als Hysteron Proteron „[A]us seiner Asche heraus[springen]“ (I/ 1, 216) So man die Lektüreerfahrung von Jean Pauls Satiren rhetorisch benennen will, wird man dies wohl mittels der Figur des Hysteron Proteron tun. Dieses markiert eine unchronologische Aufeinanderfolge zweier Sachverhalte, die der Logik gemäss chronologisch aufeinander folgen sollten: Es markiert den Moment, in dem „die Reihenfolge zweier […] Sachverhalte um[ge]kehrt [wird]“. 35 Jean Pauls Satiren betreffend beschreibt das Hysteron Proteron den Umstand, dass in diesen Texten bereits zur Erlangung einer Erstorientierung Textentzifferungsstrategien nötig sind, die normalerweise erst in einem zweiten Schritt auf die erste, am Thematischen orientierte Lektüre folgen - den Umstand also, dass in Jean Pauls Satirentexten ein erstes Verständnis, d.h. die unvermittelte textuelle Visualität, atypischerweise erst aus einem Durchgang der Desorientierung sowie einem der Einführung alternativer Ordnungsmodelle resultiert. Mit anderen Worten, das literarische Verständnis der Satirentexte beschliesst erst den Prozess, in welchem das Lesen gezwungen wird, seine eigenen Konstituenten zu reflektieren. Den Text kann der Leser also lediglich von hinten verstehen. Hat er ihn zu Ende gelesen, wird er erst dazu befähigt, ihn im Prozess der Reden des Autors hinwegrükken“ (II/ 1, 508f.). - „Noch widerbellet der Überzeugung meines Lesers ein Einwurf, dessen Ausrottung vielleicht zu einer kleinen Ausschweifung gerathen wird“ (II/ 1, 521). 35 Coenen: HWBRh, Artikel ‚Hysteron Proteron’, Sp. 128. <?page no="32"?> 32 Lektüre zum Leben zu erwecken. Mit jedem Mal liest der Leser das, was er in der vorhergehenden Lektüre entziffert hat, mit, sodass zum Schluss - nach Beendigung derjenigen Lektüre, in welcher der Leser den Text versteht - die unvermittelte textuelle Visualität, die sich üblicherweise beim Erstdurchgang durch einen Text einstellt, hergestellt ist. Die Rhetorik des Hysteron Proteron wird folglich vom Ende her, über den Tod, argumentiert. 2.2.1 Exkurs: Tod als Legitimationsmoment der Erzählung Dieses Denkexperiment, in dem Erzählbarkeit erst im Tode ihre Legitimierung erlangt, thematisiert Walter Benjamin in seinem Essay Der Erzähler. Benjamin geht darin von der Feststellung aus, dass den Menschen die Fähigkeit abhanden gekommen ist, einander ihre Erfahrungen mitzuteilen. Die Veränderung, welche dafür verantwortlich zeichne, sei dieselbe, die eine veränderte Wahrnehmung des „[Gesichtes] des Todes“ 36 herbeigeführt habe. Der Niedergang der Kunst des Erzählens ist nach Benjamin also direkt mit der veränderten gesellschaftlichen Wahrnehmung des Sterbens oder besser: dessen zunehmender Nicht-mehr-Wahrnehmung, verbunden. Wird das Sterben nun „aus der Merkwelt der Lebenden immer weiter herausgedrängt“, 37 verliert die Erzählung ihren Ursprung. Denn es ist das gelebte Leben des Menschen, von dem Geschichten ihren Stoff nehmen; und dieses gelebte Leben nimmt „tradierbare Form am ersten am Sterbenden“ 38 an. Stirbt ein Mensch, so setzt sich ein innerer Prozess in Gang, der ihn sein gesamtes Leben bildhaft Revue passieren lässt. Dabei konstituieren sich diese Bilder aufgrund persönlicher Denkweisen, Meinungen und Überzeugungen, die den betreffenden Menschen als Person ausgemacht haben. In ihnen ist er, ohne sich dessen bewusst zu sein, bei dem ihm Eigensten angelangt, ist er „sich selber begegnet“. 39 Das heisst, jeder Mensch trifft in dem Moment, in dem sein Leben zu Ende geht, in sich auf sich selbst als denjenigen, der ihm seine Erfahrungen mitteilt, ihn seine Erfahrungen erinnern macht. Indem sich ein Individuum in ein erstes Subjekt, das einem zweiten Subjekt sein Leben erzählt, aufspaltet, re-inszeniert sich in seinem Innern diejenige Konstellation, in der sich ein Erzähler einem Zuhörer zuwendet. Das Ich (als Erzähler) erzählt sich (dem Zuhörer) seine Geschichte. Dieser innerliche Prozess veräussert sich in Mimik und Blick und wird so für alle Umstehenden sichtbar. Als derart Zugänglicher repräsentiert der Sterbende diejenige Erfahrung, welche er dem Lebenden voraushat, nämlich, das eigene Leben in seiner Totalität geschaut zu haben. 36 Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows, S. 449. (Im Folgdenden zitiert als Der Erzähler.) 37 Benjamin: Der Erzähler, S. 449. 38 Benjamin: Der Erzähler, S. 449. 39 Benjamin: Der Erzähler, S. 450. <?page no="33"?> 33 Damit ist alles, was ihn betrifft, für verbindlich erklärt. Im Sterben erlangt das Leben jedes Dahinscheidenden Geltung. Es ist mit anderen Worten der Tod, der definiert, was der Erzähler berichten kann, der dem Stoff der Erzählung dessen Erzählberechtigung verleiht. Von ihm erst hat der Erzähler „seine Autorität [zum Erzählen] geliehen“. 40 Der Tod fungiert als Ursprungsszene der Erzählung. Verbannen die Menschen ihn aus ihrer Lebenspraxis, entziehen sie dem Erzählen seine Grundlage. Es ist nun die Gabe des Erzählers, die Begegnung mit sich selbst, in der der Sterbende im Moment seines Ablebens die Bedingungen für das Erzählereignis schafft, zu Lebzeiten fruchtbar zu machen. Der Erzähler ist sowohl dazu befähigt, fremde Erfahrungen „seinem Eigensten [beizufügen]“, als auch auf dieses sein „ganzes Leben [jederzeit] zurückzugreifen“. 41 Er bewegt sich „auf den Sprossen [seiner] Erfahrung wie auf einer Leiter […] auf und ab“ 42 und kreiert Figuren: Die „Gerechten […], die die Weisheit, die Güte, den Trost der Welt verkörpern“. 43 Er personifiziert also bereits gelebte Erfahrung in figuralen Kompositionen, anhand derer er den Lesern moralische, ethische, lebenspraktische und/ oder andere Ratschläge erteilt. Er erinnert die Leser im Erzählen an all das, was sie an Erfahrungsschätzen zu verinnerlichen und tradieren versäumt haben, da sie dem Moment, in dem diese als Tradierbare ins Leben gerufen wurden, (noch) nicht beigewohnt haben. Die Leben der Romanfiguren, deren Sinn sich „erst von ihrem Tode her erschliesst“, 44 lehren die Leser, was sie ihre eigenen Leben nicht zu lehren vermögen. Benjamin formuliert dies so: „Nicht darum also ist der Roman bedeutend, weil er, etwa lehrreich, ein fremdes Schicksal uns darstellt, sondern weil dieses fremde Schicksal kraft der Flamme, von der es verzehrt wird, die Wärme an uns abgibt, die wir aus unserem eigenen nie gewinnen. Das was den Leser zum Roman zieht, ist die Hoffnung, sein fröstelndes Leben an einem Tod, von dem er liest, zu wärmen.“ (Benjamin: Der Erzähler, S. 457; Hervorhebung SB) Es ist der Erzähler, der in der Lage ist, sein ganzes Leben, welches Sammelsurium vieler Leben ist, zu erzählen, indem er seine Figuren sich in ihm selbst begegnen lässt. Er vermag sein Leben in Form von erzählerischem Gehalt wiederzugeben, den der Leser, als Ersatz für eigenes Erzählen, konsumiert. Ereignisse, seien sie nun historischer oder literarischer Natur, erhalten ihre Wertigkeit folglich dann, wenn ihr Ende konstatiert ist und sie benannt werden können. Thomas Wirtz hält dies mit Rekurs auf Benjamin folgendermassen fest: 40 Benjamin: Der Erzähler, S. 450. 41 Beide: Benjamin: Der Erzähler, S. 464. 42 Benjamin: Der Erzähler, S. 457. 43 Benjamin: Der Erzähler, S. 459. 44 Benjamin: Der Erzähler, S. 456. <?page no="34"?> 34 „Nur die Annahme eines Endes installiert diejenige teleologische Gespanntheit, mit der sich das Chaos zur heilsgeschichtlichen Ökonomie und die schiere Buchstabenfolge zu einer Erzählung ordnet. […] Verstehensbemühungen [der Historiographie wie der Literatur] setzen immer schon den Tod ihres Gegenstandes voraus.“ (Wirtz: Weltende und Autorschaft, S. 48f.) Für die Ereignisse ‚literarische Texte’ ist somit zu folgern, dass diese sich dem Leser erst im Prozess der Relektüre öffnen. Gerade weil sich der Sinn ihres Geschehens erst aus der Perspektive ihres Erfolgtseins erschliesst, vermögen die Leser die Signifikanz eines Textes nicht vor Beendigung erneuten Lesens zu ermessen. Das bekannte Ende ermöglicht Verstehen, indem das Wissen aus der Erstlektüre fortwährend mit dem Wiedergelesenen synchronisiert wird. Analog zur „[vollkommenen] Erzählung“, die erst „aus der Schichtung vielfacher Nacherzählungen an den Tag tritt“, 45 offenbart ein Text den Lesern seinen wahren Kern nicht bevor diese ihn in mehrmalig erfolgten Lesedurchgängen durchquert haben. Voraussetzung für das Gelingen dieses Unterfangens ist freilich, dass die Leser sich an den Gehalt vorgängiger Lektüren erinnern und ihn fortwährend mitlesen, weswegen Benjamin das Gedächtnis auch „das epische Vermögen vor allen anderen“ 46 nennt. Dank des „Lesergedächtnisses“, 47 das den Verlauf der Geschichte im Wissen um deren Ende permanent reaktualisiert, wird der Erzählung Sinn verliehen. Was Benjamin theoretisch formuliert, praktiziert Jean Paul mit seiner Schreibpraxis in den Satiren. Diese sind (wie oben ausgeführt) lediglich von hinten, also im Prozess der Relektüre, zu verstehen. Allerdings gestaltet sich dieses ‚Verstehen-vom-Ende-her’ im Falle der Jean Paulschen Satiren noch etwas komplexer. Bevor der Leser in der Lage ist, sein „Lesergedächtnis“ einzusetzen, muss er den Text in intensiver Entschlüsselungsarbeit bereits mehrmals durchlaufen haben. Er muss sich den Weg zu derjenigen Relektüre, die eingedenkendes Verstehen ermöglicht, allererst bahnen: Was in ‚normalen’ Texten die Zweitlektüre, vermag in Jean Paulschen Satiren frühestens der dritte Durchgang durch den Text zu leisten. Die Satiren werden als Texte vorstellig, in denen das Ende, welches Verstehen ermöglicht, nicht mit ihrem Textende zusammenfällt. 45 Benjamin: Der Erzähler, S. 448. 46 Benjamin: Der Erzähler, S. 453. 47 Thomas Wirtz: „‚Ich komme bald’, sagt die Apokalypse und ich“. Vorläufiges über den Zusammenhang von Weltende und Autorschaft bei Jean Paul, S. 60. (Im Folgenden zitiert als Weltende und Autorschaft.) <?page no="35"?> 35 2.3 Struktureller Tod - Verschluckungsverfahren „[M]enschliche[] Flucht ins Grab“ (I/ 1, 173) Es ist das Sprechen in der Satire Meine lebendige Begrabung, das einem Sprechen im Tode gleichkommt. Als durch den Tod erwecktes Schreiben, tritt es auf der Stelle. Dies ist beispielsweise daran ersichtlich, dass sich die diversen Einzelsequenzen nicht zu einem stimmigen Ganzen fügen. Dadurch wird ein kohärenter Handlungsverlauf nihiliert, was die Wiedergabe des Plots unterstreicht: Ein Autor-Ich beklagt sich über seinen schlechten Gesundheitszustand, der vom Schreiben herrührt. Es fällt seiner übermässigen Schreibtätigkeit wegen in eine dreitägige Ohnmacht (in einen scheintodähnlichen Zustand) und nimmt dabei über seinen Gehörsinn die Aussenwelt aus einer völlig neuen Perspektive wahr. Es berichtet vom nervenden Vesperprediger, vom sprechenden Star, von der untreuen Ehefrau sowie dem ehebrecherischen Freund und vom Friseur. Schliesslich aufersteht es, erschreckt den Friseur sowie den ehebrech erischen Freund, erteilt letzterem eine Lektion und schliesst dann die Erzählung. Mit jedem dieser divergierenden Einzelereignisse scheint die Handlung von neuem einzusetzen, die Erzählung immer neu vom Nullpunkt auszugehen. Zudem stellen diese Einzelszenen gerade dadurch, dass sie ihre Fühler in alle Richtungen ausstrecken - antithetisch weitergeführt, metaphorisch erweitert oder einander chiastisch gegenübergestellt werden -, die Handlungszeit buchstäblich still. Es ist, als ob die Einzelszenen fortlaufend in die nächste übergehen und dabei verschluckt würden - so beispielsweise, wenn das Autor-Ich, nachdem es den Sexualakt als Erkältung dargestellt hat, sogleich den Chorherrn die Verwandten aus dem Hause des ‚Verstorbenen’ vertreiben lässt (der Chorherr bewerkstelligt dies, indem er sich den ‚Verstorbenen’ auf den Rücken bindet und so die Verwandten erschreckt), darauf dem Scheintoten, der nun an der Tür hängt, mittels einer durch dessen Kleiderärmel gejagten Feldmaus einen Anschein von Lebendigkeit verleiht, bis hin zu seiner euphemistischen Umschreibung des Furzens, in welcher das Ich den „Südwind“ (! ) dem „Nordwind“ (II/ 2, 723) entgegen bläst. Absuderweise verbleiben diese Exempla als einzelne nur kurzzeitig bildhaft präsent und sind trotzdem das, was dem Leser nach der Lektüre der Satire bleibt. All diese Bilder leben von ihrer komischen Inszenierung. Eine derartige Bilderflut lässt sich jedoch, wie bereits erwähnt, nicht zu einem Gesamtbild vereinen. Nicht, dass dies das geforderte Desiderat wäre - in einem Text können durchaus mehrere Bilder nach- oder nebeneinander generiert werden. Auffällig ist aber, dass die Aussage der Satire keiner Handlungslogik folgt. Vielmehr kommt das Fortschreiten der Fratze einem Hüpfen von Einfall zu Einfall gleich. Die Bilder gehen gegenseitig ineinander über, jedes das Sprungbrett des nächsten und zugleich - in den meisten Fällen - das schwarze Loch für seinen Vorgän- <?page no="36"?> 36 ger. Der Text scheint nicht von Handlungselement zu Handlungselement, sondern von Bild zu Bild voranzuschreiten. So gesehen ist es wohl treffender von einer Bildlogik denn von einer Handlungslogik zu sprechen. In dieser Bildlogik wird die horizontale Textebene negiert, wird die Zeit als apokalyptisch erfahren. Das Geschehen spielt sich auf der vertikalen Textebene ab. Zeit wird im Tod still gestellt und markiert zugleich die Möglichkeit zum Beginn von satirischem Erzählen, einem Erzählen, in dem Handlungsverläufe durch kurzzeitig präsente Bilder ersetzt werden, in dem Zeit verräumlicht, ja, vernichtet wird. Auch im Beweis tritt die Handlungszeit auf der Stelle: Obwohl die Assoziationen immer mehr an der Zahl werden, kommen sie, darauf wurde bereits hingewiesen, über ein neuerliches Paraphrasieren des Haupttopos (die Erhebung des Körpers über die Seele) nicht hinaus. Wie oben ausgeführt, zelebriert der Autor auf diese Weise seine virtuos-witzige Handhabe der Sprache, lässt es der Satire jedoch an einer kohärenten Handlungsentwicklung mangeln. Dies zu kaschieren, weist das Autor-Ich mit Fortdauer der Satire immer häufiger darauf hin, wo es sich in seinem ‚Argumentationsgang’ gerade befindet: „Dieser Beitrag zur Physiologie mag sich mit einer Abhandlung über die Büchertitel anfangen! “ (II/ 1, 506), „([ich merke] nebenher […] [an] und [beschliesse] die lange Ausschweifung mit einer neuen)“ (II/ 1, 509), „Ich hoffe nun den Leser zu meiner physiologischen Entdekkung durch dieses Präludium vorbereitet zu haben“ (II/ 1, 509), „Die kurze Beantwortung einiger Einwürfe sol diesen halbpoetischen Theil meiner physiologischen Abhandlung beschliessen“ (II/ 1, 515), „Ich will übrigens durch meine Behauptung dem Kopfe nicht gänzliche Unthätigkeit beim Dichten zugemuthet haben“ (II/ 1, 521), „Das leztere ist der Inhalt des folgenden Absazes; und das erstere des nächsten“ (II/ 1, 521), „So hab’ ich denn die Philosophie vom Himmel gerufen und den Körper in seine alten Rechte eingesezt“ (II/ 1, 526). Im Zwischen dieser markierten Standorte kreist der Text stets um dieselbe thematische Opposition. Wohl wird das Thema dadurch um unzählige Aspekte bereichert, doch addieren sich diese nicht zu einem Gedankenkomplex auf, da sie dem Leser als einzelne in der Masse der Anführungen sofort wieder entgleiten. Das Autor-Ich selbst konstatiert sein Stillstehen, wenn es auf der drittletzten Seite der Satire „wieder zum Eingange des Labyrinths [zurückkehrt]“ (II/ 1, 525, Hervorhebung SB). Alles bis anhin Gesagte hat offensichtlich nirgendwo hingeführt: Die unzähligen Beweise enden alle in Sackgassen beziehungsweise kehren als Schleifen an ihren Ausgangspunkt zurück. Keine der Bewegungen im Textsystem vermochte einen (Handlungs-, Argumentations-) Fortgang zu initiieren, im Gegenteil: Die Textbewegung bleibt auf ein fortwährendes Drehen um sich selbst beschränkt, zum Ausgang aus dem Irrgarten führt sie aber nicht. <?page no="37"?> 37 Paradoxerweise scheint dem Beweis - obwohl seine Rede inhaltlich ununterbrochen und immer wieder neu vom Körper handelt - auf der textuellen Ebene ein Erzählleib zu fehlen, womit er „eine zu sichtbare Ähnlichkeit mit iener Schlange mit zwei Köpfen und keinem Schwanze“ (II/ 1, 525) aufweist, mit der die satirische Abhandlung zum Ende der Satire hin verglichen wird. Mit dem „Kopf des Buchs“ (II/ 1, 506) hat das Autor-Ich bereits auf der ersten Seite den Titel gleichgesetzt. Als wichtigster Teil der Satire strahlt dieser über dem Textkorpus, der bloss „Anhängsel zum Titel“ (II/ 1, 507) ist. Dieses Anhängsel bäumt sich auf 22 Seiten auf, als zweiter Kopf den ersten zu explizieren, und drängt doch eigentlich nur darauf, das im ersten Passus noch nicht ausdifferenzierte Versprechen (II/ 1, 506) im letzten zu verwirklichen, nämlich, „die Abhandlung zu schliessen“ (II/ 1, 527). Mit anderen Worten, auf die „Krone“ (II/ 1, 506) Beweis, daß man den Körper nicht blos für den Vater der Kinder, sondern auch der Bücher anzusehen habe, und daß vorzüglich die grösten Geistesgaben die rechte Hand zur glandula pinealis gewählet folgen lediglich zahlreiche synonyme Ausdifferenzierungen derselben, die jedoch thematisch in sich verharren. Die Handlungszeit steht also auch im Beweis still: Nach der Setzung ihres Titels lebt die Satire ausschliesslich von ihrer paradigmatischen Textachse, auf welcher lebendige, ideenvolle wie geistreiche Vergleiche ungestüm um den Leib-/ Seele-Topos kreisen. Zudem sind diese von vorne motiviert, was bedeutet, dass die ‚Argumentation’ keinen Zielpunkt ansteuert, dass also ausgehend vom letztgenannten Geistesblitz nie auf den folgenden geschlossen werden kann. Da ein derartiger Gedankenfluss keine Stoppregel kennt, muss das Ende der Satire gewaltsam herbeigeführt werden: „Aber ich habe beinahe mein obiges Versprechen, die Abhandlung zu schliessen, vergessen“ (II/ 1, 527). Ähnlich wie in Meine lebendige Begrabung 48 schliesst das Autor-Ich den Beweis folglich explizit. Die doppelköpfige Schlange ohne Schwanz ist zu Ende. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich das In-sich-Verharren, als formale Eigenheit der Satiren, auch in ihrer inhaltlichen Anlage spiegelt. Nach einem roten Faden, einer stringenten, kohärenten Handlungsentwicklung sucht man in ihnen vergebens. Das Fortschreiten von Handlungselement zu Handlungselement weicht einem Auf-der-Stelle-Treten in der Zeit: Statt einer Handlungslogik folgen Jean Pauls Satirentexte einer Bildlogik. Dabei hüpfen sie an Ort und Stelle von Bild zu Bild, um jeweils das vorgängige zugunsten des nachfolgenden sogleich wieder auszulö- 48 „[I]ch sas […] in meinem Museo fest und knätete an dieser Beschreibung des ganzen Vorfals und stand auch nicht eher auf als ietz, da sie leider wie ich voraussagte aus ist“ (II/ 2, 724). Auch in der Satire mit dem Titel Einfältige aber gutgemeinte Biographie einer neuen angenehmen Frau von bloßem Holz, die ich längst erfunden und geheirathet, auf welche die Verfasserin als nächstes detaillierter eingeht, wird der Schlussabsatz mit den Worten „und ihr Leben suchte […] wie dieser Aufsatz mit weiten Schritten sein Ende“ (II/ 2, 421) eingeleitet. <?page no="38"?> 38 schen (Verschluckungsverfahren), beziehungsweise rufen permanent Bilder auf, die sich nur minimal unterscheiden und sich dadurch gegenseitig vergessen machen (Vergessensverfahren). Im Resultat artikulieren sich diese Praxen stets gleich: Die Handlung ist zugunsten einer Bildlogik arretiert. 2.4 Textproduktion als Hysteron Proteron „[B]litzend, knisternd, glühend, anreißend, einäschernd und ausbrütend“ (I/ 1, 259) Der Topos, dass ein Erzählen erst nach dem Tode erfolgen kann, wird in der Satire Meine lebendige Begrabung zudem als Autorschaftsmodell vorstellig: Das Autor-Ich findet erst nach erfolgtem (Schein-)Sterben zur ersehnten schriftstellerischen Produktivität und setzt damit die proklamierte Schreibpraxis der Satiren, das Schreiben im Tode, performativ um. Dem Hysteron Proteron getreu, die chronologische Aufeinanderfolge zweier Sachverhalte umzukehren, argumentiert das Autor-Ich in Meine lebendige Begrabung vom Ende her. Dies wird an derjenigen Stelle, an der die Erzählung der Erlebnisse während des Scheintodes beginnt, ersichtlich: „Eine wahre Wolthat wars für mich, daß ich noch lebendig war, da ich begraben wurde: sonst könt’ ich jetzt noch maustod sein so gut wie irgend einer. Ich greiffe alles mit Händen“ (II/ 2, 714). Offensichtlich entsprach das Leben vor der Begrabung einem Maustot-Sein. Mit dem Begrabenwerden drehen sich die Pole Leben und Tod um: Im Tod beginnt das (Autor-)Leben. Dabei wird der Zustand des Todes im Text immer mehr ‚verlebendigt’. Bereits ‚der Eintritt des Ich in den Zustand des Todes’ impliziert, dass nur ein Teil der ens mixtum Mensch stirbt: Der Geist ist vom Erstarren und Erkalten des Körpers nicht betroffen. Nachdem der Hausdoktor aufgrund der körperlichen Verfassung des Ich dessen Tod feststellt, folgert er, das „[I]ch müste [sich] in [seinen] Tod schicken“ (II/ 2, 714), worauf dieses bezeichnenderweise so fortfährt: „Was mir meinen Tod und meine Leichenbestattung am allermeisten versalzte, war daß ich immerfort noch hören konte: meine Natur und meine Ohren richteten sich ganz nach dem 112 Stücke des Arztes, worin Unzer Gründe und Beispiele genug vorbringt, daß Ohnmächtige und Todte noch aufhorchen.“ (II/ 2, 714, Hervorhebung im Original) Schickt sich in dieser Szene das Ich in seinen Tod und ärgert sich darüber, dass sein immer noch intakter Gehörsinn seine Totenruhe stört, so wird erstens deutlich, dass nur sein Körper, nicht aber sein Geist, das Zeitliche gesegnet hat. Denn nur ein lebendiges Subjekt vermag einen Willensakt - <?page no="39"?> 39 hier die Akzeptanz des (scheinbaren) Todes - zu vollziehen. Zweitens wird der Geist daran gehindert, seine ‚Aufgabe’, nämlich über den Tod fortzudauern, in Ruhe zu vollziehen, da sich der Gehörsinn trotz sonstiger vollumfänglicher Erstarrung des Körpers noch intakt zeigt. Der Zugang zur Welt erfolgt übers Ohr und beschert dem Geiste ungestörte Ausschweifmöglichkeiten. Dieses Geistleben - dem Menschenleben vergleichbar - ist ein Vorstadium des Todes: Dem Scheintoten ist der Sarg erst eine „Todeslarve“ (II/ 2, 716, Hervorhebung SB), da er sich - wie ein Lebender - erst auf den Tod zu bewegt. Der Tod entspricht demzufolge nicht dem Ende des Lebens; im Gegenteil, er fungiert als Initiationsereignis für schriftstellerisches Schaffen. Ganz im Sinne des Hysteron Proteron erfolgt also auch hier eine Motivation von hinten: Es bedarf des ‚Umwegs’ über den (Schein)Tod, damit der Autor zum Leben erwacht. Das Autorleben beginnt im Scheinsterben, denn erst als Scheintotes vermag sich das Ich als Autor (wieder) zu gebären und „alles mit Händen [zu greifen]“ (II/ 2, 714). Die Inititation in das Autordasein erfolgt unter der Prämisse, dass die Körperlichkeit des Autors auf den Gehörsinn reduziert und erst damit seinem Dichtergeist ungestörtes Schaffen ermöglicht wird. Die Aussage, „[e]ine wahre Wolthat wars für mich, daß ich noch lebendig war, da ich begraben wurde“ (II/ 2, 714), erhält im Blickwinkel dieses Wahrnehmungsexperiments noch eine weitere Bedeutung: Die Wohltat liegt nämlich in der still gestellten Körperlichkeit bei gleichzeitiger geistiger Agilität. Im Zustand des Scheintodes hat sich das Autor-Ich endlich nicht mehr mit dem lästigen Körper herumzuschlagen, der - wohl eher für einen Konsistorialrat derjenigen Sorte gebaut, wie er eingangs der Satirenanalysen vorgestellt wurde - ob all der gelehrten, phantasievollen und witzigen Kapriolen des Geistes regelmässig schlapp macht. Jean Paul führt das Autor-Ich als Commercium vor, das aus einem dem Tode nahen Körper und einer (der eingängig gegebenen Definition zufolge) kranken Seele besteht. Unter umgekehrten Vorzeichen (i.e. ein kranker Körper beherbergt eine kranke Seele) bleibt damit auch die Aussage, dass die „Gesundheit des Körpers […] mit der Gesundheit der Seele“ (II/ 2, 713, Hervorhebungen SB) parallel läuft, stimmig. Ein unter normal-menschlichen Bedingungen scheintotes Ich wird als ideale Grundkonstellation eines Autor-Ichs vorstellig, bei dem der Tod als Wahrnehmungselement fungiert. Dass das Commercium und nicht etwa die Tilgung der Körperlichkeit im Zentrum steht, impliziert die Bemerkung, der endlich zu unbeschwerten geistigen Höhenflügen befähigte Geist „greiffe alles mit Händen“ (II/ 2, 714, Hervorhebung SB). Dies unterstreicht auch die Replik des Ich auf die Aussage des Henkers, es „wäre seelig und jubelierte hinter dem Lam“, nämlich: „[I]ch wuste aber von recht guter Hand in meinem Sarge ganz das Gegentheil und hatte meine Gedanken darüber“ (II/ 2, 721, Hervorhebung <?page no="40"?> 40 SB). Die scheinbar tote Hand im Sarg tritt zu diesem Zeitpunkt hinter den Denkergeist zurück. Sie ist es jedoch, die uns - als Schreibhand - mit diesem Text um ihre Lebendigkeit wissen lässt. Auf sie kann ein schriftstellerisch tätiger Geist nicht verzichten, so er - und mit ihm seine Einfälle - nicht „ewig tod“ verbleiben soll (II/ 2, 722). Wie der Eintritt so ist auch der Austritt aus dem Scheintod-Zustand folgerichtig handgreiflich markiert: Mit den Worten „Ich möchte nicht am Plaze und auf den Füssen des Skalpierers gestanden haben, da meine Hände unerwartet nach ihm herausfiengen und ich ihn in den Sarg ziehen wollte …“ (II/ 2, 722) tritt das Ich ins Leben zurück. Vom ersten Moment des Wiedereintritts ins Leben an agiert das Ich als „Physiolog“ (II/ 2, 723). In all seinen Handlungen wird seine Körperlichkeit beinahe überbetont, sodass man den Eindruck erhält, es wäre zum Tier mutiert: Zum einen wedelt es „wie eine Pulverschlange“ (II/ 2, 722) dem Friseur nach, zum anderen isst es eine Zitrone, die man ihm in seinen Sarg gelegt hat, um seinen „Kopf […] wie den des Ebers […] nach dem Tode“ (II/ 2, 720) zu putzen, und ausserdem sieht es in seiner „Todtentracht […] hinten wie ein Käfer mit halben Flügeldecken“ (II/ 2, 722) aus. Auch verfolgt es den vor ihm fliehenden Friseur, indem es „mit dem Rückenwind nach Hause [segelt]“ (II/ 2, 723). Nach dem Scheintod ergänzen Körperlichkeit und (federleichte) Geistigkeit einander in einem harmonischen Commercium. Der Körper scheint ein anderer zu sein, als der, der zu Beginn der Satire als kränklicher, müder und ständig schmerzender geschildert worden ist. Der jetzige ist schlagkräftig und im Stande, sich zur Wehr zu setzen. Als der Chorherr dem Autor-Ich vorwirft, es stelle sich nur so, als sei es auferstanden, und somit impliziert, er habe lediglich einen Geist vor sich, beschliesst das Ich, diesem „Egoisten und Idealisten“ die Gegenwart seiner Seele in seinem Körper, mit anderen Worten, „das Dasein [s]eines Archäus - oder [s]einer anima Stahlii - oder [s]eines Nervenäthers nach geistigen und heutigen Systemen - oder [s]einer aura vitalis - oder [s]eines actuosum Albini“ zu beweisen, indem es ihm ins Gesicht schlägt und ihm dabei „verschiedne Zähne aus lothrechter Stellung in wagrechte plättet[]“ (alle: II/ 2, 723). Damit wird nicht nur der Chorherr an seine eigene Körperlichkeit erinnert, sondern auch im Ich ein gesundes Commercium vorstellig. Der erstarkte Schriftsteller stellt seine körperliche Überlegenheit mittels handfester „[A]postroph[…]en“ (II/ 2, 724) unter Beweis. Die schriftstellerische Energie setzt sich gegen die libidinöse durch. Die Satire kann jetzt beendet werden. <?page no="41"?> 41 2.5. Kontrolliert assoziative Aneinanderreihung der Gedankenblitze (Einfältige aber gutgemeinte Biographie einer neuen angenehmen Frau von bloßem Holz) „[J]ede Empfindung ein […] Vorbote der entgegengesetzten, und alle [mit] abwechselnde[n] Stimmen“ (I/ 1, 215) Wie Schmidt-Biggemann in seiner Dissertation Maschine und Teufel. Jean Pauls Jugendsatiren nach ihrer Modellgeschichte betont, lässt sich die „auf den ersten Blick chaotische[] Vielfalt“ von Aspekten, die Jean Paul in seinen Texten immer wieder thematisiert, in zwei „Gedankengruppen“ unterteilen, deren „Repräsentanten“ Schmidt-Biggemann mit den Begriffen „Maschine und Teufel“ umschreibt. 49 Besonders der „Bezugsbereich ‚Maschine’“ erlange in Jean Pauls Satiren „seit Descartes’ Inthronisation der Mechanik“ regelmässig Erwähnung. 50 Letzteres wird an den eben erfolgten Analysen augenscheinlich, denn sowohl in Meine lebendige Begrabung als auch im Beweis findet das Commercium-Problem, das sich seit Descartes’ Zwei- Substanzen-Lehre stellt, Erwähnung: Die satirischen Belustigungen entfalten sich in Meine lebendige Begrabung rund um den vorerst todkranken Körper mit seiner kränklichen Seele, der nach dem (Schein-)Tod des Autor-Ichs als gesunder Körper mit einer gesunden Seele vorstellig wird. Im Beweis stellt das Commercium-Problem den Haupttopos der Satire dar und zwar in der Form, dass die Vor- und Nachteile der zwei Substanzen gegeneinander ausgespielt werden, um so die (scheinbare) Dominanz des Körpers über die Seele beweisen zu können. Auch in der folgenden Analyse der Satire Einfältige aber gutgemeinte Biographie einer neuen angenehmen Frau von bloßem Holz, die ich längst erfunden und geheirathet steht Descartes’ Theorie des Substanzendualismus sowie die Frage nach dem commercium mentis et corporis, die sich daraus ergibt, im Zentrum. Augenscheinlich sind Jean Pauls Satirentexte das Resultat seiner Auseinandersetzung mit zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskursen. Sie greift er auf und übersetzt sie in satirische Modellgeschichten, in satirische Bilderwelten. Dabei gehen die Bilder nicht darin auf, Illustrationen von Wissen zu sein - ihnen liegt vielmehr ein eigener Bestimmungsraum zugrunde, in welchem sie wissenschaftlich errungene Erkenntnisse aus deren wissenschaftsgeschichtlichem Kontext lösen und diese ikonisch weiterdenken. Neben einer kurzen Skizzierung des Commercium-Problems sowie Descartes’ Lösungsvorschlag für dasselbe wird die Verfasserin nun anhand 49 Alle: Schmidt-Biggemann: Maschine und Teufel, S. 15, Hervorhebungen im Original. 50 Schmidt-Biggemann: Maschine und Teufel, S. 15. <?page no="42"?> 42 der Einfältigen Biographie Jean Pauls spezifischen, poetologisch-ikonischen Umgang mit der Debatte herausarbeiten. Darüber hinaus, dass sie die analytischen Befunde der vorhergehenden Interpretationen in der Einfältigen Biographie bestätigt findet, wird sie darlegen, dass die Geistesblitze, die eine satirische Argumentationsform ausmachen, nur scheinbar willkürlich angeordnet sind. Schmidt-Biggemanns Befund, Jean Pauls Satirentexte stellten keine „heterogene[n] und unverbindliche[n] Stückchen“ 51 dar, sondern seien einer von zwei Gedankengruppen (Maschine oder Teufel) zuzurechnen, lässt sich folglich auf die die einzelnen Satiren ausmachenden Ideen ausweiten. Es wird erhellen, dass die innerhalb der Einfältigen Biographie angeführten ‚Argumente’ absichtlich so und nicht anders gruppiert sind, da der Reihenfolge ihres Auftretens eine Ordnung zugrunde liegt. 2.5.1 Commercium-Debatte: Descartes’ Antwort Mit seiner Begründung der dualistischen Metaphysik teilt René Descartes die Welt in ausschliesslich zwei Arten von Substanzen ein: in die res cogitans (der Geist/ die Seele/ der Verstand) und die res extensa (die Materie/ der Körper). Ihm zufolge stellen die beiden Substanzen dabei zwei gegensätzliche und inkommensurable Realitäten dar, zwischen denen es keine Gemeinsamkeit gibt: Die res cogitans wird als eine rein geistige Substanz ohne Ausdehnung vorstellig, die res extensa dagegen als eine ausgedehnte Substanz ohne Vergeistigung. Descartes entflicht die in der alten Physiologie postulierte Einheit von Leben und Seele, indem er Materie als Bewegung und Gestalt kleinster Partikel beschreibt. Diese - und nicht die facultates animae, welche man bis ins 17. Jh. hinein dafür verantwortlich machte, Lebensvorgänge nicht nur zu steuern, sondern allererst in Gang zu setzen, - zeichneten für sämtliche charakteristischen Eigenschaften aller Erscheinungen der Natur verantwortlich. Descartes bricht mit der Lehre, es sei eine Seele notwendig, einen Leib zu beleben. So führt er beispielsweise in Über den Menschen an: „[Man] bedenke, dass die Funktionen in dieser Maschine alle von Natur aus allein aus der Disposition ihrer Organe hervorgehen, nicht mehr und nicht weniger, als die Bewegungen einer Uhr oder eines anderen Automaten von der Anordnung ihrer Gewichte und ihrer Räder abhängen. Daher ist es in keiner Weise erforderlich, hier für diese (die Maschine) eine vegetative oder sensitive Seele oder ein anderes Bewegungs- und Lebensprinzip anzunehmen als ihr Blut und ihre Spiritus, die durch die Hitze des Feuers bewegt werden, das dauernd in ihrem Herzen brennt und das keine andere Natur besitzt als alle Feuer, die sich in unbeseelten Körpern befinden.“ (Descartes: Über den Menschen, S.136) 51 Schmidt-Biggemann: Maschine und Teufel, S. 15. <?page no="43"?> 43 Indem Descartes den Ablauf menschlicher Körperfunktionen folglich mechanisch erklärt, setzt er den Körper in dessen Funktionsweise anorganischen Naturerscheinungen gleich. Wie alle Materie stellt der menschliche Körper, diese „Maschine der Glieder“, 52 eine res extensa, ein ausgedehntes Ding, dar. 53 Die Seele dagegen, die es von der materiellen Substanz ganz und gar zu unterscheiden gelte, habe „von Natur keinen Teil an der Ausdehnung oder den Dimensionen oder den anderen Eigenschaften der Materie, woraus der Körper besteht“. 54 Das sie auszeichnende Merkmal ist das Denken, „das heisst Geist, Seele, Verstand oder Vernunft“. 55 Erwies sich diese radikale Trennung von Geist und Materie vor allem für die Naturwissenschaftler als äusserst produktiv, da sie die Materie nun als Entität frei von psychischen Qualitäten oder geistigen Werten behandeln konnten, sehen sie sich zusammen mit den Philosophen vor das Problem gestellt, den Menschen als offensichtliche leib-seelische Einheit erklären zu müssen. Es stellt sich nämlich die Frage nach dem commercium mentis et corporis, die Frage, inwiefern Körper und Geist in der ens mixtum Mensch miteinander interferieren, inwiefern es also möglich ist, dass der Mensch - bei postulierter völliger Trennung von Materie und Geist - den Zustand seiner res extensa, seines Körpers, modifizieren kann, wann immer seine res cogitans, sein Geist, dies will. Descartes selbst geht von einem physischen Ort im menschlichen Körper aus, an dem der Kontakt zwischen Körper und Geist realisiert und damit der Austausch von Informationen zwischen ihnen gewährleistet wird. Diese Schnittstelle lokalisiert er in einer kleinen Drüse, der Zirbeldrüse, die sich im mittleren hinteren Teil der Gehirnsubstanz befindet. Als einziges Organ des Gehirns findet sich diese Drüse nur einmal - alle anderen Hirnstrukturen sind paarweise vorhanden und spiegelbildlich auf der rechten und linken Hirnhälfte verteilt. Das Gehirn selbst stellt sich Descartes in Gestalt einer Höhle vor, die mit einer flüssigen Materie gefüllt und nach aussen hin von der Hirnrinde begrenzt ist. Ins Rückenmark eingelassen interpretiert die Zirbeldrüse nun, indem sie in winzigen Schwingungen frei oszilliert, Sinnesinformationen, anhand derer sie den Gliedern entsprechende Befehle erteilt. Der Geist interagiert mit dem Körper über einen Informationsaustauschprozess zwischen der Drüse und der Hirnrinde. ‚Physiologisches Denken’ ereignet sich, wenn die von der Zirbeldrüse auf- 52 René Descartes: Meditationen, S. 75. 53 Descartes: Meditationen, S. 269. 54 René Descartes: Über die Leidenschaften der Seele, S. 17. (Im Folgenden zitiert als Leidenschaften der Seele.) 55 Descartes: Meditationen, S. 77. <?page no="44"?> 44 genommenen Eindrücke an die Nervenenden in der Hirnrinde übertragen werden. 56 2.5.2 Holzfrau: Commercium In Jean Pauls Einfältiger Biographie schwärmt ein Autor-Ich von seiner angenehmen und guten Ehefrau - die es vor allem deshalb für angenehm und gut befindet, da es sie selbst gemacht hat: Die Frau besteht nämlich „aus blossem Holz“ (II/ 2, 394), aus purer Materie. Um auch anderen Männern die Möglichkeit zu bieten, in den Besitz einer solch aussergewöhnlich liebreizenden Frau zu gelangen, teilt es ihnen mit, wie es sie hergestellt hat. Zum Rumpf derselben diente ihm ein faules Stück Holz einer alten Mosesfigur. Deren morschen Kopf habe es aber nicht mit übernommen, da „der Kopf einer Dame ein wesentlicher Theil derselben und eben so wol der Sitz ihrer […] Seele sei“ (II/ 2, 395). So habe es seiner Frau einen Haubenkopf auf ihren Rumpf gesetzt, „der eine glückliche Physiognomie [hatte] und damit einigen Witz, ein wenig Nachdenken und andere Seelengaben [versprach]“ (II/ 2, 395). Offensichtlich - soviel geht aus diesen einleitenden Anleitungsworten zur Herstellung einer angenehmen Ehefrau hervor - befindet es das Autor- Ich für wichtig nahe zu legen, dass seine Frau - obwohl aus morschem Holz bestehend 57 - ein Wesen aus Körper und Geist, also eine ens mixtum (ein Mensch) ist. Es misst der Auswahl ihres Kopfes deswegen einen so hohen Stellenwert bei, da dieser als Sitz ihrer Seele gilt. Damit spielt das Autor-Ich auf die Zirbeldrüse an und gibt zu erkennen, dass es sowohl mit der Commercium-Debatte wie auch mit Descartes’ Versuch, den Menschen als leib-seelische Einheit zu begründen, vertraut ist. Gleichwohl erachtet es die Ansicht, die Seele befinde sich im Kopf der Frauen, offenbar keineswegs für die alleingültige, wenn es im Folgesatz die Möglichkeit, der Sitz der Seele befinde sich in deren Bauch, für ebenso plausibel erklärt: „[Da] ich selbst in einem Buche aus der hiesigen Lesegesellschaft klare Beweise gelesen, daß der Kopf einer Dame ein wesentlicher Theil derselben und eben so wol der Sitz […] ihrer Seele sei, - wiewol mans wieder aufgiebt, wenn man den H. Zechini zuletzt lieset, dem der Beweis leicht war, daß die Seele eines Fötus und seiner Mutter gar an Einem Orte sässen, so wie sein Körper -“ (II/ 2,395) 56 Descartes: Leidenschaften der Seele, S. 17-19, René Descartes: Über den Menschen (1632) sowie Beschreibung des menschlichen Körpers (1648), S. 57, 100-105, 112-118. (Im Folgenden zitiert als Über den Menschen.) 57 Inwiefern die Tatsache, dass die Ehefrau aus Holz besteht, nicht unwesentlich zu sein scheint in Bezug auf die Art und Weise, wie sich die Einfältige Biographie mit der Commercium-Debatte auseinandersetzt, wird aus folgenden Ausführungen hervorgehen. <?page no="45"?> 45 Dass das Ich in seiner Meinung, wie ein commercium mentis et corporis zu denken und für seine Frau zu erlangen sei, durchaus nicht gefestigt ist, beweist schliesslich auch seine Wahl des Haubenkopfes, für den es sich erst entschieden hat, nachdem es den sprechenden hölzernen Kopf des Backo nicht zu erwerben vermochte; sich nun aber vollkommen damit zufrieden gibt, dass die physiognomischen Strukturen des Haubenkopfes dessen Seelengaben (also die Fähigkeit zu sprechen, zu denken etc.) wenigstens erahnen lassen. 2.5.3 Holzfrau: res extensa Nach einer derartigen Etablierung des Commercium-Themas lässt das Autor-Ich aber keine Erörterung desselben folgen, sondern geht dazu über, seitenlang exklusiv vom Körper seiner Frau zu sprechen, womit es - statt deren leib-seelische Einheit zu ergründen - den Substanzendualismus, der (wie eben ausgeführt) von einer rigorosen Trennung von Körper und Geist ausgeht, stark macht. (Interessanterweise widerspiegelt das Autor-Ich mit seinem Vorgehen Descartes Argumentationspraxis in Über den Menschen, in dem letzterer festhält, es sei erforderlich, dass er „zuerst den Körper für sich und danach auch die Seele ebenso für sich beschreibe“. 58 ) Befremdlich mutet ausserdem an, dass das Autor-Ich von allen Vorteilen, die es im Verlaufe der Satire erwähnt und als Gründe angibt, warum seine Holzfrau jeder lebendigen Frau vorzuziehen sei, die meisten von deren körperlichen Beschaffenheit herleitet. Neben der für die Frau zweifelhaft rühmlichen Tatsache, dass der Ehemann offenbar ihre Physis über ihren Intellekt stellt, muss den Leser ausserdem stutzig machen, dass sich das Ich über die physischen Eigenschaften, die es zu loben vorgibt, de facto lustig macht. Angeblich die Schönheit seiner Gattin preisend, gesteht es frei heraus, bei deren Herstellung aus Geldmangel Waren zweiter Klasse verwendet zu haben. Obschon ihm folglich nach umfangreicher Lektüre der besten Poeten bekannt ist, wie die Körperteile einer Dame beschaffen sein müssen, um als schön zu gelten, verfährt das Ich mit den übrigen Gliedern, wie es mit dem Haubenkopf verfahren ist: Statt seiner Gattin beispielsweise goldene Haare anzusetzen, steckt es ihr lediglich goldene Haarnadeln ins Haar; anstatt Augen aus Achat oder Elfenbein erhält sie lediglich ein blau sowie ein schwarz eingefärbtes Silberauge (beide: II/ 2, 396). Des Weiteren setzt es ihr nur schlechte Backenzähne ein (angeblich diejenigen, die der heiligen Apollonia der Legende zufolge im 3. Jh. ausgeschlagen wurden), verwendet für die Vorderzähne aber immerhin gebleichten Rindsknochen, da sie es sind, auf die die Rezensenten zuerst blickten (II/ 2, 397). Mit der Bemerkung, es sei überzeugt, der Leser stelle sich seine Gattin schöner vor, als es sie beschrieben habe, sodass sich „ihr Bild […] in seiner Phantasie ein 58 Descartes: Über den Menschen, S. 43. <?page no="46"?> 46 wenig schöner als oben aus[nehme], und […] sich vielleicht von der Gestalt einer lebendigen Pariserin, die eben aufgestanden noch nicht Toilette gemacht, eben nicht so weit mehr [entferne]“ (II/ 2, 398), rundet das Ich die fragwürdig anerkennende Schilderung des Aussehens seiner Frau ab - jedoch nicht, ohne sich sogleich in derselben Manier über die Vorteile, die eine hölzerne Gattin ihren Ehemännern beschert, auszulassen. Nämlich: Eine Holzfrau koste ihren Gatten erstens weit weniger als eine lebendige Frau, da sie - in Ermangelung eines Magens - nichts esse und dadurch beständig dieselben Kleider zu tragen vermöge (II/ 2, 399). Zweitens gelinge es ihr, ihren Mund unaufhörlich offen zu halten und freundlich zu lächeln, was bei lebendigen Damen Muskelkrämpfe verhinderten (II/ 2, 397). Ausserdem hielten ihre einmal aufgetragenen respektive an ihr angebrachten Reize (also Schminke und Schmuck) (beinahe) ein Leben lang und müssten nicht jeden Morgen erneuert werden (II/ 2, 402). 2.5.4 Holzfrau: res cogitans Nachdem es sich derart ausführlich der res extensa seiner Gattin gewidmet hat, greift das Ich unvermittelt die eingangs angesprochene Commercium- Debatte wieder auf, indem es dazu übergeht, die Existenz einer res cogitans im Körper seiner Holzfrau zu beweisen. Wenig überraschend fallen seine begründenden Ausführungen jedoch ebenso fadenscheinig, widersprüchlich und ihr (angebliches) Ziel verfehlend aus, wie dies zuvor mit denjenigen die vermeintlichen Vorzüge der Physis seiner Gattin betreffend der Fall gewesen ist. Ein Beispiel: Der Königsweg zum Beweis, dass in seiner Frau ein vernünftiger Geist wohne, führt für das Autor-Ich über die Identischsetzung derselben mit lebendigen Damen. Gelinge es ihm zu belegen, dass diese eine Seele haben, so sei es ein Leichtes, dasselbe für seine Frau zu folgern. Als erstes vergleicht es sodann die lebendigen Damen mit Blumen: Wenn jene wohlriechende Pomade wie diese Honig und Duft, und jene Puder wie diese Blütenstaub an ihrem Kopfe haben, so sei aufgrund dieser äusserlichen Analogie auch eine innere abzuleiten und in gleicher Weise Bonnets Postulat, „Blumen hätten vielleicht eine Seele“ (II/ 2, 406), auf die Damen mit zu übertragen. Wenn man weiter mit Helmont (einem flämischen Universalwissenschaftler, der als Naturforscher, Arzt und Chemiker tätig war) annehme, die Seelen seien blosse Lichter, und man zu Beginn seiner Ausführungen erfahren, wie der morsche Holzkopf der Mosesfigur gestrahlt und geleuchtet habe, so könne man schwerlich bestreiten, dass sich im hölzernen Körper seiner Frau eine Seele befinde. Wenn man ausserdem Platons Aussage Glauben schenke, „männliche Seelen [würden] zur Strafe in weibliche Körper gesenkt […]; wenn aber ferner die lebendige [sic] Schönen, wie man oben annehmen wollte, ganz und gar keine Seele [beherbergten]: so steht die große Frage auf, wohin sollen sie denn verbannt sein? Wenns nicht in die Haubenköpfe <?page no="47"?> 47 und Puppen d.i. in die von mir erfundnen und dem andern Geschlecht doch in der Gestalt am nächsten kommenden Weiber ist.“ (II/ 2, 409) Derart durchschaubar-unglaubwürdige Argumente, die das Vorhandensein einer Seele im Leib seiner Frau belegen sollen, schmälert das Ich umso mehr, wenn es anführt, es habe diese ohne nachzudenken (II/ 2, 407, 408) vorgebracht. Zudem widerspricht es sich während seiner vermeintlichen Beweisführung, wenn es im Verlauf der Satire beispielsweise befindet, „das Gehirn eines Haubenkopfes [sei] jeder Seele fast zu hart“ (II/ 2, 408), nachdem es eingangs dargelegt hatte, gerade die Physiognomie des Haubenkopfes würde die Existenz einer Seele in seinem Innern praktisch beweisen (II/ 2, 395). Desgleichen wenn es Rückschlüsse von lebendigen Damen auf seine hölzerne Gattin zulässt, sofern sie sein Argument stützen, jedoch verneint, wenn sie diesem widersprechen (II/ 2, 406, 408). Und schliesslich, wenn es seine seitenlangen Ausführungen faktisch für hinfällig erklärt, indem es festhält, dass - obwohl man dies in seiner täglichen Erfahrung beobachte - im Grunde niemand wisse, „[wie] […] eine [SB: Seele] hineinkömmt, ob […] nun [in] eine unbelebte Dame […] oder nur [in] ein belebtes Kind“ (II/ 2, 408), und man folglich auch von ihm keine Erklärung hierfür erwarten könne. Seiner selbst gestellten Aufgabe, das Vorhandensein einer Seele in seiner Gattin zu beweisen, weicht das Autor-Ich denn auch dahingehend aus, als dass es zum Beweis für die Existenz einer Seele Lavaters Erkenntnisse aus dessen Physiognomischen Fragmenten vorschiebt: Um die Existenz eines Inneren in einem Äusseren zu beweisen, die nicht bewiesen werden kann, bietet es sich wohl an, vom Äusseren auf das Vorhandensein des Inneren bloss zu schliessen. Lavater beschreibt die Physiognomik als „die Fertigkeit[,] durch das Aeußerliche eines Menschen sein Innres zu erkennen“, und begreift unter der Physiognomie „alle unmittelbaren Aeußerungen des Menschen. […] Im engern Verstand ist Physiognomie die Gesichtsbildung, und Physiognomik Kenntniß der Gesichtszüge und ihrer Bedeutung“. 59 Im Kapitel Von der Harmonie der moralischen und körperlichen Schönheit hält er fest: „Was in der Seele vorgeht, hat seinen Ausdruck auf dem Angesichte“. 60 Was die „Silhouette“ oder den „Schattenriss[]“ betrifft, so glaubt Lavater von ihnen „auf den ganzen Charakter, die würklichen, die möglichen Leidenschaften [der Menschen] schließen [zu können]“. 61 In der Einfältigen Biographie wird Lavaters Theorie referiert, wenn es von der Seele der Holzfrau heisst, ihre Kräfte seien „nicht ohne ihre gewisse Zeichen und Devisen auf dem Gesichte, das der Anschlagzettel der innern Geschicklichkeiten ist“ 59 Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, S. 21f., Hervorhebungen im Original. (Im Folgenden zitiert als Physiognomische Fragmente.) 60 Lavater: Physiognomische Fragmente, S. 49. 61 Lavater: Physiognomische Fragmente, S. 157. <?page no="48"?> 48 (II/ 2, 409, Hervorhebung im Original). Demzufolge verheisse der „Haubenkopf[, der] vielleicht eine mehr zurückgehende als gerundete Stirn [hat,] […] nicht so wol Verstand als beträchtliche Imaginazion“ (II/ 2, 409). Ausserdem liest das Autor-Ich von der Physiognomik der Hände seiner Holzfrau „nützliche Anlagen zur Dichtkunst“ (II/ 2, 410) ab und beabsichtigt deshalb, „die Ausgabe ihrer Werke mit einer Silhouette ihrer Hand [anzufangen]“ (II/ 2, 413). Unter dem Deckmantel der Physiognomie werden zugleich auch die zeitgenössischen Erklärungsversuche zum Commercium-Problem, wie beispielsweise der Okkasionalismus, der influxus physicus oder Leibniz’ prästabilierte Harmonie, anzitiert: Auf die Okkasionalisten spielt das Autor-Ich mit der Formulierung an, „geringe Aenderungen in der Physiognomie meiner Frau […] [ziehen] […] darauf folgende[] Aenderungen in der Seele [nach sich]“ (II/ 2, 410). Darin widerspiegelt sich die Erklärung der Okkasionalisten für einen leibseelischen Zusammenhang beim Menschen: Sie nehmen an, „daß psychische und physische Vorgänge einander deshalb zugeordnet seien, weil Gott aus Anlaß (occasio) […] der einen die jeweils anderen hervorrufe“. 62 Wann immer sich gewisse materielle Vorgänge ereignen, lasse Gott gewisse geistige Vorgänge eintreten, „und zwar nicht willkürlich, sondern in streng gesetzmäßiger Weise, da er auf Grund seiner absoluten Vollkommenheit stets in gleicher Weise wirken muß“. 63 Der influxus physicus wird in der Einfältigen Biographie in Form von Georg Ernst Stahls Theorie vom Einfluss des Geistes auf den Körper (also quasi als influxus mentalis) gedacht, was in den Äusserungen, „der menschliche Körper ist […] nichts als […] ein Gespinst der darin übernachtenden Seele“ (II/ 2, 407, Hervorhebung im Original) und „die Seele […] [hat] ihre eigne Haut [fast] nicht erkannt“ (II/ 2, 400), anklingt. Die Influxionisten versuchen ein Paradoxon zu denken: Sie gehen als Lösung des Commercium-Problems von einem körperlichen Einfluss auf die Seele aus, der sich, anders als bei den Okkasionalisten, natürlich und nicht als Folge göttlichen Beistandes vollzieht, ohne dabei Descartes’ Theorie des Leib- Seele-Dualismus fallen zu lassen. Sie postulieren folglich ein ‚Etwas’, das materiell und geistig zugleich sein soll, ein ‚Etwas’, von dem die Erfahrung zwar beweist, dass es existiert, das aber eigentlich undenkbar ist. Georg Ernst Stahl nun denkt die gegenseitige Beeinflussung der beiden Substanzen von der Seele ausgehend - folglich, wie oben erwähnt, als influxus mentalis. In seiner Disputation formuliert er diesen Gedanken folgendermassen: „Die Seele baut sich den Körper, ernährt ihn und handelt in allem 62 Wolfgang Röd (Hg.): Geschichte der Philosophie, S. 126, Hervorhebungen im Original. (Im Folgenden zitiert als GdPh.) 63 Röd: GdPh, S. 127. <?page no="49"?> 49 in und mit ihm auf ein bestimmtes Ziel hin, wenn sie zuweilen auch von diesem Ziel abirrt“. 64 Als dritter zeitgenössischer Erklärungsversuch zum Commercium- Problem findet in der Einfältigen Biographie Leibniz’ prästabilierte Harmonie implizite Erwähnung, indem der Text den prophezeiten Zustand des Gestorbenseins der hölzernen Ehefrau mit dem Bild „einer stillstehenden Uhr“ (II/ 2, 421, Hervorhebung im Original) vergleicht. Neben dem Okkasionalismus und dem influxus physicus ist Leibniz’ Konzept der prästabilierten Harmonie das bekannteste Lösungsmodell der Commercium-Debatte. Leibniz erklärt den Parallelismus zwischen der res cogitans und der res extensa in der ens mixtum Mensch, indem er annimmt, Seele und Körper seien von Gott so eingerichtet, dass die Vorgänge in beiden Substanzen einander genau entsprechen. 65 Im Postskript der Eclaircissement du nouveau systeme de la communication des substances, pour servir de reponse à ce qui en est dit dans le Journal du 12 Septembre 1695 veranschaulicht er den Zusammenhang zwischen den beiden Substanzen anhand des Uhrengleichnisses: Die prästabilierte Harmonie sei deshalb möglich, da Gott in einem vorgängigen, einmaligen Eingriff Körper und Seele, die sich Leibniz als jeweils eine Uhr vorstellt, derart aufeinander abgestimmt habe, dass sie nunmehr parallel laufen. 66 Interessanterweise befindet sich unter den anfänglich drei Varianten, wie man sich Leibniz zufolge den (parallelen) Gang dieser Uhren vorstellen könne, auch diejenige einer mechanischen (hölzernen! ) Kopplung. Die beiden Uhren, die an ein und demselben Stück Holz aufgehängt seien („Il avoit suspendu deux pendules à une même piece de bois“), kommunizierten über ein durch ihr regelmässiges Schlagen ausgelöstes holzartiges Zittern („les battemens continuels des pendules avoient communiqué des tremblemens semblables aux particules du bois“). Wann immer sie unregelmässig zu schlagen drohten, oder man ihr Schlagen absichtlich störte, geschehe es wie durch ein Wunder, dass sie wieder parallel zu schlagen 64 Georg Ernst Stahl: Über den mannigfaltigen Einfluss von Gemütsbewegungen auf den menschlichen Körper, S. 37. (Im Folgenden zitiert als ÜEGK.) - Als zwei Influxionisten, die einen körperlichen Einfluss auf die Seele postulieren, sind Ernst Platner und Friedrich Schiller zu nennen. Platner beschreibt in seiner Eilften Lehre. Von der Wirkung des Koerpers in die Seele den Nervensaft als eine materiell-immaterielle Vermittlungsstelle zwischen Körper und Geist (Ernst Platner: Anthropologie für Aerzte und Weltweise, S. 90-95). Schiller nennt die „Kraft […], die zwischen den Geist und die Materie tritt und beede verbindet[, die] Kraft, die von der Materie verändert werden und die den Geist verändern kann[: ] […] Mittelkraft“ (Friedrich Schiller: Philosophie der Physiologie, S. 253, Hervorhebung im Original). 65 Gottfried Wilhelm Leibniz: Vorstudie zum XIII. Briefe. In: Ders.: Die philosophischen Schriften. Hg. von C.I. Gerhardt. Bd. 2. S. 70. 66 Gottfried Wilhelm Leibniz: Eclaircissement du nouveau systeme de la communication des substances, pour servir de reponse à ce qui en est dit dans le Journal du 12 Septembre 1695. In: Ders.: Die philosophischen Schriften. Hg. von C.I. Gerhardt. Bd. 4. S. 498f. (Im Folgenden zitiert als Eclaircissement.) <?page no="50"?> 50 beginnen („mais ces tremblemens ne pouvant subsister dans leur ordre, et sans s’entr’empecher, […] il arrivoit par une espece de merveille que lorsqu’on avoit même troublé leur battement tout exprès, elles retournoient à battre ensemble“). 67 Die Tatsache, dass die Holzstück-Lösung auf Kosten der prästabiliert-harmonischen Möglichkeit ausscheidet, dass Leibniz also ein über hölzerne Partikel harmonisiertes Commercium für nicht möglich befindet, 68 mag einer der Gründe sein, warum die Frau in der Einfältigen Biographie, von der das Autor-Ich ja vergeblich zu beweisen sucht, sie sei eine ens mixtum, aus Holz besteht. Am Augenfälligsten aber unterläuft das Autor-Ich seine scheinbare Absicht, Belege für die Beseeltheit seiner Gattin zu nennen, indem es Qualitäten derselben anführt, die allesamt - ex negativo versteht sich - diejenigen Argumente anzitieren, die Descartes zum Beweis für die Existenz einer res cogitans vorgebracht hat. Das Ich sucht also die Beseeltheit seiner Gattin dadurch zu beweisen, dass es ihr gerade alle diejenigen Eigenschaften abspricht, die Descartes zum Beweis für die Existenz einer Seele im Menschen vorbringt. Hat dieser im Discours de la Méthode dessen Fähigkeit zu sprechen, seine Fähigkeit intelligent zu handeln sowie die Tatsache, dass keine noch so weit entwickelte Maschine ihn vollständig zu ersetzen vermöge, zu diesen einschlägigen Merkmalen bestimmt, 69 wird das Autor-Ich nicht müde, die Eigenschaften seiner Holzfrau erstens mit denjenigen von Tieren (die zu der Zeit für vernunftlose Maschinen gehalten wurden) zu vergleichen 70 - die Physis seiner Frau zu beschreiben, zieht das Autor-Ich Gleichnisse heran, in denen Walrosse (II/ 2, 397), Insekten (II/ 2, 400), Kröten (II/ 2, 401), Pfauen (II/ 2, 405), Schnecken (II/ 2, 407), Fische (II/ 2, 417), ein Bienenschwarm (II/ 2, 419) sowie Bücherläuse (II/ 2, 422) vorkommen - und wird zweitens nicht müde zu verkünden, seine Frau sei sowohl stumm als auch unvernünftig: „[So] kann meiner Frau eine Stumheit gar nicht fehlen, von der ich ihre Schamhaftigkeit der Zunge hauptsächlich erwarte; […] dabei gibt eine glückliche Stumheit auch andern Fehlern nicht Raum, nicht der weiblichen Medisance, nicht der witzelnden Geschwätzigkeit, nicht den abgedroschenen und auswendig gelernten hundertiährigen Schmeicheleien, nicht den Kleinigkeiten-Erörterungen“ (II/ 2, 417, Hervorhebung SB), und: „[Denn] obgleich wol zwanzig hisige Weiber […] versichern, sie 67 Alle: Leibniz: Eclaircissement, S. 498. 68 Leibniz: Eclaircissement, S. 499. 69 René Descartes: Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung, S. 45f. (Im Folgenden zititert als Von der Methode.) 70 Die Auffassung, die Wesenheit von Tieren unterscheide sich nicht von der Gestalt und Funktionsweise von Maschinen, vertritt Descartes beispielsweise in Von der Methode: „Wenn es Maschinen mit den Organen und der Gestalt eines Affen oder eines anderen vernunftlosen Tieres gäbe, so hätten wir gar kein Mittel, das uns nur den geringsten Unterschied erkennen ließe zwischen dem Mechanismus dieser Maschinen und dem Lebensprinzip dieser Tiere“ (Descartes: Von der Methode, S. 45f.). <?page no="51"?> 51 würde, wenn sie […] nicht meistentheils von Holz wäre, zuverlässig anders sein […]: so sehen doch polizirte Völker ein, dass meine Frau es auch nicht weiter treiben kann, da sie keine Vernunft hat“ (II/ 2, 394, Hervorhebung SB). Kurzum: Die Erörterung der Commercium-Frage in der Einfältigen Biographie hat offensichtlich gar nicht den Anspruch, Argumente darzulegen, die den Diskurs einer Lösung näher brächten. Die Satire scheint vielmehr geradezu darauf angelegt zu sein, in ihrer Beweisführung zu scheitern. 2.5.5 Déjà-Vu: Vergessensverfahren, Verschluckungsverfahren, Bildlogik Was bereits für Meine lebendige Begrabung wie auch für den Beweis festgehalten worden ist, trifft folglich auch auf die Einfältige Biographie zu: Obwohl unermüdlich ein Exemplum nach dem anderen vorgebracht wird, zielt die Einfältige Biographie gar nicht darauf ab, einen schlüssigen Argumentationsgang zu schildern. Vielmehr wird der Fokus der Leser auf witzige Vergleiche und satirische Schnörkel gelenkt, was an der folgenden Textstelle, in der das Autor-Ich einen der unzähligen ‚Beweise’ dafür anbringt, dass die Holzfrau eine Seele und damit Verstand besitzt, ersichtlich wird: „Mich wundert nichts mehr als daß neulich ein gewisser Schulrecktor ein lateinisches Michaelisprograma gegen mich und meine dichtende Figur abgeschossen, worin er beweisen will, ein Wesen von Holz, wie meine Gattin sicher sei, wäre ganz und gar nicht im Stande, einen Vers hervorzutreiben, der verdiente, daß ihn das ganze gesittetere Publikum durchliefe. Dieser Mann, der einem Wesen, das doch existirt, aus keiner Ursache den Namen eines anmuthigen Poeten abschlägt, als weil es nicht von Fleisch ist sondern von Holz, muß von ienen alten Theologen etwas an sich haben, die die Eva keinen Menschen nennen wollten, blos weil sie nicht wie Adam aus Erde sondern aus einer harten Rippe gestaltet worden. Es ist unmöglich, daß er folgendes vor der Schreibung seines Programes übersonnen: wenn der blinde Blacklock (nach dem Berichte des Monboddo) herrliche Schilderungen der sichtbaren Gegenstände erschaffen konnte, ohne nur einen wegen seiner angebornen Blindheit gesehen zu haben: soll es meiner Gattin schwerer sein, bessere oder doch ähnliche poetische Abzeichnungen von Gegenständen der Sinne, der Empfindung und des Denkens zu entwerfen, ohne diese Gegenstände durch eigene Erfahrung zu kennen? - Alle Dichter nennt man figürliche Adler, weil sie hoch fliegen, wenn nun Regiomontan aus Holz recht gut einen Adler schnizte, der fliegen konnte: getreuet sich wol der H. Recktor von der Unmöglichkeit einen kurzen Beweis zu führen, aus Holz auch einen Adler im metaphorischen Sinne zusammenzusetzen, der blos im figürlichen Sinne ein wenig hoch zu fliegen vermag? “ (II/ 2, 413f., Hervorhebungen im Original) <?page no="52"?> 52 Um das Argument vollumfänglich zu erfassen, welches das Ich anbringt, die Vernunftbegabtheit seiner Gattin und damit deren dichterisches Talent zu begründen, hat man als Leser - wie dies bereits bei den vorgängig analysierten Satiren der Fall gewesen ist - dessen einzelne Schattierungen aus komplexen, ineinander verschachtelten Textbausteinen regelrecht herauszuschälen. Die Erwiderung des Autor-Ichs auf die Anschuldigung, seine hölzerne Frau sei unfähig zu dichten, ist erstmal streng parallel organisiert: Der Ankläger, ein Schulrektor, aberkenne seiner Gattin den Dichterstatus, weil sie aus Holz und nicht aus Fleisch und Blut bestehe. Diese Argumentation sei ebenso unsachlich, wie diejenige jener Theologen, die Eva für keinen Menschen hielten, da sie aus einer harten Rippe und nicht aus Erde gemacht worden sei. Ausserdem müsste der Rektor doch einsehen, dass wenn ein Blinder sichtbare Gegenstände zu schildern in der Lage sei, seine Gattin, obwohl alle ihre Sinne stumpf seien, sinnlich erfahrbare Gegenstände poetisch nachzuzeichnen vermöge. Und überhaupt - nun zieht das Ich ausgehend von zwei Prämissen eine als Negation und als Frage formulierte Schlussfolgerung - also: Und überhaupt, wenn es erstens legitim sei, Dichter metaphorisch als Adler zu bezeichnen, „weil sie hoch fliegen“, (wenn es also gestattet ist, auf den König der rhetorischen Höhenflüge den Namen des Königs der Lüfte zu übertragen); und wenn es zweitens möglich sei, einen Holzadler herzustellen, der fliegt; so werde es der Rektor doch wohl nicht wagen, es für unmöglich zu erklären, dass man eine Holzkonstruktion herstellen könne (womit er unmissverständlich seine hölzerne Frau meint), die man im metaphorischen Sinne ‚Adler’ nennte, und von der man - wiederum lediglich metaphorisch gesprochen - behauptete, sie vermöge hoch zu fliegen? ! Denn damit sei erwiesen, dass seine Holzfrau - ebenso wie die Dichter - sowohl in metaphorischem Sinne Adler genannt werden könne, als auch, dass sie Geistesgaben besitze. Wie schon im Beweis reihen sich in der Einfältigen Biographie unzählige solche ‚Belegpassagen’ aneinander. Sie alle stellen sich als sprachlich mindestens so vertrackt heraus, wie diejenige, auf die gerade näher eingegangen worden ist. Bei vielen muss zusätzlich auch noch der Bezug zu ihrem angeblichen Thema allererst hergestellt werden: In Reden über die platonische Liebe, modische Kleider oder übers Wetter leuchtet nämlich keineswegs unmittelbar ein, inwiefern (wenn überhaupt! ) die betreffenden Stellen die Behauptung, die hölzerne Gattin habe eine Seele, stützen. Auch in der Einfältigen Biographie werden folglich die Assoziationen rund um den Haupttopos immer mehr an der Zahl, doch kommen sie - wie es schon im Beweis zu beobachten war - nicht über ein neuerliches Paraphrasieren desselben hinaus. Sie kreisen zwar alle um dasselbe Thema, doch addieren sie sich nicht zu einem Gedankenkomplex auf, da sie dem Leser als einzelne in der Masse der Anführungen sofort wieder entgleiten. Was in Bezug auf den Beweis anhand von Ecos ars oblivionalis erläutert worden ist, erlangt <?page no="53"?> 53 auch in der Einfältigen Biographie Geltung: Der Satirentext vollzieht eine Praxis des Vergessens auf der Basis der Verwirrung, indem er fortlaufend immer andersartig aufruft, wovon er spricht. Ebenso wie im Beweis (Vergessensverfahren) oder in Meine lebendige Begrabung (Verschluckungsverfahren) muss somit auch in der Einfältigen Biographie ein Stillstehen im Argumentationsgang, ein thematisches In-Sich-Verharren konstatiert werden. Wiederum scheint die Handlung mit jedem divergierenden Ereignis, mit allen den aus Zettelkästen entnommenen und zu einem Missklang vereinten Ideen von neuem einzusetzen, scheint die Erzählung immer neu vom Nullpunkt auszugehen. Der Leser bewegt sich im Text, indem er von Einfall zu Einfall, von Bild zu Bild hüpft und nicht, indem er ein Handlungselement nach dem anderen rezipiert, um sie alle zu einem Handlungsgeschehen aufzuaddieren. In dieser Bildlogik verkommen die wissenschaftlich vorgebrachten Argumente zur Nebensache, werden zu blossen Auslösern für gelehrt-witzige Ideenkreationen degradiert. Sie werden nicht sachlich erörtert oder wissenschaftlich diskutiert, sondern satirisch verzerrt und ad absurdum geführt. Indem der Satiriker Jean Paul sie nämlich aus ihrem wissenschafts-historischen Kontext löst, eignet er sie sich als isolierte, neutrale Denkobjekte an, die er in anderen, assoziativ kreierten Kontexten zu platzieren und derart als Quell neuer Konnotationen ikonisch weiter zu denken vermag. In einem solchen Erzählen, in dem Handlungsverläufe durch kurzzeitig präsente Bilder ersetzt werden, spielt sich das Geschehen (wie schon in Meine lebendige Begrabung oder im Beweis) auf der paradigmatischen Textebene ab: Das Fortschreiten von Handlungselement zu Handlungselement weicht einem Auf-der-Stelle-Treten in der Handlungszeit, einem An-Ort-und-Stelle-von-Bild-zu-Bild-Springen. Auch strukturell besehen tritt die Einfältige Biographie folglich auf der Stelle. Ausserdem ist ein beträchtliches Mass an Entschlüsselungsarbeit nötig, bevor der Leser nach wiederholter Lektüre - auch hierin unterscheidet sich die Einfältige Biographie nicht von Meine lebendige Begrabung oder dem Beweis - über die witzigen Vergleiche und satirischen Schnörkel zu lachen vermag, da sich ihm die Wortwitze nicht spontan als Formen von Komik offenbaren. Jean Pauls Praxis, einem jeden Bild - momenthaft - alle Aufmerksamkeit und Energie zu widmen, es jedoch umgehend durchzustreichen, nachdem es exponiert wurde, um das nächste emphatisch und mit ungeminderter Emsigkeit auszuarbeiten, zeugt von seiner poetischen Lust, in seinen Texten einen sprachlich-witzigen, erstaunlichen, brillanten Höhepunkt auf den nächsten folgen zu lassen. Der Reiz scheint darin zu bestehen, sich mit jedem neuen Versuch an provokativem Einfallsreichtum zu überbieten - jede Kreation so intensiv wie möglich leuchten zu lassen, bevor sie (unvermeidlicherweise) beigesetzt wird. <?page no="54"?> 54 2.5.6 Geordnete Ungeordnetheit Obwohl Jean Paul also deutlich markiert, in welchem wissenschaftstheoretischen Feld er seine Satire platziert wissen will - so thematisiert er die Commercium-Debatte in der Einfältigen Biographie (wie oben ausgeführt) gleich zu Beginn, indem er implizit auf die Zirbeldrüse verweist und im Verlauf seiner Rede die zu der Zeit diskutierten Lösungsvorschläge wie den Okkasionalismus, den influxus physicus oder Leibniz’ prästabilierte Harmonie in seine satirischen Redewallungen einbindet -, thematisiert er die jeweils diskutierten Theoreme nicht, um sie auf ihre hypothetische Relevanz zu prüfen und zugleich seine eigenen Thesen mittels differenzierender Analysen kenntlich zu machen. Es fällt jedoch auf, dass ein Grossteil der Elemente seiner Beweisführung auf eigenartig bedachte Weise die zur Debatte stehenden Argumente anzitieren. Die ausgearbeiteten Gedankenblitze greifen nämlich die Beweisführungen derjenigen wissenschaftlichen Diskussionen, um welche die Satire hauptsächlich kreist, pedantisch genau und umfassend auf: Dies wurde anhand der Art und Weise ersichtlich, wie das Autor-Ich Descartes’ Argumentationspraxis aus Über den Menschen aufgreift und zugleich parodiert, indem es zuerst ausschliesslich über den Körper und darauf ausschliesslich über die Seele spricht. Ebenso detailliert parodistisch ahmt er erstens Descartes’ Theorie des Substanzendualismus nach, die den Ausgangspunkt der Satire bildet, zweitens das sich aufgrund dieser dualistischen Metaphysik ergebende Leib-Seele- Problem sowie drittens die in diesem Zusammenhang zeitgenössisch diskutierten Lösungsmodelle. Jean Pauls assoziative Aneinanderreihung witziger Einfälle scheint in ihrer Anlage folglich nicht rein willkürlich, sondern in ihrer Willkürlichkeit kontrolliert zu sein. Der Haupttopos der Satire zieht sich durch den gesamten Text, wird sozusagen als Referenz-Stamm der vorgebrachten Ideenreihen vorstellig, sodass man sich den Aufbau Jean Paulscher Gleichnisketten baumartig vorzustellen hat: Die Stamm-Geistesblitze basieren explizit oder implizit auf den wissenschaftshistorischen Erörterungen; in diesen werden die gelehrten Ausführungen ad absurdum geführt, wobei sie zugleich weiteren gelehrt-witzigen Gedankengebilden zum Ausgangspunkt dienen. Bei letzteren verflüchtigt sich der Bezug zum Haupttopos immer mehr: Ihr Anschluss an das vorhergehende Bild gestaltet sich umso assoziativer, je weiter aussen auf den Ästen des Gleichnis-Baumes sie sich befinden. In einem satirischen Einfall, der am Ende einer solchen Digressionskette zu stehen kommt, sucht man die Leib-Seele-Thematik vergebens. In ihm sind der kreativen Imagination keine Grenzen gesetzt, sodass der satirische Witz beispielsweise die Hofleute und deren Moralvorstellungen zum Gegenstand seines Reflektierens nimmt - so wie im folgenden Beispiel, das der Einfältigen Biographie entstammt: Das Autor-Ich stiftet einen Prinzen zu unsittlichem Verhalten an, indem es ihm rät, sich im Zuge des Fortpflan- <?page no="55"?> 55 zungsgedankens mit seinen Untertanen sexuell zu vereinigen, sollte sich unter Seinesgleichen die Gelegenheit hierfür nicht bieten. Leitende Vorbilder sollen dem Prinzen Lerchen und Johanniswürmchen sein, deren (vom Ich subjektiv ausgelegten) Verhaltensweisen ihm zur Nachahmung empfohlen werden: „Ich bin sonst nicht tugendhafter als es an einem Hofe nöthig ist; und ich kann sagen, daß ich gar keine Moral habe. Z.B. will ich […] nur anführen, daß ich, als ich am ** Hofe noch beliebter Prinzenhofmeister war, ganz und gar kein Bedenken trug, meinem Prinzen zu entdecken, daß die nicht geräumige Spitze des Thrones eine große Familie nicht wol fasse, und daß der Apanagengelder dann mehr würden als es den besten Kammeralisten lieb wäre: ich fragte ihn, ob er denn nicht, da kein Mensch mehr das Gelübbe der Enthaltsamkeit zu halten begehrte, vorher vom Gipfel des Thrones auf dessen breitere und niedrigere Stufen herunterspringen wollte, und daselbst nicht sowol seine Ebenbilder, als seine Unterthanen mit wahrer Lust zu vermehren und zurückzulassen; und ob er nicht die edle Lerche sich hierin ganz zum Muster nehmen möchte, deren Flug und Gesang in der Höhe, deren Nest aber in einer schmuzigen Furche ist, oder auch blos das Johanniswürmgen, das auf seinen Flügeln zum Kothe gerunterflattert, woran sein ungeflügeltes Weibgen angeleimet sitzt.“ (II/ 2, 420, Hervorhebungen im Original) Anhand seiner eben vorgeführten Digressionstechnik macht Jean Paul unmissverständlich deutlich, wie detailliert er mit den wissenschaftstheoretischen Werken seiner Zeit vertraut ist. Doch nimmt er die darin vorgebrachten Theoreme (wie gezeigt) nicht zum Anlass, eine eigene Position zu beziehen. In der Einfältigen Biographie beispielsweise gibt das Autor-Ich erstens vor, Gründe für die Beseeltheit seiner Gattin anzuführen, beschreibt diese mittels Tiergleichnissen jedoch zugleich implizit als vernunftlose Maschine. Es spricht ihr zweitens diejenigen Fähigkeiten ab, die Descartes als Beweise für die Existenz einer vom Körper unabhängigen Seele vorbringt, womit es drittens zwar dessen Begründung des Substanzendualismus (dass also Materie ausgedehnte Substanz ohne Vergeistigung sei) bestätigt, nicht aber aufzeigt, was es ununterbrochen zu zeigen vorschützt, nämlich, inwiefern seine Holzfrau eine leib-seelische Einheit zu nennen sei. Die Commercium-Debatte dient ihm folglich lediglich zum Vorwand, unter dem Deckmantel gelehrter Belesenheit satirische Bilderwelten zu erschaffen. In diesen leuchten die Bilder jeweils blitzhaft auf, den Leser in ihrer faszinierenden, komplexen und witzigen Einzigartigkeit an sich zu fesseln, nur um ihn nach ihrem momenthaften Erscheinen von sich zu stossen und an die nächste Funken sprühende Imagination weiter zu reichen. Die einzelnen Bilder fallen in dieser Bilderflut -sogleich nachdem sie imaginativ visuell geworden sind - dem Vergessen anheim. Ein derartiger Gedankenfluss, während dem ausgehend vom letztgenannten Geistesblitz <?page no="56"?> 56 nie auf den folgenden geschlossen werden kann, kennt - auch darauf wurde oben bereits hingewiesen - keine Stoppregel, weswegen das Ende der Satire gewaltsam herbeigeführt werden muss: Nachdem es seine Gattin folglich nacheinander als „stillstehende[…] Uhr“ (II/ 2, 421, Hervorhebung im Original) bezeichnet, deren Grosswie Kleinhirn als von Holzwürmern zerfressene beschrieben sowie eingestanden hat, es selbst und seine Frau hätten zwar „zwei lange Leiber [aber] […] doch nur seine Seele in beiden besessen“ (II/ 2, 422, Hervorhebung SB), bemerkt das Ich, das „Leben [seiner Gattin suche] [ … ] wie dieser [sein] Aufsatz mit weiten Schritten sein Ende“ (II/ 2, 421). 2.6 Rückblick - Vorschau „In phantasiereichen Menschen liegen […] alle Extreme enger aneinander“ (I/ 1, 343) Aus obigen Ausführungen erhellt, dass Jean Pauls Satiren einer dicht verwobenen, enigmatisch-komplexen Textualität folgen, die vom Leser minutiöse Entzifferungsarbeit verlangt - beispielsweise in Form einer rhetorischen Analyse. Die bis ins Detail durchdachten, verschlungenen Satzkonstruktionen sind dem Verstehen der Texte abträglich, da sie sich einer unmittelbar imaginativen Visualisierung sowie auch einer erzählerischen Synthese sperren. Bezeichnenderweise kommt der Leser im Falle von Jean Pauls Satirentexten nicht umhin, bereits zur Erlangung einer Erstorientierung ihr mehrfach gestaffeltes Ordnungsmodell herauszuarbeiten: Er hat sich im Prozess der Relektüre im Text zu orientieren, um ihn zu entziffern, um ihn, indem er ihn in Bildlichkeit übersetzt, zu verstehen. Im Moment der abgeschlossenen Entzifferung - frühestens zwei Lektüredurchgänge später - ist die Differenz zwischen Text und Bild aufgehoben, wird ‚normales’, auf Verstehen hin orientiertes Lesen möglich. Die Tatsache, dass es mühsame Rekonstruktionsarbeit erfordert, um den monströsen, verschachtelten Satzgebilden Sinn abzutrotzen, legt erneut den Schluss nahe, dass Jean Pauls Satirentexte nicht handlungslogisch, sondern bildlogisch organisiert sind. Indem in ihnen eine stehende Bilderflut inszeniert wird, in welcher sich kurzzeitig präsente Bilder infolge eines Vergessens- (Beweis) beziehungsweise eines Verschluckungsverfahrens (Meine lebendige Begrabung) sogleich wieder durchstreichen, werden die Satiren als Texte vorstellig, in denen die Handlungslogik zugunsten einer Bildlogik aufgegeben wird. Wie die Verfasserin dargelegt hat, resultiert ein solches Textverfahren in einer Arretierung des Handlungsverlaufs, resultiert, mit anderen Worten, im strukturell bedingten Tod der satirischen Narration. Die Bildlogik spielt sich auf der vertikalen Textebene ab. <?page no="57"?> 57 Die horizontale Ebene des Handlungsverlaufs wird arretiert - und damit jeglicher Zeitverlauf negiert. Zeit wird apokalyptisch erfahren: Der strukturelle Stillstand spiegelt sich im (scheinbaren) Lebensende des Protagonisten; als Tod stellt er sowohl Bedingung als auch Möglichkeit zu dessen schriftstellerischer Produktivität dar. Das Ende wird zur Voraussetzung für einen Neubeginn. 71 Es ist ausserdem ersichtlich geworden, dass sich Jean Pauls Satirentexte intensiv mit zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskursen auseinandersetzen, welche der Autor aufgreift und in satirische Bilderwelten übersetzt. Die einzelnen Bilder stellen dabei aber keineswegs bloss Illustrationen zeitgenössischen Wissens dar; vielmehr drücken sie neue Hypothesen, subjektive Auslegungen des historischen Wissens und damit ‚Wissen über dieses Wissen’ aus. Wie die Verfasserin anhand der Argumentationspraxis in der Einfältigen Biographie darlegt, die erstens auf Descartes’ Theorie des Substanzendualismus, zweitens auf das sich aufgrund dieser dualistischen Metaphysik ergebende Leib-Seele-Problem sowie drittens auf die in diesem Zusammenhang zeitgenössisch diskutierten Lösungsmodelle eingeht, werden die vorgebrachten neuen ‚Argumente’ nicht ausschliesslich assoziativ, gänzlich chaotisch oder vollkommen beliebig angeführt, sondern zitieren die zur Debatte stehenden wissenschaftlichen Theoreme, wenn auch satirisch verzerrt, so doch umfassend und detailliert an. Es wurde vorgeschlagen, sich die derart kontrolliert willkürlich aneinander gereihten Ideenketten baumartig vorzustellen, sodass die witzigen Einfälle, welche explizit oder implizit auf den wissenschaftshistorischen Erörterungen basieren, sozusagen den Referenz-Stamm ausmachen, wohingegen die Gedankengebilde, denen die Stamm-Geistesblitze zum Ausgangspunkt dienen, als Sichauf-den-Ästen-des-Gleichnisbaumes-Befindende vorstellig werden. Bei letzteren, die desto assoziativer an ihr Vorgängerbild angeschlossen werden, je weiter aussen auf den Ästen sie zu stehen kommen, verflüchtigt sich der Bezug zum referierten Wissenstheorem immer mehr: Die „Assoziationen […] fasern […] aus, je weiter sie getrieben werden“. 72 An die These einer solchen Digressionstechnik lässt sich unmittelbar diejenige anschliessen, dass die Satiren Keimzellen für das Romanwerk darstellen, dass folglich die Schreibpraxis des Zettelkastenautors Jean Paul systematisch von statten geht. Wie Christian Schwaderer in seinem Aufsatz Jean Pauls Quellmaschinerie darlegt, lässt sich Jean Pauls Schreibprozess „[g]enetisch“, d.h. ausgehend von „der Quelle in [den] Exzerpthefte[n] über die Satiren und Ironien hinein ins Romanwerk“, 73 dokumentieren. In seiner Studie folgt Schwaderer Einträgen in den Exzerptnotizen auf ihrem 71 Kraus: HWBPh, Artikel ‚Apokalyptik’, Sp. 439, Wirtz: Weltende und Autorschaft, S. 48. 72 Christian Schwaderer: Jean Pauls Quellmaschinerie. Der satirische Nachlass aus textgenetischer Sicht, S. 105. (Im Folgenden zitiert als Quellmaschinerie.) 73 Schwaderer: Quellmaschinerie, S. 100. <?page no="58"?> 58 Weg ins Romanwerk und zeigt auf, dass sie dort „die Grundlage eines Kapitels, Extrablättchens oder Zwischenstücks“ bilden. 74 Zur Stützung dieses Befunds, dass Jean Pauls Bilder ausgehend von den Nachlassnotizen über die Satiren ins Romanwerk wandern, führt die Verfasserin in der Folge drei exemplarische Elemente aus der Satire Meine lebendige Begrabung an, deren zwei in der Unsichtbaren Loge und eines in Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs aufgegriffen und weiter verarbeitet werden, sowie je ein exemplarisches Element aus den Satiren Einfältige Biographie und Beweis, die in die Unsichtbaren Loge und in den Hesperus eingegangen sind und da weiterführende Verwendung gefunden haben. Ein erstes Beispiel stellt die personelle Ausgangskonstellation in Meine lebendige Begrabung - mit dem scheintoten Ich, seiner Frau und dem Chorherrn - dar, die sich im Siebenkäs in den Figuren Siebenkäs, Lenette und Pelzstiefel wieder findet. Wie der Scheintote tritt auch Siebenkäs als Gelehrter auf, dem das Schreiben und Denken alles abverlangt (I/ 2, 181). Er distanziert sich von seiner Lenette, indem er sie aus seinem Arbeitszimmer verweist, weil sie mit ihren Putzwerkzeugen zu viel Lärm macht, als dass er sich auf sein Schreiben konzentrieren könnte (I/ 2, 156ff.). Der Schulrat Stiefel alias Chorherr nimmt sich derweil Lenette an (beispielsweise: I/ 2, 116, 119). Sie verliebt sich in ihn (I/ 2, 194), er wird ihr Geliebter (I/ 2, 317). Als zweites Beispiel ist die „taugliche Rechtfertigung des einfachen Ehebruchs“ zu erwähnen, die das Autor-Ich in Meine lebendige Begrabung nur kurz anschneidet, da es sie „in einen andern Akt hinein[zulegen gedenkt]“ (alle: II/ 2, 717). Die Rechtfertigung des Ehebruchs findet sich als Zweites Extrablatt in der Unsichtbaren Loge wieder - dort mit dem Titel: Strohkranzrede eines Konsistorialsekretärs, worin er und sie beweisen, daß Ehebruch und Ehescheidung zuzulassen sind (I/ 1, 70-75). Beim dritten Beispiel handelt es sich um die Wiederaufnahme des in Meine lebendige Begrabung geschilderten Umstands, dass die Seele des „dum[men]“ Konsistorialrates „auf den Körper wie auf eine Bouteille gezogen [wird]“, und dass sein intellektueller „Geist“ verrauchen muss, damit er seinen Körper nicht auseinander sprengt (alle: II/ 2, 713). In der Unsichtbaren Loge werden russische Höflinge als Individuen beschrieben, die „sich zu Kleinen [machen und zwar] im physischen Sinn“ (I/ 1, 324). Den Grund dafür umschreibt der Erzähler folgendermassen: „[V]erkleinerte Körper sind wenig von bucklichten […] verschieden; diese aber […] haben viel Witz. Nun zieht der Weltmann aus den starken Fässern unserer Vorfahren geschickt den Spiritus auf kleine Körper-Flaschen, und solche Einschnitte und optische Verkürzungen und Kuren des Leibes machen unfähig, etwas anders zu werden als witzig oder höchstens stupid.“ (I/ 1, 324, Hervorhebungen im Original) 74 Schwaderer: Quellmaschinerie, S. 103. <?page no="59"?> 59 Obwohl das beschriebene Subjekt im Romanerstling ein anderes ist als in der Satire (der Konsistorialrat wird durch einen russischen Höfling ersetzt), führt auch in ihm das Überziehen des „Spiritus“ (in der Satire: „Seele“) „auf kleine Körper-Flaschen“ (in der Satire: „auf den Körper wie auf eine Bouteille“) unweigerlich zur Verdummung des geschilderten Individuums: Der „dum[me]“ Konsistorialrat ist zum „stupid[en]“ russischen Höfling mutiert. Das vierte Beispiel nimmt in denjenigen Textstellen der Einfältigen Biographie seinen Ausgang, in denen das Autor-Ich beschreibt, wie es seine Holzfrau hergestellt hat. Die hölzerne Mosesfigur, aus welcher der Rumpf der Holzfrau entsteht (II/ 2, 394), der Haubenkopf sowie die Materialien für Augen, Zähne, Lippen, Locken und Busen (alle: II/ 2, 395) greift der Erzähler in der Unsichtbaren Loge anlässlich der Beschreibung der Ministerin auf, die er den Lesern als antike Schönheit vorstellt, welche jedoch „nach den Verwüstungen der Jahre […] durch geschickte Bildhauer mit neuen Gliedern - z.B. Busen, Zähnen - ergänzet werden [müsse]“ (I/ 1, 337). Als Vorbild für die ‚Erneuerungen’, welche die Ministerin an sich ausgeführt wissen will, schwebt ihr eine „gesetzgebende[] Puppe“ vor (I/ 1, 338). Dies nimmt der Erzähler zum Anlass, Das Wort über die Puppen zu schreiben. In ihm werden die Vorzüge der modischen „Hölzer […] aus Paris […] [mit ihren] Haubenköpfe[n]“ (I/ 1, 338) geschildert. Es wird vorgeschlagen, die Figuren der Gottesmutter Maria sowie aller Apostel nach dem Muster der Pariser Puppen einzukleiden, damit der Adel wie das gewöhnliche Volk einerseits „wüßte […], […] was sie gerade in Paris oder Versailles anhaben“ (I/ 1, 338f.), und andererseits „diese Leute [SB: Maria und die Apostel] mit mehr Lust nach[ahmen] und verehre[n würden]“ (I/ 1, 338). Zusammengenommen geben die Beschreibungen der Ministerin sowie der Puppen (mit ihren „Schneidezähne[n] […] [aus] Elfenbein“, ihren „Haubenköpfe[n]“ sowie - im Falle der Puppen - hölzernen Leibern (alle: I/ 1, 338)) detailliert die Holzfrau (mit ihrem „Haubenkopf“, ihren „Zähne[n] aus […] Elfenbein“ (beide: II/ 2, 395) sowie ihrem „Rumpf [aus] […] Holz“ (II/ 2, 394)) aus der Einfältigen Biographie wieder. Der Topos der (satirisch verzerrten) göttlichen Menschschöpfung wird in die Kirche verlagert, wo die Puppen die Kirchgänger angeblich in ihrem Glauben bestärken sollen. Als fünftes Beispiel bleibt schliesslich der Umstand zu erwähnen, dass das Erzähler-Ich im Beweis unablässig die Vorherrschaft des Körpers über den Geist propagiert. Dieser Umstand wird im Sechsten Schalttag des Hesperus, welcher den Untertitel Über die Wüste und das gelobte Land des Menschengeschlechts trägt, dahingehend aufgegriffen, als dass die Entwicklungsgeschichte der Menschen als „Trennung von Kopf- und Handarbeit“, 75 als ungleichzeitige „moralische[] […] und physische[] […] 75 Götz Müller: Der verborgene Prinz. Variationen einer Fabel zwischen 1768 und 1820, S. 36. (Im Folgenden zitiert als Verborgener Prinz.) <?page no="60"?> 60 Entwickelung“ (I/ 1, 873) dargestellt ist. Im „goldne[n] Zeitalter“, so der Erzähler, „wo das Volk am Denken, und der Denker am Arbeiten […] Anteil nimmt“, werden es „die Menschen […] leichter haben, gut zu leben“ (I/ 1, 873). Wie insbesondere die letzterfolgten Ausführungen andeuten, ist der Übergang von Jean Pauls Satiren zu seinem Romanwerk weniger von einem Bruch als von Kontinuität geprägt. Der Mythos, Jean Pauls Todesvision müsse als initiatorisch in Bezug auf sein Romanschreiben betrachtet werden, der Mythos also, Jean Paul sei erst nach dem 15. November 1790 in der Lage gewesen, seine „satirische[] Essigfabrik“ (I/ 1, 15) zu beenden und sich dem empfindsamen Romanschreiben zuzuwenden, ist folglich nicht länger haltbar. Dennoch kommen die Leser von Jean Pauls Gesamtwerk nicht umhin, die unverkennbare Andersgeartetheit der Satiren- und Romantexte zu konstatieren. Um diese Andersartigkeit fassbar zu machen, wird die Verfasserin beim Übergang von Jean Pauls Satirenzu seinem Romanschreiben ansetzten und in den kommenden zwei Kapiteln seinen Romanerstling, Die Unsichtbare Loge, analysieren. 76 Ausgangspunkt ihrer Analyse wird die in diesem Kapitel herausgearbeitete Erkenntnis bilden, dass den Satiren statt einer Handlungslogik eine Bildlogik zugrunde liegt. Die Andersartigkeit der Unsichtbaren Loge im Vergleich zu den Satirentexten wird folglich am Verhältnis von Bildlichkeit und Narration ersichtlich werden. 76 Wie Jean Paul in der Vorrede zur zweiten Auflage ausführt, stellt „das noch etwas honigsauere Leben des Schulmeisterlein Wutz […] den seligen Übertritt in die unsichtbare Loge“ dar. Den Wutz, der „am Ende des zweiten Bandes der Loge [steht,] wurde […] früher als diese gemacht“ (beide: I/ 1, 15). <?page no="61"?> 61 3. Narratologische Analyse der Unsichtbaren Loge 3.1. Jean Pauls Schreibpraxis 3.1.1 Wirre Aneinanderreihungen eines pathologischen Autors „An logische Ordnung ist […] nicht zu gedenken“ (I/ 1, 225) In Jean Pauls Romanerstling, der Unsichtbaren Loge, präsentiert sich das Verhältnis von Bildlichkeit und Narration, welches die Verfasserin in der Folge zu analysieren unternimmt, als ein grundlegend anderes als in seinen Satiren. Es mag allerdings bereits befremdlich erscheinen, in Bezug auf Jean Pauls Romane überhaupt von einem ‚geschilderten Geschehen’ zu sprechen, gilt es doch in der Jean Paul Forschung als Topos, dass deren Handlung alles andere als kontinuierlich und geordnet voranschreitet. Im Gegenteil: Wer die Lektüre Jean Paulscher Romantexte wagt, wird für kühn 77 befunden, da er oder sie es nicht scheut, sich mühsam durch regelrechte Satz- und Wort-Irrgärten 78 sowie Ideen-Dickichte 79 zu kämpfen. Leser, dies der überwiegende Eindruck sowohl zeitgenössischer als auch 77 „Wer die kühne Tat vollbringt, grössere Romane Jean Pauls ganz und aufmerksam durchzulesen, dem mag es wohl vorkommen, als ob er durch einen ungepflegten Wald wanderte, in dem Schling- und Wucherpflanzen sich von Baum zu Baum ziehen, wo fremde Steine und Muscheln aus den Flussbetten blitzen und seltsame Vögel um die Äste flattern“ (Peter Sprengel: Jean Paul im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Jean Pauls in Deutschland, S. LXXXVIIIf.) (Im Folgenden zitiert als Urteil.) - Peter Sprengel hat in seiner Monographie die Schriftstücke, welche die Rezeptionsgeschichte von Jean Pauls Werken dokumentieren, zusammengestellt. Die Verfasserin wird in der Folge auf seine Studie Bezug nehmen, indem sie nach der bibliographischen Angabe den Namen der jeweiligen Verfasserin/ des jeweiligen Verfassers der dokumentierten Schrift sowie das Jahr, in welchem diese erschienen ist, anfügt. Für eben angeführtes Zitat sieht das so aus: Sprengel: Urteil, S. LXXXVIIIf. [Schwabe 1913]. 78 „Kein hohes ragendes Schloss, kein stolzer Marmorbau, klar gegliedert, wie bei den andern da, war das; sondern eben ein Irrgarten, in dem man umher taumelte, betört und freudig erregt, und dessen man doch bald müde wurde, weil man, je tiefer man eindrang, immer wieder neuen verworrenen Wegen folgen musste, ohne zum Ziel zu gelangen“ (Sprengel: Urteil, S. XC [Herman 1913]). 79 „Immer Wald, und dichter Wald gibt keine anhaltende Lockung, Gruppierungen im Dickicht, verrankt durch allerlei Unterwuchs, machen keinen Eindruck - wollte man einen solchen verschaffen, so müsste frevelhaft die Axt an ganze Partien gelegt sein“ (Sprengel: Urteil, S. LXXXVIII [Laube 1840]). <?page no="62"?> 62 späterer Rezipienten, finden in seinen Romanen keine eigentlichen, in sich geschlossenen Geschichten vor, sondern haben die unzusammenhängenden narrativen Passagen aus langatmigen, assoziativ angelegten Reflexionen sowie abschweifenden Extrablättchen, welche zusammen den grössten Teil des Romanganzen ausmachen, regelrecht herauszuschälen. So klagt beispielsweise Wolf Zucker in seiner Studie Der barocke Konflikt Jean Pauls: „Die Einheit des Erzählungsablaufs ist vollständig zerstört; dauernd drängen sich zwei Sphären durcheinander: die Fabel muss ja weiterschreiten - sehr zu Jean Pauls Kummer! -, aber mindestens ebenso wichtig wie die Fabel sind die tausend Anmerkungen, Reflexionen, Sonderhandlungen, Fruchtstücke, Jus de Tablette - des Erzählers. Dadurch wird die Lektüre Jean Pauls zu einer […] ‚Pferdearbeit’.“ (Sprengel: Urteil, S. 250 [Zucker 1927]) Jean Pauls Handlungsführung in seinen Romanen wirkt auf seine Leser dubios, wirr und desorganisiert, schlicht un(be)greifbar, weswegen seine Werke als unnahbar und verschlossen empfunden, und folglich als „ungeniessbare Kost“ 80 sowie als „hanebüchenes Gebräu“ 81 abgeurteilt werden. Diese historisch dokumentierte Wahrnehmung hat im Kern nichts an Relevanz verloren, regt sie doch Jean Paul-Interpreten bis heute dazu an, ihre wissenschaftlichen Thesen ausgehend von dessen Schreibgewohnheiten zu entwickeln. 82 Zeitgenössische Einschätzungen, dem Autor gelinge es ebenso wenig, seine zahlreichen Ideen zu einem kohärenten Ganzen zu formen 83 wie einzelne Ereignisse ihrem Stellenwert gemäss zu gewichten, 84 klingen in Kurt Wölfels Studie Die Unlust zu fabulieren 85 oder in Eckart Oeh- 80 Sprengel: Urteil, S. 140 [Heine 1836]. 81 Sprengel: Urteil, S. 310 [Augstein 1974]. 82 Um dies zu verdeutlichen sei - weniger mit dem Anspruch auf Vollständigkeit, als vielmehr als Aufweis von Kontinuität - in der Folge auf einige einschlägige Studien hingewiesen, die Jean Pauls Schreibpraxis thematisieren und in den vergangenen sechzig Jahren erschienen sind: Walther Rehm Jean Pauls vergnügtes Notenleben oder Notenmacher und Notenleser (1959), Wolfdietrich Rasch Die Erzählweise Jean Pauls (1961), Michael von Poser Der abschweifende Erzähler. Rhetorische Tradition und deutscher Roman im achtzehnten Jahrhundert (1969), Kurt Wölfel Die Unlust zu fabulieren (1989), Andreas Erb Schreib-Arbeit. Jean Pauls Erzählen als Inszenierung ‚freier’ Autorschaft (1996), Helmut Pfotenhauer Das Leben schreiben, das Schreiben leben (2000/ 01), Sascha Michel Ordnungen der Kontingenz (2006). 83 „Nichts als die zügellose Laune des Verf. hält den Gedankenfaden zusammen“ (Sprengel: Urteil, S. 25 [Bouterwek 1798]. 84 „[A]lles [war] ohne Proportion […], ohne Plan und Ordnung bunt und kraus durcheinander geworfen“ (Sprengel: Urteil, S. 32 [Helfrecht 1799]. 85 Kurt Wölfel befindet Jean Pauls „Fabelerfindung“ bezeichnenderweise für „trivial[]“ (Kurt, Wölfel: Die Unlust zu fabulieren. Über Jean Pauls Romanfabel, besonders im ‚Titan’, S. 52. (Im Folgenden zitiert als Unlust.) <?page no="63"?> 63 lenschlägers Monographie Närrische Phantasie 86 ebenso an wie in Helmut Pfotenhauers Aufsatz Das Leben schreiben - das Schreiben leben und Sacha Michels Monographie Ordnungen der Kontingenz. Die letzteren beiden Autoren indizieren ein Umdeuten von Jean Pauls Erzählpraxis, das in jüngerer Zeit stattgefunden hat, indem sie einerseits das so genannte Beiwerk aufwerten (Pfotenhauer) und es als Ort beschreiben, an dem Jean Paul werkübergreifend (u.a. epistemologische, philosophische oder lebenspraktische) Themen abhandelt, 87 und indem sie andererseits - entgegen der weit verbreiteten Forschungs- und eben kurz referierten Rezipientenmeinung - der ‚Geschichte’ der Jean Paulschen Romane eine zentrale Funktion zuschreiben (Michel). 88 (Wie sich im Teilkapitel 4.1. zeigen wird, beschreitet auch die Verfasserin diesen Pfad, der es erlaubt, Jean Pauls Schreibstil affirmativ zu bewerten.) Dabei leistet Jean Paul dem Urteil, der Gehalt seiner Fabeln sei unbedeutend und die Entwicklung derselben unnatürlich und formlos, bekanntlich selbst Vorschub, indem er sich immer wieder dahingehend äussert, wie sehr er das Erzählen verabscheue, und wie sehr die Entfaltung einer 86 In Jean Pauls Textführung gehe „die ‚Geschichte’ […] [regelrecht] unter“ (Eckart Oehlenschläger: Närrische Phantasie. Zum metaphorischen Prozess bei Jean Paul, S. 16 [1980]. (Im Folgenden zitiert als Närrische Phantasie.) 87 Pfotenhauer belegt, wie Jean Paul die einander gegenseitig bedingenden Topoi Zeit, Tod und Unsterblichkeit ausgehend von den Bemerkungen über den Menschen (1782) bis hin zu seinem letzten Aufsatz mit dem Titel Ausschweife für künftige Fortsetzungen von vier Werken (1823/ 24) als ein „Experimentierfeld des schreibend vorweggenommenen Todes“ (Helmut Pfotenhauer: Das Leben schreiben - das Schreiben leben. Jean Paul als Klassiker der Zeitverfallenheit, S. 48 (Im Folgenden zitiert als Das Leben schreiben.)) auf vielfältige Weise entfaltet. Dabei tritt die Gestalt des je einzelnen Werkes in den Hintergrund: „Entscheidend ist […], dass die Vielheit der Schreibansätze […], wie notdürftig auch immer, in einem Konzept zusammengehalten wird“ (Pfotenhauer: Das Leben schreiben, S. 56). Das „Werk [wird] verabschiedet und […] das Beiwerk [tritt] an seine Stelle“ (Pfotenhauer: Das Leben schreiben, S. 56). 88 Michel zufolge ist im Siebenkäs eine „Tendenz zum Narrativen […] nicht zu übersehen, [sind doch] […] die teleologischen Motivierungsstrategien, einschliesslich der damit verbundenen bestochenen Zufälle […] zu offensichtlich und strukturbestimmend, als dass man sie einfach gegenüber der nicht zu leugnenden Verselbständigung des discours ignorieren könnte“ (Sascha Michel: Ordnungen der Kontingenz. Figurationen der Unterbrechung in Erzähldiskursen um 1800. (Wieland - Jean Paul - Brentano), S. 153 (Im Folgenden zitiert als Kontingenz.). Er macht eine „symbolische[] Ordnung der erzählten Welt“ (Michel: Kontingenz, S. 145), eine „Logik der Geschichte“ (Michel: Kontingenz, S. 149) aus, die sich in einem Spannungsverhältnis zur „semiologische[n] Kontingenz“ (Michel: Kontingenz, S. 156) befindet. Letztere ergibt sich daraus, dass der Autor-Erzähler ‚Jean Paul’, anstatt als Ausgangspunkt des Erzählens zu fungieren, seine Identität vervielfacht, womit der „Ursprung[] der Ordnung […] selbst in den Strudel der Fiktion gerissen wird“ (Michel: Kontingenz, S. 162). Derart wird das „Geschichtenerzählen […] der Inszenierung semiologischer Kontingenz dienlich gemacht“ (Till Dembeck: Rezension zu: Sascha Michel: ‚Ordnungen der Kontingenz’, S. 209). (Im Folgenden zitiert als RSM.) <?page no="64"?> 64 Geschichte der Wesenheit eines Autor-Ichs wie dem seinigen widerstrebe: „[Ich] hasse doch […] alles Erzählen so sehr“ (HKA III/ 3, 177), bemerkt er während seiner Arbeit am Titan. Die Ausarbeitung einer Fabel hält er lediglich deswegen für sinnvoll, da er, je länger diese dauert, desto öfters Anlass findet, sie mit Fussnoten, Exkursen, gelehrten Anspielungen und dergleichen anzureichern. 89 Dass es das Beiwerk ist, das Jean Pauls literarisches Schaffen ausmacht, unterstreicht exemplarisch des Erzählers Äusserung im Jubelsenior: „‚Aber zurück zur Sache! ’ wollt’ ich jetzt sagen, und sah erst unbeschreiblich-vergnügt, dass ich gar von meiner Sache nicht abkommen kann, ich mag mich verbreiten, worüber ich will“ (I/ 4, 547). Ganz offensichtlich sind für Jean Paul, den „Schöpfer-Autor“, für den die Entwicklung einer Geschichte „nachgerade hinderlich [ist]“, die Ausschweifungen der Ort, an dem die „Inszenierung der Autorschaft, des Witzes, der Phantasie, [und] der literarischen Zeugungskraft“ stattfindet. 90 Jean Pauls beharrlich digressiver Stil ist massgeblich einem genauen Studium der Romane Laurence Sternes zuzuschreiben. 91 Dessen „‚Shandysmus’“ 92 wird zum „charakteristisch[] kontrastierende[n] Strukturelement“ der Jean Paulschen Texte: 93 Ausser dass Jean Paul wie Sterne die Handlung in seinen Romanen trivialisiert, 94 wird er auch von dessen Erzähltechnik beeinflusst, die darin besteht, den Erzähler in einen Dialog mit dem Leser und beide in Beziehung zum Erzählten zu setzen. 95 Die Begegnung zwischen Leser und Erzähler gestaltet sich bei Jean Paul jedoch weit- 89 So schreibt der Erzähler im Siebenkäs, es sei für die „Historie“ schädlich, wenn er „sie in vier Alphabete [zusammendränge]; [da er sich] dadurch selber allen Platz [raube], auszuschweifen“ (I/ 2, 221). 90 Pfotenhauer: Jean Pauls literarische Biologie. Zur Verschriftlichung von Zeugung und Tod (mit besonderer Berücksichtigung des ‚Siebenkäs’), S. 473. (Im Folgenden zitiert als Literarische Biologie.) 91 Peter Michelsen weist auf den Einfluss Sternes bereits auf Jean Pauls Satiren hin und betont, dass neben zahlreichen Stellen in den Romanen, in denen explizit auf Sterne verwiesen wird, „auch später in der ‚Vorschule’ bei Besprechung der ‚komischen Individuation’ […] vornehmlich Beispiele aus Sterne angeführt [werden]“ (Peter Michelsen: Laurence Sterne und der deutsche Roman des 18. Jahrhunderts, S. 317). (Im Folgenden zitiert als Laurence Sterne.) Müller weist vor allem auf Exzerptnotizen aus dem Tristram Shandy hin (Götz Müller: Jean Pauls Exzerpte, S. 103, 105, 121 (Im Folgenden zitiert als Exzerpte.), doch war Jean Paul auch mit der Sentimental Journey vertraut (Beatrix Brandi-Dohrn: Der Einfluss Laurence Sternes auf Jean Paul, S. 9). (Im Folgenden zitiert als Sternes Einfluss.) 92 Inwiefern Jean Pauls Anlehnung an Sterne einzigartig ist, arbeitet Peter Michelsen in seiner Monographie Laurence Sterne und der deutsche Roman des 18. Jahrhunderts heraus, indem er Jean Pauls Werke denjenigen von Schummel, Wieland, Thümmel und Hippel kontrastierend gegenüber stellt. 93 Walther Rehm: Jean Pauls vergnügtes Notenleben oder Notenmacher und Notenleser, S. 269. (Im Folgenden zitiert als Notenleben.) 94 Michelsen: Laurence Sterne, S. 15. 95 Michelsen: Laurence Sterne, S. 333f. <?page no="65"?> 65 aus weniger kooperativ als bei Sterne, denn wo dieser im Gespräch die Zusammenarbeit der Figuren inszeniert, 96 treibt Jean Pauls Erzähler sein Spiel mit dem imaginierten Gegenüber, indem er mit diesem umspringt, wie es ihm gerade passt: Einmal beschuldigt er den Leser der Indiskretion (I/ 1, 38), ein andermal behandelt er ihn als Mitwisser (I/ 1, 330), um ihn wieder ein andermal der Dummheit zu bezichtigen, da er ihm, dem Erzähler, Glauben schenke, egal was er berichte (I/ 1, 37). 97 Ähnlich analogkontrastiv mutet die Verwendung der Metaphorik bei beiden Autoren an: Anstatt wie Sterne zu versuchen, mittels klärender Vergleiche auf den Leser einzuwirken, 98 bezweckt Jean Paul mit seiner monströsen Bilderflut denselben zu zerstreuen und zu verwirren. Dies unterstreicht seine durch Sterne angeregte Verwendung von Gedankenstrichen, mit denen er allerdings - ganz im Gegensatz zum Engländer - nicht Ganzheiten verbindet (I/ 5, 128), sondern viele Teile als Elemente eines fraglichen Ganzen chaotisch aneinanderreiht (I/ 1, 272, 302). Wie für Sterne stehen auch für Jean Paul die Konflikte, denen das menschliche Individuum in der Welt aufgrund seiner körperlich-geistigen Doppelnatur ausgesetzt ist, im Zentrum des Interesses. Doch anders als Sterne, der auf die weltlichen Unzulänglichkeiten mit einem relativierenden Humor antwortet und die Welt mitsamt ihren Unvollkommenheiten augenscheinlich anerkennt, ja, sie zu erkunden wünscht, 99 begegnet Jean Paul der Welt mit einem Humor, der die Einsicht in die Beschränktheit alles Irdischen sowie das Gefangensein des Menschen darin unverhohlen zur Schau trägt. Verzweifelt, aber unerbittlich, versucht er in seinen Texten immer wieder, das weltliche Sein zu transzendieren, doch wird das hoffnungsvolle Erahnen eines Jenseits stets von der ernüchternden Einsicht begleitet, dass dem Menschen eine zweite Welt unerreichbar fern bleibt, und es im Diesseits keine Erlösung gibt. 100 Anstatt also seine Werke in einer Zeit, in welcher die klassischen Ideale hochgehalten werden, als harmonische, in sich vollendete Ganze zu präsentieren, die in ihrer Individualität zugleich Allgemeingültigkeit erlangen und zur (Aus-)Bildung des klassisch-idealen, humanen Menschen 101 her- 96 Michelsen: Laurence Sterne, S. 337-341. 97 Rehm spricht von einem „mächtigen Spiel- und Schaukelbedürfnis“, dem Jean Pauls „höchst artistische[] Erzählerphantasie“ erlegen sei (Rehm: Notenleben, S. 273). 98 Michelsen: Laurence Sterne, S. 323. 99 Michelsen: Laurence Sterne, S. 394. 100 Brandi-Dohrn formuliert die diesbezügliche Diskrepanz zwischen den beiden Autoren folgendermassen: „Sterne sieht die Freiheit als Freiheit i n der Wirklichkeit, während Jean Paul […] die Freiheit als Freiheit v o n der Wirklichkeit zu Höherem, zum Göttlichen sieht“ (Brandi-Dohrn: Sternes Einfluss, S. 216f., Hervorhebungen im Original). 101 Hermann August Korff: Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte, S. 66-70, 127-132, 268-273, 370-374 (Im Folgenden zitiert als Geist der Goethezeit.), Michael von Poser: Der abschweifende Erzähler. <?page no="66"?> 66 angezogen werden können, vermittelt der Autor in ihnen ein Bild der Wirklichkeit, das so konfliktgeladen, widersprüchlich und chaotisch ist, wie er sie wahrnimmt. 102 Diese Schreibpraxis trägt ihm bei seinen Rezipienten den Ruf eines wirren, regellosen, ja, perversen Charakters ein. 103 Sie wird für ungeeignet befunden, eine erzieherische Funktion zu übernehmen, da die Leserschaft in seinen Werken keinem Idealbild der Wirklichkeit begegnet, an dem sie sich zu orientieren vermag. Im Gegenteil: Seine „Vernachlässigung ästhetischer Konventionen […] [erscheint nicht nur] als Verweigerung der gesellschaftlichen Zivilisiertheit“; 104 die Formlosigkeit, die man an seinem literarischen Schaffen bemängelt, projiziert man auch auf ihn als Person. 105 Die Kritik an Jean Pauls Formverstossen geht so weit, dass man ihn, der sich von der ‚gesunden’ Norm der klassischen Poetik abwendet, als pathologisches Subjekt zurückweist. Stellvertretend für diese Haltung sei an Goethes Gedicht Der Chinese in Rom (1796) 106 erinnert, in dem sich Goethe dazu veranlasst sieht, Jean Paul als ersten seiner literarischen Gegner mit der Krankheitsmetapher zu belegen. Später, während seiner lang anhaltenden Auseinandersetzungen mit den - wie er sie nannte - krankhaften Grundsätzen der Romantiker, spitzt Goethe seine Haltung auf die simple Wendung zu: „Klassisch ist das Gesunde, romantisch das Kranke“. 107 Und selbst diejenigen, welche Jean Pauls packender Sprachwitz Rhetorische Tradition und deutscher Roman im achtzehnten Jahrhundert, S. 66. (Im Folgenden zitiert als Der abschweifende Erzähler.) 102 Michelsen: Laurence Sterne, S. 369. 103 Sprengel: Urteil, S. 40 [Merkel 1800]. 104 Sprengel: Urteil, S. XXIV [Sprengel 1980]. 105 So muss sich beispielsweise Rahel Levin „den Richter immer schmutzig denken! - weil er keinen Geschmack hat“ (Sprengel: Urteil, S. XXVI [Levin 1800]) - und auch für Theodor Mundt bedingen sich Jean Pauls äussere Erscheinung und seine Ästhetik gegenseitig: „Auf die Jean-Paulschen Kunstformen ist mir immer der merkwürdige Umstand anwendbar erschienen, welchen der Dichter einmal von einer Gewohnheit an seiner eigenen Person anführt. Jean Paul trug nämlich keine Hosenträger […]. Nun lässt sich ohne grosse Paradoxie behaupten, dass […] ein Mensch, der ohne jene Träger sich zu behelfen vermag, keinen Sinn für Kunstformen […] haben kann. Es setzt dies einen schlampigen Zustand voraus, der die innere Fähigkeit, etwas Kunstmässiges zu gliedern, notwendig beeinträchtigen muss“ (Sprengel: Urteil, S. XXVf. [Mundt 1842]). 106 „Der Chinese in Rom. / Einen Chinesen sah ich in Rom; die gesamten Gebäude / Alter und neuerer Zeit schienen ihm lästig und schwer. / ‚Ach! ’ so seufzt’ er, ‚die Armen! ich hoffe, sie sollen begreifen, / Wie erst Säulchen von Holz tragen des Daches Gezelt, / Dass an Latten und Pappen, Geschnitz und bunter Vergoldung / Sich des gebildeten Augs feinerer Sinn nur erfreut.’ / Siehe, da glaubt’ ich im Bilde so manchen Schwärmer zu schauen, / Der sein luftig Gespinst mit der soliden Natur / Ewigem Teppich vergleicht, den echten reinen Gesunden / Krank nennt, dass ja nur Er heisse, der Kranke, gesund“ (Johann Wolfgang von Goethe: Der Chinese in Rom. In: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 1: Gedichte und Epen I, S. 206). 107 Johann Wolfgang von Goethe: Maximen und Reflexionen. Literatur und Sprache. In: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 12: Kunst und Literatur, S. 487. <?page no="67"?> 67 und seine wirkmächtigen Bilder begeistern, begegnen seiner Art, diese wiederzugeben, mit Ratlosigkeit, Unverständnis und Widerwillen. 108 So ergreifend die Ideen für seine Schilderungen seien, so unnatürlich wie ungelenk sei seine Art, sie in Worte zu fassen. Mit seinem Habitus, alles mit allem zu vergleichen, verwische er nicht nur die Konturen des jeweils gerade betrachteten Gegenstandes, sondern verstricke sich immer mehr in Paradoxien, weswegen ihn Schiller als ein Subjekt beschreibt, das „voll guten Willens und herzlich geneigt [ist], die Dinge ausser sich zu sehen, nur nicht mit dem Organ, womit man sieht“. 109 Jean Paul, der seine Leser verwirre, da er „mit dem Kopf Leidenschaften [erregt], […] durch die Nägel [transpiriert], durch das Zellgewebe [verdaut], kurz in der Natur nichts da lassen [will], wohin es die Natur gesetzt hat“, 110 wird die Fähigkeit abgesprochen, einen Sachverhalt objektiv und sachlich beschreiben zu können. 3.1.2 Versteckte Ordnung, unsichtbare Logik Es gibt jedoch auch Schriftsteller und Literaturwissenschaftler, die sich nach der Lektüre von Jean Pauls Texten nicht zu einer negativen Bewertung seiner Person oder seines Werks haben hinreissen lassen. Nicht, dass ihnen das Bizarre an Jean Pauls Erzählungen, deren Labyrinthe, Wildnisse, Misstöne, Verwirrungen sowie Regelwidrigkeiten verborgen geblieben wären, doch vermuten sie hinter all diesen einen verborgenen Code, den es zu entdecken gilt. Demzufolge erscheint ihnen Jean Paul nicht als krankhaftes Subjekt; und sie halten sein schriftstellerisches Schaffen auch nicht für das Produkt eines fiebrig-wahnwitzigen Geistes. Vielmehr hegen sie den Verdacht, dass Formulierungen wie „Bei mir steht kein Zug umsonst da“ (I/ 1, 89), „von allen Möglichkeiten […] sind […] alle auf einmal wahr“ (I/ 1, 262) oder „[ein] wichtiger Fehler […] war, […] logisch richtig [zu denken]“ (I/ 1, 274), ernster zu nehmen sind, als dies bis anhin getan worden 108 Georg Herwegh schätzt Jean Pauls authentische, originell-empathische Schreibweise („Während die Sonne holdes, verjüngendes Feuer durch meine Adern giesst, soll ich auf ihre Flecken achten? Ich soll auf den Mund eines Menschen sehen, auf die Sprache seiner Lippen lauschen, wo sein ganzes volles Herz mit liebenswürdiger Offenheit meinem Gefühle sich darlegt? “ (Sprengel: Urteil, S. 150 [Herwegh 1839])), kommt als Kritiker jedoch nicht umhin, auf Jean Pauls ‚Schwächen’ hinzuweisen: „Jean Paul hat seine Fehler […]. Er war zu fruchtbar und nahm sich daher nie die Zeit, seine Gedanken ruhig, wie die Mutter ihr Kind, auszutragen. Sein Ausdruck ist oft nachlässig, nicht zutreffend, erkünstelt. […] So zutreffend z.B. für den Verstand ein Bild sein kann, so beleidigend kann dasselbe für die Phantasie sein […]. [H]ier ist Geist, der meinem Verstande wohltut, aber ein Bild, das meinem Auge ungefällig erscheint“ (Sprengel: Urteil, S. 153 [Herwegh 1839]). 109 Sprengel: Urteil, S. XXXII [Schiller 1796]. 110 Sprengel: Urteil, S. 48 [Von Rohr 1801]. <?page no="68"?> 68 ist. 111 Sie ahnen, dass Jean Pauls Schreibstil kein Versehen und auch keine Auswirkung einer pathologischen Veranlagung darstellt. Dass es vielmehr Kalkül sein muss, wenn seine Erzähler oder Figuren lieber „in lauter Ausschweif-Reden, anstatt in vernünftigen Paragraphen“ (I/ 1, 371) verweilen; wenn sie ihre Geschäfte am liebsten „in schöne[n] Unterbrechungen“ (I/ 1, 236) erledigen und sich darüber freuen, „durch […] Verirrungen […] [einen] Umstand in [der] Geschichte zureichend motiviert [zu haben]“ (I/ 1, 276); oder wenn in seinen Schriften „allen Verstand zu Narrheit […], alle Wahrheiten zu Einfällen, alle Kraftgefühle zu pantomimischen Nachäffungen“ umzuformen bedeutet, diese „zu sublimieren“ (I/ 1, 109). So ist beispielsweise Thomas Carlyle überzeugt, Jean Pauls Schaffen sei nicht „abgetan mit den Worten Rhapsodie und Affektation“; 112 vielmehr verdienten seine Texte, näher betrachtet zu werden: „Es brechen Strahlen der eindringendsten Wahrheit, ja, es steigen Säulen eines wissenschaftlichen Lichtes aus diesem Chaos empor. Und ist es denn wirklich ein Chaos, oder sind nicht vielleicht nur unsere Augen von beschränkter Sehkraft, und können nur den Plan nicht überschauen? […] Das Geheimnis liegt vielleicht darin, dass Richter mehr Studium verlangt, als die meisten Leser geneigt sind, darauf zu wenden.“ (Sprengel: Urteil, S. 118 [Carlyle 1832]) Carlyle sieht Jean Pauls intellektuell-schöpferische Leistung vorab in dessen Humor begründet. Zwar lobt er auch die überwältigende Schärfe seines Verstandes sowie den unübertroffenen Reichtum seiner Einbildungskraft, mit denen er uns das Universum in seiner Unendlichkeit näher zu bringen vermöge, doch ist es seiner Meinung nach dessen Humor, der tiefer als alles andere zu den Urgründen des Seins vordringe. 113 Mit diesem überschreite er Grenzen, indem er durch zauberhaft anmutende, humoristische Wendungen wundersame, bis dahin unbemerkte Verbindungen zwischen den Dingen sichtbar mache. Der Humor stelle die Kraft dar, die den Verhüllungssowie Irrführstrategien Jean Pauls Bedeutung verleihe, die hinter die Masken zu blicken und lebendige Gesichter zum Vorschein zu bringen vermöge. 114 Obwohl Carlyle also fortwährend artikuliert, wie sehr ihn etwas Grosses, Freudiges, ja, Ehrfurchtvolles an Jean Pauls Schreiben anspreche, 115 vermag er dieses ‚Etwas’ nicht näher als in der Art der oben paraphrasierten Äusserungen zu benennen. Ihm fällt es schwer zu sagen, worin Jean Pauls ästhetisch-poetische Leistung im Detail besteht; doch liegt es ihm fern, deswegen dessen Texte rigoros als ungelenke oder wirre Pro- 111 Die angeführten Beispiele sind der Unsichtbaren Loge entnommen, doch finden sich Ausdrücke dieser Art in sämtlichen Romanen Jean Pauls. 112 Sprengel: Urteil, S. 118 [Carlyle 1832]. 113 Sprengel: Urteil, S. 119 [Carlyle 1832]. 114 Sprengel: Urteil, S. 119 [Carlyle 1832]. 115 Sprengel: Urteil, S. 118 [Carlyle 1832]. <?page no="69"?> 69 dukte eines pathologischen Subjekts abzuurteilen. 116 Vielmehr lobt er Jean Pauls Fähigkeit, auf seine wohl wunderliche, doch ebenso vereinnahmende Art die Leser in seinen Bann zu ziehen: Seine Schriften drückten Wohlwollen gegenüber sowie Ehrfurcht vor dem menschlichen Subjekt aus und würden die Leser zu einem toleranten und liebevollen Umgang mit ihren Mitmenschen ermutigen. Dieses Vermögen widerspiegle kein kränkliches, sondern ein gesundes und kräftiges Gemüt. Carlyle warnt davor, Jean Paul zu verurteilen, bevor man ihn und seine Schriften durchdrungen habe: „Ehe wir einen Mann tadeln, dass er scheine, was er nicht ist, sollten wir zuvor wissen, was er wirklich ist“. 117 Er gibt zu bedenken, dass, was uns ungewohnt, seltsam oder wild erscheint, deswegen nicht weniger wahr sein muss. 118 Für ihn kommt Jean Paul „ein[em] Komet[en gleich], welcher, obgleich mit weiten Abirrungen, und gehüllt in einen nebelhaften Schleier, noch seinen Platz im Empyräum hat“. 119 Auch Wolfdietrich Rasch beschreibt Jean Pauls Texte nicht als Produkt eines seinem krankhaften Geiste willenlos ausgelieferten Individuums, sondern befindet dessen abschweifenden Schreibstil für durchaus beabsichtigt und zweckhaft. In seiner Studie Die Erzählweise Jean Pauls führt Rasch an, die Einheit eines Textes sei nicht ausschliesslich über dessen epischen Gehalt herzustellen. Im Falle von Jean Paul realisiere die „Person des souveränen Erzählers“ 120 den inneren Zusammenhalt der Schriften, indem dieser meist als auktorialer Erzähler, Ich-Erzähler und personaler Erzähler zugleich figuriere (in letzterem Fall tritt er bekanntlich als Aktantenfigur ‚Jean Paul’ in der Erzählung auf) und somit auf allen Ebenen des Textes präsent sei. Ihm dienten die Ausschweifungen unter anderem als Möglichkeit, sich selbst darzustellen. Rasch beschreibt ihn dabei als einen „Virtuose[n], der viele Instrumente gleichzeitig spielt“. 121 Daraus erhellt, dass der zu erzählenden Geschichte in dessen Orchester sodann lediglich eine Stimme unter vielen zukommt. Unabhängig von den Begebenheiten der Geschichte schildere der Erzähler seine Lebenskenntnisse, liefere Beweise für seine Gelehrsamkeit, offenbare seine Gefühlswelten, bemühe sich, mit witzigen Einfällen zu glänzen oder lege dar, wie der betreffende 116 Carlyle schliesst sich der Geringschätzung von Jean Pauls Schriften durch die meisten seiner Berufskollegen nicht an, sondern bedauert, dass sie in dieser Sache ein vorschnelles und oft haltloses Urteil gefällt haben: „Zu sagen, wie nun Richter, mit einem von Natur so eigentümlichen Geiste begabt, seine Seele durch Ausbildung gestaltet hat, ist weit schwieriger, als zu sagen, er habe sie falsch gestaltet“ (Sprengel: Urteil, S. 122 [Carlyle 1832]). 117 Sprengel: Urteil, S. 118 [Carlyle 1832]. 118 Sprengel: Urteil, S. 118-122 [Carlyle 1832]. 119 Sprengel: Urteil, S. 123 [Carlyle 1832]. 120 Wolfdietrich Rasch: Die Erzählweise Jean Pauls, S. 26. (Im Folgenden zitiert als Erzählweise.) 121 Rasch: Erzählweise, S. 10. <?page no="70"?> 70 Text verfertigt worden sei. 122 Diese Polyperspektivik, bei der jedes Sichtfeld seinen Teil zur Erlangung eines Rundblicks beiträgt, mache Jean Pauls humoristische Betrachtungsweise der Welt aus. 123 Wie schon Carlyle kommt folglich auch Rasch auf den Humor als diejenige Denkkraft zu sprechen, die im innovativen Nebeneinander-, Übereinander- und Durcheinanderwerfen der Dinge bestrebt ist, denselben umfassend auf den Grund zu gehen. Der vielschichtige, humoristische Blick lehne sich auf gegen eine Sichtweise, die in der Normvorstellung der irdischen Dinge verharre, die diese Dinge ausschliesslich in der ihnen zugestandenen Zweckmässig anerkenne, anstatt sie aus ihrer blossen Dinghaftigkeit zu lösen und geistreich zu zersetzen. 124 Dadurch, dass er „die Dissonanz […] [zum] Strukturgesetz [seiner] Erzählweise [macht]“, 125 gelinge es Jean Paul, sich als geistig freies Subjekt mit uneingeschränktem Blick in der Welt zu bewegen und diese in all ihren Disharmonien, ihren Missklängen und Abweichungen wiederzugeben. Im Unterschied zu den meisten Rezipienten gestehen sowohl Carlyle als auch Rasch Jean Paul zu, dass er in seinen Schriften Geschichten erzählt. Letzterer betont einzig, man müsse erkennen, dass der Erzählgehalt in der Werkanlage Jean Pauls lediglich einen Part unter mehreren ausmache. Und ersterer mutmasst, die Fabel in Jean Pauls Romanen sei in einem grösseren Zusammenhang zu betrachten, da diese als Teil des Romanganzen einer nicht unmittelbar einsichtigen Logik unterliege. Während sich die Mehrzahl der Kritiker also - nicht zuletzt angeregt durch Jean Pauls eigene Äusserungen, in denen er sich selbst sowohl jegliche Fähigkeit abspricht, kohärente Erzählzusammenhänge zu konstituieren, als auch seinem Unmut darüber Ausdruck verleiht, dies überhaupt tun zu müssen - auf den diskontinuierlichen Aufbau von Jean Pauls Handlungsführung konzentrieren und bemängeln, in dessen Texten hätten Ausschweifungen, Anmerkungen sowie Reflexionen die Oberhand über den ‚eigentlichen’ Erzählgehalt gewonnen, dringen (unter anderen) Rasch und Carlyle tiefer, da sie vermuten, Jean Pauls Texten liege ein versteckter Erzählplan zugrunde. Auch wenn sie dessen Ordnung und die damit verbundene Gewichtung der ‚eigentlich’ narrativen Passagen nicht explizit durchdringen, sind sie doch überzeugt, dieser finde sich gerade in Jean Pauls unvergleichbarer Schreibmanier adäquat ausgedrückt. Durch die eben anhand von zwei Beispielen illustrierte Ahnung in ihrer eigenen bestärkt, wird die Verfasserin am Beispiel der Unsichtbaren Loge darlegen, nach welchen Gesetzen sich Jean Pauls Erzählen entfaltet. Mit Hilfe von strukturalistischen Verfahren wird sie die dem Romanerstling 122 Rasch: Erzählweise, S. 10. 123 Rasch: Erzählweise, S. 45. 124 Rasch: Erzählweise, S. 34 und S. 45. 125 Rasch: Erzählweise, S. 51. <?page no="71"?> 71 zugrunde liegende strukturale Tiefendimension, welche Carlyle und Rasch verborgen geblieben ist, ermitteln - jedoch nicht ohne zuvor kurz in die für sie massgebenden Aspekte strukturalistischer Analysemethoden eingeführt zu haben. 3.2. Strukturalistische Interpretationsverfahren 3.2.1. Oberflächentexte und Tiefenmodelle „Das größte Vergnügen, der größte Dank treiben nicht waagrechte, sondern senkrechte, ins Herz greifende versteckte Wurzeln“ (I/ 1, 411) Strukturalistische Textanalysen haben zum Ziel, anhand von generativen Modellen, die sie konstruieren, darzulegen, wie einzelne Elemente des zu analysierenden Textsystems miteinander verbunden sind. Gefragt wird folglich nach einem tiefenstrukturell angelegten Basismodell, das den Oberflächentext über Transformationsprozesse allererst generiert. Ausgangspunkt der strukturalen Analyse bildet das narrative Substrat eines Textes (die histoire), da weniger die Verfahrensweise, mit welcher der Text seine Erzählung kunstvoll realisiert (der discours), sondern vielmehr der Gehalt, das Narrative, dieser Erzählung selbst interessiert. Charakteristischerweise wird folglich als erstes eine Inhaltszusammenfassung des Textes erstellt, in der die Ereignisse in zeitlich logisch geordneter Folge (ordo naturalis) angeführt werden. 126 (Liegen in einem Text mehrere Erzählungen/ Erzählstränge vor, müssen diese isoliert und einzeln betrachtet werden.) Anschliessend wird dieser narrative Kernbestand in handlungsrelevante Einheiten zergliedert, die wiederum systematisch kodifiziert und schliesslich in Funktionsbegrifflichkeiten übersetzt werden. 127 Durch geschicktes Kombinieren der derart heuristisch festgelegten, abstraktfunktional bestimmten Segmente dringt man zur Textbotschaft vor. Literaturwissenschaftler agieren dabei als „intellektuelle Bastler“, 128 welche sich, indem sie die über die strukturale Analyse gewonnenen signifikanten Textelemente nach Äquivalenzprinzipien ordnen und zu einem neuartigen Ganzen zusammenfügen, einen alternativen Zugang zum Text erarbeiten. Je umfassender die strukturalistische Analyse auf einen Text angewendet 126 Roland Barthes: Das semiologische Abenteuer, S. 245 (Im Folgenden zitiert als SemAb.), Tzvetan Todorov: Poetik, S. 142, Götz Wienold: Probleme der linguistischen Analyse des Romans, S. 329. 127 Zur Konsensfähigkeit des Segmentierens und Kodifizierens s. Barthes: SemAb, S. 109, 119, 234f. 128 Gerard Genette: Strukturalismus und Literaturwissenschaft, S. 71. <?page no="72"?> 72 werden kann, d.h. je weniger Textelemente als astruktural weggelassen werden, desto interpretatorisch gewinnbringender fallen die auf deren Ergebnissen basierenden Schlussfolgerungen aus. Mit Hilfe der latenten Strukturen vermag man folglich zum Skelett eines Textes vorzudringen, vermag man die „Nachricht im Kode“ 129 zu hören. Da sich die Verfasserin in ihrer narratologischen Analyse der Unsichtbaren Loge des Instrumentariums von Claude Bremond und Roland Barthes bedient, werden in der Folge deren Ansätze kurz skizziert. Bremonds Methode beschreitet stärker noch als diejenige von Barthes den ‚traditionellen Weg’, in dem Sinne, dass in ihr die Texte ausgehend von deren Handlungssubstrat in triadische Einheiten segmentiert und anhand dieser Einheiten analysiert werden. Barthes’ Analysepraxis nimmt von Beginn weg die Gesamtheit eines Textes in den Blick und ist folglich bestrebt, jedes noch so marginal erscheinende Textelement in seine Untersuchung mit einzuschliessen. Keine Einheit wird für astruktural befunden, da jede einzelne ihren ‚Sinn’, wenn nicht auf der narrativen Ebene, in der sie auftritt, so auf der Ebene darüber, entfaltet. In Kombination ergeben diese beiden strukturalistischen Konzepte ein Analyseinstrumentarium, von dem ausgehend Jean Pauls Textpraxis in der Unsichtbaren Loge beschrieben werden wird. 3.2.1.1 Elementartriaden Claude Bremonds Wie für zahlreiche andere bilden auch für den französischen Literaturtheoretiker Claude Bremond die strukturalistischen Analysen des russischen Literaturwissenschaftlers Vladimir Propp den Ausgangspunkt für seine Überlegungen zum Modell einer narrativen Syntax. Bremond ist dabei daran gelegen, Propps Ansatz, den dieser anhand des Textcorpus der russischen Volks- und Zaubermärchen konstruiert, zu generalisieren sowie zu flexibilisieren. 130 Er bemängelt an Propps Analysemethode, dass sie mit 129 Genette: Strukturalismus und Literaturwissenschaft, S. 74. 130 In seiner Studie Morphologie des Märchens konstruiert Propp „ein Schema“ (Vladimir Propp: Morphologie des Märchens, S. 104 (Im Folgenden zitiert als Morphologie.), das er sämtlichen russischen Volks- und Zaubermärchen zugrunde gelegt sieht. Zentraler Begriff seiner Analyse ist die ‚Funktion’, welche die Rolle bezeichnet, die eine Handlung im Erzählverlauf, in einer Kette von Ereignissen, spielt. Nach Propp lassen sich nun die narrativen Elemente eines jeden Märchens als eine immer gleiche Abfolge von Funktionen darstellen - wobei die Verschiedenartigkeit der Märchen sich einzig darin artikuliert, dass nicht jedes einzelne alle Funktionen realisiert: „Einzelne Märchen enthalten das Grundschema nur in lückenhafter Form. In sämtlichen Märchen fehlen diese oder jene Funktionen, doch hat diese Tatsache selbst keinen Einfluss auf die Struktur des Zaubermärchens, denn die Reihenfolge der übrigen Funktionen bleibt konstant“ (Propp: Morphologie, S. 107). Dieses für das russische Volksmärchen konstruierte Schema erweist sich als streng finalistisch. Bremonds Ansatz und jene anderer sind als Versuche zu lesen, Modelle für Corpora von Erzähltexten zu entwi- <?page no="73"?> 73 einem Funktionsbegriff arbeitet, der alternative Handlungsfortgänge zum Vornherein ausschliesst. Seine Funktionen seien von hinten, also immer von der auf sie folgenden Funktion, bestimmt und spiegelten gar nicht wider, dass sich eine Funktion divers weiter entwickeln könnte. Mit seinem Verfahren, das oppositionale Handlungselemente systematisch nicht berücksichtige, bringe sich Propp gerade auch in seiner Analyse der Zaubermärchen um wertvolle Informationen. 131 Bremond schlägt ein alternatives Analysemodell vor, das den Wendungen, die eine Erzählung natürlicherweise nimmt, gerecht zu werden versucht. Exakt diejenigen Unregelmässigkeiten, die Propp in seinem System als (vereinzelte) Störungen registriere und - da sie ihm lediglich Abweichungen von der Norm zu sein scheinen - nicht weiter beachte, gelte es zu berücksichtigen: „Wir trachten […] danach, […] das linguistische System […] in seiner Allgemeinheit wieder zu erstellen. [Wir] müssen […] den ganzen Fächer der dem Erzähler theoretisch gebotenen Möglichkeiten entfalten. Wir müssen also den erstarrten Syntagmen, die dem russischen Märchen als Material dienen, ihre maximale Beweglichkeit und Variabilität zurückerstatten.“ (Bremond: Erzählnachricht, S. 198f.) Bremond begegnet Propps „Tyrannis der Serie“, 132 wie er sie nennt, indem er dessen zweckbezogene Funktionsreihe in Erzählungen, die sich als weit weniger formalisiert erweisen als die russischen Volksmärchen, durch von vorne motivierte Einheiten ersetzt, welche Varianten im Erzählverlauf mit berücksichtigen: Es wird „niemals eine Funktion [gesetzt], ohne zugleich die Möglichkeit einer gegensätzlichen Option mitzusetzen“. 133 Dem Prinzip der narrativen Alternativen eines jeden Textes wird also Rechnung getragen, indem an jeder Stelle des Textes von zwei möglichen Folgesituationen ausgegangen wird. 134 Gesucht wird eine autonome Struktur, die die Wahrckeln, welche deren mehrdimensionale Handlungslogik berücksichtigen. Zur Eruierung der diesen Erzähltexten zugrunde liegenden Strukturgebilde erweist es sich sodann als unerlässlich, Propps eindimensionale, strikt lineare Weise, die Funktionen zu verknüpfen, aufzubrechen. - Simon hält fest, dass Propp nicht die Absicht gehabt hat, ein allgemeines System der Handlungslogik zu entwickeln, das - wie Bremond anführt - „auf jede Art Erzählnachricht anwendbar ist“ (Claude Bremond: Die Erzählnachricht, S. 215). (Im Folgenden zitiert als Erzählnachricht.) Propp bleibe in seiner Argumentation eben auf einer Gattungsebene und einer „Gattungspoetik [müße] es […] gerade darauf ankommen, Sprachnormen und Redemuster, erstarrte Syntagmen zu finden, oder um andere Formulierungen, die auf der gleichen Linie liegen, zu wählen: narrative Muster, Gattungsschemata, Handlungsprogramme“ (Ralf Simon: Einführung in die strukturalistische Poetik des mittelalterlichen Romans, S. 13, Hervorhebung im Original). 131 Bremond: Erzählnachricht, S. 177-189. 132 Bremond: Erzählnachricht, S. 194. 133 Bremond: Erzählnachricht, S. 193. 134 Während es bei Propp nicht möglich ist, auf die Funktion ‚Kampf mit dem Bösen’ eine andere folgen zu lassen als diejenige, die er mit ‚Sieg des Helden über den Bö- <?page no="74"?> 74 scheinlichkeit, dass sich gewisse Funktionen solidarisch zu einander verhalten (also oft im Verbund auftreten), bedenkt, ohne diese an festgelegte ‚Vorgängerfunktionen’ respektive ‚Vorgängerfunktionsverbunde’ zu binden. 135 Sie soll logisch-notwendige Begebenheiten wiedergeben, ohne den Zeitpunkt von deren Eintreten endgültig festzulegen: Wird ein Held in einer Erzählung beispielsweise aufgrund eines Merkmals, das ihm beigebracht wurde, erst als Held identifiziert, ist anzunehmen, dass der Held dieses Mal erst empfangen haben muss, bevor er verschwunden, inkognito wieder aufgetaucht und als Held erkannt worden ist. Es ist nicht möglich, dass er als Held erkannt wird, bevor er das Mal empfangen hat. Tatsächlich ist aber der Zeitpunkt, in dem er das Mal empfangen hat, variabel: Es kann ihm vor einem Kampf, während desselben oder nach ihm beigebracht worden sein. Gesucht hat Bremond eine Struktur, die derartigen ‚verbindlich-flexiblen’ narrativen Varianten entspricht, und folglich kleiner als die Proppsche Serie, aber grösser als dessen Funktion sein muss. Gefunden hat er die Elementarsequenz oder Elementartriade. Diese besteht aus einer Einheit von drei Funktionen, deren erste die Möglichkeit einer Handlung eröffnet, in deren zweiter die (Nicht-)Realisierung dieser Handlung geschieht, und in deren dritter die Handlung erfolgreich (oder nicht) abgeschlossen wird. 136 Innerhalb einer Elementartriade bleibt die Reihenfolge der Funktionen folglich konstant; doch kann eine Elementarsequenz - vergleichbar mit den von jedem Instrument gespielten Noten in einer musikalischen Partitur - enklavisch in andere Elementarsequenzen verschachtelt sein, 137 Hand-in-Hand in die nächstfolgende Elementarsequenz übergehen sen’ umschreibt, geht es bei Bremonds Verfahren darum, auch die Möglichkeiten ‚Niederlage,’ ‚Sieg und Niederlage’ oder ‚weder Sieg noch Niederlage’ prinzipiell gelten lassen zu können. Die Ausgangssituation ‚Kampf mit dem Bösen’ fächerte sich sodann auf in beispielsweise entweder (a) ‚Held setzt seine Mittel erfolgreich ein’ oder (b) ‚Held setzt seine Mittel nicht erfolgreich ein’ und weiter in entweder (a 1 ) ‚Sieg des Helden über den Bösen’ oder (b 1 ) ‚Niederlage des Helden’ (Bremond: Erzählnachricht, S. 195-201). 135 Bremond: Erzählnachricht, S. 195. 136 Bremond: Erzählnachricht, S. 201. 137 Ein Beispiel (s. Bremond: Erzählnachricht, S. 203): Rätsel ↓ Lösungsversuch → Prüfung von Gegebenheiten Beobachtungen ↓ (↓) Erarbeitung einer Hypothese Deduktion → Festsetzung eines Tests ↓ (↓) Übergehen zum Test ↓ Gelöstes Rätsel ← Verifizierte Hypothese ← Positiver Test <?page no="75"?> 75 oder sich in anderer Weise mit ihr verbinden. Die Struktur der Erzählung wird folglich als „Juxtaposition einer bestimmten Anzahl von Sequenzen [vorstellig], die sich nach Art von Muskelfasern oder Zopfsträngen überlagern, verknüpfen, kreuzen, verästeln. […] Alles kann sich mit allem kombinieren, alles kann allem folgen“. 138 Dieses Verfahren eröffnet die Möglichkeit, einzelne Sequenzen mit anderen zu spezifizieren, oder auch mannigfaltige Funktionen ein und desselben Aktes wiederzugeben. Indem er den Kode von Erzählungen mittels der Sequenz als seiner elementaren narrativen Einheit abbildet, steht Bremond für seine Analysen ein beweglich(er)es Instrumentarium zur Verfügung. 139 3.2.1.2 Kardinalfunktionen und Katalysen Roland Barthes’ In seinem Semiologischen Abenteuer referiert auch Roland Barthes die Ergebnisse von Propps strukturaler Erzählanalyse: Ähnlich wie Bremond moniert Barthes die allzu schematische, „syntagmatische Abbildung, die [dieser] aus den unterschiedlichen Handlungsverläufen verschiedener Märchen abstrahiert [hatte]“. 140 Seinen Beitrag zum - wie er es nennt - „grundlegenden Problem“ der strukturalen Erzählanalyse 141 leistet Barthes, indem er ein Schema entwickelt, in dem möglichst alle Handlungssequenzen von literarischen Erzählungen analytische Berücksichtigung finden. All diejenigen Momente, die Propp in seiner Analyse der Volksmärchen weglässt, da sie den Handlungsfortgang retardierten und deswegen struktural gesehen keine Rolle spielten, 142 sowie diejenigen Momente, die in einer 138 Bremond: Erzählnachricht, S. 197. 139 Bremond: Erzählnachricht, S. 215. 140 Barthes: SemAb, S. 144. 141 Barthes: SemAb, S. 144. 142 Propps Methode schaltet sämtliche Momente, in denen der russische Erzähler zumindest so tut, als könnte die Handlung einen anderen als den gewohnten (und mithin erwarteten) Ausgang nehmen, aus. Situationen, in denen während eines Kampfes beispielsweise zeitweilig die Möglichkeit besteht, der Held könnte scheitern und das Böse siegen; oder in denen der Held einer falschen Nachricht Glauben schenkt, sodass man annehmen muss, er werde den falschen Weg beschreiten; oder Situationen, in denen man schliesslich Grund zur Annahme hat, der Held werde der überwältigenden Konkurrenz wegen das Herz seiner Angebeten nicht zu gewinnen in der Lage sein, finden in Propps Verfahren keine Berücksichtigung, da die Handlung nach diesen Schilderungen stets wieder in die gewohnte Bahn (der Held gewinnt den Kampf; er schreitet sicheren Schrittes seinem Ziel entgegen; er erobert die Frau seines Herzens) einschwenkt und sich bis zum Ende hin erwartungsgemäss weiter entwickelt. Bremond zufolge sind diese Einheiten für Propp lediglich „tote Arme, abseits vom Erzählfluss“ (Bremond: Erzählnachricht, S. 189), die mit dem Vorwurf belastet sind, die Handlung nicht der Lösung zuzutreiben, sondern sie zu retardieren. In diesem Sinne zieht Propp auch keine dreifach wiederholte Handlung als jeweils einzelne in Betracht, sondern fasst sie in einer einzigen zusammen: Lediglich das letzte Ele- <?page no="76"?> 76 strukturalistischen Analyse, die von einer Inhaltszusammenfassung des zu untersuchenden Textes ausgeht (wie beispielsweise diejenige Bremonds), wegfallen, beabsichtigt Barthes in seiner Methode mit einzubeziehen: „[Alle], auch noch so unscheinbar wirkenden Handlungen einer Erzählung [müssen] analysiert und in eine noch zu beschreibende Ordnung integriert werden […]: [Denn] im Text ist […] kein einziges sprachliches Merkmal bedeutungslos“. 143 Denn erklärte man die Kleinst- und Nebenhandlungen in Bezug auf die Gesamtbotschaft des Textes für bedeutungslose Füller ohne weiteren Belang, ginge man zum vornherein von einer finalistischen Konzeption eines jeden Erzähltextes aus. In seiner strukturalen Erzählanalyse nimmt Barthes die Linguistik mit ihren Termini und Prinzipien zum Modell. Entsprechend definiert er die Erzählungen, diese impliziten Systeme von Einheiten und Regeln, 144 als in diversen Ebenen organisierte Kompositionen. Beim Versuch, sie zu verstehen, habe man nicht nur „dem Abspinnen der Geschichte [zu] folgen, sondern auch […] die horizontalen Verkettungen des Erzähl-‚fadens’ auf eine implizit vertikale Achse [zu] projizieren; eine Erzählung lesen (hören) heiss[e] nicht nur, von einem Wort zum anderen [überzugehen], sondern auch von einer Ebene zur anderen.“ (Barthes: SemAb, S. 107f.) Barthes zufolge entspricht also jeder Text einer Mitteilung, deren Bestandteile distributionell (wenn sich die Beziehungen auf einer Ebene entfalten) und/ oder integrativ (wenn diese sich von einer Ebene auf die andere erstrecken oder sich auch auf extra-textuelle Elemente beziehen) miteinander verbunden sind. Die Struktur der Gesamtheit dieses Korrelationsgebildes gelte es mittels strukturalistischer Analysetechniken freizulegen, da diese auf einen Code hindeute und damit den ‚Sinn’ einer Erzählung ausmache. 145 Um dem Code einer Erzählung auf den Grund zu gehen, unterzieht sie Barthes den analytischen Operationen der Zerlegung, der Inventarisierung sowie der Koordination. 146 Dabei unterscheidet er drei Beschreibungsebenen, die untereinander „durch einen progressiven Integrationsmodus verknüpft sind“: 147 die Ebene der ‚Funktionen’, diejenige der ‚Handlungen’ und diejenige der ‚Narration’. Die Funktionen entsprechen den kleinsten Erzähleinheiten. Barthes unterteilt sie in zwei Klassen, die seine Prämisse reflektieren, eine Erzählanalyse könne nur gelingen, wenn nebst der syntagmatischen auch die paradigment befindet er für erwähnenswert, da es allein die Handlung vorantreibe (Propp: Morphologie, S. 74f.). 143 Barthes: SemAb, S. 145. 144 Barthes: SemAb, S. 103. 145 Barthes: SemAb, S. 229-231. 146 Barthes: SemAb, S. 234. 147 Barthes: SemAb, S. 108. <?page no="77"?> 77 matischen Verknüpfungen narrativer Relationen berücksichtigt werden: Die distributionelle Klasse umfasst die Funktionen, die horizontal mit anderen Elementen verbunden sind; die integrative Klasse umfasst die Indizien, die mit ihren Korrelaten vertikal in Beziehung treten. Die distributionelle Klasse Funktionen, gliedert er weiter in sogenannte Kardinalfunktionen und Katalysen. Erstere definiert er als Handlungskerne, welche die treibende Kraft im Fortgang der Erzählung ausmachen. Sie bilden die Dreh- und Angelpunkte, die „Risikomomente“, 148 zwischen die die Katalysen als beruhigende Zusatznotationen eingeschoben sind. Letztere treten immer in Korrelation zu den Kernen auf. Ein Beispiel: Klingelt in einer Erzählsituation das Telefon, so ist es gleichermassen möglich, den Hörer abzuheben oder es sein zu lassen, was dem Fortgang der Geschichte zwei unterschiedliche Optionen eröffnet. Das Klingeln des Telefons kommt folglich einer Kardinalfunktion gleich, die im Fortgang der Geschichte Optionen eröffnet, aufrecht erhält oder beschliesst. Die ergänzenden Anmerkungen, die zwischen den Kern ‚das Telefon klingelt’ und den Kern ‚xy hebt (nicht) ab’ angeführt werden, sind katalytisch - etwa von der Art: (Das Telefon klingelt), xy dreht sich vom Fenster weg, durchquert den Raum, tippt sich mit dem Finger gegen die Stirn, zögert kurz und (hebt dann ab). Katalysen sind keineswegs redundante Einheiten, sondern bleiben in ihrer hinzufügenden Art funktionell - auch wenn ihre Funktionalität nicht das Gewicht derjenigen der Kardinalfunktionen erhält. 149 Auch die integrative Klasse der Indizien teilt Barthes in zwei Unterklassen ein: in die Indizien im engeren Sinn und in die Informanten. Während letztere pure Informationen (wie das Alter, die Grösse, die Haarfarbe oder das Geschlecht einer Figur, Zeitangaben, Pflanzennamen oder dergleichen) vermitteln, beinhalten die Indizien immer auch implizite Informationen. Informanten liefern Erzählfakten, die dem Leser die Orientierung im Text ermöglichen. Die Indizien dagegen vermag der Leser erst zu erfassen, nachdem er Entzifferungsarbeit geleistet hat. Sie verweisen nämlich auf Gefühle, auf Atmosphären oder Philosophien, welche nicht unmittelbar, sondern erst allmählich zu begreifen sind. Ein Merkmal der Klasse der integrativen narrativen Einheiten (der Informanten wie der Indizien also) ist es, dass sie paradigmatische Text-Relationen eingehen, weswegen sie erst im Zusammenspiel mit diesen paradigmatischen Text-Relationen, d.h. auf den höheren Erzählebenen der ‚Handlung’ und der ‚Narration’, ihre vollständige Bedeutung offenbaren. 150 Zusammengefügt werden diese Einheiten der ersten Ebene gemäss der Regeln der funktionellen Kombinatorik: Währenddem Indizien und Informanten „innerhalb des narrativen Syntagmas“ beliebig miteinander ver- 148 Barthes: SemAb, S. 113. 149 Barthes: SemAb, S. 109-114. 150 Barthes: SemAb, S. 114f. <?page no="78"?> 78 bunden werden können, verbindet Katalysen und Kerne „eine Relation der einfachen Implikation“. 151 Den Katalysen, Indizien und Informanten gemeinsam ist, dass sie die Kerne ‚erweitern: ’ Die Kerne stellen also das Gerüst der Erzählung dar, das „die anderen Einheiten nach einem im Prinzip endlosen Wucherungsmodus [ausfüllen]“. 152 Die Kardinalfunktionen ihrerseits bilden, so sie in logischer Folge aneinander gereiht werden, eine Sequenz, 153 wobei die Glieder der einzelnen Sequenzen wiederum fugenartig ineinander übergreifen können. 154 Ist zwischen den Sequenzen keine unmittelbare Beziehung auszumachen, hat man auf der nächst höheren Ebene, der Ebene der Handlungen, anzusetzen: Es sind nämlich die Aktanten, die sequenzübergreifend präsent sind, und die Erzählung aufgrund ihrer „Partizipation an einer Sphäre von Handlungen“ 155 zusammenhalten. Barthes führt als Beispiel den James Bond-Film Goldfinger an, da er die Verbindung von dessen Episoden allein über Aktantenbeziehungen, über gleichbleibende Personenkonstellationen also, gewährleistet sieht. 156 Wenn Barthes von Aktanten spricht, so bezieht er sich nicht auf psychologische, sondern grammatikalische Personen. Als Einheit der Handlungsebene bestimmt er die Protagonisten in Bezug auf den narrativen Diskurs, weswegen sie ihre Bedeutung erst als integrierte Bestandteile der dritten Ebene, derjenigen der Narration, erlangen. Die Art und Weise nun, wie die Funktionen und Handlungen in die narrative Ebene eingegliedert werden, macht die Kodierung der Erzählsituation aus: Die narrative Kommunikation, diese fiktive Wechselrede zwischen einem ‚Ich’ (Adressant) und einem ‚Du’ (Adressat) der Erzählung, wird folglich wesentlich von der Wahl der Perspektive oder des Darstellungsstils (direkte oder indirekte Rede), vom Grad und von der Art der Einmischung des Autors usw. bestimmt. 157 Die narrative Ebene beschliesst die Erzählung und öffnet sie zugleich zur Welt hin. 158 Abschliessend lässt sich festhalten, dass Barthes über Gliederungsverfahren zu Einheiten gelangt, die mittels Integrationsprozessen in den höheren Einheiten aufgefangen und wieder (neu) zusammengeführt werden. Mit anderen Worten: Er eruiert Einheiten, indem er sie benennt, und analysiert sie, indem er ihre Namen entfaltet. 159 Der jeweils vorliegende Text wird derart weniger in seiner progressiven Folge denn als erzähllogisches Gebilde offenbar, in dem durch den denotierten, wortwörtlichen immer 151 Barthes: SemAb, S. 116. 152 Barthes: SemAb, S. 115. 153 Barthes: SemAb, S. 118. 154 Barthes: SemAb, S. 120f. 155 Barthes: SemAb, S. 123. 156 Barthes: SemAb, S. 121. 157 Barthes: SemAb, S. 129. 158 Barthes: SemAb, S. 131. 159 Barthes: SemAb, S. 147f. <?page no="79"?> 79 mehr der konnotierte, assoziative Sinn durchscheint. Die Struktur einer Erzählung zu erfassen, bedeutet also in dieser ihre(n) verborgenen Code(s) zu erkennen. 160 3.2.2. Anwendung strukturalistischer Analysemethoden auf Jean Pauls Texte Barthes’ und Bremonds Ansätze scheinen der Verfasserin die handhabbarsten zu sein, wenn es darum geht, strukturalistische Methoden auf verschiedene Textgattungen (wie beispielsweise den Roman) anzuwenden. Ihr Eindruck deckt sich dabei mit einer Feststellung Jens Ihwes, der bemerkt, dass, wenn es darum gehe, mittels literaturtheoretischer Mittel „alle[] Erzählstrukturen“ zusammenhängend zu beschreiben, der „französische Strukturalismus […] die wertvollsten Beiträge geliefert [habe]“. 161 Diese (und dabei verweist Ihwe explizit auf die „Arbeiten Bremonds [und] Barthes’“) erlaubten es „überdies[,] die Möglichkeit einer generellen Theorie der Erzählstrukturen (als Teil einer semiotischen Ästhetik) ins Auge zu fassen“. 162 Im Folgenden wird Die Unsichtbare Loge anhand von Bremonds Modell der Elementartriaden sowie Barthes’ Schema der Kardinalfunktionen, Katalysen, Indizes und Informanten narratologisch analysiert, um darzulegen, wie die einzelnen Elemente von Jean Pauls Romanerstling miteinander verbunden sind. 163 160 Barthes: SemAb, S. 292ff. 161 Jens Ihwe: Vorwort, S. 11. 162 Ihwe: Vorwort, S. 11. 163 Interessanterweise hat Wellbery in seinem Aufsatz Der Zufall der Geburt eine „Rekonstruktion der narrativen Ordnung von [SB: Sternes] Tristram Shandy“ (David E. Wellbery: Der Zufall der Geburt. Laurence Sternes Poetik der Kontingenz, S. 29 (Im Folgenden zitiert als Zufall der Geburt.) unternommen, einem Text, dem nachgesagt wird - darauf wurde oben hingewiesen -, ein Vorbild für diskontinuierlich verlaufende Romankonzeptionen zu sein. In seiner dreiteiligen Analyse legt Wellbery das (wie er es in Anlehnung an Greimas nennt) „narrative Programm“ (Wellbery: Zufall der Geburt, S. 29) des Tristram Shandy dar. Er sieht der „fabula-Ebene“ (Wellbery: Zufall der Geburt, S. 21) des Romans eine konstruktiv eingesetzte Logik der Kontingenz zugrunde gelegt (Wellbery: Zufall der Geburt, S. 23). Ausgangspunkt seiner Reflexionen bildet die Assoziation des Geschlechtsaktes mit dem Aufziehen der Uhr (Wellbery: Zufall der Geburt, S. 19), dank derer die „(Unter-)Brechung der Bestimmung“ (Wellbery: Zufall der Geburt, S. 13) als Prinzip der Sterneschen Poetik der Kontingenz ausgemacht werden kann. Wie ersichtlich wird, werden Ereignisse im Roman diskontinuierlichseriell verknüpft (Wellbery: Zufall der Geburt, S. 31f.): Zufällig hingeworfene Begebenheiten lösen Sinnentfaltungen aus, die sich darin ähneln, dass sie alle Artikulationen des auslösenden Moments, der „(Unter-) Brechung der Bestimmung“, darstellen. „Sternes wahrhaft geniale Leistung“, schliesst Wellbery, „besteht nun darin, dass er für diese […] Dimension zufälligen Hingeworfenseins eine narrative Ordnung (er)findet, die als genuine Alternative zur Grammatik der Handlung mit ihrer teleologischen Grundstruktur angesehen werden kann“ (Wellbery: Zufall der Geburt, S. 31). <?page no="80"?> 80 3.2.2.1 Die Krux des Resümierens Bremonds Verfahren basiert auf der Erstellung eines Handlungssubstrats, das es in Elementartriaden zu zerlegen und mittels dieser zu analysieren gilt. Im Falle von Jean Pauls Romanerstling gestaltet sich jedoch bereits die Wiedergabe des narrativen Kernbestandes problematisch. Nicht nur, weil Jean Paul-Texte zusammenzufassen seit je für ein schwieriges Unterfangen befunden wird, 164 sondern vor allem, weil im Falle der Unsichtbaren Loge nicht unmissverständlich klar ist, wo mit der Inhaltszusammenfassung eingesetzt werden soll. Nimmt man des Erzählers Aussage zu Beginn des dritten Sektors - „Jetzo geht erst meine Geschichte an“ (I/ 1, 52) - ernst, bedeutet dies, dass die Schilderungen der ersten beiden Sektoren im Resümee keine Berücksichtigung finden und aus der Analyse des Romangeschehens heraus fallen. Für das Beziehungsgefüge der Textelemente im Gesamtroman erweist sich der Inhalt der Anfangskapitel jedoch als zentral - was unten, im Teilkapitel 4.5.1. Thematische Verknüpfungslogik im paragrammatischen Raum ersichtlich werden wird. Irritierenderweise scheint sich auch der Erzähler, der eben noch hat verlauten lassen, die ersten beiden Sektoren hätten mit der eigentlichen Geschichte seiner Lebensbeschreibung nichts zu tun, der Tragweite der Anfangspassagen seines Romans bewusst zu ein, wenn er in dessen Verlauf mehrmals bemerkt, dass der Leser dem Geschehen nur folgen könne, wenn er die Geschehnisse der ersten Sektoren noch im Gedächtnis habe. Unmittelbar nach der Ansage, die Fabel beginne erst im dritten Sektor, fügt er an: „Der Leser muß nämlich aus seinem ersten Sektor noch im Kopfe haben, daß […]“ (I/ 1, 53). Im neunten Sektor bemerkt er: „Romanenleser müssen ein gutes Gedächtnis haben, um die ersten 10 oder 12 Sektores gleichsam als Deklinationen und Konjugationen auswendig zu lernen, weil sie ohne diese nicht im Exponieren fortkommen“ (I/ 1, 89). Und im achtzehnten Sektor hofft er abermals inständig, „daß der Leser alles versteht und sich hier nur einigermaßen noch der ersten Sektoren erinnert“ (I/ 1, 153). An diesen Stellen, wie auch in anderen Zusammenhängen, mutet es offensichtlich als legitime Textstrategie an, dass der Erzähler seinen Aussagen widerspricht. 165 In Bezug auf die Ausarbeitung einer Inhaltszusammenfassung bedeutet dies aber, dass sich Interpreten vor das Problem gestellt finden, diejenige Textmenge, welche die Basis des zu erstellenden Handlungssubstrats bilden soll, nicht eindeutig bestimmen zu können. 164 „Die Fabel für sich selbst besagt bei Jean Paul kaum etwas“, weswegen sie „einzudampfen ganz vergeblich [ist]“ (Sprengel: Urteil, S. 310 [Augstein 1974]). 165 So auch wenn dieser in Bezug auf Gustavs Geburt verlauten lässt, er „[wisse dessen] ganzes Leben voraus“ (I/ 1, 52), und sodann bemerkt, erst ‚jetzt’ sei er „mit [seiner] biographischen Feder nachgekommen“ und wisse „niemals mehr […], als [er] eben berichte“ (I/ 1, 403f.). <?page no="81"?> 81 Die narrative Kompetenz der Leserschaft, ihre Fähigkeit also, die narrativen Strukturen der Unsichtbaren Loge zu reproduzieren, wird weiter auf die Probe gestellt, wenn sie ihren Fokus auf die zahlreichen Extrablättchen, Extrazeilen und Extragedanken sowie die Fussnoten in Jean Pauls Romanerstling richtet. Ihrer Benennung nach müssten diese bei der Erstellung einer Inhaltszusammenfassung allesamt weggelassen werden können, 166 da sie der eigentlichen Geschichte lediglich als ‚Zusatz’ beigefügt worden sind. Doch weit gefehlt: Allzu oft benutzt der Erzähler genau diese Stellen als Orte, an denen er zentrale narrative Informationen mitteilt, an denen er also Handlungselemente systematisch versteckt. Erst in den Fussnoten führt er beispielsweise an, was es mit dem englischen Garten ‚stilles Land’ (I/ 1, 185) und dem Dorf Ruhestatt (I/ 1, 201) auf sich hat. Dabei wird im ersteren Fall die Beschreibung des stillen Landes nicht einmal gegeben, sondern lediglich auf eine solche in einer späteren Passage verwiesen. Die Fussnote wurde nämlich gesetzt, da der Haupttext an dieser Stelle aus einem Brief besteht, den Gustav an ‚Jean Paul’ verfasst hat. Daraus folgt, dass die Informationen, die der Leser über diesen Garten erhält, auf doppelt indirekte Weise (einmal im Brief, dann in der Fussnote mit dem Hinweis auf eine später folgende Beschreibung) vermittelt werden. Überdies gibt der Erzähler Charakterzüge von Figuren, die er vorgängig (falls überhaupt) lediglich namentlich erwähnt hat, erst in Ausschweifungen preis: Das Wesen der Residentin von Bouse beispielsweise, deren Verhalten für den temporären Bruch zwischen Beata und Gustav verantwortlich zeichnet, teilt der Erzähler in einer „Abschweifung“ (I/ 1, 345) mit. Des Weiteren offenbart er die Persönlichkeit des Legationsrats von Oefel in einem Brief, der an sich in der Schilderung des Handlungsgeschehens nicht vorgesehen war. Da der Erzähler aber Fenks Verhalten Oefel gegenüber erklären will, wird dieser Brief kurzerhand dem Inhalt der Lebensbeschreibung passend gemacht und „mit [eingeknüpft]“ (I/ 1, 156). In ähnlicher Weise wird der Leser auch über die charakterlichen Eigenheiten des Kommerzien-Agenten von Röper in Kenntnis gesetzt: In einer als Zeitungsartikel getarnten „Abschweifung“ (I/ 1, 149), als deren Verfasser wiederum Fenk angegeben wird, schildert der Erzähler die Wesensart eines „unvollkommne[n] Charakter[s]“ (I/ 1, 149). Da es ihm in seinem Roman „ohnehin an echten Schelmen [noch] merklich [fehlt]“ (I/ 1, 155), übernimmt er „diesen unvollkommnen Charakter für [s]eine Biographie […] ([…] unter dem Namen Röper)“ (I/ 1, 155). Zudem offenbart der Zeitungsartikel die Hin- 166 Dies, so sagt der Erzähler-Autor bekanntlich selbst, sei den Lesern - und vorab den Leserinnen - durchaus gestattet zu tun. In der Vorrede zum Siebenkäs erzählt er der Tochter des Gerichts- und Handelsherrn Jakob Oehrmann die ersten drei Teile des Hesperus in „nur drei Stunden […], weil [er] alle Extrablätter aus dem Buche als Sprecher der Weiber herausgerissen hatte“ (I/ 2, 25f.). Im Hesperus selbst schliesst er einen „Hausvertrag“ mit dem Leser, in dem es heisst, es sei diesem „bewilligt […], jeden Schalttag zu überschlagen und nur die Geschichttage zu lesen“ (I/ 1, 566). <?page no="82"?> 82 tergründe um Guidos Zeugung und Geburt (I/ 1, 153) und damit ein zentrales Handlungselement, von dem der Erzähler im sechsten Sektor versprochen hat, es „erst nachher“ (I/ 1, 69) aufzuklären: Ein Versprechen im ‚Haupttext’ wird folglich in einer Ausschweifung eingelöst, womit letztere bedenkenlos zu einem integralen Bestandteil der Erzählung erklärt wird. 167 Dass witzige, lehrreiche oder schlicht ergänzende Beifügungen trotz ihres betont beiläufigen Charakters durchaus ‚Gehaltvolles’ vermitteln, wird auch daran ersichtlich, dass sie das nachfolgende Geschehen motivieren: 168 So geschehen in einer Bemerkung am Rande, in welcher der Erzähler die Schilderung eines „einfältigen Professor-Spass[es]“ dahingehend für ‚produktiv’ befindet, als dass dieser die „folgende Szene [allererst] erzeug[e]“ (I/ 1, 175). 169 An anderer Stelle wendet sich der Erzähler explizit dem Leser zu und also vom Handlungsgeschehen ab, um in Reflexionen über sein schriftstellerisches Schaffen zu versinken, seine Art und Weise der Textführung zu begründen oder dem Leser/ sich selbst rhetorische Fragen zu stellen. Die Essenz dieses Laut-vor-sich-her-Sinnierens erweist sich tatsächlich aber als handlungsrelevant, wenn Amandus - rein hypothetisch, nämlich in einer rhetorischen Frage des Erzählers, - Guidos Porträt ins Gras legt und es kurz darauf - im wieder aufgenommenen Handlungsgeschehen - Beata ist, die es dort findet: „Es ist eine elende rhetorische Figur, die ich aufstelle, dass ich hier so lange an- und zugeredet habe: sind denn nicht die zwei Freunde in einem grös- 167 „Wenn der Leser diese Abschweifung gelesen hat: so wird er sagen, es war gar keine“ (I/ 1, 149). 168 Umgekehrt platziert der Erzähler Informationen, von deren nebensächlichem Charakter er überzeugt zu sein vorgibt, im Haupttext - freilich nicht, ohne darauf hinzuweisen, was er dabei ist zu tun: „Ich könnt’ es in der Note sagen, daß eine preteuse de tête ein Mädchen in Paris ist, das an einem Tage hundertmal frisieret wird, weils die Innung daran lernen will - unmöglich kann es unter ihrer Hirnschale so viele Veränderungen und Versuche geben als über derselben - die Koalition und Einkindschaft […]“ (I/ 1, 244). (Selbstredenerweise springt der Haupttext, dem diese ‚Note’ einverleibt wird, ohne weitere Anmerkung weiter). - Dembeck weist darauf hin, dass es das, was in Jean Pauls Texten „als bloßes Ornament“ ausgebenen wird, „vielmehr als Präfiguration neuartiger Sinnzusammenhänge auszulegen [gelte]“ (Till Dembeck: Text ohne Noten? Der Ort von Anmerkung und Digression bei Rabener und Jean Paul, S. 165). (Im Folgenden zitiert als Text ohne Noten.) Digressives, so Dembeck, sei an „potentiell […] jeder Stelle des Textes“ zu finden (Dembeck: Text ohne Noten, S. 165), wo es als „vermeintlich Ornamentale[s]“ leicht „zum Figurativen“ avancieren könne (Dembeck: Text ohne Noten, S. 159f.). 169 Professor Hoppedizel, der Gustav abholen und ihn zu Oefel in die Kadettenschule bringen soll, verkleidet sich als Gespenst und geistert im Schloss herum. Gustav, der mit seinem Vater Wache schieben muss, erschrickt sich dermassen über Hoppedizels ‚Gespenstergesicht’, dass ihm vor Furcht bang und schwer ums Herz wird. Dieses Herzweh, so der Erzähler, bereitet ihn indessen auf den Schmerz und die Trauer vor, die er empfindet, als er sein geliebtes Zuhause, seine Eltern sowie seinen Lehrer verlassen muss (I/ 1, 174f.). <?page no="83"?> 83 sern Enthusiasmus als ich selbst? […] Ja legt er [SB: Amandus] nicht in der Begeisterung das Bild ins Gras, um mit der linken Hand Gustav zu fassen […]? - - Das Unglück war, daß sie [SB: Beata] eben selber heraufstieg […]. Eine hastige Bewegung gab ihr das brüderliche Bild, und sie sagte […]: ‚Meines Bruders Porträt! Endlich find’ ichs doch! ’“ (I/ 1, 201f.) Überspränge der Leser diese fragend-ausschweifende Passage und folgte ausschliesslich dem (scheinbaren) Handlungsstrang, könnte er sich nicht erklären, wie das Porträt in die Wiese gelangt ist. Und schliesslich wird an derjenigen Stelle, an der Fenk ‚Jean Paul’ einen „Hypochondrist[en]“ (I/ 1, 370) schimpft, eine „Ausschweif-Rede[]“ (I/ 1, 371) des Doktors gar Wort für Wort zu geschildertem Geschehen: „Ich würde […] den ganzen Winter mit allen seinen Tatsachen überspringen […]: Der gute Gustav verschmerzte den Winter in des Professor Hoppedizels Hause bei seinen Eltern, […] Beata würde zu Hause […] noch mehr sich entblättert und umgebogen haben, wäre mein romantischer Kollege Oefel nicht gewesen […]. Jetzt trinkt sie, auf Fenks Treiben, den Brunnen in Lilienbad und lebt allein mit einem Kammermädchen - […] Ottomar hat den Winter verzankt und verstritten; hat viele Korrespondenz; advoziert wie ich […]. So wäre also der biographische Winter abgetan und weggeschmolzen. - Hast Du soviel geschrieben, […] so reise nach Lilienbad und gebrauche den Brunnen und den Brunnen-Doktor, welches ich bin, und den Brunnen-Gast, welches Gustav ist: denn dieser heilet ohne das Lilien-Wasser und ohne die Lilien-Gegend dort nicht aus; ich muß ihn hinbereden, es mag dort schon sein, wer will.“ (I/ 1, 375ff., Hervorhebungen (fett und kursiv) SB) Die Ideen des Doktor Fenk werden zu substantiellen Handlungseinheiten der Lebensbeschreibung, was an der unmittelbaren Fortsetzung der eben zitierten Passage, in welcher der Erzähler wieder ‚selbst’ das Wort ergreift, ersichtlich ist: „kurz morgen reisen wir, ich und Philippine […]. Gustav wird bloß durch einen Strom von freundschaftlichen und medizinischen Vorstellungen mit fortgeführet und morgen von uns fortgezogen“ (I/ 1, 378; Hervorhebungen (fett und kursiv) SB). Offensichtlich sind die Inhalte der Abschweifungen oder Extrareden in Jean Pauls Texten, obwohl er dies seine Leser glauben machen will, keineswegs für unwichtig zu erachten, da in ihnen zentrale Informationen erstmals erwähnt werden (beispielsweise Oefels Charakter in Fenks Brief), da sie den Fortgang der Handlung entweder allererst generieren oder ihn entscheidend beeinflussen (wie z.B. im Professor-Spass oder in der Ausschweif-Rede des Doktors), ja, da das Geschehen ohne sie lückenhaft und <?page no="84"?> 84 damit nicht nachvollziehbar bleibt (s. des Erzählers Sinnieren über Gustavs Porträt). 170 Somit erhellt, dass Jean Pauls Erzählen ahierarchisch erfolgt: Ungeachtet seiner Äusserungen auf der Ebene des Diskurses, in denen er vorgibt, das für die Handlung Wichtige als solches zu markieren und umgekehrt ausschweifende Reflexionen, subjektive Notationen und dergleichen in Extrablättchen oder Fussnoten zu verbannen, verortet der Erzähler-Autor die für die Entwicklung der Fabel notwendigen Informationen gerade an denjenigen Stellen, die mit der Narration angeblich nichts zu tun haben. Auf der Ebene der Histoire unterläuft er die eigentlich übliche, von ihm auch durchaus proklamierte Textordnung, die verlangt Wichtiges als wichtig und Unwichtigeres als unwichtiger zu kennzeichnen. Mit Roland Barthes gesprochen, müsste man diese Feststellung wohl so reformulieren: Jean Paul bringt die linguistischen Ebenen des narrativen Diskurses durcheinander, indem er Narrationselemente, die es als Kardinalfunktionen zu kennzeichnen gilt, in katalytischen Mäandern versteckt. Bei der Erstellung einer Inhaltszusammenfassung hätte man folglich die diversen Ebenen des Textes zu durchlaufen und die einzelnen handlungsrelevanten Elemente in Textbausteinen, die der Erzähler in Bezug auf den Handlungsverlauf für nebensächlich erklärt, regelrecht zusammenzuklauben. Das Handlungssubstrat müsste sich gegen die (angebliche) Ordnung des Textes durchsetzen, denn in dieser wird nicht zwischen inhaltlich zentralen und inhaltlich marginalen Textpassagen unterschieden. Kardinale, katalytische, indizielle oder informative Textelemente stehen erst einmal seltsam ‚gleichgewichtig’ nebeneinander, sodass man sich bei der Ermittlung des narrativen Kernbestandes vor das Problem gestellt sieht, weder einzelne Elemente weglassen, noch sie alle darin aufnehmen zu können. Das Handlungssubstrat fiele folglich entweder unglaublich nichtssagend oder (obwohl nur dergestalt dem Roman gerecht werdend) viel zu lang und detailliert aus. Walter Höllerer bringt diesen Sachverhalt im Nachwort zur Unsichtbaren Loge folgendermassen auf den Punkt: „[Mit] einer allgemeinen Skizzierung des Verlaufs von Geschichten [ist] bei keinem Autor so wenig gedient […] wie bei Jean Paul“ (I/ 1, 1325). 3.2.2.2 Die Krux des Segmentierens In Ermangelung einer Inhaltszusammenfassung fehlt dem zweiten strukturalistischen Analyseschritt, demjenigen der Segmentierung, eigentlich die Basis. Doch einmal angenommen, man würde argumentieren, Jean Pauls 170 Anhand von Jean Pauls Habitus, in scheinbaren Randbemerkungen offenkundig Wichtiges mitzuteilen, wird eine weitere Parallele zu Laurence Sternes Schreibpraxis ersichtlich: Wellbery hält in Bezug auf den Tristram Shandy fest, dass in ihm „Nebensächliches [oft] die Hauptrolle [usurpiert]“ (Wellbery: Zufall der Geburt, S. 24). <?page no="85"?> 85 Erzählwelt sei zwar zu komplex, zu polymorph und derart mehrfach parallel geführt, als dass man sie ‚sinnvoll’ zusammenfassen könnte (da - wie oben ausgeführt - ein solches Handlungssubstrat entweder nichtssagend oder zu detailliert ausfallen würde), müsste aber dennoch als eine Erzählwelt, die aus Serien von Kleinsthandlungen besteht, dargestellt werden können, so würde man versuchen, im Romantext selbst solch kleine Elementartriaden zu bestimmen. Dies wird die Verfasserin in der Folge zu tun unternehmen. Beginnt man damit, die Unsichtbare Loge in Elementarsequenzen einzuteilen, stellt man fest, dass diese in den seltensten Fällen so nahtlos ineinander übergreifen, wie beispielsweise in den Sektoren drei bis fünf: - Ernestine bringt Gustav zur Welt → übergibt ihn dem Genius → der Genius erzieht ihn in der unterirdischen Höhle - Nachts trägt der Genius Gustav an die Oberfläche → Gustavs Eltern betrachten ihn → der Genius trägt ihn in die Höhle hinunter - Der Genius führt Symbole des Sterbens ein → Gustav findet diese und lernt sie verstehen → die beiden sterben/ auferstehen Weitaus häufiger wird die eine Handlung eröffnende Funktion, ohne weiter entwickelt worden zu sein, ‚abgeschlossen’, oder sie wird zwar weiter entwickelt, aber nicht abgeschlossen. Gleich im Anschluss an die eben angeführten Elementartriaden beispielsweise hebt im sechsten Sektor eine ‚Elementartriade’ an, der nach ihrer Eröffnung der Übergang zu ihrem Ergebnis fehlt: - Der Genius übergibt Ernestine ein Notenblatt mit Fragen für Gustav → [? ? ? ] → ein singendes Wesen singt Antworten Nachdem es Gustavs Mutter übergeben worden ist (I/ 1, 64), wird das angesprochene Notenblatt mit keiner Silbe mehr erwähnt. Der Leser wird sowohl darüber im Unklaren gelassen, wie die sich auf ihm befindlichen Fragen lauten, als auch darüber, ob Ernestine Gustav das Blatt aushändigt, und ob dieser - falls er es erhält - versteht, was der Genius ihm damit sagen will. Rund 350 Seiten später (I/ 1, 417f.) kommt der Erzähler zwar unverhofft wieder auf das Notenblatt zu sprechen, doch kann man seine Bemerkungen schwerlich als gelungenen Abschluss der einst initiierten Elementarsequenz bezeichnen, da diese dem Leser nur noch mehr Fragen aufgeben. Das einzige, was der Erzähler tut, ist, den Leser daran zu erinnern, dass er das Notenblatt schon einmal erwähnt hat: „Ob es gleich schon eilf Uhr nachts ist: so muß ich dem Leser doch etwas Melancholisch-Schönes melden, das eben vorüberzog. Ein singendes Wesen schwebte durch unser Tal […]. Es sang schöner, als ich noch hörte: - - Niemand, nirgends, nie. - - Die Träne, die fällt. - - Der Engel, der leuchtet. - - Es schweigt. - - Es leidet. - - Es hofft. - - Ich und Du! Offenbar fehlet jeder Zeile die Hälfte, und jeder Antwort die Frage. Es fiel mir schon einige Male ein, daß der Genius, der unsern Freund unter der Erde erzog, ihm beim Abschiede Fragen und Dissonanzen dagelassen, deren Antworten und Auflö- <?page no="86"?> 86 sungen er mitgenommen; ich denk’, ich hab’ es dem Leser auch gesagt. Ich wollte, Gustav wäre da.“ (I/ 1, 417f.) Ohne die dazugehörigen Fragen schweben die gesungenen Antworten bezugslos im Leeren und vermögen das Rätsel um das Frage-Antwort-Blatt ebenso wenig aufzuklären, wie die Tatsache nichts zur Erhellung der Angelegenheit beiträgt, dass es Gustav abermals verwehrt bleibt, ‚offiziell’ etwas über das Notenblatt zu erfahren, da er zu dem Zeitpunkt, in dem das „singende Wesen“ vorüberzieht, im Gefängnis sitzt. Ein erstes Beispiel einer nicht abgeschlossenen Elementartriade findet sich im ersten Sektor. Ausgehend vom Haupttext erstreckt sich diese über einen Erzählerkommentar und soll in einer Digression enden - doch wird letztere nie geschrieben. Sie lautet folgendermassen: - Ernestine spielt sehr gut Schach → alle Weiber spielen gut Schach → [? ? ? ] Obwohl der Erzähler verspricht, die Elementartriade „im 20 ten Sektor“ zu beenden, und zwar in einer „schriftstellerische[n]“ „Digression“, in der er erklärt, warum Frauen dieses „Königsspiel“ so gut spielen (alle: I/ 1, 37), bleibt er den Lesern den Abschluss der Sequenz schuldig. So folgt die Aufklärung des Sachverhalts zwar nicht, doch wird an diesem Beispiel erneut ersichtlich, dass in der Unsichtbaren Loge ahierarchisch erzählt wird: Handlungsrelevante Informationen werden sowohl im Haupttext, wie auch in Erzählerkommentaren oder (an dieser Stelle potentiell) in Digressionen platziert. Eine weitere nicht abgeschlossene Elementarsequenz findet sich im sechsten Sektor: - ‚Jean Paul’ ersteigert Gustavs Porträt auf einer Auktion → ‚Jean Paul’ hängt Gustavs Porträt zwischen denjenigen Shakespeares und Winckelmanns auf → [? ? ? ] Obwohl ‚Jean Paul’ Gustavs charakterliche Vorzüge anhand seiner Physiognomie erschliesst und derart zu rechtfertigen versucht, warum Shakespeares sowie Winckelmanns Nachbarschaft für Gustav genau die angemessene ist, bleibt er der Leserschaft diese Rechtfertigung schuldig. Er bricht seine Erzähler-Schilderungen abrupt ab mit dem Hinweis, die Begründung für sein Verhalten nachzuliefern: „Der Leser sollte wissen (es geschieht aber weiter hinten), was mich jetzo nötigt, meinen Sektor plötzlich auszumachen und einzusperren....“ (I/ 1, 70). Da ‚Jean Paul’ es aber - wie gesagt - versäumt, den Sachverhalt explizit aufzuklären, sieht sich die Leserschaft vor die Aufgabe gestellt, im gesamten noch verbleibenden Romantext anhand von Gustavs Betragen eine implizite Erklärung sowohl für dessen noble Wandnachbarschaft als auch für den plötzlichen Abbruch der Erzähler-Schilderungen zu finden. Als ebenso unvollendet und lediglich rudimentär weiterentwickelt erweist sich folgende Sequenz im sechsundzwanzigsten Sektor: <?page no="87"?> 87 - Doktor Fenk berichtet ‚Jean Paul’ Wichtiges über Gustav → (‚Jean Paul’ äussert die Absicht, dem Leser diese Informationen weiterzugeben) → [? ? ? ] Der am Ende der ersten Mumie 171 in Aussicht gestellte Bericht („Der Doktor gab mir über Gustavs Lage viel Licht, das zu seiner Zeit den Lesern wieder gegeben werden soll“ (I/ 1, 231)) bleibt schlicht aus. Trotz des fragmentarischen Charakters der Unsichtbaren Loge darf davon ausgegangen werden, dass die Unabgeschlossenheit der angeführten Elementartriaden durchaus beabsichtigt ist. Wie die oben angeführte, abgebrochene Elementarsequenz - Ernestine spielt sehr gut Schach → alle Weiber spielen gut Schach → [? ? ? ] beispielhaft nahe legt, gehört es zum narrativen Konzept des Autors, Handlungseinheiten nicht zu beenden: Die ‚Schach’-Elementarsequenz, die der Autor im zwanzigsten Sektor zu beenden verspricht, bleibt nämlich bis zum Ende des Romans (der letzte Sektor ist der fünfundfünzigste! ) unvollendet. Sie verbleibt folglich planvoll unvollendet - genauso wie andere Elementarsequenzen bewusst, ohne weiter entwickelt worden zu sein, (nicht) abgeschlossen werden. Jean Pauls Romanerstling ist vollendet in seiner Unvollendetheit - eine „geborne Ruine“ (I/ 1, 13) eben. 172 Als Bemerkung am Rande sei darauf hingewiesen, dass in der Formulierung „Der Doktor gab mir über Gustavs Lage viel Licht, das zu seiner Zeit den Lesern wieder gegeben werden soll“ (I/ 1, 231, Hervorhebung SB) - die Formulierung wurde eben im letzten Beispiel der nicht abgeschlossenen Elementartriaden angeführt - das Motiv des heimlichen Prinzen anklingt. Dieses Motiv thematisiert Jean Paul im Hesperus (vier Fürstensöhne werden, in Unkenntnis über ihre Abstammung, fernab des korrupt-intriganten Hofes erzogen), im Komet (der Apothekersohn Nikolaus Marggraf glaubt, er sei eines Fürsten Sohn, und macht sich auf die Suche, seinen Vater zu finden, um zu seinem Recht zu kommen) sowie im Titan (die Identität des legitimen Thronfolgers Albano wird geheim gehalten, sodass dieser - in der Absicht, ihn später als regulären Herrscher einzusetzen, - inkognito 171 Mit ‚Mumie’ bezeichnet Jean Paul in der Vorrede zur zweiten Auflage der Unsichtbaren Loge die beiden Teile seines Fragment gebliebenen Romanerstlings: „Und so mögen denn diese zwei Mumien […] sich wieder der frühern Zuziehung und Einladung zu den Gastmahlen der Leser zu erfreuen haben! Und die dritte oder Schlußmumie soll nachgeschickt werden […], wenn nicht den Mumien-Vater selber vorher das Schicksal zur grossen Mumie macht. Also im einen und im andern Falle kann es an einer dritten Schlußmumie nicht fehlen“ (I/ 1, 21f.). 172 Auch Gert Uedings Frage in seinen Erörterungen zur Unsichtbaren Loge tendiert zu einer Auffassung von Jean Pauls Romanerstling als einem abgeschlossenen Gebilde: „Jean Paul selber hat den Roman für fragmentarisch ausgegeben, doch ist er es wirklich? Ist nicht der Schluß zwar ebenso vieldeutig wie der Anfang und doch ringkompositorisch auf ihn bezogen? “ (Ueding: Episches Atemholen, S. 69). <?page no="88"?> 88 erzogen werden kann). In der Person Gustavs jedoch findet sich das Motiv des heimlichen Prinzen in der Unsichtbaren Loge lediglich embryonal angelegt: Retrospektiv, d.h. in Kenntnis von Jean Pauls späteren Texten, kann Gustav als ein heimlicher Prinz gelesen werden, der (zumindest teilweise) abseits vom Hof erzogen wird, um ihn zu einem frei denkenden, bürgerliche Wertvorstellungen und Ideale achtenden Menschen heranzubilden. Im Unterschied zu den Protagonisten der eben erwähnten Jean Paul-Romane wird Gustav jedoch nicht als ein durch seine Geburt legitimierter Monarch entlarvt. Was Leser dazu veranlassen kann, in Gustav einen heimlichen Prinzen zu vermuten, sind Tatsachen wie diejenige, dass der Erzähler in der Loge nicht nur vom Stammbaum, sondern auch vom „Stammgebüsch“ (I/ 1, 250) spricht, und damit andeutet, dass im Romanerstling die Verwandtschaftsverhältnisse undurchsichtig gehalten werden. Auch diejenige, dass Gustav alleine deshalb geboren wurde, da es seinem Vater gelang, sich auf betrügerische Art und Weise zu adeln (I/ 1, 47f.), sowie diejenige, dass um die Person seiner Mutter Unklarheit verbreitet wird („ein solcher Schwaden und Sturmwind ist schon am vorigen Freitag über das neue Schloss gesauset und am Sonnabend durch Auenthal und meine Stube gefahren, wo Gustav zerstöret zu mir kam und bei mir Nachricht einzog, ob die Rittmeisterin von Falkenberg, die mit ihrer Mitteltinten-Katze meinen ersten Sektor einnimmt und die bekanntlich Gustavs Mutter ist, ob die - sie wirklich sei ....“ (I/ 1, 314)), nähren diese Vermutung. Gestützt wird diese auch durch Parallelhandlungen, in denen von verschwundenen Kindern - wie beispielsweise Falkenbergs Sohn Guido (I/ 1, 36, 69) oder Ottomars „verlorne[m] Kinde“ (I/ 1, 320) - die Rede ist. Überhaupt wird Gustavs Identität, wie sie in den ersten Sektoren des Romans beschrieben wird, implizit in Zweifel gezogen, wenn es heisst, Gustav gleiche dem Genius (I/ 1, 176), Guido (I/ 1, 68) sowie dem Bruder der Residentin (I/ 1, 353). Ausserdem weiss der Erzähler ‚Jean Paul’ von Oefel, der Gustav zum Helden seines Romans Der Grosssultan machen will, zu berichten, dass dieser „meinen Gustav zum künftigen Erben des ottomanischen Throns auszubilden [wünscht], ihm aber kein Wort davon zu sagen, daß er Grossherr würde - weder im Roman noch im Leben; - er wollte alle Wirkungen seines pädagogischen Lenkseils niederschreiben und übertragen aus dem lebendigen Gustav in den abgedruckten“ (I/ 1, 208). ‚Jean Paul’ vergleicht Gustav sodann explizit mit einem Fürsten, nimmt diese In-Relation-Setzung jedoch sogleich wieder zurück: „Überhaupt schälte ihn [SB: Gustav] der Romanschreiber so eifrig aus seiner militärischen Hülse, daß man, da er, wie Ehemänner und Fürsten, den Zügel öfter im passiven Munde als in den <?page no="89"?> 89 aktiven Händen hatte - hätte denken sollen, er werde gelenkt, um zu lenken; aber ich denk’ es nicht“ (I/ 1, 215, Hervorhebungen im Original). 173 3.3 Das konnotative Ordnungsprinzip „[Eine] Digression der Natur zu sein [scheinen] und doch keine [sein]“ (I/ 1, 37) In einem Text, in dem Handlungsstränge entweder unverhofft abbrechen und nicht wieder aufgenommen werden oder, wenn sie fortgeführt werden, dies erst dutzende oder gar mehrere hundert Seiten nach ihrer Initiierung geschieht, muss der Leser - wie der Erzähler - „einigermassen unzusammenhängend und hüpfend denken [können]“ (I/ 1, 274), so er den Text, in dessen Verlauf sich jede Stelle potentiell auf sämtliche anderen Stellen rückbeziehungsweise vorbeziehen 174 kann, erfassen will. Freilich wird auch in vielen anderen Texten vor- und zurückverwiesen, doch erweisen sich die Stellen, von denen aus nach vorn beziehungsweise zurück geblickt wird, auch für sich selbst genommen als signifikant. Ist es in Erzähltexten meist die Handlung, welche dasjenige Gerüst bietet, an dem sowohl die retrowie auch die prospektivischen Verweise, Andeutungen oder Bezugnahmen Halt finden, verzetteln sich die narrativen Einheiten im Romanerstling Jean Pauls ebenso wie sämtliche anderen textuellen Komponenten. Da die Narrateme sich nicht von den anderen Textelementen abheben, sondern derselben Verweis-Ordnung unterliegen, gelingt es nur schwer, die Verweise der handlungsrelevanten Elemente zueinander in Beziehung zu setzen. Die Handlungseinheiten folgen keiner Chronologie und sind, bedingt dadurch, dass sie (allermeist) weder vom (un)mittelbar vor ihnen 173 Das Motiv des weisen Herrschers bei Jean Paul thematisieren unter anderen: Maximilian Bergengruen: Von der schönen Seele zum guten Staat. Jean Pauls Synkretismus der Empfindsamkeit (Platon, Rousseau, Jacobi). (Im Folgenden zitiert als Synkretismus.), Joseph Kiermeier: Der Weise auf den Thron! Studien zum Platonismus Jean Pauls. (Im Folgenden zitiert als Der Weise auf den Thron.), Müller: Verborgener Prinz, Monika Schmitz-Emans: Die Erfindung des Menschen auf dem Papier. Jean Pauls ‚Unsichtbare Loge’, der Fall Kaspar Hauser und Jacob Wassermanns ‚Caspar-Hauser’-Roman. (Im Folgenden zitiert als Erfindung des Menschen.) und Ralf Simon: Den Tod erzählen. Jean Pauls Thanatologie (‚Titan’). (Im Folgenden zitiert als Tod erzählen.) 174 Mancherorts verweist der Erzähler explizit auf die Tugend des Voraussehens (I/ 1, 399) oder Vorausgestehens (I/ 1, 313f.). Den letzten Sektor, der auf S. 418 beginnt, kündigt er ausserdem bereits auf S. 381 an: „O sollten einmal unsre Tage in Lilienbad auf Dornen sterben, sollt’ ich statt der Freuden-Sektores einen Jammer-Sektor schreiben müssen - wenns einmal ist: so sieht es der Leser daran voraus, daß ich das Wort ‚Freude’ vom Sektor weglasse und statt der Überschrift nur Kreuze mache.“ <?page no="90"?> 90 Geschriebenen motiviert werden, noch in das auf sie folgende überleiten, an der Stelle, an der sie zu stehen kommen, nicht verankert. Dies wurde unter anderem auch daran ersichtlich, dass die sequenzartige Reihe - die minimale Funktionsfolge, wie sie beispielsweise in den Elementarsequenzen gegeben ist, - im Jean Paulschen Romantext auseinander dividiert und über mehrere hundert Seiten verstreut wird. Es ist nicht unüblich, dass sich jedes Element eines Textes in mehrere Richtungen gleichzeitig orientiert und dadurch polysemischen Charakter entfaltet. Im Gegenteil, Barthes zufolge zeichnet gerade dies das Wesen literarischer Texte aus. 175 Deren „Herrschaftssystem des Sinns“, 176 dies führt Barthes in S/ Z aus, basiert auf einer konnotativen Logik. Dabei öffnet die Konnotation, diese „Linie, die sich auf vorhergegangene, spätere oder von aussen kommende Hinweise, auf andere Orte des Textes (oder eines anderen Textes) zu beziehen vermag“, 177 den Text erst zur Mehrdeutigkeit hin. Da die Konnotation textimmanente Verbindungen knüpft und innerhalb des Textsystems vollzogen wird, initiiert sie begrenzt plurale (Ko- )Relationen, die nicht mit subjektiv-assoziativen Gedankenverbindungen verwechselt werden dürfen. 178 Aus beabsichtigten und durchdachten Querverweisen ergeben sich Mehrsinnigkeiten, zu denen der Leser vorzudringen vermag, indem er den konnotativen Spuren im Text folgt. Problematisch gestaltet sich eine derartige Spurensuche aber, wenn die Logik der Konnotation sogar die Handlung in ihren Dienst nimmt - wie dies in der Unsichtbaren Loge der Fall ist. Indem Jean Paul - dies wurde oben gezeigt - die handlungsrelevanten Elemente auf verschiedenen Textebenen verstreut und dabei dort, wo er Wichtiges mitzuteilen vorgibt, Details platziert und umgekehrt an explizit katalytisch markierten Stellen Kardinales vermittelt, nivelliert er die angebliche Differenzierung seiner Textelemente. Jean Pauls Erzählen hebt sich folglich von ‚normalem’ Erzählen ab, da es nicht handlungsorientiert voranschreitet: Die Narrateme sind ebenso wie sämtliche anderen Textelemente einer konnotativen Logik unterworfen. Damit sieht sich der Leser einer grundlegenden Orientierungsmöglichkeit beraubt und vermag die Textbausteine, da diese von den an sie anschliessenden ebenso wie von den ihnen vorangehenden Elementen unüberschaubar weit entfernt liegen, nicht anders denn als willkürlich aneinander Gereihte wahrzunehmen. 179 Da die Jean Pauls Romanerstling 175 Barthes: SemAb, S. 132. 176 Roland Barthes: S/ Z, S. 12. 177 Barthes: S/ Z, S. 12. 178 Barthes: S/ Z, S. 12f. 179 In Bezug auf die Unsichtbare Loge formuliert dies Johann Friedrich Schütze so: „Es gehört, sage ich, zu seinen [SB: Jean Pauls] - Eigenheiten, die ich, statt sie zu loben, zu tadeln mich erdreiste: daß er in mehreren seiner biographischen und romantischen Dichtungen den Faden der Geschichte sehr oft da abreisst, wo sie am interessantesten wird, wo die Spannung des Lesers auf den Ausgang, auf irgendeine Ent- <?page no="91"?> 91 konstituierenden Textbausteine keiner linearen Logik folgen, sondern - aufgrund dessen, dass sie multi-direktional ausstrahlen und sich Ebenen übergreifend miteinander verbinden, - räumlich 180 angeordnet sind, läuft auch die Anwendung strukturalistischer Verfahren, welche - obwohl sie sich von streng finalistisch ausgerichteten Modellen lösen - die Texte auf deren narrative Strukturen reduzieren, ins Leere. Dennoch wagt die Verfasserin die These, dass der Unsichtbaren Loge ein Bauplan zugrunde liegt, welcher den Roman strukturiert. Allerdings muss, so dieser erfasst werden will, eine Analysetechnik gewählt werden, welche in der Lage ist, das Plurale des Textes (seine polyvalenten, unchronologisch aufeinander folgenden sowie gleichrangigen Elemente, die über mehrere Textebenen hinweg zueinander in Beziehung treten) mit zu berücksichtigen. Es gilt, das rhizomartig angelegte Textgeflecht, dieses „Netz mit tausend Eingängen“, 181 freizulegen, in dem sich kein Element als ein-deutig oder in sich abgeschlossen präsentiert, in dem sich vielmehr jede Denotation als Konnotation offenbart. 182 Gesucht werden muss folglich eine Methode, die einen Text nicht primär als erzähllogisches Gebilde begreift, sondern die Pluralität seiner Lektüren erfasst - ein Verfahren also, das der Anlage eines Textes dynamisch-strukturiert begegnet. Einen solchen beweglich-strukturalistischen Ansatz entwickelt Roland Barthes, indem er im Verlaufe seines Schaffens seinen Struktur- und Textbegriff von einem strukturalistischen hin zu einem dynamisch-strukturierten modifiziert. 183 Beeinflusst von den Theorien Kristevas (Intertextuwicklung des verknoteten feinen Ganges aufs höchste gestiegen ist, und den früher gezogenen Faden nie in irgendeinem spätern Werke wieder anknüpft. […] [So auch] in einem von Jean Pauls schönsten und edelsten Geistes-Konzerten, in der ‚Unsichtbaren Loge,’ enthaltend ein Erziehungssistem als Haupt- und durchgeführtes Moment, wo, wenngleich der Kompositeur seine Ursachen haben mogte, warum manches, die dunkle, unterirdische Loge betreffend, im Dunkel bleiben sollte, ihn diese Ursachen nicht beim Leser und bei der Leserin, die ihn lesen und lieben, entschuldigen. Sie wollen, und mit einigem Rechte, irgendeinen Aufschluss über die endlichen Schicksale der so interessanten Menschen, mit denen sie bekannt wurden, und sie erhalten - keinen“ (Sprengel: Urteil, S. 22 [Schütze 1798]). 180 Inwiefern die eindimensionalen, syntagmatischen Bindungen zwischen den Textelementen zugunsten der dynamischen, Ebenen übergreifenden Verknüpfungen, welche die Elemente untereinander eingehen, zurück treten, wird im kommenden Kapitel detailliert erläutert. 181 Barthes: S/ Z, S. 16. 182 „Die Denotation ist nicht die erste aller Sinngehalte, aber sie tut so, als wäre sie es. Mit dieser Illusion ist sie schliesslich nur die letzte unter den Konnotationen (diejenige, die die Lektüre gleichzeitig zu begründen und abzuschliessen scheint)“ (Barthes: S/ Z, S. 13f.). 183 Obwohl Brune mit Verweis auf Culler anmerkt, man solle „bei der Etikettierung eines ‚strukturalistischen’ und eines ‚poststrukturalistischen’ Barthes Vorsicht walten lassen“ (Carlo Brune: Roland Barthes. Literatursemiologie und literarisches Schreiben, S. 135 (Im Folgenden zitiert als Barthes.)), betont auch er, dass man nicht umhin komme, <?page no="92"?> 92 alitätsbegriff) 184 und Derridas (Dekonstruktion) 185 entwickelt er in S/ Z im Anschluss an seine strukturalistischen Arbeiten aus den sechziger Jahren 186 ein „Lektüremodell[,] […] das den strukturalistischen Kontext“ zwar nicht verlässt, „jedoch eine offene, imaginativ-projektiv ausgerichtete Variante des Strukturalismus [beschreibt], die auf literaturwissenschaftlichem Feld der Literarizität von Texten und ihrer Polysemie […] gerecht zu werden versucht“. 187 Barthes führt aus, dass die Erzählung in einem solch pluralen Text zwar „keine[r] Logik“ 188 folge, doch könne das verschlungene Textgeflecht, dieses „Gewebe der Stimmen“, 189 durchaus in eine „produktive Strukturation“ 190 überführt werden. Diese Ordnung ist aber nicht über generative Strukturmodelle zu konstruieren, sondern vielmehr als Netz zu beschreiben, in welchem Sinngeflechte zusammengeführt werden. Jedes Sinngeflecht bildet einen „Code […], eine der STIMMEN, aus denen der Text gewebt ist“. 191 Derart wird der Text auch segmentiert, doch werden die Segmente nicht zusammengefasst und klassifiziert, sondern stehen als „multiple[], diskontinuierliche[] und angehäufte[] Sinngebungen“ 192 nebeneinander. Die Stimmen bestehen aus dem momentanen Gesamt mehrerer Textstellen, und jede Textstelle kann mehreren Stimmen zugeordnet werden. Somit offenbart der Text Sinn nicht nur, indem er linear rezipiert wird, sondern vor allem, indem der Leser es schafft, Leseeinheiten aus dem Textraum zu Stimmen zusammenzuführen. Mit seiner produktiven Textim Verlaufe von Barthes Schaffen ein Umdenken in Bezug auf dessen „Zeichenbegriff[], […] Strukturbegriff[] und […] Textbegriff[]“ (Brune: Barthes, S. 136) zu konstatieren. 184 Ausgehend von Bachtins Modell der Dialogizität von literarischen Texten entwickelt Kristeva ihren Intertextualitätsbegriff, welcher Texte als sprachliche Dynamiken beschreibt, die im Wesentlichen aus zahlreichen Relationen zu anderen Texten bestehen (Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog, der Roman, S. 373). (Im Folgenden zitiert als Bachtin.) Sie nennt „Intertextualität [das] textuelle Zusammenspiel, das im Innern eines einzigen Textes abläuft“ (Julia Kristeva: Probleme der Textstrukturation, S. 255). (Im Folgenden zitiert als Textstrukturation.) 185 In seiner Grammatologie greift Jacques Derrida Barthes dahingehend an, dass er ihm vorwirft, er betreibe eine Semiologie, die „sich nach wie vor am linguistischen Zeichenbegriff de Saussures [ausrichte]. […] Ziel der Grammatologie [sei] es, die für das linguistische und somit auch das semiologische Zeichen konstitutive Binnendifferenz zwischen Signifikat und Signifikant fundamental zu hinterfragen“ (Brune: Barthes, S. 137). 186 Barthes’ Modifizierung seines Struktur- und Textbegriffs widerspiegeln die Erscheinungsdaten seiner Schriften: Auf die Studien Introduction à l’analyse strukcturale des récits (1966), Linguistique et littérature (1968) sowie Structuralisme et sémiologie (1968) folgen S/ Z (1970) sowie Le plaisir du texte (1973). 187 Brune: Barthes, S. 152. 188 Barthes: S/ Z, S. 10. 189 Barthes: S/ Z, S. 25. 190 Barthes: S/ Z, S. 25. 191 Barthes: S/ Z, S. 25, Hervorhebung im Original. 192 Barthes: S/ Z, S. 198. <?page no="93"?> 93 strukturation, wie er sie in S/ Z vorführt, bringt Barthes die Multivalenz des Textes zur Geltung, indem er die Logik der Konnotation nicht zugunsten von strukturierenden Codes aufgibt, sondern sie in diese aufnimmt. Präsentiert wird eine Technik der konnotativen Rezeption, welche zumindest „bis zu einem gewissen Punkt […] die lineare Organisationsform des Mediums Buch [durchbricht]“. 193 Das Paradebeispiel einer nichtlinear zu erfassenden Komposition, während deren Rezeption der Leser ununterbrochen dazu angehalten wird, seine Leserichtung zu wechseln, ja, den Text „blätternd [zu durchqueren]“, 194 stellt schliesslich Die Lust am Text dar. Darin beschreibt Barthes den Text als „Gewebe“, das nicht mit einem „fertigen Schleier“ gleichgesetzt werden darf, „hinter dem sich, mehr oder weniger verborgen, der Sinn […] aufhält“, sondern als „Gewebe“, das „durch ein ständiges Flechten [allererst] entsteht“. 195 An ihm sind nicht sein Inhalt, „nicht die (logische) Ausdehnung […] [oder] die Entblätterung der Wahrheiten“ von Interesse, „sondern das Blattwerk der Signifikanz“. 196 In diesem Text ist Bedeutung nicht gegeben, sondern entsteht im Akt der Rezeption. Das digressive Durch-den-Text-Springen, welches Barthes der Sinngenerierung in Die Lust am Text zugrunde gelegt sieht, erinnert an Jean Pauls Unsichtbare Loge, welcher der Leser keinen Sinn abzugewinnen vermag, so er sie (ausschliesslich) linear rezipiert. Der Schlüssel zum Verständnis dieses Textes, in dem Gedanken nicht fixiert werden, sondern spielerisch neue Wege beschreiten, liegt - so die hier vertretene These - in einem von der Konnotation geleiteten Durch-den-Text-Gehen. Begreift man die Unsichtbare Loge nicht als Textgeflecht, in welchem sich jedes Textelement als mehrdeutig erweist und also in jedem Sinngeflecht, dem es angehört, seine Bedeutung neu zu entfalten vermag, verliert man sich in ihren Windungen - stellvertretend Adolph Freiherr von Knigge: „[Es fällt] gar sehr auf, daß der Verf. [SB: Jean Paul] oft die Gelegenheit, einen witzigen Einfall anzubringen, mit Gewalt herbeiführt und daher Veranlassungen nimmt, von einem Gegenstande auf den andern zu springen, die nicht etwa bloß unerwartet, sondern oft würklich ganz unpassend sind. Sodann zeigt sich durchaus in dem Buche eine nicht sehr gefällige Sucht, immer etwas Ausgezeichnetes, Unerwartetes, Unerhörtes und Bizarres an den Tag zu bringen. […] dann finden sich noch Extrazettel und was der Spielereien mehr sind. Die häufigen Digressionen erwecken nicht die Aufmerksamkeit, sondern die Ungeduld der Leser. […] Vergebens sucht man im ganzen Werke etwas, wodurch der Titel des Buchs erklärt würde. Nur ganz am Ende des zweiten Teils ist die Rede von einer geheimen Verbindung, zu welcher 193 Brune: Barthes, S. 156. 194 Brune: Barthes, S. 158. 195 Roland Barthes: Die Lust am Text, S. 94. (Im Folgenden zitiert als LAT.) 196 Barthes: LAT, S. 19. <?page no="94"?> 94 Ottomar gehört haben soll; allein es sind nur ein paar Worte davon hingeworfen. Warum steht hinter dem Titel jedes Teils noch ein andrer, nämlich ‚Mumien’? Die Vorrede ist der Vorredner genannt, statt Kapitel steht Sector (oder, wie der Verfasser schreibt: Sektor) und diese Sectoren haben noch andre Bezeichnungen von den Sonntagen, an denen sie geschrieben sind.“ (Urteil, 3f.; Hervorhebungen SB) Der Verfasserin Analyse der Unsichtbaren Loge wird die Fragen nach dem Titel, den Untertiteln sowie den seltsamen Zusatzbenennungen der Sektoren klären, indem sie das Wechselspiel von Zeigen und Verhüllen, das Jean Pauls Romanerstling vollzieht, als Tätigkeit eines Textprinzips beschreibt, in dem sich Bedeutung einstellt, wenn aus dem Kontext gelöste Einheiten über Verknüpfungen in ein - wenn auch nicht strukturalistisches - so doch strukturiertes Sinngeflecht überführt werden. Ausgehend von Barthes’ Textverständnis, wie er es in S/ Z zu denken beginnt und in Die Lust am Text performativ illustriert, begreift die Verfasserin Die Unsichtbare Loge als plurales Ganzes, dessen konnotative ‚Geordnetheit’ sie anhand von Kristevas Theorie der Semiologie der Paragramme zu ermitteln unternimmt. In Kombination mit Barthes’ produktivem Kombinieren von Leseeinheiten wird Kristevas Auffassung von einem literarischen Text als „paragrammatische[m] Raster“ 197 eine Möglichkeit darstellen, Jean Pauls alogisches sowie mehrstimmiges Schreiben, seine „Strukturation“ 198 der Unsichtbaren Loge, affirmativ zu beschreiben. 197 Julia Kristeva: Semiologie der Paragramme, S. 174. (Im Folgenden zitiert als Paragramm.) 198 „[W]ir werden unsere ›signifizierende Praxis‹ […] nicht wie eine bereits fertige Struktur untersuchen können, vielmehr wie eine Strukturation, wie ein Apparat, der Sinnquanten produziert und transformiert, bevor dieser Sinn bereits fertig ist und in Umlauf gebracht wird“ (Kristeva: Textstrukturation, S. 244, Hervorhebung im Original). <?page no="95"?> 95 4. Literarische Bilder im paragrammatischen Textraum „[I]n regelloser Symmetrie“ (I/ 1, 382) Nachdem eine lineare Rezeption im vorhergehenden Kapitel für ungenügend befunden wurde, ein angemessenes Verständnis von Jean Pauls Romanerstling zu befördern, wird in diesem Kapitel eine sprunghafte, antilineare Lektüre des Textes vorgeschlagen, anhand derer sein Organisationsprinzip und damit seine Sinnevokationsstrategien offenbar werden. Indem die Verfasserin die Leseeinheiten des Romantextes, welche in ihrem Kontext nur dürftig verankert sind, im Textraum zu Sinngeflechten zusammenführt, wird es ihr gelingen aufzuzeigen, dass sich die Unsichtbare Loge über ihre konnotativen Verbindungen verstanden wissen will. Es wird erhellen, dass sich der Logen-Text aufgrund dessen, dass jedes der dynamisch-räumlich aufeinander bezogenen Textelemente (potentiell unendlich) vielen temporären Sinnverbunden angehören kann, als polyvalenter Textraum erweist. Die „Strukturation“ 199 von Jean Pauls Romanerstling, dessen „sprachliche[] Element[e] […] sich von [ihrem] Ort losreißen und unvorhergesehene Kombinationen eingehen“, 200 wird die Verfasserin mit Kristeva in Anlehnung an Bachtin als „dialogische[]“ 201 zu beschreiben unternehmen. Es wird ersichtlich werden, dass die Leseeinheiten der Unsichtbaren Loge „paragrammatisch[]“ 202 konzipiert sind; d.h., dass sie, die beweglichen Textbausteine, in dynamischen Prozessen zu „Beziehungsbündel[n]“ 203 zusammengeführt werden können, in denen sie je unterschiedliche Bedeutungen entfalten. In einem ersten Schritt wird die Verfasserin nun den Kode ermitteln, welchen sie der Unsichtbaren Loge als Matrix zugrunde gelegt sieht. In einem zweiten Schritt werden die Ausdifferenzierungen dieses Kodes auf der thematischen Ebene analysiert. Es wird zentral sein zu verstehen, dass diese Auslegungen als koexistente, gleichzeitig aktualisierte Sinngeflechte das „paragrammatische[] Raster“ 204 Logen-Text ausmachen. Die Textelemente, welche die Sinngeflechte konstituieren, sind miteinander zudem über vernetzte Kreisschlüsse (Terminus der Verfasserin) verwoben. Derartige 199 Barthes: S/ Z, S. 25, Kristeva: Textstrukturation, S. 244. 200 Wellbery: Zufall der Geburt, S. 35. 201 Kristeva: Paragramm, S. 164, Hervorhebung im Original. 202 Kristeva: Paragramm, S. 164. 203 Kristeva: Paragramm, S. 164. 204 Kristeva: Paragramm, S. 174. <?page no="96"?> 96 vernetzte Kreisschlüsse, welche die a-hierarchischen, konnotativen Verweisspuren des Logen-Textes in ihrer konstruktiven Ordnung zusammenhalten, wird es (als dritten sowie vierten Schritt im Argumentationsfortgang) wiederum auf der thematischen, aber auch auf der motivischen Ebene zu beschreiben gelten. Auf der lexikalischen Ebene schliesslich wird die Ausdifferenzierung des Kodes daran ersichtlich, dass „Worte[] in eine Zwei- oder Mehrdeutigkeit [gespalten werden]“. 205 Indem Wortwendungen über den ihnen konventionell zugewiesenen Sinn hinaus bedeuten, also in mehrere Sinnrichtungen ausstrahlen, partizipieren auch sie am „tabuläre[n] (nicht-lineare[n]) Modell“ 206 Logen-Text. Als erstes folgt nun die Eruierung des Kodes, der das Gerüst für Jean Pauls alogische sowie mehrstimmige Textproduktion bildet. 4.1. Der im Inhaltsverzeichnis versteckte Bauplan „[H]ier unter die Flügeldecken […] die nächsten Reflexionen und die kühnsten Winke versteckt habe[n]“ (I/ 1, 77). Es ist stets eine vergnügliche Angelegenheit, als Einstimmung auf die Lektüre eines Jean Paul-Textes einen Blick auf dessen Inhaltsverzeichnis zu werfen. Erprobte Jean Paul-Leser wird es kaum überraschen in ihm zu erfahren, dass dem veritablen Beginn der Handlung Vorreden, respektive Vorredner vorgelagert, ja, dass Extrablätter, Extrablättchen, Extrazeilen, Extragedanken oder Ähnliches das eigentliche Romangeschehen immer wieder unterbrechen. Gespannt ist man jedoch darauf, welche Kapitelüberschriften sich der Autor hat einfallen lassen. Nicht nur, weil diese Wortkreationen Jean Pauls unnachahmlichen Sprachwitz widerspiegeln, sondern vor allem weil sie (meist) einen ersten - selbstredenderweise verschlüsselten - Hinweis auf die Entstehung des jeweils vorliegenden Textes, auf Jean Pauls Schaffensweise im Allgemeinen oder aber auf thematische Aspekte, die im Text verhandelt werden, geben. 207 Oft erklärt der Autor im Textverlauf, was es mit den Überschriften für eine Bewandtnis hat. So im Hesperus, wo 205 Wellbery: Zufall der Geburt, S. 38. 206 Kristeva: Paragramm, S. 174, Hervorhebungen im Original. 207 Mit seiner Analyse von Bedeutung und Funktion der Kapitelüberschriften in den Flegeljahren liefert Gustav Lohmann wichtige Aufschlüsse über die poetische Intention des Romans. Lohmann widmet sich den komplexen Relationen, welche die Kapitelüberschriften mit den jeweiligen Kapitelinhalten eingehen. Derart vermag er zu zeigen, dass den Kapitelbenennungen ein allgemeines Prinzip zugrunde liegt. S. Gustav Lohmann: Jean Pauls ‚Flegeljahre’ gesehen im Rahmen ihrer Kapitelüberschriften. S. auch: Monika Schmitz-Emans: Alles „bedeutet und bezeichnet.“ Überlegungen zu Jean Pauls Naturalienkabinetten anläßlich Gustav Lohmanns Buch: Jean Pauls ‚Flegeljahre’ gesehen im Rahmen ihrer Kapitelüberschriften. <?page no="97"?> 97 der Autor bedeutet, die „Hundposttage“ hätte er lediglich zu verfassen vermocht, da ihm ein Spitzhund, der in der Funktion eines Postboten agierte, die jeweiligen Informationen für das nächste Kapitel in einer „Kürbisflasche, die ans Halsband gebunden war“ (I/ 1, 507), zutrug. Der Spitz sei jeweils vom Festland zu ihm auf die Insel St. Johannis geschwommen und als ein „Bevollmächtigter“ (I/ 1, 507) eines Korrespondenten, „der sich Knef unterzeichnet“ (I/ 1, 509, Hervorhebung im Original) aufgetreten. Letzterer verspricht dem Autor, ihm, dem „Lebensbeschreiber einer ungenannten Familiengeschichte“ (I/ 1, 508), mit der Zeit alles über die Historie sowie die Personen, deren wirkliche Namen er ihm verheimlicht, mitzuteilen. So setzt denn ‚Jean Paul’ seinen Hesperus stückweise zusammen; unter dem Vorbehalt selbstverständlich, dass ihm „die Wahrheit“ bei der Übernahme des angeblich biographischen Werkes „nur [s]eine Gesellschaftdame, aber nicht [s]eine Führerin sei“ (I/ 1, 509). - Die „Zettelkästen“ im Leben des Quintus Fixlein, um ein weiteres Beispiel zu nennen, paraphrasieren die Eigenheit des Protagonisten, die Geschehnisse aus seiner Kindheit, die ihm seine Mutter mitteilt, auf „kleine[n] Blättern“ festzuhalten und diese „chronologisch in besondere Schubläden einer Kinder-Kommode“ einzuordnen (I/ 4, 83). Diese katalogisierten „Erinnerungszettel“ (I/ 4, 84), welche dem Quintus als Gliederungseinheiten sowie als Quelle zur Verfertigung seiner Lebensbeschreibung dienen, verweisen damit auf Jean Pauls eigene Schaffensgewohnheit, seine umfangreichen Lektüren stichwortartig in Exzerptenheften zu sammeln, um auf der Basis dieser Lesefrüchte seine Textkorpora zu generieren. 208 In der Unsichtbaren Loge nun heissen die Kapitel Sektoren, respektive Sektoren oder Ausschnitte - wenigstens ist dies bis zum Zwanzigsten Sektor der Fall. Vom Einundzwanzigsten Sektor an kommt statt des den Sektor paraphrasierenden Ausschnittes nach dem ‚Oder’ eine eigenständige alternative Kapitel-Beschreibung zu stehen: beispielsweise Trinitatis-, Advents- oder Epiphaniä-Sektor. Diese Benennungen, so die These der Verfasserin, sind nicht zufällig gewählt, sondern bilden ein in sich geschlossenes System, das dem Romantext wiederum als Matrix zugrunde gelegt ist. Die Struktur des Inhaltsverzeichnisses der Unsichtbaren Loge birgt den gesamten Bauplan des Romans in sich: kein thematischer Aspekt, der nicht keimartig in ihr angelegt wäre; kein Wort- oder Bildfeld, das sich nicht aus ihr generiert. Jean Pauls Romanerstling, der sich (dies hat das vorherige Kapitel gezeigt) in kein etabliertes Regelsystem einordnen lässt, entfaltet sein Sinngeflecht ausgehend von einer in der Inhaltsübersicht kodierten, konnotativ angelegten Logik. Sie ist es, die den Text wie ein roter Faden durch- 208 Als weitere nicht numerische Kapitelüberschriften wären unter anderen die „Jobelperioden“ im Titan, des Luftschifffahrers Giannozzos „Fahrten,“ die „Stationen“ im Kampaner Tal, die „Summula“ aus Dr. Katzenbergers Badereise oder die „Judas-Kapitel“ im Leben Fibels zu nennen. <?page no="98"?> 98 zieht und ihm derart - obwohl auf unkonventionelle und nicht strukturalistisch strukturierte Weise - Halt verleiht. Adolph Freiherr von Knigges offen gebliebene Fragen den Titel, Untertitel oder die Kapitelüberschriften betreffend, 209 lassen sich klären, wenn man das Inhaltsverzeichnis als eine kodifizierte Leseanleitung versteht: Dieses Kapitel wird erhellen, inwiefern in jenem die Schlüssel zu den Mumien der Unsichtbaren Loge zu finden sind. Es liegt nahe, die Kapitelüberschrift Sektor mit der Vorstellung eines Kreises zu assoziieren; jenen als einen Teil oder Ausschnitt von diesem zu beschreiben. Die einzelnen Kapitel der Unsichtbaren Loge sind folglich als Teil eines zyklischen Ganzen zu lesen, wobei es beim Begriff ‚Zyklus’ neben der geometrischen Komponente (Kreis) immer auch eine zeitliche (Kreislauf) mit zu bedenken gilt. Einem kirchengeschichtlich geschulten Auge wird ausserdem nicht entgangen sein, dass die oben anzitierten alternativen Bezeichnungen - die Michaelis-, Trinitatis-, Andreas-, Advent-, Weihnacht-, Neujahr-, Epiphaniä-, Septuagesimä-, Sexagesimä-, Esto Mihi-, Invokavit- und Freuden-Sektoren - kirchliche Sonn- und Feiertage bedeuten: Ausschnitte aus den Festkreisen des zyklisch organisierten liturgischen Jahres also. Hinter den Kapitelüberschriften von Jean Pauls Romanerstling, so darf gefolgert werden, liegt das christliche Kirchenjahr verborgen: 210 Die 209 Wie oben erwähnt sucht Adolph Freiherr von Knigge vergeblich nach Erklärungen, wieso Titel und Untertitel von Jean Pauls Romanerstling Die Unsichtbare Loge. Mumien lauten. Auch kann er sich keinen Reim auf die zusätzlichen Bezeichnungen der Sektorüberschriften (beispielsweise Siebenundvierzigster oder Invokavit-Sektor) machen. Die folgenden Analysekapitel werden eine mögliche Antwort auf diese Fragen geben. - Franziska Frei-Gerlach ist der Frage, weshalb sich Jean Paul für diesen Titel entschieden hat, in ihrem Aufsatz Eine ‚Titel-Sonderbarkeit’. Die vierfache Spur der unsichtbaren Loge im Text nachgegangen. Darin diskutiert sie die These, inwiefern die Geheimbundthematik Teil eines umfassenden Geschwisterdispositivs der Loge ist. Frei-Gerlach referiert zudem die Versuche, die in der jüngeren Forschung zur Klärung der Titelwahl unternommen worden sind (Franziska Frei-Gerlach: Titel- Sonderbarkeit, S. 81f.). 210 Jean Paul folgt dem evangelischen Kirchenjahr. Dies ist daran ersichtlich, dass er die Zählung der Sonntage „nach Epiphanias“ (Karl-Heinrich Bieritz: Das Kirchenjahr. Feste, Gedenk- und Feiertage in Geschichte und Gegenwart, S. 81 (Im Folgenden zitiert als Kirchenjahr.)) sowie „nach Trinitatis“ (Bieritz: Kirchenjahr, S. 82) ebenso beibehalten hat wie die Benennungen der Sonntage „Septuagesimae“, „Sexagesimae“ und „Estomihi“ (Bieritz: Kirchenjahr, S. 81). Letztere heissen in der neuen römischkatholischen Zählung schlicht 3., 4. und 5. „Sonntag im Jahreskreis“ (Bieritz: Kirchenjahr, S. 81). - In seinen kalendarischen Angaben hat sich Jean Paul nach dem Jahr 1790/ 91 gerichtet, wie Eduard Berend in seiner Einleitung zur Unsichtbaren Loge anführt: „Mit der ihm in solchen Dingen eigentümlichen pedantischen Gewissenhaftigkeit hat [Jean Paul] sich nun in den Vorarbeiten (Schmierbuch S. 24) notiert: ‚Mondfinsternis 22. Okt.’, womit nur die in der Mitternacht vom 22. und 23. Oktober 1790 eingetretene totale Mondfinsternis gemeint sein kann. Dazu stimmt es nun auch, dass im Roman das alte Jahr (1790) 25 Trinitatis- und das neue (1791) 6 Epiphaniä- Sonntage hat“ (HKA I/ 2, XXX). - Köpke führt die Benennung der Sektoren nach den Kirchensonntagen auf die Absicht des Erzählers zurück, mit seiner Lebensbeschrei- <?page no="99"?> 99 Gliederung des Inhaltsverzeichnisses widerspiegelt die chronologische Abfolge der in diesem begangenen Feiertage. Jean Paul lässt ‚sein’ annus ecclesiasticus allerdings nicht wie traditionell üblich mit dem ersten Advent (dem Sonntag zwischen 27. November und 3. Dezember), sondern zu Michaelis (29. September) beginnen, 211 womit er bedeutet, die Thematik um Christi Auferstehung mehr zu gewichten als diejenige um dessen Geburt. Letzterer kommt ja ihre Signifikanz in der Tat erst durch Jesu Auferweckung von den Toten zu, denn Jesus musste vor allem geboren werden, um zu sterben und aufzuerstehen, um die Menschen zu erlösen und ihnen die Hoffnung auf ein ewiges Leben nach dem Tod zu schenken. An Michaelis nun gedenkt man des Erzengels Michael, 212 der in bung nicht mehr hinter Gustavs Leben hinterherhinken, sondern dessen Erlebnisgegenwart unverzüglich schildern zu wollen. Da ihm aber für seine schriftstellerischen Bemühungen „als Gerichtshalter bei Röper nur die Sonn- und Feiertage […] [bleiben,] nennt er daher seine Sektoren nach den Sonn- und Feiertagen des Kirschenjahres“ (Wulf Köpke: Erfolglosigkeit. Zum Frühwerk Jean Pauls, S. 268.) (Im Folgenden zitiert als Erfolglosigkeit.) - Die Topik des Kirchenjahres bleibt aber nicht auf Jean Pauls Romanerstling beschränkt. Wie Bergengruen zeigt, vollzieht sich auch „Siebenkäs’ Geschichte [nicht nur] als Metamorphose in Einklang mit der Natur[, wird] […] die Entkörperung und die Entwicklung des neuen Körpers der schönen Seele […] [nicht nur] in der Metaphorik organischer Zyklen wiedergegeben“, sondern zugleich in den Zyklus des Kirchenjahres eingebettet. Veränderungen im Lebens- und Liebesfortgang des Protagonisten sind im Siebenkäs entlang der kirchlichen Feiertage angegeben: Nach der Hochzeit im Sommer verläuft Siebenkäs’ Ehe „[b]is Michaelis“ friedlich; „zwischen ‚Martini-Tag’ und Andreas-Tag“ beginnt es zwischen den Eheleuten zu kriseln. Nachdem sich diese emotional endgültig voneinander entfernt haben, spürt der Protagonist „erst in der ‚Osterwoche’“ wieder Frühlingsgefühle - dem „erste[n] Treffen mit Natalie […] am 7.5.1786“ steht nichts mehr im Wege (alle: Maximilian Bergengruen: Schöne Seelen, groteske Körper: Jean Pauls ästhetische Dynamisiserung der Anthropologie, S. 81 FN). (Im Folgenden zitiert als Schöne Seelen.) 211 Trotz des abweichenden Beginns folgt der Autor der chronologischen Feiertags- Ordnung des liturgischen Jahres; und zwar - wie oben erwähnt - des liturgischen Jahres der evangelischen Kirche. In Anlehnung an dieses nennt er seinen ersten Sonntag nach Michaelis den „19. Sonntag nach Trinitatis“ (Bieritz: Kirchenjahr, S. 78). 212 Erzengel (‚erz’ von griech. archè: Anfang, Ursprung; im Sinne von „Vorrang“) sind im Gegensatz zu den ‚gemeinen’ Engeln, die sich jeweils um das Wohl einzelner Menschen kümmern, mit der Vermittlung zwischen Gott und denjenigen irdischen Subjekten, von denen das Wohlergehen vieler Menschen abhängt, beauftragt. Erzengel sind Boten, welche die göttlichen Beschlüsse überbringen, die für Gemeinschaften, Völker oder gar für die ganze Menschheit von Bedeutung sind (Heinrich Krauss: Kleines Lexikon der Engel. Von Ariel bis Zebaoth, S. 67). (Im Folgenden zitiert als KLE.) - Michael (wörtliche Übersetzung des hebräischen Mi-ka-el („Wer (ist) wie Gott? “)) ist in der jüdisch-christlichen Überlieferung der erste unter den Engeln und gilt in seiner Funktion als Seelengeleiter auch als Gebieter über das Paradies. Er führt die Menschen aus dem irdischen Chaos hin in ein Zeitalter des Lichts. Da Michael zum Ende des Erdenlebens in Erscheinung tritt, steht er übertragen auch für den Herbst sowie die Zeit der Ernte (zu letzterem s. Artikel ‚St. Michaelis-Tag’ in Zedler: Universal- Lexicon, Bd. 21, S. 59f.). <?page no="100"?> 100 seiner Funktion als „psychopompos“ 213 die Osterereignisse und damit den Auferstehungstopos anzitiert. Denn der Begriff des Psychopompos 214 drückt die Vorstellung aus, die Seelen der Verstorbenen müssten, um sich nach dem Verlassen ihres Körpers nicht zu verirren, ins Jenseits geleitet werden - je nach Kulturkreis wird der Helfer der Dahingeschiedenen im Jenseits Hermes (Griechen), Thot (Ägypter) oder eben Erzengel Michael (Christen) genannt. Dem Gedenken an den Seelengeleiter Michael ist folglich die Idee eines Lebens nach dem Tod inhärent, welche in der christlichen Vorstellungswelt in Christi Leiden, Sterben und Auferstehung ihren Ursprung findet und derer an Ostern gedacht wird. Als wolle er die zentrale inhaltliche Bedeutung, welche dem Übergangsbereich zwischen Tod und ewigem Leben in der Unsichtbaren Loge zukommen wird, auf struktureller Ebene untermauern, paraphrasiert Jean Paul das Osterfest als einziges der grossen Kirchenfeste auch in den Untertiteln der Sektoren: ‚Auferstehung’ (fünfter Sektor), ‚Abendmahl’ (siebzehnter Sektor) sowie ‚†††††††††’ (Kreuze als Symbole für den Tod im letzten Sektor). Indem er seine Untertitel- Osterparaphrase mit der ‚Auferstehung’, dem die Osterfeierlichkeiten beschliessenden Ereignis, beginnt, spiegelt er zudem den zyklischen Ablauf des Kirchenjahres im Aufbau des Inhaltsverzeichnisses wider. Die Chronologie der Ereignisse, in der sich das ‚Abendmahl’ vor dem ‚Tod’ sowie der darauf folgenden ‚Auferstehung’ ereignet, bleibt nämlich nur dann gewahrt, wenn die Todeskreuze des letzten Sektors als über das Romanende hinaus auf die Auferstehung des fünften Sektors hinweisend verstanden werden. Die Lektüre soll folglich nicht mit dem Todeskapitel beendet, sondern von da aus weitergeführt werden - zumal auch der allerletzte Satz in besagtem Kapitel („Er lebt aber noch! “ (I/ 1, 421)) Fortdauer impliziert. 215 Es wird in der Folge aufgezeigt, dass das im Inhaltsverzeichnis kodierte österliche Gedankengut allen Ebenen des Textes als konstitutives Gerüst zugrunde liegt. Es ist dieser Kode, welcher die thematisch-inhaltliche, motivische sowie lexikalische Ebene sinnhaft konturiert und konstitutiv ist für 213 Heinrich Krauss: Die Engel. Überlieferung, Gestalt, Deutung, S. 73. (Im Folgenden zitiert als Engel.) 214 ‚Seelengeleiter’: Von „griech.: psychopompos - zusammengesetzt aus psyche ‚Seele’ und pompos ‚Geleiter’“ (Krauss: KLE, S. 134). 215 Franziska Frei-Gerlach liest die neun Kreuze, welche die Überschrift des letzten Sektors ausmachen, als Hinweis auf die „Selbstreflexion der Schrift“ (Franziska Frei- Gerlach: Schriftgeschwister: die Rückversicherung des Fragments in Jean Pauls ‚Unsichtbare Loge’, S. 85). (Im Folgenden zitiert als Schriftgeschwister.) Die Kreuze formulieren folglich den Topos des Überdauerns des Todes poetologisch, indem sie „auf das physische Ende der Schrift, zugleich aber auch auf deren Leben jenseits des Schreibprozesses [verweisen]“ (Frei-Gerlach: Schriftgeschwister, S. 85): Die Osterereignisse finden sich in den „Kreuzeszeichen, [dem] Tod des Schreibens und [dem] ewige[n] Leben der Schrift“ (Frei-Gerlach: Schriftgeschwister, S. 85) paraphrasiert. <?page no="101"?> 101 sämtliche Lexien. 216 Zugleich wird erhellen, dass diese bedeutungsvollen Einheiten durch ihr wechselseitiges Rück-, Vorsowie Querverweisen über die Textebenen hinweg Sinngeflechte generieren, welche für das Verständnis des Gesamtzusammenhangs der Unsichtbaren Loge entscheidender sind als die aus der linearen Rezeption des Textes gewonnenen Informationen: Jean Pauls Romanerstling will über dieses Netzwerk an Bezügen verstanden werden, über sich im Raum etablierende, konnotative Verbindungen. Im kommenden Teilkapitel werden drei Ausdifferenzierungen des Kodes auf der inhaltlichen Ebene dargelegt sowie aufgezeigt, wie sie als „Beziehungsbündel“, 217 also als simultan aktualisierte Leseeinheiten, Bedeutung generieren. In seiner derart explizierten polyvalenten, antilinearen und beweglichen „Strukturation“ 218 ist das „tabuläre […] Modell“ 219 Logen- Text, so wird sich zudem zeigen, der mehrschichtigen Totalität Bild affin. Es wird folglich gelten, das in der Unsichtbaren Loge etablierte paragrammatisch geordnete System in seiner bildtheoretischen Signifikanz zu beschreiben. 4.1.1. Veräusserlichung des Kodes auf inhaltlicher Ebene 4.1.1.1 Der an seinem Geburtstag auferstehende Sterbende Auf inhaltlicher Ebene zeigt sich der Auferstehungsgedanke ein erstes Mal in der unvergesslichen Sterbeszene zu Beginn der Unsichtbaren Loge (Lexie ‚Gustavs Auferstehung’), in welcher der Held Gustav zusammen mit seinem Erzieher, dem Herrnhuter Genius, sein „[u]nterirdisches Pädagogium“ (I/ 1, 52) verlässt, um ins irdische Leben einzutreten: 216 Die Verfasserin übernimmt Barthes’ Definition der Lexie, welche eine „Leseeinheit[]“ bezeichnet, die den „bestmögliche[n] Raum [darstellt], in dem man die Bedeutungen beobachten kann“. Barthes zufolge ist die Einteilung des Textes in Lexien ein „willkürliche[r]“ Akt: Diese umfassen „zum Teil einige wenige Worte, zum Teil einige Sätze. […] Lexie[n] und ihre Einheiten [bilden] […] so etwas wie einen facettenartigen Kubus […], der vom Wert, von Wortgruppen, vom Satz oder vom Paragraphen, anders gesagt, von der Sprache, die sein ‚natürliches’ Bindemittel ist, überlagert wird“ (alle: Barthes: S/ Z, S. 18). Diese Textsegmente zeichnet eine grosse Eigendynamik aus: Sie sind nicht fest an ihr kontextuelles Umfeld gebunden, sondern gehen über die Textebenen hinweg Verbindungen miteinander ein. Indem sie den Text derart fragmentarisieren, öffnen sie ihn zur Mehrstimmigkeit hin. Brune umschreibt die Wirkung dieser „Leseeinheiten“ folgendermassen: „Sie halten ihn [SB: den Text] disponibel und rekombinierbar und überführen ihn in eine Bewegung potentiell unendlicher Verwandlungen und Verschiebungen“ (Brune: Barthes, S. 154). Barthes beabsichtigt mittels der „[f]ür jede Lexie systematisch [! ] [ausfindig zu machenden] Signifikate […] [das] Plurale[] [des Textes] […] festzulegen“. Anhand dieser „Sinneinheiten ([dieser] Konnotationen) […] wird versucht, den stereographischen Raum des Schreibens […] aufzuzeichnen“ (beide: Barthes: S/ Z, S. 19). 217 Kristeva: Paragramm, S. 164. 218 Barthes: S/ Z, S. 25; Kristeva: Textstrukturation, S. 244. 219 Kristeva: Paragramm, S. 174, Hervorhebungen im Original. <?page no="102"?> 102 „Der Genius bereitete ihn [SB: Gustav] lange auf die Auferstehung aus seinem heiligen Grabe vor. Er sagte zu ihm: „Wenn du recht gut bist und nicht ungeduldig und mich und den Pudel recht lieb hast: so darfst du sterben. Wenn du gestorben bist: so sterb’ ich auch mit, und wir kommen in den Himmel“ (womit er die Oberfläche der Erde meinte) - „da ists recht hübsch und prächtig.“ […] Der Genius hatte vor, ihn am ersten Junius, seinem Geburttage, aus der Erde zu lassen.“ (I/ 1, 57ff., Hervorhebungen SB) „Vor Sonnenaufgang am ersten Junius (unten wars Abend) kniete der Genius schweigend hin und betete mit den Augen und stummzitternden Lippen ein Gebet für Gustav, das über sein ganzes gewagtes Leben die Flügel ausbreitete. Eine Flöte hob oben ein inniges liebendes Rufen an, und der Genius sagte, selber überwältigt: „Es ruft uns heraus aus der Erde, hinauf gen Himmel; geh mit mir, mein Gustav.“ Der Kleine bebte vor Freude und Angst. Die Flöte tönet fort - sie gehen den Nachtgang der Himmelleiter hinauf - zwei ängstliche Herzen zerbrechen mit ihren Schlägen beinahe die Brust - der Genius stößet die Pforte auf, hinter der die Welt steht - und hebt sein Kind in die Erde und unter den Himmel hinaus......“ (I/ 1, 62, Hervorhebungen SB) Die Szenerie um Gustavs Sterben findet sich in einen sakralen Rahmen eingebettet: Der „Frühling“ steht als „schönste[r] Priester“ an „Gottes Altären, den Bergen[; ]“ der Genius, Gustavs „Schutzengel“ (I/ 1, 54), spricht ein Gebet; eine „Flöte“ hebt als Kirchenmusik „ein inniges liebendes Rufen an“ (alle: I/ 1, 62) und die Sonne steht, an Gottes Statt, glühend am Himmel. Indem der Text Gustavs inszeniertes Sterben als „Auferstehung aus seinem heiligen Grabe“, als Aufstieg „aus der Erde, hinauf gen Himmel“ präsentiert, drängt er den Leser förmlich dazu, mit dieser Szene die Auferstehung Jesu Christi und damit das christliche Osterfest zu assoziieren. Dabei scheint der Text den Todes- und Auferstehungsgedanken, der den wesentlichen Inhalt christlicher gottesdienstlicher Feiern ausmacht, eng mit den Ereignissen um Jesu Geburt zu verbinden: Der Genius, der „sein Kind“ an dessen „Geburtstag“ hinauf zur Erde geleitet, damit es da ein „gewagtes Leben“ lebe, gemahnt an Gott-Vater, der seinen Sohn in die Welt sendet, die Menschen zu erlösen. 220 Die Tatsache, dass er seinen Zögling sogleich 220 Die in der Bibel berichtete Dreifaltigkeit Gottes bezeichnet ein dreieiniges Wesen, das in der Gestalt Gott-Vaters, seines Sohnes Jesus Christus oder in derjenigen des Heiligen Geistes erscheinen kann. Jean Paul übersetzt diese Veräusserlichung Gott-Vaters in seinen wesensgleichen Sohn ins unterirdische Pädagogium, während dessen der Genius Gustavs innere Anlagen seinem (des Genius’) Wesen gemäss geformt, sich in diesem sozusagen einen ihm gleichen Menschen geschaffen hat: „Hier waltete bloß der schöne Genius über den Kleinen und bog jeden knospenden Zweig desselben zur hohen Menschengestalt empor“ (I/ 1, 54). Der Genius erinnert ausserdem allein deswegen an den allmächtigen Gott, da er vom Text denselben Namen zugewiesen bekommt: Gott wird in der Unsichtbaren Loge „Genius des Universums“ (I/ 1, 59) genannt. <?page no="103"?> 103 darauf - während der Aufregung um Gustavs ‚Heimkehr’ - „mit einem sprachlosen Kusse“ (I/ 1, 64) verlässt, verstärkt den Eindruck, seine Rolle erschöpfe sich darin, diesen in die Welt gebracht zu haben. Gustavs Leben nun wird im Verlaufe des Romans immer wieder mit demjenigen von Jesus Christus parallelisiert: Kurz nach seiner eben zitierten „Auferstehung aus dem heiligen Grabe“ wird Gustav entführt und „am dritten Tage“ (I/ 1, 67) wieder gefunden, was einer abermaligen Anspielung auf Christus, der am dritten Tage von den Toten auferstanden ist, 221 gleichkommt oder aber auf das Verschwinden und Wiederauftauchen des zwölfjährigen Jesus im Tempel von Jerusalem anspielt. 222 Wie Jesus zu seinen Jüngern spricht Gustav, das „Himmel-Kinde“ (I/ 1, 109), das „auf der Erde nicht einheimisch sei“ (I/ 1, 285), nach empfangener Erstkommunion belehrend zu den sich um ihn lagernden Kindern (I/ 1, 141f.). Auch wird er explizit mit Christus parallelisiert, wenn es heisst, er spreche zu Regina, „der Braut Christi und seiner eignen“ (I/ 1, 142). Wenn ihm ebendiese „mit der Nadel“ „seine Brust […] zerritzt[]“ (I/ 1, 143), und er selbst andernorts von einem Schmerz, der ihm „wie Dornen in [s]eine verlassene Brust“ (I/ 1, 359) drückt, berichtet, legt der Text die Konnotation mit dem ans Kreuz genagelten, mit einer Dornenkrone sowie Wundmalen versehenen Jesus nahe. Liest man diese Stelle mit Gustavs und Beatas Liebeszene zusammen, werden die Verweise auf den Gekreuzigten noch deutlicher: Gustav legt seine Hand in diejenige von Beata, was der Text mit den Worten „- er wußte nicht, was er nahm -“ kommentiert. Unmittelbar danach wird gesagt, die „Sonne“ lege sich „wie ein Weiser ruhig unter die kühle Erde, […] sie schien wie eine Seele zu Gott gegangen zu sein, und ein Donnerschlag fiel in den Himmel nach ihrem Tode....“ (I/ 1, 395). Die Parallelen 221 „Am ersten Tage der Woche aber kamen sie am frühen Morgen zur Gruft und brachten den Balsam, den sie bereitet hatten. Da fanden sie den Stein von der Gruft weggewälzt. Als sie aber hineingingen, fanden sie den Leib des Herrn Jesus nicht. Und es begab sich, während sie darüber ratlos waren, siehe, da traten zwei Männer in blitzendem Gewand zu ihnen […] [und] sprachen […]: Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten? Er ist nicht hier, sondern er ist auferweckt worden. Erinnert euch, wie er zu euch geredet hat […]: Der Sohn des Menschen muss ausgeliefert werden in die Hände sündiger Menschen und gekreuzigt werden und am dritten Tage auferstehen. Und sie erinnerten sich seiner Worte“ (Bibel: Die Heilige Schrift des alten und neuen Testaments, Luk 24,1-8). (Im Folgenden zitiert als Heilige Schrift.) 222 Diese Anspielung erweist sich schon deshalb als naheliegend, als auch Gustavs Eltern ihren „Zögling des Grabes“ (I/ 1, 66) verzweifelt suchen. - „Und seine [SB: Jesus’] Eltern zogen jährlich am Passafest nach Jerusalem. Und als er zwölf Jahre alt geworden war, gingen sie nach der Gewohnheit des Festes hinauf. Und als sie die Tage vollendet hatten und wieder heimkehrten, blieb der Knabe Jesus in Jerusalem; und seine Eltern wussten es nicht. Weil sie aber meinten, er sei unter der Reisegesellschaft, zogen sie eine Tagereise weit und suchten ihn unter den Verwandten und Bekannten. Und da sie ihn nicht fanden, kehrten sie nach Jerusalem zurück und suchten ihn. Und es begab sich, nach drei Tagen fanden sie ihn im Tempel, wie er mitten unter den Lehrern sass, ihnen zuhörte und sie fragte“ (Bibel: Heilige Schrift, Luk 2,41-46). <?page no="104"?> 104 zu den Passagen in der Heiligen Schrift, die Jesu Folterung und Kreuzigung beschreiben, sind unverkennbar: Der Evangelist Johannes berichtet, dass die „Soldaten […] aus Dornenzweigen eine Krone [flochten] und [sie] Jesus [aufsetzten]“, 223 und weiter, dass „einer der Soldaten […] ihm mit seinem Speer in die Seite [stach]“. 224 Der Evangelist Lukas führt an, Jesus habe, als die Soldaten ihn ans Kreuz nagelten, zu Gott gesagt: „Vater, vergib ihnen! Sie wissen nicht, was sie tun“. 225 Den Moment, kurz bevor Jesus stirbt, beschreibt Lukas so: „Als es Mittag wurde, verfinsterte sich die Sonne, und im ganzen Land war es bis drei Uhr dunkel. Dann riß der Vorhang vor dem Allerheiligsten im Tempel mitten durch. Jesus aber rief laut: ‚Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist! ’ Mit diesen Worten starb er“. 226 Gustav, der, im Glauben gestorben zu sein, weiterlebt, ist es ausserdem nicht möglich, das Leben vom Sterben zu unterscheiden. Der Aufstieg auf die Erde, der rituelle Tod, manifestiert sich für ihn als Leben in der Welt, dem Himmel auf Erden. Nahtlos fliesst das Hinscheiden in der einen Welt in die Existenz in der anderen über. 227 Aufhorchen lässt an dieser Stelle die bis anhin mehrmals formulierte Aufforderung des Textes, ‚sterben’, ‚auferstehen’ und ‚geboren werden’ simultan zu lesen. Dieser Appell, so die These der Verfasserin, ist dabei als Lektüreanweisung für den gesamten Roman zu verstehen: Es wird sich für das Verständnis der Unsichtbaren Loge als fundamental erweisen, sie als einen Text zu begreifen, der sein Fortschreiten im Romangeschehen als Abfolge sich überlagernder Gedankengebilde, die zueinander multi-lateral in Beziehung treten, inszeniert. Der Aufer- 223 Bibel: Die gute Nachricht. Das Neue Testament in heutigem Deutsch, Joh 19,2. (Im Folgenden zitiert als Gute Nachricht.) 224 Bibel: Gute Nachricht, Joh 19,34. 225 Bibel: Gute Nachricht, Luk 23,34. 226 Bibel: Gute Nachricht, Luk 23,44-46. 227 Nicht nur, dass Gustav vom Diesseits ins Jenseits gekommen zu sein scheint. Der Text deutet auch die Möglichkeit einer Ankunft im Diesseits vom Jenseits her, in umgekehrter Richtung also, an. Am Ende des neunten Sektors heisst es: „Der Falkenbergische Reisezug kam in Scheerau abends an, abends, der schönsten Zeit, um anzulangen, daher so viele abends in der anderen Welt anlangen. Gustav scheint schon dort gewesen zu sein, während seiner Entführung“ (I/ 1, 92; Hervorhebungen SB). Oberflächlich betrachtet spricht diese Stelle vom Eintreffen der Falkenbergs an ihrem Zielort Scheerau und der Bemerkung, Gustav sei wohl bereits einmal da gewesen. Letzteres kann im Zuge der vorgängigen Äusserung, Gustav kenne den Weg, der nach Scheerau führt (I/ 1, 88), gelesen werden und mit dieser abermaligen, in die gleiche Richtung zielenden Anspielung den Leser in seiner Vermutung bestärken. Allerdings besteht auch die Möglichkeit, den Teilsatz, „Gustav schien schon dort gewesen zu sein“, auf die Phrase „in der andern Welt“ zu beziehen und diesen folglich als ‚Jenseitskundigen’ darzustellen. Letztere Verknüpfung scheint umso nahe liegender, als der Bezug zu Scheerau erst in der Nachstellung „während seiner Entführung“ realisiert wird, derjenige zur andern Welt aber unmittelbar nach deren Erwähnung, zu Beginn des folgenden Satzes, vollzogen ist. <?page no="105"?> 105 stehungsgedanke beispielsweise wird in mehreren Lexien des Romans aufgegriffen, in einen vom christlichen Gedankengut abweichenden Kontext gestellt, derart kritisch hinterfragt und weitergedacht. Mit jeder Neuerwähnung des Topos werden dabei sowohl alle vergangenen wie auch alle zukünftigen ideellen Konstrukte, die ihn explizieren, mit aufgerufen. Erst ein derartiges simultan gedachtes „Beziehungsbündel“, 228 in welchem die Lexien wie (wissende) Ahnungen als gleichberechtigte nebensowie miteinander existieren, vermag den Gedankenkomplex ‚Fortleben nach dem Tode’, welchen der Roman entwirft, adäquat zu erfassen. 4.1.1.2 Der tote Lebende Eine erste Variation der Lexie ‚Gustavs Auferstehung’ findet sich im Vierunddreissigsten oder ersten Advent-Sektor, in welchem Ottomar von seinem Erlebnis als lebendig Begrabener berichtet (Lexie ‚Scheintoter Ottomar’). 229 Der Titel des Sektors, der vom Advent, dem Beginn der freudigen Wartezeit auf das Kommen des Messias kündet, lässt erwarten, dass sich der lebendig Begrabene über sein wiedergewonnenes Leben freut, dass er dankbar ist, das Geschenk eines Lebens nach dem Tod, welches in der Geburt Christi begründet liegt, bereits zu Lebzeiten erfahren zu haben. Doch vermag sich Ottomar ob seines Wiedererwachens nicht zu erfreuen, da er sich nicht als ein ‚auferstandenes’, sondern als ein nunmehr zu Lebzeiten lebendig begrabenes Subjekt fühlt (I/ ,1 303). Ernüchtert teilt er in seinem Brief an Fenk mit, er habe „mit dem Tode geredet, und [dieser habe ihm] versichert, es gebe weiter nichts als ihn“ (I/ 1, 303). Damit paraphrasiert er denjenigen Gedanken, den Jean Paul am eindrücklichsten in der Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei zum Ausdruck bringen wird, nämlich, dass selbst der Gottessohn den sich im Himmel einfindenden Verstorbenen nichts als die erschütternde Erkenntnis mitteilen kann, dass es Gott-Vater nicht gebe. 230 Anders als diejenigen 228 Kristeva: Paragramm, S. 164. 229 Ottomar wird darauf im Text als „eine auferstandene höhere Gestalt“, als ein Individuum mit einem „beidlebige[n] Körper - als Amphibium zweier Welten“ (I/ 1, 316f.), bezeichnet. - Wirtz zufolge gehören die Szenen um „Gustavs Auferstehung ins Leben […] [und] Ottomar[s] […] Abstieg in den ewiggelebten Tod“ strukturell zusammen: „Der Scheintote im Sarg ist für Jean Paul das notwendige Erzähldoppel seines auferstandenen Antipoden“ (beide: Wirtz: Weltende und Autorschaft, S. 57). 230 In der Rede spricht Christus folgendermassen zu den Verstorbenen: „Es ist keiner. […] Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, soweit das Sein seine Schatten wirft, und schauete in den Abgrund und rief: ‚Vater, wo bist du? ’ aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus Wesen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit <?page no="106"?> 106 Menschen, von denen die Rede berichtet, die Gott im Gebet kontrafaktisch zu erzeugen und sich damit der Illusion der Existenz Gottes hinzugeben vermögen, droht Ottomar an der unerträglichen Gewissheit, dass nach Beendigung seines Lebens lediglich und ausschliesslich der Tod auf ihn wartet, zu zerbrechen. Die Botschaft der Sektor-Überschrift (Erster Advent- Sektor), welche das Warten auf das Fest der Geburt Jesu Christi anpreist, um auf die Erlösung der Menschheit durch dessen Tod und Auferstehung vorauszuweisen, wird auf der inhaltlichen Ebene einer vernichtenden Wende unterzogen: Ottomar erklärt die Feier von Christi Geburt de facto für hinfällig und entlarvt den Glauben an dessen Auferstehung als metaphysische Täuschung. In der Kirche, in der er sich befindet, sind die Gebete längst verstummt (I/ 1, 305). Es hat den Anschein, als bedaure er es, aus seinem „ohnmächtigen Schlummer“ erwacht zu sein, wenn ihm das Leben nunmehr zum Sterben auf Erden verkommen ist. 231 Seit seinem Scheintoderlebnis hat sich sein Leben zu einem angstvollen Warten auf den Tod gewandelt. Ob der Gewissheit, dass auf die peinerfüllte irdische lediglich eine sinnentleerte jenseitige Existenz folgen wird, vermag er die differente Wesenheit der beiden nicht mehr wahrzunehmen; Lebendiges wird ihm zu Totem, Totes zu Lebendigem: Die Menschen scheinen ihm Leichname zu sein (I/ 1, 307), den Tod nimmt er als ein tausendgliedriges Wesen mit Kopf und Knochen wahr (I/ 1, 305). Dieses Gefühl der alles durchdringenden Nichtigkeit bewirkt, dass Ottomar sich selbst derart betrachtet, als ob er lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich. - Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten; denn Er ist nicht! ’ […] [Die] gestorbenen Kinder […] warfen sich vor die hohe Gestalt am Altare und sagten: ‚Jesus! haben wir keinen Vater? ’ - Und er antwortete mit strömenden Tränen: ‚Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater’“ (I/ 2, 273, Hervorhebungen im Original). Statt in einem erfüllten Kosmos finden sich die Dahingeschiedenen in einer gigantischen Maschinerie reiner Entität wieder. Alles, wovon der, von dem sie zu Lebzeiten glaubten, er sei auf die Erde gekommen und Mensch geworden, um sich für sie zu opfern und ihnen damit das ewige Leben nach dem Tode zu sichern, berichten kann, ist sinnentleerte Unendlichkeit. - Götz Müller folgt in seinem Aufsatz „Ich vergesse den 15. November nie.“ Intertextualität und Mehrfachbesetzung bei Jean Paul ausgehend von Jean Pauls Tagebucheintrag von 1790 dessen Reflexionen über Tod und (Nicht-) Wiedergeburt in dessen Gesamtwerk. Er beschreibt Textreihen, in welchen die Konstellation Tod/ (Nicht-) Wiedergeburt in immer neuen Kontexten verhandelt wird - Ottomars Brief an Fenk bildet ebenso wie Die Rede des toten Christus ein Element in diesen Textreihen. (Im Folgenden zitiert als Mehrfachbesetzung.) - In Das Todesproblem bei Jean Paul erläutert Käte Hamburger unter anderen an der Rede des toten Christus, inwiefern die Unmöglichkeit, den Tod erleben zu können, Jean Pauls Lebens- und Weltansicht prägt. - Auf die Entstehungsgeschichte der Rede geht Götz Müller in seinem Beitrag Jean Pauls ‚Rede des todten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei’ ein. (Im Folgenden zitiert als Jean Pauls Rede.) Da findet sich auch eine Auflistung der einschlägigen Arbeiten, die auf die Rede eingehen (Müller: Jean Pauls Rede, S. 105). 231 Insofern ist Fenks Schlusssatz, „Er lebt aber noch“ (I/ 1, 421), als neuerliche Niederlage Ottomars im Kampf gegen das Leben zu lesen. <?page no="107"?> 107 sich ausserhalb seiner selbst befände: „[Ich] redete das Ich an, das ich noch war: ‚Was bist du? Was sitzt hier und erinnert sich und hat Qual? - Du, ich, etwas - wo ist denn das hin, das gefärbte Gewölk, das seit dreißig Jahren an diesem Ich vorüberzog und das ich Kindheit, Jugend, Leben hieß? “ (I/ 1, 305). Sein Wesen ist zerrissen. Er selbst gleicht sich immer mehr dem kalt und starr blickenden Tode an (I/ 1, 305), der sein Leben zu einem substanzlosen Etwas verändert (I/ 1, 306) sowie seine vormaligen Freuden beerdigt (I/ 1, 303) hat. Kein Ding um ihn her vermag ihn mehr als Energievolles oder Lebendiges zu erheitern; was er nicht bereits für tot hält, sieht er dem Prozess der Verwesung unterworfen: „Blätter und Bäume krümmte der Herbst; über die stachlichten Wiesenstoppeln wiegte sich die Blume nicht mehr, die im Maule des Viehs verging; die Schnecke sargte sich in ihr Haus und Bett mit Geifer ein; und als am Morgen sich die Erde mit vollgebluteten fleckigen Wolken gegen die matte Sonne drehte: so fühlt’ ich, daß ich meine vorige frohe Erde nicht mehr hatte, sondern daß ich sie auf immer in der Gruft gelassen.“ (I/ 1, 307) In einer solchen Welt zu überdauern, scheint ihm nur möglich, wenn man seine eigenen Sinne der Aussenwelt gegenüber verschliesst, ihre Zeichen, die einen allenfalls das zukünftige Geschehen erahnen liessen, bewusst übersieht, bis sich schliesslich die Sinnenwelt selbst vor einem zurückzieht. Die Menschen muten Ottomar als sinnlich abgestumpfte Wesen an (I/ 1, 307), zu denen er nicht hinzu gezählt werden will (I/ 1, 308). Der Mann, der stets „an etwas Weites denkt“ (I/ 1, 406), sieht, hört und fühlt mit seinen inneren Sinnen, welche ihn die Existenz eines geheimnisvollen Jenseits erahnen lassen. Damit ihm Ruhestatt, der Ort seiner Auferstehung, nicht zur endgültigen Ruhestätte wird, wandelt er einer höheren zweiten Welt zu, die „etwas anders als eine aufgewärmte, neu aufgelegte Erde“ (I/ 1, 309) sein muss. Auch wenn er sodann angibt, nicht zu begreifen, wie eine solche zweite Welt zu denken sei, und auch wenn seine Idee von ihr, die er zu formulieren vermag, der Vorstellung, die man als christlich gläubiger Mensch gemeinhin vom jenseitigen Leben hat, abschwört, ist sein Suchen nach ihr wenn nicht Aufweis seines Glaubens, so doch Ausdruck seiner Hoffnung, dass auf die irdische eine irgendwie geartete jenseitige Existenz folgt. Aus dem eben Referierten folgt, dass der Auferstehungstopos am Beispiel der Lexie ‚Scheintoter Ottomar’ des vierunddreissigsten Sektors dahingehend eine Wandlung durchmacht, als er in seiner christlichen Form grundlegend in Frage gestellt wird. Ottomar lässt keinen Zweifel daran, seines Vertrauens in ein metaphysisches Heilsversprechen verlustig gegangen zu sein. Er hat den christlichen Positivitätsgedanken, welchen der Roman in der Form einer auf Permanenz gestellten Frage stets mitschwingen lässt, überwunden, indem er ihn zum blossen Ausgangspunkt seiner Jenseitsvorstellungen degradiert. Er, der aus seinem Todesschlaf erwacht <?page no="108"?> 108 ist und diesen somit überdauert hat, sieht sich keineswegs mit einem zweiten Leben beschenkt - im Gegenteil: Der Auferstandene lebt nicht fort, sondern vegetiert in ununterbrochenem Todesbewusstsein dahin. Die christliche Jenseitsvorstellung findet sich auf fundamentale Weise negiert, wenn Ottomar - in der Logik des ‚Jean Paulschen’ Kirchenjahres gesprochen - die Feier der Geburt des Messias noch vor dessen Geburt (Ottomar berichtet sein Erlebnis ja im Ersten Advent-Sektor (I/ 1, 303)) für hinfällig erklärt. Indem er die Existenz Gott-Vaters negiert, befindet er den Lebenszweck des Gottessohnes, der in der Erlösung der Menschheit besteht, für nichtig. Damit erteilt er der Vorstellung einer Fortexistenz nach dem Tode nicht per se eine Absage, doch macht er deutlich, dass diese nicht, wie bisher geschehen, in christlichen Termini gedacht werden kann. 232 4.1.1.3 Die Mumie Eine weitere, wesentlich affirmativere Ausdifferenzierung, die es als gleichberechtigte neben die beiden schon referierten Veräusserungen des Kodes zu stellen gilt, erfährt der Auferstehungsgedanke in Amandus’ Begräbnisszene (Lexie ‚Amandus als Mumie’). Anders als Ottomar oder Gustav stirbt Amandus zwar wirklich, doch spart der Text nicht mit Hinweisen, die sein ‚Fortleben’ indizieren: Bereits Amandus’ „Sterbezimmer“, das als „Sakristei eines unbekannten Tempels, der nicht auf dieser Erde steht“ (I/ 1, 281), vorstellig wird, verweist auf eine jenseitig gelagerte Welt, die nur den Toten zugänglich ist. Auch kündet eine „Flötenuhr“, die unmittelbar nach seinem Tod „ein Uhr“ schlägt und „ein Morgenlied des ewigen Morgens“ (I/ 1, 283) spielt, den Beginn eines neuen Tages an, was als Aufweis dafür gelesen werden kann, dass mit seinem Dahinscheiden für Amandus eine neue Zeitrechnung anbricht. Diesen Gedanken weiter spinnend beschreibt der Text seinen Sarg als „Samen einer schönern Erde“ (I/ 1, 285), den Tod folglich als Keimzelle neuen Lebens. Amandus erscheint als bloss „Eingeschlafne[r]“ (I/ 1, 183), der, nachdem er sich im „Winterlager für seine Gebeine“ (I/ 1, 284) ausgeruht hat, im Frühling zu neuem Leben erstarkt. Seine Todesstunde gibt Anlass, „die Kahlheit dieses Lebens und das Bedürfnis eines zweiten so lebendig [zu fühlen], daß das Bedürfnis feste Hoffnung wird“ (I/ 1, 284). Anders als nach derartigen Textzeugnissen zu vermuten ist, sind aber keine christlichen, sondern ägyptische Jenseitsvorstellungen mit Amandus’ Begräbnis konnotiert: Begraben wird er nämlich in einer „Pyramide“ (I/ 1, 286), was es nahe legt, sich seinen Leichnam als mumifiziert und ihn selbst als Mumie zu denken. Der Eindruck, Amandus werde als Mumie vorstellig, verstärkt sich, wenn der Erzähler 232 Beispielsweise Müller weist darauf hin, dass bei Jean Paul an „die Stelle der positiven Religion […] das Bedürfnis [getreten ist,] […] die Unsterblichkeit […] außertheologisch plausibel zu machen“ (Müller: Jean Pauls Rede, S. 108). <?page no="109"?> 109 ihn, den Dahingeschiedenen, in Trauer als „Lilien-Mumie“ (I/ 1, 286) bezeichnet. 233 Der mumifizierte Körper versinnbildlicht nach altägyptischem Glauben unter anderem das aus dem Tode neu erstehende Leben und gilt somit als Garant für eine Fortexistenz im Jenseits. Ursprung dieses Glaubens ist der Mythos um das Todesschicksal des Gottes Osiris, 234 der im alten Ägypten als Schöpferkraft der Sonne verehrt wird. Ihm ist zusammen mit seiner Schwester und Gemahlin Isis, welche die Schöpferkraft des Mondes personifiziert, die Herrschaft über Ägypten anvertraut. 235 Als Osiris nach seinem Auszug in die benachbarten Länder, die er nach ägyptischer Sitte zu kultivieren gedenkt, zurückkehrt, wird er durch eine List seines ihm feindlich gesinnten Bruders Typhon (Seth) ermordet. Dieser zerteilt Osiris’ Leichnam in 26 236 Stücke und verstreut sie weitum. Anubis, der Sohn der Ge- 233 Jean Paul hat sich intensiv mit Ägypten und dessen Kultur auseinandergesetzt. So lässt sich dank Müllers Werk Jean Pauls Exzerpte etwa nachweisen, dass er neben Johann Gottfried Herders Ältester Urkunde des Menschengeschlechts (Müller: Exzerpte, S. 97) und Zedlers Grossem vollständigen Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste (Müller: Exzerpte, S. 145ff.) auch Herodots Historiarum Libri (Müller: Exzerpte, S. 123), Diodor Siculus’ Bibliothecae Historicae (Müller: Exzerpte, S. 123), Plutarchs De Iside et Osiride (Müller: Exzerpte, S. 136), Aurel Macrobius’ Saturnalia (Müller: Exzerpte, S. 126), Richard Pococke’s Beschreibung des Morgenlandes und einiger anderer Länder (Müller: Exzerpte, S. 124), Claudius Aelianus’ Varia Historia und De Natura Animalium Libri (Müller: Exzerpte, S. 139) sowie Apuleius’ Der Goldene Esel (Müller: Exzerpte, S. 133) rezipiert hat. Aus seinen Exzerpteinträgen, welche dank der Würzburger Arbeitsgruppe um Helmut Pfotenhauer elektronisch zugänglich gemacht wurden, geht hervor, dass er zudem mit Athanasius Kirchers Sphinx mystagoga sive diatribe hieroglyphica de mumiis (Jean Paul: Exzerpte online, IIb-15d-1789-0387, IVa-05-1789-0146), Pierio Valerianos Hieroglyphica, sive de sacris Aegyptiorum (Jean Paul: Exzerpte online, IIa-09- 1785-1786-0730), Horapollos Hieroglyphenbuch (Jean Paul: Exzerpte online, IIa-08-1785- 0501, IIa-09-1785-1786-1113) sowie Monboddos (James Burnetts) Des Lord Monboddo Werk von dem Ursprunge und Fortgange der Sprache (Jean Paul: Exzerpte online, IIa-08- 1785-0547, V-BVA-02-1781-1786-0174) vertraut gewesen ist. 234 Plutarch: De Iside et Osiride, 12-21. - Jan Assmann zufolge dient der „Gott Osiris [als] […] Urbild“ (Jan Assmann: Re-Membering Osiris: Vom Totenkult zur kulturellen Erinnerung, S. 48 (Im Folgenden zitiert als Osiris.)) des ägyptischen Totenrituals, während dem der Leichnam mittels Einbalsamierung sowie Mumifizierung nicht nur konserviert, sondern auch der Tote als „Person unter den Bedingungen des Gestorbenseins [wieder hergestellt wird]“ (Assmann: Osiris, S. 46). 235 Plutarch: De Iside et Osiride, 52. 236 Zedler berichtet im Artikel ‚Anubis’ von 40 (Zedler: Universal-Lexicon, Bd. 2, S. 734), im Artikel ‚Isis’ von 26 Körperstücken (Zedler: Universal-Lexicon, Bd. 14, S. 1368). Jan Assmann weist unter Berufung auf Plutarch (Plutarch: De Iside et Osiride, 18) darauf hin, dass es sich um „42 Glieder des Osiris handelt“ (Assmann: Osiris, S. 74). Die Zahl 42 erlangt anlässlich des höchsten ägyptischen Festes, der ‚Osiris-Mysterien’, zentrale Bedeutung, da in ihm der Einbalsamierungsmythos eine semantische Ausdehnung erfährt (Assmann: Osiris, S. 72). Die 42 Glieder entsprechen da „den 42 Gauen des Landes“, sodass der „wiedervereinigte und zu einer beseelten Ganzheit reorganisier- <?page no="110"?> 110 schwister Osiris und Nephthys, 237 macht sich auf Geheiss von Isis auf, die Teile des Leichnams zu suchen und ruht nicht, bis er alle gefunden hat. In seiner Funktion als Priester mumifiziert er Osiris, als ersten Leichnam überhaupt, und fügt ihn dieserart wieder zu einem Ganzen zusammen. 238 Als Sinnbild der Fruchtbarkeit im Tod zeugt Osiris mit Isis post mortem einen Sohn, Horus, der ihn rächt. Horus erbt Osiris’ Thron auf Erden, derweil dieser zum Herrscher über die Unterwelt ernannt wird. Osiris’ Tod, der dank der Balsamierungskunst sowie den Totenriten des Anubis kein te Leib des Gottes […] das Symbol für die rituell verwirklichte Zielgestalt Ägyptens als politischer und kultureller Einheit [bildet]“ (Assmann: Osiris, S. 74). 237 „Osiris hatte zwey Schwestern, die älteste hieß Isis, und war zugleich seine Gemahlin, die jüngste aber war die Naphthys, von welcher Anubis gebohren ward“ (Zedler: Universal-Lexicon, Bd. 2, S. 734). 238 Zedler: Universals-Lexicon Bd. 2, S. 733f. - Anubis ist die Fürsorge für die Toten anvertraut, was ihm die Beinamen ‚Bestatter’ oder ‚der an der Spitze der Gotteshalle ist’ einbringt. Er ist mit der Versorgung des Leichnams sowie mit der Balsamierung desselben betreut. Anubis gilt als Balsamierer des Osiris (ÄgypLex, S. 327-333). Neben Anubis, dem göttlichen Balsamierer, wird auch Isis als diejenige angegeben, welche „die einzelnen umhergestreuten Theile wieder zusammensuchte“ (Max Uhlemann: Handbuch der gesammten aegyptischen Alterthumskunde, S. 160f.). (Im Folgenden zitiert als HäA.) Bei Zedler findet sich sowohl die Version, in der Isis die Leichenteile „mit grosser Sorgfallt wieder zusammen[trug], […] sie auf eine besondere Art auf[hub], und, da sie durch Beyhülffe ihres Sohns, des Hori, den Typhonem überwunden und zu gebührender Straffe gezogen hatte, verordnete […], dass Osiris göttlich sollte verehret werden“ (Zedler. Universal-Lexicon, Bd. 14 S. 1368), als auch diejenige, in der Anubis „nicht nach[liess], dieselben [SB: die Körperteile] nach der Isidis Verlangen wiederum aufzusuchen, bis er sie auch endlich alle zusammen gebracht, wobey er sich als einen rechten Spühr-Hund erzeigte. So scheinet er auch darneben ein Priester gewesen zu sein“ (Zedler: Universal-Lexicon, Bd. 2 S. 734) und als solcher der Mumifizierung mächtig (Uhlemann: HäA, S. 315). Frei-Gerlach deutet das Bildfeld der Mumie, das aus (Körper-)Teilen zusammengefügte Ganze, als Autorschaftsmodell. In ihrer Engführung von Körper und Text überträgt sie die Vorstellung der Ägypter, die im Osiris-Mythos ihren Ursprung hat und folglich die Überzeugung ausdrückt, die Toten seien in ihre Gliedmassen zerstreut und erlangten erst durch das Ritual der Mumifizierung ewig dauernde Ganzheitlichkeit, auf das Verhältnis von Textteilen, Fragment(ganzem) sowie der Geschwisterbeziehung zwischen ‚Jean Paul’ und Philippine in der Unsichtbaren Loge (Frei-Gerlach: Schriftgeschwister, S. 101). Das verfeindete Brüderpaar Seth und Osiris wird als „Urheber und Textkörper“ (Frei-Gerlach: Schriftgeschwister, S. 103) des Fragment gebliebenen Romanerstlings vorstellig; Philippine, die den Part der Isis übernimmt, bleibt es vorbehalten, die dissonant nebeneinander stehenden Textteile zusammen zu leimen: Sie ist es, die im Roman des Öfteren „die Feder für den Bruder“ (I/ 1, 418) übernimmt und „die Bruchstellen kittet“ (Frei-Gerlach: Schriftgeschwister, S. 93). Indem Frei-Gerlach den Romanuntertitel Mumien allegorisch liest, wird der „Textkörper als membra disiecta des Bruders lesbar, die [erst] durch die Schwester zu einem dauerhaften Ganzen zusammengefügt werden“ (Frei-Gerlach: Schriftgeschwister, S. 103, Hervorhebung im Original). Es ist also ein „Geschwistermythos“ (Frei- Gerlach: Schriftgeschwister, S. 99), aus dem die „geborne Ruine“ (I/ 1, 13) ihre Legitimation bezieht, ganzheitliches Kunstwerk zu sein. <?page no="111"?> 111 endgültiger bleibt, versinnbildlicht für die Ägypter fortan die Fortdauer des Lebens über den Tod hinaus. 239 Die Begräbnisszene um Amandus widerspiegelt nun den Bestattungsvorgang, welcher erstmals an Osiris und sodann an jedem Verstorbenen vollzogen wird. Die Beisetzung der Mumie im „weiße[n] Sarg“ (I/ 1, 285), die in einer „Pyramide“ zur letzten Ruhe gebettet wird, erinnert an jenen Ort in „Egypten“, der „wie ein großer Kirchhof aus[siehet], und mit vielen Pyramiden gezieret [ist, wo man] […] unter der Erde viele in weiße Stein- Brüche ausgehauene Gewölber oder Begräbnis-Gemächer“ sowie „Menschen-Mumien“ findet. 240 Die Formulierung, Amandus’ Leichnam fungiere als „Seelen-Scheide“ (I/ 1, 287) sowie seine Seele fliege nach dessen Tod „auf der breiten, durch alle Sonnen gehenden Lichtstraße“ (I/ 1, 283), greift ausserdem die Auffassung der Ägypter auf, der Geist eines Leichnams, der von den Gottheiten nach eingehender Prüfung für selig befunden wird, fliege gen Himmel. 241 Die Ägypter glauben an eine „Wanderung der Todten“ sowie daran, dass diese „wieder in ihren eigenen Leib“ zurückkehren werden - es gilt also, letzteren unversehrt zu halten, damit er „unter dem Schutz der Götter [stehe], [sodaß die Seele] ihren Einzug auf das neue halten, und in einen höhern Himmels-Kreis gesetzet werden [könne], so lange, bis sie alle Himmels-Kreyse durchgereiset wäre, und endlich in ihr Urbild, damit sie selig und unveränderlich leben möchte, wieder verändert werde[]; dabey glaubten sie [SB: die Ägypter], daß die Seelen der Gottlosen bey den Gräbern herum schwebeten, und auf einen Leib lauerten darein sie fahren könten; darum […] balsamirten [sie] die Leichen, damit die Seelen nach ihrer Verhausung eine würdige Wohnung finden möchten, und nicht in die Leiber der Thiere fahren dürfften […]; denn sie glaubten feste, daß die Seelen in keine Leiber führen, so der Verwesung unterworffen, oder zu Asche worden wären.“ (Zedler: Universal-Lexicon, Bd. 2, S. 740) Das Verfahren der Mumifizierung, die den Leichnam vor dem Zerfall bewahrt und ihm Fortdauer verleiht, kommt dabei in einem ersten Schritt einer regelrechten Entleerung des toten Körpers gleich: „Erstlich ziehen sie mit einem krummen Eisen das Gehirn durch die Nasenlöcher aus dem Haupte, und füllen den Schedel mit wohlriechenden Specereyen wieder an; darnach wird der Leib mit einem scharffen Stein geöffnet, das Eingeweide bis auf das Herz und Nieren nach, herausgenommen, mit Wein ausgewaschen, und der Leichnam mit bester Specerey von lieblichem 239 Für weitere Informationen zum Ringen der Ägypter um die Unsterblichkeit der Seele, der Rolle von Grab, Sarg und Mumie als Garanten ewiger Fortdauer sowie den Ideengebilden um die Aufhebung des Todes, s. Jan Assmann: Tod und Jenseits im Alten Ägypten (Im Folgenden zitiert als Tod und Jenseits.) sowie Klaus Koch: Geschichte der ägyptischen Religion, S. 76-106. (Im Folgenden zitiert als GäR.) 240 Zedler: Universal-Lexicon, Bd. 2, S. 736, Hervorhebungen SB. 241 Zedler: Universal-Lexicon, Bd. 2, S. 738. <?page no="112"?> 112 Geruch, als Cassia und Myrrhen ausgefüllt, und wieder zugenehet und folgends 70 Tage lang mit Salz eingebeitzet. Nach dem 70 Tage wird der Leib gewaschen, und in reine und zarte Leinwand, welche in einen gewissen von allerhand Specereyen gemachten Safft eingetuncket worden, gewickelt, und abermals mit Hartz und Specereyen bestrichen.“ (Zedler: Universal-Lexicon, Bd. 22, S. 739) Der Erzähler der Unsichtbaren Loge legt nun nahe, dass Amandus’ Leichnam mittels einer derartigen Präparierung zu einem vor Fäulnis sowie Verderbnis bewahrten Leib mumifiziert worden ist, wenn er dessen „Körper [als] ausgeleert“ (I/ 1, 283), also als einen sich im Prozess der Balsamierung befindlichen, beschreibt. Auch werden Amandus während seiner Beisetzung unter Trauer Opfergaben dargebracht und Grabbeilagen mitgegeben: „[D]er durch den Abend hindurch blinkende weiße Sarg wurde herausgehoben - eine entzweifallende Rose, eine durchlöcherte Puppe, ein sich ausspannender Schmetterling242, der jene als Würmchen zernagt hatte, waren auf die Sargpuppe gemalet und kamen mit ihren beiden Urbildern unter die Erde - der kinderlose Vater stützte sich mit Hand und Kopf an die Pyramide und hörte hinter seinen verhüllten Augen jede Erdscholle wie den Flug eines niederbohrenden Pfeiles.“ (I/ 1, 285f., Hervorhebungen SB) Damit ist die Beisetzung gemäss altägyptischer Bestattungszeremonie, welche die Jenseitsexistenz des Dahingeschiedenen allererst ermöglicht, ritualgerecht vollzogen: Auf die Balsamierung erfolgen die Beisetzung in einem dauerhaften Grabbau (Amandus wird in eine Pyramide gelegt) sowie der Opferkult (er wird mit Gaben beschenkt, die ihm im Sarg mitgegeben werden, damit er in seinem jenseitigen Leben von ihnen Gebrauch machen kann). Auf ein interessantes Detail stösst man, so man dem Umstand, dass „die Sargpuppe [be]malet“ (I/ 1, 285) ist, Beachtung schenkt. Bei den Ägyp- 242 Stephan Pabst spricht in Bezug auf die Mumie und den Schmetterlingskokon (i.e. die Puppe) von einer Hüllenmetaphorik, welche in beiden Fällen „eine Anwendung der physiognomischen Innen-Außen-Dichotomie erlaubt, […] [wobei] das zeitliche Verhältnis zwischen Ich und Hülle, Innen und Außen jeweils unterschiedlich strukturiert [wird]. Im Fall der Mumie ist die Hülle auf Dauer gestellt und birgt einen Toten. Im Fall der Puppe ist die Verhüllung vorläufig und birgt ein neues Leben“ (Stephan Pabst: Fiktionen des inneren Menschen, S. 194). - Bergengruen unterscheidet mit Verweis auf die Paracelsus-Schule im 17. Jahrhundert zwischen der „körperliche[n]“ und der „himmlische[n] oder geistliche[n] Mumie“, die er mit Jean Pauls Leib-Seele- Theorie enggeführt sieht (Bergengruen: Schöne Seelen, S. 49). Die „himmlische Mumie“ stellt das „ätherische Bindeglied zwischen Materie und Seele“, die „körperliche Mumie“ wird mit dem „Nervengeflecht“ gleichgesetzt (Bergengruen: Schöne Seelen, S. 49). Vor allem die schönen Seelen Beata, Amandus und Gustav haben mit der krankhaften „Mumienhaftigkeit der Nerven“, d.h. mit deren hart und brüchig Werden, zu kämpfen (Bergengruen: Schöne Seelen, S. 51). <?page no="113"?> 113 tern erfüllen Darstellungen und Texte an den Grabwänden sowie auf den Mumienbinden vor allem den Zweck, dem Dahingeschiedenen das nötige Wissen über seine jenseitige Existenz zu vermitteln, damit dieser Hürden, die sich ihm in den Weg stellen, zu überwinden vermag und schliesslich Erlösung vom Tod erfährt. 243 Ein Textkorpus, welcher den Toten mitgegeben, an die Wände ihrer Grabkammern oder aber auf ihre mumifizierten Körper gemalt wird, um ihnen das Geheimnis der Lebenserneuerung im Tode mitzuteilen, sind die Unterweltbücher. Sie schildern die mannigfaltigen Vorstellungen, welche sich die Ägypter vom Schicksal der Menschen nach dem Tod gemacht haben. Eine Jenseitsvorstellung berichtet von der zwölfstündigen Nachtfahrt des Sonnengottes Re, dem sich die Verstorbenen anschliessen, um am Wunder seiner Regeneration Anteil zu haben. 244 Das älteste Unterweltbuch, das dieses Gedankengut überliefert, ist das Amduat, 245 dessen ursprünglicher, „ägypt. Titel zš n c t-jmnt ‚Schrift des Verborgenen Raumes’ lautet“. 246 Die Nähe dieses Namens zu Jean Pauls Ro- 243 Sehen die Ägypter im Tod kein Ende, keinen Abbruch des Lebens, so doch einen schwer zu bewältigenden Übergang. Der physische Tod entspricht dem Übertritt ins Jenseits. Er wird möglich, wenn die Hinterbliebenen den Angehörigen ritualgerecht bestatten, und wenn des Verstorbenen Taten vor dem Totengericht positiv bewertet werden. Der ‚zweite Tod’ kommt einer endgültigen Verdammnis gleich. Er tritt ein, wenn der Tote vor Gericht den Test der Wägung des Herzens nicht bestanden hat (Andreas Schweizer: Seelenführer durch den verborgenen Raum. Das ägyptische Unterweltsbuch Amduat, S. 231). (Im Folgenden zitiert als Seelenführer.) 244 Re durchfährt - dem Sonnenlauf getreu von Osten nach Westen - am Tag den Himmel in seiner Barke. Am Westhorizont (in der Nacht) taucht er in die Unterwelt hinab. Die Fahrt ist gefährlich; überall lauern dämonische Wesen, deren Ziel es ist, alles aufkeimende Leben zugrunde zu richten. Am tiefsten Punkt, zur sechsten Nachtstunde, ist die mythische Weltgrenze erreicht. Hier stellt sich das Nichtsein am lebensbedrohlichsten dar, doch berührt es auch eine rettende Sphäre: Denn an derselben Stelle liegt der Sonnenleichnam, der zugleich der Leichnam des Osiris ist. Da ereignet sich das Wunder der Vereinigung des Sonnengottes mit dem Beherrscher des Totenreichs, das die Erneuerung allen Lebens und die Wiederherstellung der Ganzheit bewirkt. Die Weiterfahrt dem Osttor entgegen verläuft keineswegs gefahrenfrei, doch gelingt es, alle Feinde zu besiegen. Die Stunden des Aufstiegs repräsentieren den Regenerationsprozess der gesamten Schöpfung. Bevor die Sonne, der zum Kind verjüngte Sonnengott, wiedergeboren zu erstrahlen vermag, muss sie in der zwölften Nachtstunde noch einmal in Tiefe Finsternis eintauchen und eine ungeheuer grosse Unterweltschlange von deren Schwanz zum Maul hin durchziehen (Schweizer: Seelenführer, S. 29-31). 245 „Dieser Name ist eine moderne Wiedergabe des ägyptischen jmj-dw’t ‚(Buch dessen,) was in der Unterwelt ist’, einer Bezeichnung für alle derartigen Jenseitsführer“ (Burkhard Backes: wibilex, Artikel ‚Unterweltvorstellungen und Jenseitsliteratur (Ägypten)’). - „‚Das (Buch von dem), was in der Dat ist’ bezeichnet eigentlich die ganze Gattung der Unterweltsbücher des NR (Jenseitsführer). Spezieller hat sich der Name für das älteste dieser Bücher eingebürgert, dessen ägypt. Titel […] ‚Schrift des Verborgenen Raumes’ lautet“ (ÄgypLex, S. 184). 246 ÄgypLex, S. 184. <?page no="114"?> 114 mantitel Die unsichtbare Loge. Mumien. ist frappant. Dies umso mehr, als das Wort ‚Loge’ in der Bruderschaft der Freimaurer zur Bezeichnung desjenigen Raumes verwendet wird, in dem sie sich regelmässig versammeln. 247 Doch nicht nur der Titel, auch der Inhalt der Unsichtbaren Loge scheint keimartig im Verborgenen Raum angelegt zu sein: Das Thema der Schrift, die Vereinigung des Sonnengottes Re mit dem mumifizierten Leichnam des Osiris als Sinnbild für das Wiederaufleben im Tode, liegt dem Roman in der Form des christlichen Auferstehungstopos nicht nur als strukturelle Matrix zugrunde, sondern differenziert sich auch auf dessen inhaltlicher Ebene mehrfach aus. In dieser literarischen Referenz des christlichen auf das altägyptische Gedankengut spiegelt sich der historische Übergang der beiden Glaubensrichtungen, der sich weitgehend kontinuierlich vollzogen hat. 248 So klingt in der Botschaft vom Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi in vielerlei Hinsicht das Osirisschicksal an: 249 Obwohl der in unbestimmter Zeit spielende Mythos um den Unterweltgott durch einen der historischen Vergangenheit angehörigen Mann ersetzt wird, dessen Auferstehung aus dem Grab sich nicht in rhythmischer Folge erneuert, sondern einmalig erfolgt und für immer gilt, wird Jesus wie Osiris verraten und umgebracht, bevor er aufersteht. Beide Schicksale stellen den Prototyp des Jenseitsglaubens in der jeweiligen Religion dar: Jesus ebenso wie Osiris versprechen dem Verstorbenen körperliche Integrität sowie ein ewiges Leben; auch wenn in der ägyptischen Religion dafür Bestattungsrituale wirksam werden müssen, wohingegen die Auferstehung im christlichen Glauben eschatologisch begriffen wird. So wie ein verstorbener Ägypter vor das Totengericht gestellt und sein Herz gewogen wird, muss auch ein christlicher Dahingeschiedener für seine (Un-) Taten gerade stehen. Erlösung und damit Auferstehung erlangen ausschliesslich diejenigen, deren Taten zu Lebzeiten für moralisch gut befunden werden. Christlichem Glauben zufolge kommen Sünder in die Hölle; ägyptischen Verstorbenen wurde bei ungünstig ausfallendem richterlichen Urteil die feierliche Bestat- 247 „Dieser Ort soll abgeschlossen sein oder er muss, wenn er unter freiem Himmel gelegen ist, so gewählt sein, dass die Annäherung von Fremden sofort bemerkt und verhindert werden kann“ (FreiLex, S. 945). Im Etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache ist für Loge unter anderen die Bedeutung geheimer Versammlungsort angegeben: „(17. Hf.). Entlehnung aus frz. loge, dieses aus afrz. loge, dessen Herkunft unklar ist, da zwei nicht ohne weiteres vereinbare Bedeutungen (‚Nische zum Aufenthalt’ - ‚Wohnung’) zusammenkommen. Die Bedeutung ‚geheime Vereinigung’ nach ne. lodge desselben Ursprungs; so bezeichnet als ‚Gruppe von Menschen, die sich an einem geheimen Versammlungsort treffen.’ Schon im 13. Jh. als lotsche in der Bedeutung ‚Zelt, Heerlager, Tribüne’ entlehnt“ (Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, S. 580). (Im Folgenden zitiert als EWB.) 248 Der historische Übergang der altägyptischen in die christliche Religion scheint überhaupt von Kontinuität geprägt zu sein (Koch: GäR, S. 642). 249 Koch: GäR, S. 640f. <?page no="115"?> 115 tung und infolge dessen die Möglichkeit zur Auferstehung versagt. 250 Eine „gewisse untergründige Verwandtschaft in numinoser Erfahrung, ethischer Wertung und Jenseitshoffnung zwischen altägyptischer Mythologie und christlicher Heilsgeschichte und Gottesauffassung“ 251 ist nicht zu übersehen. 252 Dies konstatiert auch Andreas Schweizer, der Parallelen im psychologischen Gehalt der ägyptischen sowie der christlichen Jenseits-Botschaft ausmacht: Sowohl „aus der Gottesnähe [wie] aus der Nähe zu den archetypischen Inhalten“, so resümiert er, erwächst dem Dahingeschiedenen „Erleuchtung: “ „Es ist Res Licht oder dasjenige des unterweltlichen Osiris, welches dem Menschen neues Leben verheisst. Das ist die psychologische Wahrheit des Jesuswortes in Johannes 8,14: ‚Ich bin das Licht der Welt/ wer mir nachfolgt, wird nicht/ in der Finsternis wandeln,/ sondern er wird das Licht des Lebens haben’.“ (Schweizer: Seelenführer, S. 33) Der Leitgedanke des Amduat, dem Ausgangspunkt meiner Überlegungen zur Fortdauer altägyptisch-religiöser Momente im christlichen Glauben, welcher darin besteht, das geheimnisvolle Geschehen in der Tiefe der Erde, fernab von der verstrickten irdischen Welt stattfinden zu lassen, erinnert ausserdem an Gustavs Erziehung in der Kindheitshöhle, die unter bewusstem Ausschluss jeglicher weltlich-schädlicher Einflüsse vonstatten geht, sowie an die geheimnisvolle „Höhle“, in der sich „eine unterirdische Menschenwelt“ (I/ 1, 419f.) trifft. 253 Die Überblendung ägyptischer und christlicher Vorstellungen in Jean Pauls Unsichtbarer Loge ist damit jedoch noch nicht erschöpft. Schenkt man im Dreiundfünfzigsten oder größten Freuden-Sektor sowie im Vierundfünfzigsten oder sechsten Freuden-Sektor den Untertiteln ‚Der Morgen - der Abend - die Nacht’ sowie ‚Tag nach dieser Nacht’ Beachtung, so stellt man fest, dass, während die Sektorentitel die nachösterliche Freudenzeit (genauer, den Rogate- und den Exaudi-Sonntag 254 ) benennen und damit Jesu Auferste- 250 Uhlemann: HäA, S. 328, Assmann: Tod und Jenseits, S. 100-115. 251 Koch: GäR, S. 642. 252 Eine detaillierte Darstellung des Übergangs des Ägyptischen Götterkults zum christlichen Glauben liefert Koch: GäR, S. 625-643. 253 Die Höhle wird zu demjenigen Ort, in welchem sich Gott allen, die ihn suchen, offenbart. Auch in altägyptischen Unterweltbüchern findet sich die Idee der Höhle als heiligem Raum: „Das Motiv der heiligen Höhle, in welcher sich das Licht des Sonnengottes erneuert und damit die Schöpfungsordnung wiederhergestellt wird, oder wie es in christlicher Sprache heissen würde, in welcher die Sonne der Gerechtigkeit und unser Heiland geboren wird, ist hier wie dort dasselbe“ (Schweizer: Seelenführer, S. 40). 254 Die Sonntage Rogate und Exaudi gehören den sechs Freudensonntagen an, welche den Zeitraum der siebenwöchigen österlichen Freudenzeit umfassen. Die erste Woche nach Ostern (auch „Osteroktav“ oder „Weiße Woche“ genannt (Bieritz: Kirchenjahr, <?page no="116"?> 116 hung thematisieren, die Untertitel auf den ägyptischen Erstehungsgedanken um den Sonnengott Re anspielen. In Zusammenhang mit letzterem gilt es zu bedenken, dass ein Verstorbener nur dann in der Lage ist, sich mit Re auf die nächtliche Fahrt durch die Unterwelt zu begeben und der Wiederbelebung entgegenzublicken, wenn er ein irdisches Gericht überstanden hat. Am Tag der Beisetzung der Mumie teilen die Hinterbliebenen den Verwandten und Freunden zwar mit, „N.N. [wolle] über den See fahren“, 255 doch vermag „C h a r o n “ , wie der „Fährmann […] in ägyptischer Sprache“ 256 heisst, den Leichnam erst überzusetzen, nachdem das versammelte Volk über den Toten geurteilt hat. Spricht es ihm - so Uhlemann weiter - moralische Integrität sowie vorbildliche Handlungsweisen zu, wird mit der Bestattung fortgefahren. Hat sich der Verstorbene während seines Lebens aber der Verbrechen und Fehler schuldig gemacht, derer er nun angeklagt wird, findet die Beisetzung nicht statt. Der erlösenden Fahrt an der Seite des Sonnengottes geht folglich eine ethische Bewertung des Verstorbenen voraus. 257 Diesen Gedanken greift der Erzähler der Unsichtbaren Loge im dreiundfünfzigsten Sektor auf: Indem er in seiner „Gras-Rede“ (I/ 1, 401) den „unendliche[n] Genius“ als den mächtigen Weltschöpfer preist, dem man, nachdem einen „der eiserne Tod“ eingeschläfert habe, sein „künftige[s] Schicksal[]“, in der „künftigen Welt“ beruhigt überlassen könne (alle: I/ 1, 402), etabliert er den Topos ‚Sterben’ sowie ‚Leben nach dem Tod’ unmittelbar. Er stimmt den Leser auf eine jenseitig-göttlich-selige Atmosphäre ein, in die sich an diesem „Ruhetag der Elemente“, der ausserdem Beatens Geburtstag ist (I/ 1, 400), der gesamte Sektor eingebettet findet. Von Beata, Philippine, Gustav und ‚Jean Paul’, die von einem „Fährmann [zu Fenk] […] nach Teidor“ (I/ 1, 402) gefahren werden, sagt er weiter, sie würde dieser S. 92)), in der täglich Gottesdienste gefeiert und Predigten für die Neugetauften gelesen werden, erlangt besondere Bedeutung (Bieritz: Kirchenjahr, S. 92). Der erste Freudensonntag heisst Quasimodogeniti; auf ihn folgen Misericordias Domini, Jubilate, Kantate, Rogate und Exaudi. Ihre Namen stammen von den an den betreffenden Sonntagen üblicherweise gesprochenen Messanfängen (Psalme, Lieder) (Bieritz: Kirchenjahr, S. 147ff. ) . Der Anfang der Messe, die am Rogate-Sonntag gelesen wird, geht auf das siebte Kapitel des Matthäus-Evangeliums zurück und lautet: Rogate et dabitur vobis quaerite et invenietis pulsate et aperietur vobis („Bittet, und ihr werdet bekommen! Sucht, und ihr werdet finden! Klopft an, und man wird euch öffnen! “ (Bibel: Gute Nachricht, Matt 7,7). Der Introitus zum Exaudi-Sonntag beginnt mit dem siebten Vers des 27. Psalms so: Exaudi, Domine, vocem meam, qua clamavi ad te; miserere mei, et exaudi me („Vernimm, o Herr, mein lautes Rufen, sei mir gnädig und erhöre mich! “ (Bibel: Heilige Schrift, Psalm 27,7)). 255 Uhlemann: HäA, S. 325. 256 Uhlemann: HäA, S. 328, Hervorhebung im Original. 257 Assmann verweist in Bezug auf diesen Sachverhalt auf Diodors Darstellung der Totengerichtsriten im ersten Buch von dessen Bibliotheca Historica (Assmann: Tod und Jenseits, S. 114). <?page no="117"?> 117 besondere Tag Arkadien, den von der irdischen Welt ausgelagerten, paradiesischen Bereich, erahnen machen, sowie die Insel Teidor als eine „Pforte der fröhlichen Ewigkeit“ (I/ 1, 410) erscheinen lassen. Wenn man zudem Gustav, der „unter Schatten sich verloren“ (I/ 1, 403, Hervorhebung SB) hat und glücklich darüber ist, dass ihm sein „Petrus-Falle“ (I/ 1, 405) vergeben worden, als einen von Schuld freigesprochenen Verstorbenen liest und die Bemerkung, „[h]eute wollten wir einander alles verzeihen, ob wir gleich nichts zu verzeihen fanden“ (I/ 1, 408), als expliziten Vollzug der oben im altägyptischen Kontext beschriebenen ethischen Bewertung versteht, so darf gefolgert werden, dass der Text seine Protagonisten (denn offensichtlich werden neben Gustav auch alle anderen für seelisch integer gehalten) nach oben beschriebener Manier der Unterweltfahrt für würdig befindet. Ottomar, dessen „Auge […] den Tod [bereits] gesehen“ hat, gemahnt in der Folge an den Sonnengott, wenn er in „seine[r] fliehende[n] Gondel“ „über das Wasser [zu den anderen] herüber [fliegt]“ (I/ 1, 406). Zugleich mimt er Jesus Christus, welcher übers Wasser geht, um zu seinen Jüngern zu gelangen. 258 Mit seiner erhaben-leisen Sprache hält Ottomar eine Rede, in der er gutes, aufrichtiges Handeln jedes einzelnen fordert, da dieses allein den Gerechtigkeitssinn der Menschen zu schärfen und so deren Ehrgefühl zu stärken vermöge. Nachdem damit die Topik der richterlichen Szenerie vor der Beisetzung aufgegriffen ist, leitet der Text mit der Beschreibung des „magische[n] Abend[s] [, der] […] alle Wesen auf seinen wiegenden Schoß [nimmt] und […] sie an sich [legt], um sie ruhig, sanft und froh zu machen“ (I/ 1, 406), zur Fahrt des Sonnengottes, der am Westhorizont ins Totenreich hinabsteigt, über: Die „Eiländer“ beobachten, wie „die Sonne auf ihre letzte Stufe [tritt] […] und […] im nämlichen Nu [verschwindet]“ (I/ 1, 407f.). Das „nämliche Nu“ ist an dieser Stelle nicht nur als Zeitangabe für ‚in demselben oder ebendiesem Augenblick’ zu lesen: In der Bemerkung, die untergehende Sonne bewege sich in Richtung des nämlichen, das ist, des ausdrücklich mit Namen benannten Nu, versteckt sich der Hinweis auf das aus der ägyptischen Mythologie bekannte Urgewässer Nun - denjenigen 258 Diese Begebenheit, die sich sogleich nach der wunderbaren Brotvermehrung ereignet, und während der Jesus Simon Petrus dazu befähigt, es ihm gleich zu tun, gibt der Evangelist Matthäus folgendermassen wieder: „Gleich darauf schickte Jesus seine Jünger im Boot voraus ans andere Seeufer. Er selbst ließ die Leute nach Hause gehen und stieg dann allein auf einen Berg, um zu beten. Als es dunkel wurde, war er immer noch dort. Das Boot mit den Jüngern war inzwischen weit draußen auf dem See. Der Wind trieb ihnen die Wellen entgegen und machte ihnen schwer zu schaffen. gegen Morgen kam Jesus auf dem Wasser zu ihnen. Als sie ihn auf dem Wasser gehen sahen, erschraken sie. Sie meinten, es sei ein Gespenst, und schrien vor Angst. Sofort sprach Jesus sie an: ‚Erschreckt nicht! Ich bin’s, habt keine Angst! ’ Da sagte Petrus: ‚Herr, wenn du es wirklich bist, dann befiehl mir, auf dem Wasser zu dir zu kommen! ’ ‚Komm! ’ sagte Jesus. Petrus verließ das Boot und ging auf dem Wasser auf Jesus zu“ (Bibel: Gute Nachricht, Matt 14,22-29). <?page no="118"?> 118 Unterwelt-Ozean, den der Verstorbene während der Nacht im Gefolge des Sonnengottes kreuzt. Tatsächlich steigt die Gefolgschaft denn auch „in die Gondel wie in einen Charons-Nachen ein“ (I/ 1, 410f.) und von ihrem „Anlandung-Hafen“ wird gesagt, dass er sich „tief“ (! ) unten befinde (I/ 1, 402). Aus der Tatsache, dass selbst um „zwei Uhr nach Mitternacht […] Beatens und des Paradieses Wiegenfest [noch] nicht beschlossen“ (I/ 1, 406) ist, darf ausserdem gefolgert werden, dass es sich hierbei nicht um mitteleuropäische Zeitrechnung handelt, bei der ein neuer Tag unmittelbar nach Mitternacht beginnt. Beatas Geburtstag dauert bis zum Beginn des ägyptischen Tages, bis zum Sonnenaufgang also, was bedeutet, dass die Fahrt des „Charons-Nachen“ derjenigen des Sonnengottes Re „durch die zwölf Nachtstunden der Unterwelt“ 259 entspricht. 260 Derart fungiert Beatas Geburtstag als Sinnbild des Neubeginns und rundet den Auferstehungstopos um Re, mit dem die Regeneration der gesamten Schöpfung einhergeht, ab. Um zudem dem Mythos, Re werde auf seiner Fahrt von Verstorbenen begleitet, treu zu bleiben, ruft der Text in dem Moment, in welchem die Gesellschaft das Boot besteigt, die Symbole Lilie, (himmlische) Musik und Mond auf, die bereits in Gustavs Sterbeszene den Tod angekündigt haben: 261 „Mit unserem ersten Tritt ins Boot durchdrangen […] die Alphörner wieder die Nacht; jeder Ton klang in ihr wie eine Vergangenheit, jeder Akkord wie ein Seufzer nach einem Frühling der anderen Welt; der Nacht-Nebel spielte und rauchte über Wäldern und Gebirgen und zog sich wie die Grenze des Menschen, wie Morgenwolken der künftigen Welt um unsere Frühlingerde […]; jede Welle war ein zitternder Stern, das wankende Wasser spiegelte 259 Schweizer: Seelenführer, S. 29. 260 „Der Tag zerfiel schon bei den alten Aegyptern in 12 Stunden des Tages und 12 Stunden der Nacht. […] Er begann mit Sonnenaufgang“ (Uhlemann: HäA, S. 82). 261 „Auf allen meinen Gedächtnisfibern […] schläft keine schönere Sage als die aus dem Kloster Corbey: - wenn der Todesengel daraus einen Geistlichen abzuholen hatte: so legte er ihm als Zeichen seiner Ankunft eine weiße Lilie in seinem Chorstuhl hin. […] Unser sanfter Genius ahmte dem Todesengel nach und sagte dem Kleinen: ‚Wenn wir eine Lilie finden, so sterben wir bald’“ (I/ 1, 58, Hervorhebung SB). - Um „seine Seele noch höher zu spannen […], ließ er ihn in der letzten Woche noch zwei heilige Vorfeste des Sterbens erleben. - Als er ihm nämlich die Seligkeiten des Himmels, d. h. der Erde mit seiner Zunge und mit seinem Gesichte vorgemalet hatte, besonders die Herrlichkeiten der Himmel- und Sphärenmusik: so endigte er mit der Nachricht, daß oft schon zu Sterbenden, die noch nicht oben wären, dieses Echo des menschlichen Herzens hinuntertönte und daß sie denn eher stürben, weil davon das weiche Herz zerflösse“ (I/ 1, 59, Hervorhebung SB). - „Ihr unterirdisches Josaphats-Tal hatte außer der erwähnten Kellertreppe noch einen langen waagrechten Kreuzgang, der am Fuße des Bergs ins Tal und ins Dörfchen darin offen stand, und den zwei Türen in verschiedenen Zwischenräumen versperrten. Diese Türen ließ er in der Nacht vor dem ersten Junius, als bloß die weiße Mondsichel am Horizonte stand und wie ein altergraues Angesicht sich in der blauen Nacht nach der versteckten Sonne wandte, mitten in einem Gebete unvermerkt aufziehen“ (I/ 1, 60, Hervorhebung SB). <?page no="119"?> 119 den Mond zitternd nach, […] dessen sanftes Lilienantlitz unter der Welle noch blasser und holder blühte.“ (I/ 1, 411, Hervorhebungen SB) Den Beginn des neuen Tages, den Moment der irdischen Wiedergeburt, welcher auf das „Wiegenfest“ „des Paradieses“ (I/ 1, 406) folgt, verkündet die Natur, in der sich „die Ewigkeit[, vor der alles vergeht,] […] stumm und gross neben Gott[, vor dem alles entsteht]“, befindet. Der „erneuerte[]“ (! ) Ottomar freilich vermag als Sonnengottmime selbst im eben neu gewonnen Leben lediglich die Vergänglichkeit auszumachen: „Es ist wieder vorüber - […] die schönsten Stunden schlagen aus, und das Leben verrinnt“. Im Kreislauf von Auferstehung, Leben und Tod, folgt zyklisch auf jedes Verwelken ein frisches Erblühen, ist jedem Anfang sein Ende immer schon eingeschrieben: „In Osten stiegen Sterne, in Westen sanken Sterne“. Dass dem Vergehen das Werden und dem Werden das Vergehen innewohnt, bezeugt das der Ewigkeit oxymoral entgegen gesetzte „Endlich“, mit dem die „silberne Wellen-Fahrt“ der Freunde am Ufer nicht etwa beschlossen, sondern - mit dem Hinweis auf das ewig wiederkehrende Ende („o du ewiges unaufhörliches Endlich! “) - aufs Neue lanciert wird (alle: I/ 1, 412, Hervorhebung SB). Die aus der Analyse von Gustavs Sterbeszene resultierende Lektüreanweisung aufgreifend, bleibt darauf hinzuweisen, dass auch in Amandus’ Todes- und Auferstehungsszenerie ein Neubeginn angelegt ist. Dieses Zugleich (an dieser Stelle von Werden und Vergehen, von L(i)eben und Sterben) wird wiederum bereits im Untertitel angedeutet: Dessen erster Teil lautet Grosse Aloe-Blüten der Liebe: oder das Grab (I/ 1, 294), womit die Tatsache, dass Amandus’ Sterbezimmer sowie seine Grabstätte zum Geburtsort von Beatas und Gustavs Liebe werden, umschrieben ist. In seinem Sterbezimmer fordert der Todgeweihte seine Freunde, derweil er ihre Hände ergreift, auf, sich gegenseitig ihre Herzenswärme zu schenken. Er zieht seinen zuvor mehrmals geltend gemachten Anspruch auf Beata, 262 aufgrund dessen Gustav und er sich stets entzweit haben, zurück, und legitimiert damit deren Liebe. „Das Grab[] des Freundes […] [wird somit zum] Geburtort [ihres] Glücks“ (I/ 1, 314): Es ist bei Amandus’ Grabmahl, dass sich die beiden Liebenden, als wollten sie den Wunsch ihres dahingeschiedenen Freundes in dessen Gegenwart erfüllen, zum ersten Mal küssen. Mit den Worten, „der Tote neben uns […] hat mir wieder deine Hand gegeben“ (I/ 1, 299, Hervorhebungen SB), bestärkt Gustav Beata sowie sich selbst im Glauben, recht zu handeln. Unmissverständlich bringt auch der Erzähler den Beginn ihrer Liebe mit Amandus’ Sterben in Verbindung, wenn er gegen Ende des Romans konstatiert, dass „sich die zwei Glücklichen“ neben „dieser Pyramide […] ihre Herzen zuerst gegeben“ (I/ 1, 413) 262 Siehe die betreffenden Stellen in der Unsichtbaren Loge auf den Seiten 202-204 sowie auf der Seite 216. <?page no="120"?> 120 haben. Damit verweist der Text einmal mehr auf das Werden, das - bereit, sich zu entfalten - jedem Verenden innewohnt. 4.2 Textuelle Ikonizität 263 I: Simultaneität „[Die] […] Mumien […] hie und da mit den Zeichen-Binden anders [einwickeln]“ (I/ 1, 21) Diese drei im Textraum verteilten Artikulationen des Kodes (Gustav als auferstehender Sterbender, Ottomar als toter Lebender sowie Amandus als Mumie), welcher Jean Pauls Romanerstling als Matrix zugrunde liegt, gilt es simultan zu rezipieren: Sie gelten alle zugleich und machen erst im Verbund die Bedeutung ‚Fortdauer über den Tod’ aus. Somit erhellt, dass sich die Botschaft der Unsichtbaren Loge nicht entlang von linear organisierten Ursache-Wirkung-Relationen auffaltet, sondern sich aus der Überblendung mehrerer, im Textraum verteilter Sinnartikulationen ergibt. Freilich kommt man nicht umhin, Jean Pauls Romanerstling allererst von vorne nach hinten zu lesen, doch ergibt sich der Zusammenhang des Textes nicht aus der derart sukzessive rezipierten, rudimentären Fabel. (Eine Paraphrase der Fabel gibt die Verfasserin in der folgenden, eingerückten Passage wieder.) Vielmehr wird der Leser, so er dem Text Sinn abgewinnen will, gezwungen, ihn zugleich „hyperlinear“ 264 zu verstehen. Anstatt also dem präsentierten, sich über unzählige, wenig kohärente Stationen erstreckenden Textverlauf 263 Mit dem Terminus ‚Ikonizität’ schliesst die Verfasserin nicht an Peirces Definition des Ikons an (s. Charles Sanders Peirce: Collected Papers, ders.: Phänomen und Logik der Zeichen). Nicht an der von Peirce begründeten Allgemeinen Semiotik orientiert sie sich, sondern vielmehr an Kristevas Auffassung einer Semiologie, welche sich auf die linguistisch ausgerichtete Semiotik Ferdinand de Saussures beruft. In Anlehnung an Saussures Anagrammes-Studien (s. Jean Starobinski: Wörter unter Wörtern: Die Anagramme von Ferdinand de Saussure) ersetzt Kristeva den Begriff des Zeichens durch denjenigen des „bewegliche[n] ›Gramms‹“ (Kristeva: Paragramm, S. 175). In ihrer Definition der poetischen Sprache bildet statt des „Zeichen[s] (Sa-Sé)“ die „Menge“ (Kristeva: Paragramm, S. 174, Hervorhebungen im Original) die kleinste Einheit, wird der literarische Text weniger als lineares oder eindeutiges Gebilde, als vielmehr als „Raster“ (Kristeva: Paragramm, S. 175) oder „Raum“ (Kristeva: Paragramm, S. 164) betrachtet, in welchem bewegliche Textelemente „dialogisch[]“ (Kristeva: Paragramm, S. 164, Hervorhebung im Original) zueinander in Beziehung treten. Wie sich zeigen wird, ist der Verfasserin mit Kristevas Theorie der Semiologie der Paragramme eine Methode an die Hand gegeben, mit der sie die Sinnevokationsstrategien des Logen-Textes zu erfassen und zu beschreiben vermag. 264 Maximilian Bergengruen: Das fotografische Gedächtnis. Zur Psychologie und Poetik der Medien in Hofmannsthals ‚Der Unsterbliche’, S. 257. (Im Folgenden zitiert als FG.) <?page no="121"?> 121 ausgehend vom Kennenlernen von Gustavs Eltern, über Ernestines Dressur ihrer Katze, der Schilderung von Fenks Charakter sowie seiner Bedeutung für das Zusammenkommen des Rittmeisters mit der adligen Tochter, weiter über von Falkenbergs Adelbetrug, hin zu Gustavs Geburt, seiner unterirdischen Erziehung und seiner ‚Auferstehung’, über Gustavs Entführung, die Art und Weise seines Wiederauftauchens, die Umstände bei der Erstellung der Porträts, über Gustavs Alltag im Schlossgarten, seine Bekanntschaft mit Robisch, seine Freundschaft zu und Liebelei mit Regina, hin zum allwinterlichen Umzug der Familie nach Scheerau, während dem sie Amandus finden und mitnehmen, über ihre Ankunft bei Professor Hoppedizel, die in mehreren Etappen beschriebene und immer wieder auf die Probe gestellte Freundschaft von Gustav und Amandus, hin zur Entdeckung, dass Fenk Amandus’ Vater ist, weiter über Fenks Freundschaft zu Ottomar, dessen Beziehung zum Fürsten, ‚Jean Pauls’ Engagement als Lehrer von Gustav, über die mysteriösen Kirchenplünderungen, des Ehepaars Hoppedizels Streitereien und des Professors Betrügereien, Gustavs Kommunionsfeier, Reginas Wegzug nach Maußenbach, hin zu ‚Jean Pauls’ Bekanntschaft mit Beata und Oefel, über Gespensterunruhen im Schloss, Gustavs Abzug in die Kadettenschule zu Oefel, Gustavs Rekrutenleiden, ‚Jean Pauls’ Auseinandersetzungen mit Röper, hin zu Gustav Entdeckung, Röpers Aufbegehren deswegen, ‚Jean Pauls’ Verliebtheit in Beata, weiter über Gustavs Streit mit Amandus, deren Versöhnung, Beatas Brief an Philippine, wie Beata das Porträt ihres Bruders wieder findet, Gustavs und Amandus’ erneute, endgültigere Entzweiung, über Oefels Intrigen, Gustavs regelmässiges fünftägiges Wegbleiben, Gustavs Versetzung ins Alte Schloss, hin zu einem neuerlichen Zerwürfnis zwischen Gustav und Amandus, Ottomars Brief, ‚Jean Pauls’ und Philippines Erlebnisse bei Wutz, Fenks Neuigkeiten, weiter über Gustavs Brief an ‚Jean Paul’, des Fürsten Annäherungsversuche an Beata, Porträtverwechslungen, hin zu Gustav Zusammentreffen mit der von Bouse, ihr Auftrag an ihn sowie ihre Einladung zum Souper, Gustavs Selbstbildnis, seine aufkeimende Liebe zu Beata, die Liebelei zwischen Oefel und der Ministerin, weiter hin zu dem Porträt, das Gustav von der von Bouse erstellt, über Gustavs neuerliches Zusammentreffen mit Beata sowie Gustav und Beatas Beobachtung der Gärtnerkinder, das Souper, Gustavs Unfähigkeit zu diskutieren, die Nachricht vom sterbenskranken Amandus, Gustavs Besuch bei Amandus, wie sie sich versöhnen, weiter über Beatas Eintreffen am Krankenlager, Beatas und Gustavs Versprechen, Amandus Tod, Fenks Trauer und Amandus’ Bestattung, Gustav und Fenks Vereinbarung, Beatas Trauer, Gustavs und Fenks Reise, ihre Rückker und Endeckung des aufgebahrten Ottomar im Tempel vor Ruhestatt, Gustavs und Beatas Zusammentreffen an Amandus’ Grab, Gustavs Liebeserklärung, Bericht Ottomars von seinem Scheintoderlebnis, Beatas Abreise nach Maußenbach zu ihrer Mutter […] zu folgen, hat der Leser die Auferstehungs-Lexien - der Ort ihres Auftretens im Verlaufstext ist in der oben eingerückten Passage durch Kursiv- <?page no="122"?> 122 sowie Fettdruck markiert - als simultan gültige aufeinander zu beziehen. Sinngeflechte wie diese sind es, die - als Gesamt gelesen - den Sinn des Logen-Textes generieren. Aufgrund der bisherigen Ausführungen ist die Unsichtbare Loge folglich als Text zu begreifen, dessen Dynamik sich aus dem Zusammenspiel des ihm tiefenstrukturell zugrunde liegenden Kodes - dem im Osterfest angelegten Topos einer Fortdauer über den Tod hinaus, der im Inhaltsverzeichnis von Jean Pauls Romanerstling (mehrfach) zum Schlüsselmoment bestimmt wird - sowie der Lektüreaufforderung, diverse Lexien simultan zu lesen, ergibt. Es ist dieser Kode, der sich auf der inhaltlichen Textebene potentiell in die Sinngeflechte ‚Gustavs Auferstehung’, ‚Scheintoter Ottomar’ und ‚Amandus als Mumie’ veräussert, die derart als diachrone Ausdifferenzierungen der sich synchron realisierenden ‚Urfunktion’ 265 vorstellig werden. Durch die simultane Aktualisierung (beispielsweise) dieser Sinneinheiten wird die chronologische Prozessualität des Textes aufgebrochen, sodass er auf jene Art und Weise Bedeutung generiert, die gemeinhin als spezifisch für ikonische Sinnmitteilungen gilt: Wird in bildlichen Darstellungen Bedeutung im Modus des ‚Zugleich’ exponiert, 266 treten in der Unsichtbaren Loge Lexien, die sich auf verschiedenen Textebenen befinden, zwischen denen dutzende von Seiten, (mehrere) Kapitel, ja, ganze Buchteile liegen, unmittelbar zueinander in Beziehung. In einer derartigen textuellen Sinngenerierung, die sich einstellt, wenn Lexien nach ihrer lektürebedingten syntagmatischen Auffaltung als Elemente eines multidirektional angelegten, polyvalenten Beziehungsgeflechtes lesbar werden, in dem sie potentiell alle zugleich gelten, 267 widerspiegelt sich ein Spezifikum von Bildlichkeit, das darin besteht, dass die „visuelle Logik der Fläche [in Bildern] mehrwertig ist“, dass also jedes einzelne „Element zugleich von allen Seiten [betrachtet] […] werden kann“, 268 sodass die vielen Verbindungen, 265 Kristeva: Paragramm, S. 175. 266 In der Simultaneität wird die Beziehung sichtbar, die „der Anfang aller Bildsprache ist: mit dem Blick auf eine ausgegrenzte Fläche eine Darbietungsweise und ihren Bildgegenstand in ihrem Wechselverhältnis zu erkennen“ (Gottfried Boehm: Botschaften ohne Worte, S. 258). (Im Folgenden zitiert als Ohne Worte.) 267 Auch die Simultaneität, die als wesentlicher ikonischer Grundzug gilt, ergibt sich aus einem Wahrnehmungsprozess: „Das Gemälde zeigt sich überschaubar, es öffnet sich dem Auge: zunächst in der Abfolge seiner Bestandteile, deren Gesamtheit sich nacheinander erschliesst. In dieser Zuwendung identifizieren wir alles, was der Fall ist. Schon ein geringfügiger Wechsel in der Modalität der Aufmerksamkeit lässt uns zu einer gleichzeitigen Lesbarkeit aller Details gelangen. Die faktischen Tatsachen in ihrer Abfolge werden jetzt in der Vieldeutigkeit ihres Beziehungsnetzes angeschaut“ (Gottfried Boehm: Der erste Blick: Kunstwerk, Ästhetik, Philosophie, S. 50). (Im Folgenden zitiert als Erster Blick.) 268 Beide: Gottfried Boehm: Sehen. Hermeneutische Reflexionen, S. 63. (Im Folgenden zitiert als Sehen.) <?page no="123"?> 123 welche die Bildelemente in alle Richtungen eingehen, simultan wirksam werden. 269 Bevor mit der Erörterung der bildtheoretischen Signifikanz des Logen- Textes fortgefahren wird, scheint es der Verfasserin angebracht, das Kunst- Bild-Verständnis, mit dem sie in ihrer Analyse operiert, kurz zu umreissen. In den eben geäusserten sowie folgenden Ausführungen geht sie von Bildern als autonomen Gebilden aus, die ihre Bedeutung in jedem Angeblicktwerden neu offenbaren und so den Betrachter erst zu wahrhaftem Sehen befähigen. Gottfried Boehm zufolge wird ein solches Bildverständnis möglich, seitdem die Analogie von Bild und Realität angezweifelt, das Bild von seiner bloss referentiellen Beziehung zur Welt befreit worden ist. 270 Es ist ein Bildverständnis, das in der veränderten Seherfahrung, die sich in der Moderne ausbildet, begründet liegt: Im Rahmen der „‚ikonische[n] Wendung’“, die sich seit dem 19. Jahrhundert vollzieht, verändert sich das Verständnis des Bildes im Sinne der bildenden Kunst, insofern ihm „eine neue Rolle und Legitimität [zuwächst]“. 271 Denn sobald der Zweck des Bildes nicht mehr allein darin gesehen wird, die Realität abzubilden, rückt in den Blick, was Bilder genuin zu leisten vermögen. Es wird beispielsweise deutlich, dass das Auge Sinnesinformationen nicht lediglich passiv „perzipiert“, sondern dazu befähigt ist, „unter der Anleitung des Bildes [Sinn] selbst hervor[zubringen]“. 272 Ein Bild wird nicht länger als Faktum definiert, das dem Betrachter lediglich ein Sehen als Konstatieren erlaubt, sondern als Sichtbares, das ein aktives und dynamisches Sehen evoziert, ein Sehen, welches in jedem Akt des Blickens Bedeutung entfaltet. 273 Anschauung wird folglich zu Erkenntnis, welche auf keinen Vorläufer in der ‚äusseren Welt’ zurückgreifen kann. 274 Während in Abbildern aufgrund der Ineinssetzung des bildlich Dargestellten mit dem realen Ding in der Welt die eigentlich ikonische Logik, Sichtbarkeit im Bild allererst zu konstituieren, nie zur Entfaltung kommt, manifestieren Kunst-Bilder gerade dadurch Sinn, dass sie Referenzen zwischen Bildelementen und der ‚Realität’ möglichst aufheben. Damit wächst der „Deutungsgehalt [der Bilder] exponenti- 269 Gottfried Boehm: Zu einer Hermeneutik des Bildes, S. 461. (Im Folgenden zitiert als Hermeneutik.) 270 Boehm: Sehen, S. 61. 271 Gottfried Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, S. 12. (Im Folgenden zitiert als Wiederkehr.) 272 Boehm: Sehen, S. 64, Hervorhebungen im Original. 273 Gottfried Boehm: Bildsinn und Sinnesorgane, S. 126. (Im Folgenden zitiert als Sinnesorgane.) 274 Boehm verweist auf den Kunstphilosophen Conrad Fiedler als einem der ersten, der das poietische Potential der Kunst-Bilder durchdenkt, der Kunst als Modus des Erkennens versteht (Gottfried Boehm: Einleitung, S. VII-XCVII (Im Folgenden zitiert als Einleitung.), ders.: Sinnesorgane, S. 126ff.; ders.: Wiederkehr, S. 17). Um das Zustandekommen sinnlicher Erkenntnis in Bildern zu erläutern, bedient sich Fiedler des Begriffs der ‚Ausdrucksbewegung’ (Conrad Fiedler: Schriften zur Kunst, Bd. 2, S. 74). <?page no="124"?> 124 ell“: Es wird „etwas an der Realität sichtbar, was man ohne sie nicht erfahren würde“. 275 Dem modernen Bildverständnis geht ausserdem die Forderung voraus, Bilder nicht länger als auf externe Texte Bezogene zu betrachten. Im Unterschied zur Sprache generierten Bilder einen Mehrwert, der nicht verbal wiedergegeben werden könne: Die ihnen eigene Darstellungslogik sei nicht auf ein definiertes Zeicheninventar wie das Alphabet rückführbar. Bilder verfügten über einen eigenen Logos, über einen primären Zugang zur Welt, der unsagbar bleibe und sich lediglich zeige. 276 Tatsächlich sind es genau diese Bestimmungen den ikonischen Logos betreffend, die der Verfasserin eine neue Sichtweise auf Jean Pauls poetischen Text eröffnen, jedoch in der Tat erst nachdem die Ansicht, Bild und Text verhielten sich zueinander in einem Verhältnis des Sich-Gegenseitig-Ineinander-Übersetzen-Können-Müssens, aufgegeben worden ist. 277 Wie Max Imdahl in seinen Reflexionen über Bild und Sprache zeigt, muss jedes der beiden Medien daran scheitern, in sich das je andere derart wiederzugeben, dass sich dem Rezipienten dieselben Sinnhorizonte öffnen, wie wenn er das Original vor sich hätte. Einerseits stellt Imdahl fest, verbale Beschreibungen könnten dem Kunstwerk nie gerecht werden, wenn er beispielsweise anmerkt: „Was […] das Bild als solches ist, widersetzt sich aller sprachlichen Substitution. […] Als ein originaliter auftretender Sachverhalt […] ist jene anschaulich gegebene szenische Simultaneität sprachlich nicht herstellbar“. 278 Desgleichen bedeutet seine Äusserung, das Bild sei „ein Sehangebot, das in keiner Weise mit […] sonstigen, schon mitgebrachten, zum Beispiel durch Erzählung bedingten Erfahrungserwartungen zu verwechseln ist“. 279 Andererseits bemerkt er in Bezug auf Giottos Arenafresko Erweckung des Lazarus, dem der Johannes-Evangelium-Text 11,1-46 zugrunde liegt, und das er wie die anderen „heilsgeschichtliche[n] Ereignisbild[er]“ desselben Künstlers als „eine im Bilde und als Bild konkretisierte Ereignis-Imagination, die durch einen Text veranlasst ist“, bezeichnet, 280 es sei „klar, dass das Bild die in den Dialogen zwischen Jesus und den Aposteln und zwischen Jesus und Martha und zwischen Jesus und Maria immer wieder wechselnden Bedeutungsauffassungen von Schlaf oder Tod und von 275 Beide: Boehm: Ohne Worte, S. 269. 276 Boehm: Erster Blick, S. 46, ders.: Das Bild und die hermeneutische Reflexion, S. 29. 277 Boehms Bildbegriff schliesst eine genuine ikonische Poiesis seitens der Poesie zwar aus, doch gelingt es der Verfasserin kurioserweise gerade mit seinem Begriffsraster Jean Pauls textuell-ikonisches Schreiben zu erschliessen. 278 Max Imdahl: Ikonik. Bilder und ihre Anschauung, S. 310, Hervorhebungen SB. (Im Folgenden zitiert als Ikonik.) 279 Max Imdahl: Giotto. Zur Frage der ikonischen Sinnstruktur, S. 452. (Im Folgenden zitiert als Sinnstruktur.) 280 Imdahl: Sinnstruktur, S. 424. <?page no="125"?> 125 der Auferstehung zum ewigen Leben oder der Auferweckung zurück ins zeitliche Leben nicht darstellen kann“. 281 Es wird sich in der Folge zeigen, dass Bild und Text gerade dann, wenn sie als zwei autonome Kunst-Gebilde ernst genommen werden, wenn sie nicht darauf reduziert werden, in sich das je andere Medium in dessen ‚origineller Wesenheit’ angemessen darstellen, d.h., ihm vollauf gerecht werden zu müssen, in Bezug auf Sinngenerierungssowie Welterschliessungsverfahren durchaus Analogien aufweisen. Nun zurück zu den textuell-ikonischen Beobachtungen in Bezug auf den Logen-Text: Der beweglichen „bildlichen Sinnartikulation“ 282 vergleichbar, die sich aus dem Zusammenspiel von Formen, Flecken, Farben, Figuren und Linien, denen keine inventarisierten Bedeutungen anhaften, ergibt und sich in jedem Bild immer wieder „als ein Moment der konkreten Bilderscheinung“ 283 einstellt, fügen sich in Jean Pauls Text Lexien in Beziehungsgeweben zusammen, deren Sinnhaftigkeit aus dem momentanen Gesamt ihrer Zusammenfügung resultiert. So schliessen sich die Sequenzen ‚Amandus als Mumie’, ‚Gustavs Auferstehung’ und ‚Scheintoter Ottomar’ nicht gegenseitig aus, sondern verhalten sich komplementär zueinander: Gleichberechtigt und korrelativ stehen die Ausdifferenzierungen der im Osterfest kodierten Urfunktion nebeneinander; wird eine von ihnen genannt, sind die anderen immer auch mitzureflektieren. 284 Bedeutung bietet sich in der Unsichtbaren Loge folglich nicht statisch dar, sie konstituiert sich vielmehr aus dem dynamischen Miteinander der Text- Elemente. Anhand der konnotativen Verknüpfungen, welche die Lexie eingeht - darauf wird sogleich noch näher eingegangen -, entfaltet sich ihr Gehalt immer wieder neu. Indem sie sich nicht auf einen bestimmten Sinn festlegen lässt, gleicht sie einem „auf dem Wasser treibenden Korken[] […] [,] [der] sich […] nie ganz im flüssigen Wasser […] auflösen[,] […] [der vielmehr] auf dessen Oberfläche […] immer neu verschoben […] werden [wird]“. 285 Darin verrät das Textgewebe seine ikonische Strukturierung, denn genauso wenig wie sich die Lexien auf die Summe der ihren jeweiligen Wortlauten zugewiesenen konventionalisierten Bedeutungen reduzieren lassen, lässt sich der Gehalt von Bildzeichen anhand eines aus „diffe- 281 Imdahl: Sinnstruktur, S. 439, Hervorhebungen SB. 282 Boehm: Hermeneutik, S. 458. 283 Boehm: Hermeneutik, S. 451. 284 Margret Walter-Schneider, die in ihrem Aufsatz ‚Wir brauchten Silhouettenstürmer.’ Über den Ganzheiten-Verächter Jean Paul auf Jean Pauls Poetik der intendierten Diskontinuität fokussiert, beobachtet, dass dessen Schreiben „nicht diskriminiert, weil es nicht durch Unterscheiden zustande kommt, nicht einschliesst, indem es ausschliesst,“ und beschreibt es in der Folge als „ein Bezeichnen […], das nicht ‚Ersatz für Zugang’ ist, [sondern] ein Bezeichnen, basierend auf grenzenloser Inklusionsbereitschaft“ (Margret Walter-Schneider: Silhouettenstürmer, S. 81, Hervorhebungen SB). 285 Brune: Barthes, S. 197. <?page no="126"?> 126 renzierten syntaktischen oder semantischen Parameter[n]“ bestehenden Regelsystems bestimmen. 286 Bilder bedeuten, indem ihre Elemente zu potentiell unendlich vielen Verbindungen verschmelzen, die Altbekanntes anders, fremd oder irritierend zeigen. Die Konjunktionen, welche die Bildzeichen eingehen, sind unvorhersehbar und vieldeutig: Zu malen heisst sodann, zwischen den Farben zu agieren und zu versuchen, „sie so zu steuern wie der Kapitän sein Schiff“ 287 - derart, dass der Betrachter eines Bildes bei jedem Sehakt meint, zum ersten Mal auf das Bild zu blicken. 288 In ähnlicher Weise wie jedes Sehen Bildsinn erst hervorbringt, wird die Unsichtbare Loge als Text vorstellig, der sozusagen erst im Akt des Lesens geschrieben wird, dessen ‚Sein’ einer „Benennung im Werden“ 289 gleichkommt. 290 Der Leseprozess, der einer solchen Textpraxis gerecht werden will, hat folglich sowohl die die Lexien ausmachenden bedeutungsträchtigen Segmente wie auch die Lexien selbst in additiv-integrativer Weise zusammenzufassen. Der Leser ist aufgefordert, diese „Expansion[en] der den Text organisierenden Funktion“ 291 als simultan-koexistierende, dynamisch aufeinander bezogene Graphismen, als „literarische[] Bilde[r]“ 292 zu begreifen. Im literarischen Bild kommt folglich der mehrfach bestimmte Sinn, das sich über divers verknüpfte Sinnelemente zu einem potentiellen Sinngefüge zusammenfindende „tabuläre (nicht-lineare) Modell“ 293 eines poetischen Textes zum Ausdruck. Es ist die hyperkomplex kodierte Semantik, 294 die eine derartige ikonische Beschaffenheit der poetischen Bedeutung generiert: Nicht nur, dass Sequenzsegmente (beispielsweise Gustavs simultanes Sterben, Auferstehen und Geborenwerden), Gesamt-Sequenzen (wie die ‚Auferstehung’, der ‚Scheintod’ und die ‚Mumienbestattung’, welche allesamt die Idee, den Tod zu überdauern, ausdeuten) sowie Sequenzen überschreitende Sinngefüge (die christliche Jenseitsvorstellung realisiert sich beispielsweise synchron mit der ägyptischen) im Modus des Zugleich überblendet werden; diese Einheiten sind alle auch in sich polyvalent. Es gilt folglich neben dem Modus der sich in alle Richtungen entfaltenden Mehrfachbestimmung, dem 286 Boehm: Ohne Worte, S. 267. 287 Boehm: Ohne Worte, S. 267. 288 Boehm: Erster Blick, S. 52. 289 Barthes: S/ Z, S. 15. 290 Barthes beschreibt den Text als einen Pluralen, der, „[j]e pluraler [er] […] ist, um so weniger […] geschrieben [ist], bevor [man] ihn [liest]“ (Barthes: S/ Z, S. 14). 291 Kristeva: Paragramm, S. 175. 292 Kristeva: Paragramm, S. 174. 293 Kristeva: Paragramm, S. 174. 294 Ralf Simon formuliert dies folgendermassen: „Es ist […] der Gedanke der offenen Kombinatorik der poetischen Register, welche die Erzeugungsformel[,] die poetische Dichte (Dichtung) ist - und diese Dichte wird später auf der System-Ebene des Textes Bild genannt werden“ (Ralf Simon: Der poetische Text als Bildkritik, S. 227, Hervorhebung im Original). (Im Folgenden zitiert als Bildkritik.) <?page no="127"?> 127 Übereinanderlegen mehrerer im Text jeweils für sich existenten Segmente, die durch ihre Zusammenfügung Sinn generieren (dies wurde oben gezeigt), einen zweiten zu beschreiben, in dem sich ein Segment aus sich heraus in diverse Sinnbezüge veräussert. Als Beispiel einer solchen in sich mehrfach bestimmten Stätte ist Gustavs Erziehungs-Höhle zu lesen. Bei dieser ‚Urhöhle’ handelt es sich nämlich nicht um eine, sondern um drei Höhlen, die - ihrer imaginativ-architektonischen Anlage entsprechend - Gustavs Erziehung aus verschiedenen Perspektiven beleuchten. 4.3. Polyphoner Höhlenraum: die dreifach bestimmte Bildungsstätte 295 „[E]in Instrument von sechs Oktaven […] sein“ (I/ 1, 131) Die Lexie ‚Erzieh-Höhle’, in der Gustav das notwendige Rüstzeug dafür mitgegeben werden soll, das Leben auf Erden gut zu leben, damit ihm an dessen Ende der Übertritt in ein wie auch immer geartetes Jenseits glückt, beschreibt der Erzähler folgendermassen: „Der Genius zog […] mit seinem Gustav unter eine alte ausgemauerte Höhlung im Schloßgarten, von der es der Rittmeister bedauerte, daß er sie nicht längst verschütten lassen. Eine Kellertreppe führte links in den Felsenkeller und rechts in diese Wölbung, wo eine Kartause mit drei Kammern stand, die man wegen einer alten Sage die Dreibrüder-Kartause nennte; auf ihrem Fußboden lagen drei steinerne Mönche, welche die ausgehauenen Hände ewig übereinander legten; und vielleicht schliefen unter den Abbildern die stummen Urbilder selber mit ihren untergegangnen Seufzern über die vergehende Welt. Hier waltete bloß der schöne Genius über den Kleinen und bog jeden knospenden Zweig desselben zur hohen Menschengestalt empor. […] [Der] Genius erzog [recht] gut, […] er befahl nicht, sondern gewöhnte und erzählte bloß. Er widersprach weder sich noch dem Kinde, ja er hatte das größte Arkanum, ihn gut zu machen.“ (I/ 1, 54f., Hervorhebungen (fett und kursiv) SB) „In diesem unterirdischen Amerika hatten die […] Antipoden ihren Tag, d. h. es war ein Licht angezündet, wenn es oben bei uns Nacht war - Nacht, d. h. Schlaf hatten sie, wenn bei uns die Sonne schien. Der schöne Genius hatte des äußern Lärms und seiner Tagausflüge wegen es so eingerichtet. Der Kleine lag dann unten in seiner Kartause, während sein Lehrer Luft und 295 Die nun folgenden Ausführungen basieren auf dem Vortrag Höhlen in der Höhle - Transgressionen des Architekturalen bei Jean Paul der Verfasserin, welchen sie anlässlich der Tagung Zwischen Architektur und poetischer Imagination gehalten hat. (Der Aufsatz wird im Band Zwischen Architektur und Imagination (in Vorbereitung) erscheinen.) <?page no="128"?> 128 Menschen genoß, mit zugeschnürten Augen, weil dem Zufall und der Kellertür nicht zu trauen war. Zuweilen trug er den schlafenden verhüllten Engel in die frische Luft und in die beseelenden Sonnenstrahlen hinauf […]. [Als derart] herausgetragner blaßroter Liebling [schlummert Gustav] unter seiner Binde in einem gegitterten Rosenschatten […] und liegt, ähnlich einem gestorbenen Engel, im unendlichen Tempel der Natur still mit kleinen Träumen seiner kleinen Höhle vor uns […] [Nach] einer kurzen Zeit [muß er] wieder in [seine] Platos-Höhle hinunter.“ (I/ 1, 56f., Hervorhebungen SB) „Der Genius bereitete ihn lange auf die Auferstehung aus seinem heiligen Grabe vor. Er sagte zu ihm: ‚Wenn du recht gut bist und nicht ungeduldig und mich und den Pudel recht lieb hast: so darfst du sterben. Wenn du gestorben bist: so sterb’ ich auch mit, und wir kommen in den Himmel’ (womit er die Oberfläche der Erde meinte) - ‚da ists recht hübsch und prächtig. Da brennt man am Tage kein Licht an, sondern eines so groß wie mein Kopf steht in der Luft über dir und geht alle Tage schön um dich herum - die Stubendecke ist blau und so hoch, da sie kein Mensch erlangen kann auf tausend Leitern - und der Fußboden ist weich und grün und noch schöner, die Pudel sind da so groß wie unsere Stube - im Himmel ist alles voll Seliger, und da sind alle die guten Leute, von denen ich dir so oft erzählet habe, und deine Eltern, […] die dich so lieb haben wie ich und dir alles geben wollen. Aber recht gut mußt du sein’.“ (I/ 1, 57f., Hervorhebung SB) Zunächst ist auffällig, dass Gustavs „[u]nterirdisches Pädagogium“ (I/ 1, 52) verschiedenartige Benennungen erhält: Neben den angeführten Namen „ausgemauerte Höhlung“, „Dreibrüder-Kartause“, „unterirdisches Amerika“, „Platos-Höhle“ und „heiliges Grab“, kommen im Verlaufe des Romans die Bezeichnungen „unterirdisches Josaphats-Tal“, „Katakombe“, „stille Demantgrube“, „Kindheit-Erdenwiege“, „taubstummen Höhle“, „moralisches Treibhaus“, „Meerstille der Leidenschaften“, „stille Höhle“, oder „das heilige Grab der Kinderjahre“ (I/ 1, 60, 56, 61, 87, 56, 56, 61, 65, 175) hinzu. Die Vielzahl dieser Bezeichnungen suggeriert in Bezug auf das unterirdische Pädagogium eine Bedeutungsdichte, die wiederum impliziert, dass bei Gustavs Erzieh-Höhle 296 nicht von einer einzelnen, sondern von mehreren, der These der Verfasserin zufolge von drei, übereinander gelagerten Höhlen auszugehen ist. 296 Nicolas Pethes et al. stellen im Band Menschenversuche. Eine Anthologie 1750-2000 eine repräsentative Auswahl von Quellentexten zusammen, welche die systematische Untersuchung der experimentellen Beobachtung von lebenden Menschen thematisieren. In der Sektion 2 steht die Erziehung im Fokus des Interesses: Erörtert wird der Einfluss der Erziehung auf den Menschen anhand von neuen Erziehungsmethoden, die seit dem 18. Jh. anlässlich von pädagogischen Reformen experimentell erprobt wurden (s. Nicolas Pethes et al.: Menschenversuche. Eine Anthologie 1750-2000, bes. S. 103- 172). <?page no="129"?> 129 4.3.1 Die Christus-Höhle Eine erste Lesart, die Gustavs Kartausenexistenz nahe legt, ist christlich inspiriert. Die Höhle, in der der Kleine die ersten Jahre seines Lebens zubringt, gemahnt an diejenige, in der - den Apokryphen 297 zufolge - Jesus Christus geboren worden ist. In ihr wird Gustav, dessen Leben sich - wie oben ausgeführt - im Verlaufe des Romans immer wieder mit demjenigen des Gottessohnes parallelisiert findet, vom gottväterlich-sanftmütigen Genius zu einem guten Menschen erzogen. Gustavs Unterweisung zielt auf eine Lebensführung ab, die - in Anlehnung an das Leben des Gottessohnes - als Vorbereitung auf ein jenseitiges Leben gedacht ist. Dies bedeuten in der Höhle einerseits die „ewig übereinander [gelegten Hände]“ (I/ 1, 54, Hervorhebung SB) der in Stein gehauenen, betenden Mönche, andererseits des Genius Zusicherung, dass, wenn Gustav sterbe, er in den Himmel kommen werde, in dem sich ausschliesslich Selige aufhalten. Entsprechend der Botschaft der Heilsgeschichte, die besagt, dass der Tod seit Jesu Auferstehung nicht mehr das Ende des Seins besiegelt, sondern den erlösten Menschen eine Fortexistenz im Elysium verspricht, mutet Gustavs inszeniertes Sterben - darauf wurde ebenfalls bereits hingewiesen - zudem sowohl als „Auferstehung aus [dem] heiligen Grabe“ (I/ 1, 57) als auch als Geburt an: Der Genius geleitet Gustav an dessen „Geburttage“ (I/ 1, 59) hinauf zur Erde, damit er da ein „gewagtes Leben“ (I/ 1, 62) lebe. Es ist bis zum Moment des Todes, dass sich Gustavs Leben mit demjenigen des Gottessohnes zusammengeführt findet; in den Himmel aber gelangt er nicht. Zwar paraphrasiert der Text in derjenigen Szene, in der sich Gustav und Beata versöhnen, die Passagen der heiligen Schrift, die Jesu Folterung und Kreuzigung beschreiben, doch wird der Auferstehungstopos mit Ottomars Scheintoderlebnis, während dem die Transzendenz verheissende Urhöhle als Erbgruft vorstellig wird, unterlaufen. Die Gruft mutet wie ein Zitat von Gustavs Kindheitshöhle an - nur mit umge- 297 Das Protevangelium des Jakobus berichtet, die Geburt von Jesus Christus habe in einer Höhle stattgefunden: „Und sie [SB: Joseph und Maria] kamen halbwegs [SB: nach Bethlehem], und Maria sprach zu ihm: Nimm mich von dem Esel herab; denn was in mir ist, drängt mich, daß es herauskomme. Und er nahm sie herab von dem Esel und sprach zu ihr: Wo soll ich dich hinführen und deine Ungeziemlichkeit verbergen; denn die Stätte ist abgelegen? Und er fand daselbst eine Höhle und führte sie hinein und stellte seine Söhne zu ihr und ging aus, eine Hebamme in der Umgegend von Bethlehem zu suchen […]. Und siehe ein Weib stieg vom Gebirge herab und sie […] sprach zu mir: Und wer ist die, die in der Höhle gebieret? Und ich sprach zu ihr: Meine Verlobte. […] [Sie] erfuhr Empfängnis vom Heiligen Geist. […] Komm und siehe; und sie ging mit ihm, und sie traten an die Stätte der Höhle, und siehe eine lichte Wolke überschattete die Höhle. Und es sprach die Hebamme: Heute ist meine Seele erhoben, denn meine Augen haben Wunderbares gesehen; denn Heil für Israel ward geboren. Und sofort […] erschien ein grosses Licht in der Höhle, so daß unsere Augen es nicht ertrugen“ (Edgar Hennecke: Neutestamentliche Apokryphen, S. 91). <?page no="130"?> 130 kehrten Vorzeichen: „Öde, ausgestorben sowie von Toten untergraben“ (I/ 1, 305) steht die Kirche, in der die Grabstätte liegt, da. Die steinernen Mönche, die in der Gustav-Höhle „ihre ausgehauenen Hände ewig übereinander legten“ (I/ 1, 54), machen hier „das längst verstummte Gebet [nurmehr mit] verwitternden Händen nach“ (I/ 1, 305). Im Gegensatz zum kleinen Gustav, der sich freut, demnächst sterben zu dürfen, um aufzuerstehen, fürchtet sich Ottomar, (irgendwann einmal) sterben zu müssen, da er vom „Tod“ (I/ 1, 303) erfahren hat, dass auf das Hinscheiden kein Leben in einem paradiesischen Jenseits folgt. Das gefeierte Warten auf Jesu Geburt, auf das die Sektorüberschrift Vierunddreissigsten oder ersten Advent-Sektor hinweist, erscheint dann jedoch als sinnlos, da der Gottessohn mit seinem Tod die Menschen nicht erlösen wird. Auf dessen Auferstehung zu hoffen, entpuppt sich als Irrglaube. So hat die Kindheitshöhle Gustav zwar dazu befähigt, „die Pforte […], hinter der die Welt steht“ (I/ 1, 62), aufzustossen; diejenige, die den Weg in die Ewigkeit freigibt, bleibt ihm aber offensichtlich verschlossen. 4.3.2 Die Freimaurer-Loge Was im Titel des Romans Die Unsichtbare Loge anklingt und auch eine der ‚Urhöhlen’-Bezeichnungen („Dreibrüder-Kartause“ (I/ 1, 54)) nahe legt, ist, dass Gustavs Erzieh-Höhle zweitens eine Maurerhöhle, das heisst, eine Freimaurer-Loge darstellt. 298 Wie die nach dem Vorbild des salomonischen Tempels gestaltete Loge ist das unterirdische Pädagogium dreigeteilt: Gustavs „Kartause mit drei Kammern“ (I/ 1, 54) widerspiegelt „die Grundgestalt der Loge[,] […] [die] durch die beiden Säulen Jakin und Boaz […] in drei Schiffe getheilt“ wird. 299 Anhand der expliziten Nennung des „Salomons-Tempel“ (I/ 1, 76) im siebten Sektor wird neben dem unterirdischen Pädagogium zudem auch Gustavs Lebensführung mit dem Freimaurer- Kult parallelisiert: Mit „Salomons-Tempel“ wird da ein aus „Pappendeckel[n]“ gefertigter „Kerker“, den Gustav vom Kammerjäger Robisch als 298 „‚Loge ist ein Ort, wo Maurer zusammenkommen und arbeiten. Davon ist dann jede ordentlich eingerichtete Gesellschaft von Maurern Loge genannt und jeder Br. [SB: Bruder] muss zu einer gehören’“ (FreiLex, S. 945). - Müller definiert die Unsichtbare Loge als „Geheimbundroman“, zu deren „strukturelle[m] Repertoire […] Initiationsriten und das Vorbild der Freimaurer [gehören]“ (Müller: Mehrfachbesetzung, S. 66). - Christian Sinn deutet die vielfältigen Verweise auf die Geheimgesellschaften in der Unsichtbaren Loge als „wesentlich für [Jean Pauls] Poetologie“. Das „Geheimnis“ liest er als handlungspraktisches Stimulans (Christian Sinn: „Acht Jahre unter der Erde“. Jean Pauls ‚Unsichtbare Loge’ zwischen Aufklärung und Arkanum, S. 72). - Auch Köpke geht auf die Bedeutung des Geheimbundes in Jean Pauls Romanerstling ein (Köpke: Erfolglosigkeit, S. 346-354). - Michael Voges schliesslich reflektiert die Funktion des angeeigneten Geheimbundmaterials in der Unsichtbaren Loge (Michael Voges: Aufklärung und Geheimnis, S. 538-551). 299 VHF, Bd. 1, S. 68. <?page no="131"?> 131 Spielzeug geschenkt bekommen hat, bezeichnet (alle: I/ 1, 76). Entgegen dem „wahre[n] salomonische[n] Tempel […] der Maurer, in welchem alle Völker und alle Menschen […] als in einer heiligen Gottesstadt sich versammeln und zu dem gemeinsamen Vater beten“, 300 „drängt[]“ Gustav in diesen „vierten salomonischen Tempel[]“ Insekten zusammen (beide: I/ 1, 76), die darin den Tod finden. Gustav, soviel expliziert der Text an dieser Stelle, ist folglich kein „brauchbare[r] Baustein[] des unsichtbaren […] Menschentempels“, 301 kein Gehilfe Gottes (als solche bezeichnen sich die Maurer 302 ), der sich und andere zu guten Menschen bildet. Sein salomonischer Tempel kommt einem Gefängnis gleich, in dem die Insassen gewaltsam zusammen geführt werden. Ihre ‚Rettung’ wird denn auch lediglich verbal vollzogen: Gustav bewahrt seine „Arrestanten“ (I/ 1, 76) vor dem Hungertod, indem er sie dem Star zum Frass vorwirft. In dieser letzten Anmerkung, die eingesperrten Insekten würden einen gewaltsamen Tod sterben, klingt die freimaurerische Baumythe an, die besagt, dass Hiram Abiff, der Legende zufolge der Architekt des Tempels von König Salomo in Jerusalem, 303 von drei Gesellen aus Neid ermordet wird, da er ihnen das Geheimnis um seine Baukunst nicht offenbart. 304 Hirams Leichnam, den die Gesellen ausserhalb der Stadtmauern verstecken, wird am „siebenten Tage, am Tage der Sonne, […] nach sechs Tagen oder Monaten des Suchens aufgefunden“ 305 und bestattet. Hiram, welcher „im Grabe verweset und stirbt […], um unsterblich […] wiederaufzuerstehen“, 306 ist dem Glauben der Maurer zufolge dem ägyptischen Sonnengott Osiris gleichgestellt. 307 In der freimaurerischen Meisterweihe ist Hiram, dessen Name „das […] ewige Leben“ 308 bedeutet, von zentraler Bedeutung: Im Gedenken an Hirams/ Osiris’ Leben, Tod und Auferstehung werden die Prüflinge in einen „Sarg gelegt, […] mit dem Leichentuche umhüllt […] [und] beerdigt […]. Die Aufnahme zum Maurermeister soll das Begraben des irdischen Menschen, das Abstreifen aller menschlichen […] Irrthümer […][,] soll eine zweite Geburt, die Geburt eines neuen Menschen sein“. 309 Es ist „der Meister vom Stuhl“, der den Prüfling nach seinem symbolischen Tod „aus dem dunklen Grabe erstehen und in das hellste Licht zurückkehren [lässt]“ 310 . In 300 VHF, Bd. 2, S. 207. 301 VHF, Bd. 2, S. 208. 302 VHF, Bd. 2, S. 208. 303 Zedler: Universal-Lexicon, Bd. 13, S. 184. 304 VHF, Bd. 3, S. 531. 305 VHF, Bd. 2, S. 212. 306 VHF, Bd. 2, S. 213. 307 VHF, Bd. 2, S. 210. 308 VHF, Bd. 2, S. 213. 309 VHF, Bd. 1, S. 632f. 310 Beide: VHF, Bd. 1, S. 634. <?page no="132"?> 132 der Hiramlegende findet sich folglich der Topos der Unsichtbaren Loge paraphrasiert, in der - wie in jener - „sterben […] leben [ist]“. 311 In Gustavs „unterirdische[m] Amerika“ (I/ 1, 56) findet auch der maurerische Brauch, „die Logen dem Sonnenlichte verschlossen zu halten und dieselben selbst am hellsten Tage nur durch künstliches Licht zu erleuchten“, 312 seine Entsprechung: „[Sie] hatten […] ihren Tag, d.h. es war ein Licht angezündet, wenn es oben bei uns Nacht war - Nacht, d.h. Schlaf hatten sie, wenn bei uns die Sonne schien“ (I/ 1, 56f.). Im Erziehungs-Credo des Genius nun, der „das größte Arkanum [hat, Gustav] gut zu machen“ (I/ 1, 55), schwingt die Freimaurerei als „die Kunst, gut und vollkommen zu werden“, 313 mit. Zweck und Aufgabe der Maurerei, welcher der urchristliche Glaube zugrunde liegt, besteht nämlich darin, „Gott den allmächtigen und allweisen Baumeister und Schöpfer in seiner Schöpfung, seiner alleinigen und ewigen Offenbarung, zu erkennen“. 314 Dabei bleibt des Genius’ Vorhaben ein ‚Arkanum’, ein Geheimnis - wie auch die Vermittlung des Wissens, die in den Logen anhand von Symbolen und rituellen Handlungen zelebriert wird, geheim von Statten geht. In diesen Ritualen wird auf das ursprüngliche Mysterium der Freimaurerei Bezug genommen, das darin bestanden hatte, die Steinmetzsowie Kirchenbaukunst in geheimer, mündlicher Lehre an Lehrlinge und Gesellen weiter zu geben. Während jahrelanger Reisen hatten diese das Handwerk solange perfektioniert, bis sie es schliesslich als Meister ausüben konnten. „Statt der Steine für Kirchen und […] Dome werden nun […] Menschen […] gebildet[, um sie] zur Menschheit, dem grossen geistigen Dome der Gottheit [zu verbinden]“. 315 In der verborgenen Höhle wird Gustav zu einem solchen Individuum erzogen, das sich auf Erden unablässig für Gerechtigkeit und das Wohlergehen aller einsetzen sowie nach dem höchsten Gut, dem Seelenfrieden, streben soll, damit es, nachdem es sich im Kampf für das Gute bewährt hat, nach seinem Tod in den Himmel zurückzukehren und ewiges Leben zu erlangen vermag. In Fortführung des bislang Gesagten mutet auch die Art und Weise, wie der Genius seinen Gustav ins weltliche Leben entlässt, freimaurerisch inspiriert an: 316 „[Der] Genius war während des Tumultes im Garten mit einem sprachlosen Kusse von dem Liebling fortgezogen und hatte nichts zurückgelassen als der Mutter ein Blättchen. Er hatte nämlich ein Notenblatt in zwei Hälften 311 VHF, Bd. 1, S. 634. 312 VHF, Bd. 1, S. 56. 313 VHF, Bd. 1, S. 377. 314 VHF, Bd. 1, S. 370. 315 VHF, Bd. 1, S. 367. 316 Dem Leser ist die folgende Stelle vom Teilkapitel Die Krux des Segmentierens her bekannt. <?page no="133"?> 133 zerschnitten; die eine enthielt die Dissonanzen der Melodie und die Fragen des Textes dazu, auf der andern standen die Auflösungen und die Antworten. Die dissonierende Hälfte sollte sein Gustav bekommen; die andere behielt er: ‚Ich und mein Freund’, sagt’ er, ‚erkennen einmal in der wüsten Welt einander daran, daß er Fragen hat, zu denen ich Antworten habe’. (I/ 1, 64) Gustav wird also mit dem Auftrag auf die Reise, die sich Leben nennt, geschickt, unermüdlich Erfahrungen zu sammeln und Erkenntnisse zu gewinnen, um nie aufzuhören Lösungen für diejenigen Fragen zu suchen, die allein der Genius beantworten kann. 317 Dieses Verfahren liest sich nun wie eine Paraphrase des Freimaurerverhörs, in dem den Brüdern von ihrer Aufnahme in den Freimaurerbund an bei jedem Übertritt in den nächst höheren Grad immer wieder die gleichen Fragen gestellt werden, die auf lebenspraktische Auswirkungen des Glaubens an Gott, die Unsterblichkeit der Seele sowie die Begriffe Tugend und Moral abzielen; die folglich jeden einzelnen auffordern nachzusinnen, inwiefern er seiner Bestimmung, den Mitmenschen zu nützen, nachkommen kann. Die Beantwortung der Fragen stellt eine lebenslange Aufgabe dar. Je länger jeder Bruder aber nach ihnen sucht, desto angemessenere Antworten sollte er erteilen können. 318 Der Text legt in der Folge nahe, dass sich Gustav bei seiner Suche nach Antworten regelmässig mit Gleichgesinnten an geheimer Stätte trifft (man beachte auch an dieser Stelle die Parallele zu den Treffen der Freimaurer, 317 Ignaz von Born spricht in diesem Zusammenhang von einer freimaurerischen Feierlichkeit, dem sogenannten „Trauergepränge“, während der „Osiris Tod und Begräbniß“ gedacht wird (Ignaz von Born: Ueber die Mysterien der Aegyptier, S. 122). In seinen Ausführungen klingt Gustavs Schicksal auf zweierlei Art an: Im Gedenken an die Wiederauffindung von Osiris’ Körper, zum Zeichen, „daß sie, was sie fanden, verlohren, und was sie verlohren, wieder fanden“, brachten die Freimaurer erstens „bei Begehung dieses Festes […] einen Knaben ans Tageslicht, gleich als ob man ihn wieder gefunden hätte“ (Born: Ueber die Mysterien der Aegyptier, S. 124). Zweitens soll „jeder Bruder“ die Freude über die Auffindung „mit dem Suchen nach der Anweisung eines besondern Lichtes, und mit dem Jauchzen und der Freude der Brüder über die Wiederauffindung des verlohrnen Meisterworts vergleichen“ (Born: Ueber die Mysterien der Aegyptier, S. 125). 318 Die „drei inhaltschweren Fragen“ lauten: „(I) Glauben Sie an das Dasein eines einigen Gottes, des Schöpfers von Himmel und Erde, der einzigen Grundursache von Allem, an seine Vorsehung und an die Unsterblichkeit der Seele, und welche Folgerungen ziehen Sie aus diesen Glaubenssätzen? (II) Was für Begriffe haben Sie von der Tugend und der Moral? Welche Verpflichtungen legt uns die Moral gegen Gott, gegen uns selbst und gegen unsere Mitmenschen auf? (III) Auf welche Art glauben Sie, dass der Mensch seinen Mitmenschen am nützlichsten werden könne und auf die würdigste Weise den Zweck seiner Bestimmung erreiche? - Diese drei Fragen, gleichsam vom Tode an das Leben gestellt, seien die ersten drei Schläge des neunfachen Schlages des Maurermeisters und je öfter der Schlag ertönet, eine je bessere und lebendigere Antwort ertheilen Sie in Herz, Geist und That auf die drei Fragen“ (VHF, Bd. 2, S. 116). - Zu den einzelnen Graden s. VHF, Bd. 1, S. 325-330. <?page no="134"?> 134 von denen man zwar wusste, ‚dass’ und eventuell ‚wo’ sie stattfinden, aber keinesfalls ‚was’ sich während diesen ereignet). Das Modell von Gustavs ‚Kindheitshöhle’ erfährt dabei (ähnlich wie zuvor anhand der Erbgruft Ottomars) eine Ausdehnung: Die geheime Gesellschaft trifft sich nämlich ebenfalls in Höhlen. War jedoch Gustavs „stille[] Höhle“ (I/ 1, 65) ein Ort der Prägung eines Subjekts zu einem guten Menschen, so sind nun diese „Katakombe[n]“ (I/ 1, 56) Orte, an denen sich die Erziehungs-Theorie in der Praxis zu bewähren hat: In den unterirdischen Höhlen organisieren sich nämlich edel Gesinnte in Tat und Handlung zum Widerstand gegen den willkürlich agierenden Fürsten, welcher das Volk durch ungerechte Massnahmen systematisch erniedrigt. Da sich die Gesinnungsbrüder dem Willen des Herrschers widersetzen, werden sie vom Staat verfolgt, für vogelfrei erklärt, und damit gezwungen, „in Höhlen“ zu leben (I/ 1, 377). Im Text wird jedoch unmissverständlich deutlich, dass sich gerade in diesen ‚Räuberhöhlen’, wie sie von offizieller Seite genannt werden, die Rechtschaffenen verbergen, deren sogenannte Diebeshandlungen folglich positiv bewertet werden - während es der Fürst ist, der seiner Untaten wegen zur Rechenschaft gezogen werden müsste. Obwohl die Brüder in ihrer Höhle „mehr gewagt und besser gelebt hatte[n] als alle Scheerauer“ (I/ 1, 420), bleibt ihr Kampf gegen den Peiniger erfolglos: Auf der Suche nach einer wirklichen Diebesbande entdecken Späher des Fürsten die unterirdische Menschenwelt und werfen Gustav zusammen mit einigen seiner Brüder ins Gefängnis. - So bleibt es Gustav verwehrt, die sehnlichst gesuchten Antworten auf seine Fragen zu hören. An derjenigen Stelle, die dem Leser bereits aus dem Kontext der nicht beendeten Elementartriaden bekannt ist, vermeldet der Erzähler nämlich: „Ob es gleich schon eilf Uhr nachts ist: so muß ich dem Leser doch etwas Melancholisch-Schönes melden, das eben vorüberzog. Ein singendes Wesen schwebte durch unser Tal, aber von Blättern und Dämmerung verdeckt, weil der Mond noch nicht auf war. Es sang schöner, als ich noch hörte: - - Niemand, nirgends, nie. - - Die Träne, die fällt. - - Der Engel, der leuchtet. - - Es schweigt. - - Es leidet. - - Es hofft. - - Ich und Du! Offenbar fehlet jeder Zeile die Hälfte, und jeder Antwort die Frage. Es fiel mir schon einige Male ein, daß der Genius, der unsern Freund unter der Erde erzog, ihm beim Abschiede Fragen und Dissonanzen dagelassen, deren Antworten und Auflösungen er mitgenommen; […]. Ich wollte, Gustav wäre da.“ (I/ 1: 417f.) Was schliesslich bleibt, sind unbeantwortete Fragen für die einen, Antworten ohne Fragen für die anderen - die mutigen Streiter sind im Kampf gegen die Obrigkeit gescheitert. Aus der Loge, in der die Brüder vor allem deswegen zu ethischem und sittlichem Handeln angehalten werden, damit sie sich am Ende ihres Lebens die Aufnahme in den Himmel zu erwerben und Unsterblichkeit zu erlangen vermögen, führt also offensichtlich ebenso <?page no="135"?> 135 wenig ein Weg in die Ewigkeit, wie dies zuvor bei der Christus-Höhle der Fall war. 4.3.3 Die Platos-Höhle Da der Schauplatz von Gustavs unterirdischer Erziehung mit dem Namen „Platos-Höhle“ (I/ 1, 57) versehen ist, liegt es drittens nahe, die Schilderung dieser Bildungsstätte als Kontrafaktur zu Platons Höhlengleichnis zu lesen. 319 Gustav wird als „Taubstummer in seiner taubstummen Höhle“ vorstellig, der deswegen glücklich ist, weil „seine Wünsche […] nicht über seine Kenntnisse hinaus [langen]“ (beide: I/ 1, 56). Das unterirdische Pädagogium repräsentiert für ihn die Welt. Von deren Beengtheit und Begrenztheit vermag er sich - in Unkenntnis des unendlichen Universums - allerdings kein Bild zu machen: Gustavs Höhle wie seine Träume in und von ihr verbleiben ‚klein’. 320 In diesem seinem Kosmos ist er zwar im Gegensatz zu den Menschen in der Platos-Höhle nicht gefesselt und dazu verdammt, in bewegungsloser Starre auf die periodisch wiederkehrenden, immer gleichen Schattenbilder zu sehen, doch teilt er ihr Schicksal dahingehend, als dass auch ihm die Wahrnehmung originaler sinnlicher Wirklichkeiten und erst recht der unsinnlichen Ideen verwehrt bleibt. Währenddem sich sein Lehrer an die Erdoberfläche unter die „beseelenden Sonnenstrahlen“ (I/ 1, 57) begibt, liegt Gustav unten: die Augen verbunden, gehindert an der wahrhaften Schau. Nach oben gelangt er lediglich passiv (als Schlafender wird er hinauf getragen), weswegen dieser Gang, den er nicht selbst bestreitet, in keiner Weise zur Erweiterung seines Horizonts beiträgt. Dergestalt kommt das Oben einer blossen Spiegelung des Unten gleich, einem Schattenreich, in dem Gustav blind und unwissend vegetiert: Der Kleine schlummert „unter seiner Binde in einem gegitterten Rosenschatten“ (I/ 1, 57); „er fühlt, aber sieht nicht“ (I/ 1, 59, Hervorhebung SB). Die Höhle, die ihm Schutz und Geborgenheit zu spenden scheint, schliesst ihn in Wahrheit ein und von der Aussenwelt, die sie vor ihm verbirgt, ab. In ihr bleiben die Urbilder stumm. 321 Es bleibt dem Genius vorbehalten, Gustavs Blick auf die Dinge zu lenken und ihn schrittweise auf den Ausstieg aus der Höhle vorzubereiten. Indem er dem Jungen vorliest, vermittelt er ihm Kenntnis nicht primär durch Anschauung, sondern via Hörsinn durch Imagination: Die ‚litera- 319 Stellvertretend für diese in der Jean Paul-Forschung gemeinhin vertretene Position der Parallelisierung von Gustavs Kindheitshöhle und der Höhle aus Platons Höhlengleichnis sei hier hingewiesen auf: Kiermeier: Der Weise auf den Thron. 320 „[Wie] unser herausgetragner blaßroter Liebling unter seiner Binde […] schlummert und, ähnlich einem gestorbenen Engel, im unendlichen Tempel der Natur still mit kleinen Träumen seiner kleinen Höhle vor uns liegt“ (I/ 1, 57, Hervorhebungen SB). 321 „[Vielleicht] schliefen unter den Abbildern die stummen Urbilder selber mit ihren untergegangnen Seufzern über die vergehende Welt“ (I/ 1, 54). <?page no="136"?> 136 risch’ gestalteten Menschenbilder erhalten den Vorrang vor den gemalten, welche als Ergänzung zu jeder Erzählung immer erst nachgeliefert werden. Damit unterliegt Gustav nicht der irrtümlichen Beeinflussung, welche die platonischen Schattenbilder erzeugen, sondern wird daran gewöhnt, über das ‚Hören’ zu sehen, was ihm zu einer adäquaten Sicht auf die Dinge verhelfen soll. 322 Das Bestreben des Genius, den Kleinen zu einem weitsichtigen, ethisch und moralisch integren Subjekt zu erziehen, kleidet der Text in eine botanische Erzieh-Metaphorik: Gustav wird als Pflanze mit treibenden Zweigen vorstellig. Damit wird angedeutet, dass in Gustav offensichtlich alles angelegt ist, dessen es zur Ausbildung eines ‚guten’ Menschen bedarf; nur dass der zarten Pflanze beim Wachsen geholfen werden muss, indem man ihre Zweige in die richtige Richtung - nach oben nämlich - biegt. Anhand des Biegens der Zweige sowie dem sanften Gewöhnen und Erzählen von Seiten des Genius paraphrasiert Jean Paul Platons Vorstellung von Bildung. Die entsprechende Stelle im Höhlengleichnis, im siebten Buch der Politeia, lautet: „[Der] Seele eines jeden Menschen [wohnt] das Vermögen und das Organ inne […], mit dem er lernen kann. Wie aber das Auge nicht imstande ist, sich anders als mit dem ganzen Leibe aus dem Dunkel gegen das Helle zu wenden, so muß auch dieses Organ zugleich mit der ganzen Seele vom Werdenden weggewendet werden, bis diese imstande ist, den Anblick des Seienden und des Hellsten unter den Seienden auszuhalten; dies […] ist das Gute […]. Die Bildung […] wäre nun also eine Kunst der ‚Umlenkung’ […]. Sie ist nicht die Kunst, ihm das Sehen zu verleihen; sondern indem sie voraussetzt, daß es dieses zwar besitzt, aber nicht nach der richtigen Seite gewandt ist und deshalb nicht dorthin schaut, wohin es schauen sollte, will sie ihm behilflich sein.“ (Platon Der Staat 518b-519a) Platons Ansicht übernehmend, zeichnet Jean Paul mit Gustav ein Subjekt, dessen geistige, auf eigenem Denken beruhenden Anlagen in ihrer Entwicklung vor allem weiser Lenkung bedürfen. Dann, so heisst es, wird sich Gustav zu einer „hohen Menschengestalt“ (I/ 1, 54, Hervorhebung SB) mausern. Diese Formulierung verweist auf Jean Pauls Konzept des hohen Menschen, das an Platons Beschreibung des Philosophen im Höhlengleichnis, vor allem aber an diejenige im Dialog von der Unsterblichkeit der Seele, dem Phaidon, anlehnt. Unter hohen Menschen, zu denen auch Gustav zu zählen ist, versteht Jean Paul Subjekte, die 322 Auch Schmitz-Emans weist in ihren Ausführungen auf die Vorrangigkeit, welche die Erzählungen vor der Anschauung einnehmen, hin: „Der Genius […] bezieht […] literarisch gestaltete Menschenbilder in sein Erziehungsprogramm ein. Diese haben im unterirdischen Erziehungsprogramm den Vorrang vor gemalten Bildern. Als Ergänzung zu einer Erzählung verwendet, erzeugt das Bild nicht mehr die (falsche) Suggestion direkter Abbildlichkeit, sondern es erscheint als das, was es ist: als Stimulus der Einbildungskraft“ (Schmitz-Emans: Erfindung des Menschen, S. 166). <?page no="137"?> 137 „zum größern oder geringem Grade aller dieser Vorzüge noch etwas [setzten], was die Erde so selten hat - die Erhebung über die Erde, das Gefühl der Geringfügigkeit alles irdischen Tuns und der Unförmlichkeit zwischen unserem Herzen und unserem Orte, das über das verwirrende Gebüsch und den ekelhaften Köder unsers Fußbodens aufgerichtete Angesicht, den Wunsch des Todes und den Blick über die Wolken.“ (I/ 1, 221, Hervorhebungen SB) 323 323 Bergengruen sieht Jean Pauls Konzept der hohen Menschen dahingehend mit Platons Ideen verbunden, als dass mit ihnen Platons Gedankenfiguren aus dem Symposion und dem Phaidros thematisiert werden: Nachdem sie gelernt haben, sinnlich Wahrnehmbares durch intellektuelle Erkenntnisleistung zu komplettieren, sind hohe Menschen dazu befähigt, anhand von irdischer (äusserlicher) Schönheit, „zur wahren Erkenntnis des göttlichen Weisen, Schönen und Guten“ (Bergengruen: Synkretismus, S. 179) zu gelangen (Platon: Phaidros, 246e, 250cd). Diese „Erkenntnisleistung […] impliziert [nun] die Ausbildung des eigenen Schönen und - in der Metapher des Symposions - die Erzeugung des Guten im Schönen (Symposion, 206b)“ (Bergengruen: Synkretismus, S. 180). Über die Gottesahnung (hier lehnt sich Jean Paul - wie Bergengruen darlegt - an Friedrich Heinrich Jacobi an) entwickeln hohe Menschen folglich ein moralisches Bewusstsein, das sich wiederum in ihrem Handeln ausdrückt: „[Edle] Menschen […] [-] mit dem Blik […] über den Wolken [- sind] […] thätig aus Tugend“ (II/ 2, S. 789). Dabei kommt der Literatur die Aufgabe zu, den Weg zur Moral zu ebnen (vgl. oben: Der Genius liest Gustav Plutarchs Biographien vor). Derjenige dichterische (hohe) Mensch, der die „literarische Phantasie […] durch [sein] moralische[s] Bewusstsein […] als Phantasie-Leistung [erkennt], […] sich [folglich] des Darstellungscharakters […] der Literatur bewusst ist, kann ihre ειδωλα als Landkarte für die Findung der moralischen ιδεαι benutzen“ (Bergengruen: Synkretismus, S. 189f.) - kann also „Philosophenkönig“ (Bergengruen: Synkretismus, S. 189) werden, d.h. ein Philosoph, der zur göttlichen Schau der Ideen des Wahren, Guten, Schönen und Gerechten befähigt ist. Für meine Thesenbildung ist ausserdem bezeichnend, dass Bergengruen in seiner Schilderung des hohen Menschen Emanuel aus dem Hesperus die von diesem errichtete „Blütenhöhle“ als Ort, der „Transzendenz symbolisiert“ (Bergengruen: Synkretismus, S. 185), bezeichnet. Ähnlich wie Bergengruen beschreibt Kiermeier Jean Pauls „Platonerlebnis“ (Kiermeier: Der Weise auf den Thron, S. 56) im Verbund mit dessen Jacobi-Rezeption: „Was bei Jacobi das Fühlbare, das Glaubbare ist, ist bei Platon die Welt des Denkbaren“ (Kiermeier: Der Weise auf den Thron, S. 61). Platons „metaphysische[] Begründung der Schönheit als des Guten [und] des Wahren“ (Kiermeier: Der Weise auf den Thron, S. 67) sowie „Jacobis Glaubensphilosophie“ (Kiermeier: Der Weise auf den Thron, S. 61) seien als initiatorisch in Bezug auf Jean Pauls Entwicklung seines Bildes des tugendhaften, guten und gerechten Menschen zu betrachten. Diese zeichnet Kiermeier ausgehend von der Satire Der Mensch ist entweder ein lebendiger Bienenstock oder auch ein lebendiges Feldmausloch (1789/ 90), über die Abhandlung Über die Fortdauer der Seele und ihres Bewustseins (1790/ 91) hin zum Extrablatt Von hohen Menschen (1791/ 92) aus der Unsichtbaren Loge (Kiermeier: Der Weise auf den Thron, S. 78f.) nach. Am vollkommensten sieht er das Bild des hohen Menschen in Albano (Titan) verkörpert (Kiermeier: Der Weise auf den Thron, S. 83). Entfernt erinnert der zitierte „Blick über die Wolken“ an Aristophanes’ Komödie Die Wolken. Zwar versinnbildlichen da die Wolken die Lehren des Schurken Sokrates (Aristophanes zeichnet ihn in diesem Stück nicht wie gemeinhin als Philosophen und <?page no="138"?> 138 Dem Philosophen aus dem Höhlengleichnis ähnlich, dessen Seele nach seiner Umwendung die Idee des Guten schaut, ist Jean Pauls hoher Mensch bestrebt, sich so weit als möglich zu vergeistigen. Sein gegen den Himmel gerichteter Blick sowie seine Todessehnsucht sind Aufweis für seine Bemühungen, sich der irdischen Fesseln zu entledigen, um in höheren, reingeistigen Sphären Ätherluft zu atmen. So wie Platons Philosoph im Höhlengleichnis, der, nachdem er zum Ort des Denkbaren vorgedrungen, nicht länger gewillt ist, die Geschäfte der Menschen zu betreiben, es ihn vielmehr immerfort ‚nach oben’ drängt, empfindet Jean Pauls hoher Mensch die Unvollendetheit weltlichen Handelns, so dieses nicht vom Denken geleitet ist, so das Denken sich nicht im Tun offenbart. Dieser übermenschlich Fähige verachtet das Leben, da er weiss, dass nicht die Erde, sondern die intelligible Unendlichkeit sein Bestimmungsort ist: „Wenn ein Engel sich über unsern Luftkreis stellte und durch dieses trübe mit Wolkenschaum und schwimmendem Kot verfinsterte Meer herniedersähe auf den Meergrund, auf dem wir liegen und kleben - […] wenn dieser Engel […] unter den Seetieren einige aufrecht gehende hohe Menschen zu sich aufblicken sähe - und er wahrnähme, wie sie […] sich durch die Wellen drängten und lechzeten nach einem Atemzuge aus dem weiten Äther über ihnen, wie sie […] das Leben mehr ertrügen als genössen, […] Hände und Füße dem Meerboden ließen und nur das aufwärts steigende Herz und Haupt dem Äther außer dem Meere gäben und auf nichts sähen als auf die Hand, die das Gewicht des Körpers […] [vom Boden] trennt und ihn aufsteigen lässet in sein Element ....“ (I/ 1, 221f.) „Da aber alle Gegenstände dieser Erde die Beschaffenheit nicht haben, die solche Seelenstürme in uns verdienen kann; […] so sieht man, daß die größten Bewegungen unsers Ich nur vielleicht ausserhalb des Körpers ihren vergönnten geräumigern Spielraum antreffen.“ (I/ 1, 224) Der Wunsch nach Vergeistigung drückt sich im Falle der hohen Menschen folglich vorab in Todessehnsucht aus. Darin gleichen sie dem Philosophen, wie ihn Platon im Phaidon beschreibt. In diesem „Dialog vom Tode“ 324 - bezeichnenderweise nennt Jean Paul „die alte Philosophie“ im neunundzwanzigsten Sektor „die Kunst sterben zu lernen“ (I/ 1, 256f.) - wird der Philosoph als einer, den das Leben im Sinne einer Leib-Seele-Verbindung „Inbegriff ehrlichster Wahrheitssuche,“ sondern „als Scharlatan, Spekulant[] und Rechtsverdreher, kurz […] als Ausbund aller sophistischen Künste“ (Manfred Fuhrmann: Aristophanes, S. 80), doch werden die reinen, ungetrübten luftigen Höhen zugleich unmissverständlich sowohl als Wesensverwandte der Intelligenz (Wolfgang Schmid: Das Sokratesbild der Wolken, S. 215), als auch als Sphäre göttlicher Instanz (Fuhrmann: Aristophanes, S. 79) vorstellig - und damit als Bereich, in den sich die irdisch gebundenen Subjekte zu erheben sehnen. 324 Paul Friedländer: Platon Band III. Die platonischen Schriften zweite und dritte Periode, S. 30. (Im Folgenden zitiert als Platon.) <?page no="139"?> 139 an der Erfüllung seiner philosophischen Aufgabe hindert, vorstellig. Letztere besteht darin, das Erfassen des An-sich zu erlangen; d.h., statt dem sinnlichen Erfassen der körperlich-irdischen Gegenstände in der übersinnlichen Schau des Ewig-Seienden zu wahrer Erkenntnis zu gelangen. Solange die Seele aber an den Leib gebunden bleibt, der in seiner Wesenheit den sichtbaren Dingen ähnlich ist, kommt sie nicht über das Begreifen körperlichen Seins hinaus, vermag sie sich nicht als ihr eigener Bestimmungsgrund zu verwirklichen; vermag sie nicht reine Seele zu sein. 325 Bevor der Philosoph (oder - mit Jean Paul gesprochen - der hohe Mensch) des unkörperlichen Seins der ewigen Formen ansichtig zu werden vermag, muss er versuchen, sich ganz der Seele zu, beziehungsweise ganz vom Körper abzuwenden. Sein Leben ist folglich auf den Tod ausgerichtet, in dem die ersehnte Loslösung der Seele vom Körper gelingen soll. Zu philosophieren, heisst dann, sterben zu lernen, heisst, den Tod als Befreiung der Seele vom Leib nicht als Ende, sondern als Voll-Endung zu verstehen. 326 Die Äusserung des Genius, Gustav dürfe sterben, so er gut sei, bezieht die Essenz dieser platonisch-philosophischen Lebensauffassung immer schon mit ein. Ebenso gemahnt seine Schilderung des jenseitigen Bereichs, in den Gustav gelangt, so er gestorben ist, an den Ort des unsinnlich Vernehmbaren, wenn es heisst, da würden sich Selige aufhalten, denen hoch in der Luft ein „Licht […] so gross wie [ein] Kopf“ (I/ 1, 57) leuchte. Aufhorchen lässt allerdings seine Bemerkung, in diesem Himmel befinde sich „die Stubendecke […] so hoch, daß sie kein Mensch erlangen [könne]“ (I/ 1, 57). Hiermit ist angedeutet, dass Gustavs Entgrenzungsversuche immer wieder an irdischen Begrenzungen scheitern werden. Tatsächlich scheint das unterirdische Pädagogium Gustav nur ungenügend auf Begegnungen mit diesseitigen Subjekten vorbereitet zu haben. Im naiven Glauben, in seinem irdischen Himmel würden sich lediglich selig-gute Menschen aufhalten, hat er nie gelernt, zwischen lautern und unredlichen Charakteren zu unterscheiden. Seine Seele scheint für wenig tugendhafte Einflüsse (beispielsweise Robisch) ebenso empfänglich zu sein wie für moralisch integere (beispielsweise der Genius). So binden Gustav profane Allzumenschlichkeiten immer wieder an die Erde zurück. Ihm gelingt es nicht, sich seiner Leiblichkeit zu entledigen und ganz Seele zu werden. Das philosophische Ideal der hohen Menschen, reine Geistlichkeit zu schauen, bleibt zwar ein lebenslanges Desiderat, doch stellt es ihn zugleich vor eine nie erfüllbare Aufgabe. Dies bringt der Erzähler folgendermassen auf den Punkt: „Eine unsichtbare Hand legt den Stimmhammer an den Menschen und seine Kräfte - sie überschraubt, sie erschlafft Saiten - oft zersprengt sie die feins- 325 Friedländer: Platon, S. 36-44. 326 Friedländer: Platon, S. 49-53. <?page no="140"?> 140 ten am ersten - nicht oft nimmt sie einen eilenden Dreiklang aus ihnen - endlich wenn sie alle Kräfte auf die Tonleiter der Melodie gehoben: so trägt sie die melodische Seele in ein höheres Konzert, und diese hat dann hienieden nur wenig getönet. - - -“ (I/ 1, 30, Hervorhebungen SB) Die Erde wird folglich für Gustav nie mehr denn ein potentieller Himmel sein, die Auferstehung zum Ewig-Seienden nie mehr denn eine Sehnsucht. 4.4 Textuelle Ikonizität II: Mehrstimmigkeit „Dissonanzen“ - „Auflösungen“ - „Melodie“ (I/ 1,64) Das unterirdische Pädagogium erweist sich folglich als Stätte der Bedeutungsverdichtung: Sein Sinn ist mehrfach determiniert. Die jeweiligen Ausdifferenzierungen der in diesem Sinngeflecht zusammengeführten christlichen, freimaurerischen sowie platonischen Denkmodelle koexistieren. Obwohl sich die Sinnrichtungen kontrastierend gegenüber stehen, gelten sie alle zugleich: Sie verhalten sich komplementär zueinander. Daraus folgt nicht nur, dass dieser Lexie kein „konstante[r] Sinn“ 327 zugewiesen ist, sondern auch dass in ihr die (vermeintlich textspezifische) kausallogische Ordnung durch eine räumlich-simultane ersetzt wird. In einem Text, in dem sich jedes Element als ein mehrfach bestimmtes erweist, in dem sich jeder Lese-Schritt in horizontaler Richtung fortwährend in verschiedene, vertikal angeordnete Sinngebilde auffächert, erschliesst der Leser Sinn nicht progressiv, sondern punktuell, indem er an sämtlichen Textstellen gleichzeitig mehrere solcher sinnhaften Einheiten wahrnimmt. Der Leser eines Textes ist ebenso wie der Betrachter eines Bildes aufgefordert, „alle Richtungen auf einmal zu lesen, d.h. […] die Fläche [SB: den Logen-Text] unter Simultanbedingungen [zu betrachten]“. 328 Bedeutungen - so darf gefolgert werden - sind in diesem Text nicht gegeben, sondern permanent im Werden begriffen. Je nachdem, mit welchen anderen Sinneinheiten eine einzelne Sinneinheit verknüpft und simultan aktualisiert wird, realisiert sie unterschiedliche Bedeutungsfacetten: So stellt die Lexie ‚Gustavs Auferstehung’ eine Veräusserung des Sinngeflechts ‚Fortdauer nach dem Tode’ dar, das auch die Lexien ‚Scheintoter Ottomar’ sowie ‚Amandus als Mumie’ mit konstituieren; sie vereint ausserdem die Beziehungsbündel ‚Christushöhle’, ‚Freimaurerloge’ und ‚Platoshöhle’ auf sich (tritt folglich selbst als mehrere Signifikate auf sich vereinendes Sinngeflecht in Erscheinung); und fungiert schliesslich - dies wird im folgenden 327 Kristeva: Paragramm, S. 183, Hervorhebung im Original. 328 Boehm: Ohne Worte, S. 267. <?page no="141"?> 141 Teilkapitel Gegenstand der Ausführungen sein - als Ausgangs-, Mittel- und Endglied in den vernetzten Kreisschlüssen. Offensichtlich bleiben Lexien nicht an die eindimensionale, denotative Bedeutung, die sich aus ihrer syntagmatischen Rezeption ergibt, gekoppelt. Durch ihre Eigenheit, sich über ihr kontextuelles Umfeld hinaus und über die Textebenen hinweg aufeinander zu beziehen, produzieren sie vielmehr die Polyphonie des poetischen Textes: Simultan erklingen diese eigendynamischen Segmente mit all den Verbindungen, die sie im Textraum etablieren. Es ist das Plurale, das den Text regiert; Eindeutigkeit wird „durch die Expansion des paragrammatischen Rasters überschritten“. 329 Aufgrund dieser komplementären Logik der poetischen Sprache, die sich im dynamischen Prozess ihrer Verknüpfungsweisen von Sinneinheiten offenbart, erweist sich die Textbotschaft der Unsichtbaren Loge als untransparent, womit erneut eine Parallele zu den modernen Kunst-Bildern gezogen ist: Wie die Simultaneität ist die Opazität als ikonischer Grundzug zu nennen. Moderne Kunst-Bilder geben ihren ‚Sinn’ nicht geradlinig und unmittelbar preis. Vielmehr stellt sich ihr Gehalt durch die vielfältigen, in alle Richtungen weisenden Verbindungen ihrer Elemente divers ein. Die bildliche Fläche erscheint opak, 330 da Bilder, die sich in den Dienst einer eindeutigen Botschaftsübermittlung stellen (wie dies beispielsweise Werbebilder tun), „in der transparenten Botschaft, die sie anzeigen[, verschwinden]“ 331 und so kaum ein angemessenes Bildverständnis vermitteln. Unter modernen Vorzeichen setzt „die poietische Potenz […] ihre eigenen opaken Normen“. 332 In vergleichbarer Weise wird bei einem Gang in ausschliesslich horizontaler Richtung durch den Logen-Text dessen Sinn nicht offenbar, da seine Einheiten über die Ebenen hinweg zueinander in Beziehung treten und als Teil dieses integrativen Verbundes bedeuten. Der Logen- Text wird folglich als „ein Organismus [vorstellig], dessen sich ergänzende Teile voneinander abhängen und die unter verschiedenen Gebrauchsbedingungen jeweils nacheinander dominieren, ohne dass sie deswegen ihre Besonderheiten verlieren, die sie ihrer Zugehörigkeit zum ganzen Kode schulden.“ (Kristeva: Paragramm, S. 169) Gerade darin, dass literarische Sinneinheiten in vielerlei Richtungen nach mehreren Ebenen bedeutungsvoll ausstrahlen und sich derart nicht auf einen eindeutigen Sinngehalt festlegen lassen, wird die ikonische Dimension ihres Bedeutens offenbar. Diese Logik der komplementären Koexistenz, die Kristeva in Bezug auf die lexikalische Ebene des literarischen Textes 329 Kristeva: Paragramm, S. 173. 330 Boehm: Ohne Worte, S. 268. 331 Boehm: Hermeneutik, S. 463. 332 Boehm: Einleitung, S. XVII. <?page no="142"?> 142 formuliert (s. folgendes Zitat), taucht in „der poetischen Sprache […] auf allen Ebenen […] auf[]“, 333 sodass - was sogleich über die Wortfunktion gesagt wird - als paradigmatisch für sämtliche Lexien des Textes zu lesen ist: In ihm „spann[en] sich die Wort-Funktion[en] […] innerhalb eines räumlichen Diagramms von Korrespondenzen […] aus, um die fixierten […] Morpheme der Alltagssprache mit einer komplementären Bedeutung zu versehen. Und dies[] […], um dem poetischen Bild eine neue Dimension zu verleihen. […] [D]ie Sa-Sé-Unterscheidung [sieht sich] zerstört, und das linguistische Zeichen erscheint als ein Dynamismus.“ (Kristeva: Paragramm, S. 179) Im poetischen Text erweisen sich die bedeutenden Segmente also als dynamisch: Die transparenten Signifikant-Signifikat-Kopplungen sind aufgehoben - jeder Signifikant hat mehrere Signifikate; jedes Signifikat ist immer auch Signifkant. Die Bedeutungsdimensionen pendeln unermüdlich zwischen den Polen Verflüssigung und Fixierung hin und her. In dieser ihrer Uneindeutigkeit gleichen die Lexien eines poetischen Textes dem „Grund [eines] Bildes[, der] […] die Einheitsform aller bildlichen Sinnrichtungen und Einzelelemente darstellt“: 334 Während sich das poetische Sinngeflecht in mehrere Sinngebilde ausdifferenziert, vollzieht sich im Bildgrund das „gegenseitige Sichumdeuten eines gleichen Farb- Flächen-Textes zu verschiedenen Sinnrichtungen hin“. 335 Diese ikonischen Sinnrichtungen, die sich wie die sprachlichen Sinngebilde synchron realisieren, gehen ebenso wenig darin auf, konventionalisierte Referenzbezüge wiederzugeben. Vielmehr machen die komplexen Konstruktionen aus vielfältig korrelierenden Grenzlinien oder mehrdeutigen Farbkontrasten sichtbar, was ohne ihr Bezogensein aufeinander nie sichtbar würde - „mit Dingen in der Welt [haben sie keine] […] Ähnlichkeit“. 336 Genau wie in literarischen Wortlauten erstarrte Sinngefüge permanent aufgelöst und durch dynamisch-reflexive ersetzt werden, wird Bildsinn anhand dieser ineinander übergehenden Beziehungsgefüge fortwährend neu. 337 Als Quell der Sinngenerierung erweisen sich sowohl im Medium des Bildes wie im Medium der Sprache die Undefiniertheitsstellen. Das Signifikationspotential dieser „Zwischenräume[]“ 338 und „leeren Mengen“ 339 333 Kristeva: Paragramm, S. 168. 334 Boehm: Hermeneutik, S. 454. 335 Boehm: Hermeneutik, S. 463. 336 Boehm: Hermeneutik, S. 462. 337 „Das Bildphänomen baut seine Sprache aus der Einheitsform aller Binnenformen und deren divergenten Bedeutungen auf, nicht im Sinne von Umschliessen und Enthalten-sein wie ein Gefäss ‚Etwas’ enthält. Sondern im Sinne eines Bildwerdens, […] nicht eines Bildseins“ (Boehm: Hermeneutik, S. 466). 338 Boehm: Hermeneutik, S. 461. 339 Kristeva: Paragramm, S. 182. <?page no="143"?> 143 liegt darin begründet, dass sich die diese Leerstellen konstituierenden Elemente divers zu Beziehungsgeflechten zusammenfinden können. Dabei sind die sinnhaften Konstituenten in ihrem Aufeinanderbezogensein nicht fixiert, sondern gehen multilaterale Verbindungen ein. Daraus dass sich Sinngebilde gegen ein absolut eindeutiges und damit transparentes Bestimmtsein sperren, resultiert ihre Mehrdeutigkeit. An Bildern ist folglich das „ikonisch Dichte […] das […] Leerste […]: die Nicht-Figur, d.h. die gleichzeitige Beziehungsform von Figur zu Figur, von Figur zu Komposition, zu Farbaufbau etc. In der Unbestimmtheit des Kontrastes zwischen Grenzen hat […] jene ‚Logik’ von Korrespondenzen [ihren Ort], aus deren Komplexität sich die phänomenale Gegebenheit eines bestimmten Bildes ergibt.“ (Boehm: Hermeneutik, S. 463) Vergleichbar erweisen sich in poetischen Texten „die leeren Mengen [als] ein besonders signifizierender Verkettungsmodus“. 340 Diese Einheit der „Leere […] ist leer, […] weil sie alles ist, […] denn in ihr resorbieren sich alle kontrastierenden Seme, welche in Gegensatz zueinander und doch auch im Einklang stehen“. 341 Zusammen genommen ergeben die synchron zueinander in Beziehung tretenden bildlichen und sprachlichen Sinneinheiten die mehrschichtigen Totalitäten Bild und Text. Im Folgenden wird es darum gehen, den vielfältigen Verknüpfungen in der Unsichtbaren Loge, diesem „paragrammatische[n] Raster“, 342 nachzugehen. Es gilt, die Verbindungen, welche die korrelierenden Textelemente über alle Ebenen des Textes hinweg eingehen, zu beschreiben sowie aufzuzeigen, dass jedes einzelne von diesen mehrere Male signifikant in Erscheinung tritt. Im dreidimensionalen Signifikations-Netz Logen-Text, das ahierarchisch organisiert ist, sodass sämtliche Elemente potentiell zugleich bedeutsam werden, stellt sich Sinn nicht in der Summe der Elementbedeutungen ein, sondern resultiert aus den sich permanent zu jeweils anderen Beziehungsbündeln zusammenfindenden Elementverbindungen. Die folgenden (Teil-)Kapitel werden erhellen, dass die ikonische Beschaffenheit der poetischen Bedeutung im multidirektionalen Ausstrahlen und dem damit einhergehenden Mehrfachbestimmtsein der Textelemente begründet liegt. 340 Kristeva: Paragramm, S. 180. 341 Kristeva: Paragramm, S. 183, Hervorhebungen im Original. - Wellbery definiert in seinen Erläuterungen zum poetologischen Konzept in Sternes Tristram Shandy die „leere Stelle […] [als] Bedingung […] von semantischer Beweglichkeit“ (David E. Wellbery: Der Zufall der Geburt. Laurence Sternes Poetik der Kontingenz, S. 36). (Im Folgenden zitiert als Zufall.) 342 Kristeva: Paragramm, S. 174. <?page no="144"?> 144 4.5. Vernetzte Kreisschlüsse „Zweitens hängt […] in der Natur alles zusammen, und Professores sollten es den kosmologischen Nexus nennen; jeder ist Last und Träger zugleich; so klebt am Magnet das eiserne Lineal, an diesem ein Linealchen, an diesem eine Nadel, an dieser Feilstaub“ (I/ 1, 210) Die Analyse der Bedeutungsdynamiken, die sich in der Matrix Logen-Text vollziehen, wird erneut in der Lexie ‚Erzieh-Höhle’ ihren Ausgang nehmen, um der These, die Textelemente seien polyvalent und also nach allen Seiten hin vernetzt, Nachdruck zu verleihen. Da sie den Lesern ausserdem bereits vertraut ist, kann die Verfasserin unvermittelt mit der Beschreibung ihrer vielfachen Produktivität, ihrem Zugehören zu diversen anderen Sinngefügen, beginnen. Die Beweglichkeit der diese Lexie konstituierenden „Untergramme[]“ 343 ist sodann als paradigmatisch für sämtliche Lexien des Logen-Textes zu lesen: Von ihr ausgehend führen netzartig angeordnete Pfade zu allen Orten des Textes; alle Textorte sind paragrammatisch mit ihr verbunden. So gut wie jede andere Lexie ist sie somit Aufweis für die kon- 343 Kristeva: Paragramm, S. 175. - Lexien sind - dies wurde oben erläutert - Leseeinheiten, anhand derer der Text in Bedeutungsräume eingeteilt wird. Sie können einige Sätze, aber auch nur einige Worte umfassen. Derart kommen sie dem sehr nahe, was Kristeva als Gramm, Teilgramm oder Untergramm bezeichnet. Lexien sind die beweglichen Teile, die die paragrammatische Struktur des Textes ausmachen: An ihnen wird „die symbolische Tätigkeit der Sprache als dynamisches Vorzeichen, als bewegliches ‚Gramm’, also als Paragramm, […] [ersichtlich], das einen Sinn eher ausarbeitet als ausdrückt“ (Kristeva: Paragramm, S. 175). Gramme lassen sich in „Teilgramme“ und diese wiederum in „Untergramme“ unterteilen (Kristeva: Paragramm, S. 175). Sie alle gehen vielfache Verknüpfungen mit anderen (Teil- oder Unter-) Grammen ein: Dabei weisen „Beziehungen […] (1) in den Untergrammen, (2) zwischen ihnen [sowie] (3) zwischen den Teilgrammen […] weder prinzipielle Unterschiede noch eine Hierarchie auf“ (Kristeva: Paragramm, S. 175). Mit Hilfe der Teil- und Untergramme, in welche die Gramme eingeteilt werden können, lassen sich die Beziehungen, die die Leseeinheiten miteinander eingehen, detaillierter benennen und beschreiben. Das Gramm ‚Fortdauer nach dem Tod’ beispielsweise fächert sich in die Teilgramme ‚Gustavs Auferstehung’, ‚Scheintoter Ottomar’ oder ‚Amandus als Mumie’ auf. Als Untergramme dieser Teilgramme fungieren unter anderen die Motive ‚Hand’, ‚Lilie’ oder ‚Ruhe’. (Letzteres wird im Teilkapitel Motivische Verknüpfungslogik im paragrammatischen Raum erläutert). <?page no="145"?> 145 notativen Textbewegungen, die in ihrer zirkulären Anlage 344 für die Mehrdeutigkeit des poetischen Textes verantwortlich zeichnen: Aus dem fortlaufenden Wechselspiel zwischen der Rekurrierung auf bereits Benanntes sowie der gleichzeitigen Differenzierung von demselben generieren die Textsegmente neue Bedeutungsdimensionen. Anhand dieser Art und Weise, wie sich im mehrdimensionalen „tabuläre[n] Modell“ 345 Text über rhizomatisch vernetzte Segmente Bedeutung herstellt, werden auch immer wieder Parallelen zur ikonischen Sinnerzeugung, die sich aufgrund des wechselseitig determinierenden Verhaltens der im Bild dargestellten und synchron erscheinenden Linien und Farbflächen, also „aus der vielfältigen Korrelierbarkeit der Grenzen und ihrer jeweiligen Binneninhalte“, 346 einstellt, zu beobachten und zu beschreiben sein. Es wird erhellen, dass die Textamplificatio des Logen-Textes ikonisch gesteuert ist. In der Folge geht die Verfasserin als erstes auf die thematische Strukturierung von Bedeutungszusammenhängen ein, danach auf die motivische. Nicht dass die Verwobenheiten des Logen-Textes sich nicht über die Ebenen hinweg erstreckten, doch käme eine minutiöse Schilderung aller Element-Verknüpfungen einer neuerlichen Verwirrung des Lesers gleich, was mit dieser Analyse ja gerade nicht geleistet werden will. Auf Lesepfade, die sich über (Ebenen übergreifende) alternative Verknüpfungen der Textelemente parallel zu derjenigen Verweisspur, welche die Verfasserin aufzeigt, eröffnen, wird an betreffender Stelle verwiesen. Der Text wird von dieser Stelle an solange parallel zum Haupttext geführt, bis die Skizzierung des Inhalts der alternativen Lesespur abgeschlossen ist. Die Art der Verknüpfung zwischen den (Teil-, Unter-)Grammen - inspiriert von Kristeva 347 unterscheidet die Verfasserin zwischen phonetischen, semischen, typologischen und funktionalen Verknüpfungen - wird in eckigen Klammern genauer bestimmt. 344 Barthes geht in einem Essay aus dem Jahre 1973 zur Malerei Bernard Réquichots auf die Struktur der Spirale ein, auf eine Struktur, die er als zentral für den Sinngenerierungsprozess sowohl von Kunst-Bildern wie auch von poetischen Texten befindet. Barthes fasst die Spirale als einen endlos verschobenen Kreis auf, auf der die Dinge, jeweils auf einer anderen Ebene und auf jeder Ebene different, wiederkehren: „La spirale, comme cercle déporté à l’infini, est dialectique: sur la spirale, les choses reviennent, mais à un autre niveau: il y a retour dans la différence, non ressassement dans l’identité […]. La spirale règle la dialectique de l’ancien et du nouveau; grâce à elle, nous ne sommes pas contraints de penser: tout est dit, ou: rien n’a été dit, mais plutôt: rien n’est premier et cependant tout est nouveau. […] La même chose se passe dans la langue poétique” (Roland Barthes: Réquichot et son corps, S. 19, Hervorhebung SB). 345 Kristeva: Paragramm, S. 175. 346 Boehm: Hermeneutik, S. 461. 347 Vgl. Kristeva: Paragramm, S. 175, 178. <?page no="146"?> 146 4.5.1. Thematische Verknüpfungslogik im paragrammatischen Raum In diesem Teilkapitel werden die „hyperlinear[en]“ 348 Verknüpfungen des Logen-Textes aufgezeigt. In einer solchen Lektüre treten die syntagmatischen Verbindungen zwischen den Textelementen zugunsten derjenigen, welche diese im Textraum eingehen, zurück. Um der Lesespur, welcher die Verfasserin sogleich nachgehen wird, in ihrem sprunghaften Fortschreiten, in all ihren Abzweigungen und Kehrtwenden folgen zu können, hat die Verfasserin deren Verlauf graphisch festgehalten. 349 Die Graphik macht ersichtlich, dass die Lexie ‚Erzieh-Höhle’ am Ort ihres Auftretens nicht fixiert ist. Obwohl sie - um die lineare Lektüre, die schematisch im rechteckigen Kasten mit Pfeil dargestellt ist, zu paraphrasieren - eingebettet ist zwischen den sich vor ihr befindlichen Szenen (in ihnen wird berichtet, wie sich Gustavs Eltern kennen gelernt haben, sowie dass der Rittmeister nicht von adliger Abstammung ist) und den auf sie folgenden Szenen (sie beschreiben Gustavs Entführung, sein Wiederauftauchen, seinen Alltag im Schlossgarten sowie den allwinterlichen Umzug der Familie nach Scheerau), streckt die Lexie ‚Erzieh-Höhle’ (I/ 1, 54) ihre Fühler in den Textraum hinaus: So tritt sie beispielsweise mit der Lexie ‚Waldhöhle’ (I/ 1, 420), der Lexie ‚Christen-Höhle’ (I/ 1, 377) sowie über die diese Lexien konstituierenden Elemente mit den Lexien ‚Kirchendiebesbande’ (I/ 1, 110), ‚Adeldiplom Falkenberg’ (I/ 1, 47), ‚Medizinalratdiplom Fenk’ (I/ 1, 99) oder ‚Adeldiplom Röper’ (I/ 1, 150) bedeutsam in Erscheinung. Die genannten Lexien erweisen sich als ebenso beweglich wie die Lexie ‚Erzieh-Höhle’: Als Aufweis ihrer Polyvalenz wird - ausgehend von der Lexie ‚Adeldiplom Falkenberg’ sowie von der Lexie ‚Schwindelei Katze’ - exemplarisch auf zwei weitere Kreisschlüsse verwiesen. Soweit die grobe Darstellung der Lesespur, der nun im Detail (d.h. mit Fokus auf die diversen Beziehungsarten zwischen den Textelementen) nachgegangen wird. 4.5.1.1 Zirkuläre Wege: Von der Höhle zu ihr zurück Zu den bereits erwähnten Semantisierungen, mit denen die Lexie ‚Erzieh- Höhle’ aufgeladen ist, 350 treten über die äquivalenten Benennungen der 348 Bergengruen: FG, S. 257. 349 S. Anhang Graphik 1, S. 221. 350 Hier sind der christliche, freimaurerische sowie platonische Bedeutungskomplex zu nennen. Die Lexie ‚Erzieh-Höhle’ spielt ausserdem in der Konstituierung des Beziehungsgeflechts ‚Gustavs Auferstehung’ eine zentrale Rolle, ist folglich über diese auch mit der Ausdifferenzierung des tiefenstrukturell angelegten Kodes ‚Fortdauer über den Tod hinaus’ verknüpft. Ebenso ist sie mit den die Lexie ‚Gustavs Auferstehung’ konstituierenden Segmenten, den ‚Todessymbolen’ (Lilie, Sphärenmusik, Mond) und dem ‚Frage-Antwort-Spiel’ des Genius - welche im Beziehungsbündel <?page no="147"?> 147 Auferstehungsstätte (die Lexeme ‚heiliges Grab’ und ‚Katakombe’) die Seme 351 ‚christlich’, ‚geheim’ und ‚unterirdisch’ hinzu. Wurde der Bedeutungsverbund ‚Christen/ christlicher Glaube’ bereits durch die Lexie ‚Auferstehung Gustavs’ sowie über die Textstellen, die auf Gustav (Jesus) oder den Genius (Gottvater) referieren, etabliert, wird ihm durch die genannten Seme (‚christlich’, ‚geheim’ und ‚unterirdisch’) eine weitere Bedeutungsdimension verliehen: Diese situieren Gustavs ‚stille Höhle’ nämlich in demjenigen christlichen Kontext, den der Leser unweigerlich mit den unterirdischen „Höhlen und Gängen“ konnotiert, von denen die „Catholischen“ meinen, „daß bey denen schweren Verfolgungen, so die ersten Römischen Kayser wider die Christen angestellet, diese zu Haltung ihres Gottesdiensts, und zum Begräbniß ihrer Glaubens-Genossen, insonderheit dererjenigen, so als Märtyrer gestorben, dergleichen Behältnisse unter der Erde heimlich verfertigt, und dass dannenhero an diesen Oertern eine unbeschreibliche Menge heiliger Reliquien anzutreffen sey.“ (Zedler: Universal-Lexicon Bd. 5, S. 1403f.) Jede weitere Nennung der ‚Kindheitshöhle’ erweckt folglich auch Gedanken an heimliche Treffen in unterirdischen Anlagen. Im Teilkapitel Die Freimaurer-Loge wurde die ‚Kindheitshöhle’ bereits mit dem Sem ‚Katakombe’ aufgeladen und trat da in der Bedeutung ‚Stätte, an der Maurer zu guten Menschen herangebildet werden’ (als Treffpunk einer Freimaurer-Loge also), in Erscheinung. Diese Semantisierung der Lexie wird auch Endpunkt derjenigen Spur sein, der im textuellen Beziehungsgeflecht nun nachgegangen wird, doch gilt es, den zusätzlichen Windungen, die sie auf dem Weg dahin markiert, zu folgen und in ihrer Signifikanz für die Sinngenerierungspraktiken des Logen-Textes zu beleuchten. Zunächst verstärkt der Erzähler die konnotative Verknüpfung der Gustavschen ‚Erzieh-Höhle’ mit den rätselhaften Zusammenkünften, wenn er beiläufig erwähnt, dass er nicht wisse, wohin sein Held jeweils für eine bestimmte Zeit verschwinde, geschweige denn darüber in Kenntnis gesetzt sei, was dieser dort tue: „Noch am heutigen Sonntag hab’ ichs nicht heraus, ‚Amandus als Mumie’ sowie ‚unterirdisches Pädagogium’ produktiv werden -, wie auch mit der Anweisung zur Simultanlektüre, welche sich aus der Überblendung der Lexeme (und deren Sinngehalten) ‚sterben,’ ‚auferstehen’ und ‚geboren werden’ ergibt, verbunden. 351 Kristeva unterscheidet verschiedene Textniveaus, auf denen die sich an sich synchron realisierende ‚Urfunktion’ des Textes auftritt: beispielsweise das „phonetische[], semische[], sequentielle[], ideologische[]“ (Kristeva: Paragramm, S. 175). Die Gramme, die das paragrammatische Raster Text konstituieren, können folglich beispielsweise „semische[] [oder] phonetische[]“ (Kristeva: Paragramm, S. 172) Verbindungen eingehen. Mit dem Begriff ‚Sem’ bezeichnet die Verfasserin in Anlehnung an diese Unterscheidung die Bedeutung, die sich über ein Lexem auf einer bestimmten Textebene zeigt. <?page no="148"?> 148 warum Gustav fünf Tage später in Scheerau eintraf, als er konnte“ (I/ 1, 194); oder: „Ich werde die Angst der Welt sicher nicht vermindern, wenn ich noch erzähle, daß Gustav regelmäßig alle sieben Wochen auf fünf Tage verreiset, woraus seine Freunde und der Biograph selber gerade so klug werden als die ältesten Leser“ (I/ 1, 213). Er baut das Mysterium um Gustavs Wegbleiben aus, wenn er den Leser wissen lässt, dass sich neben Gustav auch Ottomar regelmässig an diesen geheimnisvollen Ort begibt: „Aus dem neuen Schloß eilt’ [Ottomar] ins alte zu Gustav, […]. Aber auf welche Art er mit Gustav schon längst bekannt geworden, […] warum er wie Gustav (noch jetzt) sich an einen unbekannten Ort regelmäßig verfügte […] - darüber deckt sich noch ein langer Schleier, den [des Erzählers] Mutmaßungen nicht aufheben können; denn [er] habe allerdings verschiedene, aber sie klingen so außerordentlich, daß [er’s] nicht wage, sie dem Publikum eher vorzulegen, als bis [er] sie besser rechtfertigen kann.“ (I/ 1, 318) 352 Nicht nur, dass auch Ottomar denjenigen Eid, der es Gustav verbietet, Amandus die Hintergründe seines Fernbleibens zu eröffnen, 353 geschworen hat, er hat dies ausserdem in einer „Waldhöhle“ [phonetische Verknüpfung: Höhle] getan und zwar zu dem Zweck, die Existenz einer „unterirdische[n] Verbindung“ geheim zu halten [semische Verknüpfung: Geheimhaltung] (I/ 1, 420). 354 Indem also das Gramm ‚Waldhöhle’ ebenso wie das Gramm ‚Erzieh-Höhle’ mit den Semen ‚geheim’ und ‚unterirdisch’ aufgeladen wird, sind sie im paragrammatischen Beziehungsgeflecht ‚Logen- 352 Bereits an früherer Stelle lässt der Umstand, dass Gustav, als er mit Fenk im Beichtstuhl des Tempels zu Ruhestatt auf den (schein-)toten Ottomar blickt, dessen Gestalt bekannt vorkommt (I/ 1, 292), den Leser vermuten, dass die beiden sich schon kennen. Wenn Ottomar gar als Gustavs „gestorbene[r] […] Freund[]“ (I/ 1, 293) bezeichnet wird, liegt es nahe darauf zu schliessen, dieser habe jenen anlässlich der geheimen Treffen schon öfters gesehen. 353 „Amandus […] kam deswegen, um sich das Interesse an fremdem Kummer zu verlängern, noch einmal auf die Sache und tat die zufällige Frage, wo mein Held die übrigen fünf Tage war. Gustav überhörte es ängstlich und rot - jener drang heftiger an - dieser umfaßte ihn noch heftiger und sagte: ‚Frage mich nicht, du quälest dich nur.’ - Amandus […] feuerte sich erst recht damit an - Gustavs Herz war innigst bewegt, und daraus kamen die Worte: ‚O! Lieber, du kannst es nie erfahren, von mir nie! […] Hätt’ ich nur keinen Eid getan, nichts zu sagen’ - Aber an Amandus’ Seele waren nicht alle Stellen mit jenem feinen Ehrgefühl bekleidet, an welchem Wort- und Eidbruch fressender Höllenstein ist“ (I/ 1, 195). 354 Zusammen mit der Bemerkung, Ottomar würde „salomonische Predigten“ (I/ 1, 323) halten, kann der an dieser Stelle erwähnte, von den Freunden geleistete Eid als Teil derjenigen Verweisspur, welche die (Erzieh-) Höhle zur Freimaurerloge bestimmt, gelesen werden. Denn die Brüder hatten einen „feierliche[n] Eid des Stillschweigens“ (VHF, Bd. 2, S. VII) zu schwören, der es ihnen verbot, „je die Geheimnisse des Freimaurerthums zu enthüllen“ (VHF, Bd. 2, S. VIII). Auch stellte der Eid den „Bund der unauslöschlichen Freundschaft und des gegenseitigen Zusammenhaltens in Noth und Gefahr [dar]“ (VHF, Bd. 2, S. 53). <?page no="149"?> 149 Text’ miteinander verknüpft und führen die Verweisspur über ihre Untergramme weiter. Als Mitglied der „unterirdischen Verbindung“, die sich jeweils „in jener Waldhöhle“ versammelt (beide: I/ 1, 420), ist Ottomar der „Verfasser einer Satire über den Fürsten“, genauer „gegen den Fürstenhut seines [SB: Ottomars] Bruders“ (I/ 1, 376). In der Satire klagt er den Fürsten an, er würde Männer seines Volkes erniedrigen, indem er sie systematisch von hohen Ämtern ausschliesse und ihnen keine bürgerlichen Ehren zuteil werden lasse. Widersetzten sich diese seinem Willen und versuchten anderweitig zu ihrem Recht zu kommen, würden sie vom Staat für „Diebe und Räuber“, „für Separatisten und Dissenters“ erklärt und deswegen gezwungen, „wie die ersten Christen“ „in Höhlen“ zu leben „und [sich] ebensolchen Verfolgungen ausgesetzt“ zu sehen (I/ 1, 376f.) (Lexie ‚Christen-Höhle’) [phonetische (Höhle, Christen) und semische (Geheimhaltung) Verknüpfung gekoppelt]. Das Volk zeichnet er als „zähe und biegsam wie das Gras, [das] vom Fußtritt nicht zerknickt [werde], [sondern] […] wieder nach [wachse], es möge abgebissen oder abgeschnitten werden“, wie es wolle (I/ 1, 376). Im Bewusstsein, dass einem solchen „monarchische[n] Auge“ „die schönste Höhe“ dieses Volks-Grases „die glattgeschorne des Park- Grases“ sei (I/ 1, 376) (mit anderen Worten, dass der Monarch es bevorzuge, seine Untergebenen mit strenger Hand zu führen, und wild entschlossen ist, jedes Aufbegehren gewaltsam niederzuschlagen), richtet sich der Räuber mit der zynischen Bitte an den Fürsten, dieser „möchte dem kleinen Diebs-Dauphin seinen [SB: des Fürsten] Namen geben, wie einem Minister, und sich seiner annehmen, wenn die Eltern gehenkt wären“ (I/ 1, 376). Mit dieser Bemerkung impliziert der Satiriker, dass die zu Unrecht verurteilten, so genannten Diebe diejenigen sind, die geadelt, der diktatorisch handelnde Fürst hingegen derjenige ist, der als eigentlicher Verbrecher entlarvt werden müsste. Derart ist mit den ‚Höhlen der ersten Christen’ nicht nur auf Gustavs ‚Erzieh-Höhle als Katakombe’ verwiesen, sondern mit der Bemerkung, die diebische geheime Gesellschaft würde wirklich „weit humoristischer und unschädlicher [stehlen] als jede andre“ (I/ 1, 377), zugleich ein Bogen zu derjenigen diebischen Bande geschlagen, die zu Beginn des Romangeschehens „eine Kirche um die andre im Scheerauischen nicht ausgestohlen, sondern ausgekleidet“ (I/ 1, 110) hat [phonetische (Diebe) und semische (unschädlich stehlen) Verknüpfung gekoppelt]. Auch diese diebische Bande (Lexie ‚Kirchendiebesbande’) wird in Zusammenhang mit dem Kronprinzen 355 genannt und ihre Diebeshandlungen positiv konnotiert: Die 355 Dieser ist, das wurde oben bereits erwähnt, Ottomars Halbbruder: Der „Erbprinz […] liebt niemand; […] seine Freundschaft ist nur ein geringerer Grad von Haß […]; den größten aber, der ihn wie Sodbrennen beißet, hegt er gegen seinen unehelichen Bruder, den Kapitän von Ottomar“ (I/ 1, 100). <?page no="150"?> 150 Spitzbuben machen den Hof lächerlich, da sie sich, während dieser noch schläft, das Recht nehmen, Trauerkleider anzulegen, obwohl ein höfisches Gesetz „den Untertanen alle Trauer [verbietet]“ (I/ 1, 111). Das wahre Ausmass der Diffamierung wird ersichtlich, so man bedenkt, dass die Trauergarderobe der Räuberbande aus schwarzem, aus der „Maußenbacher [und damit höfischen! ] Kirche“ entwendeten Tuch besteht (I/ 1, 110). Die Lexie ‚Kirchendiebesbande’ ist folglich sowohl mit der Lexie ‚unterirdische Menschenwelt’ (und zwar [phonetisch] über die Diebesjäger Kolb und Robisch 356 ) als auch mit der Lexie ‚Diebesbande in Ottomars Satire’ (über einen expliziten Hinweis des Erzählers) verbunden: Der „Gerichthalter Kolb, dem ein Diebfang Zobelfang und Perlenfischerei ist“, sowie der „Falkenbergische Bediente Robisch“ (I/ 1, 110) kommen nicht nur der Kirchendiebesbande auf die Schliche (I/ 1, 110), sondern entdecken auch, währenddem sie als „Streifer“ den „Bundgenossen des ertappten Diebs“, der in Röpers Schloss eingestiegen ist, nachspüren, die Höhle der unterirdischen Gesellschaft (I/ 1, 419). Währenddem sich die Kirchenräuber aus dem Staub machen können, wird Gustav - darauf wurde bereits hingewiesen - zusammen mit den ihm gleich gesinnten Brüdern ins Gefängnis geworfen. Die Verbindung zu der geheimen diebischen Gesellschaft stellt der Erzähler mit der Bemerkung her: „Ich halte sie [SB: die geheime diebische Gesellschaft] für dieselben, die, wie der Leser weiß, vorlängst den leidtragenden Kanzeln und Altären die schwarzen Flügeldecken abgelöset haben“ (I/ 1, 377). - Zur Rekapitulation: Die Verknüpfung des Gramms ‚Erzieh-Höhle’ mit dem Gramm ‚Waldhöhle’ wurde um das Untergramm ‚Diebe/ Räuber’ erweitert und über letzteres mit dem Gramm ‚Krichendiebesbande’ verflochten. Das Sem ‚unschädlich stehlen’, das beide Diebesbanden-Lexien determiniert, führt nun die Verbindung weiter hin zum entwendeten Gegenstand, einem „Grafen-Diplom“ (I/ 1, 377). Über das Untergramm ‚Grafen-Diplom’ (diese Formulierung mutet seltsam an, da sie andeutet, ein Adelstitel sei etwas, das man - rechtmässig oder unrechtmässig - erwerben könne) werden die Beziehungsbündel ‚Diebesszenerien’ mit einer ganzen Reihe ‚Diplom-Schwindel’-Lexien verbunden [phonetische Verknüpfung: Diplom], welche sich wiederum über 356 An dieser Stelle haben wir es mit einer Voraus-Zitation zu tun: Von Robisch, der von Anfang an als wenig vertrauenswürdiger oder moralisch-integrer Charakter eingeführt wird, heisst es bereits im siebten Sektor, er schicke „unterirdische Maulwürfe aus der Welt“ (I/ , 76). Derart wird auf sein Verhalten den Subjekten der „unterirdische[n] Menschenwelt“ (I/ 1, 419f.) gegenüber voraus verwiesen. Robisch, der im vierzehnten Sektor zudem „Maulwurfs-Moloch“ (I/ 1, 114) genannt und damit mit einer „sem. Gottheit, der Menschenopfer, insbesondere Kinderopfer, dargebracht wurden“ (I/ 1, 1248), verglichen wird, stellt Menschen auf die gleiche Stufe wie Ungeziefer (I/ 1, 76): Die einen wie die anderen gilt es zu entfernen oder mit ihnen ‚höheren’ Befehlen gemäss umzuspringen. <?page no="151"?> 151 ihre Untergramme und Seme als gleichrangige konnotative Verweisspuren im Textgeflecht entfalten. Als erste dieser ‚Diplom-Schwindel’-Lexien ist die Lexie ‚Adeldiplom Falkenberg’ im ersten Sektor zu nennen, in welcher der Leser erfährt, dass der „Heldlieferant, Herr von Falkenberg, von älterem Adel ist […]; und zwar von unechtem“ (I/ 1, 47). Des Rittmeisters Urgrossvater hat sich nämlich im Jahre 1625 zusammen mit einem westfalischen Herrn von Falkenberg adliger Abstammung jämmerlich betrunken und diesen schliesslich dazu gebracht, ihm dessen Adelstitel auszuhändigen. Da der Westfale „der Stammhalter und die Schlußvignette und das hogarthische Schwanzstück seines ganzen historischen Bildersaals“, mit anderen Worten, der letzte seines Geschlechts ist, versucht ihn der Urgrossvater zur Herausgabe des Adelsdiploms zu bewegen, denn, so sagt er, „‚dir hilft es nichts, und ich heft’ es an meines’“ (I/ 1, 47). Im Tausch gegen den Adelstitel bietet der Urgrossvater dem Rosshändler (vorerst erfolglos) einen „schönen Beschäler […], einen […] Großsultan*** 357 und Ehevogt eines benachbarten Roß-Harems“ an (I/ 1, 47). Nach weiteren Unmengen von Flaschenbier, Wein und Schnaps beschliesst der Rosshändler, sich das Tausch- Pferd einmal anzusehen und gibt dem Urgrossvater, nachdem er es „etwa zwei- oder dreimal mochte haben springen sehen: […] die Hand und zugleich die 128 Ahnen darin“ (I/ 1, 48). Auch Fenk hat sich seinen Doktor-Titel erschwindelt (Lexie ‚Medizinalratdiplom Fenk’). Als Ottomars Freund wäre er von dessen Halbbruder und zukünftigem Fürsten *** Das Untergramm ‚Grosssultan’, welches die Lexie ‚Adeldiplom Falkenberg’ mitkonstituiert, fungiert zugleich als Untergramm in der Lexie ‚Oefels Romanprojekt’ - denn „Großsultan“ heisst neben dem klapprigen Pferd, das Gustavs Ururgrossvater dem Herrn von Falkenberg schmackhaft machen will, auch Oefels Roman [phonetische Verknüpfung: Grossultan]: „Er [SB: Oefel] setzte nämlich einen Roman als eine kurze Enzyklopädie für Erbprinzen und Kronhofmeister auf und schrieb auf den Titel ‚Der Großsultan’ - Dieser Fenelon machte den Harem seines Telemachs zu einem Spiegelzimmer, das den ganzen weiblichen Scheerauer Hof widerspiegelte, sein Werk war ein Herbarium vivum, eine Flora von allem, was auf und am Scheerauer Throne wächset“ (I/ 1, 170, Hervorhebungen SB). Der „Großsultan“ bleibt dabei nicht die einzige parallele Nennung in den beiden Kontexten: 357 Wie oben ausgeführt wurde, sind sämtliche Textelemente in mehrere Beziehungsbündel eingebunden, sodass die Verweisspur durch das dreidimensionale Signifikations-Netz Logen-Text, der die Verfasserin eben dabei ist zu folgen, sich beispielsweise an dieser Stelle auch in eine andere Richtung wenden kann. Dieser alternative Lesepfad ist dem im Haupttext geschilderten absolut gleichwertig. In der Graphik wird er als alternativer Kreisschluss, der in der Lexie ‚Adeldiplom Falkenberg’ seinen Ausgang nimmt, dargestellt (s. Anhang Graphik 1, S. 221). <?page no="152"?> 152 nie zum Medizinalrat ernannt worden, da dieser jenen - und damit auch dessen Freunde - hasst. Fenk hat zudem die Möglichkeit, beim künftigen Regenten in besserem Licht zu stehen, dadurch verspielt, dass er dem „dritten Bruder des Erbregenten einmal das Leben und mithin die Apanagengelder“ (I/ 1, 101) wiedergegeben, den künftigen Fürsten dadurch aber finanziell geschädigt hat. Es gilt also, sein Glück anderweitig zu versuchen: Fenk wendet sich deshalb an einen alten Minister, der ihm wohl gesonnen ist und der dem aktuellen Regenten bei dessen Regierungsgeschäften beisteht. Als letzterer im Verlaufe der Jahre so schwächlich wird, dass er nur noch mit grösster Mühe und unter Aufwendung all seiner Kräfte Regierungsbeschlüsse zu unterschreiben in der Lage ist, so „stach der Hofpetschierstecher seinen dekretierenden Namen so gut in Stein aus, daß er den Stempel bloß einzutunken und naß unters Edikt zu stoßen brauchte: so hatt’ er sein Edikt vor sich. Auf diese Weise regierte er um 15 Prozent leichter; - der Minister aber um 100 Prozent, welcher zuletzt aus Dankbarkeit […] das schöne Petschaft […] selber in sein eignes Dintenfaß eintunkte; so daß der alte Herr ein paar Heisst es vom tierischen Grosssultan, er sei „Ehevogt eines […] Roßharems“, so tritt der Autor Oefel als Inszenator eines „Harem[s]“ am „Scheerauer Hof“ in Erscheinung. In beiden Fällen wird somit der Hof als Stätte unsittlichen Verhaltens gezeichnet. Da dies im ersten Beispiel über den Herrschertitel ‚Sultan’, den ein Pferd trägt, bewerkstelligt wird, sind die Textstellen mit all jenen Stellen paragrammtisch verknüpft, in denen die Wesensart, das Verhalten oder die Taten von Höflingen mittels Tiervergleichen dargestellt sind [typologische Verknüpfung]. Werden Ritter beispielsweise als „Bestie[n]“ (I/ 1, 34) bezeichnet, „Regenten [mit] wilde[n] Tiere[n]“ (I/ 1, 54) oder „Greif- und Lämmergeier[n]“ (I/ 1, 354) verglichen, „Edelleute [den] Waldratten“ (I/ 1, 81) gleichgesetzt, Fürsten als „Vieh“ (I/ 1, 91) oder „Kröte[n]“ (I/ 1, 349) beschimpft und wird die Residentin eine „Viper“ (I/ 1, 358) genannt, fungieren die mit den jeweiligen Tieren assoziierten Eigenschaften (z.B. Bestie: grausam tötend, Geier: Aas fressend) als Seme, welche das Wesen der Hofleute zum Vorschein bringen. Folglich tritt das Untergramm ‚Grosssultan’ nicht nur in den miteinander verknüpften ‚Diplom-Schwindel’-Lexien signifikant in Erscheinung, sondern auch als eines der das Gramm ‚Tiervergleiche’ konstituierenden Teilgramme: In der Lexie ‚Ehrverlust Beata’, in der die Höflinge als „Greif- und Lämmergeier“ abgebildet werden, enerviert sich der Erzähler über das Verhalten der Adligen, indem er sie bezichtigt, sie würden die „Tugend“ „mit Füßen treten“ und lediglich darauf aus sein, (vor allem) junge Frauen („Lämmer“! ) um ihre „Ehre […], die […] in Keuschheit besteht“ (alle: I/ 1, 354), zu bringen. Über das Untergramm ‚Ehrverlust’ wird das Untergramm ‚Greif- und Lämmergeier’ folglich semisch signifikant erweitert und mit weiteren ‚Ehrverlust’-Lexien verknüpft. Während es dem scheerauischen Fürsten verwehrt bleibt, Beatas Ehre zu besudeln, ist der Kommerzien- <?page no="153"?> 153 Tage nach seinem eignen Tode verschiedene Vokationen und Reskripte unterschrieben hatte“ (I/ 1, 101f.) - zuletzt dasjenige Formular, das Fenk zum „Pestilenziarius samt Medizinalrat“ (I/ 1, 99) macht. Der Doktor hat sein Diplom folglich einem verstorbenen Regenten zu verdanken. Zur Reihe der ‚Diplom- Schwindel’-Lexien ist ausserdem die Lexie ‚Adeldiplom Röper’ hinzuzuzählen. Nicht nur, dass der Kommerzienagent seine Güter auf betrügerische Art und Weise erwirbt (er vermehrt sein Vermögen, indem er seine Handelspartner um einen Drittel des Warenpreises prellt oder indem er bei ihm selbst zwischengelagerte Warenbehälter wie Fässer oder Säcke beschädigt, um daraus seinen Transit-Zoll abzuzwacken, sodass der Fuhrmann, der die Fässer oder Säcke weiter transportiert, für die fehlende Ware aufkommen muss (I/ 1, 152)), sein zusammengestohlener Reichtum ermöglicht es ihm erst, sich „einen Charakter als Kommerzienrat [zu]kommen“ (I/ 1, 153) lassen zu können - auch Röper kauft sich sein „Adeldiplom[]“ also ein (I/ 1, 150). Mit diesem unredlich erworbenen Ehrentitel bezirzt Röper den „reichsten und geizigsten agent von Röper bei Luise ‚erfolgreicher’ (Lexie ‚Ehrverlust Luise’): Röper zwingt Luise, die eigentlich den Rittmeister von Falkenberg liebt, ihn zu heiraten und macht so Luises und des Rittmeisters vorgängige Vereinigung erst zu einem schandbaren Akt. (Die Frucht dieser Liebe, der verschwundene Guido, ist Teil einer weiteren alternativen Lesespur: Die ‚Ehrverlust’-Lexien sind via das Untergramm ‚uneheliches Kind’ mit sämtlichen Lexien rund um ‚verlorene Kinder’ verbunden.) Eine weitere ‚Ehrverlust’-Lexie stellt diejenige dar, die von der Affäre des nunmehr verstorbenen Fürsten mit Ottomars Mutter berichtet (Lexie ‚Ehrverlust Mutter Ottomars’). Der ehemalige Fürst speiste Ottomars Mutter, nachdem er ihrer überdrüssig geworden war, mit dem „Rittergute Ruhestatt“ (I/ 1, 83, Hervorhebung im Original) ab. Des Fürsten Betragen seinen Geliebten gegenüber, seine Art, sich ihrer zu entledigen, indem er - was von ihnen übrig ist - anderen Männern ‚zur Verfügung stellt’, vergleicht der Erzähler mit dem Verhalten „der Adler und Löwe[n] ([der] Fürsten der Tiere)[, die] allemal ein Stück vom Raube unverzehrt für anderes Vieh liegen lassen“ (I/ 1, 83, Hervorhebung im Original). Damit schliesst sich der Konnotations- Kreis: Über die Kennzeichnung des ehemaligen Fürsten als Raubtier ist die Lexie ‚Ehrverlust Ottomars Mutter’ typologisch mit all jenen Lexien vernetzt, in denen die Wesensart von Höflingen mittels Tiervergleichen zum Ausdruck kommt. (Als Untergramm der Lexie ‚Ehrverlust Mutter Ottomars’ weist der Ort ‚Ruhestatt’ auf die Untergramme ‚Lilienbad’ und ‚stilles Land’ voraus, die allesamt (auch) in Verweisspuren, welche die motivische Ebene durchlaufen, produktiv werden - was im Kapitel ‚Motivische Verknüpfungslogik im paragrammatischen Raum’ Gegenstand der Analyse sein wird.) Anhand dieser Ausführungen erhellt, dass sich die Leserichtung entlang der konnotativ verknüpften Verweisspuren, die sich in ver- <?page no="154"?> 154 Vater einer schönen Tochter“ (Luise) und überredet ihn, ihm diese zur Frau zu geben: „Die Tochter hasste seine Lieberklärung; aber der Charakter mit Hülfe des Vaters bemächtigte sich ihrer sträubenden Hand, netzten Kreisschlüssen zusammenfinden, stets ändern kann: Die Lexien sind über Teilgramme und Untergramme im dreidimensionalen Raster Text miteinander verbunden, sodass der Leser ausgehend von der Lexie ‚Adeldiplom Falkenberg’ über die semisch aufgeladenen Tiervergleiche zu den ‚Ehrverlust’-Lexien gelangt, deren Reihe um die Liebschaft zwischen Oefel und der Ministerin (I/ 1, 160) sowie derjenigen zwischen dem Fürsten und der Residentin von Bouse (I/ 1, 235) ergänzt werden kann. Sämtliche genannten Textelemente strahlen zugleich in weitere Richtungen aus, was mit den Abzweigungen hin zu den Lexien ‚verlorene Kinder’ sowie den Örtlichkeiten ‚Ruhestatt’, ‚Lilienbad’ und ‚stilles Land’ angedeutet wurde. zog sie daran zum Altar, schraubte den Ring ihr an und pfählte ihre Hand in seine. Ihr zweites Kind war sein erstes“ (I/ 1, 153). Darin, dass er nicht der erste ist, dem sich seine Frau hingibt, sieht Röper seine „Ehre“ empfindlich verletzt, weswegen er sich gezwungen sieht, seiner Frau, die ihrer vorehelichen Liebesfrucht wegen in gesellschaftlichen Verruf zu geraten droht, wenigstens äusserlichen Glanz zu verleihen, indem er ihr „ein Adeldiplom“ beschafft (beide: I/ 1, 153, Hervorhebung im Original). Luise wird denn von „der Reichshofrats-Kanzlei von Wien auch glücklich [wieder] hergestellt“ (I/ 1, 153). Solcherart verhilft Röper, der sich seinen Kommerzienrat-Titel erschlichen hat, seiner Frau zu adligen Ehren, ohne dass diese - obwohl Tochter aus wohlhabendem Haus - wirklich von adeliger Abstammung wäre. Die erste der drei zuletzt aufgeführten Titel-Schwindeleien, die in den Ausführungen zu der Lexie ‚Adeldiplom Falkenberg’ erläutert wird, hat dahingehend weiter reichende Folgen, als sie suggeriert, dass das Fundament und damit der Ausgangspunkt der Logen-Handlung auf einem doppelten Betrug gründet: Nicht nur, dass des Helden Vater ohne seine erschlichene Abstammung gar nie zur Schachpartie gegen Ernestine hätte antreten dürfen; diese selbst hätte er zudem verloren, hätte Ernestine ihre Katze*** (das „weiße[] Miezchen“ (I/ 1, 43)) nicht darauf abgerichtet, auf ihr Zeichen auf das Schachbrett zu springen und damit die darauf stehenden Figuren *** Wurden oben mit Hilfe der Tiervergleiche Charaktereigenschaften der Höflinge skizziert, zeichnen Tiere im Sinngeflecht ‚tierische Verkuppler’, in das die eben beschriebene Lexie über das Teilgramm ‚Katze’ eingebunden ist, dafür verantwortlich, dass Verliebte zusam- <?page no="155"?> 155 umzuwerfen (Lexie ‚Schwindelei Katze’). Wenn ausserdem „der Doktor, der in der Stube mit den zehn Fingern herumschnalzet [nicht geschworen hätte] […]: ‚der Rittmeister hätt’ es gewonnen, so gewiss wie Amen! ’“ (I/ 1, 43), hätte Ernestines Vater der Heirat der beiden nie zugestimmt, und Gustav wäre nie geboren worden. Zum Kreis dieser dem Romangeschehen inhärenten Betrügereien - zu den Beziehungsbündeln ‚Diebesszenerien’ sowie den ‚Diplom- Schwindel’-Lexien also - ist insbesondere auch das Gramm ‚Hoppedizels Täuschungen’ zu zählen. Der „Professor der Moral“ (I/ 1, 94), „der ausser dem Philosophieren und Prügeln nichts so liebt als Spassmachen“ (I/ 1, 399), hintergeht seine Mitmenschen auf seine ihm eigene Art. Dem „Flössinspektor Peuschel“ beispielsweise setzt er in einer aus „Blasenstein“ gefertigten „Trinkurne […] echten ungarischen Ausbruch“ (I/ 1, 94) vor, um ihn von weiteren Wein-Zechen abzuhalten (Teilgramm ‚Peuschel’). Währenddem sich der Flössinspektor hinter der Haustür des Professors schimpfend übergibt, lädt ihn dieser, als ob sich nichts weiter zugetragen und er sich lediglich angeregt mit ihm unterhalten menkommen. So bezeichnet der Erzähler eben genanntes „Miezchen“ treffend als „Kopulierkatze“ (beide: I/ 1, 44). Diese Bezeichnung wiederum verweist auf die Formulierung „Lamm statt der obigen Katze“ (I/ 1, 76) [typologische Verknüpfung], welche sich im Teilgramm ‚Lamm’ findet: Der Katze vergleichbar, die dem Rittmeister zur Heirat mit Ernestine verhilft, ermöglicht das Lamm dem kleinen Gustav, sich der elfjährigen Regina, für die er schwärmt, zu nähern. Da der Rittmeister das Lamm in der „Schaf- und Rinderherde“ (I/ 1, 78), die Regina zum Weiden auf einen nahe gelegenen Berg treibt, besser denn im Schlossgarten aufgehoben sieht, erlaubt er Gustav, der sich nach seiner Entführung eigentlich nicht vom Schloss entfernen darf, die Tiere zusammen mit dem Mädchen zu beaufsichtigen. Oben auf der Weide hält Gustav „das Schaf an seinem postillon d’amour [fest], […] um […] von ihm [zu Regina] hingezogen zu werden“ (I/ 1, 79). Sie zu küssen gelingt Gustav allerdings erst später - dies wird in der Lexie ‚Vogel’ beschrieben [typologische Verknüpfung] -, dann aber erneut dank eines Tieres: Nachdem sich einige „Bauerkinder […] [-] Regina war darunter“ (I/ 1, 141) - um Gustav versammelt haben, um seinen „Starmatz“ sprechen zu hören und anschliessend Gustav beim Erzählen einer Geschichte zuzuhören (I/ 1, 141), bleibt Regina alleine mit Gustav zurück (I/ 1, 142), sodass sie dieser zu küssen wagt (I/ 1, 143). Signifikanterweise wird die Lexie ‚Lamm’ dann, als Gustav Beata näher kommt, wieder aufgegriffen (Lexie ‚Weidevieh’) [typologische Verknüpfung]: Gustav, der zu schüchtern ist, Beata anzusprechen, erspäht beim Blick aus dem Fenster eine Viehherde, die ihn an seine Kindertage sowie an seine erste Liebe erinnert. Nur um überhaupt etwas zu sagen, erzählt er Beata sodann „mit Feuer und historischen Auslassungen [von] seine[r] Schäferei mit einem Lamm auf dem Berg“ (I/ 1, 266f.). Seine vormalige Romanze („Schäferei“ (! ) <?page no="156"?> 156 hätte, noch für den gleichen Abend „zu einem Löffel Suppe“ (I/ 1, 94) ein. Dieses Angebot dürfte der Flössinspektor allerdings ausschlagen, da ihn die Suppenschüssel zu sehr an das mit der weniger erbaulichen Flüssigkeit gefüllte „urinöse Steingut“ (I/ 1, 94) vom Vormittag erinnert. Dass Hoppedizel Peuschel wirklich von dessen übermässigem Weinkonsum kurieren will, erscheint zudem fragwürdig: Der Professor der Moral zieht nämlich „reine Moral […] der angewandten weit vor und handelt[] selten“ (I/ 1, 121), weswegen er Peuschel inkonsequenterweise nur wenige Tage später zu einem - zugegebenermassen als Scheinbesäuf-nis getarnten - Trinkgelage einlädt (Lexie ‚Scheinbesäufnis’). Hierbei macht sich Hoppedizel einen Spass daraus, jeden der Geladenen beiseite zu nehmen und jeweils zu sagen, er solle „den vier andern Herren mit gefärbtem Wasser, das sie für Wein hielten, zutrinken, damit diese sich in wahrem Wein besöffen“ (I/ 1, 119). Jeder der Beteiligten willigt ein und hofft, den anderen derart als gerissener Spitzbube im Gedächtnis zu bleiben. Als Peuschel sich allmählich ärgert, den anderen lediglich Betrunkenheit vorspielen zu dürfen, ohne selber auch nur einen Schluck (I/ 1, 266)) [semische Verknüpfung] mit Regina deutet folglich auf das, was sich zwischen ihm und Beata ereignen wird, voraus. Findet sich das Geschehen in der Formulierung „Schäferei mit einem Lamm auf dem Berg“ derart implizit (voraus-)gespiegelt, erfolgt vor dem Schlossfenster eine Spiegelung der Ereignisse expliziter Art - diese Lexie ist also nicht über ein Verkuppler-Tier, sondern funktional (aufgrund der Tatsache, dass die Lexie das Geschehen wie das Untergramm ‚Schäferei’ gespiegelt wiedergibt) an die Lexie ‚Weidevieh’ angebunden (Funktion ‚Spiegelung’): In ihrer Verlegenheit blicken Gustav und Beata auf die Gärtnerkinder (ein Mädchen und einen Jungen) hinab, die sie beide (der Junge Gustav und das Mädchen Beata) mimen (Lexie ‚Gärtnerkinder’) und sich - so verlangt es das Spiel - gegenseitig „liebhaben [müßen]“ (I/ 1, 267). Den Moment, in dem sich die beiden Kinder bewusst werden, dass die Personen, in die sie sich hinein versetzen, real sind, schildert der Text so: „Plötzlich fand ihre kritische Feile einen verdammten Anachronismus an diesem historischen Schauspiele, und sie sagte fragend: ‚Ja, der Herr und das Fräulein haben sich ja nicht lieb? ’ - Das war zu viel für die Frontloge oben, die zugleich das Auditorium und das Original der kleinen Spieler war, und die Kopie derselben zu werden in Gefahr geriet“ (I/ 1, 267). Von der Lexie ‚Gärtnerkinder’ führt die Lesespur - wiederum über die Funktion ‚Spiegelung’ - weiter zur Lexie ‚Geburtstagsdrama’: Anlässlich eines von Oefel verfassten Theaterstücks spiegeln sich Gustav und Beata nun die Situation, in der sie stecken, nämlich den Umstand, dass sie füreinander mehr denn freundschaftliche Gefühle empfinden, selbst vor. Zum Ende des Dramas hin soll Gustav in der Rolle des Henri seiner Schwester Marie (gespielt von Beata) gestehen, dass er sie liebe: „,Aber du mußt noch größere Liebe für mich haben’, sagt’ er; - ‚die schwesterliche’, sagt sie; - ‚eine noch stärkere’, sagte er; - ‚die freundschaftlichste’, sagte sie; - ‚eine noch viel <?page no="157"?> 157 Alkohol getrunken zu haben, zapft er in der Hoffnung, bei einem seiner Kumpanen in den Genuss wirklichen Weins zu kommen, deren Fässer an - und staunt nicht schlecht, als er feststellt, dass niemand Wein, sondern alle gefärbtes Wasser trinken. Darauf verwandelt der Rittmeister „aus Liebe zur Moral die allgemeine Verstellung der Betrunkenheit in reine Aufrichtigkeit“ (I/ 1, 120), indem er echten Wein zu einem wirklichen Trinkgelage auftischt. Hoppedizel erfreut sich derweil an der Tatsache, dass, währenddem jeder der anderen „vier Mann zum Narren haben [wollte]“, es ihm gelungen ist deren fünf dazu zu haben (I/ 1, 119). Der nächste „einfältige[] Professor-Spass“ (I/ 1, 175) wird in der Lexie ‚Gespensterfurcht’ umschrieben. Er spielt sich im Falkenbergischen Schloss ab und besteht in der „Schelmerei“ (I/ 1, 173), ebenda Gespensterfurcht zu verbreiten. Alles beginnt damit, dass es Oefel gelingt, Gustav als Kadetten im höfischen Kadettenhaus unterzubringen. Oefel selbst, der dort als Offizier Aufsicht übt, intrigiert beim Kadettengeneral so lange, bis er statt im für ihn vorgesehenen Raum in einem Zimmer des Kadettenschulhauses wohnen darf. stärkere’, sagt’ er; - ‚weiter gibt’s keine größere’, sagte sie; - ‚o doch! Ich bin ja dein Bruder nicht’, sagt’ er und fiel mit liebetrunknen Augen vor ihr nieder und gab ihr ein Papier, das sie aus ihrem bisherigen Irrtum zog und sie dafür in eine kleine Freuden-Ohnmacht stürzte“ (I/ 1, 326). Diese Theaterszene ist mit der Lexie ‚Gustavs Fall’ semisch, nämlich über die (Geschwister-)Liebe zwischen Gustav und Beata, verknüpft: Die Residentin, an deren Geburtstag das Drama aufgeführt wird, wird nach der Vorstellung von Gustav auf ihr Zimmer begleitet. Sie gibt sowohl vor zu glauben, dass Beata und Gustav Geschwister sind, als auch dass sie sich lieben werden, da es ihr mit ihrem verstorbenen Bruder Alban genau so ergangen sei (I/ 1, 346f.). Gustavs Antwort, er wollte, er hätte eine Schwester (I/ 1, 346), mit der er ihr zu sagen versucht, Beata sei nicht seine Schwester, missversteht sie dahingehend, dass sie annimmt, die beiden würden sich nicht lieben (I/ 1, 346f.). Ihr Kummer darüber veranlasst sie dazu, Gustav eine ‚liebende Schwester’ (! ) zu sein: Mit den Worten „‚Bruder! ! ’“ (I/ 1, 348) wirft sie sich an seine Brust und verführt ihn. Dieser Lexie (‚Gustavs Fall’) unmittelbar gegenüber gestellt ist die Lexie ‚Beatas Standhaftigkeit’, in der diese einem erneuten Annäherungsversuch des Fürsten widersteht. Mit diesen beiden Lexien, die parallel geschaltet, jedoch mit entgegen gesetztem Ausgang versehen sind, schliesst sich der Konnotations-Kreis, der in den Verkuppler- Tieren seinen Ausgang genommen hat. Denn der Fürst, der Beata wie eine „Kröte“ (I/ 1, 349) oder ein „Raubtier[]“ (I/ 1, 351) vergeblich bedrängt, hatte sich ihr an früherer Stelle - ebenso erfolglos - mit Hilfe seines „Kanarienvogel[s]“ (I/ 1, 244) anzunähern versucht (Lexie ‚Kanarienvogel’). So ist der Kanarienvogel, der dem Fürsten den Weg zu Beatas Herz hätte ebnen sollen, indem er „auf ihren [Kopf] geflattert [war]“ (I/ 1, 245), in einer Reihe mit den erfolgreichen Verkuppler- Tieren wie der Kopulierkatze, dem Lamm, dem <?page no="158"?> 158 Starmatz sowie dem Weidevieh zu lesen. Diese Ausführungen sollen als Skizzierung einer weiteren alternativen Lesespur genügen und mit dem Hinweis schliessen, dass die Verkuppler-Tiere auf die genannten Tiere in den Tiervergleichen zur Charakterisierung der Höflinge verweisen und dass die Lexie ‚Gärtnerkinder’ - unter anderen - mit der Lexie ‚Blindekuh-Spiel’, auf die in Teilkapitel 4.5.3 eingegangen wird, verknüpft ist [funktionale Verknüpfung: Spiel]. Derart hofft er Gustav, den „unter der Erde erzognen Sonderling zum Stubenkameraden und zum sitzenden Urbilde zu bekommen“ (I/ 1, 171), um ihn - das wurde oben erwähnt - als vorbildliche Charakterzeichnung in seinem Grosssultan abzubilden. Oefel also schreibt dem Rittmeister die Kunde, Gustav werde von Hoppedizel abgeholt und ins Kadettenhaus aufgenommen werden. Als der Tag von Gustavs Abreise näher rückt, ist „Gespensterlärm im Schloß“ (I/ 1, 173). Die Rittmeisterin berichtet, „ein dreifüßiges Gehen durch den Korridor gehört“, einen Blitz durchs Schlüsselloch gesehen sowie „eine andre Taschenuhr als [die] ihre 12“ schlagen gehört zu haben (beide: I/ 1, 173f.). Zusammen mit Gustav, der mutig werden soll, legt sich der Rittmeister mit geladenen „Doppelpistolen“ auf die Lauer - und entlarvt Hoppedizel, der sich mit einem „Stiefelholz und [einem] andern Apparat dieser Farce“ als dasjenige Gespenst verkleidet hat, welches mit seinem „hieroglyphische[n] Gepolter“ das gesamte Schloss in Angst und Schrecken versetzt (I/ 1, 174). Hoppedizels dritte Täuschung besteht schliesslich in Hoppedizels unbesonnener Absicht (I/ 1, 419), zusammen mit einigen Gefährten bei Röper einsteigen „und statt Beute Spaß“ (I/ 1, 399) machen zu wollen (Lexie ‚Schein-Einbruch’). Er bereitet diesen Schein-Einbruch, der allein den Zweck haben soll, dem Gerichtprinzipal „einen theatralischen Kunst- Schrecken“ (I/ 1, 399) einzujagen, akribisch vor: Er siedet Bärte, versteckt Brecheisen und wählt Masken aus. Doch statt des Spasses wird Fenks prophetischer Wunsch Realität, „dieser artistische und satirische Räuberhauptmann [SB: Hoppedizel also] [sollte] für einen wahren genommen“ und verhaftet werden, um einmal selber „auf die [humoristische] Folter“ zu kommen (I/ 1, 399). Des Professors Bande trifft nämlich in Röpers Schloss auf einen wirklichen Dieb, der Hoppedizel angreift. Dass sich aufgrund des Kampfgetöses sowohl der „diebische Realist“ wie auch die blossen „Nominalisten“ (I/ 1, 419) verraten und festgenommen werden, ist weniger schlimm, als dass Robisch und Kolb auf ihrer „Streiferei nach Diebgesindel“ nicht nur dieses fassen, sondern auch Gustav und seine <?page no="159"?> 159 Brüder in ihrer Höhle aufspüren (Lexie ‚Höhle der unterirdischen Menschenwelt’). Diese über different miteinander verknüpften Gramme etablierte „Strukturation“ 358 von Bedeutungszusammenhängen bildet folglich, was die Verfasserin einen vernetzten Kreisschluss nennt. In ihm finden sich die ahierarchischen, konnotativen Verweisspuren des Logen-Textes in eine konstruktive Ordnung zusammengefasst. Eine Ordnung gleichwohl, die über eine linear erfolgende Lektüre nicht zu erschliessen ist. Eine Ordnung also, die dem Leser verschlossen bleibt, so er es nicht versteht, die scheinbar willkürlich, digressiv sowie chaotisch angeordneten Textelemente als Teile eines Sinngefüges wahrzunehmen, in dem die auseinander getriebenen „Bedeutungsblöcke“ 359 konnotativ - d.h. beispielsweise über semische, phonetische, typologische oder funktionale Anschlüsse - zusammenfinden. Die Textelemente sind als multilateral verknüpfte Gramme zu verstehen, die ihre Signifikanz nicht (ausschliesslich) an demjenigen Ort im Text, an dem sie zu stehen kommen, entfalten. Sie sind nicht fixiert, sondern gehören in ihrem dynamischen Aufeinanderbezogensein mehreren gleichwertigen Verweisspuren an. Diese schliessen sich zu vernetzten Kreisschlüssen zusammen, in denen der literarische Text die ikonische Dimension seines Bedeutens, das auf der Mehrfachbestimmung seines Sinns basiert, offenbart: Somit erhellt, dass die Unsichtbare Loge ein System unzähliger, beweglicher, polyvalenter Verknüpfungen darstellt, einen Textraum voller „dynamische[r] Graphism[en]“, voller „literarische[r] Bilde[r]“. 360 Sämtliche flüchtig-fixierten Verbindungen, welche die Gramme in alle Textrichtungen und über alle Textebenen hinweg eingehen, gelten zugleich. Sie bedeuten, indem sie sich in immer anderen Sinngebilden zusammen finden: So etabliert sich beispielsweise ausgehend von der Lexie ‚Gustavs Erzieh- Höhle’ ein paragrammatischer, aus diversen Konnotationen bestehender Sinnkreis, der sich über die semisch und phonetisch an sie angeschlossenen Lexien ‚Wald-Höhle’ und ‚Christen-Höhle’; über die phonetisch und semisch mit diesen verknüpften Lexien ‚Diebesszenerien’ (Kirchenbande, satirische Diebe, unterirdische Menschenwelt); über die phonetisch mit den ‚Diebesszenerien’ verbundenen Lexien ‚Diplom-Schwindelei’ (Urgrossvater Falkenberg, Fenk, Röper) sowie über die semisch mit letzteren verwobenen Lexien ‚Betrügerei’ (Ernestine) und ‚Spass machen’ (Hoppedizel) fortzeugt und in einer mit der Ausgangs-Lexie (‚Gustavs Erzieh-Höhle’) ideologisch identischen End-Lexie (‚Höhle der unterirdischen Menschenwelt’) schliesst. Eine andere Lesespur, die ebenfalls in einen Sinnkreis mündet, nimmt - wie gezeigt - in der Lexie ‚Kopulierkatze’ ihren ‚Ausgang’, spinnt sich typologisch über die Lexien ‚Lamm’, ‚Vogel’ und ‚Wei- 358 Barthes: S/ Z, S. 25, Kristeva: Textstrukturation, S. 244. 359 Barthes: S/ Z, S. 18. 360 Kristeva: Paragramm, S. 174. <?page no="160"?> 160 devieh’ weiter, die sich semisch an die Lexie ‚Schäferei’ anschliessen. Diese wiederum verknüpft sich funktional mit den Lexien ‚Gärtnerkinder’ sowie ‚Geburtstagsdrama’, von welchen letztere semisch mit den Lexien ‚Gustavs Fall’ und ‚Beatas Standhaftigkeit’ verwoben ist. Diese ist typologisch mit der Lexie ‚Kanarienvogel’ verbunden, mit der sich der Konnotations-Kreis - wiederum über eine typologische Anknüpfung, nämlich an die Lexie ‚Kopulierkatze’, - schliesst. Es ist folglich nicht primär Handlung, sondern der Vor- und Rückfall in dynamische Sinngeflechte, in literarische Bilder, der in der Unsichtbaren Loge vermittelt wird. Ihr Narrationsgefüge ist ikonisch motiviert: Jedes Bild fungiert als Basis multipler Anschlussbilder und zugleich als Anschlussbild für mehrere Vor-Bilder. Diese sprachlich-ikonische Rekursivität, in der Bilder simultan aktualisiert werden sowie permanent ineinander übergehen, veräussert sich in zirkulären, ebenenübergreifenden, konnotativen Textbewegungen, welche die Grundlage für die Mehrdeutigkeit poetischer Texte bilden. Zugleich erinnert sie an die Sinngenerierung in Kunst- Bildern, die „sich als ein offenes Feld von Beziehungen und Kontrasten zwischen Grenzen konstituiert“. 361 4.5.2. Motivische Verknüpfungslogik im paragrammatischen Raum Rückblickend kann festgehalten werden, dass bereits der Untertitel von Jean Pauls Romanerstling (Mumien) 362 auf den im Inhaltsverzeichnis kodierten und auf der thematischen Ebene verhandelten Topos des Todes vorausdeutet, d.h. auf die Praktiken zu dessen Überwindung, wie dies am auferstehenden Gustav, dem Scheintoten Ottomar sowie der Mumie Amandus ersichtlich wurde. Die motivische Ebene nun findet sich im Titel (Die unsichtbare Loge 363 ) angelegt: Ausgehend vom motivisch motivierten 361 Boehm: Hermeneutik, S. 461. 362 Die Erstausgabe der Unsichtbaren Loge von 1793 trägt den Untertitel „Die grüne Nachtleich ohne den 9ten Nusknaker“ (Jean Paul: Die Unsichtbare Loge. Eine Biographie. Hg. von Klaus Pauler.) (Im Folgenden zitiert als Loge.) Wie die Mumien ist auch der Untertitel der Erstausgabe als Ausdifferenzierung des Romantopos ins paragrammatische Raster eingebunden: Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Zahl neun („9ter Nusknaker“) auf die neun Kreuze verweist, welche die Überschrift des letzten Sektors ausmachen. Diese paraphrasieren - wie Frei-Gerlach erläutert - den Topos der Fortdauer nach dem Tode poetologisch, indem sie das Ende der Schrift wie auch deren ewiges Fortdauern implizieren (Frei-Gerlach: Schriftgeschwister, S. 85). 363 Neben den nun folgenden Ausführungen, welche den Titel von Jean Pauls Romanerstling als Element des vernetzten Kreisschlusses, der im motivisch motivierten Lexem ‚unsichtbar’ seinen Ausgang nimmt, beschreiben, mag ein weiterer Grund für Jean Pauls Titelwahl der Umstand dargestellt haben, dass Jean Pauls Lehrer Herder ein Gespräch in der Zweiten Sammlung seiner Briefe zur Beförderung der Humanität einer „unsichtbar-sichtbare[n] Gesellschaft“ widmet (Johann Gottfried Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität, S. 132-141). (Im Folgenden zitiert als Briefe.) In ihm bringt Herder das freimaurerische Ideal einer denkenden Menschheit zur Sprache, <?page no="161"?> 161 Lexem ‚unsichtbar’ wird die Verfasserin zeigen, dass die Motive in der gleichen Art wie die Themen einer stringent konnotativen Logik folgen. Auch sie sind im paragrammatisch organisierten Raster Logen-Text über rekursive, polyvalente Beziehungen in vernetzten Kreisschlüssen miteinander verbunden. Ebenso wie die thematischen Gramme fungieren die motivischen in diesem mehrfach bestimmten Bezugssystem sowohl als Ausgangs-, Mittelwie auch als Endpunkt von ebenenübergreifenden „Beziehungsbündel[n]“. 364 Die Motive zeichnen sich dabei durch eine ihnen inhärente Doppelwertigkeit aus, durch welche sie auf besondere Art in die Ausdifferenzierung des Kodes ‚den Tod überdauern’ eingebunden sind. Das motivisch motivierte Lexem ‚unsichtbar’ beispielsweise, das den Logen-Text in Verbindung mit den Motiven ‚unhörbar’ und ‚unsagbar’ leitgedanklich durchzieht, ist (ebenso wie die letztgenannten Motive ‚unhörbar’ und ‚unsagbar’) auf eigentümliche Weise binär semantisiert: Mit ihrer Nennung verweisen diese doppeldeutigen Einheiten stets auf beide Bereiche, auf das (jenseitige) Leben wie auf den (diesseitigen) Tod. Doppelwertigkeit fungiert auf der motivischen Ebene folglich als Verknüpfungsmodus, über den alle derart binär semantisierten Motive miteinander verbunden sind. So ist der Motivverbund ‚unsichtbar/ unhörbar/ unsagbar’ funktional mit den Motivverbindungen ‚Stille/ Ruhe/ Lilie’ sowie ‚Hand/ Arm’ verwoben (s. Anhang Graphik 2, S. 222) - was in der Folge erläutert wird. Ebenso wird aufgezeigt, wie sich über die Verknüpfung des Motivs ‚unsichtbar’ mit dem Titel Die unsichtbare Loge ein ebenenübergreifender alternativer Lesepfad entfaltet, welcher das Signifikations-Netz Logen-Text ausgehend vom Titel weiter zur Lexie ‚Freimaurer-Loge’ und deren Untergramm Frage/ Antwort-Blättchen (Dissonanzen/ Melodie) durchkreuzt, von da über die melodischen Alphornklänge hin zur Lexie ‚Auferstehungsfahrt’ gelangt und schliesslich mit den hohen Menschen (den Unsichtbaren) den konnotativen Kreisschluss im motivisch motivierten Lexem ‚unsichtbar’ schliesst (s. Anhang Graphik 2, S. 222). deren Ziel darin besteht, eine Lebensform zu etablieren, in der alle Menschen, unabhängig von ihrer Religions-, Standes- oder Staatszugehörigkeit, als gleichberechtigte miteinander leben (Herder: Briefe, S. 139f.). Der Brauch des Eidschwures, die Einhaltung strenger Gesetze sowie die Symbolkultur der Logen wird hingegen kritisch betrachtet (Herder: Briefe, S. 141). - Herder war Mitglied der Loge ‚Zum Schwert’ (Frei- Lex, S. 687) und hat Friedrich Ludwig Schröder bei der Ausarbeitung von dessen Ritual geholfen (s. dazu Carl Wiebe: Das Schröder’sche Ritual und Herder’s Einfluß auf seine Gestaltung und Voges: Aufklärung und Geheimnis, S. 204ff.). 364 Kristeva: Paragramm, S. 164. <?page no="162"?> 162 4.5.2.1 Blind, taub, stumm - Unsichtbar, unhörbar, unsagbar Die Entfaltung des Signifikationspotentials des Motivs ‚unsichtbar’ nimmt in der Art und Weise, wie in der Unsichtbaren Loge Verstorbene dargestellt werden, ihren Ausgang. Letztere bezeichnet der Text als in ihren Sterbebetten (I/ 1, 285) Eingeschlafene (I/ 1, 283, 285, 291, 293) und den Tod folgerichtig als jemanden, der die im Sterben Begriffenen einschläfert (I/ 1, 402, 412). Auch zeugt jede Sterbeszene des Romans von einer „Todesstille“ (I/ 1, 279), in die sie eingebettet ist. Nicht nur, dass die Luft still und schwer in der Atmosphäre liegt, die Lautlosigkeit des nunmehr friedlich Schlummernden überträgt sich auch auf alle, die noch atmen: Sie bewegen sich so leise als möglich, um denjenigen, der sich vom Leben ausruht (I/ 1, 413), nicht zu stören. Mit dem Sterben, so betont der Text zudem mehrfach explizit, gehe neben dieser Verstummung der Umgebung auch unweigerlich eine Betäubung, ja, Abtötung der menschlichen Sinne einher: Von den Toten heisst es, sie seien taub (I/ 1, 306), stumm (I/ 1, 306, 321, 397) sowie blind (I/ 1, 276). Überraschend an dieser Tatsache ist eigentlich nur, dass sie festgestellt wird - denn dass Dahingeschiedene weder zu hören, noch zu sprechen, noch zu sehen vermögen, verwundert nicht weiter. Wie sich sogleich zeigt, wird dieser Aussage jedoch Bedeutung verliehen, wenn der Roman sinnliche Verschlossenheit als Bedingung der Möglichkeit darstellt, seinen Grundtopos zu paraphrasieren - als Bedingung der Möglichkeit also, ein irgendwie geartetes Jenseits zu erahnen und, damit einhergehend, seine Vorstellung einer Fortdauer über den Tod hinaus zu artikulieren. Anhand ihrer Toten regt Die Unsichtbare Loge Reflexionen über den Tod sowie solche, die über sie hinaus weisen, an. Als Agens dieser Gedankengänge fungieren lebendige Subjekte - bezeichnenderweise solche, die diejenigen Eigenschaften aufweisen, welche soeben als charakteristisch für Tote beschrieben worden sind: Die Rede ist von Beata sowie den hohen Menschen Ottomar, Gustav, Fenk und dem Genius (I/ 1, 221). Werden die Verstorbenen als blind, taub und stumm beschrieben, so heisst es von Beata, sie verlasse Amandus kurz vor dessen Tod erschöpft und betäubt (I/ 1, 282). Von Gustav wird gesagt, er würde nichts mehr sehen (I/ 1, 59). Doktor Fenk schliesslich erleidet statt eines sinnlichen einen seelischen Verlust, welcher mittels des Negationspronomens keine zum Ausdruck gebracht wird („Der Vater hatte keinen Trost und keinen Tröster“ (I/ 1, 282, Hervorhebung SB)). Ähnlich wie diejenige des Doktors findet sich auch die psychische Verfassung des jungen von Falkenberg mittels einer Entbehrungspräposition umschrieben (ohne): Von Gustav, der nach Amandus’ Tod allein in dessen Zimmer zurück bleibt und sich ebenso „kalt“ und „ausgeleert“ wie „der starre Freund ohne Bewegung“ fühlt, heisst es, er setze sich apathisch - „ohne Träne, ohne Laut, ohne Gedanken [-] ins verhüllte Mondlicht“ (alle: I/ 1, 283, Hervorhebungen SB). Betäubung, Erstarrung und Entbehrungsumschreibungen bestimmen auch diejenige Szene, in der sich <?page no="163"?> 163 Fenk mit Gustav im Tempel von Ruhestatt befindet, in dem der (schein)tote Ottomar aufgebahrt liegt: Der „Doktor […] sah […] nach dem aufgedeckten Leichnam hin und suchte vergeblich zu sehen“ (I/ 1, 292): „[S]tumm und zwischen die Trauerkerzen hineinstarrend [geht er darauf] auf die Bahre zu, […] ohne Blick und Laut, […] ohne doch dem näher zu sein, nach dem er sich so lange gesehnet, und ohne die Freude des Wiederfindens: so war sein Schmerz noch dicht, dunkel und warf sich schwer über seine ganze Seele her, ohne eine Gestalt zu haben.“ (I/ 1, 293, Hervorhebungen SB) Gustav und Fenk kommunizieren wort- und lautlos und beschliessen diesen Abend zusätzlich mit einer physischen Trennung: Sie sehen einander „mit einer stummen trostlosen Frage an - sie [antworten] einander durch den Abschied“ (I/ 1, 294). Gustav wird ausserdem - wie erwähnt - bereits in der die Romanhandlung initiierenden Sterbeszene als „Taubstummer“ (I/ 1, 56) „mit zugeschnürten Augen“ (I/ 1, 57) geschildert, und der Genius bereitet seinen Schützling über eine Verschliessung seines Sehsinnes auf den ‚Tod’ vor: „Allein nach wenigen Minuten schloss der Genius ihn an sich und verhüllte die suchenden Augen mit seinem Busen“ (I/ 1, 60). Die ‚Erzieh-Höhle’ verlassen die beiden schweigend und mit „stummzitternden Lippen“ (I/ 1, 61), um sich in einer ruhigen, friedlichen Atmosphäre wieder zu finden, in der die Erstarrung ihrer Sinne frischem Sehvermögen sowie geistiger Aufgeschlossenheit weicht (I/ 1, 62). Indem der Text Beata, Gustav, Fenk, Ottomar und den Genius als betäubte, nicht sehende, lautlos agierende sowie stumm kommunizierende Subjekte schildert, beschreibt er sie in derselben Weise, wie er die Verstorbenen zeichnet. Als prototypisch an letztgenanntem Beispiel, in dem beschrieben wird, wie der Genius mit Gustav die ‚Erzieh-Höhle’ verlässt, erweist sich die Tatsache, dass auf die sinnliche Einmummung eine psychische Öffnung folgt. Hohe Menschen wie der Genius oder Gustav erreichen über die Betäubung ihrer Sinne innere, geistige Weitsicht. Indem sie sich den Toten äusserlich gleich machen, wird es ihnen möglich, als Lebende gedanklich Bereiche zu betreten, die eigentlich den Toten vorbehalten sind. Solch überselig gute Menschen gehen „nicht bloss mit dem Auge, sondern auch mit dem Herzen spazieren“ (I/ 1, 405). Als Stumme stehen sie an der „Pforte der fröhlichen Ewigkeit“ (I/ 1, 410). Sie vermögen mit inneren Augen zu sehen, mit inneren Ohren zu hören (I/ 1, 414): Je einsilbiger sich ihre Gespräche gestalten, umso vielsilbiger werden ihre Gedanken, umso voller ihre Herzen (I/ 1, 409). Was an ihren Ohren verhallt, ertönt lauter in ihren Seelen (I/ 1, 411); das stille Aussen wird zum vollen, heiligen Innen (I/ 1, 412). Gustav beispielsweise verlässt nach Amandus’ Tod das Schloss „mit eingehüllten Sinnen“; er sperrt sich ein, um „seine Brust […] auf[zumachen]“ (I/ 1, 285). Als blindes, doch erhabenes Subjekt bewegt er sich im stummen Gebet der Natur und lässt sein Herz „die Sprache Gottes“ <?page no="164"?> 164 erfassen (I/ 1, 395). Wie die Entschlafenen vermögen hohe Menschen ihre verinnerlichte, stille Sanftheit um sich herum auszubreiten. Ja, es hat den Anschein, als ob sie die Natur zum Schweigen bringen, indem sie deren Laute absorbieren und sie sodann als Vergeistigte sprechen lassen. Die Natur ist es auch, die als derart entleerte und verstummte die unsagbaren Innenwelten der schönen Seelen widerspiegelt: „Gustav nahm sich vor, sich […] zu Ottomar zu begeben […]. Es war ein stummer ausgewölkter Abend […], als Gustav aufbrach […]. In der leeren Luft, durch die keine gefiederte Töne, keine klopfende Herzen mehr flogen, zeigte sich nichts Lebendiges als die ewige Sonne […]. Gustav kam still im Dorfe an; am Eingang des Gartens […] stand ein Knabe, der die erhabene Melodie eines erhabenen Lieds auf einer Drehorgel dem Gehör eines Kanarienvogels vordrehte […]. An einen Baum gelehnt stand Ottomar der weiten Abendröte und diesen Abendtönen gegenüber; die Sonne außer ihm ging, hinter einer bleifarbenen grossen Wolke in ihm, unter.“ (I/ 1, 319, Hervorhebungen SB) An anderer Stelle heisst es, Ottomar sehe „immer aus wie ein Mann, der an etwas Weites denkt, der jetzt nur ausruhet, der die hereinhängende Blume der Freude abbricht, weil ihn seine fliehende Gondel vor ihr vorüberreißet […]. Er hat noch seine erhaben-leise Sprache und sein Auge, das den Tod gesehen. Immer noch ist er ein Zahuri 1 [ 1 : Die Zahuri in Spanien sehen durch die verschlossene Erde hindurch bis zu ihren Schätzen hinab, zu ihren Toten, zu ihren Metallen etc.], der durch alles Blumengeniste und alle Graspartien der Erde durchschauet und zu den unbeweglichen Toten hinabsieht, die unter ihr liegen.“ (I/ 1, 406, Hervorhebungen SB) Und Gustav begibt sich am Beichtsonnabend „wankend, zitternd, betäubt, wie wenn er das sähe, was er dachte - Gott -, in die verlassene Kindheithöhle hinab, wo er unter der Erdrinde erzogen wurde und wo seine ersten Tage und ersten Spiele und Wünsche begraben lagen. […] Gustav lag, und sogar seine Gedanken verstummten ... Aber die Stimme wird gehört, die in der Brust bleibt, und der Gedanke gesehen, der zurücksinkt unter den Strahlen des Genius; und in der andern Welt betet der Mensch seine hiesigen verstummten Gebete hinaus. - - -“ (I/ 1, 139f., Hervorhebungen SB) Im Bestreben, sich geistig zu veredeln, machen sich hohe Menschen mimetisch Verstorbenen gleich. Da sie sich auf Erden nicht heimisch fühlen (I/ 1, 285), wünschen sie dahin zu scheiden (I/ 1, 288) - nur, um den Tod gedanklich zu überschreiten und in intelligibler Unendlichkeit aufzugehen. In solch lautlosen, taubstummen Momenten, in denen ihr geistiges Auge ihre Sinne regiert, hängt das „Feld des Lebens und der Unendlichkeit […] nahe und tief über [ihnen] […], und alles Große, alles Überirdische, alle Verstorbne und alle Engel [heben ihren] Geist in ihren blauen Kreis“ (I/ 1, 412). Zeitweise führt ihre Sehnsucht, bereits ihre irdische Existenz als jen- <?page no="165"?> 165 seitige verleben zu dürfen, dazu, dass Diesseits und Jenseits in ihrer Wahrnehmung zusammenfallen (I/ 1, 177, 298). In diesem Zusammenhang nun tritt der Motivverbund ‚unsichtbar’, ‚unhörbar’ und ‚unsagbar’ signifikant in Erscheinung: Denn in dem Masse, in dem die Welt für die hohen Menschen an Substanz verliert, verlieren sie selbst an Substanz in der Welt. Da die Sublimierung nicht allein ihren Geist, sondern auch ihren Körper betrifft, da sich also mit ihrer Vergeistigung auch eine physische Verflüchtigung vollzieht, sind sie für ihre Mitmenschen immer weniger fassbar. Der Verschluss ihrer Sinne, der ihnen metaphysische Weitsicht ermöglicht, schliesst sie umgekehrt aus den Sinnen der anderen aus. Die intelligiblen Geister in ihren kaum mehr denn scheinhaften Körpern entziehen sich dem menschlichen Auge und Ohr: Gustav treibt sich als Unsichtbarer in Lilienbad herum (I/ 1, 384); Ottomar bewegt sich „unsichtbar und sogar unhörbar“ (I/ 1, 164) im Roman; und auch von Beata heisst es, sie sei unsichtbar geworden (I/ 1, 246). Hohe Menschen inkorporieren die Betäubung ihrer Sinne derart, dass diese zum Form gebenden Prinzip ihrer Physis wird: Sie verschwinden aus dem irdischen Gesichtskreis, indem sie die verinnerlichte Blindheit gegen aussen hin unsichtbar, die internalisierte Taubheit gegen aussen hin unhörbar macht. Als Stumme werden sie für ihre Mitmenschen zudem unsagbar, womit der Text ihre weltliche Existenz faktisch durchstreicht. Diese ihre irdische Negation scheint jedoch intrinsisch mit ihrer überirdischen Weitsicht verknüpft: Als Unsichtbare, den weltlichen Sinnen entzogen, vermögen hohe Menschen Jenseitiges zu sehen. Dies im Unterschied zu denjenigen Menschen, die Ottomar als „betäubten Haufen“ (I/ 1, 307) bezeichnet. Bei ihnen ist die sinnliche Abschottung als defizitär, als Zeichen der geistigen Verarmung zu lesen. Obwohl mit demselben Wortlaut umschrieben, versinnbildlichen diese Normalsterblichen auf ihren Lebensbereich beschränkte Subjekte, die in mechanischer Weise stupid dahinvegetieren: Sie „kriechen und graben in [ihrem] tiefen Hohlweg fort, dumm, blind, taub, käuend, zappelnd, ohne einen größern Gang zu sehen, als den [sie] mit Käferköpfen in [ihren] Kot ackern“ (I/ 1, 308). Im Wortfeld ‚blind, taub, stumm’ öffnet sich folglich eine Ebene von Konnotationen, die derjenigen, die sich auf die engelsgleich Erhöhten bezieht, diametral gegenüber gestellt ist. Für die hohen Menschen sind Blind- , Taubsowie Stummheit Qualitäten, dank derer sie sich als Unsichtbare, Unhörbare und Unsagbare in spirituelle Höhen, in elysische Sphären zu erheben vermögen. Bei den Normalsterblichen führen Blind-, Taub- und Stummheit zu einer Betäubung, durch die vor allem der Beschränktheit ihres Horizontes Ausdruck verliehen wird. ‚Blindheit’ steht in der Unsichtbaren Loge folglich nicht nur für geistige Kurzsichtigkeit, denn mit jeder Nennung des Lexems ‚unsichtbar’, das ‚verinnerlichte Blindheit’, welche ‚metaphysische Weitsicht’ ermöglicht, implizit mit nennt, wird sie ihrer <?page no="166"?> 166 defizitären Bedeutung enthoben. Als internalisierte ermöglicht die ‚Blindheit’ den ‚Unsichtbaren’ den Tod gedanklich zu überwinden und nährt ihre Hoffnung, nach dem irdischen Vergehen ein ewiges Leben antreten zu können. Mit dem Lexem ‚unsichtbar’ ist, wie bereits eingangs dieses Kapitels erwähnt wurde, zugleich auf den Titel des Romans Die unsichtbare Loge verwiesen [phonetische Verknüpfung] - (zur modellhaften Skizzierung dieses alternativen Lesepfads s. Anhang Graphik 2, S. 222). Im Titel tritt ‚unsichtbar’ mit dem Terminus ‚Loge’ wechselseitig determinierend in Verbindung, womit der Titel - unter anderen - den Konnotationsraum der Freimaurerei öffnet. Es ist sowohl Gustavs ‚Erzieh-Höhle’, welche in ihrer architektonischen Anlage freimaurerisch anmutet [semische Verknüpfung], wie auch das Betragen des Genius, der seinem Schützling nichts zurück lässt als die eine Hälfte eines Notenblatts, auf dem „die Dissonanzen der Melodie und die Fragen des Textes dazu“ (I/ 1, 64) notiert sind, welche (wie gezeigt) an die Fragen, die jedem Bruder beim Übertritt in den jeweils nächst höheren Grad gestellt werden, gemahnen [semische Verknüpfung]. Liest der Leser nun ausgehend von der Lexie ‚Erzieh-Höhle’ nicht linear weiter (verfolgt er das Geschehen nach Gustavs unterirdischer Erziehung also nicht weiter hin zu der Schilderung seines Alltag im Schlossgarten, seiner Freundschaft zu und Liebelei mit Regina, seines Umzugs mit der Familie nach Scheerau, seiner beginnenden Freundschaft mit Amandus, weiter zur Entdeckung, dass Fenk Amandus’ Vater ist, über die Beschreibung des Verhältnisses von Ottomar zu seinem fürstlichen Halbbruder, hin zu ‚Jean Pauls’ Engagement als Lehrer von Gustav, über die mysteriösen Kirchenplünderungen etc. pp.), sondern folgt einer vom Text nahe gelegten sprunghaften Lektüre, führt ihn die konnotative Verweisspur über das Notenblatt, dessen Dissonanzen ein „singendes Wesen“ (I/ 1, 417, Hervorhebung SB) auflöst, zum „Einlaßblatt zur Freude“, das aus den Tönen von „fünf Alphörner[n]“ besteht (I/ 1, 407, Hervorhebungen SB) [funktionale Verknüpfung]. Bei den Alphornklängen handelt es sich um die musikalischen Klänge, welche „die fünf Eiländer“ auf Teidor das Jenseits erahnen lassen (I/ 1, 407). Wie bei Gustavs vermeintlicher Auferstehung ist es die von „Äolsharfe[n]“ (I/ 1, 61, Hervorhebung SB) tönende „Sphärenmusik“ (I/ 1, 59, Hervorhebung SB), welche die zweite Welt für die Menschen erfahrbar macht. (Wie der Text an einer weiteren Stelle deutlich macht, fungieren „Alphörner und Äolsharfen“ als gleichwertige Produzenten der harmonischen Klänge (I/ 1, 201)). Auf Teidor wie in der Erzieh-Höhle sind es hohe Menschen [semische Verknüpfung], denen die Klänge den Weg in intelligible Gefilde ebnen. Mit ihnen, den Unsichtbaren [phonetische und semische Verknüpfung], denen allein metaphysische Weitsicht vergönnt ist, weist der Konnotationskreis schliesslich zurück zu seinem Ausgangspunkt, dem überirdische Umsicht bedeutenden Lexem ‚unsichtbar’. <?page no="167"?> 167 Was eben in Bezug auf das Wortfeld ‚blind, taub, stumm’ erläutert wurde, lässt sich auf die Formulierungen bei der Schilderung des Jenseits übertragen: Auch das Diesseits und das Jenseits werden mit identischem Wortlaut umschrieben, obwohl die jeweiligen Bedeutungen, die mit den Schilderungen einhergehen, gegensätzlicher nicht sein könnten. Dies zu verdeutlichen sei als erstes auf die Träume der hohen Menschen verwiesen, da sie es sind, in denen die hohen Menschen die jenseitige, zweite Welt zu ‚sehen’ vermögen - wohl auch, weil die hohen Menschen in ihnen als Schlafende vorstellig werden, was ihre Gleichgeartetheit mit den Entschlafenen unterstreicht: „[E]ndlich schloß der Traum die ganze nächtliche Außenwelt mit seinen [SB: Gustavs] Augenlidern zu und machte hinter ihnen eine neu geschaffne paradiesische auf; gleich einem Toten lag sein schlummernder Körper neben einem Grabmal und sein Geist in einer über den ganzen Abgrund hinüberreichenden Himmel-Au.“ (I/ 1, 295, Hervorhebung im Original) „Er sank in eine unabsehliche Aue nieder, die über schöne, aneinander gestellte Erden hinüberlief. Ein Regenbogen von Sonnen, die wie zu einer Perlenschnur aneinander gereihet waren, faßte die Erden ein und drehte sich um sie. […] Haine und Alleen von Riesen-Blumen, die so hoch wie Bäume waren, durchzogen im durchsichtigen Zickzack die Aue […]. Ein magischer Abendschimmer wallete wie ein freudiges Erröten zwischen den Schattenufern und […] Gustav fühlte, das sei der Abend der Ewigkeit und die Wonne der Ewigkeit. […] [E]ine Sonne um die andre zerging - […] ein Orgelton […] klang wie ein fliegender Himmel herüber […] und über den ausgebreiteten Silberschatten wehte ein Entzücken und hob ihn empor (I/ 1, 297f., Hervorhebung SB). Das Vokabular zur Beschreibung des erträumten jenseitigen Bereichs ist demselben Wortfeld entnommen wie dasjenige, welches die Szenerien um die sterbenden Protagonisten Amandus, Ottomar oder Gustav umschreibt; doch unterscheiden sich die mit der jeweiligen Schilderung verbundenen semantischen Aufladungen. So wird die beruhigte, gestillte, taube Natur, welche zusammen mit einem blinden, stummen, erstarrten Dahingeschiedenen den Rahmen für die paradiesischen Reflexionen der hohen Menschen bietet, als jenseitige positiv konnotiert: Der taube Tote fällt als Seliger in „betäubender Wonne“ nieder (I/ 1, 397); der Totenschlaf wird zum erfrischenden Schlummer (I/ 1, 398). Auch die Todessymbole aus den Bereichen Blume, Musik, Gestirn erfahren eine Umwertung: Im Jenseits wird die Lilie zur Rose oder Hyazinthe (I/ 1, 297), erklingen Alphörner als Flötenstrom (I/ 1, 397), und statt des Mondes erstrahlen Sonnen (I/ 1, 297). Im Paradies weicht die diesseitige Geräuschsowie Regungslosigkeit lieblichem Wehen, Klingen und Hallen, sowie gemächlichem Fliessen, Zergehen und Vereinen. Der Schlafende gleitet in einen Wonneschlummer, aus dem er - mit von Freuden-Tränen überströmten Augen - selig erwacht. Die Erstarrung <?page no="168"?> 168 der Sinne wandelt sich in ein erhabenes Fühlen; die bedrückende irdische Grabesstille zu elysischem Frieden. In dieser Praxis des Textes, ein Wortfeld mit binären Wertigkeiten zu versehen, schimmert zudem die zu Beginn des Teilkapitels Der an seinem Geburtstag auferstehende Sterbende konstatierte Anweisung zur Simultanlektüre durch. Dort wie hier wird der Leser ein Zugleich (mindestens) zweier Semantiken denken, die parallel aktiviert werden, von denen aber je nach Kontext ausschliesslich das eine oder das andere zu aktualisieren ist. Indem dasselbe Wortfeld divergierende Bedeutungsfelder aufruft, stellt der Text sicher, dass bei der Schilderung jeder weiteren Sterbeszene komplementär eine jenseitige mitgedacht wird - und vice versa. Anhand der binär semantisierten Motive ‚blind’, ‚taub’ und ‚stumm’, bei deren Nennung stets auch die Motive ‚unsichtbar’, ‚unhörbar’ sowie ‚unsagbar’ mitzudenken sind, wird also jedem Vergehen ein Werden, jedem Tod ein Auferstehen eingeschrieben, womit der Grundtopos der Unsichtbaren Loge ein weiteres Mal reflektiert ist. 4.5.2.2 Ruhe, Lilie, Stille - Ruhestatt, Lilienbad, stilles Land Die motivischen Gramme teilen die Eigenschaft, auf eine ihnen eigene Weise doppelwertig zu sein, sodass der Motivverbund ‚blind (unsichtbar)’, ‚taub (unhörbar)’, ‚stumm (unsagbar)’ aufgrund seiner Zweifachbestimmtheit an den ebenfalls binär semantisierten Motivverbund ‚Ruhe’, ‚Stille’, ‚Lilie’ gekoppelt ist [funktionale Verknüpfung]. Letzterer tritt anhand der Bezeichnungen der Orte Ruhestatt, Lilienbad sowie Stilles Land signifikant in Erscheinung [phonetische Verknüpfung], an denen sich die intrinsische Bedingtheit von Tod und Leben abermals entfaltet - was sie, nebenbei bemerkt, nicht überraschend zu den Lieblingsorten der hohen Menschen macht. 365 Ruhestatt beispielsweise wird ein Rittergut genannt, das Ottomar gehört und das der Erzähler als „ein abgebranntes Dorf mit stehender Kirche, die beide bleiben mußten, wie sie waren“ (I/ 1, 201), beschreibt. Es ist ein Ort, an dem alles an den Tod gemahnt, an dem jedoch zugleich das Gotteshaus - und damit die Hoffnung auf ein jenseitiges Leben - stehen zu bleiben hat: Ruhestatt ist das „Schattenreich, wo […] Licht und Schatten wie Leben und Schlafen nebeneinander und ineinander zitternd flatter[n]“ (I/ 1, 201, Hervorhebungen (fett und kursiv) SB). Auch aus der weiteren Schilderung 365 Der Leser sei ein weiteres Mal darauf hingewiesen, dass die Verbindung der Orte Ruhestatt, Lilienbad sowie Stilles Land aufgrund ihrer konnotativen Verknüpfung zustande kommt. Die Beschreibung der Orte folgt im Roman nicht unmittelbar aufeinander, doch legt der Text ihre Engführung nahe: Da ihre Namen alle auf ein motivisch motiviertes Lexem zurückgehen (‚Ruhe’, ‚Lilie’, ‚Stille’), wird an den Bedeutungen, mit denen die Orte im Text aufgeladen werden, die den Motiven eigene Doppelwertigkeit ersichtlich. <?page no="169"?> 169 des Ortes geht hervor, dass Ruhestatt sowohl mit dem Diesseits verbunden ist, wie auch auf das Jenseits verweist: So zittert auf Rasenerhöhungen in einem Teich jeweils eine „Blume [einsam] auf ihrem grünen Weltteilchen“; und das „Kabinett“, ein „schlechtes Häuschen“, dessen Flore über den Türen zerstört sind, verbleibt stumm, da die „Alphörner und Äolsharfen“, die lediglich an die Gitter des Häuschens angelehnt sind, nicht erklingen (alle: I/ 1, 201). Doch verfügt das Kabinett auch über „zwei entgegengesetzte[] Türen“, welche implizieren, dass auf jeden Eintritt in den Todesraum ein Austritt aus diesem möglich, dass jedem Ende potentiell ein Neubeginn eingeschrieben ist (I/ 1, 201). In Ruhestatt klingt einerseits diejenige Ruhestatt, in der man sich vom Leben ausruht, also das Grab, an (I/ 1, 385; 413), zugleich aber auch die „größere Ruhestätte“ (I/ 1, 285), welche für das Elysium, für selige Unsterblichkeit steht. Auch Lilienbad, welches den Tod in Form der Lilie im Namen trägt, wird als irdisch-elysischer Zwischenbereich vorstellig: Der Eingang, der sich „am östlichen Ende“ befindet, deutet zusammen mit dem westlichen Ende, an dem die Sonne zur Erde herab geht, einen Weg an, der über das irdische Gefilde hinaus führt (I/ 1, 380). In Lilienbad, so schildert der Erzähler, „wird der Schlaf das Sinnenlicht der Menschen […] auslöschen und das Nachtstück des Traums in den dämmernden Seelen ausbreiten“ (I/ 1, 381). Damit ist ein dem Leser bereits bekannter Sachverhalt ausgedrückt, nämlich, dass die sinnliche Einmummung die hohen Menschen dazu befähigt zu träumen und damit jenseitige Gefilde zu erahnen. Der Ort Lilienbad erinnert an den Tod (Lilie) und steht zugleich für das unverwüstliche Paradies, welches die hohen Menschen zu Lebzeiten jederzeit imaginativ zu aktualisieren vermögen: „[D]as grüne Lilienbad wird in unserer Phantasie eine grüne Rasenstelle bleiben, auf der, wenn einmal die Jahre alle elysische Felder, die ganze Gegend unserer Freude tief überschneiet haben, unter ihrem warmen Hauche aller Schnee zergeht und die uns immer angrünet, damit wir auf ihr, wie Maler auf grünern Tuche, unsere alten Augen erquicken.“ (I/ 1, 398) Der Name des stillen Landes, des dritten bevorzugten Aufenthaltsortes der hohen Menschen, ist ihm aus dem „Kummer“ seiner Besitzerin, der „Gemahlin des […] Fürsten“, die an dessen Hinscheiden leidet, erwachsen (I/ 1, 185). Das ‚Still’ des stillen Landes verweist ebenso wie die ‚Ruhe’ in Ruhestatt sowohl auf die irdisch taub-stummen Sterbeszenen wie auch auf den arkadisch-jenseitigen Frieden. Als „Garten“ der Fürstin, dieser „sterbenden Seele“ (I/ 1, 185), erinnert das stille Land einerseits an einen Ort des Todes. Andererseits mutet es als jenseitiges Gefilde an, das sich „hoch vom Boden“ befindet, und in das der Erzähler „mit solchem Sehnen“ hinüber zu fliegen wünscht (beide: I/ 1, 196). Aus der Trauer erwachsen gemahnt „das irdische stille Land“ (I/ 1, 276) sodann an Gustavs „stille[] Kartause“ (I/ 1, 183), die als Vorzimmer zum Himmel den Tod beherbergt hat. Für den im <?page no="170"?> 170 Sterben begriffenen Amandus stellt es dagegen „das ewig stille Land“ (I/ 1, 276) dar, in das er als Entschlafener ziehen wird. Wie das Grab ist das stille Land einerseits der Ort, an dem das fort rinnende Wasser und das dahin fliessende Leben stocken (I/ 1, 201), und zugleich die Brutzelle, die das zweite Leben gebiert (I/ 1, 305). 366 Wie aus obigen Ausführungen deutlich wird, erweist sich der Motivverbund ‚Stille, Ruhe, Lilie’, dessen Bedeutung sich an der semantischen Aufladung der Ortsnamen Ruhestatt, Lilienbad und stilles Land offenbart, als in der gleichen Weise doppelwertig, wie dies zuvor beim Motivverbund ‚blind (unsichtbar)’, ‚taub (unhörbar)’, ‚stumm (unsagbar)’ ersichtlich geworden ist: Mit jeder Nennung der Motive wird sowohl auf den Tod als auch auf dessen Überdauern im Jenseits hingewiesen. 4.5.2.3 Hände, Arme - abfallend, umarmend Am eindrücklichsten zeigt sich die Expansion der Urfunktion ‚Fortdauer über den Tod hinaus’ anhand von binär semantisierten Wortlauten am Leitmotiv der Hand beziehungsweise des Arms. Es ist im Zwischenreich des Traums, dass dieses seine differente Bestimmung entfaltet und von da ausgehend vor- und rückblickend im gesamten Roman einmal als Todesbote, ein andermal als Sinnbild des ewigen Lebens gelesen werden kann. Es wird in der Folge also darum gehen darzulegen, dass der Motivverbund ‚Hand/ Arm’ aufgrund seiner Doppelwertigkeit mit den Motivverbunden ‚blind (unsichtbar)’, ‚taub (unhörbar)’, ‚stumm (unsagbar)’ sowie ‚Stille, Ruhe, Lilie’ verknüpft ist. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass hohe Menschen zu sterben wünschen (I/ 1, 177; 221; 288), um ganz Geist werden sowie in Intelligibilität aufgehen zu können; ebenso, dass Träume ihnen eine Möglichkeit sind, sich als Eingeschlafene wenigstens temporär den Entschlafenen gleich zu machen, sich derart dem Diesseits zu entziehen, um mit jedem Aufwachen näher an die geträumte jenseitige Welt heranzurücken (I/ 1, 298; 398). Die binären Wertigkeiten des diesseitigen Verendens und des jenseitigen Werdens finden sich dabei in Formulierungen ausgedrückt, in denen die Hand beziehungsweise der Arm doppeldeutig in Erscheinung treten. Zunächst ist auffällig, dass das Wirken des Todes in irdischen Gefilden anhand der Metapher einer abfallenden Hand umschrieben wird: 367 366 Inwiefern das stille Land aufgrund dessen, dass einer in ihm befindlichen „Blumengöttin, von welcher Arm und Blumenkorb abgebrochen sind“ (I/ 1, 185), zusätzlich als Todesbote fungiert, wird aus dem kommenden Teilkapitel erhellen. 367 Neben der Hand bricht Sterbenden auch die Stimme ab: Amandus wendet sich „mit einer abgebrochnen, aber genesenen Stimme“ an Beata (I/ 1, 281). - Bezeichnenderweise weist auch dieser Satz über das diesseitige Ende hinaus: Das Genesene in der Stimme lässt das Heil im Jenseits erahnen. <?page no="171"?> 171 „O der Mensch! - warum will dein so bald in Salz, Wasser und Erde zerbröckelndes Herz ein anderes zerbröckelndes Herz zerschlagen - Ach eh’ du mit deiner aufgehobnen Totenhand zuschlägst: fällt sie ab in den Gottesacker hin - ach eh’ du dem feindlichen Busen die Wunde gegeben, liegt er um und fühlt sie nicht, und dein Haß ist tot oder auch du.“ (I/ 1, 216f.) So wie an dieser Stelle fungiert die Hand auch an anderen Stellen als Werkzeug, mit dem sich die Menschen gegenseitig Schaden zufügen: Sie ist es, die den Degen führt, mit dem ein Ritter dem anderen die Glieder zerbröckelt (I/ 1, 305). Auch Amandus beendigt seine Freundschaft mit Gustav, indem er ihm eine „kalte schwarze […] Färbers-Faust“ (I/ 1, 216), die Hand eines Toten, welche dem Doktor zu anatomischen Studien dient, hasserfüllt hinhält. 368 Reicht einem im Diesseits jemand die Hand, so handelt es sich dabei meist um den Tod, welcher sie lediglich gibt, um den Betreffenden aus der Welt wegzuführen (I/ 1, 360). Beendet er ein Leben, so bricht (I/ 1, 305) beziehungsweise reisst (I/ 1, 293) er Hände ab. Oder aber er beschliesst Leben, indem er sie entzwei schlägt (I/ 1, 216), indem er Individuen aus den Händen der Lebenden zieht (I/ 1, 364), indem er Leben schlichtweg „zerblickt“ (I/ 1, 305), zersplittert (I/ 1, 358), zerstückt oder voneinander sägt (I/ 1, 364). Als kalte Hand drängt er sich herein „und spaltet Seele von Seele“ (I/ 1, 417). Solange die Totenhand das Leben auseinander nimmt (I/ 1, 417), der Tod alles und jeden entzwei tritt (I/ 1, 177), gibt es hienieden bloss gebrochene, keine geheiligten Herzen (I/ 1, 360). Offensichtlich ist es auf Erden lediglich möglich, sich „aus Särgen […] die Hände [zu] reichen“ (I/ 1, 417). Erst im Jenseits weichen die Holztasten drückenden Hände solchen, in die sich Seelen zu legen vermögen (I/ 1, 307): Ausschliesslich Verstorbenen gelingt es, was sie lieben, an ihre „ewige Brust“ zu drücken, was sie haben, in ihren „ewigen Händen“ zu halten (I/ 1, 417). Beata fügt in ihrem Geleitbrief an Gustav folgendes, den eben umschriebenen Sachverhalt wiedergebendes Gleichnis an: „Engel der Tränen und der Geduld! […] [S]tille, wie der Tod, das Herz und das Auge meines Freundes und zeig ihnen auf der Erde nichts als den Himmel jenseits der Erde. […] Engel der Freundschaft! […] Dein himmlischer Flügel hülle Sein Herz ein und wärm’ es schöner, als die Menschen können - ach, du würdest auf einer andern Erde und ich auf dieser weinen, wenn an einem kalten Herzen Sein heißes, wie am gefrierenden Eisen die warme Hand, anklebte und blutig abrisse! “ (I/ 1, 416f., Hervorhebung (fett und kursiv) SB) 368 Kurz vor Amandus’ Tod wiederholt sich diese Szene, mit dem Unterschied, dass Amandus Gustav „seine [SB: Amandus’] Totenhand […], [die] noch an die fremde schwarze Färber- oder Totenhand erinnert[]“, nun nicht zum Zeichen seines Hasses, sondern seines baldigen Dahinscheidens entgegen streckt (I/ 1, 277f., Hervorhebungen im Original). <?page no="172"?> 172 Zu Lebzeiten scheint es Sterblichen verwehrt, sich als Ausdruck ihrer Freundschaft oder Liebe ihre Hände zu reichen, geschweige denn, sich zu umarmen: Ottomars Hand beispielsweise ist erstarrt und vermag nichts mehr zu greifen, da sie „einmal den Tod wie einen Zitteraal berührt hat“ (I/ 1, 308). 369 Er, dem überirdische Gefilde näher sind als irdische, fragt denn auch sarkastisch-melancholisch: Kann „der Mensch wähnen, es gebe auf der Erde eine Umarmung, da nur Gitter zusammenstoßen und hinter ihnen die eine Seele die andre nur denkt? “ (I/ 1, 321, Hervorhebung im Original). Sich im Diesseits zu umarmen, bringt den Subjekten lediglich Verderben; sich gar in die Arme zu fallen ist gleichbedeutend mit dem Tod: So verliert Gustav an von Bousens Brust seine Unschuld (I/ 1, 348), was dem (vorläufigen) Ende seiner Beziehung mit Beata entspricht. Und Fenk sucht mit aller Kraft, eine Umarmung Ottomars abzuwenden, da er ahnt, dass eine diesseitige „umarmende Zerdrückung“ (I/ 1, 421) den Tod des Freundes bedeuten würde: „‚Nein! nein! ’ sagt’ ich, ‚hier ist kein Abschied - […] umarme mich nicht.’“ (I/ 1, 421) Ottomar hat auch wirklich die Absicht, an der Brust seines Freundes zu verenden, überlebt aber. Amandus hingegen stirbt beim Versuch, sich in Gustavs Arme zu retten: Sein letztes Aufbäumen endet „in diese[n] Arme[n]“, in die er, von einem Nervenschlag dahingerafft, „tot“ niedersinkt (I/ 1, 283, Hervorhebung im Original). Auch hohen Menschen gelingt es zu Lebzeiten nicht, ihre Arme selig um geliebte Menschen zu legen; doch vermögen sie als einzige, „stille Umarmungen“ (I/ 1, 139) von der Natur zu empfangen. Der auferstandene Gustav beispielsweise fühlt „die tausend Arme […], womit ihn die hohe Seele des Weltall an sich drückt[]“ (I/ 1, 62). Er ist es auch, um den sich „die Mutterarme [der Freude] leis’ [schließen]“ (I/ 1, 140). Während seiner Streifzüge durch Wälder, über Wiesen und Auen offenbart sich ihm „die liegende Riesin der Natur […], [die] in den Armen tausend und tausend saugende Wesen“ trägt, und seine Seele wird von „bald in Flügeldecken 369 Im vollständigen Zitat der Stelle wird die Aussage, Ottomar bleibe im Diesseits Erfüllung verwehrt, durch die Schmetterlilngs-Metaphorik verstärkt: „Mit der Freude ists aber auch vorbei; meine starre Hand, die einmal den Tod wie einen Zitteraal berührt hat, reibet den bunten Schmetterlingstaub zu leicht von ihren vier Flügeln, und ich lasse sie bloß um mich flattern, ohne sie zu greifen“ (I/ 1, 308). Dem Schmetterling, den Jean Paul Esselborn zufolge auch in seiner „theologischen“ Bedeutung, als „Sinnbild der Auferstehung“, verwendet (Hans Esselborn: Universum der Bilder. Die Naturwissenschaft in den Schriften Jean Pauls, S. 235, Hervorhebung im Original), vermag Ottomar nicht habhaft zu werden. Die Tatsache, dass Ottomar ausserdem auch nicht an eine Erfüllung durch eine allfällige Auferstehung glaubt, da er erfahren hat, dass es ausser dem Tod im Jenseits niemanden gebe, wird in der Formulierung, den Schmetterling zu greifen würde bedeuten ihm den Staub von seinen Flügeln zu wischen, reflektiert. Ein ergriffener Schmetterling flattert nämlich nicht mehr, und „ohne Bewegung“ „muß [er] sterben“ (Jean Paul: Exzerpte online, V-Nat-01-1790-1793- 0322). <?page no="173"?> 173 gepanzerte[n], bald mit Zweifalter-Gefieder überstäubte[n], bald in Blumenpuppen eingeschlossene[n] Seelen […] in einer unendlichen, unübersehlichen Umarmung [angerührt]“ (I/ 1, 239). Die „Hand“, die sich Gustav offenbart, ist bezeichnenderweise eine „unsichtbare“ (I/ 1, 30) - was erklärt, weswegen sie den betäubten Subjekten verborgen bleibt. Von ihr, dieser unsichtbaren Hand, werden die hohen Menschen „in weite, reine unbekannte Regionen“ (I/ 1, 175) gehoben; als Unsichtbare sind sie allein es, die mit deren Schöpfung verbunden sind, die sie zu sehen vermögen. In ihren Träumen sind die schönen Seelen Teil dieses Himmels, in dem „ewige Wahrheit“ (I/ 1, 397) das Gut ist, an dem alle teilhaben; in dem selige Ruhe, Freude und „ewige Liebe“ (398) den Quell bilden, an dem sich alle laben. Im Gegensatz zur Erde, in der jegliche Handreichung undenkbar ist, vermögen sich die Seelen in diesem „Land der Umarmung“ (I/ 1, 298) zu umfassen und zu lieben (I/ 1, 398). Dabei wird die Differenz zwischen Elysium und Welt auch in den Träumen anhand von gelingenden sowie misslingenden Handreichungen und Umarmungen klar markiert: Gustav bleibt selbst die erträumte Umarmung seiner geliebten Beata solange verwehrt, bis er (im Traum) gestorben ist, was der Text an demjenigen Abend, an dem er Beata neben Anamdus’ Grabstätte seine Liebe gesteht, folgendermassen reformuliert: „O nimm mich ganz, glückliche Seele, nun hab’ ich dich, geliebte Beata, auch ich bin tot“ (I/ 1, 297). Zu sterben glaubt Gustav ob der überwältigenden Glücksgefühle darüber, dass Beata seine Liebe erwidert, in der Tat. Ihm ist, als würde sein Traum wahr, als befinde er sich immer noch in ihm, als sei dieses innere Elysium Realität geworden. Wahrlich, Gustav muss es schwer fallen, zwischen Diesseits und Jenseits zu unterscheiden, ist er es doch, der sich als Kind nach seinem Dahinscheiden im vermeintlichen Himmel, der Erde nämlich, wieder fand. Indem er praktisch die identischen Worte, mit welchen ihm der Genius sein Sterben angekündigt hat, an Beata richtet („Beata, wir sterben jetzt - und wenn wir tot sind, so sag’ ich dir meine Liebe und umarme dich“ (I/ 1, 299)), 370 denkt er, er vermöge diese erste Auferstehung aus der Welt in die Welt ein zweites Mal real werden zu lassen und somit seine Arme unverzüglich um Beata legen zu können. Gustav versucht mit anderen Worten, sich als Unsichtbarer wie der Unsichtbarste zu gebaren: „Ach dann breitete ich meine Arme hinaus in die flatternde zuckende Luft, die auf der Erde brütete, und alle meine Gedanken riefen: o wärest du sie [SB: die Natur], in deren weitem wogenden Schoß der Erdball ruht, o könn- 370 Zur Erinnerung: Des Genius’ Worte lauteten so: „Wenn du recht gut bist und nicht ungeduldig und mich und den Pudel recht lieb hast: so darfst du sterben. Wenn du gestorben bist: so sterb’ ich auch mit, und wir kommen in den Himmel“ (womit er die Oberfläche der Erde meinte) - „da ists recht hübsch und prächtig“ (I/ 1, 57). „[N]un sterben wir bald“ (I/ 1, 59). <?page no="174"?> 174 test du wie sie alle Seelen umschließen, o reichten deine Arme um alles wie ihre, die da beugen das Fühlhorn des Käfers und das bebende Gefieder des Lilien-Schmetterlings und die zähen Wälder, die da streicheln mit ihrer Hand das Raupenhaar und alle Blumen-Auen und die Meere der Erde, o könntest du wie sie an jeder Lippe ruhen, die vor Freude brennt, und kühlend um jeden gequälten Busen schweben, der seufzen will. - - Ach, hat denn der Mensch ein so schmales versperrtes Herz, daß er vom ganzen Reiche Gottes, das um ihn thront, nichts lieben, nichts fühlen kann, als was seine zehn Finger fassen und fühlen? Soll er nicht wünschen, dass alle Menschen und alle Wesen nur einen Hals, nur einen Busen haben, um sie alle mit einem einzigen Arm zu umschließen, um keines zu vergessen und in gesättigter Liebe nicht mehr Herzen zu kennen als zwei, das liebende und das geliebte? “ (I/ 1, 239f., Hervorhebungen im Original) Träumend kommen die Unsichtbaren dem „Genius des Universums“ (I/ 1, 59) am nächsten: In ihnen lässt „die größte und unsichtbarste Hand“, die als einzige „den Schlüssel“ zu den verschütteten Särgen der Verstorbenen hat (I/ 1, 364), die hohen Hände, während sie zu sterben glauben (I/ 1, 397), ihr Reich erkunden. Im erträumten Jenseits wird der in obigem Zitat verborgene Wunsch erfüllt, alle Menschen möchten sich so nahe kommen, dass es scheint, als würden sie sich zu einem einzigen Menschen zusammenfinden: Glückselig beobachten die hohen ‚Verstorbenen’, wie in der elysischen Natur, in der Sternenhimmel, Bach sowie Schatten und Abendstrahlen zusammen rinnen, alle Seelen aneinander sinken (I/ 1, 398). Es ist in diesem Himmel, da sie es vermögen, sich als Dahingeschiedene gegenseitig die Hand zu halten (I/ 1, 297) sowie sich einander in die Arme zu führen (I/ 1, 298; 299). 371 Im gleichen Zuge, wie der Text die hohen Menschen den blinden Blicken der betäubten Menschen entzieht, ja, jene vor diesen verbirgt, befähigt er sie umgekehrt dazu, die verborgene Seligkeit zu erfahren. Geführt von der unsichtbarsten Hand erkennen die Unsichtbaren das einzig Dauerhafte in der Welt: das Gestorbene (I/ 1, 391). 4.5.3 Szenische Verknüpfungslogik im paragrammatischen Raum: Blindekuhspiel Als Beispiel eines alternativen Lesepfades, der seinen Ausgangspunkt in einem der binär semantisierten Motivverbunde hat, führt die Verfasserin die Textstelle ‚Blindekuhspiel’ an. In ihr wird Amandus als Subjekt vorstellig, welches als ehemals blindes mit einer Weitsichtigkeit beschenkt war, der es als sehendes ermangelt [semische Verknüpfung]. Folgende Ausführungen werden erhellen, inwiefern ausgehend von der Szene ‚Blindekuh- 371 Eine ähnliche Denkfigur etabliert Jean Paul, wenn er die betenden Mönche als versteinerte, ihre Hände als verwitterte und ihre Gebete als verstummte vorstellig macht (I/ 1, 305) und anmerkt, es sei „in der andern Welt[, in welcher] […] der Mensch seine hiesigen verstummten Gebete hinaus“ zu beten vermöge (I/ 1, 140). <?page no="175"?> 175 spiel’ über konnotative Verweise die den motivischen Grammen eigene Funktion, auf das Diesseits sowie das Jenseits zugleich zu verweisen, etabliert und damit auf das doppelwertige Motiv ‚blind’ zurückverwiesen wird (s. Anhang Graphik 3, S. 223). In der Lexie ‚Blindekuhspiel’ (I/ 1, 103-105) wird dem Leser als Erstes mitgeteilt, dass dieses Spiel ein „fatales“ sei, sofern des Professor Hoppedizels „schlimme“ Mädchen dabei mitspielten. Diese würden sich nämlich nicht an die Spielregeln halten - was sie dadurch sogleich unter Beweis stellen, dass sie Amandus, der sie mit verbundenen Augen im Zimmer zu finden sucht, die „Milchschüssel des Spitzhundes“ derart in den Weg stellen, dass er darob hinfällt. Mit seinem Kommentar, die Mädchen hätten eben „zu wenige Moralphilosophen gelesen, obgleich deren genug gesehen“ (I/ 1, 104), spielt der Erzähler auf den dem Leser bereits bekannten Sachverhalt an, dass sich Hoppedizel zwar Professor der Moral nennt, sich jedoch seinen Mitmenschen gegenüber alles andere als moralisch korrekt verhält. Das „Obgleich“, welches eigentlich einen Teilsatz einleiten sollte, der bedeutet, die Kinder könnten die fehlende Lektüre mittels des vorgelebten, sichtbaren Beispiels ihres Vaters wettmachen, verliert sein rettendes Potential, da es sich beim Vorzeige-Subjekt um alles andere als um einen vorbildlichen Moralphilosophen handelt. Obwohl dem „Zu wenige“ grammatikalisch antithetisch gegenübergestellt, vermag die Aussage des Teilsatzes, welchen die Konjunktion „obgleich“ einleitet, die fehlende Kenntnis der Mädchen nicht zu kompensieren. Im Gegenteil: Über die Semantik, die sie transportieren, fungieren sie geradezu als Erklärung für das schlechte Verhalten der Mädchen. In seinem Fortschreiten signalisiert der Text denn auch, wie er diese grammatikalisch-semantische Ambivalenz verstanden wissen will: als Kalauer nämlich. Der Mädchen unbesonnenes Benehmen, ihr kurzsichtiges, lediglich auf das eigene Vergnügen ausgerichtete Verhalten, entlarvt er als „Mangel an reiner praktischer Vernunft“, womit er abermals implizit auf den Professor verweist, der bekanntlich neben dem „Spaßmachen“ „nichts so liebt als“ „[das] Philosophieren“ (I/ 1, 399) - der sich aber, so es tugendhaft zu agieren gilt, stumm und klammheimlich zurückzieht, da die Bedürfnisse anderer bei ihm auf taube Ohren stossen. Direkt im Anschluss an diese Schilderungen wird derart unmoralisches Handeln fast unmerklich Amandus, der soeben noch als Opfer solchen Betragens bemitleidet wurde, zugeschrieben [semische Verknüpfung]. Zum Zeichen, dass diesem, obwohl er seine organisch bedingte Blindheit überstanden hat, lebenspraktische Weitsicht abgeht, werden seine Augen mit einem „Schnupftuch“ bedeckt, wird er - als nunmehr Sehender - zur blinden Kuh erkoren. Auch wenn Amandus ahnt, dass nicht Gustav, sondern Hoppedizels Töchter ihm den Stolperstreich gespielt haben, versetzt er ihm zwei Schläge gegen die Schulter. Wie sehr Gustav auch beteuert, <?page no="176"?> 176 unschuldig zu sein, „der Blinde“ (! ) - obwohl „weniger zornig“ - „[stößt] ihn heftiger“ und schlägt ihn auch noch ein drittes Mal (I/ 1, 104). Amandus Verfehlung besteht darin, dass ihn, „wenn er jemand unrecht getan, mitten in seiner Kränkung darüber die Neigung an[wandelt], fortzubeleidigen, um sich selber so weit fortzukränken, daß er endlich vor Schmerz sich mit der heißesten Liebe ans versehrte fremde Herz werfen [muß]“ (I/ 1, 105). Da es ihn kränkt, wenn er andere verletzt, und er sich deswegen zu züchtigen beabsichtigt, hört er nicht auf, andere zu verletzen, um sich deswegen selbst auch recht zu bestrafen. Amandus’ Gefühlszustände stehen der Art und Weise, wie er sie äussert, augenscheinlich diametral entgegen: Zorn, den er gegenüber den Mädchen empfindet, setzt er in Hiebe gegen seinen Freund um; seiner Dankbarkeit darüber, dass dieser sich um ihn kümmert, verleiht er statt in netten Worten in noch mehr Prügeln Ausdruck; die Einsicht in sein Fehlen schliesslich trägt er autoaggressiv aus. 372 Erst grösste persönliche Qual vermag ihn dazu zu bewegen, seiner Liebe, die er im Grunde für seinen Freund empfindet, Ausdruck zu verleihen. Die handlungspraktische Kurzsichtigkeit seines Freundes kommentiert Gustav denn auch mit den Worten: „- ach, ich werde alsdann daran denken, daß deine Augen, da sie noch zerschnitten waren, mich schöner anblickten und besser erkannten ....“ (I/ 1, 216). In diesem Nebeneinander von Amandus’ Weitsicht als Blinder sowie seiner Blindheit als Sehender wird die Zweifachbestimmtheit des Motivs ‚blind’ paraphrasiert, welches im Text - wie gesehen - seine defizitäre Bedeutung (nichts sehen) ebenso wie seine positivistische (metaphysische Weitsicht erlangen) entfaltet. Noch innerhalb der Lexie ‚Blindekuhspiel’ führt der Lesepfad ausgehend von der Beschreibung (un-)moralischen Verhaltens (blinder Sehender, sehender Blinder) über den Modus der Doppelwertigkeit hin zu der Art und Weise, wie der Text zwischenmenschliche Beziehungen umschreibt [funktionale Verknüpfung] (s. Anhang Graphik 3, S. 223). Hierfür verwendet der Text die Termini ‚Blut’ und ‚Milch’, die in der Schilderung derjenigen Passage des ‚Blindekuhspiels’, in der Amandus Gustav zum ersten Mal schlägt, zusammengeführt werden: „Amandus […] puffte dem Gustav […] ein wenig hinten ans Schulterblatt, da, wo nach den Kompendien der Milchsaft mit dem Blut zusammenrinnt“ (I/ 1, 104, Hervorhebungen SB). 373 Der Terminus ‚Blut’, welcher einerseits als ‚Lebenssaft 372 Dass ein wirklicher Moralist Amandus’ Verhalten gewiss negativ beurteilen würde, verlautbart der Erzähler anhand seines schockiert-ernüchterten Ausrufs: „Aber, o lieber Amandus! wenn gerade ein Pädagog der Moral die Tür aufgemacht hätte! -“ (I/ 1, 105). 373 Mit Verweis auf Pierer’s Universal-Lexikon führt Klaus Pauler an dieser Stelle in einer Anmerkung zum Text der Erstausgabe Der Unsichtbaren Loge folgendes zum Milchsaft an: „„MILCHSAFT (Chylus), bei Menschen u. Säugetieren milchweiße, ölige, schleimige, wässrige Flüssigkeit, welche von den Lymphgefäßen des Gekröses aus dem Chymus (Speisebrei) der genoßnen […] zur Aufnahme in den Körper vorbe- <?page no="177"?> 177 Blut’ auf das Bestehen verwandtschaftlicher Beziehungen hindeutet, erhält mit dem ‚Milchsaft’ eine zweite Ausdifferenzierung, die freundschaftliche Beziehungen, solche, in denen Subjekte als Wesensverwandte geschildert werden, markiert. Alternativ zu Blutsbrüdern werden die beiden Freunde nämlich als „Herzensmilchbrüder[]“ 374 (I/ 1, 95) bezeichnet, was impliziert, dass in ihnen derselbe Wesenskern angelegt ist, dass die Brust, welche sie jeweils gestillt hat, ihnen dieselben Werte vermittelte, weswegen sie sich in ihren Wesensarten nunmehr gleichen. Dabei ist der Milchsaft als eine dem Blut absolut gleichwertige Flüssigkeit zu lesen, was unter anderen an der Bemerkung des Erzählers ersichtlich wird, in der dieser sich auf „älter[e] Theologen“ bezieht, denen zufolge die Menschen nach ihrem Tod „ohne Haare, Magen, Milchgefäße [SB: analog zu Blutgefäßen] etc.“ (I/ 1, 323) auferstehen. Die Milch erscheint gar als der verbindlichere Saft, wenn es um die Bewertung von zwischenmenschlichen Beziehungen geht: Dass er auf Blutsverwandtschaften nicht viel gibt, deutet der Roman ja mittels der zahlreichen Blutadelsschwindeleien sowie den undurchsichtig gehaltenen Verwandtschaftsverhältnissen an; wesenhafte Verbundenheit, wie diejenige der hohen Menschen beispielsweise, stuft er dagegen weit höher ein. Über den Milchsaft ist die Lexie ‚Blindekuhspiel’ denn auch mit der Lexie ‚Auferstehungsfahrt’ vernetzt. 375 In ihr erfährt die Milch [phonetische Verknüpfung] dahingehend eine semantische Erweiterung, als sie nun reiteten Nahrungsmittel, größtenteils im Dünndarm aufgesaugt, aus diesem theils unmittelbar in die Venen des Pfortadersystems übergeht, durch mehrere Drüsen, wesentlich in ihren Bestandtheilen verändert u. schon teilweise assimiliert, zu dem Milchbrustgang gelangt, von wo aus sie, zugleich mit der Lymphe, dem Blute als eigentl. Nahrungsstoff beigemischt wird“ (Loge, S. 106). Milchsaft und Blut stellen folglich zwei Flüssigkeiten dar, die als Nährstoffe aufgefasst und im Körper zusammengebracht werden. Jean Pauls narrative Umsetzung dieses biologischen Sachverhalts sieht nun so aus, dass er die beiden miteinander vermischten Flüssigkeiten dazu verwendet, zwischenmenschliche Interaktionsformen je unterschiedlich (als Blutsverwandtschaft sowie als Wesensverwandtschaft) zu umschreiben. 374 Adelung fügt unter dem Stichwort ‚Der Milchbruder’ an: „Ein Bruder der Muttermilch nach, derjenige, welcher mit einer andern Person einerley Brüste gesogen hat, mit ihr von einer Amme gesäuget worden“ (Adelung: GkWöBu, Bd. 2, S. 631f.). In Pierer’s Universal-Lexikon wird zusätzlich darauf verwiesen, dass die über die Muttermilch verbundenen Personen als verwandt gelten: „Die Milchbruderschaft gilt als Art von entfernter Verwandtschaft“ (Pierer: Universal-Lexikon, Bd. 11, S. 256). 375 Erneut folgt der alternative Lesepfad also nicht der chronologischen Präsentation des Romangeschehens, in dem nach der Szene des ‚Blindekuhspiels’ die Umstände beschrieben werden, unter denen ‚Jean Paul’ zu Gustavs Hofmeister ernannt wird, danach die Kirchendiebe im Zentrum des Geschehens stehen und schliesslich berichtet wird, wie der junge Fürst dem Rittmeister von Falkenberg verspricht, sein Sohn Gustav erhalte im besten seiner Kadettenhäuser eine Ausbildung. Statt dessen schliesst der Lesepfad konnotativ an die Szene an, in der die hohen Menschen nach ihrer Feier bei Fenk auf der Insel Teidor in einer Gondel zum Festland hinüber fahren und nach Lilienbad zurück gehen. Von hier hüpft er zur Lexie ‚Erzieh-Höhle’ zurück, die dem Leser bereits bekannt ist. <?page no="178"?> 178 metaphysische Gefilde verheisst: Die hohen Menschen schiffen nämlich während ihrer Auferstehungsfahrt nicht auf Wasser, sondern auf einer „glimmende[n] Milchstraße“; sie fahren nicht durch Lilien, sondern „durch schwimmende Blüten“ (I/ 1, 411). In Milch und Blüten (statt Wasser und Lilien) drückt sich somit der sehnsüchtige Wunsch der schönen Seelen aus, ihre elysische Ahnung möge Wirklichkeit werden, wird ihr Lebenszweck, sich im Diesseits weit möglichst zu vergeistigen, offenbar. Dieser Wesenszug der hohen Menschen entfaltet sich bereits in der Lexie ‚Erzieh-Höhle’ über die Milch (implizit) und die Blüten (explizit) [phonetische und funktionale Verknüpfung] - und zwar in den Erziehungsmetaphern. Die Bildungsmethoden des Genius werden einerseits in einem botanischen Wortfeld umschrieben, wenn es da (wie dem Leser bereits bekannt ist) lautet, der Genius „[biege] jeden knospenden Zweig [des kleinen Gustav] zur hohen Menschengestalt empor“ (I/ 1, 54). 376 Andererseits tritt der Genius als metonymische Erweiterung der stillenden Mutter in Erscheinung, wenn Gustav, der „wie eine trinkende Alpenblume an der rinnenden Wolke“ in seinen Armen liegt und sein Herz an dessen Erzählungen groß saugt (I/ 1, 55). In Gestalt der Erzählungen tritt die Muttermilch als Medium der Wissensvermittlung in Erscheinung, als Stoff, welcher als verinnerlichter das Wesen des Menschen bestimmt. 377 Die metonymische Erweiterung des Genius zur Mutter wird auch daran ersichtlich, dass von dem Moment an, in dem der Genius Gustav an seine Eltern ‚übergibt’, Gustavs Mutter ihn mit derselben beschützenden Geste, mit welcher der Genius vorgängig Gustavs ahnenden Blick auf die Welt beendet hat, 378 auf Erden begrüsst: „Du siehest nicht mehr in die glühende Lavakugel [SB: in die Sonne] hinein; du liegst an der beschattenden Brust deiner Mutter, und ihr liebendes Herz darin ist deine Sonne und dein Gott“ 376 Gustavs Hofmeister ‚Jean Paul’ umschreibt seine Erziehungsmethoden in demselben Wortfeld: „Dein Auge soll nie trübe neben meinem Lehrstuhle werden, dein Herz nie schwer! Du zarte Pflanze sollst nicht mit einschneidendem Bindfaden um mich wie um eine richtende Hopfenstange geschnüret sein, sondern mit lebendigen Efeuwurzeln sollst du selber mich als etwas Lebendiges umfassen! “ (I/ 1, 115). 377 Ausgehend von der ‚Erzieh-Höhle’ werden zwei weitere Bedeutungsdimensionen des Milchsaftes angedeutet, die als Ausgangs-, Mittel- oder Endpunkt von alternativen Lesepfaden gelesen werden können: Einerseits befürchtet Gustavs Vater, die abgeschottete Erziehung in der stillen Höhle durch den Genius verziehe seinen Sohn „zu einer Milchsuppe“, zu einem „weinerliche[n] Soldat[en] […], der kaum zu einem Feldprediger taug[e]“ (I/ 1, 123) [phonetische Verknüpfung]. Andererseits bemerkt der Erzähler, die Lehren des Genius bewahrten Gustav davor, die „geronnene Katechismus-Milch“ zu trinken, da er „statt des Tier-Rüssels einen zu kurzen Mund mit [bringe]“ (I/ 1, 137) - davor also, die katechetischen Lehren blindlings zu verinnerlichen. 378 „Allein nach wenigen Minuten schloß der Genius ihn an sich und verhüllte die suchenden Augen mit seinem Busen; unvermerkt liefen die Himmeltüren wieder zu und nahmen ihm den Frühling“ (I/ 1, 60f.). <?page no="179"?> 179 (I/ 1, 63) [funktionale Verknüpfung]. Über diese beschützende Geste weisen die als Muttermilch angelegten, in Gustavs Auferstehung mündenden erzieherischen Bemühungen des Genius aber nicht nur ins Diesseits, sondern - in Erahnung dessen, was die Menschen nach ihrem wirklichen Tod ereilt - auch in die zweite Welt: „Verhülltes Schicksal! […] - ach! wenn der Tod uns zerleget und ein großer Genius uns aus der Gruft in den Himmel gehoben hat, […] wirst du uns da auch eine bekannte Menschenbrust geben, an der wir das schwache Auge aufschlagen? “ (I/ 1, 63f.). In diesem Satz, der unvermittelt an die Schilderung der beschützenden Geste von Gustavs Mutter angeschlossen ist, ist von einer Auffahrt in elysische Gefilde die Rede, in der Gustavs Auferstehung zur Erde als Aufstieg „aus der Gruft in den Himmel“ anklingt und der Genius im „großen Genius“ mitschwingt. Die geschilderte Verstrickung, in der sich die hohen Menschen befinden (i.e. als irdische Wesen das Jenseits bereits im Diesseits erfahren zu wollen), wird im Zugleich der diesseitigen wie der antizipierten jenseitigen Auferstehung offenbar. Mit dieser Verschränkung weist die alternative Lesespur auf ihren Ausgangspunkt, das Motiv ‚blind’ zurück [funktionale Verknüpfung], an dem sich - wie oben gezeigt - das Verwobensein von irdischem Gefangensein und intelligibler Geistwerdung ebenfalls zeigt. Ein weiterer vernetzter Kreisschluss ist vollzogen. 4.6 Textuelle Ikonizität III: Rekursivität „[K]nisternde, wehende Zirkulieröfen“ (I/ 1, 35) Die dargelegten Analyseschritte verdeutlichen, dass die Leserichtung in der Unsichtbaren Loge nicht ein für alle Mal festgelegt ist. Der Einstieg in dieses paragrammatische Raster ist an sämtlichen Textorten möglich: Da alle Gramme miteinander verwoben sind, man folglich von überall her überall hin gelangt, erlangt der Leser ein Gesamtbild des Romans unabhängig davon, an welcher Stelle er in ihn einsteigt. Die Wendungen freilich, die jedes konnotative Durchschreiten des Romans nimmt, treten weder willkürlich noch zufällig ein, sondern ergeben sich auf der Basis von textimmanenten, beispielsweise semisch, phonetisch, funktional oder typologisch motivierten Relationen zwischen den Textelementen. Jedes Gramm, Teilgramm oder Untergramm ist gleichzeitig in mehrere Sinnverbunde eingewoben, in denen es sich je anders signifikant veräussert. Sämtliche Textsegmente weisen nach vorne, blicken zurück und verbinden sich über die Textebenen hinweg miteinander. Derart etabliert der Logen-Text ein dreidimensionales Netz von Verweisspuren, die - paragrammatisch geordnet - aneinander anschliessen (s. Anhang Graphik 4, S. 224). Darin dass sich Sinn in Jean Pauls Romanerstling nicht (ausschliesslich) linear <?page no="180"?> 180 entrollt, sich die Sinnrichtungen vielmehr im Textraum zu Sinngebilden verbinden, in denen sie alle simultan wirksam werden, gleicht der poetische Text einem „Bild[, das] […] seine Bedeutungen in einem freien Schematismus [generiert], für den Horizontale und Vertikale, Diagonale, Seitenparallelen, Links und Rechts etc. zu massgebenden Vektoren werden“. 379 Was ein Bild zu sehen gibt, ist folglich weder eindeutig noch endgültig bestimmbar. Die Formen- und Farbelemente, welche die sichtbare Fläche konstituieren, bilden einen visuellen Erfahrungsraum, der, je nachdem, welche Korrespondenzen die Bildkonstituenten eingehen, verschiedene Bedeutungen generiert. Ähnlich wie der Blick des Lesers anhand von Konnotationen durch die multi-lateral verknüpften Elemente im „tabuläre[n] […] Modell“ 380 Text, wird derjenige eines Bildbetrachters anhand von „blickleitenden Selektionsmomente[n]“, 381 von „Wirkungsstimuli des Bildes“ 382 gesteuert. 383 Jeder Blick ist strukturiert, lotet innerhalb des Bildraumes seine Reichweite aus und markiert schliesslich seine Grenzen, 384 um die nunmehr sichtbare Ordnung, welche sich entlang der Sehspur, die er gezogen hat, offenbart, als visuelle Erkenntnis mitteilen zu können. Offensichtlich muss sich jedes Blicken selektiv vollziehen, um kohärente Strukturen, um Sinn allererst generieren zu können - denn „wer alles sieht, sieht nichts“. 385 Es gilt folglich, sich im Sehangebot, welches jede bildliche Darstellung etabliert, zu orientieren, diverse, ausgewählte Elemente zu einem 379 Boehm: Hermeneutik, S. 466. 380 Kristeva: Paragramm, S. 174, Hervorhebung im Original. 381 Boehm: Sehen, S. 63. 382 Boehm: Sinnesorgane, S. 126. 383 Bilder stellen Kompositionseinheiten dar, in welchen Figuren, Dinge oder abstrakte Elemente über Blickkonstellationen, Gebärden, Körperhaltungen sowie ihren Ort und ihre Lage im Bildfeld den Blick des Betrachters lenken (Imdahl: Sinnstruktur, S. 444). Aufgrund der räumlichen Gliederung der Kunstwerke werden „Figuren und Dingdaten“ zu „Richtungswerten“ (Imdahl: Sinnstruktur, S. 448), zu Parametern, welche dem „Auge [helfen] sich im Bilde zurechtzufinden, es […] [als] ein Ganzes als die Bedingung und Organisationsform des Einzelnen [zu sehen]“ (Imdahl: Sinnstruktur, S. 449). In Giottos Arenafresko „Kreuztragung“ beispielsweise weist Max Imdahl auf sich „an den Dingen begegnenden Linien und die diesen innewohnenden Ausdruckskräfte [hin]“ (Imdahl: Sinnstruktur, S. 438), welche eine „Bewegung von links nach rechts [suggerieren]“ (Imdahl: Sinnstruktur, S. 437). Anhand solcher Elemente wie dieser „Iterationswerte von gleichem Richtungsduktus“ (Imdahl: Sinnstruktur, S. 438) werde - so Imdahl - dem Bildbetrachter die ikonisch komplexe Sinnstruktur der Anschauungseinheit erst offenbar. Selbstredenderweise präsentieren sich die ikonischen Perspektiven in jedem Bild jeweils anders, sodass über ihre bildimmanente Strukturiertheit und die damit verbundene Blicklenkung des Betrachters keine universal gültige Aussage gemacht werden kann. 384 Boehm: Sehen, S. 60. 385 Werner Hofmann: Anhaltspunkte. Studien zur Kunst und Kunsttheorie, S. 280. (Im Folgenden zitiert als Anhaltspunkte.) <?page no="181"?> 181 (je anderen) sinnhaften Gebilde zusammenzufügen. Zugleich folgt daraus, dass jedes Blicken auf Kosten der auserwählten Elemente andere in den Hintergrund treten lässt, sodass „in jedes Sehen der Horizont des Unsichtbaren eingeschrieben [ist]“. 386 In diesen unsichtbaren Zwischenräumen wiederum liegt die bildliche Mehrdeutigkeit verborgen, da jedes Element potentiell in den Vordergrund zu treten und damit die Gesamtform des Bildes, sein visuelles Sinnangebot, mit zu gestalten vermag. Das Sehen, welches sich innerhalb solch keineswegs eindeutig referenzialisierbarer Farbflecken, Linien oder Punkten entfaltet, ist autonom. Die bildimmanent geregelten Strukturen, die mit jedem Sehakt sichtbar werden, reproduzieren nicht einfach bereits vorhandene, konventionalisierte (Seh-)Erfahrungen. Sie stellen „abweichende[] Ordnungen der Sichtbarkeit dar“, 387 an denen „das Auge mehr erkennt als es schon weiss“. 388 Zu sehen heisst somit nicht, Bekanntes festzustellen, sondern „offene, visuelle Synthesen zu vollziehen und unbekannte anschauliche Evidenzen zu erschliessen“. 389 Dies entspricht einer Betrachtungsweise, die Imdahl das „erkennende[] Sehen“ 390 nennt. In ihm durchdringen sich das „wiedererkennende[] Sehen“, für welches sich Bildsinn weitgehend aus der Möglichkeit ergibt, Sachverhalte feststellen sowie figürliche oder dingliche Bildwerte als Gegenstände identifizieren zu können, 391 und das „sehende Sehen“, das Bildsinn „jenseits des Sinns aller gegenständlichen Trägerschaften“, anhand von „formale[n] Relationen[,] [von] blosse[n] Linien oder Richtungen“ bemisst. 392 Anhand der Spannung der beiden Sehweisen, welche sich zueinander überbietend verhalten, zeigt sich die eigentlich ikonische Sinnkomplexität. Ein Bild erkennend zu betrachten bedeutet, visuelle Evidenzen nicht ausschliesslich zu referentialisieren, sondern sie darüber hinaus auch als Strukturelemente einer ikonisch-formalen Konstruktion wahrzunehmen. In einem solchen Sehakt werden beispielsweise dargestellte Figurengruppierungen nicht nur als historisch oder mythologisch identifizierbare Individuen wieder erkannt, wird die Art und Weise der Darstellung ihrer Kleidung nicht nur als akkurate oder weniger akku- 386 Boehm: Sehen, S. 60. 387 Boehm: Sehen, S. 54. 388 Boehm: Sehen, S. 63. 389 Gottfried Boehm: Die Arbeit des Blickes. Hinweise zu Max Imdahls theoretischen Schriften, S. 30. (Im Folgenden zitiert als Arbeit des Blickes.) 390 Max Imdahl: Giotto. Arenafresken. Ikonographie, Ikonologie, Ikonik, S. 92. (Im Folgenden zitiert als Arenafresken.) 391 Max Imdahl: Cézanne - Braque - Picasso. Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen, S. 304. (Im Folgenden zitiert als Cézanne.) 392 Imdahl: Sinnstruktur, S. 432. - Ausführliche Darstellungen von Imdahls Überlegungen das wiedererkennende und das sehende Sehen betreffend finden sich in: Max Imdahl: Giotto. Arenafresken. Ikonographie, Ikonologie, Ikonik sowie in: ders.: Cézanne - Braque - Picasso. Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen, S. 303- 380. <?page no="182"?> 182 rate Repräsentation von Gewandsäumen oder Kopfbedeckungen beschrieben. Ein erkennender Blick wird Rücken- oder Vorderkonturen von Figuren, ihre Gesten oder die Konstellation ihrer Blicke, Faltenwürfe in ihren Kleidungsstücken ebenso wie die rechtwinklige oder diagonale Ausrichtung von Linien, welche die Konturen von Bilddingen markieren, vielmehr auch als Richtungs- oder Iterationswerte, als komplexe formale Korrelationen generierende Elemente betrachten, welche die Totalität Bild erst ausmachen: „Der ikonischen Betrachtungsweise oder eben der Ikonik wird das Bild zugänglich als ein Phänomen, in welchem gegenständliches, wiedererkennendes Sehen und formales, sehendes Sehen sich ineinander vermitteln zur Anschauung einer höheren, die praktische Seherfahrung sowohl einschliessenden als auch prinzipiell überbietenden Ordnung und Sinntotalität.“ (Imdahl: Arenafresken, S. 92f.) Anhand des Spannungsverhältnisses von wiedererkennendem und sehendem Sehen, in welchem das Bild sowohl als dichtes, durchstrukturiertes System und zugleich als sinnlich-komplexe Anschauungseinheit vorstellig wird, erschliesst sich dessen eigentlich ikonischer Gehalt. Wie nun der Bildbetrachter der ikonischen Sinnstruktur erst vollauf ansichtig wird, wenn er es versteht, Bilddinge auch als Teile formaler Relationsgeflechte wahrzunehmen, die visuellen Sinn generieren, der über eine alltägliche, sie referentialisierende Rezeption niemals evident werden würde, hat der Leser von Jean Paul-Texten dessen Wort-, Metaphern und Gleichnisgebrauch als Teil einer Sprachverwendung zu lesen, die Sinn generiert, indem sie Wortbedeutungen nicht ein für allemal fixiert, sondern mit den Worten über deren konventionalisierte Verwendung hinaus neue Wege beschreitet. - Dies zu erläutern wird Gegenstand des folgenden Teilkapitels sein. 4.7. Lexikon und Syntax im paragrammatischen Raum 4.7.1 Bedeutungsgenerierung, Polyvalenz, Synchronismus „[O]lympische[] Spiele der Zunge und Hände“ (I/ 1, 116) Jean Pauls Sprache erweist sich auch auf der lexikalischen Ebene als paragrammatisch organisierte, da sie weder auf einen Index von Referenzen zurückgreift noch in begrifflicher Eindeutigkeit aufgeht: 393 Der Sinn eines 393 Pfotenhauer stellt bezüglich Jean Pauls „Sprachbilder[n] […] [eine] Lockerung des Gegenstandsbezugs“ fest (Herlmut Pfotenhauer: Bilderfluch und Bilderflut, S. 14). (Im Folgenden zitiert als Bilderfluch.) Schmitz-Emans führt an, seine „Metaphern und Gleichnisse […] [vermittelten] […] eine Fülle von Vorstellungen, [liessen] sich aber <?page no="183"?> 183 Wortes ist nicht gegeben, sondern beweglich, da er sich erst an demjenigen Textort, an dem das betreffende Wort zu stehen kommt, in Bezug auf denjenigen Kontext, mit dem es verbunden ist, konstituiert. 394 In der Unsichtbaren Loge bedeuten Worte/ Phrasen entweder etwas gänzlich anderes, als was ihre herkömmliche Verwendung erwarten liesse, oder aber sie greifen über den ihnen konventionell zugewiesenen Sinn hinaus: In jedem Fall werden ihre Bedeutungen bewusst in der Schwebe gehalten oder, anders gesagt, erst mit dem Gebrauch des Wortes generiert. Im achtunddreissigsten Sektor beispielsweise spricht der Erzähler von einem „Druckwerk“ 395 (I/ 1, 361), womit er sich aber weder auf eine Buchdruckmaschine noch auf ein gedrucktes Werk im Sinne eines Buches bezieht. Vielmehr ist der Terminus als Nomen Agentis und also als Bezeichnung für ein Subjekt zu lesen, dessen Tun („Werk“) darin besteht, andere Subjekte zu unterdrücken: Mit „Druckwerk“ ist folglich der Unterdrücker, der Fürst, gemeint. Auch im Falle der Wendung ‚(an einem Ort) nichts zu suchen haben’ tritt zu der herkömmlichen, metaphorischen Bedeutung, dass man sich an einem bestimmten Ort nicht aufhalten solle, weil man da nicht hingehört und/ oder nicht erwünscht ist, eine weitere hinzu. Als der knauserige Röper entdeckt, dass ihn eine Gruppe von Leuten besuchen kommt, um bei ihm einzukehren, gibt der Erzähler dessen Gedanken mit den Worten wieder, diese „Menschenköpfe [hätten] […] sämtlich in seinem Schlosse nichts zu suchen […], aber zu finden genug“ (I/ 1, 166). Über den adversativen Nebensatz treten die Verben ‚suchen’ und ‚finden’ zueinander in Beziehung, sodass ersteres aus dem Bedeutungsverbund der Wendung gelöst kaum je erschöpfend ins Begriffliche auflösen“ (Monika Schmitz-Emans: Die Literatur, die Bilder und das Unsichtbare. Spielformen literarischer Bildinterpretation vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, S. 161). (Im Folgenden zitiert als LBU.) 394 Wellbery spricht in Bezug auf den Tristram Shandy von einer „Örtlichkeit der Signifikanz“. Eine „Struktureigenschaft“ von Sternes Sprache sei „eine gewisse ›Unstelligkeit‹, d.h. eine mögliche Diskrepanz zwischen Stelle und Element“. Diese „Unstelligkeit“ habe zur Folge, „dass ein gegebenes sprachliches Element […] sich von seinem Ort losreißen und unvorhergesehene Kombinationen eingehen kann“ (alle: Wellbery: Zufall der Geburt, S. 35, Hervorhebungen im Original). - Michelsen führt in Bezug auf Jean Pauls Metaphorik aus, die Worte würden „im In-Bewegung- und Aus-sichheraussetzen der Dinge, oder besser ihrer Vorstellungen im Raume des Ich, […] das Fest ihrer Befreiung von den Objekten [feiern], eine Walpurgisnacht der Namen, welche sich in allwechselseitiger Begattung vermischen und vereinen, um von der ärgerlichen Identität mit sich selbst erlöst zu werden, auf die sie sich seit der adamitischen Namengebung beschränken mußten“ (Michelsen: Laurence Sterne, S. 333). - Auch Waltraud Wiethölter sieht Jean Paul mit seiner „metaphorischen Dynamik […] die Welt wieder in Bewegung [setzen] und […] die überkommenen Sprachmuster zu neuen Verknüpfungsmöglichkeiten [auflösen], ohne sich bei einer von ihnen festzulegen“ (Wiethölter: Witzige Illumination, S. 25). 395 „Aber was mich drückt, ist der Druck der Untertanen, das metallene Druckwerk, das man unsern Fürsten nennt“ (I/ 1, 361). <?page no="184"?> 184 wird und zusätzlich (zugleich! ) seinen wörtlichen Sinn entfaltet: Falls die ungebetenen Gäste in seinem Schloss nach Wertgegenständen, nach Ess- oder Trinkwaren suchten, würden sie wohl fündig, doch soll ihnen die Suche von Anfang an verwehrt bleiben. Des Weiteren findet der Leser im Logen-Text Beispiele, in denen eine Wortwendung je nach Textumgebung, in der sie zu stehen kommt, anders bedeutet. Den paragrammatisch angeordneten Beziehungsbündeln vergleichbar, strahlt sie, indem sie diverse Sinne auf sich vereint, in mehrere Sinnrichtungen aus und konstituiert derart jeden der insularen Bedeutungsorte mit, zu dem hin die Sinnrichtungen sich orientieren. Zum Beispiel: Zusätzlich zu seiner Erscheinung als „Druckwerk“ wird der Fürst an anderer Stelle den „Leuten von Ton“ (I/ 1, 292, Hervorhebung SB) zugerechnet, also denjenigen Individuen, die sich in einer gehobenen Schicht der Gesellschaft bewegen. In Komposita („Hofton“) und Wendungen („in Zirkeln von Ton [enthält man sich gern] […] der Namen ‚Gott, Ewigkeit’“) dient das Lemma ‚Ton’ des Weiteren dazu, die höfische Sprechweise zu umschreiben (I/ 1, 93, 109, 227, 275) sowie die Hofleute als lüsterne, gottlose und untugendhafte Subjekte zu verurteilen (I/ 1, 25). 396 Der ‚Ton’ fungiert auch bei der Bewertung der Ethik- und Moralvorstellungen sowie der Gefühlswelt anderer Protagonisten als Indikator: So wird beispielsweise Beatas Seele als „Nachtigallton“ (I/ 1, 106) beschrieben, und Ottomars seelische Befindlichkeit wird als „inner[es] Tonsystem[]“, dessen „dünne[] Saiten“ von „Druck und Sehnen[] […] verstimmt und [abgesprengt]“ werden (I/ 1, 219), vorstellig. Aus der eben getätigten Auflistung der vieldeutigen Verwendungsweisen des Wortes ‚(von) Ton’ - als Ausdruck von Adelszugehörigkeit, als Charakterisierung der Sprechweisen sowie als Mittel, die Gefühlswelt der Figuren zu umschreiben - sticht aber eine ganz besonders heraus: In direkter Anlehnung an ihn wird dem Ausdruck „Leute von Ton“ derjenige der „geheimen Gesellschaften von Ton“ (I/ 1, 325) gegenübergestellt. In konzentrierter Form spiegelt sich so der vorgängig auf der inhaltlichen Ebene thematisierte Konflikt (Fürst vs. unterirdische Menschenwelt) auf der lexikalischen wieder: Die Zuschreibung ‚von Ton’, welche die Subjekte als einer höheren gesellschaftlichen Schicht zugehörige auszeichnet, macht, da sie nun auf die ‚geheime Gesellschaft’ bezogen ist, sowohl deutlich, dass die vom Fürsten Verfolgten und aus der Gesellschaft Ausgeschlossenen so genannten „Diebe und Räuber“ (I/ 1, 376) als die eigentlich Adligen anzusehen sind, als auch dass der Fürst der wahre Verbrecher ist. 397 396 Dies wurde oben auch anhand der Tiervergleiche deutlich gemacht. 397 In ähnlich semantisch-kondensierter Weise wie die Wendung „geheime[] Gesellschaft von Ton“ (I/ 1, 325) werden der Ausdruck „Kopulierkatze“ (I/ 1, 33) sowie die Phrase „Schäferei mit einem Lamm auf dem Berg“ (I/ 1, 266f., Hervorhebung im Original) verwendet (s. Erläuterungen zum Sinngeflecht ‚tierische Verkuppler’ S. 138ff.). <?page no="185"?> 185 In der Formulierung „ein Mann von Ton“ (I/ 1, 388) hat es der Leser dann aber weder mit einem zu Unrecht Verfolgten, noch einem unmoralischen Höfling, sondern schlicht mit einem Individuum zu tun, welches das instrumentale Spiel der Töne beherrscht - mit einem Organisten nämlich. Damit ist der Bogen geschlagen zur nahe liegenden Verwendung des ‚Tons’ als Bezeichnung für den Klang eines Musikinstruments (I/ 1, 298, 307) oder der Tonlage einer Stimme (exemplarisch: I/ 1, 144, 196, 245, 252, 274). Am ‚Ton’ wird folglich beispielhaft ersichtlich, inwiefern sich der Wortsinn in der Unsichtbaren Loge aus dem Spannungsverhältnis zwischen der Bedeutung, die einem Wort konventionellerweise zugeschrieben wird, und derjenigen, die sich aus dessen vom Kontext abhängigen Verwendungsweise ergibt, konstituiert. Ein Wort vermag mehrere Bedeutungsdimensionen zu entfalten, zwischen denen es hin und her pendelt. Auf jede Konkretisierung des Wortgehalts folgt eine Verflüchtigung desselben und vice versa - um es mit den Worten Kristevas zu sagen: „[D]ie poetische Sprache bietet ihre Unendlichkeit auf, um den Verschleiss der Sprache durch neue Verkettungen zu ersetzen“. 398 Indem sie in Form desselben Lexems manifest werden, sind die Konkretisierungen im Textraum netzartig miteinander verbunden und partizipieren am „paragrammatische[n] Raster“ 399 Logen-Text. Die Bedeutungsfacetten beziehen sich additiv-integrativ aufeinander. Erst ihr simultanes Wirken macht das Lexem als Ganzes aus. 4.7.2 Gesetze der Grammatik durchbrechen und zugleich implizit bestehen lassen Während Jean Pauls unkonventioneller Sprachgebrauch seine paragrammatische Strukturiertheit auf der lexikalischen Ebene folglich in Form der Bedeutungsgenerierung („Druckwerk“), Polyvalenz („(von) Ton“) sowie des Synchronismus („an einem Ort nichts zu suchen haben“) veräussert, realisiert er sie auf der syntaktischen Ebene dadurch, dass er die grammatikalisch-syntaktischen Konventionen, wo er sie nicht ausser Kraft setzt, sie doch zumindest ausreizt. Damit inszeniert er, was Kristeva als charakteristisch für die Logik der Paragramme bezeichnet: nämlich, dass gemäss dieser „die Gesetze der Grammatik […] durchbrochen werden und zugleich implizit bestehen bleiben“. 400 Die folgenden beiden Sätze beispielsweise sind formal durch einen Absatz getrennt, semantisch jedoch ist der nachfolgende auf den vorausgehenden Satz unmittelbar zu beziehen: 398 Kristeva: Paragramm, S. 197. 399 Kristeva: Paragramm, S. 174. 400 Kristeva: Paragramm, S. 173. - „Die binären poetischen Gesetze überschreiten sogar die Gesetze der Grammatik“ (Kristeva: Paragramm, S. 164). <?page no="186"?> 186 „Ich werde den Traum und sein Ende sogleich erzählen, wenn ich dem Leser die Person gezeigt habe, die den Traum zugleich verlängerte und endigte. Nämlich Beata - kam. Sie konnte weder seine Wiederkunft noch seine letzte Situation wissen.“ (I/ 1, 295, Hervorhebungen SB) Der Satzteil „Nämlich Beata“ ist in seiner Position nicht fixiert, da er zurück und voraus zugleich weist: Als Antwort auf den letzten Satz des vorhergehenden Absatzes ist er an diesen angebunden, wodurch die suggerierte Trennung der beiden Sentenzen aufgehoben wird. Wird er aber mit „kam“ zusammen gelesen, bildet er einen eigenständigen Satz, der einen neuen Abschnitt einleitet. Um es in den Worten des zuerst zitierten Satzes zu sagen: Die Wendung „Nämlich Beata“ verlängert den ihr vorangehenden Satz ebenso, wie sie ihn beendigt. Ähnlich doppelwertig verwendet wird im folgenden Beispiel die Phrase „wie er“, von der der Leser selbst zu entscheiden hat, ob sie Fenk als einen sich kümmernden Vater oder aber als einen, der seinen Sohn vernachlässigt (hat), zeichnet: „Fenk wusste, dass […] Mutter und Tochter zu gut wären, um nicht gegen seinen Sohn zu handeln wie er: kurz er fuhr“ (I/ 1, 280). Der Text belässt in der Schwebe, ob das „Wie er“ als „ebenso wenig wie er“ oder als „ganz im Gegensatz zu ihm“ gelesen werden muss. An unzähligen weiteren Stellen spielt der Text in vergleichbarer Weise mit der semantischen Intransparenz, die seiner Syntax zuzuschreiben ist. Mal für Mal wird der Leser dazu veranlasst zu reflektieren, ob er nun versteht, was ihm aufgrund der Formulierung nicht ganz klar ist, oder ob er nicht genau versteht, was ihm unmittelbar einzuleuchten scheint. Zwei Beispiele: „[S]o werd’ ich […] einsam nach Hause gehen und mich einschließen und meinen Kopf auf den Arm mit den Augen legen“ (I/ 1, 288). Und weiter: „Hier unter kolossalischen Sternen, an der Brust der Unendlichkeit, lernt man sich erheben über metallene Sterne neben das Knopfloch genäht“ (I/ 1, 264). Sämtlichen angefügten Beispielen ist gemein, dass sie den Leser zwingen kurz innezuhalten und das eben Gelesene zu entziffern, ihm habhaft zu werden. Durch die Verschränkung mehrerer Lesarten werden Bedeutungen von Worten, Wendungen oder Satzteilen bewusst in einen oszillierenden Zustand versetzt, und so der Leser explizit aufgefordert, die vorhandenen Sinnpotentiale auszudeuten. Indem dieser der aktuell relevanten ebenso wie den anderen möglichen Bedeutungen gewahr wird, erweitert sich seine Wahrnehmung der angeführten Gegenständlichkeiten, Personen wie auch Abstrakta. Dem Text gelingt das Aufrufen anderer denn der gewohnten Bedeutungsfacetten mit Hilfe der Techniken der Personifikation, der Verdinglichung sowie - wie die Verfasserin ihn nennt - des Sprachanimismus. In letzterem Verfahren wird (abstrakten wie konkreten) Begriffen eine Lebendigkeit zugesprochen, die sie normalerweise nicht aufweisen, was beispielsweise in Ausdrücken wie „die Griffe des Unglücks“ (I/ 1, <?page no="187"?> 187 291, Hervorhebung SB), „mit dem Blinden auf dem Arm dem furchtsamen Wagen zu[laufen]“ (I/ 1, 89, Hervorhebung SB), „alles, was vor ihm vorüberrennt, wie fremde Charaktere und eigne Meinungen“ (I/ 1, 275, Hervorhebung SB) oder „die lange Trennung warten [sehen]“ (I/ 1, 278, Hervorhebung SB) ersichtlich wird. Als Beispiel einer Personifizierung suggeriert die Formulierung „seine starrende Haut“ (I/ 1, 177) einerseits, die Haut sei aufgrund von Kälte erstarrt, und andererseits, sie mustere ihre Umgebung mit starrem Blick. Im Ausdruck „[g]ewaltsame Entführung des schönen Gesichts“ (I/ 1, 64) schwingt im pars pro toto, i.e. dem Gesicht, das für Gustav steht, zugleich der Grund für dessen Entführung mit: Gustav, der ‚Träger’ des Gesichts, wird entführt, weil er Guido so ähnlich sieht. (Würde statt des Gesichtes die Person genannt, ginge diese Bedeutungsdimension verloren und müsste in einem der kommenden Sätze expliziert werden). Um schliesslich zu bedeuten, Hoppedizel trete Gustavs Gefühle mit Füssen, setzt der Text Gustav mit der Wendung „wie Gustav“ nicht nur mit einem Musikinstrument gleich (Verdinglichung), sondern impliziert auch, dass Gustav seinerseits des „Flügelspiels“ mächtig ist: „Der Gute Gustav verschmerzte den Winter in des Professor Hoppedizels Hause […] - er […] setzte seine Wunden dem philosophischen Nordwind des Professors aus, der auf einem zarten Instrument, wie Gustav, wie auf einem Pedal mit den Füßen orgelt“ (I/ 1, 375). (Gustav verwendet seine Tritte aufs Pedal - im Gegensatz zu Hoppedizel - jedoch aussliesslich zu dem Zweck, andere mit seiner Musik zu erfreuen: „Gustav hör’ ich herüber: der hat zum Auslader einen Flügel und spielt ihn. Der Flügel wird mir diesen Sektor sehr erleichtern und mir manchen funkelnden Gedanken zuwerfen“ (I/ 1, 386)). An obigen Ausführungen wird deutlich, dass in der Unsichtbaren Loge vom Text generierte Bedeutung bewusst in der Schwebe gehalten wird. Es geht nicht darum, ein Lesen „auf Referenz hin“ zu evozieren, sondern vielmehr darum, „das differentielle Spiel der Zeichen immer wieder neu [zu erproben]“, darum, Sinnzuschreibungen unendlich oft zu wenden. 401 Besonders eindrücklich vollzieht der Text diese Technik der nicht eindeutigen Zuschreibung von Bedeutung am Porträt - ausgerechnet an derjenigen künstlerischen Darstellung also, die ein Wiedererkennen (Referentialisieren! ) aufgrund von Ähnlichkeit ermöglichen sollte. 402 401 Beide: Brune: Barthes, S. 141. 402 Zentral an der Gattung Porträt ist, dass sie sich auf die Wiedergabe des Gesichts konzentriert. Am Phänomen Porträt „zeigt sich die Wichtigkeit des Gesichts als »pars pro toto« der menschlichen Erscheinung. Die herausragende Bedeutung, die ihm in Kunst und Leben zukommt, ist hier gespiegelt“ (Preimesberger et al.: Porträt. Mit Beiträgen von Karin Hellwig, Ulrike Müller Hofstede, Barbara Wittmann und Gerhard Wolf, S. 15, Hervorhebung im Original). (Im Folgenden zitiert als Porträt.) Anhand ihres Gesichts werden menschliche Individuen identifiziert. Die Intention eines Porträtisten besteht nun darin, „zwischen dem Porträt und seinem menschlichen »Original«“ eine „zweifelsfrei[e] […] Beziehung“ herzustellen (Preimesberger et al.: Porträt, S. 17, Her- <?page no="188"?> 188 Das Porträt von Gustav, das Luise, die Kommerzien-Agentin von Röper, während seiner dreitägigen Entführung hat anfertigen lassen, liegt von Beginn an doppelt vor: Dasjenige, das Gustav zeigt, behält die ‚Entführerin’; dasjenige, auf dem ihr verlorener Sohn Guido, dem Gustav aufs Haar gleicht, dargestellt ist, gibt sie Gustav mit (I/ 1, 68). Damit ist das Verwirrspiel, in wessen Besitz sich welches Porträt wann befindet, initiiert. Nicht nur dass der Text die Erklärung, wie eines der Porträts in den Besitz einer bestimmten Person gelangt, oft schuldig bleibt, 403 auch erkennen sich die porträtierten Subjekte auf dem Porträt nicht wieder: So legt Amandus das „Porträt des unbekannten Gustavischen Freundes […] ins Gras“ (I/ 1, 201), das ihm Gustav zuvor gezeigt hat (I/ 1, 196). Beata, die es da findet, nimmt es in der Meinung, es bilde in der Tat ihren vermissten Bruder Guido ab, mit (I/ 1, 202), nur um von ihrer Mutter zu erfahren, es sei gar nicht dasjenige ihres Bruders, sondern Gustavs - worauf es die Kommerzien-Agentin wieder Gustav zukommen lässt (I/ 1, 241). Dies aber bedeutet, dass Gustav sich selbst für Guido gehalten hat, als er Amandus das Porträt gezeigt hat. Des Weiteren scheint sich der auf dem Bild Dargestellte zu verändern, nämlich mitzualtern: Wie der Leser weiss, gleicht Guidos Porträt demjenigen von Gustav, das Gustav als achtjährigen Jungen zeigt. Die Residentin aber fordert Beata auf, Guidos Porträt sowie dasjenige, das Gustav im jungen Erwachsenenalter von sich erstellt (I/ 1, 248), mit dem Original - also mit Gustav als jungem Erwachsenen - zu vergleichen und ihr zu sagen, welches dem Gustav, den sie vor sich sieht, ähnlicher sehe (I/ 1, 251). Diese Frage wäre unsinnig, ginge es darum, das Bild des Jungen sowie dasjenige des jungen Mannes einander gegenüberzustellen und mit dem (lebendigen) jungen Mann zu vergleichen, was aber bedeutet, dass auf dem Porträt, das von Gustav erstellt wurde, als er acht Jahre alt war, nun nicht mehr ein Junge, sondern ein junger Mann zu sehen sein muss. Auch verändert sich das Aussehen der Person, die auf dem Porträt zu sehen ist, indem das Porträtblid Empfindungen desjenigen, der es anblickt, aufnimmt und sovorhebung im Original). Diese Grundbedingung hebt die Gattung Porträt von anderen Gattungen der bildenden Kunst ab, in denen die Aufgaben künstlerischen Tuns anders interpretiert, in denen die Arten des Darstellens anders praktiziert werden. - Welch unterschiedliche Rollen dem Porträt im Verlauf der Zeit in den westlichen Kulturkreisen zugedacht worden sind, zeigt Andreas Beyer in Portraits: a history. Anhand seiner Ausfürhungen wird deutlich, dass die Künstler die Möglichkeiten und Grenzen des Porträts immer wieder neu ausgelotet haben: So hat - vor allem auch im 20. Jahrhundert - nicht mehr das wirklichkeitsgetreue Abbilden eines Subjekts im Vordergrund gestanden; vielmehr hat man sich mit manipulativen, innovativen Darstellungspraktiken hervorgetan (Beyer: Portraits: a history, S. 349-388). 403 „Das mitkommende [SB: Porträt] war nämlich das echte brüderliche und verlorne, um das Beata an meine Philippine geschrieben hatte. […] Die Nachricht, wie es in der Residentin Hände gekommen, vergaß die Residentin zu geben, weil sie hundert Antworten dazu wußte“ (I/ 1, 251f.). <?page no="189"?> 189 dann ein abgebildetes lachendes in ein weinendes Gesicht zu verwandeln vermag: „Auf einmal zog der einsam Gequälte [SB: Gustav] das Porträt des verlornen und ihm ähnlichen Guido, das in seinen schönen Kindheittagen über seine Brust gehangen worden […], hervor […] - - Er sah plötzlich im Glase dieses Porträts sein eignes mit seinen Trauerzügen nachgespiegelt: ‚O blicke her; ’ (sagte er in einem andern Tone) ‚ich soll diesem gemalten Fremden so ähnlich sehen, sein Gesicht lächelt in einem fort, schau aber in meines! ’ - und er richtete es auf, und weit offne, aber in Tränen schwimmende Augen und zuckende Lippen waren darauf“ (I/ 1, 196). Die Formulierungen „es aufrichten“ sowie „darauf (zu sehen) sein“ lassen vermuten, dass es sich beim bezeichneten Etwas um eine Gegenständlichkeit (in diesem Fall um das Porträt) mehr denn um Gustavs Gesicht handelt, auf welches das „Es“ - grammatikalisch betrachtet - auch zurückverweisen könnte. Aufgrund des Satzaufbaus werden dem Leser die eine wie die andere Lesart nahe gelegt, was obiges Theorem, im Logen-Text würden Sinnzuschreibungen zwischen mehreren Möglichkeiten hin und her pendeln, bestätigt. 4.8. Der Text als Hieroglyphe „Magischer Prospektmaler der künftigen Welt“ (I/ 1, 415) Mit seinem befremdlichen Sprachgebrauch, in dem Worte ihre Bedeutung erst im Moment ihres Genanntwerdens generieren, da sie an derjenigen Textstelle, an der sie zu stehen kommen, nicht verankert sind und so je nach Kontext, in dem sie auftreten, je anders bedeuten, dehnt Jean Paul den Bereich dessen, was ein Wort bedeuten kann, derart aus, dass die bislang angenommenen Grenzen der genannten Dinge durchbrochen werden. Indem er Begriffe in seinem Text polyvalent auflädt und somit ihrer eindeutigen Referentialisierbarkeit entzieht, beabsichtigt er, die Worte von der ihnen konventionell zugeschriebenen Bedeutung zu befreien. „[D]as frühere Wort, welches sich erst allmählich zum eigentlichen Ausdruck entfärben mußte“ (I/ 5, 184), soll seine Farbe zurück erhalten, soll erneut seine ursprüngliche Wirkkraft entfalten. Jean Pauls Sprachgebrauch ist mit anderen Worten Ausdruck seines Bestrebens, mit seiner Poesie Bedeutung rein und unvermittelt stiften zu können. 404 404 Worte sagen erst dann etwas aus, wenn sie - wie Simon dies in Bezug auf Jean Pauls Lehrer Herder formuliert - einen „Bezug [zum] Grund“ haben (Ralf Simon: Das Gedächtnis der Interpretation, S. 64. (Im Folgenden zitiert als GdI.): „Nicht der logische <?page no="190"?> 190 Pfotenhauer zufolge scheitert Jean Paul in seinem Vorhaben, da „durch den Zwang zur Originalität und Unverbrauchtheit, den die Konventionsabwehr mit sich bringt“, 405 seine „übersinnlich-sinnlichen Bilder[, die] Utopien […] einer höheren oder ursprünglichen Sprache [sein sollten, sich alle] als Inszenierung [erweisen]. Die semiotischen Verstrickungen [seien] unauflösbar. Auch das scheinbar Erbaulichste [kippe] um und [zeige] sich auf seiner Kehrseite als höchst aktuelles, avanciertes Textgeschehen.“ (Pfotenhauer: Bilderfluch, S. 14) Dennoch erweist sich, wie Dembeck ausführt, der „Aufschub jeder Festlegung, die die Grenzen des Figurativen fixieren könnte, und die immer nur vorläufige und scheinhafte Legitimität der witzigen Verknüpfung [als] springende[r] Punkt dieser Art von Dichtung: Stabilität muß gerade vermieden werden, soll das metaphysische Ziel, dem sich Jean Pauls Dichtung verschreibt, nicht unerreichbar werden.“ (Dembeck: Text ohne Noten, S. 166) Auch Michelsen weist darauf hin, dass - für Jean Paul - das „Sprechen, das wahr sein will, […] gegen die Leistungen der Sprache kämpfen [muß]“. 406 Jean Pauls Überzeugung gemäss könne sich die Sprache nur „durch Aufhebung ihres weltzugewandten Charakters […] der ‚Wahrheit’ nähern, die daher nicht mehr in der Übereinstimmung von Wort und Gegenstand besteh[e], sondern im Übersteigen des Gegenstandes durch das Wort.“ Michelsen zufolge entspricht es Jean Pauls Absicht, „mit gigantischer Anstrengung die Dinge wieder in jenes Gebiet der Anonymität [zu] werfen, in dem sie vor der Namengebung schlummerten“. 407 Mit Dembeck und Michelsen ist die Verfasserin der Auffassung, dass Jean Paul mit seiner spielerischen Sprachverwendung ursprünglichen, reinen Sinn zu vermitteln sucht - auch wenn Pfotenhauers Votum, der Versuch, unvermittelte Bedeutung im Medium der Sprache (also vermittelt) mitteilen zu wollen, müsse letztlich scheitern, vorerst unantastbar zu sein scheint. In dem nun folgenden Kapitel wird sie erläutern, inwiefern Jean Paul seinen Lesern mit seiner Poesie ursprüngliche Bedeutung zu übermitteln vermag, indem er sein poetisches Schreiben der „Bilderschrift“ (I/ 5, 184) gleichmacht und seine Worte „gleich den ursprünglichen, nach Herder“ (I/ 5, 177), gestaltet. 408 Es wird erhellen, inwiefern uns Jean Pauls Wert, sondern der expressive, der auf die Energie des Ursprungs zurückdeutet, weist dem Wort - oder besser: demjenigen im Wort, das als Wurzel das Gedenken an den Ursprung lebendig hält - seine individuelle Gestalt zu“. Simon zufolge nutzt „Herder Etymologie als memoria-Strategie“ (Simon: GdI, S. 65). 405 Pfotenhauer: Bilderfluch, S. 15. 406 Michelsen: Laurence Sterne, S. 323. 407 Beide: Michelsen: Laurence Sterne, S. 323. 408 Simon erläutert, inwiefern Jean Pauls „Sprachdenken vom Bilde her“ auf Herder zurückgeht (Simon: Bildkritik, S. 158), inwiefern Jean Paul seine „Sprache der Poesie <?page no="191"?> 191 „Poesie lehrt [zu] lesen“ (I/ 5, 250) und so das Weltliche auf das Jenseitige hin zu überschreiten. Anhand der Ausführungen in den obigen Kapiteln und Teilkapiteln wurde ersichtlich, dass der Logen-Text in mehrerer Hinsicht ikonische Dimensionen aufweist: Sämtliche Textelemente auf jeder Ebene, sei dies auf der poetologischen, inhaltlichen, motivischen, syntaktischen oder lexikalischen, erweisen sich als Paragramme. Diese beweglichen, mehrdeutigen, nicht-linear organisierten Einheiten schliessen sich zu Bedeutungsverbunden, so genannten „paragrammatischen Raster[n]“ zusammen und bilden „räumliche[] Graphism[en]“ oder, „anders ausgedrückt“, „literarische[] Bilde[r]“. 409 Des Weiteren ist an den vernetzten Kreisschlüssen deutlich geworden, dass die Textamplificatio in der Unsichtbaren Loge ikonisch gesteuert ist: Ihre dynamischen Textelemente (die paragrammatischen Einheiten, die literarischen Bilder) gehen untereinander konnotative, Ebenen übergreifende Verknüpfungen ein, deren „hyperlinear[e]“ 410 Bindung stärker ist als ihr linearer, syntagmatischer Zusammenhalt. Ausserdem haben sich die Sinnevokationsstrategien im Logen-Text als denjenigen des modernen Kunst-Bildes analoge erwiesen: Die grösseren und kleineren paragrammatisch organisierten Texteinheiten strecken ihre Fühler in alle Richtungen aus und entfalten damit in mehreren Ideennetzen zugleich Sinn. Wie sich im Folgenden zeigen wird, liegt der Grund dafür, dass Jean Paul seinen Romanerstling bildgleich gestaltet, der Grund für die ikonische Beschaffenheit seines poetischen Bedeutens, darin, dass der Text wie das Bild „reine[] Signifikanz“ 411 vermitteln können soll. Im Leseakt soll wie im Akt der Bildbetrachtung Bedeutung stumm und wortlos vom betrachteten Objekt zum Subjekt der Betrachtung gelangen. Innerhalb des Romantextes übersetzt Jean Paul diese Forderung nach einem sich lautlos sowie unmittelbar ereignenden Kommunizieren erstens ins Kommunikationsverhalten der hohen Menschen. Sie sprechen einander über ihren inneren Sinn an (s. Teilkapitel Reine Signifikanz - mentale Kommunikation). Dieser innere Sinn, dank dem sie sich von ihrer körperlichen Existenz imaginativ zu trennen vermögen, eröffnet ihnen - wie die Verfasserin in einem zweiten Schritt erläutern wird - metaphysische Weitsicht: Über ihre innerliche Rezeption der äusseren Welt vermögen sie diese mental zu transzendieren und so das Jenseits zu erahnen. An der Phantasietätigkeit der hohen Menschen wird dabei deutlich, welchen Anspruch Jean Paul an die literarische Phantasie stellt: Sie soll mit ihrer Ausdrucksweise das Übernatürliche im Leser evo- […] aus [einer] ursprünglichen Ebene der Bildlichkeit“ herleitet (Simon: Bildkritik, S. 159). Für Jean Paul, so folgert Simon, „war das Sprechen in Metaphern noch kein rhetorisches Sprechen in Tropen, sondern ein eigentliches Sprechen“ (Simon: Bildkritik, S. 158f.). 409 Alle: Kristeva: Paragramm, S. 174. 410 Bergengruen: FG, S. 257. 411 Beide: Brune: Barthes, S. 141. <?page no="192"?> 192 zieren. Vorbild für eine derartige Wirkungsweise der Phantasie bildet der aufgeklärte Umgang mit den illusionistischen Effekten, welche in Vorführungen der Magia naturalis erzeugt werden (s. Teilkapitel Literarische Phantasie nach dem Modell der natürlichen Magie). Drittens wird aufgezeigt werden, dass Jean Paul das rein gedankliche, aber textuell zu vermittelnde Kommunizieren der hohen Menschen in die Schrift verlagert, dass er die Schrift zum Innerlichkeitsraum des Textes bestimmt. Das mentale Sprechen (das Schreiben) der hohen Menschen wird dabei in ikonischen Termini wiedergegeben. Indem sich unmittelbare Kommunikation in der Unsichtbaren Loge folglich in Schrift veräussert, in ikonischen Termini umschrieben wird sowie metaphysische Weitsicht ermöglicht, kann abschliessend aufgezeigt werden, dass der Logen-Text als Schrift-Bild-Zeichen, als Hieroglyphe, vorstellig wird (s. Teilkapitel Das magische Schrift-Bild-Zeichen). 4.8.1 Reine Signifikanz - mentale Kommunikation Worauf Jean Paul mit seinem unkonventionellen Sprachgebrauch, in dem Worte, Phrasen oder Sätze semantisch polyvalent aufgeladen werden, abzielt, ist, die „Utopie“ Realität werden zu lassen, im Medium der Sprache „reine[] Signifikanz“ vermitteln zu können. 412 Mittels der oben beschriebenen Techniken, mit welchen er eine „spielerische[], ins Unendliche laufende[] Verflüssigung der Bedeutungsdimensionen“ 413 seiner Sprachelemente praktiziert, ermuntert Jean Paul den Leser, diese (auch) losgelöst von den ihnen gemeinhin zugewiesenen Bedeutungen zu begreifen, sodass sie ihm unmittelbar - just im Moment der Rezeption - einsichtig werden. Die einen Text ausmachenden Worte, Phrasen und Sätze sollen, so das Desiderat, auf den Leser ebenso direkt und frei von vorgängig gefassten Sinndefinitionen wirken, wie es Bildkonstituenten, die ein (Erscheinungs-)Bild ausmachen, zu tun vermögen. 414 Der Text soll folglich auf den Leser wirken, wie das Bild auf seinen Betrachter wirkt. 412 Beide: Brune: Barthes, S. 141. - Auch Schmitz-Emans weist auf Jean Pauls „Streben nach unverstelltem zeichenhaften Ausdruck[,] dem Wunsch nach einer ‚durchsichtigen’ Hülle“ hin (Monika Schmitz-Emans: Schnupftuchsknoten oder Sternbild: Jean Pauls Ansätze zu einer Theorie der Sprache, S. 75). (Im Folgenden zitiert als Schnupftuchsknoten.) 413 Brune: Barthes, S. 141. - „In der empfindsamen Metaphorik [SB: Jean Pauls] wird die Negierung der Gegenstände durch deren Verflüssigung betrieben“ (Michelsen: Laurence Sterne, S. 329). 414 Spezifisch für das Bild ist Boehm zufolge, dass in ihm „Sinnesobjekte […] als Glieder in einer überblickbaren und simultanen Präsenz auf[treten]“ (Boehm: Sinnesorgane, S. 122f.). Da mit „Dichte und Fülle der Bilder extrem kurze und schnelle Kommunikationswege verbunden [sind, wird ihr] […] Sinn […] im Nu präsent“, wodurch „das Bild etwas ‚Promptes’ [gewinnt]“ (beide: Boehm: Ohne Worte, S. 268). Was in Bildern sichtbar wird, ist ausserdem keineswegs „immer schon benannt und begriffen“ (Boehm: Sehen, S. 54); auch geht „das Dargestellte [nicht darin auf,] der Inhalt von <?page no="193"?> 193 Bilder nun geben „nicht-verbal verfasste[] Inhalte[]“ 415 zu sehen; sie treten vorerst stumm mit ihren Betrachtern in Kontakt. Boehm formuliert dies in Anlehnung an Merleau-Ponty (Das Sichtbare und das Unsichtbare) folgendermassen: In „Achtsamkeit gegenüber dem, was die Welt in ihrem Schweigen sagen will“, setzen wir uns schweigend mit ihr auseinander. 416 Freilich hat sich nach dieser stummen ‚Kontaktaufnahme’ jeder Bildbetrachter „verbal [mit den Bildinhalten] auseinander[zu]setzen“, 417 so er seiner Sichtweise des Bildes Gehör verschaffen, so er sie mit anderen Betrachtern teilen will. Sobald sich aber Bildbetrachter über die Inhalte, die sie sehen, im Medium der Sprache austauschen, geht die Unmittelbarkeit des vermittelten Sinns ganz, die Reinheit desselben teilweise verloren: Das „Schweigen“ der Kunst-Bilder, „das zu uns in eigentümlicher Intensität zu sprechen vermag, uns seinen besonderen Sinn unmittelbar mitteilt, […] ist die [Sprache] der Sichtbarkeit, […] deren Übersetzung in die begrifflich bestimmte Sprache aber immer ein schwieriger, nur unter Verlusten möglicher Prozess ist.“ (Liesbrock: Die Unersetzbarkeit des Bildes, S. 8) Soll Signifikanz also rein sowie unmittelbar ausgedrückt werden, hat dies in ‚vorsprachlicher’ Art und Weise, im Akt der stummen Betrachtung zu geschehen. Dieses Desiderat einer sowohl lautlosen als auch rein geistigen Kommunikation setzt Jean Paul in der Unsichtbaren Loge in Form einer idealpoetischen Sprachlichkeit um. Von ihr heisst es, sie sei dann am wirkungsvollsten, wenn sie sich „sinnlich“ artikuliere (I/ 1, 127): 418 „[H]erauswollende[] Gedanken“ veräussern sich in ihr „nicht zu [lautlich vernehmbaren] Worten“, sondern zu „Errötungen“ (beide: I/ 1, 384), zu „Blicken“ (I/ 1, 31) oder zu sprechenden Tränen (I/ 1, 395), mittels derer die Protagonisten „[schweigend,] […] mit weiten glänzenden Augen“ (I/ 1, 266) kommunizieren. In einer solch sprachlich-sinnlichen Sprechweise bleiben die Gedanken offensichtlich stumm: Sie werden dem Gegenüber wortlos mitgeteilt, da artikulierte Worte leibliche Schranken nicht zu durchdringen vermögen, sondern von ihnen zurückprallen, sodass der Raum zwischen den Körpern „mit tausend Worten [lediglich] überladen [wird]“ (I/ 1, 31). Begriffen [zu sein]“ (Boehm; Sinnesorgane, S. 119). Die Bedeutung, die sich mit der Aktualität jeder Bilderscheinung einstellt, generiert es vielmehr genuin (Boehm: Sinnesorgane, S. 120). 415 Gottfried Boehm: Bild versus Wort, S. 261. (Im Folgenden zitiert von Bild vs. Wort.) 416 Gottfried Boehm: Der stumme Logos, S. 295. (Im Folgenden zitiert als Stummer Logos.) 417 Boehm: Bild vs. Wort, S. 261. 418 „Reden Sie […] nie kurz, nie allgemein, sondern sinnlich“ (I/ 1, 127). - Zum sinnlichen Charakter der impliziten Sprachtheorie Jean Pauls s. Monika Schmitz-Emans: Schnupftuchsknoten oder Sternbild, S. 174ff., 275, zum Aspekt der ‚stummen Rede’ s. ebd., S. 61ff., 309ff. - Zur Sprachphilosophie des sinnlichen Worts bei Jean Pauls Lehrer Herder s. Simon: GdI, S. 56ff. <?page no="194"?> 194 Das zu übermittelnde Gedankengut wird dem ‚angesprochenen’ Subjekt, dem im „dunkle[n] Menschenkörper“ „eingemauerten Menschengeist“ (I/ 1, 31), dann einsichtig, wenn es die ideellen Konstrukte mit seinem inneren Auge zu erfassen versteht (I/ 1, 414). Im Logen-Text sind es die hohen Menschen, die dieser wortlos sowie mental vermittelten Sprache, die „eine unmittelbare Auslegung der Dinge möglich macht“, 419 mächtig sind. Sie vermögen ihre äusseren Sinne zu verschliessen, um über ihren inneren Sinn 420 auf einer rein geistigen Ebene zu kommunizieren: Den hohen Menschen ersetzt stummes, einverständiges Fühlen die Rede. Auch sind sie dazu befähigt, erhabene Augenblicke, so genannte Ewigkeitsminuten, zu durchleben, während denen sie in einen Zustand der Seligkeit versinken und dabei das Bewusstsein ihrer irdischen Existenz in dem Masse verlieren, in dem sie ihrer geistigen gewahr werden. Mit ihrem Bestreben, sich zu vergeistigen, dem Versuch also, sich imaginativ ihres Körpers zu entledigen, geht nicht nur ihr unkörperlicher, rein geistiger Sprachgebrauch einher, 421 sondern auch ihre Fähigkeit zu einer veränderten Wahrnehmung der Aussenwelt. Der innere Sinn (die Phantasie) der hohen Menschen, der die Funktion der eingemummten äusseren Sinne übernimmt, bewirkt, dass sie die körperlichen Gegenstände in der Aussenwelt verändert wahrnehmen. Über die innerliche Rezeption der 419 Götz Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, S. 113. (Im Folgenden zitiert als Jean Pauls Ästhetik.) 420 Der Begriff des „innere[n] Sinn[s]“ stammt aus dem Mesmerismus (Franz Anton Mesmer: Mesmerismus oder System der Wechselwirkungen, Theorie und Anwendung des thierischen Magnetismus als die allgemeine Heilkunde zur Erhaltung des Menschen, S. 138. (Im Folgenden zitiert als Mesmerismus.)), mit dem sich Jean Paul beispielsweise in seinen Mutmassungen über einige Wunder des organischen Magnetismus auseinandersetzt. Mesmer zufolge ist dieser „innere Sinn“ Aufweis dafür, „daß der Mensch […] mit der ganzen Natur in Berührung oder in Wechselwirkung steht“ (Mesmer: Mesmerismus, S. 142). Vor allem aber befähigt er die Menschen dazu, ohne ihre äusseren Sinne wahrzunehmen. Er stellt eine „an Feinheit und Beweglichkeit“ nicht zu übertreffende „Ordnung der Materie“ dar, deren „Wirkungssphäre“ unbegrenzt ist (Mesmer: Mesmerismus, S. 138f.). Gehirn und Nervensystem vermögen Bewegungen dieses „feinen Stoffs“ (Mesmer: Mesmerismus, S. 139) sowohl wahrzunehmen als auch aufzunehmen, sodass „Gedanke[n], welche[] in einer Modifikazion der feinen Flut des Gehirns und der Nerven besteh[en], […] unmittelbar einem andern Organ, das demjenigen, welches [sie] erzeugte oder von der [sie] ausgegangen war[en], ähnlich ist, mitgetheilt werde[n]“ (Mesmer: Mesmerismus, S. 139f., Hervorhebung SB). Jean Paul, der nach seiner Rezeption von Mesmers, Gmelins, Schuberts, Wolfarts, Kluges und Heineckens Schriften (sie alle sind erwähnt in seinen Mutmassungen oder in seinen Exzerpten) einen „höhern Sinnenkörper als den gemeinen“ annimmt, übersetzt seine These, dass wir weniger über unser „körperliches Außenwerk“ denn über unser „bloßes Denken und Wollen“ (alle: II/ 2, 900) aufeinander wirken, ins reingeistige Kommunikationsverhalten der hohen Menschen. (Zur Wirkung des Magnetismus auf Jean Paul s. Müller: Jean Pauls Ästhetik, S. 38-58.) 421 Hohe Menschen verstehen einander umso besser, je verbal einsilbiger und gedanklich vielsilbiger sie miteinander interagieren (I/ 1, 409). <?page no="195"?> 195 äusseren Welt vermögen sie diese auf ein Jenseitiges hin zu transzendieren, vermögen sie zu „ahnen; […] über die Geisterinsel [SB: die Welt] hinüber, in ein fremdes Meer hinaus“ (I/ 5, 183). Mit anderen Worten, ihre „Phantasie verändert […] den Gegenstand“, den sie wahrnehmen, und „die […] Veränderung [bewirkt] den Schein des Übernatürlichen im Innern des Menschen […]. […] Damit hat die Phantasie […] die Funktion, den Menschen vom Endlichen […] zum Unendlichen zu führen“. 422 Anhand der Phantasieleistung der hohen Menschen ist folglich illustriert, was Jean Paul von der literarischen Phantasie fordert, nämlich, dass sie auf das Übernatürliche verweist, d.h., dass sie mit ihrer Ausdrucksweise das Übernatürliche im Leser zu evozieren vermag. Die literarische Phantasie, die er in der Vorschule der Ästhetik als „die Welt-Seele der Seele“ (I/ 5, 47), als Sinn also, der vom Diesseits (der Welt) aus das Jenseits (das Reich der Seele) zu erahnen in der Lage ist, bezeichnet, stellt das Verbindungsglied zur zweiten Welt dar. Sie bringt „das Geahnte, Erahnte als Gedichtetes zum Leser“, 423 sodass die „‚Poesie [als] die einzige zweite Welt in der hiesigen’“ (I/ 5, 30, Hervorhebung im Original) vorstellig wird. 4.8.2 Literarische Phantasie nach dem Modell der natürlichen Magie Das Modell für Jean Pauls Phantasie-Auffassung liefert die zeitgenössische Rezeption der Magia naturalis, 424 die in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts als Gegenstand der Wissenschaften relevant wird. Die Naturwissenschaftler sind bemüht, den wieder aufkommenden Aberglauben zu 422 Bergengruen: Schöne Seelen, S. 146. 423 Kurt Wölfel: „Ein Echo, das sich selber in das Unendliche nachhallt“. Eine Betrachtung von Jean Pauls Poetik und Poesie, S. 293, Hervorhebungen im Original. (Im Folgenden zitiert als Echo.) 424 Bergengruen (s. Schöne Seelen, S. 175-182) sowie Müller (s. Jean Pauls Ästhetik, S. 68-86) erläutern den Einfluss der Magia naturalis auf Jean Pauls Phantasiekonzept, dem Jean Paul ausser in der Vorschule der Ästhetik auch im Aufsatz Über die natürliche Magie der Einbildungskraft Ausdruck verleiht. In „Heissbrennende Hohlspiegel“ legt Bergengruen den wissenschaftlichen Diskurs über die Magia naturalis im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts dar und zeichnet die Bedingungen nach, unter denen die ‚entzauberte’ Magia naturalis für die Kunst interessant wird und insbesondere im literarischen Schaffen Jean Pauls zum „metaphorischen Modell“ (Maximilian Bergengruen: „Heissbrennende Hohlspiegel“. Wie Jean Paul durch die optische Magie seine Poetik sichtbar werden lässt, S. 26) (Im Folgenden zitiert als Hohlspiegel.) avanciert. Der Ursprung des Gedankens des inneren Körpers, des inneren Menschen und des inneren Sinns ist in der frühneuzeitlichen natürlichen Magie des Paracelsus zu finden. In Nachfolge Christi - Nachahmung der Natur geht Bergengruen dem Stellenwert nach, den die Himmlische und Natürliche Magie des Paracelsus sowie der Paracelsisten in Wissenschaft und Literatur der Frühen Neuzeit innehatten (Maximilian Bergengruen: Nachfolge Christi - Nachahmung der Natur. Himmliche und Natürliche Magie bei Paracelsus, im Paracelsismus und in der Barockliteratur (Scheffler, Zesen, Grimmelshausen)). <?page no="196"?> 196 bekämpfen, indem sie die optischen Täuschungen, wie sie beispielsweise Vorführungen mit der Laterna magica oder Projektionen mit Hohlspiegeln erzeugen, „nicht [als] ein Werk des Teufels [beschreiben] […], sondern [als] Darstellungen, deren Zustandekommen auf Technik beruht“. 425 Sie klären die Zuschauer auf, sodass diese den illusionistischen Projektionen nicht mehr verfallen, sondern sie zu durchschauen lernen und aufgrund dessen, dass sie um deren illusionistischen Charakter wissen, zu geniessen vermögen. Just von dem Moment an, da die Rezipienten aufgeklärt sind, und folglich „die natürliche Magie für die [aufklärende] Wissenschaft […] nicht mehr interessant“ ist, 426 wird sie für die Kunst fruchtbar: Indem die Zuschauer die illusionistischen Projektionen, welche ihre Sinne immer noch zu täuschen vermögen, als Illusionen erkennen können, indem also das Getäuschtwerden und die Aufklärung der Täuschung zugleich wirksam werden, wird die Magia naturalis (beispielsweise in der Literatur) „zum metaphorischen Modell“, da „sie eine Darstellung auf zwei Ebenen ermöglicht: einer sinnlichen und einer philosophischen“. 427 Anhand der Verbindung von sinnlicher Illusion (einer geschilderten Geschichte) und rationalem Illusionsbruch (einer übersteigerten Art des Erzählens) lässt sich Bergengruen zufolge nämlich aufzeigen, welchen Anspruch Jean Paul an die Literatur stellt: Die Literatur soll „auf das Übernatürliche [verweisen, aber] ohne den Aberglauben an dessen Existenz oder eine realistische Darstellung der Welt“. 428 D.h., die Leser sollen sich durch die literarische Phantasie der Illusion hingeben können, dass eine zweite Welt existiert; sie sollen jedoch gleichzeitig wissen, dass es sich ‚lediglich’ um eine (literarische) Darstellung derselben handelt. In Analogie zu den augenscheinlichen ‚Wundern’, welche Projektionen mit der Laterna magica oder mit Hohlspiegeln in den Betrachtern evozieren, deren „platte Aufklärung“ Jean Paul ebenso sehr ablehnt wie deren „platten Betrug“, 429 soll „der Dichter das Wunder“, welches die literarische Phantasie im Leser zu evozieren vermag, „weder zerstöre[n] […], noch in der Körperwelt unnatürlich festhalte[n] […], sondern […] es in die Seele lege[n], wo allein es neben Gott wohnen kann“ (I/ 5, 44f.). 430 Die Phantasie soll folglich ein magischer Spiegel sein, 425 Bergengruen: Hohlspiegel, S. 24. 426 Bergengruen: Hohlspiegel, S. 25. 427 Bergengruen: Hohlspiegel, S. 26. 428 Bergengruen: Hohlspiegel, S. 34. 429 Beide: Bergengruen: Hohlspiegel, S. 27. 430 Das Wunder wird an dieser Stelle nicht von ungefähr mit dem Glauben an Gott parallelisiert, ist es doch Jean Paul zufolge auch der Glaube, der zwar ein kontrafaktisch erzeugtes, doch unentbehrliches menschliches (Seelen-)Gut darstellt. Wie in der Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei deutlich wird, muss der Mensch - wider besseres Wissen - an „das Dasein Gottes“ glauben, so er nicht „unglücklich“, so seine Seele nicht „ausgestorben“ sein soll (alle: I/ 2, 270). Der verstorbene Christus, der im Jenseits erfahren hat, dass „kein Gott [ist]“ (I/ 2, 273), formu- <?page no="197"?> 197 der das Reflektierte („die mentalen und sprachlichen Reproduktionen der Wirklichkeit“ 431 ) nicht nach aussen, sondern nach innen (ins Innere des Subjekts) spiegelt und damit dem Subjekt ein Reflektieren des ‚Gesehenen’ erlaubt: Das Subjekt soll, was die Phantasie in ihm reproduziert, weder für die Realität, noch für ein reines Hirngespinst halten, sondern erkennen, dass diese mentalen Reproduktionen, wenn sie auch nicht das Überirdische sind, sie doch für all jene, die sie zu lesen vermögen, auf das Überirdische verweisen. 432 Ganz nach dem Vorbild der „Projektionen mit Hohlspiegel und Laterna magica, die die Phantasie des Betrachtes in ihren Bann ziehen und seinen Verstand zur gleichen Zeit zu einer Aufklärung herausfordern“, 433 darf sich das lesende Subjekt - im Wissen, dass sie jederzeit aufgeklärt werden könnten - den Illusionen, welche der Dichter in der Literatur beschreibt, hingeben und so das Übersinnliche in seinem Innern ‚wahr’ werden lassen: Es soll die sinnlich erfahrenen „Täuschungen […] nach innen [tragen] - um sie dort zu höheren Wahrheiten werden zu lassen“. 434 Derart macht Jean Paul die Dichtung zum Ort, an dem die Wahrheit der Phantasie nicht zerstört wird, sondern mit derjenigen des Verstandes koexistiert. 435 In seiner poetischen Sprache wird Jean Paul das „göttliche Wunderbare“ zwar nicht darstellen können, doch vermag er es durch seinen oben beschriebenen unkonventionellen Sprachgebrauch, „d.h. durch formale und lokale Veränderung des beschriebenen Gegenstandes, im Leser [zu] evozier[en]“. 436 Seine Metaphern sind ihm „Sprachmenschwerdungen der liert diesen Gedanken folgendermassen: „‚Ach, ich war sonst auf ihr [SB: der Erde]: da war ich noch glücklich, da hatt’ ich noch meinen unendlichen Vater und blickte noch froh von den Bergen in den unermesslichen Himmel und drückte die durchstochne Brust an sein linderndes Bild und sagte noch im herben Tode: ›Vater, ziehe deinen Sohn aus der blutenden Hülle und heb’ ihn an dein Herz! ‹ … Ach, ihr überglücklichen Erdenbewohner, ihr glaubt Ihn noch. […] Sterblicher neben mir, wenn du noch lebst, so bete Ihn an: sonst hast du Ihn auf ewig verloren.’“ (I/ 2, 274f., Hervorhebung im Original). 431 Bergengruen: Hohlspiegel, S. 34. 432 Bergengruen: Hohlspiegel, S. 34. 433 Bergengruen: Hohlspiegel, S. 36. 434 Bergengruen: Schöne Seelen, S. 182. - Anhand von Albano, des Protagonisten aus dem Titan, zeichnet Bergengruen den moralischen Bildungsweg eines Subjekts nach, das lernt, „die inszenierten Wunder der natürlichen Magie als Zeichen für (nicht als identisch mit) dem Übernatürlichen zu erkennen“, und dabei die „Fähigkeit“ entwickelt, „das Spiel seiner eigenen Vermögen bei der Wahrnehmung so zu interpretieren“ (Bergengruen: Hohlspiegel, S. 28-34, hier S. 31). „Am Ende“ wird Albano „in der Lage [sein], durch die inszenierten Wunder das wahre Göttliche im Irdischen zu erkennen“ (Bergengruen: Hohlspiegel, S. 28). 435 Bergengruen: Hohlspiegel, S. 36. 436 Bergengruen: Hohlspiegel, S. 38. - In der Kantate-Vorlesung drückt sich das Erzähler- Ich folgendermassen aus: „Wir haben etwas in uns, was unaufhaltbar einen ewigen Ernst, den Genuß einer unbegreiflichen Vereinigung mit einer unbekannten Realität <?page no="198"?> 198 Natur“ 437 (I/ 5, 182), sind ihm „Brotverwandlungen des Geistes“ 438 (I/ 5, 184) und also Mittel, das Göttliche für den Leser in der Literatur erfahrbar zu machen. 4.8.3 Das magische Schrift-Bild-Zeichen Der intelligiblen, gedanklich vielsilbigen, doch wortlosen Kommunikation (I/ 1, 409) der hohen Menschen wird in der Unsichtbaren Loge „eine schriftliche Realität“ 439 verliehen. Die Schrift wird zum „erzählerischen Innenraum“ 440 des Logen-Textes bestimmt, in dem die Buchstaben als ebenso als das letzte setzt. Das Spielen der Poesie kann ihr und uns nur Werkzeug, niemals Endzweck sein“ (I/ 5, 444). Die Poesie „zieht“ das „Heiligste […] durch ihre Zauberei vom Himmel näher herab“ (I/ 5, 447). 437 Die „Sprachmenschwerdung“ erinnert an die Menschwerdung des Gottessohnes: Gott-Vater hat seinen Sohn auf die Erde geschickt, damit er die Menschen durch seinen Tod und seine Auferstehung erlöse. Anlässlich von Jesus’ Taufe kommt „[d]er heilige Geist […] sichtbar auf ihn herab, anzusehen wie eine Taube. Und eine Stimmer sagte vom Himmel her: ‚Du bist mein Sohn, dir gilt meine Liebe, dich habe ich erwählt.’“ (Bibel: Gute Nachricht, Lk 3,22). Indem Jean Paul mit der „Sprachmenschwerdung der Metapher“ die Menschwerdung des Gottessohnes implizit mit nennt, überträgt er ihr zugleich dessen Rolle als Mittler zwischen Gott und den Menschen, zwischen der jenseitigen und diesseitigen Welt. Die Metapher wird so als Verbindungsglied zur zweiten Welt vorstellig. 438 Der Terminus „Brotverwandlung“ ist im kirchenliturgischen Kontext der Eucharistiefeier zu situieren. Im christlichen Gottesdienst wird mit der Begehung des Abendmahls (der Eucharistie) an das heilvolle Sterben Jesu Christi erinnert. Jesus ist am Abend vor seinem Tod mit seinen Jüngern zusammengekommen, um ein letztes Mal mit ihnen zu speisen. Während des Mahls, so berichtet die Bibel, „nahm Jesus Brot, dankte Gott, brach es in Stücke und gab es seinen Jüngern mit den Worten: ‚Nehmt und eßt, das ist mein Leib.’ Dann nahm er den Becher, sprach darüber das Dankgebet, gab ihn den Jüngern und sagte: ‚Trinkt alle daraus; das ist mein Blut, das für alle Menschen vergossen wird zur Vergebung ihrer Schuld. Mit ihm wird der Bund besiegelt, den Gott jetzt mit den Menschen schließt. Ich sage euch: von jetzt an werde ich den Wein des Passamahls nicht mehr trinken, bis ich ihn neu mit euch trinken werde, wenn mein Vater sein Werk vollendet hat! ’“ (Bibel: Gute Nachricht, Mt 26,26- 29). Jesus hat sich, seinen Leib, hingegeben, um die Menschen zu erlösen. Symbolisch wird dies ausgedrückt, indem er einen Laib Brot teilt und an seine Jünger verteilt - im Gottesdienst erhält jeder Gläubige eine Hostie, die als Sinnbild für Jesus’ Leib fungiert. Mit der „Brotverwandlung“ erinnert Jean Paul also an das Leiden und Sterben des Gottessohnes, vor allem aber an dessen Auferstehung. In der Eucharistiefeier bekräftigen die Gläubigen nämlich immer auch ihren Glauben an ein Leben nach dem Tod, an eine Welt jenseits der hiesigen. Indem Jean Paul den Geist (der Leser) einer „Brotverwandlung“ unterzieht, bedeutet er, dass die Leser während ihrer Lektüre seiner Texte dazu befähigt werden, die zweite, göttliche, ursprüngliche Welt zu erahnen. 439 Kurt Wölfel: Über die schwierige Geburt des Gesprächs aus dem Geist der Schrift, S. 85. (Im Folgenden zitiert als Geburt des Gesprächs.) 440 Ulrike Hagel: Rezension zu: Maximilian Bergengruen: ‚Schöne Seelen, groteske Körper’, S. 152. (Im Folgenden zitiert als Rezension.) <?page no="199"?> 199 unkörperlich vorstellig werden, 441 wie es der Inhalt des körperlosen Sprechens ist, das sie transportieren. Wie Kurt Wölfel in seiner Studie Über die schwierige Geburt des Gesprächs aus dem Geist der Schrift darlegt, stellt sich die „Literatur“ den hohen Menschen „als ‚Schriftkultur’“, als „Tanzplatz“ „der Seele“ dar. 442 Was die Protagonisten für „unaussprechlich“ (I/ 1, 287) befinden, teilen sie ihren ‚Gesprächspartnern’ in Briefen mit. 443 Die Schrift wird ihnen folglich zum Artikulationsraum des Unsagbaren, 444 zum Ort, an 441 „Das Sprechen ist ein Umweg über den Körper; das Schreiben ein unvermittelter, allen mechanischen Umständen zum Trotz organloser Akt“ (Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, S. 223). (Im Folgenden zitiert als Körperströme.) „Es sind die Körper, die sich gleichsam im Trenngitter der Buchstaben verfangen. Und es sind die Seelen, die durch den ›Geist‹ der Schrift über alle Akzidenzien von Raum und Zeit hinweg schwerelos zueinanderfinden“ (Koschorke: Körperströme, S. 241). 442 Alle: Wölfel: Geburt des Gesprächs, S. 85. 443 Bergengruen weist darauf hin, dass die „hohen Menschen (bzw. ihre Prototypen) […] allesamt Schriftsteller [sind]“ (Bergengruen: Schöne Seelen, S. 37). In der Unsichtbaren Loge teilen sich die hohen Menschen einander auffällig häufig in Briefen mit (I/ 1, 38, 68, 156, 185, 197, 217, 238, 241, 276, 287, 303, 333, 358, 376, 399, 416, 419), wobei diese Briefe zentrale Passagen des Romans ausmachen: Besonders hervorzuheben sind beispielsweise Ottomars Bericht über sein Scheintod-Erlebnis (I/ 1, 303-309) sowie Fenks Brief an ‚Jean Paul’, welcher das Romangeschehen mit der Information beschliesst, Mitglieder der „unterirdische[n] Menschenwelt“ (I/ 1, 419f.) seien ins Gefängnis geworfen worden (I/ 1, 419-421). - Koschorke erläutert, inwiefern es im 18. Jahrhundert aufgrund eines „Prozeß[es] der Individualisierung und Subjektbildung aus anthropologischer Sicht […] zu einer veränderten somatischen Binnenökonomie [kommt]“ (Koschorke: Körperströme, S. 112), welche zudem neuartige Anforderungen an das „Kommunikation[sverhalten in] der empfindsamen Ära [stellt]“ (Koschorke: Körperströme, S. 120). Im Zuge des „Umbau[s] der Körpersemiotik“ sowie des damit einhergehenden „korrelative[n] Zuwachs[es] an kommunikativer Distanz“ (beide: Koschorke: Körperströme, S. 112) gerät „die Schrift“ als zwischenmenschliches „Zirkulationsmittel in den Blick“ (Koschorke: Körperströme, S. 133). Es ist die „Literatur[, die] […] bei der Ausformung des Verkehrs der Innerlichkeiten im 18. Jahrhundert […] eine dominierende Rolle einnimmt“ (Koschorke: Körperströme, S. 157), und, damit einhergehend, der „Kultus des Briefs[, der zur] […] exklusiven Mitteilungsform Gleichgesinnter [avanciert]“ (Koschorke: Körperströme, S. 177): „Briefe überbrücken temporäre Abwesenheiten, laden ein, fordern heraus […] [und] stellen im Hintergrund Mißverständnisse klar“ (Koschorke: Körperströme, S. 176). Damit erfüllen sie die Bedingungen, welche in der Epoche der Empfindsamkeit an die zwischenmenschliche Kommunikation gestellt wird: Briefe generieren „Distanz, die Nähe suggeriert und eine Sprache der Distanzlosigkeit freigibt; Abschneidung des Körpers, die durch ungehinderte Zusammenkunft der Geister abgegolten wird; Abstreifung des Äußerlichen, die es ermöglicht, daß die hüllenlosen Innerlichkeiten miteinander verschmelzen“ (Koschorke: Körperströme, S. 195). 444 „Schriftlichkeit in ihrer reinen Form gestattet es, Inkommunikabilität zu kommunizieren“ (Koschorke: Körperströme, S. 184). <?page no="200"?> 200 dem sie, was sie denken, stumm sagen - nämlich schreiben; zum Ort also, an dem sie von Seele zu Seele kommunizieren. 445 Wölfel zeigt zudem auf, dass selbst wenn die Figuren sprechen, ihr Reden weniger auf eine vermittelnde Wechselrede mit anderen Figuren abzielt, als vielmehr darauf, sich von diesen abzugrenzen. 446 Ihr abstraktes sowie selbstdarstellerisches 447 Redeverhalten lässt darauf schliessen, dass sie in ihrem Gegenüber mehr denn einen Gesprächspartner den Leser eines Schriftstücks sehen, von dem sie weder Zwischenreden noch Kommentare zu befürchten haben, der ihnen vielmehr ununterbrochen zuhört. 448 Indem sie derart die „‚objektiven’ Bedingungen“ „der kommunikativen Handlung Gespräch“ ignorieren, 449 ahmen sie ihren Erfinder nach, der die „‚epische[] Objektivität’ […] permanent […] in ‚Erzähler-Subjektivität’“ aufzulösen versteht. 450 Im Sprechverhalten der Figuren spiegelt sich folglich das Bewusstsein des Autors, „dass die erfundene Rede der Figuren faktisch die Schrift des Autors ist“, 451 sodass es die ‚Reden’ der Figuren, des Erzählers (der in der Unsichtbaren Loge auch als Akteur in Erscheinung tritt) und des Autors als analog funktionierende zu betrachten gilt. 452 Figurenwie Erzähler-Rede sind „vom Gestus des Schreibens überformt“; 453 sie manifestieren sich nicht in ‚Gesprächshandlungen’, sondern werden Teil jener „Schrift, mit der sich der Autor Jean Paul an den Leser wendet“ 454 - mit der er diesen reingeistig zu erreichen vermag: 455 In der Schrift des Autors kann „die Innerlichkeit […] ihre Welt entfalten“. 456 Das Schreiben wird den hohen Menschen mit anderen Worten zum Artikulationsraum ihrer inneren 445 „Die Schrift ist dabei keineswegs nur Träger von Inhalten und als Medium neutral; sie unterhält eine enge Komplizenschaft mit der Ideologie von Tugend/ Entkörperung/ Seele, für die sie das Forum bietet. Allgemeiner ausgedrückt: Schriftlichkeit ist ein kommunikationstechnisches Korrelat des diskursiven Phänomens ›Seele‹“ (Koschorke: Körperströme, S. 196, Hervorhebung im Original). 446 Wölfel: Geburt des Gesprächs, S. 93. 447 Wölfel: Geburt des Gesprächs, S. 93, 97. 448 Wölfel: Geburt des Gesprächs, S. 98. - „Die Fiktion des Gesprächs verdrängt die Praxis der Rede. In dem Maß, in dem die schriftliche Kommunikation sich von der Aufgabe befreit, rhetorische Konversationstechniken zu supplementieren, nimmt sie selbst Züge einer scheinbaren Mündlichkeit an“ (Koschorke: Körperströme, S. 192). 449 Wölfel: Geburt des Gesprächs, S. 98. 450 Wölfel: Geburt des Gesprächs, S. 97. 451 Wölfel: Geburt des Gesprächs, S. 99. - Simon spricht in Bezug auf Herder davon, dass „Mündlichkeit“ „prinzipiell […] immer schon unter dem Apriori einer schriftanalogen Bildfigur gedacht [wird]“ (Simon: Bildkritik, S. 157). 452 Wölfel: Geburt des Gesprächs, S. 99. 453 Wölfel: Geburt des Gesprächs, S. 99. 454 Wölfel: Geburt des Gesprächs, S. 100. 455 Für die Dauer des Schreibaktes, so der Vorredner, befinde er sich bei den Lesern, „wo unsre Seelen über einem zerstiebenden Blatte sich die Hände geben“ (I/ 1, 31). 456 Wölfel: Geburt des Gesprächs, S. 85. <?page no="201"?> 201 Schau, „zu einer Welt des unmittelbaren und ungetrübten Verstehens“. 457 Die Schrift stellt im Logen-Text das Textinnerliche dar, den Ort, an dem die ‚Rede’ stumm von Statten geht. Sie wird als mentaler Raum etabliert, in dem sich Interaktion gedanklich vielsilbig ereignet, in dem Bedeutung wortlos und unmittelbar mitgeteilt wird. Das gedanklich vielsilbige Kommunizieren der hohen Menschen kleidet der Text nun in ikonische Termini. 458 Sprachlos-sprachliche Artikulation ereignet sich in der Unsichtbaren Loge also immer auch im Modus der Bildlichkeit („Auf jedes Wort und Bild, das er sagte, oder sie zurückgab, war eine Seele geprägt, die sie einander zugetrauet hatten“ (I/ 1, 266)), einer Bildlichkeit jedoch, wie sie ausschliesslich der eben beschriebene Schriftraum generiert. In diesem nämlich gründet das Sehen, das höher bewertet wird als das Begreifen (I/ 1, 265), nicht auf Anschaulichkeit: Bilder werden nicht mit den Augen, sondern in Gedanken geschaut (I/ 1, 79, 295). 459 Bereits in den Passagen, die auf Gustavs Erziehung eingehen, klingt der Primat der inneren Schau über die Anschauung an, wenn das Bestreben des Genius darauf abzielt, das innere Sehvermögen seines Schützlings auszubilden. Er vermittelt Gustav Kenntnis, indem er ihm vorliest, sodass sich der Kleine die literarisch gestalteten Bilder imaginativ auszumalen hat. Die zu den Erzählungen gehörenden Zeichnungen bekommt dieser immer erst danach zu Gesicht, da es „das Hören [SB: das Vor(ge)lesen(e)] [ist, das Kinder] zum Sehen […] zieht“ (I/ 1, 55). Es ist folglich die Schrift, die im Logen-Text uneingeschränktes und unmittelbares Sehen ermöglicht: 457 Koschorke: Körperströme, S. 185. 458 Die Tätigkeit des Schreibens wird mit „abmalen“ (I/ 1, 143) oder „abfärben“ (I/ 1, 265) gleichgesetzt; die Beendigung des Schreibaktes wird wiedergegeben als Akt, bei dem man „mit [dem] Pinsel aus [dem] […] Gemälde [kommt]“ (I/ 1, 226). Charaktere zu schildern, ist, als ob man ein „weisses Papier [nehme] und [es] durchstech[e] […] und bestreu[e] […] mit Kohlenstaub oder Dintenpulver, um das Bild eines […] Menschen hineinzustäuben“ (I/ 1, 222). „Augenblicke[,] […] die man so gern mit tausend Worten überladen möchte[, füllt man] […] eben deswegen bloss mit Blicken aus“ (I/ 1, 31). Dabei ist Jean Pauls ikonisches Schreiben nicht nur dem ‚ut pictura poesis’-Topos geschuldet. Wie aus den folgenden Ausführungen erhellen wird, beabsichtigt er mit seiner ikonisch motivierten Sprache eine Hieroglyphe zu schreiben. Seine Poesie soll „‚sinnlich vollkommene Rede’“ im Sinne Herders sein (Simon: GdI, 214). - Zum ‚ut pictura poesis’-Topos s. Hans Christoph Buch: ‚Ut Pictura Poesis’. Die Beschreibungsliteratur und ihre Kritiker von Lessing bis Lukács, Amy Golahny (Hg.): The Eye of the Poet, Niklaus Rudolf Schweizer: The Ut pictura poesis Controversy in Eighteenth-Century England and Germany, Gottfried Willems: Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils. 459 Pfotenhauer vermutet, dass in Jean Pauls „Sprachbildräume[n] […] eine neue Art des entgegenständlichten, desintegrativen inneren Sehens eingeübt [wird]“ (Pfotenhauer: Bilderfluch, S. 17). <?page no="202"?> 202 „Ich muß nun diese Vorrede schreiben, damit ich unter dem Fahren nicht aus der Schreibtafel und Kutsche hinaussehe, ich meine, damit ich die grenzenlose Aussicht oben nicht wie einen Frühling nach Kubikruten, die Ströme nach Ellen, die Wälder nach Klaftern, die Berge nach Schiffpfunden, von meinen Pferden zugebröckelt bekomme, sondern damit ich den großen Zirkus und Paradeplatz der Natur mit allen seinen Strömen und Bergen auf einmal in die aufgeschlossene Seele nehme.“ (I/ 1, 23, Hervorhebungen SB) Liest man den potentiell sich wiederholenden Blick aus dem Kutschenfenster in dieser Passage als Paraphrase des Blickens auf ein gerahmtes Bild, so fällt auf, dass dieses lediglich ein bruchstückhaft erfolgendes Sehen ermöglicht. Ein Sehen, welches das Bild (also denjenigen Teil der Landschaft, den das Kutschenfenster einrahmt) nicht ganzheitlich zu erfassen vermag, da, was dieses zeigt, während der Fahrt fortwährend im Umbruch begriffen ist. Ein Sehen auch, anhand dessen dem Phänomen Bildlichkeit eine Eigenschaft zugeschrieben wird, die traditionellerweise als charakteristisch für den Text gilt: Die visuelle Orientierung erfolgt sukzessive und vollzieht sich entlang von linear aufeinander folgenden Ausschnitten.460 Diese sich seriell ereignende Schau zeitigt Auswirkungen auf die Aussicht oben auf dem Berg: Gäbe sich der Autor während der Fahrt der bildlichen Sukzessionsfolge hin, nähme er die Umgebung, die nun vor seinen Augen liegt, ebenso zerstückelt wahr, bekäme er „die grenzenlose Aussicht [lediglich] […] zugebröckelt“. Dagegen wirkt sich die Tätigkeit des Schreibens vorteilhaft auf den Rundblick auf dem Gipfel aus. Zurückgezogen in die Innerlichkeit der Gedankenwelt bereitet der Vorredner den Weg für ein 460 Auch Simon geht in seiner Studie Der poetische Text als Bildkritik von der Unterscheidung zwischen der Malerei und der Literatur als der Unterscheidung zwischen einer Raumkunst und einer Zeitkunst aus. Mit Blick auf die lange Traditionslinie dieser Unterscheidung greift er in Bezug auf die moderne Ästhetik vor allem auf Lessing zurück (Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon. In: ders.: Werke in 8 Bänden. Bd. 6: Kunsttheoretische und kunsthistorische Schriften. Hg. von Herbert G. Göpfert. München 1974, S. 7-187.) und weist dem Bild „die Eigenschaft der Schnelligkeit“ zu, da, was es zeige, auf einen Blick gesehen werden könne. Die Rezeption eines literarischen Textes, in dem „alles nacheinander folg[e]“, verlaufe dagegen „unhintergehbar[] [l]angsam[]“ (alle: Simon: Bildkritik, S. 264, Hervorhebung im Original). - Boehm spricht von einer „natürliche[n] Sukzession des literarischen Textes“, die er „einer simultanen Gleichzeitigkeit innerbildlicher Beziehungen und Bedeutungsvalenzen“ gegenüberstellt (Boehm: Arbeit des Blickes, S. 32). Er eruiert im „Bild etwas ‚Promptes’“, „das es von den umständlichen Sukzessionsfolgen und Zeilenanordnungen der Schrift bzw. der Sprache unterscheide[], die etwas vergleichsweise Weitschweifiges haben“ (Boehm: Ohne Worte, S. 268). Der „visuelle[n] Welt des Kunstwerkes“, der „Wendigkeit und der übersichtsbegabten Schnelligkeit des Auges [hinke] die träge Endgültigkeit der Schrift unvermeidlich hinterher“ (Boehm: Arbeit des Blickes, S. 13). - In vorliegenden Analysen werden das Medium Bild und das Medium Text nicht - wie dies meist bis anhin üblich war - als das jeweilige Gegenteil vom anderen angesehen, sondern als zwei autonome Kunst-Gebilde ernst genommen und in der Hieroglyphe zusammengeführt. <?page no="203"?> 203 ganzheitliches Sehen („den […] Paradeplatz der Natur mit allen seinen Strömen“), das sich innerlich („in die aufgeschlossene Seele“) und ‚simul’ 461 („auf einmal“) vollzieht. Aus obigen Ausführungen erhellt, dass der Autor bemüht ist, idealsprachlichen Austausch als ein Kommunikationsmodell zu skizzieren, in dem Sinngehalte wortlos sowie unmittelbar mitgeteilt werden. Dabei erklärt er die Schrift zum Innerlichkeitsraum, in welchem die Figuren sich einander ebenso wie der Erzähler sich dem Leser reingeistig, in Form von sprachlich generierten, sprachlos artikulierten Bildern mitteilen. Diese „Bilder[] und Allegorien“ erlangen ihre Wirkmächtigkeit, indem sie der Text „[nicht] mit eigentlichen Worten“ (beide: I/ 1, 271), sondern in uneigentlichen herzeichnet - wie oben beispielhaft an den Ausdrücken ‚Druckwerk’ oder ‚(von) Ton’ deutlich geworden ist. Ziel des Erzähler-Autors ist es, seine Gedanken, die er in ikonisch strukturierten Wortkreationen mitteilt, „aus [s]einem Herzen [zu] heben und hieher auf [s]eine Blätter [zu] legen“ (I/ 1, 265), sodass diese Worte seiner Seele derjenigen des Lesers unmittelbar einsichtig werden. Seine Absicht, in der Poesie reine Signifikanz zu übermitteln, realisiert er, indem er seinen Text (auf jeder Ebene sowie auch als Gesamtes) als literarisches Bild vorstellig macht. Es sind die literarischen Bilder, die, indem sie sich in seiner Sprache in Worte, Phrasen, Sätze, Lexien sowie Lexienverbunde veräussern, im Leser, der sie zu lesen versteht, die Ahnung des Göttlich-Urwahren evozieren. 462 Mit seiner Poesie beabsichtigt Jean Paul folglich „die Wirklichkeit, die einen göttlichen Sinn haben muß, weder [zu] vernichten, noch [zu] wiederholen, sondern [zu] entziffern“ (I/ 5, 447). Das Instrument zur ‚Entzifferung’ des erahnten Jenseitigen bildet - wie oben gezeigt - die literarische Phantasie. Sie, die das Verbindungsglied zur zweiten Welt darstellt, bezeichnet Jean Paul in der Vorschule der Ästhetik nicht zufällig als „das Hieroglyphen-Alphabet [der Natur]“ (I/ 5, 47, Hervorhebung im Original): 463 Die Formulierung greift nämlich erstens die Tatsache auf, dass die Hieroglyphen bis „ins 18. Jahrhundert [als] […] eine göttlich inspirierte Bilderspra- 461 Boehm unterscheidet im Akt der Betrachtung eines Bildes die Kategorien ‚simul et singulariter’. Diese beschreiben den Umstand, dass in jedem so und nicht anders festgelegten „sinnliche[n] Erscheinungsbild“ eines Bildes jedes Detail spezifisch aussieht (singulariter), und dass alle zusammengenommen „ein Netzwerk [bilden], von dem wir sagen, es werde simul perzipiert.“ (alle: Boehm: Ohne Worte, S. 268, Hervorhebungen im Original). 462 „Gerade das Uneigentliche der Aussage in der Metaphernakkumulation, die […] auch den Gegenstand der Aussage als nicht gemeint erscheinen läßt, transformiert alle bildlich-konkreten Mittel zu Zeichen für etwas Unbekannt-Jenseitiges“ (Michelsen: Laurence Sterne, S. 327). 463 Vgl. Müllers Kapitel Die Phantasie als Hieroglyphenalphabet der Natur in: Müller: Jean Pauls Ästhetik, S. 113-122. <?page no="204"?> 204 che“ aufgefasst wurden, 464 um zweitens die Phantasie als verbindendes Element (als „Hieroglyphen-Alphabet“) zwischen der Welt (die im „Alphabet“ anklingt) und dem Jenseits (das in den „Hieroglyphen“ mitschwingt) einzusetzen - womit die Funktion der Phantasie, „in der hiesigen“ „eine andere Welt [zu] zeigen“ (I/ 5, 448), paraphrasiert ist. Jean Pauls „magische[] Art zu erzählen“ 465 hat folglich im Schrift-Bild-Zeichen, das zu seiner Zeit „nicht [als] ein Verständigungsmittel“ 466 verstanden wurde, sondern als Zeichen, welches auf das Göttlich-Wunderbare verweist, ihr Vorbild: Sein Schreiben soll hieroglyphisch sein, weswegen er den Logen- Text als sprachliches Schrift-Bild vorstellig macht, welches stumm zu seinem Betrachter spricht und in ihm Ahnungen des Übersinnlichen evoziert; weswegen er den Logen-Text, mit anderen Worten, als das vorstellig macht, was man bis um 1800 unter einer Hieroglyphe verstanden hat. 4.8.4 Herders Schöpfungshieroglyphe als Muster für Jean Pauls Poesie Bis Champollion im Jahre 1822 deren Entzifferung gelang, wusste man nämlich nicht, dass es sich bei den Hieroglyphen nicht um reine Ideogramme handelt, und vernachlässigte ihre phonetische Bedeutung gänzlich. Man hielt diese Schrift-Bild-Zeichen folglich nicht für ein Medium verbaler Kommunikation, sondern für eines der unmittelbaren Signifikation - die göttliche Botschaft der Zeichen blieb all jenen, die sie nicht zu lesen verstanden, freilich verborgen. 467 Jean Paul war mit dieser zeitgenös- 464 Müller: Jean Pauls Ästhetik, S. 115. 465 Bergengruen: Hohlspiegel, S. 36. 466 Müller: Jean Pauls Ästhetik, S. 115. 467 S. Erik Iversen: The Myth of Egypt and its Hieroglyphs in European Tradition, S. 57-87, bes. S. 64f. (Im Folgenden zitiert als Myth.), Liselotte Dieckmann: Hieroglyphics. The History of a Literary Symbol, S. 31-44 (Im Folgenden zitiert als Hieroglyphics.), Umberto Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache, S. 153-155. (Im Folgenden zitiert als Vollkommene Sprache.) - Von Beginn der Renaissance bis um 1800 nahm man an, die Hieroglyphen seien eine reine Bilderschrift, in denen Bildmotive Zeichen für Begriffe sind. Man war davon überzeugt, dass die durch die Abbilder bezeichneten Dinge aufgrund einer Wesensverwandtschaft mit den von ihnen bezeichneten Begriffen zu deren Repräsentanten bestimmt worden waren. Man glaubte also, die Hieroglyphen eröffneten den Zugang zu so etwas wie der Urweisheit der Menschheit, zu den Geheimnissen der göttlichen Weltordnung. Zu einer Zeit, in der man wenig Authentisches über Ägypten wusste, stützten vor allem Horapollos Hieroglyphica, ein im 15. Jahrhundert wieder entdecktes Manuskript, das aus einer Liste von annähernd zweihundert Hieroglyphen-Exegesen besteht, sowie die Klassiker Herodot, Diodor, Plutarch und Apuleius derlei Mutmassungen (Walter Burkert: Mysterien der Ägypter in griechischer Sicht. Projektionen im Kulturkontakt, S. 9 (Im Folgenden zitiert als Mysterien.), Ulrich Gaier: Vielversprechende Hieroglyphen, S. 177). - In ihrem Aufsatz „Brotverwandlungen des Geistes.“ Jean Pauls Satire ‚Meine lebendige Begrabung’ und seine Erzählung ‚Leben Fibels’ im Lichte der Hieroglyphenrezeption bis um 1800 spürt die <?page no="205"?> 205 sischen Auffassung der Hieroglyphen vertraut und wusste auch, wie man sich vorstellte dass die ägyptischen Schrift-Bild-Zeichen aussehen: Aus seinen Exzerpteinträgen geht hervor, dass er Athanasius Kirchers Werk Sphinx mystagoga sive diatribe hieroglyphica de mumiis (1676) gekannt hat: „Die Ägypter stelten Götterbilder als Wächter um die Mumien. Kirchers Sphinx mystagoga. | Mumie auch darum in Pech, Wachs und einem kreideartigen Brei, um die hieroglyph. Thiere (Sonne, Mond, Schlange, Anubis) leichter anzudrükken“. 468 Der Universalgelehrte Athanasius Kircher hat sich bereits vor Erstellung der Sphinx mystagoga mit der Hieroglyphenkunde befasst: Er wurde zur Kommentierung und Erklärung des wieder hergestellten, mit Hieroglyphen-Inschriften bedeckten Pamphilischen Obelisken in Rom herangezogen. In seinem Werk Obeliscus Pamphilius (1650) entwirft er unter anderem eine Geschichte der Hieroglyphen und unternimmt den Versuch, sie zu entziffern. 469 In Oedipus Aegyptiacus (1652-54) bildet Kircher einen „Entwurf für einen Ehrenobelisken für den Kaiser Ferdinand II“ ab. 470 Auch in der Sphinx mystagoga befasst sich Kircher mit der Entschlüsselung der Hieroglyphen. 471 In diesem Werk finden sich Nachzeichnungen von mit vorgefundenen ebenso wie mit erfundenen Hieroglyphen bemalten Mumien, 472 von Tempelwänden, 473 von in Kolumnen aufgeführten Hieroglyphen, die Kircher nebenstehend interpretiert 474 sowie von extrahierten Hieroglyphen, deren ‚Bedeutung’ Kircher anhand seiner Interpretation von deren Form mitliefert. 475 (Sämtliche angeführten Beispiele sind im Anhang abgebildet (s. die letzten 4 Seiten des Anhangs). Neben den zeitgenössischen Theorien um die ägyptischen Schrift-Bild- Zeichen hat Jean Paul folglich auch das Aussehen der (Pseudo-) Hieroglyphen gekannt. Für sein poetisches Schaffen war jedoch vor allem die Theorie seines Lehrers Johann Gottfried Herder von zentraler Bedeu- Verfasserin ausgehend von einer skizzenhaften Umreissung der Hieroglyphenrezeption im 18. Jahrhundert (vor allem am Beispiel von William Warburton und Johann Gottfried Herder) dem ästhetisch-poetologischen Potential dieser Rezeptionsgeschichte im literarischen Werk Jean Pauls nach. 468 Jean Paul: Exzerpte online, IIb-15d-1789-0387, IIb-15d-1789-0388. 469 Gaier: Vielversprechende Hieroglyphen, S. 180, Dieckmann: Hieroglyphics, S. 97-100. 470 Carsten-Peter Warncke: Symbol, Emblem, Allegorie. Die zweite Sprache der Bilder, S. 28 (Im Folgenden zitiert als SEA.), Ludwig Volkmann: Bilderschriften der Renaissance. Hieroglyphik und Emblematik in ihren Beziehungen und Fortwirkungen, S. 113 (Im Folgenden zitiert als Bilderschriften.), Joscelyn Godwin: Athanasius Kircher. A Renaissance Man and the Quest for Lost Knowledge, S. 56-65. (Im Folgenden zitiert als Athanasius Kircher.) 471 Volkmann: Bilderschriften, S. 113f. 472 Athanasius Kircher: Sphinx mystagoga sive diatribe hieroglyphica de mumiis, S. 16. (Im Folgenden zitiert als Sphinx mystagoga.) 473 Kircher: Sphinx mystagoga, S. 30. 474 Kircher: Sphinx mystagoga, S. 49f. 475 Kircher: Sphinx mystagoga, S. 53, 56, 67. <?page no="206"?> 206 tung. Um die Zusammenhänge zwischen Herders Hieroglyphenverständnis und Jean Pauls Poesieauffassung auszuführen sowie aufzuzeigen, dass Jean Paul im Stile der „[s]chöne[n] Prose“ - wie sie Herder in der ersten Sammlung der Fragmente Über die neuere deutsche Literatur nennt - schreibt, wird die Verfasserin nun auf Herders Ansatz näher eingehen. Herder stellte der Vorstellung der Hieroglyphen als stummen Boten göttlicher Urgedanken die Idee eines Totalzeichens gegenüber, das er sowohl in uns als auch in der uns umgebenden Natur und Kultur erkennt: 476 die Schöpfungshieroglyphe. Im Unterschied zu seinen Zeitgenossen - beispielsweise Warburton 477 - verbindet Herder den Ursprung der ältesten Bilderschrift nicht mit der ägyptischen Kulturgeschichte, sondern sieht ihn im göttlichen Schöpfungsbericht verankert. 478 Herder ist überzeugt, dass die Menschen ihre ursprünglich ganzheitlichen Fähigkeiten, die sie im Zuge der fortschreitenden ‚Zivilisierung’, welche Herder als Entwicklung weg von der (mündlichen) Poesie hin zur (schriftlichen) Prosa umschreibt, 479 immer mehr verloren haben, zurück zu erlangen vermögen. Er ist überzeugt davon, dass es möglich ist, dem ‚ursprünglichen Weltsinn’ nachspüren und ihn wiederherstellen zu können - nicht, indem „ein[] unmögliche[r] Sprung zurück in den Ursprung, sondern ein[] gangbare[r] Weg voraus in die Zukunft und in die Anerkennung der Gegenwart [ge- 476 Gaier: Vielversprechende Hieroglyphen, S. 189. 477 Aufweis für Warburtons Hieroglyphenauffassung ist sein Werk Versuch über die Hieroglyphen der Ägypter. - Herder distanziert sich in der Ältesten Urkunde folgendemassen von seinen Zeitgenossen: „Hätte man nun […] nicht große Lust, eine würklich echte, alte Hieroglyphe zu sehen? erklären zu hören? so erklären zu hören, daß keine Kircherschen Träume und Warburtonschen Hypothesen mehr nötig wären? es denn an ihr zu bemerken, wie der Menschliche Verstand oder wie’s dem Menschlichen Verstande am leichtsten gefunden worden, zu symbolisieren? “ (Johann Gottfried Herder: Die Älteste Urkunde des Menschengeschlechts, S. 269, Hervorhebungen im Original). (Im Folgenden zitiert als Älteste Urkunde.) 478 Gerhard vom Hofe: Herders ‚Hieroglyphen’-Poetik. Zur schöpfungstheologischen Grundlegung einer ‚höheren Dichtungslehre’ in der ‚Aeltesten Urkunde’, S. 202. (Im Folgenden zitiert als Herders Hieroglyphen-Poetik.) 479 „Es ist schon gesagt, wie schwer es sei, Worte in Schrift, Bilder in Zeichen, Töne in Züge zu verwandeln. Die Späte der Entdeckung, die verfeinte Operation so vieler Seelenkräfte dabei, der seltne Zusammenfluß von Umständen, durch den sie [SB: die Schrift] allein werden konnte, ist von andern gnug gezeigt. - Auch zeigt das Beispiel aller Wilden, wie jede Analogie aus den Kräften der Menschlichen Seele, der Anfang der Buchstabenschrift habe nicht anders als durch Bilder, Runen, Hieroglyphen sein können. Es war ohne Zweifel leichter, die Sache selbst abzubilden und abbilden zu wollen, als etwa den zehnten Teil vom Hauche, vom willkürlichzerstückten willkürlichen Schalle des Mundes“ (Herder: Älteste Urkunde, S. 276, Hervorhebungen im Original). - „Poesie ist die Muttersprache des Menschengeschlechts! “ (Herder: Älteste Urkunde, S. 512). - Simon spricht in diesem Zusammenhang von den „beiden Enden der Menschheitsentwicklung“, der „ursprüngliche[n] Logik des Sinnlichen und [der] späteste[n] Logik der Vernunft“, die „verknüpft werden [sollen]“ (alle: Simon: GdI, S. 66). Zu Herders Poesiebegriff s. Simon: GdI, S. 211ff. <?page no="207"?> 207 zeigt werden kann]“. 480 Diesen Königsweg hin zur Wieder-Realisierung des Totalzeichens schildert er in einer eingehenden Analyse des siebentägigen Schöpfungsberichts in seiner Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts (1744). Wie Ulrich Gaier betont, ist für Herders Genesis-Auslegung zentral, dass er den Hieroglyphenbegriff umdeutet: Es geht für ihn nicht mehr um enigmatische, heilige Bilderschriftzeichen, die nach einer tiefsinnigen Deutung verlangen, sondern um die Behauptung, Zeichen könnten die Sache an sich dem Sehenden/ Lesenden vollumfänglich mitteilen. 481 Herder geht von einer kyriologischen Hieroglyphik als einer Art des Sprechens und Schreibens aus, die es vermag, unmittelbar auf den Leser/ Betrachter Einfluss zu nehmen. Wie an obigen Ausführungen ersichtlich geworden ist, versucht Jean Paul ebendies mit seiner Sprachverwendung, seinem unkörperlichen, textinnerlichen, ikonischen Be-deuten zu erreichen. In der Art, wie Jean Pauls poetischer Text als sprachliches Schrift-Bild vorstellig wird, klingt Herders Definition der Schrift als Hieroglyphe an - als unvermittelter, ursprünglicher, sicht- und fühlbarer Schriftzug. 482 Die der Ur-Hieroglyphe inhärente göttliche Botschaft (der ursprüngliche Sinn) ist Herder zufolge keineswegs nur für auserwählte Wenige, sondern für die ganze Menschheit bestimmt und liege - in der mosaischen Urkunde überliefert - als biblische Schöpfungsgeschichte vor: „Gott selbst ward überall handelnd vorgestellt: jeder Tag bekam nach der Ordnung, wie man sich in Orient etwa die Schöpfungsfolge dachte, das Seine: es ward also ein Episches Gedicht in sieben Abschnitten, oder wenn man will, Strophen. Jede Strophe schloß sich also der Einrichtung des ganze Poems, und des Gedächtnisses wegen, nach Orientalischer Einfalt mit Einerlei Worten, in die ein angenehmer, sinnlicher Rhythmus kam. Jede Strophe faßte Eine Tagesbegebenheit in sich, und diese bekam wieder nach dem Geist der Orientalischen Einfalt, des Poems, und des Gedächtnisses wegen, eine vorleuchtende augenscheinliche Einheit, und ward gleichsam ein Einziges sinnliches Bild, eine Einige Heilige Hieroglyphe. […] Im Ganzen sprach ein ehrwürdiger, feierlicher Ton, wie eine alte väterliche Stimme: im Ganzen und in allen Teilen redete ein singender Ton des ältesten Rhythmus - kurz! es ward das vortreffliche Stück, was wir von den Tagewerken der Schöpfung haben. Die feierlichste älteste Antike, die ehrwürdigste Probe eines Historisch-Epischen Gesanges: die schätzbarste Urkunde des Altertums. So und nicht anders; in diesem Bau des Ganzen, in dieser Rhythmik der Teile, in diesem Zweck des Ursprunges, und in der bestorientalischen Einkleidung zu diesem Zwecke - so muß sie gelesen, oder viel- 480 Ulrich Gaier: Hamanns und Herders hieroglyphische Stile, S. 191. (Im Folgenden zitiert als Hamann und Herder.) 481 Gaier: Vielversprechende Hieroglyphen, S. 187. 482 Zu Herders Denkbild der (Schöpfungs-)Hieroglyphe s. Simon: GdI, S. 81ff. <?page no="208"?> 208 mehr gehört, und gefühlt werden; oder sie ist nicht mehr, was sie ist. (Herder: Älteste Urkunde, S. 34f.) Die siebentägige Schöpfungsgeschichte, diese älteste, historisch-poetische Urkunde des Menschengeschlechts, interpretiert Herder nun nicht als Bericht einer Sukzession von Phasen des göttlichen Schöpfungsprozesses, sondern als Schöpfungshieroglyphe; d.h. als dunkles, schwer entzifferbares, direkt aus der Vergangenheit stammendes Textfragment. An ihm möchte er den genetischen Zusammenhang von seinsschöpferischer Rede und Schrift begründen. „Die ursprüngliche, in der mosaischen Überlieferung der Schöpfungsgeschichte noch faßbare Sprache des urältesten und ‚heiligsten Orakel[s]’ Gottes […] ist noch ganz ‚sinnlich vollkommene Rede’ […] und poetische Bildersprache, welche durch die unlösbare Einheit von Zeichen und Bezeichnetem geprägt ist und also die spätere Unterscheidung von ‚anschauender Erkenntnis’ und ‚symbolischer Erkenntnis’ […] noch nicht im Sinne einer Hierarchie der Erkenntnisweisen kennt.“ (Vom Hofe: Herders Hieroglyphen-Poetik, S. 191f.) Für das (exklusiv) rational denkende und handelnde Subjekt des späten 18. Jahrhunderts seien die Zeichen der mündlich-ursprünglichen Sprache und damit einhergehend die empfindungsnahen Seelenkräfte, von denen aus der Mensch als Einheit handeln und erkennen konnte, verschwunden. Da sich Herder zufolge die historische Entfremdung des Menschen von der Menschheit in der zunehmenden Prosaisierung der Sprache widerspiegelt, stellt diese auch den Lösungsweg dar, den ganzen Menschen wieder herstellen zu können. Die mittlerweile auseinander gefächerten Logiken, 483 die erst zusammen den Weltbezug des Menschen ausmachen und die in der Ursprache noch im Totalzeichen vereinigt waren, müssen aus den Künsten und Wissenschaften im poetischen Text integriert werden, sodass dieser (als ganzer! ) wieder zum Totalzeichen wird. Hieroglyphisch zu verfahren 483 „Die Natur des Menschen bedingt also ein dreifach unvollständiges Erkennen, nämlich wahrnehmendes Empfinden, bildendes Vorstellen und vernünftiges Denken; Herder bekämpft die Ideologisierung und Alleinvertretungsansprüche dieser drei Erkenntnisrichtungen im Empirismus, in der Analogie- und Witzphilosophie und im Rationalismus/ Idealismus seiner Zeitgenossen. Keine der Erkenntnisrichtungen für sich kann Wahrheit, geschweige denn die allein relevante Wahrheit für den Gebrauch des ganzen Menchen [sic] in seiner Menschheit, seiner historischen Situation und seiner humanen Zielsetzung ermitteln. Zu der Überzeugung von der konstitutiven Unzulänglichkeit […] der […] Erkenntnisrichtungen tritt die Überzeugung von der notwendigen Vollständigkeit, mit der jede wissenschaftliche Frage von den drei genannten Erkenntnisrichtungen her angegangen werden muss. Nur im Umlauf um den ganzen Menschen als empfindendes, vorstellendes und denkendes Wesen lässt sich die konstitutive Mangelhaftigkeit jedes der Vermögen kompensieren“ (Ulrich Gaier: Metadisziplinäre Argumente und Verfahren Herders. Zum Beispiel: Die Erfindung der Soziologie, S. 62f.). (Im Folgenden zitiert als Metadisziplinäre Argumente.) <?page no="209"?> 209 bedeutet für einen Schriftsteller somit, ein Verfahren des Sprechens und Schreibens als Handlung zu praktizieren, das den Rezipienten in gleicher Weise zu erreichen und zu beeinflussen vermag, als es geschieht, wenn dieser die Sache, von der der Dichter lediglich zu schreiben vermag, unmittelbar besieht, befühlt oder hört. Kurzum: Des Dichters Rede soll den Menschen berühren, wie dies die Sache selbst tut. Was Herder anstrebt, und was er von den Dichtern fordert, ist die „[s]chöne Prose“, 484 die Muttersprache des Menschengeschlechts. Zu deren Realisierung muss der Dichter „ein triceps werden, d.h. seine drei Grundfähigkeiten 485 möglichst gleichmäßig ausbilden und in seiner Gelehrsamkeit objektivwie auch adressatenbezogen anwenden“. 486 Die Prosa soll zwar in ihrer rationalen Präzision fortgebildet werden, doch vor allem soll ihr verloren gegangenes sinnlichaffektives wie auch kreativ-imaginatives Potential zurück gewonnen werden. Erst so kann „die den ganzen Menschen befassende Fülle und Dreiköpfigkeit der Sprache […] [erwirkt werden], die in der gestischen ‚Dichterei’ des Anfangs in nuce gegeben war“. 487 Um ein Schreiben in der schönen Prosa zu erreichen, stellt Herder die Satzgrammatik in den Dienst einer leidenschaftlichen, affektiven, dichterischen Sprache. Er hält alle seine Dichterkollegen dazu an, seinem Bestreben, poetische Texte in der schönen Prosa zu verfassen, nachzueifern. 488 Jean Paul begegnet Herders Aufforderung, indem er in der Unsichtbaren Loge in der Absicht, seine Leser mit seinem Text unmittelbar zu erreichen, einerseits die grammatikalischsyntaktischen Konventionen ausreizt und andererseits immer wieder Formulierungen anbringt, die das expressive Potential seines poetischen Sprechens betonen - beispielsweise: „Ich redete es daher schon auf der Ostermesse mit meinem Verleger ab, er sollte sich um einige Pfund Gedankenstriche, um ein Pfund Frage- und Ausrufungszeichen mehr umtun, damit die heftigsten Szenen zu setzen wären“ (I/ 1, 302). Vergleichbar lässt er in seinem Spätwerk, im Leben Fibels, in dem er die Hieroglyphenthematik erneut aufgreift, den Bienenroder (so nennt sich der Protagonist Gotthelf Helf Fibel als altes Männlein), ein „so gute[s] Deutsch [sprechen] […], als kaum die neuesten Schreiber sprächen“ (I/ 6, 539), und beschreibt die Rede des Erzählers - ganz in Herders Sinn - als leidenschaftlich und affektiv: „Hundertundfünfundzwanzig, ja eintausendachthundertundelf Ausrufungszeichen, hintereinander gesetzt, malen nur schwach mein Verwundern darüber vor, […] daß die Sache so ist“ (I/ 6, 534). Damit ist implizit angedeutet, dass das alte Männlein ebenso wie der Erzähler die 484 Johann Gottfried Herder: Über die neuere deutsche Literatur, S. 184. 485 Gaier nennt die „Empfindung“, die „Einbildungskraft“ und den „Verstand“ (Ulrich Gaier: Poesie als Metatheorie. Zeichenbegriffe des frühen Herder, S. 206). (Im Folgenden zitiert als Poesie als Metatheorie.) 486 Gaier: Poesie als Metatheorie, S. 218. 487 Gaier: Hamann und Herder, S. 192, Hervorhebung im Original. 488 Gaier: Vielversprechende Hieroglyphen, S. 189. <?page no="210"?> 210 „[s]chöne Prose“ beherrschen, die Muttersprache des Menschengeschlechts. 489 In seinen eigenen Texten schreibt Herder elliptisch-eruptiv und ist bestrebt, sein Denken als triceps („als Historiker, Philosoph und Dichter zugleich“ 490 ) auf dem Papier zu verwirklichen, weswegen er bei der Darstellung seiner Gegenstände keinen Diskurs, der diese betrifft, vergisst. Im Gegenteil: Zwecks hieroglyphischer, also unmittelbarer Beeinflussung der Denkarten seiner Leser wechselt er während der Präsentation seiner Thesen die Perspektiven, lässt sie einander kreuzen, ergänzen oder gar negieren. 491 Denn Erkenntnis soll nicht als Ergebnis präsentiert werden, sondern sich als Denkvorgang im Leser sukzessiv einstellen. Es sei nun die biblische Genesis, die in einer poetischen Bildersprache verfasst sei, in der Zeichen und Bezeichnetes noch eine unlösbare Einheit bildeten. Dieser Gedanke Herders, Zeichen und Bezeichnetes wären in der Muttersprache des Menschengeschlechts nicht separat, sondern im selben Wort ausgedrückt gewesen, klingt in Jean Pauls Vorschule der Ästhetik folgendermassen an: „Der bildliche Witz kann entweder den Körper beseelen oder den Geist verkörpern. Ursprünglich, wo der Mensch noch mit der Welt auf einem Stamme geimpfet blühte, war dieser Doppel-Tropus noch keiner; jener verglich nicht Unähnlichkeiten, sondern verkündigte Gleichheit; die Metaphern waren, wie bei Kindern, nur abgedrungene Synonymen des Leibes und Geistes. Wie im Schreiben Bilderschrift früher war als Buchstabenschrift, so war im Sprechen die Metapher, insofern sie Verhältnisse und nicht Gegenstände bezeichnet, das frühere Wort […]. Das tropische Beseelen und Beleiben fiel noch in eins zusammen, weil noch Ich und Welt verschmolz. Daher ist jede Sprache in Rücksicht geistiger Beziehungen ein Wörterbuch erblasseter Metaphern.“ (I/ 5, 184, Hervorhebungen im Original) 489 Im Leben Fibels überblendet Jean Paul den Diskurs über die Entzifferung der Hieroglyphen mit demjenigen über die Entschlüsselung des Buches der Natur. Der Autor stellt diese Überblendung in der Vor-Geschichte oder dem Vor-Kapitel unmittelbar her, wenn er anmerkt, ein neueres Büchlein würde die „Enthüllung der Hieroglyphen in dem Bienrodischen Abcbuche“ (I/ 6, 370) versprechen. Der Protagonist Gotthelf Helf Fibel, der auf der Textoberfläche als der von Gott ausersehene Schöpfer desjenigen ABCs in Erscheinung tritt, das zur Entzifferung des Buches der Natur führen wird, wird auf der Tiefenebene als personifizierte Hieroglyphe vorstellig (s. Böni: Brotverwandlungen des Geistes, S. 13). 490 Gaier: Hamann und Herder, S. 186. 491 Im 18. Jahrhundert ist ein aufkommendes Bedürfnis nach hieroglyphischem Stil zu verzeichnen, da „Hieroglyphen […] Zeichen sind, die hinter den rationalen Diskurs zurückreichen und damit geeignet sind, seinen Alleinvertretungsanspruch auf Welterklärung ausser Kraft zu setzen, zu hintergehen, ohne ihn irrationalistisch zu negieren“ (Gaier: Hamann und Herder, S. 189). Gaier definiert in seiner Studie lautliche und semantische (Gaier: Hamann und Herder, S. 183), syntaktische (Gaier: Hamann und Herder, S. 184) sowie pragmatische (Gaier: Hamann und Herder, S. 186) Hieroglyphen, von denen Herder vor allem letztere in seinen Schriften angewandt hat. <?page no="211"?> 211 Herder zufolge offenbart sich den Menschen die Ordnung der Erfahrungswelt, welche die Urweisheit in sich birgt, in Form einer Tagwerdung. Er sieht dem Siebentagewerk in der Figur des „Heptaemerons“ 492 jenes allbestimmende Ordnungsmuster zugrunde gelegt, das den orientalischen Kulturen zur Einteilung und Sortierung ihrer gesamten Welt gedient habe. Dieser Erfahrungsschriftzug, der objektiv der Natur und ihren Vorgängen zugrunde liege, schreibe sich zugleich als sinnlicher Vorgang für die Augen subjektiv der menschlichen Seele ein. Gott teile sich im Schöpfungswerk in bildhafter Sprache und sinnlicher Schrift zugleich mit: „Und in welcher sinnlichen, schönen Ordnung? wer kann sich eine gehendere Methode, als den Fortgang der Morgenröte über die ganze Welt hinaus denken! […] Und in welcher sanftsteigenden Progression! Erst wenig, simple, große Geschöpfe: sehr deutlich ihm vorgenannt in der frühen Stille des Tages, bis er geübt ist, mehr verwirrtere Geschöpfe zu bezeichnen. […] Und mit welchem Maße für seine Sinne! Erst den simpeln Lichtstrahl und wie sich nun das Gesicht entwickelt, höhere Strecken hinausgeworfen, fliegt von Himmel zu Erde; wie es sich von Tritt zu Tritt immer verdeutlicht und vielfältiget […] - der Mensch selbst […] [w]ird […] fernher geführt […]! höret zuerst im Antlitz großer, stiller, bleibender, angenehmer Geschöpfe den Sprachunterricht Gottes: […] Die Sinne des Menschen werden harmonisch zum Konzert einer Sprachenschöpfung angeklungen und gerühret! Wie leicht endlich die Bilder und Namen selbst: die zusammenklingendsten Wortbilder! […] Und nun endlich diese ganze, so reiche, simple, mächtige Natursprache, das ganze Buch Himmels und der Erden, seine Pflicht und Weisheit, sogleich in die Sieben symbolisiert - wer ist, der hier das Wunderding Göttlicher Anlage und Erleichterung nicht fühle? So bildete sich Sprache und Schrift zugleich: zwo Schwestern Hand in Hand; oder vielmehr Zwo Eins, wie Gedanke und Wort, Wort und Zeichen, Leib und Seele! Dem Gedanken Schall, dem Schalle Bild und Ansicht zu geben - ward nur harmonisches Geschäfte.“ (Herder: Älteste Urkunde, S. 279f., Hervorhebungen im Original) Dem anschauend erkennenden Menschen wird die phänomenologische Wahrheit der Schöpfung in Bildern der Morgenröte, einem sich stets wiederholenden Geschehen, präsent: Sukzessive dämmern in der menschlichen Empfindung die Gegenstände auf und werden als Zusammengerückte simultan betrachtet. Folglich erinnert jeder schöne Morgen, 493 so er 492 „Einfältig und kindlich. Sieben Abteilungen im Ganzen, Tage: jedem Tage Sein, Ein Bild! Schluss der Tage Eine Kadenz ‚So ward Abend! so ward Morgen! ’ selbst wo noch kein Abend und Morgen sein konnte - also ein Sieben! ein Heptaemeron! dafürs jedermann gehalten“ (Herder: Älteste Urkunde, S. 270, Hervorhebungen im Original). 493 Jean Paul nimmt Herders Gedanken an derjenigen Stelle in der Kantate Vorlesung auf, an der er die Dichtkunst als die Kunst beschreibt, die das Übersinnliche im Menschen zu evozieren vermag: „Indes muß dem Dichter wie den Engeln […] die Erkenntnis des Göttlichen die erste am Morgen sein“ (I/ 5, 447). Der Verdacht, dass sich diese Formu- <?page no="212"?> 212 ästhetisch betrachtet wird, an die ursprüngliche Schöpfung. Herder übersetzt den Schöpfungsbericht, der für ihn keine Erzählung über die Urgeschichte, sondern direkter Niederschlag der Urgeschichte darstellt, in eine bildliche Struktur und ordnet die einzelnen Bilder in logischer Folge sowie einer dem Gedächtnis einprägsamen Form räumlich an. Derart fungiert die Morgenröte als Lehrmethode Gottes, durch die dem Menschen die Schöpfung, die in sinnlicher Anschauung verifizierte Wahrheit, erfahrbar wird. Als Naturdichtung des präsenten Bildes stellt die Schöpfungshieroglyphe den Ursprung aller Zeichen, das Universal aller Bildungskräfte dar: „Ich führe also nur noch Eins an: daß auch die Tagewerke, die allein stehen, und also gleichsam Epoden werden, auch an sich selbst einen Parallelismus bekommen. Das erste, die finstre Erdeund das Licht: das vierte das große und kleine Licht des Tages und der Nacht: das siebende Ruhe und Heiligung des Sabbats. […] Finsternis und Licht: Sonne und Mond: Ruhe und Sabbat: da ist der Grund der Zusammenordnung, das Maß der Verhältnis gegen einander: sinnlicher dichterischer Parallelismus des Orients. Und endlich selbst der Schluß jedes Tagewerks ist nicht ohne diese Symmetrie, die also vom Großen bis zum Kleinsten herrschet. ‚Da ward der Abend, da ward der Morgen: Tag der erste, der zweite’ so singet uns die Schlußkadenz jedesmal den Tag zu Ende; […] man tritt in den rechten Gesichtspunkt, und die verzognen Züge verkürzen sich, die zerstreuten Linien rücken zusammen, das hingeworfne hebet sich auf; es wird vor unsern Augen Zweck, Plan, Ordnung, Verhältnis: vortreffliche uralte Weisheit, und Schönheit - das ist die Urkunde der Schöpfung. Hier ist also ihr einfacher, dichterischer Grundriß von sinnlichen Ideen: lierung auf Herder bezieht, wird durch die Aussage des Erzähler-Ichs bestärkt, es habe während „der ganzen Vorlesung an Herder gedacht“ (I/ 5, 449). <?page no="213"?> 213 1. Himmel und Erde Finsternis und Licht Abend und Morgen 2. 3. Wasser über und unter Wasser und Trocknes Feste des Himmels Feste der Erde Abend und Morgen Abend und Morgen 4. Lichter am Himmel Sonne und Mond Abend und Morgen 5. 6. Geschöpfe in Wasser und Luft Tiere der Erden Fische und Vögel Vieh und Menschen Segen Segen Abend und Morgen Abend und Morgen 7. Vollendung Ruhe Sabbat“ (Herder: Älteste Urkunde, S. 46f.) Herder macht die Hieroglyphenweisheit, die uns Menschen in der mosaischen Urkunde überliefert und da in der Form eines poetisch strukturierten Denkbildes offenbar wird, als sinnlich-poetische Selbstmitteilung Gottes vorstellig. Er zeichnet ein göttliches Lehrbild der Schöpfung, in dem Natur und Poesie dem gleichen Bildungsgesetz unterworfen sind. 494 Die poetischlehrende, unmittelbar sinnliche Art und Weise, in der Gott als Dichter seiner Schöpfung auftritt, möge als Vorbild für alle Schaffensprozesse des menschlichen Geistes fungieren. Herder, so lässt sich zusammenfassend festhalten, versteht die Hieroglyphe als „Bedingung [der] Möglichkeit“ „jeder Schrift“, 495 des Schreibens überhaupt, und fordert alle Dichter dazu auf, seine „Schöpfungshieroglyphe“, ihre „Produktivität, naturhafte Ordnung, Vollständigkeit [und] Menschenbildung[,] in [ihren] […] Texten strukturierend umzusetzen“, sie zum „Muster“ all ihrer „kreativen Prozesse[]“ zu nehmen. 496 Nach Ansicht der Verfasserin ist es Jean Paul im Logen-Text gelungen, Herders Hieroglyphe zu schreiben. Wie Herders Denkbild teilt sich Jean Pauls Text seinen Lesern 494 Simon liest die Schöpfungshieroglyphe als „memoria-Figur“ und hebt in seiner Analyse deren literarisch-poetisches Moment hervor (Simon: GdI, S. 80, 99). Er macht deutlich, dass Herders Hieroglyphe als sekundäre Kodierung eine poetologische Lektüre verlangt (Simon: GdI, S. 72-110). 495 Gaier: Vielversprechende Hieroglyphen, S. 188. 496 Alle: Gaier: Vielversprechende Hieroglyphen, S. 188f. <?page no="214"?> 214 „nicht semantisch mit[], sondern durch den Gedanken- und Vorstellungsvollzug“, 497 durch seine Schrift, durch den ihm eigenen Schreibstil. Es wurde in obigen Ausführungen mehrfach gezeigt, dass der Logen-Text Bedeutung nicht in einer Art und Weise generiert, die den Lesern von anderen Texten her bekannt ist, dass Jean Pauls Wort-, Metaphern- und Gleichnisgebrauch vielmehr als Teil einer Sprachverwendung zu lesen ist, die Sinn unkonventionell, in polyvalenten, synchron wirksam werdenden Rastern, mit anderen Worten ikonisch, hervorbringt. Wie gezeigt, ist Jean Pauls „Art zu erzählen“ „magisch[]“. 498 Die Magie von Jean Pauls Poesie umschreibt der Kunsthistoriker Aby Warburg, indem er angibt, Jean Paul biete ihm das „Vorstellungsmuster“ dafür, wie der „Distanzgewinn“, 499 den die „Logik, die den D e n k r a u m - zwischen Mensch und Objekt - durch begrifflich s o n d e r n d e B e z e i c h n u n g s c h a fft , [mit] Magie, die eben diesen D e n k r a u m durch […] ideelle oder praktische […] V e r k n ü p f u n g von Mensch und Objekt wieder z e r s t ö rt “, 500 aufgehoben werden könne. Indem Jean Paul den Text als Schrift-Bild vorstellig macht, das ganzheitlich und unmittelbar zu seinen Lesern zu sprechen versteht und sie das Göttlich-Urwahre erahnen lässt, entfaltet er diejenige Wirkung auf seine Leser, die Herder sich wünscht, dass poetische Texte, denen seine Schöpfungshieroglyphe ordnend zugrunde liegt, auf ihre Leser haben. 497 Gaier: Vielversprechende Hieroglyphen, S. 189. 498 Bergengruen: Hohlspiegel, S. 36. 499 Beide: Hofmann: Anhaltspunkte, S. 285, Hervorhebung SB. 500 Aby Warburg: Reformation, Magie und Astrologie, S. 491, Hervorhebungen (kursiv) SB. <?page no="215"?> 215 5 Epilog Aus den Ausführungen in vorliegender Arbeit erhellt, dass Jean Pauls Romanerstling ebenso wie seine Satirentexte Produkte eines von ikonischem Denken gesteuerten Schreibens darstellen. Die bildlogische Organisation der Satiren - dies ist anhand der Close-readings deutlich geworden - basiert auf der Arretierung des Handlungsverlaufs, auf dem strukturell bedingten Tod der satirischen Narration. Zugleich werden die Bilder der auf der vertikalen Textebene inszenierten Bilderflut durch ein Verschluckungswie ein Vergessensverfahren sogleich nach ihrem Aufblitzen wieder durchgestrichen. In der Unsichtbaren Loge ist die Textamplificatio ikonisch gesteuert: Die Leseeinheiten des Romantextes, welche in ihrem Kontext nur dürftig verankert sind, fügen sich im Textraum zu dynamischen Sinngeflechten zusammen (s. Anhang Graphik 5, S. 225). Die Botschaft des Textes faltet sich folglich nicht entlang von linear organisierten Ursache-Wirkung-Relationen auf, sondern ergibt sich aus der Überblendung mehrerer, im Textraum verteilter Sinnartikulationen. Wie deutlich geworden ist, wird der Leser aufgefordert, den Text, den er über die sukzessiv vermittelte, rudimentäre Fabel nicht ausreichend zu erschliessen vermag, zusätzlich „mosaikartig[]“ 501 zu verstehen, da die Leseeinheiten „paragrammatisch[]“ 502 konzipiert sind. Der Text besteht, so vermochte die Verfasserin anhand von Julia Kristevas Theorie der Semiologie der Paragramme zu erläutern, aus simultan koexistierenden, dynamisch aufeinander bezogenen Graphismen, aus „literarischen Bilde[rn]“. 503 Die Romanbilder fungieren, eingebettet in ein dreidimensionales Ideennetz, stets als Basis multipler Anschlussbilder, wobei sie selbst zugleich Anschlussbild für mehrere Vor-Bilder darstellen. Im Logen-Text wird folglich Sinn generiert, indem Leseeinheiten nach ihrer lektürebedingten syntagmatischen Auffaltung als Elemente eines multidirektional angelegten, polyvalenten Beziehungsgeflechtes lesbar werden, in dem sie potentiell alle zugleich gelten. Die Ro-manbilder folgen einer Logik des vernetzten Kreisschlusses: Leseeinheiten treten über Textebenen hinweg unmittelbar zueinander in Beziehung und werden simultan aktualisiert. Indem der Text also Bedeutung über Strukturen der ikonischen Rekursivität zum Ausdruck bringt, realisiert er, was Gottfried Boehm als Spezifikum für ikonische Sinnmitteilungen moderner Kunst-Bilder definiert; nämlich, dass Bedeutung in bildlichen Darstellungen im Modus des ‚Zugleich’ exponiert wird, dass die vielen Verbindungen, welche die Bildelemente in alle Richtungen einge- 501 Marschall Mc Luhan: Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters, S. 269. 502 Kristeva: Paragramm, S. 164. 503 Kristeva: Paragramm, S. 174. <?page no="216"?> 216 hen, simultan wirksam werden. 504 Wie die „visuelle Logik der Fläche“ in Bildern ist der über eine rekursive, hyperlineare Logik organisierte Logen- Text „mehrwertig“. 505 Im literarischen Bild kommt der mehrfach bestimmte Sinn, das sich über divers verknüpfte Sinnelemente zu einem potentiellen Sinngefüge zusammenfindende anti-lineare Modell dieses poetischen Textes zum Ausdruck. Jean Pauls Satiren und vor allem seinem Romanerstling muss ausserdem ein höherer Grad an Geordnetheit zugestanden werden, als es die Forschung bisher getan hat. Einerseits wird in der Analyse der Einfältigen aber gutgemeinten Biographie einer neuen angenehmen Frau von bloßem Holz Jean Pauls textuelle Umsetzung, seine satirische Übersetzung von zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskursen am Beispiel von Descartes’ Theorie des Substanzendualismus nachgezeichnet. Dabei wird der Schluss nahe gelegt, dass Jean Pauls textuelle Anverwandlung, seine subjektive Auslegung wissenschaftlicher Theoreme weder wahllos noch wirr, sondern gezielt, umfassend und detailliert erfolgt. Es gilt in den satirischen Gleichnisketten Stamm-Geistesblitze, welche explizit oder implizit auf den in der jeweiligen Satire verhandelten wissenschaftshistorischen Erörterungen basieren, von denjenigen gelehrt-witzigen Einfällen zu unterscheiden, für welche die Stamm-Geistesblitze den Ausgangspunkt bilden. Je weiter sich die Einfälle vom Stamm des Gleichnis-Baumes entfernen, je weiter aussen auf dessen Ästen sie sich befinden, desto assoziativer schliessen sie an ihr Vorgänger-Bild an, desto mehr verflüchtigt sich ihr Bezug zum Haupttopos. Jean Pauls so genannt assoziative Aneinanderreihung witziger Einfälle stellt sich in ihrer Anlage folglich als kontrolliert willkürliche dar. Andererseits erweisen sich die paragrammatisch organisierten Textelemente, welche den Logen-Text ausmachen, als Expansionen eines im Inhaltsverzeichnis des Textes angelegten Kodes: Hinter den Kapitelüberschriften liegt das christliche Kirchenjahr verborgen. Indem Jean Paul das Kirchenjahr mit Michaelis und nicht wie traditionell üblich mit dem Advent beginnen lässt, gewichtet er die Thematik um Christi Auferstehung stärker als diejenige um dessen Geburt. Dieses im Inhaltsverzeichnis kodierte österliche Gedankengut liegt allen Ebenen des Textes als konstitutives Gerüst zugrunde: Auf der thematisch-inhaltlichen Ebene differenziert sich der Auferstehungsgedanke in Gustavs ‚Auferstehung’, Ottomars Scheintoderlebnis sowie Amandus’ Bestattung in einer Pyramide aus. Auf der motivischen Ebene wird der Kode (‚den Tod überdauern’) anhand einer den Motiven inhärenten Doppelwertigkeit ersichtlich: Mit ihrer Nennung verweisen diese doppeldeutigen Einheiten, beispielsweise die zu einem Motivverbund zusammengeschlossenen Motive „unsichtbar“, „unsagbar“, „unhörbar“, auf beide Bereiche, auf den (diesseitigen) Tod wie auf 504 Boehm: Hermeneutik, S. 461. 505 Boehm: Sehen, S. 63. <?page no="217"?> 217 das (jenseitige) Leben. Schliesslich werden das Lexikon und die Syntax in Jean Pauls Romanerstling in einer Art und Weise eingesetzt, die über ihre konventionelle Verwendung hinausgeht: Indem im Logen-Text die Bedeutung von Worten erst im Moment ihres Genanntwerdens generiert wird (Beispiel: „Druckwerk“), indem Worte je nach Kontext, in dem sie auftreten, mit unterschiedlichen Bedeutungen aufgeladen werden (Beispiel: „(von) Ton“) und indem in der Schwebe gelassen wird, welche von mehreren möglichen Bedeutungen eines Wortes oder einer Wendung im Moment ihres Auftretens zu aktualisieren ist (Beispiel: „an einem Ort nichts zu suchen haben“), werden bislang gültige lexikalische Sinngrenzen überschritten. In ähnlicher Art und Weise werden grammatikalisch-syntaktische Konventionen ausgereizt, wenn Satzteile mehreren Sätzen angehören können (Beispiel: „Nämlich Beata“) oder am Ort ihres Auftretens doppeldeutig in Erscheinung treten (Beispiel: „wie er“). Das polyvalente Bezugssystem Logen-Text, in welchem die literarischen Bilder, diese dynamischen, paragrammatischen Textelemente, untereinander Ebenen übergreifende Verknüpfungen eingehen, deren hyperlineare Bindung stärker ist als ihr linearer, syntagmatischer Zusammenhalt, sprengt das Gutenbergmedium. Die formale Einheit Buch wird strukturellhistorisch transzendiert. Jean Pauls Sprachgebrauch ist Ausdruck seines Bestrebens, mit seiner Poesie Bedeutung rein und unvermittelt stiften zu können. Der These der Verfasserin zufolge gestaltet er seinen Text zu diesem Zweck auf jeder Ebene ‚bildgleich’: Durch die ikonische Beschaffenheit seines poetischen Bedeutens wird der Logen-Text als Schrift-Bild, als Hieroglyphe, vorstellig. In seinem hieroglyphischen Schreiben bringt Jean Paul die zeitgenössische Auffassung der Hieroglyphen als göttliche Bildersprache mit Herders Theorie der Schöpfungshieroglyphe zusammen. Es gelingt ihm, seinen Text zu einem unvermittelten sowie ursprünglichen Schriftzug zu formen, dessen Lektüre seine Leser dazu befähigt, das Göttlich-Urwahre zu erahnen. Anhand der hier vorgeschlagenen ikonisch-analytischen Herangehensweise an Jean Pauls komplexe literarischen Texterzeugnisse wird deutlich, dass die der biographischen Mythe geschuldete These, seine Satiren und sein Romanwerk seien als zwei, durch einen Bruch, eine Todesvision, voneinander getrennte Werkepochen zu betrachten, verabschiedet werden muss. Indem die Verfasserin den Fokus ihrer Analysen auf die konzeptionellen Übereinstimmungen der beiden Textgattungen gelegt hat, ohne die erwiesenermassen bestehenden Differenzen zwischen ihnen ausser Acht zu lassen, ist es ihr gelungen, den Prozess nachzuzeichnen, wie aus lediglich kurzzeitig präsenten, isoliert aneinander gereihten satirischen Bildern ein Romanbildkomplex entsteht, in welchem dreidimensional vernetzte, zugleich aktualisierte Romanbilder einander überlagern - wie mit anderen <?page no="218"?> 218 Worten dem Beerdingungsritual der Satirenbilderwelten das Auferstehungsritual des ikonischen Schreibens folgt. <?page no="219"?> 6 Anhang <?page no="221"?> Graphik 1: (i) Linearer Textverlauf vs. (ii) Vernetzte Kreisschlüsse (I) 221 <?page no="222"?> Graphik 2: Vernetzte Kreisschlüsse (II) <?page no="223"?> Graphik 3: Vernetzte Kreisschlüsse (III) 223 <?page no="224"?> Graphik 4: Der Logen -Text als dreidimensionales Netz von paragrammatisch geordneten Verweisspuren <?page no="225"?> Graphik 5: (i) Der Logen -Text: dreidimensionales Ideennetz, ikonische Rekursivität, multipler Vor- und Rückfall in Bilder (ii) Die Satirentexte: Verschluckungslogik, Vergessenslogik, sogleich wieder durchgestrichene Bilder 22 5 <?page no="226"?> Mit vorgefundenen ebenso wie mit erfundenen Hieroglyphen bemalte Mumien. Aus Athanasius Kirchers Sphinx mystagoga sive diatribe hieroglyphica de mumiis, S. 16. 226 <?page no="227"?> 227 Mit vorgefundenen ebenso wie mit erfundenen Hieroglyphen bemalte Tempelwände. Aus Athanasius Kirchers Sphinx mystagoga sive diatribe hieroglyphica de mumiis, S. 30. <?page no="228"?> 228 In Kolumnen aufgeführte Hieroglyphen, die Kircher nebenstehend interpretiert. Aus Athanasius Kirchers Sphinx mystagoga sive diatribe hieroglyphica de mumiis, S. 49. <?page no="229"?> 229 Extrahierte Hieroglyphen, deren ‚Bedeutung’ Kircher anhand seiner Interpretation ihrer Form mitliefert. Aus Athanasius Kirchers Sphinx mystagoga sive diatribe hieroglyphica de mumiis, S. 53, 56, 67. (S. 53) (S. 56) (S. 67) <?page no="230"?> 230 7 Siglen ÄgypLex Wolfgang Helck, Eberhard Otto (Hgg.): Lexikon der Ägyptologie. Wiesbaden 1975. ÄgypMyth Georg Hart (Hg.): Ägyptische Mythen. Übers. von Xenia Engel. Stuttgart 1993. Arenafresken Max Imdahl: Giotto. Arenafresken. Ikonographie, Ikonologie, Ikonik. 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Stefan Bronner Vom taumelnden Ich zum wahren Übermenschen Das abgründige Subjekt in Christian Krachts Romanen Faserland, 1979 und Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten 2012, XII, 405 Seiten €[D] 59,00/ SFr 73,90 ISBN 978-3-7720-8461-4 Die Arbeit beschäftigt sich mit Christian Krachts Prosatrilogie Faserland (1995), 1979 (2001) und Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008) aus der Perspektive zeitgenössischer Subjektphilosophie. Stefan Bronner zeigt, wie das Subjekt in Krachts Romanen auf den Prüfstand gehoben wird, sich zunehmend dem diagnostischen Blick entzieht, ja verschwindet und dadurch den Betrachter in seiner Sinn- und Ich-Suche auf sich selbst zurückweist. Dieses subjektphilosophisch grundlegende Problem lässt sich ausgezeichnet an Krachts Romantrilogie erörtern, die in einer schrittweisen Steigerung steigernd angelegt ist und, mit dem Schluss von Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten , in eine ethisch-poetische Rede mündet, die das Subjekt ganz in sich aufgenommen hat. <?page no="252"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de NEUERSCHEINUNG FEBRUAR 2012 JETZT BESTELLEN! Dieter Arendt Märchen-Novellen oder Das Ende der romantischen Märchen-Träume 2012, 160 Seiten €[D] 19,99/ SFr 28,90 ISBN 978-3-7720-8444-7 Novelle und Märchen sind in ihrer spezifischen Erscheinungsform klar umrissen und hinreichend erläutert. Dass die Verkoppelung von faszinierendem Märchenwunder und novellistischem Ereignis die vermeintlich klaren Gattungsgrenzen jedoch nicht selten aufweicht, ist in der Forschung bislang weitgehend ausgeklammert und die kontrastive Misch-Gattung wenig treffend als „Kunstmärchen“ bezeichnet worden. Das vorliegende Buch will eine seit Langem bestehende Lücke in der deutschen Gattungsgeschichte schließen und den nahe liegenden Begriff der Märchen-Novelle etablieren. Dazu werden exemplarisch bekannte und weniger bekannte Novellen vorgestellt und analysiert: von Novalis’ „Hyazinth und Rosenblütchen“, über Ludwig Tiecks „Der Runenberg“, Wilhelm Hauffs „Das kalte Herz“ und Franz Kafkas „Die Verwandlung“ bis hin zu Peter Rühmkorfs „Auf Wiedersehen in Kenilworth“.