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Die Bildung der Moderne

1023
2013
978-3-7720-5469-3
978-3-7720-8469-0
A. Francke Verlag 
Prof. Dr. Michael Dreyer
Prof. Dr. Klaus Vieweg

Der Band versammelt Beiträge der interdisziplinären Konferenzen "Concepts of Bildung around 1800 and Wilhelm von Humboldt s Idea of the University" (University of Chicago) und "Die Bildung der Moderne" (Universität Jena). Die Autoren analysieren zum einen die Bildungs- und Freiheitskonzepte um 1800, u.a. von Herder, Humboldt, Fichte, Hegel und Herbart. Auf der Grundlage der Forschungsergebnisse arbeiten sie die Relevanz historischer Theorien für eine moderne Bildungskonzeption heraus. Zum anderen wird die aktuelle Bildungssituation kritisch in den Blick genommen und der intrinsische Zusammenhang von Bildung und Freiheit beleuchtet.

<?page no="0"?> Die Bildung der Moderne Michael Dreyer / Michael Forster Kai-Uwe Hoffmann / Klaus Vieweg (Hrsg.) <?page no="1"?> Die Bildung der Moderne <?page no="3"?> Michael Dreyer / Michael Forster Kai-Uwe Hoffmann / Klaus Vieweg (Hrsg.) Die Bildung der Moderne <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Jean-Honoré Fragonard, Die Lesende (1770-72), National Gallery of Art, Washington © 2013 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8469-0 <?page no="5"?> Inhalt Vorbemerkung ...........................................................................................9 Humboldts Bildungsideal und sein Modell der Universität Michael N. Forster ..................................................................................11 Humboldts Konzept der Freiheit und die Politik der Bildung Michael Dreyer........................................................................................39 “A Not Yet Invented Logic“: Herder on Bildung, Anthropology, and the Future of Philosophy Kristin Gjesdal.........................................................................................53 „Freies Spiel“ und „Spieltrieb“: Ästhetische Bildung bei Kant und Schiller Folko Zander ...........................................................................................69 Die Dialektik der subjektiven Rechte als Komponente der Moderne Jean-François Kervegan..........................................................................83 <?page no="6"?> 6 Inhalt Bildung, Logik und Wissenschaft in Hegels theoretischer und praktischer Philosophie (1801-1805) Kai-Uwe Hoffmann ................................................................................101 Sittlichkeit - Nicht ohne Geist: Zum Zusammenhang von Bildung, Freiheit, Negativität und Sittlichkeit Steffen Schmidt ......................................................................................117 „Burroteca“ oder der Citoyen als gebildeter Bürger: Hegels epistokratische Konzeption des modernen Staates Klaus Vieweg .........................................................................................135 Bildung and the Realization of Freedom in Hegel Angelica Nuzzo ......................................................................................153 Das Bildungsprojekt der Volksreligion und die Entstehung von Hegels Sittlichkeitskonzeption Bertolt Fessen ........................................................................................167 Das reine Zusehen: ‚Absolute Bildung‘ in Hegels „Wissenschaft der Logik“ Claudia Wirsing.....................................................................................181 A Vital Question: The Quest for “Bildung” in Russia, 1860s-80s Lina Steiner ...........................................................................................197 <?page no="7"?> Inhalt 7 Bildung der Moderne: Der Bildungsbegriff bei Johann Friedrich Herbart Katja Grundig de Vazquez .....................................................................211 Die Unfreiheit der Freiheit: Anmerkungen zur Bildungssituation in der Moderne Michael Winkler ....................................................................................225 Können die Geisteswissenschaften den Neo-Liberalismus überstehen? Raymond Geuss .....................................................................................243 Hoffnung und Elend der Epistokratie Andreas Braune .....................................................................................257 Bemerkungen über Freiheit und Zeit Anton Friedrich Koch ............................................................................275 Autorenverzeichnis ................................................................................291 <?page no="9"?> Vorbemerkung Der Band versammelt die Beiträge zweier internationaler Tagungen, die im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprojekts Bildung zur Freiheit - Zeitdiagnose und Theorie im Anschluss an Hegel präsentiert und diskutiert wurden. An diesem international ausgerichteten Forschungsvorhaben wirkten Wissenschaftler aus den Fächern Pädagogik, Philosophie, Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft und Soziologie mit. Unter dem Titel Concepts of Bildung around 1800 and Wilhelm von Humboldt’s Idea of the University veranstaltete die Forschungsgruppe im November 2011 in Chicago eine Konferenz in Kooperation mit dem Franke Institute of the Humanities der University of Chicago. Die zweite Tagung, Die Bildung der Moderne, fand im Dezember 2011 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena statt. An diesen Konferenzen nahmen Forscher aus China, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, Südkorea, den USA und Deutschland teil. Für die Förderung der Forschergruppe und der Tagungen sei hier dem Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Freistaates Thüringen, der University of Chicago, dem Franke Institute of the Humanities und der Universität Jena besonders gedankt. Die Herausgeber danken Johannes Korngiebel und Kevin Rother für die Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts. Chicago und Jena, Mai 2013 <?page no="11"?> Humboldts Bildungsideal und sein Modell der Universität Michael N. Forster Wilhelm von Humboldt wird oft als der Gründer nicht nur der Berliner Universität, sondern auch der modernen deutschen Universität im Allgemeinen und sogar der modernen Universität überhaupt gefeiert. Andererseits lassen sich besonders seit kurzem Stimmen vernehmen, die sein Modell der Universität als untauglich, 1 institutionell einflusslos 2 oder wenigstens kurzlebig 3 charakterisieren. Welche dieser beiden Ansichten trifft zu? Ich neige eher zur ersteren, positiven als zur letzteren, negativen. Humboldt hat zwar nur 15 Monate lang während der Jahre 1809-10 bei der Sektion des Kultus und des öffentlichen Unterrichts die Erziehungsreformen Preußens im Allgemeinen und die Gründung der Universität Berlin im Besonderen betreut, nur zwei kurze Schriften bezüglich dieser Gründung verfasst - die sogar erst um 1900 im normalen Sinne des Wortes veröffentlicht wurden (Antrag auf Errichtung der Universität Berlin [Mai/ Juli 1809] und Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin [1810]) - und erst nach 1900 einen weit- 1 Vgl. bspw. Henningsen, Bernd: Einsamkeit und Freiheit. In: Humboldts Zukunft. Das Projekt Reformuniversität. Hg. v. Bernd Henningsen. Berlin 2007, S. 103-131. 2 Vgl. bspw. Ash, Mitchell G.: Bachelor of What, Master of Whom? The Humboldt Myth and Historical Transformations of Higher Education in German-Speaking Europe and the US. In: European Journal of Education 41/ 2 (2006), S. 245-267. Vgl. weiterhin: Paletschek, Sylvia: The Invention of Humboldt and the Impact of National Socialism. The German University Idea in the First Half of the Twentieth Century. In: Science in the Third Reich. Hg. v. Margit Szöllösi-Janze. Oxford 2001, S. 37-58. 3 Vgl. bspw. Menze, Clemens: Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts. Hannover 1975. <?page no="12"?> 12 Michael N. Forster verbreiteten Ruf als Gründer eines neuen Universitätsmodells erhalten. 4 Aber seine leitenden Prinzipien zur Universität haben trotzdem m.E. das kulturelle Bewusstsein und die Institutionen Deutschlands tatsächlich tief und nachhaltig geprägt sowie Entwicklungen im Ausland stark beeinflusst, und zwar beides in einer sehr vorteilhaften Weise. 5 Um dies aber klar einzusehen, muss man m.E. gewisse unauffällige Seiten seines Modells mit in Betracht ziehen, die von ihm selbst eher unterbetont oder sogar verschwiegen worden sind - teilweise aus politischdiplomatischen Gründen, insbesondere dem Bedürfnis, die zur Durchsetzung des Modells unabdingbare Gunst des Königs und seiner Minister in einer damals außergewöhnlich schwierigen politischen Lage zu sichern, nämlich der Niederlage und Besetzung Preußens ab 1806 durch Napoleon und die Franzosen nebst Territorialverlusten und Kürzungen der Armee. Nur wenn man diese weniger offensichtlichen Seiten seines Modells mit erwägt, kann man dessen Attraktivität und Einfluss in ihrem wahren Ausmaß erkennen. Das Modell stellt sich dann als in der Tat äußerst attraktiv heraus. Und sein Einfluss entpuppt sich als so stark, dass man sogar eine Art „genealogische” Zurückführung zentraler Aspekte der modernen Universität auf Humboldts Prinzipien (und teilweise auch auf seine Charakterzüge) unternehmen könnte, die - in der etwas gespenstischen Weise, die für Genealogien charakteristisch ist - die betreffenden Aspekte als Nachhall von seinen Prinzipien (und Charakterzügen) erscheinen ließe. Ich möchte demgemäß in diesem Artikel einige Kernprinzipien von Humboldts Modell, einschließlich einiger weniger offensichtlicher, identifizieren, um sowohl die Attraktivität, als auch den Einfluss des Modells klarer an den Tag zu legen. (Ich werde aber dabei dessen Einfluss in Deutschland und im Ausland nicht im Detail darzulegen versuchen. 6 ) 4 Vgl. Ash: Bachelor of What, Master of Whom? , bes. S. 246. 5 Die einzige Einschränkung dieses Urteils, die ich hier gleich am Anfange verzeichnen möchte, ist die folgende: Humboldts Leistung in diesem Bereich wurde durch die Vorarbeit mehrerer wichtiger Vorgänger und Zeitgenossen vorbereitet und unterstützt, besonders Kants, Fichtes, Schellings und vor allem Schleiermachers. Ich werde im Folgenden dieser „Konstellation” einige Rechnung zu tragen versuchen, aber sie wird nicht der Schwerpunkt dieses Artikels sein. 6 Was dessen Einfluss in Deutschland angeht, vgl. u.a. Menze: Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts. Was dessen Einfluss im Ausland betrifft, haben u.a. die folgenden Schriften schon Wichtiges geleistet: Shils, Edward/ Roberts, John: Die Übernahme europäischer Universitätsmodelle. In: Geschichte der Universität in Europa. Hg. v. Walter Rüegg. München 2004, Bd. 3, S. 145-196, hier S. 149-154, vgl. S. 24-26; Clark, William: Academic Charisma and the Origins of the Research University. Chicago 2006, bes. S. 461-464; Boyer, John W.: „We are all islanders to begin with.” The University <?page no="13"?> Humboldts Bildungsideal und sein Modell der Universität 13 I. Individuelle Bildung Fangen wir mit dem wohl auffallendsten und bekanntesten Ideal von Humboldts Erziehungsreform im Allgemeinen und seinem Modell der Universität im Besonderen an: individuelle Bildung. 7 Humboldt entwickelte dieses Ideal schon in den frühen 90er Jahren des 18. Jahrhunderts. Er konzipierte Bildung schon damals als im Wesentlichen freie, eigentümliche, auf Sprache basierende Selbstentwicklung des menschlichen Individuums in einheitlich-ausgewogenen theoretischen, praktischen und ästhetischen Hinsichten, als etwas im Grunde genommen Natürliches aber erst über Kultur und Erziehung Verwirklichtes und als den höchsten Zweck des Menschen, der Erziehung und des Staates insgesamt. Er drückt dieses Ideal von Bildung schon in seiner berühmten Frühschrift Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (geschrieben 1791/ 2, veröffentlicht 1851) etwa folgendermaßen aus: Der wahre Zweck des Menschen […] ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerläßliche Bedingung […] Diese Kraft [der Individuen] und diese mannigfaltige Verschiedenheit vereinen sich in der Originalität, und das also, worauf die ganze Grösse des Menschen zuletzt beruht, wonach der einzelne Mensch ewig ringen muss, und was der, welcher auf Menschen wirken will, nie aus den Augen verlieren darf, ist Eigenthümlichkeit der Kraft und der Bildung […] Ganz und gar […] hört es auf, heilsam zu sein, wenn der Mensch dem Bürger geopfert wird. Denn […] so verliert auch der Mensch dasjenige, welches er gerade durch die Vereinigung in einen Staat zu sichern bemüht war. Daher müßte, meiner Meinung zufolge, die freieste, so wenig als möglich schon auf die bürgerlichen Verhältnisse gerichtete Bildung des Menschen überall vorangehen. Der so gebildete Mensch müßte dann in den Staat treten und die Verfassung des Staats sich gleichsam an ihm prüfen. Nur bei einem solchen Kampfe würde ich wahre Verbesserung der Verfassung durch die Nation mit Gewißheit hoffen. 8 of Chicago and the World in the Late Nineteenth and Twentieth Centuries. Occasional Papers on Higher Education XVII. Chicago 2007. 7 Zwei in vielen Hinsichten entgegengesetzte Darstellungen von Humboldts Erziehungsreform und Modell der Universität, die aber in der Betonung der zentralen Rolle dieses Ideals übereinstimmen, sind Spranger, Eduard: Wilhelm von Humboldt und die Reform des Bildungswesens. Tübingen 1960; und Menze: Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts. 8 Humboldt, Wilhelm von: Wilhelm von Humboldts Werke. Hg. v. Albert Leitzmann. Berlin 1903. Im Folgenden zitiert als: HW, gefolgt von Bandnummer und Seitenzahl. Hier: HW 1: 106f., 143f. <?page no="14"?> 14 Michael N. Forster Humboldt fing schon kurz nach dieser Schrift, im Jahre 1793 an, der Sprache eine grundlegende Rolle in der Bildung zuzuschreiben, die hinfort immer stärker von ihm betont wurde. 9 In einer späteren Schrift, die Humboldt unmittelbar vor seiner Übernahme der Sektion des Kultus und des öffentlichen Unterrichts verfasste, Geschichte des Verfalls und Unterganges der griechischen Freistaaten (1807- 8), bestätigt er dieses Ideal von individueller Bildung. 10 Aber er vertieft es auch in einigen erwähnenswerten Hinsichten: Erstens bemerkt er, dass Bildung kein Sein sondern ein Trieb ist, und zwar nicht im Sinne eines Strebens nach einem vorgegebenen Ziel, sondern im Sinne einer Sehnsucht nach einem unbekannten Ziel. 11 Zweitens impliziert er, dass der Einzelne sich so bildet, wie ein Künstler sein Kunstwerk. 12 Drittens steigert er das Ideal individueller Bildung zum höchsten Zweck nicht nur des Menschen, der Erziehung und des Staates, sondern gar des Weltalls überhaupt: es ist „der letzte Zweck des Weltalls.” 13 Humboldts 1809-10 entwickelte Erziehungsreform im Allgemeinen und sein Modell der Universität im Besonderen zielen vor allem auf individuelle Bildung in gerade diesem Sinne ab. Demgemäß schreibt er bezüglich der Universität in seiner Organisationsschrift (1810), dass die höheren wissenschaftlichen Anstalten bestimmt sind, „die Wissenschaft im tiefsten und weitesten Sinne des Wortes zu bearbeiten, und als einen nicht absichtlich, aber von selbst zweckmässig vorbereiteten Stoff der geistigen und sittlichen Bildung zu seiner Benutzung hinzugeben.” 14 9 Vgl. schon: Humboldt, Wilhelm von: Über das Studium des Altertums, und des griechischen insbesondere (1793). In: HW 1: 264-266. 10 Vgl. bes. HW 3: 197-199, 203, 210. 11 HW 3: 199, 205-207, 213, usw. Dementsprechend charakterisiert Humboldt ein Paar Jahre später die an der Universität zu erlangende Wissenschaft als „SelbstActus” [sic] und „Selbstthätigkeit.” Humboldt, Wilhelm von: Werke in fünf Bänden. Hg. v. Andreas Flitner/ Klaus Giel. Stuttgart 1982. Im Folgenden zitiert als: W, gefolgt von Bandnummer und Seitenzahl. Hier: W 4: 191, 261. Man vergleiche seine spätere Auffassung von Sprache nicht als ergon, sondern als energeia. 12 HW 3: 198. 13 HW 3: 207. 14 W 4: 255. Im Gegensatz zur deutschsprachigen Literatur (z.B. Spranger und Menze) hat der stärkste Kritiker des angeblichen „Humboldt Mythos”, nämlich Ash, in seinem schon zitierten Artikel dieses Humboldtsche Ideal gänzlich missverstanden, indem er es in ein einseitiges Ideal von reiner „Wissenschaft” verkehrt und dann aufgrund dieses Missverständnisses ein Ideal wie Humboldts eigentliches Ideal den amerikanischen Universitäten als selbständige Leistung anrechnet. Ash: Bachelor of What, Master of Whom? , S. 249-250. <?page no="15"?> Humboldts Bildungsideal und sein Modell der Universität 15 Dieses Ideal kommt mir seinem Wesen nach äußerst attraktiv und wertvoll vor (auch wenn bestimmte Züge davon kritisiert und revidiert zu werden verdienen; z.B. ist individuelle Bildung wirklich „der letzte Zweck des Weltalls”? ). Dessen Attraktivität wird m.E. vor allem deshalb oft geleugnet oder übersehen, weil es bei Humboldt den Eindruck einer Einseitigkeit erwecken kann, die andere wertvolle Zwecke, z.B. moralisch-politische Zwecke und beruflich-utilitaristische Zwecke ausschließt (als ob Humboldt schon wie vielleicht später Nietzsche individuelle Übermenschen gänzlich auf Kosten solcher anderen Zwecke verfechten würde). Es stimmt zwar, dass Humboldt manchmal von solchen weiteren Zwecken abzusehen scheint, aber dies ist m.E. eher ein Versuch, der üblichen exklusiven Betonung derselben entgegenzuarbeiten als ein Versuch, sie wirklich auszuschalten. Mit anderen Worten, es stellt keine wirkliche Einseitigkeit, sondern vielmehr den Versuch dar, eine Einseitigkeit zu bekämpfen. Dies scheint mir wenigstens Humboldts intendierte und beste Position zu sein. Dass dem so ist, lässt sich aus mehreren Aspekten seines Modells der Universität in der Organisationsschrift (1810) entnehmen. Man erwäge in diesem Bezug zuerst seinen Anspruch in dem Text, dass der Staat im Ganzen […] von den Universitäten nichts fordern [muß], was sich unmittelbar und geradezu auf ihn bezieht, sondern die innere Ueberzeugung hegen, dass, wenn sie ihren Endzweck erreichen, sie auch seine Zwecke und zwar von einem viel höheren Gesichtspunkte aus erfüllen. 15 Man könnte versucht sein, dies bloß als eine Anspielung auf die Tatsache zu deuten, dass nicht nur die Universität, sondern auch der Staat individuelle Bildung als seinen höchsten Zweck hat. 16 Das ist zwar sicherlich ein wichtiger Teil von Humboldts Bedeutung, aber er denkt augenscheinlich auch an mehr als nur das, denn er fährt unmittelbar danach zu schreiben fort, dass von diesem höheren Gesichtspunkt „sich viel mehr zusammenfassen lässt und ganz andere Kräfte und Hebel angebracht werden können, als [der Staat] in Bewegung zu setzen vermag.” 17 Zweitens impliziert Humboldt insbesondere im allerersten Satz der Organisationsschrift, dass die Universitäten und die dadurch beförderte individuelle Bildung moralisch-politischen Zwecken dienen: solche wissenschaftlichen Anstalten seien ein Gipfel, „in dem alles, was unmittelbar für die moralische Cultur der 15 W 4: 260. 16 Vgl. Menze: Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts, S. 322. 17 W 4: 260. <?page no="16"?> 16 Michael N. Forster Nation geschieht, zusammenkommt.” 18 Drittens impliziert er, dass sie auch beruflich-utilitaristischen Zwecken dienen, indem er technische Hochschulen als Ergänzungen zur Universität unterstützt. 19 Viertens identifiziert er auch solche zusätzlichen Zwecke als die differentia der Universität im Vergleich zur Akademie: Die Universität […] steht immer in engerer Beziehung auf das praktische Leben und die Bedürfnisse des Staates [als die Akademie], da sie sich immer praktischen Geschäften für ihn, der Leitung der Jugend, unterzieht. 20 Kurzum, Humboldt will zwar der Einseitigkeit entgegenarbeiten, die individuelle Bildung moralisch-politischen und beruflich-utilitaristischen Zwecken aufopfert, aber er vertritt nicht die entgegengesetzte Einseitigkeit. Vielmehr will er mittels der Universität all diese Ideale bzw. Zwecke erfüllt wissen. Diese Position ist durchaus konsequent. Es wäre insbesondere ein Fehler dagegen einzuwenden, dass eine Institution nur einen Selbstzweck haben kann. Die Tatsache, dass eine Institution Selbstzweck x hat, schließt gar nicht aus, dass sie auch Selbstzwecke y und z hat. Gute Institutionen dienen sogar wohl typischerweise jeweils mehreren Selbstzwecken. Dies tut der Güte einer Institution insbesondere dann keinen Abbruch, wenn die betreffenden Selbstzwecke, statt einander zu vereiteln, einander unter normalen Umständen unterstützen (es ist wiederum durchaus konsequent zu sagen, dass eine Institution etwas als Selbstzweck leistet, das nicht nur Selbstzweck sondern auch Mittel zu weiteren Selbstzwecken der Institution ist). Ein solches Modell war eigentlich im Gefolge Herders und Kants schon ziemlich bekannt. Herder hatte z.B. in Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) geschrieben: „Aber kein Ding im ganzen Reiche Gottes kann ich mich doch überreden! ist allein Mittel - alles Mittel und Zweck zugleich.” 21 Und Kant hatte in der Kritik der Urteilskraft (1790) Organismen als Systeme gedeutet, deren Teile einander sowohl als Mittel als auch als Zwecke dienen. Dementsprechend vertrat Humboldt selber ein solches Modell (in Bezug auf einzelne Menschen) unmittelbar vor seiner Universitätsreform in Geschichte des Verfalls und 18 W 4: 255. 19 W 4: 266. 20 W 4: 263. 21 Herder, Johann Gottfried: Werke. Bd. 4. Hg. v. Jürgen Brummack/ Martin Bollacher. Frankfurt am Main 1994, S. 54. <?page no="17"?> Humboldts Bildungsideal und sein Modell der Universität 17 Unterganges der griechischen Freistaaten (1807-8), wo er behauptet, dass die Griechen „Achtung und Freude an Ebenmass und Gleichgewicht, auch das Edelste und Erhabenste nur da aufnehmen zu wollen, wo es mit einem Ganzen zusammenstimmt,” als „vorherrschenden Zug” hatten und dass sie „auf das höchste Leben” drangen, „das nur aus der Übereinstimmung quillt, die nichts ausschließt, und aus dem tiefen Gefühl der Natur, die durchgängiger Organismus ist.” 22 Denn Humboldt verficht hier das Ideal einer Vielfalt von Selbstzwecken im Individuum, die, statt einander zu vereiteln, einander als Mittel unterstützen (wie in Kants Modell des Organismus). Dass Humboldt die Universität im Hinblick auf den Selbstzweck individueller Bildung, moralisch-politische Selbstzwecke und beruflichutilitaristische Selbstzwecke ungefähr so versteht, lässt sich besonders klar anhand seiner Einstellung zum Selbstzweck individueller Bildung und zum moralisch-politischen Selbstzweck der Freiheit darstellen. Beide gehören als zentrale Bestandteile zu seinem Modell der Universität. Aber wenn man seinen Begriff ihrer Beziehung zueinander in den Ideen (1791-2) genau erforscht, findet man, dass, obwohl er vor allem die Tatsache betont, dass individuelle Bildung Freiheit als ein (sowohl konstitutives als auch bloß kausales) Mittel verlangt und erst dadurch ermöglicht wird (man erinnere sich an die oben zitierte Passage von den Ideen), 23 er auch das Umgekehrte behauptet: Nun […] erfordert die Möglichkeit eines höheren Grades der Freiheit immer einen gleich hohen Grad der Bildung, und das geringere Bedürfnis, gleichsam in einförmigen, verbundenen Massen zu handeln, eine größere Stärke und einen mannigfaltigeren Reichtum der handelnden Individuen. Besitzt daher das gegenwärtige Zeitalter einen Vorzug an dieser Bildung, dieser Stärke und diesem Reichtum, so muß man ihm auch die Freiheit gewähren, auf welche derselbe mit Recht Anspruch macht. 24 Im Rahmen der Universität ist demgemäß nicht nur Freiheit eine unabdingbare Unterstützung individueller Bildung, sondern auch umgekehrt. Und die Universität leistet ihrerseits beide auf eine solche wechselbedingte Weise für den Staat. 22 HW 3: 197-198. 23 Vgl. auch später HW 3: 203. 24 HW 1: 101. Man vergleiche hier Herders These einer ähnlichen Wechselwirkung in Vom Einfluß der Regierung auf die Wissenschaften, und der Wissenschaften auf die Regierung (1780) (dessen Titel schon seine These einer solchen Wechselwirkung andeutet). Es ist durchaus möglich, dass Humboldts betreffende Position durch Herders beeinflusst worden ist. <?page no="18"?> 18 Michael N. Forster Humboldts Begriff dieser Leistung für den Staat ist wohl klar genug in Bezug auf individuelle Bildung, aber er ist erheblich verschwommener in Bezug auf Freiheit, wo Humboldt nur vage von einer „moralischen,” „sittlichen” oder „praktischen” Leistung für den Staat zu schreiben geneigt ist. Diese Seite seiner Position verdient deshalb etwas näher exponiert zu werden. Ich teile hier im Grunde genommen Ernst Müllers zwar knapp geäußerte aber m.E. einsichtsvolle Meinung, dass Humboldts Universitätsreform im Geiste seiner Sympathie mit den Idealen der Französischen Revolution konzipiert worden ist, insbesondere mit deren Liberalismus und Republikanismus. 25 Man sollte diesbezüglich in Erinnerung behalten, dass Humboldts Universitätsreform erst als Bestandteil der weitaus breiteren Stein- Hardenbergschen Reformen zustandekam, die im Gefolge der Niederlage von 1806 teilweise auf Anlass der Franzosen und teilweise in Konkurrenz mit ihnen eine Erneuerung Preußens nach französischem Muster anstrebten. Aber Humboldts persönliche Überzeugungen waren auch seit langem im Einklang mit einem solchen Projekt gewesen. Humboldt hatte Frankreich schon im schicksalshaften Jahre 1789 besucht und sofort einige Begeisterung für die Ideale der Revolution entwickelt (wie sein Tagebuch aus dieser Zeit zeigt), die die schwierigen 90er Jahre unversehrt überstehen würde. 26 Demgemäß schreibt er 1792 in einem Brief an Brinkmann (unter strenger Ablehnung der antirevolutionären Einstellung von Burke und Gentz): „Die Wahrheiten der Französischen Revolution bleiben ewig Wahrheiten, wenn auch 1200 Narren sie entweihen.” 27 Seine Begeisterung für den Liberalismus der Französischen Revolution insbesondere schlägt sich auch in seinem radikalen Plädoyer für Liberalismus in den Ideen von 1791/ 2 nieder. Und seine Sympathie mit deren Republikanismus ist auch nicht zu unterschätzen. Frederick Beiser hat als Beleg für Humboldts angebliche Präferenz der Monarchie die folgende Passage aus einem Brief an Schiller von 1792 zitiert: 25 Müller, Ernst: Vom Nachteil des Nutzens der Universität. Über die äußeren Bedingungen ihrer inneren Organisation. In: Humboldts Zukunft. S. 77-101. Hier bes. S. 81ff., 94. 26 Siehe Beiser, Frederick C.: Enlightenment, Revolution, and Romanticism. Cambridge MA 1992, S. 114-121. Beiser unterschätzt aber m.E. Humboldts Sympathie mit dem Republikanismus (siehe unten). 27 Humboldt, Wilhelm von: Wilhelm von Humboldts Briefe an Karl Gustav von Brinkmann. Hg. von Albert Leitzmann. Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart. Bd. 288. Leipzig 1939, S. 41. <?page no="19"?> Humboldts Bildungsideal und sein Modell der Universität 19 An sich scheinen mir freie Konstitutionen und ihre Vorteile ganz und gar nicht so wichtig und wohltätig. Eine gemäßigte Monarchie legt vielmehr der Ausbildung des einzelnen meist weniger einengende Fesseln an. 28 Das klingt nach einem guten Beleg, bis man Humboldts unmittelbar darauffolgenden, von Beiser unterschlagenen Satz hinzufügt, der den Spieß umdreht und letzten Endes den Republikanismus doch befürwortet: Aber sie [d.h. freie Konstitutionen] spannen die Kräfte zu einem so hohen Grade und erheben den ganzen Menschen und wirken doch so im eigentlichsten Verstande das einzige wahre Gute. 29 Noch wichtiger für unser Thema ist, dass Humboldt seine starke Sympathie mit dem Liberalismus und Republikanismus noch unmittelbar vor seiner Universitätsreform in der Geschichte des Verfalls und Unterganges der griechischen Freistaaten (1807-8) ausdrückt. Dort behauptet er z.B. den Vorzug der Griechen vor „uns” modernen Deutschen, der seines Erachtens offensichtlich wird, wenn wir unsere beschränkte, engherzige, durch tausend Fesseln der Willkühr […] gedrückte […] Lage mit ihrer freien […] Tätigkeit, […] unser dumpfes Hinbrüten in klösterlicher Einsamkeit, oder gedankenloses Umtreiben in lose verknüpfter Geselligkeit mit dem heiteren Frohsinn ihrer, durch jede heiligste Bande befestigten Bürgergemeinschaft vergleichen. 30 Humboldt ist zwar recht unklar über diese Seite seines Universitätsmodells in den Schriften von 1809-10, aber das lässt sich m.E. befriedigend aus seiner damaligen Rolle als Vertreter und Berater des Königs erklären: explizit gemachte liberal-republikanische Absichten wären beim König und seinen Ministern nicht gerade willkommen gewesen, umso weniger da solche Absichten ursprünglich aus dem Lager des Feindes stammten, sodass Humboldts ganze Reform letztlich wohl zum Scheitern verdammt gewesen wäre. 28 Beiser: Enlightenment, Revolution, and Romanticism, S. 131; vgl. S. 111. 29 Der Briefwechsel zwischen Friedrich Schiller und Wilhelm von Humboldt. Hg. v. Siegfried Seidel. Bd. 1. Berlin 1962, S. 53. (Es stimmt aber, dass Humboldt Demokratismus eher ablehnt. Siehe z.B. ibid. S. 205.) 30 HW 3: 189. Es ist übrigens bemerkenswert, dass diese Schrift aus 1807-1808 offensichtlich zum großen Teil einen Versuch darstellt, Lektionen aus der Niederlage der Griechen durch die Römer in der Antike für die Niederlage Preußens durch die Franzosen im Jahre 1806 zu ziehen. <?page no="20"?> 20 Michael N. Forster Zur bescheidenen Bestätigung dieser Interpretation von Humboldts impliziten Absichten in seinen Schriften, lässt sich hinzufügen, dass Schleiermachers kurz zuvor veröffentlichte Schrift über die Universität im Allgemeinen und die Gründung einer neuen Universität in Berlin im Besonderen, Gelegentliche Gedanken über die Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende (1808), die Humboldts eigene Schriften offensichtlich inspiriert hat und mit ihnen als weiteres Gründungsdokument der Universität Berlin angesehen zu werden verdient, sowohl die Freiheit, als auch das gar demokratische Wesen der Universität stark vertreten hatte. 31 Wenn diese Interpretation von Humboldts impliziten Absichten richtig ist, so kann man seinen Begriff der Leistung der Universität an Freiheit für den Staat wohl etwa folgendermaßen explizieren: Die Universität liefert nicht nur selbst ein musterhaftes Beispiel von freiem, d.h. liberalrepublikanischem Umgang, sondern sie entwickelt auch über die individuelle Bildung, die sie befördert, die individuelle Urteilskraft und Selbständigkeit, die erst politischer Unterdrückung widerstehen und erfolgreiche republikanische Politik ermöglichen können. 32 Soweit über Humboldts implizite Einstellung zum Verhältnis zwischen dem Selbstzweck, individueller Bildung und moralisch-politischen Selbstzwecken. Ähnliches gilt wohl für seine Einstellung zum Verhältnis zwischen dem Selbstzweck individueller Bildung und beruflichutilitaristischen Selbstzwecken. Auch hier will er beiden von der Universität gedient wissen. Und auch hier ist eine solche Kombination durchaus konsequent, besonders da die zwei Seiten einander nicht vereiteln, sondern sich gegenseitig unterstützen. Humboldt selber betont in dieser Hinsicht die Unterstützung des Beruflich-Utilitaristischen durch die von der Univer- 31 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Gelegentliche Gedanken über die Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende. Berlin 1808, bes. S. 104-131. (Indem Schleiermacher nicht nur einen Republikanismus sondern sogar einen Demokratismus vertritt, ist er noch ein Stück radikaler als Humboldt [vgl. meine vorletzte Fußnote]. Schleiermachers stärkere Radikalität kommt auch in einigen weiteren Aspekten seiner Schrift zum Vorschein.) 32 Man vergleiche hier Moses Finleys These, dass ein beträchtliches Niveau an Erziehung für erfolgreiche liberal-demokratische Regierung unabdingbar ist. Finley, Moses I.: Democracy Ancient and Modern, New Brunswick N.J. 1973. Die Vereinigten Staaten haben übrigens neuerdings, besonders während der Jahre 2000-2008 ein ziemlich schauderhaftes Beispiel davon gegeben, wie schief liberal-demokratische Systeme gehen können, wenn diese Bedingung nicht erfüllt ist: eine Wahl von Idioten und Gaunern, die das Land sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch fast zugrunde richteten. <?page no="21"?> Humboldts Bildungsideal und sein Modell der Universität 21 sität zu leistende individuelle Bildung (man erinnere sich z.B. an seine vorhin zitierten Bemerkungen über die Wichtigkeit der Universität für „das praktische Leben und die Bedürfnisse des Staates”). Und diese Auffassung scheint durchaus sachlich überzeugend, indem z.B. individuelle Bildung die für ein erfolgreiches Berufsleben erforderlichen Grundwissen, Neugierde, Weitsichtigkeit, Flexibilität, Selbständigkeit, Originalität, Kontaktfähigkeit, usw. befördert. Aber das Umgekehrte (d.h. die Unterstützung der individuellen Bildung durch das von der Universität beförderte Beruflich- Utilitaristische) trifft wohl auch nach Humboldts impliziter Auffassung zu, indem z.B. ein gewisser beruflich-utilitaristischer Erfolg zur individuellen Bildung als ein konstitutiver Bestandteil beiträgt, das jenseits der Universität angestrebte und geführte Berufsleben eine Wirtschaft gedeihen lässt, auf die letztendlich die Universität und deren Beförderung von individueller Bildung angewiesen sind, und die Berufe Individuen als Nachwuchs erhalten, die der Universität und ihrem Bildungsideal freundlich gesinnt sind und sie auf praktische Weise unterstützen. Und auch diese Auffassung ist sachlich plausibel. Kurzum, Humboldts Verfechtung von individueller Bildung als Ziel der Universität ist bei weitem nicht so einseitig, wie sie beim ersten Anblick erscheinen mag. Seine Betonung von individueller Bildung als Ziel der Universität schließt das Verfolgen von anderen wichtigen Selbstzwecken, insbesondere moralisch-politischen und beruflich-utilitaristischen nicht aus. Im Gegenteil, er will all diese Ziele von der Universität befördert wissen und zwar auf eine gegenseitig unterstützende Weise, die auch sachlich plausibel ist. 33 Wenn man Humboldts Bildungsideal so kontextualisiert, ist es nicht einseitig, sondern im Gegenteil vielseitig und sehr attraktiv. Ich schlage hier schließlich auch vor, dass Humboldts Ideal von individueller Bildung (bei allen Entstellungen und Missbräuchen, denen es in der Praxis gelegentlich unterzogen wird) noch heute eine zentrale Rolle in unserem Verständnis des Zwecks der Universität spielt. Dies trifft nicht nur auf Deutschland zu, wo das Wort Bildung noch häufig in Humboldts Sinne verwendet wird und eine solche Kontinuität offensichtlich macht, sondern auch auf andere Länder, wie z.B. die Vereinigten Staaten, wo es durch äquivalente Ausdrücke wie „individual self-development,” „individual 33 Auch wenn er individuelle Bildung als den höchsten Zweck des Staates oder gar des Weltalls beschreibt, muss das nicht bedeuten, dass sie deren einziger Selbstzweck ist. Es bedeutet wohl vielmehr nur, dass sie deren wichtigster Selbstzweck ist, weil sie z.B. die anderen Selbstzwecke als konstitutive Bestandteile mit einschließt. Es ist wiederum nicht widersprüchlich eine Rangordnung unter Selbstzwecken zu behaupten. <?page no="22"?> 22 Michael N. Forster self-realization” usw. ersetzt wird. 34 Man denke hier beispielsweise an das Doktorat, das erst ab 1809-10 in Berlin zu einem wichtigen Grad gedieh, mit den Werten geistiger Bildung und insbesondere Originalität eng verbunden wurde und sich seitdem mit demselben Charakter nicht nur in Deutschland sondern auch in anderen Ländern verfestigt hat. 35 Oder man denke an die (teilweise miteinander konkurrierenden) Bestrebungen heutiger amerikanischer und anderer Universitäten, Studenten durch „course requirements” eine gewisse Vielseitigkeit zu sichern aber auch möglichst viel Spielraum und Flexibilität in der Gestaltung des eigenen Studiengangs zu erlauben. Auch Humboldts nüchterne Kontextualisierung dieses Ideals, d.h. seine Rücksichtnahme auf moralisch-politische und beruflichutilitaristische Selbstzwecke prägt noch bis heute die moderne Universität. II. Die Freiheit der Universität vom Staat Ein weiteres wesentliches Prinzip in Humboldts Modell der Universität ist das Prinzip der Freiheit der Universität vom Staat, einschließlich ihrer finanziellen Unabhängigkeit. Diese Freiheit ist seines Erachtens nicht nur an und für sich wertvoll, sondern auch eine notwendige Bedingung für die Entwicklung von individueller Bildung in ihrer Vielfalt. Humboldt hatte schon 1791-2 in den Ideen für ein solches Prinzip plädiert, und zwar in Bezug auf das ganze Bildungswesen. Die Sekundärliteratur zu Humboldt hat manchmal einen Widerspruch zwischen diesem frühen Prinzip und seiner späteren Gründung der Universität Berlin gewittert. 36 Aber es gibt in Wirklichkeit keinen Widerspruch: 37 auch der spätere Humboldt strebte eine vom Staat möglichst freie Universität an, besonders indem er sie durch eine einmalige Verleihung von königlichen Domänen- Gütern finanziell unabhängig vom Staat zu machen versuchte. Demgemäß schreibt er in der Organisationsschrift (1810) im Hinblick auf die Freiheit der Universität vom Staat im Allgemeinen, dass der Staat „immer hinderlich ist, sobald er sich einmischt” und dass der Staat deshalb, wenn er ver- 34 Vgl. Watson, Peter: The German Genius. New York 2010, S. 741-742, der die Einführung dieses Ideals in den Vereinigten Staaten durch deutsche émigrés und dessen Weiterleben dort in solchen Ausdrücken behauptet. 35 Vgl. Clark, Academic Charisma. S. 3-4, 237, 432. 36 Vgl. zu diesem Thema Sorkin, David: The Theory and Practice of Self-formation (Bildung), 1791-1810. In: Journal of the History of Ideas, 44/ 1 (1983), S. 55-73. 37 Vgl. Meinecke, Friedrich: Das Zeitalter der Deutschen Erhebung. Bielefeld/ Leipzig 1906, S. 54; Menze: Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts, S. 133-135. <?page no="23"?> Humboldts Bildungsideal und sein Modell der Universität 23 nünftig ist, „immer bescheidener eingreifen wird.” 38 Und er schreibt im Antrag (1809) in Bezug auf die Finanzen im Besonderen, dass er bemüht ist, „dass das gesamte Schul- und Erziehungswesen nicht mehr Ew. Königlichen Majestät [d.h. des Königs] Cassen zur Last fallen, sondern sich durch eigenes Vermögen und durch die Beyträge der Nation erhalte […] Es würde deshalb am zweckmässigsten seyn, wenn die neue Universität ihr jährliches Einkommen durch Verleihung von Domänen-Gütern erhielte,“ wobei er hinzufügt, dass „diese Güter auf ewige Zeiten hinaus, Eigentum der Universität […] bleiben sollen.” 39 Wie Humboldts Wortwahl „zur Last” hier vielleicht besonders verrät, spricht er in dieser Passage als erfahrener Diplomat, der seine Argumente im Hinblick auf die Empfindlichkeiten und Interessen seines Adressaten, hier insbesondere des Königs, entwickelt. Auch die weiteren Gründe, die er in anderen Passagen anführt, z.B. die Befreiung des Erziehungswesens von finanziellen Engpässen in unruhigen Zeiten und die besseren Chancen, dass eine Besatzungsmacht eine vom Staat unabhängige als eine davon abhängige Institution respektieren wird, 40 verfolgen dieselbe Diplomatie (was natürlich nicht bedeutet, dass diese Gründe verlogen wären). Aber Humboldts eigener, taktvoll verschwiegener Hauptgrund bleibt hier sicherlich derselbe wie früher: die Freiheit der Universität ist sowohl an und für sich wertvoll als auch wichtig für das Gedeihen von individueller Bildung in ihrer Vielfalt. 41 Dieses Prinzip der Freiheit der Universität vom Staat sowie auch seine Begründung sind wenigstens ihrer allgemeinen Tendenz nach sehr attraktiv und wichtig. Man bemerke zum Beispiel, dass die besondere Art und Weise, in der Humboldt die Universität finanziell unabhängig vom Staat machen will, sie jedoch nicht nötigt, auf andere freiheitsbedrohende Quellen angewiesen zu sein, wie z.B. die Industrie, Banken oder reiche Individuen. Humboldts Prinzip übt wohl noch bis heute einen beträchtlichen Einfluss auf die Universität aus. Dessen späteres Schicksal ist zwar zum erhebli- 38 W 4: 257. 39 W 4: 33-34. In demselben Geist versuchte der spätere Humboldt in seiner Erziehungsreform auch die Elementarschulen und Gymnasien möglichst unabhängig vom Staat zu machen, besonders hinsichtlich ihrer Finanzierung. 40 W 4: 33. 41 Es gibt nur eine mögliche Ausnahme zu Humboldts späterer Beibehaltung des Prinzips der Freiheit der Universität vom Staat: er macht den Staat zuständig für die Berufung von Professoren (W 4: 264-265). Aber dies war schon eine Selbstverständlichkeit des deutschen Erziehungswesens seit mindestens dem 18. Jahrhundert und Humboldts Ideen hatten diese Frage eher verschwiegen als anders beantwortet. <?page no="24"?> 24 Michael N. Forster chen Teil negativ ausgefallen: 42 in Deutschland ist es bald nach Humboldts Rücktritt sowohl in finanzieller als auch in anderen Hinsichten gescheitert, es bleibt dort bis heute besonders auf finanzieller Ebene unerfüllt und Ähnliches gilt auch teilweise für andere Länder wie Großbritannien und sogar die U.S.A. Aber andererseits hat Deutschland bis heute ein wichtiges Prinzip der „Lehrfreiheit” beibehalten; ein allgemeineres und vageres Prinzip der Nichteinmischung des Staates in die Arbeit der Universitäten bleibt sowohl dort als auch in den U.S.A. und teilweise in Großbritannien verhältnismäßig stark; und die beiden letztgenannten Länder sind zudem Deutschland in Bezug auf die Freiheit der Universität vom Staat insofern voraus, als die privaten Universitäten der U.S.A. und Oxbridge in Großbritannien erhebliche finanzielle Unabhängigkeit besitzen und in beiden Ländern der Staat nicht für die Berufung von Professoren zuständig ist. 43 Diese moderne Tendenz zu einem Prinzip der Freiheit der Universität vom Staat ist zwar zum Teil auf die korporative Unabhängigkeit der mittelalterlichen Universitäten zurückzuführen, 44 zu einem beträchtlichen Teil aber auch auf Humboldts Einfluss. 45 III. Kosmopolitismus Humboldts Erziehungsreform und seine Gründung der Universität Berlin 1809-10 fanden wie eingangs erwähnt unter außerordentlich schwierigen und delikaten politischen Umständen statt, nämlich der Niederlage Preußens und der Besetzung großer Teile des Landes durch Napoleon und die Franzosen nebst Territorialverlusten und Armeekürzungen. Humboldts Schriften zur Gründung der neuen Universität, die den König und seine Minister dafür begeistern sollten, betonen demgemäß in einem patriotischen Geist den Einfluss und den Stolz, die die Gründung einer Universität 42 Vgl. Geschichte der Universität in Europa, 3: 83-88, 96. 43 In letzterer Hinsicht sind die U.S.A. und Großbritannien sogar Humboldt selbst voraus, der noch die Zuständigkeit des Staates für die Berufung von Professoren als althergebrachtes deutsches Prinzip befürwortete (siehe meine vorletzte Fußnote). 44 Siehe Paletschek: The Invention of Humboldt and the Impact of National Socialism, S. 38. 45 Vgl. Geschichte der Universität in Europa, 3: 26, 150. Man bemerke hier insbesondere, dass die deutschen Universitäten des 18. Jahrhunderts keine korporative Unabhängigkeit vom Staat hatten, sondern vielmehr vom jeweiligen Monarchen abhängig waren, so dass Paletscheks alternative Erklärung einer tradierten korporativen Unabhängigkeit der mittelalterlichen Universitäten (Paletschek, The Invention of Humboldt and the Impact of National Socialism, S. 38) wenigstens auf deutsche Universitäten kaum zutrifft. <?page no="25"?> Humboldts Bildungsideal und sein Modell der Universität 25 in der Hauptstadt Berlin dem Land im Ausland erwerben sollte. Humboldt schreibt beispielsweise, „Nur Universitäten können [dem Land] Einfluss auch über die Gränzen hinaus zusichern”; er impliziert, dass sie „einen bedeutenden Einfluss auf das Ausland gewinnen” sollen; und er strebt „eine glänzende, auch Ausländer anziehende Universität” an. 46 Humboldts Eintreten für diese patriotische Einstellung war sicherlich aufrichtig. 47 Man sollte hier aber nicht übersehen, dass seine vorhin zitierte Bezugnahme auf das Ausland auch eine andere, implizite Seite hat. Denn Humboldt war zeitlebens ein überzeugter Kosmopolit. Seine explizite Hervorkehrung in den Schriften von 1809-10 des von der neuen Universität zu erwartenden nationalen Einflusses und Stolzes statt einer kosmopolitischen Leistung der Universität stellt deshalb mit ziemlicher Sicherheit nur eine oberflächliche, unter den damaligen Umständen nationaler Demütigung diplomatisch ratsame Einseitigkeit dar (während patriotische Argumente unter solchen Umständen dem König und seinen Ministern einleuchten und dementsprechend die Gründung der neuen Universität voranbringen würden, wären kosmopolitische Argumente für sie eher unerwünscht und abstoßend gewesen, besonders da Kosmopolitismus bekanntlich von dem französischen Feind selbst vertreten wurde, sodass deswegen die Gründung der neuen Universität gefährdet gewesen wäre). Eine kosmopolitische Rolle der Universität gehört durchaus zum Subtext von Humboldts Schriften. 48 Ähnliches gilt übrigens auch für Humboldts Berliner Kollegen Schleiermacher, dessen Gelegentliche Gedanken (1808), wie schon erwähnt, als ein weiteres Gründungsdokument der Universität Berlin nebst Humboldts eigenen Schriften angesehen zu werden verdient und ähnlich einseitig patriotisch klingt. Auch Schleiermacher war zeitlebens ein überzeugter Kosmopolit und auch er meinte implizit sein Modell der Universität durchaus in diesem Geiste. Diese implizite kosmopolitische Seite von Humboldts (und Schleiermachers) Modell der Universität ist äußerst attraktiv. Dass Universitäten als kosmopolitische Zentren fungieren sollen, stellt nicht nur ein wichtiges 46 W 4: 30-31. 47 Man vergleiche z.B. seine kurz zuvor geäußerte positive Einstellung zum Patriotismus im Allgemeinen in Geschichte des Verfalls und Unterganges der griechischen Freistaaten (1807-1808). Man bemerke auch, dass unter den damals bestehenden Umständen nationaler Demütigung ein defensiver Patriotismus auch für einen Kosmopolit wie Humboldt ganz natürlich und angemessen war. 48 Contra Spranger: Wilhelm von Humboldt und die Reform des Bildungswesens, bes. S. 6, 68, 206, der Humboldts oberflächlichen Nationalismus allzu naiv und wörtlich interpretiert. <?page no="26"?> 26 Michael N. Forster moralisch-politisches Prinzip dar, sondern verspricht auch erhebliche wissenschaftliche Vorteile. Diese implizite kosmopolitische Seite von Humboldts Modell der Universität konstituiert einen weiteren Beitrag Humboldts zum heutigen Begriff der Universität. Denn fast jede Universität arbeitet heutzutage in gerade diesem kosmopolitischen Geist. 49 IV. Säkularismus Eine Reihe von Philosophen hatten schon vor Humboldts Abfassung seiner Schriften aus den Jahren 1809-10 das Ideal einer Universität aufgestellt, die die anderen Fakultäten (Jura, Medizin und Theologie) der philosophischen Fakultät im Allgemeinen und der Philosophie als Fach im Besonderen subordinieren und eine Einheit von Wissen unter der Philosophie anstreben würde. Insbesondere hatten Kant, Fichte, Schelling und Schleiermacher schon Varianten dieses Ideals entwickelt. Humboldt schließt sich im Wesentlichen diesem Ideal an, mit der einzigen, eher bescheidenen Abweichung, dass er nebst der Philosophie auch der Kunst eine führende Rolle zuschreibt. 50 Das Ziel einer Vereinheitlichung von allem Wissen unter der Philosophie (und Kunst) ist zwar heutzutage aufgegeben worden und schwerlich mehr vertretbar - teilweise wegen der zunehmenden Spezialisierung der Fächer (besonders der Naturwissenschaften, die mit Alexander von Humboldts Rückkehr aus Paris nach Berlin im Jahre 1827 einen steilen Aufstieg antraten), teilweise wegen des Verfalls der damals weitverbreiteten Annahme, dass sich die Philosophie einer einheitlichen und endgültigen Form nähere. Aber eine andere Seite dieses Ideals ist heutzutage immer noch in Kraft, durchaus sachlich vertretbar und nicht zu übersehen, nämlich die Herabsetzung der Theologie, die seit dem Mittelalter die Rolle der führenden Fakultät an den Universitäten gespielt hatte, zugunsten eines Säkularismus. 51 49 Siehe z.B. Boyer: „We are all islanders to begin with,” bes. S. 54-55, 124 ff. für eine aufschlussreiche Darstellung sowohl der Einführung dieses kosmopolitischen Ideals an der University of Chicago um 1900 durch deren stark deutschorientierten damaligen Präsidenten William Rainey Harper als auch der Aufrechterhaltung desselben Ideals an der Universität unter seinen Nachfolgern. 50 W 4: 114-115, 258-259. 51 Dies kann z.T. als eine Fortführung und Verstärkung einer Säkularisationsbewegung angesehen werden, die schon im 18. Jahrhundert in Göttingen durch Münchhausen in Gang gesetzt wurde (vgl. Watson: The German Genius, S. 51-52). <?page no="27"?> Humboldts Bildungsideal und sein Modell der Universität 27 Eine Säkularisation und insbesondere eine Entmachtung der katholischen Kirche gehörten zu den Hauptbestandteilen der Stein-Hardenbergschen Reformen im Ganzen. Aber Humboldt war auch hier schon vorher in vollem Einklang mit diesem neuen Zeitgeist. Denn er war seit langem skeptisch in Bezug auf die Religion im Allgemeinen und das Christentum im Besonderen. 52 Und er hatte auch seit den frühen 90er Jahren eine scharfe Trennung zwischen Staat und Religion verfochten. Sein Bestreben nach einer säkularen Universität 1809-10 war durchaus im Geiste dieser Skepsis und Trennung gemeint. Aus leicht verständlichen, diplomatischen Gründen, trug er dieses Ziel des Säkularismus und dessen Gründe in seinen damaligen Schriften nicht zur Schau. Aber sie bilden trotzdem einen wesentlichen Bestandteil des darin entworfenen Universitätsmodells. (Es ist ein kleiner aber köstlicher Ausdruck dieser Einstellung, dass er die für die Universität Berlin vorgesehene Verleihung von königlichen Domänen- Gütern auf Kosten der katholischen Kirche unternehmen wollte, die dem König einen entsprechenden Schadenersatz opfern sollte. 53 ) Humboldts Prinzip des Säkularismus der Universität und dessen Gründe sind sehr attraktiv und wichtig. Es wäre kaum übertrieben zu sagen, dass sie eine Überwindung der Religion und des Aberglaubens zugunsten der Einsichten und Werte der Aufklärung nicht nur an der Universität selber, sondern auch in einem ganzen Land darstellen. Dieses Prinzip erwies sich auch als sehr einflussreich. Bis 1800 waren die meisten Universitäten religiöse Anstalten. Sie wurden aber im Laufe des 19. Jahrhunderts vorwiegend säkular, 54 sodass dieser Säkularismus bis heute fast zu einer Selbstverständlichkeit der modernen Universität geworden ist (mit verhältnismäßig wenigen Ausnahmen, z.B. den kath olischen und manchen protestantischen Universitäten). Dieser moderne Säkularismus ist wohl zum beträchtlichen Teil auf Humboldts Einfluss zurückzuführen. 52 Diese Einstellung schloss bei ihm eine gewisse Neigung zu einem vagen Heidentum nicht aus. 53 W 4: 118, vgl. 120. Ein funktionales Äquivalent der Herabsetzung der Theologie zugunsten der Philosophie und Kunst auf universitärer Ebene war Humboldts gleichzeitige Herabsetzung der Religion und des Pfarrers zugunsten der klassischen Philologie und des Philologen auf gymnasialer Ebene. 54 Vgl. Geschichte der Universität in Europa, 3: 20. <?page no="28"?> 28 Michael N. Forster V. Die Ausblendung von Standesunterschieden Humboldts Reform des Bildungswesens im Allgemeinen und sein Modell der Universität im Besonderen sind auch deswegen bemerkenswert, weil sie ein einheitliches Bildungswesen für alle Stände vorsehen. Dies war wiederum im Geiste der Stein-Hardenbergschen Reformen, die den Abbau von starken, verderblichen Standesunterschieden anstrebten (nicht nur im Bildungswesen sondern auch im Landrecht und beim Militär). Aber Humboldt war auch hier als treuer Erbe der Ideale der Französischen Revolution und deren antiken Muster schon vorher demselben Ziel gewogen. Demgemäß affirmiert er noch kurz vor seiner Universitätsreform in Geschichte des Verfalls und Unterganges der griechischen Freistaaten (1807-8) die griechische „Liebe zur Unabhängigkeit,” denn sie „ebnete, bis zur Vernichtung, die Ungleichheiten der Stände.” 55 Humboldt vertritt in dieser Hinsicht zwar vielmehr die Forderung nach dem Abbau von strukturellen Hindernissen an einem egalitären Erziehungssystem - insbesondere den Abbau der tradierten standesgebundenen Verzweigung des Erziehungssystems zugunsten eines einheitlichen, geradlinigen Systems, das allen Ständen ein Minimum an gemeinsamer Erziehung sichert und im Prinzip alle Erziehungsebenen, einschließlich der Universitäten, allen Ständen eröffnet - als irgendeine positive finanzielle Ermöglichung der Beteiligung von ärmeren Schülern und Studenten an Gymnasien und Universitäten. Aber auch das war damals ein wichtiger Fortschritt. Und Humboldt wurde von dem weiteren, positiveren Schritt wohl nicht durch Gleichgültigkeit über die Chancen der Armen abgehalten, sondern vielmehr teilweise durch die Kenntnis, dass ärmere Schüler und Studenten in Deutschland schon bis zu einem gewissen Grad aus öffentlichen Mitteln finanziell unterstützt wurden (letztere insbesondere seit der Reformation durch protestantische convictoria und pedagogica), 56 sowie teilweise durch seinen Wunsch, den Staat zugunsten der Freiheit des Bildungswesens möglichst aus der Finanzierung der Erziehung herauszuhalten. 57 Schleiermachers Position in Gelegentliche Gedanken (1808) war et- 55 HW 3: 200. 56 Vgl. Clark: Academic Charisma, S. 148-150. 57 Vgl. Humboldts Verpönung in den Ideen von staatlicher Hilfe für die Armen auch im Notfall wegen der voraussichtlichen freiheitsbeeinträchtigenden Folgen solcher Hilfe. <?page no="29"?> Humboldts Bildungsideal und sein Modell der Universität 29 was radikaler, indem er sich nicht nur für den ersten, 58 sondern auch für den zweiten Schritt einsetzte. 59 Dieses von Humboldt und Schleiermacher vertretene Prinzip einer Ausblendung von Standesunterschieden ist sehr anziehend und wichtig. Es empfiehlt sich natürlich vor allem aus moralisch-politischen Gründen sozialer Gerechtigkeit. Aber man sollte nicht übersehen, dass auch rein wirtschaftliche und utilitaristische Gründe stark dafür sprechen, da ohne dieses Prinzip eine Menge kostbares Talent in einem Land verlorengeht, statt fruchtbar gemacht zu werden. Dieses Prinzip ist heutzutage sowohl in Deutschland als auch in den anderen Industrieländern fast zu einer Selbstverständlichkeit der Universität geworden (auch wenn es manchmal zu einem bloßen Lippenbekenntnis zu verkümmern droht, wie zurzeit in England). Es ist mindestens fraglich, ob diese Selbstverständlichkeit ohne Humboldts und Schleiermachers Einsatz für das Prinzip zustandegekommen wäre. VI. Eine unendliche Suche nach neuem Wissen Humboldts Modell der Universität schließt auch das Ideal einer unendlichen Suche nach neuem Wissen ein. Dieses Ideal hängt für ihn sehr eng mit dem Ideal individueller Bildung zusammen. Aber es wäre wohl ein Fehler, sie als seines Erachtens schlichtweg identisch zu deuten. Man sollte sie vielmehr wiederum als zwei Ideale betrachten, die einander wechselseitig (teilweise als konstitutive und teilweise als bloß kausale Mittel) unterstützen - wie bei den Beziehungen zwischen dem Selbstzweck individueller Bildung, moralisch-politischen Selbstzwecken und beruflich-utilitaristischen Selbstzwecken. 60 Dass eine Universität irgendwie nach Wissen streben soll, wird wohl kaum überraschen. Aber Humboldts Ideal ist erheblich spezifischer und weniger selbstverständlich (es gehörte z.B. nicht zum Selbstbild der Universität im Mittelalter). Er fordert nämlich, dass sich die Universität zu ei- 58 Schleiermacher: Gelegentliche Gedanken, S. 164-165. 59 Ibid., S. 157 ff. 60 Ähnliches gilt übrigens wohl auch für Humboldts Begriff der Beziehungen zwischen dem Ideal einer unendlichen Suche nach neuem Wissen einerseits und diesen weiteren Selbstzwecken andererseits: auch diese unterstützen einander jeweils wechselseitig als (teilweise konstitutive und teilweise bloß kausale) Mittel. <?page no="30"?> 30 Michael N. Forster ner unendlichen Suche nach neuem Wissen verpflichte. Demgemäß schreibt er: Es ist [...] eine Eigentümlichkeit der höheren wissenschaftlichen Anstalten, dass sie die Wissenschaft immer als ein noch nicht ganz aufgelöstes Problem behandeln und daher immer im Forschen bleiben. 61 Alles [...] beruht [darauf], das Prinzip zu erhalten, die Wissenschaft als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes zu betrachten, und unablässig sie als solche zu suchen. 62 Dieses Ideal basiert auf Humboldts philosophischer Einstellung und sogar z.T. auf seinem eigentümlichen Charakter. Auf philosophischer Ebene entstammt es teilweise seinem Prinzip, dass Bildung kein Sein sondern ein Trieb ist, 63 geht aber teilweise auch auf ein prominentes Prinzip in der Philosophie von Lessing, Kant, Fichte, den Romantikern und Humboldt selbst zurück, wonach vollendetes Wissen zwar unerreichbar, aber die unendliche Suche danach und Annäherung daran trotzdem sehr wertvoll sind (Lessings berühmte Behauptung, dass wenn er wählen dürfte, ob er die Wahrheit erreiche oder bloß danach suche, er letzteres vorziehen würde, ist ein frühes und emphatisches Beispiel dieses Prinzips). Auf persönlicher Ebene enstammt das Ideal nicht nur Humboldts Annahme dieser philosophischen Prinzipien, sondern auch einem entsprechenden Charakterzug, der sich z.B. in seiner späteren unendlichen Erforschung unzähliger Sprachen verrät. Diese ganze Seite von Humboldts Modell der Universität ist sachlich sehr attraktiv (wie die obige Liste ihrer philosophischen Unterstützer vielleicht schon nahelegt). Sie stellt insbesondere einen anziehenden Mittelweg zwischen Skepsis und Dogmatismus dar, der sich immer wieder in der Praxis der Universitäten bewährt hat. Diese Seite von Humboldts Modell ist außerdem sehr einflussreich gewesen. Die moderne Universität verkörpert das Prinzip, dass die Universität zu einer unendlichen Suche nach neuem Wissen verpflichtet ist, auf eine sehr auffallende Weise. Dieses Prinzip wird heute sogar fast als eine Selbstverständlichkeit der Universität betrachtet, obwohl es eigentlich nichts weniger als selbstverständlich ist (wie vorhin erwähnt, gehörte es z.B. nicht zum Selbstbild der Universität im Mittelalter). Dieses Prinzip 61 W 4: 256. 62 W 4: 257. Vgl. W 4: 170-171 und HW 3: 213. 63 Vgl. zu diesem Thema Vossler, O.: Humboldts Idee der Universität. In: Historische Zeitschrift 178 (1954), S. 251-268. Hier bes. S. 263. <?page no="31"?> Humboldts Bildungsideal und sein Modell der Universität 31 der modernen Universität ist wohl letzten Endes vor allem auf den Einfluss Humboldts und seiner Zeitgenossen zurückzuführen. VII. Die wesentliche Rolle der Sprache, insbesondere der mündlichen Sowohl Schleiermacher als auch Humboldt bestehen auf einer fundamentalen Rolle der Sprache in der Erziehung im Allgemeinen und in der universitären Erziehung im Besonderen. Insbesondere bei Humboldt ist dies ein roter Faden, der sich durch seine ganze pädagogische Theorie hindurchzieht. Er unterstützte z.B. schon Pestalozzis Betonung der Rolle der Sprache in der Elementarschule im Jahre 1804, noch bevor er dessen Elementarschulpädagogik im Allgemeinen akzeptierte. Außerdem machte er die klassische Philologie in ihrer Beschäftigung mit der Sprache als solcher zur zentralen Disziplin des Gymnasiums. Und er setzt dementsprechend eine grundlegende Rolle der Sprache auch in seinem Modell der Universität voraus. Noch auffallender bestehen sowohl Schleiermacher als auch Humboldt auf dem Vorrang der mündlichen Sprache vor der schriftlichen in der (universitären) Erziehung. 64 (Sie unterscheiden sich aber insofern, als Schleiermacher für die Universität dem Vortrag, Humboldt hingegen dem Gespräch den Vorzug gibt.) Diese Betonung der Sprache im Allgemeinen und der mündlichen Sprache im Besonderen basiert auf Schleiermachers und Humboldts zum großen Teil gemeinsamer Philosophie der Sprache, die eine wesentliche Abhängigkeit des Denkens von der Sprache (oder sogar deren Identität) behauptet und der mündlichen Sprache einen nicht nur chronologischen, sondern auch expressiven Vorrang vor der Schriftsprache zuschreibt. 65 64 Diese Bevorzugung der mündlichen Sprache widerspricht teilweise der Meinung von William Clark, dass die deutsche Universität des 19. Jahrhunderts einen Übergang von der mündlichen Sprache zur Schrift aufweist (siehe Clark: Academic Charisma, S. 29- 30, 91-92, 297-298, 333). 65 Siehe zu diesen Prinzipien Forster, Michael N.: After Herder. Philosophy of Language in the German Tradition. Oxford 2010; und Forster, Michael N: German Philosophy of Language. From Schlegel to Hegel and Beyond. Oxford 2011. Dementsprechend begründet Humboldt z.B. in einem Brief an seine Frau aus dem Jahre 1809 seine Betonung des Sprachunterrichts in der Erziehung seines eigenen Sohnes durch die Bemerkung: „Das ganze Feld der Gedanken, alles was den Menschen zunächst und zuerst angeht, selbst das, worauf Schönheit und Kunst beruht, kommt nur in die Seele durch das Studium der Sprache, aus der Quelle aller Gedanken und Empfindungen” (Wilhelm und <?page no="32"?> 32 Michael N. Forster Schleiermachers und Humboldts auf ihrer Philosophie der Sprache basierendes Prinzip, dass die Sprache im Allgemeinen und die mündliche Sprache im Besonderen grundlegende Mittel der universitären Erziehung sind, ist wohl im großen und ganzen richtig (obwohl ihre Betonung der mündlichen Sprache vor der schriftlichen vielleicht etwas übertrieben ist; auch die Schriftsprache hat ihre Vorteile). Auch dieses Prinzip ist sehr einflussreich gewesen. Es übte schon in den Jahren unmittelbar nach der Gründung der Universität Berlin einen starken Einfluss auf die Gestaltung der universitären Erziehung aus. Es ist z.B. bemerkenswert, wie viele der wichtigsten Leistungen der damaligen Forschung in der Form von mündlichen Vorträgen (statt Büchern oder Vorlesungen im strengen Sinne) zustandekamen. Man denke beispielsweise an Schleiermachers und Hegels berühmte Vorträge an der Universität Berlin aus dieser Zeit. 66 Beträchtliche Spuren eines solchen Prinzips lassen sich auch noch heute an unseren Universitäten finden. Die grundlegende Rolle der Sprache im Allgemeinen ist natürlich dort weitgehend anerkannt. Aber auch die Idee eines Vorrangs der mündlichen Sprache vor der schriftlichen kommt noch öfters zum Vorschein. Man bedenke z.B. sowohl die zentrale Rolle des Vortrags an fast allen heutigen Universitäten, als auch die Rolle des Gesprächs im Seminar, im Workshop, in der Lesegruppe, im „common core” an der University of Chicago und der Columbia University und in dem „tutorial” an den Universitäten Oxford und Cambridge. Diese heutigen Spuren eines solchen Prinzips lassen sich wohl zum erheblichen Teil auf Schleiermachers und Humboldts Einfluss zurückführen. VIII. „Einsamkeit und Freiheit“ Ein bekannteres Humboldtsches Prinzip, das besonders in der Organisationsschrift (1810) vorkommt, ist das Prinzip von „Einsamkeit und Freiheit.” 67 Caroline von Humboldt in ihren Briefen. Hg. v. Anna von Sydow. Bd. 3. Berlin 1909, S. 260). 66 Hegel teilte übrigens Schleiermachers und Humboldts Voraussetzungen der Abhängigkeit des Denkens von der Sprache und des Vorrangs der mündlichen vor der schriftlichen Sprache (siehe Forster: German Philosophy of Language. From Schlegel to Hegel and Beyond, Kap. 5). 67 W 4: 255, vgl. 191. <?page no="33"?> Humboldts Bildungsideal und sein Modell der Universität 33 Dieses Prinzip hängt sehr eng mit seinem Ideal von individueller bzw. eigentümlicher Bildung zusammen. 68 Es fußt nämlich auf der Einsicht, dass eigentümliche Einstellungen und Einsichten nur mittels einer Sphäre der Freiheit des Individuums von sozialem Druck erzielt werden können. Es hängt übrigens auch sehr eng mit einem persönlichen Charakterzug Humboldts zusammen: einem Hang zur Einsamkeit, den er selber in seinem Bruchstück einer Selbstbiographie (1816) thematisiert 69 und der in seinem Rückzug in den 20er und 30er Jahren auf Schloss Tegel und seinen einsamen Sprachforschungen einen Höhepunkt erreichte. Dieses Prinzip ist wichtig und wohlbegründet. Denn es gibt wohl kaum ein verderblicheres Hindernis für die Entwicklung von geistiger Individualität als einen übertriebenen Zwang zur Geselligkeit und Konformität. Dieses Prinzip bildet heute einen wesentlichen Bestandteil von allen erfolgreichen Universitäten. Es gerät zwar manchmal unter Druck, wenn z.B. ein bestimmtes Seminar bzw. Institut die soziale Seite der Forschung übertreibt oder (um ein gravierenderes Beispiel zu nennen) die britischen Regierungen der letzten 20 oder mehr Jahre versuchen, Universitätsprofessoren wie unartige Schuljungen zu überwachen und zu kontrollieren (durch das sogennante „Research Assessment Exercise”). Aber wie Humboldt schon erkannt hat, lehrt die Erfahrung, dass solches Verhalten mit innovativer Forschung unverträglich ist und sie erstickt. 70 Und diese Einsicht gehört zum Selbstverständnis von fast allen heutigen Universitäten. Dies ist wohl nochmals ein Prinzip, das die moderne Universität zum großen Teil Humboldt verdankt. 68 Vgl. HW 3: 207. 69 W 5: 5-6: er sei ein „durchaus innerlicher Mensch,” dessen „ganzes Streben” nur dahingehe, „die Welt in ihren mannigfaltigsten Gestalten in seine Einsamkeit zu verwa ndeln”; „Ich habe […] von jeher einen Abscheu davor gehabt, mich in die Welt zu mischen, und einen Trieb, frei von ihr, als ihr Beschauer, und Prüfer, zu stehen, und habe natürlich gefühlt, dass nur die unbedingteste Selbstbeherrschung mir den Punkt ausser der Welt schaffen könnte, dessen ich bedurfte.” 70 Was das britische „Research Assessment Exercise” angeht, sei mir hier eine Anekdote erlaubt, die ich kürzlich von einer zuverlässigen Quelle zu hören bekam: Ein weltberühmter britischer Literaturwissenschaftler (dessen Namen ich nicht verraten will), der an einer epochemachenden dreibändigen Biographie eines wichtigen Autors seit vielen Jahren gearbeitet und schon zwei Bände davon veröffentlicht hatte, wurde kürzlich von seinem Vorsitzenden förmlich zur Rede gestellt, weil er während der von dem „Research Assessment Exercise” vorgeschriebenen Periode die von demselben vorgeschriebene Anzahl und Art von Veröffentlichungen nicht geleistet hatte. Es soll jetzt zweifelhaft sein, ob er den dritten, kulminierenden Band seines Werkes wird fertigschreiben können. <?page no="34"?> 34 Michael N. Forster IX. Die freie gesellige Zusammenarbeit von Professoren und Studenten „Einsamkeit” ist aber nur eine Seite von Humboldts Ideal des Lebens an der Universität; eine freie gesellige Zusammenarbeit von Professoren und Studenten ist ihm gleichfalls wichtig. Demgemäß schränkt er in der Organisationsschrift (1810) das Prinzip von „Einsamkeit und Freiheit” sofort folgendermaßen ein: Da aber das geistige Wirken in der Menschheit nur als Zusammenwirken gedeiht, und zwar nicht bloss, damit Einer ersetze, was dem Anderen mangelt, sondern damit die gelingende Thätigkeit des Einen den Anderen begeistere und Allen die allgemeine, ursprüngliche, in den Einzelnen nur einzeln oder abgeleitet hervorstrahlende Kraft sichtbar werde, so muss die innere Organisation dieser Anstalten [d.h. der Universitäten] ein ununterbrochenes, sich immer selbst wieder belebendes aber ungezwungenes und absichtsloses Zusammenwirken hervorbringen und unterhalten. 71 Diese Seite von Humboldts Ideal steht in enger Verbindung zu einem bestimmten Gedankengang Schleiermachers über die Rolle des Gesprächs. 72 (Im Gegensatz zu Humboldt hat Schleiermacher aber selbst seinen Gedankengang wegen seiner vorhin erwähnten Präferenz für den Vortrag vor dem Gespräch als universitäre Unterrichtsform nicht direkt auf die Universität angewandt.) Wie das obige Zitat zeigt, betrachtet Humboldt eine freie gesellige Zusammenarbeit von Professoren und Studenten, in der sie nicht nur Gemeinsames sondern besonders auch ihre geistige Individualität einander vorstellen und dadurch einander Ermunterung und Hilfe zu deren Weiterentwicklung geben, als einen unerlässlichen Bestandteil der Universität, ohne welchen deren Hauptziel einer Entfaltung von individueller Bildung nicht erreicht werden könnte. Diese Idee basiert auf einem Gedankengang, den Schleiermacher in seinem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799) dargestellt hatte, wonach eine Art freies intellektuelles Gespräch, in dem Gesprächspartner einander nicht nur Gemeinsames sondern auch und zwar besonders ihre Individualität zeigen, eine wesentliche Rolle in der Entwicklung von individueller Bildung spielen kann und soll (Schleiermachers Theorie wurde offensichtlich zum großen Teil durch seine positive Erfahrung der Berliner Salons inspiriert - eine positive Erfahrung, die auch Humboldt zuteil wurde). Schleiermachers Schrift kann 71 W 4: 255-256, vgl. 191. 72 Vgl. die detaillierte und aufschlussreiche Behandlung dieses Themas in Fohrmann, Jürgen: Der Intellektuelle, die Zirkulation, die Wissenschaft und die Monumentalisierung. In: Gelehrte Kommunikation. Hg. v. Jürgen Fohrmann. Wien/ Köln/ Weimar 2005, S. 325-479. Hier: S. 336-342. <?page no="35"?> Humboldts Bildungsideal und sein Modell der Universität 35 sogar als eine detailliertere Darstellung des Kerns von Humboldts Idee angesehen werden. Humboldt schränkt diese Idee aber im Geiste seines Liberalismus insofern ein, als er auch auf die Gültigkeit einer Vielfalt von Umgangsformen an der Universität besteht. Diese schließen nicht nur die vorhin erwähnte Umgangsform, sondern auch andere, davon abweichende Umgangsformen mit ein - z.B., um zwei einander diametral entgegengesetzte Abweichungen zu erwähnen, einerseits rein einsame Forschung und andererseits Professoren, die eine Gruppe von Jüngern unterhalten. 73 Humboldts Idee einer Entwicklung von individueller Bildung mittels eines nicht nur Gemeinsames sondern auch Individuelles darstellenden Gesprächs (als einer unter anderen legitimen Umgangsformen) ist sehr anziehend. Sie bewährt sich z.B. immer wieder an meiner eigenen Universität, der University of Chicago durch die Selbstentwicklung von Studenten und Doktoranden über solche Gespräche in dem „common core,” Seminaren, Workshops und Lesegruppen. Auch ihre Flexibilität spielt eine wichtige Rolle, indem sie z.B. weniger extrovertierte Studenten und Doktoranden vor Ausgrenzungen schützt. Obwohl die von Schleiermacher vertretene Bevorzugung des Vortrags vor dem Gespräch für die Universität sich zum großen Teil schon zu Humboldts Lebzeiten durchgesetzt hat (unter anderem aus rein praktischen Gründen, nämlich weil es zu viele Studenten gab, um Gespräche als das Hauptlehrmittel zu benutzen) und dies den Einfluss von Humboldts Idee in der Praxis eingeschränkt hat, spielen solche sowohl Gemeinsames als auch Individuelles darstellende Gespräche und ähnliche Lehrtätigkeiten - wie z.B. das „common core,” Seminare, Workshops und Lesegruppen - doch noch bis heute eine wichtige Rolle an den Universitäten. Dass dem so ist, lässt sich wohl wenigstens teilweise auf Humboldts Einfluss zurückführen. Man bemerke z.B. in diesem Bezug, dass das Seminar als Lehrmethode, obwohl es schon im 18. Jahrhundert in Deutschland entstand, erst später die spezifischere Form eines Individualitäten darstellenden Gesprächs angenommen hat 74 und dass es dann im späten 19. Jahrhundert aus Deutschland in die Vereinigten Staaten überführt wurde. 75 73 W 4: 256, 262. 74 Vgl. Clark: Academic Charisma, S. 175-179, 422. 75 Vgl. ibid., S. 181; Geschichte der Universität in Europa, 3: 151-152. <?page no="36"?> 36 Michael N. Forster X. Die Verbindung von Forschung und Lehre Eines der bekanntesten Prinzipien von Humboldts Modell der Universität besagt schließlich, dass Forschung und Lehre in derselben Anstalt und von denselben Individuen betrieben werden sollen. (Humboldt hat zwar rein forschende Anstalten wie die Akademie zu Berlin nicht abgelehnt, aber er hat deren Rolle erheblich eingeschränkt und abhängiger von der Universität gemacht. 76 ) Humboldt hatte mehrere Gründe für dieses Prinzip einer Verbindung von Forschung und Lehre. Sicherlich glaubte er, dass eine solche Einrichtung Studenten besser lehren sowie zur eigenen Forschung vorbereiten und begeistern würde. Aber interessanterweise betonte er noch stärker das Umgekehrte: dass die Forschungen des Lehrers von dessen Lehrtätigkeit profitieren würden. 77 Diese Einsicht basiert zum Teil auf der bloßen Erfahrung, dass das Lehren den Lehrer zu neuen Ideen veranlasst und ihm zu klarerer Entwicklung seiner Ideen verhilft. Aber sie basiert implizit auch auf Prinzipien, die aus Humboldts Philosophie der Sprache stammen: insbesondere, auf dem vorhin erwähnten Prinzip, dass Sprache im Allgemeinen und mündliche Sprache im Besonderen eine grundlegende Rolle für das Denken spielen, nebst einem weiteren Humboldtschen Prinzip, dass Sprache von Hause aus eine gesellschaftliche Leistung ist. 78 Dieses Prinzip einer Verbindung von Forschung und Lehre ist sehr attraktiv. Es hat sich immer wieder in der Praxis als günstig sowohl für die Lehre als auch für die Forschung erwiesen. Es bleibt noch heute ein Kernprinzip der modernen Universität, das zum großen Teil auf Humboldt zurückzuführen ist. 79 76 W 4: 261-266. 77 W 4: 256, 262. 78 Für einige weitere Details zu diesen Prinzipien siehe Forster: German Philosophy of Language. From Schlegel to Hegel and Beyond. Schleiermacher verfolgt einen ähnlichen Gedankengang in Gelegentliche Gedanken: es kann „nur ein leerer Schein sein, als ob irgend ein wissenschaftlicher Mensch abgeschlossen für sich in einsamen Arbeiten und Unternehmungen lebe. Vielmehr ist das erste Gesetz jedes auf Erkenntniß gerichteten Bestrebens, Mittheilung; und in der Unmöglichkeit wissenschaftlich irgend etwas auch nur für sich allein ohne Sprache hervorzubringen, hat die Natur selbst dieses Gesetz ganz deutlich ausgesprochen” (S. 3). 79 Zur Übertragung dieses Prinzips von Deutschland auf Großbritannien und die Vereinigten Staaten im späten 19. Jahrhundert, siehe Geschichte der Universität in Europa, 3: 24-26, 150-151. <?page no="37"?> Humboldts Bildungsideal und sein Modell der Universität 37 XI. Schlussbemerkung Ich habe in dieser Skizze des Humboldtschen Modells der Universität zu zeigen versucht, dass, besonders wenn man manche weniger offensichtliche und leicht zu übersehende Seiten des Modells mit in Betracht zieht, es sich als sowohl sehr attraktiv und als auch heute noch sehr einflussreich herausstellt. Was dessen Einfluss betrifft, hoffe ich u.a. meine eingangs erwähnte These wenigstens plausibilisiert zu haben, dass man sogar eine Art Genealogie der modernen Universität entwickeln könnte, die deren Geist und Wirklichkeit zum großen Teil auf Humboldts Modell zurückführen würde - und zwar eine positive, d.h. rechtfertigende Genealogie. <?page no="39"?> Humboldts Konzept der Freiheit und die Politik der Bildung Michael Dreyer I. Humboldt und die Freiheit 1854 erschien in London ein englisches Buch mit dem knappen, aber treffenden Titel On the Limits of State Action 1 . Das deutsche Original klang wesentlich umständlicher, nämlich Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Zuständigkeit des Staates zu bestimmen 2 . Derart barock titelte man Mitte des 19. Jahrhunderts nicht einmal mehr in Deutschland, und in der Tat ist der Text denn auch wesentlich älter. Es ist eine Schrift, die Wilhelm von Humboldt 1791/ 92 verfasste, also mit ca. 24 Jahren. Gleichwohl war es nicht so, dass man in England über 60 Jahre auf eine Übersetzung gewartet hatte, denn auch die deutsche Fassung war zu Lebzeiten von Humboldt nie vollständig veröffentlicht worden und kam erst 1851 heraus - insofern war man in England sogar sehr schnell gewesen. Humboldt selbst war zu diesem Zeitpunkt bereits seit beinahe 20 Jahren tot und wenn er auch über Deutschland hinaus einen ausgezeichneten Ruf als Linguist und Sprachphilosoph besaß, spielte er als politischer Theoretiker Mitte des 19. Jahrhunderts keine Rolle, und schon gar nicht in England, wo die liberalen Whigs 1855, ein Jahr nach der Publikation von Humboldts 1 Humboldt, Wilhelm von: The Limits of State Action. Hg. v. J.W. Burrow. Cambridge 1969. Für die Hilfe beim Nachweis einiger schwierig zugänglicher Quellen danke ich Jasmin Elshamy. 2 Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (1792). In: Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. Bd. 1. Schriften zur Anthropologie und Geschichte. Hg. v. Andreas Flitner/ Klaus Giel. Stuttgart 1960, S. 56-233. Alle weiteren Schriften Humboldts werden nach dieser Edition zitiert. <?page no="40"?> 40 Michael Dreyer Buch, die Regierung übernehmen sollten. Politischer Liberalismus war in England primär eine praktische Angelegenheit, nicht nur ein Thema für theoretische Abhandlungen. Und doch machte Humboldts Buch, das ansonsten vielleicht spurlos untergegangen wäre, bei einem Leser großen Eindruck. Der war nun allerdings kein gewöhnlicher Leser, sondern kein Geringerer als John Stuart Mill. Zu diesem Zeitpunkt war Mill bereits ein gefeierter Intellektueller und Autor von zahlreichen Werken, darunter die enorm einflussreichen Principles of Political Economy (1848). Aber es war die Lektüre der 60 Jahre alten Ideen von Humboldt, die Mill dazu anregten, sein berühmtestes Werk zu verfassen, das in der angelsächsischen Welt ähnliche Bedeutung erlangte wie Lockes Second Treatise on Government, nämlich On Liberty (1859). Mill war großzügig darin, Humboldt als die Quelle seiner Inspiration zu nennen. Dies geschieht bereits im Motto zum ganzen Werk, das Mill aus Humboldts Vorlage entnimmt: The grand, leading principle, towards which every argument unfolded in these pages directly converges, is the absolute and essential importance of human development in its richest diversity. 3 Im dritten Kapitel, „Of Individuality, as One of the Elements of Well- Being“ wird erneut Humboldt als Gewährsmann herangezogen: Few persons, out of Germany, even comprehend the meaning of the doctrine which Wilhelm von Humboldt, so eminent both as a savant and as a politician, made the text of a treatise. 4 Diese Lobpreisung für ein Werk, das aus den unmittelbaren Eindrücken der Anfänge der Französischen Revolution geboren war und das mit den konkreten politischen Umständen in England zur Jahrhundertmitte nur sehr wenig zu tun haben konnte, sieht auf den ersten Blick ungewöhnlich aus. Kann es sich hier wirklich um ähnliche Ideen handeln? Mill jedenfalls dachte so und blieb auch dabei, denn auch noch in seiner 1873 erschienenen Autobiographie hält er daran fest „the only author who had preceded me ... of whom I thought it appropriate to say anything, was Humboldt, 3 Mill, John Stuart: On Liberty and Other Essays. Hg. v. John Gray. Oxford/ New York 1991, S. 2. 4 Ebd., S. 64 (Kap. 3). <?page no="41"?> Humboldts Konzept der Freiheit und die Politik der Bildung 41 who furnished the motto of the work“ 5 . Offenbar fühlte Mill hier eine Verbindung, und sie mag auch damit zu tun gehabt haben, dass der politisch ambitionierte Mill (der 1865 einen Parlamentssitz erringen sollte) in der Verbindung zwischen dem erfolgreichen Theoretiker und dem Staatsmann Humboldt ein praktisches Vorbild für sich selbst erblickte. Die Verbindung von Theorie und Politik zeigt sich im Werk von Humboldt am deutlichsten im Verhältnis seiner frühen Freiheitsideen zum Bildungsbegriff, den er wesentlich später als Minister in die Tat umsetzen sollte. Auf den ersten Blick besteht eine gerade Straße von der Theorie der Freiheit zur Theorie der Bildung und dann zur Umsetzung in den großen Reformen unter Humboldts Leitung. Wenn man genauer hinschaut, wird es etwas komplizierter. Wilhelm von Humboldt hat in den 68 Jahren seines Lebens ein umfangreiches Oeuvre geschaffen, darunter auch zahlreiche Werke, die einen politischen Bezug haben. Im engeren Sinne gibt es aber doch nur ein einziges Werk, das unmittelbar der politischen Theorie zugerechnet werden muss, eben die Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. Humboldt verfasste diese Ideen 1791/ 92 als junger Mann. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie bereits seit einigen Jahren in ihm gegärt, denn unmittelbarer Anlass der Arbeit war ein Besuch im revolutionären Paris, den Humboldt bereits 1789 unternahm. Der junge Aristokrat beobachtete also den Anfang der Revolution aus erster Hand, und selbst dieser Eindruck der mehr oder minder friedlich-enthusiastischen Anfangsphase der Revolution war von mehr Skepsis gekennzeichnet, als man es gemeinhin bei deutschen Beobachtern in dieser Zeit findet. Das erste schriftliche Resultat des Paris-Aufenthaltes waren die Ideen über Staatsverfassung, durch die neue französische Constitution veranlasst 6 , die Humboldt 1791 anonym in einem ausführlichen Brief „an einen Freund“, nämlich Friedrich von Gentz, veröffentlichte. Hier heißt es: Die constituirende Nationalversammlung hat es unternommen, ein völlig neues Staatsgebäude, nach blossen Grundsäzen der Vernunft, aufzuführen. … Nun aber kann keine Staatsverfassung gelingen, welche die Vernunft … nach einem angelegten Plane gleich- 5 Mill, John Stuart: Autobiography (1873). In: Mill, John Stuart: Autobiography and Literary Essays. Collected Works of John Stuart Mill. Hg. v. John M. Robson/ Jack Stillinger. Bd. 1. Toronto/ Buffalo 1961, S. 1-290. Hier S. 261. 6 Humboldt, Wilhelm von: Ideen über Staatsverfassung, durch die neue französische Constitution veranlasst (1791). In: Werke. Bd. 1., S. 33-42. <?page no="42"?> 42 Michael Dreyer sam von vornher gründet, nur eine solche kann gedeihen, welche aus dem Kampfe des mächtigeren Zufalls mit der entgegenstrebenden Vernunft hervorgeht. 7 Und weiter: Die Vernunft hat wohl Fähigkeit, vorhandnen Stoff zu bilden, aber nicht Kraft, neuen zu erzeugen. Diese Kraft ruht allein im Wesen der Dinge, diese wirken, die wahrhaft weise Vernunft reizt sie nur zur Thätigkeit, und sucht sie zu lenken. Hierbei bleibt sie bescheiden stehen. Staatsverfassungen lassen sich nicht auf Menschen, wie Schösslinge auf Bäume pfropfen. Wo Zeit und Natur nicht vorgearbeitet haben, da ists, als bindet man Blüthen mit Fäden an. Die erste Mittagssonne versengt sie. 8 Statt dessen sei es erforderlich, dass sich Nationen und ihre Verfassungsordnungen nach ihrer je eigenen Geschwindigkeit entwickelten. Philosophen in ihren Salons können keine erfolgreichen Verfassungen erdenken; sie müssen sich organisch-evolutionär entwickeln. Humboldt schrieb dies, bevor ihm die Gedanken bekannt waren, die Edmund Burke schon 1790 in seinen Reflections on the Revolution in France entwickelt hatte, die wieder - und hier schließt sich der Kreis - von Gentz 1793 ins Deutsche übertragen wurden. Gentz wandelte sich über dieser Übersetzungsarbeit 9 bekanntlich vom Liberalen zum Konservativen, aber auch die Einschätzung von Humboldt scheint von der Burkes nicht sonderlich weit entfernt zu sein. Dies alles klingt eher nach dem Credo eines vorsichtigen Reform-Konservativen englischen Musters und nicht nach einem freiheitsorientierten Liberalen, und schon gar nicht nach einem möglichen Vorbild für den Großmeister des englischen radikalen Liberalismus, für John Stuart Mill. Und trotzdem sind die Gränzen der Wirksamkeit des Staates voller klassisch liberaler Positionen. Es ist überdeutlich, dass Humboldt dem liberalen Gedanken anhängt, dass die Regierung die beste sei, die am wenigsten regiere - wobei dies nicht auf Thomas Jefferson zurückzuführen ist, der 7 Ebd., S. 34. 8 Ebd., S. 36. 9 Gentz, Friedrich von: Betrachtungen über die französische Revolution. Nach dem Englischen des Herrn Burke bearbeitet, mit einer Einleitung, Anmerkungen, politischen Abhandlungen und einem kritischen Verzeichniss der in England über diese Revolution erschienenen Schriften. Hohenzollern 1794. Erneut in: Gentz, Friedrich von: Gesammelte Schriften. Bd.1. Hildesheim/ New York 1997. John Q. Adams, seit 1797 amerikanischer Botschafter in Preußen, hat seinerseits Gentz‘ Ideen ins Englische übersetzt; Gentz, Friedrich von: The Origin and Principles of the American Revolution, Compared with the Origin and Principles of the French Revolution. Übers. v. John Quincy Adams. Hg. v. Peter Koslowski. Indianapolis 2010. <?page no="43"?> Humboldts Konzept der Freiheit und die Politik der Bildung 43 1791 unter preußischen Intellektuellen wohl kaum eine große Rolle spielte, sondern auf Thomas Paine und seine feurigen Pamphlete im Vorfeld des Unabhängigkeitskrieges 10 . Auch eine Verbindung der Gränzen zu Rousseau ist angenommen worden 11 , die mir aber zweifelhaft erscheint. Dazu sind Humboldts Ideen zu sehr klassisch liberalem Gedankengut verpflichtet und lassen die republikanische Tugend außen vor. Immerhin ist es nicht verkehrt, sich daran zu erinnern, dass Rousseaus Contrat Social und sein Émile nur fünf Jahre vor Humboldts Geburt erschienen sind und zum intellektuellen Kontext von Humboldt gehören. Da es hier um die Verbindung der Freiheitsideen zum Bildungsbegriff geht, kann nicht die ganze Ideenbreite der Gränzen aufgegriffen werden. Besonders wichtig ist eine in diesem Zusammenhang immer wieder angeführte Stelle: Der wahre Zwek des Menschen - nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt - ist die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste, und unerlassliche Bedingung. Allein ausser der Freiheit erfordert die Entwikkelung der menschlichen Kräfte noch etwas andres, obgleich mit der Freiheit eng verbundenes, Mannigfaltigkeit der Situationen. Auch der freieste und unabhängigste Mensch, in einförmige Lagen versezt, bildet sich minder aus. Zwar ist nun einestheils diese Mannigfaltigkeit allemal Folge der Freiheit, und anderntheils giebt es auch eine Art der Unterdrükkung, die, statt den Menschen einzuschränken, den Dingen um ihn her eine beliebige Gestalt giebt, so dass beide gewissermaassen Eins und dasselbe sind. 12 Zu diesem Zeitpunkt wurde, wie bereits angedeutet, nicht das ganze Werk veröffentlicht. Das geschah erst weit später. Aber die Abschnitte über Bildung gab Humboldt bereits 1792 zur Veröffentlichung frei, und die er- 10 Thomas Paines „Common Sense“ wurde bereits unmittelbar nach dem Erscheinen des Originals im Januar 1776 auch auf deutsch vorgelegt; allerdings richtete es sich an die deutschsprechenden Bewohner der Kolonien; Paine, Thomas: Gesunde Vernunft. An die Einwohner von America. Philadelphia 1776. Die Schrift war aber auch im Original in Europa gut bekannt. 1791 erscheint in Leipzig die deutsche Ausgabe von Rights of Man als Kurzer Abriss der Entstehung der französischen Revolution. Von Thomas Payne, einem Amerikaner. 11 Benner, Dietrich: Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie. Eine problemgeschichtliche Studie zum Begründungszusammenhang neuzeitlicher Bildungsreform. Weinheim/ München 2003, S. 45 und S. 56. 12 Humboldt: Gränzen, S. 64 (2. Kap., erster Absatz). <?page no="44"?> 44 Michael Dreyer schienen in diesem Jahr in Schillers Neuer Thalia 13 . In dieser reichen Stelle finden sich Freiheit und Bildung, und sogar eine Verteidigung des Pluralismus. Der letzte Satz lässt beinahe Gedanken von Adorno und Marcuse anklingen 14 kann Humboldt möglicherweise ein Vorgänger sowohl für Mill wie für die Frankfurter Schule sein? Humboldt ist in mancherlei Hinsicht ein erstaunliches Chamäleon, das einfache Kategorisierungen sprengt. Seinem Gedanken, dass man mit dem Erlernen einer neuen Sprache für sich jeweils eine neue Welt schaffe, hat durchaus etwas Postmodernes an sich - für Humboldt reflektiert Sprache nicht nur die Realität, sondern Sprache schafft diese Realität überhaupt erst. Und so bestehen so viele Realitäten nebeneinander wie es Sprachen gibt. Selbst Verbindungen zu fernöstlichem Denken kann man aus Humboldts Werken aus dieser Epoche ziehen. 1797 schreibt er in der Abhandlung Über den Geist der Menschheit, dass der große Mensch durch die „Energie einer lebendigen Kraft“ ausgefüllt sei; und das Leben wächst durch das Leben. … [E]s wirkt nicht durch angelegte Plane, absichtliche Veränderungen, überhaupt nicht durch eine auf die andern gerichtete Thätigkeit. Bloss dadurch dass es da ist, dass es handelt und wahrgenommen wird, übt es seine bildende Kraft aus. 15 Dies klingt bemerkenswert nach Gedanken des chinesischen Daoismus, und der Humboldt-Biograph Kessel bemerkte im 4. Kapitel seiner Biographie unter dem Titel „Das Handeln, gleichsam als handelte man nicht“ 16 die eigentümlichen Widersprüche in Humboldts Denken, der gleichzeitig zur Aktivität aufruft und davor zurückweicht. Der Gedanke der Inaktivität des Staates zieht sich durch die ganzen Gränzen hindurch. Der Staat mache in der Regel die Dinge schlimmer als sie vorher waren, wenn er versuche, mit Regulierungen einzugreifen. Auf keinen Fall soll der Staat als eudämonistischer Wohlfahrtsstaat agieren. Die Grenzen der Wirksamkeit sind eng gefasst. Der Staat sollte sich aus fast allem zurückziehen. Er sollte keine stehenden Armeen betreiben (obwohl Humboldt gegen den Krieg als Instrument der Politik nichts einzu- 13 Neben der „Neuen Thalia” erschienen auch drei Abschnitte in der „Berliner Monatsschrift”; siehe Bruford, Walter Horace: The German Tradition of Self-Cultivation: ‘Bildung’ from Humboldt to Thomas Mann. London/ New York 1975, S. 15f. 14 Marcuse, Herbert: Repressive Tolerance. in: A Critique of Pure Tolerance. Hg. v. Robert Paul Wolff/ Barrington Moore, Jr./ Herbert Marcuse. London 1965, S. 93-137. 15 Humboldt, Wilhelm von: Über den Geist der Menschheit (1797). In: Werke. Bd. 1 , S. 506-518. Hier S. 512f. (Abschnitt 21 und 23). 16 Kessel, Eberhard: Wilhelm v. Humboldt. Idee und Wirklichkeit. Stuttgart 1967, S. 149. <?page no="45"?> Humboldts Konzept der Freiheit und die Politik der Bildung 45 wenden hat 17 ), er soll weder Eheschließung noch Religion oder Moral reglementieren. Auch aus dem Wirtschaftsleben, dem Handel, der Landwirtschaft und der Bildung sollte der Staat sich zurückziehen - ja, sogar aus der Bildung. Liberaler geht es nicht mehr, und hier gibt es in der Tat Ideen, die Mill auch Jahrzehnte später noch anziehend gefunden haben mag. Humboldt hat die abstrakten Ideen auch in seinem privaten Leben durchgeführt. Bereits 1791 verlässt er trotz Ausbildung zum Richteramt und zusätzlicher diplomatischer Qualifikation den preußischen Staatsdienst und heiratet in Erfurt Caroline von Dacheröden. Die folgenden Jahre verbringt Humboldt als Privatgelehrter, wobei es sicherlich nicht schadet, dass seine Frau gleich mehrere Güter in den thüringischen Staaten besitzt, die materielle Grundlage also niemals gefährdet ist. Die einzige legitime Rolle des Staates sieht Humboldt in dieser Zeit darin, die Sicherheit und den Schutz der Bürger durch das Militär wie durch das System der Kriminaljustiz herzustellen. Das ist nichts anderes als Manchesterliberalismus oder der Nachtwächterstaat, auch wenn Humboldt selbst diese Charakterisierung seiner Gedanken immer abgelehnt hat. Wenn man Humboldt bei seinem in den Gränzen der Wirksamkeit des Staates niedergelegten Wort nimmt, was bleibt dann übrig, um die Idee der Bildung als staatlichem Ideal aktiv zu unterstützen? Diesem Problem müssen wir uns jetzt zuwenden. II. Humboldt als Reformer und als Enigma Wenn Humboldt in den Gränzen den Kampf gegen die „Eudämonie“ des Staates führt und gegen dessen „Policeygesetze“, dann muss man die Frage stellen, was er hierbei konkret vor Augen hatte. Es ist kein abstrakter Staat, um den es hier geht, sondern ein sehr konkreter: nämlich Preußen unter seinem König Friedrich Wilhelm II. Es ist nicht Frankreich, um das es geht, schon gar nicht das revolutionäre Frankreich, sondern die preußische Monarchie - wohlgemerkt die Monarchie vor dem Zusammenbruch von Jena und Auerstedt und den dadurch eingeleiteten Reformen. König Friedrich II. war 1786 gestorben; zu einem Zeitpunkt, als der 20jährige Wilhelm von Humboldt und sein zwei Jahre jüngerer Bruder Alexander bereits weltgewandt in den Salons der Berliner Aufklärung verkehrten. Ein Jahr später nahmen beide Brüder das Studium an der Viadrina 17 Humboldt: Gränzen, S. 98-102 (5. Kap.). <?page no="46"?> 46 Michael Dreyer in Frankfurt/ Oder auf, das Wilhelm 1788 in Göttingen fortsetzte. 1789, nach der bereits erwähnten Paris-Reise, findet er sich in Weimar wieder. In dem Moment, in dem Humboldt an den Gränzen arbeitete, hatte der unstetige und an Vergnügungen interessierte Friedrich Wilhelm II. bereits fünf Jahre lang die Gelegenheit gehabt, zu demonstrieren, was ein Staat durch ungezügelte Aktivitäten alles anrichten konnte. Man kann sehr wohl argumentieren, dass Preußen nach der langen Herrschaft von Friedrich II. reformbedürftig war. Aber die hektische Art, mit der der neue Herrscher alles änderte, was geändert werden konnte, und zahlreiche Projekte anfing, ohne sie zu beenden, wird mit Sicherheit zur Skepsis von Humboldt beigetragen haben - der sich ja zu diesem Zeitpunkt auf eine juristische Karriere im preußischen Staatsdienst vorbereitete! Unter Friedrich Wilhelm II. wurden manche Steuern abgeschafft und zugleich die Steuereintreibung reformiert. Das Zollwesen wurde modernisiert, der Bau von Straßen und Kanälen wurde forciert, in Berlin begann eine enorme öffentliche Bautätigkeit (unter anderem wurde 1788-91 das Brandenburger Tor gebaut), die Kultur wurde gefördert und auch der Erziehung und Bildung wandte der König seine Aufmerksamkeit zu, während die Religions- und Gewissensfreiheit ausgedehnt wurde. Alles dies sind durchaus bemerkenswerte Reformen aus dem Geist der Aufklärung und der Landesverbesserung - aber sie wurden kaum konsequent durchgeführt. Es half auch nicht, dass die ohnehin schon geringe politische Aufmerksamkeit des Königs in seinen Interessen am Okkultismus einen gefährlichen Rivalen erhielt. Spiritismus und die Ideen der Rosenkreuzer spielten im persönlichen Umfeld des Monarchen eine wachsende Rolle. Es ist kein Wunder, dass Humboldt unter diesen Umständen kaum auf einen aktiven Staat setzen konnte, wenn er die Nachteile staatlicher Einmischung derart vor Augen geführt bekam. Wenn man die Gränzen unter diesem Gesichtspunkt liest, dann sind sie primär eine Kritik der politischen Zeitumstände und kein visionär-theoretisches liberales Pamphlet. Rudolf Vallentin sieht Humboldt primär als einen Denker der Aufklärung 18 , was sicherlich nicht verkehrt ist, aber die Elemente des Romantischen und des Historizismus unterschätzt. Umgekehrt wurde aber auch das exakte Gegenteil behauptet: die politischen Schriften Humboldts seien eine reine Utopie ohne Verständnis für die politischen Realitäten. Nach Paul Sweet sind die Arbeiten in einem 18 Vallentin, Rudolf: Wilhelm von Humboldts Bildungs- und Erziehungskonzept. Eine politisch motivierte Gegenposition zum Utilitarismus der Aufklärungspädagogik. München/ Mering 1999. <?page no="47"?> Humboldts Konzept der Freiheit und die Politik der Bildung 47 „political vacuum“ 19 entstanden, das das europäische Staatensystem der Zeit nach der Französischen Revolution nicht berücksichtige; Humboldt schreibe eine reine Utopie, die „an international community of Switzerlands“ 20 voraussetze. Auch Humboldts Freund Gentz bemerkte die Unmöglichkeit, die Gedanken Humboldts mit dem Internationalen System Europas zu verbinden - ein Minimalstaat war das gerade Gegenteil von dem, was das revolutionäre Frankreich umzusetzen versuchte und was dementsprechend die monarchischen Staaten Europas dem Prinzip der Revolution entgegenzusetzen hatten. Dies sind Widersprüche, aber Humboldt war ein Mann der Widersprüche, der die Vielfalt seiner Begabungen und Kenntnisse am Anfang seiner Laufbahn nie lange an eine Tätigkeit oder an ein Interesse binden konnte. Eine Schule hatte der Aristokrat nie von innen gesehen, und selbst in Göttingen hielt er es nur für drei Semester aus, in denen er Philosophie bei Lichtenberg, Geschichte bei Schlözer und alte Sprachen bei Heyne studierte 21 , also ungefähr alles mit Ausnahme der Jurisprudenz, die seine ihm zugedachte Bestimmung sein sollte. In beruflicher Stellung begann Humboldt als staatlicher Beamter, wechselte dann zum Dasein eines privaten Gentleman und Privatgelehrten, wurde danach Diplomat, dann Minister, dann wieder Diplomat und letztlich wiederum Privatgelehrter. In seinem ganzen beruflichen Leben war Humboldt exakt für ein Jahr, zwei Monate und 19 Tage professionell mit staatlicher Erziehung und ihrer Reform beschäftigt - aber für mehr als 15 Jahre war er als Diplomat in Rom, Wien, London, Frankfurt und anderswo tätig. Von Januar bis Dezember 1819 fungierte er als Minister für Ständische Angelegenheiten, während Staatskanzler Hardenberg eine (niemals zustande gekommene) Verfassung vorbereitete. Ab 1820 verbrachte er fast den ganzen Rest seines Lebens erneut als Privatgelehrter - es erinnert beinahe an Machiavelli, der gleichfalls von den politischen Änderungen in das ungeliebte Dasein außerhalb einer verantwortlichen Stellung gezwungen wurde. In den Gränzen der Wirksamkeit des Staates verbindet Humboldt einen prononcierten Liberalismus mit einigen konservativen Bestandteilen, die zusammen nur schwierig zu kategorisieren sind. Zieht man weitere Schriften heran, wird die Zuordnung nicht einfacher. Die Betrachtungen über die 19 Sweet, Paul R.: Young Wilhelm Von Humboldt’s Writings (1789-93) Reconsidered. In: Journal of the History of Ideas 34 (1973), S. 469-482. Hier S. 479. 20 Ebd., S. 480. 21 Felden, Heide von: Zur aktuellen Relevanz der Bildungsvorstellungen Wilhelm von Humboldts. Oldenburger Universitätsreden Nr. 138. Oldenburg 2003, S. 9. <?page no="48"?> 48 Michael Dreyer bewegenden Ursachen in der Weltgeschichte von 1818 analysieren Freiheit und Notwendigkeit, die in einem fast dialektischen Verhältnis zueinander stehen, als die bewegenden Kräfte der Geschichte 22 . Dem stehen Schriften gegenüber, die vollständig apolitische Idealisierungen eigentlich politischer Themen bieten 23 , sowie geradezu befremdliche Schriften, die von Nationalismus getränkt sind und von einer fast absurden Hochschätzung „des Deutschen“, in dem Humboldt den Griechen seiner Zeit erblickt und damit das höchstgebildete Wesen unter den europäischen Völkern 24 . Dieses Nebeneinander von kaum zu vereinbarenden Bestandteilen wird auch nicht einfacher, wenn man sich dem Problem der Bildung zuwendet. III. Bildung und Universität - und der Staat Der Begriff der Bildung ist bei Humboldt überwiegend individualistisch ausgerichtet. Bildung ist kein gesicherter Besitz, sondern ein Prozess. Die „Entwickelung der menschlichen Kräfte“ zur Ausformung des Selbst ist ein nicht abzuschließender Vorgang, der nicht nach Erreichung eines bestimmten Zieles beendet und gleichsam nach Hause getragen werden kann. Gleichzeitig steht aber neben dem persönlichen Interesse des Individuums auch und gleichberechtigt das Interesse des Staates daran, gebildete Bürger zu produzieren. Die Gründung der Universität Berlin dient nicht nur oder primär der Selbstentwicklung, sondern steht in einer Reihe mit der Kommunalreform der Städteordnung, dem Ende der persönlichen Untertänigkeit der Bauern, der Emanzipation der Juden und der Deregulierung der Zünfte und des Wirtschaftslebens 25 . Alle diese Reformen brachten erhebliche Verbesserungen für die betroffenen Menschen, aber das eigentliche Ziel war die Stärkung des Staates nach den verheerenden Niederlagen. Ökonomische Beweggründe und nicht humanitäre Erwägungen brachten etwa Humboldt und Scharnhorst dazu, sich für die sofortige rechtliche Gleichberechtigung der Juden auszusprechen, während Innenminister Graf Dohna für ein langsameres Vorgehen plädierte. 22 Humboldt, Wilhelm von: Betrachtungen über die bewegenden Ursachen in der Weltgeschichte (1818). In: Werke. Bd. 1, S. 578-584. 23 Humboldt, Wilhelm von: Über den Charakter der Griechen, die idealische und historische Ansicht desselben (1808). In: Werke. Bd. 2, S. 67-72. 24 Humboldt, Wilhelm von: Über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung (1830). In: Werke. Bd. 2, S. 357-394. 25 Generell hierzu: Vogel, Barbara (Hg.): Preußische Reformen 1807-1820. Königstein/ Ts. 1980. <?page no="49"?> Humboldts Konzept der Freiheit und die Politik der Bildung 49 Humboldt hatte detaillierte und ansprechende Ideen darüber, wie eine moderne Universität funktionieren sollte. Auch diese Ideen waren keine bloße Abstraktion, sondern aus der Anschauung der Realitäten geboren. Als Student und auch später als Staatsbediensteter hatte Humboldt immer wieder bemerken müssen, wie die professorale Lehre ungeeignet war, das Interesse der Studierenden anzuregen. Über eine Vorlesung des Marburger Juristen Heinrich Christian von Selchow notierte Humboldt: Sein Vortrag misfiel mir gänzlich. Ein singender, immer abgeschnittner, ganz aufs Nachschreiben eingerichteter Ton, platte undeutsche und lächerliche Ausdrükke z.B. ein artiges scriptum, steife professormäßige Scherze ..., Citate ohne aufhören nach Seite und Paragraph in so ungeheurer Menge, dass kein Student weder Geld genug haben kann, sich alle die Bücher anzuschaffen, noch Zeit genug sie zu lesen, endlich durchgehends ein ekelhaft eitler, affektirter Ton. Die Studenten, auf die ich genau während des Kollegiums Acht gab, betrugen sich gesitteter, als gewöhnlich die Frankfurthischen, sie behielten wenigstens nicht die Hüte auf, und schienen auch übrigens gesitteter. Sonst sprachen sie sehr laut, lachten, warfen sich Komödienzettel zu, und trieben Possen von aller Art. Auch war ein grosser Hund im Kollegium, der sich nach Belieben wälzte, krazte, und Töne aller Art von sich gab. 26 Kurz, die akademischen Verhältnisse waren indiskutabel und gänzlich ungeeignet, gebildete und produktive Staatsbürger hervorzubringen. Die Reform des Lehrens (und der Lehrer! ) an der Universität war das Gebot der Stunde. 1790 gab es 143 Universitäten in Europa, davon 34 in Deutschland 27 . In den nachfolgenden Jahren begann das große Universitätssterben, was in den Wirren der Napoleonischen Kriege und der mehrfachen Neugestaltung der europäischen Landkarte für so altehrwürdige Universitäten wie Köln (1798), Erfurt (1816) und Herford (1817) das Aus bedeutete. Unter diesen Umständen war der Plan, 1810 im geschwächten und nach dem Krieg von 1807 praktisch bankrotten Preußen eine moderne Universität in der Hauptstadt zu gründen, von bemerkenswerter Kühnheit und Weitsicht. Und in jedem Fall war es eine Entscheidung, die nicht nur wissenschaftliche Hintergründe hatte, sondern die zunächst und primär eine politische Entscheidung war. 26 Humboldt, Wilhelm von: Gesammelte Schriften. Hg. v. der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften. 17 Bde. Berlin 1903-1936. Hier Bd. 14, S. 20. 27 Damit war Deutschland das Land mit meisten Universitäten; gefolgt von 26 Universitäten in Italien. Gemessen an der Bevölkerungszahl hatten allerdings Schottland und Holland den Vorrang; Frijhoff, Willem: Grundlagen. In: Geschichte der Universität in Europa. Band II: Von der Reformation zur Französischen Revolution (1500-1800). Hg. v. Walter Rüegg, S. 53-104. Hier: S. 79. <?page no="50"?> 50 Michael Dreyer IV. Ist „Bildung“ eine politische Kategorie? Es gibt kaum eine Verbindung zwischen dem politischen Philosophen Humboldt aus den Gränzen der Wirksamkeit des Staates von 1792, dem aktiven Politiker der Universitätsreform von 1810 und dem Theoretiker der Bildung. In der politiktheoretischen Überlegung von 1792 spricht Humboldt von Bildung als Selbstentwicklung, aber die Realität des preußischen Universitätswesens ist fast vollständig elitär. Um 1810 gibt es in ganz Preußen nicht mehr als 5.000 Studenten 28 , deren Existenz primär auf das Interesse des Staates ausgerichtet ist. 1792 will Humboldt den Staat aus Bildung und Erziehung fast völlig heraushalten, aber 1810 hat er sehr dezidierte Vorstellungen darüber, wer als Professor in Preußen geeignet ist und wer nicht. Humboldt sieht keine „Gränzen“, jedenfalls nicht für sich selbst. Er greift als Mikromanager in alle Details der Universitätsgründung ein und versteht es, erwünschten Gelehrten mit beachtlichen Gehaltsangeboten den Weg in das finanziell abgebrannte Berlin schmackhaft zu machen. Das ist gute Universitätspolitik, aber kaum im Sinne eines Minimalstaates 29 . Humboldt vertraut letzten Endes auch nicht auf das kollektive Urteil der Professoren, sich ihre Kollegen selbst zu suchen. 1810 ist es für ihn eindeutig, dass der Staat das letzte Wort bei der Bestellung der Universitätslehrer behalten muss: 28 Felden: Bildungsvorstellungen Humboldts, S. 25. 29 Es ist bezeichnend, dass die sozialistische Humboldt-Rezeption im Sinne des „Erbe- Gedankens“ keine Probleme mit seiner Position hatte. Typisch ist Rühle, Otto: Humboldts Universitätsidee - Tradition und Aufgabe. In: Wilhelm von Humboldt (1767/ 1967). Erbe, Gegenwart, Zukunft. Hg. v. Werner Hartke/ Henny Maskolat, Halle (Saale) 1967, S. 162-194, wo Humboldt aus sozialistischer Sicht sanft dafür kritisiert wird, dass er gegenüber Marx und Engels objektiv zurückstehe, aber gleichwohl seine Ideen - in ihrer klassenmäßigen Beschränkung - gewürdigt werden. Die sozialistische Hochschule baue auf diesen Ideen auf, in der durch den dialektischen Materialismus gereinigten Variante. Dem wird als negatives Gegenbild die Situation in der BRD gegenübergestellt; Musiolek, Berndt: Die Tradition der Humboldtschen Universitätsidee und die Entwicklung des Hochschulwesens in Westdeutschland. In: Ebd., S. 195-233. Im Westen gäbe es zwar auch demokratische Entwicklungen, doch gerade „[d]arum sind die herrschende Klasse und ihre Regierung gezwungen, die Illusion von der Freiheit der Wissenschaft aufzugeben, sie greifen zu drakonischen Maßnahmen, sie organisieren die ‚formierte Gesellschaft‘, um die anschwellende Bewegung auch der Wissenschaftler zu liquidieren“, ebd., S. 210. Eine Orientierung an Humboldt hieße für die einzelnen Wissenschaftler, die „Ablehnung ihres Mißbrauchs durch die herrschende Klasse“ (S. 229) zu betreiben. <?page no="51"?> Humboldts Konzept der Freiheit und die Politik der Bildung 51 Die Ernennung der Universitätslehrer muss dem Staat ausschliesslich vorbehalten bleiben, und es ist gewiss keine gute Einrichtung, den Facultäten darauf mehr Einfluss zu verstatten, als ein verständiges und billiges Curatorium von selbst thun wird. Denn auf der Universität ist Antagonismus und Reibung heilsam und nothwendig, und die Collision, die zwischen den Lehrern durch ihr Geschäft selbst entsteht, kann auch unwillkürlich ihren Gesichtspunkt verrücken. Auch ist die Beschaffenheit der Universitäten zu eng mit dem unmittelbaren Interesse des Staates verbunden. 30 Der Widerspruch des Praktikers zum Theoretiker von fast 20 Jahren zuvor ist deutlich. Übrigens war sich Humboldt der Grenzen nicht nur des Staates, sondern auch seiner eigenen Grenzen sehr wohl bewusst. In einem Brief an Schiller vom September 1797 geht er sehr selbstkritisch mit seinen eigenen Fähigkeiten zu abstrakt-theoretischer Arbeit um: Unternehme ich eine Verstandesarbeit, so bin ich im Abstrahieren nicht tief, im Analysieren nicht streng, im Räsonieren überhaupt nicht systematisch und trocken genug. Und weiter an gleicher Stelle: Das Talent des Stils, wenn ich auch dahin kommen sollte, manches gut zu schreiben, werde ich nie erlangen; dies fehlt mir einmal. Ich habe keine Leichtigkeit, sobald ich schreibe, nicht einmal immer ... wenn ich spreche. 31 Bildung ist die Beziehung zwischen dem Menschen und der ihn umgebenden Welt. Humboldt hatte sich aus dieser Beziehung selbst spätestens 1820 mit seinem Rückzug von den Staatsgeschäften herausgenommen, und dies nicht einmal zum ersten Mal, sondern ähnlich wie bereits 1791. Gleichzeitig verteidigt Humboldt zu diesem späteren Zeitpunkt und anders als in den Gränzen von 1792 eine aktive Rolle des Staates, der die Führung in der Bildung der Untertanen und Staatsbürger übernehmen soll. Sieht man von dem durch die Französische Revolution inspirierten Jugendwerk ab, hat Humboldt, der in anderen Bereichen zweifellos ein bedeutender Gelehrter war, zum politischen Denken seiner Zeit nur wenig beigetragen. Wenigstens in diesem Bereich ist Humboldt weniger kreativ 30 Humboldt, Wilhelm von: Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin (1810). In: Werke. Bd. 4, S. 255-266. Hier: S. 264f. 31 Brief Wilhelm von Humboldts an Friedrich Schiller vom 04.09.1797. In: Wilhelm von Humboldt. Sein Leben und Wirken dargestellt in Briefen, Tagebüchern und Dokumenten seiner Zeit. Hg. v. Rudolf Freese. 2. Aufl. Darmstadt 1986 (erstmals [Ost-]Berlin 1953), S. 227 und S. 228. <?page no="52"?> 52 Michael Dreyer als vielmehr ein Mann mit vielen Interessen 32 . Humboldt verfolgte überwiegend eine Vita activa und nicht die Vita contemplativa. Es ist bemerkenswert, dass Humboldt nach der Gründung der Universität Berlin mit deren Entwicklung keineswegs einverstanden oder gar zufrieden gewesen wäre. Die Berufungen vieler Professoren stieß nicht auf seine Zustimmung, darunter auch die Berufung von Hegel nach Berlin 1816, aber da war Humboldt schon lange nicht mehr für die Bildungspolitik zuständig, sondern wirkte als Diplomat in Frankfurt und London. Humboldt hat seine Kritik an der Entwicklung der Universität als Politiker geäußert, nicht primär als Theoretiker der Bildung. An der Definition der Bildung als Prozess der Selbstentwicklung hat Humboldt festgehalten, aber es ist ein sehr elitär-aristokratischer Prozess, der hier in der Praxis stattfindet. Die bürgerlich-liberale Gesellschaft, die Humboldt 1792 gefordert hatte, war über diese Einschränkung und damit auch über Humboldts späteres politisches Denken und vor allem seine politische Praxis schnell hinausgewachsen. 32 So beschrieb er sich selbst in einem Brief an seine Frau Caroline; Brief Wilhelm von Humboldts an Caroline vom 7.11.1813. In: Ebd., S. 574. <?page no="53"?> “A Not Yet Invented Logic” Herder on Bildung, Anthropology, and the Future of Philosophy Kristin Gjesdal If modernity is the age of critique and self-reflection, then philosophy, in lending voice to the Zeitgeist of its day, must scrutinize not only reason’s epistemic, ethical, and aesthetic pursuits, but also the very mandate to carry through such a critique in the first place. In this context, Johann Gottfried Herder is ascribed an ambiguous role. His posthumously published How Philosophy Can Become More Universal and Useful for the Benefit of the People (1765) delivers a devastating critique of philosophy and advocates an anthropological turn. Herder, it seems, takes the critique of philosophy to such lengths that he ends up dissolving the discipline altogether. 1 This reading of Herder rests on two argumentative steps. First, it is assumed that Herder rejects philosophy’s claim to truth and hence, by implication, its scientific validity. 2 Second, it is argued that for Herder, the logical consequence of this rejection is to leave philosophy behind so as to pursue empirical research. 3 These claims are both wrong. Herder certainly critiques the philosophy of his time - in particular the abstract school phi- 1 For such a reading, see Zammito, John: Kant, Herder, and the Birth of Anthropology. Chicago 2002, p. 3. 2 See, again: Zammito: Kant, Herder, and the Birth of Anthropology, p. 173. 3 In Zammito’s words, “Philosophy would dissolve into social science.” Zammito: Kant, Herder, and the Birth of Anthropology, p. 176. <?page no="54"?> 54 Kristin Gjesdal losophy that had developed around Wolff and his followers 4 - and emphasizes that philosophy must turn away from an understanding of rationality in terms of formal requirements and empty abstractions. However, he never questions the relevance of philosophy as such. Quite to the contrary, Herder’s call for an anthropological turn is best understood as a critique, in the Kantian sense of the word, of philosophical reason. In analyzing its past and present practices, Herder seeks to draw the limits for the adequate scope and validity of philosophy, but also to exemplify an alternative kind of philosophizing, thus ensuring its bearing for the future. On this basis, the anthropological turn should not be read as a drift from philosophy to empirical science, but, rather, as a critical shift within philosophy itself. 5 At stake, I will argue, is an attempt at regaining the relevance of philosophy by redefining it along the lines of a theory of Bildung. Such a redefinition cannot take the shape of a formal treatise or a set of methodological criteria but must, rather, be performatively exemplified. I support this reading by analyzing Herder’s critique of the way in which philosophy has been externally limited and internally determined by natural science (sections I and II). I then turn to Herder’s alternative understanding of philosophy and propose that he envisions philosophy as an ongoing process of Bildung, a propaedeutic to independent thought (section III). This notion of philosophy, however, cannot be spelled out by simply listing a set of fixed goals and procedures, but can only be made clear through concrete examples of philosophizing (section IV). I. Truth, Science, and Philosophy Herder writes his essay on the usefulness of philosophy in response to a prize contest issued by the Patriotic Society of Bern. How, the society had 4 Zammito describes school philosophy in the following way: “Schulphilosophie came to mean, first and foremost, enclosed thinking: closed conceptually and cloistered in social space. ‘School’ clearly had these two senses from the medieval genesis of ‘scholasticism’ throughout the German eighteenth century: it referred both to the esoteric nature of intellectual discourse and to the institutional framework of higher education in which it largely deployed itself.” Zammito: Kant, Herder, and the Birth of Anthropology, p. 22. 5 This is not to say that Herder’s philosophy does not draw on (and inform) anthropology. For a discussion of Herder’s contribution to anthropology, see Forster, Michael N.: Herder and the Birth of Modern Anthropology. In: After Herder. Philosophy of Language in the German Tradition. Oxford 2010, pp. 199-244. <?page no="55"?> “A Not Yet Invented Logic“ 55 asked, “can the truths of philosophy become more general and practical for the good of the people? ” 6 The question was motivated by a growing doubt about the scientific legitimacy of philosophy, indeed of the humanities as such. Commenting on these sentiments, Herder observes that philosophy “is in the process of getting condemned.” 7 Philosophy can no longer take for granted its home in an academic setting. How can philosophy respond to this predicament? How can it best defend and demonstrate the usefulness and relevance of its truths? In approaching these questions, Herder does not want to seek refuge in a priori speculation, but turns, instead, to the field of philosophy as it is de facto practiced. According to Herder, existing philosophical practice does not provide much to build on. As he sums up his disappointment, he wants to “bury ninety-nine pounds and make the most of the hundredth”. 8 Since 99% of philosophy proves problematic - and, since, further, one could suspect that the one salvageable percentage will be but Herder’s own contribution 9 - a merely positive procedure would prove self-defeating (as Herder would be looking to prove the validity of the very standards by which the problematic 99% would be criticized in the first place). Hence, Herder is forced to realize the potential of philosophy via negativa, that is, by analyzing the dominant self-understanding of the problematic 99% and to clarify, at the level of an internal criticism, its major flaws. Philosophy, however, does not develop in isolation, but by positioning itself vis-à-vis the other sciences. In wishing to map the scope of philosophy, Herder thus distinguishes between its affiliation with the natural sciences (represented by math and physics) and its overlap with the human sciences (represented by theology and political science). Indeed, in his view philosophy is characterized by its position in between these scientific fields. Hence it is necessary to analyze, in more detail, Herder’s view on philosophy’s affiliation with, respectively, (a) mathematics, (b) physics, (c) theology, and (d) political thought. 10 6 Stellenkommentar. In: Herder, Johann Gottfried: Werke in zehn Bänden. Ed. by Martin Bollacher et al. Vol. I. Ed. by Ulrich Gaier. Frankfurt am Main 1993, pp. 969. Further references to Werke will be abbreviated W, followed by volume and page number. 7 Herder, Johann Gottfried: Philosophical Writings. Ed. and trans. by Michael N. Forster. Cambridge 2002, p. 7. Further references to this work will be abbreviated PW. 8 PW 22. 9 In later works, Herder expresses more hope in his treatment of individual philosophers (and historians) such as Hume. PW 265, see also PW 255. 10 Such a procedure also helps us avoid the assumption that Herder naively celebrates philosophy’s status as a humanistic discipline or that he sees the humanities as completely <?page no="56"?> 56 Kristin Gjesdal (a) Taking issue with school philosophy and its turn to the methods of mathematics, 11 Herder observes a widespread tendency to identify philosophy with theoretical natural science - or, more precisely, to see the scientific status of philosophy as dependent on its alignment with mathematics. 12 This bond, he points out, was initially a marriage of convenience: Philosophy sought to establish itself as autonomous vis-à-vis mathematics, but on realizing the difficulty of such an endeavor in a modern academic climate, it opted for the second best alternative: that of a pragmatic allegiance. 13 Today, however, the pragmatic nature of this allegiance is often overlooked. Herder addresses two equally problematic models that mirror this oversight. On the one hand, the perceived allegiance of mathematics and philosophy has its critics. These critics have argued that philosophy must be decoupled from mathematics. In Herder’s view, this position represents an abstract denial of philosophy’s ongoing dialogue with natural science and must, as such, be rejected. On the other hand, however, there are those who think that philosophy should simply adopt the formal procedures of mathematics. This position, too, is turned down. On Herder’s more considered view, philosophy can and should learn and borrow from mathematics, but must not be identified with it or uncritically adopt its methods and standards as a measure of its own success. 14 (b) Next Herder looks at philosophy’s affiliation with physics. As Herder sees it, the physicist judges from experience rather than hypothedetached from the natural sciences. The implausibility of such a reading becomes clear if we take into account how Herder’s own genetic method develops in critical dialogue with Kant’s philosophy of nature. See Beiser, Frederick C.: Enlightenment, Revolution, and Romanticism. The Genesis of Modern German Political Thought, 1790-1800. Cambridge, Mass. 1992, pp. 193-194. 11 As Zammito glosses on this point, “While it would be wrong to contend that Wolff simply identified mathematical and philosophical method, he saw more in common between them than would his eventual critics.” Zammito: Kant, Herder, and the Birth of Anthropology, p. 20. Beiser points out how also Baumgarten was committed to the view that mathematics represented a universal model for science as such. Beiser, Frederick C.: Diotima’s Children. German Aesthetic Rationalism from Leibniz to Lessing. Oxford 2009, p. 124. 12 PW 3. Kant had pursued a similar critique. For a discussion of this point, see Norton, Robert E.: Herder’s Aesthetics and the European Enlightenment. Ithaca 1991, p. 37. 13 PW 5. 14 Herder thus asks “Whence comes the inner quarrel between philosophy and mathematics? How can it be settled? Should one science be compared with the other, in order to demand mathematical certainty, clarity, and usefulness in philosophy? How can one science flow into the other without doing it the damage which we have experienced from the unification of both? ” PW 5. <?page no="57"?> “A Not Yet Invented Logic“ 57 sis. 15 The physicist, and by implication the physics-inclined philosopher, seeks to “dissect […] the products of our spirit, be they errors or truths”. 16 Given the empirical basis of physics, Herder is more sympathetic to the idea of an affinity between philosophy and physics, yet again argues that each must be given its due. (c) Third, Herder identifies a relationship between philosophy and what he, somewhat idiosyncratically (given that he has just labeled physics an experience-based science), calls the a posteriori observations of the human sciences. He first hones in on theology. 17 Theologians understand themselves as friends of God, and thus as different from political thinkers, the friends of men. 18 The chief mistake of the former, Herder suggests, is not to superimpose non-philosophical standards on philosophy, but to prematurely transpose philosophical criteria onto the study of religion. Such a blending of disciplines harms the field of reasoning as well as that of belief. 19 (d) Finally, Herder addresses the affiliation between philosophy and political thought. Herder detects no real conflict of interest between philosophy and political thinking, but emphasizes how comprehensive societal commitments drive philosophers from Plato, to Rousseau, Hume, and Shaftesbury. 20 However, Herder fears that contemporary philosophy has lost touch with this holistic mode of reasoning; it is bifurcated into, on the one hand, the observers of nature (which Herder views as the predominant tendency of English philosophy) and, on the other, Schöngeister (which he takes to dominate French philosophy). Neither of these groups represents philosophy proper. Philosophy proper can only thrive by joining the force of the former with the strengths of the latter. It is important to realize that Herder, in this context, does not wish to discuss whether or not natural science is scientifically admirable in its own right (which Herder thinks it is 21 ), nor whether interdisciplinary scholar- 15 Ebd. 16 Ebd. 17 PW 5. 18 Ebd. 19 Ebd. This, however, does not imply that there is an absolute distinction between the two. Nor does it mean that philosophy cannot learn from religious practices or vice versa. Hermeneutics, for example, covers all texts, religious or otherwise. 20 PW 6. 21 For a study of Herder’s interest in and indebtedness to natural science, see Nisbet, H. B.: Herder and the Philosophy and History of Science. Cambridge 1970. See also Bollacher, Martin: ‘Natur’ und ‘Vernunft’ in Herders Entwurf einer Philosophie der Geschichte der Menschheit. In: Johann Gottfried Herder. 1744-1803. Ed. by Gerhard <?page no="58"?> 58 Kristin Gjesdal ship makes sense (which Herder thinks it does). Hence, it is not correct to claim, as Isaiah Berlin does, that Herder is against “scientific method.” 22 Herder, rather, is against the illegitimate universalization of particular scientific methods, those based on theoretical reason alone. He does not claim that such methods are never useful. Nor does he hold scientific method to be a problem per se. On the contrary, much of his philosophy represents a search for philosophical methods that can balance the quest for universal definitions with attentiveness to the singularities of historical-empirical objects, expressions, or events. In this vein Herder, in his 1765 essay, asks a fundamental, epistemological question that leads up to and lays the ground for his later discussion of philosophy’s methodology, namely whether any one science, method, or set of such can be ascribed the right to define the global standards of truth-searching. Herder insists that no such right exists. 23 The very search for philosophy’s capacity for truth is bound to fail if it is set as a quest for standards that are not internal to philosophy but imported from extra-philosophical discourse. Hence Herder’s essay starts out by insisting that philosophy can only be justified as a scientific domain if we recognize that such a justification must be given from within the field of philosophy itself. The philosophical thrust of Herder’s critique, his drawing of disciplinary limits, does not, as such, boil down to an effort to mark the boundaries of different ways of reasoning or to sublating one discourse into another. Nor does he critique philosophy for the sake of critiquing. Rather, Herder sheds light on the way in which one form of science, in particular mathematics, has been given an exclusive mandate to define what counts as science across the board. A shift with regard to which science provides these global standards - be it mathematics or empirical social science (anthropology) - would do little to remedy the misfortune of philosophy’s disciplinary heteronomy. Sauder. Hamburg 1987), pp. 114-124 and Heinz, Marion/ Clairmont, Heinrich: Herder’s Epistemology. In: A Companion to the Works of Johann Gottfried Herder. Ed. by Hans Adler/ Wulf Koepke. Rochester, NY 2009, pp. 43-65. 22 Berlin, Isaiah: Three Critics of the Enlightenment. Vico, Hamann, Herder. Ed. by Henry Hardy. Princeton 2000), p. 169. 23 This anticipates his view on culture in Another Philosophy of History. Here Herder insists that the values and standards of one culture should not be used as a measure for other cultures. See Herder, Johann Gottfried: Another Philosophy of History and Selected Political Writings. Trans. by Ioannis D. Evrigenis/ Daniel Pellerin. Cambridge 2004, p. 31. <?page no="59"?> “A Not Yet Invented Logic“ 59 II. Philosophical Self-Critique Given its uncritical allegiance with natural science, philosophy is in poor shape. However, if Herder’s argument about the heteronomy of philosophy vis-à-vis abstract science is to be successful, then it is not sufficient to show, as he has done so far, that philosophy externally identifies with a discipline such as mathematics. In addition, he must demonstrate that this identification, at an internal level, shapes the structure of current philosophical thought as well as the questions it raises. Hence, what is needed is not only reflection on philosophy’s status with regard to other disciplines. Philosophy must also turn toward itself so as to scrutinize its own practices within the disciplinary boundaries to which it is confined. Only such selfcritique can point the way to a better and more reflected kind of philosophy, a philosophy that is ready to take on its status as an autonomous discipline and account for its own legitimacy, truth, and usefulness. 24 Herder locates three ways in which the self-misunderstanding of philosophy (symptomatically) manifests itself: philosophy has (a) cut itself off from the people, it is (b) caught in a culture of meaningless abstraction, and, as a consequence, is (c) reduced to sheer scholastic exercises. Herder’s judgment on the usefulness of the truths of philosophy - the crux of the Bern contest - is closely connected to these points, each of which must be analyzed in more detail. (a) First, Herder addresses the separation of philosophy from society at large. To a certain extent this separation is necessary in order for philosophy to gain room for critique and reflection. Yet, the space of reflection and judgment must not be cultivated for its own sake, but stand in a dialectical relationship to society as such. Philosophers, Herder points out, have had a tendency to forget this and withdraw from the world of practical affairs. However, what might at first seem like a reflective equilibrium betrays, in truth, a deeply problematic division of thought and society. Philosophy does not withdraw so as to better understand the social world of which it is a part, but in order to sever all ties to it. As Herder deliberately 24 That is, philosophy must distinguish itself externally and institutionally from other disciplines, but also develop an internal self-determination and discussion of its goals and directions. However, Herder does not advise watertight proofs between the disciplines, but recommends a model of mutual cooperation. See “On the Change of Taste,” PW 255 and Herder, Johann Gottfried: Fragments of a Treatise on the Ode. In: Johann Gottfried Herder. Selected Early Works. Ed. by Ernest A. Menze/ Karl Menges. Trans. by Ernest A. Menze with Michael Palma. University Park, PA 1992, pp. 50-51. <?page no="60"?> 60 Kristin Gjesdal plays on the Socratic analogy, this is but another version of the philosopher as a troglodyte. 25 How, then, did philosophy end up in this predicament? Herder does not tackle this question head on, but offers an indirect, two-step response. First, he suggests that philosophy, by naively identifying with the abstract sciences (rather than determining itself on its own grounds), is left with a set of standards (for truth and objectivity) that, so to speak, requires that it cut itself off from the ever-changing world of human practice. Second, Herder points out how this trend is reinforced by a broader culture of disciplinary vanity. Philosophy is not driven by the search for truth but by an array of efforts to “refute, to express novelties, to become famous”. 26 In celebrating academic success for its own sake, philosophy gradually erodes. Needless to say, this is not a desirable situation. It is a situation that is unacceptable from the point of view of the public (who gets no share in the insights of philosophy), but that, equally important, leaves philosophy with no appropriate benchmark for its wider relevance. As Herder makes his point, it is the case that [i]f the latter [philosophers] have treasures, well then, they must become common property. If they do not have them […], then let their caves be destroyed and let the night owls of Minerva be taught to look at the sun. 27 (b) Next, Herder analyzes the form of philosophy that can be conducted on these premises. In particular, he calls attention to a culture of empty abstraction that, in his view, dominates contemporary philosophy. 28 In its present shape, philosophy is oriented towards “far-too-universal rules” and scholastic methods of argument. 29 It is not concerned with genuine problems, but looks towards an internal agenda of petty concerns, a process no 25 PW 7. 26 Ebd. 27 PW 7. Herder’s use of the Socratic metaphor further bolsters the claim that the problems of philosophy need to be solved within the framework of philosophy itself rather than by dissolving philosophy into empirical science. 28 Herder, however, is not questioning the general status of logic within philosophy, but the way in which logic is conceived at the time. If logic were to be at the heart of an a ccount of the usefulness of philosophy - and this is a possibility Herder does keep open - then it would have to be combined with a broader science of mind, that is, it must “plant its limbs [logic] back into the body [of philosophy]”. PW 9. 29 PW 9. Herder mentions the kind of logic that one learns “merely for the logicians” (PW 8) and learning by simply repeating the claims of the teacher (PW 9). <?page no="61"?> “A Not Yet Invented Logic“ 61 more futile than “the tying and untying of […] knots”. 30 Understood in this way, philosophy remains - and must remain - barren. Further, Herder fears that logic teachers often cultivate scholastic methods of disputation and nourish an environment of meaningless sophisms. 31 (c) Finally, Herder asks how this culture of empty philosophizing has been sustained. Why, he inquires, are these practices not challenged? His answer is that abstract scholasticism curbs philosophy’s tendency to cultivate independent thinking and is self-promoting in that it allows for no or little criticism. This, Herder worries, impedes contemporary thought. In its present form, teachers of philosophy encourage a sheer aping of truth, and the students, as Herder puts it, are choking with school dust. 32 At this point, Herder provocatively states, we have reached “the real corruption for the philosophoumenos”. 33 These are Herder’s three objections to the reigning philosophical practices of the day. They are objections designed to show how philosophy’s understanding of its role in between the other sciences affects its inner form. In its present guise, philosophy is constitutively unable to shape its own mandate; it has failed sich zu bilden or to educate itself, it has failed - and, stronger still, it must fail - to ask how it can develop and maintain its own standards of academic success rather than draw on standards borrowed from or imposed by other disciplines. Understood in this way, Herder’s critique of current philosophical practice should not be mistaken for a critique of philosophy as such. It is a critique of wrong or misguided ways of thinking about or doing philosophy, not an en masse attack on the discipline. Quite to the contrary, according to Herder, the problems of current philosophy cannot be solved by leaving philosophy behind. What is needed, rather, is that philosophy become reflective and critically investigate its own goals and practices and, as part of this, also reassess its future stakes and ambitions. The notion of Herder rejecting philosophy in toto necessarily misses out on this thought. Also, it fails to expound on Herder’s call for a move from disciplinary heteronomy to disciplinary self-determination, and, as far as his 1765 essay goes, the shift from a critique of present academic practices to a defense of better and more helpful ways of thinking about philosophy. It is to this program that I now turn. 30 PW 9. 31 PW 9-10. 32 PW 9. 33 PW 8. <?page no="62"?> 62 Kristin Gjesdal III. Philosophy as Independent Thinking Herder’s critique of the existing self-understanding of philosophy has left him with a distinction between philosophy as it is and philosophy as it ought to be. So far, his focus has been on the first half of this equation. However, Herder’s critique of abstract school philosophy has given him a measure for the success of his own, alternative understanding. In fleshing out his idea of philosophy, Herder needs to demonstrate (a) how philosophy can find a place in society, (b) how it can find an adequate form of expression, and (c) how it can foster self-reflection, criticism, and independent thought. Only in this way can he, in a constructive move, show how philosophy can make good on its critical-reflective potential and inhabit its disciplinary mandate in a mature and responsible way - hence also demonstrate the usefulness of its truths. (a) Given philosophy’s present shape, the question about its broader, societal usefulness appears irrelevant. The problem with present philosophy is, in other words, not that it provides a false account of the usefulness of philosophy, but that it does not pay attention to the problem of usefulness in the first place. The challenge of locating the usefulness of philosophy thus involves the task of changing philosophy so that the very question of its usefulness appears meaningful and worth addressing in the first place. When philosophy is properly understood - as critical, reflective, and yet relating to the wider world it inhabits - it combats inner serfdom and the passive trust in authority that lodges in the finest nerves. 34 It destroys prej udices and raises the individual citizen above the crowd. 35 In neglecting this task, philosophy neglects itself. Thus, Herder claims, we should replace “[l]ogic and moral theory [Herder, again, is thinking of the narrow varieties of these fields]” with “a philosophical spirit [that] forms the human being in independent thought”. 36 Only when a human being has reached a level of independent thought is he or she able, in principle and at the level of necessary conditions, to take responsibility for his or her social and political surroundings. Herder’s response to the felt irrelevance of school philosophy is not to plead for philosophy’s relevance with regard to a particular problem or field of society. He responds, rather, by appealing to the need for an independent and enlightened use of reason - a use of reason that can find its application in an infinitely rich spectrum of do- 34 PW 14. 35 PW 12, 25. 36 PW 19. <?page no="63"?> “A Not Yet Invented Logic“ 63 mains and problem areas. 37 Thus understood, philosophy “forms [bildet] the human being, the citizen”. 38 Only in this way - not serving this or that particular end or purpose, but in shaping the general capacity for independent thought - can philosophy find itself. Contemporary philosophy, it seems, is right in insisting on the freedom of thought from the demands of concrete and specific fields of application. It is wrong, though, to think that such specific uses are all that philosophy can have - and, following its failure to distinguish particular applicability from a more general one, it is also wrong in cutting its ties to society as such. Instead, philosophy should have asked what possibilities the freedom from particular areas of usefulness and application brings with it. The answer to this question is that it brings with it the freedom of critical reason: reason as facilitating and responding to a deeper, human self-understanding, reason as furthering the realization of humanity. (b) If the usefulness of philosophy rests with its capacity to further wider, societal self-reflection and education of independent thinkers - thus realizing humanity - then the next question will have to be what philosophy, in taking on this task, will look like and how its future form can guard against the mistakes of philosophy in its past and present shape. For Herder this is, to a large extent, a question of how philosophy is done. Herder worries about the twin phenomena of, on the one hand, philosophy’s withdrawal from society (once it takes the form of empty scholastic exercises) and, on the other, a general lack of critical reflection (once philosophy withdraws from society, no systematic tools of criticism are available, in the first place). This follows from his identification of the capacity for citizenship with the capacity for independent thought. As a criticalreflective medium, philosophy should turn people into potential citizens, capable of taking on the responsibility of self-determination. Enlightenment, in Herder’s view, is not only a theoretical project, but a question of emancipation: of learning to think and make critical use of the knowledge available. Herder, however, does not rest content with these general reflections, but also offers more specific advice. A first step in this direction is the turn to German as a replacement for the preferred academic languages of Latin or 37 It is significant, in this context, that already the pre-critical Kant had noticed, in his lectures on logic (from which Herder took notes), that “no philosopher can be a Wolffian, etc. because he must think for himself.” See Kuehn, Manfred: Kant. A Biography. Cambridge 2001, p. 130. 38 PW 19. <?page no="64"?> 64 Kristin Gjesdal French. Further, Herder wishes to include women as future targets of education. 39 The inclusion of women in philosophy is not simply a matter of allowing them to read philosophy, but must also allow them to join the discipline as active contributors. 40 This expansion of philosophy to women and readers who master no foreign languages, however, is only a first beginning. Herder does not simply wish to change the language of philosophy or its possible audience, but also to invoke a change in how philosophical insights are ultimately conveyed. In its dominant form, philosophy presupposes a problematic dualism between heart and mind. As Herder puts it, the philosopher addresses “my understanding,” while, for it to be real, it is “my heart, not the understanding, [that] must feel it”. 41 According to Herder, the entire human being ought to be educated. And in order to contribute to such an education, the philosopher must be educated as a human being before (s)he is educated as a philosopher. 42 Herder, in other words, is not criticizing under-educated people (who would not be concerned with the usefulness of philosophy in the first place), 43 but the under-educated philosopher: the philosopher who has cultivated an empty, cerebral existence at the expense of a broader education to humanity as such. If philosophy overlooks its commitment to the entire human being, it has not simply overlooked one of its many tasks - it has, 39 PW 18. 40 PW 27. 41 PW 13. Traditional philosophy, Herder claims, addresses its audiences as cerebral beings only. But according to Herder, traditional logic “merely contains the order of verbal presentation” and it does not reflect the order of the soul. PW 8. 42 PW 22. 43 I take it to follow from the previous discussion that Herder does not suggest a general exclusion of the lower classes. In his study of the historical genesis of diversity thinking, Parekh sees Herder’s contribution as a “remarkable intellectual achievement” yet worries that “[w]hile appreciating the diversity of cultures, Herder is antipathetic to that within it. Indeed the very ground on which he champions the former, namely that every culture is a distinct and harmonious whole, requires him to ignore or suppress its internal differences and diversities. He cherishes a culturally plural world but not a culturally plural society.” See Parekh, Bhikhu: Rethinking Multiculturalism. Cultural Diversity and Political Theory. New York 2006), pp. 72-73. This perception, however, seems not to follow from Herder’s own writing, but from Isaiah Berlin’s claim, based on an out-of-context citation, that “Herder carefully distinguishes the Pöbel auf den Gassen (‘the rabble’) from the Volk (that is, the body of the nation).” Berlin: Three Critics, p. 210. (The quote is from the Suphan edition, vol. XXV, 323). Herder’s point in this context, however, is one concerning violent behavior, not class-based political inclusion criteria. <?page no="65"?> “A Not Yet Invented Logic“ 65 rather, repressed its own nature. 44 Hence, it is not only the people, but, in equal measure, the academic philosopher who is in dire need of education (Bildung) - an education that will sensitize the very discipline of philosophy to a more fulfilling and adequate understanding of the human being. (c) If it is to be useful, philosophy must focus on evoking independent thought; it must cultivate the self-determination of humanity. Philosophy is not useful in that it serves as a means that can be abolished once the end has been reached. It is useful, rather, in that it stimulates critical reflection. This is the core of Herder’s Copernican turn in philosophy. Just as it would later be the case with Kant’s more famous use of the metaphor, what is at stake is not so much a call for philosophy to change its subject matter as an effort to revise the way in which philosophy is being done. Herder, however, invokes no transcendental turn, but looks to develop a philosophy that addresses the entire human being and targets the full register of present and future citizens. As a means to an end, philosophy is bound to be “very dispensable”. 45 Stimulating independent thought, however, philosophy is an end in itself - a process of ongoing edification. 46 In its past and present forms, philosophy, cultivating abstraction for its own sake, has torn the human being away from itself. 47 After the anthropological turn, by contrast, philosophy must address the entire human being (feelings as well as reason), 48 all human beings (women as well as men and people of all classes), and seek to bring the human being back into the center of its critical pursuits. Herder’s philosophy seeks to curb the threat of intellectual alienation and bring humanity back into philosophy so as to be able to communicate to and about the broader human sphere. In this sense, philosophy must “descend from the stars to human beings”. 49 44 At this point, Herder anticipates the deeper sentiment of Schiller’s philosophy. See Schiller, Friedrich: Letters on the Aesthetic Education of Man. Trans. by Elizabeth M. Wilkinson/ L. A. Willoughby. In: Friedrich Schiller. Essays. Ed. by Walter Hinder er/ Daniel O. Dahlstrom. New York 2005, pp. 86-178. 45 PW 15. 46 PW 13. 47 PW 16. 48 This point is clearly spelled out by Jens Heise. Heise suggests that the new anthropology “will die Trennung von Denken und Körper zurücknehmen, die Descartes als Preis für ein begrifflich klares und methodologisch gesichertes Wissen gefordert hatte.” See Heise, Jens: Johann Gottfried Herder zur Einführung. Hamburg 1998, p. 84. 49 PW 19. <?page no="66"?> 66 Kristin Gjesdal If this larger, educating sense of philosophy is abandoned, then barbarism prevails. 50 That is, if philosophers fail to question their idols, if they systematically fail to reflect on and dispense with false prejudices, then “the human understanding is deprived of its highest level”. 51 In this sense, Herder does not see philosophical enlightenment as a mere means. 52 Enlightenment, for him, entails a gradual rising to reflective selfresponsibility; it is the ongoing realization of a fully human existence. Because this is pitched as a battle against prejudices and prejudice, in turn, is understood as an inevitable aspect of a historical and culturally situated reason, enlightenment is a process that can never be brought to completion. An enlightened society constantly has to prove itself as enlightened. Understood in this way - as realizing the “highest level” of human understanding - philosophy cannot be reduced to a body of truth-claims or a set of logically correct inferences that, in a complimentary move, can find application in this or that particular context. Further, philosophy does not, strictly speaking, lead to truth. Rather, it is, emphatically, its own demonstration of the usefulness of its truth in and through its reflection on society. Through this reflection, society, as well as philosophy, gains and develops. This is ultimately why Herder, in exploring the value and relevance of philosophy, does not want to defend its truths against the skeptics: It is not because he wishes to abandon truth from philosophy and thus dissolve the very discipline itself, but because philosophy, when being practiced in the right way (spurring development and reflection), is its own ongoing truth rather than a production of truth-claims that are, as such, independent of the process through which they are reached. 50 PW 20. 51 Ebd. 52 Norton, for example, concludes from Herder’s claim, from the Journal, that “alle Aufklärung ist nie Zweck, sondern immer Mittel” that criticism is also only a means and never an end in itself. See Norton, Robert E.: Herder as a Critical Contemporary. In: Adler/ Koepke (eds.), A Companion, p. 354. In my view, however, Herder’s position in the early period would better be captured if we see criticism and philosophy as the way in which enlightenment is realized. This, however, presupposes that we distinguish between Enlightenment as it was de facto carried out in Herder’s time (as a means and not an end in itself) and Enlightenment as it could, optimally, be if it subjected itself to self-criticism. <?page no="67"?> “A Not Yet Invented Logic“ 67 IV. Anthropology and the Turn Towards Humanity Herder, we have seen, criticizes school philosophy and a model of learning that is based on doctrines and passive repetition. Upon articulating his own view of philosophy, Herder not only seeks to identify the aims and outcomes of his alternative model, but also to find a way in which these aims can be conveyed in a non-didactic and inspiring manner. This last section deals with Herder’s response to this challenge. In the spirit of the Enlightenment, the Bern prize contest asks: Can the truths of philosophy be useful? Herder takes the answer to be in the affirmative: Philosophy has a truth and this truth is useful in that it consists in a capacity to perfect and cultivate a use of reason that, ultimately, proves to be a condition for citizenship. Yet the usefulness of philosophy cannot be theoretically deduced. Nor can it be laid out as a set of discursive doctrines. Rather, its truths have to be realized in and through the very practice of philosophy itself. By analyzing the reasons for and limitations of its own status quo, philosophy has already begun to exercise its critical capacity. Hence there is no distinction, in Herder’s work, between the tools of analysis and self-critique and the new philosophy he is proposing. The anthropological turn seeks to steer clear of the two (for Herder closely related) fallacies of philosophy: the formalization and the professionalization of critical thought. It seeks reflectively to make human being the very core of philosophy itself. In cultivating the capacity to reach a truer understanding of oneself, others, and the world, philosophy realizes the human potential by performatively demonstrating that “each human being is free and independent from others”. 53 As Herder puts it, the ultimate goal of philosophy is one of emancipation, to improve the state “from below”. 54 Philosophy, in this form, is an ongoing process; it cannot be laid out as a theory but ought, instead, to be demonstrated in practice: by concrete examples of philosophizing. Herder’s 1765 essay is such an example. It shows how philosophy, understood as a process of Bildung (as different from Erziehung and passive learning), can stake out the cure to the problems of its present state. Herder speaks of this process of Bildung as a logic that is “not yet invented,” one 53 PW 25. 54 PW 25. Hence Berlin is right in claiming that “The German mission [according to Herder] is not to conquer; it is to be a nation of thinkers and educators” Berlin: Three Critics, p. 185. He is wrong, however, in that he fails to recognize the critical-reflective commitments of Herder’s educational project. <?page no="68"?> 68 Kristin Gjesdal that is not based in “rules but requires much philosophical spirit for its application”. 55 In taking on this task, philosophy does not present itself as opposed to healthy understanding, but as healthy understanding prescribing a cure against its own tendency to abstraction and isolation. 56 Just as first nature everywhere cures itself, so our second nature, our linguistically mediated capacity for critical-reflective thinking, ought to find a way out of its present impasse. With this claim, Herder moves from a negative critique of the present state of philosophy to a positive determination - or, better still, performative demonstration - of its promise. What is unique about Herder’s response to the Bern challenge is therefore not his emphasis on the usefulness of the discipline - that was part of the question posed by the jury and, as such, reflective of a larger Enlightenment mentality - but the very effort, via an emphasis on the criticalreflective nature of philosophy, to see the usefulness of philosophy as intrinsically linked up with the very practice of the discipline, its ongoing commitment to Bildung, rather than its final results. As such, one cannot ask for the particular truths of philosophy at a theoretical level alone. In educating critical thinkers, philosophy can only realize its truths by realizing the critical capacity of human reason as such. Hence only philosophy can come to the rescue and save philosophy. In Herder’s words, “[o]nly philosophy can be an antidote for all the evil into which philosophical curiosity has plunged us”. 57 This humanist redefinition of philosophy - this understanding of philosophy as an ongoing process of Bildung - and not a leaving behind of the very discipline, is what is implied in Herder’s anthropological turn. 55 PW 11. 56 Ebd. 57 PW 18, 19, 21. <?page no="69"?> „Freies Spiel“ und „Spieltrieb” Ästhetische Bildung bei Kant und Schiller Folko Zander Die Absicht dieses Aufsatzes ist einigermaßen bescheiden: Es geht um eine Rekonstruktion der Schillerschen Gedanken einer ästhetischen Bildung. Dies soll durch den Versuch der Beantwortung einiger weniger leitender Fragen geschehen. Die erste: Was ist das Objekt dieser Bildung? Die zweite: Was ist das Ziel dieser Bildung? Die dritte: Warum ästhetische Bildung? Bevor diese Fragen beantworten werden können, müssen ihre Voraussetzungen geklärt werden. Welche das sind, macht Schiller schon im ersten der „Briefe über die ästhetische Bildung“ klar: Es „sind größtenteils Kantische Grundsätze […] auf denen die nachfolgenden Behauptungen ruhen werden.“ 1 Zwar bezieht er sich namentlich auch auf „meinen Freund Fichte“ 2 , doch muss nicht erinnert werden, dass auch dieser sich auf Kantische Grundsätze bezieht. Der Aufsatz gliedert sich dementsprechend in einen ersten Teil, in dem die Kantischen Grundlagen der ästhetischen Erziehung erörtert werden. Dann wird dasjenige zum Thema, was Schiller aufgreift. Sodann wird auf Schillers Weiterführung der Kantischen Gedanken eingegangen und darauf, wie er die von ihm monierten Kantischen Härten zu 1 Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Kommentar von Stefan Matuschek. Frankfurt am Main 2009, S. 10. Im Folgenden zitiert als: Schiller: Über die ästhetische Erziehung. 2 Ebd., S. 17, Fn. <?page no="70"?> 70 Folko Zander vermeiden sucht. Schließlich werden einige Brüche und Inkonsistenzen in Schillers Programm einer ästhetischen Bildung vorgestellt. I. Kantische Grundlagen Kant hat eine entscheidende Wende in der Philosophiegeschichte durchgeführt und eine andere eingeleitet: Die erste ist die Abkehr von einer naiven Metaphysik, die dem Paradigma naturwissenschaftlichen Denkens folgt. Die zweite ist die Durchsetzung des Paradigmas der Subjektivität und der Autonomie. Vernunft beschränkt sich nicht auf naturwissenschaftliche Gesetze und Kräfte, die der Mensch zwar erkennen kann, denen er aber sonst nur ausgeliefert ist, sie betrifft auch sein Handeln und ersprießt eben nicht aus der Natur, sondern aus seiner Autonomie. Dies ist die Wende zum Praktischen. 3 Allerdings ist, wenn es um die Frage der Um- und Durchsetzung dieser Autonomie geht, in Kants Philosophie eine Verlegenheit zu bemerken. Mal wird das Jenseits als Motiv ins Feld geführt, um den von Freiheit bestimmten Willen zur Realität zu verhelfen, mal werden ökonomische Motive geprüft - der Handelsgeist -, um der Autonomie eine Heimstatt wenigstens in geschichtlicher Perspektive zu verschaffen. Die große Schwierigkeit liegt darin, dass Kant es um jeden Preis vermeiden muss, dem Prinzip autonomer Sittlichkeit durch äußere Anreize zur Wirklichkeit zu verhelfen, denn sonst ist diese Sittlichkeit in ihrem Kernbestand, Autonomie zu sein, zerstört. Das einzige Gefühl, durch welches sich die praktische Vernunft sinnlich äußert, ist ein negatives, die Achtung, eben als Negation sinnlicher Anreize, durch welche die Autonomie von heteronomen Verlockungen gerettet werden soll. Somit aber tritt Kants praktische Vernunft stets strafend in Erscheinung und setzt die gesamte Sinnlichkeit dem Verdacht der Unsittlichkeit aus. Damit erhält die praktische Philosophie Kants die Anmutung des Drakonischen (Schiller nennt Kant den Drako seiner Zeit) und die praktische Vernunft versäumt in der Abwehr sinnlich vermittelter Heteronomie ihre Aktualisierung in der Sinnlichkeit. Es scheint nur darum zu gehen, Heteronomie zu verhindern, wie dadurch aber Autonomie nicht nur bewahrt, sondern erreicht werden soll, bleibt fraglich. Gleichwohl wird von ihm zumindest die Möglichkeit diskutiert, dass die Willkür „keiner Maxime fähig“ sei, die „nicht zugleich objektiv Gesetz sein könnte“. Dies gelte 3 Vgl. Marquard, Odo: Kant und die Wende zur Ästhetik. In: Zeitschrift für Philosophische Forschung 16 (1962), S. 231-243 u. S. 363-374. Hier: S. 237ff. <?page no="71"?> „Freies Spiel” und „Spieltrieb” 71 aber nur für die „allergenugsamste“ Intelligenz, deren Willen so als heilig zu gelten hätte. Diese Heiligkeit des Willens bleibt aber eine „praktische Idee“, „welchem sich ins Unendliche zu nähern das einzige ist, was allen endlichen vernünftigen Wesen zusteht“. (§7KpV, Anm. 2) 4 Der einzige Fall, wo die praktische Vernunft nicht gebietend in Erscheinung treten müsste, wäre dann gegeben, wenn sich die Sinnlichkeit von sich aus pflichtgemäß verhalte. Dieser Fall, da er ein Ideal darstellt, ist jedoch nicht wirklich. Es sei denn, es ließe sich ein Phänomen entdecken, welches die Autonomie des Subjekts nicht bedroht und dennoch ein Interesse an ihm hervorruft. Dieses Interesse muss zudem auf die Verwirklichung der Freiheit gehen. Bei der Analyse dieses Phänomens kommt es also allererst auf die Wirkung auf das Subjekt an, dessen objektive Beschaffenheit sei, wie sie wolle. Das Schöne, welches dieser Kandidat ist, erfüllt aber nur die ersten beiden, für das Ziel unwesentlicheren Bedingungen. Eine Überführung eines Interesses am Schönen in ein habituelles Interesse an Freiheit vermag es aber nicht herbeizuführen. Es ist zunächst zu sehen, warum dies so ist. Kant betreibt seine Analyse des Geschmacksurteils im Kontext der Kritik eines Erkenntnisvermögens, nämlich der Urteilskraft. In der Kritik der reinen Vernunft war die Urteilskraft vor allem als bestimmende interessant. Durch sie wird es möglich, einen Sachverhalt als Fall eines Begriffs zu identifizieren. Allerdings trifft die Urteilskraft noch als reflektierende in Erscheinung, indem sie es nämlich ermöglicht, zu einem gegebenen Sachverhalt den zugehörigen Begriff aufzusuchen. Ist die Suche erfolgreich, ist es z.B. unserem forschenden Urteilen gelungen, eine Tatsache als Fall eines Gesetzes auszuweisen, so haben wir einen Fund gemacht, bei dem wir Lust empfinden. Diese Seite des Urteilsvermögens ist es also, welche Kant für sein Vorhaben auszubeuten trachtet. Da das Schöne in den Bereich der reflektierenden Urteilskraft fällt, wird es nicht einfach teilnahmslos registriert wie ein Prädikat an einem Objekt, sondern mit einem Gefühl des Wohlgefallens belegt. Dies Wohlgefallen würde das Schöne aber sofort als Fall einer heteronomen Kraft qualifizieren, wenn es ein rein subjektives Wohlgefallen, kurz, ein Interesse wäre. So kommt Kant zu der merkwürdigen Charakteristik des Schönen, es sei zwar ein Wohlgefallen, als solches aber interesselos. Ein Interesse würde ja auch die Beistimmungsfähigkeit des als schön Empfundenen zerstören, die diese Urteilsform aber auszeichnet. Wenn ich 4 Zum „heiligen Willen“ und dem Gefühl der „Humanität“ vgl. eingehender Rosalewski, Willi: Schillers Ästhetik im Verhältnis zur Kantischen. Marburg 1912, S. 4ff. <?page no="72"?> 72 Folko Zander etwas als schön bezeichne, unterstelle ich mit einer gewissen Berechtigung, dass nicht nur einige dies, ihren zufälligen Interessen folgend, auch so sehen, sondern ich unterstelle die Zustimmung aller. Leider liegt der Grund für dieses Interesselose Wohlgefallen nicht in einem Bezug des Schönen zur Freiheit, sondern ist einer spezifischen Konstellation unserer Erkenntnisvermögen geschuldet. Für das andere ästhetische Vermögen, welches Kant untersucht, das Erhabene, wird Freiheit zwar gleichsam beschworen, aber nur als Erinnerung daran, dass das Schlechthin Große, vor dem wir als endliche Rezipienten zurückschrecken, durch das Unendliche Vermögen in uns zu bemeistern ist - allerdings nicht durch tätige Bewältigung, sondern durch einen Rückzug in die Höhen der Idee. Im Phänomen des Erhabenen selbst können wir nur unsere phänomenale Endlichkeit erkennen, nicht, wie das noumenale Vermögen der Freiheit in die Wirklichkeit treten. Gleichwohl verdient diese spezifische Konstellation der Erkenntniskräfte unsere Aufmerksamkeit, denn sie wird von Schiller auf eine solche Weise gedeutet, dass sich Freiheit tatsächlich mit der Wirklichkeit versöhnen kann. Die reflektierende Urteilskraft kann nicht anders an ihre Aufgabe herangehen, zu einem gegebenen Fall das dazugehörige Gesetz aufzufinden, als zu unterstellen, dass die Welt insgesamt nach einer hierarchisch gegliederten gesetzmäßigen Ordnung eingerichtet sei. Beglaubigt wird diese Unterstellung von der Vernunft. Die Vernunft, die auf Einheit der Erkenntnis zielt, kann diese nicht anders erreichen als durch die Idee der Freiheit. Erst durch diese kommt die Totalität relationaler Erscheinungen zu einem Abschluss, welche Totalität somit insgesamt als vernünftig ausgewiesen ist. Da diese Totalität durch Freiheit verbürgt ist, nimmt es nicht wunder, dass Kant an dieser Stelle nicht von einer Gesetzmäßigkeit, sondern von einer Zweckmäßigkeit spricht, welche Redeweise doch eher im praktischen Zusammenhang statthaft ist. Dadurch aber wird das von Kant so genannte „transzendentale Prinzip der Urteilskraft“ um ein zweites Als-Ob ergänzt: Die Welt ist nicht nur so durchzumustern, als ob sie zweckmäßig eingerichtet sei, sondern es darf weiter unterstellt werden, dass sie durch einen vernünftigen Willen zweckmäßig eingerichtet sei. Somit ist Kant wenigstens so weit gekommen, dass zumindest als transzendentales Prinzip gelten könne, dass die Welt mit einem praktischen Vernunftgebrauch verträglich sei bzw. wir wenigstens so tun müssen, als sei sie es. Von diesem Als-Ob ist die Urteilskraft niemals suspendiert, auch dann nicht, wenn es ihr nicht gelingt, zu einem gegebenen Fall auf einen Zweck zu reflektieren. Dies ist aber bei Phänomenen des Schönen der Fall. Ob- <?page no="73"?> „Freies Spiel” und „Spieltrieb” 73 wohl sie genötigt ist, diese als zweckmäßig anzusehen, versagen diese der Urteilskraft einen bestimmten Begriff einer Zweckmäßigkeit. Das schöne Objekt wird nach allen Richtungen hin durchlaufen und befragt, seine Zweckhaftigkeit bleibt aber unbestimmt. Dies hat zur Folge: Weil eine Zweckzuordnung des Objekts nicht gelingt, gleichwohl es als zweckhaft ausgewiesen ist, bleibt es interessant. Dies macht, dass wir bei der Betrachtung von Schönheit verweilen und gern verweilen. Dies hat weiter zur Folge: Indem die Erkenntnisvermögen nicht auf einen Zweck verpflichtet werden, können sie sich bei der gleichsam experimentellen Zweckzuweisung frei ergehen. Kant spricht hier von einem „freien Spiel der Erkenntnisvermögen“, wobei er neben der Ungebundenheit auch die Nebenbedeutung von „Spielraum haben“ bei dieser Charakterisierung nutzt. Es eröffnet sich dem betrachtenden Subjekt im schönen Gegenstand gleichsam seine eigene Totalität, und dies nicht nur im erkenntnistheoretischen Rahmen, in welchem Kant seine Analytik entwickelt, sondern auch in praktischer Hinsicht, die von Kant allerdings nicht eigens thematisiert wird, die aber Schiller aufgreift. Das Schöne wird in einer zweiten Hinsicht praktisch anschlussfähig: Indem das Geschmacksurteil gleichsam durch transzendentale Erkenntnisbedingungen als Nebenprodukt abfällt, so teilt es mit den objektiven Urteilen auch die Notwendigkeit. Indem die Tauglichkeit für Erkenntnis überhaupt Bedingung sowohl des objektiven wie des Geschmacksurteils wird, so gilt von beiden strikte Allgemeinheit. Dies ist der Grund, warum wir anderen ansinnen, einen Gegenstand als schön zu qualifizieren, sobald wir es getan haben. Dies hat laut Kant zumindest humanitätsfördernde Wirkungen (§41 Kritik der Urteilskraft, Vom empirischen Interesse am Schönen): Für sich allein würde ein verlassener Mensch auf einer wüsten Insel weder seine Hütte, noch sich selbst ausputzen, oder Blumen aufsuchen, noch weniger sie pflanzen, um sich damit auszuschmücken; sondern nur in Gesellschaft kommt es ihm ein, nicht bloß Mensch, sondern auch nach seiner Art ein feiner Mensch zu sein (der Anfang der Zivilisierung): denn als einen solchen beurteilt man denjenigen, welcher seine Lust andern mitzuteilen geneigt und geschickt ist, und den ein Objekt nicht befriedigt, wenn er das Wohlgefallen an demselben nicht in Gemeinschaft mit andern fühlen kann. Aber damit hat es sich auch schon. Bei der Schönheit handelt es sich nicht um Freiheit in der Erscheinung, sondern um ein Phänomen, welches Freiheit nur zu symbolisieren vermag, wie Kant im berühmten §59 der KU zeigt. Sie ist als Phänomen nicht ausreichend, Freiheit nach Vorbild der Kategoriengrundsätze zu schematisieren. Folglich wird Interesse am Schönen nicht zum Interesse an Freiheit. Hier setzt nun Schiller mit seinem Lösungsangebot an. <?page no="74"?> 74 Folko Zander II. Schillers produktive Aneignung Hier soll Schillers eben zitierte Definition von Schönheit als Freiheit in der Erscheinung aus den „Kalliasbriefen“ mit all ihren Schwierigkeiten übergangen werden, 5 weil Schiller sie für sein Programm einer ästhetischen Erziehung nicht braucht. Schon angesprochen wurden Schillers Vorbehalt gegen Formulierungen der Kantischen Moralphilosophie, gegen dessen Buchstaben, nicht dessen Geist, wie Schiller betont. Es sei hierzu erinnert an eine Stelle aus den Kalliasbriefen, die diese Kritik illustrieren. 6 Ein überfallener Wanderer erbittet von vier Passanten Hilfe. Hier soll nur die Haltung des dritten und fünften interessieren. Der dritte Passant beklagt die Umstände, die er dabei auf sich nehmen muss, hilft dem Überfallenen aber dann, „weil die Pflicht es gebietet“ 7 . Das ist ohne Zweifel die Karikatur einer kantischen Position. Schiller nennt sie „moralisch“. Der zweite, der dem Opfer hilft, reflektiert weder auf die Pflicht, die ihm zu helfen gebietet, noch auf die Umstände, die die Pflichterfüllung nötig machen, sondern hilft ganz unbefangen. Der Abweis der Reflexion in Schillers Beispiel legt nahe, dass Schiller eine moral-sense-Philosophie im Sinne Shafteburys vor Augen hat, der unter Geschmack ein Gefühl versteht „von dem, was natürlich schön und anständig ist“. Schiller erläutert aber das zweite Beispiel mit den Worten, der Wanderer habe hier „seine Pflicht mit einer Leichtigkeit behandelt, als wenn bloß der Instinkt aus ihm gehandelt hätte“ 8 . Es fehlt also weder der Rekurs auf Pflicht, also auf die gebietende Vernunft, noch tritt der Instinkt an ihre Stelle, sondern: die Pflicht müsse mit „instinktmäßiger Leichtigkeit“ erfüllt werden. Statt also die Realisierung der Vernunft durch eine schroffe Entgegensetzung gegen die Sinne zu verbauen, sollen sie im Gegenteil sie befördern. Schiller macht also Ernst mit dem obengenannten kantischen transzendentalen Prinzip, man müsse sich in der Welt orientieren, als ob sie zweckmäßig sei. Wenn dem nämlich so ist, stellt sich doch die Frage: Wieso sollten dann ausgerechnet die Sinne nicht die Zweckmäßigkeit der Vernunft befördern, sondern ihr entgegenstehen? 5 Vgl. dazu Henrich, Dieter: Der Begriff der Schönheit in Schillers Ästhetik. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 11 (1957), S. 527-547. 6 Vgl. Schiller, Friedrich: Kallias oder über die Schönheit. Über Anmut und Würde. Stuttgart 1994, S. 29ff. 7 Ebd., S. 30. 8 Ebd., S. 32. <?page no="75"?> „Freies Spiel” und „Spieltrieb” 75 De facto stehen sich Vernunft und Sinnlichkeit aber schroff gegenüber, und zwar nicht als Vernunft und Sinnlichkeit, sondern als ihre exzentrischen Verzerrungen, als die Halbheiten des Menschen, die Schiller in seinen Ästhetischen Briefen als Typus von „Wilder“ und „Barbar“ einführt. Der Wilde ist gekennzeichnet durch einen Überhang seiner Sinnlichkeit, der Barbar durch einen Überhang des Verstandes. Der Wilde verachtet die Kunst und erkennt die Natur als seinen unumschränkten Gebieter; der Barbar verspottet und entehrt die Natur, aber verächtlicher als der Wilde fährt er häufig genug fort, der Sklave seines Sklaven zu sein. Der gebildete Mensch macht die Natur zu seinem Freund und ehrt ihre Freiheit, indem er bloß ihre Willkür zügelt. 9 Einer der beiden Befunde ist neu und eine wirkliche Entdeckung Schillers: Nicht nur von der Natur droht der Freiheit Gefahr, auch und gerade von seinen Grundsätzen, also von einer einseitig aufgefassten Vernunftkonzeption selbst. Es ist hier die Gefahr der Kantischen Philosophie beschworen, ihre eigene Stoßrichtung zu verfehlen, indem Freiheit als Zwang missverstanden wird, was zwar nicht im Geiste des kantischen Systems liege, so Schiller, aber im Buchstaben liegen könnte. Beide Typen, Wilder und Barbar, werden in ihrer Defizienz durch eine Grenzüberschreitung möglich. So kann schon am Anfang der Schillerschen Überlegungen die Frage geklärt werden: Wer soll in der ästhetischen Bildung erzogen werden und wohin soll er erzogen werden? Nicht der Mensch, denn dieser ist in seiner Fülle noch gar nicht da, sondern der Wilde und der Barbar ist das Objekt der ästhetischen Erziehung. Wenn nun der Wilde und der Barbar zwei spezifisch verfehlte Seinsweisen des Menschen ausmachen, was macht dann den richtigen Menschen aus? Schiller deutet dies im Anschluss an das Zitat schon an: Es ist der „gebildete Mensch“, der die „Natur zu seinem Freund“ macht und die Freiheit der Natur ehrt, „indem er bloß ihre Willkür zügelt“ 10 . Schiller geht nun ins Detail, indem er eine dualistische Anthropologie entwickelt. Person und Zustand sind die abstraktesten Bestimmungen des Menschen. „Person“ bezeichnet das auf Identität gehende Denken, „Zustand“ das auf das zerstreute Wirkliche gerichtete Empfinden. Beide lassen sich nicht voneinander trennen, ganz einfach deshalb, weil transzendentalphilosophisch sich ein Zustand nur vor dem Hintergrund eines bleibenden Substrats denken lässt, und weil umgekehrt dieses Substrat nur als Träger 9 Schiller: Über die ästhetische Erziehung, S. 19. 10 Ebd. <?page no="76"?> 76 Folko Zander von Zuständen Wirklichkeit hat. Sie sind also aufeinander verwiesen: „Indem wir sagen, die Blume blühet und verwelkt, machen wir die Blume zum Bleibenden in dieser Verwandlung und leihen ihr gleichsam eine Person, an der sich jene beiden Zustände offenbaren.“ 11 Zeitbestimmungen lassen sich nur vor dem Hintergrund von Zeitlosigkeit ablesen. Gleichwohl behauptet Schiller, dass sich jene beiden Bestimmungen nicht aufeinander beziehen lassen: „Nicht weil wir denken, wollen, empfinden, sind wir; nicht weil wir sind, denken, wollen, empfinden wir. Wir sind, weil wir sind; wir empfinden, denken und wollen, weil außer uns noch etwas anderes ist.“ 12 Diese Bestimmungen drängen auseinander und finden ihre Erfüllung dennoch nur im anderen. Der Formtrieb, das tätige Moment des Personseins, drängt, alles zur Form zu machen, zur „Gestalt“, wie Schiller sagt, also: kategorial zu erkennen und sich als formal bestimmter Wille über die Natur zu erheben. Er geht auf Zustands- und Zeitlosigkeit, auf Wahrheit. Der Sachtrieb hingegen geht auf das „Leben“, die Wirklichkeit des Menschen in der Zeit. Der Mensch hat also die doppelte Aufgabe, „das Notwendige in [sich] zur Wirklichkeit zu bringen und das Wirkliche außer [sich] dem Gesetz der Notwendigkeit zu unterwerfen“ 13 . Da diese Triebe sich in unterschiedlichen Sphären ergehen, stiften sie nicht von sich heraus Disharmonie: Der Sachtrieb fodert zwar Veränderung, aber er fodert nicht, daß sie auch auf die Person und ihr Gebiet sich erstrecke: daß ein Wechsel der Grundsätze sei. Der Formtrieb dringt auf Einheit und Beharrlichkeit - aber er will nicht, daß mit der Person sich auch der Zustand fixiere, daß Identität der Empfindung sei. Sie sind einander also von Natur nicht entgegengesetzt, und wenn sie dessen ungeachtet so erscheinen, so sind sie es erst geworden durch eine freie Übertretung der Natur, indem sie sich selbst mißverstehen und ihre Sphären verwirren. 14 Dieser Schadensfall tritt gewissermaßen durch einen energetischen Überschuss auf, der einen der Triebe auf den anderen übergreifen lässt. Durch eine Anspannung des Sinns usurpiert dieser die Form, durch eine Anspannung des Formtriebs greift dieser auf die Sinne über und unterjocht die Natur. Was Schiller hier gibt, ist ein Bild des endlichen Menschen, der aber hier nicht nur durch die Sinnlichkeit in die Endlichkeit herabgedrückt wird, 11 Ebd., S. 45. 12 Ebd., S. 44. 13 Ebd., S. 47. 14 Ebd., S. 51. <?page no="77"?> „Freies Spiel” und „Spieltrieb” 77 sondern auch durch seine übersteigerten Grundsätze. Daraus ergeben sich die zwei Typen der Endlichkeit, nämlich der angesprochene Barbar und der Wilde. Aber was, so fragt man an dieser Stelle, berechtigt Schiller, hier eine Verfehlung des Humanen zu sehen? Was ist das Argument, dass ein Übertritt des Formtriebs in den Bereich des Sinnlichen und des Stofftriebs in den Bereich der Form eine unstatthafte Grenzüberschreitung ist? Wo nimmt Schiller das Bild des wahrhaften Menschen her, von welchem aus nur diese Überschreitungen als Überschreitungen zu qualifizieren wären? Wieso glaubt er weiter, dass die beiden Triebe, in einem harmonischen Verhältnis zueinander bestehen können und nicht jeder aus seiner Natur heraus dazu drängt, den anderen zu beherrschen? Kurz: Woher nimmt Schiller das Recht, den endlichen Menschen als Barbaren und Wilden zu denunzieren? Die Antwort darauf ist interpretationsbedürftig: Die Vernunft stellt aus transzendentalen Gründen die Foderung auf: es soll eine Gemeinschaft zwischen Formtrieb und Sachtrieb, […] sein, weil nur die Einheit der Realität mit der Form, der Zufälligkeit mit der Notwendigkeit, des Leidens mit der Freiheit den Begriff der Menschheit vollendet. Sie muß diese Foderung aufstellen, weil sie Vernunft ist - weil sie ihrem Wesen nach auf Vollendung und auf Wegräumung aller Schranken dringt, jede ausschließende Tätigkeit des einen oder des andern Triebes aber die menschliche Natur unvollendet läßt und eine Schranke in derselben begründet. 15 Schiller verweist hier auf einen Grund, deutet ihn aber nur an. Nur in Gemeinschaft von Stoff- und Formtrieb sei der Begriff der Menschheit vollendet. Auf diesen drängt also offenbar die Vernunft. Warum? Weil sie ihrem Wesen nach auf Vollendung drängt und keine Schranken verträgt. Die Einschränkung des Stofftriebs von Seiten des Formtriebs und umgekehrt sind jedoch solche Schranken. Die Vernunft, das wissen wir aus der Kritik der reinen Vernunft, drängt mit pro- und episyllogistischen Schlüssen auf eine Totalität von Erkenntnis, wobei ihr diese Schlüsse leider letzten Endes problematisch, weil antinomisch geraten. Einzig die Frage, ob die Welt vollständig kausal determiniert sei oder auch Freiheit zulasse, entgeht dieser Antinomie, aber nur deshalb, weil die Freiheit und die Welt der Erscheinungen als in getrennten Sphären dieser einen Welt situiert werden müssen. Schiller folgert hieraus wohl, dass die genannte Grenzüberschreitung in der Überschreitung dieser beiden Sphären liegt. Diese sei überall spürbar, wo eines der beiden Triebe eine Bedrängnis erfährt und nicht frei walten kann. 15 Ebd., S. 61. <?page no="78"?> 78 Folko Zander Es wird langsam deutlich, worauf Schillers Überlegungen abzielen. Wenn der Mensch beider Triebe als wesentliche Momente seiner Humanität nicht entraten kann, wenn weiter jeder dieser Triebe die Tendenz hat, den anderen einzuschränken, ihn also entweder in Hinsicht auf seine Grundsätze oder in Hinsicht auf seine Sinnlichkeit unterdrückt, unfrei macht, so ist der Mensch erst im eigentlichen Sinne da frei zu nennen, wo er in einen Zustand tritt, in welchem sich die exzentrischen Wirkungen dieser beiden Triebe neutralisieren. Gäbe es aber Fälle, wo [der Mensch] sich zugleich seiner Freiheit bewußt würde und sein Dasein empfände, wo er sich zugleich als Materie fühlte und als Geist kennenlernte, so hätte er in diesen Fällen, und schlechterdings nur in diesen, eine vollständige Anschauung seiner Menschheit, und der Gegenstand, der diese Anschauung ihm verschaffte, würde ihm zu einem Symbol seiner ausgeführten Bestimmung […] dienen. 16 Was nun hier vorliegt, ist eine Überschreitung Kantischer Bestimmungen. Freiheit wird nicht so eingeführt, dass sie nur in Erscheinung tritt als das endliche Wesen über das Gewissen an seine unendliche Bestimmung mahnend. Denn dann wäre sie lediglich das Bewusstsein moralischer Notwendigkeit im Menschen. Einer Notwendigkeit ist der Mensch - nach Schiller - ebenso ausgesetzt durch die physische Notwendigkeit der Sinnlichkeit. Beider Notwendigkeit ist der Mensch in diesem harmonischen Zustand enthoben. Aus dem Ernst der Notwendigkeit des Moralischen und des Sinnlichen wird das Spiel, die entsprechende Tendenz zu dieser Harmonie wird folglich „Spieltrieb“ genannt. Das Auftauchen eines neuen Triebes ist insofern überraschend, als Schiller doch erst wenige Briefe zuvor von lediglich zwei abstrakten Bestimmungen des Menschen gesprochen hat. Es fällt schwer zu glauben, dass ihm diese Ungereimtheit entgangen sein sollte. Aber irgendein zwischen Sach- und Formtrieb vermittelndes Vermögen muss Schiller dem Menschen ansinnen, sonst ist jeder Weg zur harmonischen Einheit verbaut. Dass Schiller diese Menschheit ästhetisch bestimmt, als ästhetische Idee, überrascht nicht, will Schiller den Künstler doch so als moralischen Lehrer legitimieren, ist aber auch sachlich durch den Harmoniegedanken berechtigt. Und so ist in diesem Zielzustand der „übereinstimmenden Energie seiner sinnlichen und geistigen Kräfte“ 17 die Menschheit zugleich als der „vollkommene Begriff der anthropologischen Schönheit“ ausgesprochen. 16 Ebd., S. 57. 17 Ebd., S. 70. <?page no="79"?> „Freies Spiel” und „Spieltrieb” 79 Die Gleichsetzung vom menschlichen Ideal mit dem ästhetischen wird plausibler, wenn man es sich als Transformation des Kantischen Geschmacksurteils vorstellt. Der Schwebezustand zwischen Verstand und Sinnlichkeit bei der Betrachtung des Schönen wird in eine Harmonie von Vernunft und Sinnlichkeit überführt. Damit ist diese jedoch zugleich identisch mit dem Kantischen Ideal des heiligen Willens. Schiller betreibt somit also eine Zusammenführung von Ethik und Ästhetik, wo bei Kant nur eine Engführung vorliegt. Dieses Ideal ist es also, wohin Schiller erziehen will. Da er jedoch zunächst ein ideales Schönheitsideal gegeben hat, ist er genötigt, endliche Typen von Schönheit vorzustellen, die wenigstens die Tendenz zu diesem vollkommenen Schönheitsbegriff bewirken können. Da er zwei Typen von Endlichkeit, die exzentrischen Tendenzen von Stoff- und Formtrieb entwickelt hat, braucht er ebenso zwei endliche Typen von Schönheit, als gegenläufige Tendenzen: die schmelzende Schönheit, als Korrektiv des Formübergewichts, und die energische Schönheit, als Korrektiv des Stoffübergewichts. Die schmelzende Schönheit heilt den Barbaren, die energische den Wilden. Nun ist zu fragen: Was bewirkt diese Heilung? Was soll mit der Tendenz zur ästhetischen Idee erreicht werden? Es geht Schiller um die Freisetzung des wahrhaft freien Willens. Der Mensch durchlaufe zwei Stufen der Bestimmbarkeit. Die sinnliche als Bedingung tatsächlicher sinnlicher Bestimmung setzt neben der Sinnlichkeit auch das Selbstbewusstsein frei, auf den Stofftrieb folgt der Formtrieb. Sobald sich nun dieser zweite Trieb ausgebildet hat, „verläßt ihn die Hand der Natur, und es ist seine Sache, die Menschheit zu behaupten, welche jene in ihm anlegte und eröffnete. Sobald nämlich zwei entgegengesetzte Grundtriebe in ihm tätig sind, so verlieren beide ihre Nötigung, und die Entgegensetzung zweier Notwendigkeiten gibt der Freiheit den Ursprung.“ 18 Gleicht nun der erst entwickelte Formtrieb die Macht des Stofftriebs aus, so befindet sich der Mensch in einem Gleichgewichtszustand, welchen Schiller den ästhetischen Zustand nennt. In diesem Zustand tritt nun der Wille auf, da er eine vollkommene Freiheit zwischen beiden Trieben behaupten kann. Erst in einem Zustand, in welchem weder Natur noch Form nötigt, wird der Freiheit ein Raum der Bestimmbarkeit gegeben. Erst durch den ästhetischen Zustand ist ein Zustand wahrer Autonomie als Selbstbestimmung erreicht. Die Schönheit wird so nach der Natur zur „zweiten Schöpferin“ des Menschen. Somit glaubt Schiller seine Behauptung aus 18 Ebd., S. 81. <?page no="80"?> 80 Folko Zander dem zweiten Brief begründet zu haben, dass es die Schönheit sei, „durch welche man zu der Freiheit wandert“ 19 . Der ästhetische Zustand liefere „zwar kein einziges Resultat“, durch die Schönheit ist weiter nichts erreicht, „als daß es ihm nunmehr von Natur wegen möglich gemacht ist, aus sich selbst zu machen, was er will - daß ihm die Freiheit, zu sein, was er sein soll, vollkommen zurückgegeben ist.“ 20 Wo bei Kant also angesichts des und aus dem Schönen durch das freie Spiel der Erkenntniskräfte eine unabschließbare Reflexionsmannigfaltigkeit erwuchs, so wird aus ihm durch die Schillersche Transformation der unabschließbare Raum menschlicher Freiheit. Schönheit wird so bei Schiller zum Inbegriff der Menschheit schlechthin: „Eben deswegen, weil sie keine einzelne Funktion der Menschheit ausschließend in Schutz nimmt, so ist sie einer jeden ohne Unterschied günstig, und sie begünstigt ja nur deswegen keine einzelne vorzugsweise, weil sie der Grund der Möglichkeit von allen ist.“ 21 Aus dieser Zwanglosigkeit heraus soll nun die dritte, endgültige Bestimmung des Menschen zum moralischen Zustand erfolgen. Die ästhetische Erziehung bereitet somit eine ästhetische Bildung vor, die auf einen moralischen Zustand abzielt, so dass die Genese zur Vernunft insgesamt eine triadische wird. Eine Frage ist noch zu klären, nämlich die Hauptfrage: Wieso muss zum ästhetischen Zustand als Bedingung des moralischen erzogen werden? Wozu bedarf es der Künstler? Sieht man genauer hin, so muss man erkennen: Die Rolle des Künstlers als Erzieher ist unbedeutender, als es zunächst den Anschein hat und als uns Schiller weismachen will. Daran ist ausgerechnet der „Spieltrieb“ schuld. Diesen einen Trieb zu nennen berechtigt ja nur, wenn er dem menschlichen Handeln eine gewisse Richtung gibt, wie sie auch die anderen beiden Triebe haben. Was ist also das Movens des Spieltriebs? Die Antwort darauf findet sich in Schillers Text nicht explizit, sie lässt sich aber leicht rekonstruieren. Stoff- und Formtrieb, für sich genommen, lassen den Menschen keinen Zwang spüren. Dieser wird erst vernehmbar durch ihre Entgegensetzung gegeneinander. Da der Mensch als gemischtes Wesen diese Entgegensetzung nicht auflösen kann, indem er einen der beiden Triebe suspendiert und so das Walten dieses nun isolierten Triebes wieder widerspruchsfrei genießen kann, so kann er dem unangenehmen Gefühl des Zwanges nur entkommen, indem er diese Triebe harmonisiert. Indem so ein Trieb zur Harmoniesierung seiner Triebe im Menschen angelegt ist, 19 Ebd., S. 13. 20 Ebd., S. 86. Hervorhebung im Original. 21 Ebd., S. 87. <?page no="81"?> „Freies Spiel” und „Spieltrieb” 81 so ist eine tätige Macht vorhanden, den ästhetischen Zustand zu erreichen. Der Mensch bedarf also keines über den Zeitläufen stehenden Künstlers, der ihn ästhetisch unterwiese. Eine ästhetische Erziehung ist zur Erreichung des ästhetischen Zustands nicht unbedingt erforderlich, da man bereits von einer Tendenz zur ästhetischen Bildung ausgehen kann. Es ist nicht klar, ob sich Schiller dieser Konsequenz bewusst ist. Im 26. Brief wird der Spieltrieb als autonome Tendenz aber ausdrücklich angesprochen, und zwar als „Geschenk der Natur“, und zwar als „Freude am Schein, die Neigung zum Putz und Spiele“ 22 . Der ästhetische Schein lehre nämlich die „Gleichgültigkeit gegen Realität“, indem er uns die Dinge unabhängig von ihrem Gegebensein zu sehen unterweist. Der Spieltrieb wird nun so bestimmt, dass er am „Scheine Gefallen findet“ 23 . III. Probleme in Schillers Programm Zweifellos sind Schillers Ausführungen als Anregungen nicht ohne Verdienst. Sie sind jedoch nicht unproblematisch. Es soll nicht auf die zahlreichen Brüche und Inkonsistenzen eingegangen, sondern sich auf das größte Problem beschränkt werden, und das ist m.E. Schillers Festhalten am Kantischen Dualismus. Wie Kant glaubte Schiller nicht, mit begrifflichen Mitteln eine ursprüngliche Einheit von Sinnlichkeit und Verstand ausfindig machen zu können. Mit dem Anspruch, die Ganzheit des Menschen und somit die Menschheit überhaupt herstellen zu wollen, ist Schiller aber auf eine ganzheitliche Konzeption des Menschen angewiesen, wovon das Auftauchen vermittelnder Begriffe wie „Spieltrieb“, „Wille“, „Freiheit“ und „ästhetischer Zustand“ zeugen. Mit diesem Dualismus fällt in Schillers Programm zwangsläufig das ein, was als „Philosophie des Sollens“ bezeichnet werden kann. Indem eine solche Philosophie ein Idealbild prospektiv in ein unerreichbares Jenseits verlegt, muss sie zwangsläufig das Diesseits abwerten, da das Ideal nie zur Gänze realisiert werden kann. Mehr noch gerät Schillers Programm dadurch in Gefahr, antiindividualistisch zu werden. Die Schönheit finde „an dem Menschen, wie die Erfahrung ihn aufstellt, einen verdorbenen und widerstrebenden Stoff, der ihr gerade so viel von ihrer idealen Vollkommenheit raubt, als er von seiner individualen Beschaffenheit einmischt“ 24 , heißt es im 17. Brief. 22 Ebd., S. 109. 23 Ebd., S. 111. 24 Ebd., S. 71. <?page no="82"?> 82 Folko Zander Ich möchte jedoch meine Darstellung mit dem Hinweis auf Schillers Verdienste beenden. Er war m.W. der Erste, der gesehen hat, dass ein Freiheitsverständnis, welches auf einer Subordination der Sinnlichkeit unter der Vernunft beruht, problematisch ist. Obwohl sein Modell einer Koordination von Vernunft und Sinnlichkeit, die der gemischten Natur der menschlichen Freiheit mehr entspricht, in welcher nämlich der Mensch „in den Schranken des Stoffes vernünftig, und unter Gesetzen der Vernunft materiell handelt“ 25 , konzeptionell nicht zur Gänze überzeugen kann, hat er mit dieser Kritik am abstrakten Philosophieren dem weiteren Gang des idealistischen Freiheitsverständnisses doch den Weg gewiesen. 25 Ebd., S. 81, Fn. <?page no="83"?> Die Dialektik der subjektiven Rechte als Komponente der Moderne Jean-François Kervegan Die Frage nach dem geschichtlichen Ursprung des Themas der ‚subjektiven Rechte‘ ist strittig. Unstrittig ist indessen, dass die Wendung selbst, wenn auch vielleicht nicht der damit denotierte Begriff, in Deutschland entstanden ist. Nach dem französischen Rechtshistoriker Olivier Jouanjan, der sich diesbezüglich selbst auf eine deutsche Quelle stützt, taucht der Ausdruck „gegen Ende des 18. Jahrhunderts“ erstmals auf. 1 Der englische Jurist und Theoretiker des Rechtspositivismus John Austin informiert uns jedenfalls, dass er gegen 1830 üblich geworden sei: in einer Fußnote der im Jahre 1832 unter dem Titel The Province of Jurisprudence determined veröffentlichten Vorträge beklagt Austin, der kurz zuvor ein freies akademisches Jahr in Deutschland absolviert hatte, dass sich der Rekurs auf die Ausdrücke ‚Recht im subjektiven Sinne‘ und ‚Recht im objektiven Sinne‘ verbreitet hat, um das auszudrücken, was die englische Sprache a right, bzw. a law nennt. Diese Ausdrücke erwecken nämlich den falschen Eindruck, dass es so etwas wie ein Genus des ‚Rechts‘ gebe, dessen Spezien das ‚subjektive‘ bzw. das ‚objektive Recht‘ sein sollten, während (für einen strengen Positivisten wie Austin) „every legal right is the creature of a positive law“. 2 Unabhängig davon, ob man diese These akzeptiert oder nicht - Herbert Hart liefert in The Concept of Law gute Gründe dafür, dass man 1 Jouanjan, Olivier: Les aventures du sujet dans la narration villeyenne de l’histoire de la pensée juridique. In: Droit et Société 71 (1/ 2009), S. 43, FN 73. Jouanjan verweist auf Dubischar, R.: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Berlin 1990, S. 249 ff. 2 Austin, John: The Province of Jurisprudence determined. Cambridge 1995, S. 231. <?page no="84"?> 84 Jean-François Kervegan jener ‚imperativistischen‘ Variante der positivistischen Auffassung des Rechts nicht zustimmen sollte 3 - berührt man damit den Kern der Streitfrage: impliziert nicht der Glaube an die Existenz von ‚subjektiven Rechten‘, insbesondere an die Existenz von ursprünglichen und unveräußerlichen subjektiven Rechten (von ‚natürlichen‘ Menschenrechten also), dass man im rechtlichen Bereich den Vorrang der Verpflichtung (law) über das Recht (right) schwächt? Wie auch immer, so hat sich der Ausdruck ‚subjektives Recht‘ oder ‚Recht im subjektivem Sinne‘ während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im juristischen Sprachgebrauch durchgesetzt. Dies geschah insbesondere innerhalb der sogenannten Pandektistik, welche von Puchta bis Windscheid eine ‚voluntaristische‘ Deutung des subjektiven Rechts als Willensmacht entwickelt hat, die die Interessenjurisprudenz im Namen eines Verständnisses des subjektiven Rechts als „rechtlich geschütztes Interesse“ (so Jhering) bestreiten wird. Nimmt man also an, dass der Ausdruck ‚subjektives Recht‘ erst relativ spät aufkam, scheint es doch unbestreitbar, dass „die Idee früher als der Ausdruck entstanden ist“ 4 und dass die Überzeugungskraft der Thematik der ‚subjektiven Rechte‘ mit gewissen strukturellen Eigenschaften der sogenannten ‚Moderne‘ verbunden ist. Vorläufig sollen drei Aspekte dieser modernen Konstitution der subjektiven Rechte erwähnt werden. 1) Unabhängig davon, dass man Michel Villeys These zustimmt, dass der in der römischen Jurisprudenz sowie in der mittelalterlichen Theologie unbekannte Begriff ‚subjektives Recht‘ ein Nebeneffekt der nominalistischen Ontologie Wilhelm von Ockhams sei, 5 scheint es klar, dass der Begriff ‚subjektives Recht‘ ein moderner Begriff ist, dessen Entwicklung die von Alain de Libera beschriebene „Suche nach der Identität“ begleitet. Die Entstehung des Rechtssubjekts - und infolgedessen der subjektiven Rechte - ist aus jener Sicht eine Komponente des ‚Personifizierungs‘-Apparats eines vorher eher logisch-grammatikalisch verstandenen Subjekts. 6 2) Von 3 Hart, H. L. A.: The Concept of Law. Oxford 2 1994, S. 18 ff. 4 Colliot-Thélène, Catherine: La démocratie sans ‘demos’. Paris 2011, S. 26. 5 Villey, Michel: La formation de la pensée juridique moderne. Paris 1975, S. 220 ff.; Villey, Michel: Les origines de la notion de droit subjectif. In: Leçons d’histoire de la philosophie du droit. Hg. v. Michel Villey. Paris 1962, S. 221-250; Villey, Michel: La genèse du droit subjectif chez Guillaume d’Occam. In: Archives de philosophie du droit 9 (1964), S. 97-127. 6 Libéra, Alain de: Archéologie du sujet, 2: La quête de l’identité. Paris 2008, S. 69 ff., 255 ff. (und, was den übergang von ‘Subjekt’ zu ‘Person’ betrifft: Libéra, Alain de: Archéologie du sujet, 1: Naissance du sujet. Paris 2007, S. 84 ff.). Bei Luhmann findet man eine merkwürdig nahe Analyse der Entstehung des ‘Reschtssubjekts’: Luhmann, Niklas: Subjektive Rechte. Zum Umbau des Rechtsbewusstseins für die moderne Ge- <?page no="85"?> Die Dialektik der subjektiven Rechte als Komponente der Moderne 85 einem anderen Standpunkt betrachtet, ist der Aufstieg des ‚subjektiven Rechts‘ eine Erscheinungsform der breiten Neugestaltung, innerhalb derer dem Begriff der Person oder des Rechtssubjekts eine zentrale Stellung zukommt, die sie in den vormodernen Rechtsformen nicht hatte. Max Weber hat das Verhältnis jener, die Entstehung eines „gewillkürten Rechts“ herbeiführenden Transformation des Rechts mit den „beiden großen rationalisierenden Mächten“ hervorgehoben, die die „Markterweiterung“ und die Begrenzung des „korporativen“ Rechts zugunsten des zunehmenden staatlichen Monopols der Rechtssetzung ausmachen. 7 Hierin besteht ein lehrreiches Paradox: die Entwicklung der Problematik der persönlichen Rechte (von der die Erklärungen der Menschenrechte gegen Ende des 18. Jahrhunderts öffentlich und feierlich kündigen) begleitet einen Prozess (nämlich die Bildung der modernen Staaten), der zur wachsenden Unterjochung der Subjekte/ Untertanen durch die zentralisierte unwiderstehliche Macht des Staates führt. 3) Wie Luhmann betont hat, ist die Entwicklung ‚abstrakter‘ subjektiver Rechte mit dem charakteristischen modernen Ausdifferenzierungsprozess verbunden, der eine Neugestaltung des Rechtssystems veranlasste. 8 Die subjektiven Rechte (wenigstens die Freiheitsrechte) sind insofern eine „paradoxe Institution“, 9 als sie in eine asymmetrische Logik der Komplementarität gehören, während das vorige Verständnis des jus eine symmetrische Logik der Reziprozität der Befugnisse und Verpflichtungen befolgte: dem Recht von A korrespondiert nunmehr asymmetrisch eine Verpflichtung von B, aber dieses Recht ist nicht mit Verpflichtungen von A selbst verbunden; deshalb erklärt Luhmann, dass dieses Recht „in sich selbst keinen Ausgleich hat“. 10 Es ist, vermutlich im Unterschied zu den juristischen Rechten, eine Eigenschaft der ‚moralischen Rechte‘, dergleichen asymmetrische Verpflichtungen zu erzeugen. 11 Wie auch immer: diese Entkoppelung von Recht und Verpflichtung (welche einer Kolonialisation der Sphäre der juristischen Rechte durch die moralischen Rechte entspricht) verleiht dem ‚abstrakten‘ subjektiven Recht eine Elastizität, die es fähig macht, in den verschiedensten Gebieten mobilisiert zu werden: ein ‚Recht der menschlichen Person‘ oder ein ‚Menschenrecht‘ ist im Gegensellschaft. In: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Bd. 2, Frankfurt a. M. 1993, S. 45- 104, insb. 81. Eine scharfsinnige Kritik der Äquivozität des Begriffs ‚Rechtssubjekts‘ findet man bei Descombes, Vincent: Le complément de sujet. Paris 2004, S. 416 ff. 7 Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 1972, S. 419. 8 Luhmann, Niklas: Ausdifferenzierung des Rechts. Frankfurt/ M. 1981, S. 370. 9 Ebd., S. 365. 10 Ebd. 11 Waldron, Jeremy: Law and Disagreeement. Oxford, New York 1999, S. 218. <?page no="86"?> 86 Jean-François Kervegan satz zum ‚Recht des Eigentümers‘ (oder des Mieters) nicht mit einem bestimmten Rechtsinstitut verbunden, sondern in unendlich variablen Kontexten anwendbar. Im Folgenden werde ich zuerst die Stellung des Begriffs des subjektiven Rechts im Selbstbewusstsein der Moderne zu bestimmen versuchen. Danach möchte ich an Hegel anknüpfen, um die zu einfache Entgegensetzung vom ‚subjektiven‘ und ‚objektiven‘ Recht kritisch zu hinterfragen. I. „Modernität“ der subjektiven Rechte Selbst wenn man die aristotelisch-thomistischen Überzeugungen des französischen Rechtshistorikers Michel Villey nicht teilt, sollte man die Richtigkeit seiner oft wiederholten These anerkennen nach der das ‚subjektive Recht‘eine moderne Erfindung sei. Überzeugend legt er dar, dass wir im römischen Recht oder im mittelalterlichen Denken erst retrospektiv subjektive Rechte annehmen dürfen. Anlässlich einer Analyse des Instituts von Gaius, zeigt Villey, dass die jura darin eben nicht als Vorrechte gewisser Personen, sondern als objektive Verhältnisse zwischen Personen und Sachen verstanden werden, welche auf einer ‚gerechten‘ Verteilung zwischen ‚Mein‘ und ‚Dein‘ beruhen: „das jus der Institutes ist keine Eigenschaft eines Subjekts, sondern dieser einem jeden zukommende Teil der Sachen innerhalb des Verbands“. Villeys Schluss lautet: „Es gibt im römischen Recht kein ‚Sachenrecht‘, kein ‚persönliches Recht‘, kein ‚Eigentumsrecht‘ und auch kein ‚Menschenrecht‘.“ 12 Überzeugend ist auch Villeys These, dass der Begriff ‚subjektives Recht‘den mittelalterlichen Denkern, ausgenommen Wilhelm von Ockham, noch unbekannt gewesen sei. Für Aquinas z.B. hat das Recht sowie die Gerechtigkeit „die eigentümliche Funktion, den Menschen innerhalb dessen anzuordnen, was ad alterum ist“; es ist also immer „durch das Verhältnis zum Anderen verfasst“. 13 Der objektiven Komponente des Rechts, nämlich der Gerechtigkeitsregel kommt es zu, die Rechte und Pflichten eines jeden zu bestimmen: das Gesetz (lex) ist die ratio juris, die Regel des Rechts. 14 Nur ein Ockham- Experte könnte die Wahrheit der These des ockhamschen Ursprungs der modernen Auffassung der subjektiven Rechte auf ihre Berechtigung hin 12 Villey, Michel: Le droit et les droits de l’homme. Paris 1990, S. 78. 13 Aquin, Thomas von: Summa theologiae, II.II, q. 57, art. 1, Resp. 14 Ebd. Siehe Villey, Michel: Questions de saint Thomas sur le droit et la politique. Paris 1987. <?page no="87"?> Die Dialektik der subjektiven Rechte als Komponente der Moderne 87 überprüfen; ich muss allerdings gestehen, dass ich die Idee des Zusammentreffens des logisch-sprachlichen Nominalismus und des juristischen Individualismus für glaubwürdig halte. Zu Beginn der Neuzeit erfolgte unbestreitbar eine radikale Umformulierung der klassischen (römischen) Auffassung des Rechts, die zu einer keineswegs eindeutigen und paradoxiefreien Beförderung der ‚subjektiven Rechte‘ führte. Das kann man bei so verschiedenen Autoren der Neuzeit wie Suarez, Grotius und Hobbes beobachten. Fangen wir mit Suarez an. Anlässlich einer kritischen Darstellung der verschiedenen Etymologien des Wortes jus gibt Suarez im zweiten Kapitel des ersten Buchs von De legibus ac Deo legislatore (1612) folgende Definition des Rechts, welche eine Erschütterung der klassischen „objektivistischen“ Auffassung markiert: Nach der letzten (strikten) Bedeutung des Rechts [d. h. die, die jus aus justitia ableitet] nennt man gewöhnlich das eigentliche Recht eine gewisse moralische Kapazität (facultas quaedam moralis), die ein jeder entweder über das seinige (circa rem suam), oder über eine ihm gebührende Sache (ad rem sibi debitam) verfügt […] Die Handlung (actio) oder die moralische Kapazität eines jeden über seine Sache oder über dem, was ihm gewissermaßen gehört, heißt Recht, und dieses scheint der eigentlichen Gegenstand der Gerechtigkeit zu sein. 15 Hier ist das Recht unleugbar als Fähigkeit eines Individuums verstanden, sich eine Sache entweder als Eigentümer (jus in re), oder als rechtlicher Benutzer (jus ad rem) anzueignen, und die dazu gehörenden rechtlichen Prozeduren (actiones) gegebenfalls zu erheben. Wir haben es also ganz klar mit dem zu tun, was man in der gegenwärtigen Terminologie ein claim-right nennt. Suarez schränkt die Tragweite jenes innovativen Verständnisses des jus als moralischer Handlungskapazität jedoch sofort ein, indem er eine andere Etymologie des Wortes bevorzugt, welche jus aus jubere (befehlen) ableitet. Diese Ableitung erlaubt es ihm nämlich, gegen das seit Cicero vorherrschende Verständnis des Gesetzes als Ausdruck der recta ratio, die Definition des jus mit der von ihm bevorzugten „imperativistischen“ Auffassung des Gesetzes in Einklang zu bringen. Suarez schreibt nun: 15 Suarez, De legibus ac Deo legislatore, Buch I, Kap. II, § 4, Neapel 1872, S.6-7. Dazu Courtine, Jean-François: Nature et empire de la loi. Etudes suaréziennes. Paris 1999, Kap. IV et V; Renoux-Zagamé, Marie-France: Du droit de Dieu au droit de l’homme. Paris 2003, Kap. I. <?page no="88"?> 88 Jean-François Kervegan Wenn wir die andere Etymologie berücksichtigen, welche jus aus jubere ableitet, scheint es, dass dieses Wort das Gesetz bezeichnet, denn das Gesetz ist in einem Befehl (jussio) oder in einer Macht (imperium) niedergelegt. 16 Trotz des Entstehens einer Art subjektiven Rechts gewinnt letztendlich die ‚objektive‘ Bedeutung des Rechts als Gesetz im Werk Suarez die Oberhand. Diese Entscheidung ist in den letzten Zeilen des Kapitels begründet, wo es heißt, dass das Recht „seiner eigentlichen Bedeutung“ gemäß „gleichbedeutend mit dem Gesetz“ sei. 17 Wie auch immer, die im Traktat Suarez entwickelte „voluntaristische“ Auffassung des Gesetzes (das Gesetz ist „ein Akt des gerechten und rechten Willens, dank dessen der Vorsteher den Untergeordneten zu dieser oder jener Handlung verpflichten will“) 18 bahnt den Weg zu einer voluntaristischen Auffassung der subjektiven Rechte, die man auch bei Hegel feststellen kann, nämlich wenn er die Existenz eines „absolute[n] Zueignungsrecht[s] des Menschen auf alle Sachen“ behauptet. 19 Ein weiterer Schritt in Richtung einer selbstständigen Definition des subjektiven Rechts ist von Grotius absolviert worden. Oft wird ausschließlich auf die zwar gewagte Feststellung aus den Prolegomena von De jure belli ac pacis (1625) insistiert, nach der, was im Traktat über das Recht festgestellt ist, wahr bliebe, “selbst wenn wir einräumen würden, es gäbe keinen Gott, was ein fürchterliches Verbrechen ausmacht“. 20 Dass aber diese (sofort beseitigte) Hypothese formuliert werden kann, folgt erst aus der Feststellung, dass der Grund jedweden Rechts die spezifisch menschliche Eigenschaft der Soziabilität (societatis appetitus, vis socialis) sei, sodass man feststellen darf, dass das „Naturrecht“ ein „Recht der menschlichen Natur“ ist (jus naturae, humanae scilicet). Die Natur darf also als die „Mutter des Naturrechts“ 21 angesehen werden, indem sie „vernünftig und gesellschaftlich“ 22 zugleich ist. Vermutlich regt diese Betonung des menschlichen Charakters des Naturrechts Grotius dazu an, unter den verschiedenen Bedeutungen des Worts jus diejenige insbesondere zu betonen, die dem heutigen ‚subjektiven Recht‘ entspricht. Neben zwei traditionelle- 16 Suarez, De legibus, Buch I, Kap. II, § 5, S. 7. 17 Suarez, De legibus, Buch I, Kap. II, § 8, S. 8. 18 Suarez, De legibus , Buch I, Kap. II, § 13, S. 22. 19 Hegel, G.W.F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts. In: Gesammelte Werke. Bd. 14.1. Hg. v. Klaus Grotsch. Hamburg 2009, S. 57. 20 Grotius: Le droit de la guerre et de la paix.. Paris 1999, Prolégomenes, S. 12 (wir übersetzen unter Berücksichtigung des lateinischen Textes, Paris 1625). 21 Grotius: Le droit de la guerre, Prolégomènes, S. 14. 22 Grotius: Le droit de la guerre, Buch I, Kap. I, § XII, S. 41. <?page no="89"?> Die Dialektik der subjektiven Rechte als Komponente der Moderne 89 ren, dem heutigen ‚objektiven Recht‘ entsprechenden Bedeutungen (und zwar dem Recht im Sinne des Gerechten und dem Recht als einem verpflichtenden Gesetz) schafft er Raum für ein „die Person betreffendes Recht“, welches eine „der Person anheimfallende qualitas moralis, um etwas gerecht zu haben oder zu tun, ist“. 23 Obwohl dieses Recht aus dem Recht als Regel des Gerechten und des Ungerechten folgt, soll es als „das eigentlich benannte Recht“ betrachtet werden. 24 Dazu gehören: die „über sich sowie über die anderen“ bestehende potestas (also die persönlichen Rechte); das dominium (also die entweder als jus in re [Eigentum], oder als jus ad rem [Benutzungsrecht] verstandenen Sachenrechte; und die Rechtsforderungen (creditum, debitum). Unter dieser Benennung ordnet Grotius also das ganze Spektrum der später so genannten subjektiven Rechte ein. Aus diesem Begriff des subjektiven Rechts folgt eine wichtige Bestimmung, die Grotius eigentlich nur indirekt formuliert. In der Nachfolge von Thomas 25 teilt er das objektive Recht (vgl. die dritte Bedeutung des Wortes: das Recht als Gesetz oder als Regel der Handlungen) in das Naturrecht und das gesetzte (positive) Recht ein, wobei sich das letzte selbst noch einmal in göttlich und menschlich gesetztes Recht teilen lässt. 26 Nimmt man also an, dass es eine strukturelle Parallele zwischen dem ‚objektiven‘ und dem ‚subjektiven‘ Recht geben soll, dann müsste es folglich auch subjektive Naturrechte geben, die sogar teilweise unveräußerlich wären. Im zweiten Kapitel des ersten Buchs schreibt Grotius diesbezüglich: Denn das Ziel der Gesellschaft ist, dass ein jeder das behält, das ihm gehört […] Es ist leicht zu begreifen, dass es auch der Fall wäre, selbst wenn das Recht des heutigen Eigentums (dominium) nicht eingeführt worden wäre, weil Leben, Leib (membra), Freiheit eigene Güter stets gewesen sein würden, die man nicht ohne Ungerechtigkeit (injuria) verletzen könnte. 27 Wir sehen also, dass bei Grotius - wie später auch bei Locke 28 (doch ohne dem Argument der Aneignung durch Arbeit, das eine Lockesche Erfindung 23 Grotius: Le droit de la guerre, Buch I, Kap. I, § IV, S. 35. 24 Grotius: Le droit de la guerre, Buch I, Kap. I, § V, S. 35. 25 Aquin, Thomas von: Summa theologica, II.II, q. 57, art. 2: dort unterscheidet Thomas das göttliche Recht, das Naturrecht und das positive (willkürliche) Recht. Das Recht göttlichen Ursprungs enthält selbst positive Anordnungen, die Grotius ein „jus divinum positivum“ nennen wird. 26 Grotius: Le droit de la guerre, Buch I, Kap. I, § IX-2, S. 38. 27 Grotius: Le droit de la guerre, Buch I, Kap. II, § I-5, S. 52. 28 Locke, John: Second Treatise of Government. Hg. v. M. Goldie. London 1995, Kap. VII, § 87, S. 157; Kap. IX, § 123, S. 178; Kap. XV, § 173, S. 204. <?page no="90"?> 90 Jean-François Kervegan ist) - Leben, Freiheit und Eigentum als natürliche, größtenteils unveräußerliche Rechte angesehen werden: sie sind nämlich Eigenschaften des Individuums. Obwohl Grotius (der deswegen die Empörung Rousseaus erweckte) die Möglichkeit einer „perfekten Knechtschaft“ (also der freiwilligen Sklaverei) annimmt, ist er der Meinung, dass sie „innerhalb der Schranken der Natur“ verbleiben sollte: der freiwillige Sklave soll von seinem Herr gefüttert werden und der Herr hat über ihn kein Recht auf Leben und Tod. 29 In diesem (zwar begrenzten) Sinn darf man behaupten, Grotius habe den Rahmen gebaut, innerhalb dessen es später möglich wurde, subjektive Naturrechte, also Menschenrechte zu fassen. Bekanntlich hat jedoch erst Thomas Hobbes subjektives und objektives Recht (right und law) in voller Klarheit unterschieden. In einer berühmten Stelle aus dem Leviathan betont er, dass die Wörter jus (right) und lex (law) nicht nur verschiedene, sondern sogar gegensätzliche Bedeutungen hätten, indem the right eine Freiheit im Hobbesschen Sinne umschreibt (ich bin frei, eine Handlung zu vollbringen, wenn kein äußeres Hindernis sie verhindert), während the law einen (göttlichen oder menschlichen) Befehl ausspricht, welcher die Vollbringung oder die Enthaltung von einer Handlung anordnet. Diese Unterscheidung führt schließlich zu einer Neubestimmung der Begriffe ‚Naturrecht‘ und ‚Naturgesetz‘: The Right of Nature, which Writers commonly call Jus Naturale, is the Liberty each man hath, to use his own power, as he will himselfe, for the preservation of his own Nature; that is to say, of his own Life; and consequently, of doing anything, which in his own Judgement, and Reason, hee shall conceive to be the aptest means thereunto. […] A Law of Nature (Lex Naturalis) is a Precept, or generall Rule, found out by Reason, by which a man is forbidden to do, that, which is destructive of his life, or taketh away the means of preserving the same; and to omit, that, by which he thinketh it may be best preserved. For though they that speak of this subject, use to confound Jus and Lex, Right and Law; yet they ought to be distinguished; because RIGHT , consisteth in liberty to do, or to forbeare; Whereas LAW , determineth, and bindeth to one of them; so that Law, and Right, differ as much, as Obligation, and Liberty; which in one and the same matter are inconsistent. 30 Dieses Vorhaben von Hobbes findet sich in dem Dialogue between a Philosopher and a Student of the Common Laws of England bestätigt und verschärft. Um den Vorrang der statute-law über die common law zu begründen, betrachtet er in diesem Text die Vernunft des Souveräns, sei sie „stark 29 Grotius: Le droit de la guerre, Buch II, Kap. V, §§ XXVII-XXVIII, S. 245-246. 30 Hobbes, Thomas: Leviathan. Hg. v. C. B. McPherson. London 1988, Kap. 14, S. 189. <?page no="91"?> Die Dialektik der subjektiven Rechte als Komponente der Moderne 91 oder schwach“, als die letzte Rechtsquelle, die anima legis. 31 Daran anknüpfend wiederholt er die Definition von law als Befehl des Souveräns gegenüber seinen Untertanen und zieht daraus die Schlussfolge, dass man in Abgrenzung etwa zu Edward Coke lex und jus unterscheiden soll: das Gesetz „unterzieht mich einer Verpflichtung“, während „mein Recht eine mir vom Gesetz zugestandene Freiheit ist, alles zu tun, was das Gesetz nicht verbietet, und mich von allem zu enthalten, was das Gesetz nicht anordnet“. 32 Daraus folgt ein klarer Bruch mit der Problematik des common law und mit der Tradition der römischen Jurisprudenz, die - wie gesagt - eine ‚objektive‘ Definition des jus bevorzugte, selbst wenn das Wort im Plural (jura) benutzt wurde. 33 Es besteht nunmehr ein logischer Vorrang des jus vor dem lex und daher des subjektiven natürlichen Grundrechts auf Selbsterhaltung über das Naturgesetz. Richtig verstanden, und zwar als „conclusions, or theoremes concerning what conduceth to the conservation and defense of [men]“, sind die Naturgesetze somit keine eigentlichen Gesetze, indem das Gesetz „properlly is the word of him, that by right hath command over others“. 34 Das sogenannte Naturgesetz ist eher eine Vorschrift, die im Interesse Aller zur allgemeinen Selbstbeschränkung der Ausübung des prinzipiell unbeschränkten Naturrechts (jus in omnia) anregt, damit der Krieg „of every man, against every man“ nicht stattfinde. 35 Diese Regel wird erst zum wirklichen Gesetz, als sie sich bei der Gründung der civil society in einen Befehl des Souveräns umwandelt, d. h. als die Positivierung des natürlichen Gesetzes erfolgt, dank welcher „the Law of Nature, and the Civill Law, contain each other, and are of egal extent”. Von nun an werden die Naturgesetze zu „actually Lawes, and not before; and therefore also Civill Lawes; For is the Soveraign Power that obliges men to obey them.” 36 Es lohnt sich, die Tragweite jener ‚Deduktion‘ der subjektiven Rechte zu durchdenken. Denn weil das subjektive Naturrecht primär ist - das versi- 31 Hobbes, Thomas: Dialogue des Common Laws. Übersetzung Carrive. Paris 1990, S. 39. 32 Hobbes: Dialogue, S. 54. Am Anfang des Textes wiederholt Hobbes unter leicht veränderter Form die Formulierung der lateinischen Fassung des Leviathans („auctoritas, non veritas facit legem“): „Ce n’est pas la sagesse, mais l’autorité qui fait une loi“ (S. 29). 33 Gaius schreibt zum Beispiel, dass die jura populi romani „ex legibus, plebiscitis, senatusconsultis, constitutionibus principum, edictis eorum qui jus edicendi habent, responsis prudentium“ ausgemacht sind (Institutes, I.2, Paris 1979, S. 1). 34 Hobbes: Leviathan, Kap. 15, S. 216-217. 35 Hobbes: Leviathan, Kap. 13, S. 185. 36 Hobbes: Leviathan, Kap. 26, S. 314. <?page no="92"?> 92 Jean-François Kervegan chert Hobbes als erster so eindeutig klar -, ist es von Bedeutung, es zu beschränken, um von ihm wirklich Vorteile erhoffen zu können; bekanntlich schreibt das zweite Naturgesetz vor, dass ein jeder (unter Bedingung der Reziprozität) auf sein jus in omnia verzichtet. 37 Hobbes gesteht zwar zu, dass „there be some Rights, which no man can be understood by any words, or other signs, to have abandonned, or transferred“. 38 Indem die subjektiven Rechte aber insgesamt Ausdruck eines Selbsterhaltungsimperativs sind, ist es logisch unmöglich, auf diejenigen unter ihnen zu verzichten, deren Verlust ein Risiko für das eigene Leben und die eigene Sicherheit in sich schließen würde. Demgemäß darf keiner auf das Selbstverteidigungsrecht verzichten, selbst wenn er von Angestellten des Souveräns bedroht wird. Tut er es dennoch, dann „he was ignorant of how such words and actions were to be interpreted“. 39 Es stimmt sogar, dass diese Unveräußerlichkeit sich auch auf gewisse positive subjektive Rechte ausbreitet, und zwar speziell auf diejenige, deren Beseitigung den Imperativ der Rechtssicherheit gefährden würde. Das ist z. B. im Fall der Eigentumsordnung so, von der Hobbes feststellt, dass sie nach ihrer Festschreibung durch den souveränen Willen für ihn selbst verbindlich wird, obgleich der Souverän die Macht besitzt, diese Ordnung willkürlich anzutasten, ohne dass die Untertanen dazu berechtigt wären, dagegen aufzubegehren: The Soveraign, that is to say, The Common-wealth […] is understood to do nothing but in order to the common Peace and Security, this Distribution of Lands, is to be understood as done in order to the same: And consequently, whatsoever Distribution he shall in prejudice thereof, is contrary to the will of every subject, that committed his Peace, and safety to his discretion, and conscience; and therefore by the will of every one of them, is to be reputed voyd. 40 Man darf also behaupten, dass es für Hobbes ‚subjektive Grundrechte‘ gibt, die zum Teil natürlicher Art (wie das Selbsterhaltungsrecht), zum Teil aber auch positiver Art (wie das Recht auf den sicheren Genuss wohlerworbener Rechte und Güter) sind. Diese Rechte sind jedoch durch die Existenzbedingungen der Gesellschaft, ohne die kein Mensch irgendein wirkliches Recht genießen könnte, selbst strikt begrenzt. Mit wenigen Ausnahmen stehen die Rechte also unter der souveränen Macht, die sie auf einmal garantiert und begrenzt. Hierin zeigt sich die Komplexität der Hob- 37 Hobbes: Leviathan, Kap. 14, S. 190. 38 Hobbes: Leviathan, Kap. 14, S. 192. 39 Ebd. 40 Hobbes: Leviathan, Kap. 24, S. 297. <?page no="93"?> Die Dialektik der subjektiven Rechte als Komponente der Moderne 93 besschen Lehre oder, wie man vielleicht auch sagen könnte: ihre Zweideutigkeit. Nunmehr ist das subjektive Recht ontologisch primär und die Gesellschaft (als der Raum der eigentlichen, nämlich der politischen Gesetze) wird logisch sekundär: sie ist der (vom Sozialvertrag symbolisierte) Kunstgriff, der erfunden werden sollte, um die katastrophalen Wirkungen der unkontrollierten Ausübung ihres subjektiven Grundrechts durch Menschen zu verschleiern, die von ihrer Grundleidenschaft (der Furcht des gewalttätigen Todes) beherrscht sind. 41 Diese logische Unterordnung schließt jedoch nicht aus, dass dem Gesetz eine politische Priorität gegen das subjektive Recht, oder der Sicherheit gegen die Freiheit, erteilt wird, insofern jenes Recht in sich selbst widersprüchlich ist. Hierin besteht eine der Hauptlehren der Hobbesschen Konstruktion: wenn sie mit hinreichender Radikalität und Konsequenz durchgeführt ist, zieht die Problematik der subjektiven Rechte nämlich die Notwendigkeit ihrer Einrahmung, wenn nicht ihrer Beschränkung, mit sich. Deswegen, obwohl „die Rechtsfigur des subjektiven Rechts durch ihren höheren Abstraktionsgrad den Erfordernissen einer zunehmend funktional differenzierten Gesellschaft zu entsprechen sucht“, 42 kann Luhmann feststellen, dass dieses Recht eine „paradoxe Institution“ ausmacht. 43 Eine ausführliche historische Studie sollte selbstverständlich die bedeutenden Umdeutungen erforschen, die die naturrechtliche Auffassung der subjektiven Rechte während des 17. und 18. Jahrhunderts erfahren hat. Sie sollte weiterhin insbesondere erforschen, wie Locke durch die Idee des eigenen Werks („the labour of his body, and the work of his hands“) 44 ein unveräußerliches, ursprüngliches subjektives Recht auf „his property, that is, his life, liberty and estate“ 45 begründet und wie er auf diese Weise die Hobbessche Auffassung des jus naturale eher bestätigt als bestreitet, obwohl er die daraus gezogenen Folgen umkehrt. Während nämlich bei Hobbes die politische Gesellschaft die Lösung des Problems der Koexistenz gleichberechtigter Ansprüche Aller ausmacht, ist bei Locke die Existenz der politischen Gesellschaft selbst problematisch, indem ihre Notwendigkeit zum Zweck der Koexistenz der Rechte nicht auffällt. Des Weiteren sollte auch die Art erörtert werden, wie Kant aufgrund des einzigen „angeborenen“ Rechts, das die Freiheit ist, eine Deduktion der „erworbenen“ 41 Hobbes: Leviathan, Kap. 13, S. 186. 42 Luhmann: Ausdifferenzierung, S. 370. 43 Luhmann: Ausdifferenzierung, S. 365. 44 Locke: Second Treatise, Kap. V, § 27, S. 128. 45 Locke: Second Treatise, Kap. IX, § 87, S. 157. <?page no="94"?> 94 Jean-François Kervegan (wiewohl auch als ‚natürlichen‘) subjektiven Rechte durchführt. 46 Kant ist damit der Erfinder der einflussreichen Idee eines ‚Rechts auf die Rechte‘. Dank dieser begrifflichen Vereinigung der subjektiven Rechte unter der Schirmherrschaft der rechtlichen Freiheit sieht er sich imstande, eine knappe Definition zu formulieren: ein subjektives Recht ist ein „moralisches Vermögen, Andere zu verpflichten“. 47 Solche hochwichtigen Bestimmungen sind aber für das in diesem Text angestrebte Ziel nicht nötig: es geht hier nur darum, festzustellen, dass und worin der Begriff des subjektiven Rechts typisch modern ist. Das ist er nämlich tatsächlich, nicht nur deshalb, weil das ‚Subjekt‘ eine moderne Erfindung ist, sondern auch deshalb, weil das Verhältnis von subjektivem Recht und staatlicher Macht eine Brücke zwischen den beiden Bedeutungen des französischen Wortes ‚sujet‘ baut, und zwar zwischen Subjekt und Untertan, subjectum und subditus. Ich werde mich nun Hegels Werk zuwenden, indem seine Rechtsphilosophie, obwohl sie subjektives und objektives Recht nicht wörtlich unterscheidet, ein Bemühen darstellt, gerade deren Beziehung auf den Begriff zu bringen. II. Hegelsche Deklination der subjektiven Rechte Meines Erachtens ist die Art, wie die Lehre des objektiven Geistes die Gliederung von subjektivem und objektivem Recht, von right und law konzipiert, insofern bahnbrechend, als dass Hegel sich enthält, dem einen oder dem anderen eine einseitige begriffliche Priorität zu verleihen: bei ihm sind beide als gleichsam notwendige Komponenten der Idee des Rechts dargestellt. Die englischsprachigen Übersetzer der Grundlinien der Philosophie des Rechts sind in diesem Fall durch eine außerdem sehr vorteilhafte sprachliche Tatsache benachteiligt, und zwar weil sie über zwei Übersetzungsmöglichkeiten des Wortes ‚Recht‘ verfügen: einstimmig haben sie ‚Recht‘ durch ‚right‘ und folglich ‚Philosophie des Rechts‘ durch ‚Philosophy of Right‘ übersetzt. Diese Wahl könnte man wohl diskutieren, indem es relativ einfach zu prüfen wäre, ob vom quantitativen Standpunkt der Rekurs auf die ‚objektive‘ Bedeutung des Rechts (also law) den auf die 46 Kant: MS, AA 06, S 237. Einleitung in die Rechtslehre: „Freiheit (Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht“. 47 Ebd. <?page no="95"?> Die Dialektik der subjektiven Rechte als Komponente der Moderne 95 ‚subjektive‘ Bedeutung (also right) übersteigt. Wenn ich meinerseits zwischen den beiden Möglichkeiten wählen müsste (was zum Glück nicht der Fall ist! ), dann würde ich vielleicht den Titel der Rechtsphilosophie durch ‚Philosophy of Law‘ übersetzen, weil es mir einleuchtet, dass Hegel vor allem versucht, ein ‚subjektives‘ Verständnis des Rechts zu beseitigen, das einer moralischen Deutung des Rechts den Weg bahnen würde, wovon er sich (ebenso wie Kant und Fichte) aber gerade abzusetzen versucht. Die im § 29 der Grundlinien gegebene Definition des Rechts („Dies, dass ein Dasein überhaupt Dasein des freien Willens ist, ist das Recht“ 48 ) fördert zwar auf den ersten Blick das subjektive Verständnis durch den Hinweis auf den „freien Willen“. Die Anmerkung zum selben Paragraph macht dieses Verständnis jedoch unwahrscheinlich: Die angeführte Definition des Rechts enthält die seit Rousseau vornehmlich verbreitete Ansicht, nach welcher der Wille nicht als an und für sich seiender, vernünftiger, der Geist nicht als wahrer Geist, sondern als besonderes Individuum, als Wille des Einzelnen in seiner eigentümlichen Willkür, die substantielle Grundlage und das Erste sein soll. 49 Gegen Kant, der das Recht als eine „Beschränkung meiner Freiheit oder Willkür“, also gewissermaßen als Beschränkung meines subjektiven Rechts konzipiert, und gegen Rousseau, der „das Vernünftige“ (den ‚volonté générale‘) nur als Beschränkung der Freiheit versteht („on le forcera d’être libre“), weil er den Willen des Einzelnen (den ‚volonté particulière‘) als Ausgangspunkt nimmt, betont Hegel also, dass der Wille, der die Grundlage des Rechts ausmacht, nicht der Wille des Einzelnen, sondern der allgemeine, vernünftige Wille ist. Gleichermaßen erklärt der Paragraph 486 der Enzyklopädie, der die Definition des Rechts enthält, dass dieses Recht „nicht nur als das beschränkte juristische Recht, sondern als das Dasein aller Bestimmungen der Freiheit umfassend zu nehmen ist“; hierin gründet die Untrennbarkeit des subjektiven Rechts „als Dasein des freien Willens“ und des objektiven Rechts, d.h. der verpflichtenden rechtlichen Normen. 50 Daraus folgt eine Untersuchung des Verhältnisses von Recht und Pflicht, die für eine Untersuchung der Natur des subjektiven Rechts besonders lehrreich ist. 48 Hegel: Grundlinien, § 29, S. 45. 49 Hegel: Grundlinien, § 29 Anm., S. 45. 50 Hegel, G.W.F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. In: Werke. Bd. 10. Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1970, S. 303. <?page no="96"?> 96 Jean-François Kervegan Die Richtschnur der Ausführungen Hegels ist die Untrennbarkeit und Reziprozität der (subjektiven) Rechte und der durch die Normen des objektiven Rechts gesetzten Verpflichtungen. Es geht nämlich darum, festzustellen, dass „der Mensch […] insofern Rechte, als er Pflichten, und Pflichten, insofern er Rechte hat“, und dass infolgedessen „Pflicht und Recht in Eins [fallen]“. 51 Es lohnt sich also, die Sache etwas präziser zu untersuchen. Zum ersten besteht paradoxerweise „in Beziehung auf den subjektiven Willen“ 52 ein Vorrang der Pflicht über das (subjektive) Recht, während die herrschende Lehre der subjektiven Rechte die entgegengesetzte Meinung vertritt. Für Hegel impliziert der von der modernen Sprache der Rechte vorausgesetzte Standort des Rechtssubjekts (der Person) eine logische Priorität der Verpflichtung, also des objektiven Rechts. Das subjektive Recht soll aus der Perspektive des substantiellen, objektiven Willens, nicht aus derjenigen des subjektiven Willens, definiert werden: „ein Dasein ist ein Recht nur auf dem Grund des freien substantiellen Willens“. 53 Die Erklärung dieses Paradoxons kann darin gesehen werden, dass wir hier „im Felde der Erscheinung“ stehen, d.h. wir stellen uns auf den Standpunkt einer Deskription der Art, wie die wirklichen Rechtsverhältnisse den Betroffenen erscheinen. Von diesem Standpunkt aus gesehen, erscheint zuerst ‚das Recht‘ als Stifter einer Reihe von Verpflichtungen, durch die die Person belastet ist, und mit denen die subjektiven Rechte des Rechtspartners gebunden sind. Es gilt also: „Im Felde der Erscheinung sind Recht und Pflicht zunächst so Correlata, daß einem Rechte von meiner Seite eine Pflicht in einem anderen entspricht“. 54 Hier hat man es mit ebenjenem Rechtstitel zu tun, den die gegenwärtige Rechtsphilosophie ein claim-right nennt. 55 Wenn wir nun nicht mehr auf dem Standort einer Phänomenologie des rechtlichen Bewusstseins, sondern auf dem des ‚objektiven Willens‘ stehen, kommen wir zu der Feststellung, dass wenigstens in Einzelfällen dieselbe Rechtslage bzw. dasselbe Rechtsverhältnis als Verpflichtung und als subjektives Recht beschrieben werden dürfen. Genau jenes, das mir als eine mich belastende Verpflichtung erscheint, ist auch, objektiv gesprochen, ‚mein Recht‘. Dies gilt allerdings nur, wenn es stimmt, dass (gemäß der 51 Hegel: Grundlinien, § 155, S. 143. 52 Hegel: Enzyklopädie (1830), § 486, S. 303. 53 Ebd. 54 Hegel: Grundlinien, § 155, S. 143. 55 Siehe Hohfeld, Wesley Newcombe: Fundamental legal conceptions as applied in judicial reasoning (1913-1917). New Haven 1964, S. 36-38. <?page no="97"?> Die Dialektik der subjektiven Rechte als Komponente der Moderne 97 Bedeutung des Wortes jus in der römischen Jurisprudenz) ‚mein Recht‘ nicht nur das bezeichnet, wozu ich ‚berechtigt‘ bin, oder das, was ich von einem Anderen beanspruchen darf, sondern auch ‚meinen Anteil‘ überhaupt (das, was mir zukommt, welches auch Lasten, oder sogar eine Strafe beinhalten kann) beinhaltet. Diese erweiterte, jedoch völlig ‚klassiche‘ Auffassung des ‚subjektiven‘ Rechts als das, was die Rechtslage einer Person bestimmt, erklärt, dass Hegel ohne provokative Absicht versichert, dass die dem Verbrecher erteilte Strafe „sein Recht“, „sein eignes Recht“ sei. 56 Das Recht ist das, was dem Verbrecher zukommt, „sein Anteil“. Insofern ist es auch, der streitbaren Deutung Hegels folgend, sein ‚subjektives Recht‘, indem die Strafe nämlich - selbst die Todesstrafe - die Würde des Täters darin wiederherstellt, dass sie ihn mit sich selbst sowie mit der objektiven Ordnung des Rechts ‚versönhnt‘: „Dass die Strafe darin als sein eigenes Recht enthaltend angesehen wird, darin wird der Verbrecher als Vernünftiges geehrt“. 57 Bei näherer Betrachtung bekommt aber die aus der ‚antisubjektivistischen‘ Stellung Hegels resultierende Reziprozität von subjektiven Rechten und Verpflichtungen keine identische Bedeutung in den verschiedenen Sphären des objektiven Geistes. In den beiden ersteren, der des abstrakten Rechts und der der Moralität, herrscht „der Schein des Unterschieds der Rechte und der Pflichten“: 58 Im Felde der Erscheinung sind Recht und Pflicht zunächst so Correlata, daß einem Rechte von meiner Seite eine Pflicht in einem anderen entspricht. 59 Hegel teilt also, allerdings vom Standpunkt der Erscheinung ausgehend, die übliche Meinung: meinem subjektiven Eigentumsrecht auf eine Sache korrespondiert die Verpflichtung des Anderen, ihre Unantastbarkeit zu respektieren. Er bleibt aber nicht dabei stehen. „Dem Begriffe nach“ enthält ‚mein Recht‘ nämlich für mich auch eine Verpflichtung: die Pflicht, im Rechtsgeschäft den Forderungen meiner Persönlichkeit gewachsen zu sein - ein eigentlich sehr „lockesche[r]“ Gedanke. Auch in der Sphäre der Moralität kann es demnach eine Diskrepanz zwischen dem Recht, das die Subjektivität beansprucht (ihre ‚Absicht‘), und der objektiven Norm des Guten, unter die sie sich unterwerfen soll, geben. In der sittlichen Sphäre da- 56 Hegel: Grundlinien, § 100, Hegel, Grundlinien, S. 92-93. 57 Ebd. 58 Hegel: Enzyklopädie (1830), § 486, S. 303. 59 Hegel: Enzyklopädie (1830), § 486 Anm., S. 303. <?page no="98"?> 98 Jean-François Kervegan gegen „ist beides [Pflicht und Recht] zu seiner Wahrheit, zu seiner absoluten Einheit gelangt“, obgleich der „Anschein der Verschiedenheit“ fortbesteht. Unter demselben Gesichtspunkt haben die sittlichen Subjekte (die ‚Bürger‘) Rechte und Pflichten; indem ich meine Verpflichtungen ausfülle, verwirklichen sich meine Rechtsansprüche, welche demnach zu subjektiven Rechten werden. Hegel erwähnt mehrere Beispiele dieser Untrennbarkeit von Recht und Pflicht: Die Rechte des Familienvaters über die Mitglieder sind ebensosehr Pflichten gegen sie, wie die Pflicht des Gehorsams der Kinder ihr Recht, zu freien Menschen erzogen zu werden, ist. Die Strafgerechtigkeit der Regierung, ihre Rechte der Verwaltung usf. sind zugleich Pflichten derselben, zu strafen, zu verwalten usf., wie die Leistungen der Staatsangehörigen an Abgaben, Kriegsdiensten usf. Pflichten und ebenso ihr Recht an den Schutz ihres Privateigentums und des allgemeinen substantiellen Lebens sind, in dem sie ihre Wurzel haben. 60 Was aber die zentrale These Hegels, die „absolute Identität der Pflicht und des Rechts“ 61 betrifft, bedeutet dies dennoch nicht, dass die einer Rechtslage zukommenden Rechte und Verpflichtungen inhaltlich identisch sind, obgleich sie natürlich aus demselben Rechtsverhältnis entstehen. Nehmen wir ein Beispiel: innerhalb einer Familie hat der Sohn Pflichten (etwa dem Vater gehorchen) und Rechte (etwa eine Ausbildung zu genießen); diese Pflichten und Rechte haben nicht denselben Inhalt, sie sind jedoch reziprok und korrelativ. Dasselbe gilt für den Staatsbürger, dessen Verpflichtung, Steuern zu bezahlen, dem korrelativen Recht zur Sicherheit bzw. weiteren verschiedenen Leistungen des Staates korrespondiert. Eigentlich herrscht hauptsächlich „im Privatrechtlichen und Moralischen“ der egalitäre Formalismus der Rechte und Verpflichtungen. Formell gesagt hat jede Rechtsperson, jedes moralische Subjekt dieselben Rechte und Verpflichtungen, und jene Rechte und Verpflichtungen haben die Rechte und Verpflichtungen des Anderen als Korrelate. Auf der anderen Seite bringen die sittlichen Verhältnisse eine institutionelle Differenzierung der Rechte und Verpflichtungen mit sich. Die Rechte und Verpflichtungen des Familienglieds, des „Bürger als bourgeois“, des Staatsbürgers sind nicht identisch. In jedem Fall aber definiert die institutionelle Stellung untrennbare, dazu gehörende Rechte und Pflichten. Das Wichtigste aber, so betont Hegel, ist es schließlich, dass eine jede dieser Rechtslagen, sogar die des Bürgers, subjektive Rechte sowie Pflichten impliziert: 60 Hegel: Enzyklopädie (1830), § 486 Anm., S. 304. 61 Hegel: Grundlinien, § 261 Anm., S. 209. <?page no="99"?> Die Dialektik der subjektiven Rechte als Komponente der Moderne 99 Das Individuum muss in seiner Pflichterfüllung auf irgendeine Weise zugleich sein eigenes Interesse, seine Befriedigung oder Rechnung finden, und ihm [muß] aus seinem Verhältnis im Staat ein Recht erwachsen, wodurch die allgemeine Sache seine eigene besondere Sache wird. 62 Kurz gesagt: die phänomenale Korrelativität der Rechte und Pflichten, d.h. der subjektiven Rechte und des objektiven Rechts deckt in der Tat ihre begriffliche Identität ab - eine Identität, die sich völlig manifestiert, wenn man den Formalismus der abstrakt-rechtlichen und der moralischen Verhältnisse überspringt. Diese Korrelativität selbst setzt jedoch die moderne Freiheit des Rechtssubjekts voraus, ohne welcher es kein subjektives und kein objektives Recht, keine Pflichten und keine Rechte geben kann: die „persönliche Freiheit des Menschen“ ist „das eine Prinzip der Pflicht und des Rechts“. 63 Daraus folgt eine übliche moderne Überzeugung: „wer keine Rechte hat, hat keine Pflichten, und umgekehrt“. 64 Aber Hegel verschafft ihr eine erneute Grundlage: nur ein institutionelles, nicht etwa ein naturrechtliches Verständnis des Rechts, auch des ‚subjektiven Rechts‘, ist imstande, die Reziprozität von rights und duties als Wirkung eines und desselben Rechtsverhältnisses zu begreifen. Diese Deutung bleibt auch für die gegenwärtige Theorie der subjektiven Rechte fruchtbar. 62 Ebd. 63 Ebd. 64 Hegel: Enzyklopädie (1830), § 486 Anm., S. 304. <?page no="101"?> Bildung, Logik und Wissenschaft in Hegels theoretischer und praktischer Philosophie (1801-1805) Kai-Uwe Hoffmann Es ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich, dass die Begriffe Bildung, Logik und Wissenschaft in Hegels Jenaer Zeit in einem engen Zusammenhang stehen. Wie sollte sich ein solcher Zusammenhang herstellen und begründen lassen? Welchen Sinn ergibt es überhaupt, davon auszugehen? Das Besondere an den in der Jenaer Zeit veröffentlichten Schriften, Entwürfen und durch Nachschrift erhaltenen Vorlesungen, die vor der Phänomenologie des Geistes Hegel als Autor zugeschrieben werden können, ist, dass gerade diese mit dem Ziel verfasst worden sind, wissenschaftliche Kriterien dem Projekt der Philosophie zu Grunde zu legen. Vor dem Hintergrund dieses Programms treten Bildung und Logik in ein Konkurrenzverhältnis, das es hier zu untersuchen gilt. In der Jenaer Zeit entwickelt Hegel diverse Strategien, um eine Weise der philosophischen Erkenntnis, die er als für bestimmte Zwecke unzulänglich auszeichnet, kritisch untersuchen und aufheben zu können. Die Unzulänglichkeit, die dem Verstandesvermögen zuzusprechen ist, wird zurückgeführt auf eine durch dieses erzeugte ontologische Konzeption, die aus Hegels Perspektive keine adäquate Erkenntnis der Wirklichkeit ermöglicht. Die erkenntnistheoretischen Mittel, die uns durch dieses Vermögen an die Hand gegeben werden, sind deshalb als unzureichend auszuzeichnen, weil die Wirklichkeit in einem additiven Sinne als aus partikularen Momenten bestehend erfasst wird, wodurch keine einheitliche Struktur gewonnen werden kann. Im Gegensatz dazu fordert Hegel: die Wirklichkeit lasse sich nur angemessen erkennen, wenn wir erstens auf das Vernunftvermögen zurückgreifen und zweitens die Wirklichkeit als eine lebendige Totalität erfassen. Die grundlegend falsche Einsicht in die Verfassung der Wirklich- <?page no="102"?> 102 Kai-Uwe Hoffmann keit, die durch eine Favorisierung des Verstandesvermögens produziert wird, hat fatale Konsequenzen nicht nur für die Wissenschaftskonzeption im Allgemeinen, sondern auch für die Ausprägungen der Einzelwissenschaften. Wenn wir nämlich, so Hegel, nicht in der Lage sind, ein ontologisches Modell und eine dieses beinhaltende systematisch ausgearbeitete Wissenschaft anzubieten, das die Struktur derselben mittels des Vernunftvermögens auf eine angemessene Weise wiedergibt, dann führt dies zu erheblichen Schwierigkeiten bezüglich der theoretischen und der praktischen Philosophie sowie der Weise der Verknüpfung beider Disziplinen. Solche wissenschaftlichen Modelle, die als defizitär ausgezeichnet werden, fasst Hegel in der Jenaer Phase unter dem Oberbegriff Bildung des Zeitalters zusammen. Alle unter diesen Begriff fallenden philosophischen Konzepti o nen zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass sie dem Verstandesvermögen einen gewissen Vorrang geben. Wissen und Wirklichkeit werden hier nicht in ihrer Wechselbeziehung betrachtet. Der Erkenntnisvorgang führe zudem in eine bestimmte Form von antinomischer Widersprüchlichkeit, deren Auflösung nicht, jedenfalls nicht mit diesen Mitteln, in Aussicht gestellt werden könne. Bildung hat im Gegensatz dazu immer auch einen positiv-prozessualen Charakter, im Sinne der Bildung eines kohärenten wissenschaftlichen Systems. Beide Bildungsbegriffe stehen in der Jenaer Zeit in einem gewissen Spannungsverhältnis, das es unter Rekurs auf die Setzung wissenschaftlicher Standards aufzulösen gilt. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, mit welchen Mitteln Hegel den Modellen, die unter dem Begriff der Bildung des Zeitalters subsumiert sind, entgegenzuwirken versucht. Hierbei werde ich so vorgehen, dass ich zuerst kurz den Lösungsansatz der Differenzschrift 1 aufzeige, der auf eine Konzeption des Bedürfnisses nach Philosophie rekurriert, und dann eine weitere, in der Hegelforschung viel diskutierte Strategie untersuche, welche mit Hilfe einer Logikkonzeption das Problem des Verstandes zu lösen beabsichtigt. Im zweiten Teil der Untersuchung gehe ich auf die ersten Aussagen zu einer Systemkonzeption ein und werde zeigen, dass Hegel hier auf der einen Seite beide Strategien parallel laufen lässt und auf der anderen Seite bereits andeutet, in welches systematische Grundgerüst die Wissenschaften, insbesondere auch die praktische Philosophie einzufügen sind. Der die Konzeptualisierung der praktischen Philosophie und die darin begriffene Kritik am Bildungsbegriff betreffende Argumentationsstrang wird im Anschluss daran am Beispiel des Naturrechtsaufsatzes vor dem 1 Die Werke Hegels werden zitiert nach der Ausgabe Hegel, G.W.F.: Gesammelte Werke. Hg. v. der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Hamburg 1968ff. <?page no="103"?> Bildung, Logik und Wissenschaft in Hegels Philosophie 103 Hintergrund der Kriterien, die an die Philosophie als zentraler Wissenschaft gestellt werden, nachgezeichnet. Im abschließenden Teil ist aufzuzeigen, dass dem bildungskritischen Argument in den Jenaer Systementwürfen II nur noch eine marginale Funktion zukommt, dafür jedoch die Logikkonzeption als vorerst rechtmäßige Strategie gegen die Verstandesbildung vollständig zur Geltung kommt. Hegel entwickelt das bildungskritische Argument in der sogenannten Differenzschrift. 2 Es steht in engem Zusammenhang mit dem Sachverhalt, der als das Bedürfnis der Philosophie gekennzeichnet ist. Den Ausgangspunkt einer Problemlage verortet Hegel zunächst historisch. Zugleich greift er auf die eingangs erwähnte ontologische Konzeption zurück, welche besagt, dass die Wirklichkeit nur als lebendige Totalität aufzufassen ist. Kann die Wirklichkeit nicht mehr als eine solche lebendige Totalität erkenntnistheoretisch begriffen werden, so ist ein Herausgetretensein des Bewusstseins aus der vorausgesetzten Totalität zu diagnostizieren. Dieser Ansatz wird umschrieben mit dem Begriff der Entzweiung. In eine problematische Perspektive rückt der Begriff, wenn Gegensätze sich unauflösbar verfestigen. Hegel erblickt eine solche Verfestigung, für welche das Verstandesvermögen verantwortlich zu machen ist, in einem historischen Bildungsprozess. Das Hauptgebrechen der kritisierten Entwicklung besteht darin, dass im Rahmen von Versuchen der Bestimmung des Absoluten lediglich partikulare Ansichten produziert worden seien, die zu einer „Totalität der Beschränkungen“ 3 zusammengesetzt sind. Die Ursache für jene Fehlentwicklung in der Bildung wird erblickt in einem Ablösungsprozess der Erscheinung des Absoluten vom Absoluten selbst, was einhergeht mit einem Bedeutungsverlust des systematischen Ansatzes eines allumfassenden Zusammenhangs, dessen Momente in einer lebendigen Wechselbeziehung zueinander stehen. Entscheidend für die folgende Argumentation ist nun, dass eben die Form der Entzweiung, die in der historischen Entwicklung zur Verfestigung der Gegensätze geführt haben soll und mit dem Begriff der Bildung identifiziert wird, das Bedürfnis der Philosophie erweckt. Es entsteht demnach ein notwendig zu überbrückendes Spannungsverhältnis zwischen den unter die Bildung des Zeitalters fallenden systematischen Ansätzen und einer auf Vernunft basierenden Philosophie, welche den unrechtmäßigen 2 Eine ausführliche Analyse des hier im ersten Teil Zusammengefassten findet sich in: Hoffmann, K.-U.: Die Funktion der Bildungsbegriffe in Hegels Differenzschrift. In: Freiheit und Bildung bei Hegel. Hg. v. J. Chotaš et al. Würzburg 2013. 3 GW 4, S. 13. <?page no="104"?> 104 Kai-Uwe Hoffmann Geltungsanspruch des Verstandesvermögens durchschaut, überwindet und die Forderung nach Einheitlichkeit der Wissenschaft umzusetzen in der Lage ist. Obwohl in der Differenzschrift keine Ausarbeitung der systematischen Konzeption aufzufinden ist, wird deutlich gemacht, mit welchen methodischen Mitteln das Unternehmen ein erfolgversprechendes werden kann. Der als grundlegend defizitär ausgewiesene Ausgangszustand der Bildung des Zeitalters dient gerade als Motor, indem dadurch erst das Bedürfnis nach Philosophie als treibende Kraft hervorgerufen wird. Dieses Bedürfnis hat seinen Gegenstand, die systematische Philosophie, in zwei Etappen zu entwickeln bzw. in positiver Weise zu bilden: Erstens muss das adäquate Prinzip der absoluten Identität generiert werden und zweitens ist ein philosophisches System durch Herstellung eines umfassenden Beziehungsgeflechts der vorliegenden mannigfaltigen Relationen zu entwickeln, das dann als objektive in sich selbst geschlossene Totalität ausgezeichnet werden kann. Neben dem bildungskritischen Argument, das der positiven Bildung eines philosophischen Systems vorausgesetzt ist, deutet sich in der Differenzschrift ein weiteres Modell der Kritik an fixierten Verstandesbestimmungen an, was unter dem Begriff der Konzeption einer Logik in der Hegelforschung diskutiert wurde. Die Debatte ging der Frage nach, ob die Logikskizzen- und entwürfe, wie sie ab 1801/ 02 auftauchten, bereits systematisch in der Differenzschrift angelegt sind, denn wesentliche Konstituenten und Methoden der Logik liegen bereits vor. Hierzu gehören unter anderem die Idee der Nachahmung der Vernunft durch den Verstand sowie die Rede von einer negativen Seite der Vernunft. Ich möchte nun so weit gehen zu behaupten, dass die Differenzschrift mehr bietet als nur methodische Ansätze der ersten Logikentwürfe. Zugleich will ich die These zurückweisen, dass zu diesem Zeitpunkt bereits eine vollständig ausgearbeitete Konzeption vorlag. Die Wurzeln der frühen Logik verbergen sich meines Erachtens hinter den kritischen Argumenten, die gegen die Weise der Aufstellung und Ableitung von Kants Kategorien im Rahmen der Analytik der Begriffe, welche ein zentrales Element der transzendentalen Logik der Kritik der reinen Vernunft darstellt, und gegen die Deduktion der Grundsätze von Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre vorgebracht werden. Kant habe zwar das richtige Deduktionsprinzip aufgestellt, aber durch den Aufweis von lediglich 12 bzw. 9 Kategorien, wenn man die Modalitätskategorien außer Acht lässt, bleibe „ein ungeheures empirisches Reich <?page no="105"?> Bildung, Logik und Wissenschaft in Hegels Philosophie 105 der Sinnlichkeit und Wahrnehmung“ 4 übrig. Die reinen Verstandesbegriffe werden zudem als tote Fächer ausgewiesen, die den Dingen an sich absolut entgegengesetzt sind. Hegel kommt deshalb zu dem Schluss, dass die Ableitung der Kategorien unter dem Prinzip des negativen Räsonnierens stehe und nicht systematisch vollzogen worden sei. Später wird er die Kategorientafel als „empirisch aufgerafft“ 5 bezeichnen. Diese Argumentation impliziert natürlich auch eine Kritik an der vieldiskutierten Vollständigkeit der von Kant aufgestellten Tafel. In ähnlicher Weise wird die Ableitung der Grundsätze der Wissenschaftslehre kritisiert. Diese seien zwar aus dem richtigen Prinzip entwickelt worden, aber Hegels Urteil zufolge ist Fichte nicht in der Lage, die Realität als Identität auf alle Momente des Systems zu übertragen und die Immanenz im Absoluten zu gewährleisten, denn mit dem Verlassen des „Begriffs, den die Spekulation von sich aufstellt“ 6 wird das Prinzip selbst aufgegeben. Die Grundsätze werden so zu abstrakten Verstandessätzen. Dennoch scheint Hegel ein starkes Interesse an der Weise der Ableitung der Grundsätze zu haben. Parallelen sind vor allem hinsichtlich der Bestimmungen des Satzes vom Grund zu beobachten, denn die Sätze der Identität und des Widerspruchs setzen sich hier wechselseitig voraus. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Positionen besteht jedoch darin, dass laut Hegel der Satz des Grundes als eine Antinomie anzuerkennen ist. Gelingt dies nicht, so bleibt das Niveau der Vernunft unerreichbar. Die Antinomie ist zudem „der höchste formelle Ausdruck des Wissens und der Wahrheit“ 7 und fällt somit in den formalen, sich selbst zerstörenden Bereich der Spekulation, der zugleich als negative Seite der Vernunft gekennzeichnet wird. Wenn nun Hegel im Zusammenhang mit seiner Reinhold/ Bardili-Kritik der Differenzschrift die logische Erkenntnis als diejenige ausweist, die sich auf der Basis der Anerkennung der Antinomie in der Vernunft selbst vernichtet, 8 so lässt dies den Schluss zu, dass Hegel zu diesem Zeitpunkt eine Identifizierung der negativen Seite der Vernunft mit der Logik im Sinn gehabt haben könnte. 9 Da aber die Stellen 4 GW 4, S. 6. 5 GW 5, S. 272. 6 GW 4, S. 6. 7 GW 4, S. 26. 8 Vgl. GW 4, S. 82. 9 Ein solcher Schluss ist deshalb möglich, weil die negative Seite der Vernunft ausgezeichnet wird als die sich selbst zerstörende formale Erscheinungsweise der Vernunft, die auf Reflexion basierende „Synthesen Entgegengesetzter“ (GW 4, 27) als Antinomien ausweist. Die logische Erkenntnis, von der auf S. 82 die Rede ist, muss gleichermaßen, <?page no="106"?> 106 Kai-Uwe Hoffmann in der Differenzschrift, die den Begriff der Logik thematisieren, kein einheitliches Bild zeichnen und argumentative Unterschiede auszumachen sind, scheint Hegel offensichtlich keine klare Logikkonzeption vor Augen gehabt zu haben. Dass gerade Kants Kategorien und Fichtes Grundsätze für die frühe Logikkonzeption Hegels eine fundamentale Rolle gespielt haben, lässt sich sehr gut daran aufzeigen, wie diese Formen in Hegels Vorlesung über Logik und Metaphysik von 1801/ 02, die von Troxler nachgeschrieben wurde, transformiert in Erscheinung treten. Es ist davon auszugehen, dass Hegel die drei Grundsätze im Sinn hatte, wenn er behauptet, dass die Begründung der Bestimmtheiten „unter einem Setzen, Entgegensetzen und Beziehen hervorgehet“ 10 . Hegel leitet hieraus die Kategorien Qualität, Quantität und Relation her, wobei die Modalität, im Gegensatz zur Differenzschrift, ebenfalls in Betracht gezogen wird. Anhand der frühen Vorlesungsfragmente lässt sich zeigen, dass beide Modelle der Kritik auch hier eine zentrale Funktion haben und insbesondere im Kontext der Debatte um die Frage nach der Notwendigkeit einer Einleitung in die Philosophie zur Anwendung kommen. Im ersten Fragment der Vorlesung Introductio in Philosophiam wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Philosophie keine Disziplin benötigt, welche in diese einleitet. Hegel liefert hierfür folgende Argumente: (1) nur Einzelwissenschaften benötigen eine Einleitung, damit in dieser der Zusammenhang zur Philosophie deutlich gemacht werden kann, (2) die Philosophie zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie nicht durch andere Wissenschaften begründbar ist, weil diese als wahr zu bestimmende Wissenschaft auf dem Prinzip der Vernunft basiert, und (3) die Philosophie darf sich nicht selbst in eine Einleitung verwandeln. Zugleich wird die Möglichkeit einer Alternative angedeutet, wenn behauptet wird, „daß in Rüksicht auf die empirischen Anfangspunkte des Philosophirens eine Einleitung in die Philosophie möglich ist“ 11 , welche als Brücke von subjektiven Standpunkten des Reflektierens zu einem objektiven Standpunkt dienen soll. Hegel rekurriert hier auf die Vollzugsschritte des Bedürfnisses der Philosophie in der Differenzschrift, denn Ausgangspunkt der Kritik der ersten Stufe sind „verschiedene Standpunkte und mannigfaltige Formen der Bildung und Subjekwenn diese bis zur vernünftigen Erkenntnisweise vordringt, in einen Selbstvernichtungsprozess führen, insofern sie dann unter das Gesetz der Antinomie fällt. 10 Düsing, K. (Hg.): Schellings und Hegels erste absolute Metaphysik (1801-1802). Zusammenfassende Vorlesungsmitschriften von I.P.V. Troxler. Köln 1988, S. 71. 11 GW 5, S. 261. <?page no="107"?> Bildung, Logik und Wissenschaft in Hegels Philosophie 107 tivität“ 12 . Im Rahmen dieser Strategie, die mit dem Begriff Philosophieren bezeichnet ist, wird eine Selbstaufklärung des sich auf der Ebene einer partikular-ontologischen Perspektive bewegenden Subjekts anvisiert. Drei Voraussetzungen liegen dieser Konzeption zu Grunde: Das philosophierende Subjekt muss sich seiner problematischen Sichtweise bewusst sein, es muss das Werkzeug der Vernunft zu Grunde gelegt werden können, das die Basis der Selbstkritik ausmacht, und schließlich muss das reflektierende Subjekt eine Idee von einer Philosophie als lebendiger Totalität besitzen, damit eine Vermittlungsleistung zwischen dem subjektiven Philosophieren und einer als objektiv gekennzeichneten Philosophie, deren systematische Ableitung an ein absolutes Prinzip gebunden werden soll, möglich ist. Ziel dabei ist laut Ankündigung des Kritischen Journals die „Aufnahme jedes Teils der allgemeinen Bildung ins Absolute und Eröffnung der Aussicht auf die wahre Palingenesie aller Wissenschaften durch Philosophie“ 13 . Die Momente der defizitären Perspektive auf die Wirklichkeit sind demnach ganz wie ein Puzzle nur unter Verwendung der richtigen Methode zusammenzusetzen, damit ein einheitliches Bild des Ganzen generiert werden kann. Im Rahmen dieser Metaphorik bewegt sich auch die erste noch erhaltene Systemskizze, welche in dem Fragment Die Idee des absoluten Wesens zu finden ist. Hier wird das absolute Wesen als spekulative Idee und als Universum dargestellt, indem das unbestimmte Bild eines organischen Ganzen systematisch ausgeführt wird. Die erste Etappe des Selbsterkenntnisprozesses des Absoluten fällt in den Gegenstandsbereich der Logik, deren Aufgabe es ist, die der Idee inhärenten „Bestimmtheiten der Form zu absoluten zu constituieren“ 14 . Die Logik wird hier bereits als unter den Begriff der Metaphysik subsumiert erfasst, was damit begründet wird, dass Logik als metaphysikkritisches Element zum Einsatz kommt, und dies in einer Weise, dass die „falsche Metaphysik der beschränkten philosophischen Systeme“ 15 attackiert werden kann. Von der Logik aus geht die Wissenschaft über in die Realität der Idee als Darstellung des sogenannten Leibes der Idee, der untergliedert ist in das System des Himmels und das System der Erde, welches die Bereiche des Organischen, Mechanischen und Chemischen abdeckt. Von diesem Bereich, also dem der Natur, findet ein Übergang in die Philosophie des Geistes, d.i. die Organisation des 12 Ebd. 13 Hegel, G.W.F.: Jenaer Schriften 1801-1807. In: Werke. Bd. 2. Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1970, S. 170. 14 GW 5, S. 263. 15 Ebd. <?page no="108"?> 108 Kai-Uwe Hoffmann Geistes als absolute Sittlichkeit, statt. Wir haben es hier also mit der Struktur logische Metaphysik, Naturphilosophie und Geistphilosophie zu tun, die für die anschließende Thematisierung des Naturrechtsaufsatzes von entscheidender Bedeutung ist. Zunächst soll jedoch der Argumentationsgang bezüglich der Entwicklung der Logikskizze weiterverfolgt werden, um zeigen zu können, mit welcher Intensität und mit welchen spezifischen Argumenten dem bildungskritischen Modell ein schlagkräftiges Pendant entgegengesetzt wird. Die genannte Logikskizze wird entwickelt in dem zur Vorlesung Logica et Metaphysica gehörendem Fragment mit dem Titel Dass die Philosophie. Demnach hat die Logik auf einer ersten Ebene die Formen der Endlichkeit als nicht empirisch aufgerafft aufzustellen. Dies soll durch eine Ableitung aus einem Vernunftprinzip gelingen, wobei die Formen der Endlichkeit jedoch zunächst in ihrer Isolation auftreten. Hegel macht auch deutlich, wie dies zu denken ist, denn die Formen entstehen durch Abstraktion von der vorausgesetzten absoluten Identität, dem Vernunftprinzip. Die zweite Ebene gilt als Nachweis, dass der Verstand die Vernunft bei der Produktion von Identitäten nachahmt. Um diese Erkenntnis herbeizuführen, greift Hegel auf eine zusätzliche Strategie zurück. Die Produktionen des Verstandes müssen beständig mit einem von der Vernunft gelieferten Urbild, der Idee der absoluten Identität, abgeglichen werden. Die dritte Ebene hat die Aufhebung der endlichen Formen zu realisieren und den Nachweis zu erbringen, dass diese dennoch eine bestimmte Bedeutung für die Vernunft haben. Diese liegt darin, dass die endlichen Formen, wie sie aufgestellt werden, zwar mangelhaft, dennoch aber unabdingbar sind. Die dritte Ebene wird bezeichnet als negative Erkenntnis der Vernunft. Vieles erinnert hier an die Bestimmungen der Differenzschrift. Den drei Ebenen, die lediglich den allgemeinen Begriff der Logik darstellen, wird nun in einem weiteren Teil des Fragments folgende Ordnungsstruktur zugewiesen, die in keiner vorausgehenden Schrift auftaucht: Die erste Ebene entspricht der Aufstellung der Kategorien als Reflex des Absoluten. Die zweite Ebene stellt die Entwicklung der Begriffe, Urteile und Schlüsse dar. Die dritte Ebene hat die spekulative Bedeutung der Schlüsse aufzuzeigen und kennzeichnet den Übergang zur Metaphysik. Entscheidend ist nun, dass Hegel die Intention, die mit dem bildungskritischen Modell in Anschlag gebracht wird, nämlich die propädeutische Funktion des von endlichen Prämissen ausgehenden Philosophierens, explizit auf ein Modell der Logik überträgt, um des problematischen Vorgehens des Verstandesvermögens Herr zu werden und einen Übergang zum Begriff des Unendlichen schaffen zu können. Hegel untermauert die implizite Übertragung der propädeutischen Aufgabe von Modell 1 auf Modell 2 <?page no="109"?> Bildung, Logik und Wissenschaft in Hegels Philosophie 109 mit einem Autoritätsargument und einem Tauglichkeitsargument. Der Rückgriff auf die Struktur Logik und Metaphysik wird dem ersten Argument zufolge damit begründet, dass ein so gegliederter Vortrag der Philosophie auf eine lange Tradition zurückblicken kann. Das zweite Argument bezieht sich hingegen vorwiegend auf die Konstellation zwischen einer propädeutischen Logik und einer aus ihr abgeleiteten Metaphysik, die beide in den Bereich der Philosophie fallen. Wenn die Aufgabe der Philosophie durch die Erkenntnis des Absoluten als unendliches spekulatives Erkennen gekennzeichnet ist, so entsteht zwingend ein widerspruchreiches Verhältnis zwischen Spekulation und endlicher Erkenntnis, wie sie unter der Vorherrschaft der Verstandesvermögens generiert wird. Dieses Missverhältnis lässt sich nun dadurch auflösen, dass die Bestimmungen des endlichen Denkens, deren Qualität mit den endlichen Bestimmungen, die in den kritisierten Formen der Bildung des Zeitalters auftreten, vergleichbar ist, als Materie der Philosophie zur Anwendung kommen. Die endlichen Bestimmungen bilden den Gehalt, der durch die vernünftige Spekulation verknüpft wird, sodass der Charakter der Entgegensetzung, der zwischen den Einzelbestimmungen auszumachen ist, als aufgelöst gelten kann. Die Weise der Verknüpfung ist zu bestimmen als ein Identischsetzen von ursprünglich entgegengesetzten Bestimmungen. Wie im Falle des bildungskritischen Arguments ist es demnach nicht das Ziel, die partikularisierende Perspektive auf die Welt einfach zurückzuweisen. Hegel geht es vielmehr um die Untersuchung der Verbindungsmechanismen, die zwischen Bestimmungen vorherrschen. Erst durch die Auflösung der genuin selbstwidersprüchlichen Verknüpfung von Gehalten, wie sie die Verstandesperspektive aufbietet, durch die Vernunft kann die Wirklichkeit als lebendige Ganzheit und somit die wahre ontologische Konzeption realisiert werden. Auch im Naturrechtsaufsatz kommt das Argument der Bildungskritik zur Anwendung, hier jedoch im Bereich der praktischen Philosophie. Es wird deutlich, dass Hegels Grundmuster der Kritik sich durch alle Bereiche der Philosophie zieht. Die Kritik trifft hier im Einzelnen zwei Arten der wissenschaftlichen Behandlung des Naturrechts. Diese sind die empirische sowie die rein-formelle Auslegung. Die Erste wird dadurch charakterisiert, dass sie Verhältnisse wie zum Beispiel den Selbsterhaltungstrieb, Liebe, Hass oder Geselligkeit in der Begriffsform fixiert, ohne Form und Inhalt zu trennen. Die zweite kritisierte Version wird gekennzeichnet als eine, die den Gegensatz zwischen Begriffen und Anschauungen absolut setzt. Das bildungskritische Argument besteht nun nicht darin, dass, wie es Hegel des Öfteren formuliert, in einem schwachen Sinne eine Bestimmung lediglich <?page no="110"?> 110 Kai-Uwe Hoffmann fixiert wird, wofür das Verstandesvermögen verantwortlich gemacht wird, sondern es geht darum, dass eine Relation festgeworden und somit irreversibel ist. Im Fall der Empirie hat sich eine verkehrte Anschauung verfestigt, und im Fall der formalen Naturrechtsauffassung haben Abstraktionen - so nennt Hegel die beiden Seiten der Anschauung und des Begriffs - unauflöslich ihre feste Position eingenommen. Um Hegels Konzeption nachvollziehen zu können, die eine Lösungsstrategie für beide problematische Fälle darstellen will, ist es für das Verständnis hilfreich, einen Blick auf den Aufsatz Über das Wesen der philosophischen Kritik überhaupt und ihr Verhältnis zum gegenwärtigen Zustand der Philosophie insbesondere 16 zu werfen, der deutlich macht, an welchen Standards die Philosophie ausgerichtet werden muss, damit ihr der Status der Wissenschaft zugewiesen werden kann. Im Kritikaufsatz werden die Kriterien der Philosophie als Wissenschaft herausgearbeitet. Demnach kann es nur eine wahre und objektive Philosophie geben, und zwar diejenige, welche auf der Grundlage des Vernunftvermögens aufgestellt wird. Ein Pluralismus philosophischer Konzeptionen ist mithin ausgeschlossen. Die wahre systematische Philosophie kann dadurch generiert werden, dass die Vernunft, die zunächst als Idee auftritt, im Selbsterkenntnisprozess sich selbst zum Objekt macht. Hiermit soll zugleich die Aufgabe der Philosophie, das Erkennen des Absoluten, eingelöst werden können. Hegel zufolge kann die objektive Darstellungsweise der Idee nicht mit Hilfe des Verstandesvermögens erreicht werden, weil der Verstand bekanntlich dazu tendiere, ein Ganzes, das die Wirklichkeit ausmacht, in Teile zu zerlegen, und somit Beschränkungen produziere, statt, wie gefordert, das Ganze aus den Teilen zusammenzusetzen. Motor der Systementwicklung ist auch hier das bereits bekannte Bedürfnis nach Philosophie, das aus dem als desaströs ausgezeichneten Zustand von Bildung und Wissenschaften herrührt. Im Kritikaufsatz werden andere Philosophien am Maßstab dieser beiden Kriterien, also dem Prinzip und den Ableitungsbestimmungen, gemessen. Kommt ein Prinzip zur Anwendung, das bereits als ein Beschränktes auszuzeichnen ist, muss dieses als möglicher Kandidat ausscheiden, weil zwischen einem beschränkten Prinzip, wie es das Verstandesvermögen darstellt, und dem aus ihm abgeleiteten System, das eine objektive Totalität darzustellen hat, ein grundlegender Widerspruch bestünde. Die Idee der Argumentation wird an folgender Stelle ersichtlich: „Und doch ist das Ganze mehr oder weniger in objektiver Form, wenigs- 16 Im Folgenden: Kritikaufsatz. <?page no="111"?> Bildung, Logik und Wissenschaft in Hegels Philosophie 111 tens als Materialien, als eine Menge des Wissens vorhanden“. 17 Hegel beabsichtigt auch hier nicht, den Inhalt der Philosophie völlig neu und eigenständig zu entwickeln, sondern er greift auf das Vorhandene zurück. Es geht ihm vielmehr darum zu klären, wie und anhand welcher wissenschaftlicher Prinzipien und Kriterien der Inhalt strukturiert und abgeleitet wird. Diese wissenschaftlichen Normen sind mit kleineren Modifikationen im Naturrechtsaufsatz zu Grunde gelegt. Die Philosophie als absolute Wissenschaft folgt den Kriterien der reinen absoluten Idee, d.i. die Indifferenz zwischen Subjekt und Objekt sowie der Reflexion der Idee innerhalb der Wissenschaft als Methode der Systemgenerierung. Im Gefüge der Wissenschaften muss die Philosophie ganz im Sinne der Argumentation von Fichtes Schrift Über den Begriff der Wissenschaftslehre die Erstposition einnehmen, denn sie stellt die Normen für Wissenschaftlichkeit überhaupt bereit. Hegel geht sogar so weit, dass Philosophie die Kategorie der Wissenschaft selbst darstellt und somit Maßstäbe zu Grunde gelegt werden, an welchen der Grad der Wissenschaftlichkeit gemessen werden könne. An dieser Stelle setzt die Kritik an den beiden genannten Naturrechtsmodellen an. Das Naturrecht als genuin philosophische Disziplin ist aus dem Geltungsbereich der Philosophie entfernt bzw. an deren Ende gesetzt worden, weil das besondere Prinzip der Einzelwissenschaft keinerlei Beziehung zur Idee der Philosophie aufweist, was zur Folge hat, dass die beiden Weisen der Behandlung des Naturrechts als unwissenschaftlich auszuzeichnen sind. Deshalb müssen Einzelwissenschaften, insbesondere auch das Naturrecht, wieder in den Gesamtzusammenhang zurückgebunden werden. Dies wird folgendermaßen realisiert: Die Philosophie als das Ganze umschließt die als Teile des Ganzen ausgezeichneten Einzelwissenschaften durch Anbindung an das Prinzip, das den höheren Zusammenhang herstellt und so die Einzelwissenschaften zu wahrhaften Wissenschaften qualifiziert. Das Prinzip gewährleistet nicht nur Eigenständigkeit und Notwendigkeit der jeweiligen Einzeldisziplin, sondern es ist zugleich zuständig für die Grenzbestimmung der Einzelwissenschaft. Was bedeutet das nun für die empirische und die rein-formal-wissenschaftliche Behandlungsart des Naturrechts? Gemessen wird an den bereitgestellten Normen für Prinzip und Ableitungsform. In Bezug auf das Prinzip ergeben sich folgende Kriterien: (1) Die beurteilte Wissenschaft befindet sich entweder innerhalb der absoluten Einheit oder außerhalb derselben. (2) Die Einzelwissenschaft ist keine Wissenschaft, wenn das Prinzip keine relative, unvollständige Einheit oder 17 GW 4, S. 121. <?page no="112"?> 112 Kai-Uwe Hoffmann ein Verhältnis darstellt. Hegels Urteil lautet: beide Modelle befinden sich innerhalb der absoluten Einheit, erkennen jedoch das übergeordnete Prinzip nicht an. Das empirische Modell zerteilt das Ganze und vermischt empirische Anschauungen und das Allgemeine, die Begriffe, und das formellwissenschaftliche stellt einen absoluten Gegensatz zwischen Anschauungen und Begriffen auf. Beide Versuche führen zu Über- und Unterordnungsverhältnissen, insofern im ersten Fall die Göttlichkeit des Rechtszustandes über den Naturzustand gestellt wird, was eine Unterwerfung der Subjekte nach sich ziehe, und im zweiten Fall generiere die Herrschaft der Gesetze Zwang und Unfreiheit. Die Kritik trifft in gleicher Weise die Struktur der Ableitung, denn keine der genannten Positionen kann eine positive Organisation der Sittlichkeit realisieren. Das absolute Prinzip tritt in Form von partikularen Momenten in Erscheinung. Beide Modelle sind deshalb unter den Begriff der Bildung des Zeitalters zu subsumieren, weil sie nicht in der Lage sind, das absolute Prinzip zu erkennen. Sie verlieren somit den Bezug zur Philosophie als zentraler Disziplin, welche die Einheit der Einzelwissenschaften gewährleistet. Um seinen eigenen, bereits angedeuteten systematischen Ansatz realisieren zu können, entwirft Hegel folgende Struktur: Die erste Stufe bildet die Philosophie der Indifferenz als Einheit von Einheit und Vielheit. Die zweite Stufe verkörpert die Philosophie der physischen Natur. Hier nimmt das Viele die Erstposition ein. In der Philosophie der sittlichen Natur, der dritten Stufe, rückt hingegen die Einheit in die Erstposition. Abschließend ist der Weise der Verwendung beider Modelle in den Jenaer Systementwürfen II, die in enger Beziehung zu der Frage nach dem Anfang der Logik stehen, nachzugehen. Der Anfang jener Schrift ist nicht mehr erhalten und nur schwer nachkonstruierbar. Erst innerhalb des zweiten Teils, der Metaphysik, äußert sich Hegel über den Anfang der Logik: „Jene anfangende Einheit ist Resultat, aber daß sie Resultat ist, dies war an ihr gar nicht ausgesprochen; sie war ein subjektives Resultat, von welchem zu vermuten stand, daß ihm viel müsse vorangegangen sein, um mit ihm anzufangen.“ 18 Diese Stelle liefert zwei wichtige Informationen: Es kann erst in der Metaphysik, nachdem der Durchlauf durch die Bestimmungen der Logik erfolgreich durchgeführt worden ist, konstatiert werden, dass der Anfang Resultat einer Bewegung ist. Der resultative Charakter des Anfangs muss aber zweitens unterschieden werden, und zwar in eine subjektive und eine objektive Weise der Gewinnung des Anfangs der Logik. Die 18 GW 7, S. 129. <?page no="113"?> Bildung, Logik und Wissenschaft in Hegels Philosophie 113 subjektive ist eine, die bekannt ist aus den Jenaer Vorlesungsfragmenten von 1801/ 1802. Die objektive hingegen verweist auf eine Begründung des Anfangs der Logik durch den gesamten Gang der Logik selbst, als Freilegung des Grundes der Entwicklung. Betrachten wir zunächst die erste Herleitungsweise. In der Vorlesung Introductio in Philosophiam macht Hegel deutlich, dass es verschiedene Weisen gibt, wie man von einer subjektiven und verstandesmäßigen Betrachtung der Wirklichkeit eine Brücke schlagen kann zu einer objektiven, so z.B. durch das bildungskritische Argument. Der Anfang der Logik von 1804/ 05, der durch den Begriff der reinen Einheit gekennzeichnet ist, ist ganz offensichtlich Ergebnis solcher Akte der Überwindung subjektiver Standpunkte, zu welchen wahrscheinlich auch jener der Überwindung dieses bildungskritischen Arguments gehört, denn ebenso wie in der Vorlesung weist Hegel hier darauf hin, dass es verschiedene Wege gibt, um den geforderten Übergang zu schaffen. Im Gegensatz zu den relativ allgemein gehaltenen Bestimmungen, die im besagten Vorlesungsfragment aufzufinden sind, konkretisiert Hegel das Argument der Erhebung vom nichtphilosophischen subjektiven Denken zum objektivphilosophischen in einer Weise, die terminologisch an den Naturrechtsaufsatz erinnert. Im Rahmen der Ableitung des Grundsatzes vom ausgeschlossenen Dritten innerhalb des Metaphysikteils der Jenaer Systementwürfe II macht Hegel deutlich, wodurch das nichtphilosophische Denken gekennzeichnet ist: Hier aber ist es gesetzt, daß das Viele an sich in der Tat nur sei als das Entgegengesetzte, nur als in Beziehung mit dem andern. Und diese Differenz ist es eigentlich, zu welcher sich das nichtphilosophische Denken aus dem Anschauen zunächst erheben, aus der Gleichgültigkeit des Vielen heraustreten muß, dazu, daß das Viele an sich selbst schlechthin nur in Beziehung auf das Entgegengesetzte ist. 19 Die gekennzeichnete Weise zu denken, die nicht den Anforderungen einer objektiv-philosophischen Behandlungsart des Gegenstandes gerecht wird, ist demnach dadurch bestimmt, dass die Einheit, d.i. das Denken, und das Viele, also das mannigfach Gegebene, in einer unbestimmten bzw. gleichgültigen Beziehung zueinander stehen - ein Argument, das bereits im Kapitel Einfache Beziehung und ausführlich im Substantialitäts-Verhältnis der Logik entwickelt worden ist und hier vor allem gegen Kant in Anschlag gebracht wird, insofern es ihm nicht gelungen sei, die Substanzen in einen notwendigen Zusammenhang einzubinden. Die Dinge, die wir durch sinn- 19 GW 7, S. 133. <?page no="114"?> 114 Kai-Uwe Hoffmann liche Empfindungen wahrnehmen, treten demnach zufällig auf und werden als für sich seiende gekennzeichnet. Hegel moniert, dass die Notwendigkeit erst durch die kategoriale Systematik entsteht, wobei die externen Beziehungen überhaupt nicht reflektiert werden. Der Verstandesbegriff, so Hegel, befinde sich außerhalb des Raumes der seienden Substanzen, die, was offensichtlich als besonders problematisch empfunden wird, nicht mit Dingen an sich identifiziert werden können. Hier greift abermals das Argument, das Hegel bereits in den Berner Schriften vorbringt: Kategorien im Kantischen Sinne seien leere Gedankendinge, die in gewisser Weise getrennt von Daten der Außenwelt auftreten. Der Status des Fürsichseins der Dinge der Erscheinungswelt und die durch die Beziehungslosigkeit begründete Leerheit der Verstandesbegriffe stellen die Hauptgebrechen der Kantischen Vernunftkritik dar. Hegel hält dem entgegen, dass das, was er als Verhältnisse des Seins bestimmt, eben gerade als unendliche Vielfalt an Beziehungen seitens der Wirklichkeit auszulegen ist, wobei festzuhalten ist, dass es sich im eigentlichen Sinne nicht um eine Vielfalt von Substanzen handelt, sondern nur eine absolute Substanz anzuerkennen ist, wodurch das Verhältnis seinen Begriff erfüllt hat. Hiermit ist der Kontext des Arguments der Erhebung vom nichtphilosophischen Wissen zum philosophischen angegeben. Nichtphilosophisches Wissen kann sich auf die objektive Stufe der Philosophie erheben, indem es erkennt, dass Einheit und Vielheit in einer notwendigen Relation zueinander stehen. Die zweite sogenannte objektive Strategie geht hingegen aus von einem willkürlich gesetzten Anfang der Logik, und zwar mit der „Einheit selbst, als dem sich selbstgleichen“ 20 . Dieser Anfang der Logik ist ausdrücklich ein zufälliger, einer, „der absolut viele neben sich hatte“ 21 . Die Idee, die diesem Ansatz zu Grunde liegt, ist die, dass dieser zunächst als zufällig ausgewiesene Anfang im Metaphysikkapitel Das Erkennen als System von Grundsätzen als „absoluterstes“ 22 bestimmt werden kann. Hegel liefert hierfür folgende Begründung: Das absolut Viele als Gegenstand der einfachen Beziehung, dem ersten Kapitel der Logik, wurde sukzessive untereinander und mit der Einheit in Beziehung gesetzt. Im Durchlauf durch die Verhältnisse des Seins und Denkens, die im absoluten Erkennen zusammengeschlossen werden, wird schließlich der Anspruch in der Form eines Beweises erhoben, dass die Trennung von Denkbestimmungen und Seinsbestimmungen nicht aufrecht zu erhalten ist. In dieser Bewegung wird zu- 20 GW 7, S. 129. 21 Ebd. 22 Ebd. <?page no="115"?> Bildung, Logik und Wissenschaft in Hegels Philosophie 115 gleich der Anfang selbst gerechtfertigt. Das Erkennen, das zirkulär begründend in seinen Ausgangspunkt zurückkehrt, fasst die gesamte Entwicklung der Logik zusammen und stellt die Einheit der Subeinheiten dar. Mit dem Anspruch der Synthese der Seins- und Denkverhältnisse geht zugleich die Forderung der Auflösung des Verstandesdenkens einher. Dies wird methodisch realisiert, indem der erste Teil der Logik, der gleichgesetzt wird mit der Logik des Verstandes, aufzuheben ist durch einen Aufweis der Unendlichkeit an den Kategorien der einfachen Beziehung, eine Bewegung, die schließlich selbst in die Kategorie der Unendlichkeit übergeht. Erst aber die Realisierung der Gesamtbewegung sowohl der Logik als auch der Metaphysik erreicht das Begründungsziel, das ist der Nachweis, dass der absolute Geist als Unendlichkeit wieder in den Ausgangspunkt der Logikbewegung zurückkehrt, in welchem einfache Beziehung und Unendlichkeit erneut auseinandertreten. Diese zweite in den Jenaer Systementwürfen II angebotene Strategie hat nun den Vorteil gegenüber der bereits in der Bedürfniskonzeption angelegten bildungskritischen Strategie, dass der Begründungsverlauf innerhalb einer wissenschaftlichen Disziplin vollzogen wird. Die Argumente müssen sich demnach an wissenschaftlichen Standards messen lassen. Obwohl Hegel in der Wissenschaft der Logik vor allem an dieser zweiten Strategie festhalten wird, gibt er nach 1805 die Struktur Logik und Metaphysik zu Gunsten einer Logik, die von Anfang an bereits Metaphysik ist, auf. Die strukturelle Trennung beider Disziplinen in den Jenaer Systementwürfen II verursacht zu viele gravierende Schwierigkeiten. Obwohl Hegel noch bis 1806 mit diesem Thema experimentiert, wendet er sich dem größeren Projekt einer Phänomenologie des Geistes zu. <?page no="117"?> Sittlichkeit - Nicht ohne Geist: Zum Zusammenhang von Bildung, Freiheit, Negativität und Sittlichkeit Steffen Schmidt I. Vermittlung von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem In Fortsetzung unserer Forschungen zu den Konturen moderner Sittlichkeit 1 möchte ich in diesem Beitrag den Schwerpunkt auf den konstitutiven Zusammenhang der im Titel genannten Begriffe legen: Freiheit, Bildung, Sittlichkeit, Negativität. Diese Begriffe treten nicht nur zufällig in einer bestimmten historischen Epoche gemeinsam auf, sondern sie verweisen der Sache nach aufeinander. Hegel ist derjenige Philosoph, der dies unter Rückgriff auf verschiedene Denktraditionen erstmals systematisch entfaltet hat: Bildung als ‚Werden der Sittlichkeit‘, als ‚Durchgang durchs Negative‘, als Formierung der Gegenstände, des Selbst und der Gesellschaft. Damit sind große Themen abgesteckt und miteinander verschränkt. Hegel 1 Vgl. Schmidt, Steffen: Moderne Sittlichkeit? Vorschlag zur Neuaufnahme des Sittlichkeitskonzepts im Anschluss an Hegel. In: Bildung zur Freiheit. Hg. v. Eberhard Eichenhofer u. Klaus Vieweg. Würzburg 2010, S. 47-62; Ders.: Konturen moderner Sittlichkeit. In: Bildung und Freiheit. Hg. v. Klaus Vieweg u. Michael Winkler. Paderborn u. a. 2012, S. 181-192; Ders.: Die Bedeutung des Hegelschen Sittlichkeitsbegriffs für die Analyse sozialen Wandels. In: Bildung und Freiheit bei Hegel. Hg. v. Andreas Braune u.a. Würzburg 2012 (i.E.); Fessen, Bertolt: Moderne Sittlichkeit und gesellschaftlicher Wandel. In: Bildung und Freiheit. Hg. v. Klaus Vieweg u. Michael Winkler. Paderborn u. a. 2012, S. 193-200. <?page no="118"?> 118 Steffen Schmidt knüpft nicht nur an die Transzendentalphilosophie Kants und Fichtes an, sondern ebenso an die antike Idee von Pädagogik, wonach diese dazu diene, menschliche Entwicklungsprozesse an soziale und kulturelle Zusammenhänge zu koppeln. Das wäre eine erste, recht freie Übersetzung dessen, was Hegel als „Werden der Sittlichkeit“ 2 bezeichnet: Erziehung und Bildung als Einübung in gesellschaftlich akzeptierte leitende Praktiken. Freilich darf es dabei allein nicht bleiben, dies wäre nur eine erste Bedingung erfolgreicher Bildung. Weil es in der Bildung und in der lebendigen Sittlichkeit aber um das freie Selbstbewusstsein und seine Vergegenständlichungen geht, muss das Bestehende ggf. auch überschritten werden können, muss also (auf der Basis der etablierten Praktiken) die Erziehung zur selbstständigen Person erfolgen. Erst dann spricht Hegel von Bildung als realisierter Sittlichkeit: Jene Erziehung zur freien Selbstständigkeit nennt Hegel auch emphatisch die „zweite Geburt“. 3 Allerdings ist Erziehung gewiss nur ein Aspekt von Bildung. Und ganz sicher beschränkt sich Pädagogik nicht auf Kinder oder Jugendliche. Wenn es um das Werden und Lebendighalten der Sittlichkeit geht, sind potenziell alle Mitglieder der Gesellschaft angesprochen. Jene über den Bildungsprozess zu erreichende Teilhabe und Teilnahme gestaltet sich als ein aktiver Aneignungs- und Vermittlungsprozess, der also nicht nur irgendetwas in passive Empfänger hineinschüttet, sondern der überzeugend verkörperte Praktiken aktiv und anschaulich einübt. Mit diesem Fokus auf die Praktiken ist eine Akzentverschiebung der Philosophie verbunden: Auch die kognitive Entwicklung ist auf nicht- und vorsprachliche Interaktionen, mithin auf andere Subjekte angewiesen. Bildung wird für Hegel, obwohl er den Begriff nicht sonderlich mag, mindestens in dreierlei Hinsichten relevant: 1. als Identitätsbildung in praktischen Handlungsvollzügen, 2. als Sozialisierung des Individuums, 3. als Verwirklichung geistiger Ordnung. 4 Diese drei Aspekte gehören konstitutiv zueinander, sie sind separat gar nicht zu verwirklichen, sondern bilden Momente eines Ganzen. Hegels große Leistung besteht darin, die im Bildungs- und Sittlichkeitsbegriff angesprochene zentrale Ver- 2 Hegel, G.W.F.: Naturrechtsaufsatz. In: Hegel, G.W.F.: Werke. Frankfurt a. M. 1969- 1971. Bd. 2, S. 507. 3 Hegel, G.W.F.: Enzyklopädie, § 521. In: Hegel, G.W.F.: Werke, Bd. 10, S. 320. Vgl. anderenorts: „[D]er Mensch ist, was er ist, wie er als Mensch sein soll, erst durch Bildung; es ist seine zweite Geburt, er nimmt dadurch erst von dem Besitz, was er von Natur hat, - und so ist er erst als Geist.“ (Hegel, G.W.F.: Werke Bd.18, S. 543). 4 Die Aufzählung ist unvollständig. Vgl. zur Anregungskraft und Bedeutung des Hegelschen Bildungsbegriffs z.B. den Sammelband Bildung und Freiheit. Hg. v. Klaus Vieweg u. Michael Winkler. Paderborn u. a. 2012. <?page no="119"?> Sittlichkeit - Nicht ohne Geist 119 mittlung zwischen Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem nicht nur logisch zu denken, sondern zugleich zu demonstrieren, wie sich jene Vermittlung faktisch in Sozialbeziehungen, Tätigkeits- und Wissensformen ereignet und formt. Hegel gelingt es damit zu zeigen, wie das Ideelle, das Allgemeine, aus und in den praktischen Lebensvollzügen ‚entsteht‘ und wirksam wird, wie es also zur (eigentlichen) Realität für menschliche Individuen wird. Dieser Vermittlungsvollzug, der niemals abgeschlossen, sondern um der Lebendigkeit der Sittlichkeit willen je zu erneuern oder zu vollziehen ist, könnte vielleicht als Bildung im vollen Sinne bezeichnet werden. Es geht mithin nicht einfach nur um eine zeitlich beschränkte Ausbildung, Abrichtung oder Zucht der Zöglinge (obwohl auch all das ein Moment von Bildung sein kann), sondern um den Erhalt und die Reproduktion der im gesellschaftlichen und geistigen Leben verwirklichten Vermittlung von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem. Weil Hegel so oft für seine vorgebliche Individualitätsfeindlichkeit angegriffen wird, sei hier explizit vermerkt: Hegel insistiert dabei auf dem unendlichen Wert des Einzelnen. Dies zu begreifen und zu akzeptieren, kann selbst als Bildungsvorgang interpretiert werden. Hegels Entwicklungsgang zeugt davon, dass diese gewonnene Einsicht ein zentrales Motiv für die Einführung und Transformation des alten Sittlichkeitsbegriffs in seine Philosophie darstellt: Die antike, die schöne Sittlichkeit ist vorbei. In Anlehnung an einen Ausspruch des Berliner Bürgermeisters Klaus Wowereit ließe sich ergänzen: „Und das ist auch gut so“. Anders als in seiner Jugendzeit, anders auch als sein Freund Hölderlin, trauert Hegel nicht um jene alte, verlorene schöne Sittlichkeit, sondern er sieht in der eingetretenen Entwicklung einen Freiheitsgewinn, einen Fortschritt. Dieser mag mit Kosten und Einbußen verbunden sein, aber er ist zu begrüßen und wird von Hegel als unumkehrbar begriffen. Wenn Hegel also in systematischen Zusammenhängen von Sittlichkeit spricht, ist damit niemals die antike Sittlichkeit gemeint. Dass er trotz der ‚Überholtheit‘ jenes alten Konzepts den Begriff und das mit ihm verbundene Sachproblem zu revitalisieren sucht, steht für sich und kann überhaupt nur sinnvoll plausibel gemacht werden, sofern Hegel in seiner eigenen Zeit situiert und verstanden wird - er reagierte damit auf von ihm als Mangel und Gefahr empfundene Entwicklungen in der Gesellschaft und der Philosophie. Wir befinden uns heute, so meine These, im Grunde in einer ähnlichen Situation. Wieder bzw. immer noch gibt es gesellschaftliche Verwerfungen, Entzweiungen, Entfremdungsphänomene - und wieder gibt es in hohem Maße reduktionistische Philosophien oder auch gesellschaftlich do- <?page no="120"?> 120 Steffen Schmidt minante kollektive Selbstbeschreibungen, die den eigentlichen strukturellen Problemdruck verkennen und das Leiden der Individuen beispielsweise noch dadurch vergrößern, dass eine zu übernehmende Verantwortung und vorhandenes Handlungsvermögen entweder bestritten oder umgekehrt den Individuen ein individuelles Versagen und Schuld zugesprochen wird. Es waren solche aus Hegels Sicht empörende Zustände, die das Bedürfnis der Philosophie erzeugen und das Interesse der Vernunft darstellen, mithin festgewordene Gegensätze aufzulösen, Philosophie als Krisenbewältigung und als denkende Betrachtung der Welt zu praktizieren. Ist „Bildung“ für den Jenaer Hegel auch primär mit negativen Konnotationen verbunden, so z. B. hinsichtlich der angeprangerten „Bildung des Zeitalters“, der (fast noch im Gestus des Sturm und Drang vorgetragene) Kritik der Verbildeten, so spricht er ihr in systematischer Hinsicht doch eine entscheidende Funktion zu und adelt sie als „höchste Stufe“ der lebendigen Arbeit. 5 Sie dient zugleich dem von Hegel als notwendig erachteten Überschreiten des engen Familienkreises (der sittlichen Keimzelle). Innerhalb der Familienstrukturen ist nämlich nur eine beschränkte Form von Freiheit möglich. Hegel unterstreicht ohne Sentimentalität die Enge und Verletzlichkeit der (in der Familie gelebten) natürlichen Sittlichkeit. Die Selbstbildung muss weiterschreiten, und Hegel demonstriert, an welchen Konflikten und Umschlagpunkten neues Wissen und erweiterte Praktiken generiert werden. Dabei geht es nicht nur um den Eintritt in erweiterte soziale und ökonomische Kreise, sondern um eine vollständigere Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung (schließlich realisiert in der absoluten Sittlichkeit). Dieser ‚Weg‘ wird von Hegel als ein Bildungsprozess konzipiert und zwar als ein solcher, der offen ist und folglich auch scheitern kann: Gelingt nämlich die Einbettung in die sozialen Kontexte nicht, setzt sich das Individuum z. B. 5 Hegel, G.W.F.: Gesammelte Werke. Hamburg 1968 ff. Bd. 5, S. 289 f. Bildung ist diese besonders anspruchsvolle Arbeit, weil sie sich nicht mehr nur auf einen Gegenstand o der ein geistloses Objekt richtet, sondern das Objekt dabei selbst ein potenziell vernunftbegabtes Subjekt ist. Bildung ist daher im System der Sittlichkeit (analog zu Fichtes Formulierung) die Wechselwirkung von Intelligenzen (allerdings alles noch in der Naturpotenz, die späterhin überschritten werden muss). Schon diese Formulierung zeigt den aktiven Prozess des Vollzugs von Bildung. Diese erfolgt inmitten sittlicher Praktiken. Das Werden der Sittlichkeit baut auf ganz elementaren Akten und Tätigkeiten (Vernichten [Essen/ Trinken] - Arbeiten - Lieben - Sprechen) auf und erfolgt in diversen Interaktionen, zunächst primär im Familienkreis, der wiederum aus Gründen der vollen Freiheitsentfaltung schließlich notwendig überschritten werden muss. Auch dieser Prozess ist als ein Bildungsprozess zu verstehen, als Formierung, als Gestalten und Institutionalisieren, als Sich-Individuieren und Sich-Hervorbringen in der Gesellschaft und im Staat. <?page no="121"?> Sittlichkeit - Nicht ohne Geist 121 nur als „reine Freiheit“ (als ungebundene, rücksichtslose Willkür) und ausschließlich abstrakt dagegen und verletzt dadurch das Allgemeine (z. B. in Gestalt der natürlichen Sittlichkeit), so wird es scheitern - „reine Freiheit“ ist keine echte Freiheit. Sie hat auch ihren Ort und ihre partielle Berechtigung (als Entwicklungsmoment), muss aber schließlich eingehegt werden und sich in die „wahre Freiheit“ transformieren, die erst dann gegeben ist, wenn und insofern das Anerkennen des Allgemeinen als des Eigenen verinnerlicht und akzeptiert ist. Dazu, so Hegel, muss der nur private oder Familienraum, aber auch die ökonomische Sphäre überschritten werden (also wenigstens zeitweise in die Sphäre des Staates, der Politik, der absoluten Sittlichkeit gewechselt werden). Mit diesen Ausführungen sollte nunmehr deutlich sein, dass es Hegel nicht nur etwa abstrakt oder theoretisch um den unendlichen Wert des Einzelnen geht, sondern dieser soll (muss und kann) seine Individualität tatsächlich konkret ausbilden, ausleben (z. B. innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft) und damit seine Talente, Bedürfnisse und individuellen Wünsche zur Geltung bringen, womit er zugleich einen wertvollen Beitrag zur allgemeinen Bedürfnisbefriedigung leistet. Freilich geht es nicht nur oder primär um den funktionalen Beitrag des Einzelnen zur Erhaltung des Ganzen, sondern um tatsächliche Individualisierung (die Subjektivität dürfe und solle sich bis ins Extrem entfalten, das müsse die moderne Gesellschaft aushalten können). Entscheidend ist dann aber, dass die Individualität und Subjektivität darin gerade nicht ihre höchste Erfüllung finden kann (wohl aber überhaupt eine Art Erfüllung, denn sie erlangt in dieser erlebten und ausgeübten tätigen Wirksamkeit ein höheres Selbstgefühl und Selbstbewusstsein). Auch als diese bis ins Extrem getriebene Subjektivität bleibt das Individuum an ein Allgemeines gebunden und auf dieses bezogen, es ist mit allgemeinen Praktiken, Erwartungen, Selbstdeutungen usw. verschränkt und erfährt diese damit nicht zwingend als ein fremdes Gegenüber, sondern vielmehr in der Regel sogar als die eigenen, nämlich die gemeinschaftlich ausgeübten. Der Einzelne kann sich derart auch als eine Besonderung des Allgemeinen erfahren, wenngleich er darin nicht vollständig aufgeht: Er ist eben nicht nur einfach irgendeine Besonderung des Allgemeinen (insofern dieses in ihm wirksam ist), sondern er ist zugleich und unvermeidbar je auch wirklich Einzelner (im Sinne von unwiederholbar, einzigartig, unvertretbar, endlich usw.). Der Einzelne ist zugleich also eine „singuläre Totalität“ 6 , er ist zwar 6 Diesen Begriff übernehme ich von Thomas Rentsch. Siehe z. B. Rentsch, Thomas: Negativität und praktische Vernunft. Frankfurt a. M. 2000, S. 112-117. Vgl. Ders.: Die Konstitution der Moralität. Frankfurt a. M. 1999, S. 129-141. <?page no="122"?> 122 Steffen Schmidt Kind seiner Zeit und in seinen Möglichkeiten und Artikulationsformen damit durch diese präfiguriert, aber nicht determiniert. Die Selbstbildung erfolgt mithin zwar stets unter bestimmten je historischen kulturellen Umständen, aber es bleibt darin ebenso stets ein unaufhebbarer Rest von Unvorhersehbarkeit und eigener individueller Kreativität. Wenn dieses Recht der Individualisierung und auf unendliche Subjektivität von Hegel nicht einfach nur zugestanden, sondern geradezu gefordert und als Fortschritt gefeiert wird - wie kann dann zugleich vermieden werden, dass es zu jener befürchteten oder diagnostizierten Atomisierung der Individuen kommt, zum viel beklagten Auseinanderfall von subjektiven und allgemeinen Interessen? Wie kann gesellschaftliche Kohäsion (außer über ökonomische Abhängigkeitsbeziehungen) gestiftet und aufrechterhalten werden? Hier sind wir vielleicht beim Kern von Hegels Sittlichkeitsbegriff. Denn Hegel betont und demonstriert, dass es diese totale Vereinzelung im Grunde gar nicht gibt, dass sie vermittels weiterer (sittlicher, politischer) Interaktionen ‚eingehegt‘ und ‚eingebettet‘ werden kann bzw. immer schon ist, wobei diese zu leistende ‚Inklusion‘ nicht auf Kosten des Individuums gehen, dieses also nicht gesellschaftlich oder totalitär vergewaltigt werden darf. Allerdings ist dieses Bewusstsein oder die anschauliche Überzeugung, die tatsächliche Vermittlung von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem, nicht immer - schon gar nicht immer in gleicher Intensität - präsent. Für Hegel bleibt trotzdem zentral, dass es sich nicht allein um intellektuelle Einsichten in den genannten Zusammenhang handeln darf, sondern dieser in den geteilten wirklichen Praktiken, wenngleich auf eingeschränkte Weise, selbst zum Ausdruck kommen muss und erfahrbar wird. Hierfür spielen die je gegebenen Institutionen und Organisationen eine entscheidende Vermittlungsrolle. Sie leisten idealerweise die genannte Vermittlung von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnen. Sie tragen und ermöglichen also, wie sie umgekehrt auch als Hindernis und Beschränkung empfunden werden bzw. faktisch wirken können. Die ‚geronnene Praxis‘ entlastet also nicht nur die Einzelnen, sie kann auch extrem belasten (z. B. ‚piefige‘ Konventionen und Konformitätsdruck in ländlichen Regionen). Und dennoch können wir nicht umhin, auf sie bezogen zu sein, selbst in der heftigsten Kritik und Zurückweisung: Als die uns prägende Um- und Mitwelt ist sie uns vorgängig und zunächst nicht wählbar, wir sind in sie geworfen und können uns erst aus ihr heraus zu ihr verhalten, uns distanzieren, sie zu transformieren versuchen. Hegel geht es folglich entgegen der vielfachen Unterstellung nicht darum, vorhandene Institutionen per se zu glorifizieren: Es handelt sich nicht um eine bloß positivistische Darstellung oder Affirmation gegebener Institutionen; an vielen Stellen seiner Texte oder Brie- <?page no="123"?> Sittlichkeit - Nicht ohne Geist 123 fe wird umgekehrt deutlich, dass Hegel häufig harsche Kritik an der bestehenden Wirklichkeit samt ihren Institutionen übt. Diese sind unbestritten vielfach verbesserungswürdig und -fähig. Und dennoch verkörpern sie nach Hegels Auffassung bereits Vernunft, ist Geist in ihnen am Werk. 7 II. Geist und Negativität. Ihre Marginalisierung in Honneths Sittlichkeitskonzept In unserer Jenaer Forschergruppe arbeiten wir seit einiger Zeit an einem Konzept moderner Sittlichkeit. Axel Honneth, mit dem wir in freundlichem kollegialen Austausch stehen, hat nun im Spätsommer 2011 sein neues Buch als Grundriss demokratischer Sittlichkeit präsentiert. 8 Ist die Sache, so könnte man fragen, damit nicht bereits erledigt? Dazu folgende drei kurze Anmerkungen: 1. Wir teilen Honneths generellen Ansatz (insbesondere die Rückbindung der Theorie an die soziale Wirklichkeit, dass die Faktizität gesellschaftlicher Verhältnisse in die Theoriebildung hineinzunehmen sei, mithin eine soziologisch gesättigte philosophische Theorie ausgebildet werden solle). 2. Honneths Buch ist ein (wenn auch umfangreicher) Grundriss - d. h., die eigentliche Ausführung steht weiterhin aus. 3. Auch wenn wir zentrale philosophische Impulse Honneths mittragen und seine Verdienste hoch schätzen, sind wir doch der Überzeugung, dass das Projekt in verschiedenen Hinsichten anders durchzuführen ist. Es ist vor allem dieser dritte Punkt, den ich in diesem Beitrag umreißen möchte, aber natürlich nicht vollständig ausführen kann. 9 Kurz zu den ersten zwei Punkten: Über Honneths beträchtliches Anregungspotenzial brauche ich angesichts seiner Prominenz und Wirksamkeit nichts auszuführen; ebenso un- 7 Damit ist z. B. auch ausgedrückt, dass die Institutionen, Praktiken und kollektiven Selbstbeschreibungen eine ermöglichende Grundlage für die Entfaltung und Ausübung von Freiheit bieten. Sie haben also eine Befähigungsfunktion, sie strukturieren den Raum der Freiheitsentfaltung oder konturieren den Raum für die wechselseitige freie Anerkennung der Individuen. Das Insgesamt jener institutionellen und symbolischen Strukturen nennt Hegel Sittlichkeit, womit also die Verfasstheit eines gesellschaftlichen Ganzen gemeint ist, nicht aber - auch das ein häufiges Missverständnis - die konkreten Sitten, Gewohnheiten usw. Letztere haben dagegen, wie wir aus der Enzyklopädie § 410 wissen, die Tendenz, zu einer Art zweiter Natur zu werden - mit allen Vor- und Nachteilen, einem Befreiungs- und Versklavungseffekt. 8 Honneth, Axel: Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit. Berlin 2011. 9 Vgl. zur Ausrichtung unseres Forschungsprojekts die in Fußnote 1 genannten Publikati o nen. <?page no="124"?> 124 Steffen Schmidt strittig scheint zu sein, dass seine Hegelinterpretation diskussionswürdig ist, manchmal auch an Hegel vorbeigeht. Letzteres gibt Honneth freimütig zu: Schließlich sieht er sich nicht als Hegelphilologe, sondern als Denker und Diagnostiker der Gegenwart, der mit den vorhandenen philosophischen Quellen frei umgeht. 10 Dass Honneths neues Buch ein ambitioniertes Großprojekt darstellt und von ihm selbst als noch nicht abgeschlossen angesehen wird, kann seinem Text direkt entnommen werden. 11 Als Grundriss konzipiert, beansprucht es, die weitgehend geschichtlich ausgerichtete normative Rekonstruktion der Wirklichkeit der Freiheitsidee in unserer modernen Gesellschaft vorzunehmen. Schon das ist, wie ich meine, sehr viel. Ich werde mich im Folgenden nicht zu den vielen lehrreichen und anregenden Ergebnissen äußern, sondern im Sinne einer Fortsetzung dieses Projekts eher grundsätzliche Punkte und womöglich Schwierigkeiten ansprechen. Zum Einen fällt auf, dass Honneth in dem mit der vielversprechenden Überschrift „Die Idee der demokratischen Sittlichkeit“ versehenen Kapitel zu dieser Idee tatsächlich nur relativ wenig sagt; warum Sittlichkeit z. B. als „demokratisch“ bezeichnet werden sollte, wird kaum klar und erschließt sich dem Leser eher aus der Kenntnis anderer Honnethscher Schriften. Anderenorts verwendet Honneth den Ausdruck „posttraditionale Sittlichkeit“, der zwar kompatibel mit der zuvor genannten Idee demokratischer Sittlichkeit ist, doch mangelt es, wie mir scheint, an einer exakten Bestimmung und Ausführung eben dieser Idee, ebenso an einer präzisen Abgrenzung von Hegels Sittlichkeitskonzept. Honneth nennt zwei Punkte, die uns von Hegel trennen: 1. Wir leben in einer anderen, historisch gewandelten Zeit mit folglich anderen Lebensformen; Hegel kann also nicht eins zu eins auf die Gegenwart angewandt werden, seine Aussagen sind selbst zeitgebunden, mithin für andere Umstände gültig. 12 Zu fragen wäre aber trotzdem, inwiefern wir womöglich immer noch in der gleichen Grundkonstellation wie Hegel und seine Zeitgenossen stehen. Das berührt direkt den nächsten Honnethschen Abgrenzungspunkt, nämlich 2. Wir würden unter anderen philosophischen Argumentationsbedingungen leben. 10 Und dabei sind ihm zweifellos große Leistungen geglückt. Auch bin ich der Überzeugung, dass man Honneth gegen die meisten seiner Kritiker (z. B. Fraser, Bedorf) verteidigen sollte und kann. Besonders wichtig scheint mir dabei wie oben erwähnt die systematische Stoßrichtung Honneths zu sein: Gegen die Abkoppelung der Philosophie von der Gesellschaftstheorie und der ‚gegebenen‘ Wirklichkeit. 11 Vgl. z. B. schon auf der ersten Seite des Vorworts (Honneth: Recht der Freiheit, S. 9). 12 Hegel sei z. B. an demokratischer Öffentlichkeit und ihrer Befähigung nicht interessiert, die zu zentralistisch gedachte Rechtsphilosophie tauge insofern nicht direkt für heute usw. <?page no="125"?> Sittlichkeit - Nicht ohne Geist 125 Dieser Punkt ist insofern deutlich interessanter, als die Entwicklung der Philosophie nach Hegel natürlich nicht aufgehört hat. Jedoch bleibt zu klären, ob Honneths Diagnose, wonach wir in einem nachmetaphysischen Zeitalter leben, zutreffend ist. So selbstverständlich das zunächst klingen mag, so wenig ist klar, ob dies ein Argument gegen Hegel sein kann, der selbst vielfach als Metaphysikkritiker gilt. 13 Desgleichen verschwindet Metaphysik, selbst wenn sie in ihrer alten Form zu Recht für überholt gilt, nicht einfach. Mag die Diagnose eines nachmetaphysischen Zeitalters aus Distinktionsgründen und als Epochenabgrenzung auch einen Sinn haben, so taugt sie als Argumentationsfigur wenig. 14 Dieser Punkt ist wichtig, weil sich Honneths Haltung womöglich auf sein gesamtes Projekt auswirkt. Es scheint nämlich als verpasse Honneth aufgrund dieses ‚nachmetaphysischen Vorurteils‘ bzw. seiner pauschalen Entwertung jeglicher Metaphysik - und entgegen seinem eigenen Anliegen und Anspruch, Hegel reaktualisieren zu wollen - womöglich die noch viel stärkeren Hegelschen Thesen, die jedoch zum gleichen Gegenstandsbereich gehören. Wenn der Hegelsche Sittlichkeitsbegriff wirklich aktualisiert werden soll, so muss der dafür zentrale Geistbegriff berücksichtigt werden. Das aber tut Honneth (und zwar ausdrücklich und bewusst) nicht, und eben deshalb, so möchte ich behaupten, gerät er auch in klar identifizierbare Schwierigkeiten. Gerade weil er den Geistbegriff (als inakzeptable Metaphysik) ablehnt, bedarf er zwingend anderer starker ‚Ermöglichungsstrukturen‘ für die verwirklichte soziale Freiheit. 15 Möglicherweise konzentriert sich Honneth deshalb zu sehr (bzw. zu einseitig) auf die zweifellos ebenso unentbehrlichen Institutionen und Praktiken. Natürlich affirmiert Honneth diese nicht schlechthin, sondern er befindet nur diejenigen für verteidigenswert und weiter ausbaufähig, die zum Erhalt von Freiheit bzw. anderen zentralen Werten beitragen. Dieses konkrete Sondieren (aus der historischen Distanz und der Beobachter-, nicht der Teilnehmerperspektive) ist aber nicht nur ohnehin ein extrem schwieriges Unterfangen, sondern es entsteht zugleich der Eindruck einer gewissen Geschichtsteleologie (so diverse Rezensen- 13 Vgl. etwa Thomas Rentsch, wonach Hegel Kants Metaphysikkritik noch radikalisiert (Rentsch: Negativität, S. 237) und Jaeschke, Walter: Wer denkt metaphysisch? In: Hegels Aktualität. Hg. v. Johann Kreuzer. München u.a. 2010, S. 151-177. 14 Vgl. z. B. Henrich, Dieter: Was ist Metaphysik - was Moderne? Thesen gegen Jürgen Habermas. In: Ders.: Konzepte, Frankfurt a. M. 1987, S. 11-43. 15 Honneth hat bei einer Veranstaltung an der Friedrich Schiller Universität Jena (Februar 2012) auf eine Frage meinerseits geantwortet: „Sie haben vollkommen recht. Mir fehlt ein Äquivalent für den Geistbegriff. Ich versuche da bislang, mit der Wir-Intention zu arbeiten.“ <?page no="126"?> 126 Steffen Schmidt ten). Ob das ein sachlicher Einwand gegen Honneths Konzeption ist oder nicht, so verweist dies auf ein weiteres Problem, nämlich den merkwürdigen Mechanismus einer angeblichen ‚sozialen Vergemeinschaftung‘ (über Konflikte). Es mag der Eindruck entstehen, ich übertreibe hier bewusst, als handle es sich bei Honneths Entwurf um eine Art Verwaltung von erreichten Anerkennungsresultaten bzw. - und damit sind wir erneut beim Bildungsthema - die institutionelle Konservierung und Weitergabe einmal erworbener Lernresultate. Auch wenn ich diesen Punkt hier um der Anschaulichkeit willen etwas überzeichne, so ist er bei Honneth nicht zufällig und auch keinesfalls nur Nebensache - und zwar erst recht nicht in Bezug auf das zentrale Thema der Sittlichkeit. Bereits im Kampf um Anerkennung hatte Honneth einen solchen Mechanismus der sozialen Vergemeinschaftung, einen Mechanismus von Lernprozessen beschworen, wobei die ausgetragenen Konflikte das je individuelle Bewusstsein zur Verschränkung mit einem allgemeinen Bewusstsein zwingen sollten. Honneth entwickelte diesen Gedanken konkret in der Auseinandersetzung mit Hegels System der Sittlichkeit. Ich habe das an anderer Stelle 16 kritisiert und erwähne es nur deshalb, weil dieser von Honneth herausgearbeitete Befund m. E. recht ‚unhegelisch‘ ist und nun eben auch in seinem neuen Werk, das sich ebenfalls als Anschluss an Hegel versteht, zu, wie mir scheint, eigentümlichen Schwierigkeiten führt: Zwar verlagert sich Honneths Fokus von der Anerkennung jetzt stärker zu deren Verankerung in der Sittlichkeit, und natürlich meint Anerkennung bei Honneth nie nur die starren Resultate, sondern immer ebenso den Prozess des Anerkennens. Und dennoch vertraut Honneth weitaus stärker als Hegel (und anders als etwa ein anderer wichtiger Anerkennungstheoretiker wie Ludwig Siep) vorrangig auf jene mit erfolgreicher Anerkennung verbundenen individuellen und kollektiven Lernprozesse, die sich dann in den Institutionen und dem kollektiven Bewusstsein niederschlagen und verstetigen würden - die soziale Vergemeinschaftung samt Verschränkung von individuellem und allgemeinem Bewusstsein wird damit zu einer nahezu mechanisch sich ergebenden Folge. Institutionen sind, ich überspitze etwas, quasi geronnene erfolgreiche Praxis mit einem dann zugehörigen erweiterten Bewusstsein. Das kann natürlich auch einmal der Fall sein, nur gibt es dafür keinerlei Garantien. Erst recht gibt es das nicht als einen Quasi-Automatismus (und zwar weder empirisch noch in Hegels Theorie). Anders als Honneth vertraut Hegel nicht (allein) auf die innerhalb der Konfliktaustragung zweifellos auch entstehenden Sozia- 16 Vgl. Schmidt, Steffen: Hegels System der Sittlichkeit. Berlin 2007, S. 217-223. <?page no="127"?> Sittlichkeit - Nicht ohne Geist 127 lisierungseffekte. Diese sieht Hegel zwar ebenfalls, doch sind sie für ihn viel zu fragil und zufällig, als dass sie jene große Last zu tragen vermöchten, die Honneth ihnen aufbürdet. Ohnehin tendieren Institutionen zur Verknöcherung, sobald sie nicht mehr und beständig durch lebendige Aktivität und Teilhabe erneuert werden, wenn sich die Individuen in ihnen nicht wiedererkennen können oder ihnen z. B. jene stiftenden Erfahrungen fremd geworden sind, weil sie diese nicht nur nicht selbst gemacht haben, sondern ihnen auch einen anderen Sinn unterstellen. Hiermit sind wir bei einem zentralen Problem: Wie kann sich das (moderne) Individuum tatsächlich in den gegebenen Institutionen als frei verstehen und auch als frei erleben? Denn es geht Hegel und Honneth gerade nicht nur um intellektuelle Einsicht in die Möglichkeit von Freiheit, sondern um deren (soziale) Wirklichkeit. Sie muss Hegel zufolge daher auch anschaulich, nicht nur theoretisch, erfahrbar sein. Honneth übernimmt diesen Hegelschen Punkt und vertritt die These, dass dies in den gegebenen Institutionen und Praktiken wenigstens ansatzweise auch möglich sei. Das würde Hegel gewiss ebenso sagen, nur ist dies wohl allenfalls die halbe Wahrheit. Denn erstens gelangen, anders als Honneth (in seiner Hegelinterpretation) unterstellt, keinesfalls alle Bürger zu einem solchen Freiheitsbewusstsein und -erlebnis. Und zweitens ist die erreichte Freiheit kein mechanischer Selbstläufer, der sich auf einmal geschaffenen Institutionen, inkorporierten Erfahrungen und erworbenen Praktiken ausruhen oder sich, wie selbstverständlich, daraus erneuern könnte. Die Lebenswelt bietet zwar entscheidende und unentbehrliche Orientierungspunkte und Entfaltungsraum, der Mensch aber geht darin allein noch nicht auf - Geist ist und meint weitaus mehr als die zur zweiten Natur geronnenen Gewohnheiten und Praktiken. Das Verzichten auf (Hegels) Geistbegriff hat womöglich aber noch ganz andere Folgen. 17 Honneth scheint dadurch gezwungen zu sein, immer wieder (institutionelle) ‚Sicherheiten‘ einzubauen, die den einmal erworbenen (Freiheits-)Status zu erhalten vermögen. Dass dabei die Stärke der Verteidigung von Werten zugleich als theoretischer Beleg für ihre Wirklichkeit (und als ihre Rechtfertigung? ) gelten soll, kann m. E. wenig befriedigen: 18 17 Honneth gibt damit das Hegelsche ‚Herzstück‘ und Spezifikum, das für einen Sozialphilosophen eigentlich besonders interessant sein könnte und m. E. sollte, voreilig auf: Er beerbt Hegel in dieser Hinsicht gerade nicht. Honneths Entwurf von Sittlichkeit scheint mir auch aus diesem Grunde ergänzungsbedürftig zu sein. 18 Vgl. hierzu den Kommentar von Paul Sörensen im Honneth-Lesekreis des Theorieb logs: Nicht Additiv, sondern Medium der Freiheit. Honneths Rekonstruktion der Hegelschen Sittlichkeitsidee (im Internet abrufbar unter: http: / / www.theorieblog.de/ index.php/ <?page no="128"?> 128 Steffen Schmidt Manchmal ist die Wirklichkeit auch eine schlechte, und es gab und gibt Gesellschaften, in denen freiheitsverachtende Werte (kollektiv) verteidigt werden. Die Unentbehrlichkeit und der Vorzug des Hegelschen Geistes, der zugleich eine Reflexionsinstanz ist und eine Selbstdistanzierung erlaubt, stechen bei solchen Problemlagen besonders hervor. Vor allem aber, so glaube ich, unterstellt Honneth der Wirklichkeit (unabhängig von den Extrembeispielen von Faschismus oder Totalitarismus) letztlich zu viel an vorgeblich gesicherten Lernprozessen. 19 Die Wirklichkeit erscheint bei ihm vielleicht deshalb, und zwar obwohl Honneth als der Konflikttheoretiker gilt, erstaunlich konfliktfrei. Wie Siep in seiner Rezension anmerkte, wirkt Honneth in seinem Buch anders als Hegel eigentümlich harmonistisch. 20 Anders als Honneth unterstellt 21 , müssen wiederkehrende Konflikte bzw. „individuelle Abweichungen von […den] idealtypisch zusammengefassten Handlungsmustern“, so meine ich, jedoch nicht zwingend für „soziale Fehlentwicklungen“, „Anomien“ oder „Pathologien“ stehen (und sollten daher nicht per se als solche deklariert werden). Negativität gehört zum menschlichen Leben konstitutiv dazu, sie ist keine Krankheit, keine „systeminduzierte Abweichung“ oder Pathologie. Das ‚konstitutiv‘ ist von mir insofern ernst gemeint, und das berührt nun erneut das Bildungsthema, als dass man sich nämlich unter anderem auch an der Widerständigkeit der Welt, im Erfahren seiner Endlichkeit, Verletzbarkeit bildet - der Durchgang durchs Negative ist also als ein aktiver Bildungsvorgang zu verstehen. Und vor allem: Negativität lässt sich ohnehin nicht umgehen, Hegel spricht umgekehrt von der bleibenden „Macht der Negativität“. Es ist dieser Gedanke Hegels, den Thomas Rentsch aufgenommen hat und, ergänzt durch die Integration auch nachfolgender Denker der Negativität wie Kierkegaard, Marx, Heidegger, Wittgenstein oder Adorno, systematisch zu einer Theorie der Verfasstheit der menschlichen Welt ausgebaut hat: Negativität kann demnach faktisch als Endlichkeit, Verletzlichkeit, Alter und Tod, praktisch als interexistentielle Differenz und interpersonale Ferne und begrifflich als stets fallible sprachliche Weltorientierung letztlich nicht überwunden, sondern jeweils nur transformiert werden und bleibt damit 2011/ 11/ honneth-lesekreis-2-nicht-additiv-sondern-medium-von-freiheit-honnethsrekonstruktion-de). 19 Kurz: Es gibt auch unvermeidlich nicht versöhnte Positionen und Interessenkonflikte ebenso wie ambivalente oder nur strategische Einstellungen statt eindeutiger oder gesicherter Lernergebnisse. 20 Siep, Ludwig: Wir sind dreifach frei. In: Die Zeit, 18.08.2011. 21 Honneth: Recht der Freiheit, S. 230 f. <?page no="129"?> Sittlichkeit - Nicht ohne Geist 129 auf neuen Niveaus doch immer erhalten. 22 Negativität, so können wir lernen, ist also genauso unabschaffbar und unhintergehbar, wie sich die Gewohnheiten zu einer zweiten Natur zu verdichten tendieren, die dann ihrerseits als fremde von den Menschen verkannt wird: In diesem Zusammenhang verwendet Hegel übrigens auch selbst den Begriff des „Mechanismus“ 23 , bezeichnenderweise geht es dabei aber gerade nicht um den lebendigen freien, sondern eher den erstarrten Geist. So kann Hegel, wie Menke unlängst demonstriert hat, auch exakt mit diesem Gedanken als Gesellschaftskritiker in Anschlag gebracht werden: Soziale Knechtschaft besteht nicht aus Naturzwängen, sondern aus der Verselbstständigung von Selbstgesetztem. 24 Sein eigener Knecht zu sein ist aber noch viel schlimmer und unnatürlicher als unter fremder Herrschaft zu stehen und wird daher von Hegel besonders angeprangert. Wo die zweite Natur also nicht nur als entlastende und befähigende Kultur, als gute Praxis oder Struktur sozialen Handelns fungiert, sondern vielmehr als Selbstverkehrung des Geistes auftritt und erstarrt, nämlich als träge Gewohnheit o der wie eine fixe, determinierte fremde Macht erscheint, da ist sie zu kritisieren und zu transformieren. Ganz im Sinne von Marx könnte mit Hegel gesagt werden, dass die wahre Kritik im Aufzeigen der Genesis des Falschen bestehe. 25 Und: Wie schwer es auch immer sein mag, das Selbsterzeugte können wir prinzipiell, anders als etwa die erste Natur, auch wieder verändern. 26 Die selbstgeschaffenen Strukturzwänge sind mithin kein Fatum, das wir ergeben hinzunehmen hätten, sondern sie sind der Sache nach generell auch anders gestaltbar. Damit stehen wir freilich und ganz offensichtlich auch in der Verantwortung. Und vielleicht ist es angesichts der vielfach verbreiteten Resignation und Hoffnungslosigkeit gerade diese Einsicht, die es (wieder) zu aktualisieren gilt. Denn sie ist offenbar alles andere als selbstverständlich: Die Politik z. B. glaubt oftmals kaum noch an ihre eigene Steuerungs- und Veränderungsfähigkeit, fühlt sich von den ökonomischen Entwicklungen oder den Aktivitäten von international agie- 22 Vgl. Rentsch: Negativität und praktische Vernunft, insbesondere Teil 2. 23 Vgl. z. B. Hegel, G.W.F.: Enzyklopädie § 410, und ebenda den Zusatz, wonach die Gewohnheit, obgleich sie ein Moment „vernünftige[r] Befreiung“ von den Trieben und Begierden darstelle, „etwas dem freien Geist Nichtentsprechendes, etwas bloß Anthropologisches“ sei (Hegel, G.W.F.: Werke. Bd. 10, S. 185 und 189). 24 Vgl. Menke, Christoph: Zweite Natur. Kritik und Affirmation. Vortrag in Marburg 2011 (im Internet abrufbar unter: www.audioarchiv.blogsport.de/ index.php? s=menke). 25 So sehr klar Menke a.a.O. 26 Auch die erste Natur lässt sich zunehmend verändern, ist nicht völlig unverfügbar (vgl. z. B. inzwischen mögliche und vorgenommene Geschlechtsumwandlungen). <?page no="130"?> 130 Steffen Schmidt renden Großkonzernen nicht nur getrieben, sondern bezüglich deren Verselbstständigung, Vernetzung und damit verbundener scheinbarer Allmacht selbst als machtlos (oder suggeriert das zumindest). Eben diese ökonomischen Entwicklungen werden als ‚naturgegeben‘, gänzlich unumkehrbare Entwicklung präsentiert und aufgefasst. Ohne die tatsächlichen verschärften Schwierigkeiten hier kleinreden zu wollen, bleibt doch mit Hegel daran zu erinnern, dass es auch unter jenen vorgefundenen und als fest und gegeben erscheinenden Strukturbedingungen einen Gestaltungsspielraum gibt. Dieser ist aktiv zu ergreifen und auszufüllen. Denn der Mensch, so Hegel, kann das „Denken einmal […] nirgend unterlassen.“ 27 Und in diesem Zusammenhang vielleicht noch wichtiger: Der Mensch (anders als die Tiere) kann und muss einen Willen ausbilden, es geht in diesem Zusammenhang also maßgeblich - womit wir nochmals beim Bildungsthema sind - um die gemeinsame Willensbildung. Zentrales Thema von Hegels Rechtsphilosophie und seines Sittlichkeitstheorems ist eben diese Vermittlung von allgemeinem, besonderem und einzelnem Willen (und Interessen). Das Gemeinwesen, der Staat wird wesentlich durch einen gemeinsamen Willen, nicht etwa durch physische Macht, zusammengehalten und getragen (und wenn der gemeinsame Wille ermattet oder verloren geht, dann gerät das Gemeinwesen selbst in eine bedrohliche Krise). Dieser genannte Wille aber muss im Sozialisationsprozess erworben und ausgebildet werden. Vielleicht ist es wichtig zu betonen, dass es hierbei nicht etwa nur um politische Bildung oder das schlichte Vermitteln von Kenntnissen geht - so als ob schon für alles fertige Konzepte vorlägen. Auch soll das unsere Forschergruppe vereinende Thema der Bildung zur Freiheit nicht so missverstanden werden, als könnten allein durch bessere oder adäquatere Bildung alle gravierenden Probleme gelöst werden. Wie wir spätestens von Bourdieu wissen, werden durch Bildung soziale Unterschiede auch reproduziert. Eine gerechtere Umverteilung wird man durch Bildung allein nicht erreichen können (auch nicht durch ‚Fürstenbildung‘, also bessere Erziehung der Machthaber, und sicher auch nicht dadurch, dass die Philosophen zu Königen werden). Dennoch gilt Hegels Diktum: „[I]st das Reich der Vorstellung revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht aus“ - die theoretische Arbeit, auch bezüglich der Bildung, kann also erhebliche und wirksame praktische Folgen zeitigen. 28 Nicht zuletzt der sog. ‚arabische Frühling‘ hat gezeigt, wie einschneidend und umstürzlerisch Ideen wirken kön- 27 Hegel, G.W.F.: Werke. Bd. 12, S. 557. 28 Hegel an Niethammer am 28.10.1808. In: Hoffmeister, Johannes: Briefe von und an Hegel. Hamburg 1952. Bd. 1, S. 253. <?page no="131"?> Sittlichkeit - Nicht ohne Geist 131 nen, sofern sich ein gemeinsamer, wie auch immer noch fragiler Wille bildet. 29 III. Ausblick Was können wir aus der Beschäftigung mit Hegel für die Gegenwart also im Hinblick auf das Bildungsthema und das Konzept moderner Sittlichkeit gewinnen? Besonders attraktiv, das habe ich bereits anderenorts breiter ausgeführt, erscheint mir Hegels Bewegung zur Detranszendentalisierung der Vernunft, ebenso Hegels Einsicht in die historische und kulturelle Bedingtheit unserer Wissens- und Lebensformen. Genauso wichtig ist m. E. Hegels grundlegende Einsicht in das Eingebettetsein jeglicher menschlicher Handlungsvollzüge in bestehende Praktiken, jene von Pinkard als „Von Maximen zu Praktiken“ bezeichnete (auch von Honneth aufgegriffene) Umstellung der Philosophie: d. h. weg von deontologischen Deduktionen hin zu einer wirklichkeitsgesättigten Theorie. Es geht um die Ausbildung einer wirklichkeitsbezogenen, nicht jedoch einer sklavisch wirklichkeitsabhängigen Philosophie. Zentrale Normen und Sitten der Neuzeit haben - jedenfalls im Normal-, nicht im Krisenfall - weiterhin eine Art unhinterfragte Geltung. Eben solcher Selbstverständlichkeiten, die dann auch korrigiert oder transformiert werden können, bedarf es, um die gesellschaftliche Kohäsion aufrechtzuerhalten: In neueren Studien und empirischen Untersuchungen haben wir zahlreiche Belege dafür gefunden, wie stark und anhaltend solche (kollektiven) sozialmoralischen Überzeugungen wirken, dass sie sowohl als Ressource und Bewertungsmaßstab als auch als Hindernis oder Bremse fungieren können. 30 Die vorhandene Praxis, so 29 Dass ein solcher Wille - natürlich immer eingebettet und formiert in bestehenden sozialen Kontexten - die je vorhandenen Institutionen in Schwierigkeiten bringen und sie definitiv auch umbilden oder hinwegfegen kann, darf man gewiss auch aus dem Ende des Staatssozialismus folgern. Wie auch immer man nämlich im Einzelnen die endogenen und exogenen Ursachen des Zusammensturzes bewerten mag: Es war stets auch der sich ausbildende Wille der dort lebenden Menschen, befördert durch Wut, Scham, Enttäuschung, Verzweiflung usw., so nicht mehr weitermachen (-leben) zu wollen. Dagegen, gegen einen solchen Willen, sagt Hegel, helfen auch keine Armeen. 30 Vgl. Rosa, Hartmut u. Schmidt, Steffen: Sozialer Wandel und sozialstrukturelle Petrifikation. In: Ostdeutschland und die Sozialwissenschaften. Bilanz und Perspektiven 20 Jahre nach der Wiedervereinigung. Hg. v. Astrid Lorenz. Opladen u. a. 2011, S. 333- 353 sowie Dies.: Institutionelle Transformation - Habituelle Irritation - Sozialstrukturelle Petrifikation. Empirische Befunde und transformationstheoretische Schlüsse zur deutschen Vereinigung. In: Aufbruch der entsicherten Gesellschaft. Deutschland nach <?page no="132"?> 132 Steffen Schmidt würde Hegel vielleicht sagen, birgt trotz ihrer Verbesserungswürdigkeit bereits Vernunft - gerade weil der Geist in ihr lebendig ist, ist in ihr immer auch ein forttreibendes Veränderungsmoment enthalten. 31 Es geht mithin um eine philosophische Theorie, die tatsächlich ihre Zeit in Gedanken fasst und den Problemdruck der Gegenwart, damit zugleich deren spezifische Neuerungen, Möglichkeiten und Optionen, aufnimmt - also die Gegenwart nicht nur als Bedrohung, sondern als sich bietende Chance und Herausforderung begreift und akzeptiert. 32 Außerdem scheint es mir lohnend und unverzichtbar zu sein, die von Hegel so glänzend aufgezeigte Verbindung und Einheit theoretischer und praktischer Akte ernst zu nehmen. Wenn in diesem Beitrag so viel von Praktiken die Rede ist, so heißt das ja keineswegs, diese seien komplett bewusstlos, unreflektiert oder unabhängig von kognitiven Vorgängen. 33 Geradezu umgekehrt vollzieht sich die Identitätsbildung gleichursprünglich in praktischen und kognitiven Akten, und höherstufige Praktiken setzen immer eine kognitive Entwicklung, also auch theoretische Bildung im weiten Sinne, mithin nicht nur den Erwerb praktischer Fertigkeiten, voraus. 34 Weiterhin offen bleibt die Frage, ob und wie es unter den veränderten spätmodernen Bedingungen gelingen kann, die heutige Gesellschaft samt ihren zugehörigen modernen Institutionen angesichts der sie auszeichnenden Ambivalenzen, Widersprüche und Paradoxien überhaupt noch (oder wenigstens auch) als Ausdruck und Werk von Freiheit zu verstehen. Das immerhin war Hegels Anspruch - Sittlichkeit als der „zur vorhandenen der Wiedervereinigung. Hg. v. Heinrich Best u. Everhard Holtmann. Frankfurt a. M. 2012, S. 387-414. 31 Vgl. zum Werden der vernünftigen Wirklichkeit: Hegel, G.W.F.: Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/ 20 in einer Nachschrift. Hg. von Dieter Henrich. Frankfurt a. M. 1983, S. 51. 32 Vgl. hinsichtlich der Herausforderungen im Bereich der Bildung Müller, Hans-Peter: Bildung. Idee, Funktion und Folgen eines positiv asymmetrischen Grundbegriffs. In: Bildung und Freiheit. Hg. v. Klaus Vieweg u. Michael Winkler. Paderborn u. a. 2012, S. 213-223, hier: S. 221-223. 33 Von einer Bewusstlosigkeit kann in Bezug auf Sittlichkeit (zumindest bei Hegel) nicht die Rede sein, auch nicht von einer bloß passiven Übernahme des Gegebenen: Zur lebendigen Sittlichkeit gehört immer auch ein Selbstbewusstsein (vgl. Hegel: Rechtsphilosophie § 142, s. hierzu die Erörterung in Schmidt: Konturen, S. 185-189). Natürlich ist es auch richtig, dass nicht alle uns leitenden Überzeugungen, Normen, Gewohnheiten usw. dabei immer vollständig explizit sind, sie darüber hinaus untereinander in Spannung stehen können. 34 Tomasello, Michael: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Frankfurt a. M. 2003, hat außerdem gezeigt, dass es hierfür auch der Fähigkeit zu emotionaler Identifikation bedarf. <?page no="133"?> Sittlichkeit - Nicht ohne Geist 133 Welt und zur Natur des Selbstbewußtseins gewordene Begriff der Freiheit“. 35 Mag Honneth sich mit seinem neuen Buch auf dem Weg zur Beantwortung dieser Frage auch große Verdienste erworben haben, so bleibt doch noch viel zu tun. 36 Die Überzeugung, dass Hegel begriffliche Mittel und Ansätze bereitstelle, die aus gegenwärtigen Reduktionismen oder Vereinseitigungen der Diskussion herausführen könnten, hat sich seit Mitte der 1990er Jahre verstärkt (vgl. z. B. Pippin, Brandom, Neuhouser). Hegels variierte Konzeption des Geistes könnte - anders, als Honneth vermutet - gültig bleiben, wenn und insofern es gelingt, die bestehende Sittlichkeit mit den teils widerstreitenden modernen universalen Moralitätsansprüchen zu verknüpfen und dabei auch die letztentscheidende Subjektivität des Handelnden, seine individuelle Gewissensstimme, anzuerkennen: 37 Sittlichkeit und Autonomie sind zumindest eingeschränkt miteinander kompatibel. Hegel stimme, so Siep - was für seine Inanspruchnahme natürlich eine hilfreiche Voraussetzung ist -, mit zentralen heute erhobenen Ansprüchen an moderne Moral- und Rationalitätsbegriffe überein. 38 Hegels Annahme, dass nicht einfach aus Konvention oder Legalität, sondern unter der Vorstellung des Gesetzes als eines ‚Werks aller‘ gehandelt werde, verschärfe diese Ansprüche noch: Seine Überzeugung, dass in sittlichen Angelegenheiten keinerlei Zweifel bestehe, lässt sich angesichts omnipräsenter Unsi- 35 Hegel, G.W.F.: Werke. Bd. 7, S. 292. 36 Mein Vorschlag lautet, dass es neben der normativen Rekonstruktion der Idee verstärkt um das Aufzeigen der konkreten Gestalt und Wirksamkeit von Sittlichkeit in der Gegenwart gehen sollte; hier kann die Soziologie aufgrund ihres privilegierten Zugangs zum Gegenstandsbereich vielleicht besonders viel beisteuern. 37 Vgl. hierzu Siep, Ludwig: Moralischer und sittlicher Geist in Hegels Phänomenologie. In: Hegels Phänomenogie des Geistes. Hg. v. Klaus Vieweg u. Wolfgang Welsch. Frankfurt a. M. 2008, S. 415-438, hier: S. 426. Siehe aber auch S. 437, wonach heute nur ein „geringere[r] Grad an unbefragter und unhinterfragter Sittlichkeit“ zulässig, „nicht so viel Identifizierung mit dem gemeinsamen Geist“ zu fordern sei. 38 „1. Der moderne Autonomiebegriff geht davon aus, daß eine Handlung moralischen Wert nur besitzt, wenn sie aus persönlicher, wohlerwogner Überzeugung und im Einklang mit den wichtigsten Werten eines reflektierten Willens vollzogen wurde. 2. Der moderne Rationalitätsbegriff verlangt, daß die Wahrheit der Urteile und die Richtigkeit der Handlung für andere nachvollziehbar und aufgrund allgemeiner Kriterien zu rechtfertigen sind. […] 3. Der moderne Ethikbegriff verlangt eine Entscheidung, die für alle wirklichen und möglichen Vernunftwesen gleich ist, aber zugleich eine solche, die alle relevanten Aspekte einer Situation, einschließlich der kaum greifbaren Stimmungen, Empfindlichkeiten etc. berücksichtigt und ihnen adäquat Rechnung trägt“ (Siep: Moralischer und sittlicher Geist, S. 426). Vgl. ebd., S. 419 zu Hegels Geistbegriff: „Die systematische Frage dahinter, die heute noch aktuell ist, lautet: Können Normen, Sitten, Gesetze unbefragt und unbezweifelbar existieren und gelten - und zugleich von den persönlichen Überlegungen der Menschen geprüft und kritisiert werden? “ <?page no="134"?> 134 Steffen Schmidt cherheiten und Unentschiedenheiten jedoch wohl kaum aufrechterhalten. Die Organisation des gesellschaftlichen Miteinanders steht heute vor veränderten Herausforderungen und neuen Schwierigkeiten - diesen haben wir uns zu stellen. <?page no="135"?> Burroteca oder der Citoyen als gebildeter Bürger Hegels epistokratische Konzeption des modernen Staates Klaus Vieweg Burroteca - dies könnte als ein Sinnbild für die exorbitante Rolle von Bildung im 21. Jahrhundert stehen: Ein kolumbianischer Lehrer zieht an den Wochenenden mit seinem Esel, dem burro, der auszuleihende Bücher (bibliotheca) trägt, in schwer zugängliche Gebiete und versorgt so die Menschen mit Bildung. Und in letzterer sieht er die einzige Kraft, um den verheerenden Bürgerkrieg zu beenden. Mit dieser Einsicht weist sich der Lehrer als ein wahrhaft Gebildeter aus, als ein echter Citoyen. Sein vom Esel gestütztes Tun ist das Gegenteil von Eselei, das Erkennen und Anerkennen der Kraft des Wissens, dem Kern des Epistokratischen, sein Tun würde Hegel als ein Exempel der Gesinnung eines freien Bürgers ansehen. Die folgenden Überlegungen zielen auf den Zusammenhang von Staat und Bildung und zwar in einer grundlagentheoretischen Perspektive. 1 Es geht um Kernbestimmungen des Staates aus einer Hegelschen Perspektive. Hegels gesamte praktische Philosophie lässt sich letztlich in einer Sentenz komprimieren: moderne Philosophie der Freiheit und des Rechts als Staatswissenschaft. Die höchste Bestimmung erfährt das Denken praktischer Freiheit auf der Ebene des Politischen, auf dem Standpunkt des ‚höchsten Sittlichen als eines konkreten Allgemeinen‘ (§ 303). Diese phi- 1 Dieser Beitrag beinhaltet Teile einer ausführlichen Explikation der Thematik in: Vieweg, Klaus: Das Denken der Freiheit. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts. München 2012. <?page no="136"?> 136 Klaus Vieweg losophische Theorie politischer Freiheit und Gerechtigkeit - so die These - öffnet das Tor für ein tiefer lotendes Verständnis der modernen Welt, die philosophische Grundlage für eine aktuelle Konzeption von Modernität. 2 Rousseau zufolge müssen die ‚wahren Grundsätze des Staatsrechts‘ formuliert werden, um den Staat auf eine feste Grundlage zu stellen. Was hat es aber mit dem Staat auf sich? Dieses Gebilde „Staat“ (lo stato, civitas, state) erregt zu Recht bis heute die philosophischen Gemüter und fordert die praktische Philosophie in besonderer Weise heraus. Er wurde apotheosiert und verteufelt, das Band der Deutungen und Definitionen spannt sich breit: res publica, künstlicher Mensch, Leviathan, sorgender Vater, la force publique, Herrschaftsmaschine, Repressionsinstrument, Nachtwächter, öffentliche Person, Anstalt des Ausdrucks eines Gemeinwillens. Der Anspruch von Hegels Staatswissenschaft - die sittliche Welt, „den Staat als ein in sich Vernünftiges zu begreifen und darzustellen“ (RPh 26) war und bleibt in vieler Hinsicht ein gewaltiger Stein des Anstoßes: Manche Hegel- Kritiker sehen darin ein rotes Tuch und wiederholen gebetsmühlenhaft den nur ihre Unkenntnis und Ignoranz bezeugenden Slogan: „Der Staat bei Hegel ist alles, der Einzelne nichts.“ Über den Gehalt dieses vermeintlichen nothing bei Hegel erfährt man in diesen Deutungen nothing. Manche scheuen sich nicht, Hegel gar zum Vordenker von Totalitarismus und Faschismus zu proklamieren. 3 Für andere bleibt Hegels Staatstheorie Anlass für ein neues Nachdenken über die heutige Gestaltung der res publica, also nicht der Stein der Weisen, sondern ein Probierstein für kritische Prüfung der Grundsätze gemeinschaftlichen Lebens. Der Staat ist bei Hegel - wenn wir der Metaphorik des Bauens folgen - eine herausgehobene Formation - nämlich der Schlussstein der Rechtsphilosophie, der letzte Stein, der zugleich das Fundament bildet, auf welchen sich die Architektonik des Ganzen gründet. Wir haben damit den chiave di volta des ‚gotischen Dombaus‘ 4 , ohne den das ganze Gebäude nicht bestehen und in sich zusammenstürzen würde - somit den Schlussstein als Grund des Ganzen, das Fundament einer ‚Welt der Freiheit‘. Das gesamte Bauwerk gleicht einem „Tem- 2 Als Schlüsseltext der Interpretation gelten Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, im Folgenden: RPh. Manfred Riedel spricht anlässlich Hegels von einer Neubegründung der politischen Philosophie in der Moderne: Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie. 2 Bde. Frankfurt 1975, Bd. 1, S. 38. 3 Etwa Friedrich Meinecke, Ernst Cassirer und Karl Raimund Popper, ohne dass die Genannten sich je tiefgründig mit Hegels Philosophie beschäftigt hätten. 4 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: TWA 12, S. 67. Im Folgenden: PhilG. <?page no="137"?> „Burroteca“ oder der Citoyen als gebildeter Bürger 137 pel der Vernunft“, ähnlich dem imposanten Palazzo della Ragione in Padua, der in sich und um sich die verschiedenen Lebensvollzüge freier Wesen vereinigt: Recht, Markt, Kunst, Religion, Intellektualität. Hegel spricht in den Grundlinien von einem ‚gebildeten Bau‘, von der ‚reichen Gliederung des Sittlichen in sich, welche der Staat ist‘, von der „Architektonik seiner Vernünftigkeit, die durch die bestimmte Unterscheidung der Kreise des öffentlichen Lebens und ihrer Berechtigungen und durch die Strenge des Maßes, in dem sich jeder Pfeiler, Bogen und Strebung hält“ 5 , charakterisiert wird. In diesem Sinne gebraucht Hegel auch die Metaphorik der Hieroglyphe als einer Struktur, in welche das Vernünftige oder Absolute eingraviert ist, im Sinne der Einheit von Begriff und seiner Wirklichkeit. Damit hat sich Hegel eine sehr schwere Bürde aufgeladen: die neue Legitimation des Politischen, die Begründung des Staates als höchster Formierung des freien Wollens aus dem begreifenden Denken. Hegels politische Philosophie zielt auf ein Verständnis des Staates als Idee, und zwar der Idee in der Form der höchsten Stufe der sittlichen Wirklichkeit, der höchsten Stufe des objektiven Geistes (des Rechts, der praktischen Freiheit). Der Staat wird als die „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ (RPh § 257) in vollkommener Ausbildung ihrer Form bestimmt. Dieses Grundtheorem muss möglichst präzise ausbuchstabiert und das System der Hauptbestimmungen dieser Idee entfaltet werden und zwar im Sinne der These, dass die ‚Construction des Staates‘ die ‚Realisation des Gebäudes der Freiheit‘ darstellt, die objektive Formierung der Gerechtigkeit als einer Einheit von Rechtlichkeit und Sozialität. 6 Hier können natürlich nur einige Grundzüge angerissen werden. Vor der direkten Hinwendung zum Gehalt von Hegels Fundamentalbestimmung der Idee des Staates soll eine kurze Anmerkung seiner kritischen Würdigung von Rousseau stehen: Der Verfasser des Contrat Social habe die Frage nach der Legitimation des Staates durch ein ‚Gedankenprinzip‘ 5 RPh, S. 19; PhilG 12, S. 67. 6 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818-1831. Ed. u. komm. v. Karl-Heinz Ilting. 4 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 1973ff., Bd. 3, Philosophie des Rechts. Nach der Vorlesungsnachschrift von H.G. Hotho 1822/ 23, S. 716. Gegenstand kann hier nicht der abstrakte Staat sein, den Hegel als bloße Vereinigung der Menschen unter ein Band oder eine Macht und als bloße Herrschaft beschreibt. Eine solche in sich nicht vernünftige Organisation verdient nicht den Namen Staat (Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion (PhRel). In: TWA 17, S. 161). <?page no="138"?> 138 Klaus Vieweg beantwortet. 7 Rousseau wird die Rolle des eigentlichen Inaugurators eines modernen philosophischen Staatsverständnisses zugeschrieben: er fundiere den Staat auf dem Denken, es werde ‚vom Gedanken angefangen‘ und ein Prinzip formuliert, dass „dem Inhalt nach Gedanke ist, und zwar das Denken selbst ist“. Die Freiheit, der freie Wille sind als Prinzip des Staates aufgestellt. Recht und Sittlichkeit können so als auf den ‚präsenten Boden des Willens des Menschen gegründet betrachtet werden‘. 8 ‚Rousseau hat also einerseits den wahrhaften Gedanken über den Staat den Impuls gegeben, auf der anderen Seite nicht den Willen als solchen zur Grundlage des Staats bestimmt, sondern den Willen des einzelnen in seiner Punktualisierung‘. 9 Der Staat ruht nicht auf Prinzipien fragwürdiger Legitimität wie etwa göttlichen oder traditionalen Autoritäten. Er hat sein Fundament aber auch nicht im Selbsterhaltungsbedürfnis der Individuen, nicht bloß im Drang der Einzelnen nach Sicherheit und Schutz ihres Eigentums, nicht in einem puren Sozialitäts- oder Kommunikationstrieb. Von einem Staat als Veranstaltung der Not spricht Hegel, wenn die Bestimmung des Staates nur ‚im Schutz und der Sicherheit des Lebens, des Eigentums und der Willkür eines jeden gesehen wird, insofern diese Willkür das Leben und das Eigentum und die Willkür der anderen nicht verletzt‘ (RPh § 270). Die Kritik zielt hier auf die Unzulänglichkeit der neuzeitlich-aufklärerischen Positionen, die alles Metaphysische verbannen und vertilgen und auf den Verstand verkürzen (Vertrag, Selbsterhaltung, Schutzbedürfnis, Sozialität, Kommunikation), heute mit dem insuffizienten Verweis auf ein vorgebliches nachmetaphysisches Zeitalter oder ein postmetaphysisches Denken. Den Grundbaustein des Gesamtgefüges Staat bildet Hegel zufolge die Freiheit des Willens, der Wille, der nur als denkender frei ist. Der sittliche Geist in Gestalt des Staates kann als sich wissender und sich wollender Geist begriffen werden - und „das Wissen [ist] die wesentliche Form des Geistes […], wie es im Staate ist“ (Bl 209). Im freien Wollen und Handeln, das sich im Denken, im Vernünftigen begründet, sich nach allgemeinen Gesetzen und Grundsätzen bestimmt, liegt das Fundament des Staates 7 PhilG, S. 527. Zur Rousseau-Interpretation: Petersen, Thomas: Subjektivität und Politik. Hegels ‚Grundlinien der Philosophie des Rechts‘ als Reformulierung des ‚Contrat Social‘ Rousseaus. Frankfurt a. M. 1992. 8 PhilG, S. 522. 9 Hegel: Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/ 20 in einer Nachschrift. Hg. v. Dieter Henrich. Frankfurt a.M. 1983. Von Gewicht für Hegels Denken des Allgemeinen und Besonderen war die von Rousseau vorgenommene Unterscheidung von volonté générale und volonté particulierè. <?page no="139"?> „Burroteca“ oder der Citoyen als gebildeter Bürger 139 (RPh § 258), der Staat basiert wesentlich auf dem begreifenden Denken, er kann so als Vernunftgemeinschaft angesehen werden. Mit dieser Krönung des freien Willens, des vernünftigen, substantiellen Willens, der sich denkt und weiß sowie sich als dieser freie darstellt, zum Fundamentalprinzip des Staates haben wir den Grund der Idee des Rechts (RPh § 1), das Zentrum des objektiven Geistes erreicht. Der in der RPh explizierte Fortgang der Bestimmung des Willens durch die vielfältige Stufenleiter führte ‚zum eigentlichen Grund, das aus dieser Vermittlung hervorgehende Resultat zeigt sich als der Grund und die Wahrheit desjenigen, woraus es hervorgegangen‘ (PhRel 16, 111). Insofern war der Untertitel der Rechtsphilosophie, nämlich „Staatswissenschaft“ nicht etwa eine Marotte oder gar ein Fehlgriff, im Gegenteil: Nicht nur das letzte Kapitel, sondern die ganze Abhandlung thematisiert den Sachverhalt Staat als den eigentlichen und höchsten Gegenstand. Es handelt sich darum „den Staat als ein in sich Vernünftiges zu begreifen und darzustellen.“ (RPh 26) I. Der Staat als die Wirklichkeit der sittlichen Idee Hans Friedrich Fulda insistiert zu Recht darauf, dass zunächst kein individueller Staat mit fixierter Struktur bestimmt wird, sondern dass Civitas, Politeia (>>Bürgerheit<<, >>Bürgersein<<), dass der Staat, der sich in der Welt realisiert „jene Wirklichkeit ist, die den festen Stand (status) eines freien Bürgers ausmacht.“ 10 An diesem Schlüsselgedanken orientiert sich die folgende Interpretation, dies sei hier nachdrücklich betont, da viele Auslegungen der Hegelschen Staatskonzeption diesen entscheidenden Punkt, das eigentliche Fundament, nicht zureichend im Blick haben. Knapp formuliert: Staat bedeutet zuerst Bürgerheit, Citoyen-Sein, Bürgerschaft in doppelter Bedeutung des Wortes, nicht bloß Institution oder Administration. Die Lebensform freier Bürger findet ihren Ausdruck im Staat. Im Sinne der vernünftigen Gestaltung ihrer besonderen und allgemeinen Angelegenheiten schließen sich die Bürger zusammen, jeder Citoyen repräsentiert diesen Staat, eben das Bürger-Sein. Die Menschen „sind selbst die Lebendigkeit, Tätigkeit, Wirklichkeit des Staates“ (PhRel 16, 81f.) der Staat ihr allgemeines Leben, ihre res publica. Das Sittliche hat die wahre ‚Form der 10 Fulda, Hans Friedrich: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. München 2003, S. 222f. - „Staat - Stand, Zustand“ (RPh § 142 Z). <?page no="140"?> 140 Klaus Vieweg Allgemeinheit‘ als ein System der Gesetzgebung. 11 In diesem wahrhaften Gemeinwesen kann der Freiheitsbegriff, der Gedanke der Freiheit seine Realisierung erfahren. Keinesfalls kann der Staat als Einschränkung, Begrenzung, Einengung des freien Wollens begriffen werden, im Gegenteil: Er verkörpert (sofern er den Namen Staat verdient) das Vernünftige menschlichen Wollens und Handelns, die freie Vereinigung der Bürger, ihr im begreifenden Denken fundiertes Zusammengeschlossensein. Entgegen heute weit verbreiteten Auffassungen repräsentiert der Staat keine Beschränkung von Freiheit (typisches Modell: ‚Staatliche Gesetze und Regeln schränken mein freies Tun ein‘). In den Behauptungen, dass „jeder seine Freiheit in Beziehung auf die Freiheit der anderen beschränken müsse“ und dass ‚der Staat und die Gesetze diese Beschränkungen darstellen‘ - reduziert sich Freiheit auf zufälliges Belieben und Willkür (Enz § 539). Aber genau diese Sphäre der Besonderheit und der Willkür bildet höchst selbst das ‚Feld der Beschränkungen‘, insofern dort die Freiheit mit Belieben und Willkür identifiziert wird. ‚Der Staat ist keine Beschränkung der Freiheit, durch die Beschränkung des natürlichen Willens und der Willkür kann der Mensch [erst] frei werden‘ 12 , der Staat muss so als Form der Selbstbestimmung 13 verstanden und organisiert werden, in Gestalt eines selbstgegebenen zweiten Zwangs gegen den ersten und inakzeptablen Zwang der Willkür. II. Rekurs auf den Beginn des Sittlichkeits-Kapitels Für das Verständnis der sittlichen Idee empfiehlt sich der Rekurs auf den Anfang des Sittlichkeitskapitels; § 143 RPh stellt prononciert heraus, dass 11 Vgl.: Hegel: Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften (1802/ 1803). In: TWA 2, S. 508. 12 Hegel: Die Philosophie des Rechts. Vorlesung von 1821/ 22. Hg. v. Hansgeorg Hoppe, Frankfurt a. M. 2005, S. 233. Kant vertritt die Position, dass „es im Recht sogleich dazu komme, daß die Freiheit beschränkt werden müsse, so daß Recht eine Beschränkung der Freiheit unmittelbar mit sich führe. Diese Ansicht wird unserer Darstellung entgegen sein […] die Bestimmungen des Rechts sind nicht negativ, beschränkend gegen die Freiheit“, die Freiheit „ist im Recht affirmativ, praesent.“ Ilting: Hegel. Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818-1831. Bd. 4, Philosophie des Rechts. Nach der Vorlesungsnachschrift K.G.v. Griesheims 1824/ 24 [Gr], S. 109. 13 Hegel „forderte, daß ein Volk sich selbst Gesetze gebe und erklärte es für lächerlich, für eine Schmach, wenn man es dazu nicht für reif halte.“ Rosenkranz, Karl: Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben. Berlin 1853, S. 332. <?page no="141"?> „Burroteca“ oder der Citoyen als gebildeter Bürger 141 die Einheit des Begriffs des Willens und seines Daseins (des besonderen Willens) im Wissen liegt, dies gilt natürlich auch für den Staat als höchster Stufe der Sittlichkeit. Das objektiv Sittliche, stellt sich in den an und für sich seienden Staatsgesetzen und Staatseinrichtungen dar, als System institutioneller Mächte, als gute Verfasstheit. In der Objektivität und Wirklichkeit der Gesetze und Institutionen äußert sich die Form der Allgemeinheit, die Form des Gedankens (RPh § 256). Zu diesem institutionellen Verfasstsein muss das entsprechende Bewusstsein treten, zum ‚Leib‘ gehört die ‚Seele‘. Das subjektiv Sittliche kann als politisches Selbstbewusstsein, Staatsgesinnung, als Bürger- oder Citoyen-Bewusstsein beschrieben werden. Thematisch wird ein die sittlichen Inhalte, die sittliche Substanz wissendes Selbstbewusstsein, das sein Wesen in der Selbstbestimmtheit hat, ein Verstehen des wesentlichen Gehaltes der Freiheit, auf höchster Stufe in Form des begreifenden Denkens der Freiheit. Die „Willensintentionen Einzelner werden nun auf den allgemeinsten Zweck ihrer Vereinigung in einem substantiell allgemeinen Willen so ausgerichtet, dass sie dessen Zweck nicht bloß außer sich haben, sondern in sich enthalten als einen, der in ihnen gewusst und gewollt wird“. 14 Im sich wissenden, sich denkenden sittlichen Geist hat der Staat sein Fundament, im freien Wille, der dieses sein Wissen realisiert. „Es ist töricht, zu meinen, dass man das Recht wollen könne, ohne viel zu denken. Der Staat ist gerade dieser, der das Höchste nicht bloß als ein Instinktartiges hat, sondern der dieses weiß; nur auf diese Weise ist er wahrhaft vorhanden.“ (Bl 209). Eine staatliche Gemeinschaft, die nicht auf dieser Grundlage des begreifenden Denkens ruht, kann nicht als wahrer oder freier Staat gelten. Nicht zufällig kann vom Ungeist, von Tyranneien oder Diktaturen gesprochen werden, diese würden vom Verdikt Hegels voll getroffen, da sie ihre Legitimation nicht aus dem Denken, sondern aus anderen insuffizienten Instanzen beziehen, wie etwa aus einem angeblichen Recht der Stärkeren, aus einer Rasse etc. Nicht zufällig hat Alfred Rosenberg das universalistische Rechtsverständnis Hegels scharf attackiert und Carl Schmitt den Todestag Hegels auf den 30. Januar 1933 datiert. 14 Fulda: Hegel (Anm. 10), S. 223. <?page no="142"?> 142 Klaus Vieweg III. Das Selbstbewusstsein der besonderen Einzelnen Die sittliche Substanz in Form sittlicher Strukturen oder Institutionen steht den Individuen nicht nur äußerlich oder unmittelbar gegenüber, der Staat hat erst im Selbstbewusstsein der Einzelnen als der ‚unendlichen Reflexion in sich‘ seine vermittelte Existenz. Das Selbstbewusstsein beschränkt sich eben nicht auf bloße Einsicht in Vorgefundenes. Der Staat kann nicht als ein bloßer Mechanismus verstanden werden, in welchem die Individuen zu Rädchen degradiert sind. Wissen und selbstbewusstes Tätigsein sind ebenso konstitutiv für den Staat, die wissensgestützte Tätigkeit macht „die Individualität des Selbstbewusstseins aus, die sich als Negativität setzt und das freie Ich die unendliche Beziehung auf sich ist.“ Die sittlichen Mächte sind Ausdruck und Zeugnis des eigenen Wesens der Subjekte, die ‚sittliche Substanz ist in diesem ihren wirklichen Selbstbewußtsein sich wissend‘ (RPh § 146). 15 Der Stufengang dieses ‚Sich-Wissens‘ verläuft entsprechend § 147 von a) der ‚verhältnislosen Identität‘ über b) die Gewohnheit hin zu c) der Ebene der Reflexion im Sinne einer Einsicht in Gründe bis zum entscheidenden Level d) als dem begreifenden Denken, das den entscheidenden Grundpfeiler für den Staat liefert. Die politische Gesinnung als Wissen - dies hat eminente Bedeutung - gliedert sich in verschiedene Stufen, in Stufen der politischen Bildung überhaupt. Entscheidende Bedeutung kommt so der Applikation des Gehalts von § 147 zu, sonst bleibt § 268 allzu kursorisch. 16 Das Selbstbewusstsein des Einzelnen, insofern ihm der Status des Bürgerbewusstseins bzw. Citoyen-Bewusstseins zukommt, hat durch diese seine ‚Staatsgesinnung‘ seine substantielle Freiheit, es ist frei, insofern es im Anderen - in der Bürgerschaft, im Staat - bei sich selbst bleibt, zu sich selbst kommt. In der bewussten Partizipation und Unterstützung für das Gemeinsame kann die Anerkennung in Gestalt einer ‚Bürgerfreundschaft‘ (Aristoteles), einer wechselseitigen Schätzung als guter Bürger, hervortreten. 17 Im Citoyen-Bewusstsein, das im weltbürgerlichen Denken kulminiert, erreicht das praktische Selbstbewusstsein seine höchste Gestalt. Der Einzelne sieht im Staat das Produkt der gemeinsamen Tätigkeit der Bürger und begreift ihn nicht als etwas Äußerliches, im Selbstbewusstsein als 15 Die sittliche Substanz hat die wissende Subjektivität zum Inhalte und absoluten Zweck (Enz § 535). 16 Dazu näher: Vieweg: Das Denken der Freiheit (Anm. 1). 17 Vgl. Siep, Ludwig: Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels. München 2010, S. 273. <?page no="143"?> „Burroteca“ oder der Citoyen als gebildeter Bürger 143 Bürgerbewusstsein drückt der Citoyen seine Selbstbestimmtheit aus - „Das Eigenste der Individuen ist es, wovon sie regiert werden.“ (Kiel 233) Die Einzelnen agieren als ‚Bestimmende ihrer selbst‘, sie ‚hängen von sich ab‘, es gibt kein Anderes, das sie nicht selbst sind. (Enz § 23, Z). Der Staat muss so als Realisation des Freiheitsbegriffs gelten können, dazu gehört wesentlich das Bewusstsein der an sich seienden Freiheit. So kann Hegel von der selbstbewussten sittlichen Substanz sprechen: der Staat verbindet die Verfassung im Sinne der Gesetze und Institutionen mit dem Verfassungsbewusstsein, mit dem echten Bürgerbewusstsein, verknüpft die Gesetze mit dem ‚Geist der Gesetze‘ (Montesquieu). Nur unter Erfüllung dieser Bedingung kann der Staat als sich wissende Sittlichkeit, als höchste Form des Sittlichen 18 angesehen werden. Während der bürgerlichen Gesellschaft das Prinzip des besonderen Willens, so liegt dem Staat der allgemeine Wille zugrunde, er hat das Vernünftige als die wissende Subjektivität zum Inhalt und zum absoluten Zweck (Enz § 535). La loi est l’espression de la volonté générale. 19 Die substantielle Einheit, das ‚Eins-Sein der Einigen‘ (RPh § 142, A) wird unmissverständlich zum Zweck proklamiert, darin bekräftigt Hegel den leitenden Gedanken der Selbstbestimmung. 20 In Theorien des Staats, die als dessen Hauptaufgabe etwa die Sicherheit seiner Bürger, den Schutz des Eigentums und der persönlichen Freiheit ansehen, stellt das Interesse der besonderen Einzelnen den letzten Zweck dar. Der Staat soll im Verhältnis zu den besonderen Interessen der Bürger bloß als ein Mittel und die partikularen Zwecke hingegen als absolute gelten, diese Auffassung bezeichnet Michael Wolff zu Recht als die Folge eines objektiven Scheins. 21 In dieser Herabsetzung des Staats zu einem Mittel stimmen alle Vertragskonzepte überein, die ein Gemeinschaftliches auf Einzelinteressen und Einzelwillen gründen möchten. „Das Individuelle, Besondere ist dabei immer zum Zweck gemacht.“ (Bl 209) Aber der Wille des partikular Einzelnen als solcher kann nicht zum Prinzip des Staates erhoben werden. Bei dieser ‚atomistischen Ansicht des Politischen‘ werde eben auf das Innerste des philosophischen Denkens, auf den Gedanken des Absoluten als sich auf sich beziehender 18 Die Sittlichkeit in der vollkommenen Ausbildung ihrer Form (Bl 208). 19 Vgl.: Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen, Art. 6. 20 Hegel „sprach jedem Volk die absolute Befugnis zu, sich Gesetze geben zu dürfen und die praktische Vernunft in den ihm angemessenen individuellen Formen zur allgemeinen Norm zu erheben.“ Rosenkranz: Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben (Anm. 13), S. 333. 21 Wolff, Michael: Hegels staatstheoretischer Organizismus. Zum Begriff und zur Methode der Hegelschen Staatswissenschaft. In: Hegel-Studien 19, S. 147-178, hier S. 161. <?page no="144"?> 144 Klaus Vieweg Negativität verzichtet und auf den bloßen Verstand rekurriert, mit desaströsen Folgen für das Staatsverständnis. Das Verbindende, das Vereinende des Staates sinkt zu einer Sache der Partikularität der Bedürfnisse und Neigungen, zu einer Sache der beliebigen Einwilligung und der Willkür herab. Im Vertrag als einem äusserlichen Verhältnis 22 , als einem bloß Gemeinschaftlichen der einzelnen Willen hat der Staat keine konsistente Legitimation, er fußt nur auf einer Allgemeinheit des Verstandes. Auch heute mangelt es oft an der entscheidenden Distinktion zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat. Entweder reduziert sich in antimetaphysischer Absicht das Allgemeine auf Konsens und Kommunikativität oder man traut der bürgerlichen Gesellschaft eine weitgehende Selbst- Regulation zu - beides geht an der Sache vorbei, ja hat gerade eine Ironie in sich: „Von Hegels Standpunkt aus muß es als Paradoxie […] erscheinen, daß [solche Konzeptionen] die in der bürgerlichen Gesellschaft vorhandenden Sonderinteressen viel weniger zu ihrem Recht haben kommen lassen, als es die Hegelsche Lehre vom Selbstzweckcharakter des Staates erlaubt [...] Hegels Staat dagegen, der die partikularen, privaten Interessen, Bedürfnisse etc. gerade nicht zum absoluten Zweck macht, läßt ihnen viel größeren Spielraum.“ 23 Der Staat erweist sich als Ausdruck und Garant des freien Wollens und Handelns. Die Vereinigung selbst, eine Manifestation des freien Wollens, bleibt der wahrhafte Inhalt und Zweck. In der ‚bunten Verschiedenheit‘, in den ‚widersprechenden Momenten kann ein allgemeiner Zweck erkannt werden, dass ‚sich alle menschlichen Vermögen, alle individuellen Kräfte nach allen Seiten und Richtungen hin entwickeln und zur Äußerung bringen sollen‘. Die Charakterisierung der Staatsbürger als sich selbstbestimmende Akteure bedeutet, dass sie, um ein ‚allgemeines Leben zu führen‘, ihre besonderen Lebensvollzüge haben, unveränderlich dieses Allgemeine zum Ausgangspunkt und Resultat (RPh § 258). Die Freiheit der besonderen Subjekte kommt in ihrem Status als Mitglied dieses Zusammenschlusses, in ihrem Status als Citoyen, als autonomer Angehöriger des Staatszusammenschlusses zu ihrem höchsten Recht. Diese Struktur hat ihren Kern in der gleichberechtigten politischen Partizipation als Aufhebung der formellen Partizipation an der bürgerlichen Gesellschaft. Hierin kommt die höchste, absolute Möglichkeit von Freiheit im Wollen und Handeln zum 22 Vgl. Enz § 98 - „der Wille der Einzelnen als solcher [ist] das Prinzip des Staates; das Attrahierende ist die Partikularität der Bedürfnisse, Neigungen, und das Allgemeine, der Staat selbst, ist das äußerliche Verhältnis des Vertrags.“ 23 Wolff: Hegels staatstheoretischer Organizismus (Anm. 21), S.162. <?page no="145"?> „Burroteca“ oder der Citoyen als gebildeter Bürger 145 Ausdruck. „Im wahrhaft vernünftig gegliederten Staat sind alle Gesetze und Einrichtungen nichts als eine Realisation der Freiheit nach deren wesentlichen Bestimmungen.“ 24 Dieser Maßstab verlangt uneingeschränkte Beachtung, d.i. nur wenn der vorherige Satz zutrifft und gilt, nur dann findet der Bürger ‚in diesen Institutionen nur die Wirklichkeit seines eigenen Wesens und geht, wenn er diesem Gesetzen gehorcht, nicht mit dem ihm Fremden, sondern nur mit dem Eigenen zusammen‘. 25 Jede staatliche Vereinigung muss sich an diesem Kriterium der Freiheit messen lassen und vermag eben nicht per se als ein Staat der Freiheit anerkannt zu werden, sondern nur dann, wenn das denkende und handelnde Ich in diesem Zusammenschluss als einem Anderen seiner selbst bei sich selbst, folglich autonom und frei sein kann, nur dann „wenn der Staat eine sittliche Konstitution ist.“ 26 Außerordentliche Wichtigkeit kommt somit der konkreten Bestimmung der Pflichten des Staates und der Rechte der Bürger wie auch der Rechte des Staates und der Pflichten der Bürger zu (RPh § 258, A, 406). IV. Die Idee des Staates Die freie Selbstbestimmung des besonderen Willens muss sich ebenso als allgemeine und objektive Freiheit erweisen. Insofern der Staat die Wirklichkeit des substantiellen Willens darstellt, lässt er sich als das ‚an und für sich Vernünftige‘ beschreiben - ein Vernünftiges als das ‚Höchste für den Willen‘. 27 In einer ersten abstrakten Näherung kann der Staat als ein System, als ein Ganzes von (drei) Schlüssen begriffen werden, als eine ‚sich durchdringende Einheit der Allgemeinheit und der Einzelheit, der Einheit der objektiven Freiheit, des allgemeinen Willens und der subjektiven Freiheit als des besonderen Willens und seine besonderen Zwecke suchenden Willens (RPh § 258). 28 24 Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. In: TWA 13, S. 136. 25 Ebd. 26 PhRel, S. 104. 27 Diese Formulierung zeigt an, dass erst im absoluten Geist, letztlich in der Philosophie, das Höchste des Vernünftigen und Freien erklommen wird. 28 „Wie das Sonnensystem, so ist z.B. im Praktischen der Staat als ein System von drei Schlüssen. 1) Der Einzelne (die Person schließt sich durch seine Bestimmtheit (die physischen und geistigen Bedürfnisse, was weiter ausgebildet die bürgerliche Gesellschaft gibt) mit dem Allgemeinen (der Gesellschaft, dem Rechte, Gesetz, Regierung) zusammen; 2) ist der Wille, Tätigkeit der Individuen das Vermittelnde, welches den Bedürf- <?page no="146"?> 146 Klaus Vieweg Nicht bloß der Staat im Sinne des inneren Staatsrechts (Enz, WdL) und der politische Staat (die Verfassung) stellen ein Ganzes von drei Schlüssen dar, dies betrifft ebenfalls (und zuerst) die in § 259 fixierte Gesamtstruktur der Idee des Staates. Die Applikation der Schluss-Trias erfolgt in der Auslegung einer einzigen Totalität, eines Ganzen und seiner inneren logischen Vermittlung und zwar aus dem einen logischen Grund, demzufolge „nur die vom Begriff zur wirklichen Totalität entwickelte Idee ein in sich geschlossenes Ganzes von Syn-Logismen ausbildet.“ 29 Die Idee des Staates wird von folgender Schlusstriade charakterisiert: Qualitativer Schluss: E - B - A Staat als Einzelner Verhältnis besonderer Staaten Weltgeschichte inneres Staatsrecht äußeres Staatsrecht Weltrecht (ius civitatis) (ius gentium) (ius cosmopoliticum) Reflexionsschluss: A - E - B Schluss der Notwendigkeit: B - A - E nissen an der Gesellschaft, dem Rechte usf. Befriedigung, wie der Gesellschaft, dem Rechte usf. Erfüllung und Verwirklichung gibt; 3) aber ist das Allgemeine (Staat, Regierung, Recht) die substantielle Mitte, in der die Individuen und deren Befriedigung ihre erfüllte Realität, Vermittlung und Bestehen haben und erhalten. Jede der Bestimmungen, in dem die Vermittlung sie mit dem anderen Extrem zusammenschließt, schließt sich eben darin mit sich selbst zusammen, produziert sich, und diese Produktion ist Selbsterhaltung. - Es ist nur durch die Natur dieses Zusammenschließens, durch diese Dreiheit von Schlüssen derselben terminorum, daß ein Ganzes in seiner Organisation wahrhaft verstanden wird.“ (Enz § 198) Vgl. auch: Wissenschaft der Logik. In: TWA 6, S. 425. 29 Henrich, Dieter: Logische Form und reale Totalität. Über die Begriffsform von Hegels eigentlichem Staatsbegriff. In: Hegels Philosophie des Rechts. Die Theorie der Rechtsformen und ihre Logik. Hg. von Dieter Henrich und Rolf-Peter Horstmann. Stuttgart 1982, S. 428-450. Henrich verlangt dezidiert eine ausführliche Beschäftigung mit der spekulativen Theorie der Schlüsse. Die gründliche Explikation des Theorems vom Staat als Ganzes von drei Schlüssen wäre ein eigenes Thema. Dazu ausführlich: Vieweg: Das Denken der Freiheit (Anm. 1). <?page no="147"?> „Burroteca“ oder der Citoyen als gebildeter Bürger 147 Mit der letzten Figur erfolgt die Aufhebung der Schlussstruktur und die Konstitution eines Systems der Schlüsse, eines Ganzen, worin die bestimmten, festgelegten Positionen der Extreme und der Mitte aufgelöst sind und jedes Bestimmungsmoment selbst das Ganze darstellt. Bevor das Gefüge der Schlüsse einer ausführlichen Prüfung unterzogen wird, soll antizipierend die Aufmerksamkeit auf einen schwerwiegenden Paradigmenwechsel gelenkt werden, den Hegel im Anschluss an andere ‚weltbürgerliche‘ Konzepte hier systematisch vollzieht und logisch fundiert: Der Wechsel vom Modell des Nationalstaates hin zum Weltbürgertum, zur Weltbürgerlichkeit, zur ‚weltbürgerlichen Verfassung‘. Die Kontextualität der Staaten muss jetzt (aus logischen Gründen) als das Fundament der gesamten Staatlichkeit angesehen werden, von dem her der moderne Staat erst zureichend verstanden werden kann. Der Optionswechsel besteht darin, dass der Weltkontext nicht nur ein intrinsisches Moment der Idee des Staates darstellt, sondern als letzte und höchste Stufe des Staatsverständnisses zugleich den Grund des Ganzen ausmacht, den Schluss der Notwendigkeit, in dessen Mitte die Allgemeinheit steht (B - A - E). Dies impliziert, dass der Bürger logisch zwingend nicht nur als Bürger eines einzelnen und besonderen Staates, sondern von vornherein auch als Weltbürger gedacht werden muss. 1. Der einzelne Staat als Individuum ist durch seine Besonderheit (als besonderer, nationaler Staat) 30 mit dem Allgemeinen (Weltgeschichte) zusammengeschlossen, die einzelnen Staaten sind durch ihre äußerliche Besonderheit und ihre besonderen Interessen und Bedürfnisse an das Allgemeine geknüpft. 2. Das Wirken des einzelnen Staates (E) fungiert als das Vermittelnde, das dem Verhältnis der Staaten (B) wie dem Weltzusammenhang (A) Wirklichkeit gibt, indem ihr sittliches Wesen in das Extrem der Wirklichkeit übersetzt (gebracht) wird. Die einzelnen Staaten konstituieren durch ihre Beziehungen die Inter-Nationalität als ihre äußeren Verhältnisse: das äußere Staatsrecht bzw. das inter-nationale (inter-staatliche) Recht. 3. Das Allgemeine ist die substantielle Mitte, in der die einzelnen Staaten und ihr besonderes Wohl Vermittlung und Bestehen haben und erhalten. Die Weltgeschichte repräsentiert das ‚absolute Zentrum‘, worin das Extrem der einzelnen Staaten (E - Verfassung) mit ihren äußeren Verhältnissen zusammengeschlossen wird (B - internationales Recht). 30 Diese Besonderheit im Sinne einer speziellen naturellen und kulturellen Bestimmtheit bringt Hegel mit dem Terminus „Volksgeist“ zum Ausdruck (vgl. auch PhilG 12, S. 87.) <?page no="148"?> 148 Klaus Vieweg V. Hegels epistokratisch-meritokratische Konzeption In den modernen Vorstellung von Demokratie sollen die ‚Interessen der Gemeine‘, die res publica, vom Volk beratschlagt und beschlossen werden, die Einzelnen sollen partizipieren, weil die Staatsinteressen die Ihrigen sind. Darin sieht Hegel eine zutreffende Einschätzung des demokratischen Prinzips. Aber entscheidend bleibt, wer diese Einzelnen sind: „Absolute Berechtigung haben sie nur, insofern ihr Wille noch der objektive Wille ist“. 31 Als Träger dieses objektiven Willens kann nur der Citoyen auftreten, der über angemessene Bildung, somit objektives Wissen, verfügt. Entsprechend der französischen Revolutionsverfassung wird le progrés de la raison publique als ausdrückliches Ziel deklariert. Wenn aber das sich selbst bestimmende Subjekt, das gleichberechtigt an den öffentlichen Angelegenheiten des Staatsganzen partizipiert, somit der Inhaber des politischen Rechts auf die abstrakte Person - one (wo)man, one vote - und das konkrete Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft (bourgeois) reduziert wird, bleibt der politische Akteur als Citoyen unterbestimmt, für den aber öffentliche Vernunft (la raison publique) gefordert wird. Hegels Reformbill-Schrift artikuliert das ‚allgemeine Prinzip der gleichen Berechtigung aller Bürger, aller berechtigten politischen Subjekte‘. Ein Kernprinzip des Demokratischen, der gebildete Bürger, ist Hegel zufolge in den Formen bisheriger neuzeitlicher Demokratie bis 1800 nicht hinlänglich am Werk. Das one (wo)man, one vote muss aus Hegelscher Sicht aufgehoben werden, dies schließt ein das Bewahren des Prinzips der gleichgeltenden einen Stimme, die Überwindung der Abstraktheit und das Höherheben durch die Entscheidung eines gebildeten Bürgers. Hier tritt wiederum die herausgehobene Relevanz von Bildung in all ihren Facetten hervor und zwar - dies muss betont werden - der Bildung nicht als Privileg bestimmter Individuen oder Gruppen, sondern als eines öffentlichen Gutes, an dem jeder ohne Einschränkung, ohne Rücksicht auf seine Position in der bürgerlichen Gesellschaft, ohne Rücksicht darauf, ob er arm oder reich ist, partizipieren kann. Nicht Bildung selbst, nur falsch verstandene und falsch praktizierte Bildung führen zur Einschränkung der Möglichkeit der Bürger zur politischen Teilhabe. Der allgemeine vernünftige Wille muss als Subjekt, als Träger das vernünftige Individuum haben, den gebildeten Citoyen. Eine freie Verfassung erfordert den Citoyen, für dessen Bestimmung das Wissen, die Bildung das 31 PhilG 12, S. 309 (Herv. K.V.). <?page no="149"?> „Burroteca“ oder der Citoyen als gebildeter Bürger 149 Entscheidende darstellt. Vom Bürger kann streng genommen nur bei einem solchen wissenden Subjekt die Rede sein - frei bin ich nur dann, wenn ich mich in dem Anderen bei mir weiß. Die Hauptstufen dieser Bildung hin zum Citoyen und zur Citoyen-Gesinnung haben die Grundlinien umfassend expliziert, Stufen, in der sich die Bildung zum Allgemeinen vollzieht. 32 Ein solcher Citoyen, die Citoyen-Gemeinschaft als freie, gebildete Bürgerschaft muss als das Kernstück von Hegels Staatsorganisation angesehen werden, sofern man seiner (Schluss)Logik und nicht bloß den Buchstaben der Grundlinien folgt. Die Bürgerschaft als Vereinigung von Citoyens gilt als der politische Souverän, der kundige Bürger, der wissende Polit bestimmt über sein Gemeinwesen, über seine res publica. VI. Formale Demokratie und Bildungsdemokratie Aus dem Hegelschen Geist ergibt sich im Unterschied zum Modell der formalen Demokratie dasjenige einer Bildungs- und Wissensdemokratie, die ihr Fundament im politischen Recht des Bürgers als eines gebildeten Akteurs, in der Souveränität der zureichend gebildeten Bürgerschaft hat. Der Hauptzweck dieser Formation einer Epistokratie in Gestalt einer Wissensdemokratie liegt in der Bildung zur Freiheit, in der Bildung freier Bürger, in der Herausbildung eines Gemeinwesens, das im Gedanken der Freiheit verankert ist. Gemeinsame Bildung und lebendige Demokratie gehören unauflöslich zusammen. Nochmals: Dies impliziert keinesfalls die Zerstörung des Prinzips one (wo)man, one vote, sondern seine Fortbestimmung, sein intelligentes Entfalten zu einer höheren Form, eben hin zum gebildeten Bürger-Sein, zur gebildeten Bürgerschaft. Und nebenbei: Gerade die heutige Weltsituation zeigt, dass ein solches Fortbestimmen des Demokratischen unverzichtbar ist. Neu zu denken wäre die spannungsvolle Einheit des Formal-demokratischen (‚das Abstrakte des Liberalismus als Atomismus‘ 33 ) mit dem Epistokratischen und Meritologischen, mit dem Recht und 32 Vgl dazu: Vieweg, Klaus: ‚Wer sich nicht gedacht hat, ist nicht frei‘. Bildung und Freiheit in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts. In: Bildung zur Freiheit. Zeitdiagnose und Theorie im Anschluss an Hegel. Hg. v. Eberhard Eichenhofer und Klaus Vieweg. Würzburg 2010, S. 9-19; Ders.: Das Recht der Besonderheit des Subjekts und die ‚Reiche der Besonderheit‘ - Zur Modernität von Hegels Begriff der Freiheit. In: Bildung und Freiheit. Ein vergessener Zusammenhang. Hg. v. Klaus Vieweg und Michael Winkler. Paderborn 2012, S. 63-74. 33 PhilG 12, S. 534. <?page no="150"?> 150 Klaus Vieweg der Macht des Wissens und der Anerkennung der Fähigkeiten der Wissenden. Der Hinweis auf das vernünftige Wissen des Citoyen, der ‚wohl unterrichteten Entscheidung der Bürger‘ (Rousseau), antizipiert natürlich die Präsenz der Formen des absoluten Geistes in der Sphäre des objektiven Geistes, die Präsenz der höheren Formen des Vernünftigen, von Wissenschaft, Kunst, Religion und Philosophie im Citoyen-Bewusstsein. Der ‚Tempel der Freiheit‘ kann ohne diese ihm immanente ‚Seele‘, ohne die Gegenwart der Minerva, der Göttin der Polis und des Wissens, nicht gebaut werden und nicht bestehen. Ohne Berücksichtigung dieses Verhältnisses von objektivem und absolutem Geist, zwischen dem Staat einerseits und Kunst, Religion und Philosophie andererseits wäre die Konzeption einer Bildungs- und Wissensdemokratie obsolet, da die Komponenten des Wissens in ihrer Ganzheit hereintreten - nur der wohl unterrichtete, informierte, über Urteilskraft verfügende Bürger kann der Souverän sein. 34 Diesen Gedanken der entscheidenden Verankerung des Staates in Wissen und Bildung, des Prinzips des Epistokratischen, finden wir im § 270. Der Zweck des Staates ist „der als durch die Form der Bildung hindurchgegangene, sich wissende und wollende Geist. Der Staat weiß daher, was er will, und weiß es in seiner Allgemeinheit, als Gedachtes; er wirkt und handelt deswegen nach gewußten Zwecken, gekannten Grundsätzen und nach Gesetzen“ (RPh § 270). Allein durch die von Hegel vorgenommenen Kursivierungen von Wissen und Denken offenbart sich seine Intention, die Konzipierung eines durch die Form der Bildung hindurchgegangenen Staates des Wissens in überzeugender Weise. Der Staat, die sich frei bestimmende Bürgerschaft weiß den eigenen Zweck als Allgemeines. In der Generierung eines solchen objektiven Wissens, einer umfassenden Bildung besteht die eigentliche Legitimität und der höchste Zweck des Staates, der res publica. Die Athene symbolisierte die Bürgerschaft und die Einheit des politischen Gemeinwesens mit der Weisheit. Despotismus und Fundamentalismus sind Formen, die sich auf die auf Nicht- oder Halbbildung ruhenden Gesinnung des Unrechtlichen, auf Ungebildetheit gründen und die Freiheit gefährden können. Die gefährlichste unter solch unfreien Vereinigungen haben wir in der Tyrannis, weil in ihr die Rechte der Bürger in keiner Weise zureichend geschützt und außeror- 34 Dieser Sachverhalt wird von Hegel anlässlich des Verhältnisses zwischen Staat und Religion sowie zwischen Staat und Wissenschaft erörtert: RPh, § 270 u. Enz § 552. <?page no="151"?> „Burroteca“ oder der Citoyen als gebildeter Bürger 151 dentlich bedroht wären. 35 Hegels massives und stetes Hervorheben des Rechts auf Bildung wird hier besonders einleuchten, ohne gebildete Bürger kann keine moderne Ordnung, keine Demokratie gedeihen - ‚der Unwissende ist unfrei‘. Das Hervortreiben der Allgemeinheit des Denkens liefert das wohl entscheidende Instrumentarium gegen die Unmenschlichkeit. In den Unrechtsordnungen gelangt stets die Geistes-Armut als Denk-Armut an die Macht, ihre Verbrechen beruhen auf prinzipiellen Verletzungen des Begriffs des Rechts. Philosophie hat die Verantwortung, diese Verletzungen des Begriffs offenzulegen, darin liegt das Recht der Philosophie auf intellektuelle Notwehr und Widerstand. In Wissen und Bildung der Bürger haben wir die einzig tragfähigen Garanten für das Widerstehen gegen jegliche Inhumanität. Nur die gebildete Bürgerschaft kann die Kraft zur Gewährleistung einer freien Verfasstheit sein - die Bildung ist in ihrer absoluten Bestimmung Befreiung. Diese Emanzipation impliziert „im Subjekt die harte Arbeit gegen die bloße Subjektivität des Benehmens, gegen die Unmittelbarkeit der Begierde sowie gegen die subjektive Eitelkeit der Empfindung und die Willkür des Beliebens. [...] Durch diese Arbeit der Bildung ist es aber, daß der subjektive Wille selbst in sich die Objektivität gewinnt“. Dieser Standpunkt versteht die Bildung als ‚immanentes Moment des Absoluten‘ und erweist ihren ‚unendlichen Wert‘ (§ 187). Im Vernunftrecht hat die Legitimität des Staates und des politischen Widerstands seine Quelle. Das Messen der bestehenden positiven Rechtsordnung muss an den Kriterien einer theoretischen Verfassung der Freiheit erfolgen, der Nervus probandi für eine freien Staat kann letztlich nur das begreifende Denken sein. Das Geltendmachen des politischen Rechts des Bürgers führt zur Pflicht der Staatsinstitutionen, die Rechte seines Souveräns - des Citoyen - zur Geltung zu bringen und zu garantieren, falls nicht, so kann der Souverän berechtigten Widerstand leisten und sein Recht einfordern und erstreiten. Dies betrifft speziell auch das Recht auf Bildung, die Verwirklichung des letzteren muss im kurz umrissenen Modell der Wissensdemokratie zu den höchsten Staatsaufgaben zählen. 36 Es liegt in der Hand der Bürgerschaft, der Gemeinschaft der Bürger durch freie Entscheidungen, die auf Wissen basieren, eine freie politische Verfasstheit, ein geeignetes Repräsenta- 35 Hegel: Rechtslehre für die Unterklasse. In: TWA 4, S. 248-249. Tyrannei oder Despotismus sind für Hegel Zustände der Rechtlosigkeit. 36 Vgl.: Eichenhofer, Eberhard: Das soziale Recht auf Bildung. In: Bildung und Freiheit. Ein vergessener Zusammenhang. Hg. v. Klaus Vieweg und Michael Winkler. Paderborn 2012, S. 165-172. <?page no="152"?> 152 Klaus Vieweg tivsystem zu schaffen. Das Verständnis der politischen Organisation als eines Systems von drei Schlüssen bietet dafür auch heute eine geeignete theoretische Grundlage, auf die aufgebaut werden kann. VII. Ganz kurzes Resümee: Für alle die behandelten Facetten bleibt folgendes Diktum Hegels entscheidend: Der „Mensch ist selbst frei, überhaupt im Besitze seiner selbst, nur durch Bildung.“ (§ 57 Z) Das heißt auch: Die marktradikalen, neoliberalen, störrischen Mauleseleien und ihre Legenden vom Markt als sich selbst regulierender Struktur, vom Markt als einem Goldesel, wären endlich zu überwinden, sie haben schon genug Unheil hervorgerufen. Es gilt, die Bildungsesel zu satteln und zu mobilisieren, ganz im Sinne der Burroteca des kolumbianischen Protagonisten des Epistokratischen, für den beschwerlichen Weg hin zur Gewinnung echter Modernität. <?page no="153"?> Bildung and the Realization of Freedom in Hegel Angelica Nuzzo In this paper I examine the role that Bildung plays in Hegel’s articulation of a concept of freedom that in contrast to Kant’s moralized idea of freedom is conceived as the necessary actualization of spirit’s activity in the objective, intersubjective, and institutional world of Sittlichkeit. My claim is that freedom, for Hegel, can be realized only at the condition of receiving its foundation “outside” of (strictly Kantian) morality, and that Bildung plays a crucial role precisely in moving freedom outside of morality and in indicating the first necessary conditions of its realization - Bildung is the first step of spirit’s properly ethical Befreiung. Thereby I indirectly take up a variant of the much-discussed confrontation between Kant and Hegel. However, the framework in which I place such confrontation and the work done in this regard by the concept of Bildung, leads me to a larger point concerning the relation between Bildung and Hegel’s idea of a new dialectic-speculative philosophy viewed both as the rational comprehension of the needs and the culture of its own time and as the rational response to the needs and the culture of the time. I argue that this is a philosophy that (i) is based on a dialectic-speculative logic, which unlike traditional and Kantian Verstandeslogik is capable of comprehending the contradictions of the historical present, and (ii) proposes a practical philosophy that accounts for freedom’s development through contradiction, difference, alienation, and <?page no="154"?> 154 Angelica Nuzzo externalization. While I have discussed the first point extensively elsewhere, 1 here I shall dwell on the second point. In a first step I discuss the connection between the task that Hegel assigns to philosophy as science and the contemporary “culture” of the age, and indicate in this connection the deeper motivation of his critique of Kant; then I argue that the project of a dialectic-speculative logic arises precisely from the need to “grasp in concepts” the fundamental features of the present age, and ultimately from the need to connect in a critical way with the contemporary Bildung. This leads me to Hegel’s critique of Kant’s morality in the Philosophy of Right. 2 I shall be very brief on this point. My task is rather to refer this critique to the role that Hegel assigns to Bildung within civil society as the “absolute transition” to the spiritual and subjective universality of ethical life, 3 and to the further claim that the true place of morality is precisely in the context of the Befreiung produced by culture in this sphere. 4 I. Bildung, Philosophy, and the Historical Present: the “Relevance Condition” The famous remark on the function of philosophy in relation to actuality that concludes the preface to the 1821 Philosophy of Right - but is already formulated in the 1820 Introduction to the Lectures on the History of Philosophy - is generally viewed as Hegel’s considered judgment on the nature of philosophical thinking. I suggest that this remark indicates even more pointedly the type of problem with which a ‘philosophy of right’ should concern itself under the historical conditions dictated by the present age, and that it is Bildung that allows philosophy to discern, thematize, and respond to such conditions. 1 See my: Dialectic as Logic of Transformative Processes. In: Hegel. New Directions. Ed. by K. Deligiorgi. London 2006, pp. 85-104. 2 I have examined this critique in the forthcoming essay Contradiction in the Ethical World: Hegel’s Challenge for Times of Crisis (originally presented at the 2011 Internationaler Hegel Kongreß in Stuttgart). 3 Hegel, G.W.F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. In: Hegel. Werke in zwanzig Bänden. Ed. by. Eva Moldenhauer and Hans Markus Michel. Frankfurt a.M. 1986, (henceforth: TWA 7), R§187 Anm, p. 345). 4 R§207. <?page no="155"?> Bildung and the Realization of Freedom in Hegel 155 The claim is well known. Updating and transforming Kant’s Weltbegriff of philosophy as knowledge referred to the final ends of human reason, Hegel maintains that as “Gedanke der Welt” philosophy is necessarily bound up to its historical actuality. 5 Historical actuality is here mediated by the form that it assumes in the culture of the age: it is the ‘world of culture’, to which philosophy itself participates, that thinking assumes as its object. Indeed, the expression “Gedanke der Welt” 6 entails an objective as well as a subjective genitive: it indicates the intentional object of philosophical thinking as well as the cultural context in which thinking is always and necessarily inscribed and within which thinking does function as philosophical, i.e., as conceptual and rational thinking. The “world” is not a collection of scattered, unrelated, and contingent facts (Dasein or Existenz) but the rational, mediated form of Wirklichkeit. Now, historical actuality, as Hegel makes clear in the introduction to the Lectures on the Philosophy of History, has attained that mediated form precisely through the work of (historical) Bildung. The necessary connection between philosophy and the world is crucial for a reflection on the world of spirit, i.e., on a world that is the product of spirit’s activity and owes its actuality to the activity that has produced it. It is true, however, that in relation to the historical reality its conceptual comprehension emerges always “too late.” In such delay consists the specificity of the philosophical comprehension of spirit’s world in contrast, for instance, to political activity but also to the immediate relation that joins ancient culture to its own present. 7 Hegel famously insists that as the rational comprehension of the world of spirit, philosophy “appears only at a time when actuality has gone through its formative process (Bildungsprozess) and has attained its completed state.” 8 The actual world does not have a fixed, static shape; it is rather itself the ongoing movement and, at each stage, the result of a determinate process of Bildung. It is within this broader Bildung that philosophy sets out its task of comprehension, and that culture is connected to the (philosophical) project of education. This mediated character of philosophical reflection, whereby 5 A discussion of this famous claim in relation to the issue of Bildung can be found in: Jurist, Elliot: Beyond Hegel and Nietzsche. Philosophy, Culture, and Agency. Cambridge, Mass. 2000, p. 21-26. 6 TWA 7, 28 but the reference to the “world” is at TWA 7, p. 26-28. 7 See: Die Vernunft in der Geschichte. Ed. by Johannes Hoffmeister. Hamburg 1955, p. 6, on “original history” discussed in the context of the different types of history writing; see also: Odenstedt, Anders: Hegel and Gadamer on Bildung. In: The Southern Journal of Philosophy 46 (2008), pp. 559-580, here p. 562. 8 TWA 7, p. 28. <?page no="156"?> 156 Angelica Nuzzo it refers to the actual world only once the Bildungsprozess of reality has completed its movement within a certain phase, explains why, with regard to actuality and its conflicts, philosophy comes always “too late” - too late to give instructions on how the world “ought to be,” too late to solve its contradictions, prescribe norms, and change the course of history. This, however, is neither its function nor its aim. The philosopher is not meant to be king. But if the normativity of philosophical concepts in the practical realm does not have the immediate grip on reality that political action and cultural practices have, it is also not the lofty ideality of Platonic or Kantian moral ideas detached from reality and untouched by its impure messiness. What then is the delayed and retrospective grasp that binds, for Hegel, practical philosophy to its own historical present and to the world of culture? The defining function of Hegel’s practical philosophy is, I suggest, the function of raising the relevant questions under specific historical conditions, and of asking them in a theoretically and culturally relevant and practically engaged way. The contours of what counts as ‘relevant’ extend (at least) to what is morally, ethically, politically as well as culturally and historically significant. These coordinates, which constitute what I call the ‘relevance condition’, define the realm of freedom as the realm of its actualization. Relevance is the condition of the normativity of practical concepts. These have a grip on reality, i.e., are normative for subjects acting in the world not because the philosopher has the power of giving instructions on how the world should be but because philosophical concepts are theoretically, culturally, and historically ‘relevant’. 9 I shall elucidate this point by means of a counter-example in a moment. But first we should attend to the fact that Hegel shares this view with many of his contemporaries, and that this explains in no small part the choice of concluding the sphere of “objective spirit” with the moment of Weltgeschichte. The philosophy of history is linked to the conception that philosophy has of the contemporary world and of its own role within it. Indeed, to put the point in 18 th / 19 th century terms, the understanding of history that concludes the philosophy of right but which, in good dialectical fashion, constitutes its true starting point or presupposition, is a function of the assessment of the “present state of humanity” (Fichte’s Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters) and has the “present state of the world” as its starting point 9 Notice that they are normative because they are relevant, i.e., express the relevant question of the time; they are not relevant because they are normative. <?page no="157"?> Bildung and the Realization of Freedom in Hegel 157 (Schiller’s “heutige Weltverfassung”). 10 Indeed, for Hegel, the starting point is the deceitful transparency of immediate facts, which pose to the philosopher the much more difficult problem of recognizing the relevant issue of the time - “die Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart,” 11 as he puts it in 1821. Practical philosophy begins and ends with objective spirit caught in the predicament of the historical present. It begins and ends by interrogating the “present state of humanity” and diagnosing its innermost “need.” 12 Now this is no trivial task. Indeed, to identify “what are the outstanding questions of the day […] requires both cognitive exertion and moral courage” 13 - that “Mut der Wahrheit” to which Hegel appeals in his 1818 Berlin Antrittsrede. 14 Hegel construes the task of a comprehensive practical philosophy introduced under the title of “philosophy of right” not as the (moralizing or political) task of instructing the world on how it ought to be but as the task of bringing to consciousness the most relevant questions of the time - the questions that already engage and permeate the Bildung of the age and yet in it have the status of that famous “bekannt” that is still not yet philosophically and conceptually “erkannt.” 15 Now, as the questions that the philosopher asks betray the alternatively adequate or skewed relationship that thinking entertains with the present mediated by its relation to culture, the relevance of the questions becomes a criterion for evaluating the relevance of the theory. Hence, let me insist on the importance of the ‘relevance condition’ that connects philosophy, culture, and historical actuality by briefly looking at a counter-example. 10 This is a current expression in the philosophies of history of the later 18 th and early 19 th century. See for example the title of Johann Gottlieb Fichte’s 1806 work Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters; the following passage from Friedrich Schiller’s 1789 Antrittsrede: “It is the relation of the historical datum to the present constitution of the world (auf die heutige Weltverfassung) that we should attend to in collecting materials for universal history” (“Was heisst und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? ,” In: Sämmtliche Werke. Vol. 4. Darmstadt 1980, p. 762); and Schelling’s claim in the 1800 System des transzendentalen Idealismus, that “history has no other topic than the explanation of the present state of the world” (In: Sämmtliche Werke. Stuttgart-Augsburg 1856ff. Vol. 3, p. 590); see Cesa, Claudio: Modelli di filosofia della storia nell’idealismo tedesco. In: Le astuzie della ragione. Ideologie e filosofie della storia nel XIX secolo. Torino 2008, pp. 7-46, here pp. 16f. 11 R preface, TWA 7, p. 26. 12 This was true for Hegel already in the Jena years and in the 1807 Phenomenology. 13 Geuss, Raymond: Neither History nor Praxis. In: Outside Ethics. Princeton 2005, pp. 29-39, here p. 30 n.2. 14 TWA 10, p. 404. 15 See TWA 5, p. 22 and TWA 3, p. 35. <?page no="158"?> 158 Angelica Nuzzo It is an example in the Kantian tradition of political philosophy. Assessing Rawls’s theory of justice on the basis of the relevance condition, Raymond Geuss invites us to consider the following point: “What […] would one have to believe about the world to think that ‘What is the correct conception of justice? ’ is the appropriate question to ask in the face of concentration camps, secret police, and the firebombing of cities? ” (Rawls starts his Theory of Justice in 1950 and publishes it in 1971). 16 Now, to pursue the “right kind of intellectual response” to the specific challenges posed by historical actuality is precisely what I take characterizes the task of practical philosophy for Hegel. My suggestion is that in order to identify those challenges, philosophy must take a stand with regard to culture or Bildung, which functions as the mediating link between the conceptual comprehension and the immediacy of historical existence. Significantly, the skewed relationship that Rawls’s main question entertains with the “present state of the world” follows from his Kantian quest for purity and ideality in political philosophy. The problem with the conception of justice coming out of the “original position” is a problem of “relevance” with regard to actuality - is a problem of cultural relevance. Even assuming that agents placed in such a position would agree on a concept of justice at all, the problem remains “why […] this decision should have any relevance whatever to us, who do have concrete ‘identities’” which sometimes are of importance to us, and “who live in a concrete situation in a complex real world, not in the idealized world of the original position.” 17 A moral and political theory aiming at ideal purity and ahistorical universality is either outright irrelevant with regard to contemporary actuality or relevant only contingently. The idealized world of the original position is as irrelevant to the actual world of culture and human praxis as the always-flawed factual world is irrelevant to the abstract validity of the moral and political ideal. While Kant stresses the latter: no moral idea can be rendered invalid by facts; Hegel is interested in the former: no valid moral idea can lack practical and historical relevance and such relevance implies the triangulation that connects philosophy, Bildung, and historical existence. 16 And he continues: “Are reflections about the correct distribution of goods in a ‘wellordered society’ the right kind of intellectual response to slavery, torture and mass murder? ” Geuss: Neither History nor Praxis (n. 11), p. 31. The same general position also frames his Philosophy and Real Politics. Princeton 2008. 17 Geuss: Neither History nor Praxis (n. 11), 32f. (my emphasis). <?page no="159"?> Bildung and the Realization of Freedom in Hegel 159 II. Contradiction, Verstandeslogik, and Kantian Moralität Now, it is as a variant of this challenge that I propose to read Hegel’s critique to Kant’s morality: not directly as the charge of a logical impossibility of deducing particular, content-determined duties from the empty formality of the categorical imperative 18 but rather as a problem of missing relevance - hence of failed normativity - of his formal theory with regard to the crucial question that a ‘philosophy of right’ is considered in charge of raising. On this view, the issue of relevance cannot be simply shifted to the successive moment of the ‘application’ of moral principles (that is, to a “doctrine of virtue” or to an applied ethics or “metaphysics of morals”) once the pure moral principle is established in the ideal dimension of practical reason. Relevance and the attention to contextual and historical concreteness should be addressed in the foundation of the theory, because relevance is the necessary condition and the source of normativity. 19 And this I take to be the meaning of Hegel’s claim that Sittlichkeit is the Grundlage of Moralität - a foundation that he further qualifies as “substantial,” “absolute,” and “true.” 20 It is only an ethical foundation - i.e., a foundation “outside” of (Kantian) morality - that guarantees the relevance, hence the normativity of practical principles, and guarantees, at the same time, the actuality of freedom or that freedom can be conceived as a process of realization. For, it is only actualized reason not a pure practical reason that can recognize and address the relevant issues of the time, and engage in and respond to the culture in which it arises. Now, in turn, it is only a principle grounded in such a way as to respond to the relevant questions of the time that can have normative force, that is able to define what counts as free action, and can actively shape the Bildung of the individual as the process of her ethical Befreiung. 21 The crucial point, however, is that only a logic that recognizes the determining, real power of contradiction can move freedom outside of morality, i.e., can ground a practical philosophy in which freedom is conceived as actualization. For, actualization - Verwirklichung and 18 This is generally at the center of the many studies on the topic of Hegel’s critique to Kant, see for example Sedgwick, Sally: Hegel’s Critique of the Subjective Idealism of Kant’s Ethics. In: Journal of the History of Philosophy 26 (1988), pp. 89-105, and more recently with a different position her: The Empty Formalism of Kant’s Categorical Imperative. In: Internationale Zeitschrift für Philosophie 16 (2007), pp. 5-17. 19 Fichte’s reformulation of Kant’s categorical imperative in the System der Sittenlehre (1798) is close to Hegel’s intention on this point. 20 See R§§141 Zusatz; 142 N; 143; 270 Anm.; Enz.§408 Zusatz (TWA 10, p. 171). 21 R§187 Anm. (TWA 7, pp. 344f.). <?page no="160"?> 160 Angelica Nuzzo Entwicklung - implies a movement through contradiction and externalization. Now, it is only at the condition of moving freedom outside of Kantian morality that Bildung can become a crucial, mediating moment in the process of freedom’s actualization. Hence, reversing Kant’s relation, Hegel establishes Sittlichkeit as the foundation of Moralität. As such, Sittlichkeit is “Wahrheit des Freiheitsbegriffs.” 22 As freedom is no longer ideal causality placed outside of the spatio-temporal nexus of appearances but is historical self-actualization within that nexus, it is also no longer identical with strictly moral action. This argument also explains why Hegel does not simply claim that Kantian Moralität is taken up and conserved although surpassed and overcome (aufgehoben) in the sphere of Sittlichkeit. 23 Hegel defends a much more radical position: to assume Moralität as the foundation of practical philosophy, as Kant does, is “to make the standpoint of Sittlichkeit utterly impossible, even to explicitly destroy and spurn it.” 24 If morality is made into the foundation, then no “transition” to ethical life is possible: freedom and moral action become identical so that all free action is of necessity moral action, and the development of freedom is killed from the start: freedom cannot be meaningfully realized outside of morality. At this point, I want to at least hint at the relevant question that guides the systematic articulation of Hegel’s philosophy of right, informs his critique of Kantian morality, and shapes a concept of freedom based on reason’s power of self-realization in forms other than purely moral action. The idea of Bildung proposed within the sphere of civil society is one of these forms. Here I can only make two quick points. First, I claim a fundamental continuity between the task that Hegel assigns to his practical philosophy and the thought that leads him from early on to the idea of a dialecticspeculative logic. This is a logic that replacing the unmoved fixity of traditional general logic and Kant’s transcendental logic is able to account for change and transformation - in reality as well as in thinking. On Hegel’s view, the most pressing issue of the modern world is to understand how to live with and practically overcome the contradiction present in spirit’s objective reality, i.e., how to change practical norms with the changing of his- 22 R§141 Anm. 23 See for example: Siep, Ludwig: Was heisst: ‘Aufhebung der Moralität in Sittlichkeit’ in Hegels Rechtsphilosophie. In: Praktische Philosophie im deutschen Idealismus. Frankfurt a.M. 1992, pp. 216-239; see the thesis defended (and the literature addressed) in my book Rappresentatione e concetto nella logica della Filosofia del diritto di Hegel. Napoli 1990, chapter 3. 24 R§33 Anm. <?page no="161"?> Bildung and the Realization of Freedom in Hegel 161 torical conditions, how to shape a culture that encompasses the conflicts and contradictions of modernity without blocking its progress. Hegel’s dialectical logic as a logic of contradiction and, as I have claimed elsewhere, as a “logic of transformative processes” arises from the need to give a philosophical account of the fundamental conflicts of modernity. Now, Hegel’s concept of freedom, his articulation of the relation between Moralität and Sittlichkeit, the function played by Bildung in civil society, and the conclusion of the Philosophy of Right with “world history” should all be brought back to that core issue. The second point I want to make is to present Hegel’s critique of Kant’s morality as the practical counterpart to his critique of transcendental logic. In both cases, at stake is the inability of reason, speculative and practical, to face the negative power of the understanding, and advance on the force of such power respectively beyond the stalemate of irreconcilable antinomies and beyond the contradiction that inevitably affects the will’s maxims when it comes to their realization in an intersubjective context. In both cases, the inability to negotiate contradiction condemns reason to irrelevance vis à vis the comprehension of and participation in the actuality of the present. In both cases, the theory fails the relevance requirement. We can sum up Hegel’s critique of Kant’s morality as follows. 25 Hegel’s charge is that the form of duty lacks normativity over actual actions because it flees the contradiction that alone anchors the will’s determination to the action’s realization, the latter always occurring in a social context. If free action is identical with moral action, and if here the will is determined by a principle from which contradiction is excluded, then free action becomes impossible. For, lack of contradiction and formal self-identity cannot provide the will with a ground for determination. By contrast, the transition to Sittlichkeit requires that an action is free when it embraces contradiction and the confrontation with the action and the motives of other agents, and eventually is “at home” in it. While for Kant non-contradiction guarantees the purity of the moral principle, for Hegel it blocks the development of freedom and makes the transition to ethical life impossible. For both, however, contradiction is the force that ultimately leads “outside” of morality - to non-moral maxims for Kant, to the realization of freedom in the ethical world for Hegel. In other words: morality is condemned to irrelevance as long as it assumes a practical version of the logic of non- 25 As developed in R§135Anm. For a reconstruction in a Kantian perspective see Baum, Manfred: Hegels Kritik an Kants Moralprinzip. In: Hegel Jahrbuch (1987), pp. 235- 244, here pp. 238f. <?page no="162"?> 162 Angelica Nuzzo contradiction as its highest principle. If, however, the “moral standpoint” 26 does resolve to embrace contradiction, we are ipso facto led outside of morality. From here on, fuelled by the conflicts met within ethical life freedom’s realization proceeds into world history and the development of art, religion, philosophy. Now, a crucial station of freedom’s realization is the most conflictual and contradictory of the spheres of Sittlichkeit, namely, civil society. Within this sphere Bildung plays a crucial role in producing the ethical Befreiung of the individual, her liberation to ethical universality. Bildung arises out of the condition of “Entzweiung” and “Differenz” proper to modernity 27 and is precisely the beginning of freedom’s realization ‘outside’ of morality. III. Bildung, Civil Society, and the Realization of Freedom Hegel introduces the sphere of civil society by way of its two “principles.” 28 The first principle is the “concrete person” that is a “particular end” to itself, a “totality (Ganzes) of needs and a mixture of natural necessity and arbitrariness.” The second principle is the “particular person” which as such “stands essentially in relation to other similar particulars, and their relation is such that each asserts itself and gains satisfaction through the other,” and more precisely “through the exclusive mediation of the form of universality.” Significantly, both principles represent the conditions whose influence Kant labors to exclude from the foundation of pure morality: neither natural impulses, personal needs and arbitrariness nor the self-interested utilitarianism of means-ends relations find a place in practical reason’s purely moral legislation. By contrast, it is in the sphere outlined by these principles that Hegel discerns a necessary moment in the realization of freedom proper to the modern world. The particular attains the form of universality not by negating its particularity and self-interest (in the name of the self-identical yet fundamentally empty prescription of Kant’s imperative) or by being entirely absorbed in the universal (as Hegel deems Plato’s political project to be doing) 29 but by asserting and satisfying the claims of particularity in an essential engagement and interaction with other particulars. At stake in this sphere is the task of “forming (bil- 26 R§135 Anm. for the “concept,” §33 Anm. for the “standpoint.” 27 R§184 and §182 Zusatz respectively. 28 R§182. 29 See R§184 Zusatz. <?page no="163"?> Bildung and the Realization of Freedom in Hegel 163 den) subjectivity in its particularity.” 30 The concrete formation-Bildung of particularity is the exact opposite of morality’s abstraction in the name of an empty universal. While the dynamic of civil society gives “free rein” to contingency, natural needs, interests, and egoistic passions, it also establishes the mediation that connects the concrete, particular person to the higher universal by forming, as it were, a culture of the universal or a universal culture. This is the first Befreiung of the individual, 31 the process of its Bildung to the ethical universal. Hegel claims that the “most proper” systematic place of “morality” is within the “sphere” of civil society (in the “system of needs” - R§207). For, on the basis of Bildung a different morality is now established - a morality that, I have argued elsewhere, brings Hegel closer to Adam Smith than to Kant. Such morality is based on the universalization of the particular standpoint of the individual reached through Bildung, and consists in forming the capacity of regarding my own interests, needs, and desires - i.e., the totality of my “concrete person” - as the others regard them, that is, ultimately, as set in necessary connection and interaction with the others. 32 It is at this level that Bildung is connected to the movement of recognition: the individual is recognized as a “universal person,” a universality in which everyone is “identical” as Mensch. 33 Bildung forms the capacity of transposing oneself into other standpoints whereby universality is attained although the particular is not left behind or sacrificed but rather affirmed. Indeed, in civil society particularity cannot be negated. Particularity sets itself higher than the universal and uses the universal as “means” to further its particular ends. And yet, this movement shows that the individual can reach and satisfy her ends only at the condition of acting “in connection” with all other particulars - each of whom does exactly what she herself does. Bildung, in its first emergence, is the movement whereby the individual by recognizing that other particulars do exactly what she herself does, becomes a “member (Glied) of the chain of this connection,” is “formed” or raised to “formal freedom,” i.e., to “the formal universality of 30 R§187. 31 R§187 Anm. (TWA 7, pp. 344f.). 32 See my: The Standpoint of Morality in Adam Smith and Hegel. In: The Philosophy of Adam Smith [The Adam Smith Review 5]. Ed by Vivienne Brown and Samuel Fleis ch acker London 2010, pp. 37-57. See Odenstedt for the reference, instead, to Gadamer’s notion of Bildung in discussing this point (n. 5): p. 564 and p. 568. 33 See R§209 - here I cannot dwell on this important topic extensively explored in the literature. <?page no="164"?> 164 Angelica Nuzzo knowing and willing.” 34 Formation-Bildung, in this general sense, indicates the very nature of the dialectical movement proper to civil society, i.e., the integration of concrete particularity and universality taking place precisely by exploiting the dialectical potentiality of individual, self-interested action. The formal universal first achieved by Bildung negates particularity by affirming it, i.e., by negating its distinctive negativity or by contextualizing it in a broader framework. 35 Civil society is the sphere of the “understanding,” i.e., the sphere of negativity, difference, and conflict. In this regard as well, Hegel presents it as the more advanced counterpart of Kantian morality, which is instead the product of an impotent reason that pretends to rise above the understanding but is truly unable to face its negativity and contradiction. While in civil society (and more generally in the modern world) the value of ethical life, which is immediately given in the natural unity of the family seems dispersed and utterly “lost,” 36 it is the task of Bildung to reconstitute such value on the higher, mediated and self-conscious level of a new universal. This is, at first, only a formal universal, i.e., the universality of the understanding. Civil society is the realm of the “external state” or the “Verstandesstaat.” 37 Bildung is one of the ways the understanding’s negativity and conflict are mediated within the external state and become immanent functions of freedom’s realization. Thereby Bildung - theoretical and practical 38 - becomes the condition for political participation and ethical citizenship within the state, the condition leading to the transition from the private sphere of activity of civil society 39 to the public dimension of the state, from the formal universal of the understanding to the concrete universality of reason. In presenting the idea of Bildung in R§187 Anm., Hegel rejects both the conceptions associated with Rousseau’s notion of an innocent, uncultivated state of nature that view formation and culture as something external and corrupting, and the ultilitarianism of Enlightenment Bildung, in which this becomes a means to an “absolute end” which remains only a particular. The stakes of this discussion are high as is signaled by Hegel’s claim that these skewed conceptions of Bildung betray a fundamental “ignorance re- 34 R§187. 35 See R§187 Zusatz: Bildung does not make abstraction from the individual’s feelings but contextualizes them within the universal. 36 R§184 Zusatz. 37 R§183. 38 R§197. 39 R§187 citizens are “Privatpersonen” in civil society. <?page no="165"?> Bildung and the Realization of Freedom in Hegel 165 garding the nature of spirit and the ends of reason.” This means, I suggest, that these views miss the fundamental point that the freedom of spirit is a process of actualization, which proceeds through negativity, conflict, and the necessary confrontation with otherness. Bildung is not the result of an external intervention that turns man away from an allegedly original state of already achieved (or rather always already possessed) freedom: it is instead the immanent movement of freedom’s manifestation in the fractured context of the modern world - it is the first stage of spirit’s objective Befreiung. 40 But Bildung is also not the blocked movement that simply replicates or reproduces the disruptive dynamic of self-interest characterizing civil society: it is rather the process that by exhausting the dialectic of selfinterested action overcomes it first in the formal universal of the understanding or in the general culture of civil society, and then in the higher universal realm of the state. On Hegel’s view, it is the “end of reason” to consume the immediacy of nature - of natural relations, natural needs, and natural necessity; to overcome the fixation of individuality and externality, and to raise both to universality by forming the universal from within the limits of individuality and externality (and not in abstraction from them). The universal, Hegel maintains, arises out of the immanent process of its own “sich hineinbilden” within the limits and the negativity of civil society - it is, first, the universality of the understanding, “die Verständigkeit.” Such process of immanent Bildung - or the movement of Sich- Hineinbilden - is the “end of reason” - of a reason that being dialectical and speculative works with the negativity of the understanding (and does not set itself the impossible aim of making abstraction from it). Now Bildung or the formation achieved by culture is the mediating link that makes of the universality of the understanding an “end of reason.” But it is also the action whereby freedom is concretely anchored to the objective world of spirit - it is the action that confers to freedom its “objektives Dasein” 41 and lends to right the form of a universally recognized and valid “objective Wirklichkeit.” 42 Within civil society it is Bildung that confers normativity to practical principles, i.e., that insures that the claims of right have a grip on the will and consciousness of particular concrete individuals. To this extent, Bildung as formation and education is the “higher liberation,” or the “absolute transition (Durchgangspunkt)” to the properly “spiritual (geis- 40 R§187 Anm. (TWA 7, pp. 344f.). 41 R§187 Anm. (TWA 7, p. 344). 42 R§209. <?page no="166"?> 166 Angelica Nuzzo tige) and infinitely subjective substantiality of ethical life raised to the form of universality.” 43 To conclude, I want to bring these considerations back to the issue of the relevance of Hegel’s practical philosophy raised at the beginning. The need to give a philosophical account of negativity and conflict as pervasive dimensions of the modern world - indeed, as vital parts of the culture of the age - leads Hegel to acknowledge the function they play in shaping a concept of freedom that is not an ideal abstraction speaking to abstract, ideal agents, but a process of actualization that is deeply relevant for the action and will of concrete particular persons. It is in the development of such a process that Hegel introduces the concept of Bildung as the mediating moment - or the Durchgangspunkt - of spirit’s first ethical Befreiung. Ultimately, Hegel’s position is that it is Bildung and not Kantian morality - i.e., an impotent categorical imperative - that liberates the will from arbitrariness, subjective feeling and interests, and the determination of nature. At the level of civil society Bildung is both the first stage of freedom’s realization outside of morality and out of the immediacy of family relations in the objectivity and intersubjectivity of Dasein, and the first chance that ethical values have to prove their normativity by addressing concrete, selfinterested, particular persons. 43 R§187 Anm. (TWA 7, p. 345). <?page no="167"?> Das Bildungsprojekt der Volksreligion und die Entstehung von Hegels Sittlichkeitskonzeption Bertolt Fessen I. Volksreligion Die gesellschaftskritischen Auffassungen des jungen Hegel laufen im Programm kultureller Erneuerung durch eine „Volksreligion“ zusammen, das er am Ende der Tübinger und in der Berner Zeit (1792-1796) ausarbeitet. Dieses Programm kultureller und gesellschaftlicher Reform ist darauf gerichtet, zwei in Hegels Augen miteinander zusammenhängende Beschränktheiten der Kultur der Aufklärung zu überwinden: zum einen den in Metaphysik, Theologie, praktischer Philosophie, Pädagogik und Psychologie das Feld beherrschenden Rationalismus, zum anderen die Kluft zwischen der auf den Kreis der Gebildeten beschränkten Aufklärungskultur und dem von ihr nicht erreichten einfachen Volk. Bereits den Stuttgarter Gymnasiasten hatte diese Kluft zwischen Gebildeten und Volk beschäftigt. 1 Hegels Grundgedanke ist, dass die Aufklärung ihr Projekt, die gesellschaftlichen Zustände über die allgemeine Verbreitung von Bildung zu verbessern, nur zu verwirklichen vermag, wenn sie die sensualistische Aufklärungskritik Rousseaus und Herders in sich aufnimmt. Hegel verwirft das Projekt der Aufklärung nicht, sondern er hält an ihm fest und sucht es so weiterzuentwickeln, dass es seiner Verwirklichung nicht länger selbst im Wege steht. Anders als Rousseau, der in seiner Preisschrift geltend ge- 1 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Ueber die Religion der Griechen und Römer (1787). In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 1. Hamburg 1989 (fortan: GW 1), S. 42-45; Ders.: Ueber einige charakteristische Unterschiede der alten Dichter (1788). In: GW 1, S. 46-48. <?page no="168"?> 168 Bertold Fessen macht hatte, dass „der Fortschritt der Wissenschaften und Künste unsere wahre Glückseligkeit nicht vermehrt“, dass er vielmehr „unsere Sitten verdorben“ und „der Reinheit des Geschmacks geschadet“ habe 2 , hält Hegel in den von Herman Nohl unter dem Titel Volksreligion und Christentum zusammengefassten Fragmenten Anwälten der christlichen Religion entgegen, nicht dieser sei der bisher zu verzeichnende moralische Fortschritt zu verdanken, sondern den „Künste[n] der Aufklärung“. 3 So gibt Hegel die aufklärerische moralische Deutung der Religion nicht auf, die er auch in den Schriften Kants und Fichtes vorfindet. 4 Er überschreitet sie jedoch insofern, als er Religion anthropologisch nicht mehr im Denken, sondern im Fühlen verankert. Sensualistische Impulse von Shaftesbury, Rousseau und Herder aufnehmend, hält er „subjektive“, das heißt in den (vor allem moralischen) Empfindungen gegebene, Religion der Denken und Fühlen entzweienden „objektiven“ Religion, also rationalistischer Theologie und Metaphysik, als die ursprüngliche und wiederherzustellende, von Deformationen freie Form von Religion entgegen. Dadurch eröffnet er sich die Möglichkeit, die sensualistische Rationalismuskritik auch gegen den bestehenden Zustand der christlichen Religion zu wenden. Den „Hauptpunkt einer Volksreligion“ bilden nach Hegel die aus den Religionsgrundsätzen fließenden Empfindungen und ihr Einfluss auf die „HandlungsArt“. 5 Mit der Akzentuierung des religiösen Empfindens, der „subjektiven Religion“, sieht Hegel die genannten zwei Beschränktheiten der Kultur der Aufklärung konzeptionell überwunden. Zum einen wird es möglich, die unzeitgemäßen Offenbarungsinhalte der christlichen Religion, wie die rationalistische Theologie und Metaphysik sie sich zurechtgelegt haben, immer dann als lediglich sekundäre „objektive Religion“ abzuschütteln, wenn sie dem gewöhnlichen Einsichtsvermögen und dem moralischen und religiösen Empfinden entgegenstehen und es zu verbiegen drohen. Das gilt gleichermaßen für das einfache Volk, das mit den „Phrasen und Bildern“ wenig anzufangen vermag, „die nur vor einigen 1000 Jahren in Syrien verständlich und an ihrem Plaze waren“ 6 , wie für die Gebildeten, die, je „höher ihre Hochachtung für die Moral und für die Moral der Lehre 2 Rousseau, Jean-Jacques: Abhandlung über die […] Wissenschaften und Künste (1751). In: Ders.: Sozialphilosophische und Politische Schriften. München 1981, S. 33. 3 Hegel, Nicht zu leugnen … (1793/ 94). In: GW 1, S. 122. 4 Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Königsberg 1793; Anonymus (d. i. Johann Gottlieb Fichte): Versuch einer Critik aller Offenbarung. Königsberg 1792. 5 Hegel: Religion ist eine der wichtigsten Angelegenheiten … (1793). In: GW 1, S. 86 f. 6 Hegel: Die StaatsVerfassungen … (1793/ 94). In: GW 1, S. 126. <?page no="169"?> Das Bildungsprojekt der Volksreligion 169 Christi steigt“, das Über- und Widernatürliche in dieser Lehre „desto entbehrlicher“ deucht. 7 Zum anderen bildet gerade das in der subjektiven Religion präsente moralische Empfinden den entscheidenden Bezugspunkt, von dem aus die Kluft zwischen Gebildeten und Volk überbrückt werden kann: „Subjektive Religion ist bei guten Menschen, die objektive mag fast eine Farbe haben wie sie will, so zimlich gleich“. 8 Die Aufklärer vermögen ihr gesellschaftsveränderndes Anliegen nur dann praktisch umzusetzen, wenn es ihnen gelingt, den Kantschen Kategorischen Imperativ über eine auf wenigen und einfachen Grundsätzen beruhende und insofern leicht und universell zugängliche Volksreligion in die Herzen der einfachen Menschen zu pflanzen und so eine erneuerte sittliche Gemeinschaft zu konstituieren. Dieses ursprüngliche emanzipatorische Projekt erfährt in den Frankfurter Jahren (1797-1800) eine tiefgehende Umformung. Sie nimmt ihren Ausgang von dem vereinigungsphilosophischen Neuansatz, den Hegel in geistiger Gemeinschaft mit Schelling und Hölderlin entwickelt. 9 Die Fruchtbarkeit wie die tiefe Widersprüchlichkeit des Neuansatzes erhält in dem umfangreichsten Text jener Zeit, den von Nohl unter den Titel Der Geist des Christentums und sein Schicksal gestellten Fragmenten, eine eindrucksvolle Gestalt. Hegel verschärft die rationalismus- und zivilisationskritische Tendenz seines ursprünglichen Ansatzes, indem er, angeregt vor allem von Schillers Briefen Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) und von Hölderlin, die Kritik der Kantschen Entgegensetzung von Pflicht und Neigung zu einem zentralen Gegenstand seiner Analysen macht. Im Berner Leben Jesu (1795) war Jesus noch ganz Tugendlehrer im Geiste Lessings und Kants. Nun ist er ein Mann, der die „Zerrissenheit des Menschen“ zwischen Pflicht und Neigung überwinden und „den Menschen in seiner Ganzheit wieder herstellen wollte“. 10 Hegel hält Kant entgegen, dass die Herrschaft der Pflicht über die Neigung den Einzelnen zwar inso- 7 Hegel: Es sollte eine schwere Aufgabe … (1794). In: GW 1, S. 142. 8 Hegel: Religion ist (Anm. 5 ), S. 92. 9 Vgl. das in Hegels Handschrift überlieferte sogenannte Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus (zwischen Dezember 1796 und Februar 1797), dessen Verfasser bisher nicht zweifelsfrei ausgemacht werden konnte. Für die Anregungen durch Hölderlin vgl. dessen Fragment Urtheil und Seyn (1795), seine Vorrede zur vorletzten Fassung des Hyperion (1795) sowie: Henrich, Dieter: Hölderlin über Urteil und Sein (1965). In: Ders.: Konstellationen, Stuttgart 1991, S. 47-80, 265-272; Jamme, Christoph: Ein ungelehrtes Buch. Die philosophische Gemeinschaft zwischen Hölderlin und Hegel in Frankfurt 1797-1800, Bonn 1983 (Hegel-Studien, Beiheft 23). 10 Hegel: Der Geist des Christentums und sein Schicksal (1797-1799). In: Hegels theologische Jugendschriften. Hg. v. Herman Nohl. Tübingen 1907 (fortan: Nohl), S. 266. <?page no="170"?> 170 Bertold Fessen fern autonom mache, als sie die Herrschaft einer fremden Macht über ihn aufhebe, dass sie aber ein Herrschaftsverhältnis und damit Trennung bestehen lasse und sie bloß ins Innere des Subjekts verlege. Jesus überwinde die Trennung, indem er das Gesetz in der Liebe, die Hegel kurzerhand mit der Kantschen „Neigung“ gleichsetzt, sich erfüllen lasse. Jesus zeigt die „Einigkeit der Neigung mit dem Gesetze, wodurch dieses seine Form als Gesetz verliert; diese Übereinstimmung der Neigung ist das [die Erfüllung] des Gesetzes“. 11 Sofern Hegel seine Kritik an Herrschaftsverhältnissen auf moralische Selbstbeherrschung ausdehnt und sofern er dieser Kritik mit vereinigungsphilosophischen Spekulationen über ein aller Trennung vorausgehendes und sie wieder aufhebendes „Leben“ ein ontologisches Fundament zu geben sucht, kann man ihm vorhalten, dass sich ein im negativen Sinne utopischer Zug seines Projekts gesellschaftlicher Erneuerung noch verstärke und dass er sich durch seine Spekulationen zunehmend vom Boden der Tatsachen entferne. Beide Vorwürfe sind indes bloß mit gehörigen Einschränkungen aufrechtzuerhalten. In den vereinigungsphilosophischen Spekulationen geht es keineswegs darum, Schmerz und Zerrissenheit mittels naiver Harmonisierungen wie etwa der These von der besten aller möglichen Welten zu relativieren. Vielmehr sucht Hegel Entzweiung und Trennung als unentbehrliche Momente des „Lebens“ selbst zu fassen. Und Hegels Kritik der moralischen Selbstbeherrschung speist sich eben nicht aus individualistisch-anarchistischen Motiven im Sinne Stirners, sondern aus dem Ideal einer emotional verankerten sittlichen Gemeinschaft, mit dem Hegel sich gerade individualistischen Tendenzen entgegenstemmt, deren die gesellschaftliche Integration gefährdendes Potential er als einer der ersten sehr klar bis in die sozialökonomischen Grundlagen hinein analysiert hat. 12 Nun ließe sich einwenden, dass Hegels Jugendideal einer emotional verschmolzenen sittlichen Gemeinschaft keine realistische Lösung für die gesellschaftlichen Konflikte der Moderne bereitstelle und insofern ähnlich utopisch sei wie der von Hegel abgelehnte anarchistische Rousseauismus. Man sollte allerdings nicht übersehen, dass Hegel sein Gemeinschaftsideal im Geist des Christentums selbst kritisch hinterfragt. Schon in Volksreligion und Christentum hatte Hegel immer wieder betont, dass Jesu Gebote sich nicht „auf eine Gesellschaft im Grossen ausdehnen“ lassen. Nun zeigt 11 Ebd., S. 268. 12 Vgl. Lukács, Georg: Der junge Hegel. Über die Beziehungen von Dialektik und Ökonomie. Zürich, Wien 1948. <?page no="171"?> Das Bildungsprojekt der Volksreligion 171 er in einem Abschnitt über das Schicksal der auf Liebe gegründeten frühen christlichen Gemeinde, dass diese Gemeinde die ganze Mannigfaltigkeit nicht durch Liebe konstituierter gesellschaftlicher Verhältnisse wie Wirtschaft, Recht, Bildung und so weiter von sich fernhalten, so sich selbst abkapseln und dazu verurteilen musste, auf einer gesellschaftlich unentwickelten Stufe zu verharren, solange sie konsequent an dem Ideal festhielt, sich ausschließlich über die durch Jesus gestiftete Liebe zu konstituieren. 13 Am Schicksal Jesu und seiner Jünger macht Hegel sich den illusorischen Charakter der Hoffnung klar, gesellschaftliche Erneuerung einfach über eine Neubegründung emotionaler Gemeinschaftlichkeit ins Werk setzen und in der Emotionalität der neuen Gemeinschaftlichkeit dann auch dauerhaft verankern zu können. Mit dieser realistischen Einsicht büßt allerdings das Konzept der Volksreligion seinen ursprünglichen republikanischemanzipatorischen Charakter ein. II. Positivität Hegels Einsicht in die Komplexität der gesellschaftlichen Strukturen in der Moderne und in das Eigengewicht der nur begrenzt manipulierbaren wirtschaftlichen, rechtlichen und anderen kulturellen Objektivationen ist das Produkt einer über viele Jahre sich hinziehenden intensiven Auseinandersetzung mit der entfremdungstheoretischen Frage nach den Quellen von „Positivität“ im gesellschaftlichen und religiösen Leben und nach den Aussichten, sie zu überwinden. In den Fragmenten über Volksreligion und Christentum taucht zwar dieser Terminus noch nicht auf, aber das Problem wird mit der - damals geläufigen und auch in Fichtes Versuch einer Critik aller Offenbarung 14 vorkommenden - Gegenüberstellung von „subjektiver“ und „objektiver“ Religion bereits klar bezeichnet und bearbeitet. In den von Nohl als Die Positivität der christlichen Religion zusammengebrachten Berner Fragmenten aus den Jahren 1795/ 96 ist Positivität das zentrale Thema. Sie bedeutet dort das Gegründetsein von Überzeugungen, Bräuchen und Institutionen auf bloße Tradition und Autorität statt auf Vernunft. Diese ursprüngliche Bedeutung tritt klar hervor, wenn Hegel sich die Frage vorsetzt, „was in der Religion Jesu die Veranlassung gab, daß sie positiv wurde, d. h. die Anfo r derung machte, nicht durch Vernunft postulirt, ihr sogar widerstreitend, oder auch damit übereinstimmend, doch nur auf Autorität hin geglaubt zu wer- 13 Hegel: Geist des Christentums (Anm. 10), S. 321-324. 14 Vgl. Fichte: Critik aller Offenbarung (Anm. 4 ), S. 129, 156-158, 180-182 u. ö. <?page no="172"?> 172 Bertold Fessen den.“ 15 Gegenbegriff ist ganz kantianisch die „Tugendreligion“, das heißt die auf Vernunft gegründete und auf die Beförderung der Moralität des Menschen abzielende „wahre[] Religion“. 16 Der Begriff der Positivität ist natürlich in erster Linie gegen den Offenbarungscharakter der christlichen Religion gerichtet, gegen die Orientierung am Sohn Gottes statt am Tugendlehrer Jesus, an der Autorität der Schrift statt an der der Vernunft. Er greift jedoch über das Religiöse hinaus und bezieht sich auf die soziale Welt als ganze, weil Hegel Religion als soziales Phänomen untersucht und weil Vernunft und Moralität der Religion vorausliegende Kriterien für deren Bewertung als positiv oder nicht positiv darstellen. An zwei Beispielen möchte ich zeigen, in welchem Maße Hegel diesen noch sehr schlichten Positivitätsbegriff sozialphilosophisch produktiv zu machen versteht, bis er sich genötigt sieht, ihn radikal zu kritisieren und umzubilden. Schon in den Texten über Volksreligion und Christentum hatte Hegel darauf hingewiesen, dass das von Jesus propagierte Vollkommenheitsideal sich nicht „auf eine Gesellschaft im Grossen ausdehnen läst“ 17 und dass ein „Staat, der heutzutage die Gebote Christi unter sich einführen würde, […] sich bald selbst auflösen“ würde. 18 In der Positivitätsschrift leitet er aus diesem Gedanken ein Missverhältnis zwischen Kirche und bürgerlichem Staat ab. 19 Das Interessante an diesen Überlegungen ist nicht die fragwürdige geschichtsphilosophische Konstruktion, sondern das mit ihr sich herausschälende Problembewusstsein. Nach Hegel war die frühe christliche Sekte eine durch die freiwillige Selbstverpflichtung ihrer Mitglieder konstituierte Gesellschaft, die sich positiven, nicht aus dem Sittengesetz ableitbaren und über die staatsbürgerlichen Pflichten hinausgehenden Forderungen unterworfen hatte. Da die Mitgliedschaft in dieser Sekte jedem freistand und keine Beziehung auf seine bürgerlichen Rechte hatte, war mit dem unbedingten Gehorsam des Glaubens und Handelns, den man der Sekte angeloben musste, keine Ungerechtigkeit verbunden. Obgleich demjenigen, der die Sekte verließ, Hass und Verfolgung zuteil wurde, ging er doch nicht der bürgerlichen Rechte verlustig. Sobald die Kirche die allgemeine in einem Staate wurde, mussten dieselben Verhältnisse verunstaltet und zur Quelle von Ungerechtigkeiten und Widersprüchen werden, weil 15 Hegel: man mag die widersprechendste Betrachtungen … (1795/ 1796). In: GW 1, S. 287. 16 Ebd., S. 286, 282. 17 Hegel: Nicht zu leugnen (Anm. 3 ), S. 122. 18 Hegel: Wie wenig die objektive Religion … (1793/ 94). In: GW 1, S. 129. 19 Hegel: man mag (Anm. 15), S. 298-351. <?page no="173"?> Das Bildungsprojekt der Volksreligion 173 der Ausschluss aus dem geistlichen Staate nun auch den Verlust der bürgerlichen Rechte bedeutet. Hegel hält der christlichen Kirche seiner Zeit somit vor, dass ein „allgemein“, zur Staatsreligion gewordener positiver Glaube die staatsbürgerlichen Rechte beeinträchtigt, so den bürgerlichen Staat in wesentlichen Funktionen beschneidet und die Ausbreitung einer am Sittengesetz orientierten republikanischen Gesinnung verhindert. In der „Kollision“ 20 von Staat und Kirche ist Positivität von einem Rand- oder Teilproblem der Gesellschaft - dem positiven Glauben der frühen christlichen Gemeinde - zu einem generellen Zug der Zeitkultur erhoben, der nicht mehr - wie eine positive Überzeugung - einfach durch bessere Einsicht der Betroffenen hinwegaufgeklärt werden kann, sondern zu seiner Überwindung eine grundlegende Umgestaltung des gesellschaftlichen Institutionengefüges erheischt. Am Positivitätsproblem wird Hegel die Unzulänglichkeit eines interaktionistischen Gesellschaftsideals deutlich. Darüber hinaus ist er sich bewusst, dass er mit dem Gegensatz von Kirche und Staat das Problem einer Kollision unterschiedlicher Ebenen und Formen der Anerkennung vor sich hat: Die auf Liebe gegründete Vereinigung von Freunden, als die Hegel die frühchristliche Gemeinde interpretiert, sei „auf wenige“ Personen eingeschränkt; „dehnt sie sich aus, so werde ich genöthigt, Menschen, deren Neigung ich gegen mich nicht kenne, zu Zeugen meiner Beschämung, von deren Klugheit ich keine Erfahrung habe, zu meinen Rathgebern - deren Tugend ich noch nicht achten kan, zu Leitern in meinen Pflichten anzunehmen; eine Foderung, die unbillig ist.“ 21 Die Beziehungen eines Freundeskreises sind anderer Art als die größerer sozialer Gruppen und Gebilde. Es ist diese Einsicht, nicht Zynismus, die dem von manchen Liberalen gerügten Spott Hegels über das aufklärerische Ideal einer allgemeinen Menschenliebe zugrunde liegt. Das andere Beispiel für Hegels produktiven Umgang mit dem Positivitätsbegriff hängt mit dem soeben erörterten insofern zusammen, als die Gütergemeinschaft einen frühchristlichen Grundsatz darstellt, der mit dem modernen Staat unvereinbar ist. Zeit seines Lebens hat Hegel die Egoismus kultivierende Welt des Eigentums mit der Mischung aus Misstrauen und Verachtung betrachtet, die man bereits von Platon und Aristoteles kennt. In der Positivitätsschrift sucht er sich die „wunderbare[] Revolution[]“ der „Verdrängung der heidnischen Religion durch die christliche“ 22 als das Ergebnis einer politischen und sozialen Umwälzung zu erklären. „Die griechi- 20 Ebd., S. 315. 21 Ebd., S. 312. 22 Hegel: Jedes Volk … (1796). In: GW 1, S. 365. <?page no="174"?> 174 Bertold Fessen sche und römische Religion war nur eine Religion für freye Völker, und mit dem Verlust der Freiheit, muß auch der Sinn, die Kraft derselben, ihre Angemessenheit für die Menschen verlohren gehen“. 23 Aus dem Verfall der republikanischen Freiheit und der Unübersichtlichkeit des von einer „Staatsmaschine“ 24 zusammengehaltenen Römischen Reichs leitet Hegel die Orientierung der Individuen auf Eigentum, Erwerb und Eigennutz, den bourgeoisen Egoismus ab, den er verabscheut und als dessen Paradebeispiel ihm auch noch in der Berliner Zeit immer wieder die römische Kaiserzeit dient. In einem durch Rosenkranz überlieferten Fragment aus der späten Berner oder frühen Frankfurter Zeit stellt Hegel Überlegungen darüber an, wie die Sicherheit des Eigentums, „der Angel, um den sich die ganze Gesetzgebung“ der Staaten der neueren Zeit dreht, nach dem Vorbild mancher Verfassungen des Altertums im Interesse der republikanischen Freiheit eingeschränkt werden sollte: „[…] es wäre eine wichtige Untersuchung, wie viel von dem strengen Eigenthumsrecht der dauerhaften Form einer Republik aufgeopfert werden müßte. Man hat dem System des Sanscülottismus in Frankreich vielleicht Unrecht gethan, wenn man die Quelle der durch dasselbe beabsichtigten größeren Gleichheit des Eigenthums allein in der Raubgier suchte.“ 25 Derartig radikale, zerstörerische Eingriffe in die kapitalistische Wirtschaftsordnung sind indessen Hegels Sache nicht. Im Kommentar zur Bergpredigt in der Schrift über den Geist des Christentums bildet das Eigentum den einzigen Punkt, in dem Hegel dem als Kantkritiker stilisierten Jesus widerspricht, und zwar ganz entschieden: Über Jesu „Forderung von Abwerfung der Lebenssorgen und Verachtung der Reichtümer […] ist wohl nichts zu sagen; es ist eine Litanei, die nur in Predigten oder in Reimen verziehen wird, denn eine solche Forderung hat keine Wahrheit für uns. Das Schicksal des Eigentums ist uns zu mächtig geworden, als daß Reflexionen darüber erträglich, seine Trennung von uns, uns denkbar wäre.“ 26 Hegel will das Egoismus befördernde Eigentum bändigen, aber nicht abschaffen. Im Jenaer Naturrechtsaufsatz und im System der Sittlichkeit gelangt er dann zu einer Lösung, von der er bei aller Spezifizierung und Veränderung im Detail nicht mehr abgeht: Das „System der Bedürfnisse“ wird 23 Ebd., S. 367. 24 Ebd., S. 369. 25 Rosenkranz, Karl: Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Leben. Berlin 1844, S. 525. 26 Hegel: Geist des Christentums (Anm. 10), S. 273. <?page no="175"?> Das Bildungsprojekt der Volksreligion 175 durch die „absolute Sittlichkeit“, die sich im Stand der Freien und im Staat verkörpert, politisch und spekulativ überformt. 27 Im Geist des Christentums lässt Hegel Jesus mit dem Anliegen auftreten, die „Objektivität“ oder „Positivität“ der moralischen und der bürgerlichen Gesetze in der Liebe zu überwinden. Der Positivitätsbegriff erfährt dabei eine einschneidende Veränderung. Er richtet sich nun nicht mehr bloß gegen vernünftig nicht nachvollziehbare religiöse und andere Gebote, sondern gegen die moralischen Vernunftgebote selbst und gegen die aus ihnen abgeleiteten bürgerlichen Gesetze. Das Sittengesetz, das ursprüngliche Kriterium der Positivität, wird nun gegenüber einem vereinigungsphilosophisch fundierten Liebesbegriff selbst als positiv eingestuft. Hegel ist jedoch kein Schwarmgeist. Die für sich haltlose emotionale Gemeinschaftlichkeit der Liebe findet ihre „Erfüllung“ in der Religion, die das Individuum, das „endliche Leben“, mit dem „unendlichen Leben“ vereint. Diese Stufung von Praxis- und Anerkennungsformen bildet die Keimform der späteren Systemkonstruktion der Sittlichkeit und der Philosophie des Geistes. Aus dem neutestamentlichen Begriff der Erfüllung, des ή 28 , wird sich Hegel seinen Begriff der dialektischen Aufhebung entwickeln. Der Terminus taucht schon auf: „Gesinnung hebt die Positivität, Objektivität der Gebote auf; Liebe die Schranken der Gesinnung, Religion die Schranken der Liebe.“ 29 In der 1800 geschriebenen Neufassung des Anfangs der Positivitätsschrift zieht Hegel die Konsequenzen aus der Frankfurter Bedeutungsverschiebung des Positivitätsbegriffs. 30 Er verflüssigt ihn historisch und kritisiert seine aufklärerische Fundierung in einem abstrakt-unhistorischen Begriff der menschlichen Natur mit einer Radikalität und Schärfe, die es rätselhaft erscheinen läßt, wie Hegel es überhaupt für machbar halten konnte, eine derart durchgreifende Kritik des aufklärerischen Positivitätsbegriffs einem Text voranzustellen, der selbst noch wesentlich durch diesen Begriff getragen wurde. Die menschliche Natur sei nie rein vorhanden, sie habe unendliche historische Modifikationsmöglichkeiten. Die Positivität einer ursprünglich angemessenen Religion entstehe erst, wenn „ein andrer Mut“ 27 Vgl. Hegel: Ueber die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts (1802/ 03). In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 4. Hamburg 1968 (fortan: GW 4), S. 449-464; Ders.: System der Sittlichkeit (1802/ 03). In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 5. Hamburg 1998, S. 334-346, 353-361. 28 Vgl. Mt. 5,17; Rm. 13,10; Hegel: Geist des Christentums (Anm. 10), S. 268, 302. 29 Hegel: Das Grundkonzept zum Geist des Christentums (1798). In: Nohl, S. 389; Vgl. Ders.: Geist des Christentums (Anm. 10), S. 302, 266. 30 Hegel: Die Positivität der christlichen Religion (1795/ 96, 1800) In: Nohl, S. 139-151. <?page no="176"?> 176 Bertold Fessen erwache, wenn eine historisch bestimmte menschliche Natur „ein Selbstgefühl erhält, und damit Freiheit für sich selbst fordert, nicht blos in ihr übermächtiges Wesen sie setzt“. „Nur wenn das Ueberflüssige die Freiheit aufhebt, wird es positiv, das heißt, wenn es Prätension gegen den Verstand und die Vernunft macht, und deren notwendigen Gesetzen widerspricht. Die Allgemeinheit dieses Kriteriums muß dadurch beschränkt werden, daß Verstand und Vernunft nur dann Richter sein können, wenn an sie appellirt wird; was keinen Anspruch darauf macht, verständig, oder vernünftig zu sein, gehört durchaus nicht in ihre Gerichtsbarkeit.“ 31 Herders Gedanke, die Mythen poetisch als subjektive Wahrheiten zu deuten, wird von Hegel so umgeformt, dass die Religion aus dem Geist, den Sitten und dem Charakter eines Volkes zu verstehen sei. Der Mensch sei zu allen Zeiten ein vernünftiges Wesen gewesen, und so könne nicht alles „barer Unsinn und gar Immoralität“ gewesen sein, was die „Ueberzeugung vieler Jahrhunderte“ gewesen ist. 32 Dieses Argument bleibt ein Grundbestandteil von Hegels historischer Ansicht und kehrt auch in den Berliner Vorlesungen zur Religionsphilosophie wieder. III. Sittlichkeit Am Ende der Frankfurter Zeit ist sich Hegel sowohl über den historischen Charakter von Positivität als auch darüber klargeworden, dass sie in der modernen Welt nicht einfach wieder eingezogen werden kann. Was die Schlusspassage des Systemfragments von 1800 thematisiert, wird in der Jenaer Differenzschrift zum „Quell des Bedürfnisses der Philosophie“: die die Reflexionskultur der Neuzeit kennzeichnende Entzweiung. 33 „Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet, und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben, entsteht das Bedürfniß der Philosophie; es ist […] unter der gegebenen Entzweiung der nothwendige Versuch, die Entgegensetzung der festgewordenen Subjektivität und Objektivität aufzuheben“. 34 Dieses Interesse der Philosophie hat freilich „nicht den Sinn, als ob sie sich gegen die Entgegensetzung und Beschränkung überhaupt setzte, denn die nothwendi- 31 Ebd., S. 141, 142. 32 Ebd., S. 143. 33 Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie (1801). In: GW 4, S. 12. 34 Ebd., S. 14. <?page no="177"?> Das Bildungsprojekt der Volksreligion 177 ge Entzweyung ist Ein Faktor des Lebens, das ewig entgegensetzend sich bildet, und die Totalität ist, in der höchsten Lebendigkeit, nur durch Wiederherstellung aus der höchsten Trennung möglich.“ 35 Es ist neu, dass Hegel die Überwindung der Entzweiung der Philosophie anheimstellt. Im Systemfragment von 1800 war die Erhebung des endlichen Lebens zum unendlichen noch der Religion allein vorbehalten, weil Hegel Philosophie mit der auch noch in der Differenzschrift und später kritisierten Reflexionsphilosophie gleichsetzte. Die Philosophie müsse „mit der Religion aufhören“, weil sie sich von den endlichen Denkbestimmungen nicht freizumachen vermöge. 36 Bereits in der zehn Tage später begonnen Neufassung des Anfangs der Positivitätsschrift kündigt sich Hegels Übergang zur philosophischen Systemkonstruktion an: Er spricht dort von einer „metaphysische[n] Betrachtung“, in die eine gründliche Behandlung des Verhältnisses des Endlichen zum Unendlichen übergehen müsse. 37 „Was Hegel in seinen Tübinger Aufzeichnungen so schroff verworfen hat - die angeblich leere metaphysische Spekulation - kehrt nunmehr in Hegels Denken zurück.“ 38 Hegel resümiert, dass sich ihm „das Ideal des Jünglingsalters […] zur Reflexionsform, in ein System“ verwandelt habe. 39 In den Jenaer Jahren folgt dann bis hin zur Phänomenologie des Geistes ein Systementwurf auf den anderen, wobei sich Hegel immer stärker von der Schellingschen Systematik abstößt und die Eigenständigkeit der sozialen Welt der Sittlichkeit oder des Geistes gegenüber der Natur herausarbeitet. Johann Heinrich Trede hat mit einem Textvergleich zwischen dem Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus und Hegels frühen Jenaer Texten zur Philosophie der Sittlichkeit nachzuweisen gesucht, dass Hegel sich in jener Zeit immer noch von dem Programm einer „Volksr eligion“ leiten ließ. 40 Dabei ist auch die schon von Haym aufgeworfene Frage mit im Spiel, ob in dieser Phase „die vollendete Realisation d es Geistes in der Wirklichkeit des Staates oder aber im Kontext von Kunst, 35 Ebd., S. 13 f. 36 Hegel: Systemfragment von 1800. In: Nohl, S. 348. 37 Hegel: Positivität (Anm. 30), S. 146. 38 Pöggeler, Otto: Hegels philosophische Anfänge. In: Der Weg zum System. Materialien zum jungen Hegel. Hg. v. Christoph Jamme und Helmut Schneider. Frankfurt am Main 1990, S. 108. 39 Hegel an Schelling (2. November 1800). In: Briefe von und an Hegel. Hg. v. Johannes Hoffmeister. Bd 1. Hamburg 3 1969, S. 59. 40 Trede, Johann Heinrich: Mythologie und Idee. Die systematische Stellung der „Volksreligion“ in Hegels Jenaer Philosophie der Sittlichkeit (1801-1803). In: Das älteste Systemprogramm. Studien zur Frühgeschichte des deutschen Idealismus. Hegel-Studien. Beiheft 9. Hg. v. Rüdiger Bubner. Bonn 1973, S. 167-210, bes. S. 167-170, 204-206. <?page no="178"?> 178 Bertold Fessen Religion und Spekulation zu suchen sei.“ 41 Die Frage, die Haym zugunsten des Staates, der Sittlichkeit entscheidet, ist insofern berechtigt, als sich der Begriff des absoluten Geistes in der Jenaer Zeit erst herausbildet. In den Vorlesungsmanuskripten von 1803/ 04 ist die enge Verflechtung von Sittlichkeit und absolutem Geist noch gut zu sehen, während das von 1805/ 06 „Kunst, Religion und Wissenschaft“ wie später die Encyclopädie in einem über die Sittlichkeit hinausweisenden gesonderten Abschnitt b ehandelt. 42 Andererseits stellen aber auch schon frühere Systemskizzen Kunst, Religion und Philosophie zu einer Übersteigung der aus ihrer En tzweiung nicht herausfindenden realen Welt des Sittlichen nebeneinander. Das gilt schon für die Differenzschrift 43 , noch klarer hingegen für das Fragment Die Idee des absoluten Wesens von 1801/ 02. 44 Dieses Fragment wurde freilich erst nach der Abfassung des Aufsatzes von Trede wiede raufgefunden. Das System der Sittlichkeit, in dem die Religion nur im Zusammenhang mit der Sittlichkeit behandelt wird, ist Fragment und wohl noch gar nicht bis zu dem Punkte vorgedrungen, an dem die spekulative Erhebung über die Sittlichkeit hätte thematisiert werden können. Der Naturrechtsaufsatz, der andere Text, in dem die Religion nur im Rahmen der Sittlichkeit vorkommt, spielt mit der Thematisierung der „Tragödie im sittlichen“, die in dessen Verstrickung in die „Objektivität“ besteht, deu tlich genug auf das Bedürfnis an, sich über diese Verstrickung zu erheben. 45 Eine noch deutlichere Sprache spricht ein anderes Fragment: „Das absolute Bewußtsein der Individuen des Volkes, der lebendige Geist de sselben, muß reines, absolutes Bewußtsein, absoluter Geist seiner Form wie dem Inhalt nach sein und der Volksgeist wird Geist des natürlichen und sittlichen Universums. So erst ist der Geist absolut in seine absolute Sichselbstgleichheit, in den Aether seiner einfachen Idee und das Ende der Philosophie in ihren Anfang zurückgekehrt.“ 46 Kündigt sich die Tendenz zur Überschreitung der Sittlichkeit in Kunst, Religion und Philosophie mithin schon in den frühen Jenaer Texten un- 41 Ebd., S. 195, Fn. 22; Vgl. Haym, Rudolf: Hegel und seine Zeit. Berlin 1857, S. 161 f. 42 Vgl. Hegel: Philosophie der Natur und des Geistes (1803/ 04). In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 6. Hamburg 1975, S. 312-316; Ders.: Naturphilosophie und Philosophie des Geistes (1805/ 06). In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 8. Hamburg 1976, S. 277-287. 43 Vgl. Hegel: Differenz (Anm. 33), S. 75 f. 44 Vgl. Jaeschke, Walter: Die Vernunft in der Religion. Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels. Stuttgart-Bad Cannstatt, S. 145-148, 187. 45 Hegel: Behandlungsarten des Naturrechts (Anm. 27), S. 458-464. 46 Hegel: Über Naturrecht (1802/ 03). In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 5. Hamburg 1998, S. 464. <?page no="179"?> Das Bildungsprojekt der Volksreligion 179 übersehbar an, ist doch nicht zu bestreiten, dass die Scheidung von Sittlichkeit und absolutem Geist erst im Laufe der Zeit zu der klaren Form herausgearbeitet wird, die sie im Vorlesungsmanuskript von 1805/ 06 und in der Phänomenologie des Geistes erreicht. Der Versuch dagegen, den Jenenser Hegel noch mit dem Programm einer Volksreligion aus der Tübinger, Berner und Frankfurter Zeit in Verbindung zu bringen, kann schwerlich überzeugen. Die These von der Vergangenheit von Kunst und Religion, die Hegel freilich nur für die Kunst mit wünschenswerter Klarheit in seinen Berliner Vorlesungen zur Ästhetik ausgesprochen hat, die aber im hierarchischen Aufbau des absoluten Geistes in der Systemkonstruktion sedimentiert und auch in zahlreichen Textpassagen klar genug angedeutet ist, dürfte das stärkste Gegenargument gegen diesen Versuch liefern. Solche Passagen finden sich nun schon in den frühen Jenaer Texten. Bereits 1801 schreibt Hegel: „Die höchste ästhetische Vollkommenheit, wie sie sich in einer bestimmten Religion formt, in welcher der Mensch sich über alle Entzweiung erhebt, und im Reich der Gnade die Freyheit des Subjekts und die Nothwendigkeit des Objekts verschwinden sieht, hat nur bis auf eine gewisse Stuffe der Bildung und in allgemeiner oder in Pöbel-Barbarei energisch seyn können. Die fortschreitende Kultur hat sich mit ihr entzweyt, und sie neben sich, oder sich neben sie gestellt, und weil der Verstand seiner sicher geworden ist, sind beyde zu einer gewissen Ruhe nebeneinander gediehen“. 47 In der Systemskizze aus der Naturrechtsvorlesung von 1802/ 03 setzt Hegel sogar nicht nur Urchristentum und Mittelalter, sondern selbst noch den Protestantismus historisch vor die Philosophie, die ihm die dritte und letzte Form der Religion ist. 48 Die Bezeichnung der gesamten Sphäre des absoluten Geistes, also von Kunst, Religion und Philosophie, als Religion behält Hegel auch später bei. 49 Zwar ist in der Naturrechtsvorlesung vom Christentum als Volksreligion die Rede 50 , aber eben nicht mehr im Sinne des ursprünglichen emanzipatorischen Programms einer „höhere[n] Aufklärung“, wie es bei Hölderlin auch hieß 51 , sondern klar in einem historischen Kontext. Dieses Programm wird vielmehr mit der These von der Vergangenheit von Kunst und Religion aus der Gegenwart verabschiedet. In gewisser Weise wird die Historizität der 47 Hegel: Differenz (Anm. 33), S. 14 f. 48 Hegel: Über Naturrecht (Anm. 46), S. 464 f.; Vgl. S. 460 f. 49 Vgl. Hegel: Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften (1830), § 554. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 20. Hamburg 1992, S. 542. 50 Vgl. Hegel: Über Naturrecht (Anm. 46), S. 463. 51 Hölderlin, Friedrich: Über Religion (ca. 1796). In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. v. Jochen Schmidt. Bd. 2. Frankfurt am Main 1994, S. 565. <?page no="180"?> 180 Bertold Fessen Volksreligion, die ja ursprünglich an der idealisierten antiken Polis orientiert ist, auch schon in der Positivitätsschrift und im Geist des Christentums thematisiert, denn Hegel fragt in beiden Texten nach den Gründen des Scheiterns der von Jesus propagierten Volksreligion und nicht mehr oder zumindest nicht in erster Linie, wie in Volksreligion und Christentum, nach der möglichen Beschaffenheit einer neuen Volksreligion. 52 Hegels Zweifel an der Realisierbarkeit eines solchen Programms setzten somit schon früh ein, und sein Übergang zum systematischen Philosophieren ist nicht zuletzt eine Folge davon, dass er sich endgültig vom illusorischen Charakter dieses Programms überzeugt hat. Hegel ist sich im Laufe der Berner und Frankfurter Zeit zunehmend darüber klargeworden, dass das schöne Polisideal und die emotionale Gemeinschaftlichkeit der frühchristlichen Gemeinden für die Probleme der modernen Gesellschaften keinen Lösungsansatz bieten können. Er nimmt nun Zuflucht zu einem besonders anfangs stark an Platon orientierten Ständestaatskonzept und sucht die Sittlichkeit spekulativ im Absoluten zu verankern statt im Kantschen universalistischen Sittengesetz oder in der von Jesus gepredigten Liebe. Deshalb kann er sich auch mit dem ursprünglich harsch kritisierten Christentum aussöhnen. Die historisch unwiederbringliche Polis wird diesem nicht mehr als noch relevantes soziales Modell entgegengehalten, und die historische Einordnung des Christentums mildert die Kritik an den ihm zugerechneten Unzulänglichkeiten. Hegel interpretiert das Christentum als Religion des Schmerzes über den Tod Gottes nun als einen adäquaten Ausdruck der tiefen Zerrissenheit, die die Reflexionskultur der Moderne kennzeichnet. 53 Die Unterordnung der Religion unter die Philosophie in der Systemkonstruktion ist in einem Ausdruck der Selbstkritik am Jugendideal und einer Bewahrung der Positivitätskritik, mit der Hegels sozialphilosophisches Denken eingesetzt hatte. 52 Hegel: man mag (Anm. 15), S. 284; Ders.: Geist des Christentums (Anm. 10), S. 285- 293. 53 Vgl. Hegel: Glauben und Wissen (1802). In: GW 4, S. 413 f. <?page no="181"?> Das reine Zusehen ,Absolute Bildung‘ in Hegels Wissenschaft der Logik Claudia Wirsing I. Einleitung Hegel verwendet an unzähligen Stellen seines Werkes den Begriff „Bildung“, doch gebraucht er ihn selten als Synonym von Erziehung, sondern meint damit das konstituierende Prinzip des Geistes in der Entfaltung seines philosophischen Systems. Bildung ist also, ganz allgemein gesprochen, in der hegelschen Philosophie das Bewegungsprinzip des Geistes, der sich selbst entfaltet. Die Forschung hat deshalb immer wieder auf die verschiedenen Bedeutungsdimensionen der Bildung bei Hegel vor allem in der Differenzschrift und der Phänomenologie des Geistes, aber auch in der Rechtsphilosophie und Religionsphilosophie verwiesen. 1 Während Hegel in der Differenzschrift versucht, in der sukzessiven Kritik der Grundsatzphilosophie Fichtes und Schellings, in denen das Absolute bil- 1 Um nur einige neuere Forschungsergebnisse an dieser Stelle hervorzuheben, vgl. die Beiträge in folgenden Bänden: Braune, Andreas/ Chotaš, Jiří/ Vieweg, Klaus/ Zander, Folko (Hrsg.): Freiheit und Bildung bei Hegel. Würzburg 2013; Vieweg, Klaus/ Winkler, Michael (Hrsg.): Bildung und Freiheit. Ein vergessener Zusammenhang. Darmstadt 2012; Eichenhofer, Eberhard/ Vieweg, Klaus (Hrsg.): Bildung zur Freiheit. Zeitdiagnose und Theorie im Anschluss an Hegel. Würzburg 2010; Hahne, Ellen: Hegels Beitrag zur Bildungsdiskussion unter besonderer Berücksichtigung seiner Rechtsphilosophie. Frankfurt a.M., Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien 2011. <?page no="182"?> 182 Claudia Wirsing dungslos immer schon vorgängig gegeben ist, die Einheit von Subjektivität und geistiger Wirklichkeit als Bildungsgang klarzulegen - „Bildung sei die Triebfeder der fortschreitenden Kultur, aber zugleich ist Bildung die treibende Unruhe der Philosophie. Und das Ziel der Philosophie ist es, das Bewusstsein der nur durch Entzweiung zu sich kommenden Substanz des Geistes darzustellen.“ 2 -, so fasst die Phänomenologie Bildung „als das Objekt des ganzen philosophischen Unternehmens“ 3 . In ihr ist der „Gegensatz zwischen dem Werden des Wissens, das die Gestalten des Bewusstseins durchläuft, und dem Werden der Geschichte mit ihren Gestalten in der Welt“ 4 aufgelöst. „In diesem Sinne begreift das gebildete Bewusstsein sich selbst als historische Wirklichkeit, weil konstituiert durch diesen Geist“ 5 . Allerdings scheint die Wissenschaft der Logik, wenn es um den Bildungsbegriff bei Hegel geht, eine Leerstelle darzustellen. Denn schließlich geht es in ihr um die Entwicklung und Begründung der reinen Gedankenbestimmungen, also der kategorialen Formen der Einheit von Denken und Wirklichkeit, zu denen naheliegenderweise der Begriff der Bildung nicht gehört. Am ehesten spielt Bildung in der Logik wiederum als Prozess der Entwicklung der reinen Gedankenbestimmungen au seinander eine Rolle, wobei noch die Frage wäre, wer oder was hier eigentlich das „Subjekt“ der Bildung ist. Und doch gibt es in der „Einleitung“ zur Großen Logik eine Stelle, deren Begriffsgehalt aufhorchen lässt. Hegel gibt hier eine Apologie der Logik als „Welt der einfachen Wesenheiten“ 6 (GW 21, 42) und fährt fort: „Das Studium dieser Wissenschaft, der Aufenthalt und die Arbeit in diesem Schattenreich ist die absolute Bildung und Zucht des Bewußtseyns.“ (GW 21, 42) Wie aber ist diese Emphase der „absoluten Bildung“, die hier durchaus auch einen starken normativen Akzent trägt, begründet? Das Ganze wird umso schwieriger, wenn man bedenkt, dass Hegel kurz vor dieser Stelle seinen üblichen, in der Phänomenologie des Geistes erarbeiteten Bildungsbegriff in Anschlag bringt, der Bildung an das „Besonder[e] in sich fassende Allgemeine“ (GW 21, 42) und damit an den „Reichtum“ des Geistes in seiner realen Entwicklung zu binden scheint. Was ist hier also im Raum der rei- 2 Boey, Koen: Bildung. In: Paul Cobben (Hrsg.): Hegel-Lexikon. Darmstadt 2006, S. 167- 169, hier S. 168. 3 Ebd. 4 Ebd. 5 Ebd. 6 Die Schriften Hegels werden, soweit verfügbar, nach der Historisch-Kritischen Ausgabe zitiert: Hegel, G.W.F.: Gesammelte Werke. Hg. v. der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Hamburg 1968ff. [abgekürzt: GW]. <?page no="183"?> Das reine Zusehen 183 nen Logik mit „absoluter Bildung“ des Bewusstseins gemeint? Was kann die Logik vor und nach 7 aller Bildung an und mit der konkreten Wirklichkeit leisten, was ihr eine Sonderrolle im Vollzug der Bildung verleihen könnte? Wie verträgt sich diese Rolle mit den offensichtlichen Nachteilen „ihrer abstracten Gestalt“ und der „farblosen, kalten Einfachheit ihrer reinen Bestimmungen“ (GW 21, 42), auf die Hegel deutlich hinweist? Der Beitrag gliedert sich in drei Teile: Im ersten Teil möchte ich einen Überblick geben, welche verschiedenen Bildungsdimensionen sich in der Wissenschaft der Logik herauskristallisieren lassen bzw. welche Arten von Bildung in Hegels Logik möglicherweise betrachten werden können. In meinem zweiten Teil möchte ich dann zentrale Elemente des Begriffs der „Logik“, wie ihn „Vorrede“ und „Einleitung“ entwerfen, umreißen, um dann in einem dritten Teil deutlich zu machen, worin in Bezug auf diese Grundbestimmungen der Logik das Moment der „absoluten Bildung“ besteht. II. Dimensionen der Bildung in Hegels Wissenschaft der Logik Grundsätzlich und relativ grob umrissen, lassen sich innerhalb der Wissenschaft der Logik folgende Bildungsdimensionen unterscheiden: 1. Die erste Dimension der Bildung betrifft die Funktion bzw. den „Nutzen der Logik“ 8 , als etwas, das zugleich über bloße Nützlichkeit hinausgeht: Der nämlich besteht in der „Bildung des subjectiven Denkens“ (GW 20, 13) zur objektiven Idee und ist insofern teleologisch gerichtet auf ein „Denken des Denkens“ (GW 20, § 19, 62), das sich als Geist, und damit Einheit von Begriff und Wirklichkeit, selbst zum Gegenstand macht. In 7 Hegel macht deutlich, dass die Logik, gemäß der Idee der Zirkularität seines Systems, als Lehre reiner Bestimmungen am Ende, nach dem Durchgang durch die Konkretion des Geistes in der Wirklichkeit, den Charakter eines Resultates erhält (vgl. GW 21, S. 42f.). Mit diesem Resultatcharakter ist dann wiederum ein vertieftes Verständnis des Logischen selbst verbunden. 8 „Der Nu t z e n der Logik betrifft das Verhältniß zum Subject, in wiefern es sich eine gewisse Bildung zu anderen Zwecken gibt. Die Bildung desselben durch die Logik besteht darin, daß es im Denken geübt wird, weil diese Wissenschaft Denken des Denkens ist [...] In sofern aber das Logische die absolute Form der Wahrheit und noch mehr als dieß, auch die reine Wahrheit selbst ist, ist es ganz etwas anderes als blos etwas Nü t zli c h e s .“ (GW 20, § 19, 62) <?page no="184"?> 184 Claudia Wirsing der Logik vollzieht sich so eine Bildungsstufe des Bewusstseins hin zum Selbstergreifen des Geistes als absoluter. 2. Im Rahmen dieses Geistbegriffes geht es zugleich um die Bildung des Begriffs als Realisierung zur Idee, d.h. der Realisierungsvorgang des absoluten Begriffs als Gesamtmatrix logischer Bestimmungen ist selbst ein Bildungsvorgang. 9 Hier, könnte man sagen, geht es um die Bildung der Begriffe in ihrem Entwicklungsgang oder um die reine Kategorienbildung als solche. Hegel zeigt nicht nur, wie die kategorialen Gedankenbestimmungen immer schon sind, sondern ihr Hervorgehen aus einem in ihnen implementierten Entwicklungsgang - es geht also hier primär um Begriffsbildungen und nicht um die Bildung menschlicher Subjekte als Personen (individuelle Subjektbildung). Oder anders gesagt: Nicht Personen sind hier die Subjekte der Bildung, sondern Begriffe. Diese Bildung des Begriffs äußert sich in seiner Bestimmtheit, welcher die Negation zugrunde liegt, d.h. im negativen Bezug auf sein Anderes. Die Denkb estimmungen stehen folglich in negativen Beziehungen zueinander. Ein Begriff trägt so den Widerspruch in sich, Identität und Differenz zu sein bzw. in der Beziehung auf sich zugleich Beziehung auf sein Anderes zu sein, durch welche hindurch das Denken sich vollzieht gegen die Verstandeslogik. In der „Notwendigkeit des Zusammenhangs“ als „immanente Entstehung der Unterschiede“ liegt die „eigene Fortbestimmung des Begriffes“ (GW 21, 39), die als Geschehen einer Bildung verstanden wird, welche sich im dialektischen Fortgang als sich immer weiter steigernde Anreicherung der Dimensionen von Einheit und Differenz zeigt. Hegel zeigt in der „Vorrede zur ersten Ausgabe“, dass „die immanente Entwicklung des Begriffs“, also der Realisierungsvorgang selbst, nicht nur die „immanente Seele des Inhalts selbst“, sondern zugleich „die absolute Methode des Erkennens“ (GW 21, 8) ist. Das bildende Moment ist hier konstitutiv gebunden an die Dialektik bzw. die Aufhebung, die ebenfalls in der Art und Weise ihrer Fortbewegung über bestimmte Negation bzw. genauer die abstrakte oder verständige, die dialektische oder negativ-vernünftige und die spekulative oder positiv-vernünftige Seite des Lo- 9 Vgl. hierzu generell die Studie von Georg Sans zur „Realisierung des Begiffs“: „Im Verlaufe der Logik wird das Absolute in der Weise bestimmt, dass wir am Ende über einen neuen Begriff von dem verfügen, was am Anfang das Absolute genannt wurde. Insofern das Absolute schließlich als die Idee bzw. als der reale Begriff bestimmt wird, hat man es bei der Wissenschaft der Logik rückblickend gesehen mit einer ,Bewegung des Begriffs’ zu tun. Hegel fasst die Bewegung als ,absolute Tätigkeit’, wodurch der Begriff sich selbst bestimmt und realisiert“ (Sans, Georg: Die Realisierung des Begriffs. Eine Untersuchung zu Hegels Schlusslehre. Berlin 2004, S. 74f.). <?page no="185"?> Das reine Zusehen 185 gischen in ihrem immanenten Zusammenhang als Bildungsgang begriffen werden kann. 10 Denn durch die Dialektik werden Inhalte nicht einfach verglichen und historisch aufgeteilt, sondern auch Historisches wird Element in der Aktualität einer Aneignung und Durcharbeitung, in der sich Bewusstsein und Inhalt wechselseitig aneinander erweitern und die deshalb legitim als Bildungsformation beschrieben werden kann. 3. Eine weitere Dimension, so könnte man sagen, betrifft die Momente der Logik als Momente von Bildung. D.h. die Kategorien der Logik können selbst als Momente eines sinnvollen Bildungsbegriffs gefasst werden, aber hier durchaus eines Bildungsbegriffes von Personen. Bildung, dies hat die Forschung in den unterschiedlichsten Disziplinen immer wieder herausgestellt, ist die Bedingung für eine ganze Reihe essentieller und existentieller Dinge: die Bedingung nämlich für Subjektivität, für Freiheit, für Arbeit, sogar für das Leben überhaupt 11 . Was aber ist die grundlegende Bedingung der Möglichkeit von Bildung bzw. welches sind ihre kategorialen Momente und wie funktionieren diese? (Möglicherweise und kantisch gesprochen, sogar transzendentale Bedingung, wenn man davon ausgeht, dass es eine grundlegende Bildungsstruktur gibt, die allen Subjekten inhärent ist, so wie es eine allgemeine Subjektstruktur gibt; und wenn man davon ausgeht, dass die Subjektstruktur ganz wesentlich an die Bildungsstruktur gekoppelt ist). Und hier zeigt sich, dass die Kategorien der Logik und die einzelnen Momente dieser Kategorien (bspw. Schranke und Sollen) selbst Momente des Bildungsbegriffes sind. 12 4. Schließlich ist Bildung in der Logik eine Form der denkenden Selbstbetrachtung des Subjekts - dann nämlich ist sie „absolute Bildung“, wie Hegel an elaborierter Stelle in der Wissenschaft der Logik konstatiert. Im Folgenden soll nur diese letztgenannte Dimension des Bildungsbegriffs in der Logik, ausgehend von Hegels Formulierung einer „absolute[n] Bildung“ (GW 21, 42), systematisch entwickelt werden. 10 Vgl. GW 20, §§ 79-82, 118-120. 11 Vgl. Anm. 1. 12 Vgl. Wirsing, Claudia: Schranke, Sollen, Freiheit. Kategoriale Elemente des Bildungsbegriffs bei Fichte und Hegel. In: Braune u.a. (Hrsg.): Freiheit und Bildung bei Hegel (Anm. 1). <?page no="186"?> 186 Claudia Wirsing III. Die Grundkonfiguration der Logik in „Vorrede“ und „Einleitung“ Bereits in den ersten Zeilen der Wissenschaft der Logik, in der „Vorrede zur ersten Ausgabe“, beschreibt Hegel das „Geschrey der modernen Pädagogik“ (GW 21, 5), das die Kantische Philosophie hervorgebracht hat. Hegel deutet hier gleich zu Beginn einen zweifachen Zusammenhang an: Zum einen legt er nahe, dass es überhaupt eine Verbindung zwisch en der reinen theoretischen Philosophie (also der Logik) und dem Bildungsdiskurs gibt. Und zum anderen scheint die Kritik an der Kantischen theoretischen Philosophie (Verstandesdenken bzw. Subjektivismus) auch zugleich eine Kritik des modernen pädagogischen Bildungsdiskurses zu sein. Das heißt mit anderen Worten: Hegels Logik konstatiert gleich zu Anfang, dass der Bildungsbegriff zum einen eng mit ihr zusammenhängt, andererseits aber abseits des Zeitgeistes, nämlich des begrenzten Subjektivismus des Verstandes (Kant), zu suchen ist. Darüber hinaus kritisiert Hegel an dieser Stelle die moderne Pädagogik, die behauptet, dass „theoretische Einsicht sogar schädlich“ ist und statt dessen „Uebung und praktische Bildung überhaupt das Wesentliche“ sei (GW 21, 5). Gerade dies scheint auch der gegenwärtigen Fokussierung auf „Kompetenzen“ als Kernzellen von Bildung zu entsprechen. Die Forschung hat dabei zurecht immer wieder betont, dass es sich bei einer solchen Kompetenzbildung keineswegs um Bildung, sondern um Ausbildung handelt. Bildung scheint dann doch etwas Komplexeres und Theoretischeres zu sein, das sich nicht so einfach auf praktische Fingerfertigkeiten reduzieren lässt. Zusammengenommen, macht damit gleich der Einstieg der Logik klar, dass es einen Begriff von Bildung gibt, der rein im Medium des theoretischen Nachdenkens stattfindet, aber gerade entgegen der kantischen Philosophie nicht allein in der Selbstmächtigkeit eines erfahrungskonstituierenden Subjekts liegen darf. Eine, vielleicht die entscheidende Perspektive, mit der Hegel in den „Vorreden“ und der „Einleitung“ der Logik sein Konzept dieser philosophischen Disziplin zu umreißen sucht, ist der „neue Begriff wissenschaftlicher Behandlung“ (GW 21, 7), der weder in intuitiver, also methodenloser Schau der Inhalte an sich selbst („innerer Anschauung“, GW 21, 7) bestehen kann, noch in der Übertragung fremder Methoden wie bspw. aus der Mathematik als Konstruktion philosophischer Inhalte „more geometrico“, wie es die Tradition des Rationalismus seit Descartes und Spinoza nahegelegt hat. Form und Inhalt, Methode und Gegenstand philosophischer Logik dürfen nicht als ansichseiende, für sich bestehende und nur äußerlich aufeinander angewendete Entitäten begriffen werden, die so entweder einen <?page no="187"?> Das reine Zusehen 187 Formalismus oder einen Inhaltismus des Logischen nahelegen. Reine Formgesetze des Denkens sind genauso sinnlos wie formlose Ideenschau. Gleich zu Beginn der „Einleitung“ macht Hegel klar: „Die Logik dagegen kann keine dieser Formen und Reflexionen oder Regelungen und Gesetze des Denkens voraussetzen, denn sie machen einen Theil ihres Inhalts selbst aus und haben erst innerhalb ihrer begründet zu werden. Nicht nur aber die Angabe der wissenschaftlichen Methode, sondern auch der Begriff selbst der Wissen sch aft überhaupt gehört zu ihrem Inhalt, und zwar macht er ihr letztes Resultat aus“ (GW 21, 27). Die Methode, wenn wir also von einer solchen bei Hegel sprechen, meint dann den Weg der Entwicklung der Denkinhalte, der sich aus diesen selbst ergibt, und der demnach der „Gang der Sache selbst“ (GW 21, 38) sein muss. Die einzig richtige Methode ist die, die mit dem Inhalt identisch ist 13 . Die Methode darf also nichts dem Gegenstand Äußerliches und Fremdes sein. 14 „Sondern es kann nur die Natur d es Inh alts seyn, welche sich im wissenschaftlichen Erkennen b ewe gt, indem zugleich diese eign e Reflexion des Inhalts es ist, welch e sein e Bestimmung selbst erst setzt und erzeugt.“ (GW 21, 7f.) Wenn also Hegel die Vorstellung kritisiert, dass „die Denkbestimmungen [...] als Formen [gelten] die nur an d em Geh alt , nicht der Gehalt selbst seyen“ (GW 21, 15), macht er dagegen die Einsicht stark, dass „der Begriff [...] nicht nur als eine gleichgültige Form die an einem Inhalte sey, angesehen werden“ (GW 21, 15) kann. Der Begriff als „Formbestimmung dieser substantiellen Einheit, ein Moment der Form als Totalität“ (GW 21, 17) ist vielmehr dem Besonderen bereits inhärent und kommt ihm nicht äußerlich zu („der reine Begriff, der das Innerste der Gegenstände, ihr einfacher Lebensimpuls [...] ist“ (GW 21, 15) - „Denn so als blosse Formen, als verschieden von dem Inhalte, werden sie als in einer Bestimmung stehend genommen, die sie zu endlichen stempelt und die Wahrheit, die in sich unendlich ist, zu fassen unfähig macht.“ (GW 21, 16)). Die immanente Verbindung von Methode und Gehalt der Logik ist demnach Bedingung dafür, die Endlichkeit des bloßen Verstandesdenkens wirklich überschreiten zu können und die Logik als „Darst ellung Gottes [...], wie er in s eine m 13 Vgl. GW 13, S. 5. 14 „Philosophie [...] kann [...] ihre Methode nicht von einer untergeordneten Wissenschaft, wie die Mathematik ist, borgen“ (GW 21, S. 7). Der Methodenbegriff bei Hegel ist in der Forschung zurecht umstritten. Vgl. dazu den sehr aufschlussreichen Beitrag von Michael Wolff zur Kritik an Hegels Dialektik als einer Methode. In: Anton Friedrich Koch u.a. (Hrsg.): 200 Jahre Wissenschaft der Logik. Hamburg (in Vorbereitung). <?page no="188"?> 188 Claudia Wirsing ewigen Wesen vor d er Ersc h affung d er Natur und ein es endlich en Geistes ist “ (GW 21, 34), zu profilieren. In direktem Zusammenhang mit dieser „methodischen“ Neuausrichtung der Logik, die eine Brechung des eigentlichen Methodencharakters darstellt, steht der zweite zentrale Gedanke der „Einleitung“, nämlich die Selbstbewegung der Gedankenbestimmungen als „Begriff [...], [der] b estimmt an ihm selbst“ (GW 21, 44) ist. 15 Die Wissenschaft der Logik betrachtet bekanntlich „die Denkbestimmungen als die Grundb estimmu ngen d er Dinge [...] daß das, was ist, damit daß es g ed acht wird, an sich erkannt werde“ (GW 20, § 28, 70): „ungereimt ist eine wahre Erkenntniß, die den Gegenstand nicht erkännte, wie er an sich ist.“ (GW 21, 30) Die Logik zeigt somit die grundlegenden, d.h. logischen Fundamentalstrukturen unserer Wirklichkeit auf, die alle Formen des Gegebenseins von etwas überhaupt betreffen. Als Ergebnis der Phänomenologie des Geistes, die das „objektive Denken“ als Gedanke bereits vollbracht hat, „insofern er eb en so sehr die S ach e an sich selb st ist, od er die S ach e an s ich selb st, in sofern sie eb en so sehr d er rein e Ged anke ist “ (GW 21, 33), geht die Logik deshalb von der Wirklichkeit des Begriffs aus: „nur in seinem Begriffe hat Etwas Wirklichkeit“ (GW 21, 34). Folglich sind die „in sich selbst lebendigen Bestimmungen“ 16 des Begriffs das immanente Wesen der Wirklichkeit selbst, bzw. kommt den kategorialen Formen eine Objektivität zu, die ihnen Seinscharakter verleiht. Als Seiendes jedoch, mehr noch in ihrem organischen Zusammenhang als seiende Lebendigkeit einer sich in sich bewegenden Ganzheit des Begriffs, können sie nicht wie geistlose und tote Materie mit subjektiven Denkformen erschlossen werden. Das Verfahren der Logik besteht folglich darin, keine eigene, bloß leere und bloß subjektive Methode zu haben, sondern den reinen Gedankenbestimmungen ebenso rein bei ihrer Bewegung zuzusehen, weil diese Gedankenbestimmungen die Form der Reflexion, die sie erschließt und ordnet, an sich selbst haben. Die Bewegung des Begriffs als richtige Denkweise einer Sache ist zugleich die Daseinsweise der Sache selbst, die da gedacht wird. Darin zeigt sich Hegels Idealismus, nämlich „daß durch das 15 „Die Form, so in ihre Reinheit herausgedacht, enthält es dann in sich selbst, sich zu b e s ti m m e n , d.i. sich Inhalt zu geben, und zwar denselben in seiner Nothwendigkeit, - als System der Denkbestimmungen.“ (GW 21, S. 48) 16 Hegel, G.W.F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830),. In: Eva Moldenhauer/ Karl Markus Michel (Hrsg.): Werke in zwanzig Bänden. Bd. 8. Frankfurt M. 1986, S. 85 [Zusatz 2]. <?page no="189"?> Das reine Zusehen 189 Nachd enken die Wahrh eit erkannt , das, was die Objecte wahrhaft sind, vor das Bewußtseyn gebracht werde“ (GW 20, § 26, 69). Hegels Devise ist demnach die, dass man den logischen Inhalt spekulativ nur richtig „betrachten“ muss, ohne ihn selbst noch in ein ihm äußerliches, begriffliches Korsett zu pressen. Spekulativ meint dabei im Hegelschen Sinne ein spezifisches Vorgehen der Philosophie, das sich dem „begreifende[n] Erkennen“ (GW 15, 24f.) verschrieben hat und der Betrachtung der Kategorien, des Begriffs und ihrer immanenter Selbstbewegung fähig ist. Hegels Wissenschaft der Logik nun, insofern sie das Denken des Denkens verrichtet, versteht sich folglich als eine spekulative Wissenschaft bzw. spekulative Logik, welche die objektiven Vernunftgegenstände ebenso betrachtet. Die „Methode ist das Bewußtseyn über die Form der innern Selbstbewegung ihres Inhalts“ (GW 21, 37): „denn es ist der Inhalt in sich, die Dialektik, die er an ihm selb st h at , welche ihn fortbewegt.“ (GW 21, 38) Logik als Disziplin und Methode heißt demnach, dem „Gang der Sache selbst“ (GW 21, 38), wie er sich in der immanenten Fortbewegung der logischen Inhalte durch die „Nothwendigkeit des Widerspruch s , der zur Natur der Denkbestimmungen gehört“ (GW 21, 40), ergibt, durch subjektives und äußeres Zutun so wenig wie möglich im Weg zu stehen; d.h. nicht auf den kantischen Standpunkt der endlichen Subjektivität zurückzufallen, welcher die „Regeln des reinen Denkens eines Ge g en sta nd es“ (GW 21, 47) als „Formen , die nur an d em Geh alt , nicht der Gehalt selbst seyen“ (GW 21, 15), und damit als endliche und zufällige Muster der Dinge fasst. Denn im kantischen Subjektivismus und Formalismus kommt das Denken „in seinem Empfangen und Formiren des Stoffs nicht über sich hinaus, [...] es wird dadurch nicht zu seinem Andern“ (GW 21, 29); umgekehrt bleibt „das Object ein für sich vollendetes, fertiges [...], das des Denkens zu seiner Wirklichkeit vollkommen entbehren“ (GW 21, 28) kann. Dieser absolute Unterschied des abstrahierenden und trennenden Verstandes, „der in seinen Trennungen beharrt“, und in dessen „nur subjective[r] Wahrheit [...] das Wissen [...] zur Meynung“ (GW 21, 29f.) zurückfällt, erstarrt in der Äußerlichkeit seiner objektlosen Aktivität, wohingegen das wahrhafte Denken des Logischen nach Hegel den logischen Sachen selbst die Arbeit überlässt. Das Logische umfasst Denkformen, die a) betrachtet werden und b) in dieser Betrachtung metatheoretisch erkannt werden. Damit ist jedoch keiner trägen Passivität des subjektiven Geistes in der Logik das Wort geredet - vielmehr erkennt Hegel gegenteilig im Kantischen Denken eine „Trägheit des Denkens, die sich damit beruhigt, daß bereits alles bewiesen und abgethan sey“ (GW 21, 46). Adorno hat dies in seinen Drei Studien zu Hegel prägnant formuliert, wenn er sagt, dass „eben <?page no="190"?> 190 Claudia Wirsing solche Unterordnung unter die Disziplin der Sache [...] die äußerste Anstrengung des Begriffs [verlangt]“ 17 . In diesem Kontext kann man auch das Wort nicht falsch verstehen, welches Hegel in der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes verwendet, wenn er angesichts der richtigen Methode des philosophischen Denkens, wie sie gerade skizzenartig von mir nachgezeichnet worden ist, davon spricht, dass dem Bewusstsein „nur das reine Zusehen bleibt.“ (GW 9, 59) 18 In der Konstellation der Prägungen 17 Adorno, Theodor W.: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Drei Studien zu Hegel. Frankfurt/ M 2003, S. 256. 18 Der Gedanke des „reinen Zusehens“ findet sich schon in Fichtes Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, der 1797/ 98 im „Philosophischen Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten“ erschienen ist. Zu den wichtigsten Passagen dieses Textes bezüglich dieses Gedankens gehören v.a. die „Erste Einleitung“ und „Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre. Für Leser, die schon ein philosophisches System haben“ (Fichte, J. G.: Gesamtausgabe I, 4 der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Werke 1797-1798, Reinhard Lauth/ Hans Gliwitzky (Hrsg.), Stuttgart-Bad Cannstatt 1970 [abgekürzt GA]). In der „Ersten Einleitung“ expliziert Fichte das Objekt des Idealismus (Ichheit/ Intelligenz) als eine doppelte Reihe von Sehen und Sein, von Idealem und Realem, wodurch er den Idealismus vom Dogmatismus abgrenzt, welcher nur von der einfachen Reihe des Seins ausgehe. „Sehen“, indem es als eine eigenständige zweite Reihe eingeführt wird, stellt damit eine Art skeptizistische Waffe gegen den Dogmatismus dar. Vor allem aber exemplifiziert Fichte über die Sehensleistung als einer Reflexionsleistung das konstitutive und zielbestimmte Element einer jeden Bildung: nämlich die Hervorhebung von Intelligenz und Sein. „Hervorhebung“ ist hier jedoch nicht als „Hervorbringung“ gedacht, da die „Intelligenz nothwendig für sich selbst ist, was sie ist, und nichts zu ihr hinzugedacht werden braucht“ (GA I, 4, 196; vgl. auch Hegel, der davon spricht, dass „eine Zuthat von uns überflüssig“ wird [GW 9, 59]). Sondern vielmehr wird im Zusehen die Hervorbringung des Seins hervorgehoben; durch das Zusehen wird sich das Ich selbst objektiv als Seiendes. Und insofern wird das Sich-selbst-Sehen zur Intelligenz- und Seinsbedingung: „Die Intelligenz, als solche, sieht sich selbst zu; und dieses sich selbst Sehen, geht unmittelbar auf alles, was sie ist, und in dieser unmittelbaren Vereinigung des Seyns, und des Sehens, besteht die Natur der Intelligenz. Was in ihr ist, und was sie überhaupt ist, ist sie für sich selbst; und nur in wie fern sie es für sich selbst ist, ist sie es, als Intelligenz. Ich denke mir dieses oder jenes Object: was heißt denn das, und wie erscheine ich mir denn in jenem Denken? Nicht anders als so: ich bringe gewisse Bestimmungen in mir hervor, wenn das Object eine bloße Erdichtung ist; oder sie sind ohne mein Zuthun vorhanden, wenn es etwas wirkliches seyn soll; und ich sehe, jenem Hervorbringen, diesem Seyn, zu. Sie sind in mir, nur in wie ferne ich ihnen zusehe: Zusehen, und Seyn, sind unzertrennlich vereinigt. - Ein Ding dagegen soll gar mancherlei seyn: aber sobald die Frage entsteht: für Wen ist es denn das? wird niemand, der das Wort versteht, antworten: für sich selbst; sondern es muß noch eine Intelligenz hinzugedacht werden, für welche es sey: da hingegen die Intelligenz nothwendig für sich selbst ist, was sie ist, und nichts zu ihr hinzugedacht werden braucht. Durch ihr Gesetztseyn, als Intelligenz, ist das, für welches sie sey, schon mit gesetzt. Es ist sonach in der Inte lligenz - daß ich mich bildlich ausdrücke - eine doppelte Reihe, des Seyns, und des Zu- <?page no="191"?> Das reine Zusehen 191 „absolute Bildung“ und „reines Zusehen“ bin ich an dem Punkt angelangt, welcher eben die enigmatische Idee der „absoluten Bildung“ erhellen soll. IV. Das Konzept einer „absoluten Bildung“ in Hegels Logik Hegels Idee einer „absoluten Bildung“ des Bewusstseins in der Logik ist eng an eine Haltung gebunden, die man als Aufmerksamkeit bezeichnen könnte. „Aufmerksamkeit ist das natürliche Gebet der Seele.“ [l’attention de l’esprit, laquelle est la prière naturelle] 19 Dieses bekannte Zitat von Nicolas Malebranche könnte gut über dieser hegelschen Konzeption stehen: macht es doch klar, dass Hegel an der primär objektgerichteten Aufsehens, des Reellen, und des Idealen; und in der Unzertrennlichkeit dieses Doppelten besteht ihr Wesen (sie ist synthetisch) da hingegen dem Dinge nur eine einfache Reihe, die des Reellen (ein bloßes Gesetztseyn) zukommt.“ (Erste Einleitung. In: GA I, 4, 196, Hervorh. C.W.) In der „Zweiten Einleitung“ hingegen bezieht sich das Zusehen auf die intellektuelle Anschauung: „Ganz anders verhält es sich mit der WissenschaftsLehre. Dasjenige, was sie zum Gegenstande ihres Denkens macht, ist nicht ein todter Begriff, der sich gegen ihre Untersuchung nur leidend verhalte, und aus welchem sie erst durch ihr Denken etwas mache, sondern es ist ein Lebendiges und Thätiges, das aus sich selbst und durch sich selbst Erkenntnisse erzeugt, und welchem der Philosoph bloß zusieht. Sein Geschäft in der Sache ist nichts weiter, als daß er jenes Lebendige in zweckmäßige Thätigkeit versetze, dieser Thätigkeit desselben zusehe, sie auffasse, und als Eins begreife. Er stellt ein Experiment an.“ (Zweite Einleitung. In: GA I, 4, 209) Fichtes Kantkritik an dieser Stelle ist deutlich: Es dürfe dem toten Stoff nicht die eigenen subjektiven Begriffsvorstellungen bloß wie von außen appliziert werden. Fichte unterscheidet weiterhin das Ich des Philosophen vom Ich-Prinzip selbst, dem ursprünglichen Ich. Das Zusehen qua intellektuelle Anschauung bezieht sich sowohl auf das Ich des Philosophen als auch auf das ursprüngliche Ich, insofern die intellektuelle Anschauung sowohl die Methode, das Ich-Prinzip im Bewusstsein nachzuweisen, als auch das Ich-Prinzip selbst bezeichnet. Da das Ich des Philosophen (beobachtende Ich) mit dem ursprünglichen Ich (beobachteten Ich) zusammenfällt, bestimmt Fichte das Ich in der Wissenschaftslehre Nova Methodo als sich selbst sehendes Auge. Dass der Philosoph ein Experiment anstellt, verweist dabei auf den notwendigen Charakter des Ich-Prinzips. Es handelt sich hierbei also um keine bloße Konstruktion des Philosophen, sondern um etwas, das sich selbst nach notwendigen Gesetzen konstruiert. Der Philosoph bringt das Ich zwar in einem willkürlichen Akt der Freiheit hervor, er sieht aber hierbei der objektiven Selbstkonstruktion des Ich zu: „Der ganze Zwek der Bildung des Menschen ist, ihn durch Arbeit zu dem zu machen, was er vorher ohne Arbeit war.“ (Fichte, J.G.: Wissenschaftslehre nova mathodo. Kollegnachschrift von K. Chr. Fr. Krause 1798/ 99. Hamburg 1982, S. 6f.) 19 Malebranche, Nicolas : Œuvres 1. Geneviève Rodis-Lewis (Hrsg.), Paris 1979 (Bibliothèque de la Pléiade, Bd. 277), S. 770 (De la recherche de la vérité/ Von der Erforschung der Wahrheit, 1674/ 75). <?page no="192"?> 192 Claudia Wirsing merksamkeit des Denkens auf die Selbstbewegung des Inhalts eine genuine, vielleicht die wesentlichste, selbst logisch den anderen, konkreten Elementen der Bildung vorgeschaltete Dimension von Bildung erkennt. Eben dies scheint der Begriff der „absoluten Bildung“ klarmachen zu wollen. Die „Glättung der Besonderheit“, als welche Bildung in der Rechtsphilosophie gesehen wird, mit ihrer „h arte[n] Arb eit gegen die bloße Subjectivität [...] und die Willkühr des Beliebens“ (GW 14, 1, § 187, 163) als Formen der Partikularität des Subjekts, kann vollends und ohne störende Einschaltung kontingenter, darum endlicher Bildungsgehalte allein und nur im Raum der reinen Wesenheiten des Logischen vollzogen werden - und zwar durch die Einübung in eine Form von Subjektivität, die gänzlich mit der Objektivität und reinen Wesenhaftigkeit der Gehalte zusammenfällt. Hegel sieht dies ganz klar, wenn er davon spricht, dass nur in der völligen Ausschaltung der „Angst vor dem Object“ (GW 21, 35) der Gedanke etwas gewinnen kann, was letztlich auf die Form von Subjektivität überhaupt zielt: „Selbständigkeit und Unabhängigkeit“ (GW 21, 43). Die scheinbaren Abstraktionen, welche die Disziplin der Logik dem Inhalt auferlegt, wenn dieser in der „farblosen, kalten Einfachheit [...] reine[r] Bestimmungen“ (GW 21, 42) erscheint, machen so ganz im Gegenteil die logischen Voraussetzungen von Bildung des Subjekts überhaupt klar: das Absehen von kontingenten, bloß endlichen Interessen bzw. von der Unfreiheit des subjektiven Interesses überhaupt, das Insichgehen des Subjekts auf seinen Grund des Allgemeinen, um erst bei sich als „freiem Subjekt“ anzugelangen, das kein Anderes mehr gegen sich hat, sowie das Einlassen auf die Selbstgegebenheit einer Objektivität, welche die wahre Gestalt der Einheit von Denken und Sein selbst als Bildungsgang realisiert. Hegels Rede von der „absoluten Bildung“ des Bewusstseins in der Logik erinnert daran, dass sich das Subjekt in seiner natürlichen Gestalt des Bewusstseins erst ganz verlieren muss, um sich wiederzugewinnen: aber nicht verlieren an die Vielfalt der zufälligen Interessen der Realität, durch die sich die natürliche Gestalt des Bewusstseins als aktives und formendes Gegenüber zur Wirklichkeit nur verfestigt, sondern an die reine Selbstbewegung des logischen Inhalts. Hegels Idee ist es dabei, dass das Bewusstsein seine wahre Subjektivität erst vollends und ohne störende Verzerrung von den kategorialen Gedankenbestimmungen erhält, die nämlich als „objektive Gedanken“ die versöhnte, wahre Form von Subjektivität als „concrete lebendige Einheit [...] [in der] der Gegensatz des Bewußtseyns von einem subjectiv-für sich se yend en und einem Zweyten solchen S eyend en , einem Objectiven, als überwunden, und das Seyn als reiner Begriff an sich selbst, und der reine Begriff als das wahrhafte Seyn gewußt wird“ (GW 21, 45), so realisieren, <?page no="193"?> Das reine Zusehen 193 dass sich das Subjekt in der Aufmerksamkeit darauf erst wirklich zu sich selbst fortbewegt. Bildung wird auf dem Grunde seiner vielfältigen Dimensionen zur reinen aktiven Selbstbeobachtung des Denkens in seinen Grundbegriffen: indem also das Subjekt des Denkens das reine Denken wie ein Anderes, Objekthaftes auf aktive produzierende Weise beobachtet, um in diesem Anderen durch und während des logischen Beobachtens bei sich selbst anzukommen. Der Durchgang durch eine Ich-Schwäche, die im Dabeisein der Selbstbewegung der Inhalte zu einer Subjekt-Stärke gebildet wird, ist derart einzig im „Reinst/ raum“ der logischen Laborsituation des Denkens möglich, die allerdings gerade nicht Abstraktheit und bloße Allgemeinheit, sondern eine sich zur konkreten Allgemeinheit verdichtete Form des reinen Logischen meint. Für diese Haltung einer „absoluten Bildung“ - in der das Bewusstsein die Identität von Subjektivität und Objektivität erkennt - bietet sich der Begriff der Betrachtung an, wie er im Anschluss an den aristotelischen Begriff der theoria bzw. des bios theoretikos in der Nikomachischen Ethik gefasst wird. Denn anders als die sinnlichen Äquivalente „Wahrnehmung“ oder auch „Beobachtung“, die auch als metaphorische Beschreibungen durch ihre Herkunft aus dem rein sinnlichen Bereich problematisch wären, fasst die aristotelische theoria der Betrachtung die Einheit von aktiver und passiver, geistiger und sinnlicher Tätigkeit des Bewusstseins wiederum im Medium kontemplativer Selbstbeschränkung dem Gehalt gegenüber, der sich durch sie zum Vorschein bringt. 20 Dieser Begriff von logischer Bildung hat dabei strukturell eine große Affinität zum Erfahrungsbegriff, wie er sich in der hermeneutischen Tradition von Martin Heidegger und Hans Georg Gadamer - natürlich bei beiden im Anschluss an Hegels Phänomenologie des Geistes - herausgebildet hat. Denn zum einen wird diese „absolute Bildung“ im Logischen durch den wesentlich negativen Aspekt des Erfahrungsmodus be- 20 Vgl. zum Wechselspiel von Aktivität und Passivität auch den Hauptsatz des theoretischen Wissens bei Fichte: Das Ich setzt sich als bestimmt durch das Nicht-Ich. Insofern das Ich etwas weiß, so ist es selbsttätig, bezieht man sich damit auf den Akt des Wissens; blickt man jedoch darauf, dass es etwas weiß, so ist es festgelegt durch dieses Etwas und kann es durch sein Wissen nicht selbsttätig verändern. Indem es rezipiert ist es also nicht tätig, sondern leidend, wie Fichte sagt. Der Gedanke der Bildung als einer denkenden, d.h. leidenden wie gleichermaßen aktiven Selbstbetrachtung zeigt sich also auch hier. Im Akt des Wissens ist das Subjekt selbstbildend, so wie es im Wissen um etwas leidend ist und dabei gleichermaßen gebildet wird in der leidenden Selbstbetrachtung des Gegenstandes. Fichte drückt diesen Gegensatz in der Grundlage so aus: Das Nicht-Ich bestimmt (thätig) das Ich (welches insofern leidend ist).“ (GA I, 2, 287) und „Das Ich bestimmt sich selbst, (durch absolute Thätigkeit).“ (GA I, 2, 287). <?page no="194"?> 194 Claudia Wirsing stimmt, der als Überwindung und Umarbeitung gegebener Erfahrungsformen tief in das Gerüst der Subjektivität eingreift, welche sich in der Logik aus der Endlichkeit ihrer natürlichen, von Kant hypostasierten Form befreit: „Dieser Prozeß [der Erfahrung] nämlich ist ein wesentlich negativer. Er ist nicht einfach als die bruchlose Herausbildung typischer Allgemeinheiten zu beschreiben. Diese Herausbildung geschieht vie lmehr dadurch, daß ständige falsche Verallgemeinerungen durch die E rfahrung widerlegt, für typisch Gehaltenes gleichsam enttyp isiert wird. [...] Diese, die eigentliche Erfahrung, ist immer eine negative. Wenn wir an einem Gegenstand eine Erfahrung machen, so heißt das, daß wir die Dinge bisher nicht richtig gesehen haben und nun besser wissen, wie es damit steht. Die Negativität der Erfahrung hat also einen eigentümlich produktiven Sinn.“ 21 Zum anderen fasst dieser Begriff der Erfahrung als Substanz von Bildung eine Offenheit gegenüber einem Sich -Gebenden in sich, die nicht in passiver Teilnahmslosigkeit erstarrt, ohne doch ka ntische Konstruktion zu sein: „Mit etwas [...] eine Erfahrung machen heißt, daß es uns widerfährt, daß es uns zutrifft, über uns kommt, uns umwirft und verwandelt. Die Rede von »machen« meint in dieser We ndung gerade nicht, daß wir die Erfahrung durch uns bewerkstelligen; machen heißt hier: durchmachen, erleiden, das uns Treffende empfa ngen, insofern wir uns ihm fügen. Es macht sich etwas, es schickt sich, es fügt sich.“ 22 Es hat sich gezeigt, dass Hegel in der Wissenschaft der Logik, die schon zu seiner Zeit bestenfalls „Gegenstand des öffentlichen Unterrichts“ (GW 21, 6) gewesen ist, ohne wirklich und wahrhaftig Medium eines emphatischen Begriffs von Bildung sein zu können - die Worte Mephistos über das „Collegium Logicum“ im Faust sprechen das deutlich aus -, die fundamentalen Dimensionen eines Bildungsganges entdeckt, der gerade die Unsicherheiten und Gefahren der realen Bildung des Subjekts, d.h. der Bildung an konkreten Inhalten der Realität, vermeidet, ohne dadurch jedoch die Form der Konkretion - zumindest in ihrer logischen Weise der Allgemeinheit - vermissen zu lassen. Als betrachtendes Subjekt im reinen „Zusehen“ gewinnt das Bewusstsein erst wahrhaft die Möglichkeit, zu sich als Wesen zu finden, das im Anderen und damit in der Gerechtigkeit den Sachen gegenüber bei sich ankommen kann. 21 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 5 1986, S. 359. 22 Heidegger, Martin: Unterwegs zur Sprache. Frankfurt a/ M. 1985, S. 149. <?page no="195"?> Das reine Zusehen 195 V. Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich also festhalten: „Absolute Bildung“ in Hegels Wissenschaft der Logik ist eine Form der denkenden Selbstbetrachtung des Subjekts. Der zentrale Fokus liegt hierbei ganz im Sinne des Spekulativen darauf, den „objektiven Gedankenbestimmungen“ in ihrer Bewegung zuzusehen, weil diese Gedankenbestimmungen die Form der absoluten Reflexion und damit einer wahren Form von Subjektivität bereits an sich selbst haben. Dabei geht es Hegel darum, dass der logische Inhalt nur richtig betrachtet werden muss, ohne ihm allein von außen ein begriffliches Korsett ‚aufzustülpen’. Im „reinen Zusehen“ ist der „Begriff und Gegenstand“ (GW, 9, 59) - darin kommen sich Fichte und Hegel zumindest nahe - „ohne mein Zuthun vorhanden“ (Fichte, GA I, 4, 196) bzw. wird „eine Zuthat von uns überflüssig“ (Hegel, GW 9, 59). Da die „immanente Entwicklung des Begriffs [...] die absolute Methode des Erkennens, und zugleich die immanente Seele des Inhalts selbst“ ist (GW, 21, 8), muss sich der Weg der Entwicklung der Denkinhalte aus diesen selbst ergeben; die Methode darf dem Gegenstand nicht fremd sein und äußerlich auf ihn übertragen werden. Entgegen der Kantischen „Angst vor dem Object“ (GW 21, 35), wie Hegel es nennt, ist Denken also nicht etwas bloß aktiv Konstruierendes, sondern mindestens so sehr etwas, was auf das Objekt beobachtend (jedoch nicht rein passiv) bezogen ist; eine solch bildende Betrachtung als Subsumption unter die Sache erfordert, wie Adorno in seinen Studien zu Hegel zu Recht bemerkt hat, durchaus die „äußerste Anstrengung des Begriffs“ 23 . In der „absoluten Bildung“ ist dabei die Aufmerksamkeit auf die Selbstbewegung des Inhalts angelegt, was gleichsam zu einer Selbstbildung des Subjekts führt. Denn das Subjekt erhält seine Bildung, d.h. die wahre Form einer mit der Objektivität versöhnten Subjektivität, gerade dadurch, dass es den Gedankenbestimmungen in ihrer Bewegung zusieht, die auch die eigenen sind: Durch das aktivische Zusehen, darin scheint es zumindest eine Annäherung an Fichte zu geben, wird das Subjekt sich selbst objektiv (vgl. GA I, 4, 196). Interessant wäre auch zu fragen, inwiefern das Zusehen möglicherweise eine Reflexionsleistung darstellt, die im strukturellen, epistemischen wie optischen Sinn von „Reflexion“ eine systematische Gemeinsamkeit mit Fichte aufweist; 24 an dieser Stelle sei jedoch nur 23 Adorno: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie (Anm. 18), S. 59. 24 Die konzeptuelle Verbindung zwischen Hegel und Fichte ist hier durchaus nicht als Einflussbeziehung zu verstehen, sondern vielmehr als systematische Berührung gemeint. Fichtes Wissenschaftslehre nova methodo, in welcher er nämlich diesen dreifachen Bedeutungssinn von Reflexion aufweist (Ich als „sich selbst abspiegelnder Spiegel“/ „sich selbst sehendes Auge“), wurde in drei Vorlesungen in den Wintersemestern 1796/ 97, 1797/ 98 und 1798/ 99 an der Universität <?page no="196"?> 196 Claudia Wirsing skizzenhaft darauf verwiesen. In der Wissenschaftslehre nova methodo bestimmt Fichte das Zusehen als eine ideale Tätigkeit, welche als eine Tätigkeit in Ruhe und Reflexion die reale Tätigkeit (wahre Tätigkeit/ Handeln) nachbildet. Die ideale Tätigkeit ist also das (Zu-)Sehen und (Ab-)Bild der realen Tätigkeit. Erst durch die sich auf reale Tätigkeit richtende ideale Tätigkeit ist das Ich für sich. Es wird sich hierbei zeigen, dass alles Handeln (reale Tätigkeit) bereits ein Erkennen (ideale Tätigkeit) voraussetzt, nach dessen Vorgabe Handeln überhaupt erst möglich ist sowie umgekehrt dem Erkennen bereits ein Handeln vorausgegangen sein muss, auf das es bezogen ist. In der Wissenschaftslehre nova methodo lassen sich drei Reflexionsbedeutungen aufweisen: Reflexion ist (a) strukturell eine Selbstbeziehung, (b) epistemisch ein Denkakt und (c) optisch eine Spiegelung. Das Zusehen qua ideale Tätigkeit erfüllt bei Fichte alle drei Bedeutungsaspekte 25 , die sich möglicherweise auch auf Hegel in Bezug auf die „absolute Bildung“ applizieren lassen: (a) Das Bewusstsein begreift sich im Zusehen der objektiven Gedankenbestimmungen als Subjekt, denn es bildet die Tätigkeit in sich nach, welcher es zusieht. (b) Indem es dieser Selbstbewegung zusieht, bildet es sich und ist für sich (Selbstbeziehung). (c) Das Zusehen der Gedankenbestimmungen ist ein Zusehen seiner selbst und damit ein Abbild der eigenen Bildung (schließlich erkennt sich das Subjekt in der absoluten Bildung selbst als Objekt und das Objekt ist darum das Subjekt). Was also scheinbar eine Subjektschwäche ist, dies habe ich versucht aufzuzeigen, wird zu einer Subjektstärke, denn das Subjekt erhält seine Subjektwerdung von den eigenen und zugleich objektiven Gedankenbestimmungen. 26 Jena vorgetragen und liegt bekanntlich nur in Kollegsnachschriften vor (GA IV, 2, 17-267 sowie Fichte, J. G., Wissenschaftslehre nova methodo. Kollegnachschrift K. Chr. Fr. Krause 1798/ 99. Erich Fuchs (Hrsg.), Hamburg 2 1994). 25 Das Ich begreift sich als Ich, insofern es seine reale Tätigkeit nachbildet und dieser zusieht; hierin ist es für sich selbst (Selbstbeziehung). Das Ich ist qua Für-sich-Sein ein sich selbst abspiegelnder Spiegel bzw. sich selbst sehendes Auge (vgl. GA IV, 2, 48f.). Vgl. zu den drei Reflexionsbedeutungen sowie generell zum Zusammenhang von Zusehen, Auge und Spiegel bei Fichte den sehr aufschlussreichen Beitrag von Dürr, Suzanne: Spiegel und Auge. Zur Bildung des Bewusstseins in Fichtes Wissenschaftslehre nova methodo. In: Braune u.a. (Hrsg.), Freiheit und Bildung bei Hegel (Anm. 1). 26 Dieser Beitrag wurde 2011 auf der Tagung „Concepts of Bildung around 1800“ an der University of Chicago vorgestellt. Ich möchte mich insbesondere bei den Organisatoren und Teilnehmern dieser Veranstaltung für die anregende Diskussion bedanken. Mein besonderer Dank gilt auch Suzanne Dürr (Jena) und Friedrike Schick (Tübingen) für hilfreiche Kommentare und Hinweise zu diesem Text. <?page no="197"?> A Vital Question The Quest for Bildung in Russia, 1860s-80s Lina Steiner In one of his pedagogical essays published in the periodical Iasnaia Poliana in 1862, Lev Tolstoy insists that among European languages only Russian and German have a special term to convey the idea of self-formation: Education, French education, German Erziehung, are conceptions which are current in Europe; but obrazovanie is a concept which exists only in Russia and partly in Germany, where there is an almost exact correspondence in the word Bildung. But in France and in England this idea and the word do not exist at all. Civilization is enlightenment, and instruction is a European idea that cannot be translated into Russian, but which means the wealth of scholarly scientific knowledge and the transmission of this knowledge. But instruction should not be confused with true formation, for the latter includes the arts and physical development as well as scientific knowledge. 1 Tolstoy’s sweeping generalizations about the state of education in contemporary Western European societies are certainly contestable. At the same time, both his observation that preoccupations with obrazovanie constitutes one of the defining features of the Great Reforms period in Russia and the claim that the Russian term obrazovanie is in fact synonymous with the German term Bildung appear to be right on target. My article will examine these ideas in greater detail by focusing on some of Tolstoy’s pedagogical 1 Tolstoy, Leo: Education and Culture. In: On Education. Chicago 1967, pp. 105-151. Here p. 105. <?page no="198"?> 198 Lina Steiner writings along with the contemporaneous writings by several Russian liberal thinkers including A.I. Herzen, N.I. Pirogov and N.N. Strakhov. While in Western Europe the term Bildung is famous for being uniquely German and practically untranslatable into other Germanic or Romance languages, Russian thinkers from the young Tolstoy to the Soviet philologist Viktor Vinogradov have commented on the semantic proximity of the terms Bildung and obrazovanie. Vinogradov even speculated that the Russian term must have been coined by analogy with the German one. 2 There is some basis for this claim. The words obrazovanie and its near-synonym obrazovannost’ entered the Russian literary and philosophical vocabulary in the 1830s, at the time when the notion of Bildung, originally formulated and put in circulation by Herder, W. von Humboldt and number of Romantic thinkers, had already become one of the key terms of German idealism and was beginning to gain the attention of French and British thinkers. In Russia, the term obrazovanie became popular in the heyday of Russian Hegelianism, i.e. in the 1840s. Thus, for example, it is part of V.G. Belinskii’s philosophical and critical vocabulary. 3 On the other hand, thinkers who were not steeped in German philosophy continued to use the term vospitanie, which since the eighteenth century had served as the Russian equivalent for the French term éducation. 4 At the outset of the Great Reforms, when the young Tolstoy became interested in popular or national education, the difference between the terms obrazovanie and vospitanie was still under debate. Hence the title of the essay a fragment from which I quoted in my opening paragraph: “Vospitanie i obrazovanie” (translated into English by Leo Wiener as “Education and Culture”). This essay shows that in the early 1860s’ Russia the term obrazovanie was still perceived as a neologism that required additional elucidation and justification. I will shortly return to Tolstoy’s essay in order to discuss Tolstoy’s conception of obrazovanie at greater length. However, before returning to Tolstoy, I would like to make an excursion into the works of Nikolai Ivanovich Pirogóv (1810-1881), equally famous in Russia for his contributions to medicine and public enlightenment. 2 Vinogradov, V.V.: Istoriia slov. Moscow 1999, p. 792. 3 See, for example, Belinskii, V.G.: Mysli i zametki o russkoi literature. In: Izbrannye sochineniia. Moscow, Leningrad 1949, pp. 802-817. Here p. 815. 4 For example, a famous memorandum that Pushkin wrote upon the invitation from Nicholas I was entitled “O narodnom vospitanii.” Pushkin, A.S.: Polnoe sobranie sochinenii. Vol. 11. Moscow-Leningrad 1937-1959, pp. 43-47. <?page no="199"?> A Vital Question 199 Pirogov was educated at Moscow University, which he entered at the age of 14 in 1824. In 1828 he was sent to Dorpat (now Tartu, Estonia) where he was supposed to undergo a two-year professional training as a surgeon. After the completion of this course, the educational authorities planned to send Pirogov to Western Europe for additional training. However, as Pirogov tells us in his Autobiography, the July Revolution in Paris and the Polish uprising made the authorities reconsider this plan, and instead of going to Europe Pirogov was forced to remain in Dorpat for three more years. 5 While in Dorpat, he worked in the clinic of professor J.C. Moyer and wrote a doctoral dissertation, which he defended in 1833. After receiving his doctorate, Pirogov was finally able to go to the West and spend two years in Berlin and Goettingen. In 1835 on his way back to Russia where he expected to receive a chair in medicine at the University of Moscow, Pirogov fell dangerously ill. While he was convalescing in Riga, the chair that he had hoped to obtain was given to his former classmate F.I. Inozemtsev. Pirogov went back to Dorpat to work with his former teacher Moyer. In 1836 Moyer retired and his star pupil was elected a professor of surgical anatomy at the University of Dorpat. In 1841 Pirogov moved to Petersburg where he received a chair at the Medical-Surgical Academy. As an energetic medical researcher, Pirogov made an impact on academic medicine by insisting that theoretical research, clinical work and instruction should always go hand-in-hand. Pirogov’s liberal outlook and professional rigor brought out hostility among some of the more retrograde colleagues in Petersburg. In 1854 Pirogov resigned from the Medical-Surgical Academy and volunteered to serve as a field doctor in the Crimea. 6 Throughout most of the Crimean war he remained close to the front lines, overseeing the hospitals and working as a physician. While in Sevastopol, Pirogov was able to test some of his innovations in surgery and experiment with anesthesia. Pirogov’s name became known beyond the medical field in 1856, when he published the article entitled “The Vital Questions” or “Voprosy zhizni.” 7 As Pirogov tells us in his Autobiography, his desire to contribute to the debates on education was prompted in part by the popularity of this 5 Pirogov, N.I.: Avtobiographiia. In: Sochineniia N.I. Pirogova. Vol. 1. Kiev 1910, pp. 2- 34. Here p. 3. 6 Smirnov, V.Z.: Zhizn’ i pedagogicheskaia deiatel’nost’ N.I. Pirogova (1810-1881). In: N.I. Pirogov, Izbrannye pedagogicheskie sochineniia. Moscow 1953. pp. 5- 44. Here p. 9. 7 Pirogov, N.I.: Voprosy zhizni. In: Izbrannye pedagogicheskie sochineniia, pp. 47-72. <?page no="200"?> 200 Lina Steiner topic in the contemporary public sphere and in part by his personal experience as a teacher and parent. 8 Anticipating Tolstoy, Pirogov differentiates between a more outmoded form of instruction which relies on memorization and mechanical reproduction of information and a newer form of education which promotes independent thinking and spiritual development. In the essay “School and Life” (published four years after “The Vital Questions”) Pirogov calls the outmoded method vospitanie (which I translate here as education), distinguishing it from obrazovanie. Analyzing the semantic structure of these terms, he suggests: Our common sense must change our language so that when we talk about education the notions that are associated with the words learning, image [obraz] and light come to replace a more materialistic idea of nourishment (“pitanie”) that pertains to the body rather than spirit. 9 Thus Pirogov stresses the fact that the word obrazovanie stems from obraz, a word that has both secular and religious meanings and can be translated as either “image” or “icon.” Although he never explicitly suggests that obrazovanie should be understood as a Russian equivalent of the German term Bildung, it is unlikely that Pirogov who studied and taught at Dorpat (where German was the language of instruction) and then spent several years in Germany was unfamiliar with the idea of Bildung, which was extremely widespread and influential at the time. Accounting for the intellectual sources of “The Vital Questions,”, Pirogov’s seminal pedagogical work that stirred the Russian public sphere in the wake of the Crimean debacle, and the subsequent essays and memoranda written at the time when Pirogov served as a Superintendent of the Odessa and Kiev school regions, is a complicated task. Although Russian and Soviet history books treat Pirogov with exceptional respect, a proper intellectual biography of this truly protean personality remains to be written. Pirogov’s articles, letters, and autobiographical writings suggest that his reading and interests were extremely broad. He was well versed in European philosophy (particularly philosophy of science) and culture as well as in Russian literature and criticism. For example, as scholars have noted, the insistence on the development of critical thinking and non-specialized, “universal” human interests (“obschelovesheskie interesy”) which underlies “The Vital Questions” is reminiscent of Belinskii (and, through Belin- 8 Pirogov, N.I.: Avtobiografiia, p. 9. 9 Pirogov, N.I.: Izbrannye sochineniia, p. 177. <?page no="201"?> A Vital Question 201 skii, of Hegel whom Pirogov may or may not have read). Like most Russians of his generation and circle, Pirogov was also familiar with Herzen. As he confesses in his Diary of an Old Doctor, everyone who could read in the 1850s’ Russia read The Bell, which was smuggled and circulated throughout the Empire by liberal-minded scholars, students and even gymnasium pupils. 10 Pirogov was probably familiar with My Past and Thoughts as well. However, the similarities between Herzen’s view of human development (the central theme of his autobiography) and Pirogov’s ideas can also be attributed to the fact that both Pirogov and Herzen were influenced, albeit in different ways and to different degrees, by Hegel and W. von Humboldt. 11 The main idea that Pirogov seems to have taken away from studying in German universities (including Dorpat, which was culturally German despite being under Russian jurisdiction) was that education should foster the development of one’s own intellectual and spiritual resources. Therefore, the most vital questions facing contemporary educators were how to raise the younger generation in such a way that they become not simply specialists in narrow fields, but rather self-reliant human beings capable of selfeducation and further development. The vision of humanity as an organic entity that continually develops throughout history underlies all of Pirogov’s pedagogical writings. That Pirogov may have been especially interested in Wilhelm von Humboldt’s philosophy of education centered on the idea of individual Bildung in and through culture can be surmised from a very moving entry in his autobiographical Diary of An Old Doctor made on March 7, 1881. 12 Written six days after the assassination of the Emperor Alexander II, this entry reads like a passionate tribute to the Tsar who not only emancipated the serfs but also embarked on a wide-scale program of reforms aimed at promoting liberal values and raising a new generation of free, self-conscious citizens. 10 Pirogov, N.I.: Dnevnik starogo vracha. In: Sochineniia N.I. Pirogova. Vol. 2, pp. 1-614. Here p. 263. Pirogov’s relationship with Herzen still awaits further examination. As is well known, Herzen publicly congratulated Pirogov after the famous Russian doctor treated the leader of the Italian Carbonari Giuseppe Garibaldi - an event, which greatly contributed to Pirogov’s reputation among the liberals, but made conservatives suspicious of him. Pirogov comments on the ramifications of Herzen’s praise for the Russian public opinion in Dnevnik starogo vracha, p. 300. 11 I discuss Herzen’s preoccupation with the question of Bildung and particularly his complex attitude toward Hegel’s philosophy in a recent article. See Steiner, Lina: Gerzen’s Tragic Bildungsroman: Love, Autonomy, and Maturity in Aleksandr Gerzen’s Byloe i Dumy. In: Russian Literature LXI (2007), pp. 139-173. 12 Pirogov: Dnevnik starogo vracha, pp. 306-345. <?page no="202"?> 202 Lina Steiner For Pirogov the assassination of the Tsar is a tragic event that brings home the fact that despite recent educational and political reforms dark elemental forces still persist in Russian society. Pirogov blames the rise of terrorism on the low level of maturity and civic consciousness and the resilience of the herd instinct in the masses. Herzen, too, maintained that “individuality” is the ultimate goal of human development and social progress. 13 However, while Herzen allied himself with the European revolutionary movement, for Pirogov the liberalization and maturation of society depends first and foremost on obrazovanie or Bildung and cannot be achieved through any radical measures. For a public figure holding an office in the Russian Imperial administration, however, Pirogov was extremely progressive. Thus, the main goal of the University and school reforms Pirogov initiated in the Odessa and Kiev governorships, where he served as a trustee charged with overseeing education between 1857 and 1861, was to help gradually eliminate estate boundaries by reducing the gap between specialized and universal education. 14 By giving all students a chance to learn both classical and modern languages and literatures Pirogov hoped not only to raise the level of their self-awareness, but also create bridges between representatives of different social, national and ethnic groups. Pirogov’s attempts to intervene in the issue of Jewish cultural identity remains one of his most well-known public contributions. At the same time, it is the most contentious part of his legacy. In trying to solve this problem, Pirogov to a large extent followed in the footsteps of S.S. Uvarov who served as the Minister of Education from 1833 to 1849. Uvarov was the first Russian statesman to confront and seek intelligent ways to solve the questions of national identity in the multiethnic and multilingual empire. The Jewish question was part Uvarov’s multifaceted campaign to transform the Empire into a more homogeneous nation. The goal of this campaign was cultural and linguistic assimilation of the minorities. Uvarov envisioned conversion to Orthodoxy as the ultimate sign of successful assimilation. To implement this program he created a system of state-funded schools for Jewish children, in which the curriculum was identical to that of the regular state schools except that the study of the Jewish religion and 13 The problem of lichnost’ as a developed individuality is central to parts V and VI of My Past and Thoughts. See Herzen, A. I.: Byloe i Dumy. In: Sobranie sochinenii v 30-ti tomakh. Vol. 10 and Vol. 11. Moscow 1957, pp. 9-294. 14 Pirogov’s official memoranda, projects, reports and essays written during his tenure in Odessa and Kiev are published in the first volume of Sochineniia N.I. Pirogova, Kiev 1910. <?page no="203"?> A Vital Question 203 traditions were also included. However, the Jews were extremely reluctant to send their children to these state schools, preferring the traditional religious schools of heders financed by the Jewish community. 15 Following Uvarov, Pirogov continued to develop schools and Realschule or uchilischa for the Jews. He believed that for the Russian Jews the Russian language and culture ought to serve as the medium of assimilating themselves into universal human community. For example, addressing the Jewish community of Kiev upon his resignation from the post of the educational superintendent in 1861, Pirogov suggests that a number of his Jewish pupils and protégés have achieved remarkable cultural, intellectual and social achievements not only because of their native talent, but also because they followed “the progressive tendency of the Christian nations.” 16 He concludes the speech with a tribute to Humboldt, which sums up Pirogov’s own credo as a public enlightener: We all probably share the idea of the great Humboldt who thought that the goal of humanity consists in the development of their inner capacities, and that all humans must strive toward this goal together, without being constrained by tribal and national differences. 17 In Pirogov’s view, the Russian language and culture are mature enough to serve as the vehicle of universal humanity. Therefore the empire’s ethnic minorities, including the Jews, would greatly profit from joining the Russians in their quest for civilization and progress. Although Pirogov is full of sympathy for these minorities, he never doubts their inferiority vis-à-vis Russian culture. By the same token, he assumes the superiority of Orthodox Christianity over other religions. Echoing the Slavophiles, Pirogov seems to believe that that Russia’s Orthodox traditions and its strongly developed statehood warrants its ambition to serve as a world-historic nation to which smaller and less powerful national groups, including economically underdeveloped imperial minorities, stateless Slavs and Jews, can and ought to be assimilated. This view typifies a liberal conservative wing of the Russian intelligentsia of the Great Reforms period. Apart from the radically anti-Slavophile, pro-Western liberal position shared by such figures as, for example, historian T.N. Granovskii, jurist B.N. Chicherin and writer I.S. Turgenev, there were hardly any alternatives to this view until the 15 Whitakker, Cynthia: The Origins of Modern Russian Education. An Intellectual Biography of Count Sergei Uvarov, 1786-1855. DeKalb 1984, p. 206. 16 Sochineniia N.I. Pirogova. Vol. 1, p. 818. 17 Ibid. <?page no="204"?> 204 Lina Steiner emergence of another intellectual camp which clustered around M.M. and F.M. Dostoesvkii’s journal Time. 18 While the Dostoevskii brothers served as the co-editors of the journal, the main ideologues of the “native soil” or pochvennichestvo movement (as the new movement came to be known) were critics A. A. Grigor’ev and N.N Strakhov. Both of them were serious students of philosophy, especially Hegel’s. Grigor’ev also read Herder. Whether or not Strakhov was familiar with Herder first-hand, his critical and political legacy reveals a remarkable proximity to Herder’s philosophy of history, which may have resulted from a very open-minded and critical study of Hegel’s philosophy of history. Compared to their contemporaries, Grigor’ev and Strakhov offer a rather sophisticated view of Russian cultural history or obrazovanie. They seek to steer a middle course between the extreme positions of the Slavophiles (who claimed that Russia was destined for an exceptional role in history) and the Westernizers (who dismissed the legacy of Muscovy and Orthodoxy and strove to liberalize Russian society along the lines of Western Europe). For the “native soil” intellectuals, it was the level of obrazovanie, rather than imperial strength or political influence, that counted as the main criterion of a nation’s development. Moreover, unlike the Slavophiles, pochvenniki do not envision world history as a unidirectional process. Therefore, they see the advent of the Russian or Slavic civilization not as an exceptional phase, but rather as one of a number of significant moments in world history. Elsewhere I have written at greater length about Grigor’ev as a theorist of Bildung in nineteenth-century Russia. 19 In this article I want to focus primarily on the works of his younger colleague philosopher Nikolai Nikolaevich Strakhov (1828-1896), whose contribution to the development and dissemination of the ideal of Bildung or obrazovanie has not yet received the recognition it deserves. To be fair, Strakhov has not been completely neglected by scholars of Russian intellectual history. He is remembered largely as the author of an article “A Fatal Question” which was published in Time in 1863, stirring a major controversy that led to the journal’s sudden closure. 18 I have discussed the significance of “the native soil” ideology for Russian intellectual history elsewhere. See Steiner, Lina: For Humanity’s Sake. The Bildungsroman in Russian Culture. Toronto 2011, pp. 29-37. See also Dowler, Wayne: Dostoyevsky, Grigor’ev, and Native Soil Conservatism. Toronto 1982. 19 Steiner: For Humanity’s Sake, pp. 29-37. <?page no="205"?> A Vital Question 205 Strakhov’s article deals with the painful question of the Polish-Russian relations and was deemed subversive because Strakhov expressed strong doubts about Russia’s right to dominate Poland. After Time was closed, both F.M. Dostoevskii and Strakhov wrote apologetic letters to a number of influential intellectuals and publishers, trying to convince them that the article was grossly misunderstood. 20 However, as several scholars, including Strakhov’s American biographer Linda Gerstein 21 and, most recently, Edyta Bojanowska have pointed out, these protestations should be read with a grain of salt. 22 I agree with Bojanowska that Strakhov’s contentious suggestion that Russia hardly deserves to dominate Poland, because it is not as civilized as Poland, was premeditated. Like P.Ia. Chaadaev thirty years earlier, Strakhov wanted to awaken his readers from their complacent slumber by making them realize that Russia’s desire to dominate Poland stems from insecurity rather than strength. By alerting his readers to the immaturity and shortcomings of the Russian civilization Strakhov had hoped to stimulate their development. To emphasize his patriotic intentions he signed his article “A Russian.” I suggest that in order to get to the bottom of Strakhov’s argument in ”A Fatal Question” we must understand the philosophical underpinnings of his approach to the thorny problem of national development. Strakhov’s philosophical essays (letters) written in the 1860s and published in 1872 as a single volume entitled The World as a Whole are germane to this project. 23 As the title of the collection reveals, Strakhov’s ambition is to present the reader with a view of nature and humanity as a teleological system. Inanimate nature, animate nature and humanity constitute three levels of development that the philosopher conceives as a hierarchy. The development of individual consciousness is the pinnacle of Strakhov’s “world as a whole.” He understands human development in organic terms, as a spontaneous internal growth. In Letter Nine, “The Content of Human Life,” Strakhov de- 20 On the scandal surrounding the publication of “A Fateful Question” see Dolinin, A.S.: K tsenzurnoi istorii pervykh dvukh zhurnalov Dostoevskogo. In: F.M. Dostoevskii. Stat’ii i materialy. Vol. 2. Moscow 1924, p. 566. 21 Gerstein, Linda: Nikolai Strakhov. Cambridge, Mass. 1971, p. 57. Gerstein’s work still remains the only intellectual biography of Stakhov in English. There exists, however, a substantial body of work on Rozanov in Russian, including, notably, V.V. Rozanov’s Opavshie list’ia. Moscow 1992. This work has been translated into English. See Rozanov, V.V.: Fallen Leaves. London 1929. 22 Bojanowska, Edyta: Empire by Consent. Strakhov, Dostoevskii, and the Polish Uprising of 1863. In: Slavic Review 71 No.1 (2012), pp. 1-24. Here p. 2. 23 Strakhov, N.N.: Mir kak tseloe. Cherty iz nauk o prirode. Moscow 2007. <?page no="206"?> 206 Lina Steiner scribes the influence of life experiences on the process of individual Bildung: The more elements influence a stone and the longer they influence it, the more they destroy the stone. It is rather the contrary with human beings: different influences not only fail to destroy a person, but in fact fortify his individuality. Indeed, they assist the development of individuality. We can express this idea simply by saying that a human being adopts something when someone influences him. To adopt means to appropriate, to add to one’s own nature and essence. So the essence of a human being grows as he experiences various influences. This is not a mechanical accumulation that heaps everything into a single pile, but rather a self-propelled internal growth. 24 Returning to “A Fateful Question,” Strakhov’s view of national education or formation is homologous to his understanding of individual formation. Throughout his article he uses the words obrazovanie and civilizatsia or civilization (treating them as synonyms) to describe a process which in German would most likely be termed Bildung. Strakhov recognizes that there exist different forms of obrazovanie, different civilizations - each with its own history, norms and ideals. Comparing Poland to Russia, Strakhov points out that the Polish civilization is older and more developed that the Russian one. 25 Therefore Russia’s pretentions to control Poland seem culturally ungrounded. In order to “ earn” their right to dominate Poland politically, Russians ought to convince the Poles that Russia is not an “Asiatic barbarism, but rather another civilization, a stronger and more solid civilization.” (Strakhov 1897, S. 99) This task, however, is yet to be accomplished, because contemporary Russia still lacks those “evident and convincing characteristics, manifestations, results, which would make others recognize that a Russian civilization actually exists.” (Strakhov 1897, S. 100) After the journal Time was closed down for publishing “A Fateful Question,” Strakhov’s name was officially banned from appearing on editorial boards of any journals. Strakhov’s spirit, however, was not broken. Strakhov did not relinquish his liberalism. Throughout the 1860s and 70s he wrote a number of important literary, political and philosophical articles and reviews, which he subsequently published under the common title The Struggle with the West in Our Literature. This book includes a historical sketch of Russian literature from Lomonossov to the 1860s, “A Fateful 24 Strakhov: Mir kak tseloe, p. 199. 25 Strakhov, N.N.: Rokovoi vopros. In: Bor’ba s Zapadom v nashei literature. Istoricheskie i kriticheskie ocherki. Bd. 2. Kiev 1897, pp. 91-105. Here pp. 92-95. <?page no="207"?> A Vital Question 207 Question,” a series of essays on Russian cultural history, a review essay dedicated to N.Ia Danilevskii’s Russia and Europe, essays on philosophy of science in which Strakhov polemicizes with Darwinism and a number of other works. 26 Seen as a whole, this collection sketches out the history of Russia’s cultural formation or Bildung from the eighteenth century to the end of the Great Reforms. As indicated by the title of this collection, Strakhov never gave up the dialectical view of culture. At the time when many Russian intellectuals succumbed to militant pan-Slavism and xenophobia, he continued to argue that the intellectual confrontation with the West remained the greatest impetus for Russia’s spiritual growth and vitality. In the 1870s Lev Tolstoy became Strakhov’s personal hero and friend. The correspondence between Tolstoy and Strakhov offers most interesting glimpses into Tolstoy’s spiritual evolution that resulted in his famous crisis and conversion. The transformation of the liberal Tolstoy into a cultural iconoclast, a twice-born Christian and an anarchist continues to intrigue scholars in Russia and abroad. As I pointed out earlier, Tolstoy’s passionate preoccupation with the question of personal and national Bildung constitutes one of the pivotal dimensions of his intellectual biography and a major cause for his crisis. Tolstoy’s dialogue (or, using Strakhov’s terminology, “struggle”) with Europe made him a profound skeptic who could never put trust in enduring cultural norms or institutions. Indeed, it would be pointless to try to pin down Tolstoy’s ultimate position vis-à-vis obrazovanie. While his early pedagogical essays seem to champion mass education as a way of bridging the gap between the peasant Russia and the “cultivated” Europeanized society, in his 1874 article “On Popular Education” Tolstoy apparently renounces the enlightenment ideals he shared with thinkers like Pirogov, claiming instead that the people have their own organic customs which need not be broadened through encounter with any foreign or putatively “universal” cultural ideals. 27 However, having made this statement, Tolstoy did not stop teaching peasants’ children, promoting literacy and publishing moral tales addressed to the popular audience. Throughout the rest of his career he continued to criticize all forms of dogmatism and cultural coercion; at the same time, he kept experimenting with various didactic genres. 26 Strakhov: Rokovoi vopros. 27 Tolstoy, L.N.: O narodnom obrazovanii. In: Polnoe sobranie sochinenii (Jubilee Edition). Ed. by V.G. Chertkov. Moscow 1928-1958. Vol. 17, pp.71-134. <?page no="208"?> 208 Lina Steiner Tolstoy’s ever-searching, ever-doubting attitude toward culture and Bildung can makes sense if we see it as a manifestation of the writer’s lifelong quest for intellectual individuality and autonomy. Addressing the development of Tolstoy’s views on Bildung, we cannot avoid mentioning Tolstoy’s acquaintance with Alexander Ivanovich Herzen (1812-1870). Herzen’s essay “Robert Owen” published in the periodical The Polar Star and eventually included in his autobiography My Past and Thoughts, had an especially profound impact on Tolstoy. 28 This essay portrays the famous Utopian thinker and founder of the New Lanark as a unique example of a fully evolved, independent human being. While recognizing Owen’s idealism, Herzen is full of admiration for Owen’s project of rebuilding society through education. Education of humanity (Herzen uses the word “vospitanie”) becomes the leitmotif of the three final books of My Past and Thoughts where Herzen describes his life in England. It seems that Owen’s theory and, most importantly, his charismatic, independent personality unchanged by decades of lonely struggle against selfish and hypocritical society served as a source of new optimism for the disenchanted revolutionary. “Your chapter on Owen is - alas! - too close to my heart! ” Tolstoy confesses in a letter to Herzen in March, 1861 upon reading “Robert Owen.” 29 A lot is packed into this confession. By the time Tolstoy encountered Herzen’s essay he had already become acquainted with European and Russian liberalism and tried to contribute to the post-reform public enlightenment movement. His enthusiasm notwithstanding, Tolstoy believed that he had failed to reach any visible results in his work as a teacher of the people and social reformer. At the same time, he had become disappointed with the St. Petersburg literati who, he believed, spent all their energy debating abstract ideals without realizing how far removed they and their cerebral interests were from the actual needs of the majority of Russian population, which consisted of peasants and landowners. Alienated from both the intelligentsia and the peasants (who, as Tolstoy discovered, distrusted him and his attempts at improving their lives through educating them and their children), in 1860-1861 Tolstoy made his second trip to Europe where he studied German, French, and British educational systems. It was during this trip that he made his personal acquaintance with Herzen. The encounter proved fruitful. Herzen infected Tolstoy with his newfound faith in the heroic potential of humanity displayed by some exemplary individuals like Owen. At the same time, Herzen’s post-Hegelian disenchantment with His- 28 Herzen: Byloe i Dumy, pp. 205-253. 29 Tolstoy: Polnoe sobranie sochinenii. Vol. 60, pp. 373-375. Here p. 373. <?page no="209"?> A Vital Question 209 tory with a capital “H” pushed the young Tolstoy to rethink his Humboldtian-Pirogovian attitude toward public enlightenment as a pathway to social progress and peace. What if the “world as a whole” was utterly a fiction and individual efforts to achieve some understanding and wisdom were destined to remain sporadic and isolated? As Herzen asserted in “Robert Owen,” neither nature nor history are going anywhere, and that is why they are ready to go everywhere they are directed (…) they are composed à fur et à mesure of an immense number of particles acting upon and encountering each other, repelling and attracting each other. 30 Responding to Herzen, Tolstoy remarks: There are many people (…) whom fear will keep from believing your idea (and, in parentheses, it is easy to disbelieve you because of the light tone of your article. You seem to address yourself only to intelligent and brave people. Those who are not intelligent and brave will tell you that it is better to keep silent when you came to such results, that is, came to the conclusion that the entire path was wrong. And you encourage them to say this by placing life itself, the pattern of life as you call it, in place of the old idols. In lieu of the great hopes of immortality, eternal perfectibility, historical laws etc.--this pattern is nothing, a little button in place of a colossus. 31 These brave people - the minority to whom Herzen addresses himself - are inveterate skeptics, agnostics, atheists. Surely, Tolstoy can think his way into their perspective, but he does not want to join their ranks. Moreover, he even chides Herzen for sharing his unsettling discoveries with the world. This letter reveals Tolstoy’s dissatisfaction with the idea of Bildung as a purely philosophical task and points in the direction of his later works, such as On Life (1887) and The Kingdom of God Is Within You (1893) where Tolstoy equates the development of self-consciousness and mystical/ spiritual enlightenment. Indeed, in this letter we can almost catch a glimpse of late Tolstoy, a moralist known to the whole world for his passionate advocacy of Christianity who often - usually secretly and in private, but sometimes also in his fictional and epistolary writings - despaired of his inability to believe. Indeed, the late Tolstoy offers a remarkably complex reaction to the European Enlightenment in general and the tradition of Bildung in particular. If we examine Tolstoy’s religious and political writings more closely, it 30 Herzen: Sobranie sochinenii. Vol.11, p. 246. 31 Tolstoy: Polnoe sobranie sochinenii. Vol. 60, p. 373. <?page no="210"?> 210 Lina Steiner becomes fairly obvious that his Christian cosmopolitanism betrays lack of trust in individual or collective rationality. Tolstoy’s persistent quest for an emotional bond of brotherly love/ charity between individuals and nations compensates for his deep skepticism about peoples’ ability to build a community based purely on rational consensus, and tolerance. Tolstoy’s most powerful fictional works, including The Fruits of Enlightenment (1889), The Resurrection (1899) and especially Hadji-Murat (1912), question our humanistic assumptions based on such key Enlightenment values as rational freedom and respect for the individual. This is not to say that at the end of his career Tolstoy was ready to renounce his Enlightenmentbased belief in human perfectibility. It would be fairer to say that he sought relentlessly to reinvent it by making us all realize how little we actually know and understand ourselves. However, Tolstoy’s alternative vision of culture and obrazovanie in his later years is a big topic that transcends the scope of the present article. <?page no="211"?> Bildung der Moderne Der Bildungsbegriff bei Johann Friedrich Herbart Katja Grundig de Vazquez Der moderne Mensch sieht sich vielfältigen Ansprüchen an sein Menschsein ausgesetzt; er ist mit einer Unzahl an intellektuellen, emotionalen, sozialen und moralischen Erwartungen konfrontiert, denen es für ein sinnhaftes Leben (scheinbar) zu entsprechen gilt, die in ihrer Komplexität, Vielfalt und mannigfaltigen Verquickung jedoch schwer zu durchschauen und noch weniger leicht zu erfassen sind. Zudem ist er in diesem unübersichtlichen Dickicht oftmals widersprüchlichen Vorstellungen ausgesetzt - im Sinne von alleingelassen. Diese zweite Form des Ausgesetzt-Seins wird gern auch Individualität genannt. Auf die erstgenannte Form des Ausgesetzt- Seins, hinter der sich nichts anderes als ein Katalog gesellschaftlicher Kriterien für die Anerkennung des Individuums verbirgt, soll der Einzelne nach Möglichkeit durch die Nutzbarmachung seiner Individualität reagieren. Dabei wird leicht übersehen, dass echte Individualität erst einmal Autonomie im Sinne von wahrer Freiheit voraussetzt. Wenn der Einzelne nicht über eine solche Autonomie verfügt, werden sowohl die Forderung nach, wie auch die Zuschreibung von Individualität zur Zumutung und zum Bannfluch, da sie so nichts anderes als einen Zustand der Orientierungslosigkeit, ein einsames Herumirren bedeuten können. Nur in Ausnahmefällen kann dann der moderne Mensch, als ausgesetztes Menschenwesen in doppeltem Sinne, auf dieser Odyssee zu dem nötigen Selbst- Bewusstsein und zu einem zutreffenden Bewusstsein dessen gelangen, was außerhalb dieses Selbst ist. Diese beiden Bewusstseinsformen allerdings sind notwendig, um sich als freies, autonomes Individuum in der Welt zu- <?page no="212"?> 212 Katja Grundig de Vazquez rechtzufinden. In der Regel wird der Einzelne durch sein Ausgesetzt-Sein der Möglichkeit beraubt, Muße zu finden, um zu wahrer Einsicht in seine ureigenen Fähigkeiten und in die tatsächlichen Ansprüche des Lebens zu gelangen. Nur wenn es gelingt, die Möglichkeiten seines Handelns realistisch mit den wahren Anforderungen abzugleichen, welche die moderne Welt an ihn stellt, und aus diesem Abgleich ein persönliches Wollen im besten Sinne eines freien Willens zu entwickeln; nur dann kann er aus seiner Einzigartigkeit Nutzen ziehen und sein Leben sinnhaft gestalten. Dieser Zustand echter Freiheit kann dann berechtigt als Autonomie bezeichnet werden. Wodurch wird der moderne Mensch zur Autonomie befähigt? Die Antwort auf diese Frage erfolgt in den pädagogischen Debatten unserer Zeit gern eilig, scheint also auf der Hand zu liegen. Dabei ist sie zumeist so nichtssagend wie der schlagwortartige Begriff, auf den sie sich zurückzieht: Bildung! Wenn darauf hingewiesen wird, der moderne Mensch könne durch Bildung zu Freiheit, Vernunft und Sinnhaftigkeit finden, so finden sich noch Anklänge an einen aufklärerischen Bildungsbegriff; allerdings findet sich gerade auch der Freiheitsbegriff durch inflationären Gebrauch häufig seiner Bedeutung beraubt. Oft wird auf so anspruchsvolle Begrifflichkeiten einfach verzichtet und viel profaner formuliert: Durch Bildung kann sich der Mensch zu einem vollwertigen und nützlichen Mitglied der Gesellschaft entwickeln. Dabei fällt auf, dass die beiden eben genannten Zuschreibungen nicht deckungsgleich sind und unter Umständen gar nichts miteinander gemein haben müssen. Da stellt sich natürlich die Frage, was Bildung denn eigentlich ausmache. Die Antwort darauf scheitert allerdings oftmals schon an der Definition des Begriffs. Tatsächlich ist der Bildungsbegriff selbst nicht leicht zu fassen. Michael Winkler hat treffend dargestellt, wo hier die Schwierigkeit liegt: Die Pädagogik sieht sich mit dem Bildungsanspruch unbedingt konfrontiert, ist für Bildung aber nicht ursprünglich zuständig. Pädagogik umfasst die Bereiche der Erziehung und des Unterrichts, Bildung hingegen bezeichnet das Unbestimmte, das unwägbare Moment der Freiheit. 1 Bildung ist das, was der Einzelne auf welche Weise aus den Voraussetzungen macht, die ihm durch den pädagogischen Umgang mit ihm geboten werden. Dadurch fällt Bildung doch wieder in den Zuständigkeitsbereich der Pädagogik: Erziehung und Unterricht müssen mit ihr rechnen. Die Pädagogik muss dem Moment der Freiheit 1 Vgl.: Winkler, Michael: Die Pädagogik und der Begriff der Bildung. In: Bildung zur Freiheit. Zeitdiagnose und Theorie im Anschluss an Hegel. Würzburg 2010, S. 97-115, S. 100. <?page no="213"?> Der Bildungsbegriff bei Johann Friedrich Herbart 213 Rechnung tragen und es in ihre Arbeit einbeziehen; bestenfalls in dem Sinne, dass sie anerkennt, dass alle pädagogische Theorie und Praxis zielgerichtet sein sollte, über den Grad ihrer Wirksamkeit jedoch nur unzuverlässige Aussagen getroffen werden können. 2 Bildung konfrontiert die Pädagogik als Wissenschaft und in der Praxis mit dem Element des nicht Kalkulierbaren. Weder der Wissenschaft noch der Praxis kann dies bequem sein. Unter Umständen kann sich diese Konfrontation sogar als Identitätskrise erweisen. Es ist daher zumindest verständlich, dass pädagogische Theoretiker nach Wegen suchen, den Kontrollverlust zu vermeiden und die vermeintliche Lösung darin sehen, Bildung der Pädagogik systematisch als Aufgabe einzuverleiben. Im Umgang mit dem Begriff „Bildung“ wird immer wieder versucht, diesen auf eine Art kalkulierbare Zielsetzung umzumünzen. 3 Bildung wird dann auch aktuell wieder als das missverstanden, was ein Mensch am Ende seines Ausbildungsweges an Fähig- und Fertigkeiten so vorzuweisen hat. Bildung in diesem Sinne wird als messbare Menge von Kompetenzen definiert; die Summe dieser Messung, so wird behauptet, ließe Aussagen über die sozioökonomische Nützlichkeit des Individuums zu. 4 Da ist nicht mehr viel Raum für das Element der Freiheit. Ist der Gebrauch des Begriffes „Bildung“ erst einmal derart festgelegt, hat er sich bereits von dem Phänomen gelöst, das er eigentlich bezeichnen sollte. Gerade ein modernes Verständnis von Pädagogik hat aber einen aufgeklärten Bildungsbegriff nötig. Das Moment des Unvorhersehbaren sollte in das professionelle Nachdenken über die intellektuelle, moralische und soziale Entwicklung und Entfaltung des Menschen unbedingt eingebunden werden, gerade weil dieser sich zum einen weiterhin mit der Forderung der Aufklärung konfrontiert sieht, als Individuum nach wahrer Freiheit zu streben und sich seines eigenen freien Willens zu bedienen. Neben diese Herausforderung ist ein gesellschaftlicher Anspruch nach Nützlichkeit und sozioökonomischer Angepasstheit des Einzelnen getreten, der paradoxerweise mit dem widersprüchlichen Versprechen des „anything goes“ einhergeht. Der moderne Mensch sieht sich im Streben nach Anerkennung der 2 Vgl. ebd., 109. 3 Vgl.: Gruschka, Andreas: Bildungsstandards oder das Versprechen, Bildungstheorie in empirischer Bildungsforschung aufzuheben. In: Bildung - Wissen - Kompetenz. Hg. v. Ludwig A. Pongratz und Roland Reichenbach und Michael Wimmer. Bielefeld 2007, S. 9-29. 4 Vgl.: Arbeitsstab Forum Bildung in der Geschäftsstelle der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (Flöttmann, Helmut u.a.): Kompetenzen als Ziele von Bildung und Qualifikation. Bericht der Expertengruppe Forum Bildung. BLK Bonn, 2000. <?page no="214"?> 214 Katja Grundig de Vazquez eigenen Persönlichkeit und des eigenen Lebensentwurfs durch sich selbst und durch die anderen, starken Spannungen ausgesetzt. Diese können umso bedrohlicher wirken, wenn „Bildung“ als verlässlicher Weg aus diesem Spannungsfeld propagiert wird, aber gleichzeitig als vorbestimmter Weg zu erwünschten Kompetenzen und Wissensinhalten missverstanden wird, der freie Entfaltung der Persönlichkeit mit effizienter Entwicklung gleichsetzt. Eine Lösung könnte hier tatsächlich nur ein Bildungsbegriff bieten, der das Moment des Unvorhersehbaren gerade nicht als Störfall begreift, sondern als grundlegende Bedingung der Ermöglichung wahrer Freiheit des Individuums, welche die Spannungen in einem Zustand der Anerkennung aufzuheben im Stande ist. I. Bei Johann Friedrich Herbart (1776-1832), dem Wegbereiter der modernen wissenschaftlichen Pädagogik, findet sich ein pädagogisches Verständnis, das Raum bietet für solch einen anspruchsvollen Bildungsbegriff. Seine pädagogischen Überlegungen und seine wissenschaftliche Systematik basieren auf der Erkenntnis, dass eine ernstzunehmende, verständliche und wirksame Pädagogik als Wissenschaft zum einen auf der theoretischen Darlegung auf klar definierten Begrifflichkeiten beruhen müsse. 5 Zum anderen hatte er erkannt, dass der Gegenstand der Pädagogik, die Erziehung des Menschen, zweckgerichtet ist und dass dieser Zweck sich nicht empirisch, sondern nur moralisch bestimmen lässt: „Zweck der Erziehung ist Tugend. Tugend ist Verbindung zwischen der Einsicht und dem ihr entsprechenden Willen.“ 6 Herbart legt Wert darauf, dass Tugend 7 richtig ver- 5 Vgl.: Herbart, Johann Friedrich: Allgemeine Pädagogik aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet. 1806. In: Johann Friedrich Herbart. Sämtliche Werke. Bd. 2. Hg. v. Karl Kehrbach und Otto Flügel. Neudruck der Ausgabe von 1902. Aalen 1964, S. 1-139, S. 8ff. 6 Herbart, Johann Friedrich: Herbart’s Replik gegen Jachmann‘s Rezension. 1814. Beilage 3 zur „Allgemeinen Pädagogik“. In: Johann Friedrich Herbart. Sämtliche Werke. Bd. 2. Hg. v. Karl Kehrbach und Otto Flügel. Neudruck der Ausgabe von 1902. Aalen 1964, S. 162-174, S. 164. 7 Herbart verwendet den Begriff „Tugend“ synonym zum Begriff „Moralität“. So leitet er seine Schrift Über die ästhetische Darstellung der Welt, als das Hauptgeschäft der Erziehung noch folgendermaßen ein: „Man kann die eine und ganze Aufgabe der Erziehung in den Begriff: Moralität, fassen. [Hervorhebungen im Original].“ Herbart, Johann Friedrich: Über die ästhetische Darstellung der Welt als Hauptgeschäft der Erziehung. Anhang zu Pestalozzi’s Idee eines ABC der Anschauung. 1802/ 1804. In: Johann Fried- <?page no="215"?> Der Bildungsbegriff bei Johann Friedrich Herbart 215 standen nur den auf eigener Einsicht gründenden Willen des Individuums zum wahren Guten bezeichnen kann, der sich zudem im bewussten Handeln des freien Menschen äußert. Diesen anspruchsvollen Tugendbegriff schlüsselt er in die erzieherischen Zwecke der Vielseitigkeit des Interesses und der Charakterstärke der Sittlichkeit auf. 8 Dadurch ist der Verdacht, Erziehung könne sich in der Vermittlung gesellschaftlicher Regeln und im Drängen auf deren Einhaltung erschöpfen, von vornherein aus dem Weg geräumt. Das Ideal der wahren Tugend ist ohne den freien Willen des Individuums nicht denkbar. Ethisch „gutes“ Handeln muss gewollt werden, um wahrhaft sittlich zu sein. Dieses Wollen muss der Einsicht in das Gute entspringen und darf sich nicht auf materielle Gründe wie beispielsweise persönlichen Vorteil berufen. 9 Die Einsicht in das Gute kann nur aus der Freiheit des Einzelnen erfolgen, denn sie setzt persönliche Erkenntnis voraus. Niemand kann zu Einsicht gezwungen werden; der Zwang widerspricht dem Wesen der Einsicht an sich. Herbart rechnet also von vornherein das Element der Freiheit in seine Pädagogik mit ein und nimmt ganz selbstverständlich an, dass es sich in der Praxis bei der Erziehung um ein unwägbares Geschäft handle. 10 Dies bedeutet gerade nicht, dass ihm der Vorwurf gemacht werden kann, er versuche, das Phänomen Bildung seiner Pädagogik als Gegenstand einzuverleiben. Stattdessen geht er davon aus, dass die naturgegebene innere Verfasstheit und persönliche Entwicklung des Zöglings es nicht möglich mache, im Zuge pädagogischer Theorien eindeutige Gelingensbedingungen zu formulieren. Es ist für ihn selbstverständlich, dass eine Pädagogik als Wissenschaft dies anerkennen muss. Sie sollte „die Möglichkeit der Erziehung theoretisch erklär[en] und als nach der Wandelbarkeit der Umstände begrenzt darstell[en]“ 11 , also die pädagogische Diskussion durch die Definition klarer Begrifflichkeiten auf ein objektives Niveau heben und auf theoretischer Ebene Ziele und Maßnahmen von Erziehung formulieren. Dadurch kann sie der pädagogischen Praxis als Handlungsorientierung dienen. Das bedeutet aber auch, dass sie als ernstzunehmende Wissenschaft sich keiner unklaren Begrifflichkeiten bedienen darf. Sie muss sich auf Aussagen darüber beschränken, was ihrer Erkenntnis tatrich Herbart. Sämtliche Werke. Bd. 1. Hg. v. Karl Kehrbach und Otto Flügel. Neudruck der Ausgabe Langensalza 1887. Aalen 1964, S. 259-274, S. 259. 8 Vgl. Herbart: Allgemeine Pädagogik 1806, S. 25ff. 9 Vgl. ebd., S. 30; 33; 90ff. 10 Vgl. Herbart, Johann Friedrich: Umriss pädagogischer Vorlesungen. 1835. In: Johann Friedrich Herbart. Sämtliche Werke. Bd. 10. Hg. v. Karl Kehrbach und Otto Flügel. Neudruck der Ausgabe von 1902. Aalen 1964, S. 65-196, S. 69, § 3. 11 Herbart: Allgemeine Pädagogik 1806, S. 10. <?page no="216"?> 216 Katja Grundig de Vazquez sächlich zugänglich ist. Das unwägbare Moment der Bildung jedoch entzieht sich eindeutigen Analysen. Es bleibt das chaotische Element, das nicht ausgeklammert werden kann, für das aber jeder Versuch einer Definition zu kurz greift. Bezeichnenderweise setzt sich Herbart mit dem Phänomen „Bildung“ nicht unmittelbar im Rahmen einer festen Begrifflichkeit auseinander. Zwar taucht in seinen Überlegungen das Wort „Bildung“ sporadisch auf; er gebraucht es aber stets recht allgemein im Sinne von Formung. 12 Damit ist noch keine Aussage darüber getroffen, welchen Stellenwert er dem Phänomen des Unwägbaren in der menschlichen Entwicklung in seinen pädagogischen Überlegungen zuerkennt. Bildung nach diesem Verständnis wird durch Herbart allgemein nicht als „Bildung“ bezeichnet. Um dem aufklärerischen Bildungsbegriff im Sinne des Unwägbaren bei Herbart auf die Spur zu kommen, ist es erforderlich, sich etwas genauer mit diesem Bildungsbegriff und mit Herbarts pädagogischer Systematik auseinanderzusetzen. II. Bildung im aufklärerischen Sinne ist etwas Inneres; ein Vorgang, der sich in jedem von uns auf die eine oder andere Art abspielt und den jeder Einzelne an sich selbst vollzieht. Nichtsdestotrotz stellt Bildung sich nicht von allein ein. Der Mensch wird ungebildet geboren und Bildung bedeutet in jedem Falle einen aufwändigen, mühsamen Prozess, der dem einzelnen ein gutes Maß an Disziplin und Arbeit abverlangt. Der noch ungebildete Mensch kann mit diesem Prozess nicht allein gelassen werden. Nun lohnt sich doch noch einmal ein Blick auf Herbarts Verwendung des Wortes: Etymologisch bezeichnet „Bildung“ zunächst erst einmal einen Prozess der Formung. Auch wenn diese Formung ein innerer Vorgang ist, eine Entwicklung aus dem Menschen selbst heraus, sollte sie doch nicht ohne Handreichung geschehen. Dem gebildeten Individuum sollte sie Handlungsorientierung bieten können; sie ist also trotz ihrer Unwägbarkeit, trotz des Elementes der Freiheit, das sie bezeichnet, mit Gelingensvorstellungen 12 Dabei nutzt er das Wort „Bildung“ stellenweise auch synonym zum Begriff „Erziehung“: „[Es wird] vor allem darauf ankommen, ob man bemerke, wie sich die sittliche Bildung auf die übrigen Theile der Bildung beziehe […]. Unverblendete werden […] erkennen, dass das Problem der sittlichen Erziehung nicht ein abtrennbares Stück ist von dem der ganzen Erziehung.“ Herbart: ebd., S. 27. In Ausnahmefällen deutet sich allerdings auch in Herbarts Verwendung von „Bildung“ ein aufklärerisches Bildungsverständnis an. Vgl. dazu auch Fußnote Nr. 23. <?page no="217"?> Der Bildungsbegriff bei Johann Friedrich Herbart 217 verbunden. Andernfalls könnte kaum sinnvoll ein Unterschied zwischen dem gebildeten und dem ungebildeten Menschen gemacht werden. Der Einzelne kann mit seiner Bildung gerade nicht allein gelassen werden - dies gilt umso mehr, je weniger er im Bildungsprozess fortgeschritten ist. Bildung ist Wissenserwerb und Erfahrung in Verbindung mit subjektiver Entfaltung. Sie muss demnach weit mehr sein als lebenslanges Lernen, Methodentraining und Kompetenzerwerb. Mit anderen Worten: Bildung, die sich lediglich auf die intellektuelle Formung des Menschen beschränkt, ist unzureichend. Subjektive Entfaltung verlangt danach, dass der Mensch in die Lage versetzt wird, in eine reflektierte Beziehung zu sich selbst, zur Welt und zu anderen Menschen zu treten. Das ganzheitlich gebildete Individuum bedarf demnach auch sozialer und moralischer Formung. Hier drängt sich der Begriff der Erziehung förmlich auf und es wird offensichtlich, dass Bildung nicht getrennt von Erziehung verstanden werden kann. Beide stehen in direktem Verhältnis zueinander, wobei sie je nach Fortschritt des Bildungsprozesses unterschiedlich eng aneinander gebunden sein können. Herbart war sich über diese enge Bindung im Klaren. Gleichzeitig erlag er nicht dem dramatischen Missverständnis, anzunehmen, dass Erziehung das sichere Mittel sei, den gebildeten Menschen hervorzubringen. Er erkannte Erziehung als das, was sie ist: etwas Äußeres, das sich explizit auf den moralisch, gesellschaftlich und intellektuell noch unreifen Einzelnen bezieht. Dieser bedarf der Lenkung durch andere, denn er muss - man darf es ruhig so sagen - gezähmt werden, um im zivilisatorischen Umfeld, das ihn umgibt, bestehen zu können. 13 Das Geschäft der Erziehung setzt somit nicht nur den Zu-Erziehenden, den Zögling, voraus, sondern bedarf unbedingt auch eines Erziehenden, also des Erziehers. Erziehung geht dabei zuerst einmal vom Erzieher aus. Sie kann daher von Seiten des Zöglings durchaus als Zumutung empfunden werden, denn sie greift in sein Wollen ein und berührt somit die Sphäre seiner Freiheit. Der Erzieher kann die Einsicht in die Notwendigkeit der Erziehung beim Zögling nicht voraussetzen; es bleibt ihm aber zu hoffen, dass diese Einsicht sich im Zuge der (Willens-) Bildung des Zöglings entwickelt. Sinn und Zweck einer wohlwollenden Erziehung ist es, dass sie immer weniger Einfluss auf den Zögling nehmen muss, je weiter dessen Bildungsprozess fortschreitet. 14 Sie hat demnach die Aufgabe, das Streben des noch ungebildeten Menschen in geordnete Bahnen zu lenken, für das Verhalten und den Umgang Regeln zu vermitteln und Wege aufzuzeigen und so beim Zögling Kräfte freizusetzen, 13 Vgl. ebd., S. 18. 14 Vgl. ebd., S. 25f., 118ff. <?page no="218"?> 218 Katja Grundig de Vazquez die dieser auf das Verarbeiten seiner Erfahrungen, auf das Aneignen von Wissen und auf das Generieren von Erkenntnissen verwenden kann. Richtig verstanden sorgt sie für die nötige Muße, derer das Individuum für seine freie Entfaltung benötigt. Erziehung ist somit Bedingung von Bildung. Erziehung ist die Handreichung, die Hilfestellung, derer der Zögling für seinen Prozess der Menschwerdung bedarf. Hingegen ist sie nicht das bestimmende Element des menschlichen Bildungsprozesses, auch wenn es mitunter den Anschein haben mag. Als Handreichung für seine persönliche Entwicklung ist sie immer verpflichtet, „die Zustimmung des Zöglings einzuholen“ 15 . Das bedeutet, dass dieser berechtigt ist, sich seiner Freiheit zu bedienen und sie anzunehmen, dass er sie andererseits aber auch ablehnen kann. Das macht Erziehung zu einem Prozess mit ungewissem Ausgang. Dies anzuerkennen, ist eine weitreichende Erkenntnis, die für den Erzieher selbst dramatisch sein kann, denn er sieht sich damit konfrontiert, dass Erziehung trotz des hohen Maßes an Sorgfalt, Mühe und Empathie, welche sie erfordert, eben nicht garantieren kann, dass sich der so behutsam umhegte Zögling zu einem guten Menschen freien Willens entwickeln werde. 16 Im Umkehrschluss zeigt sich hier der Wert der Bildung als das Unbestimmte: Auch unter denkbar ungünstigen erzieherischen Voraussetzungen besteht die Möglichkeit, dass der Mensch aus seinem Umgang und seinen Erfahrungen die „richtigen“ Schlüsse zieht, im Zuge seines Bildungsprozesses zu Autonomie findet und sich letztendlich zu einem wahrhaft freien Individuum entfaltet. 17 Es wäre allerdings falsch, die Möglichkeiten der Einflussnahme von Erziehung auf die Bildung zu unterschätzen. Dies würde einer Laxheit im Umgang mit Erziehung Tür und Tor öffnen, die kaum wünschenswert sein kann, nach dem Motto: Egal wie man es anstellt, es wird schon was aus dem Menschen werden oder eben nicht. Die Art der Erziehung, welche der Einzelne erfährt, prägt ihm ihren Stempel auf und wird in den meisten Fällen seine Entwicklung hin zur Mündigkeit begünstigen oder erschweren. Erziehung falsch verstanden kann schnell eben nicht mehr Handreichung 15 Winkler: Die Pädagogik und der Begriff der Bildung, S. 110; vgl.: Herbart: Allgemeine Pädagogik 1806, S. 11, 30ff. 16 Herbart entwickelt diese Problematik in seiner Charakterlehre: Die Erziehung kann auf den Charakter als Ausdruck des Willens, der sich im Handeln des Menschen äußert, formend Einfluss nehmen. Je nachdem, wie sie dies tut und welche Vorbedingungen sie vorfindet, kann er stärker durch erzieherische Einflüsse oder durch Anlage, Umwelteinflüsse bzw. andere Erfahrungen geprägt werden. Vgl.: Herbart: Allgemeine Pädagogik 1806, S. 90ff. 17 Vgl. ebd., S. 29f. <?page no="219"?> Der Bildungsbegriff bei Johann Friedrich Herbart 219 für den Zögling sein, sondern kann sich für diesen als Stolperstein oder Hemmschuh erweisen. Gerade aus diesem Grunde mahnt Herbart besondere Sorgfalt im erzieherischen Umgang mit dem Zögling an, denn, so begründet er, nicht der Zögling ist dem Erzieher, sondern der Erzieher ist dem Zögling moralisch verpflichtet. 18 Erziehung kann die Bildung des Menschen bedingen und beeinflussen. 19 Dieses Potenzial sollte dem Erzieher vordergründig zur Verantwortung werden, und zwar vor allem zu Gunsten des Zöglings. Die gesellschaftliche Bringschuld, sozial kompetente mündige Bürger geraten zu lassen, steht erst an zweiter Stelle. Den angemessenen Zugang zum Zögling kann der Erzieher nur über einen respektvollen Umgang finden. Er muss anerkennen, dass nicht die Erziehung dessen Möglichkeit begründet, zur Tugend zu finden, sondern dessen Vermögen, sich zu bilden und erzogen zu werden. Herbart nennt dieses Vermögen, welches der Zögling als Anlage und Potenzial auf die Welt mitbringt, Bildsamkeit 20 und er erhebt es zum Grundbegriff der Pädagogik 21 , denn allein der Mensch verfügt über Bildsamkeit in vollem Umfange. „Der Begriff der Bildsamkeit […] erstreckt sich sogar auf die Elemente der Materie. Aber Bildsamkeit des Willens zur Sittlichkeit kennen wir nur beim Menschen.“ 22 Hinter „Bildsamkeit“ verbirgt sich also nicht allein die Fähigkeit, noch formbar zu sein, d.h. Erziehung zu- und sich auf die Gesellschaft einzulassen, sondern Bildsamkeit benennt auch das Vermögen, sich zu interessieren, Erfahrungen zu machen, Erkenntnisse zu generieren und zu Einsicht zu gelangen. Der Zögling ist kein Material, das nach Belieben in Form gehauen werden darf; vielmehr birgt er die Anlage einer Form in sich, die behutsam freigelegt und in Einklang mit ihren Strukturen sanft bearbeitet werden muss. „Da nun im Allgemeinen die Jugend von der Bildsamkeit zur Bildung 23 , von der Unbestimmtheit zur Festigkeit übergeht […] so muss auch die Annäherung zur Tugend in einer Bevestigung [sic] bestehn [sic].“ 24 Die Bildsamkeit des Zöglings ist das Vermögen des Menschen, Bildung zu erlangen. Gleichzeitig befähigt sie ihn dazu, Erziehung 18 Vgl. ebd., S. 11, 25f., 27, 28ff., 111. 19 Vgl. ebd., S. 11., 90ff., 110ff. 20 Vgl.: Anhalt, Elmar: Der Topos Bildsamkeit. In: Topik und Argumentation. Hg. v. Andreas Dörpinghaus und Karl Helmer. Würzburg 2004, S. 111-132, besonders S. 121. 21 Vgl. Winkler: Die Pädagogik und der Begriff der Bildung, S. 110. 22 Herbart: Umriss pädagogischer Vorlesungen 1835, S. 69, § 1. 23 An dieser Stelle geht auch Herbart bei der Verwendung des Wortes „Bildung“ über die Bedeutung „Formung“ hinaus. Es deutet sich ein aufklärerisches Bildungsverständnis an. 24 Herbart: Umriss pädagogischer Vorlesungen 1835, S. 177, § 141. <?page no="220"?> 220 Katja Grundig de Vazquez als Unterstützung zum Bildungsprozess anzunehmen. Soll diese Handreichung aber über einen längeren Zeitraum im persönlichen Entwicklungsprozess tatsächlich (und nicht nur scheinbar) akzeptiert werden, bedarf es des Vertrauens in den Erzieher und in die Erziehung, die er dem Zögling angedeihen lässt. Je weiter der Zögling in seinem persönlichen Bildungsprozess fortschreitet, je mehr sein Wille und sein Bewusstsein seiner eigenen Freiheit reifen, umso mehr muss dieses Vertrauen auf dem Prüfstand stehen, denn jede Erziehung ist ein Eingriff in die Freiheit und in das Wollen des Einzelnen. Geht die angewandte Erziehung der Entwicklung des Zöglings für diesen spürbar zuwider, so wird er ihr irgendwann die Zustimmung verweigern. Wirkt sie sich allerdings positiv auf seine Entwicklung aus und gelangt er selbst zu der Ansicht, dass sie zu seinem Besten und notwendig sei, so wird der Zögling ihren Einfluss solange zulassen, bis er ihre Ansprüche willentlich zu seinen eigenen macht, sein inneres Wollen und Streben aus eigener Einsicht zunehmend ihren Forderungen vorgreifen, bis er aus ihr keine neuen Einsichten mehr schöpfen kann und die Erziehung, als das Äußere, überflüssig wird. Wenn dies erreicht ist, ist der Zögling zum erwachsenen Menschen gereift und verfügt, im besten Falle, über einen sittlichen Charakter. Sein Erziehungsprozess ist abgeschlossen. Der Prozess seiner Bildung läuft weiter ab. 25 Falls er nach Tugend strebt, vollzieht sich dieser Bildungsprozess aber im Rahmen einer stabilen ethisch und moralisch anspruchsvollen Verfasstheit und der Mensch sieht sich in die Lage versetzt, seine Bildung und seinen Intellekt sowohl im Hinblick auf sich selbst, als auch im Hinblick auf dem Umgang mit anderen und auf sein Handeln in der ihn umgebenden Welt, zum Guten zu gebrauchen. Wahre Tugend bleibt dabei das ideale, aber unerreichbare Ziel des sittlichen Strebens. Mit Herbarts Worten: „Tugend aber ist ein Ideal; die Annäherung dazu drückt das Wort Sittlichkeit aus.“ 26 III. Bisher wurde ersichtlich, dass ein klarer Bildungsbegriff an sich bei Herbart nicht ausgemacht werden kann. Sein Bildungsverständnis lässt sich aber über sein Verständnis von Pädagogik und Erziehung ableiten, woraus deutlich wird, dass er sich bewusst war, dass während der Entwicklung des Menschen, unterstützt durch den Prozess der Erziehung, auch noch der 25 Vgl.: Herbart: Allgemeine Pädagogik 1806, S. 138f. 26 Herbart: Umriss pädagogischer Vorlesungen 1835, S. 177, § 141. <?page no="221"?> Der Bildungsbegriff bei Johann Friedrich Herbart 221 Prozess der Bildung abläuft. Es sollte Ziel der Pädagogik sein, theoretische und praktische Anweisungen für eine Erziehung zur Verfügung zu stellen, die einer humanistischen Menschenbildung, welche in dem Streben nach Tugend mündet, tatsächlich Handreichung sein kann. Daraus erklärt sich, dass wahre Tugend zum Zweck der Erziehung selbst wird, auch wenn die Erziehung dem Zögling diesen Zweck aus sich selbst heraus nicht setzen kann. Herbart verdeutlicht, dass eine solche Erziehung nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen gelingen kann: Der Erzieher muss sich darüber bewusst sein, dass keine Pädagogik eine Gelingensgarantie bieten kann, ihre Wirksamkeit jedoch durch einen respektvollen Umgang mit dem Zögling ermöglicht wird. Dieser Respekt muss daraus erwachsen, dass der Erzieher (1) die Bildsamkeit des Zöglings als dessen ureigenes und inneres Potenzial und Voraussetzung dafür anerkennt, dass der Zögling zu einem freien Willen und Tugendhaftigkeit gelangen kann, dass (2) der Erzieher erkennt, dass es sich bei seinem Zögling um ein einzigartiges Individuum handelt und dass (3) der Erzieher sich vor Augen führt, dass er dem Zögling verpflichtet ist, diesen in seinem persönlichen Entwicklungsprozess zu einem mündigen, unabhängigen und tugendhaften Menschen zu unterstützen. „Der Erzieher vertritt den künftigen Mann beym Knabe; folglich, welche Zwecke der Zögling künftig als Erwachsener sich selbst setzen wird, diese muss der Erzieher seinen Bemühungen jetzt setzen […].“ 27 Der Zögling kann beanspruchen, dass ihm im Zuge seiner moralischen wie intellektuellen Entfaltung - also seiner Bildung - alle möglichen und angemessenen Hilfestellungen geboten werden, um sich frei und bewusst aus der Fülle der Möglichkeiten für einen Lebenszweck entscheiden zu können, der seinen Anlagen und Interessen entspricht, den er konzentriert verfolgen und dem er durch überlegtes und sittliches Handeln gerecht werden kann. 28 Dem Erzieher muss dafür Gelegenheit gegeben werden, unter Berücksichtigung des Elements der Freiheit, auf die persönliche Entwicklung des Zöglings behutsam Einfluss zu nehmen. Eingedenk der möglichen Zwecke, des Wollens des künftigen Erwachsenen wird der Erzieher versuchen, den Zögling zu Vielseitigkeit des Interesses hinzuleiten. 29 Mit Blick auf den „nothwendigen Zweck“ 30 des Zöglings muss es dem Erzieher darum ge- 27 Herbart: Allgemeine Pädagogik 1806, S. 27. 28 Vgl. ebd., S. 26. 29 Vgl. ebd., S. 28f. 30 Ebd., S. 29. <?page no="222"?> 222 Katja Grundig de Vazquez hen, dessen Charakterstärke der Sittlichkeit zu fördern. 31 Unter Rückgriff auf die zwei grundlegenden Maßnahmen der Erziehung, die eng miteinander verwoben sind, auf Unterricht und Zucht 32 , muss der Erzieher versuchen, seiner Verpflichtung dem Zögling gegenüber nachzukommen und diesen für den Zweck der Erziehung, die Tugend, aufzuschließen. Erziehung so verstanden soll genau das leisten, dessen das moderne Individuum bedarf. Sie soll Orientierung bieten und freie Entfaltung bei ganzheitlicher Bildung ermöglichen. Mit der bloßen Vermittlung von Verhaltensregeln oder von Kenntnissen bzw. Kompetenzen ist es also aus pädagogischer Sicht nicht getan. Herbart erhebt einen anspruchsvollen, aufklärerischen Erziehungsbegriff zum Gegenstand seiner Pädagogik. Indem er Erziehung als Handreichung zur persönlichen Entfaltung des Individuums versteht, setzt er voraus, dass Pädagogik sich auf das Element des Unwägbaren, auf das Element der Freiheit, also auf Bildung einlassen muss. Ein solches Erziehungsverständnis stützt sich auf die Einsicht, dass die Bildsamkeit des Zöglings wahre Freiheit und das Streben nach Tugend grundlegend ermöglicht. Erziehung kann Bildung bedingen, diese aber nicht bestimmen, denn sie ist auf die Zustimmung des Zöglings angewiesen. Die Pädagogik muss daher berücksichtigen, dass das Phänomen Bildung sie angeht; keineswegs aber darf sie sich anmaßen, sich Bildung als Aufgabe oder als Gegenstand einzuverleiben. IV. Letztendlich bleibt die Erkenntnis, dass Herbart im Rahmen seiner wissenschaftlichen Pädagogik ganz selbstverständlich ein Bildungsverständnis zugrunde legt, das die humanistische Forderung nach der Anerkennung und sittlichen Nutzbarmachung der persönlichen Freiheit des Einzelnen berücksichtigt und wertschätzt. Autonomie und Anerkennung können dabei nur aus der Entfaltung des Menschen zu wahrer Tugendhaftigkeit erwachsen. Autonomie stellt sich als der Ausdruck des einsichtigen Denkens und Handelns gemäß einem wahrhaft freien Willen dar. Anerkennung äußert sich im aus Autonomie resultierenden reflektierten Selbstbewusstsein 31 Zu Vielseitigkeit des Interesses und Charakterstärke der Sittlichkeit als erzieherische Zwecke im Hinblick auf die Tugend s.o. (vgl. auch Fußnote 8). 32 Unterricht und Zucht als Maßnahmen der Erziehung entwickelt Herbart besonders anschaulich in der Allgemeinen Pädagogik 1806. Zweites Buch, besonders Kapitel 4ff. (S. 46ff.) und drittes Buch, besonders Kapitel 5ff. (S. 110ff.). <?page no="223"?> Der Bildungsbegriff bei Johann Friedrich Herbart 223 des Individuums. Der freie Mensch ist auf der Suche nach Orientierung und einem sinnhaften Leben nicht mehr darauf angewiesen, gesellschaftliche Kriterien, wie zum Beispiel materiellen Reichtum, für seine Anerkennung zugrundezulegen. Vielmehr sieht er sich in die Lage versetzt, den Wert seines Handelns nach sittlichen Kriterien zu beurteilen, also einzuschätzen, ob sein eigenes Handeln seiner Einsicht in die Notwendigkeit des Guten entspricht. Das Streben nach Tugend wird zum Kriterium für die Anerkennung der eigenen Lebensleistung und spricht davon frei, sittlich weniger anspruchsvollen Richtlinien genügen zu müssen. Der sittliche Mensch kann im Zuge seines Bildungsprozesses Anerkennung verinnerlichen; sie steht ihm nicht mehr als etwas Äußeres fremd und fordernd gegenüber, sondern entspringt aus dem eigenen guten Handeln. Dieses Bildungsverständnis, das uns hier in der frühesten wissenschaftlichen Pädagogik begegnet, wird in den gegenwärtigen pädagogischen Debatten häufig vernachlässigt oder - weitaus schlimmer - manchmal gar nicht zugelassen. Gerade im Hinblick auf das Ausgesetzt-Sein des modernen Menschen, im Hinblick auf sein Streben nach Autonomie, nach gesellschaftlicher Anerkennung und nach Selbstwert der eigenen Person, lohnt es sich, sich auf Herbart zu besinnen und anzuerkennen, dass er uns ein Verständnis von Bildung und Erziehung näher bringen kann, das den Anforderungen der Moderne gewachsen ist. <?page no="225"?> Die Unfreiheit der Freiheit Anmerkungen zur Bildungssituation in der Moderne Michael Winkler Die Gesellschaften der Moderne wurden mit einem Freiheitsversprechen begründet, das sie nur selten eingelöst haben: Schon der freiheitssichernde Gesellschaftsvertrag wurde an Bedingungen geknüpft - etwa bei Locke an die des Eigentums -, zudem mit einem Herrschaftsvertrag verbunden, der die Souveränität an eine Instanz abtreten ließ, welche ein Eigeninteresse verfolgte. Selbst die Freiheit des Marktes verlangt ein moral sentiment, eine kultivierte Einstellung und Haltung - wie Adam Smith dem wealth of nations vorausstellte. Nicht zuletzt weist Hegel auf eben diese Problematik hin, wenn er den Staat als Instanz betrachtet, welche Freiheit gegenüber den sie dementierenden gesellschaftlichen Tendenzen garantieren soll. Noch der Verlauf der Französischen Revolution belegt aber den Verrat am Freiheitsversprechen: Ihre Ambitionen schwammen in den Sturzbächen des Blutes davon, der Terreur zeigte eine andere Seite der Freiheit, die Wahrheit des de Sade. Seine Fantasien spitzten die Freiheitsthematik zu, weil er sich nicht bei der Heuchelei der Vernunft aufhielt, sondern die Techniken der Körperbearbeitung sinnfällig machte, welche als maßgebend für die Moderne anzusehen sind - nur dass heute von Fitness, also von Angepasstheit gesprochen wird. Endgültig enthüllen die Gesellschaften der Moderne ihre dunkle Seite in dem, was sie als kategorialen Mord betrieben haben. Vielleicht gründet dieser sogar in der Vernunft selbst. Zuviel Vertrauen ist ihr gegenüber nicht angebracht. Denn die moderne Vernunft operiert analytisch. Je stärker sie empirisch und organisatorisch denkt, um so mehr trifft sie Unter- <?page no="226"?> 226 Michael Winkler scheidungen der Zugehörigkeit. Sie betreibt stets die Einschließung. Um die Macht der Normalen und der Normalität zu zeigen, wird eingegrenzt, was als different demarkiert worden war. Das Freiheitsversprechen flankiert stets ein Ordnungsversprechen, vor allem gegen jenen, welche die Freiheit dann doch ernst nehmen. Wer nicht einzugrenzen ist, der wird ausgeschlossen. Das vorgeblich universelle Versprechen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, dessen Herkunft im Dunkeln bleibt, unterläuft, dass man die Nicht-Zugehörigkeit ausspricht. Die Freiheit der Moderne geht mit einem gerüttelten Maße an Unfreiheit einher - man soll sich nichts vormachen: weder der Nationalsozialismus noch die DDR waren Betriebsunfälle der Moderne. Diese grundlegend ungelöste Spannung der Freiheit in der Moderne zeigt sich heute in einer neuen Konstellation: Die Gegenwart zeichnet als struktureller Grundmechanismus eine in sich perverse Freiheit aus. Eine Freiheit nämlich, die von vornherein gegeben ist, 1 als ein Zwang zur Freiheit auftritt, dem nichts mehr gegenüber steht - politisch wie ökonomisch hat dies seinen Ausdruck in Gestalt eines Neoliberalismus gefunden, der seinem eigenen Begriff fremd geworden ist. Die Gegenwartsgesellschaften versprechen Freiheit, nicht um sie zu dementieren und die Menschen sofort wieder zu unterwerfen. Menschen werden vielmehr freigesetzt, vom Anfang ihres Lebens an, so dass Emanzipation als Kampf um Freiheit überflüssig wird. Sie werden in eine Freiheit gezwungen, die so totalitär ist, dass sie daran zerbrechen. Darauf antwortet dann das jüngere, das technokratisch und kontrolltheoretisch verkürzte Verständnis von Bildung. Es bringt die freigesetzten Individuen zu einem Umgang mit ihrer neuen, perversen Freiheit, in welchem sie sich unterwerfen, indem sie sich selbst kontrollieren. Die theoretisch wie praktisch entscheidenden Fragen lauten also: Lässt sich unter den Bedingungen der Moderne heute Freiheit gegenüber der erzwungenen Freiheit finden? Gegen die Mechanismen, welche die Gesellschaften selbst entwickeln, um dieser, ihrer eigenen Freiheit zu entgehen, etwa durch Bildung, die nur noch Selbstkontrolle meint? Anders gesagt: wer heute über Freiheit nachdenkt, muss also eine doppelte Dialektik bedenken: Er darf das Freiheitsversprechen der Moderne nicht preisgeben und muss doch sein Dementi durch die Moderne selbst überwinden. Oder anders formuliert, mit dem Pädagogen Janusz Korczak, mit Isaiah Berlin 1 Winkler, Michael: Das Allgemeine und das Besondere. Über sozialwissenschaftliche Zeitdiagnose und pädagogische Theorie aus Anlaß von Gerhard Schulzes "Erlebnisgesellschaft". In: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau 17 (27) 1993, S. 42-51. <?page no="227"?> Die Unfreiheit der Freiheit 227 oder Charles Taylor 2 : Gegenüber der perversen Freiheit genügt die negative Freiheit des Abwehrstaates nicht mehr. Nötig ist vielmehr eine positive substanzielle Freiheit. I. Veränderte Konstellationen - erzwungene Freiheit Eine Antwort auf die Frage nach der Freiheitsproblematik in den gegenwärtigen Gesellschaften scheint allerdings gar nicht mehr möglich. 3 Denn das Denken selbst folgt längst einer methodologischen Freiheit, in der sich Beliebigkeit von Reflexion und Pluralität moderner Weltverhältnisse spiegeln. Der Anspruch auf Vernunfterkenntnis steht zur Disposition, Kontingenz bedeutet den Verzicht auf reflexive Bestimmtheit, der doch selbst noch realistisch ist: Die harten sozialen Zusammenhänge sind einem Rauschen gewichen, das optimistisch als Informationsgesellschaft bezeichnet, pessimistischer aber als Aufmerksamkeitsökonomie analysiert wird. 4 Baudrillards Verdacht von der Übermacht der Simulakren bestätigt sich, weil der Schwerpunkt des Sozialen zu den kulturellen Semantiken und Symbolen wandert, welche die Selbstdeutungen von Gesellschaft wie der Individuen massiv bestimmen. In den Hintergrund rücken Objektivität, Wahrheit und Verlässlichkeit, es gilt allein, was als inszenierte Information erfolgreich vermarktet und politisiert werden kann, sanktioniert durch die von den Medien selbst ernannten Experten. In der Tat: Eindeutige Antworten kann es nicht mehr geben, weil Spannungen und Widersprüche die modernen Gesellschaften durchziehen. Sie gehören der kapitalistischen Moderne an und unterscheiden sie dennoch von dem, was diese bislang ausgezeichnet hat: - Die eine Tendenz in den modernen Gesellschaften besteht in der Restrukturierung des Kapitalismus. Sie vollzieht sich in zwei Dimensionen: Nach den Jahrzehnten einer Zähmung des Kapitalismus kehrt das 19. Jahr- 2 Korczak, Janusz: Wie man ein Kind liebt. In: Janusz Korczak. Sämtliche Werke. Band 4. Gütersloh 1999, S. 7-315, hier, S. 47. Berlin, Isaiah: Freiheit. Vier Versuche (1969). Frankfurt am Main 2006. Taylor, Charles: Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus. Frankfurt am Main 1992. 3 Vgl. zum Folgenden: Winkler, Michael: Freiheit/ Zwang/ Objektivität/ Leere/ Subjektivität/ Abrichtung. In: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau 33 (60) 2010, S. 97- 114. 4 Franck, Georg: Mentaler Kapitalismus. Eine politische Ökonomie des Geistes. München 2005. Türcke, Christoph: Erregte Gesellschaft. Philosophie der Sensation. München 2002. <?page no="228"?> 228 Michael Winkler hundert zurück. Unterschiede in der Machtverteilung, Klassenzugehörigkeiten werden wieder sichtbar. Das Oben und das Unten differenzieren sich erneut aus, nicht zuletzt, weil die sogenannten Mittelschichten an sozialem und ökonomischem Gewicht verlieren. Ungleichheit gefährdet den sozialen Zusammenhang wie die Integration der individuellen Subjekte. 5 Die Bewältigung des Alltags wird zu einer Überlebensfrage. Armut und Elend wuchern, beginnend in Randbereichen der Gesellschaften, vor allem bei jungen Menschen und ihren Familien, die als die eigentlichen Opfer der neuen Entwicklungen anzusehen sind; sie greifen zunehmend auf bislang als reputierlich geltende Gruppen aus, zunächst auf Rentner, die ihr Einkommen als Flaschensammler aufbessern, auf Angestellte im privaten Dienstleistungssektor, dann auf Angehörige des öffentlichen Dienstes, die ihrer öffentlichen Anerkennung beraubt worden sind - das ist fatal, weil der Zusammenhalt einer Gesellschaft davon abhängt, wie sie mit ihren öffentlichen Dienst umgeht. Zugleich werden ehemals sozialstaatlich kompensierte Leistungen privatisiert: Krankheiten bedrohen die Existenz, ebenso die Aufwendungen für den Nachwuchs. Zwar bleiben Einrichtungen für kleine Kinder sowie das Schulsystem häufig kostenlos. Erfolg in diesem hat aber nur, wer auf teure Parallelschulen - so im asiatischen Raum - oder auf Nachhilfeangebote zurückgreifen kann, wie sie im europäischen Zentrum normal geworden sind. Ohnedies wird alles kostenpflichtig, was in einer schwankenden Zone zwischen dem angeboten wird, was die pädagogischen und medizinischen Ideologen für unbedingt geboten halten, und dem sich empfiehlt, das dem Statuserhalt oder gar dem Statusgewinn dienen könnte. Dieser Restrukturierung eignet jedoch eine makabre zweite Dimension. Sie bedeutet nämlich nicht mehr Integration. Inferiorität von Lebenslagen oder Proletarisierung lösen zwar existenziellen Horror aus, signalisieren aber Zugehörigkeit. Heute wird den Menschen dagegen jeglicher Status abgesprochen. 6 Verachtende Ungerechtigkeit wird epidemisch, indem der Restrukturierung Ausgrenzung als ein strukturelles Element zur Seite tritt. Die Moderne entledigt sich ihrer überflüssigen Menschen. 7 Man braucht 5 Wilkinson, Richard/ Pickett, Kate: The Spirit Level. Why Equality is better for Societies. London 2010. 6 Vgl. Moore, Barrington: Ungerechtigkeit. Die sozialen Ursachen von Unterordnung und Widerstand. Frankfurt a. M. 1982. 7 Bauman, Zygmunt: Wasted lives. Modernity and its Outcasts. Cambridge 2004. Bude, Heinz: Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft. München 2008. Bude, Heinz/ Willisch, Andreas (Hg.): Exklusion. Die Debatte über die „Überflüssigen“. Frankfurt a. M. 2008. <?page no="229"?> Die Unfreiheit der Freiheit 229 sie nicht einmal mehr als Radaubrüder: das ist vermutlich der Grund dafür, dass man sich um Rechtsradikale nicht sonderlich kümmert. Diese neue Ausgrenzung beginnt in medialen Inszenierungen, in welchen dramatische Stigmatisierungsprozesse mit der Wiederkehr eines feudalen Kurateldenkens einhergehen - allzumal die Debatte um die sogenannte Unterschicht bedient diese Muster. Zur neuen Ausgrenzung gehören die Grausamkeiten einer Sozialgesetzgebung, welche als Fördern und Fordern sozialpädagogische Empowermentlehren gegen eine Klientel wendet, die als Prekarität bezeichnet wird, sich aber dennoch selbst aus der realen Perspektivlosigkeit befreien soll. Endlich werden Menschen aus dem kollektiven Bewusstsein verdrängt, indem sie aus der Statistik der Bedürftigen getilgt werden. Die modernen Gesellschaften verwandeln sich auf seltsame Weise in Tellergesellschaften, über deren Rand die Überflüssigen hinunterpurzeln, die keine politische, keine ökonomische, keine kulturelle Bedeutung mehr haben. Sie sind unnütz geworden - they don‘t care about us, hat Michel Jackson ihre Lage erfasst. Restrukturierung als Klassengesellschaft unter der dauernden Drohung, aus dieser vertrieben zu werden - das bildet die eine Tendenz der modernen Gesellschaft. Sie wirft schon das Freiheitsproblem auf, nämlich in der sozialen Vernichtung der sozialen Existenz, darin, dass man ohne Recht auf Freiheit sozial und kulturell negiert wird, asozial frei wird. - Gegenläufig zur neuen Härte und Kälte begegnen als zweite Tendenz Beschleunigung der Veränderungsdynamik, Verflüssigung und Verflüchtigung von Strukturen, von Institutionen, Regeln, sozialen, kulturellen, vor allem jedoch der lebensweltlichen Zusammenhänge. 8 Rahmungen, Stützen lösen sich auf, nahezu alle Lebenszusammenhänge, die großen ebenso wie die kleinen des Privaten verwandeln sich in glitschige Rutschsituationen und beginnen selbst zu gleiten. 9 Von run away world spricht Anthony Giddens und formuliert so neu, was Günther Anders schon festgehalten hat 10 , dass und wie die Menschen den Entwicklungen nun hinterher laufen, die sie selbst ausgelöst haben. Das Soziale und Kulturelle löst sich auf vielen Ebenen menschlichen Lebens auf, lässt nicht einmal mehr den pseudokonkreten Alltag aus. Schutz- und Ruhezonen werden vernichtet, in welchen die Individuen sich 8 Bauman, Zygmunt: Liquid Modernity. Cambridge 2000. Ders.: Liquid Life. Cambridge 2005. Ders,: Liquid Love. On the Frailty of Human Bonds. Cambridge 2003. 9 Vgl. Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Frankfurt a. M. 2005. 10 Giddens, Anthony: Runaway World. How Globalisation Is Reshaping Our Lives. London 2002. Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. 2 Bde. München 5 1980. <?page no="230"?> 230 Michael Winkler abschotten und sich ihrer selbst vergewissern konnten. Das Ökonomische, das Öffentliche, das Politische und das Private, endlich das Persönliche durchdringen daher einander in einer Weise, die permanente Präsenz verlangt - das internetfähige Mobiltelefon kann als Symptom dafür gelten. Milieus und Institutionen, Lebenszusammenhänge, die als verbindlich empfunden und in ihrer Geltung tradiert wurden, stehen zur Disposition: Familie und Ehe, Parteien, Gewerkschaften, die Kirchen, nichts scheint von diesem Erosionsprozess ausgeschlossen, den eine machtvolle Kulturindustrie vorantreibt, die sich der ständigen Überbietung verschrieben und die Transzendenz des Religiösen längst mundanisiert hat. In diesem Vorgang verlieren die Menschen die Begrenzungen ihres Lebens, Rahmungen und Bindungen, Verlässlichkeiten und Orientierungsmöglichkeiten, Regeln und am Ende Perspektiven; sie werden radikal freigesetzt, auf sich zurückgestoßen und in eine prekäre Existenz versetzt, zerrissen zwischen den Zwängen zur Performanz. Das Event wird zum Zentrum menschlicher Existenz, zum Erinnerungszusammenhang und zum ontologischen Rechtfertigungsgrund. 11 Das kollektive Gedächtnis verschwindet, Vergangenheit wird von Lethe entsorgt, das Vergessen zum eigentlichen Muster moderner Selbstvergewisserung. Biographisch relevante Normalstrukturen, Normalität und Verpflichtungen im Alltag werden bedeutungslos, wenngleich soziale und kulturelle Bindungen beharren. Aber sie bieten keine Anknüpfungspunkte mehr, weder für Widerstand noch für Autonomie-Gewinnung, übrig bleibt nur noch das Flimmern einer imaginär-informativ-informellen Moderne. II. Der soziale Sinn der erzwungenen Befreiung Dieses Geschehen hat zunächst einen ökonomischen Hintersinn, der den jüngeren Befreiungsbewegungen verborgen geblieben ist. Sie hofften darauf, dass Verdinglichung und Entfremdung, Enteignung verschwinden könnten, um die eigene menschliche Leistung zurück zu gewinnen. Emanzipation sollte den Weg zu einer Lebensform öffnen, die den Umgang mit der eigenen Natur, mit der Triebhaftigkeit jenseits der Zwänge erlaubt, fern von der blinden Übernahme des Über-Ich und der mit ihm verbundenen Zwängen - bei aller Gefahr der Permissivität: Women’s lib wie das children‘s rights movement, heute die Bestrebungen um Inklusion haben aber 11 Aubert, Nicole: Le culte del’urgence. La société malade du temps. Paris 2004. <?page no="231"?> Die Unfreiheit der Freiheit 231 die Dialektik nicht begriffen, in der sie gefangen sind. Die alten, zuweilen als ständisch verurteilten Abhängigkeiten sollen verschwinden, seien sie durch Tradition oder Abhängigkeit bestimmt; moderne Menschen stehen für sich und gelten nur für sich, mit eigener Verhandlungsstärke! Bitter indes die Wahrheit: Im Kern perfektioniert all das die Durchsetzung der kapitalistischen Warenform. Denn den Kern dieses Freiheitsversprechens macht die Kommodifizierung aus; sie verbirgt sich noch hinter dem, was die Soziologie als Individualisierung interpretiert. Um eine solche geht es nur in dem Sinne, dass in der Tat alle Lebensverhältnisse und Lebensformen, welche dem Kapitalismus entzogen waren, nun in die bloße Wertform der Ware gebracht werden. Dass es dem Kapitalismus noch stets gelungen war, sogar den Protest und den Widerstand, die Suche nach der Alternative und ihrer Darstellung zu integrieren, markttauglich umzuschmieden, war für die Kultur schon lange bekannt, 12 Walter Benjamin hatte es in seinem Essay über die Reproduzierbarkeit des Kunstwerks analysiert. Nun schreitet dieser Prozess weiter fort und wird total. Er erfasst sämtliche menschliche Beziehungen, das Private wird nicht politisch 13 sondern vollständig ökonomisch 14 : Frauen wurden von der Herrschaft der Männer befreit, auf sich verwiesen und für sich selbst verantwortlich, selbst in den Lebenssituationen, die auf gemeinsame Sorge angewiesen sind. 15 Diese Restrukturierung der sozialen Ordnung als manifeste Klassengesellschaft bringt die Menschen auf den Boden der Tatsachen zurück; aber dieser Boden selbst ist schwer und rutschig zugleich, er bietet keinen Halt. Deshalb begreifen nur wenige, wie sie einer sozialen Lage ausgesetzt sind, die sie kollektiv betrifft und nur so bewältigt werden kann. Dabei geht es um eine Umstellung der existenziellen Situation von Menschen, zunächst als Privatisierung der sozialen und kulturellen Risiken, dann als eine nahezu vollständige paradoxe Überlassung des Gesellschaftlichen an die Einzelnen. 16 Diese werden zwar aufgewertet, erleben zugleich aber eine De- Stabilisierung, weil ihnen die sozialen Netzwerke genommen werden, die sie benötigen, um Ruhe in den Veränderungsprozessen zu finden, in wel- 12 Eagleton, Terry: Was ist Kultur. Eine Einführung. München 2001. 13 So noch die Vermutung von Beck, Ulrich: Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit. Frankfurt a. M. 1988. 14 Crouch, Colin: Postdemokratie. Frankfurt a. M. 2008, bes. S. 101ff.. 15 Vgl. z. B. Hochschild, Russel: The Commercialisation of Intimate Life. Notes from Home and Work. Berkeley, Los Angeles, London 2003. Stiegler, Bernhard: Die Logik der Sorge. Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien. Frankfurt a. M. 2008. 16 Insofern hatte Margaret Thatcher Recht, wenn sie davon sprach, keine Gesellschaft zu kennen. <?page no="232"?> 232 Michael Winkler chen sie sich selbst dem Geschehen gefügig machen sollen; mehr noch: faktisch erodieren die Institutionen, welche überhaupt erst Freiheit ermöglichen. Autonomie aber kann es nicht ohne Institution geben, wie Zygmunt Bauman eine Einsicht Hegels aufgreift. 17 Wer die Institutionen, Rahmungen und Regeln abschafft, überlässt Menschen dem freien Fall; sie können sich weder an einem Geländer festhalten, noch fallen sie in ein Netz. Gesellschaftlich entsteht also eine Form sozialer Asozialität, ein Vergesellschaftetsein, bei dem nicht mehr mit Gesellschaft gerechnet werden darf. Die Einzelnen erleben sich nämlich radikal entbettet. Statt Regelmäßigkeit und Normhaftigkeit zu finden, die sie in ihrer Praxis aufnehmen und gestalten, um diese und sich selbst zu verändern, sehen sie sich in einem sozial und kulturell entleerten, zugleich informativ überfüllten Raum einer Permanenz von Entscheidungszwängen, Verantwortlichkeiten ausgesetzt. Auf ihnen lastet der Druck, sich auf Projekte einzulassen, sich selbst als Projekt zu entwerfen und zu verfolgen, um in diesem höchste Performanz zu beweisen; bewertet wird nicht Leistung, sondern der Erfolg des Projekts im Wettbewerb. 18 In der erzwungenen Freiheit fehlen Kriterien, nach welchen über Qualität entschieden werden könnte; die Moderne ist maßlos geworden, weil sie sich von Maßstäben befreit hat. In der Bewältigung dieser erzwungenen, perversen Freiheit, 19 brechen die Individuen zusammen, weil sie sich selbst ständig erneuern, ihre Identität, ihr Wissen und Können entwickeln und wahren, verneinen und aufgeben müssen. 20 Sie müssen alles wissen, ohne wissen zu können, sie müssen sich und ihre Vergangenheit verwerfen, stets innovativ und reformbereit sein, ohne auf etwas zurückgreifen zu dürfen, in das sie das Neue hineinstellen können oder wieder Form gewinnen dürfen. Gesellschaft und Kultur werden imaginär, müssen vorgestellt, imaginiert werden, die Theorie des Konstruktivismus bietet für dieses falsche Leben eine perfekte Anleitung und lässt das Problem ahnen: jeder hat nun seine eigene Vorstellung von Gesellschaft im Kopf, mit dem Effekt, dass Devianz notorisch wird. So gesehen müssen sich alle zu - im strengen Wortsinne - Idioten verwandeln. Begleitet vom begriffslosen Getöse der Kommentatoren wird Freiheit 17 Bauman, Zygmunt/ Tester, Keith: Conversations with Zygmunt Bauman. Cambridge 2001. 18 Vgl. Boltanski, Luc/ Chiapello, Éve: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz 2003. 19 Die Differenz der Gegenwart lässt sich gut im Vergleich etwa zu Adornos Zeitdiagnose und seiner Sorge vor fortschreitender Integration erkennen, so etwa Adorno, Theodor W.: Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit (1964/ 1965). Frankfurt a.M. 2006 und Ders.: Einleitung in die Soziologie (1968). Frankfurt a. M. 2003. 20 Ehrenberg, Alain: Le culte de la performance. Paris 1991. <?page no="233"?> Die Unfreiheit der Freiheit 233 erzwungen, um zugleich darin dementiert zu werden, dass die Mittel genommen werden, Freiheit zu leben, Freiheit - wie Kant sagt - bei all dem Zwange zu kultivieren, 21 um sie zu wissen und sie zu pflegen, in Kenntnis der Tatsache, Zwängen ausgesetzt zu sein, die sich in der Restrukturierung ergeben. Die Welt bestimmt brutal die menschliche Lebenslage - und entzieht zugleich, worin sie erkennbar wäre: Den Menschen widerfährt eine Freiheit, die sie nicht begreifen - darin gründet das neue Unbehagen in der Kultur. 22 Das Individuum wird zu einem hochprekären Ort des Sozialen, dem die Verbindlichkeit des Sozialen ebenso abgeht wie die Mittel der Kultur, um das an Gesellschaften stets doch Unsichtbare nicht nur zu symbolisieren, sondern auch zu bewältigen. Individualisierung als Gewinn von Freiheit pervertiert zur Überlastung, zum Zwang, gleichzeitig besonderes Individuum zu sein und die ganze Gesellschaft in sich stetig aufzubauen, um sie im Fluss der Ereignisse zu revidieren, gefordert als souveräner Konsument und sparsamer Bürger, geplagt als ein machtloses Zentrum der sozialen und kulturellen Ereignisse. 23 Das ist schlicht ein Zuviel an Freiheit, genauer: da ist eine Freiheit entstanden, die man als Leere bezeichnen muss. Man ist verlorenes Ich und Übermensch zugleich, armselig und von Omnipotenzfantasien getrieben, im schlimmsten Fall freilich völlig wertlos, wie schon Georg Simmel gesehen hat. 24 Die moderne Gesellschaft stiftet absolute Freiheit, um das Individuum für den Markt zuzurichten; dieses selbst wirkt in diesem Prozess mit, einmal indem es sich die Freiheit als sein eigenes Programm verschreibt, zum anderen, indem es den Konsum als den für sich konstitutierenden Faktor verfolgt - und sich so illusionär vergesellschaftet. Im Konsum sollst Du bleiben, wie Du bist - indem Du dich uniformierend konsumierend veränderst. Dennoch: das Konsumsubjekt ist gefährlich. Es ist volatil, flüchtig, ein unberechenbarer Zeitgenosse; frei gesetzt, aus der Einbettung gehoben. Das alarmiert die modernen Gesellschaften. Sie erkennen die neue Asozialität der Einzelnen und auf sich selbst Verwiesenen als Risikozentrum, das nun überwacht, kontrolliert und diszipliniert werden muss. 21 Kant, Immanuel: Über Pädagogik. In: Ders. Werke. Hg. v. W. Weischedel. Bd. 12. Frankfurt 1964, S. 711. 22 Taylor, Charles: Das Unbehagen an der Moderne. Frankfurt a. M. 1995 und Ehrenberg Alain: Das Unbehagen in der Gesellschaft. Berlin 2011. 23 Bauman, Zygmunt: Wir Lebenskünstler. Frankfurt a. M. 2010. 24 Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. In: Gesamtausgabe. Hg. v. Otthein Rammstedt. Bd. 11, hier bes. S. 512ff.. <?page no="234"?> 234 Michael Winkler III. Bildung zur Disziplinierung der perversen Freiheit Eben dies macht die Aufgabe dessen aus, was heute wagemutig mit „Bildung“ umschrieben wird. Wiederum ist die Lage mehrdeutig 25 : - Mehr als je zuvor werden Kinder und Jugendliche durch Professionelle begleitet, betreut und instruiert. Bildung wird als ein Geschehen verstanden, das durch einen Bezug auf Adressaten ausgerichtet ist, Kinder und Jugendliche sind Objekte eines Treatment, das mit bewährten Mitteln, möglichst evidence based, das heißt: in seinen Effekten messbar vollzogen wird. Die Kinder und Jugendlichen selbst haben nur insofern Anteil, als die Theorie des Konstruktivismus geltend macht, dass sie die eigentliche Arbeitsleistung zu vollziehen haben. Ihr Tun wird auf Lernen reduziert, das jedoch so moduliert werden muss, dass sie präzise das lernen, was von ihnen gewünscht wird. Es bedarf geschulter und zugleich selbst gehorsam gewordener Fachkräfte, um ihre ursprüngliche Neugier und Handlungsbereitschaft zu erfassen und in eine Energie umzuwandeln, die dann einem von anderen gesteuerten Lernen zu Gute kommt - mit Professionalität hat das nichts zu tun, die Fachkräfte des Pädagogischen sollen die Selbständigkeit des anderen in Anspruch nehmen, um sein Lernen so zu steuern, dass er sich den vorgegebenen Zielen und Maßstäben noch selbst beugt. - Privatheit als Kontext des Bildungsgeschehens wird aufgehoben. Staat und Politik, Öffentlichkeit, die Ökonomie mit ihren Interessen, dann die Fachkräfte bestärken sich gegenseitig darin, Familie zum Risiko zu erklären und zu dementieren. Bildung soll durch Fachkräfte garantiert werden und institutionell stattfinden, die sozial und kulturell erzwungene Freiheit wird durch Organisation von „Bildung“ vorsorglich eingefangen und eingeschränkt: Im Wissen um ihre eigene Labilität und Prekarität etablieren die modernen Gesellschaften mit überwältigender Macht und auswuchernden Institutionen der Sozialisation. Gegenüber aller Liberalität, gegenüber aller Offenheit wachsen nun die umgrenzten und umzäunten Gebäude der pädagogischen Abrichtung. Möglichst früh, schnellstens nach der Geburt werden die Kinder den gefährlichen Eltern entzogen, die noch an Elternwillen und Autonomie der familiären Lebenspraxis glauben. Hat man noch kürzlich einen Krieg gegen die Armut in einen gegen die Armen überführt, 25 Vgl. Friedrichs, Werner/ Sanders, Olaf (Hg.): Bildung / Transformation. Kulturelle und gesellschaftliche Umbrüche aus bildungstheoretischer Perspektive. Bielefeld 2002 sowie Bünger, Carsten/ Mayer, Ralf/ Messerschmidt, Astrid/ Zitzelsberger, Olga (Hg.): Bildung der Kontrollgesellschaft. Analyse und Kritik pädagogischer Vereinnahmungen. Paderborn u.a. 2009. <?page no="235"?> Die Unfreiheit der Freiheit 235 so werden nun die Familien als Risikozentren enthüllt, um sie zu vernichten. Hegel hatte geahnt, wie das Subjekt auf dem Weg seiner Vergesellschaftung zur Freiheit sich seiner Familie entledigt, um so als selbst Erwachsener unter Erwachsenen leben zu können. Das erledigt jetzt ein Staat, der sich fürsorglich gibt. Seine para-institutionelle Rahmung soll lebenslang gelten; lebenslanges Lernen wird zum Grundmuster, das sich die Subjekte selbst auferlegen. Selbst - Bildung wird gegen die Liquefaction erzwungen, welche die modernen Gesellschaften auszeichnet. 26 - Deshalb wirft die jüngste, um Bildung angesiedelte Rhetorik niemals die Freiheitsfrage auf, weder als Vorbedingung des Geschehens, noch als eine Aufgabe, die zu bewältigen wäre. Die Bildungsrhetorik präsentiert sich vielmehr sozialpolitisch, indem sie Gerechtigkeit und Gleichheit in Anspruch nimmt. In Wirklichkeit trägt sie aber dazu bei, die Struktur des Kapitalismus wieder herzustellen. So spaltet sich die Bildungslandschaft, die Restrukturierung in Klassenverhältnissen schlägt sich in Bildungspanik nieder. 27 Auf der einen Seite gewinnen dabei die privaten Schulen, nicht bloß elitäre Einrichtungen sondern auch solche, die sich als pädagogisch besondere ausweisen, der Persönlichkeitsentwicklung Raum geben, um so die Kultivierung der Freiheit zu ermöglichen. Auf der anderen Seite aber breitet sich im Schulsystem das Elend der perversen Freiheit als schlichte Verhaltensstörung aus: Längst sind wir mit Kindern und Jugendlichen konfrontiert, die als die Freigelassenen der Moderne gelten können und müssen, die basale Formen des Umgangs mit anderen nicht mehr kennen, denen zuweilen die Fähigkeit fehlt, sich auf die Rahmenbedingungen des Miteinanders einzulassen; sie verstehen Schule als einen Raum für grausame Experimente; diese zeigen Ungewissheit und Unsicherheit an, wie sie jungen Menschen lebenspraktisch begegnen, etwa wenn ihre Eltern sich trennen, etwa wenn sie selbst eine Migrationsgeschichte zu bewältigen haben, in der niemand mehr weiß, welche sozialen und kulturellen Standards denn nun gelten. Der institutionelle Zusammenhang von Schule wird damit zu einem Laboratorium der Selbsterfahrung und Selbstkonstruktion, die aber den basalen Lebenszusammenhängen und Lebenspraktiken gilt, welche von den Schulen bislang jedoch vorausgesetzt werden. Das Fatale an der Angelegenheit besteht darin, dass die frühe Institutionalisierung des Bildungsprozesses gar nicht zulässt, die eigene Bildung anders als mit dem Experiment im kontrollierten Raum zu beginnen, also sozial und kulturell 26 Bauman, Zygmunt: Identity. Conversations with Benedetto Vecchi. Cambridge 2004, S. 51. 27 Bude, Heinz: Bildungspanik. Was unsere Gesellschaft spaltet. München, Wien 2011. <?page no="236"?> 236 Michael Winkler gewissermaßen voraussetzungslos - nämlich weil die Kinder und Jugendlichen weder den familiären Raum noch die Offenheit einer Situation erlebt haben, die sie aus dem familiären Raum heraus bewältigen können. Sie sind sozusagen von vornherein eingeschlossen in das institutionelle Setting und können in diesem nicht mit dem agieren, was lebensweltlich, in der Erziehung vor der Erziehung zu erfahren wäre - die es so allerdings kaum mehr gibt. Darin steckt schließlich das Dilemma der modernen Gesellschaften. - Allerdings entwickeln die modernen Gesellschaften Instrumente, um die perverse Freiheit mit ihren Gefahren in den Griff zu bekommen. Sie teilen ihre Population. Sie betätigen sich wieder als Ordnungs- und Ausgrenzungsmacht, aktivieren ihr altes, rigoroses Disziplinarregime. 28 Dass dies der Moderne prinzipiell möglich ist, belegen allemal die modernen Diktaturen. In der Gegenwart wird die Unsicherheitssituation mit der Incarzeration von Menschen bekämpft, 29 in einem ausufernden Gefängniswesen sowie durch zunehmende Psychiatrisierung und Medikalisierung, im Bildungswesen schließlich durch die Ausweisung von Schulstörern in die Jugendhilfe, die von geschlossenen Einrichtungen Gebrauch macht - das macht dann die düstere Dimension der Inklusion aus. - Die ubiquitär verkündete Parole von der Bildung erweist sich dabei als Mechanismus der Freiheitsbewältigung. Die Subjekte beginnen sich selbst zu kontrollieren - oder nicht. Die Disziplinargesellschaft weicht der Kontrollgesellschaft, das Motto lautet: Führe mich sanft - sei es durch Etablierung dauernder Ängste, in Konkurrenz der Individuen zu versagen, sei es durch Bilder erfolgreicher Menschen, 30 durch das Synoptikum, sei es durch Normen, die als verbindlich behauptet werden, aber undeutlich bleiben, wirksam nur als Dynamos, in welchen die Veränderungen der Gesellschaft in die Individuen transformiert werden, allerdings unter der Maßgabe, dass diese noch den Dynamo selbst antreiben. Dieses Wunderwerk wird zunächst volkspädagogisch vorbereitet, indem feierlich gegenüber aller Freisetzung und Freiheit das neue Voodoo des Vertrauen beschworen wird; die Sozialwissenschaften haben das schon lange als Remedium geltend gemacht, nun wird es durch die Kanzlerin geheiligt. 28 Vgl.: Bourdieu, Pierre (Hg.): Lohn der Angst. Flexibilisierung und Kriminalisierung in der „neuen Arbeitsgesellschaft“. Konstanz 2007. 29 Wacquant, Loїc: Elend hinter Gittern. Konstanz 2000. 30 So ist die normative Kraft der im Fernsehen gezeigten „schönen“ Menschen inzwischen nachgewiesen. <?page no="237"?> Die Unfreiheit der Freiheit 237 - Mit Beschwörungsformeln, mit der schäumenden Emphase von Bildung oder eben Vertrauen gelingt das größte Zauberkunststück: Die Dinglichkeit der Welt verschwindet, alles wird virtuell. Während sich die ökonomischen Strukturen zu einem Willkürregime verhärten, geht noch verloren, was kleine Fluchten erlaubt hatte. Schon die Restrukturierungsprozesse vollziehen sich unbegreiflich und unfassbar. Man sieht sich ihnen ausgesetzt, ohne noch eine Spur von Realität in ihnen zu entdecken. Wirklichkeit ist objektiv und verbirgt sich zugleich. Niemand versteht die Summen der Rettungsschirme für insolvente Banken und Staaten, den ökonomischen Erfolgsnachrichten folgen Massenentlassungen u.s.w. Das System ist abstrakt, unfassbar und unvorstellbar, zugleich willkürlich geworden. Jeder Widerstand ihm gegenüber verpufft - und kann von den Subjekten nur nach innen gewendet werden. Diese Entdinglichung ist schon in den Schulen zu beobachten. Sie schieben frühzeitig alle Inhalte zur Seite, die sich an Lebenswirklichkeiten anschließen lassen; dass der Unterricht in der Geschichte, dass das Lernen in der Sozialkunde zunehmend abgeschafft wird, belegt dies und bleibt dennoch eher Symptom. Gravierender wirkt die Umstellung von Kompetenzen. Diese haben erklärtermaßen weder mit Inhalten noch mit eingeübten Fähigkeiten und Fertigkeiten zu tun, sondern stehen irritierenderweise für das, was korrekt als Performanz bezeichnet wurde. - Für Bildungsprozesse ist dies dramatisch: Sie knüpfen nicht mehr an Gegenstände in einer Objektivität an; diese müssen sozusagen aus den Subjekten selbst erzeugt werden - dafür bietet der Konstruktivismus die Grundlage, der die Virtualität der Welt in den Subjekten selbst entstanden sehen will. 31 In Wirklichkeit aber fehlen ihnen die Inhalte, durch die sie welt- und selbstfähig wären, weil und wenn ihnen die gegenständliche Welt zu eigen ist, so dass sie wenigstens gedanklich über sie verfügen oder gar aus Wissen, kundig und fähig, auch an Inhalten geübt handeln könnten. Das hat Bildung im strengen Sinne des Ausdrucks gemeint, der heute dementiert wird, in der Paradoxie, dass das Reden über Bildung allgegenwärtig geworden ist. An die Stelle einer für Bildung konstitutiven, in Aneignung und Vermittlung zu bewältigenden Subjekt-Objekt-Beziehung tritt eine Umlagerung auf die Subjekte selbst. In der perversen Freiheit sind sie nun in einer Eigenständigkeit gefordert, in der Autonomie gleichsam apriorisch und selbsterzeugend gegeben ist. Das ist in der Tat neu und fasziniert die Subjekte: In einer radikalen Weise werden ihnen Freiheit und Autono- 31 Pongratz, Ludwig A.: Untiefen im Mainstream. Zur Kritik konstruktivistischsystemtheoretischer Pädagogik. Paderborn u.a. 2009. <?page no="238"?> 238 Michael Winkler mie zugesprochen und von ihnen erwartet, ohne jedoch Voraussetzungen dafür bereit zu stellen. Als Preis dafür verzichten sie auf alles, was ihnen ein an Sachen, an der Objektivität der Wirklichkeit ausgerichteter Bildungsprozess zukommen lassen könnte, nämlich die Eigentümlichkeit und Eigenmächtigkeit, mit der sie die Welt beherrschen, mit der sie sich selbst verstehen und bei sich behalten könnte. Das Weltwissen der Menschen weicht einer Weltläufigkeit, die auf einer Metadimension besteht, eigentlich substanzlos, aber gut im Begriff der Kompetenz gefasst, der doch nur diffuse, von Angst bewegte Selbstkontrolle meint. 32 IV. Der Anfang der Bildung Aus der Situation der perversen Freiheit führt kein Weg. Entweder ist die Lage selbst hermetisch geschlossen und den Subjekten entzogen oder die Theorie hat sich so in sich selbst verschränkt, dass eine Alternative gar nicht zu erkennen ist; das Werk Foucaults könnte als ein Beispiel für einen solche klaustrophische Theorie genannt werden. Wer so denkt, unterschätzt allerdings die Macht der Bildung. Sie vermag der perversen Freiheit zu entgegnen: Bildung ist und bleibt trotz alledem die Antwort! Andere Antworten können nicht so recht befriedigen. So versucht Axel Honneth das Problem der perversen Freiheit zu lösen, indem er rekonstruiert, wie die Moderne, die modernen Gesellschaften und ihre Mitglieder in ihrer Wirklichkeit und ihrem Handeln auf Regelungen zurückgreifen, welche Freiheit normativ garantieren. Freiheit und Autonomie machen die Grundlage des normativen Selbstverständnisses der modernen Gesellschaften und ihrer Mitglieder aus, sie wird institutionell geschützt und in Wirkung gebracht, zunächst vor allem durch das Recht, dann durch die moralischen Zusammenhänge, wobei beide in einer Substruktur wechselseitiger Anerkennung gründen, die ihrerseits mit einem lebensweltlichen Hintergrundwissen verknüpft ist. 33 Dieses verweist auf Sphären des Sozialen, welche die Wirklichkeit der Freiheit dann als „’moralische Grammatik’ der Gesellschaftsmitglieder“ bestimmen, an welche eine „normative Rekonstruktion“ anknüpfen kann, „die es sich zur Aufgabe gesetzt, die freiheitsverbürgenden Handlungssphären gegenwärtiger Gesellschaften in ihrem vollen Umfang freizulegen“ 34 . Im Grunde greift Honneth auf die von 32 Gelhard, Andreas: Kritik der Kompetenz. Zürich 2011. 33 Honneth, Axel: Das Recht der Freiheit. Frankfurt am Main 2011, S. 228. 34 Honneth: Recht, S. 229. <?page no="239"?> Die Unfreiheit der Freiheit 239 Dahrendorf und Hondrich aufgeworfene Vermutung zurück, nach welcher in aller Veränderungsdynamik unaufgebbare Ligaturen bestehen. 35 Allerdings ist dann sogar noch die perverse Freiheit normativ durch das moderne Freiheitskonzept geschützt; Honneth hat diese Lesart mit einigem Optimismus bestärkt und durchaus in Widerspruch zur Annahme einer substanziellen Sittlichkeit gesetzt. In all dem verkennt er aber die Dialektik der Gegenwart. Sie besteht darin, dass gegenüber einer sozial und kulturell erzeugten und - notabene - beherrschend gewordenen Freiheit selbst noch ein Freiheitsverständnis geltend gemacht werden muss, das in seinem abwehrenden Charakter, in seiner Negativität auf eine Substanz gegründet werden muss, in der Freiheit selbst wiederum positiv werden kann. Indes weist dies auf die grundlegenden Konstruktionen von Bildung zurück, wie sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu finden sind. Die pädagogische Grundfrage bei Kant, wie Freiheit bei dem Zwange zu kultivieren sei, erinnert daran, dass Freiheit in der Naturverfasstheit des Menschen gegeben ist, ihr Gebrauch aber erlernt und verstanden sein muss. Humboldt insistiert darauf, dass Bildung Autonomie gegenüber dem staatlichen sowie gegenüber dem ökonomischen Handeln sichere, Schleiermacher sieht Bildung als den Kern des Prozesses, in welchem die Einzelnen im Durchgang durch die sozialisatorisch relevanten Gütergemeinschaften und Praxen dazu kommen, Optionen zu erkennen und über sie zu entscheiden. Hegel sieht Bildung als die Bedingung der Möglichkeit an, die Freiheit aus der modalen Form der Willkür zu lösen, in der sie zunächst in aller Unmittelbarkeit besteht. Diese klassischen Theorien der Bildung verweisen zurück auf eine anthropologische Konstruktion, die jedoch nur unter den historischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen der Moderne erst entfaltet werden kann, nämlich als strukturelle Bedingungen des Humanen, wie sie erst nach der Aufklärung zu dechiffrieren waren. Die pervertierte Freiheit wird mithin unterlaufen und selbst noch umgekehrt, gewissermaßen depervertiert, wenn nach den konstitutiven Prozessen gefragt wird, in welchen sich Menschen als Menschen entwickeln und entfalten. Anders gesagt: wir müssen nach dem ersten Anfang von Bildung fragen. Wo aber liegen solche elementaren Bedingungen einer Bildung, die sich der perversen Freiheit erwehrt, dieser nicht bloß eine negative Freiheit ge- 35 Dahrendorf, Ralf: Der moderne soziale Konflikt. Essay zur Politik der Freiheit. Stuttgart 1994. Hondrich, Karl-Otto: Wie werden wir die sozialen Zwänge los. Zur Dialektik von Kollektivierung und Individualisierung. In: Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken 51 (1997), S. 81-100. <?page no="240"?> 240 Michael Winkler genüber stellt, sondern doch zu dem gelangt, was man als positive Freiheit fasst, als gebildete Möglichkeit, sich im Kontext universaler Prinzipien seiner selbst und seiner eigenen Lebenszusammenhänge zu versichern und sie zu gestalten? Ein Anfang dieser Bildung zur positiven Freiheit liegt in dem, was die jüngere Evolutionsbiologie zunächst und zuerst als elementaren Altruismus begreift. Kinder legen diesen als Residuum genetischer Ausstattung an den Tag, wenn sie ihre primären, selbstgesteuerten Erfahrungen mit Erwachsenen machen. Sie helfen anderen Menschen, sie begreifen intuitiv deren Intentionen und gehen spontan Kooperationsbeziehungen mit diesen ein. 36 Kinder realisieren diesen menschlichen Grundmechanismus, wenn sie Erfahrungen mit Erwachsenen machen, die sich unbedingt um ihren Nachwuchs sorgen; wenigstens in den ersten Jahren muss die Logik der Sorge als eine unverstellte und unvermittelte Bereitschaft zur Zuwendung eingehalten werden. Einiges deutet auf ein primordial gegebenes Dialogisches hin, auf eine face-to-face-Kommunikation, die durch Weltverweise erweitert wird, welche auf diffuse Zeigeaktivitäten der Kinder selbst Bezug nehmen. Kleine Kinder lenken die Aufmerksamkeit Erwachsener auf die gegenständliche Welt, sodass ein geteilter Horizont mit für die Beteiligten eingeschlossenen Wirklichkeiten entsteht sowie eine erste Selbstreferenz für das Kind möglich wird. Es zeigt auf die Welt, versichert sich des Erwachsenen in der geteilten Welt und positioniert sich selbst in diesen nun als sozial konstituierten Zusammenhang. In diesem entsteht eine gemeinsame Sprache, mit der sich die Beteiligten über sich selbst verständigen und über die Welt aufklären. In seiner Komplexität bricht dieses Geschehen die sozialen und kulturellen Prozesse der perversen Freiheit und setzt einen Gegenpol; einiges weist nämlich darauf, dass so die Grundlage von Glück, von Wohlbefinden - für den Einzelnen dauerhaft entsteht. Das nun macht den - buchstäblich - radikalen Prozess der Menschwerdung, das macht Bildung aus, wie sie ein Antidot gegen die perverse Freiheit bietet und begründet, was heute als capabilities bezeichnet wird 37 und früher Bildsamkeit hieß. Hier liegt ein Anfang menschlicher Existenz, als 36 Tomasello, Michael: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Frankfurt am Main 2009. Ders.: Warum wir kooperieren. Berlin 2010. Sennett, Richard: Together. The Rituals, Pleasures and Politics of Cooperation. New Haven, London 2012. Winkler, Michael: Michael Tomasello über Kultur und Zeigesituationen - oder: noch etwas über die Ignoranz der Erziehungswissenschaft. In: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau 34/ 1 (2011), Heft 1, S. 5-14. 37 Nussbaum, Martha: Creating Capabilities. The Human Development Approach. Cambridge Mass., London 2011. <?page no="241"?> Die Unfreiheit der Freiheit 241 Subjekt solidarisch und seiner selbst vergewissert; die Quelle des Selbst, die weder in der Restrukturierung des Kapitalismus noch in der Flüchtigkeit der Welt versiegt. Freilich: selbstverständlich steht diese Quelle nicht zur Verfügung, sie sprudelt nur, wenn und sofern es Kinder gibt. Wer auf diese verzichtet, könnte gute Gründe haben. 38 Ohne Kinder aber bleibt ein Widerstand gegen die perverse Freiheit unmöglich, weil dann nämlich der Grund für die elementare Sorge angesichts des sich bildenden Anderen verloren geht. Sie könnte aber der Archetypus aller Substanz von positiver Freiheit sein. Um diesen elementaren Zusammenhang der Sorge muss man wohl kämpfen. Das ist auferlegt, wollen wir nicht Opfer der Zerstörung werden, die mit dem Zwang zur Freiheit heute einhergeht. Der Kampf kann gewonnen werden. 38 Hondrich, Karl-Otto: Weniger sind mehr. Frankfurt, New York 2007. <?page no="243"?> Können die Geisteswissenschaften den Neo-Liberalismus überstehen? Raymond Geuss Wieso ein Vortrag über die Überlebensmöglichkeiten der Geisteswissenschaften im Zeitalter des Neo-Liberalismus auf einer Tagung über Bildung in der Moderne im Anschluss an Hegel? Werden dabei nicht schon in dieser Zusammenstellung von Vortragstitel und Tagungsthema stillschweigend Voraussetzungen gemacht, die eher in Frage zu stellen wären? Etwa dass „Bildung“ als Aneignung von Wissensbeständen oder als Teilnahme an wissenschaftlichen Forschungsprozessen verstanden werden muss oder verstanden werden sollte? Liegt nicht schon eine Verformung der Fragestellung darin, dass überhaupt von den „Geisteswissenschaften“ gesprochen wird, wo doch der Begriff „Geisteswissenschaft“ - ähnlich wie der moderne Begriff der „Kultur“ - bei Hegel selbst merkwürdigerweise gar nicht vorkommt und es vielleicht gar nicht klar ist, wie er systematisch zu dieser Begriffsbildung gestanden hätte, wenn er dazu gezwungen wäre, zu ihr explizit Stellung zu nehmen. 1 Bezeichnet das Wort „Neo-Liberalismus“ eine mögliche konkrete Gesellschaftsform unter anderen, eine Art der Theoriebildung in den Wirtschaftswissenschaften oder ein spezifisches politisches Programm? Setzt man voraus, dass der „Neo-Liberalismus“, in welchem Sinne auch immer, zu Recht als konstitutiver Bestandteil unserer Moderne anerkannt werden muss und nicht etwa als bloßer Zufall, als Perversion oder idiosynkratische Abweichung einiger angelsächsischer Länder oder Regierungen? 1 Geuss, Raymond: Kultur, Bildung, Geist. In: Morality, culture, history. Hg. v. Raymond Geuss. Cambridge 1999, S. 29-50. <?page no="244"?> 244 Raymond Geuss Dass einige der oben angeführten Einwände eine mehr als nur scheinbare und vorläufige Berechtigung haben, muss wohl zugegeben werden, zumal in Sachen des „Anschlusses an Hegel“. Der „Anschluss“ an Hegel wird sich als locker, aber nichtsdestoweniger als sachlich begründet erweisen. Da eine von der Hegelschen abweichende Begrifflichkeit hier verwendet werden wird, lohnt es sich vielleicht, einer alten philosophischen Tradition zu folgen und mit einigen Begriffsklärungen anzufangen. Die Geisteswissenschaften, so wie wir sie kennen, umfassen die Literatur- und Sprachwissenschaften, die Musikwissenschaft, die Kunst- und Kulturgeschichte, die Philosophie, die historische und vergleichende Religionswissenschaft und möglicherweise auch bestimmte Zweige der Ethnologie, der Archäologie, und der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften. Also entsprechen sie in etwa dem, was Hegel die Formen des absoluten Geistes nannte. Über die gesellschaftliche Verortung einer der allerwichtigsten Formen des absoluten Geistes in der Moderne - der Philosophie - spricht sich Hegel in der „Vorrede“ zu seinen Grundlinien zur Philosophie des Rechts sehr deutlich aus: bei uns [...] [wird die Philosophie] nicht wie etwa bei den Griechen, als eine private Kunst exerziert [...], sondern sie [hat] eine öffentliche das Publikum berührende Existenz, vornehmlich oder allein im Staatsdienste [...]. Wenn die Regierungen ihren diesem Fache gewidmeten Gelehrten das Zutrauen bewiesen haben, sich für die Ausbildung und den Gehalt der Philosophie auf sie gänzlich zu verlassen […] so ist ihnen vielfältig jenes Zutrauen schlecht vergolten worden [...] [Dagegen wäre nichts einzuwenden] wenn nicht der Staat noch das Bedürfnis tieferer Bildung und Einsicht in sich schlösse und die Befriedigung desselben von der Wissenschaft forderte. 2 Hier ist zunächst einmal anzumerken, dass Hegel in dieser Passage mit einer relativ einfachen, begrifflich unterbestimmten, Unterscheidung zwischen „privat“ und „öffentlich“ operiert. Nun wird man sich daran erinnern, dass am Ursprung der westlichen Philosophie der Streit zwischen den Sophisten und Sokrates stand. Beide Seiten, sowohl Sokrates als auch die Sophisten, haben die Philosophie als „private Kunst“ betrieben, aber mit dem, zumindest für Platon und die nachfolgende Philosophie wesentlichen Unterschied, dass die Sophisten Geld für ihren Unterricht verlangt haben, während Sokrates sich viel darauf zugutegehalten hat, immer vollkommen unentgeltlich und darüber hinaus auch mit jedermann zu philosophieren. 3 2 Hegel, G.W.F.: Werke. Bd. 7. Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1970, S. 21. 3 Vgl. Platon: Apologie des Sokrates, 19b-23c und Protagoras, 310c ff. <?page no="245"?> Können die Geisteswissenschaften den Neo-Liberalismus überstehen? 245 Es gibt also verschiedene Weisen des Philosophierens. Ungezwungene Gespräche, die sich außerhalb des Geldnexus abspielen, sind etwas ganz anderes als bezahlte Lehrtätigkeit und erst recht etwas anderes als Veranstaltungen an Institutionen, die auf Profitmaximierung angelegt sind. Dazu kommt noch, dass Hegel die „öffentliche Existenz“ sofort mit den Bedürfnissen des Staates, bzw. der Regierungen in Verbindung setzt. In der Vergangenheit haben auch Instanzen, die weder „privat“ noch in vollem Sinne „staatlich“ waren, beispielsweise die katholische Kirche, eine sehr wichtige Rolle in der Pflege der Vorgängerdisziplinen der Geisteswissenschaften gespielt und auch heute noch gibt es in recht vielen Ländern religiös orientierte Universitäten. Die katholische Kirche versteht sich sicherlich nicht als ein privater Verband, ist aber in den meisten Ländern auch nicht unmittelbar Teil des Staatsapparates. Es läge auch nahe zu vermuten, dass die Blüte der Philosophie als privater Kunst in der Antike, trotz der Existenz einzelner Sklavenphilosophen wie Epiktet, von der Sklaverei als Wirtschaftssystem abhing. Setzt doch bekanntlich die Philosophie eine Muße voraus, die in vorindustriellen Gesellschaften entweder nur im Ausnahmefall oder bei den Angehörigen privilegierter Stände - also bei Sklavenhaltern, Adligen oder Klerikern - anzutreffen war. Eine relativ kurze Zeit hat sich Philosophie zwar in den Übergangsgesellschaften der Frühmoderne, etwa im 17. und 18. Jahrundert als nicht-institutionalisierte freiberufliche Nebentätigkeit halten können. So war beispielsweise Hobbes sozusagen „hauptberuflich“ Hauslehrer, Reisebegleiter und Gesellschafter eines jungen Adligen, Spinoza Facharbeiter, der bekanntlich einen Ruf an die Heidelberger Universität ablehnte, Leibniz Diplomat und Bibliothekar. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts verändern sich die Arbeitsbedingungen der Philosophen allerdings vollständig. „Philosophie“ wird wieder ein Beruf, der seinen Mann ernähren kann, sofern nämlich der Philosoph Universitätsdozent wird. Diese Entwicklung ist für die gerade im Entstehen befindlichen Geisteswissenschaften exemplarisch. In der modernen Welt sind die Geisteswissenschaften akademische Disziplinen, die sich eine Existenz im Universitätsbereich aufgebaut haben. Freilich gab es auch Vorgänger der modernen Geisteswissenschaften: in erster Linie wohl die seit der Antike bekannte, reflektierte Pflege des schönen Wortes (Rhetorik) und dann auch die gelegentlich vorfindlichen abstrakt gehaltenen Diskurse über Geschichtsschreibung. Hierher gehören wohl auch die vielen seit der Renaissance entstandenenen theoretisch angeleiteten Überlegungen zur musikalischen Praxis bzw. die sich an Sammler und Liebhaber richtenden Studien moderner und antiker Werke der Architektur und der bildenden Künste. Allerdings unterscheiden sich diese <?page no="246"?> 246 Raymond Geuss früheren Bestrebungen von den modernen Geisteswissenschaften durch das Vorherrschen ästhetischer und praktischer Gesichtspunkte und wohl auch durch einen gewissen Mangel an historischem Sinn. Moderne Geisteswissenschaften orientieren sich faktisch an den Naturwissenschaften - auch und gerade wenn sie sich auf ihre methodische Eigenart berufen. Schließlich beziehen die Geisteswissenschaften heutzutage den größten Teil des ihnen verbleibenden öffentlichen Ansehens an den Universitäten aus ihrer vermeintlichen Nachbarschaft mit den Naturwissenschaften. Die Autorität der Feinmechanik, der Kernforschung und der Computerwissenschaften überträgt sich in sehr verdünnter Form auf die schwachen Schwesterdisziplinen. Hegel spielt in dieser Geschichte der Verwissenschaftlichung des Geistes keine große, oder zumindest keine direkte Rolle. Spricht er auch in der oben zitierten Passage von Bildung und Einsicht, die von der Wissenschaft befriedigt werden, so ist die in Frage kommende „Wissenschaft“ selbstverständlich die (hegelsche) Philosophie. Dass sich die Geisteswissenschaften an den Naturwissenschaften orientieren, heißt unter anderem, dass sie sich Mühe geben, wie die Naturwissenschaften, als Forschungsdisziplinen aufzutreten. „Forschung“ in diesem Sinne wird verstanden als ein abstrakter, langfristig angelegter Prozess, der Betriebscharakter hat, d.h. der sich in eine Reihe einzelner Schritte analysieren lässt an dessen Ende, wenn der Prozess erfolgreich abgelaufen ist, „Forschungsergebnisse“ stehen, die sich im Prinzip abkoppeln und veröffentlichen lassen. Ein Forschungsergebnis ist isolierbar. Im Prinzip soll sich aber der einzelne Forschungsprozess und dessen Ergebnis auch in ein größeres Ganzes der Wissenschaft integrieren lassen, als Beiträge zu der kumulativen Weiterentwicklung eines Wissenszweiges. Es erübrigt sich an dieser Stelle lange auf die Unterschiede zwischen diesem Modell und gängigen Vorstellungen der humanistischen Bildung hinzuweisen. Im traditionellen Bildungsideal sollte es nämlich nicht um die Behandlung isolierbarer Inhalte gehen, sondern um die Verinnerlichung gewisser Wahrnehmungs-, Empfindungs-, und Reaktionsmöglichkeiten. Die Verinnerlichung erfolgt durch angestrengtes Sichversenken in die Betrachtung mustergültiger Werke, Interpretations- und Nachahmungsübungen und anhaltendes Nachdenken. Auf diese Weise soll der Mensch die Fähigkeit erwerben, einen freieren Umgang mit sich selbst, mit seiner Vergangenheit und Umwelt und mit seinesgleichen zu pflegen. Erfolgreiche Forschungsprozesse liefern am Ende Informationen, die sich instrumentell verwerten lassen; Ziel der Bildung hingegen ist eine Veränderung des Menschen selbst. <?page no="247"?> Können die Geisteswissenschaften den Neo-Liberalismus überstehen? 247 Nicht zu übersehen ist auch der spezifische Unterschied zu traditionell geprägten Auffassungen der Philosophie, die weder mit dem Begriff eines Wissensbetriebs noch mit dem der Kumulativität von Ergebnissen viel anfangen können. In der Antike war die Philosophie schließlich mit der Wahl einer ganz besonderen „philosophischen Lebensweise“ auf das engste verbunden 4 und noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts finden sich derartige Spuren. Diese Auffassung tritt etwa in Form der Erwartung auf, dass der Philosoph Lebensrat geben kann. Ganz krass tat sich dem jungen Adorno in den 40er Jahren der Abgrund zwischen dem Ethos der modernen Geistes- und Sozialwissenschaften und der traditionellen Einstellung der Philosophen auf. Adorno, der bekanntlich später behauptete, Philosophie lasse sich nicht referieren, 5 erzählte von seinen Erfahrungen als Wissenschaftler im Programm „Radio Research“ an einem soziologischen Institut in Princeton. Als der Direktor des Instituts ihn eines Tages nach seinen „Ergebnissen“ fragte, soll Adorno bemerkt haben, er denke über das Verhältnis von Technik und Ästhetik nach. Darauf rief ihn der Direktor zur Ordnung mit dem Satz: „Sie sind nicht da, um nachzudenken, sondern um Forschung zu betreiben.“ Die moderne Universität ist der institutionelle Rahmen innerhalb dessen die Geisteswissenschaften gedeihen und ohne den sie eingehen würden. Seit Humboldts Zeiten spricht man von Lehre und Forschung als den Zielen der Universitäten. Aber mir scheint die Erweiterung um ein weiteres Ziel, nämlich die Öffentlichkeitsarbeit, für die zeitgenössische Universität angemessen oder gar unerlässlich. Man sollte von einer dreifachen Zielsetzung sprechen: a) Lehre b) Forschung c) Öffentlichkeitsarbeit Forschung und Lehre als wesentliche Funktionen der Universitäten dürften unumstritten sein. Dabei zerfällt die Lehre an modernen Universitäten zunehmend in zwei Teile, die zumindest in den geisteswissenschaftlichen Fakultäten nicht immer klar auseinandergehalten werden, nämlich in die gezielte Ausbildung von Nachwuchsforschern auf verschiedenen Sondergebieten einerseits und einer Dienstleistungslehrtätigkeit andererseits, die sich dazu eignet, akademisch Qualifizierte für ganz verschiedene Berufe auszubilden. Die dritte Funktion, nämlich die Öffentlichkeitsarbeit, besteht nicht nur in der Bearbeitung bestimmter Forschungsergebnisse für eine 4 Hadot, Pierre: La philosophie comme manière de vivre. Paris 2002. 5 Adorno, Theodor: Negative Dialektik. Frankfurt a. M. 1966, S. 42. <?page no="248"?> 248 Raymond Geuss breite Öffentlichkeit, sondern auch in dem Versuch einen Diskussionsrahmen bereitzustellen, in dem allgemeine politische, gesellschaftliche, ökonomische und lebensanschauliche Fragen öffentlich diskutiert werden können. Wenn man „Bildung“ und „Kultur“ als zwei Begriffe versteht, die zwar immer aufeinander angewiesen sind, sich aber trotzdem perspektivisch voneinander unterscheiden, indem sich „Bildung“ auf die entwickelten und zu entwickelnden Kräfte und Eigenschaften menschlicher Individuen bezieht, während „Kultur“ eher gewisse gesellschaftliche Zustände als kollektive Leistungen bezeichnet, werden die Universitäten von der Hoffnung getragen, sowohl zur Bildung der Individuen, wie im Humboldtschen Universitätsmodell, beizutragen, als auch die „öffentliche Kultur“ positiv zu beeinflussen. Ob diese Hoffnung begründet ist, hängt natürlich nicht ausschließlich von den Universitäten und den an ihnen vertretenen Geisteswissenschaften selbst ab. In welchem größeren gesellschaftlichen Zusammenhang stehen aber heutzutage die Universitäten? Damit komme ich zum zweiten großen Begriffskomplex, dem Neo-Liberalismus. Der Neo-Liberalismus ist in erster Linie eine Gesellschaftslehre, in deren Mitte der Begriff eines „freien Marktes“ steht. 6 Diese Lehre lässt sich in den folgenden Thesen zusammenfassen: 1) Das gute Leben ist wesentlich immer das Leben eines Einzelmenschen. 2) Das gute Leben eines Einzelnen ist durch drei Haupteigenschaften charakterisiert: Wohlstand, Interessenbefriedigung und Freiheit. 3) Wohlstand besteht in dem Besitz von Gütern und dem Zugang zu Dienstleistungen. 4) Jeder Einzelmensch ist selbst die letzte Instanz, wenn es darum geht, festzustellen, was er will, was für ihn gut ist, und was in seinem Interesse liegt; kein anderer Mensch und erst recht keine Institution darf hier reinreden. 5) Freiheit ist definiert durch die Existenz des freien Marktes. 6 Kanonische Texte des Neo-Liberalismus sind Friedman, Milton: Freedom and Capitalism. Chicago 1962; Becker, Gary: The economic approach to human behaviour. Chicago 1976; auch Becker, Gary und Stigler, George: De gustibus non est disputandum. In: The American Economic Review (1977), S. 76-90. Eine gute Einführung gibt Harvey, David: A brief history of neoliberalism. Oxford 2007. <?page no="249"?> Können die Geisteswissenschaften den Neo-Liberalismus überstehen? 249 6) Der „freie“ Markt ist in einem zweifachen Sinne „frei“; erstens ist er nichts als ein Geflecht von freiwilligen Einzeltauschhandlungen und Verträgen zwischen tauschwilligen menschlichen Individuen oder Firmen, zweitens wird er nicht „von außen“ reguliert, wobei hier in erster Linie staatliche Kontrolle oder Überwachung durch politische Instanzen gemeint ist. Der Staat darf und muss zwar dafür sorgen, dass Einzelne oder Gruppen den Tauschvorgang nicht behindern und dass Verträge eingehalten werden. Sonst hat er auf dem Markt aber absolut nichts zu suchen. 7) Der freie Markt a. ist maximal effizient (also vernünftig) in der Verteilung von Ressourcen und Gütern, b. befindet sich normalerweise in einem Gleichgewichtszustand und reguliert sich selbst, d.h. es können zwar gelegentlich, aus welchen Gründen auch immer, Stockungen in den Tauschvorgängen auftreten, aber der Markt selbst wird immer „von sich aus“ die notwendigen Korrekturen vornehmen, um die Stockungen zu beseitigen, c. maximalisiert den gesellschaftlichen Wohlstand, die Möglichkeiten der individuellen Interessenbefriedigung und die gesellschaftliche Freiheit, als individuelle Konsumfreiheit des Bürgers und wirtschaftliche Freiheit des Einzelunternehmers. Viele Aspekte der soeben angeführten Thesen sind von vornherein recht wenig überzeugend. So kann man sich beispielsweise fragen, ob man so ohne Weiteres und ohne jedes Argument voraussetzen darf, dass maximale Wahlfreiheit, maximale Interessenbefriedigung und maximaler Wohlstand sich immer gegenseitig bedingen. Dass jeder am besten wissen soll, was für ihn gut ist, scheint der Alltagserfahrung eindeutig zu widersprechen. Auch in meinem eigenen Fall bin ich mir sehr klar bewusst, dass ich in der Vergangenheit schwere Fehler in der Beurteilung meiner eigenen Interessen gemacht habe und dass andere (Ärzte, Freunde, einfühlsame Beobachter mit guten Menschenkenntnissen usw.) oft viel besser wussten, was für mich gut gewesen wäre. Auch ist der für den Neo-Liberalismus geradezu konstitutive Satz „In der Beurteilung seiner eigenen Interessen ist jeder Einzelmensch sich selbst die letzte Instanz“ höchst mehrdeutig. So kann er beispielsweise heißen: (A) „Jedes Urteil, das ich über meine eigenen Interessen fälle, ist unfehlbar“. <?page no="250"?> 250 Raymond Geuss Der Satz ist in dieser Lesart offensichtlich so vollkommen unplausibel, dass es sich gar nicht lohnt, diese Version weiter zu diskutieren. Es gibt aber mindestens zwei weitere Lesarten, nämlich (B) „Jedes Urteil, das ein Einzelmensch über seine eigenen Interessen fällt, ist unantastbar, d.h. kein solches Urteil darf [oder sollte? ] in der Politik oder von den Wirtschaftswissenschaften in Frage gestellt werden“ und (C) „Jeder Einzelmensch ist in der Lage zu lernen, was in seinem eigenen Interesse liegt und wozu er am Ende eines Lernprozesses steht.“ Wenn aber meine Urteile über meine eigenen Interessen fehlbar sind (A), warum sollten sie niemals in Frage gestellt werden dürfen (B)? Was Lesart (C) angeht, beinhaltet sie erst dann eine politisch und wissenschaftlich brauchbare Aussage, wenn geklärt wird, was genau unter einem „Lernprozess“ bzw. was unter „‚jemand ist‘ in der Lage zu lernen“ zu verstehen ist. Variante (C) ist sicherlich darauf angelegt, mindestens das, was man „rein informative oder rein instrumentelle Aufklärungsprozesse“ nennen könnte, zu berücksichtigen. So könnte ich beispielsweise rauchen und gern übermäßig trinken und dann meinen, es wäre für mich besser, wenn Tabak und Alkohol gar nicht besteuert würden. Ein Außenstehender, etwa ein Politiker, kann sich allerdings über diese meine Meinung hinwegsetzen, weil er seinerseits voraussetzt, dass ausreichende und überzeugend vorgelegte Informationen über die Folgen des Rauchens und des übermäßigen Alkoholgenusses mich gegebenenfalls dazu bringen würden, einzusehen, dass das Rauchen für niemanden, auch für mich nicht, gut ist, und dass die Besteuerung von Tabakwaren in meinem Interesse läge. Es gibt allerdings auch Lern- und Aufklärungsprozesse, die über die Bereitstellung von brauchbaren Informationen hinausgehen. Schließlich beschreiben die Bildungsromane des 19. und 20. Jahrhunderts, etwa Der Grüne Heinrich, Wilhelm Meister, L’éducation sentimentale, A Portrait of the artist as a young man, Voyage au bout de la nuit und andere, auch Entwicklungsvorgänge, die sich aber nicht auf Prozesse der bloßen Urteilsrevision reduzieren lassen, sondern auch Änderungen in der ganzen Lebensart einschließen. Die jeweiligen Zentralfiguren in diesen Romanen sind am Anfang „nicht in der Lage“ ihre Wahrnehmungen und Erfahrungen produktiv zu verarbeiten. Der Held muss im Laufe der Erzählung „ein anderer“ werden, damit er überhaupt befähigt wird, aus dem, was er sieht und hört, zu lernen. Das beste Beispiel ist hier wohl keine Romangestalt, sondern Wagners Parsifal. Dieser steht zu Beginn als „reiner Tor“ da, der nicht einmal richtige Fragen zu den merkwürdigen Ereignissen stellen kann, die sich um ihn her abspie- <?page no="251"?> Können die Geisteswissenschaften den Neo-Liberalismus überstehen? 251 len. So fragt er „Wer ist der Gral? “ und muss sich von Gurnemanz belehren lassen: „Das sagt sich nicht“. 7 Es müsse vielmehr heißen: „Was ist der Gral? “ Hat ein „unschuldiger“ Knabe ein „Interesse“ an der menschlichen Sexualität? Ist er, solange er „unschuldig“ ist, auch nur in der Lage, etwas über den wahren Zustand der Gralsritter zu lernen? Kundrys Kuss lässt sich schließlich nicht angemessen und vollständig als Informationsübertragung auffassen. Wenn es aber Lernprozesse gibt, die notwendigerweise mit einer Verwandlung der ganzen Wahrnehmungs-, Empfindungs- und Lebensweise einhergehen, dann empfiehlt sich eine vierte Variante der Aussage über den Einzelmenschen als letzte Instanz der Interessenbeurteilung: (D) Jeden Einzelmenschen in der Gesellschaft sollte man so behandeln, als wäre er im Prinzip in der Lage, sich zu verändern und zwar sich in jemanden zu verwandeln, der aufgeklärte Interessen hat und diese richtig erkennt und beurteilt. Die Geisteswissenschaften, sofern sie dem Bildungsideal verpflichtet bleiben und nicht dem Irrlicht einer reinen Wissenschaftlichkeit nach dem Modell der Naturforschung hinterherjagen, sind darauf angelegt, die Menschen zu verändern. Ein ausgebildeter Musiker hat andere Wahrnehmungen, andere Erfahrungsmöglichkeiten und wohl auch andere Interessen als der Nicht-Musiker. So heißt es etwa schon beim jungen Marx: [Nur unter gewissen Gesellschaftsbedingungen] wird ein musikalisches Ohr, ein Auge für die Schönheit der Form, kurz, werden erst menschlicher Genüsse und fähige Sinne, Sinne welche als menschliche Wesenkräfte sich bestätigen, teils erst ausgebildet, teils erst erzeugt. [...] Die Bildung der 5 Sinne ist eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte. Der unter dem rohen praktischen Bedürfnis befangene Sinn hat auch nur einen bornierten Sinn. Für den ausgehungerten Menschen existiert nicht die menschliche Form der Speise, sondern nur ihr abstraktes Dasein als Speise; ebenso gut könnte sie in rohster Form vorliegen, und es ist nicht zu sagen, wodurch sich diese Nahrungstätigkeit von der tierischen Nahrungstätigkeit unterscheide. Der sorgenvolle, bedürftige Mensch hat keinen Sinn für das schönste Schauspiel; der Mineralienkrämer sieht nur den merkantilen Wert, aber nicht die Schönheit und eigentümliche Natur des Minerals; er hat keinen mineralogischen Sinn. 8 Man könnte natürlich auch sagen, „der sorgenvolle, bedürftige Mensch hat kein Interesse an dem schönsten Schauspiel, der ausgehungerte Mensch 7 Erster Aufzug. 8 Marx, Karl: MEW Erg. 1. Hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin Ost 1968, S. 541. <?page no="252"?> 252 Raymond Geuss kein Interesse an den Feinheiten der Kochkunst, der unmusikalische Mensch kein Interesse an der Musik.“ Die Naturwissenschaften erlauben uns komplexe Kristallstrukturen abzubilden und mit ihnen umzugehen; die Geisteswissenschaften sollen „den mineralogischen Sinn“ wecken und pflegen helfen - durch die Auslösung von Bildungsprozessen, in denen wir uns erstmalig in Menschen verwandeln, die ein Interesse an „der Schönheit und der eigentümlichen Natur“ des Minerals nehmen. Man sieht hier inwiefern den Geisteswissenschaften eine besondere, starke Ausrichtung auf Philosophie innewohnt, geht es in ihnen doch letzten Endes immer um die Fragen: „Wofür sollten wir uns überhaupt interessieren? Was sind unsere wahren Interessen? Was sollten wir schätzen, achten, loben, zu verwirklichen trachten und pflegen (bzw. verachten, tadeln und vermeiden) und warum? “ Vertreter des „klassischen“ Liberalismus im 19. Jahrhundert waren sich der Vertracktheiten der 4. These (siehe oben) deutlich bewusst und haben, freilich ohne großen Erfolg, versucht, ein Diskussionsniveau zu erreichen, auf dem die Probleme, die entstehen, wenn man die vierte These ernstnimmt, zumindest sichtbar bleiben würden. 9 Auf eine sachliche Diskussion dieser ganzen Problematik will sich der Neo-Liberalismus, wie wir ihn am Anfang des 21. Jahrhunderts wahrnehmen, überhaupt nicht mehr einlassen, sondern er begnügt sich damit, Lesart (A) oder allenfalls (B) allein gelten zu lassen. Diese theoretische Entscheidung wird durch einen vagen Hinweis auf das angebliche Prinzip des „Anti-Paternalismus“ gerechtfertigt, aber da der Anti-Paternalismus darin besteht, nur Lesart (A) oder (B) zuzulassen, läuft diese Rechtfertigungstrategie leer. Auch auf theoretisch relativ naive aber praktisch wichtige Fragen kann der Neo-Liberalismus also keine Antworten geben. Für einen an Hegel geschulten Philosophen ist es darüber hinaus ein Einfaches, im Neo-Liberalismus eine ganz primitive Selbstbeschreibung der „bürgerlichen Gesellschaft“ zu erkennen, um so auf die Mangelhaftigkeit der von den Neo-Liberalen gepredigten „Freiheit“ hinzuweisen. Der Neo- Liberalismus ist einer verarmten und abstrakten Vorstellung der „Freiheit“ verpflichtet. Er kennt weder Sittlichkeit noch Bildung, sondern sittliche Verhältnisse werden einfach vorausgesetzt als kostenlose Ressourcen, die ein gescheiter Unternehmer versuchen wird möglichst für sich in Anspruch zu nehmen, ohne für sie selbst aufzukommen. Mit der Freiheit des Neo- Liberalismus, auch mit der als „freie Wahl“ definierten Konsumfreiheit, ist 9 Mill, John Stuart: ‚On Liberty’ and other writings. Hg. v. S. Collini. Cambridge 1989, Kapitel 2 “Utilitarianism”. <?page no="253"?> Können die Geisteswissenschaften den Neo-Liberalismus überstehen? 253 es auch nicht weit her, denn meine freie Wahl als Bürger/ Konsument wird nur maximalisiert, sofern von vornherein dieser Freiheit sehr enge Grenzen gesetzt sind. Ich habe allenfalls die freie Wahl zwischen den verschiedenen einzelnen Konsumgütern, die sich im Augenblick auf rentable Weise produzieren lassen. Ich kann also die eine Sorte Seife kaufen oder eine andere, oder wieder eine dritte, aber wenn sich meine „freie Wahl“ nicht hauptsächlich auf derartige Konsumgüter bezieht, sondern auf allgemeine Gesellschaftszustände, kann mir der Neo-Liberale nicht dienen. Sichere Arbeitsplätze, reklamefreie Straßen oder beispielsweise die Möglichkeit, interessante offene Diskussionen mit Andersdenkenden zu führen, eine Möglichkeit, die die Existenz eines allen zugänglichen öffentlichen Bildungssystems voraussetzt, stehen nicht auf der Angebotsliste. Vertreter des Neo- Liberalismus werfen „rationalistisch“ eingestellten Theoretikern oft eine verderbliche Verwechselung der Freiheit mit der Vernunft vor. 10 Wenn „Freiheit“ nämlich von „Rationalisten“ als das Vermögen verstanden wird, den Geboten der Vernunft gemäß zu handeln, so ist die Möglichkeit gegeben, tatsächliche Beschränkungen der individuellen Freiheit des Einzelnen als Bedingungen der Freiheit darzustellen. Für den Neo-Liberalen ist eine derartige Argumentationsstrategie vollkommen verkehrt. Von den Rationalisten werde die Freiheit in ihrer „eigentlichen“ Bedeutung als willkürliche Wahlfreiheit des Einzelnen gar nicht erst wahrgenommen, sondern Freiheit wird schon von vornherein auf etwas anderes hin, nämlich auf die Vernunft, zurechtgelegt und beschnitten. Allerdings hat die neo-liberale Argumentation genau die gleiche Struktur. Schließlich ist es eine Wesenseigenschaft des Menschengeschlechts, dass wir in der Lage sind, uns heute zu beherrschen, damit es uns übermorgen besser geht. Menschen und Gesellschaften, die bloß im Augenblick leben und nicht bereit sind, sich im Hinblick auf die Zukunft zu binden und zu beschränken, setzen sich besonderen Gefahren aus, die durch minimale Vorsicht zu vermeiden wären und verwehren sich selbst wichtige Entwicklungsmöglichkeiten. Politische Institutionen sind unter anderem auch Mechanismen, die es uns erlauben, durch kollektive Selbstbindung in der Gegenwart vorteilhafte längerfristige Ziele zu verfolgen. Der Neo-Liberalismus ist im Grunde die Theorie, die behauptet, wir müssten auf alle solche Mechanismen verzichten, um einzig den freien Markt gewähren zu lassen. Hier wird aber auch „Freiheit“ künstlich auf ein ihr fremdes Maß zurechtgebogen: Als Betätigung der Freiheit können auch demokratisch beschlossene politische Eingriffe in den freien 10 Berlin, Isaiah: Zwei Freiheitsbegriffe. In: Freiheit. Hg. v. Isaiah Berlin. Übers. v. Reinhard Kaiser. Frankfurt a. M. 1995, S. 197-256. <?page no="254"?> 254 Raymond Geuss Markt nicht gelten, weil „Freiheit“ rein stipulativ auf eine Art definiert wird, die derartige kollektive Entscheidungen nicht anerkennt. Angela Merkel spricht hier von der „marktkonformen Demokratie“. Wie uns die jüngste Geschichte unmissverständlich gelehrt hat, kann der Neo-Liberalismus weder wirtschaftliche Stabilität gewährleisten noch „Freiheit“ in irgendeinem interessanten Sinne. Und wenn minimale Stabilität zumindest ein wichtiges Element des menschlichen Wohlstandes ausmacht, muss der Neo-Liberale auch seinen Anspruch auf Maximierung des Wohlstandes aufgeben. Was den Anspruch auf besondere Vernünftigkeit angeht, wird er sowieso nur denjenigen eingeleuchtet haben, die die Beteiligung an Glücksspielen, bei denen die eigene Existenz (und die der ganzen Gesellschaft) auf dem Spiel steht, für „vernünftiger“ halten, als die Teilnahme an geordneten und bewährten Produktionsprozessen, die eine zwar langsame aber beständige Verbesserung der Lebensbedingungen in Aussicht stellen. Schließlich sind es auch die von den Theoretikern des Neo- Liberalismus verschrienen Staaten und Politiker, die in letzter Zeit wiederholt und massiv in die Wirtschaft eingegriffen haben, um sie vor der durch neo-liberale Maßnahmen ausgelösten Katastrophe zu retten. In diesem Sinne also muss man den Neo-Liberalismus als eine Denkform qualifizieren, die ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden kann, da sich die neo-liberale Wirtschaftsordnung in geradezu erschreckender Weise als nicht selbst-regulierend, sondern als selbstzerstörerisch erwiesen hat. Leider sieht man an der öffentlichen Reaktion auf das faktische Scheitern des Neo-Liberalismus in vielen Ländern, dass er in unseren Gesellschaften den Status einer klassischen Ideologie einnimmt. So oft er auch durch die Tatsachen widerlegt wird, immer richtet er sich wieder auf. Diese Immunität gegen empirische Widerlegung geht wohl zum Teil auf die natürliche Trägheit des menschlichen Geistes zurück, zum Teil aber auch darauf, dass hier sehr mächtige wirtschaftliche Interessen, etwa der Banken und großer Konzerne im Spiel sind und zum Teil auf das Fehlen einer artikulierten theoretischen Alternative. Da aber viele Menschen zumindest in einigen Ländern an der merkwürdigen gedanklichen Konstruktion der absoluten Marktfreiheit trotz ihrer offenkundigen Schädlichkeit festhalten, liegt es nahe zu vermuten, dass neo-liberales Gedankengut sehr starke nichtkognitive Wurzeln hat. Schließlich liefert die Vorstellung einer Chancengleichheit auf dem freien Markt einigen in dieser Gesellschaft sonst unerfüllbaren Bedürfnissen eine zeitweilige Scheinbefriedigung, auf die die Menschen nicht verzichten wollen, solange zumindest keine wirkliche Befriedigung in Aussicht steht. Die gegenwärtige Herrschaft der neo-liberalen Ideologie ist also <?page no="255"?> Können die Geisteswissenschaften den Neo-Liberalismus überstehen? 255 alles andere als ein Zufall, sondern die verständliche, wenn auch hypertrophische Form des extremen Individualismus, die als reine Abstraktion charakteristisch ist für moderne Gesellschaften, in denen die Individuen tatsächlich höchstgefährdet sind. Der neo-liberale Unternehmer ist, was seine gesellschaftliche Stellung angeht, ein Parasit. Damit ist kein moralisches Urteil über den Charakter eines Einzelunternehmers intendiert, sondern nur die Beschreibung eines sachlichen Funktionszusammenhangs. Ein guter Unternehmer ist nämlich jemand, der für seinen Betrieb den größten kurz- und mittelfristigen Gewinn aus jeder Situation herausschlagen kann. Unter diesen Bedingungen ist es nur „vernünftig“ dabei etwa entstehende Kosten zu „externalisieren“, d.h. an die Gesellschaft, sprich: an den Staat, zu übertragen. Er soll die Infrastruktur instand halten, die Arbeitskräfte ausbilden usw., damit sich die Betriebe selbst diese Kosten möglichst sparen können. So besteht meine Universität seit über 800 Jahren, und finanzierte sich während dieser ganzen Periode überwiegend von religiösen Stiftungen, adligen und königlichen Dotationen und erst neuerdings vom britischen Staat. Von neo-liberalen Unternehmern oder gar von Unternehmerverbänden zu erwarten, sie würden sich plötzlich auf eine entsprechende langfristige Finanzierung einlassen, zumal gar nicht klar ist, inwiefern die entsprechenden Ausgaben dem eigenen Betrieb, und nicht etwa Konkurrenten, zugutekommen werden, ist illusorisch. Ohne Universitäten aber keine Geisteswissenschaften. Genauso freilich wie es Vorgänger der Geisteswissenschaften gab, etwa die Rhetorik, könnte es auch Nachfolger geben, geisteswissenschaftsähnliche Luxusgüter für reiche Leute, denn der Neo-Liberalismus kennt den Begriff eines Luxusgutes für finanzstarke Einzelkonsumenten. Die Verwandlung der Universitäten in Anstalten die einerseits wirtschaftlich sofort verwertbare Naturforschung betreiben und andererseits auch noch den Kindern reicher Leute einen gewissen geisteswissenschaftlich gefärbten letzten Schliff vor ihrem Eintritt in die große Welt geben, ist in etwa die Vorstellung, die der Universitätsreform der jetzigen konservativen Regierung in Großbritannien zugrunde liegt. Eine Zeit lang konnte man mit der Pflege der Geisteswissenschaften die Hoffnung auf eine allgemeine Verbesserung der Kulturbedingungen in unseren Gesellschaften verbinden. Fabriken für die Produktion von Luxusgütern sind kein Standort, von dem aus man sinnvollerweise erwarten könnte, diese Hoffnung einer Erfüllung näherzubringen. Die Berufung der Universitäten besteht vielmehr darin, einen Raum zu bilden, in dem freie Forschung, Lehre und Öffentlichkeitsarbeit möglich ist. Universitäten die dieser Berufung treu bleiben wollen, dürfen weder <?page no="256"?> 256 Raymond Geuss Privatinteressen noch dem jeweiligen Staate noch irgendwelchen religiösen Institutionen hörig sein. Wenn geisteswissenschaftliche Ausbildung zu einem Vorrecht der Wohlhabenden wird, hört sie auf, ein Reich der auch nur relativen Freiheit zu sein und verwandelt sich in eine zusätzliche Stütze der schon bestehenden Privilegien wirtschaftlich starker Gesellschaftsgruppen. Die Geisteswissenschaften sind in unseren Gesellschaften drei großen Gefahren ausgesetzt, erstens der übertriebenen und unangemessenen Verwissenschaftlichung, die den Bezug zur Bildung im alten Sinne stören kann, zweitens einer finanziellen Austrocknung durch die neo-liberale Universitätspolitik und drittens der ideologischen Verformung entweder durch inhaltliche Anpassung an die Interessen der geldgebenden Privatspender oder durch die Verwandlung der geisteswissenschaftlichen Ausbildung im Ganzen in ein bloßes Zeichen der Zugehörigkeit zu einer privilegierten Kaste. Die Hauptgefahren bilden im Augenblick die politischen Versuche, die Universitäten zu privatisieren, was in verschiedenen Ländern mit unterschiedlicher Intensität vorangetrieben wird. Es sieht manchmal fast so aus, als wollten die Vertreter des Neo-Liberalismus, die selbst irgendwie eingesehen haben müssen, dass sie die Weltwirtschaft nicht im Griff haben, sich schadlos halten, indem sie sich in einem kleinen Bereich austoben, in dem sie relativ wenig Widerstand erwarten und sich also einen leichten Erfolg versprechen können. Dass diese Gefahr der Privatisierung der Universitäten in Deutschland vorläufig gebannt ist, ist kein Grund zur übermäßigen Selbstzufriedenheit, denn die Privatisierung liegt in gewisser Weise in der Logik des Neo-Liberalismus selbst. So lange man also die Gesellschaft nicht so grundlegend verändert hat, dass der Neo-Liberalismus weder für richtige noch für vorgebliche schwäbische Hausfrauen eine Versuchung darstellt, muss man damit rechnen, dass die Privatisierung als Option in Krisenzeiten auftritt. Zwar könnte man einwenden, der Neo-Liberalismus sei so offensichtlich theoretisch mangelhaft, so evidenterweise gesellschaftlich schädlich und so eklatant unfähig, auch nur mittelfristig seine eigenen Versprechen einzuhalten, dass man gar nicht befürchten muss, er könnte sich längerfristig als politisches Programm durchsetzen. Wie dem aber auch sei, in der Zwischenzeit kann er uns nicht wieder gut zu machende Schäden zufügen. <?page no="257"?> Hoffnung und Elend der Epistokratie Andreas Braune I. Einleitung: Bildung, Moderne, Politik Epistokratie bedeutet Herrschaft der Wissenden bzw. der Gebildeten und steht damit in einem klärungsbedürftigen Spannungsverhältnis zu jener anderen Form der Herrschaft, der Demokratie. Bestimmt der erste Bestandteil der Herrschaftsformbezeichnungen die Grundgesamtheit der zur Herrschaft berechtigten, eröffnet sich hier ein möglicher Konflikt: Nicht alle sollen Herrschaft ausüben dürfen, sondern nur diejenigen, die ein bestimmtes Maß an Wissen oder Bildung mitbringen. Demokratie steht aus epistokratischer Perspektive stets unter Ochlokratieverdacht, deren Unzulänglichkeiten die Epistokratie zu beheben verspricht. Aus demokratischer Perspektive hingegen erweist sich das epistokratische Anliegen potentiell als aristokratisch und elitär. Es wäre an dieser Stelle ein Einfaches, auf die normative Kraft der Demokratie zu verweisen und epistokratische Anliegen in die Rumpelkammer des 19. Jahrhunderts zurückzustellen. Doch ganz so einfach ist es nicht, denn erstens werden zunehmend epistokratische Vorschläge diskutiert und zweitens werfen diese Diskussionen ein erhellendes Licht auf das Verständnis von Demokratie im Allgemeinen und auf die Herausforderungen der Demokratie in der Gegenwart im Besonderen. Epistokratie meint dabei ausdrücklich nicht dasselbe wie Expertokratie. Diese hat zwei wesentliche Dimensionen: Im Verhältnis zwischen politischem System und Gesamtgesellschaft meint Expertokratie erstens die Dominanz außerpolitischer Expertengremien und -gruppen auf den politi- <?page no="258"?> 258 Andreas Braune schen Willensbildungsprozess. Bestimmte Formen des Lobbyismus und vergleichbare Modi der Interessenvertretung durch Nichtregierungsorganisationen verleihen Experten einen privilegierten Zugang zu den politischen Entscheidern. Innerhalb des politischen Systems selbst meint Expertokratie zweitens vor allem die Gewichtsverlagerung politischen Entscheidens weg von gewählten repräsentativen Körperschaften mit Input-Legitimität hin zu exekutiven Gremien mit einem Fokus auf Output-Legitimität. Der schleichende Wechsel der Ausübung des Initiativrechts vom Parlament zur Ministerialbürokratie ist dann beispielsweise ein wesentliches Zeichen für eine ‚Expertokratisierung‘ des politischen Prozesses. Beide Phänomene sind in modernen, hochkomplexen Gesellschaften sicherlich nicht zu vermeiden, bilden jedoch aus demokratietheoretischer Perspektive ein hohes Problempotential. Gerade in Europa droht durch den Bedeutungsverlust nationaler Parlamente durch Supranationalisierung, die andauernde Schwäche des Europäischen Parlaments und die wachsende Bedeutung der nationalen und europäischen Exekutiven ein deutlicher Verlust demokratischer Legitimität zugunsten einer autoritären Expertokratie. Epistokratische Überlegungen zielen jedoch ausdrücklich nicht auf die hier durch Expertokratie beschriebenen Phänomene, sondern auf die Grundgesamtheit der am politischen Entscheidungsfindungsprozess Beteiligten. Epistokratie konzentriert sich daher auf die Input-Seite des politischen Prozesses und formuliert, wie im Folgenden genauer zu beleuchten sein wird, letztlich eine Kritik des allgemeinen und gleichen Wahlrechts in der Demokratie. In diesem Sinne ist das Aufkommen epistokratischer Überlegungen bezeichnend für die in diesem Band von Michael Winkler diagnostizierte Wiederkehr des 19. Jahrhunderts und vielleicht eine weitere Quelle der drohenden autoritären Umgestaltung der westlichen Demokratie. Wenngleich derzeit sicherlich nicht in gleichem Maße bedrohlich wie die Expertokratie, lohnt ein Blick auf Entstehungszusammenhang, Kernargumente und das Elend der Epistokratie. Interessanterweise fußen alle epistokratischen Überlegungen auf einem genuin modernen Verständnis von Politik und Bildung, welches auch heute noch die normative Grundlage eines modernen rechtsstaatlichen und demokratischen politischen Systems darstellt. Dieses Verständnis bringt Friedrich Schiller kurz nach Ausbruch der Französischen Revolution folgendermaßen auf den Punkt: Erwartungsvoll sind die Blicke des Philosophen wie des Weltmanns auf den politischen Schauplatz geheftet, wo jetzt, wie man glaubt, das große Schicksal der Menschheit verhandelt wird. […] Eine Frage, welche sonst nur durch das blinde Recht des Stärkeren beantwortet wurde, ist nun, wie es scheint, vor dem Richterstuhle reiner Vernunft an- <?page no="259"?> Hoffnung und Elend der Epistokratie 259 hängig geworden, und wer nur immer fähig ist, sich in das Centrum des Ganzen zu versetzen, und sein Individuum zur Gattung zu steigern, darf sich als einen Besitzer jenes Vernunftgerichts betrachten. […] Es ist also nicht bloß seine eigene Sache, die in diesem großen Rechtshandel zur Entscheidung kommt, es soll auch nach Gesetzen gesprochen werden, die er als vernünftiger Geist selbst zu diktiren fähig und berechtigt ist. 1 Drei Bestimmungen des Politischen sind in diesen wenigen Zeilen von entscheidender Bedeutung: 1) Kopplung des Politischen an die Vernunft: Die Französische Revolution revolutioniert das Verständnis des Politischen in der Moderne, indem sie das auf Gewalt gegründete Ancien Régime beseitigt und die Aufklärungsphilosophie zur Verwirklichung bringt (besser: zu bringen beansprucht). Nicht mehr das „blinde Recht des Stärkeren“ regiert die Sphäre des Politischen, es sind nicht mehr die Machtressourcen der Herrschenden und machiavellistisches Kräftespiel, die politische Entscheidungen begründen und durchsetzen, vielmehr muss sich politisches Entscheiden nunmehr „vor dem Richterstuhle reiner Vernunft“ rechtfertigen lassen. Ähnlich formulierte dies ein paar Jahre später auch Hegel: „Was jetzt gelten soll, gilt nicht mehr durch Gewalt, wenig durch Gewohnheit und Sitte, wohl aber durch Einsicht und Gründe.“ 2 In abgemilderter Form durchzieht die hiermit etablierte Scheidelinie zwei grundlegend verschiedene Verständnisse des Politischen bis zum heutigen Tag, etwa in der Unterscheidung macht- und dezisionsorientierter Konzeptionen des Politischen einerseits und des Verständnisses des Politischen als vernunftgeleiteter öffentlicher Diskurs andererseits. Gerade aus der genuin modernen Kopplung von Vernunft und Politik ziehen epistokratische Überlegungen ihre argumentative Stärke: Denn wer spräche sich schon dagegen aus, dass es in der Politik vernünftig zugehen soll? 2) Egalisierung und Epistokratisierung des Politischen: Dieses neue vernunftorientierte Verständnis des Politischen ist auf eine fundamentale Art und Weise an eine bildungsrelevante Voraussetzung gebunden, welche Schiller durch die konditionale Formulierung „wer nur immer fähig ist“ zum Ausdruck bringt. Denn das Politische als genuin Vernünftiges eröffnet sich nur dem, der „sein Individuum zur Gattung zu steigern“ fähig ist. Nur 1 Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Stuttgart 2000, (Original: 1793-1795), 2. Brief, S. 10. 2 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen, (= Werke in 20 Bänden, 7). Frankfurt am Main 1986, §316Z, S. 483. <?page no="260"?> 260 Andreas Braune wer zur Vernunft gebildet ist, kann an dem neuen Verständnis des Politischen teilhaben. Wie später bei Hegel setzt dies auch bei Schiller die Bildung von der partikularen Einzelheit zum Allgemeinen, zum Citoyen voraus. Der vernünftige Bürger muss „sich in das Centrum des Ganzen versetzen“ können unter partieller Abstraktion „von seiner eigenen Sache“. Diese Kopplung von Bildung und politischer Teilhabe ist gleichermaßen egalitär und demokratisch wie elitär und epistokratisch. Sie ist zunächst egalitär und demokratisch, weil der aufklärerischmodernen Anthropologie die tiefe Überzeugung innewohnt, dass jeder Mensch qua Mensch diese Vernunftbegabung in sich trägt. Das Politische ist hiermit erstmals offen für jedermann und realisiert die Möglichkeit politischer Gleichheit. 3 Die Kopplung von Bildung und politischer Teilhabe ist jedoch ebenso elitär und epistokratisch, weil sie die tatsächliche politische Teilhabe an die tatsächliche Ausbildung der ‚Vernunft‘ zu binden vermag. Die Unterscheidung zwischen Vernunftbegabung einerseits und Vernunftrealisierung durch Bildung andererseits lässt die Möglichkeit einer (vermeintlich? ) defizitären Verwirklichung der Vernunft bei einzelnen Individuen entstehen. Dies erlaubt in einer gegebenen Gesellschaft drei Zustände: Niemand ist gebildet (dann kann es auch keinen vernünftigen Staat geben), einige sind gebildet, oder alle sind gebildet. Alle historischen wie gegenwärtigen epistokratischen Überlegungen in der Moderne fußen auf der zweiten Möglichkeit. 3) Priorisierung der Bildung gegenüber dem Politischen: Der kleine und etwas unauffällige Einschub „wie man glaubt“ am Beginn des Zitats ist der Schlüssel zur gesamten weiteren Argumentation Schillers, aber auch zum Verständnis etwaiger späterer epistokratischer Überlegungen. Für Schiller trügt der Schein der historischen Stunde, die zu Unrecht alle Priorität dem Politischen zuschreibt: Denn das Gebäude des Vernunftstaates (d.h. des freiheitlichen Staates) zu errichten ohne die hierfür nötige Bildung des Citoyens ist vergebliche Mühe: Das Gebäude des Naturstaates [des Ancien Régime] wankt, seine mürben Fundamente weichen, und eine physische Möglichkeit scheint gegeben, das Gesetz auf den Thron zu stellen, den Menschen endlich als Selbstzweck zu ehren, und wahre Freyheit zur Grundlage der politischen Verbindung zu machen. Vergebliche Hoffnung! Die moralische Möglichkeit fehlt, und der freygebige Augenblick findet ein unempfängliches Geschlecht. 4 3 Wenn man die Vernunftbegabung auch Frauen zugesteht, was mancherorts noch ca. 100 Jahre und mehr dauert, erstreckt sich die Gleichheit auch auf jede Frau. 4 Schiller: Ästhetische Briefe (Anm. 1), 5. Brief, S. 18. <?page no="261"?> Hoffnung und Elend der Epistokratie 261 Die Bildung des Citoyens - bei Schiller auf dem Umweg ästhetischer Bildung - muss der Bildung des Staates vernünftiger Freiheit historisch vorausgehen. 5 Die Bildung hat für Schiller deutliche Priorität gegenüber dem Politischen. Der politische Schauplatz wird erst dann zu einem Ort vernünftigen und genuin modernen Entscheidens, wenn die hierfür nötige Bildung vorliegt. Oder in den Worten John Stuart Mills aus dem Jahr 1861: „Allgemeiner Unterricht muß dem allgemeinen Stimmrecht vorausgehen.“ 6 Dieser enge Zusammenhang von Bildung und Politik prägte im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts maßgeblich die Entwicklung des modernen Verfassungs- und Rechtsstaates in Europa. Die Geschichte seiner Demokratisierung ist gleichzeitig die Geschichte der Egalisierung der Bildungschancen und Bildungsverpflichtungen. Beiden Entwicklungen liegt das eben geschilderte Ideal der universellen Vernunftbegabung des Menschen zugrunde. Entlang historischer Konjunkturen und individueller Einstellungen mochten Zeitgenossen mal optimistisch seiner Verwirklichung entgegensehen, mal pessimistisch sein Verfehlen um den hohen Preis der ‚Kultur‘ und ‚Zivilisation‘ fürchten - immer bildete es jedoch einen wesentlichen Referenzpunkt für die Ausgestaltung politischer Institutionen. Die doppelte These meiner verbleibenden Ausführungen lautet daher erstens, dass epistokratisches Denken in Zeiten der Krise, in Zeiten der Ernüchterung und Enttäuschung über die mangelhafte Umsetzung des demokratisch-modernen Ideals an Attraktivität gewinnt (was sein Elend, wie zu zeigen sein wird, nicht mindert), und dass zweitens und entgegen dieses Lamentos der moderne Staat mit dem parlamentarischen Repräsentativsystem sehr gute Mechanismen geschaffen hat, auf gerechte und demokrati- 5 Vgl. ebd. 7. Brief, S. 29: „Der Staat, wie er jetzt beschaffen ist, hat das Uebel veranlaßt, und der Staat, wie ihn die Vernunft in der Idee sich aufgiebt, anstatt diese bessere Menschheit begründen zu können, müßte selbst erst darauf gegründet werden. […] Sind also die von mir aufgestellten Grundsätze richtig, und bestätigt die Erfahrung mein Gemählde der Gegenwart, so muß man jeden Versuch einer solchen Staatsveränderung solange für unzeitig […] erklären, bis die Trennung in dem inneren des Menschen wieder aufgehoben, und seine Natur vollständig genug entwickelt ist, um selbst die Künstlerin zu seyn, und der politischen Schöpfung der Vernunft ihre Realität zu verbürgen.“ Über die Kritik an dieser Priorisierung der Bildung gegenüber dem Politischen sollte jedoch nicht der Anlass dieser Überlegung Schillers in Vergessenheit geraten, nämlich das Umkippen der Revolution in die Schreckensherrschaft. Dieselbe Überlegung veranlasste später Hegel dazu, utopisierende Staatsideen zu verwerfen und die Verfassung eines Staates in Relation zum ‚Volksgeist‘ der Bevölkerung zu stellen. 6 Mill, John Stuart: Betrachtungen über Repräsentativ-Regierung. Aalen 1968, (Original 1861), S. 123. <?page no="262"?> 262 Andreas Braune sche Art und Weise mit der notwendigerweise stets unvollständigen Umsetzung dieses Ideals umzugehen. II. Hoffnung der Epistokratie John Stuart Mill wurde hier nicht ohne Bedacht angeführt, denn seine Ausführungen zu einem gestuften epistokratischen Wahlrecht in seinen Betrachtungen über die Repräsentativregierung 7 zählen im 19. Jahrhundert zu den prominenteren Wortmeldungen zugunsten der Epistokratie. Mill ist vor allem deshalb von Interesse, weil er seine Forderungen aus einem genuin liberalen und progressiven Anliegen heraus formuliert. Denn dem hier interessierenden Spannungsverhältnis zwischen Epistokratie und Demokratie kommt man nicht mit der Untersuchung der Tiraden eines Edgar Julius Jung gegen die „Herrschaft der Minderwertigen“ 8 auf die Spur, sondern nur mit einem Blick auf die Ambivalenzen im Denken eines der demokratischsten Theoretiker und Praktiker des 19. Jahrhunderts. Mill gibt also in seinen Betrachtungen über die Repräsentativregierung folgendes Gedankenexperiment an: In einer Angelegenheit, die nur eine von zwei Personen angeht, ist diese eine berechtigt, ihrer eigenen Meinung zu folgen, mag ihr die andere auch an Weisheit noch so sehr überlegen sein. Wir sprechen hier [in der Politik, A.B.] aber von Dingen, die beide in gleicher Weise berühren, und von Fällen, in denen nothwendig der unweisere Mann seinen Antheil an dem Geschäft der Leitung des weisern überlassen muß, wenn dieser nicht gezwungen sein soll, dem unweiseren den seinigen zu überlassen. Welche dieser beiden Arten die Schwierigkeit zu behandeln entspricht am besten den Interessen beider Theile und den Anforderungen der Zweckmäßigkeit überhaupt? Wenn es für unrecht gilt, daß einer von beiden nachgeben muß, welches ist die größere Ungerechtigkeit, die, daß das schlechtere Urtheil sich dem besseren, oder daß das bessere sich dem schlechteren zu fügen hat? 9 Das Zitat beginnt mit einer wichtigen Gegenüberstellung: In rein individuellen Belangen ist und bleibt Mill der große Verfechter des Antipaternalismus und des Individualismus, wie sie in On Liberty ausformuliert sind. 10 Niemand darf einem Dritten in rein individuellen Angelegenheiten eine 7 Vgl. ebd. Kapitel VIII: Über die Ausdehnung des Stimmrechts, S. 118-138. 8 Vgl. Jung, Edgar Julius: Die Herrschaft der Minderwertigen. Ihr Zerfall und ihre Ablösung durch ein neues Reich. Struckum 1991, (Original: 1927). 9 Mill: Repräsentativ-Regierung (Anm. 6), S. 127. 10 Vgl. Mill, John Stuart: Über die Freiheit. Stuttgart 1974, (Original: 1859). <?page no="263"?> Hoffnung und Elend der Epistokratie 263 Entscheidung vorschreiben, auch wenn dies zu seinem (vermeintlichen) Wohle geschehe. Das Politische allerdings definiert Mill hier ganz richtig in der Regelung gemeinsamer Angelegenheiten. Stellen wir der argumentativen Einfachheit halber das Argument etwas abstrakter dar: Zwei Akteure A und B haben ein gemeinsames Problem P, das nur durch eine gemeinsame Lösung L aufzulösen ist. A und B sind wechselseitig aufeinander angewiesen, können sich nicht unilateral von P lösen und müssen sich gemeinsam auf L einigen und L umsetzen, wobei L gleichermaßen auf A und B einwirkt. Hierdurch wird P zu einem politischen Problem. Allerdings ist A’s Vorstellung L a grundlegend verschieden von derjenigen B’s, nämlich L b - L a und L b sind inkommensurabel. Wer von beiden soll nachgeben? Bei einer rein machtorientierten Auffassung von Politik, wie sie Schiller dem Ancien Régime zuordnet, ist diese Frage einfach zu beantworten: Derjenige, sagen wir A, mit dem spitzeren Schwert, den größeren Kanonen oder dem höheren Drohpotential wird seine Vorstellung L a gegenüber B durchsetzen können. B wird nolens volens L b fallen lassen und L a akzeptieren. Wir verfügen in dieser Konstellation über kein Kriterium, das uns erlauben würde, die qualitative Güte von L a zu beurteilen, sehr wohl aber können wir konstatieren, dass wir in einem prozeduralistischen Verständnis von Gerechtigkeit kaum behaupten können, dass diese Durchsetzung von L a gerecht wäre. Dies ist der zentrale Vorwurf gegen das ‚alte‘, auf Macht und Gewalt basierende Verständnis des Politischen. Es ist deshalb ungerecht, weil sich B allein aufgrund einer kontingenten Verteilung von Machtressourcen in L a fügt und wir können davon ausgehen, dass B trotz alledem L b präferieren würde. Um mit Hegel zu sprechen: B wird nicht als ein Vernünftiger und Freier geehrt, er wird durch Gewalt gezwungen. Ein erster wichtiger epistokratischer Kritikpunkt an einem ‚abstrakten‘ Verständnis von Demokratie liegt jedoch in dem Einwand, dass diese Machtressourcen nicht notwendigerweise in Schwertern und Kanonen zu messen sind, sondern dass auch die Stimmenverteilung in einer repräsentativen Kammer eine kontingente Machtverteilung darstellt: Wer die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen kann, kann seine Vorstellung von L durchsetzen und sowohl für A als auch für B bindend machen. In dieser für dezisionsorientierte Demokratietheorien typischen Betrachtungsweise, die partiell durchaus noch dem vormodernen Paradigma des Politischen verhaftet ist, erachten wir beide Parteien als vollkommen gleichwertig. Beider Vorschläge für L sind gleichermaßen legitim, die Durchsetzung von L a o der L b jedoch rein zufällig und Folge der Machtverteilung. <?page no="264"?> 264 Andreas Braune Mill betont jedoch - übrigens zu Recht und in Einklang mit dem von Schiller vorgeschlagenen modernen Verständnis des Politischen -, dass die Vorstellung der qualitativen Gleichwertigkeit von A und B und demnach auch L a und L b nur eine Abstraktion ist, die in der Wirklichkeit der Lebenswelt nur selten anzutreffen ist. A wird sich von B durch allerlei Kriterien unterscheiden lassen und wir übernehmen hier die durchaus streitbare Prämisse Mills, dass sich A als der ‚Weisere‘ und B als der ‚Unweisere‘ eindeutig kennzeichnen lassen. Streitbar ist diese Prämisse darum, weil sie letztendlich auf die Kategorie der ‚Wahrheit‘ verweist, auf die wir später noch einmal zurückkommen werden. Mill fragt nun vollkommen zu Recht, ob wir die Entscheidung über P lieber A als dem ‚Weiseren‘ oder B als dem ‚Unweiseren‘ überlassen wollen. Diese Frage ist nicht nur mit Bezug auf die Güte von L, also hinsichtlich der Output-Legitimität von Bedeutung, sondern auch als Frage der Gerechtigkeit. Können wir es als gerecht qualifizieren, B das Recht einzuräumen, L b als verbindliche Lösung für A und B durchzusetzen, wohlweißlich, dass B mit L b eine nachgewiesenermaßen schlechtere Lösung vorschlägt als A mit L a ? Soll A wirklich L b , also die Lösung des weniger Qualifizierten, akzeptieren, obwohl er weiß, dass L b nicht nur ihn, sondern auch B schlechter stellt als L a ? Wohl kaum. Oder anders formuliert: Selbst wenn B laut der ersten Betrachtungsweise über die kontingenterweise besseren Machtressourcen verfügt, ist es weder aus Perspektive der Output-Legitimität noch aus Perspektive der Gerechtigkeit vertretbar, dass B seine Vorstellung von L b durchsetzt. In seinem Aufsatz The Right to a Competent Electorate bringt dies Jason Brennan auf den Punkt: Just as it would be wrong to force me to go under the knife of an incompetent surgeon, or to sail with an incompetent ship’s captain, it is wrong to force me to submit to the decisions of incompetent voters. 11 Dieses Argument verweist auf die oben bereits angedeutete epistokratische Kritik am allgemeinen und gleichen Wahlrecht. Im Falle Mills, wie in ganz Europa des 19. Jahrhunderts, bildet das allgemeine und gleiche Wahlrecht eine zentrale Forderung demokratischer und mancher sozialistischer Bewegungen, deren Umsetzung von nicht Wenigen ausgesprochen skeptisch betrachtet wird und überall hart erkämpft werden muss. Im Falle gegen- 11 Brennan, Jason: The Right to a Competent Electorate. In: The Philosophical Quarterly 61(2011), S.700-724, hier S. 700. Vgl. auch Ders.: The Ethics of Voting. Princeton 2011. <?page no="265"?> Hoffnung und Elend der Epistokratie 265 wärtiger Vertreter der Epistokratie wie Jason Brennan und David Estlund 12 ist das allgemeine und gleiche Wahlrecht eine Wirklichkeit aller westlichen Demokratien, die jedoch aus epistokratischer Perspektive der Kritik unterworfen wird. Das erste wesentliche Argument zugunsten der Epistokratie wurde bereits geschildert. Für Mill wie für Brennan ist das allgemeine und gleiche Wahlrecht ungerecht, weil es in Angelegenheiten von allgemeinem Interesse auch denjenigen Macht in Form des Stimmrechts gibt, die sich als nicht kompetent für politische Belange erweisen. Für Brennan verletzt das allgemeine Wahlrecht das sogenannte „competence principle“: It is unjust to deprive citizens of life, liberty or property, or to alter their life prospects significantly, by force and threats of force as a result of decisions made by an incompetent or morally unreasonable deliberative body, or as a result of decisions made in an incompetent or morally unreasonable way. 13 Als Konsequenz aus dieser Feststellung schlägt Brennan die Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts zugunsten eines moderaten epistokratischen Wahlrechts vor. Um das Wahlrecht zu erhalten, solle der potentielle Wähler zunächst in einem Befähigungstest nachweisen, dass er über ausreichend Kompetenz für die Wahlentscheidung verfügt. Nur so werde sichergestellt, dass nicht irrationale Wähler die Freiheit aller anderen durch Regierungshandeln beschränken oder nachteilig auf die Lebensaussichten der anderen einwirken: „In contemporary democracies, citizens should have to possess sufficient moral and epistemic competence in order to have the right to vote.“ 14 Ein wichtiger Einwand gegen die Epistokratie muss bereits hier thematisiert werden, weil er von Brennan explizit aufgegriffen und verarbeitet wird. Er firmiert unter der Bezeichnung „qualified acceptability requirement.“ 15 Für das Thema der Epistokratie ist die Frage nach ‚sufficient moral competence‘ im Grunde irrelevant und bezüglich einer Tugendkontrollbehörde zu ihrer Überprüfung bleibt Herr Brennan auch merkbar schweigsam. Konzentrieren wir uns daher auf Brennans Rede von ‚epistemic competence‘ und dabei vor allem auf die Frage, an welcher Stelle ‚sufficent‘ 12 Vgl. Estlund, David: Why not Epistocracy? In: Naomi Reshotko (Hg.): Desire, Identity and Existence: Essays in Honor of T.M. Penner. Kelowna 2003, S. 53-69. 13 Brennan: Competent Electorate (Anm. 11), S. 704. 14 Ebd. S. 701. 15 Ebd. S. 714. <?page no="266"?> 266 Andreas Braune epistemic competence beginnt. Sicherlich ist Mills Forderung zustimmungsfähig, der „es als ganz unzulässig [betrachtet], daß irgend Jemand das Stimmrecht ausüben soll, der nicht lesen, schreiben, und wie ich hinzufügen will, die gewöhnlichen Rechnungsarten richtig anwenden kann.“ 16 Unter den Bedingungen allgemeiner Schulplicht und der Voraussetzung ihrer leidlichen Umsetzung (die Mill forderte) ist damit sicher kaum eine Überprüfung der Wählerbefähigung nötig. Mill fügt dann jedoch hinzu: Es wäre außerordentlich wünschenswerth, daß auch noch andere Dinge als Lesen, Schreiben und Rechnen zu nothwendigen Bedingungen des Stimmrechts gemacht werden könnten, daß einige Kenntniß der Beschaffenheit der Erde, ihrer natürlichen und politischen Eintheilungen, der Elemente der allgemeinen Geschichte und der Geschichte und Einrichtungen des Vaterlandes von jedem Wähler gefordert würde. 17 Natürlich sind all diese Kenntnisse „unerläßlich [...] für einen einsichtsvollen Gebrauch des Stimmrechts“, jedoch, so Mill weiter, „gibt es keine verläßliche Methode, um festzustellen, ob jeder Einzelne sie sich angeeignet hat oder nicht.“ 18 Doch nicht nur die objektive Überprüfbarkeit der notwendigen Kenntnisse ist schwierig - das Problem liegt tiefer: Was sind eigentlich ausreichende Kenntnisse und wer befindet darüber? Auch Brennan gesteht ein: „There is no easily identifiable criterion for distinguishing competent people from incompetent people which would be acceptable to all qualified points of view.” 19 Da also immer legitimerweise vernünftige Einwände gegen die konkrete Ausgestaltung des Unterscheidungskriteriums vorgebracht werden können, erfüllt das von Brennan vorgeschlagene epistokratisch eingeschränkte Wahlrecht das ‚qualified acceptability requirement‘ nicht, demzufolge in Rawlsscher Perspektive „any basis for distributing political power has to be acceptable to all qualified points of view.“ 20 Und so gesteht Brennan unumwunden ein, dass auch das eingeschränkte epistokratische Wahlrecht ungerecht ist. Damit kommt er zu dem Schluss, dass das allgemeine Wahlrecht ungerecht ist, weil es die Gebildeten unter die Macht der Ungebildeten zwingt (competence principle), das epistokratische Wahlrecht jedoch auch ungerecht ist, weil es rationalerweise nicht von allen Entscheidungsbetroffenen akzeptiert werden kann. Obwohl für 16 Mill: Repräsentativ-Regierung (Anm. 6), S. 123. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Brennan: Competent Electorate (Anm. 11), S. 714. 20 Ebd. <?page no="267"?> Hoffnung und Elend der Epistokratie 267 Brennan beide Modelle ungerecht sind, argumentiert er schließlich, dass das eingeschränkte Wahlrecht weniger intrinsisch ungerecht sei als das allgemeine Wahlrecht. Müsse man sich also zwischen einen von beiden Übeln entscheiden, solle man das geringere Übel in Form des eingeschränkten Wahlrechts vorziehen. 21 Dies ist eine der ersten Hoffnungen der Epistokratie: Mit Blick auf die Input-Legitimation politischer Entscheidungen und ein prozeduralistisches Gerechtigkeitsverständniss sei ein epistokratisches Wahlrecht gerechter, oder zumindest weniger ungerecht als das allgemeine Wahlrecht. Doch nicht nur diese gerechtigkeitsorientierte Hoffnung verknüpft sich mit dem epistokratischen Ansinnen, sondern auch eine konsequentialistische Hoffnung mit Blick auf die Ergebnisse eines epistokratisch gestalteten Politikprozesses, also hinsichtlich der Output-Legitimität. Die relative qualitative Güte der Politik, so die zweite Hoffnung, steigt mit der absoluten qualitativen Güte der am Politikprozess Beteiligten. Die Ungebildeten von der Politik auszuschließen verbessere die Ergebnisse der Politik - vielleicht ja sogar zugunsten der Ungebildeten im Sinne einer epistokratischen Wohlfahrtsdiktatur. Beide Hoffnungen, die input- und gerechtigkeitsorientierte und die outputorientierte, rechtfertigen es für Bennan letztlich, mit epistokratischen Beschränkungen des allgemeinen und gleichen Wahlrechts zu experimentieren. III. Elend und Überflüssigkeit der Epistokratie Es gibt eine ganze Reihe klassischer Kritikpunkte gegen die epistokratische Umgestaltung des Politikprozesses. Der erste zentrale Einwand wurde bereits erläutert: Die Schwierigkeit, ja eigentlich die Unmöglichkeit, objektiv zwischen Befähigten und Unbefähigten zu unterscheiden. In der Praxis geht damit der Umstand einher, dass jemand Autor des Befähigungstests sein muss und dieser Jemand wird eine staatliche Behörde sein. Daraus ergeben sich wiederum ein praktisch-soziologischer und ein theoretischer Einwand. Der praktisch-soziologische, den David Estlund ‚demographic objection‘ nennt, 22 läuft darauf hinaus, dass ein solches Verfahren in allen historischen Erfahrungen (so etwa im Süden der USA in den 1950er und 60er Jahren und in England des späten 19., frühen 20. Jahrhunderts) von einer herrschenden Elite dazu genutzt wurde, ihre Elitenposition abzusi- 21 Vgl. ebd. S. 719f. 22 Vgl. ebd. S. 715f., bei Estlund selbst: Why Not Epistocracy? (Anm. 12), S. 62-65. <?page no="268"?> 268 Andreas Braune chern. Dieses Ansinnen macht Mill für die Abwehr der proletarischen Klassenherrschaft recht deutlich, 23 und im amerikanischen Süden galt es der Fortsetzung der Rassentrennung mit anderen Mitteln. Wer die Hoheit über den Exklusionstest hat, wird ihn auch entsprechend nutzen. Dies führt aber auch zu einem ernst zu nehmenden theoretischen Einwand. Einmal angenommen, dieser demographische Einwand wäre gänzlich entkräftet und der Mechanismus funktioniere tatsächlich in der vorgestellten Art und Weise. 24 Ist es dann nicht denkbar, dass es innerhalb der wahlberechtigten Gruppe immer wieder einen Teil gibt, der den unteren Teil der gerade als gebildet Qualifizierten als für zu ungebildet für die Partizipation an politischen Entscheidungen hält? Folgt dann nicht eine Welle der Exklusion der nächsten als infiniter Progress, der sich nicht als infinit erweist, weil er bei Platons Philosophenkönig endet und sich damit auch nicht als Progress, sondern als Regress entlarvt? Dies führt zu einem zweiten grundlegenden Einwand: Wer das epistokratische Element in die Politik einführt, führt die Kategorie der Wahrheit in die Politik ein, die dort nur einen untergeordneten Platz beanspruchen sollte. Dies wird in Bezug auf einen Aufsatz deutlich, der auf den ersten Blick nicht allzu viel mit dem Thema Epistokratie zu tun hat, auf den zweiten jedoch sehr wohl. Die Rede ist von Herbert Marcuses Aufsatz zur Repressiven Toleranz. 25 Dort spricht Marcuse sich gegen die gleichgültige Duldung regressiver und progressiver Ansichten aus und fordert die bewusste Unterdrückung regressiven und die Bevorzugung progressiven Denkens und Handelns. Prinzipiell ist dies ein durchaus ehrenwertes Anliegen. Doch wer entscheidet über die jeweilige Zuordnung? Marcuse mit Mill und deutlichem Anklang an Schiller: Die Unterscheidung zwischen gerechtfertigten und ungerechtfertigten Grenzen der Toleranz, zwischen progressiver und regressiver Schulung, revolutionärer und reaktionärer 23 Vgl. Mill: Repräsentativ-Regierung (Anm. 6), S. 130: „Die an sich ganz gerechte Unterscheidung zu Gunsten der Bildung empfiehlt sich außerdem noch ganz besonders durch den Umstand, daß sie die Gebildeten vor der Classengesetzgebung der Ungebildeten sicher stellt.“ Allerdings schränkt Mill dies unmittelbar wieder mit einem Argument ein, die auf einen ganz bestimmten Aufsatz verweist, der uns gleich beschäftigen wird: „[…] aber sie darf nicht so weit gehen, daß sie den Gebildeten möglich macht, ihrerseits auf eigene Rechnung eine Classengesetzgebung zu üben.“ 24 Auch wenn dies nicht möglich ist, da die Exklusion immer noch einen bislang nicht beachteten demographischen Faktor reflektieren kann, so Estlund: Why Not Epistocracy? (Anm. 12), S. 65. 25 Vgl. Marcuse, Herbert: Repressive Toleranz. In: Ders., Schriften. Bd.8. Aufsätze und Vorlesungen 1948-1969. Frankfurt am Main 1984, (Original: 1965), S. 136-166. <?page no="269"?> Hoffnung und Elend der Epistokratie 269 Gewalt erfordern, daß Kriterien ihrer Gültigkeit festgesetzt werden. […] Durch wen und nach welchen Maßstäben läßt sich die politische Unterscheidung zwischen wahr und falsch, progressiv und regressiv […] treffen und ihre Gültigkeit rechtfertigen? Ich behaupte, daß sich diese Frage nicht anhand der Alternative von Demokratie und Diktatur beantworten läßt. […] Die Frage, wer qualifiziert sei, alle diese Unterscheidungen, Definitionen und Ermittlungen für die Gesamtgesellschaft vorzunehmen, hat jetzt eine logische Antwort: Jedermann ‚in der Reife seiner Anlagen‘, jeder, der gelernt hat, rational und autonom zu denken. Die Antwort auf Platons erzieherische Diktatur ist die demokratische erzieherische Diktatur freier Menschen. 26 Doch in einer total verwalteten Welt und mit einer durch die Verdummung der Werbe- und Kulturindustrie in falschem Bewusstsein gehaltenen Bevölkerung ist dieses Ideal der Freiheit kaum möglich. Es ist letztlich der von einer epistokratischen Elite vorangetriebene ‚intellektuelle Umsturz‘, der „das Durchbrechen des falschen Bewußtseins“ 27 bewirkt. Nur wer über Einsicht in die wahren Verhältnisse und das wahre Wesen des Menschen verfügt, eigne sich zum Befreier der Menschen. Es ist kein Wunder, dass Marcuse sich hier so eng an Mill anlehnt: John Stuart Mills Konzeption der res publica ist nicht das Gegenteil der Platonischen: auch der Liberale fordert die Autorität der Vernunft nicht nur als geistige, sondern auch als politische Macht. Bei Platon ist die Rationalität auf die kleine Zahl der Philosophen- Könige begrenzt; bei Mill hat jeder Mensch teil an der Diskussion und Entscheidung - aber nur als vernünftiges Wesen. Wo die Gesellschaft in die Phase totaler Verwaltung und Indoktrination eingetreten ist, wäre das allerdings eine kleine Anzahl und nicht notwendig die der gewählten Volksvertreter. Es geht nicht um das Problem einer erzieherischen Diktatur, sondern darum, die Tyrannei der öffentlichen Meinung und ihrer Hersteller in der geschlossenen Gesellschaft zu brechen. 28 Interessanterweise liegt Marcuses sozialistischer Revolutionselan ideologisch gar nicht so weit entfernt vom liberalen Erziehungspaternalismus, wie man auf den ersten Blick meinen könnte. In beiden Fällen ist die Verwirklichung der Vernunft (und damit der Freiheit) zugleich Ziel und Voraussetzung des Politischen. Der Grund hierfür ist in der gemeinsamen Wurzel der eingangs bei Schiller identifizierten modernen Kopplung von Vernunft und Politik zu suchen. Zielen Epistokraten wie Brennan auf eine epistokratische Restriktion der Entscheidungsbefugten im Sinne einer dezisionsorientierten Demokratie, verweist die Auseinandersetzung mit Marcuse und Mill darüber hinaus auf 26 Ebd. S. 152-154. 27 Ebd. S. 158. 28 Ebd. S. 154. <?page no="270"?> 270 Andreas Braune den genuin epistokratischen Charakter diskurstheoretischer Demokratiemodelle im Anschluss an Habermas. Diese Form der Demokratie ist im Grunde die Reinform der eingangs identifizierten Kopplung von Vernunft und Politik in der Moderne. So teilte ein anderer Aufklärer den Schillerschen Optimismus über die vernünftige Begründung des Politischen voll und ganz, formulierte ihn jedoch etwas anders. Für Condorcet sei das Politische nunmehr eine Tribüne, bei der aller Vorteil auf Seiten der Wahrheit ist, da die dort geübte Kunst an Mitteln der Verführung einzig verlor, was sie an Möglichkeiten der Aufklärung gewann. Eine öffentliche Meinung bildete sich, mächtig durch die Zahl ihrer Anhänger und überaus wirksam durch den gleichzeitigen und sogar sehr weit reichenden Einfluß der Beweggründe. So sah man, wie zugunsten der Vernunft und der Gerechtigkeit ein von jeglicher menschlichen Macht unabhängiges Tribunal sich erhob, vor dem man schwerlich etwas verbergen und dem man unmöglich sich entziehen kann. 29 Der von Marcuse diagnostizierten unvernünftigen Tyrannei der öffentlichen Meinung steht hier der zwanglose, das heißt auf Gewalt bzw. Macht im Sinne des vormodernen Verständnisses des Politischen verzichtende, rationale, öffentliche Diskurs entgegen. Diese Zweiteilung findet sich auch bei Mill, der einerseits den Konformismus des Victorianischen Englands geißelt, zugleich aber die radikal freie Meinungsäußerung als Weg zur Wahrheit feiert. 30 Im so verstandenen Diskurs gilt, was sich allein der rationalen Einsicht durch Gründe erschließt. Doch wer nimmt daran Teil? Thomas A. Spragens gibt in seiner an Habermas orientierten Demokratietheorie die Antwort ganz im Sinne der oben bei Schiller identifizierten Vernunftbedingung: “We can reason only with those who have the mental capacity to entertain and articulate ideas and who have the seriousness of purpose to submit those ideas for rational evaluation.” 31 Auf diese Weise offenbart sich der öffentliche Diskurs nicht nur empirisch, sondern auch theoretisch als politischer Exklusionsmechanismus auf epistokratischer Ba- 29 Condorcet, Marquis de: Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes-. Hg. v. Wilhelm Alff. Frankfurt am Main 1976, S. 124. 30 Vgl. Mill: Über die Freiheit (Anm. 10), S. 72f., bzw. das gesamte Kapitel 2: „Über die Freiheit des Gedankens und der Diskussion“, S. 24-76. Axel Honneth spricht in diesem Zusammenhang und in Anlehnung an John Dewey von einem „epistemischen Mehrwert eines möglichst inklusiven, sich öffentlich vollziehenden Reflexionsprozesses.“ Vgl. Honneth, Axel: Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit. Berlin 2011, S. 498. Dies zielt auf das bekannte Argument, dass mehr Menschen gemeinsam ‚besser‘ denken als wenige allein, welches heute oftmals unter dem ungeeigneten Modewort ‚Schwarmintelligenz‘ firmiert. 31 Spragens, Thomas A.: Reason and Democracy. Durham, London 1990, S. 142. <?page no="271"?> Hoffnung und Elend der Epistokratie 271 sis. Würden repräsentative Dezisionsorgane, auch bekannt unter der Bezeichnung Parlamente, durch diskursive Gremien ersetzt werden, 32 wären die Entscheidungsunterworfenen, die sich nicht als willens oder fähig zur Teilnahme am öffentlichen Diskurs erweisen, von jeder Teilnahme an der Entscheidung ausgeschlossen. Vor allem aber, und hierauf weist Spragens indirekt hin, sind Parlamente ihrer Wortbedeutung nach selbst diskursive Gremien (französisch parler = sprechen), 33 und zwar jene, die in der Moderne den vernünftigen öffentlichen Diskurs institutionalisieren (sollten) und gleichzeitig an die politische Dezision binden. Doch noch einmal zurück zu Brennan und seinem Vorschlag einer epistokratischen Restriktion des Wahlrechts. An der Institutionalisierung des rationalen öffentlichen Diskurses und vernünftiger Dezision im modernen Parlamentarismus zeigt sich, wie verfehlt und überflüssig die Argumentation Brennans tatsächlich ist. Brennan verwechselt aufgrund seiner individualistischen Prämissen schlicht die individuelle Wahlentscheidung des einzelnen Wählers mit der politischen Dezision, die die Gesellschaft als Ganze im Rahmen des politischen Systems trifft. Brennans Überlegung fußt im Grunde auf der verkürzten Rousseauschen Annahme, dass jeder Einzelwille unmittelbar, ohne die Einschaltung diverser corps intermediairs, direkt in den Allgemeinwillen übergehe. 34 Folglich wird in dieser Vorstellung auch jeder „vernünftige“ Einzelwille unmittelbar durch den Partikularwillen der „Unvernünftigen“ gezwungen bzw. im Lockeschen 32 Hierauf scheinen in gegenwärtigen demokratietheoretischen und tagespolitischen Debatten die Schwanengesänge auf die repräsentative Demokratie und die Loblieder auf Bürgerforen, direkte diskursive Demokratie bis hin zur ‚Liquid Democracy‘ hinzuarbeiten. Vgl. etwa: Vogel, Steffen: Occupy am Scheideweg. In: Blätter für deutsche und international Politik 1(2012), S. 9-12. Dagegen betont Spragens: Reason and Democracy (Anm. 31), S. 134 völlig zu Recht: “Voting and public deliberation employing practical reason are not alternative modes of decision making, but complementary ones.” 33 Vgl. ebd. S. 126. 34 Faktisch bringt Rousseau daher beinah das gleiche Argument wie Brennan vor, wenn er sich im Dritten Buch des Gesellschaftsvertrages gegen die Demokratie in großen Sta aten ausspricht und für die Aristokratie als vernünftigste Regierungsform plädiert: „Es ist die beste und natürlichste Ordnung, dass die Weisesten die Menge regieren, wenn man sicher geht, dass sie zu deren Wohl und nicht zu ihrem eigenen regiert werden; man soll die Ämter weder unnütz vervielfachen noch mit zwanzigtausend das unternehmen, was hundert auserwählte Männer weit besser ausrichten können.“ Rousseau, Jean-Jacques: Vom Gesellschaftsvertrag. Französisch/ Deutsch. Stuttgart 2010 (Original 1762), 3. Buch, 5. Kapitel, S. 155. Allerdings berücksichtigt Brennan nicht, dass Rousseau einen Unterschied zwischen Regieren und Souveränität macht. Das, was Rousseau hier als Aristokratie beschreibt, das Regieren weniger zum Wohl aller, leistet im Grunde die repräsentative Demokratie. <?page no="272"?> 272 Andreas Braune Sinne an der Entfaltung seiner Freiheit und der Verwendung seines Eigentums gehindert. Bei einer Stimmenmehrheit der unvernünftigen Einzelwillen müssten sich alle Vernünftigen direkt unter den Zwang eines unvernünftigen Allgemeinwillens begeben. 35 In Wirklichkeit ist dieses Verhältnis alles andere als unmittelbar. Moderne politische Systeme zeichnen sich durch einen Grad der Komplexität in der Vermittlung von Partikularwillen und Allgemeinwillen aus, der etwaige epistokratische Überlegungen für den Prozess der politischen Willensbildung erübrigt. Dies wird (beispielsweise) besonders deutlich an dem Zusammenspiel von Parteiendemokratie und parlamentarischer Repräsentation und Dezision. Moderne Parteien arbeiten in zwei Richtungen: Sie aggregieren die Interessen der Repräsentierten und tragen diese Interessen in Form parlamentarischer Repräsentation in den politischen Entscheidungsfindungsprozesse hinein. Dabei erfüllen sie die wichtige Funktion der ‚Komplexitätsreduktion‘, wenn man dies so bezeichnen möchte. Auch wer politisch wenig interessiert und gebildet ist, weiß, wofür einzelne Parteien stehen und welcher er am ehesten die Repräsentation seiner Interessen anvertrauen kann. Dies bezeichnet die zweite Richtung in Form des Beitrags zur politischen Willensbildung bzw. politischen Sozialisation durch politische Parteien. Auf diese Art und Weise erfolgt genau das, was Mill von einem epistokratischen System erwartete: Die weniger Gebildeten betrauen die kompetenteren Personen (sprich die Berufspolitiker) mit der Regelung der Angelegenheiten von allgemeinem, also auch ihrem Interesse. Natürlich ist dies eine idealisierte Funktionsweise und in der Wirklichkeit mag einiges im Argen liegen. Trotzdem funktioniert dieses quasiepistokratische System auf Basis des demokratischen allgemeinen Wahl- 35 Dies wird mit Blick auf ein wichtiges Detail besonders deutlich, welches Brennans und Mills epistokratische Vorschläge grundlegend unterscheidet: Während Brennan den nicht ausreichend Gebildeten schlicht das Stimmrecht aberkennen will, plädiert Mill bei genauer Betrachtung (und unter der Voraussetzung allgemeiner Schulbildung) für ein allgemeines Wahlrecht, in welchem den besser Gebildeten ein stärkeres Stimmgewicht durch ein Mehrfachstimmrecht eingeräumt wird. Diese Lösung ist für Brennan aufgrund seiner rein individualistischen Prämissen nicht gangbar: „Democracy with unconditional universal suffrage grants political power in a promiscuous way. In voting, an ignorant, misinformed, morally unreasonable or irrational citizen exercises political power over others“, (Brennan: Competent Electorate [Anm. 11], S. 703). Unter Mills positiv gewichtetem epistokratischen Wahlrecht hätten die ‚Ungebildeten‘ weiterhin einen - wenn auch verminderten - Anteil an der Entscheidungsgewalt. Auch wenn Brennan Mill gründlich gelesen hätte (was er nicht hat, aber besser hätte tun sollen), folgt aus seinen Prämissen notwendigerweise die Aberkennung des Wahlrechts. <?page no="273"?> Hoffnung und Elend der Epistokratie 273 rechts erstaunlich gut und erübrigt epistokratische Einschränkungen des Wahlrechts. IV. Schlussfolgerungen Vernunft und Politik bilden in der Moderne einen intrinsischen Zusammenhang. Die Alternative besteht in einem Verständnis des Politischen, welches den Anspruch, auf das Vernünftige abzuzielen, aufgibt und zu einer Politik des Rechts des Stärkeren zurückkehrt. Gleichwohl droht dieser Vernunftanspruch totalitär zu werden und eignet sich dann als perfider Exklusionsmechanismus. Die hier vorgestellten epistokratischen Überlegungen, allen voran diejenigen Jason Brennans, erweisen sich daher schlichtweg als regressiv. Es ist eine wichtige Errungenschaft der Moderne und der Entwicklung des modernen Rechtsstaats, dass prinzipiell jeder, unabhängig von Geschlecht, Rasse, Herkunft usw., der ein System allgemeiner Schulpflicht durchlaufen hat, als vernünftiger Bürger anerkannt wird, und zwar so lange, bis durch offenkundigen Verlust der Mündigkeit oder durch grob sozialunverträgliche Verhaltensweise das Gegenteil bewiesen ist. Die Umkehrung der Beweislast im Sinne eines Wählerqualifikationstests fällt hinter diese Errungenschaft zurück. Sie teilt die Menschen in zwei Klassen von Menschen und erkennt in letzter Konsequenz den Exkludierten das vollwertige Menschsein ab. Gibt es in einer gegebenen Gesellschaft tatsächlich eine extreme Bildungsungleichheit, behebt man diese und ihre negativen Folgen nicht, indem man die Benachteiligten entrechtet, sondern nur durch bessere und gerechtere Bildungspolitik. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass die eingangs anhand der Ausführungen Schillers konstatierte Priorisierung der Bildung über das Politische ein gefährlicher Irrtum ist. Alle Erfahrung zeigt, dass wer auch immer erst Engel bilden will, um mit ihnen einen Staat der Freiheit gründen zu können, Schiffbruch erleidet (vielleicht sogar, dass die vermeintlichen Engel zu Teufeln werden). Die Herausforderung der Moderne an das Politische lautete und lautet nach wie vor, dass ein gerechter Staat auch für ein Volk von Teufeln eingerichtet werden muss. 36 Das Politische bzw. der 36 Vgl. Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Stuttgart 1984, S. 31. Einschränkend ist hier anzumerken, dass auch für Kant für einen Staat von Teufeln die Voraussetzung gilt: „wenn sie nur Verstand haben.“ Kant umschreibt diesen Staat als „eine Menge von vernünftigen Wesen, die insgesamt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber in Geheim sich davon auszunehmen geneigt <?page no="274"?> 274 Andreas Braune Staat muss immer und zu jeder Zeit mit der Gesellschaft leben, die ihn konstituiert und kann nicht auf ein Volk von Engeln warten. Dies leugnet keinesfalls die Vernunftbegabung des Menschen und das Ziel möglichst umfassender individueller wie gesellschaftlicher Verwirklichung der Vernunft (und unterstreicht damit die Forderung nach kontinuierlichen Bildungs- und Aufklärungsanstrengungen), erkennt aber die unhintergehbare und unvermeidliche Fallibilität des Menschen und die Möglichkeit menschlicher Negativität an. Hegels ausgesprochen realistisches Menschenbild und Staatsverständnis nahm auf äußerst sensible Weise auf diesen Umstand Rücksicht. Es benötigte mindestens einen weiteren Aufsatz, dies darzustellen und zu diskutieren. ist, so zu ordnen und ihre Verfassung einzurichten, daß, obgleich sie in ihren Privatgesinnungen einander entgegen streben, diese einander doch so aufhalten, daß in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg eben derselbe ist, als ob sie keine solche böse Gesinnungen hätten.“ <?page no="275"?> Bemerkungen über Freiheit und Zeit Anton Friedrich Koch Im Folgenden soll eine Theorie vorgetragen werden, die die fundamentale Asymmetrie der Zeit als eine Konsequenz der menschlichen Willensfreiheit erklärt. Es handelt sich also um eine Freiheitstheorie des Zeitpfeils. Sie ist eingebettet in eine Theorie der Voraussetzungen a priori der Bezugnahme auf Einzelnes in Raum und Zeit (kurz: eine Theorie der apriorischen Voraussetzungen), die daher in Teil I des Aufsatzes kurz erwähnt werden soll. 1 In Teil II wird der Begriff der Wahrheit als die Quelle unseres Wissens a priori vorgestellt und in drei Begriffsmomente zergliedert, auf deren Basis in Teil III die Struktur der Zeit umrissen und in Teil IV die Freiheitstheorie des Zeitpfeils entwickelt werden kann. I. Apriorische Voraussetzungen Peter Strawson hat gezeigt, dass jede Bezugnahme auf Einzelnes empirische Voraussetzungen hat. 2 Wir müssen wissen, über welchen Gegenstand von potentiell unendlich vielen wir in einem singulären Aussagesatz sprechen möchten, und dazu eine individuierende Tatsache über den Gegen- 1 Ausführlich habe ich sie entwickelt in: Versuch über Wahrheit und Zeit. Paderborn 2006, und in bündiger Zusammenfassung dargestellt in: Wahrheit, Zeit und Freiheit. Paderborn 2006. 2 Strawson, P.F.: Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics. London 1959, Kapitel 6. <?page no="276"?> 276 Anton Friedrich Koch stand kennen. Schon dafür ist indexikalisches Denken und Sprechen unverzichtbar; denn allenfalls ein allwissendes Wesen könnte von einem Gegenstand eine so umfassende Beschreibung in Allgemeinbegriffen geben, dass der Gegenstand durch diese Beschreibung von allen anderen Gegenständen im Universum hinlänglich abgegrenzt wäre. Doch selbst ein allwissendes Wesen würde beim Versuch der Individuation in Allgemeinbegriffen unter ungünstigen Bedingungen scheitern, wie sie in bestimmten möglichen Welten herrschen, die ich daher Problemwelten nennen werde. In einer Problemwelt tritt 1) eine endlose Zweibahn-Wiederkehr des Gleichen a) in der Zeit oder b) im Raum oder 2) eine globale Symmetrie a) in der Zeit oder b) im Raum auf. In einer Welt vom Typ 1a) beispielsweise kehren seit unendlichen und in unendliche Zeiten qualitativ identische Epochen wieder. Jedes Detail einer gegebenen Weltepoche besitzt demnach unendlich viele qualitativ identische Duplikate in früheren und späteren Weltepochen, von denen es durch keine objektive Bestimmung unterschieden ist. Ein Wesen, das von außerhalb des Raum-Zeit-Systems diese Welt zu erkennen versuchte, und wäre es auch allwissend, könnte ein Ding von seinen Duplikaten nicht unterscheiden; denn das Ding und seine Duplikate haben dieselben intrinsischen und relationalen Charakteristika; insbesondere hat jedes von ihnen unendlich viele qualitativ identische Vorgänger und Nachfolger. Gemäß dem Prinzip der identitas indiscernibilium („Was dieselben Eigenschaften hat, ist identisch“), das, sofern relationale Eigenschaften mitberücksichtigt werden, ein Theorem der Logik zweiter Stufe und daher nicht verhandelbar ist, wäre unter diesen Umständen ein Ding von seinen Duplikaten auch objektiv nicht unterschieden - wenn nicht notwendigerweise gälte, was in unserer Welt tatsächlich gilt: dass wir uns von innerhalb des Raum-Zeit-Systems, obwohl wir alles andere als allwissend sind, mit müheloser Eindeutigkeit auf ein gegebenes Ding und jedes seiner Duplikate beziehen können, indem wir in indexikalischem Denken bei uns selbst - hier und jetzt - anfangen und dann in die Vergangenheit bzw. in die Zukunft hinein abzählen („das Duplikat dieses Flusses in unserer 37. Nachfolgerweltepoche“, „mein Doppelgänger in unserer 324. Vorgänger- Weltepoche“ usw.). Um jedoch in dieser indexikalischen Weise auf unsere Doppelgänger Bezug nehmen zu können, müssen wir uns a priori auf den Ursprung - den Raum-Zeit-Punkt hier und jetzt - eines informellen raumzeitlichen Koordinatensystems beziehen und dessen Achsen, also die vier raumzeitlichen Dimensionen sowie in jeder Dimension zwei Richtungen a priori unterscheiden können. Für den Raum muss das informelle Koordinatensystem egozentrisch und für die Zeit nunkzentrisch angelegt sein; und <?page no="277"?> Bemerkungen über Freiheit und Zeit 277 wir müssen a priori wissen, dass uns jeweils ein solches Koordinatensystem zur Verfügung steht. II. Die Aspekte der Wahrheit Das Faktum der Wahrheit ist die grundlegende Tatsache, dass wir im Denken und Sprechen Wahrheitsansprüche erheben, und die Quelle unseres Wissens a priori. Also muss sich von der Wahrheit (und vom veritativen Sein des Seienden) her sowohl die notwendige räumliche Asymmetrie der Subjektivität (d.h. des Leibes) erschließen lassen, welche die Grundlage unserer Orientierung a priori im Raum ist, als auch die intrinsische Asymmetrie der Zeit. In der räumlichen Orientierung a priori wissen wir, dass wir jeweils hier sind und dass unser asymmetrischer Leib drei ursprünglichen Bewegungstendenzen und Kräften (von oben nach unten, von hinten nach vorn, von links nach rechts) unterliegt, die ihn formen und die es ermöglichen, drei Dimensionen bzw. sechs Richtungen im Raum a priori und zunächst noch ganz abstrakt, d.h. noch ohne Rücksicht auf konkrete Anwendungsbedingungen, zu unterscheiden. Dem entspricht, dass das Faktum der Wahrheit drei wesentliche Aspekte und der Begriff der Wahrheit dementsprechend drei begriffliche Momente hat: einen realistischen, einen pragmatischen und einen phänomenalen Aspekt. Der realistische Aspekt ist uns geläufig in Gestalt einer allgemeinen Objektivitätsthese, auf die wir uns in unseren grundlegenden Wahrheitsansprüchen durchgängig mit festlegen. Wir unterstellen nämlich in der Regel, dass dasjenige, was wir als der Fall seiend beanspruchen, unabhängig davon der Fall ist, dass wir den betreffenden Wahrheitsanspruch erheben. Es gibt also kein sprachspielinternes Gütesiegel - sei es Konsens oder Kohärenz, semantische oder gerechtfertigte Behauptbarkeit oder was auch immer -, kraft dessen eine Meinung wahr und ihr Inhalt der Fall wäre; sondern wenn etwas unabhängig von unserer betreffenden Meinung der Fall ist, dann ist die Meinung, sofern sie dieses Der-Fall-Seiende zum Inhalt hat, wahr. Wenn nun aber die Wahrheit, wie es im metaphysischen Realismus geschieht, einseitig von ihrem realistischen Aspekt her begriffen wird, so hat das zur Folge, dass die Dinge als völlig unabhängig von unseren Meinungen, d.h. als eine Art Noumena, begriffen werden müssen, zu denen es keinen epistemischen Zugang geben kann. Wahrheit wird dann zur Korrespondenz, aber zu einer bloß faktischen, unentdeckbaren Korrespondenz des <?page no="278"?> 278 Anton Friedrich Koch Denkens und Sprechens mit einer epistemisch unzugänglichen Wirklichkeit. Ein Gegengewicht zu unseren realistischen Tendenzen haben wir am pragmatischen Wahrheitsaspekt. Unsere Wahrheitsansprüche sind keine bloßen Wetten, keine Ansprüche, richtig geraten zu haben, sondern in der Regel Wissensansprüche, die Begründungspflichten unterliegen. Doch auch von dieser Seite drohen Einseitigkeiten. Wenn Sellars und Brandom das Faktum der Wahrheit als ein Spiel des Gebens und Forderns von Gründen fassen, so stellen sie die Wahrheit unter den Primat ihres pragmatischen Aspektes. Dies ist die gängige Übung des Pragmatismus, der das Wahre, allgemein gesprochen, als dasjenige fasst, was zu glauben gut ist oder was zu glauben sich lohnt und auszahlt. Wahr soll nur heißen dürfen, was sich in einer bestimmten regelkonformen Weise erfahren, erleben, erkennen, begründen oder rechtfertigen lässt. So endet das Wahrheitsprädikat im Pragmatismus zuletzt als ein sprachspielinternes, epistemisches Gütesiegel - Wahrheit wird zu berechtigter Behauptbarkeit -, und der innerpragmatistische Dissens betrifft dann nur noch die Frage, worin die berechtigte Behauptbarkeit besteht und sich zeigt: im Konsens aller oder der meisten oder der Lautesten oder Leisesten oder Freiesten oder in interner Kohärenz eines Systems von Meinungen oder in der Behauptbarkeit gemäß den semantischen Regeln einer Sprache usw. usf. - Michael Dummett blieb es vorbehalten, den Pragmatismus als einen Antirealismus zu Ende zu denken und, weil es immer Fälle geben wird, in denen wir eine gegebene Aussage weder begründen noch widerlegen können, das Bivalenzprinzip, dem zufolge jede Aussage wahr oder falsch ist, und mit ihm die klassische Logik preiszugeben. Bleibt drittens der phänomenale Wahrheitsaspekt, der wichtigste und unscheinbarste unter allen. Heidegger hat ihn nicht übersehen und auch gesehen, dass auch Aristoteles ihn nicht übersah, als er den Aussagesatz gegen andere Sätze als den logos apophantikos, den aufzeigenden oder sehenlassenden Satz, profilierte. In einer Aussage lassen wir eigens sehen, was zwar nicht verborgen ist, aber in der Menge des Unverborgenen leicht unbeachtet bleiben könnte, weil sich uns in der Wahrnehmung das Reale in unendlicher Dichte und Vielfalt - in sensorischer Repräsentation - zeigt. Aus dieser Dichte und Vielfalt greifen wir in begrifflicher Repräsentation ein Detail heraus und bringen es in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit - lassen es eigens sehen -, wenn wir sagen, was wir wahrnehmen. Wird die Wahrheit einseitig unter ihrem phänomenalen Aspekt betrachtet, so erscheint sie daher als unmittelbare und mühelose Offenbarkeit des Realen. Mit seinem Terminus „Unverborgenheit“, der in der privativen Vorsilbe <?page no="279"?> Bemerkungen über Freiheit und Zeit 279 „Un“ das griechische Alpha privativum von alêtheia nachbildet, will Heidegger demgegenüber andeuten, dass die Offenbarkeit des Realen sich nicht von selber macht (dies anzunehmen, wäre eine Form des Mythos des Gegebenen), sondern in begrifflicher Arbeit stets aufs neue der Verbergung abgerungen werden muss wie ein Raub. III. Die Modi der Zeit und die Aspekte der Wahrheit Durch ihre interne asymmetrische Ausrichtung unterscheidet sich die Zeit grundlegend vom Raum. Andererseits kann sie in Analogie zu einer räumlichen Dimension, d.h. als Linie, konzipiert werden. Diese beiden Sachverhalte erlauben es, mit dem britischen Philosophen McTaggart eine A- Reihe, eine B-Reihe und eine C-Reihe der Zeit zu unterscheiden. 3 In der A-Reihe werden die Ereignisse in (mehr oder weniger) zukünftige, gegenwärtige und (mehr oder weniger) vergangene eingeteilt, wobei die jeweilige Gegenwart als Grenze zwischen Zukunft und Vergangenheit eine privilegierte Stellung erhält. In der B-Reihe spielen die Modi der Zeit keine Rolle mehr, sondern werden die Ereignisse als frühere und spätere relativ zueinander (nicht relativ zur Gegenwart) geordnet. Unter der C- Reihe schließlich wollen wir die B-Reihe ohne Zeitpfeil verstehen, d.h. als eine Linie ohne asymmetrische Ausrichtung. In der Naturwissenschaft wird von der A-Reihe abstrahiert und die Zeit gewöhnlich als B-Reihe betrachtet. Die B-Reihe entsteht aber durch eine Überlagerung der A-Reihe und der C-Reihe. Also dürfte die Zeit bei Abstraktion von der A-Reihe strenggenommen nur als C-Reihe betrachtet werden, und so geschieht es auch in der fundamentalen Naturwissenschaft, der Quantenphysik, die keinen Pfeil der Zeit kennt. (Die ungekehrte Abstraktion, von der C-Reihe, würde von der A-Reihe eine ungereihte, reine A-Zeit übriglassen, ein nichtsukzessives Ineinander von Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit, das Heideggers ursprünglicher Zeitlichkeit oder gar, wenn wir in Gedanken den Standpunkt der Endlichkeit hinter uns lassen, der Ewigkeit nahekommen dürfte, die Platon als ruhiges Urbild der sich bewegenden Zeit fasst.) Da wir die Modi der Zeit a priori kennen, werden wir sie ursprünglich aus dem Begriff und dem Faktum der Wahrheit verstehen müssen. Tatsächlich verweist der pragmatische Wahrheitsaspekt, um mit ihm zu be- 3 Vgl. McTaggart, J.M.E.: The Unreality of Time. In: Mind 17 (1908), S. 457-474. <?page no="280"?> 280 Anton Friedrich Koch ginnen, auf Praxis und Normativität (der pragmatische könnte auch der normative Wahrheitsaspekt genannt werden); unsere Praxis aber ist auf ein letztes Ziel hin orientiert, das Aristoteles formal als eudaimonia (Glück, gelingenden Lebensvollzug) konzipiert. Aus unserem praktischen Bezug auf ein letztes Ziel, die eudaimonia, verstehen wir insofern a priori die Zukunft. Aus den beiden anderen Wahrheitsaspekten sollten sich also die beiden anderen Zeitmodi verstehen lassen. Wenn wir - hier rein thetisch und zur abrundenden Erläuterung - auch die Aspekte der Subjektivität (die drei traditionellen Seelenvermögen), die logischen Dimensionen des Diskurses und die räumlichen Dimensionen mit ins Bild bringen, ergeben sich Reihen von Entsprechungen, die einige Grundzüge unseres unausdrücklichen apriorischen Wissens explizit machen; zunächst für den pragmatischen Wahrheitsaspekt folgende Reihe: a) der pragmatische Wahrheitsaspekt selber, b) das Wollen (Begehrungsvermögen) unter dem Ideal der eudaimonia, c) das logische Schließen bzw. die inferentielle Tiefe des logischen Raumes, d) die räumliche Dimension der Tiefe (hinten/ vorn), die durch eine freiwillige Grundbewegung nach vorn asymmetrisch ausgerichtet wird, e) der Zeitmodus der Zukunft. Um die analoge Reihe für den realistischen Wahrheitsaspekt zu finden, reflektieren wir darauf, dass wir uns als Naturwesen nicht selbst erschaffen, sondern uns faktisch „immer schon“ vorfinden in apriorischer Vergangenheit, und zwar vermöge dessen, was Heidegger „Befindlichkeit“ und Kant mit der Tradition das „Gefühl der Lust und Unlust“ nennt. Daraus ergibt sich folgende Reihe von Entsprechungen: a) realistischer Wahrheitsaspekt, b) Faktizität, erschlossen als solche in Befindlichkeit bzw. im Gefühl der Lust und Unlust, c) synthetische Breite (d.h. Subjekt-Prädikat- Struktur sowie auch Wahrheit-oder-Falschheit) des Urteils, d) Dimension der Breite (rechts/ links), ausgerichtet durch eine Gabelung in unserer freiwilligen Bewegung nach vorn (unter der Norm des Rechten), e) Zeitmodus der Vergangenheit. Bleibt der phänomenale Wahrheitsaspekt. In der Wahrnehmung sind wir bei den Dingen in apriorischer Gegenwart. Das ergibt folgende Reihe: a) phänomenaler Wahrheitsaspekt, b) Wahrnehmung (Sein bei den Dingen vermöge des Erkenntnisvermögens), c) Fallhöhe des Begriffs, in der Einzelne unter Begriffe fallen und Begriffe unter Begriffe subsumiert werden, d) Dimension der Höhe (oben/ unten), ausgerichtet durch eine unfreiwillige (de facto durch die Schwerkraft beschleunigte) Bewegung nach unten, e) Zeitmodus der Gegenwart. <?page no="281"?> Bemerkungen über Freiheit und Zeit 281 Aufgrund dieser Zusammenhänge verfügen wir über ein reiches Verständnis a priori der Zeitmodi und über ein reiches Verständnis a priori der Dimensionen und Richtungen des Raumes - alles aus dem Faktum der Wahrheit. Ferner ist dieses apriorische Verständnis auch an das praktische Denken (das Wollen) gebunden und damit an unseren Begriff der Willensfreiheit. IV. Die Freiheit und der Pfeil der Zeit Auch die Freiheit wird also drei wesentliche Aspekte haben. Leibniz hat sie identifiziert als Intelligenz, Spontaneität und Kontingenz. 4 Mit Kant wäre von Freiheit des Willens, Freiheit vom Naturzusammenhang und Freiheit der Willkür zu reden. Die Intelligenz lässt sich als Autonomie der praktischen Vernunft substantiieren und als der praktische Aspekt der Freiheit fassen. Die Wahl- oder Willkürfreiheit, von Leibniz nicht ganz treffend als Kontingenz bezeichnet, ist der bipolare oder elektorale Aspekt der Freiheit. Sie wurzelt in der Alternative von Streben und Fliehen, Begehren und Verabscheuen, die unserer Befindlichkeit, dem Gefühl der Lust und Unlust, das Profil gibt. Die Unabhängigkeit vom Naturzusammenhang oder die Spontaneität des Sich-lösen-Könnens aus dem Sein bei den Dingen schließlich nenne ich den kosmologischen oder mit Kant den transzendentalen Aspekt der Freiheit. Die Zukunft als Zukunft verstehen wir aus dem pragmatischen Aspekt der Wahrheit und über diesen aus dem praktischen Aspekt der Freiheit; die Gegenwart als Gegenwart aus dem phänomenalen Aspekt der Wahrheit und aus dem kosmologischen Aspekt der Freiheit. Dass wir die Vergangenheit als Vergangenheit aus dem realistischen Aspekt der Wahrheit verstehen, liegt nahe; weniger jedoch vielleicht die Verknüpfung mit dem elektoralen Aspekt der Freiheit, also der Wahlfreiheit; denn von einer freien Wahl nehmen wir an, dass wir sie in der Gegenwart für die Zukunft treffen, nicht in der oder für die Vergangenheit. Desungeachtet aber manifestiert sich in der Verflechtung des elektoralen Freiheitsaspektes mit dem realistischen Wahrheitsaspekt und dem Zeitmodus der Vergangenheit etwas Wesentliches, nämlich die selbstbezügliche Natur der Freiheit. Freiheit kann es nur geben, wenn sie ihrerseits frei gewählt wird; es ist unmöglich, in die Freiheit und die Autonomie gleichsam nur zu stolpern. Andererseits 4 Leibniz, G.W.: Die Theodizee. In der Übersetzung von Artur Buchenau. Hamburg 2 1968, § 288, S. 320. <?page no="282"?> 282 Anton Friedrich Koch finden wir uns als freie Wesen jeweils immer schon vor und sind insofern in die Freiheit „geworfen“. Dies ist der konstitutive Freiheitszirkel, der kein Artefakt einer bestimmten Freiheitstheorie ist, sondern ein Phänomen, dem jede Theorie Rechnung zu tragen hat; die gegenwärtige trägt ihm Rechnung, indem sie anerkennt und aus der Verflechtung der Vergangenheit und des elektoralen Freiheitsaspektes verständlich macht, dass wir die Freiheit immer schon gewählt haben müssen in apriorischer Vergangenheit und zu keiner Zeit mehr moralisch unbeschriebene Blätter sind. Man sieht hier zugleich, wie die Aspekte der Freiheit auch auf die Dimensionen des egozentrisch vorgestellten Raumes bezogen sind. Zum einen wird jede der drei Dimensionen als egozentrisch vorgestellte jeweils von einem charakteristischen Freiheitsaspekt und Wahrheitsaspekt geprägt, und zum anderen besitzt jede in Analogie zu den Modi der Zeit drei Gegenden: die Höhe die Gegenden oben, hier (in der Schwebe) und unten, die Breite die Gegenden rechts, hier (in der Mitte) und links, die Tiefe die Gegenden vorn, hier (auf halber Strecke) und hinten, die ihrerseits wie die Modi der Zeit jeweils durch einen charakteristischen Freiheitsaspekt und Wahrheitsaspekt bestimmt sind. Um diese Zusammenhänge im groben Überblick anzudeuten, möchte ich die Wahrheitsaspekte kurz als Praxis, Wahrnehmung (für die das Reale offenbar ist) und natürliche Vorgaben (auf die wir kraft des realistischen Wahrheitsaspektes verpflichtet sind) und die Freiheitsaspekte kurz als Autonomie, Spontaneität und Wahlfreiheit terminologisch fassen und die räumlichen Dimensionen der Reihe nach durchgehen. In der Dimension, die von a) Praxis, b) Autonomie und c) Zukunft bestimmt wird, d.h. der Tiefe, ist die Gegend vorn wiederum durch Praxis, Autonomie und Zukunft markiert und fungiert insofern als Leitgegend. Das frei voranschreitende Subjekt hat „hinten“, wo es herkommt, also in der Vergangenheit, jeweils schon frei gewählt, sich von natürlichen Vorgaben, denen die Wahrheit kraft ihres realistischen Aspektes verpflichtet ist, nach Kräften zu lösen, und ist jetzt hier, vom Gebundensein an die Natur sich ständig in Spontaneität lösend, unterwegs zur gelingenden Praxis und zur Autonomie. In der Dimension, die von a) Wahrnehmung, b) Spontaneität und c) Gegenwart - der Mitte zwischen Zukunft und Vergangenheit - bestimmt wird, der Höhe, fungiert die Mitte, und zwar nun zwischen oben und unten, die Gegend hier, als Leitgegend. Die natürliche Bewegungstendenz ist in dieser Dimension nach unten gerichtet (als Sinken oder Fallen), in die Gegenrichtung der Freiheit. Praxis, Autonomie und Zukunft also markieren diesmal den Ausgangspunkt, das Oben, das im Steigen oder Sich- <?page no="283"?> Bemerkungen über Freiheit und Zeit 283 Aufrichten stets neu zurückzugewinnen ist. Wiederum finden wir die Mitte, das Hier, durch Spontaneität markiert (sowie durch Offenbarkeit des Realen für die Wahrnehmung und durch zeitliche Gegenwart). Das Unten wird markiert durch natürliche Vorgaben und die von dort her stets mögliche Heteronomie des Willens, ferner durch die Wahlfreiheit, entweder in Heteronomie zu verharren oder nicht, und schließlich durch die Vergangenheit. In der Dimension, die von a) alethischer Verpflichtung auf natürliche Vorgaben, b) Wahlfreiheit und c) Vergangenheit bestimmt wird, der Breite, ist die Asymmetrie primär eine „gesollte“, d.h. eine Norm in Beziehung auf faktische Tendenzen zur Symmetrie. Leitgegend ist hier, in der Dimension der natürlichen Vorgaben, die natürlich vorgegebene, die in freier Wahl verlassen werden und insofern der Vergangenheit angehören soll, die „linke“ Seite. Die Zukunft soll der „rechten“ Seite gehören, derjenigen der Praxis und Autonomie; und wiederum ist die Mitte die Gegend der Wahrnehmung, Spontaneität und Gegenwart. Vor dem Hintergrund dieser apriorischen Verbindungen wenden wir uns nun der Problematik des Zeitpfeils, des Naturdeterminismus und der Freiheit zu. Da jeweils nur gegenwärtige Ereignisse wahrnehmbar sind, müssen vergangene und zukünftige Ereignisse durch inhaltliche Folgerungen erschlossen werden („es beginnt zu regnen, also wird gleich die Straße nass sein“, „die Straße ist nass, also hat es geregnet“). Inhaltliches Schließen längs der Zeitreihe setzt aber voraus, dass die mit Ereignissen erfüllten Zeiten einander nach Naturgesetzen determinieren. Dieser Determinismus nach Naturgesetzen macht aber noch nicht den Pfeil der Zeit verständlich, da frühere Zeiten durch spätere ebenso determiniert sind wie spätere durch frühere. Folglich lässt der Determinismus nach Naturgesetzen auch nicht erkennen, wie es möglich ist, die Zukunft von der Vergangenheit fundamental und a priori zu unterscheiden. Gemäß der Theorie der apriorischen Voraussetzungen muss der fundamentale Unterschied von Zukunft und Vergangenheit, da er nur in indexikalischem Denken fassbar und dieses rückbezogen auf verkörperte Subjektivität ist, mit den Subjekten in die Welt gekommen sein. Spezifisch für Subjekte gegenüber Nichtsubjekten aber ist die Rede bzw. das Faktum der Wahrheit und, ihre Einwirkung auf die Welt angehend, insbesondere ihre Freiheit. Demnach wird die Zeit deswegen einen Pfeil haben, weil es freie Akteure gibt. Um den Zusammenhang zwischen Freiheit und Zeitpfeil besser zu verstehen, muss man sich zunächst klarmachen, dass die Naturgesetze zwar streng und ausnahmslos gelten, aber konditionale Form besitzen. Wenn zu <?page no="284"?> 284 Anton Friedrich Koch einem Zeitpunkt dies und das der Fall ist, dann - so belehren sie uns - ist zu anderen (früheren oder späteren) Zeitpunkten solches und jenes der Fall. Nun ist aufgrund ihres kosmologischen Aspektes die Freiheit nicht vereinbar mit einem durchgängigen Naturdeterminismus, was kompatibilistische Freiheitstheorien von vornherein zum Scheitern verurteilt. Um der Realität der Freiheit willen müsste es daher Bestimmtheitslücken im Naturzusammenhang geben. Andererseits können vom Bedingungszusammenhang der Naturgesetze keine Abstriche gemacht werden, so dass für mögliche Bestimmtheitslücken allein die jeweiligen Rand- oder Anfangsbedingungen, d.h. die bedingenden Weltzustände übrigbleiben. Gesetzlich verbundene Weltzustände und weltzustandsverbindende Gesetze - nur diese beiden Stellschrauben stehen uns für die Theoriebildung zur Auswahl. Wenn es also keine Gesetzeslücken gibt, müssen wir die Freiheit in Bestimmtheitslücken der Weltzustände suchen. Es kann Freiheit demnach nur geben, wenn die Weltzustände objektive Unbestimmtheiten, Lücken im Der-Fall- Sein, aufweisen, denen sprachseitig Wahrheitswertlücken entsprechen. Nun manövrieren wir uns aber in die unkomfortable Lage, am Bivalenzprinzip rütteln zu müssen, das nicht nur, wie Dummett lehrt, das Signum des Realismus, sondern auch grundlegend für die klassische Logik ist, die wir anders als Dummett nicht preisgeben wollen. Folglich müssen wir ontische Unbestimmtheiten, da sie Wahrheitswertlücken zur Folge haben, für prinzipiell unentdeckbar erklären, was sich indes bequem bewerkstelligen lässt, wenn wir die Bivalenz nicht als ein ontisch konstitutives, sondern als ein ontisch regulatives Prinzip begreifen. Wann immer wir einen Satz nicht entscheiden können, heißt uns das Bivalenzprinzip die Unbestimmtheit als eine bloß epistemische zu betrachten und unsere Nachforschungen zu intensivieren. Die Wahrheitswertlücke soll nicht sein, und für den nie beweisbaren Fall, dass sie ist, weil ihr weltseitig unerkannt eine Seinslücke zugrunde liegt, gilt hilfsweise, dass Seinslücken durch freies Handeln tatkräftig gefüllt und geschlossen werden sollen. (Hier zeigt sich die praktische Seite der klassischen Logik). Solange jedoch noch keine freien Akteure in den Weltlauf eingreifen, werden sich Seinslücken nach strengen Naturgesetzen von einem Weltzustand auf alle anderen - frühere wie spätere - fortschreiben, und das Bestimmtheitsdefizit der Welt wird nach beiden zeitlichen Richtungen konstant sein. Da wir so dem kosmologischen Freiheitsaspekt und der Strenge der Naturgesetze Genüge tun, dürfen wir nun, um den Zeitpfeil zu verstehen, annehmen, dass, sobald freie Akteure existieren, Seinslücken durch freie Handlungen geschlossen, d.h. Unbestimmtheiten in der Welt beseitigt werden können. Es ist, als ob Platons göttlicher Welthandwerker zwar den <?page no="285"?> Bemerkungen über Freiheit und Zeit 285 Rohbau der Welt erstellt, aber den innerweltlichen Akteuren Malerarbeiten zu erledigen gelassen hätte. Wir vervollständigen als innerweltliche Akteure die Welt von innen und erhöhen in freien Handlungen die kosmische Bestimmtheit. Solange es freie Akteure gibt, nimmt daher die kosmische Bestimmtheit längs der Zeitreihe zu und erzeugt damit deren Asymmetrie, den Pfeil der Zeit. Aber wir sind noch nicht am Ziel unserer Bemühungen. Die strenge Geltung der Naturgesetze wird zur Folge haben, dass ein neuer Bestimmtheitsgrad, der aus der Schließung einer Seinslücke resultiert, sich in beiden zeitlichen Richtungen fortpflanzt, so dass eine freie Handlung den Weltprozess insgesamt, auch rückwirkend die Vergangenheit, ein wenig bestimmter macht. Wir müssen daher die Zeit doppelt oder zweidimensional betrachten, was ad hoc wäre, wenn uns nicht das Phänomen des Verfließens der Zeit einen unabhängigen Grund dafür lieferte. Die Zeit verfließt, sie ändert sich in der Zeit, und zwar allein schon dadurch, dass ständig ein anderer Augenblick zum gegenwärtigen wird. Die eine, substantielle, weil dem Fluss der Zeit zugrundeliegende Zeit, nennen wir sie die Grundzeit, erhält mit jedem Augenblick eine neue Gestalt und wird zu einer neuen Binnenzeit, wobei die Binnenzeit eines Zeitpunktes t diejenige ganze Zeitskala ist, deren Vergangenheit und deren Zukunft in t als ihrer gemeinsamen Grenze zusammenhängen. Die vielen aufeinanderfolgenden Binnenzeiten sind die vielen sukzessiven Gesichter oder Gestalten der einen Grundzeit. Theorien, die die Zeit eindimensional betrachten und nicht die Grundzeit von ihren vielen Gestalten, den Binnenzeiten, unterscheiden, können dem Fluss der Zeit nicht Rechnung tragen und werden ihn leugnen müssen. Die anvisierte Freiheitstheorie des Zeitpfeils leugnet ihn nicht und gewinnt daraus zusätzliche Erklärungskraft. Sie betrachtet die Zeit zweidimensional, naheliegender Weise mittels eines kartesischen Achsenkreuzes, dessen x- Achse die Binnenzeit zum Zeitpunkt 0 repräsentiert. Die Parallelen zur x- Achse, d.h. die Waagerechten mit Gleichungen des Schemas „y=c“, repräsentieren dann die verschiedenen Binnenzeiten, und die Diagonale mit der Gleichung „y=x“ gibt für jede Binnenzeit, indem sie die sie repräsentierende Waagerechte schneidet, deren Gegenwartspunkt an. Soweit zum Verfließen der Zeit. Nun gilt es, die freiheitsinduzierte Bestimmtheitszunahme des Weltprozesses in das Bild einzupassen. In jeder Binnenzeit, so legen wir fest, ist die ontische Bestimmtheit über die ganze (Binnen-) Zeitreihe hinweg, also in der Waagerechten, konstant; aber in der Senkrechten, also längs der y-Achse, wächst dank freien Handlungen die Bestimmtheit mit den y-Werten. Wenn c < d, so ist die ganze Binnenzeit, die durch die Glei- <?page no="286"?> 286 Anton Friedrich Koch chung „y=c“ charakterisiert wird, (und ist die ganze Welt dieser Binnenzeit) durch einen geringeren Bestimmtheitsgrad charakterisiert als die Binnenzeit mit der Gleichung „y=d“ (und deren Welt), sofern zwischen den Zeitpunkten c und d freie Handlungen vorkommen. Die Senkrechten, d.h. die y-Achse und ihre Parallelen, repräsentieren hier die Zeit, sofern in ihr die Bestimmtheit der Welt tendenziell zunimmt. Von der Strenge der Naturgesetze werden dabei keine Abstriche gemacht. Eine freie Handlung H zum Zeitpunkt t führt zu einer neuen, bestimmteren Binnenzeit, in der durch H nunmehr dasjenige gesetzt ist, was in den Binnenzeiten (und zugehörigen Welten) vor t an den kausalen Bedingungen von H noch bis zur Hinreichendheit fehlte. Eine freie Handlung hebt also, indem sie vollzogen wird, ihre Freiheit auf und macht sich zu einem naturnotwendigen Ereignis. Sie setzt in der neuen, von ihr mitbegründeten Binnenzeit rückwirkend sich als ein naturnotwendiges Ereignis, denn sie ergänzt rückwirkend die Anfangsbedingungen des Weltprozesses in der neuen Binnenzeit so, dass nunmehr sie selber, diese Handlung, naturnotwendig geschehen musste. Aber auch jetzt ist das Theorieziel noch nicht ganz erreicht. Die Bestimmtheit der Binnenzeiten nimmt zwar längs der y-Achse zu; aber man versteht noch nicht, warum sie eher in der einen als in der anderen Richtung zunimmt, was also die Zukunft fundamental gegenüber der Vergangenheit auszeichnet. In jeder neuen Binnenzeit herrscht Symmetrie zwischen Vergangenheit und Zukunft; denn nach allem, was bisher gesagt wurde, bestimmt eine freie Handlung die Welt und die zugehörige Binnenzeit in beiden zeitlichen Richtungen weiter; greift demnach in die binnenzeitliche Vergangenheit ebenso ein wie in die binnenzeitliche Zukunft und stiftet eine neue Binnenzeit, in der sie im nachhinein notwendig ist. Zum Pfeil der Zeit gehört es aber, dass die Vergangenheit festgelegt und die Zukunft partiell offen ist. Dieser fundamentale Unterschied ist bisher noch nicht erklärt, auch nicht dann, wenn wir uns darauf berufen, dass in der Vertikale, längs der y-Achse unseres angenommenen Achsenkreuzes, die Bestimmtheit der Binnenzeiten zunimmt. Zuletzt müssen wir daher die Behauptung ventilieren, dass die Bestimmtheitslücken der Zukunft, mögen sie auch in jeder gegebenen Binnenzeit den Bestimmtheitslücken der Vergangenheit im Betrag gleichen, in der Qualität radikal von ihnen verschieden sind. Erst damit wird auch die Sonderrolle des je gegenwärtigen Augenblickes in der Reihe der Zeitpunkte angemessen gewürdigt, der im linearen Kontinuum stetiger Bestimmtheitszunahme eine diskontinuierliche Grenze zwischen dem noch Offenen und Möglichen und dem schon Entschiedenen und Unabänderlichen darstellt. <?page no="287"?> Bemerkungen über Freiheit und Zeit 287 Das Modell der qualitativen Differenz zwischen künftigen und vergangenen Unbestimmtheiten leihen wir uns von der Quantenmechanik. Die Quantenmechanik kennt sogenannte Überlagerungen einander ausschließender Zustände von Mikropartikeln. Mit der Wahrscheinlichkeit 0,5 sei beispielsweise ein gegebenes radioaktives Atom zum Zeitpunkt t schon zerfallen, mit der Wahrscheinlichkeit 0,5 noch nicht. Solange keine Messung vorgenommen wird, überlagern sich diese unverträglichen Zustände; das Atom ist im Überlagerungszustand, wie man mit Aristoteles sagen könnte, der Möglichkeit nach sowohl zerfallen als auch nicht zerfallen und der Wirklichkeit nach weder das eine noch das andere. Nun hat Erwin Schrödinger die quantentheoretischen Unbestimmtheiten und Überlagerungen in einem bekannten Gedankenexperiment vom Mikroskopischen ins Makroskopische verstärkt: Eine Katze wird in Gedanken in einen Kasten gesperrt, in dem der Zerfall eines gegebenen radioaktiven Atoms einen Vergiftungsmechanismus auslöst. Wenn zum Zeitpunkt t das Atom mit halber Wahrscheinlichkeit zerfallen ist, ist die Katze zu t mit halber Wahrscheinlichkeit tot. Solange keine Messung vorgenommen wird, d.h. solange niemand in den Kasten schaut, müssten Atom und Katze nach den Gesetzen der Quantenmechanik in einem Überlagerungszustand zwischen Zerfall und Nichtzerfall bzw. Tod und Leben sein. Für Mikroobjekte wie Atome mag das erstaunlich sein, für Makroobjekte wie Katzen erscheint es schlicht absurd. Wie die Quantentheoretiker mit dieser Absurdität umgehen, müssen wir ihnen überlassen. Wir wollen den Gedanken einer Verstärkung mikroskopischer Unbestimmtheiten ins Makroskopische auf einen Fall übertragen, in dem er keineswegs absurd, sondern phänomennah und erklärungsstark ist. Wir betrachten keine quantentheoretischen Unbestimmtheiten, sondern ontische Bestimmtheitslücken in den Randbedingungen des Weltprozesses, d.h. in den einzelnen Weltzuständen, und deren Fortschreibung über die Zeit, und behaupten, um uns den Pfeil der Zeit und die Natur der Gegenwart verständlich zu machen, dass sich im je gegenwärtigen Augenblick als der jeweiligen Zeit des Wollens und Handelns freier Akteure mikroskopische Bestimmtheitslücken in vergangenen Weltzuständen wie in einem Brennglas zu makroskopischen Bestimmtheitslücken in zukünftigen Weltzuständen verstärken. Wenn eine Katze eine lebensbedrohliche Situation mit der Wahrscheinlichkeit p (mit 0 < p < 1) überleben wird und die Zukunft bezüglich des tatsächlichen Ausgangs noch unbestimmt ist, so befindet sich die zukünftige Katze - die Katze zum zukünftigen Zeitpunkt t z - jetzt tatsächlich noch in einem Überlagerungszustand von Tod und Leben, der erst dann so oder so entschieden wird, wenn eine „Messung“ ge- <?page no="288"?> 288 Anton Friedrich Koch macht, d.h. wenn t z Gegenwart wird. Mit Blick auf die Zukunft wirkt der gegenwärtige Augenblick wie der Verstärker mikroskopischer, unentdeckbarer ontischer Unbestimmtheiten ins Makroskopische, Beschreibbare, Planbare. In umgekehrter Blickrichtung wirkt er wie ein Reißverschlussschieber, der in gleichförmiger Bewegung längs der Zeitreihe die verzweigte, partiell offene Zukunft hinter sich zur linearen Vergangenheit verschließt. Dieses Modell macht verständlich, wie die Gliederung der Wahrheit und des Seins in einen realistischen, einen phänomenalen und einen pragmatischen Aspekt durch die Freiheit innerweltlicher Akteure so in der Zeit implementiert wird, dass diese dadurch ihre asymmetrische Ausrichtung, ihren Pfeil, erhält und der Pfeil der Zeit jenen Akteuren a priori bewusst wird. Zum Schluss ist eine Abschwächung der These angezeigt. Wesentlich für die Theorie der apriorischen Voraussetzungen ist die Erkennbarkeit a priori des Pfeils der Zeit. Diese impliziert, wie wir sahen, dass die erkennenden Subjekte den Pfeil der Zeit tatkräftig in der Zeit implementieren. Aber sie müssen in ihrem Implementationsgeschäft nicht allein sein. Es ist kein Zufall, sondern eine logische, aus der identitas indiscernibilium ableitbare Notwendigkeit, dass im Weltprozess früher oder später Subjekte auftreten. Dann aber muss die Zeit als solche in einem Verhältnis wesentlicher wechselseitiger Abhängigkeit, kurz einem Wechselverhältnis, zu Subjektivität und Freiheit stehen. Sie wird also, schon bevor Subjektivität und Freiheit in einzelnen Organismen wirklich hervortreten, die Bedingungen der Möglichkeit dieses Hervortretens erfüllen müssen. Wir dürfen uns daher mit dem Gedanken anfreunden, dass nicht nur freie Akteure, sondern an ihrer Stelle zuvor schon andere Lebewesen, etwa eine Katze in einem Kasten, oder gar beliebige Makrosysteme (für die bekanntlich der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik gilt), die Funktion des Weiterbestimmens der Weltzustände und der Binnenzeiten längs der Zeitachse ausüben konnten. Makrosysteme sind nämlich, wie besonders Wilfrid Sellars eingeschärft hat, keine Aggregate von Mikroobjekten, sondern kategorial von ihnen unterschieden. Sie sind beispielsweise in der Regel kontinuierlich und farbig; Ansammlungen von Mikroobjekten können weder das eine noch das andere sein. In ihren phänomenalen Eigenschaften aber, ihrer Farbigkeit etwa, sind die Dinge der Makrowelt wesentlich auf wahrnehmende Subjektivität bezogen (die sich in der Evolution der Arten zu denkender und handelnder Subjektivität fortentwickeln musste). Letztlich beruht also das aktive Bestimmen der unmittelbaren Zukunft und ihr Ablegen als Vergangenheit im je gegenwärtigen Augenblick unter der fälligen makroskopischen Betrachtung von allem Anfang an auf einer zweiten Art von <?page no="289"?> Bemerkungen über Freiheit und Zeit 289 Kausalität neben der Naturgesetzmäßigkeit oder vielmehr auf der einzigen Art von Kausalität, die diesen Namen verdient, der der bloßen Naturgesetzmäßigkeit, da diese keine zeitliche und kausale Asymmetrie begründen kann, nicht zusteht, eben auf der Kausalität aus Freiheit, der Akteurskausalität. Wo diese aber anhebt im langwierigen Prozess der Evolution, ob schon bei Steinen oder bei Katzen oder erst bei Menschen, dürfte weniger eine philosophische als teils eine empirische und teils eine Definitionsfrage sein. In der spezifisch menschlichen Freiheit jedenfalls, so können wir in philosophischer Absicht resümieren, kommt der Pfeil der Zeit in seine Vollendung und wird er ipso facto a priori erkennbar. <?page no="291"?> Autorenverzeichnis Andreas Braune, M.A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Michael Dreyer, Prof. Dr., Professor für politische Theorie und Ideengeschichte am Institut für Politikwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Bertolt Fessen, Dr. phil., Wissenschaftlicher Lektor, Redakteur und Übersetzer in Berlin. Michael N. Forster, Prof., PhD., Alexander von Humboldt Professor, Inhaber des Lehrstuhls für theoretische Philosophie und Co-Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie an der Universität Bonn. Vorher lehrte er 28 Jahre lang an der University of Chicago, wo er Vorsitzender des philosophischen Instituts und Glen A. Lloyd Distinguished Service Professor in Philosophy war und jetzt als Gastprofessor wiederkehrt. Raymond Geuss, Prof., PhD FBA, Professor am Philosophischen Seminar der Universität Cambridge. Kristin Gjesdal, Prof., PhD, Associate Professor für Philosophie an der Temple University Philadelphia. Katja Grundig de Vazquez, Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Verantwortliche der Arbeitsstelle für Internationale Herbartianismus- <?page no="292"?> 292 Autorenverzeichnis forschung, Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Duisburg- Essen. Kai-Uwe Hoffmann, Dr. phil., Habilitand und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Jena. Jean-François Kervegan, Prof. Dr., Professor für Philosophie an der Universität Panthéon-Sorbonne (Paris 1) und Senior Fellow am Institut Universitaire de France (France National Institute of Advanced Studies). Anton Friedrich Koch, Prof. Dr., Professor für Philosophie an der Universität Heidelberg und Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Angelica Nuzzo, Prof. Dr., Professorin für Philosophie am Brooklyn College and Graduate Center (City University of New York). Steffen Schmidt, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Lina Steiner, Prof., PhD, Associate Professor für Russische Literatur, University of Chicago. Klaus Vieweg, Prof. Dr., Professor für Philosophie am Institut für Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Michael Winkler, Prof. Dr., Professor für Allgemeine Pädagogik und Theorie der Sozialpädagogik am Institut für Bildung und Kultur der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Claudia Wirsing, Permanent Fellow-in-Residence des Kollegs Friedrich Nietzsche der Klassik Stiftung Weimar sowie Doktorandin und Lehrbeauftragte am Institut für Philosophie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Folko Zander, Dr. phil., Lehrbeauftragter und Habilitand am Institut für Philosophie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. <?page no="293"?> Der Band „Die Bildung der Moderne“ versammelt Beiträge der interdisziplinären Konferenzen „Concepts of Bildung around 1800 and Wilhelm von Humboldt’s Idea of the University“ (University of Chicago) und „Die Bildung der Moderne“ (Universität Jena). Die Autoren analysieren zum einen die Bildungs- und Freiheitskonzepte um 1800, u.a. von Herder, Humboldt, Fichte, Hegel und Herbart. Auf der Grundlage der Forschungsergebnisse arbeiten sie die Relevanz historischer Theorien für eine moderne Bildungskonzeption heraus. Zum anderen wird die aktuelle Bildungssituation kritisch in den Blick genommen und der intrinsische Zusammenhang von Bildung und Freiheit beleuchtet.