Umbruch und Identitätszerfall
Narrative Jugoslawiens im europäischen Kontext
0912
2012
978-3-7720-5466-2
978-3-7720-8466-9
A. Francke Verlag
Emilija Mancic
Dem vorliegenden Werk liegt die Auffassung zugrunde, dass Fragen von Kultur, Identität und Geschichte als wechselseitige Entwicklungs- und Konstruktionsmomente im transnationalen und transregionalen Zusammenhang begriffen werden können. Das Buch analysiert die deutsche Romantik als Anreger der europäischen Romantik und ihr Verhältnis zu den Identitätsnarrationen, die nach dem revolutionären Umbruch von 1789 ein spezifisches Identitätskonzept geformt haben, sowie dessen Rezeption und weitere spezifische Entwicklung in der Region des ehemaligen Jugoslawiens. Die Absicht der Autorin ist, die gemeinsamen Probleme in Bezug auf die Frage nach der Möglichkeit der Distribution von Zugehörigkeitsgefühlen und der Gestaltung von Diversitätskonzepten aus gegenwärtiger europäischer Sicht zu lozieren.
<?page no="0"?> K U L T U R - H E R R S C H A F T - D I F F E R E N Z 1 5 Emilija Manˇ cic´ Umbruch und Identitätszerfall Narrative Jugoslawiens im europäischen Kontext <?page no="1"?> KULTUR - HERRSCHAFT - DIFFERENZ Herausgegeben von Moritz Csáky, Wolfgang Müller-Funk und Klaus R. Scherpe Band 15 · 2012 <?page no="3"?> Umbruch und Identitätszerfall Narrative Jugoslawiens im europäischen Kontext von Emilija Manˇ cic´ <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Ursprüngl. Diss. Univ. Wien 2012 © 2012 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISSN 1862-2518 ISBN 978-3-7720-8466-9 Umschlagabbildung: Bogdan Bogdanovic, Partisanennekropole, kosmologischer Kreis, 1965, Mostar, Bosnien-Herzegowina; © Architekturzentrum Wien <?page no="5"?> Inhalt Einleitung........................................................................................................................... 7 I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung ....................15 I.1 Symbolisches Universum und Identifikation ............................................. 15 I.2 Entstehung nationaler und kultureller Identitätskonzepte und ihre Bedingungen ...................................................................................................... 19 I.3 Neudefintion des Kulturbegriffs in der Epoche der Aufklärung ........... 24 I.4 Die Narrative der deutschen Romantik im Spannungsfeld zwischen Universalismus und Partikularismus ........................................................... 28 I.5 Die frühromantische Suche nach Einheit und die spätromantische Versöhnung der Gegensätze in einem höheren Ganzen ......................... 33 I.6 Organizistische Konzepte des Staates und der Gemeinschaft in der Epoche der Romantik ...................................................................................... 40 I.7 Die Konstruktion des „Volkes“ und die identitätsstiftende Wirkung der Volkslieder in der mittleren Romantik ................................................. 44 I.8 Nation erzählen - Hermann und die Erzählung der deutschen Nation .... 50 II (Vor-)jugoslawische Nationenbildungen und romantische Identitätsnarrationen ..................................................................................... 57 II.1 Wechselwirkung zwischen Selbstrepräsentation und Fremdrepräsentation ....................................................................................... 57 II.2 Bildung nationaler und kultureller Identitäten im prä-jugoslawischen Raum .................................................................................................................... 60 II.3 Epen als Performanz des nationalen Narrativs ...........................................65 II.4 Narrative kultureller Integration ................................................................... 69 II.5 Sprache und Einheitsstiftung - zwischen sprachlicher Annäherung der Südslawen und dem Wunsch nach Eigenständigkeit ........................ 73 II.6 Vom Volkslied zur nationalen Kultur: Vuk Karadžić und sein Konzept der kulturellen Auslegung in Serbien .......................................... 79 II.7 Kosovo-Überlieferung und die Erzählung der serbischen Nation ........ 83 III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien ............................................................................ 91 III.1 Der selbstverwaltende Sozialismus in Jugoslawien und die jugoslawische Auslegung des kulturellen Pluralismus.............................. 91 III.2 Die Großerzählung und ihre identitätsstiftende Funktion ..................... 95 <?page no="6"?> Inhalt 6 III.3 Die Großerzählung von „Brüderlichkeit und Einigkeit“ ......................... 98 III.3.1 Erzählmuster von Partisanenfilmen und -romanen............................... 101 III.4 Tito-Narrative: Tito als symbolische Integrationsfigur ........................ 105 III.4.1 Tito als Personifikation des gemeinsamen Staates ................................. 107 III.5 Gegennarrative und ihre Relation zu Master Narrative: Exklusion als Bestandteil des Gründungsszenarios einer Gemeinschaft ............. 109 III.5.1 Zur Ambivalenz der Zugehörigkeit ........................................................... 113 III.5.2 Die Spannung zwischen dem Eigenen und dem Anderen ................... 118 III.6 Revision des beherrschenden Narrativs über Brüderlichkeit und Einigkeit und ihr Kontext ............................................................................. 123 IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung - zur Konstruktion der „wahren“ Identität und „alter“ und „neuer“ Unterschiede .................................................................................................. 129 IV.1 Literarische Texte und ihre zeitgeschichtlichen Kontexte - zur Legitimitätskrise Jugoslawiens und der Textualität von Geschichte . 129 IV.2 Historischer Roman und Stilisierung der Nation zur Opfergemeinschaft ................................................................................. 139 IV.3 Die Vergegenwärtigung des Vergangenen - Symbolische Re-Inszenierung ............................................................................................. 147 IV.3.1 Narrativ konstituierte Grenzerzählungen und Politisierung kultureller Unterschiede: Balkan und Europa ........................................ 154 IV.3.2 Die Wiederfindung des Balkans ................................................................. 157 IV.4 Der Balkan als Mittel diskursiver Gewalt ................................................. 159 IV.5 Die Wiederbelebung des Mythos der antemuralis christianitatis ....... 163 IV.6 Symbolisierung des Raumes als kulturelle Macht und Essenzialisierung der Kultur ................................................................ 165 IV.7 Differenz und Ambivalenz. Gegenentwürfe von positiven Balkanbildern ....................................................................... 168 IV.8 Jugoslawiens Nationenbildungen im Kontext der europäischen Identitätsnarrationen .................................................................................... 171 Schlussbetrachtung .................................................................................................... 177 Bibliographie ............................................................................................................... 183 Biographisches ............................................................................................................ 195 Danksagung................................................................................................................... 197 <?page no="7"?> Einleitung Ich hüte mich vor Verallgemeinerungen und behaupte nicht, daß es sich in allen zehntausend Dörfern unserer Provinz so verhält oder gar in allen fünfhundert Provinzen Chinas. Wohl aber darf ich vielleicht auf Grund der vielen Schriften, die ich über diesen Gegenstand gelesen habe, sowie auf Grund meiner eigenen Beobachtungen - besonders bei dem Mauerbau gab das Menschenmaterial dem Fühlenden Gelegenheit, durch die Seelen fast aller Provinzen zu reisen - auf Grund alles dessen darf ich vielleicht sagen, daß die Auffasung, die hinsichtlich des Kaisers herrscht, immer wieder und überall einen gewissen und gemeinsamen Grundzug mit der Auffassung in meiner Heimat zeigt. (...) Zwar ist sie in der Hauptsache von der Regierung verschuldet, die im ältesten Reich der Erde bis heute nicht imstande war oder dies über anderem vernachlässigte, die Institutionen des Kaisertums zu solcher Klarheit auszubilden, daß sie bis an die fernsten Grenzen des Reiches unmittelbar und unablässig wirke. Franz Kafka In einer Erzählung Franz Kafkas, die 1917 geschrieben, jedoch erst posthum veröffentlicht wurde, handelt es sich um den Bau der chinesischen Mauer. Der Mauerbau ist von besonderer Bedeutung, da er dem Einheitsgefühl des Volkes dient und gegen die Feinde im Norden schützen soll. Diese Erzählung setzt sich, wie oft bei Kafka, mit einer höhergestellten, alles bestimmenden Macht auseinander. In Beim Bau der Chinesischen Mauer ist es die Führerschaft, die niemand zu Gesicht bekommt, die im Hintergrund ihre Fäden zieht. Das Volk selbst weiß nicht, welcher Kaiser regiert, und nicht weniger Zweifel bestehen über den Namen der Dynastie. Paradox ist, dass die Mauer nach einem System des Teilbaus errichtet wird, denn auf diese Weise entstehen zahllose große Lücken. Eine Mauer, die nicht zusammenhängend gebaut ist, kann nicht schützen, und die Bedrohung durch die nördlichen Völker scheint also nicht real zu sein. Die Mauer wie auch der Kaiser entstehen aus der Vorstellungs- und Glaubenskraft der Menschen. Beim Bau der Chinesischen Mauer kann man als eine Erzählung von Gesellschaftsinstituierung im Allgemeinen deuten. Bei Kafka wird sie als ein imaginärer Akt vorgeführt. Wenn wir von einer nationalen Instituierung der Gesellschaft ausgehen, die ein historisches Phänomen der modernen Gesellschaft ist, kann solcher Mauerbau als Illustration der nationalen Konstituierung bzw. der Herausbildung nationaler Identität gedeutet werden. Die Nation selbst weckt das Begehren nach dem Staat - wie bei Kafka die Mauer das Begehren nach dem Kaiser konstituiert. Die Gründungsmacht beim Prozess der nationalen Instituierung stellt kulturelle Identität her. Es handelt sich um <?page no="8"?> Einleitung 8 eine spezifische Form der Selbstrepräsentation, die die jeweilige Gesellschaft als eigenes und somit authentisches bzw. einmaliges Selbstbild wiedererkennt. Mauer und Nation sind Objekte der Vorstellungs- und Glaubenskraft der Menschen - trotzdem sind sie als reale historische Gegebenheiten (also nicht als Natürlichkeiten) präsent und wirkungsvoll. Vorliegende Untersuchung befasst sich mit der Rekonstruktion und Revision eines breiten Komplexes von Vorstellungen, Denkformen, Werten und Bedeutungen, die die Identitätsstiftungs- und -findungsprozesse einer Gesellschaft in verschiedenen Epochen prägen. Sie werden als die gesellschaftlichen imaginären Bedeutungen - kulturelle Grundorientierungen, gesellschaftliche Selbst- und Weltbilder aufgeffast - und diese „verkörpern“ sich in den Institutionen. Cornelius Castoriadis zufolge werden die Institutionen von Individuen geschaffen und sie wiederum schaffen die Individuen. 1 Der Zugang zu diesen Themen wird ausschließlich über die Ebene des Imaginären und des Symbolischen gewährt. Den Begriff des Imaginären hat Wolfgang Iser mit seinem Werk Das Fiktive und das Imaginäre 2 in der Literaturwissenschaft prominent gemacht. Er zeigt historisch wie systematisch auf, dass das Fiktive und das Imaginäre die Konstitutionsbedingungen von Literatur sind. Charles Taylor und Cornelius Castoriadis halten das Imaginäre für Konstitutionsbedingungen von Gesellschaft und ihren Institutionen. Im Fokus der vorliegenden Arbeit stehen die Konzepte der imaginativen Darstellung von nationalen und kulturellen Identitäten und ihre narrative (De-)Konstruktion in der (post-)jugoslawischen Region. Ich habe die folgenden drei Zentralenfragen in der Untersuchung verfolgt: 1. Wann und wie ist die Kultur zum zentralen Ort der nationalen Selbstauslegung geworden und zum Maßstab für politische Legitimation einer modernen europäischen Gesellschaft? 2. Wie konstruieren die kulturellen Identitäten die nationalen Identitäten? 3. In welchem Verhältnis stehen Homogentität und Differenz in den Identitätskonzepten im ehemaligen Jugoslawien mit Akzent auf Serbien, Kroatien und Slovenien in zwei verschiedenen historischen Phasen? Da die Untersuchung diachron und synchron angelegt ist und die verschiedenen kulturellen, sozialen und politischen Kontexte zum Gegenstand hat, wird der Anfang der Moderne in Europa als übernationales Phänomen als tertium comparationis genommen. In der Arbeit werden vom aktuellen Standpunkt aus die Epochen der Aufklärung und Romantik bzw. ein breiterer sozialer, politischer und kultureller Kontext in Europa, in dem Kultur zum zentralen Ort der nationalen Selbstauslegung wurde, wieder aufgegriffen. Die deutsche Romantik als Anreger der europäischen Romantik und ihr Verhält- 1 Vgl. Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. 2 Vgl. Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. <?page no="9"?> Einleitung 9 nis zu den Identitätsnarrationen, die nach dem revolutionären Umbruch von 1789 ein spezifisches Identitätskonzept geformt haben, sowie dessen Rezeption und weitere spezifische Entwicklung in der Region des ehemaligen Jugoslawiens werden analysiert. Der Akzent liegt dabei nicht auf der Einflussforschung, sondern auf einem kontrastiven bzw. typologischen Vergleich, der Analogien in den Vordergrund stellt. Die Absicht ist, die gemeinsamen Probleme in Bezug auf die Frage nach der Möglichkeit der Distribution von Zugehörigkeitsgefühlen und der Gestaltung von Diversitätskonzepten aus gegenwärtiger europäischer Sicht einzuordnen. Die Epochenmerkmale sind selten einheitlich und gelten nicht für die gesamte Epoche gleich verbindlich. Da auch klare Grenzen zwischen den verschiedenen Epochen schwierig zu ziehen sind, habe ich mich auf kultur- und literaturhistorische, politische und philosophische Diskursstränge begrenzt, die im Zusammenhang mit der Entwicklung von Nationen, Nationalstaaten und entsprechenden Nationalkulturen bzw. nationalen und kulturellen Identitätskonzepten in Europa stehen. Nach der Französischen Revolution entstand der Bedarf an einem neuen Interpretationsrahmen in der Gesellschaft, zumal entscheidende oder plötzlich eintretende politische, soziale und kulturelle Veränderungen generell Sinndefizite verursachen: Die Frage nach dem Selbstverständnis einer Gesellschaft wird neu gestellt und ihre Beantwortung ist darauf gerichtet, das zukünftige Handeln und eine neue Deutung des vergangenen Verhaltens sicherzustellen. In der Epoche der Aufklärung entstand eine narrativ konstituierte Großerzählung, die „die europäische Identität” mit „europäischer Kultur” bzw. Zivilisation gleichsetzt. So hat der Universalismus einen eigenen Körper bekommen, der wiederum partikular war, da damit die Kultur einiger westeuropäischer Länder gemeint war. Die Entwicklung der „europäischen Kultur” wurde in die Geschichte der Menschheit eingebettet und bot eine gute Gelegenheit, „Europas” Überlegenheit im Kulturvergleich auszuweisen. Gleichzeitig konnte man durch Vergleich die eigene Kultur als den anderen europäischen Ländern gegenüber überlegen darstellen. Das Verhältnis zwischen dem Universalen und Partikularen ist jedoch asymmetrisch und von Macht geformt. Weil im Deutschland dieser Zeit die revolutionäre Herausbildung einer politischen Identität nicht auf dieselbe Art und Weise wie in Frankreich möglich war, wurde die Schaffung einer eigenen Kultur zum Hauptidentifikationsmerkmal. Die Frühromantiker waren jedoch um die Verbindung einer universalistischen mit einer individualistischen Perspektive bemüht. Nach den Eroberungskriegen Napoleons und der Restauration 1815 wurde der Weg für einen theologisch gestützten Universalismus geebnet, aber auch für die homogenisierten, gemeinschaftsradikalen Identitätskonzepte. So entstand eine romantische Gegenerzählung, die besagt, dass sich im Partikularen das Universale offenbart und nicht umgekehrt. Kultur ist zu dieser Zeit zugleich als Quelle des Universalismus sowie der <?page no="10"?> Einleitung 10 Partikularität verstanden worden, und so sind die Kulturen, wie Ernest Gellner schreibt „die natürlichen Lagerstätten der politischen Legitimation” 3 geworden. Die Essenz des Begriffs Nation besteht für Gellner gerade in der Kongruenz von politischem und kulturellem Prinzip. Einige dieser Identifikationslinien haben im vorjugoslawischen Raum einen entscheidenden Einfluss auf die eigenen nationalen und kulturellen Identitätskonzepte ausgeübt. Hier handelt es sich im Unterschied zu Deutschland um einen Nationenbildungsprozess, der mit Sezessionen von supranationalen Großmonarchien verbunden war. Dabei haben die Identifikationsfelder, in denen sich die nationale Selbstauslegung vollzog eine doppelte Funktion gehabt, da sie gleichzeitig für die Herausbildung einzelner Nationen sowie einen integrativen Jugoslawismus dienten. Meine Ausgangsprämisse lautet, dass der Wendepunkt des Jahres 1989 durch eine Dialektik von Bruch und Kontinuität gekennzeichent ist. In Folge der gesellschaftlichen Veränderungen sollten die bestehenden Identitätskozepte reevaluiert werden - hier konkret in Serbien, Kroatien und Slovenien. Wie es Zygmunt Bauman angedeutet hat: Es gibt keinen sauberen Bruch und keine unzweideutige Abfolge, sodass Entwicklung, Bruch und Kontinuität in systematische Zusammenhänge gebracht werden müssen, wenn man sich mit den Ereignissen nach 1989 in Europa auseinandersetzen möchte. Eine symbolische Re-Nationalisierung und die Konstruktion der „wahren“ Identität sowie „alter“ und „neuer“ Unterschiede im ehemaligen Jugoslawien 4 , besonders nach dem Zerfall des Staates 1989, weist auf die Wiederkehr ähnlicher Grundkonstellationen wie an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert hin. Die Dualität und der Widerspruch zwischen Universalismus und Partikularität, Kosmopolitismus und Nationalismus, Vergangenheit und Zukunft, die für die Zeit der Romantik kennzeichnend waren, sind nach dem Zusammenbruch des europäischen Sozialismus erneut in Europa aktuell geworden. Der Krisendiskurs wird deswegen in dieser Arbeit mit der Frage der Reformulierung von kollektiven Identitäten verbunden. Moderne Identität steht zwischen widersprüchlichen Anforderungen, da sie eine flexible und formbare Kategorie darstellt; gleichzeitig muss aber Identität eine mindestens zeitweise stabile Form erhalten, damit Gesellschaft möglich ist. Und genau diese Problematik stand im Mittelpunkt der romantischen Suche nach verbindlichen Identitätsmustern und soll in dieser Arbeit aus der gegenwärtigen Perspektive wieder thematisiert werden. 3 Ernest Gellner: Nationalismus und Moderne. Berlin: Rotbuch 1991, S. 86. 4 Im Projekt werden Beispiele aus Serbien, Kroatien und Slowenien behandelt, da diese drei Völkergruppen schon bei der Gründung des ersten Jugoslawiens bzw. des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen 1918 als die ersten drei konstitutiven Völker des neuen Staates galten. <?page no="11"?> Einleitung 11 Zum methodisch-theoretischen Rahmen der Arbeit Da in einer kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft der Paradigmenwechsel von Geist zu Kultur im Fokus steht, erlangt in dieser Arbeit der Kulturbegriff eine Schlüsselbedeutung. Für die Definition der Kultur sind die theoretischen Arbeiten von Wolfgang Müller-Funk von Bedeutung - Kultur ist ein Bündel von Erzählungen, ein Ensemble von Narrativen 5 . Dazu kommen die theoretischen Arbeiten aus der Kutursoziologie in Anlehnung an die Kultursoziologe von Andreas Reckwitz und seine theoretischen Arbeiten zu verschiedenen Auffassungen von ‚Kultur’ Reckwitz unterscheidet 1. den normativen, 2. totalitätsorientierten, 3. differenzierungstheoretischen und schließlich 4. den bedeutungs- und wissensorientierten Kulturbegriff. 6 Die durchgehende Formatierungsfolie für die Analyse sind die Kulturkonzepte, die in der Zeit der Aufklärung (das normative Kulturkonzept) und der Romantik (das naturalisierende) entstanden sind. Der Kontext (Intitiativkolleg - Kulturen der Differenz), in dem diese Arbeit entstanden ist, verlangte den Dialog verschiedener Disziplinen. Ich musste Literaturwissenschaft in einem zusammenwirkenden Verhältnis mit anderen Disziplinen (geistes- und sozialwissenschaftlichen) betrachten. Da es in dieser Arbeit um die Rekonstruktion und Revision der soziokulturellen Mentalität bezogen auf den Diskurs des Nationalen in zwei Epochen geht, musste ich erstens meine Themenfelder und mein Erkenntnisinteresse ausweiten und zweitens war der Wechsel der methodisch-theoretischen Prämissen und Ansätze der herkömmlichen Literaturwissenschaft notwendig. Der Prozess der Selbst-Instituierung als ein imaginärer Akt der Gesellschaftsinstituierung (im Fokus der Arbeit) weist selbst eine heterogene Struktur auf, da er mit einer Reihe von Symbolen, Narrativen und rituellen Praktiken einhergeht. Deswegen war es wichtig, eine konsistente Methodik zu entwickeln, um sie nicht nur an den literarischen Texten, sondern den Ansätzen und Denkweisen anderer Disziplinen in einer literatur- und kulturwissenschaftlich orientierten Arbeit anwenden zu können. Um es metaphorisch mit Kafka auszudrücken, wollte ich die Führerschaft, die niemand zu Gesicht bekommt und die im Hintergrund ihre Fäden zieht, explizieren und bildhaft machen. Mich hat die Verselbständigung der instituierten Bedeutungen, deren Prädominanz über die sie instituierende Gesellschaft interessiert. Als zweite Folge bin ich nicht vom literarischen Werk-, sondern vom Kulturbegriff ausgegangen. Deswegen findet man in der Arbeit nicht die Textinterpretationen, die mit dem Denkansatz der Rezeptionsästhetik in Verbindung stehen. Der Gesamtbereich kultureller Kommunikation und kulturellen 5 Vgl. Wolfgang Müller-Funk: Die Kultur und Ihre Narrative. Eine Einführung. 2 Aufl. Wien, New York: Springer 2008. 6 Vgl. Andreas Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogrammes. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2000. <?page no="12"?> Einleitung 12 Handels bezogen auf die imaginative Identitätsbildung wird als Text verstanden und mit einer in erster Linie literaturwissenschaftlichen Methode der postklassischen Narratologie analysiert. Diese Methode mit ihren Fragestellungen war für die Komplexität von Thema und Problemlösung mehr geeignet. Der Textbegriff wird entsprechend ausgeweitet - der literarische Text wird fast wie alle anderen Textsorten (Dokumente, nicht-fiktionale Schriften, Zeitungs- und Zeitschriftartikel, Filme, kulturelle Praktiken wie Jubiläen, Feiertage) behandelt. Der literarische Text steht in Wechselwirkung mit dem kulturellen Kontext. Er lässt sich m.E. erst aus dem Gesamtkomplex von Texten entschlüsseln. Literatur und literarische Werke werden so als kulturelle Dokumente aufgefasst. Die literaturwissenschaftliche Methode der postklassischen Narratologie musste ich dementsprechend - wo es die Problemlösung verlangte - um die Ansätze der Diskursanalyse (Michel Foucault) und der sozialphilosophischen Theorie des sozialen Imaginären (Charles Taylor und Cornelius Castoriadis) erweitern. Die Fragestellungen anderer Disziplinen werden mit diesem Instrumentarium angegangen, worin der innovative Wert dieser Arbeit bestehen mag. Die Kriterien für die Auswahl literarischer Texte in der Arbeit waren deren thematische Relevanz, die (literar-)historische und kulturelle Bedeutung der Texte in ihrer jeweiligen Umgebung, die sich in ihrer Anbindung an aktuelle Fragen zeigt, sowie die Rolle und Position ihrer Autoren in Politik und Medien. Zur Struktur der Arbeit Die Arbeit gliedert sich in 4 Teile. In allen Kapiteln wird der Instituierungsprozess als eine neue Gruppierung des sozialen Imaginären behandelt. Im ersten Kapitel habe ich vor dem Hintergrund der zwei führenden Kulturkonzepte der Moderne die Vorstellungen und Werte erforscht, die den Identitätsfindungsprozess vor allem in Deutschland in der Zeit der Romantik bzw. in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geprägt haben. So habe ich verschiedene Narrative herausgefiltert - und die für die Identitätsbildung entscheidende Zusammenwirkung von Elementen der Homogenität und Differenz besonders fokussiert. Die Verbindung einer universalistischen mit einer individualistischen Perspektive (Herder, Novalis, Friedrich Schlegel) hat mich folglich besonders interessiert. Das zweite Kapitel verfolgt vor allem folgende Fragen: 1. Wie konstruieren die kulturellen Identitäten die nationalen Identitäten? 2. In welchem Verhältnis stehen Homogentität und Differenz im sog. romantischen Identitätskonzept im vorjugoslawischen Raum bzw. in Serbien, Kroatien und Slovenien in der ersten Hälfte des 19. Jh.? Daraus ergab sich die Frage: Worauf beruht die imaginäre Wahrnehmung der Homogenität und Differenz (Einheit und Verschiedenheit) im präjugoslawischen Raum in Serbien, Kroatien und Slo- <?page no="13"?> Einleitung 13 venien? Die Erforschung dieses Verhältnisses hat mich unübersehbar auf Leitlinien der deutschen Romantik geführt (Herder, Jakob Grimm, Schlegel). Da im Fokus der Untersuchung nicht die Einflussforschung liegt und somit für die zentralen Fragestellungen von untergeordneten Bedeutung ist, beschäftigt sich nur das Unterkapitel 2.1. (Wechselwirkung zwischen Selbstrepräsentation und Fremdrepräsentation) und das Unterkapitel 2.2. (Bildung nationaler und kultureller Identitäten im präjugoslawischen Raum) mit diesen Fragen. Die Analyse folgt der vorhandenen historischen Einflussforschung - nicht aber mittels der historischen Methode, sondern der Methode der postklassischen Narratologie. Weitaus wichtiger als die Einflussforschung erschien mir hier die Frage, wie sich die imaginäre Wahrnehmung von Homogenität und Differenz auf die Sprachreformen dieser Zeit und die Debatten um sie gründet, und wie eine nationale Literatur mitsamt ihrer Gründungstexte (etwa Epen) unter diesen Vorzeichen entstanden ist. Hier wurde die Ambivalenz der Legitimierung nationaler Ziele mittels der Kriterien Sprache, Literatur, nationale Kultur aufgewiesen - und in diesem Fall lag die Ambivalenz darin, dass diese Kriterien sowohl für die Bildung des eigenen nationalen Bewusstseins als auch für die Herausbildung eines integrativen Jugoslawismus dienten. Das bestätigt den Einwand, dass die bekannten Definitionskriterien, wie der subjektive Wille zum Zusammenschluss oder der Bezug auf vermeintlich objektive Kriterien wie Kultur, Sprache, Tradition nicht die Nation alleine, sondern auch unzählige andere gesellschaftliche Gruppe beschreibt. Im dritten und vierten Kapitel analysiere ich folglich, wie die verschiedenen Narrative (die sich wie im Kapitel I und II aufgezeigt aus einer Gesamtheit kulturellen Praktiken und Äußerungen herausbilden) zu Schlüsselelementen kultureller Integration und Desintegration und zugleich zur Schaubühne für symbolische Kämpfe werden. Die Analyse von sog. sozialistischen Großnarrativen und ihren Gegennarativen hat gezeigt, wie die Gesellschaft als Einheit schwer repräsentierbar ist. Wenn, dann ist solche eine Repräsentation meistens nur mit undemokratischen Mitteln möglich, was im Kapitel IV deutlich zum Ausdruck kommt. Ein plakatives Beispiel in der Arbeit ist das Interview von Franjo Tudjman, in dem er als Grund für die Selbständigkeit Kroatiens nicht die antidemokratischen Systeme in Serbien und Kroatien etc. bzw. in Jugoslawien nennt, sondern die kulturellen Differenzen. Besonders problematisch ist m.E. die Auffassung, dass eine homogene Kultur als die Vorausetzung für eine eventuelle spätere Demokratie verstanden wurde. Die im Kapitel II herausgearbeitete Ambivalenz war von besonderer Bedeutung, da die Re-Nationalisierung und Konstruktion von sog. wahren Identitäten nach 1989 mit den literarischen und sprachlichen Grenzziehungen einherging. Und sie haben erstmals auch den Anfang einer kulturellen Integration gekennzeichnet. Auch andere Beispiele der Grenzziehung wie z. B. die narrative Schaffung von Kulturräumen, die auf die Revalorisierung von Dich o - <?page no="14"?> Einleitung 14 omien Ost/ West, Europa/ Asien, Europa/ Balkan, Christentum/ Islam usw. zurückgeht, habe ich an zahlreichen Beispielen aufgezeigt. Schließlich wird die kulturelle Desintegration Jugoslawiens im Kontext der „Europäisierung Europas“ beschrieben, die letzendlich auch auf einem narrativen Reservoir von Vorstellungen aus der Zeit der Aufklärung und ihres Ko- Projektes Romantik beruht und im Spannungsfeld zwischen einer normativen, verabsolutierenden und einer totalisierenden, naturalisierenden Auffassung von Kultur steht. t <?page no="15"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung I.1 Symbolisches Universum und Identifikation Wenn vom Konzept der kollektiven Identitäten die Rede ist, lässt sich eine allgemeine Tendenz ihrer Generalisierung beobachten, die zugleich die Reduktion von Komplexität der gesellschaftlichen Konzepte der Selbstbestimmung zu Folge hat. Wie Niklas Luhmann darauf aufmerksam gemacht hat, ist jede Gesellschaft ein Kommunikationssystem, in dem die Informationenverarbeitung durch Sinngebung erfolgt und in einem stetigen Reproduzierungsprozess, das, was bedeutend, von jenem, was bedeutungslos in einer Gesellschaft erscheint, selektiert wird. 7 Das Konzept der kollektiven Identität umfasst sowohl ein Bündel an Praktiken und Werten als auch das dauerhafte Erbe an Überzeugungen und Normen, die sich zu einer Vorstellung von Identität ausgebildet haben. Die imaginären Bedeutungen in einer Gesellschaft sind deswegen genauso wichtig wie das Gruppenbewusstsein. Das Individuum identifiziert sich nicht bloß mit Institutionen, sondern vor allem mit seinem symbolischen Universum. Was die Gesellschaft politisch integriert und eine nichtgegenständliche Form der Selbstinstituierung ermöglicht, ist ein „symbolisches Band“. Symbolische Formen haben zwar keine absolute und automatische Macht über Menschen, sie gehören aber zu jenen Faktoren, die das menschliche Bewusstsein formen. Kollektive Identitäten stellen soziale Konstrukte dar und werden als kulturelle Systeme oder als kollektive Deutungsmuster verstanden. 8 Der Begriff Identität lässt sich selbst nicht leicht definieren, da man bei der Identitätsforschung kein fertiges Objekt beobachtet, sondern eher einen sozialen Prozess, in dem die Identitäten konstruiert werden. „Die kollektiven Identitäten speisen sich aus dem Prozeß der - permanenten - Reproduktion der symbolischen Sinnsysteme und sozialen Praktiken.“ 9 Einerseits üben die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und deren Identitätsmerkmale Einfluss auf das Individuum aus, andererseits ist die kollektive Identität auf die Kommunikation unter Individuen angewiesen, da erst die Kommunikation eine Reflexion über die Gruppenmitgliedschaft möglich macht. Nach Norbert Elias 7 Vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997. 8 Vgl. Achim Trunk: Europa, ein Ausweg. Politische Eliten und europäische Identität in den 1950er Jahren. München: Oldenbourg 2007, S. 35. 9 Carolin Emcke: Kollektive Identitäten. Frankfurt am Main, New York: Campus 2000, S. 220. <?page no="16"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 16 befindet sich die Identität eines Individuums in einer Wir-Ich-Balance, bei der „wir“ die kollektive Bindung und „ich“ das idiosynkratische Element der Identität bezeichnet. 10 Dementsprechend können unterschiedliche Konstellationen der Identität entsprechend der dynamischen Ausprägung der Komponenten entstehen, wobei die einen Identitäten stärker kollektivistisch (starke kollektive Identität, wir-orientiert) und die anderen stärker individualistisch (schwache kollektive Identität, ich-orientiert) ausgeprägt sind. Die kollektive Identität symbolisiert den Zusammenhalt, die Beständigkeit und die Grenzen der sozialen Gruppe. Wenn von kollektiven Identitäten die Rede ist, müssen nicht nur die Gemeinsamkeiten zwischen den Mitgliedern des Kollektivs berücksichtigt werden, sondern auch die individuellen Merkmale von Mitgliedern, die in die Gemeinschaft mitgenommen werden. Die Kollektive unterscheiden sich nicht nur nach der jeweiligen Kultur und dem sozialen Habitus, sondern auch nach den spezifischen Interpretationen von verschiedenen Bedeutungen, die die Mitglieder ihrer Gemeinschaft zuweisen. Anthony D. Smith spricht von drei Komponenten der gemeinsamen Erfahrung, die eine kollektive Identität konstituieren: von einer Kontinuität von Erfahrungen über Generationen hinweg, von einer gemeinsamen Erinnerung an Ereignisse, die als Schlüsselereignisse aufgefasst wurden, und von der Fähigkeit, das Gefühl zu vermitteln, Mitglied einer Schicksalsgemeinschaft zu sein. 11 Dieses Gefühl der historischen und schicksalhaften Verbundenheit kommt besonders bei familiären und nationalen Kollektiven und weniger z. B. bei Arbeitskollektiven zum Ausdruck. Kollektive Identität basiert auf der Wahrnehmung von Kontrasten. Man kann zu analytischen Zwecken zwischen zwei formierenden Elementen kollektiver Identität - der Homogenität und der Differenz - unterscheiden, die real aber stets zusammenwirken und untrennbar miteinander verworben sind: Die Perzeption von Homogenität basiert auf einer tatsächlichen oder vorgestellten Gleichheit und Gleichartigkeit der Mitglieder einer Metagruppe, während die Perzeption von Differenz das reale oder imaginierte Anderssein dieser Metagruppe im Vergleich zu fremden Gruppen zur Grundlage hat. [...] Die perzipierte oder vorgestellte Gleichartigkeit erlaubt den Vergleich der eigenen Metagruppe mit fremden Kollektiven und ermöglicht so die Perzeption von Differenzen. [...] Die Voraussetzung für Wahrnehmung von Differenzen ist [...] die Vorstellung von Homogenität. [...] Identität beruht also auf der Wahrnehmung von Differenzen. 12 10 Vgl. Norbert Elias: Die Gesellschaft der Individuen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999. 11 Vgl. Athony D. Smith: Towards a Global Culture. In: Mike Featherstone (Hrsg.): Global Culture: Nationalism, Globalization and Modernity. London: Sage Publ. 2002, S. 179. 12 Trunk: Europa, ein Ausweg, S. 39-40. <?page no="17"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 17 Kollektive Identität verbindet Herkunft mit Geschichte, Vergangenheit mit Zukunft, Verwurzelung in der Tradition und Ritualen, die in kollektiven Festen und Feierlichkeiten praktiziert werden, um ein Zusammengehörigkeitsgefühl bei den Mitgliedern eines Kollektivs zu wecken und zu festigen. Das Ziel kollektiver Identitätsstiftung ist es, den Zusammenhalt heterogener Gesellschaften zu sichern, politische Herrschaft sozial zu legitimieren und die Funktionsfähigkeit politischer Institutionen zu gewährleisten. Da die konventionellen Identitätsformationen infolge der Pluralisierung und der gesellschaftlichen Differenzierung zerbrachen, wurde das Individuum mit pluralen Erwartungen und dementsprechend mit pluralen Identitäten konfrontiert. 13 Deswegen wird in aktuellen Theorien über „multiple Identitäten“ gesprochen. Lutz Niethammer macht in seiner Forschung über kollektive Identitäten auf die politische Instrumentalisierung und gleichzeitig auch auf die Inhaltsleere des Begriffs aufmerksam. Allein mit dem Ausdruck „multiple Identitäten“ lässt sich, laut Niethammer, das ideologische Potenzial, das trotz der Vervielfältigung kollektiver Identitäten im Begriff enthalten bleibt, nicht so leicht bändigen. 14 Auf den letzten Seiten seines Buches macht Niethammer den Vorschlag, „kollektive Identität aus unserem Wortschatz einfach [zu] streichen“ 15 : Wenn wir aufhörten, unsere Geschichte, unsere Interessen, unsere Gegensätze und unsere Gewalt in emphatischen Identitätsformeln zu verbergen, könnte es uns vielleicht leichter fallen, nüchterner und politischer zu denken und uns mit anderen im Handeln zu verständigen. 16 Laut Niethammer verknüpft kollektive Identität nämlich potenziell immer Kultur mit Gewalt unter Umgehung des Rechts. Es gibt keinen Schutz „vor dem unbewussten Hinübergleiten aus der harmlos scheinenden Forderung nach kultureller oder politischer Identität in die Legitimation von Gewalt“ 17 . Dies trifft für nationale und postnationale Identitätsdiskurse gleichermaßen zu, so Niethammer. 18 Die Bedeutung kollektiver Identität erhält, indem sie sich auf einen Gemeinschaftssinn bzw. auf das politische Gemeinwesen bezieht, so einen politischen Charakter. Gleichzeitig ist auch eine soziologische Bedeutung vorhanden, weil kollektive Identität infolge von Inklusions- und Exklusionsme- 13 Vgl. Jürgen Habermas: Individuierung durch Vergesellschaftung. In: Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim (Hrsg.): Riskante Freiheiten. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994. 14 Vgl. Lutz Niethammer: Kollektive Identität: heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2000. 15 Ebd., S. 627. 16 Ebd., S. 628. 17 Ebd., S. 626. 18 Ebd., S. 626. <?page no="18"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 18 chanismen entsteht sowie als ein Prozess von Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung von Gruppen betrachtet werden kann. Wenn wir über nationale und kulturelle Identitäten reden, wird Nation bzw. nationale Kultur als Quelle des Wir-Gefühls verstanden. Die Nation wurde so zur kollektiven Identität der modernen Gesellschaft. Eine Nation ist nicht nur ein politisches Gebilde, sondern etwas, was Bedeutungen produziert bzw. ein System kultureller Repräsentationen darstellt. 19 Die nationale Identität ist auf die kulturelle Identität angewiesen, indem sie „auf die historisch wandelbare Kulturfrage antwortet“ 20 und ihre Antworten nur vor dem Hintergrund der jeweiligen Epoche verständlich sind. Im Allgemeinen wird kulturelle Identität als etwas bezeichnet, das Menschen mit gemeinsamen historischen Erfahrungen, einer kollektiven Erinnerung und gemeinsam genutzten kulturellen Codes miteinander teilen. Nationale Kulturen stellen in modernen Gesellschaften die Hauptquellen kultureller Identitäten dar. Nach Stuart Hall beruht eine nationale Identität keineswegs auf territorialen Besonderheiten. Er schildert den konstruktiven Charakter von Diskursen, die zur Vorstellung von einer homogenen Nationalkultur führen mit folgenden Worten: Nationale Kulturen konstruieren Identitäten, indem sie Bedeutungen der ,Nation’ herstellen, mit denen wir uns identifizieren können; sie sind in den Geschichten enthalten, die über die Nation erzählt werden, in den Erinnerungen, die ihre Gegenwart mit ihrer Vergangenheit verbinden und in den Vorstellungen, die über sie konstruiert werden. 21 Hall bezeichnet die nationale Identität als besondere kulturelle Identität. Da in der modernen Welt die nationalen Kulturen als Hauptquelle kultureller Identität gelten, ist es zur Selbstdefinition scheinbar unerlässlich, einer nationalen bzw. symbolischen Gemeinschaft anzugehören. Einigen Theoretikern wie Roger Scruton 22 zufolge kann Identität erst durch einen spezifischen Zugehörigkeitskodex entstehen. Die nationalen und kulturellen Identitäten, die uns heute selbstverständlich vorkommen, sind doch die Folge einer relativ jungen historischen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklung. Daraus ergibt sich die Frage, welche kultur- und literaturhistorischen, politischen, rechtsgeschichtlichen und philosophischen Diskursstränge identifiziert werden können, die im Zusammenhang mit der Entwicklung von Nationen, Nationalstaaten und entsprechenden Nationalkulturen bzw. nationalen und kulturellen Identitätskonzep- 19 Vgl. Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität. Hamburg: Argument 2000, S. 200. 20 Vgl. Bernhard Giesen (Hrsg.): Nationale und kulturelle Identität. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 15. 21 Hall: Rassismus und kulturelle Identität, S. 201. 22 Vgl. Roger Scruton: In Defence of the Nation. In: The Philosopher on Dover Beach, New York: St. Martin’s Press 1990. <?page no="19"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 19 ten in Europa stehen. Nach solchen Diskurssträngen zu fragen, bedeutet auch die Bedingungen dieser Konzepte genauer aufzunehmen. I.2 Entstehung nationaler und kultureller Identitätskonzepte und ihre Bedingungen Revolutionäre Umbrüche und ihre Folgen zeigen besonders deutlich, wie eng gesellschaftliche Symbolik und behauptete beziehungsweise zu ändernde kollektive Identitäten verknüpft sind. Nach Dietrich Harth werden auf kultureller Ebene lange vor dem Umbruch eines gesellschaftlichen Systems die Voraussetzungen für die neue Ordnung geschaffen, weshalb politische und soziale Revolutionen stets auch als kulturelle Revolutionen zu verstehen sind. 23 Eine geglückte Revolution kann einen neuen Mythos erzeugen, dessen Texte, Symbole und Zeichen von einer kulturellen, sozialen oder ethnischen Einheit als Identifikationsmarken akzeptiert werden. Die Französische Revolution von 1789 hat einen solchen Mythos produziert - den Mythos der Nation. Sie hat das Bewusstsein für jene Fragen der kollektiven Identitätsbildung geweckt, die noch heute relevant erscheinen. Die Nation als moderne Form der Vergemeinschaftung betrat mit der Revolution die geschichtliche Bühne und ist daher ein relativ junges Phänomen. „Es stellte sich heraus, dass als Folge einer zunehmenden Delegitimierung religiös-kirchlicher und aristokratisch-ständischer Herrschaftsordnungen, der Ausweitung des Weltbildes durch Entdeckung und Kolonisierung und des Aufstiegs der technisch-wissenschaftlichen Rationalität die Bildung eines neuen politischen Körpers, eines neuen Kollektivsubjektes als Quelle politischer Legitimität erforderlich war. Die traditionellen „organischen“ Bindungen der Menschen an Herrschaftsgebilde mussten aufgelöst und zugleich neue horizontale Bindungen hergestellt werden.“ 24 Gleichzeitig fand die britische industrielle Revolution statt. Diese beiden Revolutionen gestalteten die ganze Welt um, ihre Wirkung ist bis heute spürbar. Wie Eric Hobsbawm schreibt, wurden zu dieser Zeit Begriffe wie „Industrie“, „Industrieller“, „Fabrik“, „Arbeiterklasse“, „Kapitalismus“, „Sozialismus“, „konservativ“ und „liberal“, „Nationalität“, „Wissenschaftler“, „Statistik“, „Soziologie“, „Journalismus“, „Ideologie“ erfunden oder deren moderne Bedeutung geprägt. 25 Nationen und nationales Bewusstsein können nach subjektivistischen Theoretikern der Nation nur unter den Bedingungen der westlichen Moderne entstehen. In seinem Hauptwerk „Nations and Nationalism“ (1983) legt 23 Vgl. Dietrich Harth: Das Gedächtnis der Kulturwissenschaften. Dresden: Dresden Univ. Press 1998. 24 Emilija Mančić: http: / / www.kakanien.ac.at/ emerg/ EMancic1.pdf. 25 Vgl. Eric Hobsbawm: Europäische Revolutionen. Zürich: Kindler 1962, S. 9. <?page no="20"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 20 Ernest Gellner die Formel des modernen Nationalismus fest. 26 Sie lautet: eine Nation, eine Sprache, ein Staat. Der Ursprung der Nation ist laut Gellner im Übergang von der Agrarzur Industriegesellschaft zu suchen. In den vormodernen Gesellschaften entwickeln sich zwar bereits Kulturen, aber noch keine homogenen Kulturen. In der Industriegesellschaft verändert sich das Verhältnis zwischen Macht und Kultur, und es bildet sich eine Hochkultur heraus. Die neue kapitalistische Ordnung führt zu Rationalisierung, Ordnung und Effizienz, was die soziale Mobilisierung der Gesellschaft nach sich zieht und die bestehenden hierarchischen Ordnungen zerfallen lässt. In der modernen Gesellschaft sind Lesen, Schreiben und Rechnen allgemeine Qualifikationen, die vermittelt werden von jener Hochkultur, die die neue Ordnung schafft. So entsteht eine Verbindung von Staat und Hochkultur, die als Begleiterscheinung zu kultureller Homogenität führt. Vielmehr entsteht erst, wenn die allgemeinen sozialen Verhältnisse nach standardisierten, homogenen und durch staatliche Zentralgewalt geschützte Hochkulturen rufen - nach Hochkulturen also, die die Gesamtbevölkerung und nicht nur die Minderheiten der Elite durchdringen, eine Situation, in der klar definierte, durch Ausbildung sanktionierte und vereinheitlichte Kulturen fast schon die einzige Art Einheit bilden, mit der sich Menschen bereitwillig und häufig glühend identifizieren. Nunmehr scheinen die Kulturen die natürlichen Lagerstätten der politischen Legitimität zu sein. Erst jetzt wird jede Verletzung kultureller Grenzen durch politische Einheiten als Skandal empfunden. 27 Gellner identifiziert in der staatlich organisierten Ausbildung den Hauptmotor, mit dem die Idee „Nation“ verbreitet und gesichert wurde. In der Zeit der Ungewissheit und Unsicherheit, die mit dem Zerfall der neuen Ordnung einhergeht, bietet die Nation Halt und vermittelt Identität. Gellner kommt zu der Schlussfolgerung, dass Nationen nur im Zeitalter des Nationalismus definiert werden können, „denn es ist der Nationalismus, der die Nation hervorbringt, und nicht umgekehrt“ 28 . Die Verbreitung der Idee Nation verstärkt den Nationalismus, so Gellner. Nation und Nationalismus sind nach Benedict Anderson 29 als kulturelle Systeme zu betrachten. Anderson sieht auch einen Zusammenhang zwischen dem Zerfall der religiösen Gemeinschaft und des dynastischen Reiches und der Entstehung des kulturellen Systems Nation. Eine Großgemeinschaft im Mittelalter wurde durch das Medium der heiligen Schriften und deren Sprachen (Latein und Arabisch) vorgestellt, besaß aber einen ganz anderen 26 Vgl. Gellner: Nationalismus und Moderne. 27 Gellner: Nationalismus und Moderne, S. 86. 28 Ebd., S. 86. 29 Vgl. Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt, New York: Campus 1996. <?page no="21"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 21 Charakter als die vorgestellten Gemeinschaften moderner Nationen. Die Welt war nur mittels eines privilegierten Systems der Repräsentation möglich, und nur die kleine Schicht der Schriftkundigen verfügte über die „Wahrheitssprache“ und hatte somit die Macht über die Deutung der Welt. Nach dem späten Mittelalter schwand der „unbewusste Zusammenhalt“ von den qua Religion vorgestellten Gemeinschaften immer mehr. Zum einen trugen die Entdeckungsreisen in die außereuropäische Welt dazu bei, dass man zu unterschiedlichen Vorstellungen über das Leben gelangen konnte. Zum anderen sieht Anderson einen zweiten Grund für den Verlust religiöser Macht in der Degradierung der „heiligen Sprache“ bzw. des Lateinischen selbst. Die Dynastie, die damals das einzig vorstellbare politische System war, verlor seit dem 17. Jahrhundert allmählich auch an Bedeutung. Die Legitimität bekam der Herrscher in einem Königtum ja von Gott und nicht von den Menschen, „die nur Untertanen, aber keine Bürger [waren]“. 30 Laut Anderson erwies sich aber nicht nur der Zerfall der Glaubensgemeinschaften und der dynastischen Reiche als zentral, um das vorgestellte Gemeinwesen der Nation entstehen zu lassen, vielmehr war auch eine neue Wahrnehmungsform der Zeit wichtig. Die neue Form der Zeitwahrnehmung, nämlich Vergangenheit und Zukunft gleichzeitig wahrzunehmen, ermöglichte auch die Vorstellung der Nation als moderne Form der Vergemeinschaftung. Diese Transformation ist, so Anderson, auf das literarische Genre des Romans und der Zeitung, die Anderson als literarische Gattung bezeichnet 31 , zurückzuführen, die im 18. Jahrhundert die technischen Mittel bzw. die Repräsentationsmöglichkeiten für das Bewusstsein der Nation lieferten. Die moderne Struktur des Romans verfügt über ein Darstellungsverfahren, das durch gleichzeitig handelnde Charaktere in einem gesellschaftlichen Kontext eine unmittelbare Vorstellung einer Gemeinschaft ermöglicht. Ein Amerikaner wird niemals mehr als eine Handvoll seiner vielleicht 240 Millionen Landsleute kennenlernen oder nur deren Namen wissen. Er hat keine Vorstellung, was sie irgendwann gerade tun. Doch er hat volles Vertrauen in ihr stetes, anonymes, gleichzeitiges Handeln. 32 In der Zeitung stehen auf der Titelseite Artikel über Ereignisse in der ganzen Welt nebeneinander, die aber meist unabhängig voneinander geschehen. Über das Lesen der Zeitung, die „dem modernen Menschen als Ersatz für das Morgengebet dient“ 33 , bekommen die Menschen den Eindruck, dass „die vorgestellte Welt sichtbar im Alltagsleben verwurzelt ist“. 34 Das Druckgewerbe ermöglichte schließlich den Menschen die Gemeinschaftsvorstellung im 30 Ebd., S. 27. 31 Ebd., S. 39. 32 Ebd., S. 34. 33 Ebd., S. 41. 34 Ebd., S. 41. <?page no="22"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 22 Sinne einer nationalen Gemeinschaft. Nach Anderson liegen die Ursprünge des Nationalbewusstseins in der „eher zufälligen, doch explosiven Interaktion“ 35 der kapitalistischen Produktionsweise, der technischen Entwicklung in Form des Buchdrucks sowie der Existenz von verschiedenen Sprachen. Der Buchdruck verlieh der Sprache eine neue Fixierung. Das gedruckte Buch erhielt eine unveränderte Form und konnte so räumlich und zeitlich unbegrenzt reproduziert werden. Dank der Schriftsprache konnten sich Millionen gleichsprachiger Menschen verständigen und so, laut Anderson, das eigene Nationalbewusstsein entwickeln. Dieser theoretische Hintergrund diente Anderson als Folie für die Entwicklung eines Modells zur Entstehung des Nationalismus in vier Phasen. Anderson beginnt mit den neu entstehenden Staaten Nord- und Südamerikas, wo die häufig für die Nationsbildung in Europa angeführten Kriterien, wie eine exklusive Sprache und Kultur, nicht gelten. Im 18. Jahrhundert erschienen in Amerika mehr als 2000 Zeitungen, und sie wurden zum zentralen Medium für die Verbreitung der neu entstehenden amerikanischen Nationen. In den nord- und lateinamerikanischen Kolonien entwickelten die Angehörigen der einheimischen (kreolischen) Elite ein nationales Zussamengehörigkeitsgefühl, da ihnen eine Stellung und Entfaltungsmöglichkeiten im Mutterland verwehrt waren, obwohl sie „praktisch dieselbe Beziehung zu Waffen, Leiden, Christentum und europäischer Kultur besaßen“. 36 In Europa begann parallel zu den antikolonialen Befreiungsbewegungen in Amerika am Anfang des 19. Jahrhundert das Zeitalter des Nationalismus, und die Vorstellung der Nation fußte hier auf der Sprache und historischen Vorbildern. Anderson identifiziert als weitere Elemente, die die vorgestellte Gemeinschaft der Nation stützen: Volkszählung, Landkarten und Museen. Sie schafften Raster, mit deren Hilfe man immer sagen könne, „dass es dieses und nicht jenes ist, dass es hier an diese Stelle gehört, und nicht an jene.“ 37 Die Vereinnahmung der Vergangenheit konnte das europäische Bild der „erwachenden“ Nation erzeugen und erlaubte, das Zuspätkommen gegenüber Amerika und Frankreich zu rechtfertigen. In Folge der neuen Form der Zeitwahrnehmung, die Vergangenheit und Zukunft gleichzeitig wahrzunehmen ermöglichte, konnte die Geschichte mit Bezug auf gegenwärtige Vorstellungen vermittelt werden. Seit Beginn der Moderne (ab dem 19. Jahrhundert) werden laut Eric Hobsbawm Traditionen stark betont, die in ihrer Gegenwart konstruiert und in eine bestimmte Vergangenheit zurückprojiziert sind. Sie dienen bestimmten Normen und Strukturen gegenüber dazu, einen gegenwärtigen Wandlungsdruck gesellschaftlich zu legitimieren und zu festigen. Dieses Konzept hat Hobsbawm die 35 Ebd., S. 49. 36 Ebd., S. 65. 37 Ebd., S. 185. <?page no="23"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 23 erfundene Traditionen genannt. 38 Der Zweck der erfundenen Tradition ist nach diesem Konzept, wenigstens einigen Teilen des gesellschaftlichen Lebens Struktur zu verleihen, indem dessen Wesen als unveränderlich und beständig gilt. Erfundene Tradition bedeutet: ein Bündel von Praktiken ritueller oder symbolischer Natur, die gewöhnlich von offen oder stillschweigend anerkannten Regeln bestimmt werden. Sie zielt darauf ab, bestimmte Verhaltenswerte und -weisen durch Wiederholung zu festigen, was von sich aus die Kontinuität mit der Vergangenheit beinhaltet. Tatsächlich wird wo immer möglich versucht, Kontinuität mit einer passenden Epoche herzustellen … [...] Jedoch liegt die Eigenart der erfundenen Vergangenheit darin, dass die Kontinuität mit der historischen Vergangenheit, auf die Bezug genommen wird, weithin künstlich ist. Kurzum handelt es sich um Antworten auf neuartige Umgebungen, deren Form sich auf alte Umgebungen bezieht oder die ihre eigene Vergangenheit schaffen mittels einer gleichsam zwingenden Wiederholung. 39 Hobsbawm betont, dass „Tradition“ von „Brauch“ unterschieden werden muss. Der Zweck und die Eignart von Traditionen ist Unveränderlichkeit. Die erfundenen Traditionen gelten jeweils der Konsolidierung von Gemeinschaften, der Legitimierung der Macht sowie der Sozialisation und der Einschärfung bestimmter Vorstellungen, Wertesysteme und Verhaltenskonventionen 40 . Erfundene Tradition ist ein Formalisierungs- und Ritualisierungsprozess, gekennzeichnet durch einen Vergangenheitsbezug mittels dem Werkzeug der Wiederholung. Neue Traditionen werden ständig erfunden, besonders aber wenn alte Traditionen nach Wandel gesellschaftlicher Muster nicht mehr passend sind, oder wenn alte Traditionen oder deren institutionelle Träger nicht mehr anpassungsfähig sind bzw. ausgeschaltet werden. Es handelt sich also um die Nutzung alter Modelle für neue Zwecke, indem Materialien aus der Vergangenheit, wie Rituale, Symbolik, Moral entlehnt werden. Alle erfundenen Traditionen benutzen so die Geschichte, um die entsprechende Aktion zu legitimieren und die Gruppenkohäsion zu festigen. Laut Hobsbawm kann das Phänomen der Nation, ohne die erfundenen Traditionen bei ihrer Konstruktion zu berücksichtigen, nicht adäquat untersucht werden. 41 38 Vgl. Hobsbawm (Hrsg.): The Invention of Tradition. 39 Ebd., S. 6. 40 Ebd., S. 6. 41 Ebd., S. 25. <?page no="24"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 24 I.3 Neudefintion des Kulturbegriffs in der Epoche der Aufklärung 42 Nach Shmuel Noah Eisenstadt kann ohne Übertreibungen gesagt werden, dass sich in allen menschlichen Gesellschaften die Tendenz findet, kollektive Identitäten mithilfe bestimmter Symbolsysteme zu konstruieren. 43 In jeder Gesellschaft existiert eine symbolische Ordnung, die gleichsam die Grammatik des Bedeutens und der Bedeutsamkeit ist, die den Dingen in einer Gesellschaft zugeschrieben werden. Zur symbolischen Ordnung zählen nicht nur bestimmte Ideen oder Begriffe, sondern auch bestimmte gesellschaftliche Institutionen, soziale Mechanismen, vorherrschende Körperpraxen, Gefühle oder alltägliche Lebensformen. Kultur scheint nur im Zusammenspiel von Gesellschaft und gesellschaftlich akzeptierten Wirklichkeitsvorstellungen verständlich zu sein. Ein wesentlicher Bestandteil menschlicher Kultur ist die Politik, die somit sowohl Ausdruck als auch Ursprung der Symbole schaffenden Kraft der Menschen ist. Sprache, Mythos, Religion und Kunst bilden die Basis politischer Institutionen, sodass die Stiftung einer Ordnung auf symbolischen Leistungen auf dem Feld der Politik beruht, die Abgrenzungen nach außen ermöglichen und einen Zusammenhang im Inneren schaffen. „Durch Benennung und faktische Abwehr des Fremden, durch Auszeichnungen des eigenen Lebensbereiches und durch Verständigung über die hochsymbolische Präsenz eines gemeinsamen Willens entsteht allererst der politische Raum.“ 44 Da die Nation ein System kultureller Repräsentation darstellt, scheint es unerlässlich, nach den historisch wandelbaren Kulturdefinitionen zu fragen. Diese Frage steht auch eng in Verbindung mit der Frage: Wie kommt es zu vergleichbaren Kulturbewegungen in verschiedenen Ländern? Die Antworten auf diese Fragen können nur vor dem Hintegrund der jeweiligen Epoche verständlich sein. An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert kristallisierte sich ein enger Zusammenhang zwischen Kultur und Nation heraus, an den sich zudem unterschiedliche Identitätskonzepte anlagerten. 42 Vgl. für einige schon publizierte Passagen dieses Kapitels: Emilija Mančić: http: / / www. kakanien.ac.at/ emerg/ EMancic1.pdf. 43 Shmuel Noah Eisenstadt: Die Konstruktion nationaler Identitäten in vergleichender Perspektive. In: Bernhard Giesen (Hrsg.): Nationale und kulturelle Identitäten. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 21-55, hier S. 37. 44 Hans-Jürg Braun (Hrsg.): Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 233. <?page no="25"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 25 Zu dieser Zeit zeigten sich in Europa immer deutlicher unterschiedliche Kollektive, da neben den dem Legitimitätsprinzip folgenden Monarchen, die bis zu einem gewissen Grade das frühneuzeitliche Kollektiv des europäischen Demos fortführten, auch das liberale Bürgertum aufstieg, das den politischen, ökonomischen, sozialen und religiösen Liberalismus zu Identifikationslinien der kollektiven Identität machte. Alle diesen Entwicklungen waren Folge des sowohl inidividuellen als auch gesellschaftlichen geistigen Emanzipationsprozesses, der mit der Epoche der Aufklärung seinen Höhepunkt erreicht hat. Nach Stuart Hall stellte die Geburt des souveränen Individuums, die zwischen Renaissance-Humanismus und Aufklärung stattfand, einen bedeutenden Bruch mit der Vergangenheit dar. Descartes verkündete mit seiner Parole „Cogito, ergo sum“ („Ich denke, also bin ich“) die Geburt des cartesianischen Subjekts, das als rational, bewusst und reflektierend zu charakterisieren wäre. John Locke war „der Vater“ des souveränen Individuums, das mit seinen Wünschen, Bedürfnissen, Begierden und Interessen auch in den modernen Diskursen von Ökonomie und Recht die entscheidende Gestalt blieb. 45 Während sich in der Antike und in der Renaissance Kultur noch auf den Intellekt eines Individuums bezieht, verweist der Terminus Kultur seit der Aufklärung auf Eigenschaften eines Kollektivs: „Kultur ist der normativ ausgezeichnete Zustand einer sozialen Gemeinschaft“ 46 und Kultur ist gestaltbar. So besitzt der normative Kulturbegriff eine universalistische und keine kontextualistische Ausrichtung. „Die begriffliche Bezeichnung menschlicher Lebensweise ist hier nicht unabhängig zu denken von deren Bewertung.“ 47 Der Kulturzustand wird so von einem menschlichen Naturzustand sowie vom Tierischen unterschieden, so Reckwitz. 48 Die normative Kulturvorstellung setzt nicht Kulturen im Plural voraus, sondern geht von der Kultur im Singular aus. Der moderne normative Kulturbegriff bezieht sich auf die Lebensform eines Kollektivs, sodass nicht allein Individuen, sondern nur ganze Kollektive Kultur erwerben können. Jedoch besitzt nicht jedes Kollektiv seine eigene Form von Kultur. Es wird „ein universaler Maßstab des Kultivierten angenommen, der insgeheim dem der bürgerlichen Kultur entspricht.“ 49 So bildete sich in der Aufklärung ein normativ ausgerichteter Kulturbegriff heraus. Kultur bezeichnete eine erstrebenswerte Lebensform, und zwar jene des Bürgertums, welches sich sowohl gegen den Adel als auch gegen die 45 Vgl. Hall: Rassismus und kulturelle Identität., S. 187-189. 46 Ebd., S. 66. 47 Vgl. Andreas Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2000. S. 65. 48 Vgl. Andreas Reckwitz: Die Kontigenzperspektive der „Kultur“. Kulturbegriffe, Kulturtheorien und das kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm. In Friedrich Jaeger, Jörn Rüsen (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 3: Themen und Tendenzen. Stuttgart, Weimar: Metzler 2004, S. 4. 49 Ebd., S. 4. <?page no="26"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 26 agrarische, später proletarische Unterklasse kulturell abgrenzt, aber seinen eigenen Lebensstil mit dem Anspruch auf Universalität vertritt. Zu dieser Zeit kam es auch zur Gleichsetzung europäischer Identität mit „europäischer Kultur“. Kunst, Wissenschaft, Gelehrsamkeit, die Expansion in überseeische Gebiete, Christentum, auch das politische System sind nur einige Elemente, die diese „europäische Kultur“ ausmachten. Zumeist wurde die Entwicklung der europäischen Kultur in die Geschichte der Menschheit eingebettet, was eine gute Gelegenheit bot, Europas Überlegenheit im Kulturvergleich auszuweisen, aber auch zwischen einzelnen europäischen Nationen. Im Zeitalter der Aufklärung entsteht so eine narrativ konstituierte Erzählung, die die europäische Identität mit „europäischer Kultur“ bzw. Zivilisation gleichsetzt, somit aber auch die hegemonialen Tendenzen Frankreichs und anderer westeuropäischer Länder in dieser Zeit zum Ausdruck bringt. Nach Etienne Balibar stellt die Nationalisierung von Gesellschaft die Erhebung des Volkes auf die Position des Souveräns bzw. des Königs und damit auch Gottt dar, was zu einer Internalisierung der Macht führt. 50 Die Metaphysik der Macht wird von einer äußeren Quelle in einen inneren Zustand nationaler Souveränität verortet. Dadurch wurde die Quelle der Universalität nicht mehr außerhalb, sondern in der Welt selbst identifiziert. The universal had found its own body, but this was still the body of a certain particularity - European culture of the nineteenth century. So European culture was a particular one, and at the same time the expression - no longer the incarnation - of universal human essence (as the USSR was going to be considered later the motherland of socialism). 51 Die Normierung einer nationalen Kultur und einer entsprechenden Identität wurde in Deutschland durch die Abwesenheit eines Zentrums der aristokratischen und später auch der bürgerlichen Kultur erschwert. Diese Erfahrung motivierte die einheimischen Schriftsteller einen ästhetischen und theoretischen Diskurs zu entwickeln, wie die Kultur beschaffen sein sollte, mit der sich diejenigen identifizieren konnten, die eine politische und soziale Integration vermissten. „Die Suche nach dieser Kultur war zugleich ihre Produktion und auch hier gilt: Die Bestimmung des Eigenen war zugleich Akt des Sichunterscheidens.“ 52 Eine über zustimmungsfähige Symbole der Revolution ausgedrückte Identität der Deutschen lag außerhalb der politischen Realität und wurde von manchen Gruppen umso stärker vermisst. 50 Vgl. Etienne Balibar: The Nation Form: History and Ideology. In: Review: Fernand Braudel Center 13 1990, S. 329-361. 51 Ernesto Laclau: Universalism, Particularism and the Question of Identity. In: John Rajchman (Hrsg.): The Identity in Question. London: Routledge 1995, S. 93-108. hier S. 97. 52 Harth: Das Gedächtnis der Kulturwissenschaften., S. 152. <?page no="27"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 27 Nach dem Ereignis der Französischen Revolution wurde offensichtlich ein neuer Interpretationsrahmen in der Gesellschaft benötigt. Da zu der Zeit die Herausbildung einer politischen Identität durch Revolution in Deutschland im Gegensatz zu Frankreich nicht möglich war, stellte die/ eine gemeinsame Kultur das Hauptidentifikationsmerkmal dar. Die Umwandlung der Kultur in meine Kultur ist nach Julien Benda kennzeichnend für die Neuzeit und ist „auf jenes Tendenzphänomen von Intellektuellen, die den Völkern noch zureden, ihre Identität in der gruppenspezifischen Verschiedenheiten zu suchen.“ 53 zurückzuführen. Die Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland bei den Nationsbildungsprozessen hat Eric Hobsbawm kurz erläutert. Nachdem die Revolution die französische Nation hervorgebracht hatte, konnten Zugehörigkeitsgefühl und Loyalität mittels einiger offensichtlicher Symbole wie der Marianne, der Trikolore oder der Marseillaise ins Bewusstsein der Mitbürger gerufen werden, so Hobsbawm. 54 Da das deutsche Volk vor 1871 nicht politisch definiert und vereint und sein Verhältnis gegenüber dem Reich nicht klar war, musste laut Hobsbawm die symbolische und ideologische Identifikation im damaligen Deutschland komplexer sein - daher die vielfältigen Identifikationsquellen: ausgehend von Mythologie und Folklore (deutsche Eiche, Kaiser Friedrich Barbarossa) über Karikaturen bis zur Definition der Nation über ihre Feinde. Gleich wie die vielen anderen Staaten, die sich von der fremden Aggresion befreit hatten, konnte sich Deutschland am leichtesten über Gegensätze definieren. Da es zuerst um die Herauskristallisierung einer Nation bzw. einer Sprach- oder Kulturgemeinschaft ging und erst danach um die Gründung eines Nationalstaates, kam Dichtern bzw. Schriftstellern ein entscheidender Anteil an den Identitätsdiskursen zu. Sie zählen zu den sogenannten Deutungseliten einer Gesellschaft, da sie, wie Herfried Münkler schreibt, „über die Macht der Symbole und der Narration“ 55 verfügen. Die identitätsstiftende Kraft kultureller Selbstwerdung bildete einen Kern der romantischen Bewegung, die nach neuen kulturellen Identifikationsmustern suchte. So kam es in der Epoche der Romantik zu einer Ergänzung der aufklärerischen Erzählung über die Kultur im Singular als normativer Bewertungsmaßstab für den Zivilisierungsprozess der modernen Gesellschaft. 53 Vgl. Julien Benda: Der Verrat der Intellektuellen. Frankfurt am Main: Fischer 1988. S. 138. 54 Vgl. Eric J. Hobsbawm (Hrsg.): The Invention of Tradition. 55 Vgl. Herfried Münkler: Reich, Nation, Europa: Modelle politischer Ordnung. Weinheim: Beltz Athenäum 1996, S. 76. <?page no="28"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 28 I.4 Die Narrative der deutschen Romantik im Spannungsfeld zwischen Universalismus und Partikularismus 56 Die Konstitution neuer Narrative in der Epoche der Romantik kann man im gewissen Sinne als ein Bündel von Gegennarrativen betrachten, die das Nichtvergessen von gruppenspezifischen Geschichten einfordern und das Ausgeschlossene thematisieren. Diese neuen Erzählungen kann man gerade aus diesem Grunde nicht als unabhängig von der aufklärerischen Erzählung deuten, da die romantischen Narrative Bezug auf sie nahmen und in gewissem Sinne eine Art ihrer Ergänzung darstellten. Deswegen scheint die Frage nach den in einem Zeitraum dominierenden Tendenzen bzw. nach kultur- und literaturhistorischen, politischen und philosophischen Diskurssträngen, die sich anhand der unterschiedlichen Texten herauskristalisieren lassen, wichtig zu sein. Hier werde ich mich auf jene Diskursstränge begrenzen, die mit dem Bemühen der Romantiker die Gesellschaft und ihre Identität sowie das Wesen des Staates neu zu denken und zu begründen einhergehen. Die Romantik wird meistens im starren Gegensatz zur Aufklärung betrachtet. Georg Lukács wirft so der Romantik vor, den Bruch mit der Aufklärung vollzogen zu haben. 57 Während die Aufklärung die Vernunft als Wesenseigentümlichkeit des Menschen sah und einen Fortschrittsglauben durch die vernünftige Einsicht des Menschen propagierte, entwickelte sich die Romantik als Reaktion auf diese Sichtweise. Die klare Trennung zwischen Aufklärern und Romantikern ist aber nicht in allen Fällen unproblematisch. Deswegen wird die Epoche der Romantik meistens in eine progressive Früh- und eine restaurative Spätromantik getrennt. Die Kritik an der Romantik geht vornehmlich auf den Vorwurf eines rückwärtsgewandten, das christliche Mittelalter verherrlichenden Katholizismus zurück. Der Heidelberger Altphilologe Johann Heinrich Voß setzte so das Romantische in einem Streit mit Brentano, Arnim, Creuzer und anderen in etlichen Streitschriften mit katholischer Reaktion gleich. Diese Ambivalenz stellt sich auch als Spannung von reflexiver Öffnung und restaurativer Schließung dar, die für die Romantik kennzeichnend war. Es hat sich aber mehrmals gezeigt, dass die Romantik nicht allein als Anti-Aufklärung bestimmt und abgetan werden kann. Die Literatur der Romantik (etwa 1770 bis 1840) thematisiert nämlich bereits viele Fragen, die dann erst wieder durch poststrukturalistische Theorien der letzten Jahrzehnte stärker in den Vordergrund rückten. 56 Vgl. für einige schon publizierte Passagen dieses Kapitels Emilija Mančić: http: / / www. kakanien.ac.at/ emerg/ EMancic1.pdf. 57 Vgl. Georg Lukács: Fortschritt und Reaktion in der deutschen Literatur. Berlin: Aufbau Verlag 1947, S. 54. <?page no="29"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 29 Die Grenzen der „Realität“ werden bei den Romantikern instabil, Prozesshaftigkeit der Bedeutungsbildung wird betont und rein diskursive Begründungen rücken an die Stelle von transzendenten. Walter Benjamin sieht in seiner 1920 erschienenen Dissertation „Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“ in der frühromantischen Forderung nach Reflexivität und radikaler struktureller Autonomie des Kunstwerks die Begründung literarischer Modernität. 58 Gleichzeitig kam in dieser Epoche zu einer engen Verbindung zwischen Literatur und nationaller Kultur. Die Widersprüchlichkeit stellt sich so als ein genuines Merkmal der Romantik selbst dar. Deshalb scheint es wichtig, folgende Frage zu stellen: Wie hat sich gerade die Widersprüchlichkeit als Hauptmerkmal der Romantik herauskristallisiert? Mit der Frühromantik fängt ein Reflexionsprozess an, der Universalität mit Differenz vereinen will. Die Romantiker kritisierten den Universalismus der Aufklärung und die Uniformierung des Geistes und bemühten sich um die Vermittlung von Allgemeinheit und Partikularität. Für Romantiker ist die abstrakte Universalität der Aufklärung „leer“, erhält aber durch Partikularismus, Besonderheit, Spezifisches einen Inhalt. Die frühromantische Dialektik war daher bemüht, Universalität und Partikularität zu vereinigen. Wegweisend für vielen Schriftsteller und Denker der Romantik waren Arbeiten von Johann Gottfried Herder. 59 Obwohl Herder gemeinhin nicht als Vertreter der Romantik gilt, finden sich bei ihm Denkweisen und Thesen, die erstmals grob skizzieren, was die Romantiker später präziser artikulieren werden. Vor allem ist die Verbindung einer universalistischen mit einer individualistischen Perspektive bzw. des universalistischen Vernunftbegriffs mit dem Denken der Differenz in den Arbeiten von Herder zu finden. In seiner Frühschrift „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ (1774) kommt Herder zu ersten geschichtsphilosophischen Erkenntnissen: Die unterschiedlichen zeitlichen und örtlichen Bedingungen seien der Grund für die individuellen und kulturellen Unterschiede zwischen den Menschen. Nach Herder sind Natur und Menschengeschichte Bereiche, in denen sich die göttliche Offenbarung erkennen lässt und so eine wechselseitige Beleuchtung zwischen ihnen ermöglicht wird. Indem die Geschichte in der Natur des Menschen fundiert und als natürlicher Prozess begriffen wird, wird sie zugleich in Gott als dem Urheber der Natur verankert. Als ersten Grundzug der Geschichte erkennt er, dass jedes ihrer Zeitalter und Völker, so wie jedes Lebensalter der Menschen „den Mittelpunkt seiner Glückseligkeit 58 Vgl. Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978. 59 Zum Einfluss Rousseaus auf Herder und die Romantiker vgl. Hans M. Wolff: Der junge Herder und die Entwicklungsidee Rousseau. In: PMLA 57 (September 1942), S. 753-819 und Karl Gurhke: Zur Frühgeschichte des Rousseauismus in Deutschland. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 77 (1958), S. 384-396. <?page no="30"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 30 in sich selbst hat“. 60 Die Menschengeschichte wird so mit den Stufen des menschlichen Lebens in Analogie gebracht: Der Alte Orient als Kindheit der Menschheit, die Kultur der Ägypter als Knabenalter, die Epoche der Griechen als Jünglingsalter und die Römerzeit als reifes Mannesalter. Die Geschichte der Neuzeit setzt Heder mit anderen organischen Metaphern wie Keim, Blüte, Frucht, Wurzeln, Stamm fort. Die Welt ist nach Herder in Nationen geteilt und jedes Volk hat „seine Periode des Wachstums, der Blüte und der Abnahme“ 61 . Herder spricht vom nationalen Mittelpunkt und dem Vorurteil, das die Völker zu ihrem Mittelpunkte zusammendrängt: Das Vorurteil ist gut zu seiner Zeit, denn es macht glücklich. Es drängt Völker zu ihrem Mittelpunkt zusammen, macht sie fester auf ihrem Stamme, blühender in ihrer Art, brünstiger und also auch glückseliger in ihren Neigung und Zwecken. 62 Kein Nationalcharakter ist laut Herder vollkommen, sondern zeichnet sich sowohl durch Tugenden als auch durch Laster aus. Obwohl aber keine Nation vollkommen ist, scheint jede Vollkommenheit bei Herder dennoch national zu sein. So ist „jede menschliche Vollkommenheit national, säkular und, am genausten betrachtet, individuell“ 63 . Die singuläre Nation ist der Ort, an welchem sich Universelles äußert und durch diese konkrete Formung überhaupt zugänglich ist. Das Allgemeine ist erkennbar nur durch das Konkrete. Niemand in der Welt fühlt die Schwäche des allgemeinen Charakterisierens mehr als ich. Man malet ein ganzes Volk, Zeitalter, Erdstrich - wen hat man gemalt? Man fasset auf einander folgende Völker und Zeitläufe, in einer ewigen Abwechslung, wie Wogen des Meeres zusammen - wen hat man gemalt? Wen hat das schildernde Wort getroffen? 64 Verschiedenartigkeit und Mannigfaltigkeit zeugen von Fülle und Reichtum des Ganzen und werden deswegen hochgeschätzt. Bei Herder sind Einheit und Vielheit eng miteinander verbunden und die Vielheit ist universal begründbar. So kommt es zu einem Denkmodell, das Kultur als eine Art organischer Einheit vorstellen lässt. Metaphern wie Baum, Äste und Verzweigungen sollen dieses Denkmodell bildhaft machen. „Der Stamm des Baums, zu seiner größeren Höhe erwachsen, strebte, Völker und Nationen unter seinen Schatten zu nehmen, in Zweige.“ 65 60 Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Frankfurt am Main 1994, S. 44. 61 Ebd., S. 38. 62 Ebd., S. 184. 63 Ebd., S. 35. 64 Ebd., S. 36. 65 Ebd., S. 34. <?page no="31"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 31 „Herder kontextualisiert und historisiert so das aufklärerische Kulturkonzept und macht Kultur zu einem holistischen Konzept. „Kultur ist keine ausgezeichnete Lebensform mehr, sondern die spezifische Lebensform eines Kollektivs in einer historischen Zeit“. 66 Kulturen werden als kollektive Individuen verstanden, womit Herder den Individualismus auf die Ebene untergeordneter kollektiver Gebilde überträgt. Louis Dumont hat die Verbindung individualistischer mit holistischen Elementen bei Herder auf folgende Weise beschrieben: Auf der globalen Ebene ist die holistische Tendenz hier begrenzt enthalten oder, wie ich gewöhnlich sage, eingeschlossen in einem Individualismus, der wiederum auf Ebenen, die für Herder zweitrangig sind, seiner Substanz entleert ist: jedes Volk wird als ein Ganzes und nicht als in Individuen zersplittertes aufgefasst. 67 Der totalisierende (romantische) Kulturbegriff setzt ganze Gesellschaften, im 19. Jahrhundert vor allem nationalstaatlich verfasste, mit Kultur gleich. Die Kultur eines ganzen „Volkes“ wird „individualisiert“ bzw. ihre Eigenart und ihre Differenz zur Kultur anderer „Völker“ hervorgehoben. 68 So erscheint eine ideale Lebensweise, nach innen homogen und nach außen geschlossen, oder wie Herder es beschreibt: wie eine „Kugel“ gegenüber anderen „Kugeln“. Mit Herders Worten wurde und wird erklärt, dass „keine Einzelperson, kein Land, kein Volk, keine Geschichte eines Volkes, kein Staat wie ein anderer ist. Weshalb auch Wahrheit, Schönheit und das Gute nicht dasselbe für sie sind.“ 69 Anstelle der Differenz zwischen Kultur im Singular und der Zivilisation treten jetzt Differenzen zwischen einzelnen Kulturen. So wurde aus der Nation ein Individuum höherer Ordnung 70 , und so wurden Kulturen mit Gesellschaften gleichgesetzt. Die unvergleichliche Individualität eines Kollektivs trägt jetzt den jeweiligen normativen Maßstab in sich selbst. Herders historisch-holistischer Kulturbegriff wird innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgenommen und verbreitet. Die Anthropologie gewinnt ihr theoretisches Selbstverständnis aus dem totalitätsorientierten Kulturbegriff. Der totalitätsorientierte Kulturbegriff hatte konstitutive Bedeutung für die anglo-amerikanische Ethnologie, die sich als Kulturanthropologie versteht: „Gesellschaften - zumindest jene vormoderne Gesellschaften, denen das Inte- 66 Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien., S. 72. 67 Louis Dumont: Individualismus. Zur Ideologie der Moderne. Frankfurt am Main, New York: Campus 1991, S. 133. 68 Vgl. Andreas Reckwitz: Die Kontigenzperspektive der „Kultur“. 69 Claudia Hopf: Sprachnationalismus in Serbien und Griechenland: theoretische Grundlagen sowie ein Vergleich von Vuk Stefanović Karadžić und Adamantios Korais. Wiesbaden: Harrassowitz 1997, S. 52. 70 Vgl. Dumont: Individualismus, S. 140. <?page no="32"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 32 resse der frühen Ethnologie gilt - sind ganze Lebensformen von Gemeinschaften und in diesem Sinne Kulturen.“ 71 Herder strebt zwar eine vorurteilsfreie Betrachtung aller Völker und Kontinente an, löst sich aber nicht immer von seinem eigenen europäisch zentrierten Blick. Die Spannung zwischen Herders Partikularismus und seinem Universalismus, zwischen der Anerkennung einer gleichberechtigten kulturellen Vielfalt und den normativen Urteilen über sie 72 ist auch in den „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784/ 91), den „Briefen zur Beförderung der Humanität“ (1793-1797) und der „Adrastea“ (1801-1803) zu spüren. Besonders stark manifestiert sich die Spannung zwischen Partikularismus und Universalismus in Herders Bewertung europäischer und nichteuropäischer Kulturen, was mit dem normativen Kulturkonzept korreliert. Obwohl Herder zivilisationskritische Ansichten vertritt, erhalten bei ihm Europa und seine Gelehrtenkultur aufgrund ihrer hoch entwickelten Wissenschaften und Künste eine Sonderstellung. Anne Löchte zufolge, verurteilt er zwar religiöse Bekehrungsversuche und tritt für Toleranz ein, hält aber trotzdem das Christentum für die reinste Humanitätsreligion. 73 Im letzten Brief schreibt Herder, er wolle „die Norm der Ausbreitung des moralischen Gesetzes der Menschheit“ nicht länger verhehlen, es sei das Christentum, welches „die reinste Humanität auf dem reinsten Wege gebiete“ 74 . Da die konkreten ethischen, ästhetischen und wissenschaftlichen Maßstäbe eine Vorrangstellung bekommen, geraten sie damit in Konflikt mit Herders Überzeugung von den gleichberechtigten kulturellen Pluralitäten. In den „Adrastea“ verlagert Herder den Schwerpunkt auf die Würdigung missionarischer Leistungen, was in scharfem Widerspruch zu seiner früherer Ablehnung kultureller Einmischung steht. Nach Anne Löchte enthalten Herders Schriften erhebliche universalistische und normative Implikationen, da er Maßstäbe im Bereich des Wahren, Schönen und Guten festschreibt, anhand derer er die Völker beurteilt: Das Leben Christi wird als gelebte Humanität geschätzt, die antike griechische Kunst als ästhetisches Ideal vorgeführt und der europäischen Kultur aufgrund ihrer hoch entwickelten Wissenschaften und Künste eine Sonderstellung zugewiesen. 75 Die Kultur steht bei Herder eng in Verbindung mit der Sprache, da sie die Vorbedingung der Kultur darstellt. In den „Ideen zur Philosophie der Ge- 71 Vgl. Reckwitz: Die Kontigenzperspektive der „Kultur“, S. 5. 72 Vgl. Anne Löchte: Johann Gottfried Herder. Kulturtheorie und Humanitätsidee der Ideen, Humanitätsbriefe und Adrastea. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005. 73 Ebd. 74 Bernhard Suphan (Hrsg.): Herders Sämmtliche Werke, 33 Bände, Berlin: Weidmann, 1877-1913, hier: Band 18, S. 301. 75 Löchte: Johann Gottfried Herder, S. 16. <?page no="33"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 33 schichte der Menschheit“ taucht eine Verbindung zwischen Sprache und Nation auf. Der schönste Versuch über die Geschichte und mannigfaltige Charakteristik des menschlichen Verstandes und Herzens wäre also eine philosophische Vergleichung der Sprachen: denn in jede derselben ist der Verstand eines Volkes und sein Charakter gepräget. [...] [D]er Genius eines Volks [offenbart sich] nirgend besser als in der Physiognomie seiner Rede [...]. 76 In den „Ideen“ versteht Herder die Sprache als „Mittel der menschlichen Bildung unseres Geschlechts“. 77 Schon in der „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“ (1772) definiert Herder die Sprache als den Sinn der menschliche Seele. In seiner „Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft“ (1799) versuchte Herder das Konzept einer Integration von Körper und Geist zu entwickeln. Er ist in der „Abhandlung“ sowie in der „Metakritik“ davon überzeugt, dass jede menschliche Erkenntnis durch Sprache vermittelt wird, da durch die Sprache Vernunft ausgebildet wird. Sprache ist für Herder Mittel der Welterschließung, und es ist genau die Sprache, die den Menschen vom Tier qualitativ trennt, denn ohne Sprache gibt es keine Vernunft: Alle Tiere bis auf den stummen Fisch tönen ihre Empfindungen; weswegen aber hat doch kein Tier, selbst nicht das vollkommenste, den geringsten, eigentlichen Anfang zu einer menschlichen Sprache. Man bilde und verfeinere und organisiere dies Geschrei wie man wolle: wenn kein Verstand dazukommt, diesen Ton mit Absicht zu brauchen, so sehe ich nicht, wie nach dem vorigen Naturgesetze je menschliche, willkürliche Sprache werde? 78 Da Denkvermögen und Kultur mit der Sprache erst möglich werden, bestimmt sie laut Herder auch die Volkszugehörigkeit der Individuen. Da die Sprache die Vorstellungswelt der Menschen prägt, kommt ihr auch eine nationskonstitiuierende Funktion zu, indem sie das individuelle Wesen des Volkes ausdrückt. I.5 Die frühromantische Suche nach Einheit und die spätromantische Versöhnung der Gegensätze in einem höheren Ganzen Die Epoche der Romantik war eine Umbruchszeit. Von zahlreichen romantischen Autoren unterschiedlichster Genres wird die eigene Zeit auch 76 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Darmstadt: Joseph Melzer Verlag 1966, S. 234. 77 Ebd. S. 235. 78 Johann Gottfried von Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. In: Herders sämmtliche Werke, hrsg. von Bernhard Suphan, Bd. 5. Berlin: Weidmann 1891, S. 1-147, hier S. 708. <?page no="34"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 34 ausdrücklich als die Zeit eines endgültigen Abschieds und der Trennung begriffen, als die Epoche des Identitätsverlustes: Was einst war, die naturwüchsige Identität von kulturellem, politischem, sozialem Leben, das ist jetzt zerstört, und die kritische Reflexion, die sich auf den Gang der zugrundeliegenden Entzweiung richtet, hat die Aufgabe, aus den zerstückten Teilen das Bild eines kommenden Ganzen zusammenzusetzen. Versöhnung lautet das Zauberwort dieser Arbeit. Aber sie hat es schwer, denn die Kultur selbst scheidet - so scheint es wenigstens - als Heilmittel aus. Sie war es, sagt Schiller, welche der neuern Menschheit diese Wunde schlug. 79 Die Romantik war eine Zeit in Deutschland, die sich einer allmählichen Zersplitterung des Individuums mit geistigen Mitteln entgegenzustellen versucht, um den weiteren Zerfall des Individuums in noch „flüchtigere Bestandteile“ abzuwehren. Eine allgemeine Reflexion über die persönliche Identität setzte in der Romantik ein, die die individuelle Persönlichkeit und das einzigartige Potenzial des Menschen in Literatur und Philosophie gepriesen hat. Identität als Begriff erhielt erst vermehrt Bedeutung, als der Identitätsfindungsprozess zum Problem wurde. Nach Zygmunt Bauman kann Identität nur als Problem existieren, „sie war von Geburt an ein Problem, wurde als Problem geboren“. 80 Wie Friedrich Schlegel schrieb, war in seinem Leben und seiner Lehre ein beständiges Suchen nach der ewigen Einheit von entscheidender Bedeutung. 81 Es geht ihm um die Versöhnung der Widersprüche zwischen Geist und Seele und der Anpassung der Geist- und Seelenkräfte, Vernunft und Wille, Verstand und Phantasie. Das ist ein Motiv, das die ganze deutsche Romantik auszeichnet. Die Suche nach der Einheit war jedoch erstmals nicht im Rahmen der nationalen Grenzen, sondern im größeren europäischen Kontext gedacht. Das Thema einer europäischen Identität regte auch eine Kulturkomparatistik an, und die Jenaer Romantiker (Friedrich Schlegel, Novalis, Friedrich Schleiermacher) fanden bei Herder und in seinem Verständnis der Menschheitsgeschichte ein Schema für die Beschäftigung mit Zweigen und Ästen des europäischen Geschichtsstammes. Friedrich Schlegel, Novalis und Friedrich Schleiermacher gründeten zusammen mit August Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck in Jena die Zeitschrift „Athenäum“ (1798-1801), die Friedrich Schlegel zum Organ der romantischen Weltanschauung machte. Das Ideal sieht er in der umfassenden Universalität, im Umspannen möglichst weit auseinander liegender Gegensätze. So stellt Schlegel in seinem Notizbuch die Frage: „Sollen die Europäer ein Volk werden (alles verschmolzen), oder jede 79 Harth: Das Gedächtnis, S. 155. 80 Vgl. Zygmunt Bauman: Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen. Hamburg: Hamburger Edition 1997, S. 134. 81 Vgl. Friedrich Schlegel: Schriften zur kritischen Philosophie 1795-1805. Mit einer Einl. und Anm. hrsg. von Andreas Arndt und Jure Zovko. Hamburg: Meiner 2007. <?page no="35"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 35 Nation nur ganz sie selbst sein? - Vielleicht beides wie es im Mittelalter war.“ Aber das heißt: „Das eigentliche Europa muss erst noch entstehen.“ 82 Die Wendezeit in der philosophischen Entwicklung Schlegels und damit auch in der Entwicklung der deutschen Romantik ist seine Konversion zum Katholizismus (1804-1808) und Übersiedlung nach Wien. Was ihn nach Wien zog, war die Hoffnung, von dort aus an der Wiederherstellung des deutschen Kaisertums mitwirken zu können, aber auch das Vorhaben, alle Künste und Wissenschaften vom romantischen Geist aus zu durchdringen. Die neue Zeitschrift von Schlegel „Deutsches Museum“ (1812-1813) nimmt einen starken vaterländischen Ton an. Mit der nationalen Idee stellt das „Deutsche Museum“ nach dem kosmopolitischen „Athenäum“ und dem vom „europäischen Patriotismus“ beseelten „Europa“ eine neue Entwicklungsstufe der deutschen Romantik dar, die immer mehr von der eigenen völkischen und literarischen Vergangenheit geprägt wurde. Infolge des Niedergangs des Deutschen Reichs in der napoleonischen Ära ruft Schlegel, wie auch Schleiermacher, zur Abkehr von der ästhetischen Lebensansicht und zur Rückkehr zu Nation und Religion auf. In Nation und Religion allein könne die dem „deutschen Charakter“ gemäße Gesinnung bestehen. Der Mensch erscheint nicht länger als ein von allen gesellschaftlichen Bindungen losgelöstes philosophisches Subjekt, sondern als Mitglied eines Standes, einer Kirche und einer Nation. Schlegel lehnt den Kantischen Begriff der Willensfreiheit ab. Der Gesichtspunkt Schlegels verschiebt sich also vom einzelnen Individuum zum Ganzen der „Menschheit“, „Gesellschaft“ und „Gemeinschaft“. Obwohl Schlegel seine Idee über die Entwicklung eines universellen Republikanismus nach 1804 nicht mehr vertritt und die Aufteilung der Menschen in Nationen als „natürlich“ sieht, schreibt er in seinen „Philosophischen Vorlesungen“: Das Menschengeschlecht soll doch zu einer wahren Gemeinschaft, wenn nicht unmittelbar geführt, doch dazu vorbereitet werden. Hierzu dient die Hierarchie. [...] Die Nationen sind auf diese Weise ja nach ihrer Eigentümlichkeit geschieden und selbstständig, während ein gemeinsames politisches und geistiges Band sie in eins verbindet. 83 Schon in Schlegels „Fragmenten“ 84 und in der Jenaer „Transzendentalphilosophie“ 85 kommt seine Sehnsucht nach einem vorrationalen Zustand der Einheit, Harmonie und Ganzheit zum Ausdruck. Dem diente auch das Auflösen 82 Schlegel zitiert nach Ernst Behler: Friedrich Schlegel. Hamburg: Rowohlt, 1966, S. 88, 89. 83 Friedrich Schlegel: Philosophische Vorlesungen 1800-1807 (Kritische Friedrich-Schlegel Ausgabe, 2. Teil), München, Paderborn, Wien: Schöningh 1964, S. 145-146. 84 Friedrich Schlegel: Schriften und Fragmente: Ein Gesamtbild seines Geistes. Stuttgart: Kröner 1956. 85 Friedrich Schlegel: Transcendentalphilosophie. Hamburg: Meiner 1991. <?page no="36"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 36 der strengen Begriffsgrenzen. Es liegt in der Dialektik einer solchen Auffassung des „Ganzen“, dass das Einzelne sich mit ihm nur dann verbinden kann, wenn es sich selbst aufgibt. Schlegels Konversion zum Katholizismus impliziert nicht nur ein Bekenntnis zur religiösen Weltanschauung, sondern sie enthält auch die Realisierung einer alles umfassenden christlichen Wert- und Gesellschaftsordnung - sein Erlebnis des Christentums war von „ganzheitlicher“ Natur. Das Einzelne ist für Schlegel nicht nur von untergeordneter Bedeutung, sondern es existiert nur im Hinblick auf das Ganze. So schrieb er in der „Logik“: „Der eigentliche Punkt, worauf es bei der Bestimmung des wahren Begriffs der Gottheit ankommt, ist, dass dieser außer der Idee der unendlichen Einheit vor allem die Idee der unendlichen Fülle in sich enthält“ 86 . Der Traum von einer kosmopolitischen Vereinigung Europas kommt schon in Novalis’ (1772-1801) Essay „Die Christenheit oder Europa“ 87 (1799) ebenso stark zum Ausdruck wie die von romantischen Autoren vertretene Einheit von Volk, Nation, Reich, Religion und Leben. Die Grundlage der zukünftigen Entwicklung ist für Novalis das christliche Mittelalter, da das Griechentum für Novalis und seine Zeitgenossen Bildungsideal war, aber nicht geschichtlicher Ausgangspunkt. Die Kunst und Frömmigkeit des deutschen Mittelalters wurde in den Mittelpunkt romantischen Denkens gestellt. Über das Mittelalter schreibt Novalis: Das waren die schönen wesentlichen Züge der echtkatholischen oder echtchristlichen Zeiten. Noch war die Menschheit für dieses herrliche Reich nicht reif, nicht gebildet genug. Es war eine erste Liebe, die im Drucke des Geschäftslebens entschlummerte, deren Andenken durch eigennützige Sorge verdrängt, und deren Band nacher als Trug und Wahn ausgeschrien und nach späteren Erfahrungen beurteilt - auf immer von einem großen Teil der Europäer zerrissen wurde. [...] Vernichtet kann jener unsterbliche Sinn nicht werden ... 88 Novalis entwirft in seiner Schrift ein stark idealisiertes Bild des mittelalterlichen Katholizismus, das als Vorbild für eine kosmopolitische Vereinigung dienen soll. Nicht von einem Einzelnen kann das Neue ausgehen, sondern vom Kollektiv. Novalis, der „den ersten Ruf zu einer neuen Urversammlung, den gewaltigen Flügelschlag eines vorüberziehenden, englischen Herolds zu hören“ glaubt schreibt weiter: Wer weiß, ob des Kriegs genug ist; aber er wird nie aufhören, wenn man nicht den Palmenzweig ergreift, den allein eine geistliche Macht darreichen kann. Es wird solange Blut über Europa strömen, bis die Nationen ihren fürchterlichen 86 Friedrich Schlegel: Philosophische Vorlesungen, Bd. 2. S. 370. 87 Novalis: Europa oder die Christenheit: Utopie oder Wirklichkeit. Weilheim, Obb.: Barth 1964. 88 Ebd., S. 48-49. <?page no="37"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 37 Wahnsinn gewahr werden, der sie im Kreise herumtreibt, bis sie von heiliger Musik getroffen und besänftigt zu ehemaligen Altären in bunter Vermischung treten, Worte des Friedens vernehmen, und ein großes Liebesmahl als Friedensfest auf den rauchenden Wahlstätten mit heißen Tränen gefeiert wird. Nur die Religion kann Europa wieder aufwecken und die Völker versöhnen und die Christenheit mit neuer Herrlichkeit sichtbar auf Erden in ihr altes, friedenstiftendes Amt installieren. 89 Dem europäischen Menschen ist die Aufgabe zugeteilt worden, eine universelle Individualität, eine neue Geschichte, eine neue Menschheit auszubilden. Gerade der Protestantismus hat diese idealistische Einheit gebrochen und durch eine nationale Kirche ersetzt. Am Ende seines in idealer Schau gehaltenen Fragments schreibt Novalis: Die Christenheit muß wieder lebendig und wirksam werden und sich wieder eine sichtbare Kirche ohne Rücksicht auf Landesgrenzen bilden, die alle nach dem Überirdischen durstigen Seelen in ihrem Schoß aufnimmt und gern Vermittlerin der alten und neuen Welt wird. [...] Aus dem heiligen Schoße eines ehrwürdigen Konzilismus wird die Christenheit auferstehen, und das Geschäft der Religionserweckung nach einem allumfassenden, göttlichen Plane betrieben werden. Keiner wird dann mehr protestieren gegen christlichen und weltlichen Zwang, denn das Wesen der Kriche wird echte Freiheit sein, und alle nötigen Reformen werden unter der Leitung derselben als friedliche und förmliche Staatsprozesse betrieben werden. 90 Auch das Romanfragment „Heinrich von Ofterdingen“ (1802) von Novalis bringt prägnant die Verherrlichung des Mittelalters zum Ausdruck. Novalis Geschichte ereignet sich im Mittelalter, in jener Zeit, in welcher noch eine "ganze“ Welt da war, in einer Welt, die im Gegensatz zu dem von Kriegen und Revolutionen zerrütteten Europa und einem Deutschland, das sich in Kleinstaaten zersplitterte. Heinrich von Ofterdingen soll ein mittelalterlicher Minnesänger zur Zeit des Kaisers Friedrich II. im dreizehnten Jahrhundert gewesen sein. Natur wird bei Novalis zum Einheitsbild der Geschichte erweitert, so wie in früherer Zeit, als Menschen, Tiere und Natur sich im Einklang befanden. Natur erscheint als Erfahrungsraum, dessen Einheit und Ganzheit nur durch Poesie zugänglich wird. Die Blumen und Bäume wuchsen und grünten mit Macht. Alles schien beseelt. Alles sprach und sang. Fabel grüßte überall alte Bekannte. Die Thiere nahten sich mit freundlichen Grüßen den erwachten Menschen. Die Pflanzen bewirtheten sie mit Früchten und Düften, und schmückten sie auf das Zier- 89 Ebd., S. 68. 90 Ebd., S. 69-70. <?page no="38"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 38 lichste. Kein Stein lag mehr auf einer Menschenbrust, und alle Lasten waren in sich selbst zu einem festen Fußboden zusammengesunken. 91 Der ästhetisch-geschichtsphilosophische Entwürf des Romans zielt darauf ab, Natur und Geschichte, Freiheit und Notwendigkeit, Endliches und Unendliches in einem zukünftigen goldenen Zeitalter zu versöhnen. Den Menschen sollte bewusst werden, dass ein unendliches Reich der Liebe und des Friedens zu erreichen wäre, und das Romanfragment endet in einem märchenhaften Bild vollendeter Vereinigung, in dem alle geschichtlichen Unterscheidungen und Konflikte in einem Einheitsbild aufgehoben erscheinen. Heil unsern alten Beherrschern, rief das Volk. Sie haben immer unter uns gewohnt, und wir haben sie nicht erkannt! Heil uns! Sie werden uns ewig beherrschen! Segnet uns auch! Sophie sagte zu der neuen Königin: Wirf du das Armband eures Bundes in die Luft, daß das Volk und die Welt euch verbunden bleiben. Das Armband zerfloß in der Luft, und bald sah man lichte Ringe um jedes Haupt, und ein glänzendes Band zog sich über die Stadt und das Meer und die Erde, die ein ewiges Fest des Frühlings feyerte. Perseus trat herein, und trug eine Spindel und ein Körbchen. Er brachte dem neuen Könige das Körbchen. Hier, sagte er, sind die Reste deiner Feinde. Eine steinerne Platte mit schwarzen und weißen Feldern lag darin, und daneben eine Menge Figuren von Alabaster und schwarzem Marmor. Es ist ein Schachspiel, sagte Sophie; aller Krieg ist auf diese Platte und in diese Figuren gebannt. Es ist ein Denkmal der alten trüben Zeit. 92 Die nationalen Bestrebungen der Frühromantiker gehen mit den universalen zusammen, sodass folglich die nationalen Aufgaben der Deutschen gleichzeitig universale Aufgaben für die Menschheit sind. In diesem Sinne kennzeichnet „Deutschheit“ für Novalis ein Kosmopolitismus, der mit der kräftigsten Individualität gemischt ist. Die Fundierung des Ganzen in einer religiös begründeten Hermeneutik, oder ein im Glauben befestigtes universalistisches Vernunftprinzip, das als Garant der Differenzen auftritt, findet sich auch im Werk von Clemens Brentano. In der Wiener Zeitschrift Friedensblätter veröffentlichte Brentano im Januar 1815 seine Erzählung „Die Schachtel mit der Friedenspuppe“. Die Thematik der Erzählung zeugt von einem politischen Interesse und Engagement Brentanos, das in der Arbeiten der Wiener Zeit ersichtlich ist und das sich später deutlicher in seinen religionspolitischen Schriften finden lässt. Die Pariser Friedenspuppe, die die Frau des Barons in einer bunten Schachtel mit sich führt, steht im Mittelpunkt der Erzählung, da alle Figuren der Erzählung mit der Schachtel verschiedenen Erinnerungen verbinden, die ein Gerichtshalter ermittelt und die sich allmählich in eine Geschichte zusammenfügen. 91 Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Frankfurt am Main: Fischer 1963, S. 114. 92 Ebd., S. 115. <?page no="39"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 39 Mit der Erscheinung des Meteors enthält die Erzählung am Schluss eine christliche Friedenssymbolik. Es war, als habe der Himmel sagen wollen: „Ihr leuchtet mit Freudentränen, wenn ich aber mit meinem Lichte euch erleuchte und die Nacht euch nehme, so sinken eure Flammen ein. Seht, mir gefällt euer kindisches Spiel, und ich gönne euch die heilige Nacht; aber wie ihr alle meine Feuer gesehen habt, unter einander aber nur jeder das seine, oder das der nächsten Nachbarn, so gedenket, daß nur das Licht von oben ein einigendes ist, und seid nicht eigensinnig, und bedenket nicht jeder seinen Vorteil, sondern gehört euch alle einander an, denn nur in allen ist Friede, und Kraft, und Dauer! “ Die Erscheinung des Meteors hatte über die ganze Versammlung eine tiefe Feierlichkeit gebracht, alle sanken ohne Aufforderung auf die Knie nieder und sangen mit einer heiligen Rührung: „Herr Gott, dich loben wir! “ und umarmten sich nachher unter Freudengejauchze und Tränen. 93 Die Erzählung endet beim Fest des Barons versönlich, jedoch mit einer Anspiegelung auf die Restauration der aristokratischen Macht nach dem Wiener Kongress 1815 und Zusammenbruch des napoleonischen Imperiums. Der Herr und die Frau tranken zuerst auf das Wohl des Vaterlandes und aller deutschen Könige, und aller deutsch- und königlichgesinnten Kämpfer. Das Volk erwiderte das Lebehoch, der Schulmeister und der Schulze tranken das Wohl ihrer Herrschaft, Frenel aber das Wohl seines Königs und der teuren Streiter, die ihn wieder auf seinen Thron gesetzt. 94 In seiner späteren Trilogie zum Leben Jesu: „Das bittere Leiden unseres Herrn Jesu Christi“ (1833), „Das Leben Mariae“ (1852) und „Die Lehrjahre Jesu“ (1858) ist Poesie für Brentano nicht mehr das einzige Medium, mit dem das verlorene Paradies erreicht werden kann. Brentano sucht jetzt „die Lösung der Identitätskrise, die Erlösung des Ich von den Qualen der Doppeltätigkeit in der Vereinigung mit dem Brautleib Jesu Christi bzw. der katholischen Kirche“. 95 93 Clemens Brentano: Die Schachtel mit der Friedenspuppe. Wien: Wilhelm Frick 1944, S. 62. 94 Ebd. S. 64. 95 Vgl. Ruthard Stäblein: Zwischen Auflösung und Erlösung des Ich. Zur Wiederkehr einer romantisch-modernen Bewusstseinskrise bei Clemens Brentano und Hugo von Hofmannstahl. Mit einem methodischen Vorspann nach Walter Benjamin. In: Cornelia Klinger, Ruthard Stäblein (Hrsg.): Identitätskrise und Surrogatidentitäten. Zur Wiederkehr einer romantischen Konstellation. Frankfurt am Main: Campus 1989, S. 40-84., hier S. 47. <?page no="40"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 40 I.6 Organizistische Konzepte des Staates und der Gemeinschaft in der Epoche der Romantik Ausgehend von der Kulturtheorie Schillers stellt Dietrich Hart fest, dass die Kultur, die alle Zerrissenheit überwunden hat und deren mögliches Bild das des ästhetischen Staates ist, nur im Durchgang durch den „Antagonismus“ des Organischen und Mechanischen erreichbar sei. 96 Die Metapher der Zerrissenheit enthält laut Dietrich Hart einen geschichtsphilosophischen Kern: Die Bindungen ans Vergangene sind zerrissen, „zerrissen ist das organische Verhältnis des Einzelnen zum Kollektiv, und zerrissen ist nicht zuletzt das moderne Subjekt im Verhältnis zu sich selbst“. 97 Das Streben zurück zur Einheit und zur ursprünglichen Vitalität wird zum anderen Bewusstsein der rationalistischen Moderne. Diese Tendenz zur Erlösung und Auflösung des krisenzerrütteten Individuums in der Gemeinschaft eines Kollektivs erweist sich als typisch für bestimmte Entwicklungen der Moderne selbst. Die Moderne als Bewusstseinsform entfaltet sich in der Identitätskrise des Subjekts. Erst die Vielheit des Ich, die Ich-Spaltung in einen real-erlebenden und fiktiv-schreibenden Teil konnte die Romanform, ja alle literarischen Formen der Moderne hervorbringen. Die Ich-Dissoziation wird jedoch als extremer Leidensdruck erfahren, die Fiktionalität als Lüge durchschaut, sodass die Moderne auf einen Paroxysmus zutreibt, an dem das Subjekt sich vom Alpdruck der Anspannung und der Spannung lösen will und nach einer endgültigen Lösung der Identitätsfrage strebt und sie häufig in religiösen, politischen oder synkretischen Einheiten und Gemeinschaften zu finden vermeint. 98 Die philosophischen Ideen der deutschen Romantiker zeichnet die Lehre vom Organismus aus. Auf „organische“ Weise haben sie die ganze nationale Problematik wahrgenommen. „Haben die Nationen alles vom Menschen - nur nicht sein Herz - sein heiliges Organ? “, hieß es bei Novalis 99 . Bei Schlegel steht der Gedanke, dass die Natur kein Mechanismus sei, sondern ein Organismus, schon im Mittelpunkt der „Transzendentalphilosophie“. Mit organisch bezeichnete er das „Lebendige“ und „Individuelle“ im Gegensatz zum „Toten“ und „Abstrakten“. Jedes individuelle und lebendige, mit anderen Worten organische Wesen bildet ein autonomes Ganzes und entfaltet sich nach den Gesetzen der Natur. Später bekommt der theologische Aspekt des Organismusbegriffs eine entscheidende Bedeutung. Auch der Organismus- 96 Harth: Das Gedächtnis, S. 156. 97 Ebd. S. 161. 98 Vgl. Stäblein: Zwischen Auflösung und Erlösung , S. 47. 99 Novalis: Die Christenheit oder Europa. S. 41. <?page no="41"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 41 begriff dient Schlegel dazu, seine philosophischen Ideale von mechanischen Auffassungen der Aufklärung abzusetzen. Ende des 18. Jahrhunderts stand die Staats- und Gesellschaftslehre ganz im Banne der Theorie des Naturrechts, das einen vorstaatlichen Naturzustand und in diesem ein außerstaatliches Recht und ferner eine vertragsmäßige Begründung des Staates lehrte. Die Gedanken von John Locke, Montesquieu, Rousseau und Adam Smith drangen nach Deutschland vor und wurden von der deutschen Philosophie aufgenommen und umgebildet. Der Staat wurde als ein Interessensverband und als eine mechanische Einrichtung betrachtet. Mit dem deutschen Idealismus tritt an die Stelle „der rein begriffsmäßigen Auffassung des Lebens eine metaphysische, an Stelle des mechanisierenden und atomisierenden Denkens ein Streben nach Einheit und Allumfassendheit“: 100 Diese allgemeine Wandlung von der Vernunft zur Metaphysik und von da zur Religion ist insbesondere von grundlegendem Einfluss für die Entwicklung der romantischen Staatswissenschaft und für ihre zeitlich verschiedene Beurteilung des Wesens der Gemeinschaft. 101 Der Geist der deutschen Romantik stellt sich in der Entfaltung des organischen Denkens dar. Der organische Gedanke ist also der im tiefen Sinne verstandene Gedanke der Geschichtlichkeit des Seins, das im unaufhörlichen Selbstgeburtsprozess und als das Werk der überall tätigen Freiheit sich als die Grundform der Seienden niederschlägt. 102 Das organische Denken setzt die unauflösliche Einheit voraus, da sich mit der Trennung oder Veränderung eines Gliedes das Ganze verändert: Die organische Identität ist eine problematische. Sie ist das Problem eines jeden Gliedes und das Problem des Ganzen. Weil das Identitätsproblem an jeder Stelle (als Differenz desselben) anders gelöst werden muß, deshalb ist die Identität an jeder Stelle bedroht. […] Aus dieser ständigen Bedrohung heraus lebt das Organische. 103 Nach Paul Kluckhohn erschien die Idee des Organischen in Kants Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie 104 , wurde in Goethes Natur- und Kunstschau gewonnen und bestimmte letztendlich Herders Geschichtsauffassung. Möser erkannte den Wert von überlieferten Traditionen und allem historisch Gewordenen. Der britische Politiker, Schriftsteller und Staats- 100 Jakob Baxa: Einführung in die romantische Staatswissenschaft. Jena: Verlag von Gustav Fischer 1931, S. 9. 101 Ebd., S. 10. 102 Vgl. José Sánchez de Murillo: Der Geist der deutschen Romantik. München: Pfeil 1986, S. 23. 103 Ebd., S. 267. 104 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1966. <?page no="42"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 42 philosoph Edmund Burke vertrat eine ähnliche Auffassung und übte eine starke Wirkung auf die Vertreter der romantischen Staatsauffassung aus, etwa auf Novalis, Adam Müller und Friedrich Schlegel. Das Erlebnis der Individualität bedeutete zugleich das Erlebnis der Gemeinschaft der Individualitäten. Schelling, der den Staat zuerst als etwas Mechanisches, das überwunden werden müsse, sah, kam nach 1802 zu einer anderen Überzeugung. Er begriff nun den Staat als eine geistige Idee und als einen Organismus, der das Einswerden des Besonderen und des Allgemeinen darstellt. 105 Gerade die Staatsideen von Novalis und Burke sowie die Lehre von den Gegensätzen, die Schelling und Schlegel entwickelten, sind die geistige Grundlage, auf denen Adam Müller seine Elemente der Staatskunst aufbaut. 106 An die Stelle von Rousseaus Naturrecht rückt Müller eine naturhafte, organische Vermittlung des Staates und sieht den Staat als eine Individualität. Seine Vorstellung zielt auf einen anzustrebenden organischen Staat ab, in dem das materielle, irdische Interesse mit dem geistlichen Interesse und jede partikulare Kraft mit dem Ganzen vermittelt ist. Nach seiner Vision von der „innigen Berührung und Harmonie aller Staatsglieder“ stehen die Individuen und die Gesamtheit des Staates in einem Verhältnis der harmonischen Wechselwirkung. Adam Müller stellt den Staat als ein durchaus lebendiges Ganzes dar. Den Staat als lebendiges Wesen und als ein selbstständig bestehendes Individuum zu sehen gehört zur romantischen Grundanschauung. Damit widersetzt sich die Romantik der Lehre der Aufklärung von einer für alle Staaten geeigneten besten Staatsverfassung. Das ganze Leben des Menschen ist nach Müller in den Staat verflochten, und der Mensch ist außerhalb des Staates nicht zu denken. In der Romantik tritt anstatt einer Interessensverbindung mit dem Staat eine seelische Verbindung durch Hingabe, Opferbereitschaft, Vertrauen und Liebe. 107 So schreibt Adam Müller: Der Staat ist keine bloße Manufaktur oder Meierei oder Assekuranzanstalt oder merkantilistische Sozietät: er ist die innige Verbindung der gesamten physischen und geistigen Bedürfnisse, des gesamten inneren und äußeren Lebens einer Nation zu einem großen, energischen, unendlich bewegten und lebendigen Ganzen. 108 105 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, Hamburg: Meiner, 1974 und System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere (1804) in: Ausgewählte Schriften. Bd. 3. hg. v. M. Frank, Frankfurt/ M. 1985. 106 Vgl. Kluckhohn: Das Ideengut, S. 81-82. 107 Vgl. Adam Müller: Die Elemente der Staatskunst. 2 Bde., hrsg. von Jakob Baxa. Jena: Fischer 1929. 108 Ebd., S. 37. <?page no="43"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 43 Adam Müller unterscheidet wie Schlegel und die anderen Romantiker nicht klar zwischen Staat und Volk und zwischen Staat und Nation. In der siebten Vorlesung der „Elemente“ sagt Müller: Ein Volk ist die erhabene Gemeinschaft einer langen Reihe von vergangenen, jetzt lebenden und noch kommenden Geschlechtern, die alle in einem großen, innigen Verbande zu Leben und Tod zusammenhängen, von denen jedes einzelne, und in jedem einzelnen Geschlechte wieder jedes einzelne menschliche Individuum den gemeinsamen Bund verbürgt und mit seiner gesamten Existenz wieder von ihm verbürgt wird. 109 Den Romantikern geht es um die Verfassung einer Gesellschaft, in der die Beziehungen zwischen ihren Teilen mehr und anders gestaltet sind als über ihre wechselseitige Abhängigkeit voneinander. Eine Verbindlichkeit und Einheit stiftende Mythologie ist die Grundlage für dieses organizistische Gesellschaftskonzept der Romantik. Diese „Neue Mythologie“ kann nur nach der Überwindung der mechanistischen Staatsauffassung zugunsten eines organizistischen Konzeptes entstehen. In seiner Rede über die Mythologie spricht Schlegel von der Notwendigkeit, die neue Mythologie „aus der tiefsten Tiefe des Geistes“ 110 herauszubilden, und ihre Bestätigung findet man „in dem großen Phänomen des Zeitalters, im Idealismus! “ 111 . Schlegels Entwurf von einer „Neuen Mythologie“ basiert auf der Konstruktion einer allegorischen Zusammenführung von verschiedenen Elementen zu einem Ganzen, in dem alle Elemente über eine dominante Funktion der Selbstreferenz in einem Verhältnis der Verschiebung zueinander stehen. Die Mythologie ist ein solches Kunstwerk der Natur. In ihrem Gewebe ist das Höchste wirklich gebildet; alles ist Beziehung und Verwandlung, angebildet und umgebildet, und dieses Anbilden und Umbilden eben ihr eigentümliches Verfahren, ihr innres Leben, ihre Methode, wenn ich so sagen darf. 112 Diese Versöhnungsarbeit erschöpfte sich nicht alleine in Poesie und Mythologie. Anders als die Dichter sucht Hegel nach einer Lösung nicht allein in der Rückkehr zum Denken in Mythen. In seiner Phänomenolgie des Geistes spricht Hegel von „Individualität des Gemeinwesens“, also von kollektiver Identität, die sich nicht anhand des Zusammenhangs zwischen Kultur (Tradition) und Gedächtnis bildet. Identität ist etwas Partikulares und vom modernen Staat abhängig. 109 Ebd., S. 92. 110 Ernst Behler (Hrsg. unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner): Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Erste Abteilung: Kritische Neuausgabe, Band 2, München, Paderborn, Wien: Schöningh; Zürich: Thomas 1967. S. 312. 111 Ebd. S. 313. 112 S. 318. <?page no="44"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 44 Die negative Seite des Gemeinwesens, nach innen die Vereinzelung der Individuen unterdrückend, nach außen aber selbsttätig, hat an der Individualität seine Waffen. Der Krieg ist der Geist und die Form, worin das wesentliche Moment der sittlichen Substanz, die absolute Freiheit des sittlichen Selbstwesens von allem Dasein, in ihrer Wirklichkeit und Bewährung vorhanden ist. 113 In seinem 1967 erschienen Aufsatz „Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels „Jenenser Philosophie des Geistes“ setzt sich Habermas mit Hegels Philosphie auseinander und stellt fest, dass nach Hegel „die Identität des Ich alleine durch die von meiner Anerkennung ihrerseits abhängige Identität des Anderen, der mich anerkennt, möglich ist“. 114 Die Entzweiung von Ich und Gesellschaft kann im Begriff des objektiven Geistes überwunden werden, sobald der Geist in der Natur in seiner absoluten Äußerlichkeit identifiziert werden kann. Die Entzweiung des Ich mit der äußeren Natur, der Gesellschaft und der inneren Natur ist in der Einheit des objektiven und des absoluten Geistes bzw. der Partikularität eines bestimmten Volksgeistes bzw. der Sitten und Normen und der Allgemeinheit und Vernunft (Religion und Philosophie) aufgehoben. Habermas stellte später mit dem Begriff Verfassungspatriotismus seine Idee „universalistischer Identität“, die sich negativ mit der Geschichte identifiziert. Die moderne Gesellschaft hat im souveränen Verfassungsstaat ihre vernünftige Identität, so Habermas. 115 I.7 Die Konstruktion des „Volkes“ und die identitätsstiftende Wirkung der Volkslieder in der mittleren Romantik Nach der Schlacht von Jena im Jahre 1806 und der Niederlage Preußens setzen vor allem Berliner Romantiker auf die Nation bzw. Deutschland statt auf den Nationenverein bzw. Europa. Die Befreiungskriege in Deutschland von 1813 bis 1815 sind ohne die geistige Vorbereitung durch die Romantik nicht zu denken. „Als der Sieg errungen, war man sich dessen durchaus bewusst, dass nach der Befreiung des Vaterlandes noch wesentliche Aufgaben zu erfüllen seien, damit die Deutschen endlich eine Nation werden“, wie Eichendorff 1814 an Fouqué schrieb, oder wie er in dem Gedicht „An die Freunde“ sagt: 113 Georg W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hearusgegeben von Johann Schulze in: Georg W. F. Hegel’s Werke. 2 Band. Berlin: Verlag von Duncker und Humblot., 1832. S. 358. 114 Jürgen Habermas: Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels „Jenenser Philosophie des Geistes“. In: Ders.: Technik und Wissenschaft als „Ideologie“. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, S. 19. 115 Vgl. Jürgen Habermas: Staatsbürgerschaft und nationale Identität. In: (ders.): Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1992. <?page no="45"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 45 Es hat der Krieg den Funken kühn entglommen, Das Schlechte stürzt’ er um in blut’gem Streit, Das Beßre auf den Trümmern aufzuführen, Muß sich nun Geisterkampf lebendig rühren. 116 Die entstandene Leerstelle im Ringen um nationales Bewusstsein und nationale Einigung wurde durch die Geschichtsschreibung aufgefüllt. „Die Literatur wurde als Ausdruck von Gesellschaft verstanden, wodurch der Schriftsteller eine entsprechende soziale oder auch nationalpädagogische Funktion erhält.“ 117 Die Herausbildung eines nationalen Bewusstseins war in Deutschland bis zu den Revolutionskriegen und während der napoleonischen Herrschaft vorrangig von Intellektuellen getragen: Die Romantiker sind es, die sich den herrlichen Ruhm erwarben, eine Zurücklenkung der Dichtung auf das Vaterland bewirkt und eine reiche Blüte der Vaterlandsdichtung hervorgerufen zu haben. 118 Ernest Renan hat schon in seiner berühmten Rede „Was ist eine Nation? “ („Qu’ est-ce qu’une nation? “) 119 im Jahre 1882 behauptet, dass nationaler Zusammenhalt nicht auf objektiven Bedingungen beruhe, sondern auf den immer wieder neu getroffenen freien Entscheidungen der Bürger. Das Dasein einer Nation sei ein täglicher Plebiszit und die Nation selbst eine große Solidargemeinschaft, getragen vom Gefühl der Bereitschaft, Opfer zu bringen. Laut Renan existiert das Konstrukt einer Nation nur in den Köpfen und Herzen der Menschen. Erinnerungen an die Vergangenheit, das Begehren, zusammenzuleben, und die Fortsetzung des gemeinsamen Erbes schaffen eine nationale Kultur, so Renan. Wie der Einzelne, so ist die Nation der Endpunkt einer langen Vergangenheit von Anstrengungen, von Opfern und von Hingabe. Der Kult der Ahnen ist von allen am legitimsten; die Ahnen haben uns zu dem gemacht, was wir sind. Eine heroische Vergangenheit, große Männer, Ruhm (ich meine den wahren) - das ist das soziale Kapital, auf das man eine nationale Idee gründet. [...] Ja, das gemeinsame Leiden eint mehr als die Freude. 120 116 Jospeh von Eichendorff: Werke. Band IV. Nachlese der Gedichte. Erzählerirische und dramatische Fragmente. Tagebücher 1798-1815, München: Winkler Verlag, 1815, S. 41. 117 Gerhart Hoffmeister: Deutsche und europäische Romantik. Stuttgart: Metzler 1990, S. 109. 118 Leonhard Habrich: Deutsches Einheits- und Stammesbewusstsein im deutschen Schriftentum, von den Anfängen bis zur Gegenwart. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Wesens und ein Hilfsmittel zur Belebung und Förderung des literaturkundlichen Unterrichts. Düsseldorf: Schwann 1988, S. 7. 119 Ernest Renan: Was ist eine Nation? Rede am 11. März 1882 an der Sorbonne. Mit einem Essay von Walter Euchner. Hamburg: Europäische Verlags-Anstalt 1996. 120 Ebd., S. 34-35. <?page no="46"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 46 Eine nationale Kultur stellt deswegen auch eine Möglichkeit dar, Bedeutungen zu konstruieren. Das Konzept der Nation beruht sowohl auf kulturellen als auch auf politischen Kategorien und stellt so einen spezifischen Code der Inklusion bzw. der Exklusion dar. Wenn wir also über Nation reden, ist damit eine symbolisch-integrative Kategorie gemeint. Man könnte sagen, dass die Nation dem Staat die symbolische Macht verleiht und der politischen Herrschaft symbolische Legitimität sichert. Deswegen können politische Konflikte als Quelle nationaler Identitätsbildung funktionieren. „Nationale Identitäten sind schwer überprüfbare Einstellungen, Redeweisen, die nicht selten mit überzeugender Symbolik verbunden auftreten, ja auch von oben organisiert werden können und eine relativ dauerhafte semantische sowie materielle Präsenz im kulturellen Diskurs einer Gesellschaft erwerben.“ 121 Sie schaffen die Deutungsrahmen, innerhalb deren zugleich mit dem Selbstbild des Kollektivs die Orthodoxie für die Aus- und Eingrenzung der einzelnen Mitglieder entsteht. Nationalkulturen entstehen so anhand einer Selektion realer und/ oder fiktionaler Elemente der Vergangenheit, die zur Konstruktion einer kollektiven Erinnerung beitragen. Der Begriff des Volkes und des Volksgeistes hat für die Herausbildung eines nationalen Bewusstseins in Deutschland eine wichtige Rolle ausgeübt. Im 18. Jahrhundert wurde das Wort Volk am häufigsten als Bezeichnung für die soziale Unterschicht, die im Gegensatz zur Oberschicht der Gebildeten stand, verwendet. Möser und Herder widersprachen einer derartigen geringschätzigen Begriffsdeutung: Möser sah in den bäuerlichen Grundbesitzern den Kern des Volkes, den er in der Festigkeit seiner Tradition zu erhalten wünschte. Und Herder wollte aus der Sprache und Dichtung der Völker als Gemeinschaften, die durch die gemeinsame Abstammung, Sprache und Geschichte gebildet werden, ihre Seele, ihr Wesen, ihren Nationalcharakter erfassen: Wunderbare, seltsame Sache überhaupt ist’s um das, was genetischer Geist und Charakter eines Volkes heißet. Er ist unerklärlich und unauslöschlich, so alt wie die Nation, so alt wie das Land, das sie bewohnte. 122 Nach Herder und seinen Nachfolgern ist der Volksgeist ein Garant für die Dauer und Identität jeder einzelnen Entität. Dieser Geist kann sich nach Herder nur anhand der und aus der Geschichte heraus verstehen. Obwohl Herder Volksgeist als Zusammensetzung nicht so gebraucht hat, spricht er als Erster vom Geist und der Seele des Volkes. Das Volk bezeichnet bei Herder nicht mehr eine soziale Gruppe innerhalb der Nation, sondern die Nation selbst. 123 In Folge der synonymen Verwendung der Begriffe Volk und Nation 121 Vgl. Hart: Das Gedächtnis der Kulturwissenschaften, S. 151. 122 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Darmstadt: Melzer 1966, S. 88. 123 Vgl. Fritz Gschnitzer, Reinhart Koselleck, Karl Ferdinand Wagner: Volk, Nation, Nationalismus, Masse. In: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hrsg.): Ge- <?page no="47"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 47 kommt die Verbindung von ethnischen, kulturellen, sozialen und politischen Kriterien zum Ausdruck. Die Volkszugehörigkeit wird nach Herder mit der Muttersprache erworben: Mittelst der Sprache wird eine Nation erzogen und gebildet: mittelst der Sprache wird sie ordnung- und ehrlibend, folgsam, gesittet, umgänglich, berühmt, fleißig und mächtig. Wer die Sprache seiner Nation verachtet, entehrt ihr edelstes Publicum; er wird ihres Geistes, ihres inneren und äußeren Ruhms, ihrer Erfindungen, ihrer feineren Sittlichkeit gefährlichster Mörder. 124 Herder prägt den Begriff Volkslied, angeregt von seinem Lehrer Hamann und den englischen Vorbildern, und beschreibt das Volkslied als schön, allgemein verbreitet und alt. Um die ursprüngliche Schönheit des echten Volkslieds zu entdecken, muss man laut Herder in das Goldene Zeitalter zurückkehren. So inszeniert Herder einen fiktiven Ruckzug in die mythische Vergangenheit, um die mit dem Wort Volk suggerierte allgemeine Verbreitung dieser Lieder zeigen zu können. Damit wird aber nicht nur Altes wiederentdeckt, sondern auch Neues geschaffen. Herder schrieb 1771 „Über Ossian und die Lieder alter Völker“ und stellte seine erste Sammlung unter dem Titel „Alte Volkslieder“ 1774 zusammen, deren zweite Fassung unter dem Titel „Volkslieder“ 1778 und 1779 erschien. In seinen Schriften sind auch zum ersten Mal die Begriffe Volksdichtung, Volkspoesie und Volkslied zu finden. Die Volkspoesie wird bei Herder aber nicht als ein Produkt der mündlichen Überlieferung dargestellt, sondern als Resultat einer schöpferischen Fiktion, die Volk und Kunst vereinigt. Diese Gedanken wirken in der Romantik stark nach, was schon in den Studien Friedrich Schlegels zum griechischen Altertum zu spüren ist, in denen er Kultur als Ausdruck des Volkes bestimmt und die Dichtung der Griechen im Zusammenhang mit ihrem Land und mit ihren politischen, sozialen und kulturellen Verhältnissen sieht. A. W. Schlegel sagt in seinen Berliner Vorlesungen, dass „die hohen gebildeten Stände unserer Nation keine Literatur haben“, in dem Sinne, dass sich darin die hervorstechenden Anschauungen der Welt und des Lebens einer Nation finden, „aber der gemeine Mann hat eine“, nämlich in den sogenannten Volksbüchern.“ 125 In der Aufforderung zur Mitarbeit an seiner Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ betont Achim von Arnim auch die nationalen Ziele, die mit der Vorliebe der Romantiker für die Volksdichtung einhergingen. In einem Aufruf im „Reichsanzeiger“ schrieb er 1805: schichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7. Stuttgart: Klett-Cotta 1992, S. 141-431, hier S. 283. 124 Johann Gottfried Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität. In: Ders.: Sämtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Bd. 18. Berlin: Aufbau Berlin 1883, S. 235. 125 Kluckhohn: Das Ideengut., S. 103. <?page no="48"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 48 Wären die deutschen Völker in einem einigen Geist verbunden, sie bedürften dieser gedruckten Sammlungen nicht, die mündliche Überlieferung machte sie überflüssig, aber eben jetzt, wo der Rhein einen schönen Teil unseres alten Landes loslöst vom alten Stamme, andere Gegenden in kurzsichtiger Klugheit sich vereinzeln, da wird es notwendig, das zu bewahren und aufmunternd auf das zu wirken, was noch übrig ist, es in Lebenslust zu erhalten und zu verbinden. 126 Bei Arnim findet eine Verschiebung auf ästhetische statt philosophisch-politische Identitätsangebote statt. Der romantische Volksbegriff ist sehr durch ästhetische Konstruktionen und Idealisierung bestimmt. Das Volk spielte besonders in der Heidelberger Romantik eine zentrale Rolle. Die Romantiker wollten die durch den Modernisierungs- und Zivilisationsprozess gefährdete Volkssprache und -dichtung bewahren und betrieben einen Kult des Natürlichen und Ursprünglichen. Neben Arnims Volkslied-Sammlung und der Märchensammlung der Brüder Grimm schrieb Brentano die „Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl“ 127 . In der Geschichte lässt er das Volk selbst durch die Hauptfigur, eine 88-jährige Bäuerin, zu Wort kommen. Die langjährige Erfahrung lässt die Bäuerin schließen, dass sich eigentlich nichts ändert und immer das Gleiche die Welt regiert. Der historische Kontext begünstigte mit der Zerstörung der alten Bindungen die Rückkehr der alten Traditionen, die sich in den Volksliedern, den Volksmärchen, in Sagen und Folklore manifestierten und am Ende des 18. Jahrhunderts vom Untergang bedroht waren. Für Jakob Grimm ist der Volksgeist in der Sprache und folglich in der Dichtung wirksam. So schreibt Grimm: Möge endlich doch als unverbrüchliches Gesetz anerkannt werden, daß alle, welche deutsche Zunge reden, auch dem deutschen Volke angehören und in ihrer Not auf seine mächtige Hülfe rechnen dürfen. 128 Das Wesen und die Geschichte des deutschen Volkes spiegeln sich in den Eigenschaften der deutschen Sprache. Grimm glaubte, dass der Volksgeist auch in der Dichtung als Schöpferkraft wirksam ist. Neben Sprache und Dichtung wurden aber auch Recht, Sitte und Volksglauben als Äußerungen des Volksgeistes bewertet und erforscht. 126 Ludwig Achim von Arnim in Reichs-Anzeiger, Nr. 339 vom 17. Dezember 1805, S. 4305-4306. 127 Clemens Brentano: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. Stuttgart: Reclam 2003. 128 Jacob Grimm, zitiert nach: Jürgen Storost: Jacob Grimm und die Schleswig-Holstein- Frage. Zu den Kontroversen von 1850. In: Brüder Grimm Gedenken, Bd. 8. Marburg: N. G. Elwert 1988, S. 64-80, hier S. 64. <?page no="49"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 49 Neben der historischen Forschung kam es Joseph Görres darauf an, den Mythos als Kern der Weltanschauung vor der Zeit der Geschichte zu erfassen. Die Kraft des Volkliedes wurde im 19. Jahrhundert vor allem mit der nationalen Ideologisierung verbunden. Das Volk wurde als eine kollektiv schaffende Gruppe vorgestellt oder der unbekannte Verfasser als ein Zeichen eines Übergewichts des Gemeinsamen. „Denn das Volkslied existiert nur als Gemeinschaftslied, so wie die Volkstracht immer eine Gemeinschaftstracht ist.“ 129 So unterscheidet Ludwig Uhland Volkspoesie von der Kunstpoesie dadurch, dass in der ersten das Übergewicht des gemeinsamen über die Ansichten des Einzelnen ein Entscheidendes ist. So entstand eine Gleichung vom Begriff Volkspoesie mit den Begriffen Naturpoesie und Nationalpoesie. „Nationalpoesie ist nicht nur die Dichtung, die aus der Anonymität des Volkes hervorgegangen ist, sondern auch und vor allem jede Dichtung, die den Geist der Nation verkörpert, die in Inhalt und Form national gültig und verbindlich ist.“ 130 Das Volkslied wurde zu einem wertvollen Gut, das man dem Volk, aus dem es doch, wie man dachte, hervorgegangen war, wieder übergeben sollte: Arnim und Brentano wollten so das Volkslied aus alter Tradition wieder unter die Menge bringen oder wie Jacob Grimm an Bruder Wilhelm schreibt, sie wollen es durchwegs in unsere Zeit verpflanzen, wohin es an sich nicht mehr gehört. 131 So entwickelte sich später eine Liedform, die sich dort verbreitete, wo der Staat zu befehlen hatte und wo Kollektive (etwa in der Armee oder in Schulen) geschaffen werden sollten. Und so sehen wir die Liedpflege in Armee, Schule, Studentenverbindung und Männerchor zum Vehikel der nationalstaatlichen Ideologie werden. Überall - und das ist die von Herder nicht gedachte Folge seiner Konzeption - führt man nun das Wort Volkslied an, um mit diesem idealistischen Begriff das Wahre in die Massen zu tragen. 132 Die Musikwissenschaftlerin Eva Maria Hois hat erforscht, inwieweit das Volkslied in der Habsburgermonarchie diese Funktion ausübte. 133 Nach Hois stellt dafür die Gründung zweier Institutionen ein Beispiel dar, die die Sammlung von Volksliedern aller ethnischen Gruppen des Reiches betrieben. Die erste Institution wurde 1904 unter dem Namen „Das Volksliedunternehmen“ und die zweite als „Musikhistorische Zentrale beim k. u. k. Kriegsministe- 129 Vgl. Ernst Klusen: Volkslied: Fund und Erfindung. Köln: Gerig 1969, S. 13. 130 Vgl. Hermann Bausinger: Formen der „Volkspoesie“, Berlin: Schmidt 1968, S. 20. 131 Klusen: Volkslied, S. 140. 132 Ebd., S. 147. 133 Vgl. Eva Maria Hois: Völkerverbindend oder national? Die Funktionalisierung des Volksliedes in der Habsburgermonarchie. Ein Beitrag zur Geschichte der Volksliedforschung in Österreich. In: Jahrbuch des Österreichischen Volksliedwerkes, Jg. 48, Wien 2000, S. 130-148. <?page no="50"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 50 rium“ gegründet. Die nationalen Gegensätze sollten durch die angeblich unpolitische und damit völkerverbindende Wirkung der Musik überwunden werden. Hois zufolge sollte die Sammlung der Volkslieder dazu beitragen, den Gesamtstaatsgedanken in der Habsburgermonarchie mittels der positiven Bewertung der ethnischen und kulturellen Vielfalt des Reiches zu festigen. Denn die einfachen Menschen, die aus den Inhalten der Volkslieder sprechen, seien der Ursprung der Geistesverwandtschaft der ethnischen Gruppen der Monarchie. Widerstände innerhalb der ethnischen Gruppen resultierten zwangsläufig aus der Auffassung, das Volkslied sei der „reinste Spiegel der Volksseele“ und damit Ausdruck eines hypostasierten „Volkscharakters“. 134 Eine solche Auffassung war laut Hois mit Wertungen verbunden, die das deutschsprachige Lied zum Maßstab für die Volkslieder der anderen Völker machten, die in ihrer Charakterisierung jeweils eine implizite Abwertung erfuhren. Um die übernationale Identität der Habsburgermonarchie zu betonen, wurde in Kriegszeiten 1916 die „Musikhistorische Zentrale beim k. u. k. Kriegsministerium“ gegründet. Auf dieser Weise sollte das Gemeinschaftsgefühl in der Armee gefördert werden. „Die Sammlung von Volksliedern unter den Soldaten hatte allerdings mit Problemen wie dem Fehlen geeigneter Sammler und mit Kritik an der Idee übernationaler Liedersammlungen sowie dem Anspruch auf die deutsche Vorrangstellung zu kämpfen.“ 135 Dennoch fand im Januar 1918 in Wien ein Konzert mit Soldatenliedern als Demonstration der übernationalen Einheit der Armee statt, so Hois. Diese Beispiele zeigen, mit welchen Ziel das Lied, aber auch speziell das Volkslied verwendet werden kann: als Werkzeug der ich- oder gruppenbezogenen Reflexion, als Werkzeug der Kooperation zwischen Gruppenmitgliedern oder zwischen verschiedenen Gruppen und schließlich als Werkzeug der Aggression, sei es zwischen dem Einzelnen und seiner Gruppe oder zwischen verschiedenen Gruppen. 136 I.8 Nation erzählen - Hermann und die Erzählung der deutschen Nation Oft wird eine Erzählung der Nation in Nationalgeschichten, in der Literatur, den Medien und der Alltagskultur vorgeführt. Wir selbst sehen uns als Mitglieder einer solchen vorgestellten Erzählgemeinschaft, und so nehmen wir an dieser Erzählung teil. In jeder Kultur zirkuliert die Geschichte, die den Ursprung einer Nation im Sinne eines Gründungsmythos erzählt und die Nation begründet. Ursprungsmythen helfen den Entrechteten, Vorurteile zu hegen und in verständlichen Begriffen auszudrücken. Sie schaffen sich eine 134 Ebd. 135 Ebd. S.145. 136 Klusen: Volkslied, S. 25. <?page no="51"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 51 Erzählung, durch die eine alternative Geschichte oder Gegenerzählung konstruiert werden kann. 137 Die Identitäten, die der Diskurs einer Nationalkultur schafft, werden zwischen Vergangenheit und Zukunft verortet. Der Rückzug in die Vergangenheit verdeckt oft einen Kampf, der das Volk mobilisieren soll, seine Reihen zu säubern, die Anderen, die seine Identitäten bedrohen, auszuschließen und sich für einen neuen Marsch vorwärts zu rüsten. 138 Für jede Kultur ist davon auszugehen, dass in ihr einige Formen von Erzählungen wesentlich häufiger verwendet werden als andere. Es gibt kulturell bedingte Erzählformen und Plotstrukturen, aus denen viele Geschichten abgeleitet werden können. Northrop Frye schrieb 1957 „Anatomy of Criticism“ 139 , eine Sammlung von vier Essays über die historischen Modi der Literatur, die literarische Symbolik, die Mythentheorie und über literarische Gattungen. Nach Fryes Modell ist weder Geschichte noch sind Geschichten, ist weder „history“ noch sind „stories“ erzählbar, ohne dass eine der archetypischen Plotstrukturen zum Tragen kommt. Frye geht in seiner Grammatik literarischer Archetypen davon aus, dass eine begrenzte Zahl möglicher grundlegender Fabeln, die erzählt werden können, vorhanden sei. Frye zufolge steht die Fabel vor der Erzählung, die Form vor dem Inhalt, der Plot vor der konkreten Erzählung. Nach Frye gibt es vier verschieden Plotstrukturen, auf die sich alle möglichen Fabeln reduzieren lassen: neben den aristotelischen Gattungen der Komödie und Tragödie die Romanze und die Ironie bzw. die Satire. Fryes Begriff der Romanze umfasst die mittelalterliche Ritterromanze, aber auch das Märchen und damit alle Formen traditionellen und populären Erzählens sowie die unterschiedlichen Formen der Abenteuer- und Märtyrergeschichten. Die Romanze spielt sich innerhalb einer polaren Struktur ab, in der es Gut und Böse gibt. Ihre Grundform ist dialektisch, da sich alles auf einen Konflikt zwischen Held und Gegner konzentriert und die Geschichte erzählt wird, die von der Überwindung des Bösen und von einer Belohnung am Ende handelt. Auch die Welt der Ironie und der Satire ist eine Welt von Gut und Böse. In der Satire aber kann das Böse siegen, weshalb sie Frye auch eine dämonische Form nennt. Der Hauptunterschied zwischen Ironie und Satire besteht laut Frye darin, dass die Satire eine „militante Ironie“ ist, da sie Normen voraussetzt, an denen das Absurde und Groteske zu messen ist. Romanze und Satire stehen nach Fryes Modell in Opposition zueinander. Die 137 Vgl. Hall: Rassismus und kulturelle Identität, S. 203. 138 Ebd., S. 204. 139 Vgl. Northrop Frye: Anatomy of Criticism. Princeton: Princeton Univ. Press, 1957; dt. Ausgabe: Analyse der Literaturkritik. Stuttgart [u. a.]: Kohlhammer 1964. <?page no="52"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 52 Anti-Helden der Satire sind schwächer als wir, während uns die Helden der Romanze überlegen sind. Komödie und Tragödie spielen hingegen in einer Welt, in der das Gute und Böse keinen polaren Gegensatz bilden. In der Tragödie kann der Held, der vor einer schwierigen Entscheidung steht, nicht unschuldig am Ende sein. Die Komödie beginnt in einer Situation, in der der Held aus seinem Gleichgewicht gebracht wird, und endet mit einer Versöhnung, die das Gleichgewicht wieder herstellt. Die verschiedensten Formen von Abenteuergeschichten und Märtyrerlegenden sind nämlich Vorläufer von nationalen, identitätsstiftenden Narrativen. Sie besitzen die Plotstruktur einer Romanze, die in einer polaren Welt spielt, in der es Gute und Böse gibt und am Ende der Böse überwunden wird. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde die Literatur aus der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs in Deutschland aktualisiert, um sich während der Napoleonischen Kriege nationaler Werte zu versichern und „um die Rolle zu bestimmen, die Dichtung und Dichter bei der Bildung einer deutschen Nation zukomme.“ 140 Die romantischen Intellektuellen wie Kleist, Fichte, von Arnim, Görres und andere mobilisierten die deutsche Vergangenheit gegen die französische Dominanz der damaligen Gegenwart. Die Romantik als Epoche nationalen Aufbruchs war auf der Suche nach Gründungsmythen, die die Deutschen zu einem Volk zusammenschweißen sollten. Gerade in dieser Zeit wurde der Weg zu einer Verbindung von historischem Gedächtnis und nationalem Befreiungskampf geebnet. Die Förderung nationaler Identität geschah in Deutschland besonders durch Rückgriff auf eine patriotisch-identitätsstiftende Barockrezeption. Dieter Martin führt so die exemplarische Rezeption der barocken Traumsatire „Ala mode Kehrauß“ vom deutschen Staatsmann und Satiriker in der Zeit des Barock Johann Michael Moscherosch vor, um zu zeigen, wie zum einen die Strafreden archaischer Helden als patriotische Appelle an die Gegenwart dienten. Zum anderen bekamen die Dichter durch die poetische Aktualisierung der barocken Nationssituation „eine identitätssichernde Vorreiterrolle“ in der Gegenwart. So wurde eine Basis für den Brückenschlag von den Napoleonischen Kriegen zurück zum Dreißigjährigen Krieg geliefert. Die Brüder Grimm erheben Moscherosch zum Traditor volkstümlichen Erzählguts, so Martin, und gewinnen aus dem „Ala mode Kehrauß“ eine Nationalsage. 141 Friedrich de la Motte Fouqué überarbeitet Moscheroschs Satire zu einem Dramolett mit dem Titel „Burg Geroldseck“ und vergegenwärtigt auf diese Weise die Sage von Moscherosch. „Nicht die alten Heroen, sondern die 140 Dieter Martin: Vom Beistand altdeutscher „Biederleute“ bei der romantischen Suche nach nationaler Identität. In: Sheila Dickson, Walter Pape (Hrsg.): Romantische Identitätskonstruktionen: Nation, Geschichte und (Auto-)Biographie, Tübingen: Niemeyer 2003, S. 3-11, hier S. 4. 141 Ebd., S. 7. <?page no="53"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 53 Dichter, die von ihnen singen, führen nach Fouqués Version die unterlegene Nation zu neuem, in Mythos und Geschichte verankertem Selbstbewusstsein.“ 142 Die Verbindung von Orientierungskrise und historischem Gedächtnis vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs des alten Reichs (1806) hat Poesie und Historiografie bewegt nach den mythischen Ursprüngen der deutschen Nation zu suchen. Sie haben ihre zentralen Paradigmen im Nibelungenlied und in der Hermannsschlacht gefunden. So wurde eine Verbindung von historischem Gedächtnis (Erinnerung vergangener Größe und Versuch ihrer Wiederbelebung) und Befreiungskampf hergestellt. Der Weg Hermanns zum ersten Befreier Deutschlands selbst führt im Rahmen dieser nationalen Einschränkung der Geschichte über die Verwandlung der heroischen Tat des „großen“ Einzelnen zum Integrationsmoment der Identität der „großen“ Nation, die ihren Gründungsmythos in den Befreiungskriegen sucht. 143 Das Szenario des Befreiungskrieges suchte eigentlich eine neue Rollenverteilung und wurde stark durch die Gleichzeitigkeit von Ein- und Abgrenzung geprägt. Der Kampf der Germanen gegen die Römer weist in seiner Rezeptionsgeschichte auf eine doppelte Funktion hin. „Zum einen im Verhältnis zum Eigenen als Mahnung zur Einheit und zum anderen im Verhältnis zum Fremden als Befreiung von aufgezwungener Besatzungsherrschaft.“ 144 So wird ein Selbstkonzept oder Selbstbild, eine kognitive Repräsentation des eigenen Selbst also, eine Gedächtnisstruktur, die alle selbstbezogenen Informationen enthält, zu einer bestimmten Zeit entworfen und daraufhin als Folie für andere historische Konfliktsituationen verwendet. Die Geschichte einer durch den Krieg geborenen Nation oder durch eine Schlacht, die in einen Gründungsmythos umgewandelt wird, findet sich bei vielen Nationen. Die berühmte Schlacht bei Kulikowo gehört etwa zum russischen Gründungsszenario, bei den Amerikanern war es der Unabhängigkeitskrieg gegen England, und die Deutschen beginnen ihre Geschichte mit dem Hermannsschlacht. Die Gründungsmythen stehen meistens am Anfang einer kollektiven Identitätsbildung und im Laufe der Nationalisierung entwickeln sie sich zu einem nationalen Identitätsnarrativ, da die sogenannten narrativen Zirkelschlüsse, die Kluft zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu überbrücken und sie zu vereinheitlichen ermöglichen. Kollektive Identitäten können, bezogen auf eine Nation, integrierend wirken, sie stiften oder orientierend sein. Die imaginierten Gemeinsamkeiten wie Sprache, Geschichte, Kultur oder Erfahrung, die Entstehung von Integration und kollektiver Identität ermöglichen, sind auch mit einer nach außen gerichteten Abgren- 142 Ebd., S. 11. 143 Vgl. Gesa von Essen: Hermannsschlachten, Germanen- und Römerbilder in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. Göttingen: Wallstein 1998. 144 Ebd., S. 8. <?page no="54"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 54 zung verbunden. Erst wenn man sich einer eigenen Einheit in Abgrenzung zu anderen Nationen bewusst wird, wird die eigene Identität als einzigartig wahrgenommen werden. Der Mythos bestätigt und legitimiert die gesellschaftliche Erhaltung und Erneuerung einer Nation in ihrer kollektiven Erinnerung. 145 Die Zerrissenheit Deutschlands in Folge des Dreißigjährigen Krieges sowie die französische kulturelle Dominanz, die sich in einer Art Arroganz wie z. B. im „Barbarenvorwurf“ wiederspiegelte, trugen entscheidend dazu bei, dass man die germanische Kultur und Geschichte samt germanischen Tugenden wie insbesondere die Freiheitsliebe als identitätsstiftende Hauptquelle identifizierte. Montesquieu übte einen wichtigen Einfluss auf die damaligen Intellektuellen aus. Nach Montesquieu soll jede Nation jene Verfassungsform finden, die für sie am passendsten erscheint und die sich aus eigenen geografischen, politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Bedingungen ergibt. Also machte man sich in Deutschland, dem Werk Montesquieus folgend, auf der Suche nach Wurzeln, geschichtliche Genealogie und Nationalhelden. Der Hermannmythos wurde so ausgeformt und mit ihm die Herkunft, die Wesensart und die Eigenständigkeit der Germanen begründet. Die Tradition und die Erinnerung modellierten so Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Zusammenhang von politischer Katastrophe mit der Niederlage Preußens bei Jena und Auerstedt 1806 sowie die napoleonische Besatzungszeit und die Suche nach kultureller bzw. nationale Identität wurde auch in Beziehung zu der napoleonischen Armee, die sinnbildlich für den modernen Nationalstaat stand, herausgebildet. Die preußischen Militär- und Bildungsreformen sollten das deutsche Volk zusammen mit einer gemeinsamer Sprache und Geschichte, in der sich die politische Verfasstheit Deutschlands manifestierte, auch einer politischen Identität versichern. Der Hermannmythos hat in der symbolischen Übersetzung des politisch gewordenen Nationskonzepts eine wichtige Rolle eingenommen. Herrmann und der Sieg über die Römer, aufgrund dessen sich das ursprüngliche, wahre Wesen und die Kultur der Germanen eigenständig entwickeln konnten, wurden zu Symbolen der Erhebung - diesmal gegen die napoleonische Fremdherrschaft. Vor diesem Hintergrund schrieb Heinrich von Kleist sein Drama „Die Herrmannsschlacht“ (1808), in dem zahlreiche Vergleiche zwischen Geschichte und der damaligen Gegenwart hergestellt werden konnten. Die Franzosen wurden mit den Römern gleichgesetzt, womit der Sprung von der Vergangenheit in die Gegenwart gelang. Die Nation, die seit der Französischen Revolution als eine sozial imaginäre Art der Instituierung oder Gründung etabliert wurde, bedurfte einer Art der Nationalisierung der Gesellschaft. Nur unter dieser Voraussetzung kann man 145 Vgl. Etienne François und Hagen Schulze (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. München: C. H. Beck 2000. <?page no="55"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 55 die Hermannsschlacht als sogenannten Gründungsmythos in den Zeiten eines Bruches deuten. Die imaginäre Wir-Gemeinschaft sollte in eine imaginäre National-Gemeinschaft umformuliert werden. Dieses ursprünglich literarische Kräftefeld wurde dann innerhalb des nationalen Diskurses in eine sogenannte symbolische Gewalt umgewandelt, deren Anwendung vom Stand der Kräfteverhältnisse bestimmter politischer und kultureller Machträgern und von deren Interessen abhängig war. Das Konzept der symbolischen Gewalt von Pierre Bourdieu gilt für alle sanften Formen von Herrschaft, die sich des Einverständnisses der Beherrschten zu versichern verstehen. Symbolisch ist diese Gewalt, so Bourdieu, „weil sie in der Sphäre der Bedeutungen oder, genauer gesagt, des Sinns ausgeübt wird, den die Beherrschten der sozialen Welt und ihrem Platz in dieser Welt geben.“ 146 Dies weist eine gewisse Ähnlichkeiten mit der Behauptung von Castoriadis, dass der Symbolismus einer Gesellschaft selbsterschaffen ist, auf. Laut Castoriadis muss man, um den Symbolismus einer Gesellschaft zu verstehen, oder auch nur bloß zu erfassen, die Bedeutungen kennen, die er trägt. 147 Die Geschichte selbst gibt es nur, weil die Menschen kommunizieren und in einem symbolischen Umfeld miteinander handeln. Geschichte gibt es nur durch Sprache (alle Arten von Sprache), doch sie selbst ist es, die diese Sprache schafft, begründet und umbildet, meint Castoriadis. 148 Eine Identität der Deutschen, die in den zustimmungsfähigen Symbolen der Revolution einen entsprechenden Ausdruck erhalten hätte, lag außerhalb der politischen Realität und wurde umso stärker vermisst. Wenn es um das Verhältnis von Identität und Differenz geht, kann man in der Epoche der Romantik zwei unterschiedlichen Entwicklungen beobachten. Die frühromantische Suche nach der Einheit war erstmals nicht nur im Rahmen der nationalen Grenzen, sondern im größeren europäischen Kontext gedacht und kolerierte mit der demokratischen, reformistischen Bewegung. Die Eroberungskriege Napoleons und die Restauration nach dem Wiener Kongress 1815 haben die weitere Entwicklung dieser Suche nach der Einheit in zwei Richtungen geführt. Der Universalismus der Frühromantiker hat sich einerseits in Zuge der Befreiungskriege in einen Nationalismus umwandelt, der auf einer Überbetonung des Eigenen und einer Ausgrenzung des Fremden basierte. Anderseits wurde der Weg für einen theologisch gestützten Universalimus geebnet, was zur Rehabilitation der vorrevolutionären, spätfeudalen Machtverhältnisse verhalf und mit der Etablierung der erzkonservativen Heiligen Allianz endete. 146 Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S. 40. 147 Vgl. Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. 148 Ebd., S. 238. <?page no="56"?> I Historische Umbrüche und nationale Selbstbestimmung 56 Bei der deutschen Einigungsbewegung ging es zuallererst um die Herauskristallisierung einer Nation, einer irgendwie begründeten Sprach- oder Kulturgemeinschaft, und erst danach um die Gründung eines Nationalstaates: Diese Art der Nationsbildung und Nationalstaatsgründung in Mitteleuropa wurde anschließend (mitsamt ihrem vermeintlich „objektiven“ und romantischen Charakter) zum Modell für alle jene (wiederum ,nachholenden’) Nationsbildungsprozesse, deren „außenpolitische“ Etappen sowohl die Herauslösung aus einem bereits bestehenden (Groß-)Staat als auch die Überwindung „nationaler“ Teilung durch neue „nationale“ Zusammenschlüsse umfassten. 149 Im nächsten Kapitel wird folglich eine diachrone Untersuchung der Herausbildung von jeweiligen nationalen Identitäten in Serbien, Kroatien und Slowenien sowie eines integrativen Jugoslawismus durchgeführt, und anhand einer Kombination von genetischen und kontrastiven bzw. typologischen Vergleich werden Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen in diesem Kapitel beschriebenen deutschen Konzepten und jenen in Serbien, Kroatien und Slowenien fokussiert. 149 Hopf: Sprachnationalismus in Serbien und Griechenland, S. 75. <?page no="57"?> II (Vor-)jugoslawische Nationenbildungen und romantische Identitätsnarrationen II.1 Wechselwirkung zwischen Selbstrepräsentation und Fremdrepräsentation Wie schon angedeutet erfolgt Identitätsbildung durch den Prozess von Inklusion und Exklusion, wobei Inklusion nur durch Exklusion möglich ist. Die Konstitution von Identität(en) ist ein dialogischer Prozess, da die Frage „Wer bin ich? “ nur bezogen auf das wechselseitige Verhältnis zwischen dem Ich und dem Anderen beantwortet werden kann. Die Konstruktion kultureller Identität setzt die bewusste Abgrenzung von den Anderen voraus. Jeder Identität ist, Homi Bhabha zufolge, eine innere Differenz eingeschrieben, da der Andere nie jenseits der eigenen Identität verortet ist, sondern als integraler Teil des Selbst verstanden wird. 150 Bei der Gestaltung der Selbstrepräsentation nimmt man unausweichlich Bezug auf Fremdrepräsentation. Wie im vorigen Kapitel gezeigt wurde, ist die nationale und kulturelle Identität in Deutschland, wie es bei der Identitätsbildung häufig der Fall ist, erst in einem Konflikt bzw. in einem Beziehungskontext artikuliert worden. Das Konzept der nationalen und kulturellen Identität in der Epoche der deutschen Romantik ist deswegen nicht nur Produkt interner Bedingungen, sondern auch eine Art von Reaktion auf die französische Dominanz am Anfang des 19. Jahrhunderts. Feminismus und Psychoanalyse haben inzwischen deutlich gemacht, in welchem Ausmaß die Struktur der Identifikation immer durch Ambivalenzen konstruiert ist, immer durch die Spaltung zwischen dem, was der Eine, und dem, was der Andere ist. „Der Andere ist immer auch ein Teil von uns selbst.“ 151 Stuart Hall nimmt als Beispiel die Tasse Tee, die symbolisch für die englische Identität steht, aber da der Tee aus Ceylon (Sri Lanka), Indien kommt, ist diese auswärtige Geschichte in der Geschichte des Englischen erhalten. „Es gibt keine englische Geschichte ohne diese andere Geschichte.“ 152 Identität als Prozess, als Diskurs wird immer von der Position des Anderen aus erzählt. „Darüber hinaus ist Identität immer auch eine Erzählung, eine Art der Repräsentation.“ 153 Deswegen ist die Epoche der Romantik in Deutschland und ihr Zusammenhang mit der Entwicklung von Nationalstaat und der entsprechenden Nationalkultur ohne den Anderen - Frankreich - schwierig zu verstehen. Genauso 150 Vgl. Homi K Bhabha: The Location of Culture. London, New York: Routledge 1994. 151 Vgl. Hall: Rasismus und kulturelle Identität, S. 73. 152 Ebd. S. 74. 153 Ebd. S. 74. <?page no="58"?> II (Vor-)jugoslawische Nationalbildungen und romantische Identitätsnarrationen 58 wenig wie schon angedeutet ohne die Aufklärung, da die Aufklärungskritik Aufklärung als gemeinsame historisch-kulturelle Station voraussetzt. 154 Romantik war auch eine europäische Bewegung, die in verschiedenen Ländern zeitverschoben erschien und die Herausbildung der einzelnen Nationen begleitet hat. Im Laufe der Zeit sind die verschiedenen ästhetischen, theoretischen und philologischen Konzepte entstanden, die als eine Art „cognitive mapping“ oder Teil des sozialen bzw. nationalen Imaginären verstanden werden können, die als Folie für die Herausbildung kollektiver Identitäten in Mittel- und Südosteuropa dienten. In seinem Essay „Was ist der Mensch? “ hat Ernst Cassirer den Mensch als ein animal symbolicum definiert, das die Welt mit symbolischen Formen des Denkens - Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Wissenschaft, Geschichte - kreiert, welche die Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion in seinem Leben ausüben. 155 Nach Cornelius Castoriadis verbirgt eine Ebene des Symbolismus einen Sinn, der selbst Wirkungen zeitigt, und diese Ebene kann von keiner funktionalen Determination erreicht werden. 156 Dieser Sinn produziert das Imaginäre. Das Imaginäre verschafft unserer gemeinschaftlichen Existenz allererst einen Inhalt und verleiht ihr eine symbolische Bedeutung. Dieses Imaginäre spielt eine Schlüsselrolle bei der Identitätsbestimmung einer Gesellschaft und bei ihrer internen Gliederung, für ihre Beziehung zur Welt und zu deren Objekten, schließlich für die Entstehung ihrer Wünsche und Bedürfnisse. Das Imaginäre im Sinne Castoriadis’ besitzt jene schöpferische Kraft, die bei der Gründung einer Gesellschaft unerlässlich scheint. Das Imaginäre bezieht sich auf bestimmte Vorstellungen und Bilder, die uns leiten, ohne dass wir sprachlich oder reflexiv über sie verfügen. Eine Verfügung erlangen wir erst durch einen Wechsel in das Symbolische. Charles Taylor definiert das sozial Imaginäre mit folgenden Worten: I am thinking, rather, of the ways people imagine their social existence, how they fit together with the others, how things go on between them and their fellows, the expectations that are normally met, and the deeper normative notions and images that underlie these expectations. […] It incorporates a sense of the normal expectations we have of each other, the kind of common understanding that enables us to carry out the collective practices that make up our 154 Vgl. Alexander von Bormann (Hrsg.): Ungleichzeitigkeiten der europäischen Romantik, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2006, S. 10. 155 Vgl. Ernst Cassirer: Was ist der Mensch? Versuch einer Philosophie der menschlichen Kultur, Stuttgart: Kohlhammer, 1960. 156 Vgl. Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. <?page no="59"?> II (Vor-)jugoslawische Nationenbildungen und romantische Identitätsnarrationen 59 social life. Social imaginary extends beyond the immediate background understanding that makes sense of our particular practices. 157 Die Konstitution der Identität geschieht, wie im ersten Kapitel gezeigt worden ist, im Medium der Sprache. Identität verstanden als die narrative Konstruktion bildet sich in einer Wirklichkeit, die aus einer Vielzahl von Texten besteht. Die interpretative Identitätsfindung geschieht in einer Welt verschiedener Interpretationen und Interpretationsversuche des eigenen Lebens und der Welt. Jede Erzählstruktur gründet im sozialen Austausch. Sie unterliegt Erzählkonventionen und wird sozial übermittelt. Jede Erzählung muss am Ende etwas ausdrücken, die Erzählung muss entscheiden, was wichtig und was unwichtig ist, die Ereignisse sollten kausal miteinander verknüpft werden. Zweifelsohne sind es Erzählungen, die kollektiven, nationalen Gedächtnissen zugrundeliegen und Politiken der Identität bzw. Differenz konstituieren. Kulturen sind immer auch als Erzählgemeinschaften anzusehen, die sich gerade im Hinblick auf ihr narratives Reservoir unterscheiden. Das gilt für die Mythen traditioneller Gemeinschaften ebenso wie für die modernen, großen Erzählungen. 158 Das könnte einer der Gründe sein, warum gerade die Schriftsteller und Linguisten in Deutschland, die als Deutungseliten einer Gesellschaft gelten, einen ästhetischen und theoretischen Diskurs darüber zu entwickeln versuchten, wie jene Kultur beschaffen sein sollte, mit der diejenigen sich identifizieren konnten, die eine politische und soziale Integration vermissten. Schon die Epoche der Aufklärung hat zur Entwicklung der Standardsprache und damit moderner Literatur in den Ländern des späteren Osteuropa vor allem als Mittel zu humanen Zwecken beigetragen, doch zur Zeit der Romantik wurden Sprache, Literatur sowie Geschichte zu national-emanzipatorischen Zwecken eingesetzt. Im Jahre 1800 war nur ein Land des späteren Osteuropas unabhängig: Russland. Andere Bevölkerungsgruppen lebten verteilt auf drei verschiedene Kaiserreiche. 159 Die Erweckung des nationalen Selbstbewusstseins begann in dieser Region als eine kulturelle und sprachliche und nicht als politische Bewegung. So erschienen die nationalen Dichter zuerst als Kodifikatoren der normierten nationalen Standardsprachen und gleichzeitig als diejenigen, die die literarischen Werke schufen, die das geistige Wesen der Nation aus- 157 Charles Taylor: Modern social imaginaries. Durham, London: Duke University Press 2004, S. 23-24. 158 Wolfgang Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. Wien, New York: Springer 2002, S. 14. 159 Gemeint sind: Österreichisch-Ungarische Monarchie, Osmanisches Reich und Königreich Preußen, da sich große Teile Polens unter preußischer Herrschaft und andere Teile unter dem Russischen Reich befanden. <?page no="60"?> II (Vor-)jugoslawische Nationalbildungen und romantische Identitätsnarrationen 60 drückten. 160 So bekamen in dieser Region die Schriftsteller, aber auch Linguisten und ihr Beruf eine enorme Prestigerolle. Von den Intellektuellen wurden sie kanonisiert, dann von den jungen Nationalstaaten für ihre Zwecke eingesetzt und später von den sozialistischen Regimen wiederum neu-kanonisiert. Einige der bekanntesten Namen solcher Autoren sind Adam Mickiwicz in Polen, Taras Schewtschenko in der Ukraine, Sándor Petőfi in Ungarn, Mihai Eminescu in Rumänien, Christa Boteva und Ivan Vazov in Bulgarien, Petar II Petrović Njegoš in Serbien und Montenegro, Ivan Mažuranić in Kroatien und France Prešeren in Slowenien. II.2 Bildung nationaler und kultureller Identitäten im prä-jugoslawischen Raum Ähnlich wie in Deutschland war die Bildung des eigenen nationalen Bewusstseins in Mittel- und Südosteuropa, das sich auf Sprache und Kultur gründete, am Anfang nicht nur als bloße Volkszugehörigkeit zu der eigenen Volksgruppe gedacht. Die Vertreter der slawischen Intelligenz versuchten gleichzeitig die einzelnen Slawenvölker als die Mitglieder einer slawischen Nation darzustellen. Individualität und Weltbürgertum wurden zuerst nach dem deutschen Beispiel zusammengedacht. Herders Schriften trugen maßgeblich zur Entstehung eines Volksbewusstseins sowie eines Zusammengehörigkeitsgefühls unter den Slawen bei. Im Slawenkapitel, das 1791 in seinem Hauptwerk „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ gedruckt wurde, beschäftigte sich Herder mit den Slawen und dem Eigenwert slawischer Kultur, die eines Tages das Ideal der höchsten Humanität verwirklichen sollte. So schreibt Herder: Sie waren mildtätig, bis zur Verschwendung gastfrei, Liebhaber der ländlichen Freiheit, aber unterwürfig und gehorsam, des Raubens und Plünderns Feinde. Alles das half ihnen nicht gegen die Unterdrückung; ja es trug zu derselben bei. [...] so haben sich mehrere Nationen, am meisten aber die vom deutschen Stamme, an ihnen hart versündigt. Schon unter Karl dem Großen gingen jene Unterdrückungskriege an, die offenbar Handelsvorteile zur Ursache hatten, obgleich sie die christliche Religion zum Vorwande gebrauchten. [...] Unglücklich [ist das slavische Volk], daß seine Lage unter den Erdvölkern es auf einer Seite den Deutschen so nahe brachte, und auf der andern seinen Rücken allen Anfällen östlicher Tataren freiließ, unter welchen, sogar unter den Mongolen, es viel gelitten, viel geduldet. Das Rad der ändernden Zeit dreht sich indes unaufhaltsam; und da diese Nationen größtenteils den schönsten Erdstrich Europas bewohnen, wenn er ganz bebaut und der Handel daraus eröffnet wurde, da es auch wohl nicht anders zu denken ist, als daß in Europa 160 Vgl. Andrew Baruch Wachtel: Remaining Relevant after Communism. The Role of the Writer in Eastern Europe. Chicago, London: Chicago University Press 2006. <?page no="61"?> II (Vor-)jugoslawische Nationenbildungen und romantische Identitätsnarrationen 61 die Gesetzgebung und Politik statt des kriegerischen Geistes immer mehr den stillen Fleiß und den ruhigen Verkehr der Völker untereinander befördern müssen und befördern werden: so werdet auch ihr so tief versunkene, einst fleißige und glückliche Völker endlich einmal von eurem langen trägen Schlaf ermuntert, von euren Sklavenketten befreit, eure schönen Gegenden vom Adriatischen Meer bis zum karpathischen Gebirge, vom Don bis zur Mulda als Eigentum nutzen und eure alten Feste des ruhigen Fleißes und Handels auf ihnen feiern dürfen! 161 Diese Zukunftsmission slawischer Kultur setzt nach Herder die freie Entwicklung der menschlichen Seelenkräfte voraus, die sich durch die Sprache, dem „Wesen der menschlichen Seele“, offenbaren. Da wir aus mehreren Gegenden schöne und nutzbare Beiträge zur Geschichte dieses Volkes haben, so ist zu wünschen, daß auch aus anderen ihre Lücken ergänzt, die immer mehr verschwindenden Reste ihrer Gebräuche, Lieder und Sagen gesammelt und endlich eine Geschichte dieses Volksstammes im ganzen gegeben würde, wie sie das Gemälde der Menschheit fordert. 162 So wurde das Interesse an der eigenen Volksüberlieferung und an der Erforschung der Muttersprache unter den slawischen Intellektuellen erweckt, denn nach Herder war „in jede derselben der Verstand eines Volkes und sein Charakter geprägt“. 163 Der slowakische Lyriker und Gelehrte Ján Kollár hatte von 1817 bis 1819 in Jena studiert und beschäftigte sich mit Werken Schillers, Wielands und Herders. Er besuchte Goethe und erforschte Wilhelm von Humboldts Sprachentheorie. So schrieb Kollár bewegt durch die Idee, dass ähnlich, wie sich die deutsche Nation aus verschiedenen Volksstämmen (Bayern, Franken, Hessen, Preußen usw.) zusammensetzte, auch die einzelnen Slawenvölker lediglich als Stämme einer slawischen Nation betrachtet werden können: Der Slawe hat innerhalb seiner Nation die schönste Gelegenheit, sich zu der Humanität, zu dem Reinmenschlichen zu erziehen und stufenweise zu erheben. Er kann sich dazu nach und nach üben an den einzelnen Stämmen, sein Humanitätsgefühl kann er immer höher steigern, seine Liebe immer weiter ausbreiten, von der Person zum Stamm, vom Stamm zu den Stämmen, von den Stämmen zu der Nation, von der Nation zu der Menschheit. Die andern Völker sind schon zu sehr in ihre Nationalität vertieft, zu sehr von jenem Patriotismus, der nur ein einziges Vaterland hat, befangen (...). Bei den andern 161 Herder: Ideen, S. 434-435. 162 Ebd., S. 435. 163 Ebd., S. 234. <?page no="62"?> II (Vor-)jugoslawische Nationalbildungen und romantische Identitätsnarrationen 62 Völkern ist die Humanität noch der Nationalität, bei den Slawen die Nationalität der Humanität untergeordnet. 164 Im 19. Jahrhundert enwickelte sich auch die ursprüngliche Idee einer Einheit aller Südslawen, die mit dem romantischen, im Grunde genommen synthetischen Kulturmuster korreliert und auf der Vorstellung besonders enger sprachlicher, kultureller und verwandschaftlicher Beziehungen zwischen südslawischen Ethnien basierte. Diese Idee fand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine größere Unterstützung mehr, ebenso wie die romantische Bewegung selbst, da im Verlauf des 19. Jahrhunderts jedoch der Gedanke über die Verbindung von Ichwerdung und der Weltgemeinschaft verloren ging. Anfang des 20. Jahrhunderts erscheint die Einheitsidee in der Kulturepoche der Moderne wieder, die auch gewisse synthetische Tendenzen aufweist. Obwohl sich die Slowenen, Kroaten und südungarischen Serben in der Habsburger Monarchie in der Zeit des „nationalen Erwachens“ oder der „Wiedergeburt“ der mitteleuropäischen Völker während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in unterschiedlichen Positionen befanden, wirkte sich bei allen die deutsche Romantik mit Herder, den Gebrüdern Schlegel, Jakob Grimm, Ranke, Körner und Uhland auf den modernen Kulturaufbau aus. Denn die Romantik bedeutete für die Südslawen die eigentliche Renaissance, die national-kulturelle Wiedergeburt, den größten Aufschwung in ihrer gesamten Kulturentwicklung. Zugegeben, daß diese jugoslawische Wiedergeburt in gewissem Grade eine Folge der vorangegangenen Entwicklung und der allgemein europäischen Vorgänge war, so steht doch fest, daß der bedeutendste und entscheidendeste geistige und literarische Anstoß zur jugoslawischen national-kulturellen und nationalpolitischen Wiedergeburt von der deutschen nationalen, romantischen Bewegung ausging, von den Ideen Herders, Fichtes u. a: von dem romantischen Organismusdenken, von dem romantischen Volkstumsgedanken, von der Auffassung der Nation als eines lebendigen Organismus, dessen ursrünglichste Lebensäußerung in einer Sprache, seiner volkstümlichen Dichtung, seinem ganzen, in Sitte und Herkommen unbewußt verkörperten Naturgut sich offenbarte. Auf die Südslawen wirkten diese Ideen Herders einerseits über Wien, über die Wiener romantische Schule, anderseits auf dem Umwege über den ebenso aus der deutschen romantischen Nationalbewegung herausgewachsenen Jan Kollar, dem Bannerträger des kulturellen Panslawismus. 165 164 Ján Kollár: Über die literarische Wechselseitigkeit zwischen den verschiedenen Stämmen und Mundarten der slawischen Nation. Pest 1844. Hg. v. Miloš Weingart: Rozpravy o slovanské vzájemnosti, 1987, S. 113. 165 Josef Matl zitiert nach Holm Sudhaußen in: Der Einfluß der Herderschen Ideen auf die Nationsbildung bei den Völkern der Habsburger Monarchie, München: R. Oldenbourg Verlag, 1973, S. 147. <?page no="63"?> II (Vor-)jugoslawische Nationenbildungen und romantische Identitätsnarrationen 63 Alle diese Einflüsse sind teils mittelbar, teils unmittelbar über die Kulturzentren Wien, Graz, Buda oder Pest in das Geistesleben der Südslawen geflossen. 166 In Pest wurde die führende Kulturinstitution der Serben, die Matica srpska 1826 gegründet. Einer der Initatoren der Matica war der slowakische Wissenschaftler und Dichter Pavel Jozef Šafárik, der einige Jahre als Lehrer am serbischen Gymnasium in Novi Sad tätig war und sich mit der serbischen Mundart befasste. Šafárik ist neben Josef Dobrovský und Jernej Kopitar als einer der Begründer der wissenschaftlichen Slawistik bekannt. Ján Kollár wirkte auch in Buda und Pest. In Wien wurde schon 1813 ein serbisches Blatt von den Serben Frusić und Davidović gegründet, und bald danach wurde darin ein Artikel des Kroaten Mihanović mit dem Titel „Rec Domovini od hasnovitosti pisanja vu domorodnem jeziku“ („Ansprache an das Vaterland über die Nützlichkeit des Schreibens in der Muttersprache“) 1815 veröffentlicht. 167 In Wien war für die Südslawen die Tätigkeit des Slowenen Jernej Kopitar, Hofbibliothekar und Zensor slawischer und griechischer Bücher, von großer Bedeutung. In Graz erschienen in dieser Zeit die zahlreichen slowenischen Beiträge in den Zeitschriften der österreichischen Slawen, wie „Aufmerksamen“, wo in der Nr. 41 im Jahre 1813 Herders Slawenkapitel abgedruckt wurde. 168 Nach einigen Angaben wurde das Kopitars Interesse für das Volkslied erst nach seiner Übersiedlung nach Wien 1808 geweckt, wo er nach geeigneten Sammlern von Volksliedern zu suchen anfing und in Korespondenz mit Dobrovsky, dem Begründer der modernen tschechischen Schriftsprache, trat. Slowenen fühlten sich von den drei südslawischen Völkern am meisten von der Gefahr einer Germanisierung bedroht, und das Entdecken einer Volkseele in der Volkskunst bot die Möglichkeit, Ende des 18. Jahrhunderts selbst auch ein Teil der literarischen Welt Europas zu werden. Herder, Goethe und Fortris bekamen so ihren Platz in den Artikeln Kopitars aus den Jahren 1810 und 1811. Durch Lektüre und Gespräche formten sich in den folgenden Jahren Kopitars Ansichten über Herder, die sich grundsätzlich von denen Zois’ oder der übrigen Laibacher Slawisten unterschieden. Die damaligen Verehrer Herders übernahmen die Anregungen nur in einem Bereich, beim Sammeln von Volksliedern, auf Kopitar aber wirkte die gesamte publizistisch-philosophische Tätigkeit Herders. 169 166 Mehr dazu in: Holm Sudhaußen: Der Einfluß der Herderschen Ideen auf die Nationsbildung bei den Völkern der Habsburger Monarchie, München: R. Oldenbourg Verlag, 1973. 167 Vgl. Sundhaußen: Der Einfluß der Herderschen Ideen, S. 150. 168 Ebd. S. 150. 169 Petre zitiert nach Sundhaußen: Der Einfluß der Herderschen Ideen. S. 157. <?page no="64"?> II (Vor-)jugoslawische Nationalbildungen und romantische Identitätsnarrationen 64 Kopitar schrieb eine wissenschaftliche Grammatik der slowenischen Sprache, und in der Einleitung zitierte er aus Herders Refelexionen zu den Slawen aus dessen „Ideen“. Kopitar stand auch in regem Briefwechsel mit Jakob Grimm. 170 Die Freundschaft mit dem Slowenen Jernej Kopitar gab Vuk Karadžić, dem bedeutendsten serbischen Sprachreformator und Repräsentanten der serbischen „Wiedergeburt“, den entscheidenden Anstoß, die serbische Sprache zu erforschen und zu reformieren, eine Grammatik (1814) und ein Wörterbuch (1818) des Serbischen herauszugeben und serbische Volkslieder, die er in zehn Bänden veröffentlichte, zu sammeln. Karadžić übersetzte auch das Neue Testament ins Serbische (erschienen 1847). In Kroatien wurde die „illyrische“ Bewegung Haupträger der sogenannten Wiedergeburt des kroatischen Volkes. Die Volksbezeichnung „Kroaten“ war im 19. Jahrhundert sehr heterogen, da sich so die Bewohner Kroatiens um Zagreb, Slawoniens und Dalmatiens bezeichneten. Diese drei Gebiete waren seit 1745 unter dem Namen „Dreieiniges Königreich Kroatien, Dalmatien und Slawonien“ als Nebenland Ungarns innerhalb des Habsburger Reichs geeint worden. Dazu kamen serbische, teilweise katholisierte Bevölkerungsteile innerhalb der Militärgrenze, Kroaten aus der Herzegowina, aus Istrien, der Vojvodina (die Bunjewazen und Schokazen) und die kleine Diaspora im (damals ungarischen) Burgenland. Unter dem Napoleons Marschall Marmont entstand 1809 eine neue politische Einheit - die „illyrischen Provinzen“ - mit Laibach als Hauptstadt und umfasste Istrien, Dalmatien, Slowenien, Triest, Villach, Krain, Görz und Teilen Kroatiens. Die illyrischen Provinzen bestanden zwar nur bis zum Wiener Kongress 1815, als die früheren Grenzen wiederhergestellt wurden. Österreich ließ aber noch ein „Illyrisches Königreich“ bestehen - mit ganz Kärnten, jedoch ohne Kroatien, das nun wieder zur ungarischen Krone gehörte. Das Königreich Kroatien, Dalmatien und Slawonien bestand bis 1918, als es in das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen eingegliedert wurde. Die in erster Linie literarischen und kulturellen Aktivitäten der illyrischen Bewegung waren stark von den panslawistischen Ideen Šafáriks und Kollárs beeinflusst. Auch Herders Auffassung von der Bedeutung der Muttersprache, der Volkskunst und dessen Humanitätsideal regten die „Illyrer“ vielseitig an. Die Idee der sprachlichen und ethnischen Verwandschaft der Südslawen war von Anfang an Teil der kroatischen Nationalbewegung, seine prominenten Vertreter sprachen sogar von einer „illyrischen Nationalität“. Doch das nationale Konzept der ungarischen Serben war nicht für die illyrischen Ideen offen, und sie übertrugen ihren Widerstand auch ins Fürstentum Serbien. So blieb die illyrische Bewegung in diesem Sinnne erfolglos, legte aber eine erste und dauerhafte Grundlage für die Entstehung der 170 Siehe mehr dazu in: Max Vasmer: B. Kopitars Briefwechsel mit Jakob Grimm. Berlin: Akademie der Wissenschaften 1938. <?page no="65"?> II (Vor-)jugoslawische Nationenbildungen und romantische Identitätsnarrationen 65 kroatischen Nation sowie für die weitere Entwicklung des Gedankens der Gemeinsamkeit aller Südslawen. Das nationale Erwachen war ursprünglich als geistig-kulturelle Aufgabe, nicht als politisches Ziel verstanden worden. Im Laufe der Zeit wurde jedoch die kulturelle sowie politische Emanzipation in den Vordergrund gestellt. Zu dieser Zeit entstanden auch literarische Texten in Form von Epen, die die eigene Geschichte der Gemeinschaft erzählten. Die kulturelle kollektive Identität lässt sich in der aktuellen Gegenwart nach Homi K. Bhabha als „Performanz eines Narrativs“ lokalisieren. 171 II.3 Epen als Performanz des nationalen Narrativs Sprache und narrative Diskurse spielen wie schon erwähnt eine entscheidende Rolle bei der Konstruktion der Wirklichkeit. Das Erzählen, so scheint es, ist ein prinzipielles Bedürfnis des Menschen, und Erzählungen scheinen Grundmuster der kulturellen Gestaltung von Gesellschaft zu sein. Narrative stellen somit Formen oder Modelle dar, die unseren Erkenntnissen inhärent sind und unsere Erfahrungen über die Welt und über uns selbst strukturieren. Sie sind nicht eine bloße Wiedergabe oder Reflexion der Realität, sondern konstruieren diese auch. Sie helfen uns, die Wirklichkeit zu verstehen, ihr eine Bedeutung zu geben und aus dieser Wirklichkeit eine vielschichtige Welt der menschlichen Gegebenheiten und Möglichkeiten zu gestalten. So schreibt Paul Ricœur in seinem Hauptwerk „Zeit und Erzählung“: „Individuum und Gemeinschaft konstituieren sich in ihrer Identität dadurch, dass sie bestimmte Erzählungen rezipieren, die dann für beide zu ihrer tatsächlichen Geschichte werden.“ 172 Paul Ricœur hat mit seinem Ansatz über die dreifache Mimesis und die narrative Identität einen bedeutenden Beitrag zur Ausbildung narrativer Identitäten geleistet. Ricœur geht von der These aus, dass, wenn das Thema aller expliziten Erzählungen das „Handeln und das Leiden“ ist, wenn die aristotelische Auffassung richtig ist, dass die Komposition einer Geschichte immer eine mimetische Komponente aufweist, indem sie einen Erlebnis- und Handlungszusammenhang neu organisiert, jede Geschichte „in einem Vorverständnis der Welt des Handelns verwurzelt“ sein muss. 173 So bezieht sich mimesis-I auf die pränarrative Struktur der Welt. Die mimesis-II ist das explizite Erzählen oder Erfinden einer Geschichte. Die Produktion einer Geschichte besteht in der Synthesis des Heterogenen in sachlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht. Ein narrativer Zusammenhang bringt sowohl Handlungen und Ereignisse, die an unterschiedlichen Zeiten und Orten lokalisiert sind, als auch unter- 171 Vgl. Homi K. Bhabha (Hrsg.): Nation and narration. London: Routledge 1999. 172 Paul Ricœur: Zeit und Erzählung 1. Munchen: Fink 1988, S. 39. 173 Ebd., S. 90. <?page no="66"?> II (Vor-)jugoslawische Nationalbildungen und romantische Identitätsnarrationen 66 schiedliche Akteure zusammen. Die narrative Synthesis des zeitlichen Heterogenen stellt dadurch auch eine Form der Reduktion von Komplexität dar, sodass einige Ereignisse in eine Geschichte hineingekommen, andere hingegen von ihr ausgeschlossen werden. 174 Die mimesis-III vollzieht sich in der Aktualisierung der Lektüre, in deren Interpretation. Die narrative mimetische Bewegung findet in der Aufnahme durch einen Rezipienten ihr Ende. „Die dritte mimetische Relation definiert sich durch die narrative Identität eines Individuums oder Volks, und diese geht hervor aus der endlosen Rektifikation einer früheren durch eine spätere Erzählung.“ 175 In diesem Zusammenhang kann man die drei wichtigsten Dichter im späteren Jugoslawien und ihre Werke: „Smrt Smail-age Čengića“ 176 („Der Tod des Cengic-Aga“,1846) des Kroaten Ivan Mažuranić, „Krst pri Savici“ 177 („Taufe an der Savica“,1836) des Slowenen France Prešeren und „Gorski Vijenac“ 178 („Der Bergkranz“,1847) des Montenegriner Petar Petrović Njegoš in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts betrachten. Obwohl sich alle drei genannten Epen mit der für diese Zeit üblichen nationalen Problematik beschäftigen und ein ähnliches Grundthema teilen - den Widerstand gegen fremde Gewalt und den Kampf für die nationale Freiheit -, spiegeln sie auch Besonderheiten der jeweiligen sozialen und historischen Umstände in ihrer jeweiligen Umgebung wider. Allen drei Epen gemeinsam ist, dass sie die nationale und die religiöse Frage miteinander verbinden, aber auf unterschiedliche Art und Weise. Während die nationale Idee und der Befreiungskampf bei Mažuranić und Njegoš mit der Religionsfrage stark korreliert, werden bei Prešeren die nationale und religiöse Ebene nicht direkt verbunden und das religiöse Bekenntnis an sich als problematisch thematisiert. 179 Der Widerstand gegen die Germanisierung im damaligen Slowenien wurde nicht von religiöser Animosität begleitet, da sowohl die fremden Herrscher als auch die Untertanen dieselbe Konfession hatten. Prešeren dramatisiert in seinem Epos den verlorenen Kampf der heidnischen Ahnen Sloweniens und ihre Konversion zum Christentum im 8. Jahrhundert. Im Kampf nahmen die Angehörigen gleichen Volkes teil: die schon konvertierten Slowenen kämpften gegen ihre immer noch heidnischen Mitbürger. So schreibt Prešern: 174 Vgl. Norbert Meuter: Narrative Identität. Das Problem der personalen Identität im Anschluß an Ernst Tugendhat, Niklas Luhmann und Paul Ricœur. Stuttgart: M & P 1995, S. 133. 175 Vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung 1, S. 398. 176 Vgl. Ivan Mažuranić: Smrt Smail-age Čenigića. Zagreb: Matica Hrvatska 1965. 177 Vgl. France Prešern: Krst pri Savici. In: Zbrana dela. Grosuplje: Modena 2000. 178 Vgl. Petar II Petrović Njegoš: Gorski vjenac. In: Cjelokupna dela P.P. Njegoša. Beograd: Prosveta 1952. 179 Vgl. Juraj Martinović: Juznoslavenski epski triptihon. In: Inštitut za slovensko literaturo in literarne vede, France Presern-kultura-Evropa. Ljubljana: ZRC SAZU 2002, S. 89-109. <?page no="67"?> II (Vor-)jugoslawische Nationenbildungen und romantische Identitätsnarrationen 67 Sechs Monde netzt die Erde Blut in Bächen, Slowenen sind es, Brüder, die sich morden Wie schrecklich ist’s, wenn blinde Triebe sprechen! Was Schwert, Beil, Schaufel nicht noch starke Horden Vermochten, will dem Hunger nun gelingen, Er droht am Tor, der Sieg sei sein geworden. 180 Die Übernahme von Christentum verbindet Prešeren in seinem Werk mit dem Verlust der Selbständigkeit und Unterdrückung slawischer Identität durch Fremdherrschaft. Die Savica ist ein Wasserfall in den Julischen Alpen und wird oft als Metapher für das Wieder-Zusammenfinden aller Slowenen begriffen. Obwohl Prešeren in Wien studierte und auch in deutscher Sprache 181 schrieb, verfasste er sein Epos in der slowenischen Volkssprache. Die eigene Sprache wird später in Jugoslawien für Slowenen und Mazedonier als entscheidendes Unterscheidungsmerkmal der eigenen Identität dienen. Bei Njegoš und Mažuranić dagegen haben die fremden Herrscher einen anderen Glauben. Mažuranićs Versepos in fünf Teilen handelt von einer kleinen Gruppe von Montenegrinern, die 1840 den türkischen Steuerbeamten und herzegowinischen Pascha Ismail-aga Čengić tötet. Der längste Teil dieses Epos „Harač“ beschreibt die Ausbeutung der Christen durch die Türken und endet mit dem Überfall von Montenegrinern auf Čengić. Dieses Ereignis sollte offensichtlich stellvertretend für die Widerstandsgeschichte der Südslawen gegenüber den fremden Herrschern stehen. Mažuranić, der Anhänger der bekannten kroatisch-illyrischen Bewegung war, die den Anfang bzw. als die erste Phase der kroatischen nationalen Integration bezeichnet werden konnte, setzte im Zentrum seines Epos die Idee der Befreiung der Südslawen von ihren türkischen Herrschern, was eine der Voraussetzungen für das Projekt der Vereinigung der Südslawen war. Das Epos, das schon in seiner Zeit kanonisiert wurde, kann als literarischer Ausdruck einer starken Freiheitssehnsucht, die Montenegro zum Vorbild hatte, interpretiert werden. Erst in dieser Zeit kann man im Prinzip von einem kroatischen kulturellen und politischen Bewusstsein sprechen, weil man damals zum ersten Mal versuchte, den ganzen Raum der später geschaffenen kroatischen Nation (in der Tat eigentlich den ganzen südslawischen Raum) kulturell, insbesondere sprachlich und literarisch, zu integrieren. In der ersten kroatischen Zeitung Ilirske narodne novine und ihrer literarisch-kulturellen Beilage Danica ilirska 182 wurden Fragmente aus den kroatischen literarischen Werken veröf- 180 France Prešeren: Die Taufe an der Savica, Eingang, dt. Übersetzung von Lili Novy, auf: http: / / www.presern.net (abgerufen am 25 .6. 2009) . 181 Die offizielle Sprache in Slowenien war bis 1917 Deutsch. 182 Im Jahr 1835 erschien die Danica, die den Titel Danica horvatska, slavonska i dalmatinska trug. In ihr wurden schon damals die Texte auf Stokawisch geschrieben, das die Protagonisten der illyrischen Bewegung ab dem Jahr 1836 als Standardsprache im ganzen kroatischen/ südslawischen Raum durchzusetzen versuchten. <?page no="68"?> II (Vor-)jugoslawische Nationalbildungen und romantische Identitätsnarrationen 68 fentlicht, aber auch viele Texte über Bosnien, Serbien und Montenegro, und zwar in Artikeln, in Form der Reiseberichte, aber auch in zahlreichen Kunst- und Volksgedichten. In allen Texten wird der Kampf der südslawischen Christen gegen die Türken verherrlicht. Mažuranić stellt Smail-aga im Epos als einen sadistischen Tyrannen dar und kontrastiert ihm zugeschriebene negative Eigenschaften stark mit dem idealisierten Bild der montenegrinischen Sippengemeinschaft. Die Aktion der Montenegriner wird im Epos als Heldentat gelobt, die Verse, die im Geiste der pastoralen Idylle geschrieben sind, sollen unmittelbar die glückliche Zeit, in der die südslawischen Stämme friedlich zusammenlebten, in Erinnerung rufen. Die illyrische Bewegung dieser Zeit ging nämlich davon aus, dass die Kroaten und die übrigen Südslawen Nachkommen der Illyrer der Antike seien. Eine politische und kulturelle Einheit sollte ausgehend von der ethnischen Verwandtschaft aller Südslawen angestrebt werden. Montenegro ist auch der Schauplatz des Njegoš-Epos’ „Der Bergkranz“, das als erstes nationales Narrativ in Montenegro, aber auch in Serbien betrachtet werden kann. Njegoš als Autor erscheint in einer Doppellrolle: als Schriftsteller und als Staatsoberhaupt bzw. Fürstbischof, der für den Bestand seines eigenen Staates Verantwortung trägt, da die größten Teile Montenegros schon zu dieser Zeit außerhalb der Kontrolle des Osmanischen Reiches waren. Das Thema des Epos ist die angebliche Ausrottung der zum Islam konvertierten Montenegriner am Heiligen Abend des Jahres 1702. Obwohl keine unbestreitbaren historischen Beweise für dieses Ereignis vorhanden sind, wird die Ausrottung der Konvertierten im Lichte des allgemeinen Kampfes des serbischen und montenegrinischen Volkes für seine Freiheit dargestellt. Diese Darstellungsart stand im Einklang mit der national-romantischen Verherrlichung der Befreiung der Serben und Montenegriner von ihren Unterdrückern. Das Thema der Dichtung, der politische und ethische Umgang der Montenegriner mit den zum Islam konvertierten Mitbürgern wird von Njegoš in den Rang eines volkserhaltenden Ereignisses innerhalb der großen Auseinandersetzung der beiden Religionen Christentum und Islam in Europa erhoben. In Anlehnung an der südslawischen Volksepik und der Volkssprache vereinigt Njegoš im „Bergkranz“ epische, dramatische und lyrische Elemente und seine Sprache wurde somit beispielgebend für die Entwicklung der südslawischen Literaturen zur Zeit ihrer „Wiedergeburt“. Der montenegrinische Vladika (Erzbischof) Danilo, der Hauptprotagonist des Epos, durchlebt eine innere Krise, weil er vor einer schweren Entscheidung steht: Er soll entscheiden, ob er die Mitglieder des eigenen Volkes, die zum Islam übertreten, ausrotten soll oder nicht. Die Entscheidung für die Vertreibung von „verlogenen und treulosen Vertürkten“ wird als eine politische Notwendigkeit beschrieben, die im Einklang mit dem damaligen Verständnis der nationalen Interessen und der politischen Zweckmäßigkeit stand. Der Glaubenswechsel spielte nämlich eine bedeutende Rolle im Prozess der Bildung des serbischen und montenegrinischen nationalen Bewusstseins. <?page no="69"?> II (Vor-)jugoslawische Nationenbildungen und romantische Identitätsnarrationen 69 Auch im zweiten Epos „Šcepan Mali“ („Šcepan der Kleine“) von Njegoš ist die Rede von einer nationalen Aufgabe und nicht von religiösem Hass. Der Archimandrit Teodosije macht das mit den folgenden Worten deutlich: Jeder Serbe, der konvertiert, und einen anderen Glauben umarmt, soll den Herrn nicht um Vergebung bitten, weil er vor der Welt sein Gesicht verlor und ein Serbe nicht genannt werden will. 183 Die religiöse Spaltung wurde im 19. Jahrhundert durch die ausländischen Großmächte intensiviert. Die Kirchen hatten zu der Zeit immer noch einen starken Einfluss auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und beeinflussten die gesamte Kultur. Die systematische Differenzierung zwischen den drei Religionsgemeinschaften auf südslawischem Boden korreliert deswegen mit dem Aufstieg des Nationalismus und der Entstehung des modernen Staates. Die Aufstände des frühen 19. Jahrhunderts, in deren Verlauf sich eine neue Kultur und damit eine neue Identität in Serbien und Montenegro entwickelten, kennzeichneten ein Ende des Islamisierungsprozesses. Die Dichter der Romantik entwarfen in dieser Zeit ein negatives Bild der Türken und insbesondere der Konvertirten. Der Mythos des Verrats durch den Glaubenwechsel war aber im serbischen Bewusstsein noch seit dem Kosovo-Zyklus stark verwurzelt, da der Glaubensübertritt mit einem Wechsel der kulturellen Identität verbunden war. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts stand das kulturelle Leben im Zusammenhang mit der konfessionellen Gemeinschaften. Die Vernichtung der Vertürkten (poturica) bei Njegoš wird als Versuch, keine neue Spaltung zuzulassen, gewertet, da die Spaltung bzw. der Verrat als Grund für die Niederlage auf dem Amselfeld identifiziert war. II.4 Narrative kultureller Integration Nach Sundhaußen ist die Besonderheit der Nationalbewegungen in Südosteuropa eine Symbiose von aus Zentraleuropa entlehnten kulturell bzw. ethnisch objektiven Nationalstaatsmodellen mit dem unitaristisch zentralistischen Staatsmodell der Franzosen, das in der Folgezeit, je politischer die Nationalbewegung wurde, desto mehr Gewicht bekam. 184 Nach der objektivistischen oder essenzialistischen Auffassung der Nation sind es objektive Kriterien, die eine Nation ausmachen. Als Zugehörigkeitskriterien werden in 183 Petar II Petrović Njegoš: Šćepan mali. In: Cjelokupna djela P. P. Njegoša, red. odbor: N. Banašević. Beograd: Prosveta, Bd. 4 1952, S.144. 184 Vgl. Holm Sundhaußen (Hrsg.): Osteuropa zwischen Integration und Differenz: Probleme europäischer Integration und kultureller Differenzierung. Frankfurt am Main ; Wien: Lang 1999 . <?page no="70"?> II (Vor-)jugoslawische Nationalbildungen und romantische Identitätsnarrationen 70 den unterschiedlichen objektivistischen Definitionen verschiedene Eigenschaften genannt wie: gemeinsame Sprache, Kultur, Tradition, Geschichte, gemeinsames Territorium, die Landesnatur, angeblich angeborene geistige oder psychische Eigenschaften, die als Volksgeist oder Volkscharakter bezeichnet werden. Es handelt sich nach dieser Auffassung fast um gott- oder naturgegebene objektive, organische Einheiten, die über historische Prozesse der Entwicklung von Ethnien bzw. von biologischen Abstammungsgemeinschaften zu Kulturgemeinschaften das nationale Bewusstsein erlangten. Im 19. Jahrhundert waren im Sinne des herrschenden Zeitgeistes die Grundlagen einer zukünftigen jugoslawischen Kultur und Identität in der Volkskultur sowie in jenem Teil der Hochkultur, in den die Volkskultur durchdrang, gelegt worden. Die sogenannte Kosovo-Überlieferung, in der die orale epische Poesie die einflussreichste Rolle hatte, wurde vom 14. bis zum 18. Jahrhundert zum größten Teil im damaligen Westen, vor allem im heutigen Kroatien, aufbewahrt, wo sie ebenfalls zum Thema zahlreicher Volkslieder wurde. 185 Neben den Werken der Kroaten Ivan Gundulić und Ivan Mažuranić bekannt war z. B. das Werk „Das erbauliche Gespräch des slawischen Volkes“ des dalmatinischen Franziskaners Andrija Kacić-Miošić, das er 1756 in Venedig drucken ließ. Der bedeutendste kroatische Dichter seiner Zeit, Petar Preradović, schrieb ein lyrisches Drama mit dem Titel „Kraljević Marko“ (1852), das vom serbischen Helden und Vasallen der Osmanen Marko Kraljević handelt. So entstanden in dieser Zeit einerseits kurze Gedichte, die zur Einigkeit aller Südslawen aufriefen, die Metrik der Volkslieder nützten und deren Sprache der Volkssprache angepasst war. Die ursprüngliche kulturelle Dimension der Integration von Südslawen basierte darauf, die Hochkultur von kirchlichen Einflüssen zu trennen und sie der Volksdichtung anzunähern. Heldenethos und starker Freiheitssinn, die besonders in der Volksdichtung vertreten wurden, waren zu der Zeit wichtige Elemente der angestrebten kulturellen Integration. 186 Das heroische Ethos, so wie es in der Volksdichtung dargestellt wurde, stellte jedoch keine geeignete Grundlage für die jugoslawische Kultur des 20. Jahrhunderts dar. Zu der Zeit erschienen auch zahlreiche Zeitungen, Almanache und Sammelbänder, die eine kulturelle Integration auf modernistischen Grundlagen befürworteten. So wurde der Almanach der serbischen und kroatischen Dichter und Erzähler 1910 sowohl in Belgrad als auch in Zagreb herausgegeben und gleichzeitig in lateinischer und kyrillischer Schrift gedruckt. Im Vorwort des Chefredakteurs Milan Ćurčin wird erklärt, dass im Almanach die Arbeiten von denjenigen veröffentlicht werden, die aktiv die Idee der nationalen Einigung unter- 185 Mehr dazu in Dušan Bandić: Carstvo zemaljsko i carstvo nebesko. Ogledi o narodnoj religiji. Beograd: XX Vek 1997. 186 Vgl. Andrew Baruch Wachtel: Making a Nation, Breaking a Nation, Literature and Cultural Politics in Yugoslavia. Stanford, Calif.: Stanford Univ. Press 1998 (serb. Übersetzung von Ivan Radosavljević, Stubovi kulture. Belgrad 1999). <?page no="71"?> II (Vor-)jugoslawische Nationenbildungen und romantische Identitätsnarrationen 71 stützen, „in der sie eine Rettung unseres Stammes sehen“ 187 . In Slowenien erschien die Zeitschrift Glas juga (Stimme des Südens), in der das Material für das Schaffen einer „starken nationalen Kultur“ in der slowenischen, kroatischen und serbischen Sprache präsentiert wurde. In den 20er- und 30er- Jahren des 20. Jahrhunderts entstand auch eine soziale, linke Literatur. Die Mitglieder dieser Bewegung waren junge Schriftsteller aus verschiedenen jugoslawischen Gebieten. Sie sammelten sich um die Zeitschrift Nova Literatura (Neue Literatur), deren Herausgeber Pavle Bihali, Oto Bihalji Merin, Otokar Keršovani und Veselin Masleša waren. 188 . Bevor das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen 1918 gegründet wurde, schrieb der bekannteste slowenische Schriftsteller der Moderne, Ivan Cankar: … ich habe das jugoslawische Problem so wie es ist, erkannt, als ein in erster Linie politisches Problem (...) Eine Art der jugoslawischen Frage im literarischen oder sprachlichen Sinne existiert für mich überhaupt nicht. Vielleicht gab es sie einmal früher, aber sie ist gelöst worden, als die vier südslawischen Stämme in vier Volksgruppen mit klar getrennten und unabhängigen Kulturen sich aufteilten. 189 Auch andere nicht-literarische Narrative waren für die Etablierung einer neuen sozialen Ordnung bzw. kulturellen Integration wichtig. Als die Gründung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen 1918 schließlich Realität wurde, gab alleine die erste Benennung des Staates deutliche Hinweise darauf, welche Volksgruppen als konstitutiv für die „neue Nation“ galten. Da die bosnischen Muslime für jene serbischen und kroatischen Vorfahren gehalten wurden, die während der osmanischen Herrschaft zum Islam konvertierten, wurden sie ethnisch mit ihren Nachbarn gleichgestellt (ähnlich auch die Mazedonier). Viele junge muslimische Intellektuelle waren bereit, sich in der sogenannten jugoslawischen Nation zu assimilieren, unter der Voraussetzung allerdings, ihre Religion nicht aufgeben zu müssen. In der Rede des Königs Petar I. Karadjordjević, mit der er die Einigung des Staates der Serben, Kroaten und Slowenen mit dem Königsreich Serbien bewilligte, heißt es: Mit der Akzeptanz dieses Abkommens bin ich überzeugt, meine königliche Pflicht zu erfüllen und nur dies zu beschließen, was die besten Söhne unserer Rasse - aller Religionen und von allen drei Namen, von beiden Seiten der 187 Almanah hrvatskih srpskih i pesnika i pripovedaca. Zagreb/ Beograd 1910, S. 8. 188 Dieses Kulturmodell erhielt seine volle Bestätigung während der Volksbefreiungskämpfe und der sozialistischen Revolution im Zweiten Weltkrieg. 189 Ivan Cankar: Slovenci in Jugoslovani. In: Ivan Cankar: Izabrano delo, Bd. 1, Ljubljana 1967, S. 322. <?page no="72"?> II (Vor-)jugoslawische Nationalbildungen und romantische Identitätsnarrationen 72 Donau, Sava und Drina - schon unter der Herrschaft meines Großvaters vorbereitet haben. 190 Die Formulierung „ein dreinamiges Volk“, die auch in Verbindung mit der Heiligen Dreieinigkeit gebracht werden konnte, sollte die Grundlage für einen ethnischen Verwandtschaftsglauben entstehen lassen. In diesem Zusammenhang scheint es wichtig, den Unterschied zwischen ethnischer Gemeinschaft und Nation zu erläuterten. Anthony D. Smith, der sich zwischen objektivistischen und konstruktivistischen Theorien der Nation positioniert, hält an der Annahme eines ethnischen Ursprungs der Nationen fest, also daran, dass gemeinsame Herkunft mehr als eine ideologische Fiktion oder eine nachträgliche Konstruktion sei. Smith geht schon von einem auf subjektiven Kriterien basierenden Gemeinschaftsbegriff aus, setzt sich aber für eine Trennung zwischen Nation (nation) und Gemeinschaft (ethnie) ein. Er definiert Nation als: named human community occupying a homeland, and having common myths and a shared history, a common public culture, a single economy and common rights and duties for all members. 191 Smith betont, dass die Nation nicht mit der Ethnie gleichzusetzen ist, aber die Beziehung zwischen beiden Formen der Vergemeinschaftung berücksichtigt werden muss. Smith greift somit die Theorien von Anderson und Eric Hobsbawm an. Er erkennt die Wiederkehr früheren Gemeinschaftsformen, die der Nation ähnlich waren, wie z. B. die antiken jüdischen und armenischen Gemeinschaften. Smith definiert Ethnie als: a named human population with myths of common ancestry, shared historical memories, one or more elements of shared culture, a link with a homeland, and a measure of solidarity, at least among elites. 192 Während der Nation sowohl ethnische als auch staatsbürgerliche Elemente innewohnen, wird die Ethnie durch ihre Geschichte, Herkunft und Abstammungsmythen bestimmt. Gerade die Überlieferung ethnischer Mythen und Symbole prägt das Selbstverständnis der Nation. Die unterschiedlichen Entwicklungsweisen der Nationen sind laut Smith durch die ethnischen Ursprünge mitbestimmt. Obwohl zahlreiche Ethnien nie die Stufe ökonomischer, rechtlicher und politischer Vereinheitlichung erreichten, um so zu einem Nationalstaat zu werden, ist nach Smith eine ethnische Identität für jeden Nationsbildungsprozess wichtig. Nationale Identitäten sind nie völlig neu konstruiert, sondern beziehen sich auf schon vorhandene kollektive Identitäten. 190 Zitiert nach Wachtel: Making a Nation, Breaking a Nation, S. 87. 191 Anthony D. Smith: The Nation in History. Historiographical Debates about Ethnicity and Nationalism. Hanover: Univ. Press of New England 2000, S. 13. 192 Ebd. S. 65. <?page no="73"?> II (Vor-)jugoslawische Nationenbildungen und romantische Identitätsnarrationen 73 Max Weber spielt offensichtlich auch für Anthony D. Smiths Theorie eine gewisse Rolle. Nach Weber 193 ist es schwer zu entscheiden, ob sich ethnische Gemeinschaften zeitlich vor politischen Gemeinschaften entwickelten oder ob politische Gemeinschaften nicht erst die Grundlage für einen ethnischen Verwandtschaftsglauben entstehen ließen. Weber betont, dass es keine „rein“ ethischen und keine „rein“ politischen Gemeinschaften gibt. Strebt eine Gemeinschaft nach Macht, betritt sie dann den Weg der Nationenbildung. So bleibt als Indikator für Nationalität nur Mobilisierungsgrad und Nationalstaatlichkeit. II.5 Sprache und Einheitsstiftung - zwischen sprachlicher Annäherung der Südslawen und dem Wunsch nach Eigenständigkeit Im Mittelpunkt der verspäteten Nationsbildungsprozesse in Europa Anfang des 19. Jahrhunderts standen Sprache und Geschichte. Diese Konzeption, die Nation-Sein von einer exklusiven Sprache abhängig macht, übte im Europa des 19. Jahrhunderts weitreichenden Einfluss aus, der sich bald auch auf das Denken über den Nationalismus erstreckte. 194 Sprachwissenschaftler und Literaten nahmen an diesem Prozess aktiv teil. So wurde mit der literarischen Verbreitung der Geschichte der Amerikanischen Unabhängigkeitskriege und der Französischen Revolution ab den 1820er-Jahren ein Modell für die Entstehung des unabhängigen Nationalstaats angeboten. Diese, wie sie Anderson nennt, „philologisch-lexikographische Revolution“ 195 regte die Frage der Selbstbestimmung jeder Sprachgruppe an und verursachte Legitimationsprobleme für die dynastischen Herrscher. Die reinsten Formen der Volkssprache und der Kultur, die frei von fremden Einflüssen sind, finden sich für die Romantiker bei den Ahnen der Vorzeit. Eine Befreiung der Sprache von Fremdwörtern und von fremden Einflüssen ist daher die erste Voraussetzung für die Nationalisierung eines Volkes. Die zahlreichen Beispiele am Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts zeugen von Sprachreformen, die eine eigene „wahre“ Standardsprache aus Dialekten und älteren Sprachdokumenten auszubilden vermochten. Eine bekannte Sprachreform war zum Beispiel jene in der Türkei, wo die Jungtürken die osmanische Hofsprache von persischen und arabischen Einflüssen säuberten. 193 Vgl. Max Weber: Gesamtausgabe. Abt. 1, Bd. 22: Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Herausgegeben von J. Mommsen und Michael Meyer. Tübingen 1993. S. 162-190 und S. 200-217. 194 Vgl. Anderson: Die Erfindung der Nation. 195 Ebd., S. 88. <?page no="74"?> II (Vor-)jugoslawische Nationalbildungen und romantische Identitätsnarrationen 74 Es ist bis jetzt häufig betont worden, wie sehr Sprache an sich und noch vielmehr die Volkssprache als Ausdruck von Identität und Authentizität einer Person oder eines Volkes wahrgenommen wird. Eine normierte Volkssprache kann gesellschaftliche und ökonomische Veränderungen fördern, die modernisierend wirken und den Wünschen neu aufstrebender Eliten entgegenkommen. Sie ist zumeist Beginn oder zumindest Impuls für neue nationale, volkssprachliche Entwicklungen im Bereich der Literatur. 196 Wenn es aber um die Frage geht, welche Sprache oder Sprachvariante von allen zur Verfügung stehenden am besten zu einer nationalen Normsprache gemacht werden sollte, wird die Sache häufig recht schwierig. Da es zunächst völlig unklar ist, welche Identität, Substanz und welchen Umfang eine Population und deren Sprache besitzen, sind nationale und linguistische Grenzen schwer bestimmbar. Der Begriff Sprache benötigt eine Präzisierung, da es niemals klar ist, was mit Sprache gemeint ist. Sprache kann sich auf ein System von Dialekten, auf das Vernakular im Sinne der Volksprache im Unterschied zur Standardsprache oder auf die standardisierte Literatursprache beziehen. Die inoffizielle Theorie der Sprachnation, die nach dem Schema „ein Volk, eine Sprache, ein Staat“ vertreten wurde, übte einen starken Einfluss auf den slowenischen Sprachwissenschaftler Jan Kopitar, den serbischen Sprachreformator Vuk Karadžić und die kroatische illyrische Bewegung aus. Da es auf dem späteren Gebiet der serbokroatischen Sprache drei Dialekten gab, schreibt Karadžić, der damaligen Doktrin von der Gleichsetzung von Sprache und Volk folgend, den cakawischen Dialekt den Kroaten, den stokawischen Dialekt den Serben und den kajkawischen Dialekt den Slowenen zu. 197 Für die Ausbildung der späteren serbokroatischen Sprache war der stokawische Dialekt relevant. Auch die „Illyrer“ wählten den stokawischen Dialekt, obwohl die meisten von ihnen Kajkavci waren. Ausschlaggebend war für eine solche Entscheidung der Illyrer ihr unitaristischer kultureller Jugoslawismus bzw. das Konzept der nationalen Vereinigung und Vereinheitlichung der Südslawen auf kulturellem Gebiet. Die illyrische Bewegung entstand vor allem als Reaktion auf die Magyarisierung und den Versuch, die ungarische Sprache in Kroatien als obligatorisches Schulfach, als Amtssprache und Verhandlungssprache auf dem gemeinsamen Reichstag einzuführen. Die demonstrative Übernahme des illyrischen Namens als nationaler Selbstbezeichnung seitens der Träger der kroatischen Wiedergeburt und die noch zu erörternde programmatische Übertragung dieses Namens auf alle Südslawen war jedoch Ausdruck eines Jugoslawismus, der die ethnische 196 Vgl. Hopf: Sprachnationalismus, S. 87. 197 Vgl. Ranko Bugarski: Jezik u društvu. Beograd: Prosveta, 1986. <?page no="75"?> II (Vor-)jugoslawische Nationenbildungen und romantische Identitätsnarrationen 75 Einheit der Südslawen betonte und ihre kulturelle, schließlich auch politische Vereinigung anstrebte. 198 Sprache und Literatur waren der Bereich, in dem der unitarische Jugoslawismus verwirklicht werden sollte. Aufgrund des nationalen Ziels einer einheitlichen Schriftsprache für alle Südslawen wurde als Grundlage der einheitlichen Schriftsprache der stokawische Dialekt gewählt. Die Klassifizierung von Vuk Karadžić wird später von einigen kroatischen Linguisten angegriffen, da in Kroatien auch eine große Bevölkerungsgruppe den stokawischen Dialekt benutzte, der in Serbien den Rahmen für die eigene sprachliche Entwicklung gegeben hat. Die kroatische Ethnizität verfügte nämlich über drei Mundarten, von denen nur Cakawisch als eigener Dialekt galt, während Kajkawisch mit der slowenischen und Stokawisch mit der serbischen Ethnie geteilt wurde. Das nationale Bewusstsein, das mit der Nation und nicht mit der Ethnizität verbunden ist, wird aber über eine Ebene konstituiert, die das ganze Territorium mittels einer sprachlichen Homogenisierung abdeckt. Diese Ebene dient dann dem Bildungswesen sowie dem administrativen und kulturellen Leben. Deswegen waren Universitäten und Schulen die wichtigsten Vermittlungsinstanzen der nationalen Idee. Gerade deshalb wurde der Illyrismus unter Slowenen und Serben von der überwiegenden Mehrheit der kulturellen und politischen Elite abgelehnt. Bei Slowenen begann die nationale Wiedergeburt, die auf der Tradition der protestantischen Schriftsteller des 16. Jahrhunderts und den philologischen Arbeiten B. J. Kopitars aufbaute. Der stokawische Dialekt erwies sich hier als besonders hinderlich, da er eben einen zentralen Integrationsfaktor der „Illyrer“ darstellte. Die Serben waren ihrerseits in ihrer eigenen literarischen und religiösen Tradition verwurzelt und mit der eigenen Staatsidee, deren Bezugspunkt das Fürstentum Serbien war, beschäftigt. Im Grunde fanden die kulturellen Ziele der Illyrer nur bei Kroaten Resonanz, da der kulturelle Illyrismus in erster Linie zur Einigung der Kroaten und zur Konstituierung der kroatischen Nation auf der Grundlage von Sprache, Literatur und Kultur beitrug. „Bis zum Vorabend der Revolution von 1848 manifestierte sich der Nationalismus der Illyrer als kultureller Illyrismus und politischer Kroatismus.“ 199 Nichtsdestoweniger unterzeichneten die bekannten kroatischen (Ivan Mažuranić, Dimitrije Demetra, Ivan Kukuljević, Vinko Pencel, Stjepan Pejaković), serbischen (Vuk Karadžić und Djuro Daničić) und den slowenischen Linguisten (Franc Miklošič) am 28. März 1850 das sogenannte Wiener Abkommen auf einer Konferenz in Wien, das die Grundlage für die gemeinsame Schriftsprache der Serben und Kroaten schaffen sollte. Diese Vereinbarung war eindeutig von den Grundsätzen Karadžićs geprägt. Mit 198 Wolf Dietrich Behschnitt: Nationalismus bei Serben und Kroaten 1830-1914. Analyse und Typologie der nationalen Ideologie. München: Oldenbourg 1980, S. 135. 199 Ebd., S. 151. <?page no="76"?> II (Vor-)jugoslawische Nationalbildungen und romantische Identitätsnarrationen 76 dem Abkommen wurde auch vorgesehen, die Orthografien des Serbischen und Kroatischen in lateinischer und kyrillischer Schrift so aneinander anzupassen, dass direkt aus der einen in die andere transliteriert werden kann. Man einigte sich auf den stokavisch-ijekavischen Dialekt als gemeinsame Grundlage für die kroatische und serbische Sprache. Obwohl das „Abkommen“ von Privatpersonen unterzeichnet wurde und als solches keine bindende Wirkung hatte, insbesondere weil eine Ratifizierung durch staatliche Institutionen nicht stattfand, stellte es einen bedeutenden Schritt zur sprachlichen Einigung der Südslawen dar. Der kulturelle Jugoslawismus stand auch im Mittelpunkt des nationalen Konzepts des Kroaten Josip J. Strossmayer, des Bischofs von Djakovo, und seines engsten Vertrauten, des Kanonikers und ersten Präsidenten der Jugoslawischen Akademie Franjo Rački. In seinem Artikel „Jugoslovjenstvo“ vertritt Rački ebenfalls die These, dass dieses Volk eine gemeinsame Geschichte, sowohl politisch als auch geistig, teilt, dass es durch dieselbe Vergangenheit verbunden wird. 200 Die sprachliche Verwandtschaft macht für Rački die Einigung der Südslawen zum Postulat. In diesem Sinne regte Rački die Schaffung der einheitlichen Schriftsprache, die Gründung der Jugoslawischen Akademie und von Lehrstühlen der serbokroatischen Sprache in verschiedenen Städten an. Strossmayer und Rački waren vielseitig aktiv auf kultureller Ebene: Herausgabe von Büchern, Wörterbüchern, Druck von Zeitschriften usw. Strossmayer finanzierte die Gründung der Jugoslawischen Akademie (1866) und der Universität in Zagreb (1874), die der geistig-kulturellen Einigung der Südslawen dienen sollte. Die kulturelle Vereinigung aller Jugoslawen, die vor allem auf der Basis einer gemeinsame Schriftsprache erreicht werden sollte, wurde auch in die Tivoli-Resolution von 1909 aufgenommen, die auf der Konferenz der jugoslawischen Sozialisten in Ljubljana von 21. bis 22. November 1909 verabschiedet wurde. Der serbische Literaturhistoriker Jovan Skerlić befürwortete auch die Schaffung einer einheitlichen Schriftsprache, die nicht nur im Interesse der nationalen Einheit zwischen Kroaten und Serben, sondern auch zwischen Serbo-Kroaten und Slowenen sei. Er tritt für die Annahme des lateinischen Alphabets und für die Erhebung der östlichen, ekavischen Form des stokavischen Dialektes zur alleinigen Schriftsprache ein. Der berühmte kroatische Dichter Tin Ujević (1891-1955) schrieb in seinem Artikel „Narodno jedinstvo“ („Die Volkseinheit“): Es bestehe heute keine besondere Notwendigkeit, die alltägliche Tatsache, daß Kroaten und Serben eine einzige Nation sind, zu beweisen ... Ein Blut, gemeinsame Gewohnheiten, eine Geschichte gemeinsamen Ruhms und Leidens, eine Sprache, eine nationale Kultur und jenes tiefe instinktive Gefühl der Einheit, das trotz allem Gegensatz des Glaubens und der exklusiven Namen bei allen unseren politischen und kulturellen Führern, nannten sie sich 200 Ebd., S. 163. <?page no="77"?> II (Vor-)jugoslawische Nationenbildungen und romantische Identitätsnarrationen 77 Kroaten oder Serben, zum Ausdruck kam - diese Erscheinungen stärken uns alle in dem festen Glauben an die nationale Einheit, der für uns alle ein Axiom bleiben muß. 201 Ujević erweiterte die nationale Einheit der Serben und Kroaten auch um die Slowenen, da sich Serbentum, Kroatentum und Slowenentum als solche erst selbst verwirklichen würden, wenn sie auf einem anderen Niveau verschmelzen würden. „Der Prozeß der Integration von Serben, Kroaten und Slowenen im zukünftigen Jugoslawentum war die Schaffung der einheitlichen jugoslawischen Kultur- und Staatsnation“, in der, wie es Ujevićs Vergleich mit der Funktion der Schriftsprache verdeutlichte, „alle Unterschiede in einer weiteren Harmonie ausgeglichen werden sollten“ 202 . Ende des 19. Jahrhunderts gelang eine erste Kodifizierung der Sprache mit dem Erscheinen eines Wörterbuchs und einer Grammatik zur kroatischen oder serbischen Sprache. 1941, als der unabhängige kroatische Ustascha-Staat gegründet wurde, kam es zu einer Trennung von kroatischer und serbischer Sprache, und es wurde Purismus praktiziert. Die Idee einer gemeinsamen Sprache wurde nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgegriffen. Eine Sprachkommission legte 1954 in Novi Sad fest, dass es sich beim Kroatischen, Serbischen, Montenegrinischen und Bosnischen um eine Sprache mit mehreren Zentren handle. Sowohl die ijekawische als auch die ekawische Aussprache besäßen ihre Gültigkeit, und die lateinische sowie die kyrillische Schrift wurden gestattet. Slowenisch und Mazedonisch wurden aufgrund der größeren sprachlichen Unterschiede gesondert behandelt. Dieses Einverständnis war jedoch nicht von Dauer. Die Deklaration über Name und Stellung der kroatischen literarischen Sprache aus dem Jahr 1967 hatte gerade dieses Abkommen und die auf das Abkommen zurückzuführende Entstehung der serbokroatischen Sprache infrage gestellt und sie einer Revision im Lichte des damaligen jugoslawischen Kontexts unterzogen. Eine Gruppe kroatischer Linguisten, seit 1970 unterstützt von der sogenannten Massenbewegung, forderte, dass Kroatisch eine selbstständige Sprache werden und auch der Einfluss serbischer Wörter auf die kroatische Sprache unterbunden werden solle. Die Deklaration wurde am 17. März 1967 in der Wochenzeitung „Telegram“ veröffentlicht. Der Text der Deklaration wurde in Matica Hrvatska verfasst und von einigen damals bekannten kroatischen Linguisten und Schriftstellern unterschrieben. Im Dokument wurde dazu aufgefordert, die kroatische von der serbokroatischen Sprache zu trennen. Bald danach antwortete eine Gruppe serbischer Schriftsteller mit einem so genannten „Überlegungsvorschlag“, in dem konstatiert wurde, dass mit der Deklaration das Wiener und sogenannte Novi-Sad-Abkommen aus dem Jahre 1954 außer Kraft gesetzt würden und somit keine gemeinsame Literatursprache von 201 Ujević zitiert nach Behschnitt: Nationalismus, S. 224. 202 Ebd., S. 227. <?page no="78"?> II (Vor-)jugoslawische Nationalbildungen und romantische Identitätsnarrationen 78 Serben und Kroaten mehr existiere. 203 Die Matica Hrvatska, die eine führende Rolle in dieser Bewegung spielte, trat im Jahre 1971 von der Absprache von Novi Sad zurück. Als Konsequenz wurde in der Verfassung der Bundesrepublik Kroatien von 1974 der Artikel über die Bezeichnung der Sprache geändert. Der Teilrepublik Kroatien wurde das Recht, dass „jede Nation und Nationalität die Sprache mit ihrem Namen zu benennen“ 204 könne, garantiert. Die literarischen und sprachlichen Grenzziehungen, die einmal als Einheit generierende Mechanismen funktionierten, kennzeichneten auch den Anfang einer kulturellen Konstitution, die später in die soziale Desintegration münden sollte. Die Ambivalenz der Legitimierung nationaler Ziele, die durch das Kriterium Sprache konstituiert wurde, lag darin, dass dieses Kriterium sowohl für die Bildung des eigenen nationalen Bewusstseins als auch für die Herausbildung eines integrativen Jugoslawentums diente. Dabei ist es allerdings weitgehend eine Frage der Definition, ob man die ekavische und die ijekavische Stokavstina als zwei Varianten einer Schriftsprache oder als zwei Schriftsprachen ansieht. Diese Entscheidung fällt aber nicht nur in die Kompetenz der Linguistik, sondern sie ist - wie die Geschichte bis in die Gegenwart zeigt - zentral von der Politik in der nationalen Frage abhängig. Lag es im Interesse der Ideologen des Nationalismus, beispielweise die Unterschiede zwischen Serben und Kroaten als zwei verschiedenen Nationen zu betonen, so verwies man auf sprachliche Differenzen - wie gravierend sie im einzelnen auch gewesen sein mögen. Ging es um die Hervorhebung der engen ethnischen Verwandtschaft beziehungsweise Einheit von Serben und Kroaten - sei es im Sinne des Jugoslawismus, sei es gemäß bestimmter die Eigenständigkeit der anderen Nationen negierenden Primärformen des Nationalismus -, so wurden die sprachlichen Gemeinsamkeiten akzentuiert. 205 203 Mehr dazu in Ranko Bugarski: Nova lica jezika. Beograd: XX Vek 2002. 204 Behschnitt: Nationalismus, S. 71. 205 Ebd., S. 237. <?page no="79"?> II (Vor-)jugoslawische Nationenbildungen und romantische Identitätsnarrationen 79 II.6 Vom Volkslied zur nationalen Kultur: Vuk Karadžić und sein Konzept der kulturellen Auslegung in Serbien 206 Die symbolische Rolle von Vuk Karadžić war im Nationen- und danach folgenden Staatsbildungsprozess in Serbien, der in einer Eigenstaatlichkeit Serbiens im Jahre 1878 endete, besonders wichtig. Deswegen wird der Nationsbildungprozess, der in Serbien auch mit der Staatsbildung in Verbindung steht, hier näher erforscht. Die Aufstandsbewegungen gegen die türkische Herrschaft bei den Serben des frühen 19. Jahrhunderts sind jedoch nicht primär als nationale Bewegungen zu bezeichnen. Die ersten Ziele von Volksgruppen, die sich erhoben, waren viel häufiger sozialer Natur und mit dem Wunsch verbunden, eigenständige Normen ungestört leben, eine Identität und eine neue Definition der eigenen Gemeinschaft entwickeln zu können. Erst im Laufe der Zeit entwickelte sich das später so viel beschworene nationale Selbstbewusstsein. Eine Verbindung von Kultur und politischem Gemeinwesen wurde lange Zeit nicht angestrebt. Möchte man neue, umfassendere Gesellschaften (und damit neue Loyalitäten) formen, müssen die eben beschriebenen segmentären Populationen „zunächst davon überzeugt werden, dass sie gemeinsam bestimmte, einzigartige, ethnokulturelle Charakteristika besitzen“ 207 , meint Fishman. Zwischen dem 14. und 19. Jahrhundert wanderten Tausende von Serben aus den osmanisch besetzten Gebieten in den nördlich von Belgrad gelegenen Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie aus, um sich so der osmanischen Herrschaft zu entziehen. Das Haus Habsburg ermöglichte den sogenannten habsburgischen Serben als Gegenleistung für ihre Wehrpflicht, Schulen zu gründen, ihre Sprache zu pflegen, kulturelle Eigenständigkeiten zu bewahren und ein eigenes geistiges und später nationales Gedankengut zu entwickeln. Die Folge des breit gestreuten und durch die Donau gespaltenen Siedlungsgebietes der Serben war eine sehr unterschiedliche Entwicklung der jeweiligen Populationen. Im Laufe der Jahrhunderte hatten sich bei den Serben nördlich und südlich der Donau verschiedene parallele Sprachvarianten ausgebildet (eine kirchenslawische, eine slaveno-serbische und eine volkssprachliche Variante). Vuk Karadžić, der aus den osmanisch besetzten Gebieten Serbiens stammte, floh nach dem Scheitern des ersten serbischen Aufstandes 1813 in die Habsburgermonarchie bzw. nach Wien. Die Freundschaft mit dem Slowenen Jernej Kopitar gab Karadžić den entscheidenden Anstoß dazu, serbische 206 Teile dieses Unterkapitels wurden im Beitrag unter dem Titel „Vom Volkslied zur Nationalkultur. Zur Rezeptionsgeschichte des romantischen Kulturbegriffs am Beispiel Serbiens“ in: Bobinac M. und Müller-Funk W. (Hrsg.): Gedächtnis - Identität - Differenz. Zur kulturellen Konstruktion des südosteuropäischen Raumes und ihrem deutsprachigen Kontext. Tübingen, Basel: Francke Jahr, S. 63-71 veröffentlicht. 207 Fishman 1972, zitiert nach Hopf 1977, S. 30 <?page no="80"?> II (Vor-)jugoslawische Nationalbildungen und romantische Identitätsnarrationen 80 Volkslieder und andere Volksweisheiten zu sammeln, niederzuschreiben und herauszugeben und sich Gedanken über die serbische Sprache zu machen, über die Grammatik, Orthografie und ihren Wortschatz. Kopitar stellte auch die Verbindung zwischen Karadžić und Jacob Grimm her und führte diesen in die serbische Volkspoesie ein. Grimm vermittelte in der Folge die Begeisterung für diese Poesie weiter an Goethe, Savigny, Brentano und andere. 208 Grimms Wiener Aufenthalt Ende 1814 und Anfang 1815 sowie Karadžićs Kasseler Besuch 1823 hatten entscheidende Auswirkungen auf Grimms Beschäftigung mit der serbischen Dichtung und Sprache. Dem Wiener Aufenthalt folgte Grimms erster Beitrag in diesem Bereich, seine Besprechung der Volkslieder, und dem Kasseler Besuch folgte die Veröffentlichung der deutschen Übersetzung der serbischen Grammatik von Karadžić mit der berühmten Vorrede von Grimm. 209 Die Besprechung der Volksliedsammlung von Jacob Grimm ist als Pionierarbeit in der Pflege dieser Poesie zu sehen, da sie eine Reihe von poetischen Besonderheiten der serbischen Volkslieder, wie Betrachtungen über den Reim, die Metapher, die slawische Antithese, den Wortklang, die Symbole und die sprachlichen Bilder beinhaltet. In der Volksdichtung ist laut Grimm „der athem einer jeden sprache ungehemmt und frei zu spüren“ 210 , weswegen Grimm die serbischen Liedersammlung als Quellen bezeichnet, aus denen, „der wahre geist der slavischen sprache, poesie und der ganzen natur dieser völker treuer studiert und geschöpft werden [könne]“ 211 als etwa aus jenen Teilen der slawischen Literatur, die von der gebildeteren Bevölkerungsschicht geschrieben wurde. Die Auffassung, dass in der Hervorhebung der Volkssprache und ihrer literarischen Manifestationen im Volkslied, im Sprichwort usw. ein konstitutives Element der modernen Nation zu sehen sei, war auch eines der Hauptargumente Karadžićs gegenüber seinen Gegnern. Als Karadžić sich für Grimms Besprechung des ersten und zweiten Bandes der Volkslieder „Tausend Mal“ bedankt, tut er das wie er meint „im Namen aller Serben, die ihre Sprache und Nation lieben“. 212 Karadžić wusste, dass seine Gegner, indem sie sich ihm widersetzten, sich auch gleichzeitig der serbischen Volksdichtung, Volkssprache, dem Volksleben - mit einem Wort: der jungen serbischen Nation - widersetzten. Auf diese Weise sind Karadžićs zweifelsohne epochalen Verdienste um die neue serbische Kultur, wie sie sich seit seiner Zeit 208 Vgl. Miljan Mojašević: Jacob Grimm und die serbische Literatur und Kultur. Marburg: Hitzeroth 1990. 209 Vgl. Jacob Grimm: Kleinere Schriften VIII: Vorreden, Zeitgeschichtliches und Persönliches. Hildesheim: Georg Olms Verlagsbuchhandlung 1996. 210 Ebd. 211 Ebd. 212 Vuk Stefanović Karadžić: Sabrana Dela: Prespiska II, Brief vom 18. November 1824. Beograd: Prosveta, 1965-1998. <?page no="81"?> II (Vor-)jugoslawische Nationenbildungen und romantische Identitätsnarrationen 81 entwickelt hat, fast ins Mystische gehoben und seine Gegner, die aus der gebildeten Bevölkerungsschicht und der Kirche kamen, entsprechend unterschätzt, manchmal fast mit einem Bann belegt worden. 213 Die von den serbischen Gebildeten anfangs unterschätzten Volkslieder, Volkssprache (verstanden als „Schweine- und Rinderhirtensprache“), Volkssitten und -bräuche werden durch Karadžićs jahrzehntelange Tätigkeit zu Grundlagen der neueren geistigen Kultur des serbischen Volkes. Die Polemik über die serbische Literatursprache oder der so genannte Kampf um die serbische Sprache, die von 1815 bis 1847 geführt wurde, stellt eines der Zentralereignisse der serbischen neuzeitlichen Kulturgeschichte dar. Sie hat einen entscheidenden Einfluss auf die Formung des gegenwärtigen serbischen Kulturerbes ausgeübt. Seine Ergebnisse bestimmten in entscheidendem Maße die spätere gesellschaftliche Haltung gegenüber der bisherigen serbischen Kulturtradition und verursachten letztlich auch eine starke Diskontinuität in der modernen kulturellen Entwicklung und der Wahrnehmung der kulturellen und künstlerischen Traditionen. Die Auswahl der Sprachvariante, die als Basis für die nationale Normsprache dienen soll, bedeutet in gewissem Maße auch eine Auswahl des Kulturkonzeptes, die eine bestimmte Sprachvariante stärker als eine andere zum Ausdruck bringt. Schon am Anfang des sogenannten Sprachenstreits war klar gewesen, dass den zwei verschiedenen Lösungskonzepten zur Beilegung des Streits die angehäuften Probleme kultureller sowie politischer Natur dieser Zeit zugrunde lagen. Das Kulturkonzept, das sich im Laufe des 18. Jahrhunderts unter den Serben in den Gebieten unter osmanischer Herrschaft entwickelte und von Karadžić in ein kohärentes System gebracht wurde, basierte ausschließlich auf der mündlichen Volkspoesie und befürwortete eine radikale und rasche Lösung der Situation. Das zweite sogenannte bürgerliche Kulturkonzept, das am Ende des 18. Jahrhunderts entstand, ging aus den serbischen Gesellschaftskreisen in der Habsburgermonarchie hervor. In ihm waren die verschiedenen Elemente der kulturellen Tradition vertreten: von der serbischen mittelalterlichen Kultur über fremde Einflüsse, welche die an mitteleuropäischen Universitäten ausgebildeten Intellektuellen übernahmen, bis zu der eigenen bürgerlichen Kultur, deren Schaffen durch die relativ ungestörte Arbeit der serbischen Schulen und durch die Emanzipation der gesellschaftlichen Eliten während des 18. Jahrhunderts in der Habsburgermonarchie möglich geworden war. Dieses Kulturkonzept war weder kohärent noch in ein einheitliches System gebracht worden. Es beinhaltete sowohl klerikale als auch bürgerliche Elemente, die oft im Gegensatz zueinander standen. Im Sprachenstreit schalteten sich seine Vertreter ein, ohne eine klare Vision davon zu haben, wie die Sprache normiert werden sollte. In einem waren sie sich aber einig, und zwar in der Ansicht, dass eine radikale Trennung vom bisherigen literarischen Erbe eine schäd- 213 Vgl. Meša Selimović: Za i protiv Vuka. Beograd: Bigz 1987. <?page no="82"?> II (Vor-)jugoslawische Nationalbildungen und romantische Identitätsnarrationen 82 liche Diskontinuität in der kulturellen Entwicklung bedeuten und zur Vernachlässigung und zum Vergessen der literarischen Traditionen führen würde, die nicht in der Volkssprache verfasst wurden. Vuk Karadžić fragte sich 1818: [W]ie soll man heute für die Serben schreiben? Nicht einmal sie selbst sind sich darüber einig, sondern haben sich in zwei Parteien geteilt: Die einen sagen, dass man richtig Slawisch schreiben und die Volkssprache mit allem Dazugehörigen zurücklassen soll, wie eine verdorbene Schweine- und Rinderhirtensprache. [...] Die anderen (von denen es mehr gibt) meinen, dass weder richtiges Slawisch noch Serbisch nötig ist, sondern dass man die Volkssprache verbessern und zwischen beiden Sprachen gemischt schreiben soll [...]. 214 Karadžić macht auch die soziale Gebundenheit der Sprachvarianten deutlich: die eine Sprachvariante (Serbisch) wird von Schweine- und Rinderhirten gesprochen, die andere Variante (Slawisch) wurde von den höheren Herrschaften in Ungarn befürwortet. Die Radikalität, Klarheit und Funktionalität von Karadžićs Sprachreform, die auch ihren Erfolg ausmachten, konnten nur zustande kommen, weil Karadžić rücksichtslos mit der literarischen Tradition brach und sich von den Verpflichtungen gegenüber älteren Schriftwerken und deren Orthografie vollständig befreite. „Hätte es in Serbien einen Shakespeare gegeben, so mochten wohl Vuk selber Skrupel gekommen sein, sich über ihn hinwegzusetzen.“ 215 Der Bruch und die Veränderung, die die radikale Sprachreform Karadžićs in der kulturellen Entwicklung verursachte, mündete am Ende des 19. Jahrhunderts in eine nationale Kultur ein, die von den neuen gesellschaftlichen Eliten geformt wurde. In ihrem Kern waren jedoch die Kulturwerte, auf denen Karadžić seine radikale Sprachreform gründete, eingebaut. Die Ergebnisse, die der Streit um zwei verschiedene Kulturkonzepte mit sich brachte, wurden durch ihre politische Instrumentalisierung mehrmals in der politischen Geschichte Serbiens wieder aktualisiert und immer mit einer gewissen Schwere und Empfindlichkeit verbunden, umso mehr, da mit der Sprachenfrage in den Umbruchzeiten des 19. und 20. Jahrhunderts das Gefühl der nationalen Zugehörigkeit bzw. Identität verbunden war. Nach Miroslav Jovanović entsprach die Zivilisation von Gunj i opanak (Obergewand aus Tuch und Opanke) ganz der populistischen Rhetorik, die die Radikale Partei von Nikola Pašić ins serbische politische Leben eingeführt hat. 216 „Das Konzept der Volkskultur und -sprache, das im serbischen Dorf und Bauer verkörpert war, wurde ein wichtiges Element der politischen Kom- 214 Karadžić. Zitiert nach Hopf 1997, S. 163. 215 Norbert Reiter: Vuks Sprachdemokratismus. In: Reinhard Lauer (Hrsg.): Sprache, Literatur, Folklore bei Vuk Stefanovic Karadzic. Wiesbaden: Harrassowitz 1988, S. 50-67, hier S. 67. 216 Vgl. Miroslav Jovanović: Jezik i društvena istorija. Belgrad: Stubovi kulture 2002. <?page no="83"?> II (Vor-)jugoslawische Nationenbildungen und romantische Identitätsnarrationen 83 munikation.“ 217 In der politischen Rhetorik wurden die mit diesem Konzept verbundenen Werte oft a priori den bürgerlichen entgegengesetzt, da sie „wahre“ nationale oder Klassenwerte widerspiegelten. Die Folge war, dass in der serbischen Gesellschaft die Vorstellung vom serbischen Bauern und der mythologisierten Person des Vuk Karadžić die wichtigen Symbole der kollektiven Identität darstellten. Wie schon im ersten Kapitel gezeigt worden ist, wurde in der Zeit der Romantik eine Verbindung zwischen dem Volk, als neuem politischen Körper, und den organizistischen Staatskonzepten bzw. der kollektivistischen Denkweise hergestellt. Die Idealisierung des Gruppenlieds und dessen Stilisierung zum Volkslied war, laut Ernst Klusen, Herders fortwirkende Tat. 218 Herder hat dem Volkslied nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine ethische Wirkung zugeschrieben. ... das ideologisierte Volkslied will ein kollektives Erlebnis herbeiführen, möglichst zahlreichen Gruppen - die Massen - zum kollektiven Erlebnis der emotionalen Identifikation mit den als wahr und gut dargestellten Inhalten der Ideologie führen. 219 Wie Ernst Klusen in seinem Buch „Volkslied: Fund und Erfindung“ schrieb, hat Herder selbst damit nichts zu tun, er schuf nur die Voraussetzungen dafür. Genauso wenig hat Vuk Karadžić mit dem politischen Missbrauch des völkischen Kulturkonzeptes in Serbien zu tun, er hat aber ebenso die Voraussetzungen dafür geschaffen. II.7 Kosovo-Überlieferung und die Erzählung der serbischen Nation Die sogenannte Kosovo-Überlieferung - in der die mündliche epische Poesie die einflussreichste Rolle hatte - ging in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in Serbien in eine neue Phase über. Das Ereignis, das diese Phase kennzeichnete, war die Veröffentlichung einer Sammlung der epischen Volkslieder von Vuk Karadžić in Wien im Jahr 1814. 220 Im Sinne des damaligen Zeitgeistes wurde die epische Dichtung mit der nationalen Größe und der Entstehung der Nationalstaaten in Europa verbunden. Die epische Poesie war für die Serben ein zu dieser Zeit in Westeuropa allgemein anerkannter 217 Ebd., S.82. 218 Vgl. Klusen: Volkslied, S. 139. 219 Ebd., S. 140. 220 Die erste Sammlung der epischen Volkslieder wurde unter dem Titel „Mala prostonarodna slaveno-serbska pjesmarica“ von Vuk Karadžić veröffentlicht. Gleich danach folgte die zweite Ausgabe in vier Bänden unter dem Titel „Srpske narodne pjesme“, die 1841, 1845, 1846 und 1862 erschienen. <?page no="84"?> II (Vor-)jugoslawische Nationalbildungen und romantische Identitätsnarrationen 84 Beweis dafür, dass sie auch ein Volk mit Geschichte und Kultur waren. Die Erweckung des nationalen Bewusstseins setzte aber die Abgrenzung von der osmanischen imperialen Kultur voraus, was eine Annäherung an die westeuropäischen Kulturkonzepte bedeutete. Dies war eigentlich eine Annäherung an diejenigen, von denen sie schon vor der osmanischen Eroberung als Angehörige der östlichen Kirche bzw. Byzanz als „die Anderen“ bezeichnet wurden. Die Religionswissenschaftlerin Milica Bakić Hayden beschrieb diese Situation mit den folgenden Worten: Vom Standpunkt der Re-Definierung von Identität beobachten wir einen widersprüchlichen Verlauf. Einerseits geht es um eine bewusste Differenzierung von den Türken, von aufgezwungenen Anderen, andererseits geht es um einen Versuch der Identifikation mit Westeuropa. Dies hatte einen inneren Konflikt in der Tradition verursacht, so daß auch, wenn die Souveränität über das eigene, innere, geistige Gebiet (der Religion und Kultur) trotz allem bewahrt wurde, das Kriterium für die Bewertung dieses Eigenen vom westeuropäischen intellektuellen Projekt namens Aufklärung und seinem späteren integralen Ko-Projekt, der Romantik, herstammte. Man könnte feststellen, daß zum Beispiel in den Teilen Europas, die unter türkischer Herrschaft waren, die Trennung von den anderen Teilen des Kontinents, die durch eine asiatische imperiale Kultur aufgezwungen wurde, das Bild vom Europa als das Ideal, das mittels der nationalen Befreiung erreicht werden sollte, anregte und verstärkte. 221 Gerade diese Trennung hat das Zugehörigkeitsgefühl zum europäischen Christentum verstärkt, trotz der früheren Spaltung in westliche und östliche Kirche im Jahre 1054, so Bakić. Wie Wolff in seinem Buch „Inventing Eastern Europe“ schreibt, wurde das negative Bild „des lateinischen Westens“ bzw. „des katholischen Westens“ in der Zeit der Aufklärung bzw. der Romantik durch das Bild „des aufgeklärten Europas“ und „des zivilisierten Europas“ ersetzt. 222 Die epische mündliche Tradition war in der Zeit, in der die nationale Kultur im 19. Jahrhundert entstand, unter den Slawen immer noch lebendig. Dadurch erhielt die mündliche epische Dichtung eine neue Rolle und Legitimität. Eric Hobsbawm meint in einem Gespräch darüber: Nationale Mythen entstehen nicht aus den tatsächlichen Erfahrungen der Menschen. Sie sind etwas, das Menschen von anderen übernehmen, von Schriftstellern, Historikern, aus Filmen und heute von Menschen, die Fernsehsendungen machen. Sie sind im allgemeinen nicht Teil des historischen Gedächtnisses oder einer lebendigen Tradition, abgesehen von einigen Son- 221 Milica Bakić Hayden: Varijacije na temu Balkan. Beograd: Filip Višnjić 2006, S. 133. (Übersetzung von E. M.) 222 Vgl. Larry Wolff: Inventing Eastern Europe: the map of civilization on the mind of the Enlightenment. Stanford, Calif.: Stanford Univ. Press 1995. <?page no="85"?> II (Vor-)jugoslawische Nationenbildungen und romantische Identitätsnarrationen 85 derfällen, in denen das, was schließlich zu einem nationalen Mythos werden sollte, ein Produkt der Religion war. Das gilt etwa für die Juden, für die die Idee der Vertreibung aus dem Land Israel und die sichere Rückkehr dorthin Teil der religiösen Praxis und Literatur war. Innerhalb bestimmter Grenzen gilt dies auch für die Serben, da der Verlust des serbischen Staates im Mittelalter in die serbisch-orthodoxe Liturgie einging und fast alle serbischen Fürsten zu Symbolen des orthodoxen Glaubens wurden. Ein Sonderfall. Doch auch hier ist es nicht so, daß Menschen sich aus eigenem Antrieb fortwährend an etwas erinnern: Sie tun es, weil jemand anderer sie beständig daran erinnert. 223 Die Schlacht auf dem Amselfeld war und blieb im Bewusstsein des Volkes das zentrale Ereignis der gesamten serbischen Geschichte. In der Volksüberlieferung wurde sie zum Paradigma für einen gerechtfertigten Kampf und die Selbstaufopferung für „krst časni“ (das heilige Kreuz) und „slobodu zlatnu“ (die goldene Freiheit). Die Schlacht auf dem Amselfeld fand am Tag des Heiligen Veit, am 28. Juni nach dem gregorianischen Kalender bzw. am 15. Juni nach dem julianischen Kalender statt. Auf serbischer Seite kämpften neben Fürst Lazar sein Schwiegersohn Vuk Branković, der laut einer späteren Überlieferung des Verrats beschuldigt wurde, und der bosnische Herzog Vlatko Vuković. Auf türkischer Seite waren neben dem türkischen Sultan Murat seine Söhne Bajazit und Jakub Ćelebija. Nach dem Tod der beiden Feldherren brach nach einigen Quellen die Schlacht wahrscheinlich taktisch unentschieden ab, trotzdem stellte sie eine Niederlage Serbiens dar, da fast alle Städte Serbiens und Bosniens inzwischen von den Türken oder den Ungarn beherrscht wurden. Hier handelt es sich, wie auch in der Auseinandersetzug mit der Hermannsschlacht im vorigen Kapitel angedeutet wurde, um eine Form der Abenteuergeschichte bzw. der Märtyrerlegende, auf die die nationalen Narrative zurückzuführen sind. Über die Amselfelder Schlacht ist sehr früh ein ganzer epischer Zyklus von Liedern und Überlieferungen entstanden. Die epische Literatur Serbiens zur Schlacht auf dem Amselfeld hat zwei verschiedenen Ideen und Ideale von der Kosovo-Schlacht hervorgehoben. Die ursprüngliche Idee bzw. das Ideal hebt die geistige Seite der Selbstaufopferung hervor, die Fürst Lazar verkörperte, während später die Heldentat des Ritters Miloš Obilić (in der Sammlung „Volkslieder“ von Herder Kobilic genannt) unterstrichen wurde. Vom 14. bis zum 18. Jahrhundert waren die literarischen Überlieferungen von der Schlacht auf dem Amselfeld zum größten Teil im damaligen Westen aufbewahrt, also außerhalb der von den Osmanen besetzten Teile Serbiens und innerhalb der orthodoxen Kirche, die vor allem um die Bewahrung des Kultes um Fürst Lazar und seine Aufopferung bemüht war. Fürst Lazar wurde 223 Eric Hobsbawm: Das Gesicht des 21. Jahrhundert. Ein Gespräch mit Antonio Polito. München, Wien: Hanser 2000, S. 36-37. <?page no="86"?> II (Vor-)jugoslawische Nationalbildungen und romantische Identitätsnarrationen 86 während der Schlacht gefangen genommen und hingerichtet. Unmittelbar nach der Schlacht und dem Tod des Fürsten entstand eine Legende kirchlichen Charakters. Die Kirche hat den gefallenen Lazar bald nach der Katastrophe auf dem Amselfeld in die Reihe ihrer Heiligen aufgenommen. Die zehn „Amselfelder Schriften“, die zwischen 1390 und 1419 entstanden, sollten eben den Kult um den Fürsten zu pflegen helfen. Seine Reliquien wurden aus dem Kloster Ravanica während der großen Völkerwanderung von 1690 nach Vrdnik gebracht, wo die heiligen Gebeine blieben, bis sie 1942 nach Belgrad gebracht wurden. Am Veitstag 1988 wurden sie in einer großen Prozession durch die Gebiete Jugoslawiens getragen und kamen schließlich wieder nach Ravanica. In der Schlacht auf dem Amselfeld kämpften der türkische Sultan Murat I. mit etwa 80.000 Mann und der Fürst Lazar mit knapp 35.000 Soldaten. 224 Die Entscheidung von Fürst Lazar, an der Schlacht gegen die Türken ohne Siegeschance teilzunehmen, transportierte eine wichtige religiöse Botschaft mit deutlich biblischen Anklängen. Da Fürst Lazar, von Jesus bewegt, eigentlich über Murat siegte, siegte er ähnlich wie David über Goliath. 225 Gerade die Tatsache, dass dieser Sieg nicht materieller, sondern geistiger Natur war, trug zur transzendenten Größe dieser Heldentat bei. „Für das ehrenhafte Kreuz und die goldene Freiheit“ lautete die Botschaft. Die Wahl zwischen geistigen Werten und materiellen Gütern wird als Dilemma des Christentums im Bilde der Entscheidung zwischen dem himmlischen und dem irdischen Reich thematisiert. Wie Christus traf auch Fürst Lazar im Angesicht des Todes die Entscheidung zwischen irdischem und himmlischem Reich. Als poetisches Thema ist die heroische Transzendenz noch im „Alexanderepos“, dem populärsten Werk der serbischen Übersetzungsliteratur im 16. Jahrhundert, zu finden. Einem ehrbaren Tod muss der Vorrang gegenüber einem schändlichen Leben gegeben werden, wie in der Rede Fürst Lazars deutlich zum Ausdruck kommt: Denn besser ist für uns ein Tod in einer Heldentat, als ein Leben in Schande. 226 Lazars Entscheidung für das himmlische Reich wird in einem Lied des Kosovo-Zyklus mit dem folgenden Satz begründet: Das irdische Reich währt nur für kurze Zeit, das himmlische aber durch die Jahrhunderte. Mit ihrem Opfer haben die Serben ihre Freiheit im himmlischen Reich - im Geiste und Bewusstsein des Volkes errungen. Dieser Sieg kann von keinem Eroberer zurückgenommen werden. Lazars Sieg wird fast immer mit dem Adjektiv 224 Vgl. Michael W. Weithmann: Balkan-Chronik: 2000 Jahre zwischen Orient und Okzident. Regensburg: Pustet 1995, S. 122. 225 Der Übergang ins ewige Leben durch den Tod auf dem Schlachtfeld kann als Thema vieler vorchristlicher Heldensagen gefunden werden. 226 Propast carstva srpskog. In: Srpske junačke pesme. Beograd: Bigz 1987, S. 123. <?page no="87"?> II (Vor-)jugoslawische Nationenbildungen und romantische Identitätsnarrationen 87 „svetla“ (hell) beschrieben, da damit vor allem die geistige und nicht die historiografische Perspektive hervorgehoben wird und das Ereignis selbst eher als religiös und weniger als historisch dargestellt wird. Sich nach Amselfeder Art entscheiden, das heißt, allem entsagen, was trügerischen Gewinn und leichtfertigen Ruhm ausmacht, alles verlassen, was erreichbar ist, aus Liebe zum Unerreichbaren. Das heißt, ein Spiel annehmen, in dem derjenige verliert, der gewinnt, über das Verderben die Eroberung erreichen, auf die Karte des Unmöglichen setzten, auf die einzige, die nicht verfällt. 227 Die Enthauptung Fürst Lazars durch die türkischen Eroberer, die Trennung seines Körpers von seinem Kopf, was die Trennung des Volk bzw. der Nation von ihrem Volksgeist verkörpert, sollte durch die Befreiungsaufstände im 19. Jahrhundert letztendlich aufgehoben werden. 228 Die Identifizierung des Todes Fürst Lazars mit dem Untergang des Serbenreiches wurde zu der Grundlage des Kosovo-Zyklus. Die spätere angebliche wunderbare Vereinigung seines Kopfs mit dem Körper, die im Volksmund besungen wurde, sollte die Wiedererstehung bzw. Wiedergeburt der serbischen Nation symbolisieren. Damit geht die Versprechung Gottes symbolisch in Erfüllung, eine nationale Erneuerung und politische Vereinigung des serbischen Volkes wird erreicht. Die serbische Sänger und Maler haben die Lagebesprechung vor der Schlacht auf dem Amselfeld dem letzten Abendmahl angenähert. Lazar selbst erhielt die Züge Christus’. So mahlte Adam Stefanović den Herrscher Lazar und seine Ritter in der Anordnung des letzten Abendmahls. In beiden Fällen wird der Verrat am Tisch aufgedeckt: bei Christus mit seinen Aposteln und beim Fürsten mit dem serbischen Adel. Lazar selbst wird als Symbol der serbischen kollektiven Identität gedeutet. Die Leidensgeschichte Christis wird so mit dem Schicksal des Volkes verflochten, das ebenfalls große Leiden vor seiner „Wiederauferstehung“ erleiden musste. Neben vielen, auch in der epischen Dichtung anderer Völker, bekannten Motiven wie dem Abendessen vor dem entscheidenden Ereignis, der Bespitzelung des Feindes, des Schwesternkonflikts um das Vorzugsrecht oder dem feierlichen Gelöbnis zur Wohltat steht im Mittelpunkt des Amselfeld-Zyklus das Motiv der Heldentat von Milos Obilić und des Verrats von Vuk Branković, die beide womöglich Schwiegersöhne von Fürst Lazar waren. 229 Vuk Branković verleumdet Miloš Obilić, indem er behauptet, dieser würde den Fürsten auf dem Amselfeld verraten, obwohl er selbst diesen Verrat begehen wird. Miloš Obilić wird als großer Held und treuer Vasall dem negativen Helden Vuk Branković entgegengestellt. So kann in der Überlieferung zwischen einer mythisch-heldenhaften Schicht, die der Heldentat Miloš Obilićs, und einer christlichen, die auf 227 Vojislav Djurić: Kosovski boj u srpskoj književnosti. Beograd 1990, S. 197. 228 Vgl. Bakić Hayden: Varijacije na temu Balkan. 229 Miloš Obilićs Heldentat kann nicht mit historischen Quellen belegt werden. <?page no="88"?> II (Vor-)jugoslawische Nationalbildungen und romantische Identitätsnarrationen 88 der geistigen Aufopferung von Fürst Lazar beruht, unterschieden werden. Erstere sollte vor allem im 19. Jahrhundert virulent werden und bedeutete die Umformung der Erzählung, da der Heldentat Miloš Obilićs mehr mit den Befreiungsaufständen im Einklang stand. 1804 kam es in Serbien zum ersten großen Aufstand gegen die türkische Herrschaft, 1815 zum zweiten. Diese Aufstände führten zu zahlreichen Abkommen, wovon das letzte 1878 in Berlin Serbien die politische Unabhängigkeit von den Osmanen und die Gründung eines eigenen Staates ermöglichte. Mit den Aufständen Anfang des 19. Jahrhunderts wurde der Heldentat des Miloš Obilić, der den Sultan Murat auf dem Amselfeld ermordert haben soll, Vorrang gegeben. Miloš muss, wie der mutige Tristan oder Roland, sein Heldentum und seine Treue beweisen. Er tötet den ungläubigen Herrscher und stirbt selbst von türkischer Hand. Das Szenario des Befreiungskrieges suchte eigentlich eine neue Rollenverteilung und wurde stark durch die Gleichzeitigkeit von Ein- und Abgrenzung geprägt. Der Kampf der Serben gegen die Türken weist in seiner Rezeptionsgeschichte auf eine doppelte Funktion hin als Mahnung zur Einheit sowie als Befreiung von aufgezwungener Besatzungsherrschaft. Da Verrat, aber auch Ungehorsam und Uneinigkeit als Hauptgründe für den Untergang des serbischen mittelalterlichen Staats in der Überlieferung identifiziert wurden, nimmt die Mahnung zur Einheit einen besonderen Stellenwert ein. Die vier kyrillischen S im serbischen Kreuz stehen für die vier Worte, die in der serbischen Sprache folgenden Satz bilden: „Samo Sloga Srbina Spašava.“ - „Nur die Einheit rettet die Serben.“ Die vier S sind geradezu der Ausdruck dieser Mahnung, indem sie eine dauerhaft abrufbare Erinnerung an die Ursache für die einstige serbische Niederlage darstellen. Die Verbindung zwischen der nationalen Idee und dem Befreiungskrieg, vermittelt durch die literarische Verarbeitung der Schlacht auf dem Amselfeld, mit der organischen Auffassung des Staates, wird bei der Schaffung der jugoslawischen Nation und später des Königtums der Serben, Kroaten und Slowenen bzw. des ersten Jugoslawiens wieder eine gewisse Rolle spielen. Die Kroaten und Slowenen jener Zeit, die schon über nationales Bewusstsein, aber noch über keinen eigenen Staat verfügen, werden in gewisser Weise die Schlacht auf dem Amselfeld (vor allem in Kroatien) als eine Art des Mobilisierungsanstoßes gegen österreichische bzw. ungarische Herrscher nützen. Eine Reihe von kroatischen Dichtern (Petar Preradović, Ivan Mažuranić), Malern (Ferdo Kikerec, Die Medulić Gruppe) und der berühmte Bildhauer Ivan Meštrović werden die Thematik um das Amselfeld in ihre Arbeiten aufnehmen. So wird die Schlacht auf dem Amselfeld auch mit einer Variante des Befreiungsszenarios in seiner Doppelfunktion verbunden: im Verhältnis zum Eigenen als Mahnung zur Einheit innerhalb der eigenen Gruppe, aber diesmal auch innerhalb der Südslawen, und im Verhältnis zum Fremden als angestrebte Befreiung von aufgezwungener Fremdherrschaft. 1911 präsentierte einer der berühmtesten Bildhauer Kroatiens, Ivan Meštrović, auf der <?page no="89"?> II (Vor-)jugoslawische Nationenbildungen und romantische Identitätsnarrationen 89 Weltausstellung in Rom überraschend sein Werk nicht im österreichisch-ungarischen, sondern im serbischen Pavillon. Eine noch größere Überraschung stellten seine Werke dar, und zwar die Fragmente seines Kosovo-Tempels oder des Vidovdan-Tempels (Vid ist bei Slawen der Heilige Veit). Einer der Zeitgenossen verglich die Bedeutung dieses Tempels mit der Bedeutung der Nationalgalerie für die Engländer oder des Louvre für die Franzosen. „Es muß aber betont werden: Keine der erwähnten Kulturstätten steht in einer so engen Berührung mit der Volksseele, wie das der Tempel mit unserer jugoslawischen Seele tut.“ 230 So wurde auf der symbolischen Ebene der Befreiungskrieg zum Gründungsmythos des ersten Jugoslawien. Einheit und eine gemeinsame Identität konnte er selbstverständlich nicht lange stiften, solange er nicht durch einen anderen ersetzt wurde: durch den vom Partisanen. Schon während des zweiten Weltkrieges kontrollierten die Partisanen große Teile Jugoslawiens. 1943 wurden auf der zweiten Tagung des Antifaschistischen Rats der Nationalen Befreiung Jugoslawiens in Jajce (in Bosnien und Herzegowina) die Grundlagen der späteren Föderativen Volksrepublik Jugoslawien beschlossen. Die Partisanen befreiten Jugoslawien weitgehend ohne sowjetische Hilfe, allerdings mit großen Verlusten. 231 Dieser Befreiungskrieg übte in Form des Gründungsmythos jedenfalls eine starke identitätsstiftende Funktion aus und stellte eine Weile einen wichtigen Teil des Selbstverständnisses des zweiten jugoslawischen Staates dar. Die gesellschaftliche Konzepte der Selbstbestimmung, wie eben nationale und kulturelle Identität, werden in mehr oder minder großen Narrationen formuliert, transportiert und kultiviert. Diese Narrative können, wie in diesem Kapitel gezeigt wurde, eine integrierende Funktion sowohl im nationalen als auch im übernationalen Rahmen aufweisen. Da die Vorstellung von Homogenität noch nicht stark geprägt wurde, war die Wahrnehmung von Differenz zwischen den südslawischen Völkern bei der nationalen Identitätsfindung ebenfalls nicht stark entwickelt. 230 Stajnić, zitiert nach Wachtel: Making a Nation, Breaking a Nation, S. 70. Nach W. van Mourik sind in Jugoslawien 300.000 Soldaten und 1.300.000 Zivilisten im Zweiten Weltkrieg ums Leben gekommen. Vgl. W. van Mourik: Bilanz des Krieges, Lekturama- Rotterdam, 1978. 231 Nach W. van Mourik sind in Jugoslawien 300.000 Soldaten und 1.300.000 Zivilisten im Zweiten Weltkrieg ums Leben gekommen. Vgl. Segun W. van Mourik: Bilanz des Krieges, Rotterdam: Lekturama 1978. <?page no="91"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien III.1 Der selbstverwaltende Sozialismus in Jugoslawien und die jugoslawische Auslegung des kulturellen Pluralismus 232 Wenn es um die Frage des Umgangs mit den kulturellen Differenzen im ehemaligen sozialistischen Jugoslawien geht, kann schwerlich bestritten werden, dass die nationalen und kulturellen Identitäten im Land nicht weiter bestehen konnten. Die aktive Schaffung einer spezifisch jugoslawisch-sozialistischen Einheitskultur wurde eigentlich schon in den 1960er-Jahren praktisch aufgegeben. Das Motto, unter dem die Nationalitätenpolitik geformt wurde, lautete „national in der Form, sozialistisch im Inhalt“. Die Verbindung zwischen Ethnizität, kultureller Identität und Sprache war im sozialistischen jugoslawischen Staat in bedeutendem Umfang ausgeprägt, da wie im vorigen Kapitel erläutert wurde, diese Verbindung seit dem 19. Jahrhundert zum Selbstverständnis der konstitutiven Völkergruppen auch des zweiten jugoslawischen Staates gehört hat. Die Nation, als eine symbolisch-integrative Kategorie, die dem Staat symbolische Macht verleiht und der politischen Herrschaft symbolische Legitimität sichert, übte diese Funktion auch im Sozialismus aus. Sozialismus als Ideologie war der Sammelbegriff für jene politischen Modelle, die im Unterschied zum Kapitalismus das Kollektiv höher gewichten als das Individuum. Einem starken Staat sollte die Aufgabe zugewiesen sein, die Beziehung der Menschen untereinander auf der Grundlage einer als Ganzheit gedachten Gesellschaft zu organisieren. Louis Dumont hat auf die Notwendigkeit der Unterscheidung der beiden Bedeutungen des Wortes „Individuum“ - als empirischer Einzelmensch und als Träger von Werten - hingewiesen. In seiner Studie zum Totalitarismus kommt Dumont zu folgender Schlussfolgerung: Im Grunde genommen stellt der Totalitarismus einen dramatischen Ausdruck eines Phänomens dar, das gegenwärtig immer neu in Erscheinung tritt: daß nämlich der Individualismus einerseits allmächtig ist, andererseits fortwährend und unabwendbar von seinem Gegenteil heimgesucht wird. 233 Dumont macht aus der soziologischen Sichtweise auch auf die Unhaltbarkeit des geläufigen Gegensatzes von Individualismus und Nationalismus aufmerk- 232 Vgl. für einige schon publizierte Passagen dieses Kapitels: Emilija Mančić www.kakanien.ac.at/ beitr/ emerg/ EMancic1.pdf . 233 Dumont: Individualismus S. 27. <?page no="92"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 92 sam. Die Nation im modernen Sinne des Wortes und der Nationalismus - unterschieden vom bloßen Patriotismus - stehen historisch in Verbindung mit dem Individualismus als Wert. Die Nation ist genau der Typ des umfassenden sozialen Ganzen, der der Herrschaft des Individualismus als Wert entspricht. Sie begleitet ihn nicht nur historisch, sondern zwischen beiden besteht notwendig eine wechselseitige Abhängigkeit, so daß man sagen kann, daß die Nation ein umfassendes soziales Ganzes ist, das sich aus Menschen zusammensetzt, die sich selbst als Individuen betrachten. 234 Der Sozialismus bringt eine eigene sozialistische Nation hervor, die als ein qualitativ höherer Typ der nationalen Gemeinschaft erdacht wurde. Die Sprache, die Beziehung zum Territorium und kulturelle Besonderheiten bildeten auch bei diesem Konzept die ethnische Grundlage der Nation. Was sich indes grundlegend veränderte, waren die soziale Natur der Nation bzw. ihre ökonomischen und politischen Beziehungen, ihre Sozialstruktur, der Inhalt ihrer Kultur und der Ideologie. Die sozialistische Nation sollte ein neues Verhältnis zu den anderen Nationen hervorbringen. Im Unterschied zu den Beziehungen zwischen den kapitalistischen Nationen, die durch Feindschaft, Streben nach Unterdrückung, Übervorteilung und Ausbeutung anderer Nationen gekennzeichnet wären, sollten die Beziehungen zwischen den sozialistischen Nationen nach diesem Konzept durch die Prinzipien des proletarischen Internationalismus bestimmt werden. Die Wechselwirkung nationaler und internationaler Züge hat die sozialistische Nation und die nationalen Beziehungen im Sozialismus charakterisiert. Dieser Prozess sollte schließlich eine internationale Gemeinschaft gleichberechtigter sozialistischer Nationen ermöglichen. Die Konstituierung der sozialistischen Nation setzte die Umwandlung der bürgerlichen in eine sozialistische Nationalkultur voraus. Die sozialistische Kultur war bemüht ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und ein Bewusstsein der nationalen Identität zu schaffen, das frei von nationaler Überheblichkeit und Vorurteilen gegenüber anderen Völkern und Nationen sein sollte.“ Jugoslawiens Ausschluss aus dem Komunistischen Informationsbüro (Kominform) im Jahre 1948 brachte ein eigenes Modell des Sozialismus hervor. Die Kommunistische Partei Jugoslawiens war die einzige kommunistische Partei in Osteuropa, die ohne direkten Beistand der Sowjetunion an die Macht gekommen war. Diese neue Gesellschaftsform, die meistens mit dem Begriff „Titoismus“ 235 bezeichnet wird, versuchte nicht nur die Konzeption einer mit marktwirtschaftlichen Elementen dezentralisierten Planwirtschaft durchzuführen (bekannt als Selbstverwaltung), sondern auch ein 234 Ebd., S. 20. 235 Mehr dazu bei Marie C. Brockmann: Titoismus als besondere Form des Kommunismus. München 1994. <?page no="93"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 93 eigenes Konzept von nationalen und kulturellen Identitäten zu entwickeln. Dieses Konzept basierte nicht nur auf der Kritik des kulturellen Pluralismus des Westens, sondern auch des sogenannten etatistischen Sozialismus des Ostens. 236 Die Aufklärung, die nach sozialistischer Auffassung als geistiges Konzept des Westens galt, wurde aus sozialistischer Perspektive als eine Philosophie des Unitarismus verstanden. Die Vertreter der sozialistischen Ideologie betonten den Zusammenhang zwischen dem kulturellen, dem wirtschaftlichen und dem politischen Imperialismus im Kapitalismus und kritisierten versteckte kulturelle Hegemonie mit unitaristischen Tendenzen. Aus sozialistischer Sicht war der Kapitalismus mit einer Kultur der Unifikation gleichzusetzen. Dem etatistischen Sozialismus wurde hingegen besonders vorgeworfen, dass der Staat die Rolle der Arbeiterklasse übernommen und der bürokratische Universalismus das politische Bewusstsein der Menschen überflüssig gemacht hatte. Der kulturelle Pluralismus sowie die kulturelle Identität fanden ihre Basis in der Idee des sozialistischen Staates. Aus jugoslawischer Sicht wurde es als mangelhaft empfunden, dass im etatistischen Sozialismus sowjetischer Prägung der Staat für den Prozess der Identifikation des Individuums sorgen muss, da damit die kulturhistorische Grundlage der Identifikation durch eine staatlich-nationale ersetzt wird. Die nationalen Gruppen sind so als kulturelle Gruppen definiert, wobei aus jugoslawischer Perspektive die nationalen und kulturellen Differenzen dank einer angestrebten übernationalen und vor allem politischen Auffassung der Nation und der sozialistischen Kultur vernachlässigt werden konnten. Das Zugehörigkeitsgefühl zur eigenen nationalen Gruppe und ihrer ursprünglichen Kultur, die eine wesentliche Bestimmung der Identität ist, wird durch die Zugehörigkeit zum Staat und durch die Staatsbürgerschaft ersetzt. 237 Das führte gemäß der damaligen jugoslawischen theoretischen Auslegung zur Entfremdung von der eigenen und wahren nationalen und kulturellen Identität, die durch eine partikulare Kultur, Sprache, die nationalen und historischen Merkmale von nationalen Gruppen bestimmt ist. Es wurde auch daran erinnert, dass im Sozialismus die Abschaffung des Staates und nicht seine Stärkung vorgesehen war. Der Sozialismus sollte das verlorengegangene Prinzip der Universalität wiederherstellen, aber im etatistischen Sozialismus steht der kulturelle und nationale Pluralismus im Widerspruch zum bürokratischen Universalismus. Auf diese Art und Weise wird der Prozess politischer und kultureller Unifikation gefördert. Die Zusammenführung von Nationen, die ein Ausdruck der Arbeitsaufteilung auf einer höheren Ebene sowie eines fortgeschrittenen sozialen Bewusstseins 236 Vgl. Stevan Majstorović: U traganju za identitetom. Beograd: Prosveta 1979. 237 Ebd., S. 245. <?page no="94"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 94 von Menschen ist und sein soll, ist nicht mit der Zusammenführung von Sprache, Kultur und nationalen Eigenschaften oder gewalttätigen Favorisierung von Assimilierung der kleineren Nationen und nationalen Minderheiten gleichzusetzen. Der Weg zur Annäherung und die Zusammenführung von Nationen führen nicht über die Assimilierung oder das Zusammenschließen von Sprachen. Die gewalttätigen Mittel zu diesem Zwecke können nichts anderes als der Ausdruck des kapitalistischen Imperialismus oder des bürokratischen, despotistischen Hegemonialismus sein. 238 Die selbstverwaltende sozialistische Gesellschaft baue im Unterschied zum etatistischen Sozialismus die nationalen und kulturellen Unterschiede in die Grundlage der gegenseitigen Beziehungen und des politischen Systems ein. Der selbstverwaltende Sozialismus habe die Gleichberechtigung der Nationen und Nationalitäten zum Ziel und nicht, einen starken Staat zu schaffen. Die Grundlage der Gesellschaft solle der selbstverwaltende kulturelle Pluralismus sein, der auf dem Prinzip von Einheit in der Vielfalt basiert. Die Selbstverwaltung sei als Antithese gegenüber den staatlich eigentümlichen Beziehungen gedacht, und auf dieser Weise solle die Idee der Gemeinschaft und der Einigung betont werden. Der sogennante partizipative Föderalismus sollte eine neue Form der Föderation darstellen. Demnach sollte die Föderation keine übernationalen Zuständigkeiten ausüben, sondern die Republiken und die autonomen Provinzen seien auch für die föderativen und nicht nur für die eigenen Tätigkeiten verantwortlich. Das Prinzip der Staatlichkeit solle allmählich durch die Idee der selbstverwaltenden Gemeinschaft ersetzt werden. Dieser Weg ist nicht frei von Widersprüchen, da einerseits die Zusammenarbeit unter verschiedenen Nationen und Nationalitäten gefördert wird, andererseits die Republiken und autonomen Provinzen aber auf dem Gebiet der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen im Wettbewerb zueinander stehen. Die etatistischen Verhältnisse, die immer noch präsent waren, sollten aber mit der Zeit überwunden werden. Der selbstverwaltende Sozialismus ist der Weg zur Einheit in der Vielfalt. [...] Dieser kulturelle Pluralismus unterscheidet sich vom traditionellen folkloristischen kulturellen Pluralismus sowie von jenem, der ein Nebeneinander der unterschiedlichen Kulturen mit dem Ziel, eine alte unifiktorische Politik durchzusetzen, propagiert. 239 Man kann also feststellen, dass im selbstverwaltenden Sozialismus der sogenannte kulturelle Pluralismus dem Konzept einer pluralistischen Kultur gegenübergestellt wird. Oder wie das einige sozialistische Theoretiker formuliert haben: Während die pluralistische Kultur als Pendant die pluralistische Nation (die kanadische, US-amerikanische, sowjetische, finnische Nation) 238 Edvard Kardelj: Nacija i medjunarodni odnosi. Beograd: Bigz, S. 26. 239 Majstorović: U traganju za identitetom, S. 254. <?page no="95"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 95 hat, hat der kulturelle Pluralismus als Pendant den nationalen Pluralismus, der auf unterschiedlichen Nationen und nicht nur auf einer pluralistischen (jugoslawischen) Nation beruht. Der nationale und kulturelle Pluralismus ist demzufolge die Richtung, in der sich die Gesellschaft bewegen und entwickeln sollte. III.2 Die Großerzählung und ihre identitätsstiftende Funktion 240 Der Gründung des zweiten Jugoslawien ging also eine soziale Revolution voraus. Die sozialistische Revolution, die mit dem antifaschistischen Krieg einherging, brachte eine neue Ordnung und ein neues Herrschaftsmodell - den Sozialismus - mit sich, der das verlorengegangene Prinzip der Universalität wiederherstellen sollte. Dies hatte die Produktion einer neuen gesellschaftlichen Symbolik und die Reformulierung von kollektiven Identitäten zur Folge. Wieder einmal sollte die Universalität in einem multinationalen Staat mit Differenz vereint werden. Wie schon im ersten Kapitel erklärt wurde, sind in diesem Sinne politische und soziale Revolutionen stets auch Revolutionen der Kultur. Deswegen war die so genannte kulturelle Schöpfung eine der wesentlichen Dimensionen des antifaschistischen Kampfes. Einfach ausgedrückt ist der Volksbefreiungskampf nicht von der sozialistischen Revolution zu trennen: „[…] mit der Freiheit und dem Brot hat das Volk auch die Kultur gewonnen […]“ 241 . So kann eine erfolgreiche Revolution einen neuen Mythos produzieren und die strukturelle Gesamtheit aller Texte, Symbole, Zeichen gebildet werden, die von einer kulturellen, sozialen oder ethnischen Einheit als Identifikationsmarken anerkannt werden. 242 Die Einheit innerhalb verschiedener Nationalgruppen in der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien sollte durch die Großerzählung der „Brüderlichkeit und Einigkeit“ („Bratstvo i jedinstvo“) imaginiert werden. Die Zugehörigkeit zu einer sowohl nationalen als auch übernationalen Gruppe geht wie in den vorigen Kapiteln an Beispiel der Hermannsschlacht oder der Schlacht am Amselfeld gezeigt worden ist, fast immer mindestens mit einer Großerzählung einher, die diese Gruppe definiert und sozial integrierend wirkt. Die sogenannten kanonisierten Erzählungen sind Teil der 240 Vgl. für einige schon publizierte Passagen dieses Kapitels: Emilija Mančić: Narrative der Zusammengehörigkeit, Narrative der Differenz. Zur kulturellen Konstitution sozialer Integration und Desintegration Jugoslawiens. in: Sammelband „Kulturen der Differenz. Transformationsprozesse in Zentraleuropa nach 1989“ (Hg. Fassman, F., Müller-Funk, W., Uhl, H.), Göttingen: Vienna University Press, September 2009. 241 Skender Kulenović: Smisao kulture i glavni njeni problemi. In: Glas V/ 429, 20. 9. 1946, S. 41. 242 Vgl. Harth: Das Gedächtnis der Kulturwissenschaften. <?page no="96"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 96 symbolischen Diskurse, die wiederum im sozialen und politischen Feld eine fundamentale Rolle spielen. [...] das gemeinsame Erleben wie gemeinsames Haben von Kultur wie Geschichte ist nichts, was unmittelbar und ohne Vermittlung Bestand hat. Beides muss, so es präsent und einflussreich sein soll, narrativ vermittelt und rituell inszeniert werden; das gilt für die gemeinsame Erinnerung an den Sturz des Tyrannen oder die Vertreibung der fremden Herren ebenso wie für die Gemeinsamkeit der Kultur. 243 Gruppennarrative sind Erzählungen, die eine Gruppe definieren. Nationale Narrative können als eine Sonderform von Gruppennarrativen verstanden werden. Sie erzeugen ihre Wirkung durch die Macht der Nation. Diese Macht kommt vom Gefühl einer geteilten Identität, das die Nation womöglich erst hat entstehen lassen und je nach Gesellschaft unterschiedlich begründet sein kann. Denn die einen deuten ihre Ursprünge vorwiegend politisch, die anderen vorwiegend kulturell. 244 Zugehörigkeit wird entweder durch die Erzählung über eine gemeinsame Abstammung und Kultur vermittelt oder über ein bestimmtes Territorium und den Willen, zu einer bestimmten Nation zu gehören. So werden unsere Realität und die Art und Weise, wie die Mitglieder einer Gruppe über diese Realität denken, konstituiert. Nelson Goodman spricht in diesem Sinne von „ways of worldmaking“ 245 und meint damit die Art und Weise, wie Menschen ihre Welt verstehen und ihr einen Sinn geben. Die Denkart, die die narrative Identitätsbildung hervorruft, besitzt Deutungscharakter. Solch eine Denkart verleiht bestimmten Erfahrungen bzw. Ereignissen einen Sinn, indem sie sie in bestimmte narrative Muster setzt. Menschen erzählen, wer und was sie sind. Insofern lassen sich, wie schon im zweiten Kapitel erläutert wurde, Kulturen als Erzählgemeinschaften 246 auffassen, die über Mythen, Erinnerungen an dramatische Ereignisse, Geschichten von großen Persönlichkeiten und damit über sich selbst erzählen. Da die Narrative einen gemeinsamen Deutungsrahmen für die Erfahrungen der Gruppenmitglieder anbieten, schaffen sie neben einer Erzählauch eine Deutungsgemeinschaft, innerhalb welcher ihre Mitglieder die gemeinsamen Bedeutungen zu teilen haben. Von Anfang an gehören Erzählungen, in denen Menschen ihre gemeinsame Geschichte auslegen und so ihre Zusammengehörigkeit bestätigen, zur Literatur. 243 Münkler: Reich, Nation, Europa, S. 77. 244 Friedrick Meinecke unterscheidet zwischen einer Staats- und Kulturnation. 245 Vgl. Nelson Goodman: Ways of Worldmaking. Hassocks, Sussex: The Harvester Press 1978. 246 Vgl. Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative. <?page no="97"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 97 Schon im 7. Jahrhundert vor Christus entstanden in Europa die zwei Epen der „Odyssee“ und „Ilias“ 247 , die als erste „große Erzählungen“ der europäischen Literatur bezeichnet werden. Sie können als das Vor- und Urbild aller großen Erzählungen, auch der nationalen gesehen werden. Die „Odyssee“ erzählt als eines der ältesten Werke der abendländischen Literatur- und Kulturgeschichte die Geschichte eines Einzelnen, der sich mit Klugheit und mehr oder weniger ethischen Methoden durch eine bedrohliche Welt schlägt. Theodor Adorno sah in Odysseus den modernen Menschentyp, an dem die zwanghafte „Rationalität“ der Moderne zu entschlüsseln wäre. Der moderne Mensch, der im Zwiespalt zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung lebt, müsse wie Odysseus fähig sein, seine Identität aufzugeben, um sie zu erhalten. Das Epos „Aeneis“ 248 , das zwischen 29 und 19 vor Christus von dem römischen Dichter Vergil in zwölf Büchern verfasst wurde, hat auch die „Odyssee“ und die „Ilias“ zum Vorbild. Vergil knüpft bewusst an die homerischen Epen an, wenn er in seiner Hexameterdichtung die Irrfahrten des aus Troja geflohenen Aeneas erzählt. Zugleich wird die Geschichte von der Flucht des Aeneas in Latium zu einem römischen Nationalepos. Hinter den Erzählungen von Irrfahrt und Krieg gibt es aber auch eine Meta-Erzählung, die die niemals endende Herrschaft der Römer feiert. Tugenden wie Tapferkeit, Ernsthaftigkeit, Besonnenheit und allen voran Treue oder Loyalität gegenüber den Göttern, der Familie und dem Staat sind die Ursache des Aufstiegs und des Triumphs der Römer. Die militärischen Niederlagen oder Bürgerkriege haben dementsprechend immer den gleichen Grund: Verlust der Tugenden und Sittenverfall. Dieses Muster wird im vorrevolutionären Frankreich wieder aufgegriffen und ist auch in den europäischen nationalen Mythen zu finden. Vergil sieht im Unterscheid zu Homer Trojas Untergang als Möglichkeit zu einem Neuanfang, da aus der Katastrophe der alten Welt eine neue entsteht. So wird Troja als Ursprung und Rom als Ziel dargestellt. Das Alte findet sich im Neuen wieder, da Schicksal und Götter für Kontinuität sorgen. So entstand eine kulturelle europäische „große Erzählung“, die etwa folgendes erzählt: Unsere Kultur ist in der Antike entstanden und hatte dort ihren höchsten Punkt der Entwicklung erreicht. Wir sollen uns an dieser Kultur schulen und unsere ihr nachbilden, bis wir auf der gleichen Stufe sind, und danach über sie hinausgehen. 247 Vgl. Homerus: Homers Odysseen und Homers Iliaden (übers. und erl. von Helmut van Thiel). Berlin: Lit 2009. 248 Vgl. Publius Vergilius Maro: Aeneis: Lateinisch/ Deutsch (übers. Und hrsg. von Edith und Gerhard Binder). Stuttgart: Reclam 2008. <?page no="98"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 98 III.3 Die Großerzählung von „Brüderlichkeit und Einigkeit“ Das Narrativ der „Brüderlichkeit und Einigkeit“ ist zum Gründungsnarrativ des sozialistischen jugoslawischen Staates geworden, was sich bis etwa Ende der 60er-Jahre in verschiedenen Partisanen-Romanen und -Filmen niederschlug. Derartige Bücher und Filme beschreiben den Kampf der Partisanen so, als ob er ein Teil des kollektiven Unbewussten sei. Mit seiner Hilfe sollen Brüderlichkeit und Einigkeit bildhaft werden, und das Narrativ weist die Plotstruktur einer Romanze auf. Tito war Garant und Hüter der beherrschenden Erzählung über eine Einigkeit, die die Brüderlichkeit im Kampf gegen den Faschismus ermöglicht habe. In einer seiner Reden unmittelbar nach dem Ende des Krieges ermahnte Tito: Bewahrt die Brüderlichkeit und Einheit! Erlaubt nicht, dass sie Euch jemand zerstört! Sie hat uns viel gekostet und deshalb erlauben wir nicht, dass unsere Opfer vergebens waren. Behüten wir sie wie unseren Augapfel! Wir benötigen sie nicht nur heute, sondern auch morgen. Wir benötigen sie auch in zehn Jahren, wir brauchen sie auch in Jahrhunderten, solange es unsere Völker geben wird ... 249 Die Großerzählung von Brüderlichkeit und Einigkeit erzählte die Geschichte, die eine klare Erklärung der gemeinsamen Herkunft lieferte, aus der nationalen Eigenschaften und Werte abzuleiten waren und die eine Verpflichtung für die Zukunft setzte. Die Einheit wurde durch eine reale und inszenierte gemeinsame Erfahrung gestiftet, die gleichzeitig die Suche nach einem höheren Prinzip verkörperte. Somit widerspiegelt die Großerzählung von Brüderlichkeit und Einigkeit das romantische Streben nach der Versöhnung von Gegensätzen in einem höheren Ganzen. Ein neues symbolisches Universum sollte die Abgrenzungen nach außen ermöglichen und einen Zusammenhang im Inneren schaffen. 250 Alles, was dazu beitragen konnte, dieses Ziel zu erreichen, diente der Inszenierung einer symbolischen Sinnwelt, womit ein Zugehörigkeitsgefühl zum neuen jugoslawischen Staat und Loyalität zur neuen Herrschaft geschaffen werden sollten. Eine neue Herrschaft gründete ihre symbolische Legitimität innerhalb dieses Diskurses, gleichzeitig sollte dieses Narrativ die Einheit gegenüber äußeren und inneren Feinden stärken. Eine Erzählung, die für alle bestimmend gelten soll, schließt andere Erzählungen aus, da die nationale Selbstfindung immer auch definiert, „wer nicht dazugehört“. Der gerechte Krieg der wahren Patrioten gegen Faschismus und ihre verräterischen Hilfskräfte wurde als Gründungsmythos des neuen Jugoslawiens institutionalisiert. 249 Josip Broz Tito, Tuzla, 27.9.1946. http: / / www.titoville.com/ 250 Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1953. <?page no="99"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 99 Da es sich im Falle Jugoslawiens um eine multinationale Gemeinschaft handelte, waren die Inszenierungstechniken besonders um eine Balance zwischen den partikularen und universellen Elementen bemüht. „Brüderlichkeit und Einigkeit“ war als generelles Prinzip des Zusammenhalts und nicht als Prinzip der Volkszugehörigkeit gedacht. Somit stellt das Narrativ der „Brüderlichkeit und Einigkeit“ eine Variante von Auslegung der Idee Herders über Einheit in der Vielheit dar. Einheit und Vielheit sind bei Herder eng miteinander verknüpft und sowohl in seiner Geschichtsphilosophie als auch in seiner Anthropologie wird darauf aufgewiesen. Trotzdem sind die beiden Begriffe - Brüderlichkeit und Einigkeit -, wie Andrew Baruch Wachtel anmerkt, problematisch. Sie stellen zwei verschiedene Sachen dar, da dieser Slogan, so Wachtel, ein Oxymoron bzw. eine Contradictio in adiecto ist. Die Einheit, die realisiert worden sei, würde eine totale Übereinstimmung und Synthese bedeuten, während die Brüderlichkeit, obwohl ein Ausdruck der Nähe, auch die Unterschiede und potienziell Unstimmigkeiten im Sinne von Konkurenz voraussetzt. 251 Als Gründungsmythos rechtfertigte das Narrativ der „Brüderlichkeit und Einigkeit“ die Gegenwart, da zu ihm Geschichten vom Typ „wie wir wurden, was wir sind“, oder einfach, „wir sind wir“ gehören. Daher lohnt es sich, danach zu fragen, welche Antworten uns die Erzählung von Brüderlichkeit und Einigkeit auf die folgenden Fragen gibt: Wie kommen wir zusammen? Wer sind wir? Und was ist unsere Bestimmung? Die Antworten wären, dass „wir“ durch den antifaschistischen Kampf zusammengekommen sind und der Volksbefreiungskampf (NOB) der Ursprung „unserer“ Gemeinschaft ist. Wir sind tapfere Völker und Völkerschaften, die aber von Verrätern umgeben sind. Unsere Bestimmung ist der Sozialismus und die neue sozialistische Wirklichkeit zu realisieren. Wir sind nicht mehr ein dreinamiges Volk, sondern gleichberechtigte Völker. Der slowenische Soziologe Rastko Močnik weist in seinem Aufsatz zur symbolischen Politik der Partisanen darauf hin, dass das Einparteiensystem das antifaschistische Projekt zu Legitimationszwecken unter die breite Masse gebraucht hat. Die kulturellen Praktiken der Partisanen waren deshalb nicht nur Mittel im Kampf gegen den Faschismus: auf der einer Seite schufen sie die Bedingungen für den Kampf gegen den Faschismus (Aktivierung und Mobilisierung von Massen, Konsolidierung auf der Kampflinie) und gleichzeitig hat sich durch sie eine neue soziale Struktur entwickelt, innerhalb derer sich eine neue Rolle der Kultur etablieren konnte, neue Netzwerke der zwischenmenschlichen Beziehungen entstanden als historische Negation des Faschismus. Die Bedingungen, unter denen der Kampf überhaupt möglich war, konnte man nur durch die kulturelle Aktion, durch die Umrisse einer neuen Gesellschaft, 251 Vgl. Wachtel: Making a Nation, Breaking a Nation, S. 162. <?page no="100"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 100 schaffen, in der der Faschismus nicht mehr möglich sein würde. Die kulturelle Aktion war einerseits erst der Vorreiter des Kampfes, andererseits hatte sie die Ergebnisse dieses Kampfes aber bereits antizipiert. Genauer gesagt: Die kulturelle Aktion musste in der historischen Wirklichkeit den Anfang einer Gesellschaft sicherstellen, die erst nach dem Gewinn des Kampfes zu entwickeln möglich war. 252 Indem antifaschistische Kultur als eigentliches Kriegesziel dargestellt wurde und der Volksbefreiungskampf (NOB) als Ursprung der Kultur gedeutet wurde, entstand so eine Verbindung von Kultur und Befreiung. „Im Krieg konnte jeder von uns sehen, mit wieviel Willen und Liebe unsere Kämpfer unter den schlimmsten Bedingungen des ununterbrochenen Kampfes lernten und lasen.“ 253 Die Literatur des Volksbefreiungskrieges (NOB) stellte die Fortsetzung der Vorkriegsliteratur dar. Neben einer sozialen, linksorientierten Literatur, die schon in den 20er- und 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts entstand und deren Vertreter die jungen Schriftsteller aus verschiedenen jugoslawischen Gebieten waren, wurden in dieser Zeit auch die Volkslieder als wichtiger Bestandteil der nationalen Kultur der slawischen Völker wiederbelebt. Die typischen Partisanenlieder wurden in der Tradition der Heldenepik gestaltet, da sich die tradierten Gestaltungsmerkmale inhaltlicher und formaler Art auch für die veränderten Realitäten der Moderne als geeignet erwiesen. Diesmal wurden nicht die Ereignisse aus der osmanischen Vergangenheit, sondern aus der Gegenwart bzw. dem Zweiten Weltkrieg erzählt und die Kämpfe und Taten der Partisanen thematisiert. Gabriella Schubert hat das Partisanenlied „Most preko Neretve“ („Die Brücke über die Neretva“) analysiert und gezeigt, wie in einem traditionellen Heldenlied mit allen Merkmalen dieser epischen Gattung jedoch Kämpfe und Taten von Partisanen während des Volksbefreiungskrieges thematisiert werden. 254 In diesen Liedern wurde revolutionäre Symbolik mit mündlicher Tradition verbunden. Die Literatur und Poesie des Volksbefreiungskrieges umfasste ein breites Spektrum an Themen, die um soziale Ideale und Kriegserlebnisse kreisten. Das Zusammenscharen um die Achse des Volksbefreiungskampfes ist in den ersten Nachkriegsjahren das entscheidende Kriterium für die Teilnahme der Schrifsteller am literarischen Leben. Großteils bilden sie - Vertreter der Vor- 252 Rastko Močnik: Partizanska simbolička politika. In: Zarez Nr. 161-162/ 2005. S. 6. 253 Tito 1946, zitiert nach: Wladimir Fischer: Die vergessene Nationalisierung. Wien: Dipl., 1997. S. 39. 254 Vgl. Gabriella Schubert: Ein Opfer für den Genossen Tito und die Partei. Mythenrezeption und Mythenproduktion. In: Ulf Brunnbauer, Andreas Helmedach und Stefan Troebst (Hrsg.): Schnittstellen. Gesellschaft, Nation, Konflikt und Erinnerung in Südosteuropa, Festschrift für Holm Sundhausen zum 65. Geburtstag. München: Oldenbourg 2007. S. 471-484. <?page no="101"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 101 kriegsgeneration: „lebende Klassiker“, Surrealisten, Vertreter der Sozialliteratur gemeinsam mit Schriftstellern, die vom Krieg geprägt wurden, und literarischen Debütanten - eine temporäre Gemeinschaft im Dienste des Volkes und der neuen Gesellschaftsordnung. Eine besondere Bedeutung kommt der Aktivierung angesehener bürgerlicher Schriftsteller zu sowie der Hervorhebung einer Reihe nationaler Werte des vorigen Jahrhunderts, womit auf die Kontinuität der „Volks-“ und Befreiungstradition der heimischen Literatur hingewiesen wird. 255 Nach dem Krieg fand eine Neuerung und Verbesserung der Literatur statt, da sie erst jetzt ihren „wahren positiven Bezug zum Leben“ fand. Tito bestätigte den Literaten ihren Sonderstatus und schätzte ihren Beitrag zum gesellschaftlichen Aufbau sehr. Ich möchte auch auf noch eine Sache hinweisen, die mir vor allem in der Literatur sehr wichtig zu sein scheint: auf die Betonung der Brüderlichkeit und Einigkeit unserer Völker. Wo immer es passend scheint, sollte man dies unterstreichen, das wird nie entbehrlich sein. Das hat sehr große Bedeutung und ist absolut nötig in jeder Hinsicht. […] Man sollte sich bemühen, dass die Literatur der jeweiligen Republik allen Nationalitäten gehört, damit sich die Menschen so noch mehr gegenseitig verbrüdern und einander näherkommen können. 256 Eine jugoslawische Literatur sollte demzufolge als Resultat der Verbrüderung der Völker präsentiert werden. III.3.1 Erzählmuster von Partisanenfilmen und -romanen Jede Geschichte könnte auch anders erzählt werden, sodass die Art, wie sie eigentlich erzählt wird, aus identitätstheoretischer Perspektive von besonderem Interesse ist. Durch eine Wahl werden andere Wahlmöglichkeiten verworfen. Damit sagt die Wahl auch etwas über dieses andere Verworfene aus. 257 Die Antwort auf die Frage, wie Gruppen erinnern, gibt Auskunft darüber, wie sie auf der Basis der geteilten Vergangenheitsauslegung kollektive Identitäten imaginieren. Northrop Frye hat festgestellt, dass die nationalen, identitätsstiftenden Narrative die Plotstruktur der Romanze aufweisen. Von allen Formen der Dichtung steht die Romanze dem Wunschtraum am nächsten, und deshalb spielt sie in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft eine merkwürdig paradoxe Rolle. Zu jeder Zeit neigt die herrschende Gesellschafts- 255 Peković 1986, zitiert nach Fischer: Die vergessene Nationalisierung, S. 151. 256 Tito 1946, zitiert nach Fischer: Die vergessene Nationalisierung, S. 65. 257 Vgl. Wolfgang Kraus: Das erzählte Selbst: die narrative Konstruktion von Identität in der Spätmoderne. Herbolzheim: Centaurus 2000, S. 166. <?page no="102"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 102 klasse oder Intelligenzschicht dazu, Ihre Ideale in die eine oder andere Form der Romanze zu projizieren. 258 Die Geschichte, die eine Romanze erzählt, hat meistens den folgenden Verlauf: Der Held widersetzt sich einem viel stärkeren, aber moralisch unterlegenen Gegner und der gesamte Fokus liegt, wie Frye sagt, auf dem Konflikt zwischen dem Helden und seinem Gegner. Der Leser wird mit dem Helden über sein Wertsystem untrennbar verbunden. Am Ende steht fast immer ein Triumph als Plot. Der Plot legt fest, auf welchen Endpunkt die Erzählung ausgerichtet ist, welche Rolle Geschehnisse und Erfahrungen im Rahmen einer Erzählung spielen und welche Bedeutungen ihnen potenziell zugeschrieben werden sollten. Der Partisanenmythos ist eine Erzählung mit etwa dem folgenden Plot: Der Einsatz von Partisanen unter der Führung Titos ermöglichte den Sieg im Volksbefreiungskrieg und die Neugründung des jugoslawischen Staates. Die Partisanenarmee Titos zog Angehörige aller Völker an und betrachtete sich als Bewegung aller Nationen bzw. Völker. Eine besondere Rolle im neuen sozialistischen Jugoslawien erhielten die Schriftsteller, denen die Aufgabe zugeteilt wurde, die große historische Epoche in literarischer Form zu verewigen, aber auch an der Schaffung des neuen „sozialistischen Menschen“ aktiv mitzuarbeiten. Literatur stellte so die Fortsetzung des Volksbefreiungskampfes (NOB) dar. Die Integration funktionierte dementsprechend über den Gründungsmythos des NOB, seine Rituale und die Geschichte vom gemeinsam befreiten gemeinsamen Vaterland. Der Mythos gewann nach dem Bruch mit Stalin 1948 noch mehr an Bedeutung, da der Bruch mit der Kominform als Fortsetzung des Ursprungs, der auf die Zeit des Volksbefreiungskampfes zurückgeht, dargestellt wurde. In den berühmtesten Partisanenromanen dieser Zeit wird von einer isolierten Einheit von Partisanen erzählt, die einer Nation angehören und gegen einen deutlich mächtigeren Gegner kämpfen. Ihr Kampf ist aber mit universellen Zielen verbunden. 259 Bei den besten Partisanenromanen wird der Fokus der Erzählung von der Außenzur Innenperspektive verlegt. Demzufolge macht der Konflikt selbst in diesem Genre eine ähnliche Wandlung durch, da es nicht nur um den Konflikt zwischen Partisanen und ihren Gegnern geht, sondern auch um einen Konflikt innerhalb der Gruppe, sowie einen Konflikt auch im Inneren des Kämpfers selbst. Ein Beispiel dafür ist der Roman „Le- 258 Frye: Analyse der Literaturkritik, S. 189. 259 Als Beispiele wären zu nennen: „Daleko je sunce“ („Fern ist die Sonne“,1950) des serbischen Schriftstellers Dobrica Ćosić, „Lelejska Gora“ („Der Berg der Klagen“, 1957) und „Hajka“ („Die Hetzjagd“, 1960) des montenegrinischen Schriftstellers Mihailo Lalić, „Pisarna“ („Das Büro“, 1949) des slowenischen Schriftstellers Miško Kranjec, „Pomladni dan“ („Der Jünglingstag“, 1953) des slowenischen Schriftstellers Ciril Kosmac sowie „Prolom“ („Freunde, Feinde und Verräter“, 1952) und „Gluvi barut“ („Taubes Pulver“, 1957) des bosnischen Schriftstellers Branko Ćopić. <?page no="103"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 103 lejska Gora“ („Der Berg der Klagen“, 1957) des montenegrinischen Schriftstellers Mihailo Lalić. Der Roman erzählt zum größten Teil gerade über diesen persönlichen Konflikt bzw. über die innere Spaltung der Hauptfigur des Romans Lado Tajović, der zwischen den revolutionären Idealen und Verpflichtungen eines Partisanen und dem Gefühl der Desorientierung und Verzweiflung, zwischen den Versuchungen und dem Druck der Tradition, zerrissen scheint. Der Partisanenmythos wurde nicht nur in der Literatur, sondern auch in unzähligen Spielfilmen und sogar in Comics gepflegt und verbreitet. Die Pflege der Tradition vom NOB wurde sogar meistens in Verbindung mit diesen Medien gebracht. Der bekannteste Kinderpartisanen-Comic war „Mirko und Slavko“, der zwischen 1963 und 1976 publiziert wurde und von den Partisanen-Abenteuern zweier Jungen handelte. „Mirko und Slavko“ war eine Schwarz-Weiß-Erzählung mit folgendem Plot: Zwei unschuldigen Jungs kämpfen gemeinsam gegen die „bad guys“ (Nazis) und gewinnen am Ende jeden Kampf. Der Comic hatte zu der Zeit, als seine Popularität den Höhepunkt erreicht hatte, eine Auflagenhöhe von 200.000 Exemplaren pro Heft und wurde wöchentlich herausgegeben. Er wurde 1973 verfilmt und war Vorläufer für Filme über Kinderpartisanen, unter welchen die bekanntesten „Boško Buha“ (1978) und „Salaš u malom ritu“ („Bauernhof im Mali Rit“, 1976) waren. Gleichzeitig gab es eine Reihe von Romanen, in denen aus Perspektive eines Kindes über den Widerstandskampf erzählt wurde. Einigen Angaben zufolge wurden in Jugoslawien zwischen 1945 und 1989 etwa 200 Kriegsfilme gedreht. Einige Klassiker der Filmgeschichten waren „Bitka na Neretvi“ („Die Schlacht an der Neretva“, 1969), „Sutjeska“ (1973) und „Kozara“ (1961). 260 Diese drei Filmspektakel umfassten die drei legendären Offensiven der Partisanen im Krieg. Die bekanntesten Filmstars dieser Zeit wirkten in einigen von ihnen mit, wie z. B. Richard Burton, der in „Sutjeska“ Tito spielte, oder Orson Welles und Yul Brynner im Spielfilm „Die Schlacht an der Neretva“. Das machtvolle Vermögen des Films, eine Visualisierung der Geschichte herbeizuführen, wurde in Jugoslawien früh erkannt. Mit den Filmen und Serien wurden die wesentlichen Vorstellungen, Motive und Symbole der Vergangenheitspolitik in die Sprache der Filmästhetik übersetzt. Es handelte sich manchmal um spannende Widerstandsaktionen, manchmal stand der Sieg, manchmal das Leid im Vordergrund. Diese Filme können somit der Gattung der „historiophoty“ hinzugerechnet werden. In einem Aufsatz von 1988 prägte Hayden White der Ausdruck „historiophoty“, unter welchem „the representation of history and our thought about it in visual images and filmic discourse“ und als filmisches Pendant zur „historiography“, der „representation of history in verbal images and written dis- 260 Mehr zur Filmgeschichte Jugoslawiens in: Volk Petar: Istorija jugoslovenskog filma, Beograd: Institut za film/ Partizanska knjiga, 1986. <?page no="104"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 104 course“ 261 zu verstehen ist. In Anlehnung an Northrop Frye hat Hayden White bereits in den 70er-Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass die gewählte Form einen entscheidenden Einfluss auf die darin dargestellte Geschichte hat, da die historischen Fakten erst in der Sprache als solche konstituiert werden. 262 Die filmische Erzählweise, die die Themen wie Widerstand und Heldenmut, Kampfbereitschaft und Aufopferungsgabe als Ausdruck des revolutionären Geistes thematisierte, sollte das Vergangene in der Gegenwart wachrufen. Die assoziative Kraft der Filmbilder stellte eben eine Beziehung zu Vergangenem dar. Das tadellose Verhalten der Partisanenkämpfer war auch ein medial geprägtes Bild. Im Laufe der Zeit war aber eine neue Poetik nötig. Ein Filmkritiker hat diese Entwicklung in den 70er-Jahren so beschrieben: Filme, die von der Revolution erzählten, mussten sich der Sensibilität eines neuen Publikums anpassen. In dieser Zeit wurden schon die ersten Generationen von jungen Menschen groß, die sich an den Krieg nicht mehr erinnern konnten. […] Gleichzeitig muss man in Betracht ziehen, dass sich unser Land zu der Zeit immer mehr den kulturellen Werten des Westens öffnete. […] Es wurden Filme produziert, in denen die Technik von Western und Thriller benutzt wurde. […] Es gab auch zahlreiche Versuche, einen kommerziellen Erfolg durch eine Koproduktion mit ausländischen Partnern zu erzielen. 263 Obwohl die Partisanenfilme ein eigenes Genre wurden, waren sie in Bezug auf Motive, Werte und Normen den amerikanischen Western-Filmen ähnlich. Der Western war nämlich das amerikanische Narrativ, das die Geschichte von nationaler Identität in Amerika erzählte und prägte. Diese Funktion hatte diese Erzählung bis zum Vietnam-Krieg inne, da nach dem Verlust des Krieges eine Interperetation nach dem Muster „Das Gute siegt über das Böse“ nicht mehr möglich war. But throughout these dispersals, the same story was told over and over again. It was a story we never tired of hearing. And the same patterned template was used to tell it: the same set of plot functions, the same dialectic between good and evil, the same strong (and good) hero, the same build-up of small adventures leading to the same violent confrontation at the always triumphal end, and the same romantic genre - the quest. It was the interpretative 261 Hayden White: Historiography and Historiophoty. In: American Historical Review Vol. 93, No. 5/ 1988, S. 1193-1199, hier S. 1193. 262 Vgl. Hayden White: Methahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994. 263 Milan Ranković: Za produbljeno filmsko vidjenje revolucije. In: Stevo Ostojić (Hrsg.): Rat, revolucija ekran. Zagreb: Spektar 1977, S. 63-71, hier S. 65. <?page no="105"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 105 cognitive structure all Americans shared, and it framed the national dialogue about civic events. 264 Die Aktualisierung des revolutionären Ethos und der symbolischen Wiederstandspolitik von Partisanen formte in Jugoslawien ebenfalls bis etwa Mitte der 1960er-Jahre das symbolische Universum stark. III.4 Tito-Narrative: Tito als symbolische Integrationsfigur Das jugoslawische Motto „Wir alle sind Tito“ wies auf eine starke symbolische Identifizierung der neuen Ordnung mit der Persönlichkeit des Staatspräsidenten Josip Broz Tito hin. Die zahlreichen Romane, Gedichte, Filme und Kunstwerke dieser Zeit behandelten Titos Leben und glorifizierten seine Verdienste um die Volksbefreiung und die Einigung der im Land lebenden verschiedenen Nationen. In zahlreichen Städten und Dörfern wurden Straßen, Plätze, sogar Brücken nach Tito benannt sowie Porträts und Skulpturen von Tito geschaffen. So übte Tito die identitätstiftende Funktion im öffentlichen Raum aus, der unter dem Monopol der Partei stand. Tito, der größte Sohn aller Völker und Nationalitäten, wurde zum Symbol des sozialistischen Jugoslawien stilisiert. Er war der wegweisende Fackelträger für die friedliche Koexistenz südslawischer Völker, seine Funktion bestand darin, eine unverwechselbare, einzigartige Identität zu postulieren und narrativ zu begründen. Der Volkskörper sollte in seiner Ganzheit und Einheit in Gestalt Titos bildhaft dargestellt werden, womit die Sichtbarkeit des Staates, die schon Novalis in seiner Staatsphilosophie beschäftigt hat, ihren Ausdruck bekommen konnte. Zu diesem Zwecke brauchte der junge sozialistische Staat neue kulturelle Praktiken. Die symbolische Verknüpfung der Person Tito mit der öffentlichen Repräsentationspraxis fand ihren starken Ausdruck im Staatsfeiertag „Tag der Jugend“ („Dan mladosti“). Tito lässt den 25. Mai als seinen offiziellen Geburtstag feieren, obwohl er am 7. Mai geboren wurde. Er entkam nämlich am 25. Mai den SS-Fallschirmjägern, die ihn und den Generalstab der Partisanen im Rahmen der Operation Rösselsprung zu liquidieren versuchten. Tito soll danach gesagt haben, er fühle sich wie zum zweiten Mal geboren. So entstand ein Wiedererstehungsmythos, der durch die Verbindung mit der Jugend bzw. den Pionieren über die Generationsfolge hinweg reproduziert werden konnte. Jedes Jahr startete eine Jugendstafette mit den Geburtstagswünschen durch die Teilrepubliken, die als Symbol politischer Macht und Einheit dem Volk die Gesamtstaatlichkeit symbolisieren und das 264 Carol Fleischer Feldman: Narratives of national identity as group narratives. Patterns of interpretative cognition. In: Jens Brockmeier, Donal A. Carbaugh (Hrsg.): Narrative and identity: studies in autobiography, self and culture. Amsterdam: Benjamins 2001, S. 129-144, hier S. 137. <?page no="106"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 106 Gefühl der Teilhabe am politischen Prozess verleihen sollte. „Im Jahre 1945 liefen 12.500 Menschen die Stafette und legten dabei 9.000 Kilometer zurück, 1955 sind es 1.400.000, die eine Strecke von 96.000 Kilometer bewältigten.“ 265 Die Feierlichkeiten wurden von einem Vorbereitungskomitee jährlich organisiert und begannen mit dem Wettbewerb um die Teilnahme an der Stafette, zogen sich weiter über die Zentralfeier „Slet“ im Belgrader Stadion der Jugoslawischen Volksarmee und endeten mit der Beschenkung in Titos Residenz. „Slet“ war eine Masseninszenierung, die durch Gruppenbilder und -bewegungen, chorisches Singen sowie kollektive Gestik ein Gemeinschaftserlebnis aller Beteiligten hervorrufen und festigen sollte. „Slet“ wurde im ganzen Land übers Fernsehen live übertragen. In der TV-Ankündigung der Feierlichkeiten in der Tageszeitung „Politika“ am 25. Mai 1979, ein Jahr vor Titos Tod, wurde die Manifestation unter dem Titel „Die Generation der Selbstverwalter“ so beschrieben: Im Programm nehmen 10.000 Jugendliche und Armeekadetten teil. Die Veranstaltung umfasst die folgenden thematischen Einheiten: Gruß an Tito, an die Jugend, an die Partei, Freiheit und Frieden („Pozdrav Titu, mladosti, Partiji, slobodi, miru“) - am Anfang wird das Lied „Genosse Tito, wir schwören Dir“ („Druže Tito mi ti se kunemo“) erklingen, das der Chor, bestehend aus Jugendlichen und Armeekadetten, singt; 1 .Das Lied der Jugend („Pesma mladosti“) - dieser Teil des Programms ist dem 60-jährigen Jubiläum der KPJ (Kommunistische Partei Jugoslawiens), SKOJ (Verband sozialistischer Jugend Jugoslawiens) und den revolutionären Gewerkschaften sowie der Teilnahme der Jugend in allen Epochen unseres revolutionären Kampfes gewidmet; 2. „Uns darf nichts überraschen“ („Ništa nas ne sme iznenaditi“) - das Thema dieses Bildes ist die Einheit, Stärke und Einsatzbereitschaft der Armee, das Jubiläum der Partei und des SKOJ sowie die Erinnerung an die Haupttage im NOB (Volksbefreiungskampf) und die heroische Verteidigung von Drvar 1943, Einheit und Brüderlichkeit aller unserer Völker und Völkerschaften in der Verwirklichung des Konzeptes allumfassender Volksverteidigung; 3. „Titos Jugend“ („Titova omladina“) - Repräsentation sämtlicher Aktivitäten der modernen jugoslawischen Jugendlichen durch Übungen der jungen Mädchen (omladinka), Mitglieder der Sportvereine, Mitglieder vom Bund der sozialistischen Jugend Jugoslawiens (SSOJ); 4. Für alle Kinder dieser Welt („Za svu decu sveta“) - Teil des Programms, der dem internationalen Jahr des Kindes gewidmet ist, erfüllt durch heitere Kindertänze. 5. „Ihr könnt auf uns rechnen“ („Računajte na nas“) - dieses Bild wird die starken Wurzeln unserer Einheit und Brüderlichkeit, unserer jugendlichen Stärke und Bestimmung unserer Jugend symbolisieren; 6. „Wir gehören zu Tito, Tito gehört zu uns“ 265 Leposavić 2004, zitiert nach: Tatjana Petzter: Tito Symbol und Kult: Identitätsstiftende Zeichensetzung in Jugoslavien. In: Angela Richter und Barbara Beyer (Hrsg.): Geschichte (ge-)brauchen. Literatur und Geschichtskultur im Staatssozialismus Jugoslawiens und Bulgariens. Berlin: Frank & Time 2006, S. 118. <?page no="107"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 107 („Mi smo Titovi, Tito je naš“) - die feierliche Übergabe der Jugendstafette, die Manifestation der Liebe gegenüber Tito und die spontane jugendliche Feier mit dem Feuerwerk. 266 Im Jahre 1983, drei Jahre nach Titos Tod, wurde eine neun Meter hohe Tito- Statue aus Aluminium aufgebaut, mit bläulichem Licht angestrahlt und in künstliche Nebelschwaden gehüllt. Ein Marinesoldat schritt zum Finale durch ein Spalier von Fahnen zur Ehrenloge und überreichte dem damaligen Präsidenten des jugoslawischen Jugendverbandes den durch ganz Jugoslawien getragenen Stafettenstab. Das war aber der Anfang vom Ende dieser Feierlichkeiten, da selbst die Parlamentsabgeordnete Stana Tomašević Arnešen, die Präsidentin eines Staatskomitees für die Verewigung und den Schutz des Namens Tito, der religiöse und mystizistische Personenkult störte: Als ob der Heilige Geist über dem Stadion schwebte, kommentierte sie. 267 Der Streit um Titos Feier kulminierte im Streit um das Plakat der Künstlergruppe „Neue Slowenischen Kunst“ (NSK), das 1987 den Plakatwettbewerb zum Tag der Jugend gewann. Es stellte sich heraus, dass die NSK ein nazistisches Richard- Klein-Plakat von 1936 als Vorlage gewählt hatte. Statt Hakenkreuz stand Stern, Taube statt Reichsadler, der Mann auf dem Plakat trug in der einen Hand nun für Titos Geburtstag die jugoslawische Fahne, in der anderen statt der Fackel eine Stafette in Form des slowenischen Parlaments. Die Feier zum Tag der Jugend erlischt mit der letzten Stafette von 1987 als entscheidender Identifikationsrahmen für eine kulturelle Praxis, die von Brüderlichkeit und Einigkeit erzählte. III.4.1 Tito als Personifikation des gemeinsamen Staates Josip Broz Tito personifizierte und symbolisierte Staat und System selbst. Maja Brkljača anlaysierte Titos Rolle mithilfe Ernst Kantorowicz’ Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, die er in „The King’s two bodies“ (dt. „Die zwei Körper des Königs“) 268 formulierte. Kantorowicz entwarf eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, die zwischen der öffentlichen Funktion und der Person, die sie ausübt, unterscheidet. So hatte der König im Mittelalter einen natürlichen, sterblichen Körper und einen übernatürlichen, unsterblichen Körper. Diese zwei Körper waren vereinigt, da nach diesem organizistischen Konzept galt: „[T]he king was the head and the subjects were the members: together they formed the Body Politic of the realm“ 269 , oder wie 266 Politika, 25.5.1979. 267 Der Spiegel, 22.5.1984, S. 101-102a. 268 Ernst Kantorowicz: The king’s two bodies: a study in mediaeval political theology. Princeton: Princeton Univ. Press 1957. 269 Maja Brkljača: Tito’s Bodies in Word and Image. In: Folks Art - Croatian Journal of Ethnology and Folklore Research, issue 1/ 2003, S. 99-128, hier S. 102. . http: / / www.ceeol.com. <?page no="108"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 108 Kantoriwicz selbst schreibt: „The Prince is in the respublica, and the respublica is in the prince.“ 270 Wie schon im ersten Kapitel zum Thema Staat und Wesen der Gemeinschaft in der Romantik ausführlicher beschrieben wurde, setzte sich Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts der Organizismus als eine Art Antwort auf alle jenen Fragen durch, die mit der Französischen Revolution 1789 eröffnet wurden. In erster Linie waren diese Fragen auf die universalistischen und individualistischen Konzepte bezogen, die seither eine führende Rolle bei der Gestaltung eines neuen Europas spielten. Nach dieser Auffassung ist die menschliche Gesellschaft nicht das Resultat rationaler Organisation, die die Individuen im Rahmen einer immer anwesenden, durch die Institutionen verkörperten „gesellschaftlichen Antwort“ schaffen, sondern sie gleicht einem biologischen Organismus. Dem Individuum wird die Rolle einer Zelle dieses Organismus zugeschrieben, sodass der Organismus praktisch in einem sozialen Raum entfaltet wird. Das traditionale Konzept der Sinnfälligkeit der Einheit des Gemeinwesens ist stark an Sinnlichkeit gebunden, an die Vorstellung von Natur, Organizität und Leiblichkeit des body politic, konkret an die Vorstellung des Körpers der Monarchen. 271 Da im jugoslawischen Fall die Ausgangsidee, eine gemeinsame jugoslawische Nation zu konstruieren, nach 1963 aufgegeben wurde, blieb Tito als symbolische Hauptintegrationsfigur, die die Identität und Einheit des Gemeinwesens versichern sollte. Titos Gesicht und Körper waren die Verkörperung der staatlichen Macht - der Staat war Tito, oder wie Maja Brkljača in ihrem Aufsatz schreibt: If we bring Kantorowicz and Marin together, we see that representation of king’s body in word and image thus serves the purpose of creating the collective identity of the members of realm by projecting the image of the king onto the bodies of the citizens. The image of the king comes to signify the presence of the state: L’état, c’est moi. 272 Da Tito mit dem Staat identisch war, war die Abbildung seines Körpers überall dort, wo auch die universale Macht des Staates zu finden war. „If he is present where the state is, the state is present where his body is.“ 273 Nach Titos Tod entstand „ein leerer Ort der Macht“, aber auch das Bedürfnis nach der Fortsetzung der Erzählung, die die sinn- und identitäts- 270 Kantorowicz: The king’s two bodies, S. 438-439. 271 Cornelia Klinger: Corpus Christi, Lenins Leiche und der Geist des Novalis oder die Sichtbarkeit des Staates. In: Wolfgang Müller-Funk, Franz Schuh (Hrsg.): Nationalismus und Romantik. Wien: Turia+Kant 1999, S. 142. 272 Brkljača: Tito’s Bodies, S. 107. 273 Ebd., S. 109. <?page no="109"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 109 stiftende Funktion innerhalb der Gesellschaft weiterhin ausüben konnte. Ein neuer Körper, den das Konzept der Sinnfälligkeit der Einheit des Gemeinwesens benötigt, fehlte. Dies kam besonders deutlich zum Audruck in Filmen wie „Tito zum zweiten Mal unter den Serben“ des serbischen Regisseurs Želimir Žilnik („Tito po drugi put medju Srbima“, 1994), „Der Geist von Marschall Tito“ des kroatischen Regisseurs Vinko Brešan („Maršal“, 1999) oder „Die Straße der Brüderlichkeit und Einigkeit“ der Slowenin Maja Weiss („Cesta bratstva i jedinstva“, 1998). In allen diesen Filmen werden der Verlust der Leitfigur und die Rolle Titos als Symbol der Brüderlichkeit und Einigkeit hinterfragt. Es schien aber, dass das Tito-Narrativ nur innerhalb eines begrenzten Zeitraums eine identitätstiftende Rolle spielen konnte. III.5 Gegennarrative und ihre Relation zu Master Narrative: Exklusion als Bestandteil des Gründungsszenarios einer Gemeinschaft 274 Das Zusammengehörigkeitsgefühl in Jugoslawien wurde über die erwähnten übergeordneten Erzählungen kommuniziert; somit wurde die sozialistische Gemeinschaft unmittelbar nach dem Krieg konstituiert und legitimiert. Aus der Fülle von möglichen Vergangenheitsreferenzen wie Persönlichkeiten, Ereignissen, Orten usw. wurden, wie gezeigt worden ist, jene Elemente ausgewählt, die für die damalige Gegenwart relevant erschienen. Der Einschluss in die kollektive Identität wird aber durch Ausschluss geregelt. Indem wir uns selbst bezeichnen, beobachten wir die Welt, durch das Setzen der Unterscheidungen bestimmen wir die Zuständigkeiten. Auf diese Art entsteht ein relativ geschlossenes Weltbild, das automatisch alles, das nicht in das Eigene eingeschlossen wird, als Anderes ausschließt. 275 Die neue Ordnung hat nämlich auch die neuen Ausschlusskriterien etabliert. Inklusion und Exklusion stehen in einem natürlichen Antagonismus, in dem die eine Seite nicht ohne die andere existieren kann. Inklusion wird meistens als der Eintritt, die Teilnahme oder die Mitgliedschaft von Personen in Gesellschaften bezeichnet. Exklusion ist demnach das natürliche Gegenteil, also die Nicht-Mitgliedschaft, oder die Nicht-Teilnahme. Eine vorgestellte 274 Einige Teile dieses Kapitels wurden verkürzt in: Emilija Mančić: Narrative der Zusammengehörigkeit, Narrative der Differenz. Zur kulturellen Konstitution sozialer Integration und Desintegration Jugoslawiens. In: Sammelband „Kulturen der Differenz. Transformationsprozesse in Zentraleuropa nach 1989“ (Hg. Fassman, F., Müller-Funk, W., Uhl, H.), Göttingen: Vienna University Press, September 2009 publiziert. 275 Vgl. Alois Hahn: Die soziale Konstruktion des Fremden. In: Walter M. Sprondel (Hrsg.): Die Objektivität der Ordnung und ihre kommunikative Konstruktion. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 140-163. <?page no="110"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 110 gesellschaftliche Einheit impliziert, dass eine solche Einheit auch tatsächlich existiert. Denn wie Armin Nassehi es auf den Punkt bringt: Der Gedanke einer trotz Differenzierung integrierten Gesellschaft hält letztlich an der regulativen Idee einer normativ kulturellen Einheit der Gesellschaft fest, die exakt das nicht sehen will, was differenzierten Einheiten eigen ist: Einheit lässt sich aus jeweiligen Positionen nur in Differenz zu anderen Positionen setzen. Sie ist dann zugleich Einheit und Differenz. 276 Nationen und Ethnizitäten sind zwar in der Lage, eine Einheit für Individuen zu erzeugen, aber sie nehmen mittels ihrer Ein- und Ausschlussemantiken Grenzziehungsprozesse vor, die nicht nur zur wahrgenommenen Generalinklusion für Individuen und somit auch zur modernen Gesellschaftsstruktur, sondern auch zur Produktion von sozialen Ungleichheiten führen. Das eigene Kollektiv wird noch stärker als Einheit wahrgenommen, wenn das andere Kollektiv für die geminderten Inklusionschancen des eigenen Kollektivs schuldig gemacht wird. So kann das andere Kollektiv auch abgewertet werden, vielleicht sogar zum Feind deklariert wird. 277 Die literarischen Narrative sind auch Schauplätze für symbolische Kämpfe, in denen Kollektive sich über Ein- und Ausschlusskriterien einigen und somit Zugehörigkeit und Feindschaft organisieren. Diese Ausschlussmechanismen sind Bestandteil jeder Gründung sozialer Ordnung, wobei die Mechanismen der Exklusion und Inklusion keineswegs einfache Operationen darstellen. In literarischen Texten lassen sich nicht nur komplexe Ein- und Ausschlussmechanismen beobachten und reflektieren, sondern auch die sogenannten „Zonen der Ambivalenz“, in denen diese Prozesse nicht nur als einfache Unterscheidung dargestellt werden. In denen kommt auch die individuelle, persönliche Perspektive mehr zum Ausdruck. Der übergeordneten hegemonialen Erzählung stehen jedoch die verschiedenen verworfenen Versionen gegenüber. So entstehen die sogenannten Gegennarrative, die das Nichtvergessen von gruppenspezifischen Geschichten einfordern und das Ausgeschlossene thematisieren. Auf diese Art und Weise werden nicht nur gesellschaftlich etablierte Deutungsmuster hinterfragt, sondern auch die gesellschaftlichen Ungleichheiten und Differenzen dissimuliert. Durch den Entwurf fiktionaler Gedächtniswelten kann Literatur die Konstitution, Reflexion und Modifikation von kollektiven und individuellen Erinnerungen sowie Identitäten in beachtlichem Maße beeinflussen. Der Partisanenroman „Daleko je sunce“ („Die Sonne ist fern“, 1950) des serbischen Schriftstellers Dobrica Ćosić unterscheidet sich in der Art und 276 Armin Nassehi: Differenzierungsfolgen: Beiträge zur Soziologie der Moderne. Opladen: Westdt. Verlag 1999, S. 111. 277 Vgl. Armin Nassehi, Dirk Richter: Die Form der Nation und der Einschluß durch Ausschluß. Überlegungen zur Fremdenfeindlichkeit in Deutschland. In: Sociologica Internationalis 34/ 1996, S. 151-176, hier S. 160. <?page no="111"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 111 Weise der Darstellung der Thematik davon, wie die Thematik üblicherweise in diesem Genre erzählt wird. Die Plotsruktur der Romanze mit einem Triumph am Ende wird hier kritisch hinterfragt. Die Hauptfigur des Romans verkörpert weniger einen Helden der Romanze, der uns überlegen ist, als mehr einen Helden der Tragödie, der vor eine Entscheidung gestellt wird, aus der er nicht unschuldig hervorgehen kann. Dobrica Ćosić wurde wegen nationalistischer Tendenzen später aus der Partei ausgeschlossen und war, zwischen 1992 und 1993, Präsident Restjugoslawiens, nachdem er sich von Slobodan Milošević getrennt hatte. Sein Roman handelt von einer Gruppe serbischer Partisanen, die von allen Seiten eingekreist wird, sowohl von deutschen Soldaten als auch von Serben, die entweder zu General Nedić oder den Tschetniks von Draža Mihajlović gehören. Der Roman erzählt nicht nur vom Kampf, sondern vom Streit innerhalb der Gruppe selbst, da es verschiedene Meinungen dazu gibt, ob die Einheit der eigenen Region, in der die Gruppe lebt, weiterverteidigt werden soll oder ob sie die feindliche Frontlinie durchbrechen und sich den anderen Partisanen in einer anderen Region anschließen soll. Im Mittelpunkt der Erzählung steht der Konflikt zwischen Gvozden, dem tapferen Kämpfer aus dieser Region, und Pavle, dem politischen Kommissar, der von der Zentrale in diese Einheit rekrutiert wurde. Gvozden setzt sich für das Bleiben ein, während Pavle aus der Region fort möchte. In Anbetracht vieler Opfer wird Gvozden in seiner Überzeugung gefestigt, dass nur eine vorübergehende Auflösung der Einheit das weitere Leid vermeiden kann. Pavle widersetzt sich dieser Ansicht, da damit eine Demoralisierung entstehen und schließlich sogar der Wiederstandskampf selbst erlöschen würde. Mit der Inszenierung des Streits wird der Grundkonflikt des Romans etabliert. Die Kluft zwischen der partikularen und universellen Deutung des Krieges wird so tief, dass der Streit um die partikularen und universellen Interessen bei Ćosić tragisch endet. Die Einheit der Gruppe bleibt erhalten, aber Gvozden musste dafür erschossen werden. So wird Gvozden zur Personifikation einer zum Vorschein gekommenen Krise der Einheit selbst, gleichzeitig auch einer Krise zwischen den Prinzipien der Universalität und Partikularität. Ćosićs Roman thematisiert 1950 Exklusion als einen Bestandteil des Gründungsszenarios einer Gemeinschaft. Der Text macht deutlich, dass nicht alle gleichberechtigt an der Konstruktion einer jugoslawischen Gemeinschaft beteiligt waren und sind. Die tragischen gewaltsamen Auseinandersetzungen unter Angehörigen verschiedener nationaler Gruppen während des Zweiten Weltkriegs verursachten auch eine innere Spaltung innerhalb der jeweiligen Nation selbst. Den Krieg führten nicht nur die Partisanen verschiedener Nationalitäten gegen die deutschen Besatzer, sondern auch verschiedene nationalen Gruppen gegeneinander und untereinander. Das kommt besonders in einem inneren Monolg Pavles zum Ausdruck, den er nach Gvozdens Exekution führt: <?page no="112"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 112 ... Sie haben gedacht, dass wir nur den Kampf gegen den Feind haben werden? Nein, das hat bewiesen, dass uns auch solche Menschen wie Gvozden schaden. Warum? Unser Kampf ist nicht nur den Krieg führen, sondern auch die Revolution. Sie hat ihre Moral, und das ist der Kampf bis zum Ende und ohne Rücksicht auf sich selbst. Was sonst könnte eine Revolution erfolglos machen, wenn nicht die Unentschlossenheit, den Krieg zu Ende zu führen ... Opfer? ! Das verzögert eben die Revolution in vielen Ländern. Wann wird die Wende in der Gesellschaft und in der Geschichte vollzogen werden, wenn man an den Preis des Kampfes denkt? Diese Angst vor Opfern lässt das Elend so lange währen. Lass jetzt den Hamlet aus dem Spiel! Warum aus dem Spiel lassen? Ich habe meinen Freund erschossen, ich, was für ein Kriegsgericht! ... 278 Das ständige Oszillieren zwischen den beiden entgegengesetzten Positionen unterstreicht die Fragmentarität vergangener Kriegsrealität. Die konfliktorientierte Plotstruktur und die zwei verschiedenen Perspektiven kommen auch in einem Gespräch, das Pavle mit dem jungen Kämpfer Mališa führt. Mališa vertritt die gleiche Meinung wie Gvozden und begründet seine Position mit den folgenden Worten: Um ehrlich zu sein, ich bin fürs Hierbleiben. Nirgendwo ist besser als auf Jastrepac. Warum sollten wir für die Anderen kämpfen, jeder soll sich selbst befreien. Wir können nicht alleine alle befreien. Wir haben uns der Einheit angeschlossen, und sie sitzen zu Hause, und wir sollen jetzt für sie sterben. Es ist nicht richtig so, Genosse Pavle. 279 In seiner Antwort offenbart Pavle Handlungsmotive, die seine nachfolgende Verhaltensweise rechtfertigen soll: Es ist nicht gut, so zu reden, Mašo. Die Partisanen dürfen nicht so denken. Nur die Tschetniks denken an sich und an die eigenen Häuser. Gerade deswegen kämpfen sie nicht für die Freiheit, wir aber sind Kommunisten, und wir kämpfen für das ganze Volk. 280 Durch den häufigen Wechsel von Erzählbzw. Fokalisierungsinstanzen werden unterschiedliche Erzählweisen und Diskurse präsentiert. Mit dem breiten Spektrum von Referenzen zum Leben in serbischen Dörfern während des Kriegs und die Spaltung der Bauern in Partisanen und Tschetniks generiert der Roman für diese Zeit untypische alternative Formate für die Kodierung der Kollektivvergangenheit. Mittels der detaillierten Beschreibung der Vergeltungsaktionen der Besatzer sowie der Tschetniks, denen die Bauern gnadenlos zum Opfer fielen, zieht sich die Leitfrage - wie hoch ist der Preis für die Freiheit? - durch die gesamte Handlung des Romans hindurch. Der alte 278 Ebd., S. 190. 279 Ebd., S. 82. 280 Ebd., S. 82. <?page no="113"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 113 Bauer Jefta beschreibt nach einer Vergeltungsaktion, bei der mehrere Bauern vor seinen Augen getötet wurden, dieses Dilemma mit folgenden Worten: Ach, ach, Freiheit, du Blutsauger! ... Müssen wir alle wegen dir ums Leben kommen ... und muss der letzte Keim des Lebens blutig gemacht werden ... Obst und Weinberge, alles wird durch Blut austrocknen ... Partisanen, meine Kinder, was haben sie aus diesem Volk gemacht? Für wen kämpfen wir? Sehr, sehr teuer ist unser Kampf! Ich will nicht ... ich kann nicht mehr ... Ich geh zum Teufel! Ich kann nicht mehr ... 281 Der Roman zeigt, wie schwer es dem Erzähler fällt, die Heterogenität der Erfahrungsrealität zu einem einheitlichen Narrativ zu synthetisieren. Gleichzeitig wird auf die Grenzen des Glaubens an die universelle Kraft der sozialistischen Idee und der Wirkung des Narrativs von einer im Kampf gewonnenen Einheit verwiesen. Die Tatsache, dass Gvozden die Bauern repräsentiert und ihre Teilnahme im Krieg im Roman thematisiert wird, ermöglicht konkret zu spezifizieren, wer in welcher Hinsicht und unter welchen Bedingungen inkludiert bzw. exkludiert wird in die neue Ordnung. III.5.1 Zur Ambivalenz der Zugehörigkeit Wie schon angedeutet, lassen sich in den literarischen Texten nicht nur komplexe Ein- und Ausschlussmechanismen beobachten und reflektieren, sondern auch die sogenannten „Zonen der Ambivalenz“, in denen diese Prozesse nicht nur als einfache Unterscheidung dargestellt werden. In einer Welt voller eindimensionaler Botschaften und eindeutiger Signale stellen die Zonen der Ambivalenz eine Möglichkeit dar, sich der Wirklichkeit dialogisch wieder anzunähern. So stellt die Ambivalenz laut Zygmunt Bauman die Unfähigkeit, die Zuflucht bei der Eindeutigkeit zu suchen, dar. 282 Ein Beispiel, das eine ambivalente Relation zur Großerzählung der Brüderlichkeit und Einigkeit herstellt, ist der Roman „Menuet za kitaro“ („Das Menuett für die Gitarre“, 1975) des slowenischen Schriftstellers Vitomil Zupan. Zupan war während des Zweiten Weltkriegs selbst Angehöriger der slowenischen Partisanen, wurde aber 1948 verschiedener staatsfeindlicher Aktivitäten beschuldigt und zu 18 Jahren Haft verurteilt. 283 Sein Roman weist die Plotstruktur der Satire auf, die nach Fryes Modell die der Romanze gegenübersteht. Jedoch sind die Gegensätze sowohl in der Romanze als auch in der Satire unauflösbar. Der Anti-Held der Satire ist schwächer als wir, 281 Ebd., S. 119. 282 Vgl. Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz: das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg: Junius 1992. 283 Vitomil Zupan veröffentlichte 1982 den Roman „Levitan“, der in der Zeit spielt, die er im kommunistischen Gefängnis verbracht hatte. <?page no="114"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 114 unser Blick wird in der Satire auf eine Welt der Misserfolge und des Absurden gerichtet. Der Roman handelt von einer deutschen Offensive im Jahre 1943, behandelt aber im kleinen Rahmen auch die Begegnung zwischen zwei Touristen im Spanien des Jahres 1973, zwischen dem Protagonisten des Romans Jakob Bergant und dem ehemaligen Wehrmachtsoldaten Joseph Bitter. Der Erzähler nimmt eine Doppelperspektive gegenüber den berichteten Ereignissen ein, die Erzählebene wechselt von der eines direkt Involvierten in der Zeit von 1943 zu der eines distanzierten Betrachters im Jahre 1973. Der Wechsel zwischen unterschiedlichen Zeitebenen evoziert den Eindruck einer kontinuierlichen, fortwirkenden Vergangenheit. Der konkrete Krieg zwischen 1941 und 1945 wird so in einer nicht enden wollenden tragischen Kette der Menschengeschichte, die voller Morde und Kriege ist, angesiedelt. Der Krieg hat doch schon immer existiert, und unsere Großväter, Urgroßväter, Väter, sie alle starben in Kriegen. Immer nur Kriege. Homer berichtet von Kriegen, indische Epen, chinesische Gedichte und Legenden, die ältesten Quellen aller Kulturen berichten von Kriegen, Aufständen, Konflikten, Kämpfen. 284 Die Orientierungslosigkeit des Helden in Bezug auf die Zeit akzentuiert die Parallelen zwischen den verschiedenen zeitlichen Ebenen und macht die Beständigkeit des Krieges und kriegerischer Zerstörungen beobachtbar. Der Anti-Held Jakob Bergant schwebt zwischen zwei Welten in einer diffusen Zone der Ambivalenz. Und wo gehört jener hin, der gegen die Besatzer und gegen die Quislinge ist, aber kein Christ ist, keine besonderen Sympathien für die Engländer sowie die Amerikaner, weder für die Russen noch für das alte Jugoslawien, nicht für den König, noch weniger aber für die Einparteiführung hat. 285 Die Ambivalenz dient dazu, Erfahrungen zeitweiligen oder dauernden Oszillierens zwischen polaren Gegensätzen zu vermitteln. Da die Ambivalenz das Nebeneinander von gegensätzlichen Gefühlen, Gedanken und Wünschen darstellt, versucht Jakob Bergant eine distanzierte und allumfassende Beobachtungsposition einzunehmen. Könnte man noch eine Position für die Betrachtung von allem, was sich ereignet, bewahren? Sagen wir, eine Position für die Beobachtung vom Mond aus? Dort unten ist die Erde, auf ihr kriecht alles, Tiere und Menschen. Oder, die Beobachtungsposition von einem Wolkenkratzer auf Manhattan? Von der 284 Vitomil Zupan: Menuet za gitaru. Zagreb: Globus 1985, S. 21. (Dt. Übers. E. M.) 285 Ebd., S. 120. <?page no="115"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 115 Spitze des Moskauer Turmes? Von den Gipfel des Himalaya? Von wo alles fern, klein, unaufällig ist. 286 Da das Zusammenspiel von zwei Komponenten, von Subjektivität und institutionalisierter Sozialität, grundlegend für die Konstitution menschlicher Identität bzw. des Selbst ist, enthält dieses Zusammenspiel eine Disposition für Ambivalenzerfahrungen, da sich der Mensch weder ausschließlich als Subjekt noch ausschließlich als Sozietät erfahren kann. Der Anti-Held Jakob Bergant versucht vergeblich, die Gewichtung zwischen diesen Komponenten für sich selbst zu finden. Du hängst andauernd zwischen Extremen, verurteilt dazu, ununterbrochen hin und her zu fliegen, zwischen allem Existierenden und zwischen den Geheimnissen des eigenenen Ichs; das ganze Leben lang strebst du danach, dich in einem Augenblick aufzuhalten und etwas zu begreifen - vergeblich, vergeblich. Ich habe Bauchweh. Vergeblich. Vergeblich. Ich mache die Augen auf. 287 Der Umstand, dass diese Gegensätze bestehen und Jakob Bergant in seinem Fühlen, Denken und Wollen zwischen diesen hin und her pendelt, wird durch die wechselnden Erzählperspektiven besonders deutlich. In seinen Gesprächen mit dem ehemaligen Wehrmachtsoldaten Joseph Bitter in Spanien diskutiert Jakob Bergant den Krieg. Zu Anfang weigert sich Bergant, seinem Gesprächspartner Auskunft über seine echte Herkunft zu geben, und vermeidet damit auch, die klare Position eines ehemaligen Gegners im Gespräch einzunehmen. Bergant kann sich nicht in einem Denksystem der binären Opposition wir/ sie (mi/ oni) wiederfinden, sondern oszilliert dazwischen. Ihm ist aber klar, dass das Denken in den Gegensatzpaaren dem universalen Denksystem gehört, und deswegen lässt Zupan seinen Helden zwischen dem Eigenem, dem Fremden und dem Universalen lavieren. Jetzt ist der Krieg auf Leben und Tod zwischen den unterschiedlichen Arten von Menschen. Und ich gehöre einer Armee an. Auf unserer Seite ist die Gerechtigkeit - auf der anderen Seite ist das Unrecht. 288 Der ständige Perspektivenwechsel ermöglicht dem Helden nicht nur, sich auf die Funktion des Partisanen zu reduzieren, sondern sich auch in die Position des Gegners hineinzuversetzen sowie die eigene Lage aus einer breiteren, kosmischen Perspektive zu betrachten. Die ganze Zeit verliert Bergant nicht das Bewusstsein darüber, dass eine solche Position im Krieg problematisch ist. So entwirft Zupan eine untypische Figur des Kämpfers. 286 Ebd., S. 123. 287 Ebd., S. 123-124. 288 Ebd., S. 18. <?page no="116"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 116 Ich habe mich für den Wiederstand entschieden, ich habe versucht, tätig zu sein, ich habe mich der Disziplin unterworfen, ich bin einer von uns geworden, ich bin in den Wald gekommen, ich bin da, verbunden auf Leben und Tod mit dem Partisanentum. Und warum darf ich nicht, so wie ich bin, bleiben? Es ist wohl möglich, dass in mir ein bisschen Liberalismus ruht, vielleicht sogar der Anarchismus, aber schädlich werde ich nie sein; bis zum letzten Tag des Krieges mache ich alles richtig. Ich werde aber niemanden hochleben lassen, das entspricht nicht meiner Natur. Ich werde nicht unbegründet kritisieren, ich werde nicht sektenmäßig handeln, ich werde nicht um Gleichgesinnte werben, ich werde sogar meine Gedanken für mich behalten, was wollen Sie mehr? 289 Die durch die interne Fokalisierung inszenierte Fortwirkung des Vergangenen im Roman zeugt davon, dass die Ambivalenz nicht von vornherein negativ aufgefasst werden kann. Sie umschreibt vielmehr Erfahrungen, die unterschiedlich bewertet werden können, je nachdem, wie damit umgegangen wird. Die Erfahrung von Ambivalenz und der Umgang mit ihr gehören zu den für menschliche Sozialität konstitutiven Prozessen personaler und kollektiver Identitätsentwicklung und Handlungsbefähigung im Sinne von Reflexion und Verantwortlichkeit. Ich selbst sehe alles und sehe gar nichts; wir ahnen das Weinen des Beamten, die Macht des Soldaten, die Rätselhaftigkeit des Polizisten, die Notwendigkeit des Arbeiters, des Bauern, des Arztes, den Hasard des Spekulanten. Alles ereignet sich sinnvoll außer mir selbst. 290 Die Begriffe „eigen“ und „fremd“ haben offensichtlich eine klare Differenzierung verloren. Inmitten der Offensive stellt Bergant auch die Annulierung von Oppositionen fest: Es gibt nirgendwo mehr Osten und Westen, Norden und Süden; [...] Es gibt die Sonne, den Mond, die Sterne nicht mehr. Der Kalender ist tot, wir wissen das Datum nicht, nur die Uhr am Handgelenk funktioniert, aber es ist ganz egal, wie spät es ist. [...] Bedeutungslos werden die Begriffe klein - groß, leicht - schwer, reich - arm, gesund - krank, schön - häßlich, stark - schwach, schlau - dumm, haarig - bartlos, jung - alt, Mann - Frau, gleich sind gutwillige, böse, traurige, brav - schlimm, Schweigsame und Schwätzer, wir haben nicht mehr die Größe von Schuhen, von Hüten ... 291 Dreißig Jahre später werden die Oppositionen jedoch wieder klarer. Joseph Bitter entdeckt die wahre Herkunft von Bergant und stellt dem Haupthelden die Frage: „Ich vermute, dass Sie bei den Partisanen waren? “ 289 Ebd., S. 249. 290 Ebd., S. 388. 291 Ebd., S. 295. <?page no="117"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 117 Und nach so vielen Jahrzehnten ist die Kriegsfront zwischen uns: dort die gut organisierte deutsche Kriegsmaschinerie, hier der verlauste Kommunist. Dort die mobilisierte ordentliche Armee, hier die freiwillige Bande. Dort das Hakenkreuz, hier der rote Stern. 292 Interne Fokalisierung, die einfache Wortwahl und Syntax sowie die Verwendung des Präsens wirken bei Zupan zusammen, um die unmittelbare Aktualität bzw. Virulenz der Eindrücke und Emotionen Bergans zu akzentuieren. Der Krieg lebt, wirkt in jedem von uns fort, immer neu, jeden Moment bereit, Feuer zu fangen. Da uns ekelt, diese Welt, so wie sie ist, zu akzeptieren, ist es nur gerecht, dass uns davor ekelt. Der alte Krieg wird in jedem Augenblick in den neuen verwandelt, ob wir es wollen oder nicht, und dabei wissen wir noch nicht, was geschehen ist und was geschieht, wir sammeln uns in Massen mit Waffen in den Händen, schreien und stoßen auf Leben und Tod zusammen. In der Tiefe sind wir immer noch die alten Gegner, wie Sie sagten, und in uns entsteht schon die neue Feindschaft. 293 So wird die lineare Ereignisschronologie aufgehoben und der Eindruck einer simultanen Verschmelzung von Vergangenem und Gegenwärtigem erweckt. Das Oppositionpaar „wir“ und „sie“ wird durch die räumliche Opposition „hier“ und „da“ erweitert. Eine solche Semantisierung des Raums löst die Grenze zwischen den unterschiedlichen temporalen Dimensionen auf. Gleichzeitig werden auf diese Art und Weise die Grenzen zwischen psychischer Innerlichkeit und physischer Äußerlichkeit aufgehoben. Dadurch wird klar, dass sowohl Subjektivität als auch Sozialität ihrerseits Potenziale für Ambivalenzen beinhalten. Beide Prozesse beinhalten zwei gegensätzliche Erfahrungen, nämlich Differenz und Wandel. Die subjektive Gleichheit wird der Verschiedenheit, die Konvergenz der Divergenz gegenübergestellt. Das Beharren wird mit dem Verändern, die Reproduktion mit der Innovation konfrontiert. Die Sichtweise Bergants lässt aber keinen Zweifel darüber, dass weder alle Kriege noch alle Seiten im Krieg gleich sind. Bergant kann die Tatsache, dass die Welt aus einer anderen Perspektive anders aussieht, aber nicht verdrängen. Es ist am schwierigsten für denjenigen, der nicht fähig ist, mit seiner Umgebung zu verschmelzen und mit ihr eins zu werden. Er wird zur Erschießung gebracht und denkt über den Geisteszustand seiner Henker nach. Er wird gefoltert und er fühlt die Lächerlichkeit seiner Lage, betrachtet von der Galaxie. Er ist verurteilt, immer und überall Opfer und nie Täter, nie Eroberer, nie Gewinner zu sein. 294 292 Ebd., S. 357. 293 Ebd., S. 358. 294 Ebd., S. 18. <?page no="118"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 118 Der rationalste Ausweg aus dieser tragischen Situation eines Jakob Bergant wird durch eine Existenz im Hier und Jetzt und eine Verhaltensweise gemäß den Regeln und der Tradition der eigenen Gemeinschaft suggeriert. Ich habe auf das, was alle kennen, verzichtet: Ich habe auf meine Kultur, meine Umgebung, meine Herkunft und meine Basis verzichtet. Und, ich bin erstaunt in der Verzweiflung in einem kleinen Buffet stehengeblieben, wo ich vielleicht bin, oder wo es mich doch nicht gibt, beides ist ganz egal. 295 Die Welt zerfällt in sich selbst. Der Krieg ist zum Selbstzweck geworden. Die ganze Menschheitsbzw. Weltgeschichte wird als Unheilsgeschichte gesehen, die einem schrecklichen Ende zutreibt. Die apokalyptischen Reiter sind veraltet ... Krieg, Hunger, Pest, Tod ... In meiner Apokalypse treten statt Pest Zweifel und Schwanken ein ... und beide wegen der Lüge - sie war immer da, aber nicht immer gab es Ideologie. Krieg, Hunger, Zweifel, Schwanken und Tod ... es gibt Momente, wenn es keinen Krieg, Hunger und Tod gibt ... aber es gibt keine Momente, wenn es Zweifel und Schwanken nicht gibt ... wir alle haben keine Familien ... doch wir alle gehören irgendwem, dem Volk, dem Staat, der Idee, den Organisationen, den Internationalen ... 296 Die moderne Welt ist bei Zupan nicht mehr über die Gegensatzpaare, nicht über die polare Struktur der Romanze, in der es nur Gut und Böse gibt, zu erfassen; das mythische Denken genügt nicht mehr, um unserer Wirklichkeit klare und struktuierte Grenzen zu geben. Der Erzähler bringt die vergangenen Erfahrungen in erster Linie in eine konsekutive, sequenzielle, nicht aber in eine kausal-lineare Ordnung. Die Menschen werden entwurzelt, da sie nicht mehr wissen, was Eigenes und was Fremdes, was gut und was böse ist. Jedoch scheint es, dass der Autor diese Entwicklung nicht beklagt, sondern die innerliche Spaltung Bergants zu einem normalen, zeitgemäßen Zustand werden lässt. Das heißt jedoch nicht, dass die Dekonstruktion eines Denkens in binären Oppositionen jede Differenz auflöst und negiert. Vielmehr verkörpert Bergant selbst gleichzeitig „unser“ und „fremd“, die Illusion unseres Weltbilds könne sich auf diese Art und Weise einmal fur allemal stabilisieren. III.5.2 Die Spannung zwischen dem Eigenen und dem Anderen Der Roman „Das Messer“ („Nož“) des serbischen, aus Ostbosnien stammenden Schriftstellers Vuk Drašković weist ebenfalls eine Plotstruktur, die der Romanze gegenübersteht, auf, nämlich die der Ironie. Zupans Form der Satire wird laut Frey als „militante Ironie“ definiert, da sie die Normen voraussetzt, an denen das Absurde und Groteske zu messen ist. Ironie wird als eine 295 Ebd., S. 387. 296 Ebd., S. 354. <?page no="119"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 119 mildere Form der Groteske verstanden. Das Subjekt bleibt auch in der Ironie, wie es Kierkegaard formuliert, negativ frei: Die Ironie ist eine Bestimmung der Subjektivität. In der Ironie ist das Subjekt negativ frei, denn die Wirklichkeit, welche ihm Inhalt geben soll, ist nicht vorhanden, das Subjekt ist frei von der Gebundenheit, in welcher die gegebene Wirklichkeit das Subjekt hält, aber es ist negativ frei und als solches in der Schwebe, weil nichts da ist, das es hielte. 297 Der Hauptplot des Romans Draškovićs wird um die Suche nach der eigenen Identität der Hauptfigur Alija gesponnen. Im Roman wird deutlich, dass die Produktion und Demarkation von Alterität für jede Gemeinschaft unabdingbar sind, um eine eigene Identität auszubilden. Jedoch ist das „konstitutive Außen“, wie Derrida 298 und Butler 299 es nennen, nicht nur Bedingung der Möglichkeit von Identität, sondern zugleich immer Teil derselben, der Andere ist Mitschöpfer des Selbst. Die radikale Alterität scheint innerhalb und nicht dazwischen angesiedelt zu sein, was Drašković mittels literarischer, ironischer Anspielung darstellt, was wiederum die Gedächtnisarbeit voraussetzt. Der Roman erschien 1982 und sorgte für große Unruhe, nicht nur in den anderen Teilrepubliken, sondern auch in Serbien selbst. Drašković, der in dieser Zeit als Journalist arbeitete, wurde bald nach der Veröffentlichung aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen. Drašković thematisiert nicht nur Kriegsverbrechen (in seinem Roman konkret in Ostbosnien) auf eine sehr direkte Art und Weise aus seiner serbisch-bosnischen Perspektive, sondern auch die Frage der Identität, die bei ihm als eine labile Kategorie erscheint. Die beiden Themen waren im damaligen jugoslawischen Kontext besonders prekär. Der Roman erzählt auf zwei unterschiedlichen Zeitstufen, was auch durch die Druckweise der Buchstaben im Roman betont wird: Die Ereignisse aus dem Jahre 1942 sind kursiv gesetzt und beziehen sich auf die Erinnerungen und Träume verschiedener Figuren. Die Rahmennarration ist im Jahr 1963 angesiedelt. Die oberste Erzählinstanz ist der Muslim Sikter Efendija, der die anderen Erzählinstanzen und ihre Erzählungen in ein gewisses Gleichgewicht bringen soll. Die Geschichte setzt am orthodoxen Weihnachtsfest 1942 mit der brutalen Ermordung einer serbischen Familie namens Jugović von ihren Nachbarn und Trauzeugen, der muslimischen Familie Osmanović, Ustascha- Anhänger ein. Noch vor dem blutigen Ereignis wird der Familie geraten, ihr Dorf zu verlassen. Obwohl die Familenmitglieder also vorgewarnt sind, möchten sie nicht glauben, dass die Nachbarn sich gegen sie wenden könnten. 297 Søren Kierkegaard: Über den Begriff der Ironie. Mit ständiger Rücksicht auf Sokrates. Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1976, S. 266. 298 Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983. 299 Vgl. Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin: Berlin Verlag 1995. <?page no="120"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 120 „Ich möchte keine Angst vor ihnen haben und möchte nicht an das, was du mir schreibst, glauben, Vojvodo.“ 300 Oder: „Wir sind Trauzeugen und haben das gleiche Blut, das hast du vergessen. Es sind jetzt mehr als zweihundert Jahre, dass wir miteinander verwandtschaftliche Beziehungen pflegen.“ 301 Doch man hört auch die anderen Stimmen, die gerade die alten verwandschaftlichen Beziehungen als Problem darstellen: „Gerade weil ihr das gleiche Blut habt, weil sie aus eurem Samen gezogen sind, ist ihr Hass unendlich.“ 302 Das einzige am Leben gebliebene Familienmitglied ist ein neugeborenes Kind, das im Dorf von der Familie Osmanović im Sinne des muslimischen Glaubens und mit dem Namen Alija erzogen werden soll. Das Familienoberhaupt Husein übergibt das Baby seiner Frau Rabija, die sich um dieses und ein anderes muslimisches Kind kümmern soll, dessen Eltern wiederum von Tschetniks ermordet wurden. Die Geschichte setzt sich mit dem schon erwachsenen Alija fort, der jetzt in Sarajevo als Student mehr über seine leibliche Familie erfahren möchte, da er von seiner Stiefmutter Rabija nur weiß, dass er ein Waisenkind und aus einer unbekannten muslimischen Familie stammt. Die aktive Deutung und Umdeutung von Vergangenem im Roman steht zu Dienste der Identitäts- und Sinnstiftung. Die Auflösung der narrativen Kohärenz zugunsten der Heterogenität der Erinnerungen wird durch die verschiedenen Figuren im Roman zum Ausdruck gebracht. Das Gedächtnisnarrativ im Roman entfaltet sich ausgehend von verschiedenen Stimmen. Die Stiefmutter Rabija vertritt eine solche Stimme im Roman und ist zugleich die Vermittlungsinstanz, die Alija bei seinem Versuch leitet, einen plausiblen Zusammenhang zwischen seinem vergangenen und gegenwärtigen Ich herzustellen. Erst durch das Erzählen seiner eigenen Geschichte und durch die Fragen, die er stellt, versucht Alija sein autobiografisches Bewusstsein zu konsolidieren. Identität benötigt aber Alterität, da die Abspaltung des Anderen vom Eigenen mittels einer überschaubaren Anzahl von Vergleichskriterien erfolgt, die, als essenziell gelten sollen. So stellt Alija seiner Stifmutter auch Fragen wie: „Warum, Mutter, sprechen wir ihre Sprache? “ 303 Die Unterschiede, anhand derer Fremdheit definiert wird, müssen als klar ersichtlich erscheinen. Hautfarbe, Sprache, Religion sind dafür die bekanntesten Beispiele und die Unterschiede werden vom Eigenen gezielt mobilisiert und instrumentalisiert. Das Andere im Gegensatz zum Fremden dient einem bestimmten Zweck und muss in einem Sinnstiftungsprozess immer erst produziert werden. Ebenso ist es mit der eigenen Identität, da wir das sind, was andere aus uns machen und von dem wir uns bewusst oder unbewusst 300 Vuk Drasković: Nož. Beograd: Zapis 1982, S. 17. (Dt. Übers. E. M.). 301 Ebd., S. 24. 302 Ebd., S. 24. 303 Ebd., S. 50. <?page no="121"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 121 abzugrenzen versuchen. So wird die Grenze zwischen der Findung und Erfindung der Identität von Alija im Roman ausgelotet. Die mehrfache Gegenüberstellung von sogenannten faktischen Informationen und ihrer narrativen Vermittlung drücken den engen Zusammenhang zwischen Erinnerungs- und Narrativierungsprozesse aus. Dadurch wird der Eindruck der Fragmentierung der Identität intensiviert. Das Dilemma zwischen Erinnerüngsüberschuss und Erinnerungsverwiegerung kommt mit der Geschichte Atif Tanovićs, die auf einer zweiten Erzählebene erzählt wird, zum Ausdruck. Gerade dieses Dilemma zwingt Atif, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen. Er selbst lebt nach einem schweren Feuerunfall während des Krieges unter anderem Namen in einem fremden Land, in Italien, und versucht damit, seine Kriegsverbrechen zu verbergen. Dem Erzähler gelingt auf diese Weise aufzuzeigen, dass die Frage, welche Geschichte wer im Roman erzählt und welche Identität er sich damit zuschreibt, von kulturell verfügbaren Erzählungsmustern abhängt. In Draškovićs Roman sind die Erzählmuster eng mit der Ethnizität und Religion sowie mit Konflikten zwischen ihnen verbunden. Die Identitätsfrage wird als eine äußerst verwirrende Angelegenheit dargelegt. So wimmelt es in einem anonymen Brief an Alija von schwer zu entziffernden Botschaften, der im Sinne eines ironischen Rätsel verfasst worden ist: Ich habe alles gelesen und ich kenne die Wahrheit. Der Halbmond über Foca kann leicht in Form des Kreuzes in Jugovići fallen. Der Tod ist dort, wo Du Dich beim Leben bedanken solltest. Du ahnst sogar nicht, dass jene, die Du liebst, hassen wirst und diejenigen, die der Liebe würdig sind, von Dir gehasst werden. Du schuldest Deinen größten Schuldnern und Dir schulden die größten Gläubiger - es gibt kein Gericht und keine Gewaltinstanz, die das entknoten könnte. Suche nicht nach dem, was schon gefunden wurde. Und verliere nicht das, was schon verloren wurde. Es ist sicher, Du bist nicht das, was Du bist, und jedoch, Du bist das, was Du nicht bist. 304 Alija stellt am Ende des Romas mithilfe von Sikter Efendija fest, dass er selbst das Kind der ermordeten christlichen Familie Jugović sein muss. Er durchlebt eine heftige Identitätskrise und kommt zur schmerzhaften Erkenntnis, dass in seinem Heimatdorf lauter straffrei gebliebene Ustascha-Anhänger leben. Die Desillusionierung Alijas am Ende des Romans illustriert einmal mehr die Ambivalenz seiner Identitätserzählung. Alija verstummt, bleibt gedankenlos. Die Haut brennt, das Blut entflammt, es pocht in den Schläfen, er hört, wie sein Herz schlägt. Er erfror rasch, der Schweiß und das Hemd, das er trug, wurden an ihm zu Eis. Er möchte sich empören, etwas fragen, dieses angebrannte und verstaubte Notizbuch Halils langen und knochigen Fingern entreißen. Er glaubt nicht, er will nicht glau- 304 Ebd., S. 144. <?page no="122"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 122 ben! […] Nein, Sikter Efendija hat sicherlich einen Fehler gemacht, er versucht ihn, er rächt sich an ihm aus irgendeinem Grunde, das ist nicht wahr! 305 Die traumatische Erfahrung des Identitätsverlustes sowie die Feststellung, dass der Andere der Mitschöpfer des Selbst ist, werden für Alija fast unerträglich: „Wohin soll ich und was wird jetzt mit mir selbst? ! - Alija fasst sich plötzlich mit den Händen an den Kopf. Ich wünschte, ich hätte das Glück gehabt zu ertrinken.“ 306 Auf Sikter Efendijas Frage, was sich in ihm verändert habe und worin dieser Unterschied liege, antwortet Alija: Darin, stöhnte Alija, dass du weißt, wer du bist und woher du kommst, dass du deinen Namen, deinen Vater und deine Mutter, deine Kindheit und Erinnerungen hast. Und ich, was ist mir von all dem geblieben? Nichts, nichts, mein Efendija! Was ich gehabt habe, ist alles gestorben, alles muss beerdigt sein. Was ich gefunden habe, ist fremd und fern, es wird nie meins werden, als ob gar nichts gefunden worden wäre. Ich weiß nicht wohin, kann weder zurück noch vorwärts. 307 Die Orientierungen an Kindheit, Jugend, Studium, die eine Voraussetzung für die Konstruktion einer kohärenten Geschichte darstellt, die identitätsstiftend wirkt, scheint für Alija nicht mehr da zu sein. So stellt Alija mit Schrecken fest: „Ich trage einen fremden Namen! Ich habe die fremden Sitten gelernt.“ 308 Die Identitätsbildung hat aber einen relationalen Charakter, und das Selbst konstruiert sich im Spannungsfeld zwischen der eigenen Lebensgeschichte und dem sozialen Umfeld. Diese Tatsache bringt Sikter Efendija deutlich zum Ausdruck, als er Alija darauf hinweist, dass er nicht auf sein bisheriges Leben verzichten kann. Du bist einundzwanzig Jahre alt, es ist nicht der richtige Zeitpunkt für deine Wiedergeburt, mein Alija. Auch wenn du es möchtest, du wirst nie alle diese Jahre in dir beerdigen und töten können. Du kannst nicht auf die Osmanovići verzichten, und du sollst es nicht tun, wenn du dahin, wohin du hin willst, möchtest, und ich hindere dich nicht daran. Wenn hinter dir Leere ist, so ist sie auch vor dir. Wie sollst du wiedergeboren werden, wenn du schon einmal geboren zu sein verneinst? ! 309 Die Spannung zwischen dem Eigenen und dem Anderen, die jetzt gegenseitig die Plätze wechseln und die den heterogenen Erfahrungen den identitätsstabiliserenden Sinn entnehmen, scheint für Alija unerträglich. 305 Ebd., S. 232. 306 Ebd., S. 235. 307 Ebd., S. 235. 308 Ebd., S. 252. 309 Ebd., S. 252. <?page no="123"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 123 Das ist alles nett und klug, aber ich kann nicht sowohl als Osmanović als auch als Jugović leben: Das Eine vernichtet und zerschmettert das Andere. Es gibt keine Verbindungen, sie sind alle zerrissen! 310 Sikter Efendija erhofft aber mit folgendem Satz die destabilisierende Erfahrungen Alijas in ein identitätstabiliserendes Format zu bringen: „Es gibt eine Verbindung, kraftvoll und unzertrennlich, nur weißt du sie nicht zu entdecken. [...] Du bist diese Brücke, du bist diese Verbindung, du Dummkopf! “ 311 Die Identität wird stets im Dialog und manchmal auch im Kampf mit dem, was unsere signifikanten Anderen in uns sehen wollen, herausgebildet. Indem wir die Geschichte unseres Lebens erzählen, verändert sich die Gestaltung dieser Erzählung immer wieder und wir benötigen daher einen sozial vermittelten Rahmen für die konkreten Inhalte. Bei Drašković wird die Konstitution der narrativen Identität des Individuums durch die Dissonanzen zwischen individuellen Selbstbeschreibungen und sozial zugeschriebenen Fremdbeschreibungen destabilisiert. Somit wird auch die Wirklichkeit dieser Zeit destabilisiert sowie ihre unbedigte Gültigkeit, die sich auf das Narrativ von Brüderlichkeit und Einigkeit und seine Plotstruktur der Romanze gestützt hat. Die Ironie zeigt jedoch, dass diese Wirklichkeit ihre Gültigkeit im Leben des Subjekts erlangen muss, sie lehrt, wie es Kierkegaard sagt, diese „Wirklichkeit zu verwirklichen“ 312 . III.6 Revision des beherrschenden Narrativs über Brüderlichkeit und Einigkeit und ihr Kontext Das beherrschende Narrativ von Brüderlichkeit und Einigkeit wurde in Romanen und Filmen Ende der 1970er-Jahre einer Revision unterworfen, was dazu führte, dass diese Autoren vom Regime in den Teilrepubliken verboten und verfolgt wurden. Diese Autoren wurden als Antikommunisten bezeichnet, die im damaligen jugoslawischen Kontext meistens mit Nationalisten gleichgesetzt wurden und als Hauptgegner des Regimes galten. Literatur und Film rückten so die Ausschlussmechanismen und das Ausgeschlossene in den Vordergrund. Die literarischen Texte und gesellschaftliche Wirklichkeit stehen freilich nicht „in einem mimetischen Abbild oder einem direkten Ursache-Wirkungs-Verhältnis“, sie veranlassen „kollektive Erfahrungsmöglichkeiten zu artikulieren, beispielhaft zu restrukturieren und nicht 310 Ebd., S. 252. 311 Ebd., S. 252. 312 Kierkegaard: Über den Begriff der Ironie, S. 332. <?page no="124"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 124 zuletzt einen bedeutenden Einfluss auf die symbolischen Sinnwelten einer Kultur auszuüben“ 313 . Der Wandel narrativer Formen stand auch in einer wechselseitigen Verbindung mit anderen politischen und sozialen Faktoren dieser Zeit in Jugoslawien. Deswegen ist eine nähere Erklärung der Kontexte, in welchen diese Texten entstanden sind, unerlässlich. Die schon erwähnte Mobilisierung einiger Intellektueller und Studenten, die sich zwischen 1967 und 1971 stark für die kroatischen Nationalinteressen einsetzten, ließ Sprache und Literatur als derart wichtig erscheinen, dass bald danach an diesen Diskurs auch wirtschaftliche und politische Diskurse anknüpften. 314 Das Thema der gegenseitigen ökonomischen Ausbeutung unter den Teilrepubliken wird bald danach eine große Rolle bei der symbolisch integrativen Mobilisierung innerhalb der jeweiligen nationalen Grenzen spielen. Dem Kroatischen Frühling folgte die Verfassungsänderung von 1974, das Verbot der linksmarxistischen Praxis-Gruppe, die eine scharfe Kritik an der Bürokratisierung der sozialistischen Gesellschaft und der Unterdrückung der oppositionellen politischen Szene ausgeübt hatte. Mit der neuen Verfassung von 1974 wurde die Verbindung zwischen Ethnizität, Identität und Sprache verstärkt, was auch in vielem die post-jugoslawische Entwicklung vorweg nahm. Jugoslawien wurde eine Konföderation aus Teilrepubliken und autonomen Provinzen, zu welchen die Vojvodina und der Kosovo innerhalb Serbiens ernannt wurden. Politik wurde in eine Verhandlung nationaler Positionen der Republiken und Provinzen verwandelt. Mit Titos Tod am 4. Mai 1980 in Ljubljana war die symbolische Identifizierung des jugoslawischen Staates mit seiner Person nicht mehr möglich. Seine Nachfolger versuchten jedoch, Tito als Symbol und Garant der Brüderlichkeit und Einigkeit mit dem neuen Moto „und nach Tito Tito“ zu bewahren. Bald danach begann ein Demokratisierungsprozess im Lande, der vorwiegend Impulse aus Slowenien und Serbien bekam. In Kroatien wurde der Zeitraum zwischen 1974 und 1989 als sogenanntes „kroatisches Schweigen“ 315 bezeichnet. Den Prozess der Demokratisierung führten einerseits die Anhänger der alternativen Szene, andererseits die sogenannten kritischen Intellektuellen. Die alternative Kul- 313 Vgl. Astrid Erll und Simone Roggendorf: Kulturgeschichtliche Narratologie: Die Historisierung und Kontextualisierung kultureller Narrative. In: Ansgar Nünning und Vera Nünning (Hrsg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier: WVT 2002, S. 73-113, hier S. 80. 314 Zu den Hauptforderungen des Kroatischen Frühlings zählten das Recht auf eine eigene kroatische Identität sowie der Gebrauch der heutigen kroatischen Staatsflagge. Dazu kamen die Forderungen nach einer Dezentralisierung der Wirtschaft bzw. nach einer unabhängigen kroatischen Nationalbank. 315 Mehr dazu in Kapitel über Kroatien in Siniša Malešević: Ideology, Legitimacy and the New State: Yugoslavia, Serbia and Croatia. London: Routledge 2002. <?page no="125"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 125 turszene war eine Mischung aus Popkultur und mikropolitischer und zivilgesellschaftlicher Bewegung. Die Ideen dieser Welle bezogen sich theoretisch auf Psychoanalyse, Feminismus und Poststrukturalismus und befürworteten eine breite Demokratisierung, ein Mehrparteiensystem, die Entstehung einer Zivilgesellschaft und die Gründung privater Initiativen. In Slowenien waren die studentische Zeitung „Mladina“ und Radio „Student“ Hauptträger dieser Ideen, in Serbien übernahm diese Rolle die studentische Zeitung „Student“ und später Radio B-92. Das studentische Kulturzentrum in Belgrad war ein Ort, wo zuerst die jugoslawische Konzeptkunst präsentiert wurde, danach war das Zentrum die Hauptbühne für alternative Musik und politische, feministische und ökologische Bewegungen, bis es in den Neunzigerjahren wie fast alle Kultureinrichtungen von regierungsnahen Personen nicht übernommen wurde. Während die alternative Szene vorwiegend mit sozialen Themen beschäftigt war, bestanden einige Schriftsteller und Intellektuelle weiterhin darauf, den Demokratisierungsprozess innerhalb des nationalen Diskurses zu pflegen. Die nationalen Vereinheitlichungstendenzen in Slowenien wurden besonders stark, als von seiten des Bundes 1982 der Vorschlag kam, „einen gemeinsamen Bildungskern“ in den Gymnasien zu schaffen mit dem Ziel, das jugoslawische Zugehörigkeitsgefühl zu stärken. 316 Die slowenischen Schriftsteller stellten fest, dass der Schutz der Muttersprache und eine nationale Kultur erst am Ende des Vorschlags erwähnt wurden und dass das slowenische Volk vor einer Assimilierung innerhalb Jugoslawiens bewahrt werden müsse. Der slowenische Schriftstellerverband organisierte eine öffentliche Debatte zu diesem Thema, auf der der Vorschlag abgelehnt und seine Ablehnung auch vom kommunistischen Bündnis Sloweniens verlangt wurde. Ciril Zlobec, der damalige Vorsitzende des slowenischen Schriftstellerverbandes, bezeichnete die Diskussion als Moment der Vereinigung des slowenischen Volkes und der Intellektuellen und als einen bedeutenden Schritt in der Versicherung des slowenischen nationalen und sozialen Bewusstseins. 317 Doch dieses Thema rückte nicht zum ersten Mal mit dem Vorschlag aus dem Jahr 1982 in die Öffentlichkeit. Schon Anfang der 1960er-Jahre kam es wegen eines ähnlichen Anlasses zu einem intensiven Briefwechsel zwischen dem serbischen Schriftsteller Dobrica Ćosić und dem slowenischen Literaturkritiker Dušan Prijavec. Ćosić äußerte nämlich die Meinung, dass die partikulare Nationalinteressen in den anderen Teilrepubliken immer stärken würden, verurteilte in einem Artikel aus dem Jahre 1961 „alle Vampirnationalismen“ und behauptete, dass so lange die Republiken existierten, jedes zwischen- 316 Mehr zum Thema in: Soso: Saviours of the Nation. 317 Vgl. Ciril Zlobec: Slovenska samobitnost i pisac. Zagreb: Globus 1987. <?page no="126"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 126 nationale Durchdringen verhindert würde. 318 Dies löste heftige Reaktionen, vor allem des slowenischen Literaturkritikers Dušan Prijavec, aus, der Ćosić vorwarf, die separatistischen Nationalismen wohl wahrzunehmen, aber nicht die Tendenzen zu einem Unitarismus, der unausweichlich durch die serbische Hegemonie gekennzeichnet würde. 319 In seiner langen Antwort in einem Artikel mit dem Titel „Über den modernen unmodernen Nationalismus“ 320 leugnet Ćosić jegliche Absicht, sich für eine unitaristische Kultur einzusetzen und behauptet, dass seine Ansichten ganz im Sinne der Ideale des Nachkriegsstaates stünden, nach welcher die einzelnen jugoslawischen Republiken an und für sich nicht das Ziel darstellten, sondern nur Mittel zur Schaffung einer einheitlichen jugoslawischen Kultur seien. Ein Historiker, der das Material zu dieser Polemik untersuchte, behauptet, dass hinter Ćosić die konservativen serbischen Politiker wie Jovan Veselinov und Aleksandar Ranković stünden und hinter Prijavec der mächtigste slowenische Politiker Boris Krajger. Nach Nenad Dimitrijević sei Mitte der 1980er-Jahre endgültig ein „Vollmachtsvertrag“ zwischen dem Ein-Parteien-Staat und einer Gruppe sogenannter mäßig nationalistisch veranlagter „unabhängiger“ Intellektueller geschlossen worden. 321 Diesen Intellektuellen wurde das Recht zugesprochen, sich als eine Art nationales Gremium selbstständig zu organisieren. Als Initiative oppositioneller slowenischer Intellektueller wurde in Slowenien die Zeitschrift „Nova Revija“ 1982 gegründet. Die Zeitschrift sollte als unabhängiges Medium „kritischer Intellektueller und skeptischer Schriftsteller“ dienen und dem Soziologen Dimitrij Rupel zur Folge die folgenden drei Ziele verfolgen: die kulturelle Modernisierung fördern, Demokratie nach dem westlichen Modell etablieren und zur Gründung eines unabhängigen Nationalstaates beitragen. 322 Viele Mitarbeiter der Zeitschrift wurden später führende Akteure des politischen Lebens im unabhängigen Slowenien. Im Januar 1987 wurden in der „Nova Revija“ die Beiträge für das slowenische nationale Programm veröffentlicht. Die serbische Akademie der Wissenschaft und Künste beschloss zwei Jahre zuvor, im Mai 1985, ein sogenanntes Memorandum auszuarbeiten, womit sich die führende serbische intellektuelle Nationalinstitution als politischer Akteur konstituieren konnte. Beide Ver- 318 Vgl. Ratko Peković: Ni rat ni mir: Panorama književnih polemika 1945-1965. Beograd: Filip Višnjić 1986. 319 Dieser Artikel Prijavecs wurde 1961 in der slowenische Zeitschrift Nasa sodobnost Nr. 3 veröffentlicht. 320 Vgl. Dobrica Ćosić: O savremenom nesavremenom nacionalizmu. In: Sabrana Dela, Band 8. Beograd: Prosveta 1966. 321 Nenad Dimitrijević: Slučaj Jugoslavija. Socijalizam, nacionalizam, posledice. Belgrad: Swedish Helsinki Committee 2001, S.89. 322 Vgl. Dimitrij Rupel: Slovenia’s Shift from the Balkans to Central Europe. In: Jill Benderly and Evan Kraft (Hrsg.): Independent Slovenia, Origins, Movements, Prospects. Basingstoke: Macmillan 1994, S. 183-200. <?page no="127"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 127 fasser legitimierten ihre Positionen über die Notwendigkeit, mit Blick auf die unentschiedenen Identitätsfragen, die sie dem damaligen jugoslawischen Staatskonstrukt vorwarfen, die wichtigsten identitätspolitischen Grundfragen für die jeweils eigene Seite zu stellen. Die jeweilige Nation wurde als ein erst zu schaffendes Gebilde empfunden, weshalb die Autoren für sich die Rolle von Identitätsschöpfern reklamierten. Die beiden Schriften eröffneten auf eine neue Art und Weise die nationale Frage in Jugoslawien. Die Soziologin Olivera Milosavljević, die die beiden Schriften ausführlich analysiert hat, kam zu folgender Schlussfolgerung: Jugoslawien ist ein Land, das weder serbische noch slowenische Interessen erfüllt. Für erstere ist das ein Land, in dem sie bedroht sind, ungerecht behandelt und verleugnet werden; für die anderen ist es fremd. 323 Milosavljević wies auch auf eine selektive Darstellung der gemeinsamen Geschichte in den beiden Dokumenten hin. Die Verfasser waren bemüht, die Gefährdung der jeweiligen Nation zu begründen, sodass in den slowenischen Beiträgen z. B. die zwischennationalen Beziehungen im Königsreich Jugoslawien und die serbische Dominanz analysiert wurden. Im Memorandum findet man dagegen gar keinen Rückblick auf diese Zeit. Während im Memorandum der Akzent auf Unterdrückung, Gefährdung und Benachteiligung der serbischen Nationalinteressen in der bestehenden Konstitution des Staates gesetzt wurde, war der Grundton in den Beiträgen die Feststellung, in einem fremden Land zu leben. Im Memorandum stand unter anderem Folgendes: Die Wiederherstellung einer vollen nationalen und kulturellen Integrität des serbischen Volkes, abgesehen davon, in welcher Republik oder Provinz es sich befindet, ist sein historisches und demokratisches Recht. Die Erwerbung der Gleichstellung und eine selbstständige Entwicklung haben für das serbische Volk einen tieferen nationalen Sinn. [...] Falls es mit einer Zukunft in der Familie der kultivierten und nationalisierten Völker der Welt rechnen will, muss das serbische Volk die Möglichkeit erhalten, sich selbst wiederzufinden und ein historisches Subjekt werden, von neuem zum Bewusstsein über sein historisches und geistiges Wesen gelangen, klar seine ökonomischen und kulturellen Interessen wahrnehmen, um zu einem gegenwärtigen gesellschaftlichen und nationalen Programm zu kommen, das die jetzigen und zukünftigen Generationen inspirieren wird. 324 Die beiden Schriften konstatieren, dass ein nationales Programm notwendig sei und die nationalen Interesse dem Zeitgeist entsprechend reformuliert 323 Olivera Milosavljević: Jugoslavija kao zabluda. In: Nebojša Popov (Hrsg.) in: Srpska strana rata. Trauma i katarza u istorijskom pamćenju. I deo. Beograd: Samizdat 2001, S. 87-116, hier S. 94. 324 Ebd., S. 95 <?page no="128"?> III Sozialismus und narrative Formatierung von kollektiven Identitäten in Jugoslawien 128 werden sollten. „Jugoslawien sollte entweder auf völlig neuen nationalen Prinzipien gegründet werden, oder es sollte nicht bestehen.“ 325 Die nationale Frage, die die Kommunisten gelöst zu haben glaubten, da die Nationalitätenpolitik im sozialistischen Jugoslawien das Bestehen nationaler Identitäten, wie am Anfang dieses Kapitels erläutert wurde, gründsetzlich nicht infrage stellte, wurde im öffentlichen Diskurs praktisch seit den 1960er-Jahren und zunehmend in den 1980er-Jahren immer mehr als ein zu lösendes Problem dargestellt. 325 Ebd., S. 90. <?page no="129"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung - zur Konstruktion der „wahren“ Identität und „alter“ und „neuer“ Unterschiede IV.1 Literarische Texte und ihre zeitgeschichtlichen Kontexte - zur Legitimitätskrise Jugoslawiens und der Textualität von Geschichte Literarische Texte lassen sich als Knotenpunkt in einem kulturellen Gewebe, an dem sich zahlreiche Diskursfäden überschneiden, betrachten. Kontext ist kein bloßer Hintergrund von literarischen Texten, vielmehr stehen zeitgeschichtlicher Kontext und literarische Texte in einer Wechselbeziehung und bestimmen und transformieren sich gegenseitig. Ein Spezifikum des literarischen Diskurses ist, dass er alle anderen Diskurse in sich aufnehmen und eine Neubestimmung oder Verarbeitung zeitgenössischer oder historischer Diskurse vornehmen kann. So scheint gerade der Austausch zwischen Geschichte und Geschichten einer Auffassung wichtig, derzufolge Geschichte selbst als Text behandelt wird. Louis Montrose, ein führender Vertreter des „New Historicism“ hat diese Auffassung als Verhältnis von der Geschichtlichkeit von Texten und Textualität von Geschichte beschrieben. 326 Mit der Geschichtlichkeit von Texten behaupte ich die These von kultureller Bestimmtheit, der gesellschaftlichen Einbettung jeglicher Art von Geschriebenem - nicht nur der Texte, die Gegenstand der Literaturwissenschaft sind, sondern auch der Texte, in denen wir diese behandeln. Mit der Textualität von Geschichte behaupte ich die These, daß wir erstens keinen Zugang zu einer vollen und authentischen Vergangenheit haben, zu einer gelebten materiellen Existenz, die nicht über die überlebenden textuellen Spuren der betreffenden Gesellschaft vermittelt wäre - Spuren, deren Überleben wir nicht für rein zufällig nehmen können, sondern wenigstens teilweise als Folge komplexer und subtiler Bewahrungs- und Auslöschungsvorgänge ansehen müssen; und dass zweitens diese textuellen Spuren selber weiterer textueller Vermittlung unterworfen werden, wenn man sie als „Dokumente“ liest, auf die Historiker ihre eigenen, „Geschichte“ genannten Texte gründen. 327 326 Vgl. Louis Adrian Montrose: Die Renaissance behaupten. Poetik und Politik der Kultur. In: New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Hrsg. v. Moritz Bassler. Frankfurt: Suhrkamp, 1966. S. 67-68. 327 Ebd. S. 67. <?page no="130"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 130 Louis Montrose teilt damit die Auffassung von Hayden White, der in Metahistory (1973) die einflussreiche Position vertritt, dass jede Historiographie immer durch solche textuellen Geschichten, in ihren narrativen und retorischen Formen, konstituiert und zugänglich ist. Mit Titos Tod im Mai 1980 brach eine neue Zeit in Jugoslawien an, die geprägt war von einem Machtvakuum, einer ökonomischen Krise und Resignation, und dieser zeitgeschichtliche Kontext stand in einer engen Wechselbeziehung zu einer Welle politisch engagierter Literatur, die mit der Dekonstruktion einiger offizieller Geschichtsbilder begann, die bis dahin Geltungs- und Integrationskraft besessen hatten oder zumindest nicht offiziell infrage gestellt worden waren. Diese Entwicklung wird besonders ab 1989 von einer Art der (Re-)Konstruierung der jeweiligen „wahren“ nationalen Identität gekennzeichent. Dabei wird der Akzent auf Unterschiede gesetzt, und neue Ziele werden formuliert: die Verfolgung von nationalen Interessen, nationale Vereinheitlichung und nationale Erneuerung. Damit rückte die Partikularität in den Vordergrund, und es wurde ein in der sozialistischen Ideologie befestigtes universalistisches Prinzip, das als Garant der Differenzen auftrat, allmählich infrage gestellt. Diese Entwicklung hatte die Diskreditierung des Sozialismus, der sozialistischen Revolution und der Person Titos zur Folge, da über diese Themen nicht mehr in erster Linie positiv erzählt wurde. Die gesellschaftlichen Antagonismen, der Streit um Erinnerungen fanden ihren prägnanten Ausdruck in kleineren Gegenerzählungen, die die Großerzählung über Brüderlichkeit und Einigkeit als ein Gesamtkonzept in sich nicht vereinigen konnten. Diese neuen kleineren Erzählungen thematisierten auch nicht aktiv erinnerte Vergangenheit, die aber wohl zur Geschichte einer Gesellschaft gehört. Das Ausblenden historischer Ereignisse gehört ebenso zur Erinnerungskonstruktion einer Gesellschaft wie das offiziell vermittelte Geschichtsbild. Wie schon im zweiten Kapitel erklärt wurde, wird, indem die Erzählung die vergangene Zeit erzählt, vergangene Zeit Gegenwart. Die Vergangenheit wird immer wieder erzählt und muss in Erzählungen verwandelt werden. Der Mythos über den jugoslawischen Komunismus wurde vor allem in den historischen und literarischen Erzählungen dekonstruiert. Auffällig dabei ist die Konzentration auf drei Themen: auf die Schilderung der Ereignisse auf der Gefängnisinsel Goli Otok, die Darstellung des Zweiten Weltkriegs sowie auf die Brutalität der Kommunistischen Partei. Als Folge war eine gesteigerte Produktion von historischen Büchern und Memoranden zu beobachten. Der einstige persönliche Biograf Titos und Chronist des Partisanenkampfes im Zweiten Weltkrieg Vladimir Dedijer veröffentlichte 1981 das dreibändige Buch „Novi prilozi za biografiju Josipa Broza Tita“ („Neue Beiträge zur Biografie des Josip Broz Tito“), das eine neue Art der Darstellung der Person Tito und der jugoslawischen kommunistischen Revolution hervorbrachte. Tito wurde als Person hinter der Fassade des großen Staatsmannes gezeigt, einige bisher unbekannte Details aus seinem privaten Leben wurden veröffentlicht. <?page no="131"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 131 Darüber hinaus wurden einige neue Angaben, die die öffentliche Version der Rolle der Kommunistischen Partei und des Partisanenkampfes erschütterten, ans Tageslicht gebracht. So schrieb Dedijer erstmalig über die Geheimverhandlungen zwischen der Partisanenführung mit den Deutschen im Jahre 1943. 328 Allein diese Tatsache reichte, um die Großerzählung von den Partisanen als einziger Kraft, die gegen den Faschisten konsequent Widerstand leistete, zu unterminieren. Die Forderung nach einer historischen Überprüfung der historischen Rolle der Kommunistischen Partei und Josip Broz Titos wurde in Slowenien und Serbien nach Titos Tod immer häufiger. Die Brutalität der Kommunistischen Partei in der Auseinandersetzung mit ihren Gegnern wurde vor allem durch die Thematisierung von Repressionen auf der Insel Goli Otok, die in Folge des Tito-Stalin-Konflikts 1948 stattfanden, zum Ausdruck gebracht. Nach dem Ausschluss Jugoslawiens aus dem Kominform richtete die Partei ein Internierungslager ein, in dem von 1949 an zumindest bis 1956 mehrere Tausend politische Gegner gefoltert und politisch „umerzogen“ wurden. 329 Obwohl dem Gesetz nach die Lagerhaft auf zwei Jahre begrenzt war, verbrachten nicht wenige Häftlinge mehrere Jahre auf Goli Otok, denn die Haftstrafen konnten immer wieder erneuert werden. Der Literatur kam eine besondere Rolle in der Aufarbeitung der Geschehnisse im Lager zu, weil Quellenmaterial über Goli Otok fehlte. Insbesondere die serbische, aber auch die slowenische Literatur beschäftigte sich in dieser Zeit mit der Aufarbeitung der Vergangenheit. Der slowenische Schriftsteller Branko Hofman schrieb 1981 den Roman „Noć do jutra“ („Nacht bis zum Morgen“), der die Ereignisse auf Goli Otok thematisierte. Hofman war selbst Gefangener im Lager auf der Insel gewesen. Der serbische Schriftsteller Antonije Isaković brachte 1982 seinen berühmten Roman „Tren 2“ („Augenblick 2“) heraus, der sich mit der berüchtigten Insel beschäftigt. Isaković wurde drei Jahre lang daran gehindert, seinen Roman zu veröffentlichen, und als das Buch schließlich gedruckt wurde, versuchte man, Goli Otok als eine Art Kollateralschaden bei der Verteidigung der jugoslawischen Integrität zu relativieren. Die literarischen Texte gaben den Anstoß zu einer breiten öffentlichen Debatte um die Lagerinsel, da sich Ende der 1980er-Jahre immer mehr Stimmen fanden, die Goli Otok nicht als vorbeugende Selbstverteidigung eines außen- und innenpolitisch bedrohten souveränen Staates, sondern als Terrorinstrument eines autoritären Regimes deuteten. Zu den repressiven Methoden des Lagers gehörte auch seine Tabuisierung mittels drohender Sanktionen bei Weitergabe von Informationen über Aufenthalt im Lager. So erschienen in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre auch zahlreiche Me- 328 Vgl. Vladimir Dedijer: Novi prilozi za biografiju Josipa Broza Tita. Rijeka: Gro Liburnija 1981. 329 Mehr zu dem Thema findet sich in einem Artikel von Jens Reuter: Politische Gefangene in Jugoslawien. In: Süd-Osteuropa, München, 1987, Nr. 36/ 6, S . 297-308. <?page no="132"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 132 moiren von Zeitzeugen. Eine Welle von Publikationen, Theaterstücken und Filmen setzte sich mit diesem Thema auseinander. Der bekannteste Film zu dieser Thematik ist „Otac na službenom putu“ („Papa ist auf Dienstreise“), der im Jahre 1985 von Emir Kusturica gedreht wurde. 330 Das verbotene Theaterstück aus dem Jahr 1968 „Kada su cvetale tikve“ („Als die Kürbisse blühten“) des serbischen Dramatikers Dragoslav Mihajlović wurde 1984 wieder auf den Bühnen Belgrads gezeigt. Dragoslav Mihajlović war selbst als zwanzigjähriger Mann auf Goli Otok 15 Monate lang inhaftiert gewesen. Sein Stück soll Tito persönlich verboten haben, da der Vater des Haupthelden im Stück den folgenden Satz auspricht: „Sie sind schlimmer als die Deutschen.“ („Oni su gori od Nemaca.“) Die Filme und Romane, die sich mit dem Zweiten Weltkrieg und den Repressionen gegenüber den Gegnern des sozialistischen Regimes auseinander setzten, werden im Laufe der 1980er-Jahre immer häufiger. Der führende serbische Regisseur der „Schwarzen Welle“ 331 und Schriftsteller Živojin Pavlović verfilmte 1980 Vitomil Zupans Roman „Menuet za kitaro“ („Menuett für die Gitarre“) unter dem Titel „Dovidjenja u sledećem ratu“ („Wiedersehen im nächsten Krieg“). Der Film zeichnet sich durch eine emotionale Atmosphäre aus, die untypisch für die Kriegsfilme dieser Zeit ist. Ende der Siebzigerjahre schloss die Auseinandersetzung mit dem antifaschistischen Krieg allmählich auch die gegenseitigen zwischennationalen Feindschaften während des Befreiungskrieges mit ein. Der Film „Okupacija u 26 slika“ („Okkupation in 26 Bildern“) des kroatischen Regisseurs Lordan Zafranović aus dem Jahre 1978 war besonders schockierend, da im Film das Massaker an Serben und Juden als eine selbstständige und brutale Aktion der Ustascha dargestellt wurde. 332 Ende der Achtzigerjahre erschienen in Serbien mehrere Romane, die die Verbrechen gegenüber Serben im Zweiten Weltkrieg thematisierten. Die bekanntesten neben „Nož“ („Das Messer“) von Draškovic waren: „Timor mortis“ (1989) von Slobodan Selenić und „Vaznesenje“ („Himmelfahrt“,1990) von Vojislav Lubarda. Zu dieser Thematik erschien 1983 auch das Theaterstück „Golubnjača“ („Die Taubenschlucht“) des allerdings aus Kroatien stammenden serbischen Dramatikers Jovan Radulović, das die serbische Gemeinschaft in der Krajina (Kroatien) in den 1960er-Jahren und ihre Unfähigkeit beschreibt, das Trauma des Ustascha-Massakers im Zweiten Weltkrieg zu überwinden. Das Stück sollte ursprünglich im Belgrader Theater „Boško Buha“ gezeigt werden. Nachdem dieses Theater die Aufführung doch verweigerte, wurde das Stück 1982 in einem Theater in Novi Sad gezeigt. Nach fast einem Monat wurde es aber nach der Intervention des Stadt- 330 Der Film wurde beim Filmfestival in Cannes 1985 mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. 331 Die Filmautoren der Schwarzen Welle rebellierten mit ihren subversiven Gesellschaftsstudien Ende der Sechzigerjahre gegen den staatlich verordneten Optimismus. 332 Zafranović drehte im Jahre 1981 einen anderen Film „Der Fall Italiens“ („Pad Italije“), in dem er den Überfall von Tschetniks auf eine dalmatinische Insel zeigt. <?page no="133"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 133 komitees des Kommunistischen Bundes abgesetzt, mit der Begründung, dass es die Errungenschaften des Volksbefreiungskampfes, der sozialistischen Revolution und des weiteren Aufbaus der sozialistischen Gemeinschaft in Zweifel stelle. Das Stück wurde außerhalb Serbiens auch in Slowenien gezeigt, wo es auf dem „Alpe-Adria-Festival“ zum besten Thaterstück des Jahres erklärt wurde. 25 Jahre danach veröffentlichte Jovan Radulović ein Buch unter dem Titel „Slučaj Golubnjača - za i protiv“ („Der Fall Golubnjača - für und wider“). Auf 830 Seiten stellte Radulović darin das umstrittene Drama und alles, was sich rund um das Stück abspielte, in drei Kapitel dar: 1980- 1982, 1983 und 1984-2007. Mit seinem Drama verursachte Jovan Radulović eine bis daher nicht bekannte politische, nationale und kulturelle Erschütterung. Allmählich wurden nun auch die Stimmen, die die Verbrechen der Partisanen während des Krieges thematisierten, präsenter. Die slowenische Soziologin Spomenka Hribar problematisierte erstmals Mitte der Achtzigerjahre die Hinrichtung der slowenischen Weißgardisten durch die Partisanen öffentlich. Sie setzte sich für die Gleichstellung aller slowenischen Bürger ein und wurde „wegen des Versuchs, die slowenischen Faschisten und Kollaborateure zu rehabilitieren, aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen“ 333 . Obwohl nach dem Kroatischen Frühling, dem „Masspok“, der Rückzug und das Verstummen vieler kroatischen Schriftsteller in der Öffentlichkeit bemerkbar wurde, zog sich die kroatische Literatur von der Bearbeitung politischer Themen nicht ganz zurück. Der kroatische Schriftsteller, Lehrer und Teilnehmer des Kroatischen Frühlings Ivan Aralica schrieb 1987 den Roman „Okvir za mržnju“ („Rahmen des Hasses“), der im gleichen Jahr unter dem Titel „Život sa stricem“ („Ein Leben mit dem Onkel“) verfilmt wurde. Der Roman stellt exemplarisch einen Teil eines politischen Narrativs dar, der die kommunistische Repression, im Roman konkret die benachteiligte Lage der Bauern im Sozialismus, mit den nationalen Souveränitätsansprüchen verbindet. Später verfasste Aralica den Roman „Četverored“ („Die Viererreihe“, 1996), in dem er den Versuch unternahm, die Ermordung der Kollaborateure durch Partisanen in Bleiburg einer Revision zu unterziehen. Der kroatische Schriftsteller und ebenfalls Teilnehmer des Kroatischen Frühlings Stjepan Čuić schrieb 1981 den kontroversen Roman „Orden“ („Der Orden“). Sein Roman wurde in Kroatien als Drama inszeniert und gleich danach verboten, da er der Gleichsetzung von Ustascha und Partisanen beschuldigt wurde. Čuić hatte schon mit seinem ersten Roman „Staljinova slika i druge priče“ („Stalins Foto und andere Geschichten“) 1971 die sozialistische Wirklichkeit, die er kritisierte, zum Thema gewählt. Der kroatische Dichter und Übersetzer Slavko Mihalić, einer der Autoren der „Deklaration über den Namen und die Stellung der kroatischen literarischen Sprache“ aus dem Jahre 1967, gehörte 333 Vgl. Dragović Soso: Saviours of the Nation, S. 242. <?page no="134"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 134 ebenfalls mit seinen Themen und politischem Engagement zu den stark national gesinnten kroatischen Dissidenten dieser Zeit. Besonders bekannt war Vlatko Pavletić, Begründer der Literaturzeitschrift „Krugovi“ („Kreisen“, 1952), die sich gegen den sogenannten „Sozialistischen Realismus“ wandte. Pavletić wurde auch politisch als einer der Autoren der „Deklaration über den Namen und die Stellung der kroatischen Sprache“ verfolgt. Nach Titos Abrechnung mit der kroatischen Partei- und Staatsführung 1971 wurde er zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Vlatko Pavletić (ebenso wie Aralica, Čuić und Mihalić) engagierte sich mit Beginn der kroatischen Unabhängigkeit in den 1990er-Jahren politisch sehr erfolgreich und bekleidete mehrere Staatsämter. 334 Der populäre Schriftsteller Antun Šoljan war einer der bekanntesten Autoren im Umfeld der Literaturzeitschrift „Krugovi“. Šoljan schrieb 1974 die Novelle „Der Hafen“ („Luka“), in der er sich kritisch mit der sozialistischen Wirklichkeit auseinandersetzte. Die kritische Auseinandersetzung mit der Tito-Ära in den 1980er-Jahren in Slowenien und Serbien wurde sowohl von den Anhängern der alternativen Szene als auch von den sogenannten kritischen Intellektuellen geführt. Diesen Intellektuellen wurde das Recht zugesprochen, sich als eine Art nationales Gremium selbstständig zu organisieren, und so bekamen Schriftstellerverbände die Rolle der wichtigsten „kulturpolitischen Korporationen“. Der slowenische Schriftstellerverband gewann besonders nach Titos Tod als Vertretung der kulturellen Rechte Sloweniens und als Initative, die „die Rückkehr Sloweniens nach Europa“ propagierte, an Bedeutung. Zu dieser Zeit kam es zu einem intensiven Austausch zwischen Schriftstellern und Intellektuellen aus Serbien und Slowenien. Zwischen beiden nationalen Gruppen gab es keine Territorialstreitigkeiten und Probleme mit den Minderheiten, sodass sich Beziehungen ungestört entwickeln konnten. Die Petition gegen das verbale Delikt in Belgrad bekam in Ljubljana Unterstützung, die Slowenen schlossen sich dem Verteidigungskomitee des serbischen Dichters Gojko Djogo an, dem wegen einiger Zeilen in dem Gedichtband „Vunena vremena“ („Wollene Zeiten“, 1982) „Beleidigung des Ansehens und Werks Titos“ vorgeworfen wurde. Gojko Djoko war der erste Lyriker in Jugoslawien, der mit einem Publikationsverbot und einer Gefängnishaft bestraft wurde. Erstmals stellten sich aber auch in Jugoslawien Schriftsteller und Intellektuelle an die Seite eines Dissidenten und kämpften für die Freiheit des Wortes. Monatelang fanden montags in Belgrad im Haus von Schriftstellern Solidaritätsveranstaltungen für Gojko Djogo statt, der Schriftstellerverband wurde das Zentrum der oppostionellen Aktivitäten. 335 1984 schlug der serbische 334 Nach dem Tod Franjo Tudjmans führte er als vorläufiger Präsident der Republik die Staatsgeschäfte. 335 Mehr zum Thema Schriftstellerverbände in Drinka Gojković: Trauma bez katarze. In: Nebojša Popov (Hrsg.): Srpska strana rata. Trauma i katarza u istorijskom pamćenju. I deo. Beograd: Samizdat 2001, S. 401-431. <?page no="135"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 135 Schriftsteller Dobrica Ćosić die Gründung des Komitees für die Verteidigung der Freiheit des Denkens und der freien Meinungsäußerung vor. Sein Vorschlag fand aber keine wirkliche Unterstützung in Slowenien. 1985 organisierte der slowenische Schriftsteller Taras Kermauner ein Treffen zwischen Ćosić und einigen serbischen Intellektuellen mit den Herausgebern der „Nova Revija“ in Ljubljana. 336 Aus dem Treffen ergab sich jedoch keine gemeinsame politische Aktion, es offenbarten sich unterschiedliche Interessen beider Seiten. Der neunte Kongress des jugoslawischen Schriftstellerverbandes 1985 in Novi Sad vertiefte die bestehenden Unterschiede weiter. So kam es zur offenen Auseinandersetzung zwischen den Vorsitzendern des serbischen und des slowenischen Verbandes Miodrag Bulatović und Ciril Zlobec. Die Beziehungen zwischen den Schriftstellerverbänden wurden allmählich schlechter. Die gegenseitigen Vorwürfe kreisten meistens um die - aus slowenischer Sicht - serbischen Homogenisierungstendenzen und um die - aus serbischer Sicht - slowenischen separatistischen und nationalistischen Ansprüche. Die Situation kulminierte, als der Vorsitz des kommunistischen Bundes Jugoslawien 1987 den Republiken den Vorschlag zu Verfassungsänderungen unterbreitete. Der slowenische Schriftstellerverband und die philosophischen Verbände verabschiedeten z. B. einen eigenen Vorschlag zur neuen Verfassung Sloweniens im März 1988. Der slowenische Schriftstellerverband lobbyierte ununterbrochen gegen den Verfassungsvorschlag, den die damalige slowenische Führung mit zahlreichen Zusatzartikeln doch akzeptierte. Der Verband gründete sogar eine eigene Kommission, die eine alternative slowenische Verfassung ausarbeiten sollte. Der sogenannte „Beitrag zur öffentlichen Debatte über die neue Verfassung“ wurde im serbischen Schriftstellerverband von Dobrica Ćosić vorgestellt und dort diskutiert. Öffentliche Aufmerksamkeit erhielten die serbisch-slowenischen Beziehungen erneut, als eine Reihe von Briefen des slowenischen Schriftstellers Taras Kermauner unter dem Titel „Pisma srpskom prijatelju“ („Die Briefe an den serbischen Freund“) 337 im serbischen Magazin „Nin“ und in der Tageszeitung „Borba“ veröffentlicht wurden. Die Briefe waren als kritischer Dialog mit den serbischen Intellektuellen gedacht. Die Anschauungen Kermauners stießen jedoch auf große Unzufriedenheit und Enttäuschung in Serbien, weil sie als ein weiterer Beweis für den slowenischen Verrat und für Sezessionismus aufgefasst wurden. Einige Jahre später schrieb Kermauner „Briefe an den slowenischen Freund“ („Pisma slovenačkom prijatelju“) 338 , nachdem er sich auch von Kolleginnen aus der „Nova Revija“ getrennt hatte. Die slowenischen und serbischen Schriftsteller diskutierten noch einmal über das Schicksal 336 Vgl. Dragović Soso: Saviours of the Nation. 337 Die Briefe im Orginal erschienen auch in Form des Buches. Vgl. Taras Kermauner: Pisma srbskemu prijatelju. Klagenfurt: Zalozba Drava 1989. 338 Vgl. Taras Kermauner: Pisma slovenskemu prijatelju. Klagenfurt: Zalozba Drava 1989. <?page no="136"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 136 Jugoslawiens im Rahmen der Veranstaltung „Slowenen und Serben heute“, die die P.E.N.-Clubs Serbiens und Sloweniens organisierten. 339 Während die Slowenen die Wichtigkeit, die eigene Nation zu bewahren, hervorhoben, bestanden die serbischen Schriftsteller wie Slobodan Selenić darauf, dass die sozialistische Föderation im Grunde genommen den slowenischen und kroatischen Interessen entsprechend gegründet wurde. Der Katalysator der Massenmobilisierung in Slowenien war die sogenannte Affäre Mladina, die die Slowenen mehr als jede andere organisierte Aktion zuvor vereinte. Es handelte sich um einen Militärprozess gegen vier Slowenen wegen angeblichen Verrates von Militärgeheimnissen. 340 Der Prozess, der in Ljubljana geführt wurde, löste in Slowenien Empörung und Protest aus. Die vier Angeklagten wurden zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt, nicht aber inhaftiert, da die slowenischen Gerichte keinen Strafantritt angeordnet hatten. Grundsätzlich zeichnete sich zu der Zeit eine Tendenz ab, die die jeweilige Nation als ein erst zu schaffendes Gebilde verstand. Einige Intellektuelle in Serbien führten darauf den „Identitätsmangel“ der (auf jugoslawischem Territorium verstreut lebenden) Serben zurück und reklamierten für sich die Rolle von Identitätsschöpfern. Sie sollten diejenigen sein, die die Gemeinschaft als bestimmte und dauerhafte Substanz jenseits ihrer vergänglichen Moleküle formen und auf die Frage nach dem Sein und der Identität der Gemeinschaft Antworten geben würden, indem sie auf Symbole Bezug nähmen und damit eine Verbindung mit einer anderen „Realität“ herstellten. 341 Der „reale Sozialismus“, der dogmatisch auf eine Zukunft, die „sein können muss“, beruhte, zeigte mit der Zeit seine legitimatorischen Defizite in Jugoslawien immer offensichtlicher. Weil er mit der Wirklichkeit nicht mehr Schritt zu halten vermochte, kokettierte er mit dem Nationalismus als einer Art der ideologischen Kommunikation, die die höchste Integrationskraft besitzt. Die konzeptuellen Ähnlichkeiten zwischen Sozialismus und Nationalismus sind auf äquivalente kollektivistische Muster zurückzuführen: Auf politischer Ebene wird hier die partikulare Identität zu einer substanziell bestimmten Kollektivität erhoben. Zudem scheint der kommunistische Zukunftsmythos eines harmonischen und einzig möglichen Zustandes gut mit dem nationalistischen Mythos der Vergangenheit als ehemaligen Naturzustandes der Nation zu korrespondieren. Unter diesem Vorzeichen wurden die jugoslawischen Nationen innerhalb der Republiksgrenzen unter Führung der nationalen Parteizweige von der Kommunistischen Partei homogenisiert. Gerade zu jener Zeit bot sich die Chance an, das kollektivistisch-autoritäre Modell als Grundlage der Identität zu verlassen, die aber nicht wahrgenom- 339 Vgl. Dragović Soso: Saviours of the Nation. 340 Mehr zu Affäre Mladina in: Oto Luthar, Marijeta Šašel-Kos, Igor Grdina, Peter Kos, Petra Svoljšak, Alja Brglez, Dušan Kos, Martin Pogačar: The Land beneath. A History of Slovenia. Ljubljana: Slovenian Academy of Sciences and Arts 2008. S. 490-496. 341 Vgl. Castoriadis: Die Gesellschaft als imaginäre Institution. <?page no="137"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 137 men wurde. Da die nationale Homogenisierung in Gang gesetzt wurde, benötigte sie eher eine synthetische Denkweise. Die Tendenzen am Anfang und am Ende der 1980er-Jahre waren ziemlich gegensätzlich. Während zu Beginn die Demokratisierung des Landes bzw. der Republiken im Vordergrund stand, wurden im Laufe der Zeit die nationalistischen Tendenzen immer stärker. Eine homogene Kultur wurde als die allererste Voraussetzung für die Demokratie verstanden. Ernest Gellner hat - wie bereits erwähnt - darauf aufmerksam gemacht, dass die Formel des modernen Nationalismus „eine Nation, eine Sprache, ein Staat“ 342 lautet. Deswegen wird die Nation als Quelle politischer Legitimität betrachtet. Der Nationalstaat strebt außerdem danach, in einem bestimmten Gebiet, die von ihm regierte Bevölkerung durch kulturelle Homogenisierung zu vereinigen. Der Nationalstaat selbst erhält die Legitimität dadurch, dass er die Nation repräsentiert. Nation ohne Staat beruht auf der Existenz einer kulturellen Gemeinschaft, was zur Herausbildung einer spezifischen nationalen Identität führt. Jedoch steht in diesem Falle der kulturellen Einheit keine politische Einheit gegenüber, da die politische Autonomie nicht zu staatlicher Autonomie reicht. Ausgehend von diesen theoretischen Beobachtungen können die Entwicklungen im damaligen Jugoslawien als in Gang gesetzte Nations- und Staatsbildungsprozesse bezeichnet werden. Diese sogenannten „nationalen Wiedergeburten“ in den Teilrepubliken Ende der 1980er-, Anfang der 1990er- Jahre wiesen auf eine Art der Neuentdeckung des homogenisierten Kulturverständnisses hin und führten zur Verkennung der Tatsache, dass auch die Nationalkulturen einander mehr oder weniger stark durchdringen. Die Elite in einer Gesellschaft konnte und kann, wie schon angeführt, nicht ein nationales Bewusstsein aufzwingen. Sie schlägt einfach eine Definition der Nation, die sich auf den vorhandenen oder erfundenen Traditionen gründet, vor und die jeweilige Population akzeptiert sie, passt sie an, oder verwirft sie. Schließlich werden diese Nationen, deren Elite gut artikulierte und geschickt ausgewählte nationale Visionen haben, geformt. Sie werden Erfolg haben, solange eine andere Gruppe nicht eine besser artikulierte und geschickter ausgewählte Vision anbietet, oder bis sich die Ausgangsvision selbst nicht diskreditiert hat. 343 Nach Anderson ist die Nationalität oder die Zugehörigkeit einer Nation ein Kulturprodukt besonderer Art. 344 Die Nation entfaltet ihre Attraktivität auch als eine Ressourcengemeinschaft, die sie, nur wenn als Staat organisiert und dank der daraus resultierenden legitimen Durchsetzungsmacht, realisieren 342 Laut Gellner solle die Nation mit dem Staat übereinstimmen und den Staat benötigt eine einheitliche Sprache für die Bildungszwecke. 343 Wachtel: Making a Nation, Breaking a Nation, S. 10. 344 Anderson: Imagined Communities, S. 13. <?page no="138"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 138 kann. 345 Dieter Langewische unterscheidet verschiedene Formen der sogenannten Ressourcengemeinschaft Nation wie Verteidigungs- und Machtgemeinschaft, Rechts- und Politikgemeinschaft, Kultur-, Solidar- und Umweltgemeinschaft, Wettbewerbs- und Leistungsgemeinschaft, Leidens- und Opfergemeinschaft. Da Serbien im Unterschied zu Slowenien und Kroatien in der Geschichte schon über einen eigenen Nationalstaat verfügt hatte, begannen einige serbische Intellektuelle immer stärker, die Serben als die universellen Opfer Jugoslawiens zu definieren. Die Enttäuschung mit der jugoslawischen Einigung wurde so zum dominaten Thema einiger bekannter serbischer Schriftsteller. Slobodan Selenić schrieb den Roman „Očevi i oci“ („Väter und Vorväter“, 1985), in dem er den Zerfall der Werte und der bürgerlichen sozialen Ordnung nach dem Sieg des Kommunismus in Serbien thematisierte. Im Roman wird das jugoslawische Projekt überdacht. Selenić kommt darin zur Schlussfolgerung, dass Jugoslawien im Grunde genommen ein serbischer Fehler gewesen ist. Das damals mit Abstand meistgelesene Buch in Serbien war „Knjiga o Milutinu“ („Das Buch über Milutin“) des serbischen Schriftstellers Danko Popović, das innerhalb kurzer Zeit fast 20 Auflagen erreichte und in vielen, auch literarisch weniger interessierten Bevölkerungsschichten sehr populär war. Es handelt sich dabei um einen historischen Roman im Sinne eines Unterhaltungsromans, der eine der klarsten Antworten auf die Frage formuliert, ob Jugoslawien weiter erwünscht sei oder nicht. Die Lebensgeschichte des Hauptcharakters, des serbischen Bauern Milutin, vom Ersten Weltkrieg bis zum Tode im kommunistischen Gefängnis, steht stellvertretend für das ganze serbische Volk und sein Leiden. Der Roman ist in der ersten Person Singular geschrieben und wird im Dialekt und in einer einfachen Sprache erzählt. Milutin hat immer für die Anderen gekämpft und am Ende selbst nichts davon bekommen, im Gegenteil, er zahlt dem Staat auch noch hohe Steuern. Die Hauptfigur stellt so die Frage nach dem Preis des gemeinsamen Landes aus Sicht der Serben und thematisiert die Opfer, die man für die Anderen, wie Slowenen und Kroaten, gebracht hat. Das Werk ist als „eine Art des Programms oder die Summe der nationalen Wahrheiten höchsten Ranges rezipiert worden“ 346 . Als „Stimme des Volkes“ kündigte das Buch die Wiederbelebung des Volksgeistes an, der traditionell eine enorme Wirkungskraft hatte. Gleichzeitig wurde der Topos der verratenen Nation als Opfer eigener falscher Ideale etabliert. 345 Vgl. Dieter Langewiesche: Reich, Nation, Föderation, Deutschland und Europa. München: C. H. Beck 2008, S. 42. 346 Mirko Djordjević: Književnost populističkog talasa. In: Nebojša Popov (Hrsg.): Srpska strana rata. Trauma i katarza u istorijskom pamćenju. I deo, Beograd: Samizdat 2001, S. 431-456, hier S. 438. <?page no="139"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 139 „Das Buch über Milutin“ ist monophon konzipiert. 347 Im Buch wird eine einzige Sichtweise begründet, auch an jenen Stellen, an welchen im Roman unterschiedliche Sichtweisen vorkommen. Deswegen stellt es das Kompendium ethno-historischer Vorurteile dar, die sich in Serbien in den 1990er- Jahren verfestigen. Nach diesen Vorurteilen ist das serbische Volk in der Geschichte missbraucht worden, das serbische Volk war ein naives Opfer jener, denen es den Sieg „auf dem Tablett“ serviert hatte, es verbrüderte sich mit ihnen, um am Ende von ihnen veraten zu werden. Milutin verkörpert als ein einfacher, aufrichtiger Bauer das tragische Schicksal des serbischen Volkes: Ihm wird nach dem Ersten Weltkrieg das Vieh, von dem er lebt, wegen nicht bezahlter Steuern weggenommen; da er deshalb einen Klagebrief an den König richtet, wird er zu einem „informativen Gespräch“ beim Kreisvorstand eingeladen, er verliert im Krieg ein Auge, was er jenen zu verdanken hat, die er selbst befreit hat, sein einziger Sohn kommt 1945 ums Leben; und schließlich endet Milutin im Gefängnis, wo er stirbt. Die Narration verläuft als ein Augenzeugenbericht; der Leser hat den Eindruck, Milutins Stimme fast zu hören, während er seine Worte liest. Diese Unmittelbarkeit wird durch die Wendung an einen anonymen Gesprächspartner, den Miltuin „Neffe“ nennt und in der zweiten Person Singular direkt anspricht, erzielt. So wird ein Gefühl der Vertraulichkeit geschaffen. Die Rede Milutins wirkt so wie die Beichte eines Inhaftierten und wird mit dem zentralserbischen Dialekt kombiniert. Damit verschwindet die Tatsache, dass es sich um einen literarischen Text handelt, der von einem Individuum verfasst wurde, beinahe vollständig. Vielmehr erscheint Milutins Bekenntnis als eine Schnittstelle von Erfahrungen und Gedanken des ganzen Volkes. So wird eine kollektive Autorenschaft suggeriert, und Milutin erscheint als jemand, dem die Vollmacht der kollektiven Körperschaft zu vertreten erteilt wurde. IV.2 Historischer Roman und Stilisierung der Nation zur Opfergemeinschaft Die Idee der Nation als Schicksals- und Opfergemeinschaft hat sich seit der Französischen Revolution etabliert und ist historisch mit der Erfahrung verbunden, dass die Entstehung aller Nationen in Kriegen gründet. „Jedem Mitglied wird die gleiche Pflicht zum heiligen Tod auferlegt. Sichtbar wird das daran, daß nun jeder im Krieg gefallene Soldat, auch der einfache, das Anrecht auf ewiges Gedächtnis der Nation gewinnt.“ 348 Das Leben des Individu- 347 Eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Werk, aber auch mit der so genannten Literatur der populistischen Welle findet sich im oben Zitierten Aufsatz von Mirko Djordjević und in: Milos Živanović, Saša Ilić, Tomislav Marković und Saša Ćirić (Hg.): Srbija kao sprava. Demilitarizacija nacionalne kulture. Beograd: Dan Graf 2007. 348 Langewiesche: Reich, Nation, Föderation, S. 46. <?page no="140"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 140 ums wird so in eine Schicksalsgemeinschaft eingebettet und erhält somit einen „höheren“ Sinn. Damit wird der Forderung nach Einigkeit und Solidarität unter den Gruppenmitgliedern, nach Unterordnung des Individuums unter die Gemeinschaft sowie die Forderung nach Erhalt der Gemeinschaft mit allen Mitteln - notfalls unter Hingabe des eigenen Lebens stattgegeben. Seit den 1980er-Jahren hat sich in den Teilrepubliken die symbolisch integrative Konstruktion der Nation als „union sacreé“ als das Integrationsmodell durchgesetzt. In Serbien wurde die Vision des unterdrückten serbischen Volkes, dem ein historisches Unrecht zugefügt wurde, immer präsenter. In Slowenien klagte man über den Umstand, dass Slowenien nur als jugoslawisches Territorium und nicht als Heimat existiert. Josip Vidmar, der Vorsitzende der slowenischen Akademie der Wissenschaft und Künste hat die Slowenen sogar als tragischstes Volk in Europa bezeichnet. 349 Die Kroaten klagten die Erhaltung ihrer politischen und kulturellen Besonderheiten ein, die durch den sogenannten Jugoslawismus bedroht waren. Die Bezeichungen, die vor allem im Ausland gebräuchlich waren, wie etwa die jugoslawische Adriaküste oder die jugoslawische Sprache, wurden in Kroatien im Laufe der Zeit als Beweis dafür gesehen, dass Kroatien (auch international) nicht in seiner eigener nationalen Besonderheit wahrgenommen wird. Die vermeintlich „bedrohte“ nationale Substanz sollte dauerhaft erhalten werden, weshalb die Kräfte, die diese Aufgabe ausführen sollten, mobilisiert werden sollten. Auffallend ist in dieser Phase, wie schon angedeutet, der Rückgriff auf historische Legitimationen, da Sozialismus und Tito als Legitimationsgrundlage nicht mehr wirksam waren. Seit Hayden White ist, wie schon vorher angedeutet, bekannt, dass nicht die Ereignisse die Geschichte machen, sondern das Erzählen der Ereignisse sie konstituiert. Bereits in den 1970er-Jahren hat White aufgezeigt, dass sich auch das wissenschaftliche Schreiben und die damit verbundenen Erkenntnisse zu Geschichten nicht neutral zur literarischen Form verhält, sondern die gewählte Form einen entscheidenden Einfluss auf die darin hergestellte Geschichte hat. Die historischen Fakten werden nämlich erst in der Sprache als solche konstituiert, sodass es auch für die Geschichtswissenschaft nichts Fassbares außerhalb der Sprache geben kann. 350 Der Gegenstand der Geschichte liegt so nicht mehr in der Vergangenheit, vielmehr geht es um die Konstruktion einer Beziehung zu Vergangenem. Diese Beziehung ist umkämpft und muss immer wieder neu hergestellt werden. Vielleicht aus diesem Grunde wurde der historische Roman mit Themen aus der nationalen Vergangenheit vor allem in Serbien und Kroatien präsenter. Der historische Roman hatte einen erheblichen Anteil bei der Konstruk- 349 Vgl. Soso: Saviours of the Nation, S. 246. 350 Vgl. Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert im Europa. Frankfurt am Main 1994. <?page no="141"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 141 tion nationaler Identitäten, da historische Romane außerdem in vielen Fällen das Nationalgefühl förderten. Dieses Romangenre entstand im 19. Jahrhundert mit der Nation und diente der Emanzipation in Bezug auf andere Nationen. 351 Seine Botschaft kann oft von nationaler Relevanz sein. Der historische Roman erlebte in der Zeit der Romantik, beflügelt von Historismus und politischer Restauration eine starke Konjunktur. Der historische Roman berücksichtigt historische Fakten und verarbeitet sie mit populären Erzähltechniken. Das Spezifikum des historischen Romans ergibt sich aus seiner Stellung im Grenzgebiet zwischen Roman und Historiografie, da der historische Roman meistens Ereignisse aus der nationalen Geschichte thematisiert. Der historische Roman unterstütze die Konstituierung der Nation auch dadurch, dass er vor Feinden der Nation warnt und so die Muster nach welchen Fremdbilder transportiert oder Zugehörigkeiten legitimiert werden sichtbar macht. Der historische Roman erscheint oft mit in Form von Kriegs- und Bauernroman. Die Lehre, die er unterbreitet, erhält so den Anschein des Authentischen. „Die Erinnerung an ein Gestern verpflichtet auf gesellschaftliche Ansprüche, vermittelt aber auch ein Gefühl der Zugehörigkeit.“ 352 Diese findet laut Jan Assmann erst durch „Herstellung eines Beziehungshorizontes über den der Schrift inhärenten Bruch hinweg“ 353 statt, also in Form der textuellen Kohärenz, dessen stärkste Verfestigung der Kanon ist. Die „kanonisierende Stilllegung des Traditionsstroms (aller Texte)“ 354 lässt erst eine Anzahl an nicht zu vergessenden Klassikern entstehen, die der Deutung und Auslegung bedürfen. Diese immer wieder neu gedeuteten, aber eben nicht fortgeschriebenen kanonischen Texte „verkörpern die normativen und formativen Werte einer Gesellschaft, die ‚Wahrheit’“. 355 Eine kollektive Identitätsstiftung und Stabilisierung, die zugleich Basis individueller Identität ist beruht auf dem Kanon. So stiftet der Kanon als Medium einer Individuation durch Vergesellschaftung eine Verbindung zwischen Ich-Identität und kollektiver Identität. „Er repräsentiert das Ganze einer Gesellschaft und zugleich ein Deutungs- und Wertsystem, im Bekenntnis, zu dem sich der Einzelne der Gesellschaft eingliedert und als deren Mitglied seine Identität aufbaut.“ 356 Der Kanon steht somit im Mittelpunkt der Erinnerungskultur einer Gemeinschaft, die auf die Imagination einer zeitlich weit zurückreichenden Konti- 351 Vgl. Johannes Süßman: Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstruktionslogik von Geschichtserzählungen zwischen Schiller und Ranke (1780-1824). Stuttgart: Steiner 2000. 352 Siehe dazu Hans Vilmar Geppert: Der historische Roman. Geschichte umerzählt - von Walter Scott bis zur Gegenwart. Tübingen: Francke Verlag 2009. 353 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C. H. Beck 1992, S. 101. 354 Ebd., S. 93. 355 Ebd., S. 94 356 Ebd., S. 127. <?page no="142"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 142 nuität angewiesen ist, um sich selbst und damit jedem Einzelnen eine Identität zuzuweisen. Den vierbändigen Roman „Vreme Smrti“ („Die Zeit des Todes“ Bd. I-II 1972; Bd. III 1975; Bd. IV 1979) von Dobrica Ćosić kann man auch in diesem Sinne betrachten. „Die Zeit des Todes“ ist die Fortsetzung des ersten Bandes des Romans „Vreme zla“ („Die Zeit des Bösen“), die mit dem dritten Roman „Vreme moći“ („Die Zeit der Macht“) endet. Damit hat Ćosić eine umfassende Folge von Romanen verfasst, die als eine symbolische Inszenierung der Geschichte Serbiens vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg zu deuten ist. In der Romanserie schildert Ćosić die historischen Ereignisse in den Kriegsjahren 1915/ 1916, den Widerstand der schwächeren serbischen Armee, deren Zusammenbruch und den Rückzug von Hof und Militär über die albanischen Berge auf die griechische Insel Korfu. Seinen Helden stellen sich die ganze Zeit die Frage, ob der neue jugoslawische Staat, der mit der Deklaration von Korfu 1917 vereinbart wurde, imstande sein werde, diese serbische Aufopferung zu schätzen. Dabei verortet Ćosić im Feld der Geschichte den Fluchtpunkt seiner künstlerischen Imagination, aber auch zu jenem seiner „denkenden Hoffnung“. Sein literarischer Diskurs ist nicht zu trennen vom spezifischen politischen Kontext des damaligen Jugoslawien wie spezielle Maßgaben der politischen Rede und Symbolik sowie der offiziösen Historiografie. Ćosić entwirft die These, dass das historische Bewusstsein des serbischen Volkes mit der Entstehung des jugoslawischen Staates 1918 eine langfristig prägende Niederlage erlitten habe. Schon in seiner Rede zum Thema „Literatur und Geschichte heute“, die Ćosić nach seiner Aufnahme in die Serbische Akademie der Wissenschaft und Künste im März 1977 hielt, sagte er: Es ist traurig, zu einer Nation zu gehören, die in diesem Grade gescheitert ist, Väter und Vorfahren zu haben, die so viel leiden mussten; es ist tragisch, der Nachfahre einer Nation zu sein, die gezwungen wurde, mehr Kraft für den Krieg als für den Frieden aufzuwenden, die sich nach dem schwierigsten und größten Sieg in der serbischen Geschichte in der Lage fand, keine Kraft für den Frieden zu haben ... Es ist noch tragischer, kontinuierlich als Schuldiger gesehen zu werden, weil man der Sohn, Enkel oder einfach nur ein Nachfahre jener ist, die mit Enthusiasmus, aber bewusst und fälschlicherweise, für Freiheit und Einheit zwischen 1912 und 1918 gekämpft haben. 357 Ćosićs Rede bildet eine Art metahistorische Wahrnehmung von Geschichte und Gesellschaft und kann als Teil eines sich zu dieser Zeit gerade etablierenden Diskurses einer Opfermythologie gesehen werden. In seiner Antrittsrede in der Akademie bezeichnete Ćosić zum ersten Mal öffentlich die Gründung Jugoslawiens und den Partisanenkampf als einen tragischen Irrtum. 358 357 Dobrica Ćosić: Stvarno i moguće. Ljubljana/ Zagreb: Cankarijeva založba 1988, S. 132. 358 Vgl. Soso: Spasioci nacije, S.143. <?page no="143"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 143 So sieht Ćosić seine Aufgabe in „der Suche nach der verlorenen individuellen und kollektiven Identität“, der „Suche nach jenen Zeiten, in denen sich diese Identität aufspüren lässt. 359 Ćosićs Rede durfte nicht veröffentlicht werden und wurde erst in einer Essaysammlung unter dem Titel „Stvarno i moguće“ („Wirklich und möglich“) 1983 gedruckt. In „Zeit des Todes“ erscheint das serbische Volk in der Gestalt einer leidenden Opfergemeinschaft: als unüberblickbares Soldatenheer mit zahlreichen Verwundeten, die im Krankenbett sterben, als marodierende Kolonnen, die durch niedergebranntes Land ziehen, schließlich als Menschenmassen, die vor dem Parlamentsgebäude protestieren. Dabei situiert sich der Erzähler gegenüber seinen Hauptakteuren gewissermaßen patriarchalisch: mitleidend und besorgt, aber auch belehrend. Ćosić entwirft letztlich ein Bild von Serbien, das ihm in einer geschichtstheologischen Wendung Züge von Demütigung, Unterwerfung und Entrechtung zuspricht. Schicksal, Versuchung und Fortexistieren sind die Kategorien, die er mit philosophischem Interesse auf die Geschichte Serbiens und deren determinierten Verlauf bezieht. Wunden und Unrecht werden regelrecht zu allegorischen Attributen des serbischen Wesens, das, so der suggestive Unterton des Textes, eine geistige und moralische Erneuerung benötigt. Durch Integration von Briefen, Notizen, Pamphleten, Befehlen, Mitteilungen und Zeitungsberichten erhält sein Erzähltext eine dokumentarische Grundierung. Ćosićs Akteure entsprechen zuweilen historischen Figuren, die eine Bindung zwischen Kollektiv und Individuum herstellen und sich somit als Schöpfer der Geschichte erweisen, zugleich aber selbst dem Sog des historischen Feldes ausgesetzt sind. Mit diesem Text deklarierte sich Ćosić als Vater der Nation, der dem sozialen Leben in Serbien eine symbolische Bedeutung verleiht. Signifikanterweise ging diese diskursive Ermächtigung jener Zeit voraus, in der er das Memorandum der serbischen Akademie der Wissenschaft und Künste mitverfassen sollte. Die kollektive Erinnerung konstituierte er mit dem Roman im Sinne eines Geschichtsbuchs, das der Gesellschaft zur Bildung eines historischen und im jugoslawischen Staatskonstrukt verlorengegangenen nationalen Bewusstseins zu dienen habe. Als Vertreter der sogenannten Sinngebungseliten wurde Ćosić schließlich das Recht zugesprochen, die Vergangenheit und Gegenwart der Nation zu deuten und ihr damit auch den Weg in die Zukunft zu weisen. Im Rückgriff auf die Vergangenheit wird der Nation Beständigkeit und Dauer attestiert, und so bekommt das Leben der Einzelnen durch die Einbindung in die Schicksalsgemeinschaft einen höheren, ja transzendenten Sinn. Der literarische Diskurs Ćosićs stellt einen Versuch dar, sich selbst bis zum ontologischen Grund des eigenen kollektiven und subjektiven Wesens zu erkennen und somit den historischen Geist der Nation wiederzuerwecken. Diese iden- 359 Ćosić: Stvarno i moguće, S.129. <?page no="144"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 144 titätspolitischen Aspekte bilden laut Ćosić den Kern allen Humanismus: Die Gemeinschaft wird als bestimmte und dauerhafte Substanz jenseits ihrer vergänglichen Moleküle gesetzt; die Lebensform des Einzelmenschen ist gerade eine Funktion dieser gemeinschaftlichen Seinsweise; und es ist einer „nationalen“ Literatur im Sinne Ćosićs aufgegeben, den Grund der Gemeinschaft wie der Einzelexistenz als symbolischer zu enthüllen. Insofern ist es seine Literatur, die den Möglichkeitsspielraum einer „anderen“ Realität auszuschöpfen vermag. Und diese Poetik Ćosićs liegt seiner kulturpolitischen Doktrin immer schon zugrunde. Ivan Aralica, der schon erwähnte kroatische Schriftsteller aus der Herzegowina, beanspruchte diese aufklärende Rolle eines Vaters der Nation für Kroatien. Aralica wurde oft auch als „höfischer Schriftsteller“ von Franjo Tudjman benannt, da er in Kroatien erst in der „Tudjman-Ära“ zu einem viel gelesenen und bekannten Schriftsteller erzählerischer Prosa mit hohen Auflagen avancierte. In der Nachkriegszeit arbeitete Aralica als Lehrer in den unterentwickelten Dörfern im Hinterland der nördlichen und zentraldalmatinischen Küste. In den 1960er-Jahren veröffentlichte er seine ersten Prosawerke, bekam aber kaum positive Kritiken. Sein erster Erfolg stellte sich mit einer Trilogie ein, welche die Romane „Put bez sna“ („Traumloser Weg“, 1982), „Duše robova“ („Die Seelen der Sklaven“, 1984), und „Graditelj svratišta“ („Der Erbauer des Gasthofs“, 1986) umfasste. Die Handlung der Romane wird in der Zeit zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert lokalisiert und erzählt vorwiegend vom historischen Fatum des kroatischen Volks, das unter der Fremdherrschaft der k. u. k. Monarchie, des Osmanischen Reichs, Venetiens und letztlich - laut Aralica - auch Jugoslawiens leben musste. Wie die Bücher seines nationalistischen Gleichgesinnten aus Serbien Dobrica Ćosić können die Romane von Aralica als moderne Versionen der Geschichte von Blut und Boden, die das patriarchalische dörfliche Leben preisen, interpretiert werden; im Allgemeinen sind sie der kroatischen Idee gewidmet. 360 Aralica befürwortet die Rückkehr zur Tradition, die mit der Metapaher „ognjište“ („Herdfeuer“) symbolisiert wird. Seine historio- und ethnozentrischen Romane versuchen eine gewisse ethische Deutung der Geschichte zu liefern. Diese Intention ist meistens mit einem metahistorischen Hintergrund verbunden, der auf dem nationalen Mythos und der patriarchalischen Weltanschauung beruht. Im Zentrum der Trilogie Aralicas stehen die Ereignisse in den Umbruchszeiten der nationalen Geschichte Kroatiens in den letzten 150 Jahren. In allen drei Romanen werden die Versuchungen des kroatischen Volkes im dalmatinischen Hinterland und sein Kampf ums Überleben thematisiert. Den dunklen Bildern der Vergangenheit, die durch Kriege, Gewalt, Verteibung, Unter- 360 Wachtel: Remaining Relevant after Communism, S. 133. <?page no="145"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 145 werfung und Vernichtung gekennzeichnet sind, werden die ethische Würde der bedrohten Ethnie und ihrer hervorragenden Persönlichkeiten entgegengesetzt. Diese Würde beruht auf dem geschriebenen und ungeschriebenen Kodex, der die religiöse und nationale Tradition hinterlassen hat. Vielleicht besteht Aralica deswegen so sehr auf kulturellen und ethnologischen Angaben, auf die langen und detallierten Beschreibungen von verschiedenen Formen autochthoner Kultur. Aralica beschreibt in seinen Romanen sehr detailliert die historischen, geopolitischen, militärischen, kulturellen, religiösen, wirtschaftlichen und geografischen Hintergründe der damaligen Zeit. Aralica scheint als ein echter Romantiker an den Sieg einer höheren Gerechtigkeit, den Sieg des Gemeinsinns und der Verwirklichung der kollektiven Ideale zu glauben. Dies alles leitet den narrativen Verlauf der Erzählung, weshalb sich der Erzähler auch stetiger moralischer Reflexionen bedient. Die narrative Strategie Aralicas umfasst das stetige moralisierende Kommentieren der Ereignisse, die extensive Begründung seiner Thesen, überzogene Explikativität und aufklärerisches Design. Dazu sollte man auch die stetige Tendenz zur Verallgemeinung, Belehrung, Hervorhebung der Weisheit des Volkes und die gnomischen Konstruktionen hinzufügen. Deswegen gewinnt die alte Instanz eines monolithischen, überall anwesenden und übergeordneten Erzählers - des einzigen Herrn über die Geschichte - an Bedeutung. In einer solchen Konzeption wird dem Leser wenig Freiheit für das eigene Beurteilen gegeben, alles wird statt ihm vom autoritären Erzähler - dem Moralisten erledigt. Er beaufsichtigt alles, misst alles, beurteilt und usurpiert so den ganzen Raum - narrativ und hermeneutisch. 361 Wie Ćosić sieht auch Aralica seine Rolle in der Konservierung der wahren Identität und der ethnischen Würde. Die Frage der Identität ist das Hauptthema seines Romans „Duše robova“ („Die Seelen der Sklaven“), der - folgt man der Kritik - der am besten schriftstellerisch gelungene Roman der Trilogie ist. Im Roman geht es auch um den Kampf zwischen Islam und Christentum, womit Aralica die Tradition von Nobelpreisträger Ivo Andrić fortzusetzen versucht. Der Roman spielt in Bosnien bzw. der Herzegowina im dalmatinischen Hinterland im 18. Jahrhundert, zur Zeit der osmanischen Herrschaft. Die Geschichte ereignet sich im Grenzbereich zwischen dem osmanisch beherrschten Bosnien und dem venezianisch besetzten dalmatinischen Hinterland in der Zeit des langsamen Niedergangs des Osmanischen Reiches im 18. Jahrhundert. Der Hauptprotagonist der Geschichte ist der junge kroatische Schmied Matija Grabovac, der durch Zufall zum Besitzer des Sklaven Mesud wird. Der Protagonist, der seinen als Kriegsbeute erhaltenen Sklaven auf dem Sklavenmarkt verkaufen soll, lässt stattdessen aber den inzwischen zum Freund gewordenen Muslim frei, indem er unter Einsatz 361 Krešimir Nemec: Povijest hrvatskog romana od 1945 do 2000 godine, Školska knjiga. Zagreb 2003, S. 270-271. <?page no="146"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 146 seines Lebens seine eigene Freiheit riskiert. Die zwei jungen Männer schließen Blutsbrüderschaft, bevor sie sich wieder trennen. Sie geraten zwischen die Fronten zweier Weltmächte des 18. Jahrhunderts und werden zum Spielball der Religionen. Ähnlich wie Ćosić integriert Aralica die militärischen und politischen Tatsachen der damaligen Zeit und lässt die Geschichte wie einen Zeugenbericht erscheinen. Die Haupthelden bei Aralica haben meistens drei verschiedene Rollen. Sie sind die authentischen Zeugen der Epoche, in der sie leben, dann fungieren sie als die Stimme des Volkes bzw. als Exponenten des unterjochten Kollektivs und seines Schicksals und schließlich als metaphorische Figuren, die die Ethik und Poetik des Autors ausdrücken und somit die ganze romaneske Struktur tragen. Ihnen gegnüber stehen die Gestalten der Herrscher, welche die gegensätzliche Weltanschauung vertreten und deswegen als Feinde und negativ dargestellt werden. Die Hauptnarration ist dem allwissenden Erzähler anvertraut, der sich seiner Überlegenheit wohl bewusst ist. Nach Miran Hladnik ist „der Textkorpus des slowenischen historischen Romans nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Fünftel sichtlich von der nationalbezogenen Thematik geprägt“ 362 . Während der Achtzigerjahre ist auch in Slowenien in Folge des schon dargelegten politischen Wandels eine verstärkte Präsenz der nationalen Problematik, die im historischen Roman ihren Ausdruck fand, zu beobachten. Im Unterschied zu Serbien und Kroatien ist zu dieser Zeit in Slowenien die Unsicherheit bezüglich der eigenen Geschichte zu spüren. Einige Romane wie „Maks“ 363 („Max“, 1982) von Dimitrij Rupel reflektieren darüber, ob die Zeit, selbstständig zu sein, reif sei. Der Titel des Romans birgt ein Wortspiel in sich mit den Namen des Kaisers Max (Maximilian Ferdinand, 1832-1867), des Philosophen Karl Marx (1818- 1883) und des Kriegsgottes Mars. Nach Georg Lukács hat der historische Roman jene Entwicklungen zu erfassen, die zur Gegenwart geführt haben. 364 Maximilian Ferdinand und seine Frau Charlotte unterstützen im 19. Jahrhundert das wachsende slowenische Nationalbewusstsein. Nach ihrem Tod müssen die frühen slowenischen Nationalisten aus Slowenien emigrieren. Der Hauptheld des Romans, der Historiker Baldad, forscht über das Leben Maximilians, des habsburgischen Erzherzogs, der später als Kaiser von Mexiko inthronisiert wurde. Maximilian wurde von dem Rebellen Benito Juarez getötet und seine Armee zerschlagen. Professor Baldad stirbt auf merkwürdige Weise, als er von einem Auto mit Wiener Kennzeichen überfahren wird. Sein 362 Miran Hladnik: Zum Konzept der Nation im slowenischen historischen Nachkriegsroman. In: Angela Richter, Barbara Beyer (Hrsg.): Geschiche (ge-)brauchen. Literatur und Geschichtskultur im Staatssozialismus: Jugoslawien und Bulgarien. Berlin: Frank&Time 2006, S. 261-269, hier S. 261. 363 Vgl. Dimitrij Rupel: Maks: Roman o marksizmu ali Boj med večno il velično. Koper: Lipa 1982. 364 Vgl. Georg Lukács: Der historische Roman. Berlin: Aufbau 1955. <?page no="147"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 147 Tod deckt sich sowohl mit dem Begräbnis Titos als auch mit der Beschreibung des Begräbnisses von Maximilian. Die aktuelle politische Aussage des Romans ist evident: Ebenso wie vor mehr als einhundert Jahren sind auch heute die Bedingungen für die Realisierung slowenischer nationaler Ziele, insbesondere für den Übergang von Jugoslavien bzw. vom Balkan nach Westeuropa, noch nicht reif. 365 IV.3 Die Vergegenwärtigung des Vergangenen - Symbolische Re-Inszenierung 366 Zwischen 1980 und 1990 wird nicht nur das Zugehörigkeitsgefühl zum jugoslawischen Staat infrage gestellt, sondern es erfolgt auch ein Rückgriff auf die „ursprünglichen“ (vorjugoslawischen) Identitäten. Jugoslawien wurde allmählich zu einem Niemandsland, in dem alle Nationen bedroht waren. 367 So schrieb der bekannteste slowenische Schriftsteller Drago Jančar in den Beiträgen für das slowenische nationale Programm 368 : Ob dieser Staat Österreich-Ungarn nun hieß, Königreich Jugoslawien, DFJ, FNRJ oder SFRJ, nie war dieser Staat im Ganzen mit der Heimat oder mit dem Volk identisch. Er war nie die Heimat. Der Staat, aus dem sie (Slowenen im Exil) fortgingen, hieß niemals Slowenien. 369 Besonders seit 1989 setzte ein intensiver Prozess der literarischen und institutionellen Nationalisierung ein, der die Konstruktion der „wahren“ bzw. „natürlichen“ Identität zum Ziel hatte. Wenn etwas natürlich ist, ist es als notwendig und unausweichlich bewiesen und gilt damit auch als zeitlos und universell. Die Nation, die die symbolische Sinnwelt einer Gemeinschaft verkörpert, rückte so wieder ins Zentrum des politischen Feldes und setzte eine Reihe von Vorstellungen in Gang, die eine neue Herrschaft für ihre symbolische Legitimität und somit für ihre symbolische Macht benötigte. Die sogenannten „nationalen Wiedergeburten“ in den jugoslawischen Teilrepubliken wiesen auf die Aktivierung der Vergangenheit hin, da Sinnbildung und 365 Hladnik: Zum Konzept der Nation, S. 265. 366 Einige Teile dieses Kapitels wurden verkürzt in: Emilija Mančić : Narrative der Zusammengehörigkeit, Narrative der Differenz. Zur kulturellen Konstitution sozialer Integration und Desintegration Jugoslawiens. in: Sammelband „Kulturen der Differenz. Transformationsprozesse in Zentraleuropa nach 1989“ (Hg. Fassman, F., Müller-Funk, W., Uhl, H.), Göttingen: Vienna University Press, September 2009 publiziert. 367 Vgl. Milosavljević: Jugoslavija kao zabluda. In: Popov (Hrsg): Srpska strana rata, S. 95. 368 Beiträge für das slowenische nationale Programm wurden in der Zeitschrift „Nova Revija“ 1987 veröffentlicht. 369 Jančar, zitiert nach: Milosavljević: Jugoslavija kao zabluda in: Popov (Hrsg): Srpska strana rata, S.95. <?page no="148"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 148 Identitätskonstitutionen untrennbar in Erinnerungsprozesse eingebunden sind. Da die Gesellschaften die Vergangenheit in erster Linie zum Zwecke ihrer Selbstdefinition brauchen, ist diese Vergangenheit zugleich lebendige Gegenwart und nie nur „Geschichte“ im Sinne eines historiografischen „Stillgestellten“ oder „Abgelegten“. Nach Pierre Nora ist dem Übergang vom Gedächtnis zur Geschichte jeder Gruppe die Pflicht auferlegt, durch Wiederbelebung der eigenen Geschichte die eigene Identität neu zu definieren. 370 Der Transfer des Gedächtnisses bezeichnet eine entscheidende Verschiebung: vom Historischen zum Psychologischen, vom Sozialen zum Individuellen, vom Übertragbaren zum Subjektiven, von der kollektiv-mechanischen Wiederholung zur partikular-schöpferischen Wiedererinnerung. Sie verpflichtet jeden, sich zu erinnern, und macht aus der Wiedergewinnung einer Zugehörigkeit das Prinzip und das Geheimnis der Identität. 371 Infolge der Identitätsverunsicherung kann es zu einer verstärkten und erneuten Hinwendung zu bestimmten Gruppen oder Gemeinschaften wie z. B. Religion, Nation bzw. ethnischen Minderheiten kommen. Der Prozess der Reethnisierung bzw. der Rückbesinnung auf ethnische Zugehörigkeit setzte mit der Vergegenwärtigung des Vergangenen ebenfalls in den kulturellen Praktiken wie Feiern von Jubiläen, Mobilisierungen verschiedener Art, Organisation von Massenversammlungen sowie der Konstruktion und Wiedererfindung von Traditionen an. Als symbolische Inszenierung und Re-Inszenierung erhielten die Ereignisse aus der Geschichte, als Element kollektiver Geschichte, ein neues Gewicht. So ist die Bildung kultureller Identität als ein Prozess symbolischer Einheitsbildung und Individuation zu verstehen. Die Kontinuität kultureller Identitätslinien wird über die Schaffung symbolischer Bezugspunkte hergestellt. Bestimmte exponierte Momente der Geschichte werden zu bezugsfähigen Einheiten verdichtet, die durch wiederholte symbolische Inszenierung ihre Bestätigung bekommen. In der kulturellen Praxis stellt das Gedächtnis im Unterschied zur mechanischen Speicherung ähnlich dem individuellen Erinnern einen produktiven Prozess dar, der aus der gegenwärtigen Perspektive wahrgenommen wird. Die Vergangenheitskonstruktionen von Gemeinschaften wie Nationen sind laut Assman dem Funktionsgedächtnis zuzurechnen. 372 Sinn und Identitätsstiftung sind mit dem Funktionsgedächtnis verbunden, da die Vergangenheit rekonstruiert und konstruiert wird, um sie den aktuellen Bedürfnissen zu unterwerfen. Indem Vergangenes über narrative Operationen aktualisiert wird, entsteht der Sinn, und dem Erzählen kommt eine konstitutive Rolle in 370 Vgl. Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2001. 371 Ebd., S. 26. 372 Vgl. Aleida Assman: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C. H. Beck 1999. <?page no="149"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 149 Bezug auf die Zeit zu. Die Zeit wird zuerst über die narrative Erinnerung fassbar, Sinn ist daher nie gegenwärtig. Erzählungen sind nach Ricœur das Medium, in dem das Selbst in seiner Zeitlichkeit sich in einer Form von Identität konstituiert, die nicht auf ein substanzielles Etwas rekurrieren muss. Die Differenz zwischen Gestern und Heute wird verwischt, da Erinnerung und Gedächtnis nur wenig dem System einer einheitlichen Zeit und einer kausal logische Diachronie folgen. Vielmehr sind sie den mythischen Denkmodellen nah. Dem Neuen und Gegenwärtigen wird ein vermeintlich Altes entgegengestellt, das das vermeintlich Dauerhafte, das Beständige, das Echte, Klare und Einfache im Unterschied zur sich verändernden Jetzt-Zeit repräsentiert. Auf diese Entwicklung und ihre Bedingungen, mit der eine dynamische Beziehung zur Jetztzeit hergestellt wird, wurde auch im ersten Kapitel hingewiesen. Wie Giesen in seiner Studie zu kollektiven Identitäten angedeutet hat, lässt sich anhand der Analyse ritueller Praktiken und symbolischer Repräsentationen aufzeigen, wie genau die kollektive Identität inszeniert („in Szene gesetzt“) und bekräftigt wird. 373 Gerade bei der Ausübung kultureller Praktiken findet die rituelle und symbolische Inszenierung von nationaler Zugehörigkeit statt. Gerade in Ritualen kommt die vorgestellte Gleichartigkeit der Mitglieder einer Gemeinschaft zum Vorschein und kann sich besonders dann als kollektive Identität imaginieren, wenn sich die betreffende Gruppe „nach außen“ präsentiert, bzw. gegen Andere abgrenzen will. Gemeinschaftlichkeit beruht dabei auf der „symbolisch vermittelte[n] Verständigung, die von allen geteilt werden muß“ 374 . Das historische Jubiläum und die im Jubiläum inszenierte Geschichte bieten so die Möglichkeit eines Reproduktionsprozesses kollektiver Identität. Da der Prozess bestimmter Praktiken und Medien bedarf, wird in den Feierlichkeiten anlässlich der neu eingeführten Jubiläen Geschichte neu ausgehandelt, etabliert, vermittelt und angeeignet. Über die Rückbindung an die - gegebenenfalls durch Verewigungsstrategien verlängerte - Vergangenheit soll jene Dauer signalisiert werden, die nicht nur Tradition meint, sondern zugleich Zukunft verspricht. Denn die Erinnerungssituation wird ja nicht nur mit den vergangenen Erfahrungen in Beziehung gesetzt, sondern auch zu künftigen Erwartungen. [...] Die im Jubiläum inszenierte Geschichte ist kein auf ein Verfallsdatum zulaufender Niedergang, sondern ein mit Hoffnungen und Wünschen besetzter Merkposten. 375 373 Vgl. Giesen: Kollektive Identitäten, S. 102. 374 Ebd., S. 18. 375 Winfried Müller: Das historische Jubiläum. Zur Geschichtlichkeit einer Zeitkonstruktion. In: Winfried Müller (Hrsg.): Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus. Münster: LIT 2004, S. 1 - 77, hier S. 2. <?page no="150"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 150 Der Rekurs auf ein historisches Jubiläum sagt weniger etwas über das Ereignis selbst aus, sondern gibt uns vor allem Auskunft über über die politische Situation und die aktuelle Bedürfnislage der jeweiligen Gegenwart. Nach Aleida Assmann können drei wichtige Funktionen von Jubiläen unterschieden werden. Sie bieten zuerst die Anlässe für Interaktion und Partizipation, da die performative Form der „Wieder-Holung“ und Reaktivierung die Möglichkeit zu neuen und gemeinsamen Erfahrungsbildungen darstellt. Zweitens bieten sie die Gelegenheit für Wir-Inszenierungen. Gemeinschaften benötigen „eine Bühne und ein Zeitfenster, in dem sie sich von Zeit zu Zeit als das darstellen und wahrnehmen können, was sie zu sein beanspruchen: eine kollektive Identität mit einem wahrnehmbaren Profil in der Anonymität der individualisierten, demokratischen Gesellschaft“. 376 Zuletzt geben die Jubiläen Anstoß zur Reflexion. 377 In diesem Sinne wäre auch der 600. Jahrestag der Schlacht von Kosovo im Jahre 1989 in Serbien zu deuten. Die Gedenkfeier geriet mit medialer Begleitung zu einem Riesenspektakel mit mehr als einer Million Besucher, besonders da der Kosovo-Mythos im sozialistischen Jugoslawien keine bedeutende Rolle gespielt hatte. Neben einer Wir-Inszenierung fand auch die Selbst- Inszenierung von Slobodan Milošević und die Legitimierung des neuen Regimes statt. Milošević inszenierte sich wie früher Tito als symbolische Integrationsfigur der Nation. Die Rede Miloševićs, die von der Berufung auf die historische Erzählung von Entzweiung, Fremdherrschaft und Befreiung handelte, thematisierte auch die zwei Hauptmotive der Kosovo-Überlieferung: das Heldenmotiv und das Motiv des Verrats als die zweite Wurzel der Legende vom Amselfeld. So schenkte Milošević der Frage der Uneinigkeit in seiner Rede besondere Aufmerksamkeit: Den Serben ist in Erinnerung, dass die Uneinigkeit entscheidend war für die verlorene Schlacht und für das üble Schicksal, das Serbien über fünf Jahrhunderte zu ertragen hatte. Aber auch wenn es vom geschichtlichen Gesichtspunkt nicht so wäre, bleibt sicher, dass die Menschen Uneinigkeit als ihr größtes Unglück erfahren. Die Verpflichtung der Nation ist daher dies zu vermeiden, um sich in Zukunft vor Niederlagen, Versagen und Stagnation zu schützen. Dem serbischen Volk ist in diesem Jahr die Notwendigkeit gemeinsamer Harmonie als unvermeidbare Bedingung für das heutige Leben sowie die weitere Entwicklung bewusst geworden. Ich bin sicher, dass das Bewusstsein für die Notwendigkeit der Harmonie und Einheit Serbien nicht nur als Staat funktionieren lässt, sondern auch als erfolgreichen Staat agieren lässt. Deshalb denke ich, dass es Sinn macht, dies hier in Kosovo zu sagen, wo Uneinigkeit einmal schon in tragischer Form Serbien zurückgehalten und 376 Aleida Assmann: Jahrestage - Denkmäler in der Zeit. In: Paul Münch (Hrsg.): Jubiläum. Zur Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung. Essen 2005, S. 310 - 311. 377 Ebd. <?page no="151"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 151 gefährdet hat, und wo wiederhergestellte Harmonie es Serbien ermöglicht, Fortschritte zu machen und die Würde wieder herzustellen. Und ein derartiges Bewusstsein über gegenseitige Beziehungen repräsentiert ebenfalls für Jugoslawien eine elementare Notwendigkeit, da sein Schicksal in den Händen aller seiner Bürger liegt. 378 Die Verknüpfung historischer Opfermythen mit einem aktuellen Bedrohungsszenario angesichts der damaligen politischen Situation im Lande sollte die Bevölkerung vereinen und mobilisieren. Dazu kommt auch noch die Utopie des nationalen Mythos, die im Bild einer einigen und einheitlichen (Männer-) Gemeinschaft besteht, die sich nach einer in der Vergangenheit erfolgten Entzweiung derart wiedervereint, dass in dieser Gemeinschaft jedwede Entfremdung aufgehoben ist. 379 Die Worte eines Belgrader Philosophieprofessors beim zweiten Kongress der serbischen Intellektuellen 1994 illustrieren sehr deutlich, zu welchem Zweck diese Massenversammlungen initiiert wurden: Die nationale Idee ist nicht eine abstrakte und theoretische, sie kann nicht rational, weder von außen noch von innen erreicht werden, sondern mittels Leidenschaft, Liebe, Solidarität, Mitleiden und durch die Aneignung der mythologischen Vergangenheit. 380 Drei Jahre davor, also 1986, waren anlässlich des 200-jährigen Geburtstags von Vuk Karadžić zahlreiche Veranstaltungen in Serbien organisiert worden, um an sein Identitätskonzept zu erinnern. Die Sprachreform von Vuk Karadžić im 19. Jahrhundert stellte auch ein Konzept der nationalen Selbstauslegung in Serbien dar. Seine Reform bedeutete, wie schon im zweiten Kapitel näher erläutert wurde, eine radikale Veränderung des bisherigen Usus, da sich Vuk Karadžić dabei ganz auf die „Volkssprache“ und auf die „Volksdichtung“ stützte, und hier insbesondere auf die von ihm gesammelten Heldenepen. Das Jubiläum unter dem Namen „Dva veka Vuka“ („Zwei Jahrzehnten Vuk“) wurde auch für die Promotion der kyrillischen Schrift und des „ursprünglichen“ Kulturbewusstseins des serbischen Volkes benützt. Das von Vuk Karadžić konzipierte Kulturkonzept wurde wieder aktualisiert und führte bald danach als Höhepunkt zu einer Art Mobilisierung, die unter dem Motto „Das Volk hat sich ereignet“ stattfand. Dazu kam eine weitere Mobilisierungsaktion der breiten Massen, die sogenannte „antibürokratische Revolution“, die Massenversammlungen auf der Straße als eine Art nicht-institutionalisiertes Mittel zur Erreichung politischer Ziele einführte. So kam es zu der paradoxen Situation, dass im Lande gleichzeitig die internationalistischen, 378 politik de. Information, Diskussion, Interaktion. http: / / forum.politik.de/ forum/ aussen politik/ 7513-rede-von-slobodan-milosevic-am-28-juni-1989-gazimestan-kosovo.html (abgerufen am 10. 11. 2009) 379 Vgl. Müller-Funk: Die Kultur S. 105. 380 Zitiert nach Dimitrijević: Slučaj Jugosalavija, S. 89. <?page no="152"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 152 sozialistischen Ideale und der ethno-nationalistische Traditionalismus nebeneinander existierten. Die Benützung der Tradition und des Traditionalismus als Legitimationsquelle des Regimes hatte auch in Kroatien eine sehr bedeutende Funktion. Das neue Regime mit Franjo Tudjman inszenierte sich so als Verwirklicher der Tradition des neunhundert Jahre alten Traums einer Nation. 381 Dabei wurden die traditionellen Symbole, Mythen und Praktiken zu Haupstützen der Politik. Die alten Helden wie die mittelalterlichen kroatischen Könige Tomislav und Zvonimir, die Uskoken und die Volkshelden Mijat Tomić und Ivo Senjanin sowie nationale Ideologen wie Ante Starčević und Stjepan Radić wurden unaufhörlich in den Medien, mittels öffentlicher Reden und durch Bildungsinstitutionen in Erinnerung gerufen. Dazu wurden die traditionellen männlichen Werte wie Heldentum und Kampfbereitschaft wachgerufen und ein sogenannter „kroatische Kult“ ins Leben gerufen. 382 Der Mythos vom Märtyrertum in Bleiburg wurde mit dem serbischen Mythos über Jasenovac gleichgesetzt. 383 Darüber hinaus wurden der Kroatische Frühling und die kroatischen politischen Emigranten mythologisiert. Es wurden neue Jubiläen wie der Tag der Dankbarkeit als Tag der Erinnerung an den Sieg der kroatischen Armee in der Operation „Oluja“ („Der Sturm“) im Jahre 1995 eingeführt. Gleichzeitig erfuhr die epische Lyrik, die Tudjman und die neue kroatische Führung glorifizierten, eine Renaissance. Zum einen wurde Wert auf die Kontinuität der alten Traditionen gelegt, zum anderen inszenierten sich die neuen Eliten als jene Kräfte, die den Inhalt dieser Traditionen zu gestalten und auszulegen wussten. Eine der Hauptaufgaben des neuen Regimes war, jegliche Assoziation und Erinnerung an die frühere jugoslawische politische und soziale Ordnung auszulöschen. 384 Alles, was mit Sozialismus und Jugoslawentum zu tun hatte, ist zum Tabu geworden. Tudjman, das kroatische Volk und der neue kroatische Staat wurden oft als mystische Einheit medial dargestellt. Die Geschichte und das Volk, das in Tudjman personifiziert wurde, trafen die Entscheidungen, da Tudjman medial als Quelle der kollektiven Identifikation und als Verwirklicher einer tausendjährigen Bestrebung nach Eigenstaatlichkeit und nicht als Individuum ins- 381 Vgl. Siniša Malešević: Ideologija, legitimnost i nova država: Jugoslavija, Srbija i Hrvatska. Beograd: Fabrika knjiga 2004. 382 Ebd., S. 352. 383 Mehr dazu in: Lljiljana Radonjić: Krieg um die Erinnerung - Vergangenheitspolitik in Kroatien zwischen Revisionismus und europäischen Standards. Frankfurt/ Main: Campus 2010. 384 Vgl. dazu Robert Strohmaier: Die Ideologie der Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft (HDZ) in der Ära Franjo Tudjman: historische Determinanten und Entwicklung. München: LDV 2004. <?page no="153"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 153 zeniert wurde. In diesem Sinne waren seine Entscheidungen die Entscheidungen des gesamten kroatischen Volkes. 385 Die neuen ethno-nationalistischen Werte und die charismatische Autorität wurden etabliert, sodass das neue Regime durch die Neuformulierung des Wertesystems in der Gesellschaft seine Interessen durchsetzten konnte. Das neue symbolische Universum wurde durch neue kulturelle Praktiken und Werte eingeführt, und die neue politische Elite konnte sich als einzig relevanter Ausleger inszenieren und sich selbst innerhalb dieser Hegemonie legitimieren. 386 Das Monopol auf Wahrheit wurde durch Bildungsinstitutionen und Massenmedien installiert. Die Autorität wurde zudem aus partikularen, traditionellen Institutionen und nicht aus universalistischen Ideen abgeleitet. Die Schulbücher wurden so konzipiert, dass die kroatische Geschichte sich in ihnen so darstellte, als ob die Kontinuität der kroatischen Staatlichkeit nie unterbrochen worden wäre und eine kroatische politische Identität seit den ältesten kroatischen Staatsgebilden des Mittelalters bis zur Gegenwart immer existent gewesen wäre. 387 All das hatte zum Ziel aufzuzeigen, dass damit auch das Bewusstsein einer Zugehörigkeit zum kroatischen Volk immer da war. Der Akzent wurde auch auf die Einheit aller Kroaten gelegt, abgesehen von Unterschieden im ökonomischen, sozialen und politischen Status. Die Kroaten wurden in den Schulbüchern als kollektive Entität immer entrechtet und als Opfer von Habsburgern, Venezianern, Türken, Serben oder Kommunisten dargestellt. 388 In Slowenien ging es gleichfalls darum, erstmalig einen Nationalstaat zu errichten. Während die meisten anderen osteuropäischen Länder auf eine Geschichte einer mehr oder weniger ausgeprägten Eigenstaatlichkeit zurückgreifen konnten, war das in Slowenien nicht der Fall. Der slowenische Schriftsteller Aleš Debeljak erklärt die Situation von damals im Essay „Blick auf Slowenien“ mit folgenden Worten: Zum ersten Mal in ihrer langen Geschichte der Marginalität konnten die Slowenen frei und verantwortlich über ihre Zukunft entscheiden. Dieses umwälzende Ereignis war indes bereits von romantischen Hoffnungen vieler slowenischen Schriftsteller und Dichter vorweggenommen worden, auch wenn es aller Rationalität zu widersprechen schien. Die Schriftsteller beschäftigten sich traditionellerweise mit der Verpflichtung und dem Risiko, als nationale Fackelträger zu fungieren, als Wächter der moralischen, gesell- 385 Vgl. Siniša Malešević: Ideologija. S. 357. 386 Mehr dazu in: Igor Sekardi: Vom Sozialismus zum Nationalismus? Kroatiens nationale Identität als Wegweiser am Pfad der postsozialistischen Transformation von 1989 bis 1999. Wien 2008. 387 Ebd., S. 387. 388 Vgl. dazu unterschiedliche Quelle, die Malešević in seiner Studie genannt hat, S. 389. <?page no="154"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 154 schaftlichen und geistigen Werte, die in der slowenischen Sprache enthalten seien. Es war die Sprache, die vor allem den nationalen Schatz widerspiegelte und als Unterscheidungsmerkmal der slowenischen Identität diente. 389 Nachdem die Selbständigkeit erlangt war, führte der junge slowenische Staat den „Prešernov Dan“ („Prešeren-Tag“) als gesetzlichen Feiertag ein. 390 Damit wurde die starke Konzentration auf nationale Symbolik mit dem slowenischen Gründungsnarrativ verbunden, das der slowenische Dichter France Prešeren mit seinem Epos „Die Taufe an der Savica“ (1836) 391 erschaffen hatte. IV.3.1 Narrativ konstituierte Grenzerzählungen und Politisierung kultureller Unterschiede: Balkan und Europa Der Zusammenbruch Jugoslawiens, der das Ende einer symbolischen Politik markierte, verursachte wie bisher gezeigt insbesondere den Kampf um die Etablierung einer neuen (ethnozentrischen) Symbolik und deren Kontrolle. Dies setzte in allen Teilrepubliken einen Prozess im Gang, in dem die kollektive Identität wieder neu positioniert und verhandelt werden musste. Die Frage „Wer sind wir? “ wurde neu gestellt und konnte nur bezogen auf das wechselseitige Verhältnis zwischen dem so genannten kollektiven „Ich“ und dem Anderen beantwortet werden. „Eine neue Erzählung, die die jeweilige Nationalgruppe revidiert definieren sollte, wurde gebraucht. Die gemeinsame jugoslawische Erfahrung wurde als fehlerhaft, irreführend, als eine in der Praxis nie verwirklichte Utopie interpretiert. In Serbien kristallisierte sich so die Erzählung über die Notwendigkeit heraus, „sich selbst wiederzufinden“ und „wieder das zu werden, was man war“. So wurde das bis 1990 übliche Bild der serbischen Sprache, das Tito umgeben von Kindern zeigte, im Grundschulbuch durch das Bild von Vuk Karadžić ersetzt. In Slowenien setzte sich die Erzählung durch, dass man in „einem fremden Land“ lebt und endlich „eine eigene nationale Heimat“ erlangen sollte. Ohne einen eigenen Staat, wie der slowenische Schriftsteller Aleš Debeljak formulierte, „fanden die Slowenen ihre einzige wahre Heimat in ihrer Sprache und ihrer kreativen 389 Aleš Debeljak: Blick auf Slowenien. In: Politik und Zeitgeschichte Nr. 46/ 2006, 13.11.2006. 390 Der Prešeren-Tag wird am 8. Februar als Kulturfeiertag in Slowenien gefeiert. 391 Wie schon im ersten Kapitel erläutert wurde, dramatisiert und mythologisiert Prešeren den verlorenen Kampf der heidnischen Ahnen Sloweniens und ihre Konversion zum Christentum im 8. Jahrhundert. <?page no="155"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 155 Vorstellungskraft“ 392 . In Kroatien kombinierte man die Erzählung des „Wieder-zu-sich-selbst-Kommens“ 393 mit der Erzählung vom „eigenen Staat“. Die „eigene“ Sprache, Literatur und Geschichtsdeutung bekamen erneut Relevanz und erzeugten eine neue Dynamik, da sie in der Region seit dem 19. Jahrhundert und gemäß dem totalisierenden romantischen Kulturkonzept 394 als konstitutive Elemente der modernen Nation galten. Die literarischen und sprachlichen Grenzziehungen, die einmal als Einheit generierende Mechanismen funktionierten, kennzeichneten auch den Anfang einer kulturellen Konstitution, die später in soziale Desintegration münden sollte.“ 395 Die kulturellen Differenzen werden jetzt durch narrativ konstituierte Grenzerzählungen anders als im 19. Jahrhundert zu konträren Identitäten verhärtet. So wurden die Dichotomien wie Ost-West, Europa-Asien, Europa- Balkan, Christentum-Islam, Katholiken-Orthodoxe revalorisiert und zunehmend als Gegensätze dargestellt. Die Zugehörigkeit zu einem sogenannten Kulturraum sollte die unvergleichbare Individualität des eigenen Kollektivs bestätigen, gleichzeitig konnte das Zeugnis von einem erreichten „Kulturzustand“ abgelegt werden. Wie schon angedeutet, stellt bei den Romantikern die Quelle der Partikularität „meine Kultur“ dar, während bei den Aufklärern die Quelle des Universalismus Kultur im Singular ist, was in beiden Varianten die Universalisierung der eigenen Partikularität bedeuten könnte. Kultur wird sowohl als Quelle der Partikularität als auch des Universalismus verstanden. Deswegen ist die Frage Albrecht Koschorkes, wie ist es gelungen sei, „Religion“ und „Kultur“ als Herrensignifikanten von Konfliktsemantiken zu etablieren und welche Folgen das habe 396 , wegweisend für die weitere Erforschung der Bedingungen und die Beschreibung von narrativ konstituierten Erzählungen über die „neuen“ und „alten“ Unterschiede in Serbien, Kroatien und Slowenien. Wie im theoretischen Teil schon angeführt, ist die Konstitution von Identität(en) ein dialogischer Prozess und setzt die bewusste Abgrenzung von Anderen voraus. Der Andere wird so zum integralen Teil des Selbst, jeder Identität ist eine innere Differenz eingeschrieben, sodass kollektive bzw. kulturelle Identitäten erst über die Artikulation von kulturellen Differenzen herausgebildet werden. 397 Bis heute gibt es verschiedene Meinungen darüber, ob aus der jugoslawischen Integration auch eine Variante übernationaler 392 Aleš Debeljak: Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Klagenfurt 2004, S. 146. 393 Die Verwirklichung „des kroatischen Rechtes auf den unabhängigen Staat“ wurde zum Hauptziel der kroatischen Gesellschaft erklärt. Mehr dazu findet sich bei Malešević: Ideologija, legitimnost i nova država 2004. 394 Vgl. Reckwitz: Die Kontigenzperspektive der „Kultur”. 395 Dieser Textabschnitt wurde in Emilija Mančić: Narrative der Zusammengehörigkeit, Narrative der Differenz veröffentlicht. 396 Albrecht Koschorke: Wie werden aus Spannngen Differenzen? S. 275. 397 Vgl. Bhabha: The Location of Culture. <?page no="156"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 156 jugoslawischer Identität entstanden ist. Auffallend war jedenfalls, dass in den Teilrepubliken in den 1980er- und 1990er-Jahren eine Art homogenisiertes Kulturverständnis wiederbzw. neuentdeckt wurde. Diese Entwicklung weist auf eine bis dahin schon vorhandene Identifikation mit dem Balkan bzw. Jugoslawien hin und scheint der Ausdruck jener Ambivalenz zu sein, die die zweifelsohne vorhandenen kulturellen Unterschiede zum Gegenstand der politischen Instrumentalisierung seitens neuer Eliten gemacht hat. Achim Trunk hat in seiner Studie zur europäischen Identität erläuert, dass die unterschiedlichen kollektiven Identitäten gleichzeitig neben- oder miteinander existieren können. Sie können auch in einem Konkurrenzverhältnis zueinander stehen. 398 Identität beruht auf der Wahrnehmung von Differenz, was dazu führen kann, dass die unerwünschten Eigenschaften aus dem Selbstbild abgespalten und auf fremde Metagruppen projiziert werden können. Es besteht also eine enge wechselseitige Beziehung zwischen negativen und positiven Differenzen. Die vier Modi der Abgrenzungen von anderen Metagruppen sind laut Trunk: der identifizierende Modus, bei dem sich die Mitglieder einer Metagruppe mit einer anderen Metagruppe eng verbunden fühlen; der kooperative Modus, bei dem die Angehörigen einer Metagruppe die fremde Metagruppe als Partner betrachten und in einem Kooperationsverhältnis stehen; der konkurrierende Modus, bei dem die fremden Metagruppen als Konkurrent, also als Gegner in einem Wettbewerb angesehen wird; und der antagonistische Modus, in dessen Zentrum die Perzeption eines unüberbückbaren, zum Konflikt führenden Gegensatzes steht. 399 Aus diesem hier entwickelten Verständnis von kollektiver Identität ergibt sich auch eine Definition von Nationalismus, bei der das Verhältnis zu anderen Metagruppen überwiegend durch den antagonistischen oder den konkurrierenden Modus bestimmt ist. Unter den vier Modi negativer Identitätsformierung scheint vor allem der vierte Modus in besonderem Maße identitätsstiftendes Potenzial aufzuweisen, da er klare Abgrenzungen liefert. Der kooperierende Modus hingegen scheint weniger prägend zu sein. Während der Balkan sowohl von innen als auch von außen betrachtet in mancher Hinsicht als Teil Zentraleuropas und in mancher nicht, manchmal zwischen Zentral- und Osteuropa an den Trennungslinien zwischen Katholizismus und Orthodoxie oder als Teil Osteuropas mit Russland gemäß den Prinzipien der imaginären Geografie verortet wurde, wurde der Balkan in der Zeit des Kalten Krieges Zentraleuropa nicht explizit entgegengestellt. Erst in den 1990er-Jahren wurde, wie Maria Todorova feststellte, das zentraleuropäische Projekt als passendes Argument benutzt für die Bestrebungen, angesichts des europäischen Integrationsprozesses Teil dieses europäischen institutionellen Rahmens zu werden, sodass der Balkan zum ersten Mal als 398 Vgl. Trunk: Europa ein Ausweg. 399 Ebd., S. 45. <?page no="157"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 157 dichotomischer Gegner, manchmal neben Russland und manchmal mit Russland zusammen, dargestellt wurde. 400 Die Polarisierung zwischen Balkan und Europa bzw. Zentraleuropa im ehemaligen Jugoslawien wäre als Ausdruck des zu dieser Zeit herrschenden konkurrierenden Modus zwischen den Teilrepubliken zu verstehen, der bei der Neuformulierung kollektiver Identität in den antagonistischen Modus mit größerem identitätsstiftendem Potenzial überging. In Slowenien und Kroatien setzten die neuen politischen Eliten die Flucht vor dem Balkan der Demokratisierung, Modernisierung und nationalen Emanzipation voraus und vollzogen somit eine Abgrenzung zu Jugoslawien bzw. Serbien. „Europa jetzt! “ („Europa zdaj! “) war der Slogan der slowenischen Opposition 1990, und „Tudjman und nicht der Balkan“ lautete der Wahlslogan der Kroatischen Demokratischen Union im Jahre 1995. In Serbien dagegen tendierte die neue Elite dazu, die Balkan-Identität der europäischen Identität als natürlicher und authentischer entgegenzustellen. Somit bekam der sogenannte Mythos des Authentischen im öffentlichen Diskurs einen bedeutenden Platz. Kulturelle und identitäre Unterschiede wurden aktiviert, was jene Eigenschaften der symbolischen Geografie anregte, die einen Raum als minder oder wertvoll konnotieren. IV.3.2 Die Wiederfindung des Balkans Nach dem Ende der Ost-West-Polarisierung kehrten anscheinend die alten Symbole und Denkmuster in Europa zurück. Der Balkan kam „zurück“ und erschien wieder einmal an der „europäischen Peripherie, weil diese neue Kartographie Europas nichts anderes als ein Echo der vorkommunistischen Geographie der Symbole“ 401 war. Der Balkan wurde aber nicht vorwiegend durch eigene Identitätsmerkmale definiert, sondern durch seine Position auf der geopolitische Karte Europas zwischen Europa, Asien und dem Mittleren Osten. Zugleich wurde die Region als trennendes Territorium zwischen Amerikas „alten“ NATO- Alliierten und deren neuen Mitgliedern im postkommunistischen Teil Zentraleuropas herausgestellt. Die besondere geografische Lage des Balkans zwischen dem Schwarzen Meer und dem Mittelmeer machte die Halbinsel zur Drehscheibe zwischen europäischem und asiatischem Kontinent und damit zum politischen Zentrum verschiedener Großreiche: Rom, Byzanz, Habsburg, Venedig und die Osmanen gaben über zwei Jahrtausende die machtpolitischen Rahmenbedingungen auf der Balkanhalbinsel vor. Sie vermittelten kulturelle Normen, die 400 Vgl. Marija Todorova: Die Erfindung des Balkans: Europas bequemes Vorurteil. Darmstadt: Primus 1999. 401 Vgl. Marko Živković: Simbolička geografija Srbije. In: Filozofija i društvo, Nr. 18. Beograd 2001, S. 73 - 110. <?page no="158"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 158 für die Oberschicht bestimmend wurden, und regten damit jene epochalen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Transformationsprozesse an, in denen sich lokale Varianten eines südosteuropäischen Kulturraumes herausbildeten. Isidora Sekulić, eine serbische Autorin der Zwischenkriegszeit, beschreibt diese besondere geografische Lage mit folgenden Worten: Eine Halbinsel bildet, besonders wenn sie lang und dünn geformt und folglich weit abgetrennt vom massiven Festland und dessen massiver Bevölkerung ist, wirklich in jeder Hinsicht eine eigene Welt: das betrifft das Klima und die Lebensweise seiner Bewohner, die sonderbaren Wege, die direkt von den Felsen ins Meer und auf die Galeeren fallen, den Geist und die Kultur, den Glauben, die Gesellschaft und die Politik. [...] Halbinseln saugen viel ein, sie sind Speicher. Auf der Halbinsel passieren deswegen viele Veränderungen und werden im Laufe der Zeit eine Menge Experimente sowohl theoretischer als auch praktischer Natur durchgeführt: im Bereich des reinen Geistes und der kulturellen Arbeit, staatlicher Einrichtungen und politischer Methoden. 402 Die Bildung moderner Nationen und Nationalstaaten war für das Zusammenleben unterschiedlichster Sprachgemeinschaften und Religionen (Islam, Christentum, Judentum) auf dem Balkan eine Herausforderung. Das heterogene Gewebe des Balkans schien für das moderne nationalistische Prinzip der Übereinstimmung von Staat und Nation nicht geeignet. Die Bezeichnung ‚Balkan‘ wurde oft als eine Art Oberbegriff verwendet, aus dem sich alle anderen Begriffe im Bezug zu diesem geografischen Raum ableiten lassen. Meistens wurde Balkan als eine Einheit begriffen, die durch eine gemeinsame Geografie, Geschichte und Kultur bedingt einen spezifischen kulturellen Raum repräsentiert. Als Opposition zu diesem Bild tragen für viele Menschen aus dem Westen die südslawischen Staaten bzw. ihre Einwohner eine Kombination von „östlichen“ und „südlichen“ Eigenschaften in sich, die durch Stereotypen wie Emotionalität, Unkontrollierbarkeit, Irrationalität und Unzuverlässigkeit gekennzeichnet sind. In Zeiten des Kalten Krieges waren diese Stereotypen und symbolischen Koordinaten einigermaßen in Vergessenheit geraten. Solche Bilder wurden vor allem in journalistischen und historischen Berichten in Reiseerzählungen und literarischen Werken erzeugt. Das geschah in der Zeit des einsetzenden Zerfalls des Osmanischen Reichs und dem Ringen um Einfluss auf dem Balkan. Der allmähliche osmanische Rückzug aus dem europäischen Südosten lenkte die Aufmerksamkeit auf die Halbinsel und schuf einen neuen Bedarf an fertigen Balkanbildern. Wie Vesna Goldsworthy in ihrer Studie zum Imperialismus der Imagination feststellt, beruht die meta- 402 Isidora Sekulić: Balkan. Serbisch-Englische Ausgabe. Übersetzung ins Englische von Vuk Tošić. Hrsg. und mit einem Vorwort von N. Marković und einem Nachwort von D. Tanasković. Beograd 2003, S. 21. <?page no="159"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 159 phorische Kolonisierung des Balkans auf derselben imperialistischen Ideologie westlicher Überlegenheit, die bei der Schaffung stereotyper Bilder der eigentlichen Kolonien in Afrika, Asien und anderswo am Werk ist. „Die imperialistische Imagination äußert sich hier, in Abwesenheit eines tatsächlichen Kolonialismus, in der Schaffung kultureller Balkanstereotype, durch die eine Vorstellung von der Welt die Welt selbst ersetzt.“ 403 Nicht nur Literaten, Journalisten, Reiseschriftsteller und Politiker beteiligten sich an der Schaffung von Stereotypen und Klischees über den Balkan, sondern auch Wissenschaftler. Besonders während der nationalsozialistischen Herrschaft war der Beitrag von Wissenschaftlern zum Balkanbild evident, „als die Ost- und Südosteuropaexperten des Deutschen Reiches die Eroberung Ost- und Südosteuropas durch die Nazis unter anderem mit dem Argument rechtfertigten, dass diese Regionen von unzivilisierten Menschen bewohnt und aufgrund ihres ethnischen ,Mischmaschs‘ durch Chaos geprägt seien, weshalb dem Deutschen Reich eine besondere zivilisierende Rolle zukommen würde“ 404 . IV.4 Der Balkan als Mittel diskursiver Gewalt Die Frage, wo die imaginierten Trennungslinien zwischen Europa und Nicht- Europa, Ost- und Westeuropa und Zentraleuropa und Balkan gezogen werden, scheint nicht unwichtig zu sein. Diese Grenzen sind immer unbestimmt und werden, je nachdem, wer wem was und warum sagt, weiter verschoben. Daraus ergibt sie die Frage, wo endet Europa und beginnt der Balkan? Schon in den 1980er-Jahren haben die damaligen osteuropäischen Autoren wie Czeslaw Miloš, Milan Kundera, Václav Havel und György Konrad in einer veränderten Form den Begriff Zentraleuropa als eine Kulturzone mit besonderen kulturellen Charakteristika dem Begriff Osteuropa entgegengestellt und so die negativen Konotationen des sozialistischen Europas weiter nach Osten verschoben. Den Balkan auf der imaginären Karte Europas entdeckt man in der Literatur unter ganz unterschiedlichen Beschreibungen. Der Schwede Markus Ehrenpreis hatte in den 1920er-Jahren eine Reise unternommen, um „die Seele des Ostens“ zu finden. Für ihn begann der Balkan in Prag: „Den Orient kann man schon auf dem ,Masarik-Bahnhof’ in Prag sehen.“ 405 Für Metter- 403 Vgl. Vesna Goldsworthy: Inventing Ruritania: the imperialism of the imagination. New Haven, Conn.: Yale Univ. Press 1998. 404 Vgl. Ulf Brunnbauer: Europa und der Balkan: Fremd- und Selbstzuschreibungen, Vorlesung (FU Berlin), siehe http: / / www.kas.de/ upload/ freundeskreis/ Studienreisen2008/ Europa_Balkan.pdf (abgerufen am 23. 2. 2010) 405 Todorova: Imagining the Balkans. 1997. S. 217. <?page no="160"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 160 nich begann der Balkan in Wien: „Der Balkan beginnt in dem Rennweg“, soll er gesagt haben. Für Slowenen beginnt der Balkan in Kroatien, für Kroaten in Serbien und so weiter. Der Balkan wurde so auf der Halbinsel selbst das „Andere“, da jede Balkannation die Zugehörigkeit zu Europa für sich in Anspruch nimmt und die Balkanität ihren südöstlichen Nachbarn zuschreibt. Slavoj Žižek beschreibt das in einem Interview folgendermaßen: Für die Österreicher sind Slowenen wilde Horden, von welchen sie sich mit einer imaginären Mauer schützen müssen; Slowenen bauen Mauern vor den ‚unzivilisierten’ Kroaten; Kroaten schotten sich von ihren ‚wilden’ serbischen Nachbarn ab; und die Serben denken über sich, sie trügen alleine und als einzige den letzten Schutz des Christentums - mit welchem sie nicht nur sich, sondern ganz Europa vor der islamischen Invasion schützen. 406 Als die europäischen Integrationsprozesse nach dem Zusammenbruch des Sozialismus einen neuen Aufschwung erlebten, schien der Balkan für die Konstruktion der europäischen nationalen Identität „Alteritätspartner“ in der näheren Umgebung zu sein, dem sie eine nicht europäische, „unzivilisierte“ Identität zuschrieben und so die semantische Opposition zur eigenen, „europäischen“ Nation darstellten. Sie bedienten sich auch der diskursiven Operation der Orientalisierung bzw. Balkanisierung, was die Ethnologin Milica Bakić-Hayden als „eingenistete Orientalismen“ („nesting orientalisms“) im jugoslawischen Kontext nannte. Slavoj Žižek hat die ganze Problematik auch auf Westeuropa ausgeweitet und so beschrieben: The Balkans are always somewhere else, a little bit more towards the southeast. (. . .) For the Serbs, they begin down there, in Kosovo or in Bosnia, and they defend the Christian civilization against this Europe’s Other; for the Croats, they begin in orthodox, despotic and Byzantine Serbia, against which Croatia safeguards Western democratic values; for Slovenes they begin in Croatia, and we are the last bulwark of the peaceful Mitteleuropa. (. . .) for many North Germans, Bavaria, with its Catholic provincial flair is not free of a Balkan contamination; many arrogant Frenchmen associate Germany itself with an Eastern brutality entirely foreign to French finesse; and this brings us to the last link in this chain: to some conservative British opponents of the European Union, for whom - implicitly, at least - the whole of the European continent functions today as a new version of the Balkan Turkish Empire, with Brussels as the new Istanbul, a voracious despotic centre, which threatens British sovereignty. (. . .) Is not this identification of continental Europe itself with the Balkans, its barbarian Other, the secret Truth of the entire movement of the displaced delimitation between the two? 407 406 Slavoj Žižek im Interview in „Naša borba“ vom 5.1.1997. 407 Slavoj Žižek: The fragile absolute - Or why the Christian legacy is worth fighting for. London: Verson London 2000, S. 3-4. <?page no="161"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 161 So wurden Differenzen wieder mal als Hierarchien bestätigt. Im ehemaligen Jugoslawien ließ sich in den neunziger Jahren dieser Prozess gut beobachten, wo sich seit den 1980er-Jahren Slowenen und Kroaten immer stärker als Teile Westeuropas deklarierten. Während die Außenstehenden eher dazu neigen, Balkanismus als einen einheitlichen Ausdruck des „Anderen“ wahrzunehmen, positionieren die Balkan-Länder sich selbst in einer Art Hierarchie. So konnte immer einen „Anderen“ (Griechen, Rumänen, Türken, Albaner, Bulgaren etc.) konstruiert, der noch „andersartiger“ zu sein scheint als man selbst. Wie Maria Todorova festellte, wurde der Balkan unter Balkan-Bewohnern selbst am meistens verachtet, man ist immer bemüht zu beweisen, dass man selbst mit den negativen Eigenschaften, die diesem geografischen Raum zugeschrieben werden, nichts gemein hat. Zum einen besteht der Wunsch, die Stigmatisierung durch die Stereotypen über den nicht ausreichend zivilisierten Balkan zu vermeiden, zum anderen scheint aber wichtig zu sein, diese Sterotype auf keinen Fall infrage zu stellen, um sie in der Auseinandersetzung mit einem der Nachbarn nutzen zu können. Der slowenische Soziologe Rastko Močnik hat diese Tendenz mit dem Satz „Balkan, das sind die anderen“ auf den Punkt gebracht. Seit den 1990er-Jahren wurde es beinahe zur Prestigesache, sich vom Balkan-Label loszureißen, vor allem aber wurden die kulturellen Differenzen zum Zweck der politischen Instrumentalisierung benützt. Die Zugehörigkeit zu Europa implizierte einen Ausweg aus dem Identitätskomplex und den Unterschieden, die für die Nationen im ehemaligen Jugoslawien charakteristisch waren. Franjo Tudjman erklärte in einem Interview für die amerikanische Zeitschrift „New Yorker“ im Jahre 1991, dass die Gründe, warum die Serben und Kroaten nicht in einem gemeinsamen Staat leben könnten und dementsprechend die Sezession der Teilrepublik notwendig sei, nicht in den antidemokratischen Systemen, sondern in den unüberbrückbaren kulturellen Differenzen lägen. Die Kroaten gehören zu einer anderen Kultur, zu einer anderen Zivilisation als die Serben. Die Kroaten sind ein Teil Westeuropas, Teil der mediterranen Tradition. Die Serben gehören zum Osten. Ihre Kirche gehört zum Osten. Sie benutzen die östliche, kyrillische Schrift. Sie sind ein östliches Volk wie die Türken und Albaner. Sie gehören zur byzantinischen Kultur. Trotz der sprachlichen Ähnlichkeiten können wir nicht zusammenleben. 408 Solch eine Positionierung sollte auch eine politische Sonderposition Kroatiens und einen größeren Einfluss des Landes in der Region etablieren, da der neue Staat die anderen Balkan-Länder auf den europäischen Weg führen sollte. Die Polemik zwischen den zwei kroatischen Autoren Igor Mandić und Stanko Lasić, die in der Öffentlichkeit als sogenannte „bulgarische Frage“ 408 Tudjman, zitiert nach: Srdjan Vrcan: Kultura kao društveno opasan pojam. In: Reč, Nr. 61, März 2001, S. 109. <?page no="162"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 162 bekannt wurde, illustriert sehr deutlich, wie das Verhältnis gegenüber Nachbarn und deren Kulturen tatsächlich war. In einem Briefwechsel legten die zwei Intellektuellen 1997 ihre Ansichten zu politischen Entwicklungen im Lande und zu anderen Kulturen dar. Die Briefe wurden in der Zeitschrift „Vijenac“ 409 veröffentlicht, und es folgte eine mehrmonatige öffentliche Debatte, in die sich mehrere Autorinnen, nicht nur aus Kroatien, einbrachten. Stanko Lasić vertrat die Meinung, dass er sich nicht für die gegenwärtige serbische Literatur interessiere, da sie in seinen Augen denselben Status wie die bulgarische Literatur innehabe und dadurch weit unter anderen europäischen Literaturen wie der dänischen, niederländischen, geschweige denn der englischen oder französischen Literatur liege. Die serbische und bulgarische Literatur seien für Lasić nun die kleinen Literaturen, die keine geistige Höhe erreichen könnten, offensichtlich alleine aus dem Grund, weil sie in diesen Ländern geschrieben werden. Mandić meinte hingegen, dass er nicht ein Teil der nationalen Geschichte sei und die jugoslawische literarische Dynamik nicht nach dem politischen Diktat auslöschen wolle. Die serbische Literatur interessiere ihn wegen vieler gemeinsamer Erfahrungen, nicht zuletzt auch wegen der aktuellen Kriegserfahrung. In Slowenien und Kroatien war man seit der 90er Jahre darum bemüht zu begründen, dass diese Gesellschaften auf keinen Fall als Teil des „Balkans“ verstanden werden sollte. Vielmehr betonten Slowenen und Kroaten ihre Zugehörigkeit zur katholischen Welt (im Gegensatz zum mehrheitlich orthodoxen und islamischen Balkan) und, dass sie als Teile der Habsburgermonarchie nie aus der europäischen Geschichte herausgefallen seien, wie das für den osmanischen Balkan postuliert wurde. West-Ost- und Nord-Süd-Dichotomien fallen hierbei zusammen, wobei die Slowenen sich am Nordwestlichen und somit „europäischsten“ Pol positionieren. 410 In Slowenien haben sogar die Parlamentsabgeordneten aller Parteien, den „zentraleuropäischen Charakter“ Sloweniens und damit die Nichtzugehörigkeit zum Balkan offiziell zu deklarieren initiiert. Die Polarisierung zwischen Balkan und Zentraleuropa wurde in Slowenien schon in den 1980er-Jahren für aktuelle politische Zwecke aktiviert. Der Balkan bekam den Status des Anderen, des asiatischen Russlands, der Begriff Zentraleuropa dagegen wurde zum Symbol der slowenischen nationalen Erweckung. Der slowenische Schriftsteller Taras Kermauner schrieb in einem der bereits erwähnten „Briefe an den serbischen Freund“: Du wirst verstehen, mein Freund, dass wir Slowenen uns schwer mit dem proasiatischen und proafrikanischen Jugoslawien identifizieren, dass wir uns 409 Vgl. Häfte von Zeitschrift Vijenac Erscheinungsjahr 1997. 410 Ulf Brunnbauer: Europa und der Balkan, S. 10. <?page no="163"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 163 nicht mit so einem Jugoslawien identifizieren können, solange wir jene Natur, die wir in der tausendjährigen Geschichte gewonnen haben, besitzen. 411 Hier wurde der sogenannte dritte Weg Jugoslawiens direkt angesprochen sowie die zahlreichen Beziehungen, die man mit anderen Kontinenten während der Tito-Ära im Rahmen der blockfreien Bewegung hergestellt und gepflegt hatte. Der Balkan wurde so zu etwas, was man verdrängen wollte, zu etwas, dem man nicht angehören wollte, wovor man fliehen sollte, für den man zumindest einen weniger belasteten Begriff wie Südosteuropa finden sollte. Da der Balkan ein Synonym für das Unbehagen in der eigenen Kultur geworden war, wurde der Balkan auch zum Mittel diskursiver Gewalt, indem man die hegemoniale Gewalt, der man selbst ausgesetzt war, jetzt an anderen verüben konnte. IV.5 Die Wiederbelebung des Mythos der antemuralis christianitatis In Kroatien und Serbien konnte man in den 1990er-Jahren die Wiederbelebung des alten Mythos der „antemuralis christianitatis“ verfolgen, womit man sich als Verteidiger von Werten der europäischen Zivilisation gegen den ultimativen Anderen, den islamischen Orient präsentieren konnte. Teil des politischen Imaginariums wurde dieser Mythos mit dem Vordringen der Osmanen auf dem Balkan. Die Annahme, dass diese Völker in der Geschichte die wichtigste Vorposten vor den Mauern Europas waren, die die westeuropäische Zivilisation vor den „Barbaren“ aus dem Osten schützen, hat in der Region eine lange Tradition, die jetzt wiedererfunden wurde. Das implizierte, dass die Grenzen zwischen Osten und Westen in diesen Ländern als undurchlässig und klar gezogen verstanden werden, so wie sie Samuel P. Huntington in seinem Werk „Der Kampf der Kulturen“ 412 dargestellt hat. Der Begriff Vormauer impliziert ein Bollwerk gegen etwas, wovor man sich schützen und verteidigen sollte. Damit ist eine „Vormauer“ auch eine Abgrenzung von anderen und hat die beschützende Funktion des eigenen Lebens bzw. der eigenen Lebensweise. Der Begriff legt so ein Bekenntnis zu dem ab, was die „antemurale“ beschützen soll. Die Vorstellung eines Landes als „antemurale christianitatis“ kann dementsprechend als Akt der Selbstvergewisserung und Selbstrechtfertigung verstanden werden und beruht auf einer selektiven Interpretation der eigenen Geschichte. So wollten einige Gruppen glauben, dass sich die westliche Zivilisation dank der Selbstauf- 411 Nin, 9. August 1987, S. 22. 412 Vgl. Samuel P. Huntington: Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München/ Wien: Europaverlag 1997. <?page no="164"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 164 opferung der Serben und Kroaten weiterentwickeln und die eigenen kulturellen, politischen und ethischen Werte und somit ihre europäische Identität bewahren konnte. In Kroatien kommt noch die Überzeugung hinzu, dass man nicht das Christentum alleine, sondern auch den katholischen Glauben vor Orthodoxie und Islam verteidige. Wie der kroatische Komparatist Ivo Žanić schrieb, ist der Mythos „antemurale christanitatis“ in der Tat Basis der modernen patriotischen Ideologie und ein wichtiges Prinzip in der Konstruktion von kollektiven Identitäten. 413 Der Mythos „antemurale christianitatis“ ist jedoch bei vielen anderen Ländern in Europa wie z. B. in Polen, Ungarn, Slowenien, Bosnien und Herzegowina verbreitet, und ist in ihrem kollektiven Gedächtnis über Jahrhunderte hinweg aufgebaut und bewahrt, erweitert und modifiziert worden. Der Mythos hatte keinen starren Charakter, sondern wurde unter den spezifischen Bedingungen des 19. und 20. Jahrhunderts weiterentwickelt. Die Wiederbelebung in den 1990er-Jahren geschah offensichtlich mit dem Ziel, die eigene Nation so zu inszenieren, dass sie heute wie damals eine wichtige politische und kulturelle Funktion für die europäische Völkergemeinschaft ausübte. Die Antemurale-Vorstellung trug so in erheblichem Maße zur Ausgestaltung des serbischen und kroatischen Geschichtsbewusstseins und damit zum nationalen Selbstverständnis und zur nationalen Identität bei. Die Grenzlage Kroatiens bzw. Serbiens wurde als historische Mission verstanden. Folglich konnte man auch eine Abgrenzung vom jeweiligen Nachbarn vollziehen, der als Bedrohung aufgefasst wurde. Auf dieser Weise ist „antemurale christianitatis“ ebenfalls ein Auto- und ein Heterostereotyp, die voneinander abhängig sind. „Antemuralis christianitatis“ stellt letztlich eine imaginierte Grenze, eine „Grenze im Kopf“ dar, die von einigen Teilen der Gesellschaft konstitutiert wurde, an der sich wiederum die eigene Nation neu konstitutieren konnte. Obwohl der Mythos „antemurale christianitatis“ die wichtige Rolle von Europas Verteidiger betont, beinhaltet er aber zugleich auch eine Art Enttäuschung über dieses Europa, das die Verdienste dieser Verteidigung der christlichen und zivilisatorischen Werte nicht genug schätzt. Die undankbare Lage eines Dazwischenseins und das Bild eines dekadenten, in sich zerfallenden Westens wurde in den 1990er-Jahren nicht nur im politischen, sondern auch im literarischen Diskurs präsent. Die zwei eminenten Vertreter diese Tendenz im literarischen Diskurs sind in dieser Arbeit bereits erwähnte Autoren: der serbische Schriftsteller Dobrica Ćosić und der kroatische Autor Ivan Aralica. Die Verbindung der Metapher „Schutzmauer“ mit dem Motiv der Undankbarkeit des Westens entstand ursprünglich in der Zeit der Romantik als die Inversion desselben. Diese Enttäuschung über Europa, das die 413 Vgl. Ivo Žanić: Simbolični identitet Hrvatske u trokutu raskrižje-predzidje-most. In: Historijski mitovi na Balkanu. Sarajevo: Institut za istoriju 2003, S. 161 - 203. <?page no="165"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 165 historischen Verdienste in der Verteidigung seiner Werte nicht anerkennt, wurde besonders in Serbien in den 1990er-Jahren sehr präsent und durch die Sanktionen und die NATO-Intervention noch zusätzlich genährt. Europa wurde von einem Teil der politischen und intellektuellen Elite als Feindbild stilisiert, da dieses Europa sich von sich selbst entfremdet hatte, und der europäische Raum wurde als ein Raum ohne Geist stigamtisiert, dem man unter solchen Umstände auch nicht angehören möchte. Balkan wurde als das Europa vor dem Rückfall in die Moderne verstanden, eine Rückkehr in einen balkanesischen Vor-Zustand wurde gepriesen. IV.6 Symbolisierung des Raumes als kulturelle Macht und Essenzialisierung der Kultur Die Polarisierung zwischen Balkan und Europa und vice versa weist auf eine Tradition hin, die in Europa bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgt werden kann. Sie besagt, dass die Welt in sogenannte Kulturkreise und Nationalstaaten aufgeteilt ist. Die kulturelle Formung von Räumen bzw. die Verbindung von Kultur und Raum stellt zum Teil eine problematische Verbindung da. Durch raumzentrierte Wirklichkeitsdarstellungen läuft man Gefahr, die Kultur zu essenzialisieren. Die Vorstellung des Kulturkreises basiert nicht nur auf der Vorstellung einer einheitlichen Nationalkultur. Es handelt sich vorwiegend um eine Art Wertegemeinschaft, die über nationale Grenzen hinausgeht und mit dem normativen Kulturbegriff, der eine universalistische Ausrichtung aufweist, korreliert. Eine bestimmte, transnationale Gruppe bildet demnach einen sogenannten Kulturkreis nach bestimmten Merkmalen. In diesem Sinne sind Kulturen Träger unterschiedlicher Begründungsstrategien, die die gute, gerechte oder gottgefällige Ordnung legitimieren. Sie verleihen einen Rahmen, innerhalb dessen die Beziehungen gesellschaftlicher Akteure untereinander, die Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Akteuren und dem Staat sowie die Beziehungen zwischen Staaten geregelt sind. Der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington stellte 1993 in seinem schon erwähnten Buch „Der Kampf der Kulturen“ 414 die These auf, dass Konflikte nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch des europäischen Sozialismus nicht mehr zwischen einzelnen Nationen, sondern zwischen einzelnen Kulturen stattfinden werden. Die Weltpolitik des 21. Jahrhunderts werde nicht von Auseinandersetzungen politischer, ideologischer oder wirtschaftlicher Natur, sondern von Konflikten zwischen Angehörigen unterschiedlicher Kulturkreise bestimmt sein, so Huntington. Für Samuel P. Huntington ist die Religion die wesentliche Eigenschaft, die eine Kultur ausmacht. Erst die Religion und die damit verbundene 414 Huntington: Der Kampf der Kulturen. <?page no="166"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 166 Einrichtung des Staates sowie die damit verbundene unterschiedliche Lebensweise der einzelnen Religionsangehörigen machen eine Kultur aus. Seiner Meinung nach sind die unterschiedlichen Staatsformen stark von der Religion geprägt (christliches Herrschertum, Orthodoxie, die Macht des Islam in der Staatsführung) sowie die unterschiedliche Stellung des Einzelnen in der Gesellschaft (Individualismus, Kollektivismus, Familie). Huntington beschäftigte sich in seinem Buch auch mit dem Krieg in Jugoslawien und führt den Begriff „Bruchlinienkonflikte“ ein. Er versucht, Bruchlinienkonflikte zu erklären, die Erklärung selbst bleibt aber, obwohl sie sehr ausführlich ausfällt, doch sehr schwammig. In welchem Fall es sich um einen Bruchlinienkonflikt handelt, ist nicht einwandfrei festzustellen. Auf der lokalen oder Mikro-Ebene ergeben sich Bruchlinienkonflikte zwischen benachbarten Staaten aus unterschiedlichen Kulturen, zwischen Gruppen aus unterschiedlichen Kulturkreisen innerhalb ein und desselben Staates und zwischen Gruppen, die, wie in der früheren Sowjetunion und im früheren Jugoslawien, den Versuch unternehmen, neue Staaten auf den Trümmern der alten zu errichten. 415 Albrecht Koschorke sieht in der Huntington-These ein Konfliktmodell, nach welchem die Vergangenheit die gegenwärtigen Zugehörigkeiten und Feindschaften prägt. Es geht von Kulturen im Sinn von kollektiven Identitäten aus, die Gemeinsamkeit und Gemeinschaft im Innern durch Abgrenzung nach außen erzeugen; es platziert Konflikte vorrangig an den Außengrenzen solcher kollektiven Identitäten, an den Bruchlinien zwischen ihnen; es sieht diese kollektiven Identitäten in langen historischen Entwicklungen verankert, wobei es vor allem endogene kulturelle Prozesse betont. Nach diesem Modell gibt es bestimmte, aus einer langen Geschichte erwachsene, kulturspezifische Merkmale, die es evident machen, wer zusammengehört und wer nicht zusammengehört. Pauschal gesagt, ist hier Differenz das Problem, nicht Identität; und am besten tut man, wenn man andere Identitäten so lässt, wie sie historisch, ethnisch und/ oder religiös-kulturell determiniert sind, und ein tolerantes und friedliches Auskommen mit ihnen sucht. 416 Die Konfikte entstehen also laut Huntington vor allem aus den Differenzen zwischen kollektiven Identitäten. Die Prognose der künftigen Entwicklung des Abendlandes wagte vor Huntington Oswald Spengler. Kulturen sind für Spengler Riesenpflanzen ähnlich, die in einer „mütterlichen“ Landschaft 415 Ebd., S. 332. 416 Albrecht Koschorke: Wie werden aus Spannungen Differenzen? Feldtheoretische Überlegungen zur Konfliktsemantik. In: Heinz Fassmann, Wolfgang Müller Funk, Heidemarie Uhl (Hrsg.): Kulturen der Differenz - Transformationsprozesse in Zentraleuropa nach 1989. Wien: Unipress 2009, S. 272 - 285, hier S. 272. <?page no="167"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 167 geboren werden. Sie wachsen, reifen und verfallen schließlich. In Bezug auf die Kulturauffassung Huntingtons führt Koschorke fort: Kultur ist hier auf zwei Ebenen wirksam: auf der Ebene der zugeschriebenen Merkmale der einen oder anderen Kultur - und auf der Ebene dieser klassifikatorischen Tätigkeit selbst. Huntingtons Lehre selbst beschreibt die Welt nicht etwa aus einer neutralen Vogelperspektive, sondern ist ihrerseits in kulturelle Traditionen eingebettet - in seiner Eigenschaft als weißer Amerikaner; als Angehöriger einer gebildeten westlichen Elite, der noch von einer Allianz USA/ Europa her denkt; als Adept der Kulturkreislehre, die über Oswald Spengler tief in der deutschen Denktradition des 19. und frühen 20. Jahrhunderts verankert ist und so fort. 417 Die Frage nach der Wechselbeziehung zwischen Kultur und Konflikt kann offensichtlich nicht ohne die Frage nach der Wechselbeziehung zwischen Kultur und Macht gestellt werden. Kultur ist selbst ein integraler Bestandteil der gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Diese sind kulturell überformt, sodass kulturelle Unterschiede nicht ausschließlich auf Differenzen basieren, sondern auch auf kulturellen Dominanzverhältnissen. Kultur in Beziehung von Macht und Herrschaft spielt gerade bei neotraditionalistischen Formen kollektiver Identitätsbestimmung eine wichtige Rolle. Die Wiederentdeckung und -aneignung einer authentischen oder verlorengegangenen Kultur wird oft als politische Legitimation anderer Interessen benutzt. Ein Zeichen von stark entwickelten Ethnozentrismus ist die Vorstellung von der eigenen Kultur als wertvollere, höher entwickelte oder bessere. So werden keine anderen kulturellen Wertvorstellungen anerkennt und jegliche Form von Interkulturalität wird verachtet. Auf dieser Weise entsteht ein Erklärungsmuster, das gewaltsame Konflikte vorzugsweise auf kulturelle Gegensätze im Sinne Huntingtons zurückführt und sie sogar auf diese Art und Weise rechtfertigt bzw. legitimiert. Kultur ist also auch als gesellschaftliches Konstrukt zur Aushandlung von Hegemonie und Macht zu deuten, kulturelle Faktoren tragen dazu bei, Machtverhältnisse aufzubauen, sodass Macht und Kultur als zwei sich gegenseitig bedingende Systeme zu verstehen sind. Heute zeichnet sich eine Entwicklung ab, die nicht nur von einer Kulturalisierung des Sozialen mittels räumlicher Kategorien, sondern auch von einer Territorialisierung des Kulturellen zeugt. Diese Entwicklung manifestiert sich in der Rede von Kulturkreisen, Kulturräumen, Kulturlandschaften, Kulturnationen, Kulturregionen, Kulturstädten und macht sie deutlich. 417 Ebd., S. 276. <?page no="168"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 168 IV.7 Differenz und Ambivalenz. Gegenentwürfe von positiven Balkanbildern Mit dem Staatszerfall Jugoslawiens und den einsetzenden Staats- und Nationenbildungsprozessen in den Teilrepubliken gab die neue symbolische Sinnwelt der Nation hinsichtlich der Gefahr der täglich erfahrbaren Kontingenz eine Antwort, die Ordnung und Stabilität versprach. Wie das Homi Bhabha formulierte, geht es hier darum, dass die Nation den Verlust der Ordnung und Stabilität in die Sprache der Metapher überträgt, indem sie ihre etymologische Bedeutung von Zugehörigkeit und Zuhause auch über kulturelle Unterschiede und Entfernungen projiziert. 418 Der Zusammenbruch des europäischen Sozialismus brachte jedoch nicht nur in den damaligen sozialistischen Staaten Strukturveränderungen mit sich, sondern auch im vereinigten Europa, das zur gleichen Zeit - mit dem Vertrag von Maastricht - einen wesentlichen Schritt zu einer tatsächlichen politischen Gemeinschaft tat. Die europäischen Integrationsprozesse und die Ost-Erweiterung haben mit der Wiederbelebung der alten Antagonismen in Europa die These von Maria Todorova, dass die Balkanbilder im Unterschied zum Orientalismuskonzept von Edward Said nicht einen Diskurs der grundsätzlichen Differenz, vielmehr den Diskurs der Ambivalenz darstellen, bestätigt. Im ehemaligen Jugoslawien kam diese Ambivalenz deutlich zum Ausdruck. Der slowenische Soziologe Rastko Močnik spricht so von der „Institution Balkan“ und der „Institution Europa“ und analysiert die Konfusion, die aus dieser Bastelei („bricolage“) entsteht und als Folge eine Simplifizierung von Kategorien wie „europäischer oder balkanesischer Identität“ hat. Močnik führt viele Beispiele aus Politiker-Reden an, die diese Identitätsproblematik widergeben und eine umgehende Lösung dieser Situation verlangen. Als eines der zahlreichen Beispiele zitiert Močnik Franjo Tudjman, der in einem Interview nach dem Staatsbesuch in Washington 1996 meint: „Wir haben die absolute Unterstützung der Vereinigten Staaten zugesichert bekommen, dass Kroatien ein Teil Zentraleuropas und nicht des Balkans ist.“ 419 Obwohl der Balkan zum unerwünschten Identifikationsraum geworden ist, sind viele Paradoxe, die mit einer klar definierten europäischen Identität verbunden sind, nicht zu übersehen. Das eigene kulturelle Erbe wird aus einem universellen Zustand abgeleitet, was impliziert, dass die eigene Kultur nicht an und für sich den anderen Kulturen überlegen ist, sondern einem sogenannten Kulturraum angehört, der als überlegen gegenüber einem an- 418 Vgl. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg 2000, S. 208. 419 Vgl. Rastko Močnik: The Balkans as an Elements in Ideological Mechanism. In: Balkans as Metaphor. Between Globalization and Fragmentalization. In: Dušan I. Bjelić and Obrad Savić (Hrsg.), London: The MIT press 2002, Zitat nach dem Orginal: Balkan kao metafora: izmedju globalizacije i fragmentacije, Beograd: Beogradski krug, 2003, S. 98-138, hier S. 113. <?page no="169"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 169 deren anerkannt ist. Das impliziert wiederum eine gewisse Unsicherheit, wenn es um die Definition der eigenen Kultur geht, die als eine einheitliche und wiedererkennbare Einheit dargestellt werden sollte. Die quasi-ontologische Differenz zwischen Balkan und Europa kann nur schwer die Tatsache verleugnen, dass die kulturellen Symbole und Erfahrungen sowohl des ehemaligen Jugoslawien als auch West- und Zentraleuropas nicht ganz fremd und Teil der eigenen Alltagsrealität und Kultur in Slowenien, Kroatien und Serbien waren und sind. So wird z. B. in Slowenien der offizielle Diskurs der Zugehörigkeit zu Westbzw. Zentraleuropa in der alltäglichen Realität durch Gefühle der Vertrautheit mit dem Balkan konterkariert. Um nicht völlig in einer als homogen, unifiziert empfundenen nationalen Kultur aufzugehen, entdecken in Slowenien junge Menschen den „Balkan“ als kulturelle Ressourcen einer heterogenen kulturellen Identität wieder, die auch die engen Grenzen der eigenen Nation transzendiert. Der slowenische Ethnologe Bojan Baskar beschreibt diese Entwicklung als „turning the stigmatized label into a badge of identity and a source of pride“. 420 So ist die sogenannte „Balkan-Kultur“ eine spezifische Art der kulturellen Subversion und politischen Provokation geworden. Sie bezeichnet eine kulturelle Produktion, die sich als eine Art Subkultur nicht national, sondern „a-national“ und grenzüberschreitend zeigen möchte. Atavisms and neologisms, new and old attractions: but ‘Balkan culture’ in Slovenia can be treated and understood also as a fun, then as a very specific provocation, and also as a kind of sub-cultural revolt against prevalent cultural preferences and values in present-day Slovenia. It is one of the reactions against discourse of Slovenianism ‘at any cost’ and against its only (Central) European cultural orientation which sometimes degenerates in cultural selfsufficiency 421 and even in hate-speech. 422 In Serbien versuchte man, mit sogenannten „gegenkulturellen Strategien“ die positiven Balkanbilder zu revitalisieren. Diese Tendenz kann man in der Populärkultur auf dem Balkan als ein Phänomen der 1990er-Jahre beobachten. In dieser Zeit „wird in allen Balkanländern eine neue balkanische populäre (Gegen-)Kultur geboren: Es entwickelt sich ein neuer Massengeschmack für alte Bauch-Tänze, geöffnet werden neue alte kleine Kneipen und Cafés, in der Atmosphäre beginnt ein neuer Typus arroganter balkanischer Intimität 420 Bojan Baskar: Within or without? Changing Attitudes towards the Balkans in Slovenia. In: Ethnologia Balkanica 07/ 2003, S. 195 421 Other cultural productions which do not pay attention to ‘national identity’ or ‘national correctness’ and are a-nationally, globally oriented, are for example youth subcultures, rave culture, hackers, etc. 422 Mitja Velkonja: Ex-home: “Balkan Culture” in Slovenia after 1991. In: Barbara Törnquist-Plewa, Sanimir Rešić (Hrsg.): The Balkans in Focus - Cultural Boundaries in Europe. Lund: Nordic Academic Press, S. 189 - 207, hier S. 201. <?page no="170"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 170 zu herrschen.“ 423 Das sind Varianten des positiven Balkan-Bildes, „verpackt in Hochkultur“, wie der bulgarische Kulturtheoretiker Alexander Kiossev meint. 424 Der serbische Ethnologe Ivan Čolović hat die sogenannten balkanischen Antidiskurse aufgrund der Ethnomusik untersucht und festgestellt: Es gibt Versuche, die balkanische Ethno-Musik darzustellen als einen wahrhaften Beweis dafür, dass die negativen Stereotype vom Balkan unberechtigt oder mindestens einseitig sind. Diese Musik, so sagt man, bezeugt, dass der Balkan heute keine Theaterszene von Disharmonie, Intoleranz und Hass ist, sondern umgekehrt - ein Raum, dessen kulturelle Tradition und speziell die Musik ganz unter dem Zeichen der gegenseitigen Beeinflussung und Zusammenarbeit der verschiedenen hier lebenden Völker steht. So erscheint der Balkan auch als Metapher des Multikulturalismus. 425 Die Narrative über Europa und den Balkan entstehen offensichtlich aus der Konstruktion und Rezeption von „fiktiven“ und „faktualen“ Geschichten, die als narrative Muster die Handlungen und die Lebenswelt organisieren und mit deren Hilfe sich kontingente Ereignisse nachträglich in eine Geschichte bzw. Großerzählung integrieren lassen. Die produzierten literarischen, geschichtlichen, literaturgeschichtlichen und politischen Erzählungen über „Zivilisation“ und „Barbarei“ werden unter diversen medialen Bedingungen rezipiert und in eine identitätsstiftende Geschichte integriert. Diese Denkweise zielt auf die Erklärung und Beschreibung eines abstrakten Zentrums, um diesem Zentrum in der Gegenwart zu seiner Identität, zu seiner Selbstfindung zu verhelfen. Europa und der Balkan stehen so in einem Machtverhältnis, in dem sich die Peripherie als Opposition zum Zentrum und umgekehrt definiert. Gewollt oder ungewollt, die Kulturen sind nur mit großer Mühe als einseitig und homogen zu repräsentieren. Erving Goffman hat darauf hingewiesen, dass Menschen ihre Identität permanent behaupten und dies in dem einfachen Satz „Wir alle spielen Theater“ auf den Punkt gebracht. 426 Er ist der Ansicht, dass wir diverse Rollen spielen, in denen wir uns möglichst gut verkaufen müssen. Für Goffman beruht diese Selbstdarstellung auf den Aspekten, die, wenn sie dem erwünschten Eindruck dienlich sind, überbetont werden, sonst aber verborgen oder unterlassen werden. So scheint man mit dem Kontrahieren von Balkan- und Europakonzepten umzugehen. Der Bal- 423 Kisov, zitiert nach: Ivan Colović: Warum sind wir stolz auf den Balkan? In memoriam Dunja Rihtman-Auguštin (1926-2002). In Netzwerk Magazin, Oktober 2005. http: / / www.toepferfvs.de/ fileadmin/ user_upload/ Netzwerk_Magazin/ Magazin2/ Colovi c __Warum_sind_wir_stolz_auf_den_Balkan.pdf (abgerufen am 2. 3. 2010) 424 Ebd. 425 Ebd. 426 Vgl. Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. München: Piper 1969. <?page no="171"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 171 kan ist, wie es Ulf Brunnbauer sagt, sicherlich nicht das wesentliche Objekt des heutigen europäischen Alteritätsdikurses. 427 Die negativen Erzählungen, die den Balkan und Europa thematisieren, werden, wie bisher gezeigt, beiderseits nach den Regeln der imaginären Geografie als Handwerk für die Dramatisierung der Differenzen gegenüber dem Anderen eingesetzt. Obwohl dahinter eine Verallgemeinerung und damit unvermeidbare Simplizifierung steht, sind der Balkan und Europa einander politisch, wirtschaftlich und kulturell zu nah, um die imaginären Grenzen als wirklich und dicht erscheinen zu lassen. Diese Grenzen sind eher durchlässig und in vielerlei Hinsicht gebrochen. Sie befinden sich in der Zone einer (un)mittelbaren Berühung und somit in der sogenannten Zone des unvollkommenen Anderen bzw. des unvollkommenen Selbst. IV.8 Jugoslawiens Nationenbildungen im Kontext der europäischen Identitätsnarrationen Der Aufbruch eines kulturellen Nationalismus, den man am jugoslawischen Beispiel beobachten konnte, wirkte für viele westeuropäische Intellektuelle archaisch, zurückgeblieben und überholt. Nationalismus erschien als das politische Abbild einer regressiven Kulturauffassung. Dabei hat man eine romantische, völkisch geprägte Nationalkultur vor Augen, die im jeweiligen nationalen Rahmen als hegemonial auftritt; eine Kultur, die sich obsessiv an die nationalspezifischen Traditionen hält, die konservativ und xenophobisch ist und die, obwohl in sich selbst elitär strukturiert, ihren politischen Verbündeten immer im Feld des rechten Populismus sucht und findet. Der natürliche Kontext für dieses Kulturmodell sei die bürgerliche, frühindustrielle Welt des neunzehnten Jahrhunderts, nicht aber unsere postmoderne Welt des globalen Kapitalismus, der neuen Informationstechnologien und allgemeiner: der mondialen Vernetzung. 428 Wie bisher schon gezeigt, war die Verbindung zwischen Ethnizität, Identität und Sprache in Jugoslawien immer vorhanden. Die kulturellen Differenzen im ehemaligen Jugoslawien konnten im Großen und Ganzen weiter bestehen. Föderalismus war eigentlich als Staatenbund verstanden, die Republiken haben besonders in den 1960er- und 1970er-Jahren immer mehr politische Macht bekommen. Die Schaffung einer spezifisch jugoslawisch-sozialistischen Einheitskultur wurde praktisch schon in den 1960er-Jahren aufgegeben. Die 427 Vgl. Ulf Brunnbauer: Europa und der Balkan. 428 Boris Buden: Die kroatische Erfahrung. Zwei Illusionen über die Rolle der Intellektuellen in der Politik. In: Die intellektuelle Konterrevolution, Kulturrisse 0000. IG Kultur Österreich http: / / igkultur.at/ igkultur/ kulturrisse/ 1004808814/ 1004880193 (abgerufen am 3. April 2010) <?page no="172"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 172 Großnarrative konnten eine konstante Integrationsideologie nur während einer begrenzten Zeitperiode sichern. Jedoch kam es besonders nach 1989 zu Ethnisierungs- und Nationalisierungsprozessen, die „nachgeholt“ werden mussten. Diese Entwicklung im ehemaligen Jugoslawien schien dem Prozess der europäischen Integrationen entgegengesetzt zu sein, insbesondere da ab 1989 ein Wandel von einer (wirtschaftlichen) Kooperation europäischer Staaten zu einer tatsächlichen politischen Gemeinschaft möglich geworden war und mit dem Vertrag von Maastricht 1992 einen neuen Aufschwung bekam. Die Europäische Union verfolgt seit dem Vertrag von Maastricht nicht in erster Linie wirtschaftliche Ziele. Die Präambel des EU-Vertrags betont unter anderem den Entschluss der Mitgliedstaaten, „den mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften eingeleiteten Prozess der europäischen Integration auf eine neue Stufe zu heben“ und „den Prozess der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas [...] weiterzuführen“ 429 . Die Wirtschaft spielte jedoch eine Avantgarderolle im europäischen Einigungsprozess. Ihren Ursprung hat die Europäische Union in der Montanunion (1951), die „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ genannt wurde und sich aus nur sechs Mitgliedsstaaten (Frankreich, Italien, Bundesrepublik Deutschland und den drei Benelux-Länder) zusammensetzte. Sie wurde nur sechs Jahre später 1957 um die Europäische Atomgemeinschaft (EAG oder Euratom) und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ergänzt. Die offiziellen Beziehungen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Jugoslawien waren schon 1968 geknüpft worden, ein erster zunächst befristeter Kooperationsvertrag ist 1970 abgeschlossen und immer wieder verlängert und erweitert worden. Eine bedeutende Deklaration über die zukünftigen Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Jugoslawien wurde während des Besuchs des damaligen Vorsitzenden der Europäischen Kommission Jacques Delors 1987 verabschiedet. Nachdem die Krise im ehemaligen Jugoslawien aufgebrochen war, kam es zur Wende in den Beziehungen. 430 Die aktuelle Konstitution Europas verläuft parallel zur Globalisierung, die v. a. weltweite wirtschaftliche Verflechtung bedeutet und schließlich das Prinzip des Nationalstaats schwächt. Einige Analytiker sehen das als einen Übergang, der ähnlich jenem aus dem Ancien Régime in den modernen Nationalstaat ist. So wie nach der Französischen Revolution die inneren Grenzen zwischen den Ständen fielen und bloß die äußeren Grenze des Staatsgebiets blieben, so fallen heute auch die äußeren Grenzen zwischen Staaten, die der Politik bisher einen klaren Rahmen gegeben hatten. Obwohl 429 Vgl. EUR-Lex.europa.eu, Der Zugang zum EU-Recht http: / / eur-lex.europa.eu (Datum einfügen) 430 Vgl. Ranko Petković: Jugoslavija i svet u postbiopolarnoj eri. Beograd: Službeni list 1998. <?page no="173"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 173 man sich das Territorium eher als Netzwerk und weniger als Eigentum einer Nation vorstellen sollte, was eine Transformation der staatlichen Politik zur Folge hätte, scheint das dominante Verständnis der europäischen Idee jedoch ein Europa der Nationalstaaten zu sein. Ein vereintes Europa ist immer noch keine Alternative, sondern in vielerlei Hinsicht eine Bestätigung der Hegemonie des Nationalstaates. Die Idee einer europäischen Identität verbindet sich offensichtlich mit den nationalstaatlichen Identitäten der EU-Mitgliedsländer. Der Bedarf nach alternativen kollektiven Identitäten ist nach vielen Theoretikern wie Habermas vorhanden. Nach Gerard Delanty wäre es gewagt, die kulturelle Einheit Europas von den jeweiligen nationalen Identitäten zu trennen. Die europäische Identität solle vielmehr als postnationale Identität angesehen werden. 431 So scheint Europa zwischen einem „Europa der Bürger“ und einem „Europa der Nationen“ zerrissen zu sein. Nach Herfried Münkler betrifft der Bedeutungsverlust des Nationalstaates aber mehr den Bereich der exekutiven Funktion des Staates und weniger den Bereich seiner symbolischen Funktion. „Mehr als die Abtretung von Kompetenzen ist der Verlust von Symbolen beklagt worden“ 432 , so Münkler. Während sich der Staat in der modernen Auffassung des Begriffs mehr auf den Bereich der Regierungsgewalt und Verwaltung bezieht, bezeichnet der Begriff der Nation die moderne Form der Vergemeinschaftung, die ein Zugehörigkeitsgefühl und das Gefühl einer geteilten Identität erzeugt. Da die Nationalstaaten und Nationalkulturen in den letzten 200 Jahren eine Selbstverständlichkeit in Europa geworden sind, ist die Definition einer europäischen kulturellen Identität schwierig. Eine zukünftige europäische Identität solle eine Art übernationaler Identität darstellen und würde so gesehen hierarchisch über der nationalen Identität liegen. So scheinen die nationale Identität und die europäische Identität in einem Konkurrenzverhältnis zueinander zu stehen. Obwohl die Identitäten der einzelnen Staaten keine Konkurrenz eingehen sollen, befürchten viele Staaten einen nationalen Identitätsverlust. Die europäische Identität kann, wie jede andere Identität, aus Abgrenzungen und aus der Frage nach der eigenen Identität entstehen. Somit sind diese Abgrenzungen ein erster Schritt, um den Inhalt der Identitätsnarrationen zu definieren. Darüber hinaus stellt sich die Frage, nach welchen Werten diese Identität genau definiert sein soll. Neben kulturellen Gemeinsamkeiten spielen auch wirtschaftliche und sozialpolitische Interessen in einem vereinten Europa eine wichtige Rolle. Der Kontext, in dem sich die europäische Identität ausbildet, ist durch Ideale geprägt, die für ein gemeinsames Europa gelten sollen. Zudem wird mit der europäischen Identität 431 Vgl. Gerard Delanty: Inventing Europe, Idea, Identity, Reality. Lodon: Macimillan Press 1995. 432 Vgl. Münkler: Reich, Nation, Europa, S. 80. <?page no="174"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 174 traditionell die Friedenssicherung nach dem Zweiten Weltkrieg und auch die Beendigung des Kalten Krieges assoziiert. Europa ist keine selbstverständliche Einheit, wie sonst jede andere politische Einheit, es ist sowohl eine Idee als auch Realität. Deswegen kann Europa auch als ein kulturelles Konstrukt, das von Ambivalenz gekennzeichnet ist, gesehen werden. Hier geht es nicht nur um Einheit und Inklusion, sondern auch um Ausschließung und die Konstruktion von Unterschieden, die auf dem Exklusionsprinzip beruhen. Europa ist zudem auch eine geopolitische Realität. Wenn es um die Idee von Europa geht, stellt sich die Frage nach einer neuen Politik des kulturellen Pluralismus. Die europäische Idee ist nach Delanty ein kultureller Wert, und als solche ist sie in sich selber keine normative Voraussetzung, da Werte nicht mit Normen gleichzusetzten sind. 433 Werte sind nämlich partikularistisch und können daher nicht universelle Gültigkeit nach sich ziehen, so wie es Normen gelingen kann. Deswegen vertritt Delanty die These, dass die europäische Idee von universellen ethischen Gültigkeitsansprüchen getrennt werden muss. Eine europäische Identität könne als eine Identifikation mit dem politischen Europa eine Identifikation mit demokratischer Willensbildung sein. Ausgehend von dieser Widersprüchlichkeit erklärt Edgar Morin in seinem Buch „Europa denken“ die „unitas multiplex“ als Wesen der europäischen Identität. Er versucht, diese komplexe, widersprüchliche europäische Identität mit dem Begriff der „Dialogik“ zu erklären. 434 Das Prinzip der „Dialogik“ bedeutet, dass zwei oder mehrere Arten von Logiken in komplexer Weise (komplementär, konkurrierend, antagonistisch) in einer Einheit miteinander verbunden sind, ohne dass sich jedoch die Pluralität in der Einheit verliert. Was die Einheit der europäischen Kultur ausmacht, ist nicht die jüdischchristlich-griechisch-römische Synthese, nicht nur die Komplementarität dieser Elemente, sondern auch die Ambivalenz und der Antagonismus zwischen allen diesen Instanzen, die jeweils ihre eigene Logik haben - eben ihre „Dialogik“. So gesehen setzt die Konstitution eines europäischen kulturellen Diskurses ein nicht auf Homogenität basierendes Kulturverständnis voraus. Die Vielfalt der Kulturen und nicht die Homogenität (zunächst als eine Vielfalt der Sprachen) solle das Konzept der europäischen Identität in einem vereinten Europa prägen. Bestimmte Werte wie Einheit, Individualismus und Idealismus stehen im Mittelpunkt der europäischen Identitätsbestimmungen. Gegensätze, die Jaspers als unverzichtbare Kennzeichen europäischer Freiheit bezeichnete, führen dazu, dass sich Idealismus, Individualismus und Einheit in einem ständigen Widerspruch mit Materialismus, Kollektivismus und Vielfalt befinden. 435 433 Vgl. Delanty: Inventing Europe. 434 Vgl. Edgar Morin: Europa denken. Frankfurt am Main: Campus 1991. 435 Vgl. Karl Jaspers: Vom europäischen Geist. München: Pieper 1947. <?page no="175"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 175 Im Maastrichter Vertrag bekannten sich die Unterzeicherstaaten zu einem Europa der Völker, das „sich wesentlich über die Kultur definiert“. 436 Der Schweizer Schriftseller Adolf Muschg, der sich schon öfters zu Fragen der Europäischen Union geäußert hatte, publizierte 2005 den Essay „Was ist europäisch? “ „Europa“, postulierte Muschg, „wird ein kulturelles Projekt, oder es wird sich auch politisch nicht halten lassen.“ 437 Paul Michael Lützeler hat in seinem Buch „Die Schriftsteller und Europa“ Europa-Essays seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert untersucht. Auffallend war für Lützeler, wie engagiert sich gerade die SchriftstellerInnen in den europäischen Ländern während der letzten 200 Jahre mit der Europa-Idee auseinandergesetzt haben, wobei er auf diejenigen aus dem deutsprachigen Raum fokussiert. Die Kurve der Argumentation über Einheit und Vielfalt europäischer Kultur reicht so, nach Lützelers Bestandsaufnahme, von der Insistenz auf Einheit bei Novalis und Friedrich Schlegel über den Glauben an die Vielfalt in der Einheit bei Börne, Heine, Stadler, Schickele, Lion, Annete Kolb und Stefan Zweig, bis zu den Autoren der achtziger Jahre, das heißt bis zu Enzensberger und Peter Schneider, die von der Einheit europäischer Zivilisation nichts wissen wollen: Sie pochen auf die Anerkennung eines totalen Pluralismus. 438 Das europäische Projekt unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht vom einstigen jugoslawischen Projekt. Jugoslawien war seit dem frühen 19. Jahrhundert jedoch auch ein kulturelles Projekt, das wegen der historischen Ereignisse in Europa nach dem Ersten Weltkrieg und später nach dem Zweiten Weltkrieg auch klare politische Verbindlichkeit erhielt. Viele Fragen, die man heute in Europa behandeln muss - besonders jene, die in Verbindung mit dem Umgang mit den nationalen und kulturellen Differenzen und ihrer Harmonisierung in Rahmen eines übernationalen Projektes stehen - sind nicht ganz verschieden von jenen in Jugoslawien. Identität und Kultur haben heute eine enorme gesellschaftliche Relevanz, die schon auf ein weit verbreitetes essenzialistisches Verständnis von Nationalität, d. h. der politischen Romantik des 19. Jahrhunderts, zurückzuführen ist, die eine ursprüngliche Einheit von Sprache, Nation und Identität postuliert. Der jugoslawische Fall bestätigt das einerseits, andererseits griffe es zu kurz, alle bisher beschriebenen Prozesse nur als Kampf einer konservativen, ideologisch prämodernen Kulturelite zu deuten, der mit allen medialen, kulturellen und politischen Mitteln gekämpft wurde, um eine eigene, ethnisch- oder religionsspezifische Identität zu schützen. Das würde bedeuten, 436 Siehe Vertrag von Maastricht von 1992, S. 3, http: / / eur-lex.europa.eu. (abgerufen am 23.3.2010) 437 Adolf Muschg: Was ist europäisch? Reden für einen gastlichen Erdteil. München: C. H. Beck 2005, S. 32. 438 Lützeler: Die Schriftsteller und Europa, S. 487. <?page no="176"?> IV Literarische und institutionelle (Re-)Nationalisierung 176 dass man viele gegenwärtige Probleme, die im Zusammenhang mit der Kultur, der Nation und der Identität stehen, nicht mehr hat. Südosteuropa scheint sich langsam auf dem Weg zur europäischen „Normalität“ zu befinden, aber die Verbindung von Kultur im normativen Sinne und ethnischer Herkunft verursacht immer noch Probleme und Konflikte. Einige Theoretiker wie Stuart Hall oder Étienne Balibar warnen so vor einer neuen Form von Rassismus, den sie als „kulturellen Rassismus“ bezeichnen. Als Ersatzbegriffe für Rasse würden in neo-rechten Ideologien Ethnizität und Kultur verwendet, und statt von einem „genetischen Mangel“ sei von einem „Kulturdefizit“ die Rede. Dem kulturellen Rassismus liegen die verschiedenen Ausschließungspraxen zugrunde. Siegfried Jäger formuliert diese Tendenz in Anlehnung an Stuart Hall folgendermaßen: Auch wenn bestimmte Lebensgewohnheiten, Sitten und Gebräuche einer bestimmten Menschengruppe verabsolutiert und naturalisiert werden, sozusagen als die einzig normale Form zu leben angesehen werden, und andere, davon abweichende Lebensformen - und das ist ganz wichtig - negativ (oder auch positiv) bewertet werden, ohne daß dies unbedingt genetisch oder biologisch begründet wird, ist von Rassismus zu sprechen. Auch dies dient der genannten Ausschließung anderer Menschen, der Abgrenzung und der Legitimation, die Anderen zu bekämpfen. 439 Diese Entwicklung kann nicht nur auf ein totaliserendes Kulturkonzept aus der Zeit der Romantik zurückgeführt werden, sondern auch auf ein normatives Kulturkonzept, das seinen Akzent eher auf Universalismus als auf Partikularismus setzt. Das jugoslawische Beispiel legt hierüber deutlich Zeugnis ab. 439 Siegfried Jäger: Rassismus und Rechtsextremismus-Gefahr für die Demokratie. In: Entstehung von Fremdenfeindlichkeit: die Verantwortung von Politik und Medien; eine Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung am 22. und 23. März 1993 in Potsdam. Bonn: Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung 1993, S. 7 - 34, hier S. 21. <?page no="177"?> Schlussbetrachtung Will man die Ergebnisse dieser Arbeit zusammenfassen, läuft man unweigerlich Gefahr, eine verkürzte und vereinfachte Darstellung der Problematik, die das Verhältnis von Nation, Identität und Kultur prägt, zu liefern. Die Untersuchung zielte nicht nur darauf ab, die in der Einleitung formulierten Ausgangsfragen zu beantworten, sondern sollte diesen Themenkomplex auch in einen gegenwärtigen Kontext stellen. Ich werde deswegen die Themen aus den vorigen Kapiteln noch einmal kurz aufgreifen, um auf die in der Einleitung angesprochenen Fragestellungen in einer aktuellen Perspektive zurückzukommen. Das Hauptaugenmerk dieser Arbeit lag auf der Prozesshaftigkeit jeder Bedeutungsbildung und Bedeutungsverschiebung, unabhängig davon, ob die Untersuchung diachron oder synchron angelegt war. Der methodisch-theoretische Ansatz der Arbeit, der auf postklassischer Narratologie beruht und mit den Ansätzen der Diskursanalyse in Anlehnung an Michel Foucault und der sozialphilosophischen Theorie des sozialen Imaginären in Anlehnung an Charles Taylor und Cornelius Castoriadis erweitert und ergänzt wurde, hat sich für diese Studie als sehr produktiv erwiesen. Die Kulturkonzepte, die in der Zeit der Aufklärung und ihres Ko-Projektes, der Romantik, entstanden sind, prägen offensichtlich noch heute jene Vorstellungen und Werte in Europa, die das nationale Selbstbild der unterschiedlichen Nationalstaaten, also die kognitive Repräsentation des Eigenen betreffen. Dieses Reservoir von Bedeutungen wurde in der Arbeit als ein „zentrales Imaginäres“ im Sinne von Castoriadis beleuchtet. An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert kristallisierte sich, wie gezeigt wurde, ein enger Zusammenhang zwischen Kultur und Nation heraus, an den sich zudem unterschiedliche Identitätskonzepte anlagerten. Ich habe mich vorwiegend mit der Entstehung eines romantischen Kulturkonzeptes beschäftigt, um in der Zeit entstandene implizite symbolische Ordnungen zu explizieren. So habe ich im ersten Teil meiner Arbeit einen bestimmten historischen, kulturellen, sozialen und politischen Kontext in Europa und Deutschland analysiert, in dem sich auch die ursprüngliche Idee einer Einheit aller Südslawen besonders stark entwickelt hat. Zur gleichen Zeit bildeten sich auf dieser Folie die jeweiligen nationalen und kulturellen Identitäten in Serbien, Kroatien und Slowenien heraus. Auf die Besonderheiten dieses Prozesses wurde in groben Zügen anhand der drei Nationalepen in Kroatien, Slowenien und Serbien, die auch die ersten nationalen Narrative darstellen, hingewiesen. Ein Thema aus einem anderen Land konnte offensichtlich auch im eigenen, zu der Zeit erst entstehenden nationalen Rahmen funktionieren, wie es mit dem Epos des montenegrinischen Staatsmans und Schriftstellers Njegoš in Serbien der Fall war, oder mit dem Epos des kroatischen Dichters Ivan Mažuranić, der für sein Werk nicht ein Thema <?page no="178"?> Schlussbetrachtung 178 aus der kroatischen, sondern aus der montenegrinischen Geschichte gewählt hat. Die romantischen Identitätsnarrationen in den (vor-)jugoslawischen Raum bringen nämlich besonders auffällig die Dualität und den Widerspruch zwischen Universalismus und Partikularität, die in der Epoche der Romantik so auffallend waren, zum Ausdruck. Offensichtlich war die Vorstellung von Homogenität in diesen Gesellschaften noch nicht so stark geprägt, und die kulturellen Differenzen wurden nicht als Gegensätze empfunden, sodass Differenz und Identiät nicht einander entgegengesetzt wurden. Die Auseinandersetzung mit der deutschen Romantik hat gezeigt, wie die deutschen Schriftsteller einen ästhetischen und theoretischen Diskurs über „Kultur“ entwickelt haben, ein Werte- und Bezugsspektrum, aus dem diejenigen schöpfen konnten, die einer politischen und sozialen Integration entbehrten. Die Verbindung einer universalistischen mit einer individualistischen Perspektive hat besonders die Frühromantiker beschäftigt. Die Eroberungskriege Napoleons und die Restauration nach dem Wiener Kongress 1815 haben zweifellos diesen Reflexionsprozess, der Universalität mit Differenz vereinen wollte, in seiner weiteren Entwicklung entscheidend geprägt. So konnte der Weg für einen theologisch gestützten Universalismus geebnet werden, aber auch für die homogenisierten, gemeinschaftsradikalen Identitätskonzepte. Die Romantiker gehen von einem Bruch, von einem „Riss im Sein“ aus, der sich in Folge des Verlustes von üblichen Vermittlungsmechanismen zwischen Individuum und Gesellschaft abzeichnete. Diese Spaltung artikuliert sich in der Trennung von Subjekt und Objekt, die die bis heute aktuell gebliebene Identitätsproblematik zum Kernproblem werden lässt. Der Gegensatz zwischen dem Gegenständlichen, Objektiven und dem Subjekt scheint unüberbrückbar zu sein, und so entsteht die Sehnsucht nach der Heilung der Welt, nach der Zusammenführung von Gegensätzen zu einem harmonischen Ganzen. Die Sehnsucht nach Einheit und somit nach Erlösung des krisenerschütterten Individuums versuchten einige romantische Schrifsteller durch dessen Auflösung in einem größeren Ganzen zu befriedigen: in der Gemeinschaft eines Kollektivs, das wiederum dem christlichen corpus mysticum nachempfunden war, oder in einem Nationalismus, der auf einer Überbetonung der Eigenen und einer ideologischen Ausgrenzung des Fremden basiert. Solche Überwindung aller Zerrissenheit, solch romantischer Lösungsversuch einer fundamentalen Identitätskrise kann jedoch problematisch sein, da er auf politischer Ebene totalitär konzipierten Ordnungen Vorschub leistet. Da auf kultureller Ebene lange vor dem Umbruch des gesellschaftlichen Systems die Voraussetzungen für das Neue geschaffen werden, habe ich im zweiten Teil meiner Arbeit die kulturelle Konstitution von sozialer Integration bzw. Desintegration im sozialistischen Jugoslawien untersucht. Dazu habe ich verschiedene Narrative analysiert, um zu zeigen, wie die Narrative zu Schlüsselelementen kultureller Integration und zugleich zur Schaubühne für symbolische Kämpfe werden, in denen Kollektive sich über Ein- und Aus- <?page no="179"?> Schlussbetrachtung 179 schlusskriterien verständigen, Zugehörigkeit und Feindschaft organisieren. Die gesellschaftlichen Konzepte der Selbstbestimmung wie eben Identität werden in mehr oder minder großen Narrationen formuliert, transportiert und kultiviert. Anhand der zahlreichen Beispiele von verschiedenen kulturellen Praktiken, Symbolen, Ritualen, Gründungsmythen, die in einer Gesellschaft narrativ vermittelt werden, wurde gezeigt, wie einerseits Kohärenz zu stiften ist, andererseits, wie Variationen des Gesamtkonzepts in Form von Gegennarrativen möglich sind. Jede Ordnung braucht eine stabile Form, und sei es nur zeitweise. Großerzählungen können eine solche Form schaffen und somit zu hegemonialen Interpretationsmodellen in einer Gesellschaft werden. Gleichzeitig können die sogenannten „kleinen und wenig kleinen Geschichten“ 440 eine herrschende Großerzählung infrage stellen bzw. sie durch eine neue Meistererzählung ersetzen und sich so an der Gründung einer neuen sozialen Ordnung beteiligen. Als Ergebnis der Analyse der Erzählformen und Plotstukturen der Großerzählungen im Sinne eines Gruppennarrativs, das eine sowohl nationale als auch übernationale Gruppe definiert, hat sich die Plotstruktur der Romanze als in beiden Fällen grundlegend erwiesen. Die Gegennarrative weisen hingegen zumeist die Plotstruktur der Ironie und Satire, manchmal auch der Tragödie auf, die der Romanze gegenüber steht. Lyotard hat das Ende der großen Erzählungen verkündet und sich stattdessen für die Vielfalt kleiner Erzählungen eingesetzt. Jedoch können die Großerzählungen offensichtlich, wenn auch nur auf eine befristete Zeit, die sozialen Identifikationsbedürfnisse befriedigen. Diese Funktion erfüllen sie dadurch, dass sie einen gemeinsamen Deutungsrahmen für die Erfahrungen der Gruppenmitglieder anbieten. Die narrativen Identitäten einer Gemeinschaft entstehen als ein Prozess der ständigen Konstruktion und Subversion von Bedeutungen. Literarische Texte nehmen auch an diesem Prozess teil, stehen aber nicht in einem direkten Ursache-Wirkungs-Verhältnis zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Dieser Teil der Untersuchung hat darüber hinaus gezeigt, dass Integration und Desintegration gleichrangige Möglichkeiten darstellen, die einen gemeinsamen Ursprung haben. Anhand des jugoslawischen Beispiels wurde auf die Tatsache hingewiesen, dass die literarischen und sprachlichen Grenzziehungen, die einmal als Einheit generierende Mechanismen funktionierten, auch den Anfang einer kulturellen Konstitution kennzeichneten, die später in soziale Desintegration mündete. Schließlich habe ich gezeigt, wie nationale Selbstbilder nach Umbrüchen reformuliert werden und dabei als Identifikationsangebot nach innen und als Distinktionsmerkmal nach außen funktionieren. Da eine Gesellschaft ver- 440 Vgl. Jean-Francois Lyotard: Der Widerstreit. München: Fink 1989. Und: Postmoderne für Kinder. Wien: Passagen-Verlag. 1987 <?page no="180"?> Schlussbetrachtung 180 schiedene Selbstbilder zu verschiedenen Zeiten entwirft, stand im Vordergrund meiner Forschung, Ähnlichkeiten und Unterschiede dieser Konzepte herauszuarbeiten und sie innerhalb verschiedener historischer, kultureller, sozialer und politischer Kontexte zu deuten. Besonders interessierte mich dabei das Verhältnis oder die Gewichtung von Elementen der Diskontinuität und Kontinuität in der Gegenwart, da sich über alle Brüche und Diskontinuitäten hinweg zugleich Elemente von Kontinuität behaupten. Meine Absicht war nicht nur, die Diskontinuitäten und Brüche innerhalb der imaginären gemeinschaftlichen Identitätsbildung zu erhellen und sie in Verbindung mit der Entstehung neuer kollektiver Selbstbilder zu bringen, sondern auch die Kontinuitäten kritisch zu betrachten. Nach Cornelius Castoriadis erhebt sich nämlich jeder Symbolismus „auf den Ruinen älterer Symbolsysteme und benutzt deren Material - wenn vielleicht auch nur zu Ausfüllung der Fundamente der neuen Tempel, so wie es die Athener nach den medischen Kriegen taten.“ 441 Wenn die beherrschenden Erklärungsmuster in Form von Narrativen ihre Funktion in der Gesellschaft nicht mehr optimal erfüllen können, dann werden, wie sich auch am jugoslawischen Beispiel gezeigt hat, sowohl die herrschende Ordnung als auch die Modelle und Normen, nach denen diese Ordnung gedacht wurde, fraglich. Somit wird ein Prozess der Grenzziehung angesetzt, der ein Ergebnis menschlichen Gemeinschaftshandelns darstellt und sich im ständigen Gemeinschaftshandeln (sowohl von Institutionen als auch von Individuen) reproduziert und stabilisiert. In dieser Phase rücken die Gegensatzpaare in den Vordergrund, da allen gegensätzlichen Kategorien unter bestimmten Bedingungen eine Nicht-Identität eigentümlich ist. So dominiert nun die einem bisherigen Identitätskonzept innewohnende gegensätzliche Seite. Ein Beispiel solcher Grenzziehung stellt in der Arbeit die Polarisierung zwischen Balkan und Europa bzw. Zentraleuropa (als zwei verschiedenen „Kulturkreisen“, die Orient und Okzident symbolisieren) dar, die im Prozess der Desintegration Jugoslawiens eine wichtige Rolle gespielt hat. Durch die Beschreibung solcher narrativ konstituierten Grenzerzählungen wurden Modi kultureller und politischer Kommunikation zu dieser Zeit in der Region gezeigt sowie die narrative Kartografierung von Kulturräumen. Die kulturellen Differenzen sind im Unterschied zum 19. Jahrhundert zu Gegensätzen bzw. konträren Identitäten verhärtet worden. Diese Entwicklung steht aber im Zusammenhang mit einer weltweit zu beobachtenden Politisierung der kulturellen Unterschiede nach 1989. Die kulturellen Differenzen werden zum Hauptsignifikanten, wenn es um die Formulierung der Identitätskonzepte einer Gesellschaft geht. 441 Vgl. Ebd. <?page no="181"?> Schlussbetrachtung 181 Eine wieder aktuell gewordene Territorialisierung und Naturalisierung der Kultur zeigt, wie die Kultur der politischen Legitimation als Grundlage dient. Die Gesellschaften sind spezifische Kulturkreise geworden, und die Kultur wird in sogenannte Identitätskämpfe hineingezogen. Die kulturellen Unterschiede sind ein entscheidender Faktor bei der Formung politisch relevanter Identitäten geworden. Im Kontext der sogenannten „Europäisierung Europas“ kommt diese Entwicklung zum Ausdruck, indem heutzutage den einzelnen Nationen eine besondere Rolle im Diskursfeld „Europa“, nämlich als zu bewahrenden Kulturräumen, zugesprochen wird. Diese Politik bekräftigt jedoch ein, wie schon erwähnt, problematisches Kulturkonzept, nach welchem die unterschiedlichen Lebensformen für das einzelne Kollektiv oder für das Individuum nicht kombinierbar oder austauschbar sind. Auf diese Weise bleibt man dem Konzept von Kulturen verhaftet, die Kugelgestalten ähneln. Alain Tourainea hat bereits davor gewarnt, dass die moderne Welt stärker radikalen Konflikten ausgesetzt sein könnte als die des Industriezeitalters. Identitäre und kulturelle Konflikte sind nicht so verhandlungsfähig, wie es Interessenkonflikte waren. In Konflikten werden heute nicht nur soziale Akteure einander entgegengesetzt, sondern Kulturen, die als unvergleichbare Identitäten eines Kollektivs verstanden werden. Da zwischen ihnen keine Vermittlung möglich ist, werden die sozialen Konflikte durch eine Bestätigung der absoluten Unterschiede und durch Ablehnung der Anderen ausgetragen. Wenn auch etwas radikal formuliert, beschreibt der folgende Satz von Terry Eagleton diesen Umstand ziemlich präzise: „In Bosnien oder Belfast ist Kultur nicht nur das, was man in seinem Walkman einlegt, sondern etwas, wofür man tötet.“ 442 Diese Entwicklung scheint das Zugehörigkeitsgefühl des Individuums zu einer Gemeinschaft bzw. Nation zu stärken. „... das Wir-Bild, der gesamte soziale Habitus der Individuen ist mit starken Gefühlsbesetzungen ganz unverrückbar an die traditionelle Gruppenidentität auf nationalstaatlicher Ebene gebunden. Der gewaltsame Zerfall Jugoslawiens zeugt davon, dass sich die kollektiven Individuen bzw. individualisierten Kulturen, so wie wir sie in Europa kennen, weniger um die Anerkennung von Differenz und damit um die viel beschworene Toleranz bzw. Duldung von Unterschieden bemühen sollten, als vielmehr um die Entschärfung von Differenz. Denn erst diese könnte identitäre und kulturelle Konflikte mildern. 443 Eine erste Voraussetzung dafür, ist wie diese Arbeit zeigen wollte, die Heterogenität und nicht die Homogenität der nationalen Kulturen wahrzunehmen. Es existieren keine reine Kulturen und kulturellen Grenzen. Serbische, kroatische, slowenische Identitätskonstruktionen wie deutsche und französische zum Beispiel bedin- 442 Zitiert Nach: Srdjan Vrčan: Kultura kao društveno opasan pojam, In: Reč: 61/ 7, März 2001, S. 111. 443 Vgl dazu Emilija Mančić: auf www.kakanien.ac.at/ beitr/ emerg/ EMancic1.pdf. <?page no="182"?> Schlussbetrachtung 182 gen einander wechselseitig. Deshalb schien es mir überflüssig, die Vielfalt und Heterogenität der nationalen Kulturen zu erklären, vielmehr erklärungsbedürftig war für mich die beanspruchte Homogenität und Abschließung. Diese Arbeit wollte so einen Beitrag zu einem offeneren vergleichenden Kulturbegriff leisten, der die Differenzen voraussetzt, sie nicht zu nivellieren versucht, also Kultur(en) im Plural betrachtet und schließlich zu einem Diversitätsmodell im europäischen Rahmen verhilft, das, in der politischen Praxis angewandt, Gruppenidentitäten nicht gegeneinander ausspielt. <?page no="183"?> Bibliographie Primärliteratur: Almanah hrvatskih srpskih i pesnika i pripovedaca. Zagreb/ Beograd 1910. Aralica, Ivan: Put bez sna. Zagreb: Znanje 1987. Aralica, Ivan: Duše robova., 2 izd. Zagreb: Znanje 1986. Aralica, Ivan: Graditelj svratišta. Zagreb: Znanje 1986. Brentano, Clemens: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. Stuttgart: Reclam 2003. Brentano, Clemens: Die Schachtel mit der Friedenspuppe. Wien: Wilhelm Frick 1944. Cankar, Ivan: Slovenci in Jugoslovani,. In: Ivan Cankar: Izabrano delo, 1 Band, Ljubljana 1967. Debeljak, Aleš: Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. 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Während des Studiums erhielt sie das Stipendium der Humboldt Universität für die Teilnahme am Germanistischen Teilstudium an der Humboldt Universität zu Berlin, sowie ein DAAD-Stipendium an der Albert- Ludwig Universität, Freiburg. Von 2006 bis 2009 hat sie als Kollegassistentin im Rahmen des Initiativkollegs „Kulturen der Differenz. Transformationen in Zentraleuropa nach 1989“ an der Universität Wien neben der selbstständigen Forschung an der Konzipierung, Organisation und Moderation von Konferenzen und Workshops im In- und Ausland sowie am Aufbau von Netzwerken in Zentraleuropa mitgewirkt. Über das Thema ihrer Dissertation hielt sie Vorträge auf Konferenzen in Österreich, Kroatien, Slowenien, Slowakei und Ungarn. <?page no="197"?> Danksagung Vorliegende Studie ist im Rahmen des interdisziplinären Initiativkollegs Kulturen der Differenz. Transformationen in Zentraleuropa nach 1989 an der Universität Wien entstanden und dort Ende 2010 eingereicht worden. Für die finanzielle Förderung des Projektes in den ersten drei Jahren danke ich der Universität Wien, für die Druckkostendeckung der im Impressum genannten Forschungsgemeinschaft. Richard Schuberth schulde ich großen Dank für seine Korrekturen der Endfassung sowie Kommentare und Vorschläge. Maša Dabić möchte ich für die Prüfung der von mir übersetzten literarischen Zitate herzlich danken. Für sein Engagement und seine Hilfe bei der Drucklegung schulde ich Manfred Fischer großen Dank. Für seine professionelle und freundliche Unterstützung möchte ich mich bei Dr. Bernd Villhauer, dem Lektoratsleiter beim Verlag, bedanken. Ein weiterer Dank gilt Dr. Marijan Bobinac, der mich während meines Forschungsaufenthalts an der Philosophischen Fakultät in Zagreb im September 2008 unterstützt hat. Für meinen Forschungsaufenthalt am Wissenschaftlichen Forschungsinstitut der Slowenischen Akademie der Wissenschaft und Künste in Ljubljana im Mai 2008 möchte ich mich bei Dr. Oto Luthar bedanken. Für den Forschungsaufenthalt an der Fakultät der Politikwissenschaft in Belgrad im Juni und Juli 2008 danke ich Dr. Milan Podunavac. Besonders danke ich meinem Erstbetreuer Dr. Wolfgang Müller-Funk für seine intensive Förderung der Arbeit. Ein herzlicher Dank geht an meine Zweitbetreuerin Dr. Heidemarie Uhl für ihre kritische und freundschaftliche Unterstützung. Für Hilfestellungen unterschiedlichster Art bedanke ich mich bei meinen Eltern Ljubica und Predrag Mančić sowie meinem Bruder Saša Mančić. Ein besonderer Dank gilt Dr. Burkhardt Wolf für seine wissenschaftlichen und praktischen Ratschläge und Ermutigung zum Anfang dieser Arbeit. <?page no="199"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de JETZT BESTELLEN! Daniela Finzi/ Ingo Lauggas Wolfgang Müller-Funk / Marijan Bobinac Oto Luthar / Frank Stern (Hrsg.) Kulturanalyse im zentraleuropäischen Kontext Kultur - Herrschaft - Differenz, Band 14 2012, 257 Seiten €[D] 49,00/ SFr 65,50 ISBN 978-3-7720-8434-8 Der Sammelband beschäftigt sich mit der Anwendung kulturwissenschaftlicher Ansätze im zentral- und südosteuropäischen Kontext. Zu Wort kommen Forscherinnen und Forscher, die sich mit einschlägigen Fragen im Bereich von Kulturanalyse und Kulturwissenschaft beschäftigen. Die film- und literaturwissenschaftlichen Aufsätze verbindet die Bezugnahme auf historische Ereignisse sowie deren kulturellen Hintergrund, den wir ansonsten nur auf der Ebene des Politischen wahrnehmen. Mit Blick auf konkrete Beispiele werden dabei methodische und theoretische Fragen zu Alterität, Raum, Gedächtnis und Erinnerung sowie Identität thematisiert und entfaltet. <?page no="200"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de NEUERSCHEINUNG AUGUST 2012 JETZT BES TELLEN! Sonja Böni Re exionen des Ikonischen Jean Pauls narrative Bildlogik in seinen Satiren und seinem Romanerstling Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur 91 2012, 249 Seiten €[D] 39,90/ SFr 50,50 ISBN 978-3-7720-8458-4 „Mit spitzer Zunge ein schönes Bild ausstechen.“ Jean Paul, ,Die unsichtbare Loge‘ Der Fokus der vorliegenden Arbeit liegt auf der Zäsur des in der Forschung in zwei Werkkomplexe geteilten Gesamtwerkes Jean Pauls, auf dem Übergang von den Satiren zu seinem Romanerstling, der Unsichtbaren Loge . Die Autorin legt dar, dass sowohl in den Satiren als auch im Romanerstling eine ikonische Lektüre den Schlüssel zum Verständnis der komplexen literarischen Texterzeugnisse darstellt: Sie zeigt, inwiefern der strukturell bedingte Tod der satirischen Narration eine ‚stehende Bilder ut‘ freisetzt und inwiefern die Sinngenerierungsverfahren des paragrammatisch organisierten Logen- Textes denjenigen von modernen Kunst-Bildern ähneln.