Der literarische Text - eine Fiktion
Aspekte der ästhetischen Kommunikation durch Sprache
1004
2012
978-3-7720-5470-9
978-3-7720-8470-6
A. Francke Verlag
Henrik Nikula
Der Begriff der Fiktionalität spielt i.A. eine zentrale Rolle bei der Unterscheidung zwischen literarischen und nicht - literarischen Texten. In der vorliegenden Untersuchung wird strikt zwischen literarischen Texten und literarischer Kommunikation unterschieden. Literarische oder ästhetische Kommunikation wird verwendet, um das auszudrücken, was nichtliterarisch unausdrückbar ist. Zentral in dieser sprachwissenschaftlichen Arbeit ist somit der Begriff des Ästhetischen, und zwar in Verbindung mit dem Begriff der Sinneswahrnehmung.
<?page no="0"?> Henrik Nikula Der literarische Text - eine Fiktion Aspekte der ästhetischen Kommunikation durch Sprache <?page no="1"?> Der literarische Text - eine Fiktion <?page no="3"?> Henrik Nikula Der literarische Text - eine Fiktion Aspekte der ästhetischen Kommunikation durch Sprache <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Foto des Autors © 2012 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 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Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: Nagelsatz, Reutlingen Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8470-6 <?page no="5"?> Inhalt 1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2 Zum Textbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 2.1 Textualität: Sinn und Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 2.2 Zum Textsortenbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2.3 Das Verhältnis zwischen Text und Bild . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.4 Textbegriff: Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 3 Das Ästhetische als linguistischer Begriff und das „Ausdrucksdefizit“ der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 3.1 Das Janusgesicht des sprachlichen Zeichens . . . . . . . . . . . . 29 3.2 Digital und analog bzw. ästhetisch und aisthetisch . . . . . . . 35 3.3 Zur Verwendung des sprachlichen Zeichens: Meinen und Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 3.4 Das Ästhetische als Textfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 3.5 Die Ausdrückbarkeit von Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 3.6 Der literarische Text als Metapher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3.7 Das Ästhetische: Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 4 Fiktivität, Fiktionalität, Fiktionalisierung und Fingieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 4.1 Fiktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 4.1.1 Reales im Fiktiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 4.1.2 Fiktivität als unterscheidendes Kriterium . . . . . . . . . . . . . . 89 4.2 Fiktionalität und Fiktionalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 4.3 Fingieren: „Als-ob-Kommunikation“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 4.4 Fiktivität: Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 5 Fiktionalisierung als Entkontextualisierung . . . . . . . . 104 5.1 Entkontextualisierung als allgemeine kommunikative Strategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 5.1.1 Entkontextualisierung und Modalität . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 5.1.2 De dicto vs. de re . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 5.1.3 Der literarische Text als „Angebot“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 5.1.4 Die „Janusartigkeit“ der Fiktionalisierung . . . . . . . . . . . . . . 118 <?page no="6"?> Inhalt 6 5.2 Ästhetisierung durch Entkontextualisierung . . . . . . . . . . . . 120 5.3 Entinstrumentalisierung durch Entkontextualisierung . . . . 122 5.4 Fiktionalität als notwendiges Merkmal literarischer Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 5.5 Entkontextualisierung: Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . 130 6 „Formale“ Aspekte des Literarischen . . . . . . . . . . . . . . 131 6.1 Poetische Sprache und Normativität - Abweichungspoetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 6.2 Stil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 6.2.1 Stil und Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 6.2.2 Stil und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 6.2.3 Beispielanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 6.2.3.1 Zum Stil des literarischen Textes am Beispiel von Minimalpaaranalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 6.2.3.2 Zum Stil eines literarischen Textes oder zur Sprache des „Exotischen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 6.2.3.3 Zum Stil des nichtliterarischen Textes am Beispiel eines Reportagetextes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 6.2.4 Stil als persuasives Mittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 6.2.4.1 Stil als persuasives Mittel in nichtliterarischer Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 6.2.4.2 Stil als persuasives Mittel in literarischer Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 6.2.5 Trivialliteratur versus seriöse Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . 177 6.2.6 Stil: Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 7 Zur Übersetzung von literarischen Texten . . . . . . . . . . 188 7.1 Zum Problem der Übersetzbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 7.2 Übersetzung von literarischen Texten: Beispielanalyse von zwei Gedichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 7.3 Übersetzung von literarischen Texten: Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 8 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 <?page no="7"?> 1 Linguistische oder sprachwissenschaftliche Untersuchungen - die Termini Linguistik und Sprachwissenschaft werden hier synonym verwendet. 1 Einführung Simone Winko schreibt in ihrem Artikel „Auf der Suche nach der Weltformel. Literarizität und Poezität in der neueren literatuttheoretischen Diskussion“ Folgendes, Winko (2009: 374f.): Gibt es immanente Eigenschaften oder Funktionen von Texten, die sie zu literarischen machen? Gibt es textexterne Kriterien, nach denen sich literarische von nicht-literarischen Texten unterscheiden lassen? Die Frage nach dem alle literarischen Texte zusammenhaltenden Literaritätskriterium gleicht der Suche nach der Weltformel: Gäbe es sie und wäre sie akzeptiert, dann wäre alles einfacher. Entsprechend hätte es auch die Literaturwissenschaft erheblich leichter mit der Bestimmung ihres Gegenstandes, ihrer Verfahren und letztlich auch mit ihrer Fachidentität, wenn sie auf distinkte und akzeptierte Literarizitätskriterien zurückgreifen könnte. […] Auffällig ist jedoch, dass die Skepsis gegenüber solchen Kriterien einer Intuition zu widersprechen scheint, die den Umgang der ‚Normalleser‘ mit Literatur kennzeichnet, und auch in professionellen Kontexten ist die Unterscheidung immer dann unproblematisch, wenn keine Begründungen gefragt sind. So werden z.B. in literaturwissenschaftlichen Seminaren ungebrochen sichere Antworten auf die Frage gegeben, was Literatur auszeichne, etwa Literatur behandle Erfundenes und sei gut geschrieben. Die theoretisch schwierig oder auch gar nicht zu leistende klare Abgrenzung literarischer Texte von nichtliterarischen stellt im ‚täglichen Umgang‘ mit diesen Texten offenbar kein Problem dar. Die Grenzen verlaufen erkennbar, und sie werden mit Bezug auf Textqualitäten begründet. Gibt es den literarischen Text oder ist er nur eine Fiktion? Das zentrale Ziel dieses Buches besteht darin zu untersuchen, was unter dem Begriff des literarischen Textes und unter literarischer Kommunikation überhaupt linguistisch verstanden werden könnte. Wenn bestimmte Erscheinungen in literarischen Texten unter Bezug auf die Literarizität linguistisch beschrieben werden, müsste mit linguistischen Mitteln erfasst werden können, was es bedeutet, einen Text als „literarisch“ zu bezeichnen. In vielen linguistischen Untersuchungen von literarischen Texten scheint man aber davon auszugehen, dass es genügt, dass der zu untersuchende Text irgendwie als zur „Literatur“ gehörend aufgefasst wird. 1 Dabei wird zwar nicht selten auf bestimmte Eigenschaften des Textes <?page no="8"?> 1 Einführung 8 2 Wellmann (2003, 346f.) ist allerdings der Meinung, dass die Textlinguistik sich allzu wenig für den literarischen Text als Textsorte interessiert hat. Vgl. aber etwa Adamzik (2004, 13): „[...], dass zu den frühesten textlinguistischen Arbeiten solche gehören, die literarischer Sprache gewidmet sind und dass auch die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts gerade in diesem Bereich besonders fruchtbar waren. Inwieweit die Analyse literarischer Texte allerdings zum Bereich der Text-Linguistik gehört, ist immer umstritten gewesen und wird es wohl auch bleiben.“ Vgl. weiter Oomen (1979, 178): „Neben Strukturalismus und Transformationsgrammatik war es die Textlinguistik, die Impulse für die Entwicklung einer linguistischen Poetik lieferte.“ 3 Vgl. auch Einführungen wie etwa Adamzik (2004), de Beaugrande/ Dressler (1981), Brinker (2010), Eroms (2008), Heinemann/ Heinemann (2002), Heinemann/ Viehweger (1991). Z.B. Gansel/ Jürgens (2007) und Gansel (2011) schenken aber dem Unterschied zwischen literarischen und nichtliterarischen Texten ein wenig mehr Aufmerksamkeit. hingewiesen, die als typisch für literarische Texte betrachtet werden, wie etwa Fiktionalität, Fiktivität, Kreativität, Formgebundenheit, Ästhetizität, Abweichung von der Norm, Stil, Polyfunktionalität, Autoreflexivität usw., aber häufig ohne dass näher darauf eingegangen wird, was unter diesen Begriffen linguistisch zu verstehen sei und welche Konsequenzen es hat, wenn Eigenschaften wie diese als „textsortentypisch“ betrachtet werden. Vor allem der zentrale Begriff des Ästhetischen scheint keiner Erklärung zu bedürfen. Und auch wenn man in der Sprachwissenschaft sich schon lange für die besonderen Eigenschaften der literarischen Sprache interessiert hat, 2 werden bei der Darstellung der Textklassifizierung in textlinguistischen Arbeiten die literarischen Texte recht stiefmütterlich behandelt (wenn sie überhaupt behandelt werden) 3 , wobei die Klassifizierung der literarischen Texte (Gattungen und Genres), wie auch die Unterscheidung zwischen literarischen und nicht-literarischen Texten mehr oder weniger explizit der Literaturwissenschaft überlassen wird. Dabei wird auch die Frage kaum thematisiert, ob die literaturwissenschaftlichen Kriterien der Klassifikation überhaupt mit den sprachwissenschaftlichen vereinbar sind. Jakobson (1987: 63) schreibt: „Poetics deals primarily with the question ,What makes a verbal message a work of art? ‘“ Dies ist auch eine zentrale Frage der vorliegenden Arbeit. Allerdings geht es hier um Sprachwissenschaft, aber Jakobson (1987: 63) schreibt selbst weiter: „Since linguistics is the global science of verbal structure, poetics may be regarded as an integral part of linguistics.“ Zentraler Gegenstand der Literaturwissenschaft sind die literarischen Texte, Gegenstand der Sprachwissenschaft oder Linguistik sind sprachliche Texte überhaupt. Dies bedeutet nicht, dass die Literaturwissenschaft als Teilbereich der Linguistik (oder der Textlinguistik) betrachtet werden <?page no="9"?> 1 Einführung 9 4 Zum Textbegriff, vgl. u.a. Breuer, U. (2002 u. 2003), Fix (2003a). 5 Die Motivation, überhaupt etwas zu tun, ist natürlich letzten Endes von subjektiver Wertung abhängig, vgl. auch Abschn. 3.5. könnte, denn die Ziele und Methoden der Literaturwissenschaft und der Linguistik sind deutlich verschieden, auch wenn ihre Objekte zum Teil dieselben sind. Auch kann der Linguist viel von den Einsichten der Literaturwissenschaft lernen, aber die Begriffe der Literaturwissenschaft können nicht ohne weiteres von der Linguistik übernommen werden, denn schon so zentrale Begriffe wie „Sprache“‘ „Text“, „Interpretation“, „Kommunikation“ usw. werden in der Literaturwissenschaft nicht selten in einer Weise verwendet, die mit „entsprechenden“ linguistischen Begriffen nicht ohne weiteres kompatibel ist. 4 Breuer, U. (2002b: 185) schreibt: Es sollte deutlich geworden sein, dass Linguistik und Literaturwissenschaft gleichermaßen von einem Textbegriff ausgehen, der sich durch die Kriterien der abgeschlossenen Form und der kommunikativen Funktion auszeichnet. Die Linguistik interessiert sich dabei eher für die allgemeinen Eigenschaften eines abstrakten Textes, die Literaturwissenschaft dagegen für das Verstehen einzelner Textexemplare. Typisch für nicht wenige linguistische Arbeiten, die sich mit literarischen Texten befassen, scheint zu sein, dass man sich dem Literarischen oder „Poetischen“ mit einer gewissen Ehrfurcht nähert, vgl. dazu auch Jannidis/ Lauer/ Winko (2009: 28). Eine solche Ehrfurcht mag an sich berechtigt sein, stellt aber kaum einen geeigneten Ausgangspunkt einer linguistischen Analyse dar, wo subjektive Wertungen wenigstens eher keine Rolle spielen sollten. Ganz wertungsfrei lässt es sich natürlich auch linguistisch nicht arbeiten, da z.B. schon die Auswahl der zu analysierenden Beispieltexte leicht ein gewisses Moment der subjektiven Wertung beinhalten kann. 5 Gansel/ Jürgens (2007: 65) thematisieren einen wichtigen Aspekt der hier zu behandelnden Fragestellungen, wenn sie schreiben: Der Begriff der Textsorte hat sich in der jüngeren Vergangenheit als Klassifikationsterminus für Gebrauchstexte weitgehend durchgesetzt und grenzt sich von dem literaturwissenschaftlichen Begriff der künstlerischen Gattung ab. Beide Begriffe liegen in ihrer bisherigen inhaltlichen Fassung durch die zwei Disziplinen etwa auf einer Abstraktionsebene und konnten sich wohl so auf dieser Grundlage nebeneinander behaupten. Sie ermöglichen gleichermaßen die gegenständliche Differenzierung von literarischen Texten und Gebrauchstexten. <?page no="10"?> 1 Einführung 10 6 Zur Rezeption der Systemtheorie und systemtheoretischer Operationen in der Literaturwissenschaft, vgl. Böhm (2011). 7 So nennt z.B. Wagner-Egelhaaf (2000) die Autobiographie ein „gattungswiderständiges Phänomen“. Aber auch, wenn die Begriffe Textsorte und Gattung „etwa auf einer Abstraktionsebene“ liegen mögen, können sie nicht gleichgesetzt werden. Wichtig ist nämlich, dass die Linguistik ausgehend von ihren eigenen Kriterien sämtliche Typen von Texten klassifizieren können muss, d.h. Gegenstand der Linguistik können nicht nur die Gebrauchstexte sein, schon weil man als Linguist nicht sagen kann, was ein Gebrauchstext ist, wenn man ihn nicht von den literarischen Texten mit linguistischen Kriterien zu unterscheiden vermag. „Gebrauchstexte sind alle nichtliterarischen Texte“ ist dabei natürlich kein ausreichendes Kriterium, wie folglich auch nicht etwa „Gebrauchtexte sind Texte, die nicht Gegenstand der Literaturwissenschaft sind“. Ausgehend von einem systemtheoretischen Standpunkt schreiben Gansel/ Jürgens (2007: 81): „Textsorten lassen sich von einer Dominante - dem sozialen System/ Kommunikationsbereich - her klassifizieren.“ Als literarische Texte wären dabei Texte des Kommunikationsbereichs bzw. des Systems der Kunst, genauer der Literatur, zu betrachten, vgl. auch Gansel (2011: 79ff.), Plumpe (2002), Plumpe/ Werber (1993), Schmidt, S.J. (1993). Es ist deutlich, dass ausgehend von der Systemtheorie wichtige Aspekte zur Unterscheidung zwischen literarischen und nichtliterarischen Texten beschrieben werden können, weshalb die Systemtheorie berücksichtigt werden muss, auch wenn diese Untersuchung keine systemtheoretische ist, vgl. Abschn. 2.2, 3.3, 5.1.3, 5.1.4. 6 Eine zentrale Frage der vorliegenden Arbeit ist, in welcher Weise sich literarische Kommunikation zeichentheoretisch von nichtliterarischer unterscheidet. Es kann notiert werden, dass man sich in der heutigen Literaturwissenschaft nicht nur für die traditionellen literarischen Gattungen interessiert, sondern auch für Biografien, Autobiografien, Memoiren und ähnliche Texte, was dazu führt, dass die Grenze zwischen literarischen und nichtliterarischen Textsorten unscharf wird. 7 Es entsteht dabei die Frage, ob die Beziehung zwischen dem „Literarischen“ und den „literarischen Textsorten“ so einfach ist, wie hier angedeutet, d.h. dass alle Texte, die ausgehend von gewissen Merkmalen als zu den literarischen Textsorten gehörig klassifiziert werden können, auch als „literarisch“ zu betrachten sind, wie auch, dass alle Texte nichtliterarischer Textsorten auch als „nichtliterarisch“ anzusehen sind, d.h. es geht um die Frage der Beziehung zwischen Textsorte, Literarizität und Ästhetizität. <?page no="11"?> 1 Einführung 11 8 Zum Verhältnis zwischen Literaturwissenschaft und Linguistik, vgl. etwa Breuer, U. (2002a u. 2003), Fix (2003a), Fleischer, W. (1978), Link (2008), Hausendorf (2008), Hess-Lüttich (2003), Hoffmann (2003), Hoffmann/ Keßler (2003), Schiewer (2003). In den folgenden Abschnitten werden also bestimmte, in der Linguistik und der Literaturwissenschaft größtenteils bekannte Aspekte und Begriffe vorgestellt und untersucht, die zur Unterscheidung zwischen literarischen und nichtliterarischen Texten bzw. literarischer und nichtliterarischer Kommunikation dienen könnten. Es wird dabei versucht, Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen diesen Begriffen zu finden, die zu einer linguistischen Präzisierung des Begriffs des Literarischen führen könnten. Es wird darauf verzichtet, eine Übersicht über die Forschungsgeschichte der Bemühungen zur Charakterisierung der besonderen Eigenschaften literarischer Texte in der Linguistik und in der Literaturwissenschaft zu geben, u.a. weil dies den Rahmen der vorliegenden Arbeit ganz offenbar sprengen würde. Die einschlägige linguistische Literatur ist vielleicht noch irgendwie überschaubar, die literaturwissenschaftliche aber nicht; schon die deutschsprachige literaturwissenschaftliche Literatur zu dem in diesem Zusammenhang wichtigen Begriff der Fiktionalität ist äußerst umfassend, vgl. etwa Zipfel (2001). Der Verzicht auf eine Forschungsübersicht sollte aber nicht so verstanden werden, dass der Wert der früheren Forschung nicht anerkannt würde. Das meiste, vielleicht alles, was früher zum Begriff des literarischen Textes gesagt und geschrieben worden ist, muss unter Berücksichtigung der gegebenen Voraussetzungen als relevant angesehen werden und vieles davon ist von entscheidender Bedeutung für diese Arbeit. Es wird aber erst unmittelbar im Zusammenhang mit der Behandlung der verschiedenen Aspekte des „Literarischen“ auf einschlägige wissenschaftliche Literatur und Forschungsergebnisse hingewiesen. 8 Die Tatsache, dass es um Aspekte literarischer Kommunikation geht, bedeutet, dass das Thema ausgehend von verschiedenen Blickwinkeln betrachtet wird, was bestimmte Wiederholungen bedeutet und auch der Darstellung zuweilen den Eindruck einer gewissen Heterogenität verleihen mag. Der alles zusammenhaltende Aspekt ist aber der sprachwissenschaftlich-zeichentheoretische Ausgangspunkt, der somit eine kohärenzstiftende Funktion hat. Sehr zentral wird dabei das Ästhetische als linguistischer Begriff sein. <?page no="12"?> 1 Auch der Sprachproduzent kann in gewissem Sinne als Rezipient betrachtet werden. 2 Zum Textbegriff Als Hintergrund für die weitere Darstellung muss hier zuerst kurz auf den Begriff „Text“ eingegangen werden. Es kann dabei nicht darum gehen, dass eine vollständige, abgeschlossene Textdefinition vorgelegt würde, denn das Ziel dieser Arbeit kann nur sein, einen kleinen Beitrag zur Entwicklung der Texttheorie zu liefern. Es wird jetzt lediglich versucht, den allgemeinen texttheoretischen Rahmen darzustellen, der hinter den Überlegungen steht. Der Textbegriff wird aber in der weiteren Diskussion vertieft. Texte können medial akustisch (gesprochen), visuell (geschriebene Sprache bzw. Zeichensprache der Gehörlosen) oder haptisch/ taktil (Blindenschrift, wie auch die Sprache der Taubblinden) realisiert werden. In diesem Beitrag wird primär der geschriebene Text behandelt, was nicht bedeutet, dass an die anderen Realisierungsmodi, v.a. an die gesprochenen Texte, nicht gedacht worden ist. Unter „Text“ wird auch nicht nur die reine Textoberfläche im Sinne von physikalischen Reizen verstanden, die auf unsere Sinneswahrnehmungen einwirken, etwa Reihen von graphischen Zeichen als visuell Wahrnehmbarem oder Folgen von Sprachlauten als auditiv Wahrnehmbarem. Es geht in diesen Fällen nur um als Texte potentiell interpretierbare Erscheinungen als eine Art „Interpretationsangebote“. Textoberfläche ist auch nicht mit Textoberflächenstruktur gleichzusetzen, denn das, was als Textoberflächenstruktur aufgefasst wird, ist schon als (sprachliche) Struktur interpretiert worden, d.h. jemand hat ausgehend von bestimmten Reizen eine bestimmte sprachliche Struktur (re)konstruiert. Ein Text „entsteht“ erst, indem ein Rezipient 1 ausgehend von Wahrnehmungen und mit Hilfe von „Regeln“, die zum Teil angeboren sein mögen, zu einem großen Teil aber im Verlaufe der Sozialisierung erworben sind, ein „Gebilde“ konstruiert, das er als Text betrachtet; wichtige Bedingungen dabei sind, dass dieses Gebilde kommunikativ relevant erscheint, dass es als kohärent aufgefasst werden kann und vor allem, was mit den schon erwähnten Bedingungen eng zusammenhängt, dass es „Sinn macht“, als sinnvoll interpretierbar ist. Visuelle Reize als graphische Buchstabenzeichen bzw. Laute als Sprachlaute zu erkennen, setzt schon bestimmte Kenntnisse und Fertig- <?page no="13"?> 2 Zum Textbegriff 13 2 de Beaugrande/ Dressler (1981: 47) sprechen hier von einer „Abschluss-Schwelle“, wobei sie auch eine entsprechende Abschluss-Schwelle für den Textproduzenten annehmen, d.h. für den Textproduzenten gibt es einen Punkt, wo er der Meinung ist, dass der Text gut genug ist, auch wenn er ihn im Prinzip beliebig lange hätte weiter bearbeiten können, vgl. de Beaugrande/ Dressler (1981: 36). keiten voraus. Ausgehend von seinen früheren Erfahrungen und seinem Wissen kann ein Rezipient z.B. bestimmte visuelle Reize als potentielle Schriftzeichen deuten und annehmen, dass ihre Gesamtmenge einen Text darstellen soll, aber das Angebot an Reizen kann noch keinen Text im eigentlichen Sinne für den Rezipienten darstellen, weil er höchstens annehmen kann, dass das Ganze möglicherweise Sinn machen könnte. Damit ein Rezipient eine potentielle „Textoberfläche“ als Text interpretieren und verstehen kann, muss er sehr große Mengen von Wissen, Kenntnissen und Fertigkeiten besitzen, u.a. sprachliches Wissen, enzyklopädisches Wissen, kommunikatives Wissen usw. Wenn davon ausgegangen wird, dass als Text nur das betrachtet wird, was Sinn für jemanden macht, bedeutet dies nicht nur, dass als Texte produzierte Gebilde aus sehr verschiedenen Gründen als Texte rezipiert werden, sondern auch, dass etwas, was von einem Rezipienten als Text rezipiert wird, von einem anderen als sinnlos abgelehnt werden kann, wobei das „Angebot“ für diesen Rezipienten keinen Text darstellt, auch wenn er annimmt, dass das Gebilde als Text gemeint war. In verschiedenen Richtungen der Literatur, vor allem wohl in der Dichtung, lassen sich leicht Beispiele finden, wo der eine sagt: „dies ist ein sehr schöner Text“, der andere aber: „ich verstehe nichts“, oder: „das ist total sinnlos“. Ähnliche Beispiele könnte man z.B. in der Werbung finden. Zudem muss beachtet werden, dass eine sprachliche Struktur für einen Rezipienten durchaus sinnvoll sein kann und somit „Text“, auch wenn er vielleicht nicht alles verstanden hat. Wesentlich ist, dass der Rezipient den Text so gut verstanden hat, wie er es selbst für nötig hält. Dies kann bei verschiedenen Rezipienten desselben Textangebots stark variieren. 2 - Der Textproduzent wiederum muss, damit die Kommunikation glückt, seinen Text so formulieren, dass er wenigstens in irgendeiner Weise als sinnvoll rezipiert werden kann und somit als Text überhaupt rezipierbar ist. Schwarz- Friesel (2004: 85) schreibt: „Ziel des Sprachverstehens ist es, Sinn zu erzeugen.“ <?page no="14"?> 2 Zum Textbegriff 14 2.1 Textualität: Sinn und Kohärenz Oben wurde die Zentralität des Begriffs „Sinn“ angesprochen. Monika Schwarz-Friesel (2006) macht darauf aufmerksam, dass in der Textlinguistik die Begriffe Sinn und Kohärenz häufig gleichgesetzt werden, wobei Kohärenz als die grundlegende Bedingung für Textualität betrachtet wird. Nach Schwarz-Friesel (2006: 64) sei es aber notwendig, „eine klare Trennung zwischen inhaltlichem Zusammenhang und interpretativer Sinnerzeugung“ zu ziehen. Da im Normalfall ein sinnvoller Text auch kohärent bzw. ein kohärenter Text auch sinnvoll ist, ist es nicht verwunderlich, dass die von Schwarz-Friesel (2006) geforderte „klare Trennung“ häufig nicht gemacht wird. Der Begriff der Kohärenz wird von Schwarz-Friesel (2006: 64) in folgender Weise definiert: Kohärenz wird von mir als inhaltlicher Zusammenhang, genauer als semantisch-konzeptuelle Kontinuität definiert, d.h. es geht um alle im Text enthaltenen Relationen expliziter und impliziter Art, die den inhaltlichen Zusammenhang und damit die konzeptuelle Kontinuität eines Textes konstituieren […]. Schwarz-Friesel (2006: 70f.) stellt anhand eines Gedichts fest, dass „auch als nicht-kohärent bewertete Texte einen Textsinn erhalten können.“ Schwarz-Friesel (2006: 73) stellt weiter in ihren „Schlussbemerkungen“ fest: „Die Menge der kohärenten Texte ist nicht identisch mit der Menge der interpretierbaren Texte.“ Die Argumentation von Schwarz-Friesel (2006) scheint überzeugend. Ihre Definition von Kohärenz oben zeigt, dass es bei der Kohärenz um eine Relation zwischen Rezipienten und Text geht, d.h. der Rezipient ordnet bei der Sinnsuche ausgehend von seinem sprachlichen und außersprachlichen Wissen dem Text Kohärenz zu. Diese Kohärenzzuordnung kann mehr oder weniger unbewusst und automatisch, bei schwierigeren Texten aber bewusst verlaufen. In Fällen, wo der Rezipient z.B. mit der Thematik sehr vertraut ist und die Interpretation eher top-down verläuft, brauchen sogar nicht alle inhaltlich relevanten Elemente prozessiert zu werden, d.h. eine Kohärenz wird dabei weniger ermittelt, sondern eher angenommen oder vorausgesetzt, wobei also sogar ein nicht ganz kohärenter Text in einer bestimmten Kommunikationssituation als sinnvoll interpretiert werden kann. Für den Textsinn ist somit die Relation zwischen (Text-)Rezipienten und Welt zentral, d.h. es geht um die Bedeutung des Text(inhalt)s in derjenigen Kommunikationssituation, deren Teil der Rezipient selbst darstellt. <?page no="15"?> 2.1 Textualität: Sinn und Kohärenz 15 3 Unsere unmittelbaren Sinneswahrnehmungen erleben wir ja normalerweise nicht als ein amorphes Chaos, sondern eben als eine irgendwie „geformte“ Ganzheit. Zur Bedeutung der Begriffe „Gestalt“ und „Gestalten“ für die Linguistik vgl. auch Fix (1996). Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch, dass es bei der Ermittlung von Kohärenz um einen kognitiven Prozess geht, um die Konstruktion von „konzeptueller Kontinuität“, vgl. das Zitat aus Schwarz-Friesel (2006: 64) oben. In Texten aber, die die Grenzen der Textualität herausfordern, etwa in der Dichtung, Stichworte „konkrete Poesie“, „hermetische Dichtung“, „absolute Lyrik“ usw., wird die Kohärenz im Sinne von konzeptueller Kontinuität in den Hintergrund verschoben, während sinnlich Erlebtes als Gestalt in den Vordergrund gerückt wird. So lange es um Textualität und somit um Sprache geht, ist kognitives Wissen ein grundlegender Faktor bei der Textrezeption, wobei aber in den angegebenen Fällen das emotive Wissen sogar dominierend werden kann, und somit die „Gestalt“ im Sinne von „vorkognitiv“ Gestaltetem wichtiger als die Kohärenz bei der Sinnsuche sein kann, vgl. auch Abschn. 3.5. 3 Durch den Begriff der Kohärenz wird die Tatsache erfasst, dass sehr vieles in einem Text ausgehend von den Teilen und deren Beziehungen abgeleitet werden kann. Es gibt aber auch Bedeutungsaspekte in Texten, die „emergent“ sind, die also nicht ausgehend von den Teilen und deren Beziehungen erfasst werden können, vgl. Abschn. 3.6. Diese Zusammenhänge, die also nicht kognitiv-analytisch greifbar sind, werden hier durch den Begriff der Gestaltung des Textes erfasst, vgl. auch Fix (1996). Der Terminus (Text-)Gestaltung wird im Weiteren für Strukturierung oder Formgebung überhaupt verwendet, also für Kohärenz und Gestalt, aber auch für die Formulierung des rein formalen, physisch Wahrnehmbaren des Textes. Die Gestaltung betrifft somit sowohl Form als auch Inhalt. Die Gestaltung, und somit auch der „Stil“, ist bei jedem Text bedeutungstragend, aber in einer viel deutlicheren Weise bei literarischer als bei nichtliterarischer Kommunikation, vgl. Abschn. 3.6 u. 6.2. Einen Text verstehen bedeutet diesem Text einen Sinn zuzuordnen. Es bedeutet gleichzeitig, dass die Textualität dieses Textes anerkannt wird, dass einem potentiellen Text der Status eines Texts zugeordnet wird. Einen Text missverstehen bedeutet dabei, diesem Text einen anderen Sinn als den vom Textproduzenten intendierten zuzuordnen. Bei literarischer Kommunikation kann dabei nicht festgelegt werden, ob das Verstehen eigentlich ein Missverstehen ist oder nicht, vgl. Abschn. 3.3. <?page no="16"?> 2 Zum Textbegriff 16 2.2 Zum Textsortenbegriff Da sich diese Arbeit als Aufgabe gestellt hat zu untersuchen, ob es den literarischen Text gibt, oder ob er, wenigstens linguistisch gesehen, eine Fiktion darstellt, muss schon an dieser Stelle kurz auf die Klassifizierung von Texten überhaupt eingegangen werden. Es geht dabei nicht darum, in Frage zu stellen, ob die Unterscheidungen zwischen den verschiedenen Textsorten innerhalb der Klasse von Texten, die in der Literarturwissenschaft als „literarisch“ bezeichnet werden, adäquat sind, etwa wie die Gattungen Epik, Lyrik und Dramatik unterschieden werden, oder wie Genres wie Erzählung, Kurzgeschichte und Novelle definiert werden, sondern ob und mit welchen Begründungen eine umfassende Klasse von literarischen Texten aus der Gesamtklasse aller Typen von Texten sich als literarisch aussondern lässt. Gibt es z.B. nicht eine in vieler Hinsicht größere Ähnlichkeit zwischen einer Kurzgeschichte und einer Reportage als zwischen einer Kurzgeschichte und einem Gedicht? Und weist nicht in Bezug auf die starke Konventionalisierung mittels einer großen Menge von Merkmalen eine Gedichtform wie etwa „Sonett“ eine stärkere Verwandtschaft auf mit der in dieser Hinsicht stark konventionalisierten Textsorte „Wetterbericht“ als mit der literarischen Textsorte „Kurzgeschichte“, die eine mit der Reportage vergleichbare relativ niedrige Zahl von konventionellen und somit erwartbaren Merkmalen aufweist? Wenn dies der Fall ist, könnte man annehmen, dass das Merkmal „literarisch“ kein besonders dominantes wäre, wobei als literarisch charakterisierte Textsorten wie Kurzgeschichte, Erzählung und Novelle einen ganz anderen Platz in der Textsortenhierarchie besetzen würden (vorausgesetzt, dass die Beziehungen zwischen Textsorten überhaupt hierarchisch dargestellt werden können), als wenn man die „Literarizität“ als oberstes unterscheidendes Merkmal ansetzt. Eine wesentliche Frage in diesem Zusammenhang ist, ob ein solches Textsortenmerkmal überhaupt anzunehmen ist. Wenn dies aber begründet zu sein scheint, ist die folgende grundsätzliche Frage, worin diese Literarizität besteht: geht es etwa um eine besondere „literarische oder poetische Funktion“, oder geht es nur darum, dass bestimmte Typen von Texten konventionell als literarisch klassifiziert werden, etwa davon ausgehend, dass sie im systemtheoretischen Sinne Texte des Kommunikationsbereichs bzw. des Systems der Literatur sind? Heinemann (2000: 17) unterscheidet terminologisch zwischen Texttyp (abstrakteste Ebene), Textsortenklasse, Textsorte und Textsortenvariante (konkreteste Ebene), was aber die Zahl der möglichen Ebenen im Voraus zunächst ein wenig willkürlich zu beschränken scheint. Heinemann/ <?page no="17"?> 2.2 Zum Textsortenbegriff 17 Heinemann (2002: 143) unterscheiden wiederum zwischen Text-Typ, Textsortenklasse 2, Textsortenklasse 1, TEXTSORTE und Textsortenvariante. Wenn aber gezeigt werden könnte, dass eine derartige Einteilung in vier oder fünf, oder überhaupt in eine bestimmte Zahl von relativ wenigen Ebenen, sprachlich motiviert werden kann, stellt dies natürlich ein wichtiges sprachwissenschaftliches Ergebnis dar. In der vorliegenden Arbeit werden aber keine derartigen Ergebnisse angestrebt, sondern der Terminus Textsorte wird für alle denkbaren Typen von Texten verwendet, auch für sogenannte „literarische Texte“. In einer formalen Textsortenhierarchie hätten wir also ganz oben den Begriff „Text“, wobei jeder der Knoten bis zum untersten Knoten im hierarchischen Textsortenbaum durch Textsorte zu etikettieren wäre. Dabei stellen sämtliche Textsorten, von der untersten im Baum abgesehen, zugleich Textsortenklassen dar. Eine andere Frage ist, ob sich durch eine derartige hierarchische Baumstruktur die Beziehungen zwischen den verschiedenen Textsorten überhaupt adäquat abbilden lassen. Es gibt beachtenswerte Gründe, die für eine Hierachisierung irgendeiner Art sprechen. Bei der Klassifizierung von Texten scheint die allgemeine Tendenz die zu sein, dass man als höhere Kriterien „externe“ (kommunikative) Kriterien, d.h. Funktion, Situation und Verfahren oder Strategien ansetzt, während „interne“, d.h. auf die reine Sprachstruktur bezogene Kriterien, wie die Textstrukturierung und die Formulierungsmuster, niedrigere Kriterien in der Hierarchie bilden; so z.B. und zwar in dieser Reihenfolge im Mehrebenenmodell von Heinemann/ Viehweger (1991: 145ff.). Das Verfahren ist in dem Sinne einleuchtend, dass es ja darum geht zu zeigen, wie bestimmte Funktionen und Inhalte unter bestimmten Umständen versprachlicht werden können. Das Verfahren kann noch dadurch begründet werden, dass die allgemeinen kommunikativen Funktionen sich wenig mit der Zeit verändern und dass sie deshalb auch nicht oder sehr wenig kulturabhängig sind, während die textuellen Strukturierungen von Texten veränderlich und sprach- und kulturabhängig sind - und somit auch die Textsorten. Gansel/ Jürgen (2007: 69) definieren Texttypen „als auf linguistischen Kriterien beruhende Zusammenfassungen von Texten, die quer zu den Textsorten in verschiedenen Kommunikationsbereichen verlaufen“. Als Textklasse wird von ihnen „das vorkommen einer Menge von Texten in einem abgegrenzten, durch situativ-funktionale und soziale Merkmale definierten kommunikativen Bereich, in dem sie Textsorten ausdifferenzieren. Textsorten sind nicht nur durch den Kommunikationsbereich determiniert, sie konstituieren ihn gleichfalls“, Gansel/ Jürgen (2007: 70). Die Textsorten definieren Gansel/ Jürgen (2007: 80f.) folgendermaßen: <?page no="18"?> 2 Zum Textbegriff 18 4 „Soziales System“ im Sinne der Systemtheorie. Zur Textsortenproblematik und Systemtheorie vgl. Gansel/ Jürgens (2007: 53-112) wie auch Gansel (2011). Textsorten stehen in einem engen Zusammenhang zu sozialen Systemen, in denen sie spezifische Leistungen übernehmen. Textsorten konstituieren soziale Systeme und differenzieren sich unter den strukturellen Bedingungen des Systems aus, sie bilden innerhalb des Systems konventionalisierte, institutionalisierte Anschlusskommunikationen und sie sichern die strukturelle Kopplung zu anderen sozialen oder psychischen Systemen. Als Resultate kommunikativer und sozialer Handlungen sind Textsorten an bestimmte soziale Handlungsrollen gebunden. Textsorten lassen sich von einer Dominante - dem sozialen System/ Kommunikationsbereich - her klassifizieren. Der in dieser Arbeit verwendete Begriff der Textsorte dürfte wenig mit dem von Gansel/ Jürgen (2007) definierten systemtheoretischen Textsortenbegriff übereinstimmen, könnte aber trotzdem mit diesem kompatibel sein. Es geht hier vor allem um zeichentheoretische Aspekte literarischer Kommunikation, weshalb die Begriffe „Kommunikationsbereich“ oder „soziales System“ nicht unmittelbar aktuell sind. Als Textsorten werden hier in der Kommunikation relevante Klassen von Texten betrachtet, die durch bestimmte kommunikativ relevante Eigenschaften oder Merkmale gekennzeichnet sind. Die Textsorten sind kulturgebundene, historische Erscheinungen und zum Teil mehr oder weniger deutlich institutionalisiert, d.h. sie sind mehr oder weniger deutlich durch Konventionen und gesellschaftlich festgelegte Normen gekennzeichnet. Zur kommunikativen Kompetenz gehört die Fähigkeit, Textsorten zu erkennen und die geeignete Textsorte in der aktuellen Kommunikationssituation zu produzieren. Das Wissen, das dabei notwendig ist, könnte in Anlehnung an etwa Heinemann (2000: 19ff.) Textmusterwissen genannt werden. Die allgemeinen Textfunktionen sind keine inhärenten Eigenschaften von Texten und somit keine definierenden Merkmale von Textsorten. Jede in dieser Weise definierte Textsorte kann im Prinzip, wenn auch wohl nicht in der Praxis, jede beliebige Textfunktion erfüllen, in jedem kommunikativen Bereich bzw. innerhalb jedem sozialen System verwendet werden. 4 Die Klasse aller konventionellen literarischen Textsorten könnte man den literarischen Texttyp nennen, während dabei die übrigen Textsorten den Texttyp der nichtliterarischen Texte konstituieren. Wichtig zu notieren ist, dass die Grenzen zwischen den verschiedenen Textsorten nicht scharf zu sein brauchen (eine E-Mail z.B. ist zugleich auch eine Art Brief), was dafür spricht, dass die Textsorten eher ausgehend von dem Begriff des Prototyps betrachtet werden sollten. Es gibt <?page no="19"?> 2.3 Das Verhältnis zwischen Text und Bild 19 5 Ein geschriebener Text kann im Sinne von „Lesefläche“ als Bild rezipiert werden wie z.B. in der Werbung oder in bestimmten Richtungen der Poesie, vgl. etwa Gross (1994). Vgl. weiter auch Lehtonen (2002: 56ff.). Repräsentanten von Textsorten, die viel „typischere“ Exemplare als andere in dem Sinne sind, dass sie wenigstens sämtliche unterscheidende Merkmale aufweisen, während andere sogar recht stark „abweichend“ sein können, vgl. etwa einen Geschäftsbrief und einen informellen Privatbrief als Repräsentanten der Textsorte Brief. Vielleicht sollten also die Beziehungen zwischen den Textsorten nicht nur als Hierarchie, sondern auch ausgehend von dem Begriff der Familienähnlichkeit beschrieben werden, vgl. auch Gansel/ Jürgens (2007: 71). Die Frage ist also, ob Texten überhaupt generell eine eindeutig dominierende Hauptfunktion zugeordnet werden können, die wie etwa in Heinemann (2000) als texttypenkonstituierend betrachtet werden kann. Die Kompetenz, literarische Textsorten (Roman, Kurzgeschichte, Gedicht usw.) zu erkennen, stellt einen Sonderfall der Kompetenz dar, Textsorten überhaupt unterscheiden zu können, und ist somit etwas, was man als Teil der allgemeinen und somit auch sprachlichen Sozialisierung lernt. Ob die Kompetenz, mit Sprache „ästhetisch“ umzugehen, in gleicher Weise wie das Erlernen von Konventionen betrachtet werden kann, d.h. ob „Literarizität“ als Textsortenmerkmal neben anderen anzusehen ist, kann dagegen in Frage gestellt werden. Wenn z.B. Zimmermann, J. (1975: 309) meint, dass „das Poetische“ bzw. „die Poetizität“ oder „Literarizität“ kein empirisches sondern ein hermeneutisches Faktum sei, deutet er in der Tat indirekt darauf hin, dass „literarische Textsorte“ und „Literarizität“ Begriffe ganz verschiedener Art sein könnten. Die Wahl einer literarischen Textsorte durch den Textproduzenten könnte dabei als Hinweis an den Rezipienten aufgefasst werden, den Text „literarisch“ zu rezipieren. 2.3 Das Verhältnis zwischen Text und Bild Text und Bild treten häufig zusammen auf und bilden ein kommunikatives Ganzes, und weiter können Bilder in einer mehr oder weniger konventionalisierten Weise allein als kommunikative Mittel verwendet werden. Auch die reine Textoberfläche kann in vielen Texten, sowohl in literarischen als auch in nichtliterarischen, visuell so gestaltet werden, dass sie eine den Bildern ähnliche Funktion bekommt. 5 Es <?page no="20"?> 2 Zum Textbegriff 20 6 Texte können natürlich auch zusammen mit anderen Medien wie etwa der Musik ein Ganzes darstellen, vgl. etwa Brandstätter (2008). 7 Dies schließt natürlich nicht aus, dass die Bildanalysen von Kress/ Loewen (2000) an sich auch linguistisch gesehen äußerst interessant sind. Kress (2010) zieht übrigens den Terminus (semiotic) resources dem Terminus grammar vor, vgl. Kress (2010: 6-8). 8 Bierman (1962) bestreitet die Existenz ikonischer Zeichen. Ausgehend von Biermans Auffassung davon, was ein ikonisches Zeichen ist, muss wohl seine Argumentation als stichhaltig zu betrachten sein, aber sie berücksichtigt nicht - oder akzeptiert nicht - die pragmatisch-kognitive Dimension, d.h. dass der Interpretierende selbst die Ähnlichkeitsbeziehungen festlegt, wobei sicherlich sowohl gelernte Konventionen als auch angeborene Dispositionen eine Rolle spielen. Die Relation der Ähnlichkeit mag somit logisch gesehen symmetrisch sein (vgl. Bierman 1962: 247f.), ist es aber nicht notwendigerweise pragmatisch-kognitiv gesehen. Man kann z. B. behaupten, „Die geographische Form Italiens ähnelt einem Stiefel“, weniger wahrscheinlich wäre aber „Ein Stiefel ähnelt der geografischen Form Italiens“. Objektive Ähnlichkeiten an sich gibt es also nicht. Vgl. auch Sonessons Kritik an Bierman, Sonesson (1992: 130f.) ist deshalb wichtig, kurz auf die Beziehungen zwischen Text und Bild einzugehen. 6 Es gibt einige allgemeine, grundlegende Ähnlichkeiten zwischen sprachlichen Zeichen und Bildern als Zeichen. Sowohl Bilder als auch Wörter können als Mittel der menschlichen Kommunikation verwendet werden. Geschriebene Wörter werden genau wie Bilder visuell rezipiert. Auch Bilder können als konventionelle Zeichen verwendet werden, z.B. bestimmte Verkehrszeichen (vgl. etwa Krampen 1983, Nikula, K. 1985), Zeichen auf Toilettentüren (vgl. etwa Fenk 1999) usw. In der Tat gibt es Forscher, die wegen der Ähnlichkeit zwischen Bildern und sprachlichen Zeichen von Bildern als Texten sprechen möchten, vgl. etwa Kress/ Loewen (2006), die sogar von „The Grammar of Visual Design“spre chen, was aus sprachwissenschaftlicher Sicht vollkommen unhaltbar ist - oder bestenfalls als eine schlechte Metapher betrachtet werden muss. 7 Eine andere Sache ist, dass das Verstehen von Bildern stark durch die Sprache beeinflusst wird, vgl. auch Meyer (2010: 51). Es gibt nämlich auch grundlegende Unterschiede zwischen Bildern und sprachlichen Zeichen. Der zentrale Unterschied besteht darin, dass die Beziehung zwischen Inhalt und Ausdruck beim sprachlichen Zeichen immer konventionell und somit notwendigerweise auch immer arbiträr ist, vgl. Keller (1995: 146-159), während das Bild in dieser Hinsicht immer ikonisch und somit auch immer motiviert ist, d.h. irgendeine Ähnlichkeitsbeziehung mit dem Bezeichneten muss durch den Rezipienten konstruierbar sein. 8 Die grundlegende Voraussetzung für die Kommunikation durch Sprache ist also die der Konventionalität, während die grundlegende Voraussetzung für Kommunikation mit Hilfe von Bildern - <?page no="21"?> 2.3 Das Verhältnis zwischen Text und Bild 21 9 Es sollte wohl noch an dieser Stelle hervorgehoben werden, dass, auch wenn das sprachliche Zeichen arbiträr ist, die mit der Sprache eng verknüpfte Kategorisierung der Welt nicht arbiträr sein kann, da sie unmittelbar von unserer Perzeption der Welt als biologischer Wesen abhängig ist. 10 Die menschliche Sprache ist bekanntlich im Gegensatz zu Bildern durch das Prinzip der „doppelten Artikulation“ geprägt, d.h. es kann zwischen kleinsten bedeutungstragenden Elementen (Morphemen) und kleinsten bedeutungsunterscheidenden Elementen (Phonemen bzw. Graphemen) unterschieden werden, vgl. etwa Martinet die der Ikonizität ist. Dies schließt nicht aus, dass ein sprachliches Zeichen ikonisch oder in anderer Weise motiviert sein kann, wie auch nicht, dass ein Bild konventionell als Zeichen verwendet werden kann, was ja in der Tat sehr üblich ist. Auch das, was wir als Ähnlichkeit auffassen, kann wenigstens zum Teil konventionell bedingt sein, vgl. etwa Sjölin (1993: 75-84). Der Unterschied zwischen einem Bild und einem sprachlichen Zeichen könnte folgendermaßen zusammengefasst werden: Ein sprachliches, lexikalisches Zeichen ist immer ein Symbol, ein Bild ist immer ein Ikon. 9 Dies kann auch so ausgedrückt werden, dass die Sprache einen stark „digitalen“, das Bild dagegen einen „analogen“ Charakter hat, vgl. weiter unten Abschn. 3.1 u. 3.2 zum sprachlichen Zeichen. Die hier angesprochenen Eigenschaften von Bildern und Texten erklären auch, warum Bilder im Gegensatz zu Texten generell unübersetzbar sind, vgl. auch Abschn. 7.1. Zwischen Bildern und Texten gibt es des Weiteren den grundlegenden Unterschied, dass ein Text aus relativ einfach unterscheidbaren Zeichen besteht, d.h. aus Morphemen und Wörtern, während Vergleichbares nicht bei visuellen Bildern zu finden ist, auch wenn bestimmte konventionalisierte Elemente beobachtbar sein können. Ein Bild hat außerdem ein Oben und ein Unten, ein Links und ein Rechts, während ein sprachlicher Text aus einem primär temporalen und bei geschriebenen Texten räumlichen Nacheinander besteht; in einem geschriebenen Satz wie Hans schläft steht also Hans nicht links von schläft, sondern vor schläft (d.h. bei sprachlicher Produktion und Rezeption dieses Satzes). Diese Eigenschaften beeinflussen die Produktion und Rezeption von Texten, eine Tatsache, die die Ausdrucksmöglichkeiten von Texten im Vergleich zu visuellen Bildern prägt. Kognitiv-perzeptiv gesehen verläuft die Verarbeitung von Sprache, auch von geschriebener Sprache, anders als von Bildern, vgl. etwa Schnotz (2001). Der besondere Charakter von Sprache kommt auch darin zum Ausdruck, dass Sprache nicht an ein einziges Medium gebunden ist, wobei noch die sogenannte „doppelte Artikulation“ die Sprache von anderen Zeichensystemen unterscheidet 10 . <?page no="22"?> 2 Zum Textbegriff 22 (1964). - Vgl. weiter unten zum sprachlichen Zeichen, Abschn. 3.1, wie auch Nikula (1996, 2003a u. b, 2004b). 11 Der in der Übersetzungstheorie in Anlehnung an Holz-Mänttäri (1984) häufig verwendete Terminus Botschaftsträger ist nicht ganz geeignet, weil er fälschlicherweise suggeriert, dass irgendwelche „Botschaften“ mit Hilfe von Texten vom Textproduzenten zum Rezipienten „transportiert“ würden, vgl. Nikula (1991). Vgl. auch Chesterman (2010) und seine Kritik an der Skopos-Theorie. Aber auch wenn Texte und Bilder in vieler Hinsicht grundverschieden sind, bilden sie, wie anfangs notiert wurde, häufig zusammen eine kommunikative Einheit, wobei schon terminologisch Schwierigkeiten entstehen, wenn die Gesamtheit „Text“ genannt wird, und man folglich den sprachlichen Teil den „sprachlichen“ oder „verbalen“ Text nennen muss. Eventuell könnte man den Terminus Kommunikat von S.J. Schmidt übernehmen, aber jetzt nicht nur als übergreifende Bezeichnung für „Text“ im hier verwendeten Sinne, sondern auch für alle multimedialen Medien in kommunikativer Funktion, wie auch für Bilder ohne Text, für Musik usw., vgl. etwa Schmidt/ Groeben (1988). 11 2.4 Textbegriff: Zusammenfassung Texte können in verschiedener Weise realisiert werden: akustisch, haptisch/ taktil oder visuell. In diesem Beitrag wird primär der visuell realisierte, d.h. der geschriebene Text behandelt. Es wurde dabei hervorgehoben, dass eine Folge von visuell wahrnehmbaren Reizen erst dann als Text betrachtet werden kann, wenn diese Reize als zeichenbildend interpretiert und ihnen von dem Interpretierenden (dem Textproduzenten und/ oder Rezipienten) Sinn zugeordnet wird. Einen Text verstehen bedeutet somit, diesem Text einen Sinn zuzuordnen. Es bedeutet gleichzeitig, dass die Textualität dieses Textes anerkannt wird, d.h. dass einem potentiellen Text der Status eines Texts zugeordnet wird. Da es hier vor allem um visuell rezipierte Texte geht und da heute häufig auch Bilder bzw. Sprache und Bild im Verbund als Texte bezeichnet werden, wurde auf grundsätzliche Unterschiede zwischen „sprachlichen Texten“ und Bildern oder Illustrationen aufmerksam gemacht, d.h. darauf, dass die grundlegende Voraussetzung für sprachliche Kommunikation die der Konventionalität, die grundlegende Voraussetzung für Kommunikation durch Bilder die der Ikonizität ist. Es wurde darüber hinaus behauptet, dass „literarische Textsorte“ und „Literarizität“ Begriffe ganz verschiedener Art darstellen. <?page no="23"?> 1 Systemtheoretisch geht es um das soziale System „Kunst“, vgl. etwa Gansel (2011: 81). 2 Eine ganz andere Sache ist, dass das Ästhetische als Gegenstand der Analyse offensichtlich etwas Erlebtes und somit Subjektives darstellt. Zum Begriff der Wertung vgl. auch Abschn. 3.5 unten sowie Piecha (2002). 3 Das Ästhetische als linguistischer Begriff und das „Ausdrucksdefizit“ der Sprache In vielen linguistischen Arbeiten, die Eigenschaften literarischer Texte beschreiben, wird der Begriff des Ästhetischen verwendet. Dies ist an sich ganz natürlich, denn offenbar geht es im Falle der literarischen Texte um „Kunst“, um „sprachliche Kunstwerke“; auch wird zuweilen neben dem Begriff des „literarischen Textes“ der Begriff des „ästhetischen Textes“ verwendet. 1 Als Bezeichnungen für Literatur finden wir auch Termini wie Belletristik und schöne Literatur. Der Begriff des Ästhetischen selbst wird ja auch i.A. mit dem Begriff der Schönheit in Beziehung gesetzt. Urteile und Wertungen bezüglich der Schönheit können zwar häufig irgendwie begründet werden, aber letzten Endes geht es um etwas stark Subjektives, und wenn der Begriff des Ästhetischen von subjektiven Werturteilen abhängig gemacht wird, ist er für eine Verwendung als linguistischer Begriff der Analyse nicht geeignet. 2 Auch ist es nicht möglich, Kunst generell mit dem Begriff der Schönheit zu verbinden, vgl. auch Fricke (1981: 202 und 2000: 68f.). Wenn man aber Literatur als eine Form von Kunst neben anderen Erscheinungen der Kunst betrachten möchte, kann schwerlich auf den Begriff des Ästhetischen verzichtet werden. Rühling (1996: 26) schreibt: Theorien der sprachlichen Fiktionalität und der Poetizität sind daher eigentlich nur Teilgebiet einer allgemeinen Fiktionalitätstheorie und einer allgemeinen Ästhetik. Daraus ergibt sich die Forderung, daß ihre Ergebnisse mit denen entsprechender Überlegungen zu den außerliterarischen Kunstgattungen jedenfalls nicht unverträglich sein sollten. Die Arbeit Gesetz und Freiheit. Eine Philosophie der Kunst (2000) des Literaturwissenschaftlers Harald Fricke stellt einen Versuch dar, die in seiner Arbeit Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur (1981) vorgestellte Theorie der Literatur auf alle Arten der Kunst zu übertragen. Um dies zu ermöglichen, werden die sprachbezogenen Begriffe „Norm“ und „Abweichung“ durch die mit ihnen verwandten Begriffe „Gesetz“ <?page no="24"?> 3 Das Ästhetische als linguistischer Begriff 24 3 Vgl. auch den Begriff des „empathischen Verstehens“ bei Hermanns (2003: 146-148). 4 Beim Lesen der Noten einer Sonate ist es sicherlich möglich, die Sonate als „Musik“ zu erleben. Der Notentext selbst „ist“ aber keine Musik, sondern stellt einen Text einer Sprache dar, die mit einer natürlichen Sprache in gewisser Hinsicht vergleichbar ist. 5 Abraham, W. (1998: 167ff.) betont stark die „Strukturdualität“, d.h. die „doppelte Artikulation“, als unterscheidendes Merkmal der Literatur gegenüber anderen Erscheinungsformen von Kunst. bzw. „Freiheit“ erweitert, Fricke (2000: 39). In der vorliegenden Arbeit bildet der literarische Text den zentralen Forschungsgegenstand, aber ein Ausgangspunkt ist, dass eine Definition von „Literatur“ wenn möglich mit der Definition anderer Arten der Kunst kompatibel oder wenigstens „nicht unverträglich“ sein sollte. Der Begriff des Ästhetischen scheint eine derartige Verbindung zwischen dem Literarischen und anderen Formen von Kunst zu ermöglichen. Fricke (1981) ist allerdings anderer Meinung. Fricke (1981: 191) schreibt: „Denn die landläufig unter ‚ästhetisch‘ subsumierten Erlebnisse eines Gemäldes, einer Sonate und eines Romans sind untereinander kaum vergleichbar.“ Es geht unbestreitbar um verschiedene Erlebnisse. Der zentrale Punkt ist aber, dass es in jedem Falle um Erlebnisse geht. 3 In gewissem Sinne ist auch wahr, dass z.B. das Erlebnis bei der Lektüre eines Romans dem Erlebnis bei der Lektüre eines Sachbuchs ähnlicher ist als dem Erlebnis beim Hören einer Sonate oder beim Betrachten eines Gemäldes, vgl. weiter Fricke (1981, 191). Die Rezeption eines Textes ist nicht in der Weise wie das Betrachten eines Gemäldes oder das Hören einer Sonate 4 unmittelbar mit nur einer bestimmten Art der Sinneswahrnehmung verknüpft und somit „aisthetisch reduziert“, vgl. Degler (2003), denn sprachliche Texte können mit Hilfe von verschiedenen Medien realisiert werden, d.h. nicht nur als geschriebene, visuell zu rezipierende Texte, sondern können alternativ etwa auditiv (Vorlesen) oder haptisch/ taktil (Blindenschrift) rezipiert werden. 5 Wenn aber von dem „Kanal“ abgesehen wird, ist deutlich, dass ein Roman in ganz anderer Weise „erlebt“ wird als ein Sachbuch; der primäre Sinn etwa einer Gebrauchsanweisung ist nicht, erlebt zu werden, sondern verstanden zu werden, und zwar in der Weise, dass der Rezipient in einer bestimmten Weise beeinflusst wird. In diesem Sinne ist die Lektüre eines Romans eher mit dem Betrachten eines Gemäldes vergleichbar, während die Lektüre eines Sachbuchs etwa mit dem Betrachten der Illustrationen einer technischen Gebrauchsanweisung verglichen werden könnte. Ein nichtliterarischer Text soll also verstanden, ein literarischer Text dagegen erlebt werden. In einem weiteren Sinne sollen <?page no="25"?> 3 Das Ästhetische als linguistischer Begriff 25 6 Zum Begriff des Erlebens aus textlinguistischer Sicht, und zwar in Bezug auf literarische Texte, vgl. auch Hermanns (2006: 267-274). 7 Die Literaturkritikerin Sigrid Löffler sagt in einem „Spiegel-Gespräch“ anlässlich ihres Abgangs aus dem ZDF-Programm „Literarisches Quartett“ Folgendes, Löffler (2000: 96.): „Literarische Sprache, wenn sie gelingt, transportiert Bilder, Klänge, Phantasien, Erregungszustände, schafft den unmittelbaren Zugang zu den Gefühls- und Erinnerungsspeichern und gewinnt dabei ihren ästhetischen Reiz.“ 8 Dies steht natürlich nicht im Widerspruch zu der Tatsache, dass sprachliche Zeichen in verschiedener Weise motiviert sein können, vgl. Keller (1995, 146-159, 171ff.). natürlich beide Texttypen irgendwie „verstanden“ werden, wobei der Unterschied teils das Wie, teils das Was des Verstehens betrifft, was eine zentrale Frage dieser Untersuchung darstellt, vgl. vor allem Abschn. 3.3 unten. 6 Nicht nur der Begriff des Ästhetischen wird in der Linguistik häufig zur Charakterisierung literarischer Texte verwendet, sondern auch - was in diesem Zusammenhang interessant ist -, der Begriff des „ästhetischen Genusses“, vgl. etwa Fleischer, W. (1978: 6ff), wie auch Arndt (1987: 342), Lerchner (1984: 68-88). Der Begriff des Genusses scheint zunächst noch schwieriger linguistisch erfassbar zu sein als der Begriff des Ästhetischen, kann aber ein Stück weiter führen, wenn man davon ausgeht, dass durch den Begriff „Genuss“ etwas erfasst werden soll, das nur erlebt werden kann, das also eng mit unseren Sinneswahrnehmungen verknüpft ist, wobei es eben um das Ästhetische im ursprünglichen Sinne des Begriffs geht, d.h. um das „Aisthetische“. Es geht somit um eine Gegenüberstellung von sinnlich erlebten Eindrücken und abstraktem Denken. 7 Die besondere Leistungskraft der menschlichen Sprache beruht darauf, dass die Sprache Abstraktion ermöglicht, was aber wiederum bedeutet, dass die Sprache grundsätzlich nicht-aisthetisch ist - und in dem Sinne auch nicht-ästhetisch. Ihre Stärke ist somit zugleich ihre Schwäche. Sprache kann als solche nicht Erlebtes, Ästhetisches vermitteln, d.h. wenigstens nicht unmittelbar. Die Sprache ist grundsätzlich konventionell und folglich arbiträr, vgl. Keller (1995: 146-159). 8 Das sprachliche Zeichen ist in seiner Primärfunktion symbolisch und drückt in dieser Funktion nichts aus, sonder bezieht sich auf etwas, symbolisiert etwas, auch wenn natürlich der Sprecher sich beim Sprechen ausdrückt und sogar versuchen kann, Sinnliches direkt auszudrücken. - Man kann z.B. nicht mit Hilfe des Wortes Glück Glück ausdrücken, sondern sich nur auf bestimmte psychische Zustände beziehen. Man kann somit auch nicht mit Hilfe dieses Wortes sein Glücksgefühl direkt an den Gesprächspartner vermitteln, sondern nur über dieses Gefühl berichten; dieser „Bericht“ kann natürlich seinerseits indirekt ein Gefühl von Glück beim Rezipien- <?page no="26"?> 3 Das Ästhetische als linguistischer Begriff 26 9 Eine „reale Welt“ als durch die Sinneswahrnehmungen „vermittelte Welt“ setzt natürlich eine im eigentlichen Sinne reale Welt voraus, die wir aber eben nur indirekt, d.h. „vermittelt“, kennen können. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch Piechas Arbeit Die Begründbarkeit ästhetischer Werturteile, wo die Wahrnehmung durch die Sinnesorgane den Ausgangspunkt darstellt, vgl. Piecha (2002: 19-86). ten hervorrufen, assoziativ sogar das Wort Glück selbst, vgl. weiter zu der Kommunizierbarkeit von Gefühlen unten Abschn. 3.5. Ein Wort wie etwa Stein kann verwendet werden, wenn man auf einen Stein in einer real gegebenen Situation hinweisen möchte. Viel üblicher ist aber - was geschriebene Texte betrifft, stellt dies natürlich den Normalfall dar -, dass auf Steine und andere Gegenstände usw. referiert wird, die nicht in der Kommunikationssituation unmittelbar gegeben sind. Ein Leser des „Berichts“ Ein Stein fiel ihm auf den Kopf und tötete ihn muss sich eine entsprechende Situation vorstellen. Diese Vorstellung ist sicherlich bei jedem Leser ein wenig verschieden; in diesem Sinne unterscheiden sich die Interpretationen von Sachtexten höchstens graduell von den Interpretationen von literarischen Texten. Die Vorstellungen oder Interpretationen sind wohl i.A. v.a. visueller Art, aber auch andere Bereiche unserer Sinneswahrnehmung können beansprucht werden, wobei neben den visuellen auch Vorstellungen auditiver, haptischer, olfaktorischer, gustatorischer und/ oder motorischer Art evoziert werden können. Was den Stein im Beispiel betrifft, hat der Leser sicherlich Vorstellungen davon, wie er aussieht, aber gerade in diesem Falle wohl auch von der Schwere, Härte und Geschwindigkeit des Steins. Ein wichtiger Punkt ist, dass Interpretationen der Bedeutungen sprachlicher Strukturen letzten Endes mit Vorstellungen verknüpft sind, und zwar Vorstellungen, die in Beziehung zu unseren Organen der Sinneswahrnehmung stehen, d.h. zu denjenigen Organen, mit deren Hilfe wir die reale Welt überhaupt erfahren - die so genannte „reale Welt“ ist eben diejenige Welt, die unsere Sinnesorgane direkt oder indirekt in einer durch das Gehirn bearbeiteten Form vermitteln. 9 Wichtig ist des Weiteren, dass die Vorstellungen keine sprachlichen Bedeutungen im engeren Sinne sind (also nicht Elemente des Sprachsystems), sondern Interpretationen von Bedeutungen, vgl. Nikula (2003a u. b), wie auch unten Abschn. 3.2. Es ist im Prinzip kein Problem, mit Hilfe von Sprache über konkrete Situationen wie die angegebene zu berichten, wobei auch die Subjektivität der Vorstellungen normalerweise kein Problem darstellt, d.h. dass dieselbe dargestellte Situation in ein wenig verschiedener Weise von verschiedenen Individuen „erlebt“ wird, denn das Erlebnis an sich ist <?page no="27"?> 3 Das Ästhetische als linguistischer Begriff 27 10 Fricke (2000: 34) nimmt explizit Abstand von den Auffassungen Koppes. 11 Vgl. auch Searle (1981: ix, 114, 134). Searle liefert in dieser Arbeit im Kapitel 3 „The logical status of fictional discourse“, S. 58-75, einen wichtigen Beitrag zur Theorie der Fiktionalität und somit zu einem Teilaspekt literarischer Kommunikation. nicht der Punkt des Tatsachenberichts, sondern nur eine Konsequenz dessen, dass Interpretationen immer etwas Vorstellbares und somit Erlebtes oder Erlebbares enthalten müssen. Wir können natürlich auch, wie schon oben notiert wurde, z.B. über Gefühle berichten: Die Frau lachte vor Freude. Mit Hilfe von Wörtern wie Freude oder sich freuen können wir also über Freude berichten, dass sich jemand freut, wobei der Leser von Die Frau lachte vor Freude eine Vorstellung davon hat, wie eine Frau aussieht, wenn sie vor Freude lacht, und vielleicht auch davon, wie so ein Lachen klingt. Vielleicht entsteht sogar beim Leser eine Vorstellung davon, wie sich das Subjekt beim Lachen fühlt. Wenn aber wirklich versucht wird, nicht (nur) über Freude zu berichten, sondern das Gefühl von Freude durch Sprache zu vermitteln, entstehen Probleme, da Wörter als Zeichen, also in ihrer symbolischen Zeichenfunktion, nichts „ausdrücken“ können, und somit auch nicht Gefühle. Man könnte mit Koppe (1983, 127) von einem „Ausdrucksdefizit“ der Sprache sprechen. 10 Anderegg (2000: 65f.) schreibt: Unsere abstrakte und arbiträre Sprache hat mit dem, wovon sie spricht, ihrer Form und Materialität nach, nichts oder nur sehr wenig zu tun. […] Der Kontrast zwischen den Mitteln und dem, was mit den Mitteln erreicht werden soll, ist unter ästhetischem Gesichtspunkt allerdings oft reizvoll; er wurde und wird von Künstlern als Herausforderung wahrgenommen. […] Sprache und Schrift scheinen ihrer Abstraktheit wegen für die Evokation von Bildern wenig geeignet zu sein, und zweifellos ist das Lesen von sprachlich vermittelten Bildern anstrengender und schwieriger als die visuelle Wahrnehmung. Aber andererseits lehrt die Erfahrung, dass sich mit Sprache sehr wohl und sehr schnell Vorstellungen evozieren lassen, was freilich mehr mit unserer Vorstellungskraft als mit der Sprache zu tun haben mag. John R. Searle schreibt in seinem Buch Speech Acts Folgendes, Searle (1969: 19) 11 : The principle that whatever can be meant can be said, which I shall refer to as the ,principle of expressibility‘, is important for the subsequent argument of this book and I shall expand on it briefly, especially since it is possible to misconstrue it in ways which would render it false. […] To avoid two sorts of misunderstandings, it should be emphasized that the principle of expressibility does not imply that it is always possible to find or invent a form of expression that will produce all the effects in hearers that one means to <?page no="28"?> 3 Das Ästhetische als linguistischer Begriff 28 12 Sperber/ Wilson (2004: 222) geben im Rahmen ihrer Relevanztheorie eine interessante Definition des Begriffs „poetische Effekte“: „Let us give the name poetic effect to the peculiar effect of an utterance which achieves most of its relevance through a wide array of weak implicatures.“ 13 „Litteraturen attraherar av olika skäl. Men en sak som många författare har gemensamt - detta hävdar jag bestämt - är en känsla av att man kommer till korta i det verkliga livet, att man inte får fram det man vill säga till de människor man vill säga det till, sina nära och kära. Det är den där ständiga känslan av att ,jag nådde inte fram.‘ Därför vill man skriva.“ 14 Interessant in diesem Zusammenhang ist die Feststellung von Link (2008: 115, Abstract): „Abschließend erfolgt eine kondensierte Lektüre des Netzkomplexes in produce; for example literary or poetic effects, emotions, beliefs, and so on. We need to distinguish what a speaker means from certain kinds of effects he intends to produce in his hearers. The principle of expressibility, das Prinzip der Ausdrückbarkeit, ist natürlich eine grundlegende Voraussetzung für Kommunikation durch Sprache. Allerdings ist Searle der Meinung, dass „for example literary or poetic effects, emotions, beliefs, and so on“ eine Ausnahme der Ausdrückbarkeit darstellen könnten, was so gedeutet werden könnte, dass es auch seiner Ansicht nach eine Art „Ausdrucksdefizit“ gäbe. 12 Der schwedische Schriftsteller Klas Östergren kommentiert in einem Interview das Problem des Ausdrucksdefizits folgendermaßen, Östergren, K. (2005: 7): Die Literatur ist aus verschiedenen Gründen anziehend. Etwas, was aber viele Autoren gemeinsam haben - dies behaupte ich ganz bestimmt - ist ein Gefühl des Versagens im realen Leben, dass es einem nicht gelingt, das auszudrücken und an die Menschen zu vermitteln, an die man es eben vermitteln möchte, an seinen lieben Nächsten. Es geht um das ewige Gefühl ‚ich bin nicht angekommen‘. Deshalb möchte man schreiben. [Übersetzung H.N.] 13 Diese Schwäche, das „Ausdrucksdefizit“, hat ihren Ursprung in der besonderen Stärke der menschlichen Sprache, d.h. in der Symbolfunktion des sprachlichen Zeichens, die die grundlegende Voraussetzung für Kommunikation durch Sprache überhaupt darstellt. Vielleicht könnte man „ästhetische“, d.h. literarische Kommunikation als einen Versuch verstehen, die angegebene Schwäche der Sprache zu überwinden? Ebert (2000: 220) schreibt: „Auch wenn Werbung literarische Formen benutzt, soll man sich des funktionalen Unterschieds stets bewusst bleiben, denn es ist die Kunst, die Unaussprechliches ausspricht, und die Werbung, die Aussprechliches außergewöhnlich ausdrückt […].“ Auf einige Aspekte des sprachlichen Zeichens muss deshalb jetzt kurz eingegangen werden. 14 <?page no="29"?> 3.1 Das Janusgesicht des sprachlichen Zeichens 29 Kafkas Schloß-Roman mit der These, dass Kafka dort eine Grenze der Sagbarkeit problematisiere und überschreite.“ 15 Bedeutungsmerkmale stellen sprachliche Regeln dar und haben natürlich in diesem Sinne eine andere Funktion als die entsprechenden Begriffsmerkmale. Im Begriff kann weiter auch solches enzyklopädische Wissen enthalten sein, das nicht unmittelbar sprachlich relevant ist. 16 Dies ist auch der Fall, wenn die Bedeutung des Zeichens als ein Knoten in einem semantischen Netzwerk betrachtet wird. Vgl. auch Hörmann (1987: 76), wie weiter auch etwa Bosch (1988: 63), Johnson-Laird (1983: 241f.). 3.1 Das Janusgesicht des sprachlichen Zeichens Die Bedeutungen der Wörter haben ihre Entsprechungen in bestimmten Zuständen unseres neuronalen Systems, d.h. sie haben eine biologische Entsprechung oder „Interpretation“. Die Wirklichkeit, auf die wir uns mit Hilfe der Sprache beziehen, wird mit Hilfe unserer Sinneswahrnehmung erfasst, und ist also auch biologisch-neuronal bedingt, d.h. wird durch die Eigenschaften unserer Sinneswahrnehmung geprägt. Wir beziehen uns somit eigentlich nicht auf die „reale“ Welt, sondern auf sogenannte „Perzepte“, d.h. auf Wahrnehmungserlebnisse, vgl. weiter unten. Die Bedeutung oder die semantische Repräsentation eines Wortes wie etwa Stuhl könnte durch Merkmale wie [<+Sitzmöbel>, <+für eine Person>, <+mit Rückenlehne>] beschrieben werden, und diese Beschreibung, die auch als Referenzregel aufgefasst werden kann, muss irgendeine Entsprechung in unserem neuronalen System haben. Aber damit diese Regel verwendet werden kann, muss sie auch eine Interpretation haben, die in Beziehung zu unseren Sinneswahrnehmungen steht, denn wenn wir nicht wissen, wie ein Stuhl ganz konkret aussehen kann und/ oder sonst physisch beschaffen ist, können wir nicht Stühle in der außersprachlichen Wirklichkeit identifizieren. Die Bedeutung, die durch [<+Sitzmöbel>, <+für eine Person>, <+mit Rückenlehne>] beschrieben wird, und die wir die begriffliche Bedeutung nennen können, da sie sich aus einer Teilmenge der begrifflichen Merkmale zusammensetzt, 15 gibt nur die Beziehungen zwischen sprachlichen Zeichen an, und kann streng genommen auch nur als eine Übersetzung in eine andere „Sprache“ betrachtet werden, 16 kann aber nicht die konkrete Beziehung zu Sitzmöbeln, Rückenlehnen oder Personen in der außersprachlichen Wirklichkeit angeben, wenn diese wiederum nicht in irgendeiner Weise mit Hilfe der Sinneswahrnehmung identifizierbar sind, d.h. visuell, auditiv, haptisch, olfaktorisch und/ oder gustatorisch; dazu kommen noch motorische und andere Aspekte, die genau wie die erwähnten Sinneswahrnehmungen Vorstellungen verschiedener Art evozieren können. <?page no="30"?> 3 Das Ästhetische als linguistischer Begriff 30 17 Vgl. auch Leiss (2009b: 25) zur perspektivierenden Funktion des Genus verbi: „Genus verbi ist somit daran beteiligt, intersubjektiv wirksame Regieanweisungen für den Aufbau von Vorstellungen zu geben.“ Wenn jemand das Wort Stuhl hört oder liest - aus Gründen der relativen Einfachheit und Deutlichkeit wird dieses konkrete Wort als Beispiel verwendet - werden u.a. konzeptuelle Merkmale wie die schon erwähnten [<+Sitzmöbel>, <+für eine Person>, <+mit Rückenlehne>] aktiviert. Dieses Bündel von Merkmalen aktiviert seinerseits eine Vorstellung oder ein „mentales Bild“ von einem mehr oder weniger prototypischen Stuhl. Diese Vorstellung stellt den Bezug zur außersprachlichen Wirklichkeit dar, während die Merkmale primär nur Bezüge zu anderen Merkmalen darstellen. Jedes dieser Merkmale muss aber direkt oder indirekt für sich eine Vorstellung oder ein mentales Bild mit einem Bezug zur außersprachlichen Wirklichkeit evozieren können, denn sonst hätte das Merkmal selbst keine Interpretation. Elisabeth Leiss gibt eine interessante Darstellung der Beziehung zwischen Perzept und Konzept, die zum Teil mit der hier vorgestellten Beziehung zwischen Vorstellung und Begriff übereinstimmt. Leiss (2009a: 297f.) schreibt: 17 In einem nächsten Schritt soll die Funktion lexikalischer Semantik und damit des Lexikons skizziert werden. Dazu muss zwischen Perzepten und Konzepten unterschieden werden. Diese Unterscheidung fehlt in vielen semantischen Modellen. Perzepte bestehen aus individuellen Vorstellungsbildern mit potentiell unendlich vielen wahrnehmbaren Merkmalen. Perzepte lassen sich somit schwer speichern. […] Die Aufgabe der lexikalischen Semantik ist es in erster Linie, die Mitteilbarkeit unserer Wahrnehmungen zu ermöglichen. Dazu müssen Perzepte in Konzepte verwandelt werden. Konzepte enthalten im Gegensatz zu Perzepten endlich viele Merkmale. Auf Grund ihrer Endlichkeit lassen sie sich im semantischen Lexikon speichern. Die Einträge im mentalen Lexikon stellen keine individuellen Gedächtnisinhalte dar. […] Zwar ruft jeder bei der Verwendung eines Lexems ein individuelles Vorstellungsbild auf, das mit individuellen persönlichen Erinnerungen und Assoziationen angereichert ist, doch wir trennen sehr genau zwischen intersubjektiven semantischen Merkmalen und individuellen Merkmalen. Im Gegensatz zu dem, was bei Leiss (2009a) der Fall zu sein scheint, werden hier Vorstellungen genau wie Perzepte im Sinne von Wahrnehmungserlebnissen als analoge Erscheinungen betrachtet, d.h. in dem Sinne, dass sie nicht als Bündel oder Konfigurationen von Merkmalen <?page no="31"?> 3.1 Das Janusgesicht des sprachlichen Zeichens 31 18 Leiss (2009a) scheint in der Tat ein wenig undeutlich zu sein. 19 Dies betrifft streng genommen nur Bilder, die nicht als Zeichen konventionalisiert sind, denn auch etwa ikonische Verkehrszeichen können Regeln repräsentieren. Mentale Bilder bzw. Vorstellungen können natürlich nicht konventionalisiert sein, und zwar auch nicht in dem Falle, wo sie lexikalisierte Interpretationen von lexikalisierten begrifflichen Bedeutungen darstellen, denn auch in diesem Falle geht es eben um Interpretationen von Konventionen, vgl. weiter unten Abschn. 3.3. 20 Das „Kompositionalitätsprinzip“ ist natürlich nicht ganz unproblematisch, da alles, was bedeutungsrelevant ist, nicht kompositional abgeleitet werden kann, vgl. auch Abschn. 3.6. aufgefasst werden können. 18 Erst konzeptuell-kognitiv werden sie digital mit Hilfe von Merkmalen erfasst. Zudem werden hier mehr oder weniger stark lexikalisierte interpretierende Vorstellungen als notwendige Elemente der lexikalischen Bedeutungen aufgefasst. Ein zentraler Punkt ist nämlich, dass sprachliche Bedeutungen generell nicht ohne Vorstellungen fungieren können. Genauso wichtig ist aber, dass Vorstellungen keine Bedeutungsregeln darstellen. Sprachliches Handeln stellt ein regelgesteuertes, oder wenigstens regelkonformes, Verhalten dar. Bilder, und somit auch mentale Bilder oder Vorstellungen, können als solche keine Regeln darstellen. 19 Außerdem lässt sich ja die zentrale Satzbedeutung im Prinzip aus den Bedeutungen der Wörter und deren syntaktischen Relationen ableiten, was aber kaum möglich wäre, wenn die Bedeutungen der Wörter (nur) aus den mit ihnen verknüpften Vorstellungen bestehen würden, vgl. Hörmann (1987: 77). 20 Vorstellung und Begriff sind in dem Sinne komplementär, dass, was an der Vorstellung relevant ist, durch den Begriff festgelegt wird, und was der Begriff außersprachlich bedeutet, welche Extension er hat, durch die Vorstellung interpretiert wird. Ein Begriff (oder Konzept beide Termini werden hier synonym gebraucht) muss eine Extension haben, wobei die Vorstellung somit die „primäre“ Extension darstellt. Vorstellungen als Interpretationen von Bedeutungen sind weiter in dem Sinne immer konkret, dass sie aus solchem bestehen, was wir mittels unserer Sinnesorgane erfahren können, denn sonst könnten sie nicht als Brücke zwischen Sprache und außersprachlicher Wirklichkeit dienen. Die Tatsache, dass die Vorstellungen nur konkret sein können, bedeutet, dass sie nur mit Konkreta unmittelbar verknüpft werden können. Rein grammatische Morpheme können nur indirekt im Textzusammenhang mit Vorstellungen verknüpft werden. Hyperonyme oberhalb der Basisebene im Sinne der Prototypentheorie sind indirekt über die Basisebene mit Vorstellungen verknüpft, was ziemlich unproblematisch ist. Die Basisebene wird nach Kleiber (1998: 60) als „[…]die höchste Ebene, auf der eine <?page no="32"?> 3 Das Ästhetische als linguistischer Begriff 32 21 Vgl. weiter Lakoff/ Johnson (1999: 26ff.), Rosch (2009: 45f.), Mangold-Allwinn et alii (1995: 118ff.), wie auch Mihatsch (2006), die zeigt, dass viele sprachliche Daten für eine in der Basisebene verankerte Struktur des Alltagswortschatzes und gegen eine logisch-hierarchische Strukturierung sprechen.Vielleicht könnte man die Basisebene als eine Art „Schnittstelle zwischen Digitalität und Analogizität“ auffassen, vgl. Abschn. 3.2 u. 3.3 unten. 22 Zum Problem der Abstrakta, vgl. auch Nikula (2003a: 118ff. u. 2003b: 204). Interessant ist auch in diesem Zusammenhang Johnson-Laird (1983: 415ff.). einfache bildliche Vorstellung (bzw. Schema) eine ganze Kategorie wiedergeben kann“ definiert. Lakoff/ Johnson (1999: 27) schreiben: 21 It [the basic level] is the highest level at which a single mental image can represent the entire category. For example, you can get a mental image of a chair. You can get mental images of other categories at the basic level such as tables and beds. But you cannot get a mental image of a general piece of furniture - a thing that is not a chair, table, or bed, but something more general. So wird z.B. durch das Wort Möbel nicht eine Vorstellung von einem einzelnen spezifischen Möbelstück oder Typ von Möbelstück evoziert, sondern von mehreren verschiedenen, die mit Wörtern der Basisebene verknüpft sind, z.B. Stuhl, Sofa, Sessel, Schrank, Tisch usw. Die Speicherung von Begriffen unter einem höheren Begriff ist v.a. ein Ergebnis der menschlichen Fähigkeit zur Abstraktion, kann aber auch als Ausdruck eines sprachlichen Ökonomieprinzips im Bereich des Lexikons betrachtet werden, vgl. auch Morgenthaler (2000: 28f.). Abstrakte Wörter wie etwa Gedanke, Idee, Vorstellung, Dasein usw., die offenbar nicht als Hyperonyme von Konkreta anzusehen sind, können nur über Vorstellungen von konkreten Fällen interpretiert werden, d.h. den Begriffen „Gedanke“, „Idee“, „Vorstellung“ und „Dasein“ müssen Vorstellungen von konkreten Inhalten als „aktuellen Bedeutungen“ zugeordnet werden. Zum menschlichen Abstraktionsvermögen gehört aber unbestreitbar auch die Fähigkeit, mit Zeichen und uninterpretierten abstrakten Begriffen umzugehen, ohne sie unmittelbar auf die außersprachliche Wirklichkeit bzw. auf Vorstellungen zu beziehen. Somit hat z.B. die Gleichung 2+2=4 natürlich eine begriffliche Bedeutung, aber erst dann eine Interpretation in dem hier gemeinten Sinn des Begriffes, wenn sie auf etwas Vorstellbares bezogen wird, etwa auf eine bestimmte Menge von Bananen. Das Gesagte bedeutet also nicht, dass der Mensch nicht mit Zeichen, etwa mathematischen Zeichen, umgehen könnte, ohne ihnen Vorstellungen zuzuordnen, aber dann sind sie eben im angegebenen Sinne uninterpretiert. 22 <?page no="33"?> 3.1 Das Janusgesicht des sprachlichen Zeichens 33 23 Die Metaphorisierung und andere Verwendungen bildlicher Sprache stellen vergleichbare „Konkretisierungen“ dar. Stöckl (2004: 8) schreibt: „So häufig und allgegenwärtig die Metapher im Sprachgebrauch ist, so zahlreich scheint auch die wissenschaftliche Literatur zu dem Thema. Veranschlagt man die Rolle der Metapher im Sprachgebrauch so hoch, dann ist es m.E. ein Anlass zur Verwunderung, wenn mentale Bilder bzw. anschauliche Vorstellungen, keine Berücksichtigung finden. Sprachliche Bilder haben ihren Ursprung in ganzheitlicher Umwelterfahrung und -wahrnehmung.“ Vgl. weiter Abschn. 3.6. 24 Hier kann nicht zu der schwierigen Frage Stellung genommen werden, inwieweit sprachliche Regeln „angeboren“ sind bzw. sein können. 25 Vorstellungen können als eine besondere Art von analogen mentalen Modellen betrachtet werden, vgl. Schnotz (1994: 159), wie auch Schnotz (2001). Da die Vorstellungen in dem Sinne immer konkret sind, dass nur Solches vorstellbar ist, was mit Hilfe der Sinnesorgane wahrgenommen werden kann, könnte man Vorstellungen „konkretisiertes Wissen“ nennen. 23 Eine Vorstellung ist darüber hinaus immer individuell, auch wenn angenommen werden muss, dass die lexikalisierten Vorstellungen der Bedeutungen desselben Wortes bei verschiedenen Sprachteilhabern derselben Sprache im Wesentlichen ähnlich sind. Bedeutungsregeln dagegen sind, wie sprachliche Regeln überhaupt, konventionell und überindividuell, d.h. sie müssen, damit die Kommunikation gelingt, bei verschiedenen Sprechern ausreichend ähnlich sein. Da die sprachspezifischen Regeln wenigstens größtenteils in der Auseinandersetzung mit der Umgebung erworben oder konstruiert worden sind, d.h. auf Erfahrungen der Einzelnen als Individuen bauen, muss davon ausgegangen werden, dass sie bei verschiedenen Sprachteilhabern derselben Sprache zum Teil eher mehr oder weniger ähnlich als identisch sind, wobei kontextuelle Faktoren und die kommunikative Kooperationsbereitschaft der Kommunizierenden als Korrektive in der konkreten Kommunikation wirken müssen, vgl. auch Knobloch (2005), Nikula (1995b: 145f. u. 2006c: 110f.). 24 Eine lexikalisierte Vorstellung ist also eine Interpretation der begrifflichen Bedeutung des entsprechenden sprachlichen Zeichens, ein „mentales Modell“ 25 des mit dem Zeichen verknüpften Begriffs, wobei vorausgesetzt wird, dass das Denotat, d.h. das potentielle Referenzobjekt, mit der Vorstellung „kompatibel“ ist. In welcher Weise es kompatibel ist, zeigen die Merkmale der begrifflichen Bedeutung, die ihrerseits eine Interpretation haben müssen. Und eben weil sie ihrerseits, direkt oder indirekt, eine Interpretation durch weitere Vorstellungen haben, können sie als Kompatibilitätsmerkmale dienen. Die Vorstellung dient in dieser Weise als „Brücke“ zwischen sprachlich-begrifflicher Bedeutung und <?page no="34"?> 3 Das Ästhetische als linguistischer Begriff 34 26 Vgl. weiter etwa Engelkamp (1985), Herrmann u.a. (1996), Hörmann (1988, 462ff.), Hupka (1989: 245), Hupka (2003), Jakovidou (2004), Johnson-Laird (1983), Nikula (2003a u. b), Schnotz (1994 u. 2001), Schrauf (2011: 78-84), Wippich (1981). realer Welt, vgl. auch unten Abschn. 3.3. Diese Gedanken sind u.a. durch die bekannte dual-code theory von Allan Paivio angeregt worden, wo davon ausgegangen wird, dass Bedeutungen sowohl propositional oder digital als auch als analog im mentalen Lexikon gespeichert sein können vgl. etwa Paivio (1979 u. 1986), Paivio/ Begg (1981). 26 Vorstellungen sind in dem Sinne von der Sprache unabhängig, dass wir - natürlich - auch von Solchem Vorstellungen haben können, wofür wir keine sprachliche Bezeichnung haben. Begriffe dagegen scheinen immer mit der Sprache direkt oder indirekt verknüpft zu sein. Direkt, wenn wir in unserer Sprache ein entsprechendes Zeichen für einen bestimmten Begriff besitzen, indirekt, wenn wir einen komplexen Ausdruck verwenden müssen, um auf einen Begriff Bezug nehmen zu können, etwa wenn wir „Onkel mütterlicherseits“ sagen müssen, um dasselbe auszudrücken, wie etwa die Schweden mit dem Wort morbror oder die Finnen mit dem Wort eno ausdrücken. Mit Hilfe des komplexen Ausdrucks Onkel mütterlicherseits wird somit eine aus dem Begriffssystem des Deutschen ableitbare, aber nicht als Begriff lexikalisierte Relation versprachlicht. - Das hier kurz und pauschal Angeführte bezieht sich u.a. auf den sehr komplexen und schwierig erfassbaren Zusammenhang zwischen Sprache und Denken, da ja impliziert wird, dass begriffliches Denken ohne Sprache nicht möglich wäre. Es bedeutet aber nicht, dass ein Denken ohne Sprache überhaupt nicht möglich wäre, d.h. wenn Denken nicht so definiert wird, dass es notwendigerweise begrifflich sein muss. Es kann durchaus angenommen werden, dass Denken sogar ausschließlich mit Vorstellungen operieren kann. Auch Vorstellungen brauchen nicht und können nicht durchweg unstrukturiert sein, denn Vorstellungen sind auch, genau wie die Begriffe, Mittel der Strukturierung und Kategorisierung der Welt. Die Entstehung von Vorstellungen von prototypischen Exemplaren ist deutlich ein Ergebnis der Fähigkeit der Mustererkennung. Jedes Tier muss, damit es überhaupt in der Welt überlebt, diese Welt ausreichend strukturieren können, um etwa zwischen Essbarem und nicht Essbarem unterscheiden zu können. Was die höheren Tiere betrifft ist es deutlich, dass sie sehr detailliert ihre Umwelt zu strukturieren und zu kategorisieren vermögen, vgl. Hurford (2007). Dies zeigt sich u.a. darin, dass etwa Hunde im Stande sind, eine große Menge von Befehlen auszuführen, wobei sie auch zwischen einer zuweilen sehr großen Menge von Gegenständen unterscheiden können müssen, ohne <?page no="35"?> 3.2 Digital und analog bzw. ästhetisch und aisthetisch 35 27 Coene (2006) versucht, das Problem der scharfen bzw. nicht scharfen Grenzen mit Hilfe des Begriffs der „Koerzion“ (coercion) in Anlehnung an Pustejovsky (1995) zu lösen. dass dabei davon ausgegangen werden müsste, dass sie begrifflich denken und somit auch die Funktion des menschlichen Zeichensystems beherrschen würden; eher verknüpfen sie wahrscheinlich einzelne sprachliche Ausdrücke unmittelbar mit Vorstellungen, was aber zwangsläufig bedeutet, dass sie nie die Syntax der menschlichen Sprache beherrschen werden, vgl. oben. Auf die Sprache der Tiere soll aber hier nicht näher eingegengen werden, vgl. neben Hurford (2007) auch etwa Fleischer, M. (1987). Wenn die Begriffe in der angegebenen Weise von der Sprache abhängig sind, kann es keine unausdrückbaren Begriffe geben. Das oben im Abschnitt 3 angesprochene „Ausdrucksdefizit“ der Sprache kann sich somit nur auf Vorstellungen, Erlebnisse, Erscheinungen usw. beziehen, für die es keine „entsprechenden“ Begriffe gibt oder geben kann, und somit auf die Tatsache, dass „Analoges“ nicht direkt „digital“ vermittelt werden kann. 3.2 Digital und analog bzw. ästhetisch und aisthetisch Es wurde oben u.a. in Anlehnung an die Theorie der doppelten Kodierung von der Annahme ausgegangen, dass die sprachliche Bedeutung aus einem begrifflichen, d.h. digitalen (oder „propositionalen“) Teil besteht, der durch einen analogen, d.h. einen aus Vorstellungen bestehenden Teil interpretiert wird. In diesem Abschnitt werden diese Gedanken weiter präzisiert. Ein Ausgangspunkt ist, dass die lexikalischen Einheiten und deren Bedeutungen klar voneinander abgrenzbar sein müssen, d.h. genau wie etwa in der Sprachauffassung der strukturell-funktionellen Bedeutungskonzeption, vgl. vor allem Coene (2006) und Coseriu (1988/ 2 1992 u. 1988). Coene (2006: 2) schreibt: 27 Gegenüber der strukturell-funktionellen Bedeutungskonzeption treten die anderen, mit ihr konkurrierenden Bedeutungskonzeptionen in dieser Arbeit in den Hintergrund. So steht z.B. die Prototypentheorie, in der die Bedeutung als kognitiver Bezugspunkt betrachtet wird, um den sich bessere und weniger gute Mitglieder einer Kategorie gruppieren, in der vorliegenden Arbeit nicht direkt zur Diskussion. Dennoch wollen wir anhand von Bedeutungsanalysen im Rahmen der strukturell-funktionellen Semantiktheorie den Nachweis liefern, dass die Grenzen der Wortinhalte nicht - wie in der Prototypentheorie <?page no="36"?> 3 Das Ästhetische als linguistischer Begriff 36 28 Zur sprachwissenschaftlichen Prototypentheorie vgl. etwa Kleiber (1993) und Mangasser-Wahl (Hg.) (2000). behauptet wird - fließend sind, sondern dass man ganz im Gegenteil von klar abgegrenzten lexikalischen Einheiten auszugehen hat. So steht z.B. die Form Frau wegen ihrer graphemischen und phonologischen Merkmale in deutlicher Opposition zu etwa Mann. In ähnlicher Weise unterscheiden sich die Bedeutungen dieser Formen durch das Merkmal <+/ -weiblich>, vgl. [<+hum>, <+erwachsen>, <+weiblich>] bzw. [<+hum>, <+erwachsen>, <-weiblich>]. Verschiedene Formen signalisieren verschiedene Bedeutungen, eine Form impliziert eine Bedeutung. Diese Eigenschaft der „einheitlichen Bedeutung“, der „Solidarität“ zwischen Inhalt und Ausdruck, wird somit auch hier als wichtig betrachtet, und zwar in dem Sinne, dass bei der Beschreibung und Verwendung lexikalischer Bedeutungen die Standardannahme sein soll, dass einer Form nur eine Bedeutung entspricht. Im Gegensatz zu der oben angeführten Behauptung von Coene (2006) wird aber hier gleichzeitig angenommen, dass eine Auffassung, die „die Grenzen der Wortinhalte“ als „klar abgegrenzt“ betrachtet, mit der prototypentheoretischen Beschreibung von „fließenden“ Grenzen nicht unverträglich ist, sondern dass eine Verbindung zwischen der strukturell-funktionellen Konzeption und der Prototypentheorie nicht nur möglich, sondern notwendig ist, damit die Bedeutungen sprachlicher Einheiten adäquat beschrieben werden können. 28 Eine zentrale Funktion sowohl der formalen (phonologischen und graphemischen) als auch der inhaltlichen (semantischen) Merkmale ist, die Zeichen voneinander abzugrenzen. Beide Typen von Merkmalen beziehen sich dabei notwendigerweise indirekt auch auf die außersprachliche Welt, und zwar als ob die „Entitäten“ dieser Welt sich immer scharf voneinander durch ein „entweder - oder“ abgrenzen und kategorisieren ließen. Dies ist, wie wir natürlich wissen, nicht der Fall, eine Tatsache, die als Ausgangspunkt für die Prototypentheorie dient. So sind z.B. die Grenzen zwischen den verschiedenen Farben durchaus nicht scharf. Es wird aber hier angenommen, dass die Grenzen zwischen den die Farben bezeichnenden Zeichen nicht nur formal, sondern auch inhaltlich scharf sind. Die Bedeutung von etwa grün könnte somit folgendermaßen dargestellt werden: [<+Farbe>, <+grün>, <-rot>, <-blau> usw.]. Diese „digitale“ strukturelle Bedeutung gibt an, dass grün als Zeichen zum Wortfeld der Farbbezeichnungen gehört, wo es bedeutungsmäßig in Opposition zu allen übrigen Ausdrücken für Farben steht. <?page no="37"?> 3.2 Digital und analog bzw. ästhetisch und aisthetisch 37 29 Z.B. Fledermaus ist zwar durch das Merkmal <+kann fliegen> charakterisiert, ist aber gegenüber Vogel schon durch das Fehlen des Merkmals <+hat Federn> markiert. In der Prototypentheorie stellt die Bezeichnung für Vögel ein beliebtes Beispiel dar. Die Bedeutung von Vogel könnte mit Hilfe etwa des folgenden Merkmalbündels beschrieben werden, vgl. etwa Kleiber (1993: 21): [<+Lebewesen>, <+kann fliegen>, <+Wirbeltier>, <+hat Federn>, <+hat Flügel>, <+legt Eier>, <+hat einen Schnabel>]. Die digitale strukturelle Bedeutung gibt an, dass Vogel als Zeichen zum Wortfeld der Bezeichnungen für Lebewesen gehört, wo es bedeutungsmäßig in Opposition zu allen übrigen Ausdrücken für Lebewesen, etwa Mensch, Hund, Affe, Fisch, Schlange usw. steht. Das Merkmal <+kann fliegen> ist dabei offenbar sehr zentral. 29 Da es ja auch Vögel gibt, die nicht fliegen können, müsste man sich fragen, ob Vogel möglicherweise ein wenigstens zweideutiges Zeichen wäre. Eine solche Annahme ist aber nicht zwingend, und zwar genau so wenig, wie die Annahme, dass grün als Zeichen deshalb als vage zu bezeichnen wäre, weil die Farben in der außersprachlichen Wirklichkeit ein Kontinuum darstellen. Um die obigen Behauptungen bezüglich grün bzw. Vogel akzeptieren zu können, müssen wir uns die Funktionen der Merkmale näher anschauen. Die Merkmale geben primär nur Unterschiede und Ähnlichkeiten an, und unterscheiden dadurch Bedeutungen voneinander, d.h. sind in diesem Sinne distinktive Merkmale. Im Sinne von Bedeutungsmerkmalen beziehen sie sich aber zugleich auf die Wirklichkeit außerhalb des Zeichens. Sie, und somit auch die Merkmalsbündel, sind Abstraktionen von der Wirklichkeit, und indem sie auf diese Wirklichkeit bezogen werden, strukturieren sie diese wiederum. Wie schon oben behauptet wurde, gibt die Bedeutung [<+Farbe, <+grün>, -rot, -blau> usw.] an, dass grün zum Wortfeld der Farben gehört, wo es bedeutungsmäßig in Opposition zu allen anderen Ausdrücken für Farben steht. Diese Merkmale strukturieren aber weiter eine Vorstellung vom prototypischen Grün (etwa von der grünen Farbe von frischem Gras), die zugleich eine mögliche, lexikalisierte Interpretation dieses Merkmalbündels darstellt. Im Kontext wird die lexikalisierte Vorstellung mehr oder weniger stark modifiziert, wobei wir als Ergebnis eine „aktuelle Bedeutung“ („Textbedeutung“, „Äußerungsbedeutung“) erhalten, die aus der strukturellen Bedeutung und der modifizierten, dem Kontext angepassten Vorstellung besteht. In ähnlicher Weise gibt die digitale strukturelle Bedeutung von Vogel an, dass das Wort zum Wortfeld der Bezeichnungen für Lebewesen gehört, wo es bedeutungsmäßig in Opposition zu den übrigen <?page no="38"?> 3 Das Ästhetische als linguistischer Begriff 38 30 Die Tatsache, dass die digitale Komponente „grundsätzlich überindividuell“ ist, schließt nicht aus, dass in der Praxis Sprachteilhaber zum Teil verschiedene Auffassungen über die digitale Bedeutung haben können, was aber leicht zu Missverständnissen in der aktuellen Kommunikation führen kann, da die Sprachteilhaber dabei zum Teil „verschiedene Sprachen“ sprechen. Ausdrücken für Lebewesen steht und wo es eine Vorstellung von einem prototypischen Vogel oder von prototypischen Vögeln strukturiert, die zugleich eine mögliche lexikalisierte Interpretation des Merkmalbündels [<+Lebewesen>, <+kann fliegen>, <+Wirbeltier>, <+hat Federn>, <+hat Flügel>, <+legt Eier>, <+hat einen Schnabel>] darstellt. In diesem Zusammenhang bedeutet also Interpretation „verständlich machen“ für unsere Sinnesorgane, die unsere Verbindung zur Welt darstellen. Abstrakte digitale Strukturen wie [<+Lebewesen>, <+kann fliegen>, <+Wirbeltier>, <+hat Federn>, <+hat Flügel>, <+legt Eier>, <+hat einen Schnabel>] sind für unsere Sinneswahrnehmungen unverständlich, wenn sie nicht durch entsprechende analoge Vorstellungen interpretiert werden. Diese durch die digitalen Merkmale evozierten analogen Vorstellungen stellen somit die notwendige Brücke zur außersprachlichen Wirklichkeit dar, denn die zentrale kommunikative Funktion der Bedeutung eines sprachlichen Zeichens ist, - pauschal ausgedrückt - die Referenzbedingungen des Zeichens anzugeben, vgl. auch etwa Holly (2005), Ruthrof (2000), Stöckl (2005: 69). Die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens besteht also aus einer digitalen Komponente, die durch eine analoge Komponente interpretiert wird. Die digitale Komponente ist grundsätzlich überindividuell, während die analoge interpretative Komponente mehr oder weniger starke individuelle Züge aufweisen kann, da wiederum Vorstellungen grundsätzlich individuell sind. 30 Die Vorstellungen sind „uferlos“, da sie auch aus solchem episodischen und enzyklopädischen Wissen bestehen, das nicht unmittelbar lexikalisch bedeutungsrelevant ist, auch wenn dieses Wissen für das Verstehen des jeweiligen Textes wichtig sein kann. Die „Individualität“ der Vorstellungen wird jedoch durch die digitale Komponente stark beschränkt, indem diese die Vorstellung dadurch strukturiert, dass sie festlegt, was an der Vorstellung als sprachliches Bedeutungselement relevant ist. Es muss noch einmal darauf hingewiesen werden, dass die digitalen Merkmale schon durch Vorstellungen als semantische Merkmale „interpretiert“ sind, die angeben, in welcher Weise sich die Zeichen voneinander unterscheiden. So erscheint z.B. die digitale Bedeutung von Mann <?page no="39"?> 3.2 Digital und analog bzw. ästhetisch und aisthetisch 39 31 Lexikalisierte metaphorische Bedeutungen (etwa Vogel für ‚Spaßvogel‘) werden hier nicht berücksichtigt, da es um einen ganz anderen Aspekt geht. Zum Problem der Metapher vgl. Abschn. 3.6. 32 Auch Wörter anderer Wortklassen, vor allem Adjektive und Substantive können Valenz besitzen, aber nur bei Verben ist dies eine generelle Eigenschaft. - Die erwähnten „Minimaltexte“ sind natürlich noch keine eigentlichen Texte, da sie nicht in Handlungszusammenhänge eingebettet sind. nicht etwa als [<+X>, <+Y>, <-Y>, sondern als [<+hum>, <+erwachsen>, <-weiblich>]. Sonst könnte nicht erfasst werden, was an der Vorstellung von etwa einem Mann bedeutungsrelevant wäre. Eine zentrale Funktion der semantischen Merkmale der Wörter besteht somit in der Strukturierung, Perspektivierung und Lexikalisierung von Vorstellungen. Die „endgültige“ Relevanz wird aber in der Sprachverwendung, d.h. im Kontext, festgelegt. So kann z.B. die Vorstellung eines prototypischen Vogels sogar bei demselben Sprecher abhängig davon variieren, ob er sich zu Hause in Frankfurt am Main oder etwa in Iguazú im nördlichen Argentinien befindet. Wichtiger in diesem Zusammenhang ist aber, dass auch das, was lexikalisch sogar stark relevant ist, kontextuell seine Relevanz verlieren kann, wie etwa das digitale Merkmal <+kann fliegen> bezogen auf Strauße oder Pinguine. Auch wenn sie keine typischen Vögel sind, wird ihre Familienähnlichkeit mit solchen Vögeln erkannt, die die Bedingungen sämtlicher digitaler Bedeutungsmerkmale erfüllen. Diese Vorstellung einer Familienähnlichkeit ist bei Strauß und Pinguin als Bedeutungselement lexikalisiert, d.h. aus einer kontextuellen Bedeutung ist eine lexikalische entstanden. Durch die Annahme einer doppelten Kodierung („digital“ und „analog“) kann somit die Referenz auf atypische Referenten erfasst werden, ohne dass eine Gewichtung oder Streichung von Merkmalen angenommen werden muss bzw. ein Prozess der Koerzion angenommen werden müsste, vgl. Coene (2006) oben, wie auch den Exkurs unten. Und natürlich wird dabei auch die Alternative ausgeschlossen, dass ein Wort wie Vogel nur deshalb als polysem zu betrachten wäre, weil es als Bezeichnung sowohl für flugfähige als auch für nicht flugfähige Vögel verwendet werden kann. 31 Da die Verben generell Valenzträger sind, bilden sie schon auf der lexikalischen Ebene eine Art „Minimaltexte“ und stellen somit eine Art Schnittstelle zwischen Lexikon und Text dar. 32 Eine „klassische“ Definition von Valenz ist, dass sie die Eigenschaft von Wörtern oder Lexemen darstellt Leerstellen zu eröffnen, die besetzt werden können oder müssen, wobei auch die Art und Funktion derjenigen Elemente, die die Leerstellen besetzen, durch den Valenzträger bestimmt wird. Die Leer- <?page no="40"?> 3 Das Ästhetische als linguistischer Begriff 40 stellen bilden den Rahmen (oder Frame) des Valenzträgers. Der Rahmen von töten könnte etwa folgendermaßen dargestellt werden: töten-Rahmen [__] NnAG V [__] NaPAT Durch diese einfache Formel wird ausgedrückt, dass töten ein zweiwertiges Verb mit Nominativsubjekt und Akkusativobjekt ist, wobei das Subjekt semantisch ein AGENS, das Objekt ein PATIENS ist. Somit sind mit dem Rahmen wichtige Bedeutungsmerkmale angegeben, die aber von sehr abstrakter Art sind. Damit das Verb töten kommunikativ verwendet werden kann, müssen u.a. die semantischen Kasus AGENS und PATIENS durch „Vorstellungen“ interpretiert werden, und zwar durch Vorstellungen von Tötern und Opfern, die konkretere, „vorstellbare“ Rollen darstellen. Es wird also unterschieden zwischen abstrakten semantischen Kasus, die die semantischen Funktionen der Argumente des Valenzträgers angeben, und konkreteren „pragmatischen“ Rollen, die mit „vorstellbarem“ Sachwissen verknüpft sind. Die Darstellung des obigen Rahmens wäre in entsprechender Weise zu erweitern, wobei wir als Ergebnis eine „Szene“ erhalten: töten-Szene: [__] NnAGTöter Präd [__] NaPaAGOpfer Die Interpretationen sind also auch hier Vorstellungen, die als „Brücke“ zwischen den sprachlichen Bedeutungsstrukturen und der außersprachlichen Welt dienen. Ausgehend von diesen kurzen Überlegungen kann jetzt eine Definition des Begriffs „Szene“ angegeben werden: Szenen sind durch Vorstellungen interpretierte, lexikalisierte Rahmen von Valenzträgern. Eine Szene enthält aber nur die minimalen Bedeutungselemente. Unser außersprachliches Wissen sagt uns z.B., dass wir irgendein Mittel brauchen, um jemanden umbringen zu können. Ein solches mit dem Verb verknüpftes Wissen könnte Skriptwissen genannt werden. Das durch das Wissen über die Handlung des TÖTENs evozierte „Skript“ könnte folgendermaßen strukturiert sein: TÖTEN-Skript [__] Töter PRÄD [__] Opfer [__] Mittel Die Skripts bestehen aus Wissen über Handlungen, Ereignisse oder Zustände, und zwar Wissen, das in dem Sinne sprachlicher Natur ist, dass es um die Bedeutungen von sprachlichen Konstruktionen geht. Die Skripts sind aber nicht wie die Szenen als Bedeutungen von Valenzträgern, <?page no="41"?> 3.2 Digital und analog bzw. ästhetisch und aisthetisch 41 33 „Konstruktionen“ etwa im Sinne der Konstruktionsgrammatik, vgl. z.B. Fischer (2008), Goldberg (1995 u. 2006), Östman/ Fried (2005). 34 Die Terminologie in der wissenschaftlichen Literatur ist durchaus nicht einheitlich. 35 Da aber weder Kaufhaus noch Restaurant Valenzträger sind, können sie zwar Szenarios und Skripts, aber keine Szenen evozieren. Auch das Wort Gericht ist kein Valenzträger, weshalb man eigentlich nicht wie Heringer (1984) von einer „Gerichtsszene“ sprechen sollte, sondern eher von einem Gerichtsszenario, das mit Skripts kompatibel ist, die mit Hilfe von Verben wie beschuldigen, anklagen, verteidigen und verurteilen perspektiviert werden können. sondern als Bedeutungen von „Konstruktionen“ 33 lexikalisiert. Sie sind in dem Sinne konkret, dass sie immer, genau wie die Szenen, „vorstellbare“ Rollen enthalten. Die Skripts können somit folgendermaßen definiert werden: Skripts sind durch Vorstellungen interpretierte, lexikalisierte sprachliche Konstruktionen, die durch die Bedeutungen von Valenzträgern aktualisiert werden. Da die töten-Szene mit dem TÖTEN-Skript kompatibel ist, können diese miteinander „unifiziert“ werden. Als Ergebnis der Unifikation wird der Töter zum Subjektsargument und AGENS, das Opfer dagegen zum Objektsargument und PATIENS von töten „befördert“ und wir erhalten das folgende „perspektivierte“ Skript: Perspektiviertes TÖTEN-Skript [__] NnAGTöter töten [__] NaPATOpfer [__] AdvMittel Ein Skript unterscheidet sich weiter von einer Szene u.a. dadurch, dass die Szenen Elemente lexikalischer Bedeutungen, die Skripts dagegen Elemente von Szenarios sind. Unter Szenarios werden hier 34 Kenntnisse verstanden, die überhaupt mit bestimmten Handlungen, Ereignissen und Zuständen usw. verknüpft werden, etwa Kenntnisse von der normalen Reihenfolge der verschiedenen Momente einer Handlung, wie auch von den Typen und Funktionen der involvierten Rollenträger. So kann z.B. durch das Wort Kaufhaus oder durch den Anblick eines Kaufhauses ein relativ kompliziertes Szenario evoziert werden, das Wissen darüber enthält, was normalerweise passieren kann, wenn man ein Kaufhaus besucht. Das „Kaufhausszenario“ enthält somit verschiedene Skripts, u.a. ein Kaufskript, das durch Verben wie kaufen, verkaufen, zahlen, bezahlen, kosten usw. sprachlich in verschiedener Weise perspektiviert und repräsentiert werden kann, vgl. auch Heringer (1984: 48f.) zum „Restaurantskript“. 35 Welche weiteren Skripts evoziert werden, ist offenbar zum Teil stark von persönlichen Erfahrungen abhängig. <?page no="42"?> 3 Das Ästhetische als linguistischer Begriff 42 36 Zu bedenken ist, ob Wissen überhaupt in Form von rein abstrakten, „leeren“ Schemata gespeichert sein kann. Solche Schemata sind wohl eher als Abstraktionen der Wissenschaft zu betrachten. Eher ist anzunehmen, dass die Schemata als durch konkrete Vorstellungen besetzte Strukturen zu betrachten sind, die prototypische Verläufe von Handlungen, Ereignisse usw. abbilden. Es scheint aber die Gefahr zu bestehen, dass das Beschreibungsmodell (Frames, Scenes, Scripts, Scenarios usw.) mit dem zu Beschreibenden verwechselt wird. Es könnte also vermutet werden, dass es im mentalen System keine leeren Strukturen - und somit auch keine „Leerstellen“ - gibt. Szenen, Skripts und Szenarios sind durch konkrete Vorstellungen von prototypischen Zusammenhängen interpretierte abstrakte Schemata oder Strukturen. Bei der Interpretation von Texten steuern sie somit die Erwartungen des Rezipienten, wobei z.B. Abweichungen von dem Erwarteten zum „ästhetischen Genuss“ und zur Überzeugungskraft des Textes beitragen können, vgl. auch Eisenhut (2009: 101ff.). 36 Die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens besteht also immer aus einem digitalen und einem analogen, interpretierenden Teil. Die digitale Bedeutung oder „Systembedeutung“ stellt den strukturierenden, Kohärenz und Ordnung schaffenden Teil, d.h. den ästhetischen Aspekt im engeren Sinne dar. Die analoge Bedeutung dagegen bildet den mit Wahrnehmen und Erleben verknüpften, d.h. aisthetischen Aspekt des sprachlichen Zeichens. Die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens besteht also - ein wenig anders ausgedrückt - aus einem Bündel von Bedeutungsmerkmalen, also aus dem begrifflichen oder konzeptuellen Teil der Bedeutung, und dessen Extension in Form von einer Vorstellung, die die Interpretation der konzeptuellen Bedeutung darstellt, und somit die Erfassung der Extension in der außersprachlichen Welt ermöglicht, was eine Voraussetzung für die referenzielle Verwendung des Zeichens darstellt. Ausgehend von dem in diesem Abschnitt Gesagten wird also hier die Meinung vertreten, dass sprachliche Kommunikation, wie menschliche Kommunikation überhaupt, immer eine im weiteren Sinne „ästhetische“, d.h. ästhetische und aisthetische ist. - Die Unterscheidung zwischen einer digitalen und einer analogen Bedeutungskomponente bzw. einem ästhetischen und einem aisthetischen Aspekt der sprachlichen Bedeutung wird zentral sein für die weitere Darstellung bei dem Versuch, dem Begriff des Ästhetischen einen linguistisch greifbaren Inhalt zu geben. <?page no="43"?> 3.2 Digital und analog bzw. ästhetisch und aisthetisch 43 37 Diese „Endlichkeit“ ist natürlich zugleich eine Folge der Stärke der „Digitalität“, die Abstraktion ermöglicht. 38 Anders Gansel/ Jürgens (2007: 125): „Dadurch [durch Typenzuweisungen (H. N.)] wird einerseits Vagheit von Bedeutungen auch im Bereich von Substantiven erklärbar, andererseits ermöglichen Selektionen von Aspekten und ihre Perspektivierung sprachliche Kreativität durch die Verknüpfung von Substantiven mit Verben.“ Exkurs Damit verschiedene kontextuell aktivierte Bedeutungen von Lexemen beschrieben werden können, stützt sich Coene (2006) in ihrer oben in diesem Abschnitt angeführten Arbeit auf die Theorie der Koerzion (coercion) von Pustejovsky (1995). In diesem Zusammenhang ist der Begriff der „Qualia-Struktur“ interessant, den Pustejovsky als Restriktion der Koerzion einführt, vgl. Pustejovsky/ Bouillon (1996: 134): „Qualia structure: Composed of FORMAL , CONSTITUTIVE , TELIC and AGENTIVE roles.“ Pustejovsky/ Bouillon (1996: 158, Anm. 2) beschreiben weiter den Qualia-Begriff folgendermaßen: „Qualia structure can be seen as providing the ‚modes of explanation‘ for a concept as lexicalized in a particular word.“ Durch diesen Begriff können die verschiedenen Verwendungen von etwa Roman in den folgenden Sätzen erfasst werden: Der Roman fiel auf den Boden ( FORMAL ), Der Roman erzählt von einer Reise nach Südamerika ( CONSTITUTIVE ), Er hat den Roman gelesen ( TELIC ) und Er hat wieder einen Roman geschrieben ( AGENTIVE ). In dieser Weise kann beschrieben werden, wie Roman durch das Verb perspektiviert wird und somit verschiedene kontextuell bedingte Bedeutungsinterpretationen erhält, vgl. weiter Pustejovsky (1993: 86f.), wie auch Gansel/ Jürgens (2007: 124f.). Es geht hier um lexikalisierte aktuelle Bedeutungen der digitalen Bedeutungskomponente, die bestimmte Standardinterpretationen der Lexeme ermöglichen. Die Zahl der digitalen Bedeutungsinterpretationen oder Möglichkeiten der Perspektivierung sind zwangsläufig endlich, in diesem Falle stark begrenzt. 37 Sprachliche Kreativität kann zwar in dieser Weise erfasst werden, aber ihr werden zugleich starke Grenzen gesetzt. Soll z.B. die Rolle von Roman im Satz Sie hat einen Roman von ihm geschenkt bekommen als formal oder konstitutiv, oder als formal und konstitutiv aufgefasst werden? Eine echte Vagheit wird nicht vorausgesehen, wie auch nicht, dass in einem aktuellen Kontext das Substantiv in einer von den angegebenen Möglichkeiten abweichende Weise perspektiviert wird. 38 Es wird auch nicht vorgesehen, dass emergente Bedeutungsmerkmale auftreten können, d.h. Merkmale „die nicht Teil der Lexikonbedeutung der Wörter sind und auch nicht Teil der Konzeptinhalte, auf die sie verweisen“, die aber u.a. wesentlich bei der Beschreibung „innovativer“ <?page no="44"?> 3 Das Ästhetische als linguistischer Begriff 44 Metaphern sind, vgl. Skirl (2009: 10). Für die Erfassung emergenter Bedeutungen ist die Annahme einer analogen Bedeutungskomponente notwendig, vgl. weiter unten Abschn. 3.6. 3.3 Zur Verwendung des sprachlichen Zeichens: Meinen und Verstehen Es wurden oben zunächst vor allem die Bedeutungen isolierter sprachlicher Zeichen und Zeichenstrukturen besprochen. Die Zeichen werden natürlich erst in der sprachlichen Kommunikation erzeugt. Sie werden dort verwendet und interpretiert, und zwar mit dem Ziel, dass die kommunikative Absicht des Textproduzenten verstanden werden soll. Keller (1995) beschreibt die Beziehung zwischen Ausdruck und Bedeutung des Zeichens als Voraussetzung für die Interpretierbarkeit folgendermaßen (Fettdruck im Original), Keller (1995: 109): Die Eigenschaft, vermöge derer ein Zeichen wahrnehmbar ist, soll ‚Ausdruck des Zeichens‘ heißen; die Eigenschaft, vermöge derer das Zeichen interpretierbar ist, sei ‚Bedeutung des Zeichens‘ genannt. Kommunikatives Verstehen gibt es auch ohne Sprache - in der Tat ist eine der Voraussetzungen für den Spracherwerb des Kindes, dass es verstehen kann, was mit dem Gesagten gemeint wird, ohne das Gesagte noch sprachlich verstanden zu haben. Und auch als erwachsene Sprachteilhaber verstehen wir ja häufig, was gemeint wird, ohne das Gesagte vollständig, oder gar überhaupt, sprachlich rezipiert zu haben, d.h. ausgehend von der Kommunikationssituation, unserem kommunikativen Wissen und unserem Weltwissen überhaupt. Ohne Verstehen ist aber jede Kommunikation durch Sprache sinnlos bzw. findet überhaupt nicht statt. Keller (1995: 105) schreibt weiter: Kommunizieren […] heißt Mitmenschen beeinflussen, und zwar dadurch, daß man dem andern mittels Zeichen […] zu erkennen gibt, wozu man ihn bringen möchte, in der Hoffnung, daß diese Erkenntnis für den andern ein Grund sein möge, sich in der gewünschten Weise beeinflussen zu lassen. Wichtig daran ist […] vor allem, daß Kommunizieren erstens eine Form der Beeinflussung ist, und zweitens, daß die Beeinflussung nur dann einen Fall von Kommunikation darstellt, wenn sie auf dem Wege einer Erkenntnis hervorgebracht wird. […] Kommunizieren heißt somit, den anderen etwas wahrnehmen lassen, woraus er zusammen mit seinem übrigen Wissen, seinem Situations- und seinem Weltwissen, erkennen kann, wozu man ihn bringen möchte. <?page no="45"?> 3.3 Zur Verwendung des sprachlichen Zeichens: Meinen und Verstehen 45 39 Knobloch (2005: 14) gibt eine schöne kurze Definition des Verstehens selbst: „Etwas verstehen heißt, es in Verbindung setzen zu können mit etwas, das man kennt.“ 40 Die Bedeutung von nicht-lexikalisierten Einheiten, etwa von nicht-lexikalisierten Zusammensetzungen, von Phrasen, Sätzen usw. kann man ja nicht kennen - dies folgt aus der Definition nicht-lexikalisierter Einheiten. Die Mittel, die eingesetzt werden, sind Zeichen, wobei die Zeichen nach Keller (1995: 106) […] Hinweise sind, die der Sprecher dem Adressaten ‚an die Hand‘ gibt, um ihn dazu zu bringen und in die Lage zu versetzen, zu erschließen, in welcher Weise der Sprecher den Adressaten zu beeinflussen beabsichtigt. […] Den Prozess des Schließens nennt man Interpretieren; das Ziel dieses Prozesses nennt man Verstehen. Verstehen sei also nach Keller das Ziel des Prozesses des Interpretierens. 39 Das Ziel der Kommunikation dagegen ist das der Beeinflussung über Verstehen, wobei also auch das Verstehen ein Mittel, nicht das Ziel der Kommunikation sein kann, vgl. auch Keller (1996: 50). Dabei seien die Zeichen Mittel des Interpretierens im Sinne von Erschließen. Die Verwendung der sprachlichen Zeichen wird durch Gebrauchsregeln verschiedener Art (syntaktische, semantische, pragmatische usw.) gesteuert. Wenn man wie Keller (1977, 1995, 1996) die Bedeutung als semantische Gebrauchsregeln betrachtet, d.h. als Wissen über oder (eher) Beherrschung von Verwendungsbedingungen eines sprachlichen Ausdrucks, dann kann die lexikalische Bedeutung nicht „verstanden“ werden, denn die Kenntnis der lexikalischen Bedeutung ist eine Voraussetzung des Verstehens, da die Zeichen und somit deren Bedeutungen Mittel der Interpretation sind, die das Verstehen erst ermöglichen. 40 „Zeichen (und somit auch Wörter) sind Prämissen in Schlußprozessen, die Verstehen zum Ziel haben.“ (Keller 1996: 50) Verstehen wäre also nach Keller das Ziel des Prozesses des Interpretierens, wobei die Zeichen Mittel des Interpretierens sind, d.h. des Schließens. Das Endziel der Kommunikation, d.h. der ganzen Kommunikations-Handlung, ist dagegen die Beeinflussung über das Verstehen, vgl. auch Keller (1996: 50). Hier muss aber weiter differenziert werden. Wenn ein Sprecher sich äußert, ist das Ergebnis ein Sprechakt (Sprechhandlung). Der Sprechakt wird mit dem Ziel oder Zweck vollzogen, dass der Rezipient versteht, „worum es geht“. Ziel der kommunikativen Handlung ist das Verstehen als Ergebnis des Interpretierens, wobei der Sprechakt eine instrumentale Funktion im Rahmen der <?page no="46"?> 3 Das Ästhetische als linguistischer Begriff 46 41 Zur Unterscheidung zwischen Sprechhandlungen (Sprechakten) und kommunikativen Handlungen, vgl. Keller (1977: 17-19). 42 Vgl. auch Rolf (2000: 429ff.), Ulkan (1992: 33ff.), von Wright (1971: 66ff.) kommunikativen Handlung hat. 41 Die Funktion der rein kommunikativen Handlung hat ihrerseits eine instrumentale Funktion, d.h. ist eine Voraussetzung dafür, dass die ganze Kommunikations-Handlung erfolgreich sein kann. Verstehen ist das erzielte Ergebnis der kommunikativen Handlung und ein Aspekt dieser Handlung, wobei die Wirkung, die Reaktion des Rezipienten in intendierter Weise die Folge oder Konsequenz der kommunikativen Handlung darstellt. Wenn man z.B. sagt: „Bitte schließen Sie das Fenster“, ist der Vollzug der kommunikativen Handlung das Ergebnis dieser Handlung, die ihrerseits erfolgreich ist, wenn der Rezipient verstanden hat, worum es geht. Die Kommunikations- Handlung ist erfolgreich, wenn der Rezipient das Fenster schließt, oder wenigstens den Versuch macht, dies zu tun. Wenn aber der Rezipient zwar versteht, was gemeint wird, aber trotzdem z.B. antwortet, „Ja, es ist kalt hier“, kann zwar die kommunikative Handlung erfolgreich sein, nicht aber die Kommunikations-Handlung. 42 Es ist wichtig zu notieren, dass, auch wenn wie bei Keller oben, von Erschließen, Schließen und Schlussprozessen die Rede ist, es offenbar nicht ausschließlich um „logisches Schließen“, um „logische Folgerungen“ in der menschlichen Kommunikation gehen kann. Es geht eben um „Hinweise […], die der Sprecher dem Adressaten ‚an die Hand‘ gibt“ (Keller 1995: 106, vgl. oben). Solche Hinweise können sehr verschiedener Art sein, und zwar nicht nur solche „digitaler“ Natur. Literarisches Verstehen ist sehr deutlich nicht nur ein Ergebnis eines Prozesses des logischen Schließens, aber auch das Verstehen von Gebrauchstexten ist nicht ausschließlich von analytischen, logischen Prozessen der Interpretation abhängig, vgl. Abschn. 3.1 u. 3.2 oben. Wenn aber Keller (1996: 50) schreibt, vgl. oben, „Zeichen (und somit auch Wörter) sind Prämissen in Schlußprozessen, die Verstehen zum Ziel haben“, kann dies so verstanden werden, dass es eben um die sprachlichen Zeichen im Sinne von digitalen symbolischen Zeichen gehen muss, die als „Prämisse“ in logischen Schlussprozessen dienen. Wie z.B. Heinemann/ Viehweger (1991: 263) notieren, vgl. auch Keller (1995: 106ff.), sind die Ziele des Textproduzenten durchaus nicht immer mit den Zielen des Rezipienten identisch, was u.a. bedeutet, dass derselbe Text in verschiedener Weise von verschiedenen Lesern rezipiert werden kann, unabhängig davon, ob es um einen literarischen oder nichtliterarischen Text geht. Ein informativer nichtliterarischer Text, z.B. <?page no="47"?> 3.3 Zur Verwendung des sprachlichen Zeichens: Meinen und Verstehen 47 ein wissenschaftlicher Artikel zur Textsortentheorie, wird in unterschiedlicher Weise von einem Experten auf diesem Gebiet, der nur den Text vielleicht recht kursorisch zu lesen braucht, von einem Linguistikstu denten, der sich auf eine Prüfung vorbereitet und große Mühe hat al les zu verstehen, und von einem Gutachter einer Zeitschrift, wo der Artikel erscheinen soll, rezipiert. Unabhängig von den Rezeptionsarten ist aber die kommunikative Handlung erfolgreich, wenn diese Rezipien ten verstanden haben, was der Textproduzent gemeint hat und die Kommunikations-Handlung erfolgreich, wenn sie sich entsprechend verhalten, wobei die jeweils verschiedenen kommunikativen Konstellationen zu berücksichtigen sind. Wenn der Artikel aus Karrieregründen ausschließlich in der Absicht geschrieben wurde, dass er in der Zeitschrift veröffentlicht würde, könnte es als ein Scheitern der Kommunikations- Handlung betrachtet werden, nicht aber unbedingt der kommunikativen Handlung, wenn der Artikel abgelehnt wird. Die hier vor allem in Anlehnung an Keller angeführte Darstellung der Funktion und Verwendung sprachlicher Zeichen dürfte mit dem oben Abschn. 3 und 3.1 Angeführten kompatibel sein. Dabei wären die Ergebnisse des Interpretierens auf den verschiedenen Ebenen der Sprache (Wort, Satz, Text) auch als Interpretationen im Sinne von 3 und 3.1 zu betrachten, wobei vom Verstehen gesprochen werden darf, wenn die Interpretation des Rezipienten wenigstens „ausreichend“ mit der vom Textproduzenten intendierten Interpretation übereinstimmt; dann hat der Rezipient verstanden, was der Textproduzent meint. Es ist aber deutlich, dass die Darstellung problematisch wird, wenn sie auf literarische Texte angewendet wird. Polyfunktionalität wird häufig als wichtiges Merkmal literarischer Texte betrachtet, was offensichtlich bedeutet, dass es nicht nur eine „richtige“ Interpretation, ein „richtiges“ Verstehen eines literarischen Textes geben muss oder gar geben kann. Eine bestimmte Autorintention ist bei literarischen Texten im Prinzip unmöglich festzulegen. In welcher Weise möchte der Verfasser eines literarischen Textes seine Leser beeinflussen, zu welchen Handlungen möchte er sie bewegen? Was etwa politisch engagierte Literatur betrifft, können solche Intentionen festgestellt oder wenigstens vermutet werden, aber auch in diesem Falle lassen sich die Texte i.A. lesen, ohne dass die politische Botschaft als zentral aufgefasst wird. Überhaupt ist die Beschreibung der Sprache als „Instrument“ problematisch in Bezug auf Literatur, vgl. etwa Nikula (2008a) und Abschn. 5.3 unten. Wenn die Autorintention bei literarischen Texten nicht festlegbar ist, ist es also nicht möglich festzustellen, ob der Text „richtig“ verstanden worden ist. Höchstens können deutlich falsche Interpretationen fest- - - - <?page no="48"?> 3 Das Ästhetische als linguistischer Begriff 48 43 Wobei auch ein an sich symbolisches Zeichen als Symptom dienen kann, und zwar nicht nur sprachliche Zeichen, z.B. wenn jemand wegen schwarzer Kleidung als Trauender gedeutet wird, was auch passieren kann, wenn der Schwarzgekleidete gestellt werden, z.B. wenn die Sprachkenntnisse oder die notwendigen enzyklopädischen Kenntnisse des Rezipienten nicht ausreichend sind. Wie der Rezipient eines literarischen Textes diesen verstanden hat, kann kaum, wie häufig beim nichtliterarischen Text, ausgehend von den außersprachlichen Reaktionen des Rezipienten inferiert werden, und eine Bitte um eine sprachliche, paraphrasierende Erklärung hilft auch nicht viel weiter, da erstens eine paraphrasierende Formulierung selbst eine Interpretation braucht, vgl. etwa Knobloch (2005: 9), Schmidt, S.J. (1986: 91), und zweitens, weil literarische Texte als Mittel literarischer Kommunikation keine Paraphrasen haben, vgl. unten Abschn. 7. Die Frage der Autorbzw. Sprecherintention ist natürlich noch komplizierter als oben dargestellt wurde, vgl. Knobloch (2005: 7): Die Annahme, dass der Sprecher immer eine bestimmte Absicht, eine bestimmte Intention haben und verfolgen muss, ist ein notwendiges Konstrukt unserer Alltagstheorie des Verstehens, aber sie ist als Proposition (mit Wahrheitsbehauptung) ersichtlich falsch. Was wir als Intention bezeichnen, das ist tatsächlich eine soziale Kooperationsverpflichtung zwischen Sprecher und Hörer. Eine verbreitete Auffassung ist, dass sprachliche Kommunikation notwendigerweise immer durch (bewusste) Intentionalität charakterisiert sei, was angezweifelt werden kann, da der Textproduzent, wenigstens was gesprochene Sprache betrifft, sich nicht in jedem Falle so ganz im Klaren sein muss, was und ob er überhaupt etwas „gemeint“ hat, z.B. beim small talk, vgl. weiter Knobloch (2005). Nichtintentionales kann aber bei der sprachlichen Kommunikation sozusagen nebenbei vermittelt werden, der Klang der Stimme kann z.B. vom Rezipienten kommunikativ interpretiert werden, auch ohne dass dies vom Textproduzenten intendiert wurde. Auch der Sprachstil des Textproduzenten kann in einer Weise interpretiert werden, die von ihm nicht intendiert war. Viele andere Aspekte menschlichen Benehmens und Verhaltens, vielleicht alle, können auch kommunikativ interpretiert werden, etwa Gestik, Mimik, Körperbewegungen, Kleidung usw., und zwar auch ohne dass dies vom „Produzenten“ kommunikativ intendiert wäre. Rein zeichenmäßig geht es aber bei solcher nicht-intendierter Kommunikation um eine andere Form der Kommunikation als bei rein sprachlicher Kommunikation, d.h. es geht nicht um symbolische Zeichen, sondern um Symptome. 43 Es <?page no="49"?> 3.3 Zur Verwendung des sprachlichen Zeichens: Meinen und Verstehen 49 durch seine Kleiderwahl dies nicht hat ausdrücken wollen, vielleicht sogar deshalb, weil er kein Trauender ist. 44 So auch für die Relevanztheorie von Sperber/ Wilson (2004: 46): „This book is essentially an exploration of the idea that there is a single property - relevance - which makes information worth processing for a human being.“ Sperber/ Wilson gehen von der zentralen dritten Maxime der Relation „Be relevant“ von Grice aus (Grice 1975: 44ff.; Sperber/ Wilson 2004: 33f.), wenn sie ihr Principle of relevance formulieren, Sperber/ Wilson (2004: 158): „Every act of ostensive communication communicates a presumption of its own optimal relevance.“ scheint überhaupt sinnvoll, wie in der Systemtheorie zwischen Kommunikation und Handlung zu unterscheiden, vgl. etwa Gansel (2011: 25-30). Dabei enthält aber Kommunikation durch Sprache immer einen Handlungsaspekt. Wenn es um Alltagsgespräche geht, kann also angenommen werden, dass Sprecher zuweilen in der Tat keine bestimmte oder wenigstens keine bewusste Intention haben. Da aber schon die Äußerung von Sprachlauten als Handlungen aufgefasst werden kann und da der Mensch gern einen Sinn in alles, was geschieht, hineininterpretiert, und da außerdem eine Handlung, die nicht intentional gedeutet werden kann, nicht sinnvoll erscheint bzw. überhaupt nicht als Handlung erkannt wird, werden Äußerungen anderer generell als irgendwie intentional gedeutet, was für das Gelingen der Kommunikation durch Sprache notwendig ist. Dies ist auch ein zentraler Ausgangspunkt für das Kooperationsprinzip von Grice (1975). 44 Was geschriebene Texte betrifft, muss doch davon ausgegangen werden, dass der Textproduzent im Normalfall den Text mit einer bestimmten Absicht gestaltet hat, wie auch, dass er i.A. bezüglich nichtliterarischer Texte diese Absicht relativ genau angeben kann. Das Kooperationsprinzip setzt also voraus, dass der Rezipient annimmt, dass der Textproduzent den Text mit einer bestimmten Absicht formuliert hat und dass es die Aufgabe des Rezipienten ist, diese Intention zu rekonstruieren. Dies setzt Festlegung von Referenzbeziehungen in der realen Welt in einer Weise voraus, die nur bei nichtliterarischer Kommunikation möglich ist. U.a. geht es um die Beziehungen zwischen dem realen Autor und dem realen Leser, vgl. weiter unten Kapitel 5. Und auch wenn die Autoren literarischer Texte diese i.A. wenigstens rein textuell viel bewusster als Autoren nichtliterarischer Texte formulieren mögen, wobei also anzunehmen wäre, dass eine Verfasserintention vorliegt, werden sie selbst Schwierigkeiten haben, diese in einer befriedigenden Weise anzugeben, was eng mit der Funktion literarischer Texte zu tun hat, d.h. „das Unausdrückbare auszudrücken“, vgl. oben Abschn. 3. <?page no="50"?> 3 Das Ästhetische als linguistischer Begriff 50 45 Vgl. etwa Luhmann (1995), der streng zwischen Kommunikation und Handlung unterscheidet. Vgl. weiter etwa Gansel (2011), Gansel/ Jürgens (2007 68ff.). 46 Wenn nichtliterarische Texte „interpretationsfähig“ sind, müsste dies wohl bedeuten, dass es möglich sein kann, sie alternativ literarisch zu rezipieren, vgl. Abschn. 4.1.1, 4.1.2, 5.1.2, 6.2.3.1. Die „Interpretationsbedürftigkeit“ des literarischen Textes ist das Ergebnis der „Entkontextualisierung“, die eine notwendige Voraussetzung für das Verstehen bei literarischer Kommunikation darstellt. Die daraus resultierende Fokussierung der sprachlichen Mittel bedeutet eine „Entinstrumentalisierung“ dieser Mittel, vgl. weiter etwa Nikula (2008a), wie auch Abschn. 5.3 unten. Im Falle des nichtliterarischen Textes ist also wenigstens die Annahme einer bestimmten, festlegbaren Textproduzentenintention durch den Rezipienten eine grundlegende Bedingung dafür, dass eine kommunikative Beziehung entsteht. Im Falle des literarischen Textes ist aber eine Festlegung nicht möglich. Ausgehend von der Systemtheorie 45 meint Breuer, U. (2002a: 69f.; 2002b: 186f.; 2003: 37f.), in literarischen („ästhetischen“) Texten sei die Kommunikation „intern dominant“, in nichtliterarischen („nichtästhetischen“) Texten die Kommunikation dagegen „extern dominant“, d.h. literarische Texte würden eher als Kommunikation, nichtliterarische Texte dagegen als Handlungen verstanden. Literarische Texte zeichnen sich nach Breuer, U. (2002a: 69f.) dadurch aus, dass sie „interpretationsbedürftig“ seien, die nichtliterarischen dagegen dadurch, dass sie nicht interpretationsbedürftig, wohl aber „interpretationsfähig“ wären. 46 „Nur im literarischen Text ist die Form der Kommunikation eine Kommunikation im Medium der Form“, Breuer, U. (2002b: 187), vgl. auch Breuer, U. (2003: 37). Breuer, U. (2002a: 70) konkludiert: Vor diesem Hintergrund ist der Text als Kommunikation der primäre Gegenstand der Literaturwissenschaft, während der Text als Handlung zum primären Gegenstand der Linguistik wird. Da sich alle Texte gleichermaßen als Kommunikation wie als Handlung verstehen und umverstehen lassen, sind Kooperationen zwischen Literaturwissenschaft und Linguistik möglich und plausibel. Unter Termini wie Handlung, Kommunikation und Interpretation versteht Breuer offenbar nicht genau dasselbe wie im vorliegenden Beitrag, aber er weist auf wichtige Aspekte der Funktion literarischer und nichtliterarischer Texte hin, denn auch nach seiner Darstellung lässt sich die literarische Rezeption nicht restlos als ein Prozess des Schließens erklären mit dem Ziel zu erschließen, in welcher Weise der Sprecher den Adressaten <?page no="51"?> 3.3 Zur Verwendung des sprachlichen Zeichens: Meinen und Verstehen 51 47 Interpretation kommt als Terminus z.B. weder im Sachregister von Luhmann (2009) noch im Lexikonteil vom „Luhmann-Lexikon“ (Krause 2005) vor. zu beeinflussen beabsichtigt, vgl. oben wie auch Keller (1995: 106). 47 Einen nichtliterarischen Text kann man im Sinne von Keller (1995) verstehen, missverstehen oder auch nicht verstehen. Was den literarischen Text betrifft, kann es sein, dass man ihn „überhaupt nicht versteht“, ein Erlebnis, das wohl nicht selten ist, wenn jemand z.B. ein „konkretes“ oder „hermetisches“ Gedicht zu verstehen versucht, wobei „nicht verstehen“ bedeutet, dass der Text für den Rezipienten keinen Sinn macht. Dagegen ist es wenigstens nicht immer möglich zu sagen, ob ein Rezipient einen literarischen Text verstanden hat, und vor allem nicht, ob er ihn missverstanden hat, auch wenn er Schwierigkeiten bei der Interpretation haben mag.Wenn es etwa um eine Gebrauchsanweisung gehen würde, wäre die kommunikative Handlung erfolgreich, wenn der Rezipient die Zusammenhänge und die Verwendungsbedingungen des in Frage kommenden Geräts verstanden hat, während die Kommunikations-Handlung erfolgreich wäre, wenn er so handeln würde oder wenigstens handeln kann, wie angegeben wird. Auf den Begriff „Interpretationsbedürftigkeit“, der nach Breuer, U. (2002a: 69f.) für literarische Texte kennzeichnend sei, muss allerdings später im Zusammenhang mit der Unterscheidung zwischen seriöser und trivialer Literatur zurückgekommen werden, vgl. unten Abschn. 6.2.5. Im Falle des Gedichts und anderer literarisch zu interpretierenden Texte ist aber das Ziel des Interpretierens schwerpunktmäßig nicht das analytische Verstehen als Bedingung für eine erfolgreiche, definierbare Kommunikations-Handlung. Das literarische Verstehen ist v.a. das Ergebnis des „analogen“ Prozesses des „Erlebens“, vgl. oben Abschn. 3.2, wobei die kommunikative Handlung erfolgreich ist, wenn der Rezipient als Ergebnis dieses Prozesses den Text „versteht“. „Versteht“ innerhalb von Anführungszeichen deshalb, weil es um ein „erlebendes Verstehen“ geht, wobei die Reaktionen des Rezipienten stark von ihm selbst und seinen Erfahrungen usw. abhängig sind. Die Kommunikations-Handlung kann dabei als erfolgreich angesehen werden, wenn der Rezipient den Text als „Angebot“ akzeptiert, vgl. Abschn. 5.1.3. Der Schwerpunkt des interpretativen Prozesses liegt bei nichtliterarischer Kommunikation im Analytisch-Digitalen - und somit im Kognitiven, bei literarischer Kommunikation dagegen im Synthetisch-Analogen - und somit im Emotiven, vgl. Abschn. 3.5. Bei literarischer Kommunikation geht es um eine Verschiebung der Perspektive im Rahmen der ganzen Kommunikations- <?page no="52"?> 3 Das Ästhetische als linguistischer Begriff 52 48 Hervorhebung im Original. 49 Gansel (2011: 64) stellt fest, „dass die Unterhaltungsfunktion nicht an die Sprechakttheorie anschließt“. Handlung, d.h. die Perspektive verschiebt sich auf das Ergebnis der rein kommunikativen Handlung, wobei es dem Rezipienten überlassen bleibt, aus diesem „Angebot“ die Konsequenzen zu ziehen. In diesem Sinne könnte man auch die Feststellung von Breuer, U. (2002a) deuten, literarische Texte würden eher als Kommunikation, nichtliterarische Texte dagegen als Handlungen verstanden, vgl. oben. 3.4 Das Ästhetische als Textfunktion Es stellt sich die Frage, ob der Begriff der Textfunktion bei der Beschreibung literarischer Texte überhaupt relevant ist, denn die Festlegung der Textfunktion ist deutlich mit der Frage verknüpft, was der Autor meint und in welcher Weise er den Rezipienten beeinflussen möchte. Aber auch wenn es bei literarischen Texten vielleicht nicht möglich ist, das Gemeinte eindeutig festzulegen, und auch wenn der Autor eines literarischen Textes selbst keine genauen Antworten auf diese Frage geben kann oder will, kann nicht davon ausgegangen werden, dass er mit seinem Text überhaupt nichts meint. Viele literarische Texte werden mit dem hauptsächlichen oder alleinigen Zweck der Unterhaltung geschrieben, wobei man üblicherweise von Unterhaltungs- oder Trivialliteratur spricht, aber auch nichtliterarische Texte werden mit der Unterhaltung als Hauptzweck geschrieben. Gansel/ Jürgens (2007: 87) notieren: „Es sei betont, dass das ästhetische Wirken sich nicht nur auf literarische Texte beziehen lässt, sondern auf eine Reihe von Textsorten im Bereich der massenmedialen Kommunikation (Werbetexte, ‚weiche‘ Nachrichten, Feature, Reportage). Im Mediensystem wird dann von Unterhaltungsfunktion gesprochen […].“ 48 Eine Unterhaltungsfunktion kann somit nicht als unterscheidende Eigenschaft literarischer Kommunikation betrachtet werden. - Auch wenn eine kommunikative Handlung in der Absicht vollzogen werden kann, den Kommunikationspartner zu unterhalten, scheint der Zusammenhang zwischen der Art der kommunikativen Handlung und dem Unterhaltungserfolg äußerst unklar. 49 Die Annahme einer besonderen ästhetischen, poetischen oder anderen vergleichbaren Funktion als dominierende Funktion literarischer Texte scheint zunächst einen Ausweg bieten zu können. Wenn aber von einer ästhetischen Funktion irgendeiner Art ausgegangen wird, entsteht <?page no="53"?> 3.4 Das Ästhetische als Textfunktion 53 50 Jakobson unterscheidet zwischen der emotiven, der konativen, der referentiellen, der phatischen, der metasprachlichen und der poetischen Textfunktion, vgl. etwa Jakobson (1972 u. 1987a). 51 Reiß (1993: 19) zählt neben den deutlich literarischen Textsorten Roman, Novelle, Lyrik, Schauspiel, Komödie und Lehrgedicht interessanterweise auch die Biographie zum expressiven Texttyp, während der „Tendenzroman“ zu dem operativen Texttyp gezählt wird. eben das Problem, dem Begriff des Ästhetischen einen linguistisch greifbaren Inhalt zu geben. Das Ästhetische wird häufig mit der Form, mit dem „Wie“ und somit mit dem Stil von Texten verknüpft. Die von Roman Jakobson vorgeschlagene „poetische Funktion“ 50 literarischer Texte, vgl. etwa Jakobson (1972: 103ff.; 1987: 66ff.) könnte somit nach Luukkainen (2002) als „stilistische Funktion“ betrachtet werden, wobei aber weder Luukkainen noch Jakobson die poetische bzw. stilistische Funktion als eindeutig definierendes Merkmal literarischer Texte betrachten, da auch andere Texttypen diese Funktion hätten, sie aber bei den literarischen dominierend sei, vgl. auch etwa Winko (2009: 381f.). - Ein weiteres, v.a. in übersetzungstheoretischen Zusammenhängen bekanntes Beispiel wäre die Klassifizierung von Reiß, die in Anlehnung an Bühler (vgl. Bühler 1982 [1934]) zwischen informativen (Darstellungsfunktion), operativen (Appellfunktion) und expressiven (Ausdrucksfunktion) Texttypen unterscheidet, vgl. Reiß (1993: 8-20). Die „senderorientierten“ und „formbetonten“ expressiven Texte seien nach Reiß (1993: 13) durch „die kreative Setzung und dichterische Gestaltung von Redegegenständen“ gekennzeichnet. Aber die Ausdrucksfunktion ist eine konstituierende Funktion aller Texttypen, die auch bei nichtliterarischen Texttypen mehr oder weniger stark dominierend sein kann, und sie ist deshalb aus ähnlichen Gründen wie Jakobsons poetische Funktion nicht als Unterscheidungskriterium zwischen literarischen und nichtliterarischen Texten geeignet. 51 Eine in diesem Zusammenhang interessante Definition von Textfunktionen finden wir bei Rolf (2000: 432). Es geht hier um eine Modifizierung der Funktionskategorien Searles, vgl. das Schema 1, wie auch etwa Searle (1969 u. 1981). Die Klassifikation geht von der Art des illokutionären Zwecks aus. Dieser kann assertiv, kommissiv, direktiv, deklarativ oder expressiv sein. Es wird dabei zwischen dem Ergebnisaspekt, der sprecherseitig ist, und dem Folgeaspekt, der hörerseitig ist, unterschieden, vgl. auch oben Abschn. 3.3. Ausgehend von diesen Funktionstypen können Texte in Texttypen eingeteilt werden, die sich als Textsorten konkret realisieren. <?page no="54"?> 3 Das Ästhetische als linguistischer Begriff 54 Zweck Ergebnisaspekt (Sprecher) Folgeaspekt (Hörer) assertiv Sagen, wie es sich verhält Anerkennung des Wahrheits anspruchs kommissiv Sich auf die Ausführung einer zukünftigen Handlung festlegen Erwartung eines zukünftigen (Sprecher-)Verhaltens direktiv Den Versuch unternehmen, den anderen zur Ausführung einer zukünftigen Handlung zu bewegen Beabsichtigung eines zukünftigen (Hörer-) Verhaltens deklarativ Die Welt (dem Gesagten entsprechend) verändern Unterstellung einer institutionellen Wirklichkeit expressiv Gefühle ausdrücken Emotionale Stabilisierung bzw. Destabilisierung Schema 1, nach Rolf (2002: 432) Wenn jemand z.B. einen assertiven Sprechakt vollzieht, ist das Ergebnis, dass er gesagt hat, „wie es sich verhält“. Dieser Sprechakt ist als kommunikative Handlung erfolgreich, wenn der Hörer verstanden hat, was gemeint wird. Die intendierte Folge ist die „Anerkennung des Wahrheitsanspruchs“, wobei die kommunikative Handlung eine instrumentale Funktion im Rahmen der ganzen Kommunikations-Handlung hat, vgl. oben Abschn. 3.3. Wenn jemand einen expressiven Sprechakt vollzieht, etwa seine Dankbarkeit ausdrückt, ist die intendierte Folge der kommunikativen Handlung die „emotionale Stabilisierung“ beim Hörer, vgl. Rolf (2000: 432f.), Ulkan (1992: 16ff.). Genau wie bei Reiß (1993) scheint im Schema von Rolf zunächst die expressive Funktion die geeignete dominierende und somit vielleicht sogar definierende Textfunktion literarischer Texte darstellen zu können. Es könnte sein, dass literarische Texte sich besonders dafür eignen, Gefühle zu vermitteln und zur emotionalen Stabilisierung oder Destabilisierung beizutragen, aber es gibt eine große Menge von nichtliterarischen Textsorten, die konventionell diese Funktion erfüllen, etwa: Beglückwünschung, Begrüßungsrede, Dankadresse, Dankgebet, Gedenkrede, Grabrede, Grußadresse, Kondolenz, Litanei, Lobrede, Schimpfrede, Schmeichelrede, Spottrede, Strafpredigt, Sündenbekenntnis, Totenklage usw., und zwar als Hauptfunktion. Alle diese Textsorten werden verwendet, um festgelegte oder festlegbare intendierte Folgen zu bewirken. In <?page no="55"?> 3.4 Das Ästhetische als Textfunktion 55 Bezug auf literarische Texte ist es dagegen aus schon oben Abschn. 3.3 angegebenen Gründen sehr problematisch, von intendierten Folgen zu sprechen, und somit auch eine intendierte Textfunktion festzulegen. Die Expressivität kann also nicht, genau so wenig wie die Poetizität im Sinne von Jakobson, definierendes Merkmal literarischer Texte sein. Nichtliterarische Texte müssten wenigstens eine von den angegebenen Textfunktionen (assertiv, kommissiv, direktiv, deklarativ, expressiv) als Hauptfunktion erfüllen, um überhaupt Textualität zu besitzen, wobei die dominierende Funktion entscheidend für die Klassifizierung eines gegebenen Textes als Typ oder Sorte sein könnte, vgl. auch Abschn. 2.2. Was den literarischen Text betrifft, scheinen die Verhältnisse weit komplizierter zu sein. Eine grundlegende Schwäche von Konzeptionen wie die von Rolf (2002) bei der Beschreibung literarischer Kommunikation ist nämlich weiter, dass die expressive Funktion sich primär nur auf die Gefühle des Textproduzenten und höchstens sekundär auch auf die Gefühle des Rezipienten bezieht, d.h. die Gefühle des Textproduzenten werden kommuniziert. Dies mag eine für die bei den gerade angegebenen nichtliterarischen Textsorten zutreffende Beschreibung darstellen, wenn es aber darum geht, Gefühle und Erlebnisse „eines Dritten“ zu vermitteln, scheitert das Modell. - Es kann aber auch überhaupt in Frage gestellt werden, ob die zentrale Funktion literarischer Texte darin besteht, „Gefühle“ auszudrücken bzw. hervorzurufen. Auch der Begriff „Gefühle (sprachlich) ausdrücken“ müsste genauer geklärt werden. Auf das Verhältnis zwischen literarischer Kommunikation und Gefühlen bzw. Emotionen wird deshalb unten im Abschn. 3.5 näher eingegangen. Heinemann/ Viehweger (1991) scheinen einen Ausweg aus dem angesprochenen Dilemma bieten zu können. Sie nehmen vier (aus der Textproduzentenperspektive formulierte) „Primärfunktionen des Kommunizierens“ an, d.h. SICH AUSDRÜCKEN, KONTAKTIEREN, INFOR- MIEREN und STEUERN, die untereinander in einem Inklusionsverhältnis stehen, d.h. um steuern zu können, muss man normalerweise auch informieren, informieren setzt kontaktieren voraus und kontaktieren kann man kaum ohne sich irgendwie auszudrücken, vgl. Heinemann/ Viehweger (1991: 149). Eine weitere Funktion neben den Grundfunktionen, die „dieser spezifischen Funktion literarischer Texte“ Rechnung tragen soll (vgl. Heinemann/ Viehweger 1991: 149f.), d.h. die Funktion ÄSTHETISCH WIRKEN, wird folgendermaßen beschrieben, Heinemann/ Viehweger (1991: 149): <?page no="56"?> 3 Das Ästhetische als linguistischer Begriff 56 52 [Als Fn. 91]: „Damit wird nicht behauptet, daß jeder fiktionale Text bereits als literarischer Text anzusehen ist.“ 53 Dieser globale Hinweis auf Lerchners an sich relevante und interessante Arbeit führt nicht sehr viel weiter, vgl. aber etwa Lerchner (1984, 36, 68-88), wie auch Fix (1996). 54 Es wird zwar in der Fn. 87, Heinemann/ Viehweger (1991: 149) auf Lerchner (1983: 267f. und 1984: 20ff.) hingewiesen, was aber wenig weiterhilft. Auch wird auf das Kapitel 5.4.3 hingewiesen, das es leider nicht gibt! Eine Sonderstellung nimmt bei den kommunikativen Textfunktionen das Bemühen von Kommunizierenden ein, bei Partnern mit Hilfe von Texten ÄSTHETISCHE WIRKUNGEN zu erzielen. Das erfolgt vor allem dadurch, daß der Textproduzent mit Hilfe des Textes eine fiktive Realität schafft, auf diese Weise dem Rezipienten pragmatische Informationen vermittelt und insbesondere „emotionale Bewußtseinsprozesse“ auslöst. Heinemann/ Viehweger (1991: 153) schreiben weiter: Texte, die primär ÄSTHETISCH WIRKEN sollen, können die oben erörterten Grundfunktionen des SICH AUSDRÜCKENs und SELBST DARSTELLENs (vor allem bei lyrischen Texten), des INFORMIERENs (Erzählungen, Novellen, Dramen …) und natürlich auch des STEUERNs (alle literarischen Gattungen) überlagern; in der Regel aber dürfen ästhetische Texte - auch aus dieser Sicht - als polysem angesehen werden. In allen Texten des ÄSTHETISCH WIRKENs aber wird eine fiktionale Welt erzeugt. 52 Die damit verbundene Abstraktion von konkreten Situationen muß daher im ästhetischen Text selbst kompensiert werden: Im Gegensatz zu Texten, die auf Faktenwissen der Kommunikationspartner rekurrieren, wird eine fiktiv-situative Welt in literarischen Texten erst sukzessive aufgebaut. Erst dann kann der Rezipient dem fiktiven Wirklichkeitsmodell folgen und das spezifisch Ästhetische wahrnehmen (dazu L ERCHNER 1984a). 53 Diese Beschreibung (von einer eigentlichen Definition ist hier kaum die Rede) der ästhetischen Funktion enthält offenbar viele problematische Aspekte. Was zum Beispiel im Zusammenhang mit literarischen Texten unter dem Begriff „pragmatische Informationen“ zu verstehen ist, wird nicht weiter expliziert, wie auch nicht der Begriff „emotionale Bewusstseinsprozesse“. 54 Emotionale Prozesse verschiedener Art können außerdem natürlich auch mit Hilfe nichtliterarischer Texte „ausgelöst“ werden. Vielleicht wird hier mit den Begriffen „pragmatische Informationen“ und „emotionale Bewusstseinsprozesse“ Solches gemeint, das sich mit Hilfe nichtliterarischer Kommunikation nicht oder schwerlich vermitteln lässt, vgl. den Begriff des „Ausdrucksdefizits“ oben Abschn. 3. Es scheinen hier Prozesse gemeint zu werden, die durch die Form, den Stil und somit <?page no="57"?> 3.4 Das Ästhetische als Textfunktion 57 55 Vgl. den ersten Absatz des Zitat aus Heinemann/ Viehweger (1991: 153) oben und das Zitat hier aus Jakobson (1987). Heinemann/ Viehweger (1991) scheinen deutlich von Jakobson beeinflusst zu sein (auch wenn Jakobsson nicht im Literaturverzeichnis zu finden ist). durch die „Formgeprägtheit“ literarischer Texte ausgelöst werden, vgl. auch Heinemann/ Viehweger (1991: 257). Auch die Unterscheidung zwischen einerseits einer „fiktiven“ oder „fiktionalen“ Welt und andererseits einer realen Welt ist durchaus nicht unproblematisch, wenn auch für die Beschreibung literarischer Texte wichtig - deshalb gibt es, wie schon in der Einleitung festgestellt wurde, eine sehr umfangreiche Literatur zum Begriff der Fiktionalität/ Fiktivität in Bezug auf literarische Texte. Zudem können auch nichtliterarische Texte fiktionale oder fiktive Elemente enthalten und sogar durch sie dominiert werden, während wiederum nichtfiktionale oder nichtfiktive Elemente zentral für die Sinnkonstitution literarischer Texte sein können, vgl. besonders Blume (2004). Es gibt aber offensichtlich einen deutlichen Zusammenhang zwischen Ästhetizität und Fiktionalität. Ein zentrales Problem besteht darin, die Art dieses Zusammenhangs zu erfassen, vgl. weiter unten Kapitel 4 und 5. Wichtig im Ansatz von Heinemann/ Viehweger (1991) ist vor allem, dass bei ihnen die ästhetische („literarische“ oder „poetische“) Funktion, nicht eine gleichwertige Funktion neben anderen Textfunktionen wie etwa bei Jakobson zu sein scheint, die in literarischen Texten die übrigen dominieren kann, in nichtliterarischen aber von den übrigen Funktionen dominiert werden kann, vgl. Jakobson (1987: 73): 55 Poetics in the wider sense of the word deals with the poetic function not only in poetry, where this function is superimposed upon other functions of language, but also outside poetry, when some other function is superimposed upon the poetic function. Ein Text kann mit der Intention geschrieben werden, dass er vom Leser „ästhetisch“, d.h. als „Literatur“, rezipiert wird. Wenn ein Autor die Form einer literarischen Textsorte, etwa die Textsorte „Roman“ wählt, tut er normalerweise dies, damit der Text ästhetisch-literarisch rezipiert wird. Kann aber die Art und Weise, wie der Text kommunikativ rezipiert werden soll, als Verfasserintention im eigentlichen Sinne betrachtet werden? Möglicherweise in solchen Fällen, wo man vielleicht eher von l’art pour l’art sprechen würde. Es ist aber zu bezweifeln, dass ÄSTHETISCH WIRKEN als eine Textfunktion zu betrachten ist, die mit den übrigen von Heinemann/ Vieweger (1991) - oder von solchen wie den von Reiß <?page no="58"?> 3 Das Ästhetische als linguistischer Begriff 58 56 Überhaupt scheint die Definition von ÄSTHETISCH WIRKEN ein wenig unklar zu sein. (1993) oder von Rolf (2002) - vorgestellten Textfunktionen vergleichbar wäre. Durch ÄSTHETISCH WIRKEN werden diese Funktionen in der Tat in gewissem Sinne gelöscht („überlagert“) oder wenigstens vorläufig aufgehoben. Auch wenn Heinemann/ Viehweger (1991) interessante Aspekte literarischer Kommunikation thematisieren und auch wenn sie auf die Fiktionalisierung als zentrales Mittel ästhetischer Kommunikation hinweisen, fehlt bei ihnen eine Definition dessen, was unter dem grundlegenden Begriff „ästhetisch“ in diesem Zusammenhang zu verstehen ist. 56 Die Verfasserintention literarischer Texte dürfte eher eine Wirkung sein, die nur mittels ästhetischer Rezeption erzielt werden kann, eine Wirkung, deren Charakter und Inhalt(e) wegen des „Ausdrucksdefizits“ nicht-ästhetischer Sprachverwendung nur literarisch und nicht gebrauchssprachlich, etwa in der Sprache der Sprachwissenschaft oder der Literaturwissenschaft, „beschrieben“ werden kann; wegen der Polyfunktionalität oder sogar der Unbestimmtheit literarischer Kommunikation sollte man übrigens eher nicht von Inhalten, sondern von Angeboten an die Rezipienten sprechen, vgl. Abschn. 5.1.3. Es ist aber überhaupt nicht die Aufgabe der Linguistik sich um Inhalte oder um Wirkungen als solche zu kümmern; es geht vor allem darum, den Charakter ästhetischer Kommunikation zu untersuchen. Warum wird ästhetisch, d.h. in diesem Falle literarisch kommuniziert, unterscheidet sich literarische Kommunikation von nichtliterarischer Kommunikation, und wenn dies der Fall ist, in welcher Weise? Damit diese Fragen beantwortet werden können, muss der Begriff des Ästhetischen linguistisch greifbar(er) als in den oben angeführten Arbeiten gemacht werden. Eine mit den oben angesprochenen allgemeinen Textfunktionen vergleichbare ästhetische Funktion kann kaum angenommen werden. 3.5 Die Ausdrückbarkeit von Emotionen Der Anthropologe James M. Wilce (2009: 3): schreibt: All speaking and writing is inherently emotional to a greater or lesser extent; objective, distant coolness is an emotional stance. Emotion is not confined to the outskirts of linguistic civilization but pervades its core (we could say, Extra adfectum nullam salus), by which I mean that nearly every dimension of <?page no="59"?> 3.5 Die Ausdrückbarkeit von Emotionen 59 57 Vgl. auch Herrmann u.a. (1996: 140): „Wir halten fest, daß man - neben den imaginalen und strukturell-abstrakten Repräsentatmodi - einen emotiv-bewertenden Repräsentatmodus unterstellen darf. Auch dieser Modus findet sich bei allen drei Repräsentatkategorien: bei den Konzepten, den Wörtern und den Figuren.“ 58 Dies bedeutet nicht, dass „reines Denken“ unmöglich sein müsste. Schwarz-Friesel (2008: 288) schreibt: „[...] mathematische Gleichungen, logische Schlussfolgerungen und Implikaturen etc. können sicherlich ohne affektiven Gehalt oder emotionale Zuschaltung prozessiert und repräsentiert sein.“ Dies mag wahr sein. Dass man sich every language at least potentially encodes emotion, and that this languageemotion relationship is crucial to what we call ,culture‘. Dem von Wilce (2009) oben Gesagten kann nur zugestimmt werden. In der Tat kann angenommen werden, das in allen unseren Handlungen in irgendeinem Sinne Emotionen „enkodiert“ sind - und somit auch in Sprachhandlungen. Im Abschn. 3 war aber von einem „Ausdrucksdefizit“ der Sprache die Rede, wobei die Frage der Ausdrückbarkeit von Gefühlen und Emotionen durch die Sprache angesprochen wurde. Ausgehend von dem, was über die Eigenschaften des sprachlichen Zeichens und über die Kommunikation durch Sprache überhaupt hier gesagt worden ist, wird jetzt die Frage der Ausdrückbarkeit noch einmal aufgegriffen. Als weiterer Hintergrund dienen Arbeiten zum Begriff der Emotion, und zwar vor allem solche, die sich mit der Beziehung zwischen Emotion und Sprache, Emotion und Text, Emotion und literarischen Texten befassen. Davon ausgehend können die Begriffe Kognition und Emotion folgenderweise bestimmt werden, vgl. vor allem Schwarz-Friesel (2008): Kognition und Emotion stellen verschiedene Arten der Verarbeitung und Speicherung von Wahrnehmungen im mentalen Gedächtnis dar. Kognition und Emotion sind nicht voneinander unabhängig, sondern schon deshalb miteinander verknüpft, weil sie sich auf dieselben Wahrnehmungserlebnisse oder „Perzepte“ beziehen, was dazu führen kann und offenbar auch dazu führt, dass die beiden Systeme miteinander interagieren. Vgl. die Position von Schwarz-Friesel (2008: 289): „Emotion und Kognition stellen zwei autonome Systeme dar, die jedoch nicht unabhängig voneinander arbeiten, sondern zahlreiche, wechselseitige Interaktionen aufweisen.“ Vgl. weiter Schwarz-Friesel (2007: 89-133), Hielscher (2003). 57 Der Ausgangspunkt ist also auch hier, dass Kognition und Emotion Kenntnissysteme darstellen, die eng miteinander verknüpft sind. Dies hat u.a. zur Folge, dass jeder Text mehr oder weniger stark und mehr oder weniger deutlich emotional beeinflusst ist. 58 Es gibt Texte, wo die <?page no="60"?> 3 Das Ästhetische als linguistischer Begriff 60 überhaupt mit bestimmten Gedanken, Schlussfolgerungen usw. befasst, hat aber einen Wertegrund und somit auch eine emotionale Basis. Vgl. auch Cherubim (2005: 8): „Die Motivation, etwas zu tun, ist immer emotional begründet.“ 59 Schwarz-Friesel (2008: 286): „Gefühle sind subjektiv erlebte Bewusstseinszustände mit einem bewertenden Inhalt. Gefühle sind somit mental erlebte Emotionen, d.h. subjektiv empfundene Zustände der Inneren Befindlichkeit, die bewusste Erfahrung des eigenen emotionalen Zustandes.“ Fiehler dagegen unterscheidet nicht in dieser Weise zwischen Gefühl und Emotion. Er schreibt, Fiehler (2011: 17 bzw. 18): „Emotionen sind eine spezielle Form des Erlebens.“ und „Emotionen erfüllen primär die Funktion einer bewertenden Stellungnahme.“ Ähnlich Fiehler (2010: 19). Schwarz-Friesel (2008: 292): „Ein Gedanke ist eine kognitive, bewusst erfahrbare Informationsrepräsentation, also ein mentaler Bewusstseinsinhalt, der mittels sprachlicher Symbolstrukturen kodiert wird.“ emotionale Basis nur präsuppositional oder indirekt zum Ausdruck kommt, und solche, wo sie (auch) explizit versprachlicht wird. Da weiter diejenigen Werte, die unsere Handlungen motivieren, mit Emotionen verknüpft sind, bedeutet dies, dass jede Entscheidung letzen Endes emotional motiviert ist. Cherubim (2005: 8) beschreibt die Beziehung zwischen Kognition und Emotion folgendermaßen: Gefühle sind für mich, wie ich schon angedeutet habe, mentale Techniken der Verarbeitung von Wirklichkeit, die mit anderen Techniken eng zusammenarbeiten. Man hat sich daran gewöhnt, hauptsächlich zwei Techniken zu unterscheiden, die mit den Stichworten „Kognition“ und „Emotion“ aufzurufen sind und unterschiedlich funktionieren. Sehr vereinfacht möchte ich diese Funktionsweise einerseits als analytisches (zerlegendes und klassifizierendes) [= Kognition], andererseits als synthetisches (bewertendes) Verfahren [= Emotion] charakterisieren. Die Motivation, etwas zu tun, ist immer emotional begründet. Schwarz-Friesel (2007: 98f.), die nicht nur zwischen Kognition und Emotion, sondern auch begrifflich weiter explizit zwischen Kognition und Gedanken bzw. zwischen Emotion und Gefühl unterscheidet, schreibt: 59 Bewusstes ist immer bezogen auf etwas, eine Körperempfindung, eine Vorstellung, einen konkreten oder abstrakten Gedanken oder ein Gefühl. Ein Gefühl als bewussten emotionalen Zustand oder Prozess zu erleben, bedeutet, die Emotion zu empfinden und gleichzeitig diese Emotion als konzeptuell klassifizierte Emotion zu erfahren […] Gedanken aber lassen sich zusätzlich in spezifische konzeptuelle Bausteine zerlegen, was bei Gefühlen in dieser Form nicht möglich ist. Gefühle analytisch beschreiben kann man nur auf einer Meta-Gefühlsebene. <?page no="61"?> 3.5 Die Ausdrückbarkeit von Emotionen 61 60 Als Fn. 40: „Die Dekompositions- und Schema-Analysen von Wierzbicka (1999) u.a. betreffen somit nicht die Primärebene von Gefühlen, sondern nur eine Sekundärebene der Beschreibung der Primärebene.“ Sowohl Cherubim (2005) als auch Schwarz-Friesel (2007) verwenden also hier den Begriff analytisch, wenn sie Gedanken gegenüber Gefühlen charakterisieren. Gedanken seien analytisch, klassifizierend und zerlegend bzw. zerlegbar, Emotionen und Gefühle aber nicht. Gefühle seien synthetisch und bewertend (Cherubim), ein Gefühl zu erleben, bedeutet, diese Emotion zu empfinden und als konzeptuell klassifizierte Emotion zu erfahren (Schwarz-Riesel). Schwarz-Friesel (2008: 294) geht weiter auf die sprachliche Kommunizierbarkeit von Gefühlen ein: Betrachten wir das Kriterium der Informativität: Gedanken lassen sich propositional repräsentieren, sie basieren auf konzeptuellen Inhalten, die wir semantisch beschreiben und analytisch zerlegen können. […] Da Gedanken als Verbalrepräsentationen in unserem Bewusstsein fokussiert werden, lassen sie sich in spezifische semantische Bausteine zerlegen, was bei Gefühlen in dieser Form nicht möglich bzw. ungleich schwieriger ist. Gefühle analytisch beschreiben kann man nur auf einer Meta-Gefühlsebene 60 und zwar primär mit Hilfe der in Pkt. 4 [Schwarz-Friesel (2008: 285)] genannten Emotionsparameter der Bewertung, der Dauer und der Intensität. Hier wird die Kommunizierbarkeit von Gedanken und Gefühlen mit der analytischen Zerlegbarkeit bzw. Nicht-Zerlegbarkeit verknüpft. Ähnliches finden wir bei Foolen (1997: 19): Ideas are communicated through the digital channel of human language, be it spoken or signed, whereas emotions are typically expressed in an analogical way, be it by the face, the voice, the hands, or other body parts. […] The thesis that emotion and cognition each have their own channel of externalization should not lead to the misunderstanding that emotions are not accessible of verbalizations. Children, and certainly adults, can talk about their feelings and tell what they feel. Bei Foolen (1997) wird die Kommunikation von Emotionen (Gefühlen) mit der Analogizität der Kommunikationsmittel, die von Kognition (Gedanken) dagegen mit der Digitalität der menschlichen Sprache verknüpft. Hier gibt es eine deutliche Parallelität zu dem, was oben in Abschn. 3 zum sprachlichen Zeichen und dem Begriff der Ausdrückbarkeit gesagt wurde. Weiter muss hier die Definition von Emotionen bei Winko (2003) angeführt werden, da diese auch die Konzeption hier beeinflusst hat, Winko (2003: 109): „Emotionen werden hier als mentale Phänomene aufge- <?page no="62"?> 3 Das Ästhetische als linguistischer Begriff 62 61 Zum Problem der Emergenz vgl. den folgenden Abschn. 3.6. 62 Es scheint dabei zweckmäßig, wofür ja Schwarz-Friesel (2007 u. 2008) argumentiert, zwischen Kognition und Gedanken bzw. Emotion und Gefühlen zu unterscheiden. 63 Die Arbeit von Stoeva-Holm (2005) stellt eine interessante empirische Analyse der Thematisierung von Emotionen in deutschen Schlagertexten dar. faßt, die emergente Eigenschaften des physischen Gesamtsystems darstellen.“ Wenn Emotionen emergente Eigenschaften darstellen, lassen sie sich offenbar nicht, wenigstens nicht vollständig, analytisch erfassen. 61 Man kann das oben Angeführte schematisch in folgender Weise zusammenfassen: • Kognition/ Gedanken: zerlegbar, zerlegend, klassifizierend, analytisch, digital. • Emotion/ Gefühle: wertend, emergent, synthetisch, analog. Die angeführten Eigenschaften von Gefühlen 62 bedeutet, dass man sie, im Gegensatz zu den Gedanken, höchstens auf einer „Meta-Gefühlsebene“ (Schwarz-Friesel 2007: 99) analytisch beschreiben kann, und dies auch nicht erschöpfend. Dagegen kann über Gefühle berichtet werden, sie können thematisiert werden, vgl. z.B. Winko (2003: 111-114). Wenn Gefühle sprachlich vermittelt werden sollen, es nicht um etwa mit Hilfe von Interjektionen vermittelbaren subjektiv-spontane Expressivität geht, und die reine Thematisierung nicht ausreicht, müsse dies in indirekter Weise geschehen, und zwar mittels „Präsentation“. Da nach Winko (2003: 114-119) der Terminus Ausdruck zu eng sei, etwa zu subjektbezogen, und Inszenierung zu weit wäre, zieht sie den Terminus Präsentation vor. Winko (2003: 116): Unter ‚Präsentation‘ von Emotionen in Texten wird hier die sprachliche Gestaltung von Emotionen verstanden, deren Vorkommnisse nicht selbst Propositionen bilden (wohl aber Bestandteil von Propositionen sein können) und die im Text durch implizite sprachliche und strukturelle Mittel umgesetzt wird. Durch Thematisierung von Gefühlen ist es möglich, Rezipienten, absichtlich oder unabsichtlich, emotional zu beeinflussen und in diesem Sinne „Gefühle zu kommunizieren“. Schwarz-Friesel (2007: 151f.) unterscheidet zwischen emotionsbezeichnenden und emotionsausdrückenden Wörtern und Ausdrücken. 63 Durch Wörter wie Liebe, Hass, Trauer, Glück usw. werden verschiedene Emotionen bezeichnet, während v.a. die Interjektionen eher dafür geeignet zu sein scheinen, Emotionen auszudrücken. <?page no="63"?> 3.5 Die Ausdrückbarkeit von Emotionen 63 64 Vgl. auch die Unterscheidung von Konstantinidou (1997: 86-99) zwischen sprachlichen Ausdrücken von Gefühlen als „Anzeichen“ und als symbolischen Zeichen. 65 Wolf (2010: 35) verweist auf den Begriff movere der alten Rhetorik und schreibt: „In modernen Medien haben die Kooperation von Text und Bild, Farbe und Typographie die rhetorische Funktion, das Emotionalisierungspotential zu vergrößern.“ Dies ist aber eben deshalb möglich, weil „Bild, Farbe und Typographie“ nicht-digitale Zeichen sind und demnach nicht unter dem erwähnten Ausdrucksdefizit der Sprache „leiden“. 66 Vgl. auch Hielscher (2003: 469): „[...] schließlich können aktuell vorliegende Emotionen des Sprechers seine Äußerungen auf verschiedenen Ebenen beeinflussen. So wird z.B. aktuell erlebte Trauer die Sprechgeschwindigkeit senken und eine charakteristische Prosodie und Stimmlage erzeugen. Auch wird der Inhalt des Geäußerten negativ verzerrt sein. Wie die Wortwahl und die gewählte Satzstruktur verändert werden, ist bislang nicht geklärt.“ Wie aber Schwarz-Friesel (2007: 155f.) selbst zeigt, sind auch die Interjektionen mit relativ konventionalisierten Bedeutungen verknüpft, d.h. ihre Verwendungen werden durch semantisch-lexikalische Bedeutungsregeln gesteuert, vgl. etwa au(a)! autsch! ‚Schmerz‘, bäh! ‚Ekel‘, brr! ‚Kälte‘, ‚Abscheu‘, juhu! ‚Freude‘, ,uff! ,Erleichterung‘ usw. Dies bedeutet, dass diese Interjektionen die entsprechenden Gefühle gleichzeitig bezeichnen können, d.h. Schmerz, Ekel, Kälte usw. Indem also eine Person etwa die Interjektion juhu! äußert, gibt sie somit an, dass sie vom Gefühl der Freude betroffen ist. In diesem Sinne sind auch die Interjektionen symbolische Zeichen. Interjektionen können aber auch mehr oder weniger spontan und unintentional geäußert werden, wobei sie zugleich Symptome darstellen und die Ausdrucksfunktion stark betont wird. 64 Interjektionen und mit ihnen vergleichbare Ausdrücke drücken also im eigentlichen Sinne nur Gefühle aus, wenn sie spontan geäußert werden, und zwar die Gefühle des Sprechers. Diese Funktion haben sie somit vor allem in der gesprochenen Sprache, vgl. dazu etwa Schwitalla (2010), können aber auch diese Funktion erfüllen, wenn sehr spontan geschrieben wird, etwa beim Chatten, in Blogs und in anderen ähnlichen sozialen Medien. Wenn aber darüber berichtet wird, dass oder wie jemand eine bestimmte „gefühlsausdrückende“ Interjektion verwendet hat, drückt die Interjektion nicht mehr das entsprechende Gefühl aus, sondern bezeichnet es nur. Ähnliches betrifft die sogenannten Ausdrucks- oder Expressivsätze, wie etwa Ist das Mädchen schön! 65 , vgl Wolf (2010: 33). Außerdem kann der Textproduzent durch die Art und Weise, wie er seinen Text gestaltet, durch seinen Stil Gefühle zu vermitteln versuchen, während sein Stil andererseits als Symptom seines emotiven Zustands seine Gefühle zum Ausdruck bringen kann. 66 <?page no="64"?> 3 Das Ästhetische als linguistischer Begriff 64 67 Graphisch bei Cherubim (2005) ein wenig anders dargestellt. 68 Zu den verschiedenen sprachlichen Mitteln, Emotionen zu bezeichnen und auszudrücken, vgl. weiter z.B. Fries (1992 u. 1996), Hermanns (2002), wie auch Volek (1987). Cherubim (2005: 10) präsentiert folgende offene Liste „sprachlicher Techniken des Ausdrucks von Emotionen“: 67 - Phonisch: Akzent, Intonation, Tempo, Pausen, Dehnung, Kürzung, Stakkato, Übertreibung, Behauchung, Rundung, Nasalierung, Stimmfärbung, Melodie, […] - Morphologisch: Infixe, Diminution, Augmentation, Hyperkoristika, Elision/ Apokope, Reduplikation, […] - Syntaktisch: Ellipse, Herausstellung, Reflexivierung, Dativus ethic., Parataxe, Kontamination, Abbruch, Mehrfachkonstr., Hyperkorrektur, Phraseologisier., Modus, […] - Semantisch: Graduierung, Intensivierung, Konnotation, Metaphoris., Personifik., Dynamisier., Verhüllung, Schimpf- und Kosewörter, Vulgarismen, […] - Pragmatisch: Schweigen, Express. Sae., Interjektionen, Partikeln, Deiktika, Dialogisierung, Adressierung, […] Die Tatsache, dass in dieser Weise so viele verschiedene und disparate Mittel als mögliche Ausdrücke von Emotionen angeführt werden, stellt ein Indiz für die Schwierigkeit dar, sprachlich Emotionen und Gefühle zu vermitteln. 68 So etwas käme für die Beschreibung propositionaler Inhalte in dieser Weise nicht in Frage, d.h. für den Ausdruck von kognitiven Inhalten, von Gedanken. Es scheint aber wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass das Wort Gefühl wenigstens zweideutig ist. Nach DUW etwa kann es um die Bedeutung 1) ‚durch Nerven vermittelte Empfindungen‘ oder um die Bedeutung 2) ‚seelische Regung des Menschen, die seine Einstellung und sein Verhältnis zur Umwelt mitbestimmt‘ gehen. Es kann also erstens um reine „Wahrnehmungserlebnisse“, also um Perzepte, zweitens um Emotionen gehen. Einige Bezeichnungen für Gefühle sind in dieser Hinsicht auch zweideutig, wie etwa Schmerz und Kälte, andere wie Ekel und Abscheu beziehen sich recht eindeutig auf Emotionen, wobei aber der Gegenstand oder Verursacher der Emotion sehr verschiedenartig sein kann. Man kann z.B. Ekel vor etwa Fäkalien empfinden, aber auch, wie der Protagonist Antoine Roquentin in Jean-Paul Satres Roman La nausée (1938), vor dem Leben selbst, dem ganzen Dasein überhaupt. Emotionen sind grundsätzlich wertend, Wahrnehmungserlebnisse aber nicht, auch wenn sie an sich angenehm bzw. unangenehm usw. sein und so bewertet <?page no="65"?> 3.5 Die Ausdrückbarkeit von Emotionen 65 69 Die Wahrnehmungserlebnisse sind an sich nicht inhärent wertend, während diejenigen Zeichen, die als Bezeichnungen für diese Erlebnisse dienen, es sein können, vgl. etwa riechen, duften, stinken. werden können. „Schmerz“ und „Kälte“ im Sinne von Gefühlen als bewusst erlebte Emotionen sind inhärent mit einer negativen Bewertung verknüpft, während „Schmerz“ und „Kälte“ im Sinne von Gefühlen als bewusst wahrgenommene physische Reize zwar bewertet werden können, nicht aber inhärent mit Wertungen verknüpft sind. Dies steht also nicht im Widerspruch zu der Tatsache, dass „konkreter“ physischer Schmerz und „konkrete“ physische Kälte in den meisten Fällen negativ erlebt werden, was aber andererseits die (lexikalisierte) metaphorische Verwendung von Schmerz und Kälte als Bezeichnungen für bestimmte negativ bewertete emotive Gefühle ermöglicht. Da Gefühle im Sinne von Emotionen im Gegensatz zu „Gefühlen“ im Sinne von reinen Wahrnehmungserlebnissen keine unmittelbare konkrete Entsprechung in der außersprachlichen Wirklichkeit haben, da also nichts vorliegt, was durch unsere Sinneswahrnehmungen direkt erfassbar wäre, stellen sie eine besondere Herausforderung für die Kommunikation durch Sprache dar. Sowohl Kognition als auch Emotion stellen also Kenntnissysteme dar, die in verschiedener Weise Wahrnehmungen verarbeiten und speichern, vgl. auch Piecha (2002: 42ff.). Das kognitive System ist zerlegend, klassifizierend, analytisch und „digital“. Mit Hilfe etwa des Wortes Ekel kann ein klassifiziertes Gefühl bezeichnet, nicht aber ausgedrückt werden. Das emotive System dagegen ist wertend, emergent, synthetisch und „analog“. Die Wertungen betreffen analog gespeicherte Erlebnisse, etwa „Ekel“. Durch das Wort Ekel kann also ein emotives Erlebnis, d.h. eine durch das emotive Kenntnissystem verarbeitete, bewertete und gespeicherte Wahrnehmung bezeichnet werden, wobei vorausgesetzt wird, das es kognitiv klassifiziert ist. Durch etwa Kälte kann eine klassifizierte, aber nicht bewertete Wahrnehmung („physische Kälte“) oder aber metaphorisch eine bewertete Wahrnehmung, d.h. ein emotives Erlebnis („seelische Kälte“) bezeichnet werden. Insofern die Metapher als „lebendig“ aufgefasst wird, kann auch das entsprechende Gefühlserlebnis beim Rezipienten hervorgerufen werden. Die Sinneswahrnehmungen (visuell, auditiv, haptisch, olfaktorisch, gustatorisch, motorisch) bzw. Wahrnehmungserlebnisse („Perzepte“) werden durch das kognitive und das emotive Kenntnissystem (Kognition und Emotion) verarbeitet und gespeichert. Die Sinneswahrnehmungen sind „konkret“, während die Verarbeitung durch die Kognition eine Abstraktion bedeutet: zerlegen, klassifizieren, strukturieren. 69 Diese <?page no="66"?> 3 Das Ästhetische als linguistischer Begriff 66 70 Es geht hier natürlich nicht um „echte“ Bedeutungsbeschreibungen, sondern nur um Versuche, die Prinzipien zu veranschaulichen. Abstraktionen erhalten dadurch eine Interpretation, dass sie auf Vorstellungen von konkreten Fällen bezogen werden, wie z.B. [<+Geruch von sich geben>, <+schlecht>] bezogen etwa auf eine Vorstellung von schlechtem Mundgeruch oder verfaulendem Fisch, was die Bedeutung von stinken darstellen könnte, oder [<+Gefühl>, <+stark>, <+negativ>] bezogen auf die Vorstellung einer verhassten Person, was wiederum die Bedeutung von Hass darstellen könnte, 70 d.h. Digitales wird auf Analoges abgebildet, vgl. oben Abschn. 3.1, 3.2 die Beispiele Stuhl, Frau, Mann, Vogel usw. Das kognitive Gedächtnis gehört zum semantischen Wissen, zum „Wissen der Sprachgemeinschaft“, vgl. Habel (1985: 444f.), das emotive wiederum ist eher subjektiv-persönlich. Wenn aber das emotive Kenntnissystem als wertend, emergent, synthetisch und analog betrachtet wird, bedeutet dies, dass es nicht im genannten Sinne selbst abstrahierend ist, sondern dass Abstraktion erst in Interaktion mit der Kognition geschehen kann. Im emotiven Gedächtnis sind Ergebnisse der Verarbeitung und Wertung von komplexen Wahrnehmungserlebnissen durch das emotive Kenntnissystem gespeichert, vgl. auch Viehweger (1977: 65ff.). Das emotive Gedächtnis gehört somit offenbar zum episodischen Wissen, zum „autobiographischen Wissen“, vgl. Habel (1985: 444f.). Winko (2003: 79) schreibt: Semantisches Wissen ist propositionales Wissen über die Welt, wohingegen episodisches Wissen sich auf Ereignisse bezieht, die ein Individuum selbst erlebt hat. Beide werden auf unterschiedliche Weise gewonnen: Das semantische aufgrund von Abstraktion und sprachlicher Vermittlung, das episodische ausgehend von Erlebnissen und Erfahrungen des Individuums. Das im episodischen Wissen gespeicherte Wissen gilt als in starkem Maße mit Emotionen verbunden. Die Emotionen wären somit als gespeicherte, mit Wertungen verknüpfte Vorstellungen von persönlichen Erlebnissen zu betrachten. Vorstellungen sind immer mehr oder weniger subjektiv strukturiert, aber in diesem Falle sind auch ihre Inhalte persönlich, d.h. der Inhalt bezieht sich auf rein persönliche Erfahrung, auf „episodisches Wissen“. Emotionen sind zwar nicht abstrakt, aber sie sind auch nicht ohne Bezug auf etwas „vorstellbar“. Hass, Liebe, Ekel usw., sogar „leere“, existenzielle Angst haben immer irgendeinen Gegenstand oder Grund, aber worin genau dieser besteht, bleibt „episodisch“, d.h. rein persönlich und subjektiv. Auch wenn die Subjektivität dadurch relativiert wird, dass die Menschen <?page no="67"?> 3.5 Die Ausdrückbarkeit von Emotionen 67 71 Eine andere Sache ist, dass man sich wohl leichter z.B. Gestank vorstellen kann, wenn man gleichzeitig die Vorstellung von faulen Eiern hat. 72 Zu Punkt 1, vgl. auch Konstatinidou (1997: 81f.). und ihre grundlegenden Erfahrungen ihrem Charakter nach recht ähnlich sein dürften, ist dies eine weitere Erklärung dafür, warum es so schwierig ist, Emotives sprachlich zu vermitteln. Durch die Sinnesorgane unmittelbar Gefühltes kann man sich dagegen vorstellen, etwa einen Gestank, physische Kälte usw., ohne sie unbedingt etwa auf ganz bestimmte (d.h. im episodischen Wissen gespeicherte) Gegenstände, Zustände oder Ereignisse zu beziehen, und zwar weil sie konkret sind. 71 Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die folgenden Beziehungen zwischen Sprache und Emotion vorliegen: 1. Sprachlich Gefühle ausdrücken: 72 a) Gefühle durch sprachliche Mittel „freisetzen“. b) Gefühle durch sprachliche Mittel „freisetzen“ und „kommunizieren“, ohne sie zu thematisieren oder zu gestalten. 2. Gefühle sprachlich zu thematisieren. 3. Gefühle sprachlich zu „präsentieren“ oder zu „gestalten“. Es geht hier nicht um drei einander ausschließenden Alternativen, denn im Prinzip könnten alle drei gleichzeitig realisiert werden. In den Fällen 1a und b geht es darum, dass menschliches Benehmen, menschliche Handlungen immer auch mit emotivem Gehalt verknüpft sind, vgl. das in diesem Kapitel einleitend Gesagte. Ein Beispiel von 1a wäre, wenn jemand ganz alleine arbeitet, sich dabei aus Versehen mit dem Hammer auf den Daumen schlägt und Autsch! äußert. Der Fall 1b würde vorliegen, wenn noch sonst jemand dabei wäre und der Sprecher ihn auf den Vorfall aufmerksam machen möchte. Im Falle der Alternative 2 geht es um die zentrale sprachliche Symbolfunktion. Bei der Alternative 1a geht es also um den subjektiven Ausdruck der Gefühle des Sprechers selbst, bei 1b um die mehr oder weniger intentionale Vermittlung von diesen an andere, während es bei 2 um die „objektive“ Bezugnahme auf eigene Gefühle oder die anderer geht, aber nicht um die Vermittlung von Gefühlen. Im Falle 3 geht es aber um die Vermittlung von erlebten Gefühlen, und zwar von eigenen und/ oder von Gefühlen anderer, und somit um Versuche der Überbrückung des oben angesprochenen Ausdrucksdefizits der Sprache. Dies kann geschehen mit Hilfe der Metaphorisierung und der Ästhetisierung durch Entkontextuali- <?page no="68"?> 3 Das Ästhetische als linguistischer Begriff 68 73 Vgl. auch z. B. Kövecses (1986), der ausgehend von der Theorie der kognitiven Metaphern emotionale Metaphern im Englischen beschreibt: Für Wut und Zorn (anger): „He was breathing fire.“ (S. 19). Für Stolz (pride): „His good performance filled him with pride.“ (S. 43). Für romantische Liebe (romantic love): „We are one.“ (S. 62). Da es aber um emotionale Konzepte geht, ist die Arbeit eher indirekt rein sprachwissenschaftlich interessant, vgl. auch Kövecses (1990: 1): „This book is not about emotions as such: It is about the nature of emotion concepts.“ sierung, vgl. etwa Winko (2003: 105), die Metaphern als besonders geeignete Mittel betrachtet, spezifische Emotionen zu bezeichnen, zu thematisieren und auszudrücken. 73 Im Abschn. 3.6 unten wird genauer auf die Metaphern eingegangen. Das emotive Kenntnissystem ist ganz offenbar grundlegend für das Überleben. Wahrnehmungen, die als bewertete Erlebnisse gespeichert sind, können vor Gefahren schützen, und zwar schneller und unmittelbarer, als dies durch kognitive Überlegungen möglich ist. Furcht z.B. kann uns dazu bewegen, vor einer Gefahr unmittelbar zu fliehen. Als Auslöser von Furcht dienen verschiedene gespeicherte erlebte Erfahrungen, zum Teil aber auch genetisch Bedingtes. Der zentrale Begriff der Ästhetizität muss auch in diesem Zusammenhang angesprochen werden. Zwischen dem Ästhetischen und dem Aisthetischen gibt es einen Zusammenhang, der parallel mit dem Zusammenhang zwischen Kognition und Emotion verläuft. Das Ästhetische stellt somit die Strukturierung des aisthetisch Erfahrenen dar, und zwar nicht nur von konkreten Wahrnehmungserlebnissen, sondern auch von Emotionen. Das Ästhetische ist deshalb in diesem Sinne immer auch aisthetisch, das Aisthetische, das durch die Sinneswahrnehmung Erlebte, dagegen ganz offenbar nicht immer ästhetisch, d.h. strukturiert, kognitiv greifbar. Aus eben diesem Grund entsteht das Ausdrucksdefizit der Sprache. Das eben Gesagte könnte man in Bezug auf sprachliche Kommunikation so verstehen, dass bei nichtliterarischer Kommunikation der Schwerpunkt im kognitiven Kenntnissystem, bei literarischer Kommunikation dagegen im emotiven Kenntnissystem liegt. Bei nichtliterarischer Kommunikation stellt somit die Emotion, bei literarischer Kommunikation dagegen die Kognition den notwendigen Hintergrund dar. Nach der modernen Textverarbeitungspsychologie wird bei der Rezeption von literarischen Texten durch „Foregrounding“ die Aufmerksamkeit auf die Form gelegt, bei der Interpretation von „pragmatischen“, d.h. nichtliterarischen Texten wird dagegen der Inhalt fokussiert, vgl. Holt/ Groeben (2005: 319ff.). Man könnte dies weiter so interpretieren, dass durch Foregroun- <?page no="69"?> 3.6 Der literarische Text als Metapher 69 74 Allerdings ist die Theorie der konzeptuellen Metaphern im Grunde eigentlich keine Theorie der Sprache, sondern eben der Konzeptualisierung, auch wenn Sprache dort eine wichtige Rolle spielt, da konzeptuelle Metaphern nur über die menschliche Sprache „zugänglich“ sind. ding des Inhalts das Kognitive, durch Foregrounding der Form dagegen das Emotive in den Vordergrund der Interpretation gerückt wird. Zusammenfassend: Der Schwerpunkt des nichtliterarischen Textes liegt im kognitiven Kenntnissystem, der Schwerpunkt des literarischen Textes dagegen im emotionalen Kenntnissystem. Die „Kognitivität“ bzw. die „Emotivität“ von nichtliterarischen bzw. literarischen Texten kann natürlich abhängig von Textsorte und kommunikativer Situation variieren. So ist offenbar zu erwarten, dass ein naturwissenschaftlicher Gebrauchstext viel weniger emotiv geprägt ist, als eine Reportage von einer königlichen Hochzeit, während dagegen erwartet werden kann, dass ein lyrisches Gedicht stärker emotiv geladen ist als ein literarischer Prosatext. 3.6 Der literarische Text als Metapher Die Literatur zur Metapher ist noch unüberschaubarer als die zur Fiktionalität. Es ist auch nicht besonders originell, literarische Kommunikation in Verbindung mit der Metaphorik von Texten zu setzen, oder gar literarische Texte selbst als metaphorisch zu betrachten, vgl. etwa Backman (1991), Haverkamp (Hg.) (1996), Korte (1996), Nieraad (1977) usw. In diesem Zusammenhang werden aber solche Aspekte behandelt, die mit den übrigen hier behandelten Aspekten literarischer Kommunikation eng zusammenhängen. Ein Stichwort wäre dabei die „Bildlichkeit“ metaphorischer Ausdrucksweise, wobei auf die zentrale Funktion konkreter Vorstellungen bei der sprachlichen Kommunikation aufmerksam gemacht wird. Damit kompatibel ist auch die Auffassung der Theorie der konzeptuellen Metaphern in der kognitiven Linguistik, dass mithilfe kognitiver Metaphern Abstraktes über Konkretes (und somit leichter Vorstellbares) erfasst wird, vgl. etwa Lakoff (1987), Lakoff/ Johnson (1980 u. 1999). 74 Nach Winko (2003: 105) seien Metaphern besonders geeignet, Emotionen zu vermitteln: Da es notorisch schwierig ist, über Emotionen zu sprechen, ist es wahrscheinlich, daß zu diesem Zweck verstärkt Metaphern eingesetzt werden. Empirische Untersuchungen haben diese Annahme bestätigt: Um emotionale <?page no="70"?> 3 Das Ästhetische als linguistischer Begriff 70 75 In der Fn. 3, S. 10, stellt Skirl (2009) fest: „Eine solche Lesart wäre etwa bei der Rezeption des Romantitels ‚Der unglückliche Mörder‘ (Håkan Nesser) möglich.“ - Der hier von Skirl angeführte Satz ist allerdings kaum ein ganz gelungenes Beispiel Zustände zu beschreiben, werden alltagssprachlich mehr metaphorische Ausdrücke eingesetzt als in Beschreibungen von Verhaltensweisen; darüber hinaus werden mehr Metaphern verwendet, wenn intensive Emotionen geschildert werden sollen, als wenn über schwache Emotionen zu sprechen ist. Metaphern sind daher als besonders geeignete Mittel aufzufassen, spezifische Emotionen zu bezeichnen. Je nach Verwendungsweise können sie Emotionen thematisieren oder ausdrücken. Nach Winko (2003: 109) seien weiter Emotionen mentale Phänomene, die „emergente Eigenschaften des physischen Gesamtsystems darstellen“. Allerdings muss beachtet werden, dass Winko nicht zwischen Emotion und Gefühl in der Weise unterscheidet, wie dies oben im Abschn. 3.5 gemacht wurde. Skirl (2009: 9) schreibt: Das wichtigste Emergenzphänomen, das mit heutigen Methoden und Theorien noch nicht erklärt werden kann, ist das des Auftretens von psychischen Eigenschaften bei den physiologischen Interaktionen von Neuronen im Gehirn. Der Emergenz-Begriff muss sich aber nicht unbedingt nur auf solche Phänomene beziehen, bei denen die höhere Organisationsebene (hier: die der psychischen Prozesse) einen völlig anderen ontologischen Status aufweist als die zugrunde liegende Ebene (hier: die der physiologischen Prozesse). Der Emergenz-Begriff bietet sich allgemein immer dann an, wenn die Theorie, die die Einzelelemente und deren Eigenschaften beschreiben und erklären kann, nicht mehr imstande ist, die neu auftretenden Eigenschaften herzuleiten oder vorauszusagen, die sich bei einer spezifischen Kombination der Elemente ergeben […]. Skirl (2009) benutzt den Emergenz-Begriff, um das Phänomen der innovativen Bedeutung von Metaphern beschreiben zu können. Es geht dabei „um das Auftreten von Bedeutungsmerkmalen, die nicht Teil der Lexikonbedeutung der Wörter sind und auch nicht Teil der Konzeptinhalte, auf die sie verweisen“, Skirl (2009: 9). Skirl (2009: 10) veranschaulicht dies durch das folgende Beispiel: Der Mörder ist unglücklich. Skirl (2009: 10) stellt fest, dass ist unglücklich in einem geeigneten Kontext als REUEVOLL gedeutet werden könnte, wobei dieses Merkmal emergent sei, „da es weder Teil der Wortbedeutung von Mörder noch unglücklich ist und auch kein Bestandteil der Konzepte MÖRDER und UNGLÜCKLICH ist“. 75 Um die Bedeutung des Emergenz-Begriffs bei der <?page no="71"?> 3.6 Der literarische Text als Metapher 71 für Emergenz, da die angegebene Interpretation eher als eine auf Alltagserfahrung basierende Schlussfolgerung gedeutet werden kann, d.h. wenn jemand als Mörder unglücklich ist, beruht dies höchstwahrscheinlich darauf, dass er seine Tat bereut. 76 D.h. um den sozialen Sinn, Abschn. 6.2.2 unten, wie auch Fix (2006a: 246). Beschreibung von innovativen Metaphern zu veranschulichen verwendet Skirl in seiner Arbeit ist ein Bulldozer mit menschlichem Subjekt als Paradebeispiel (vgl. auch Skirl 2008): Der Hockeyspieler ist ein Bulldozer. Nach Skirl (2009: 9f.) könnte dieser Satz in einem geeigneten Kontext metaphorisch z.B. so gedeutet werden, dass dem Hockeyspieler die Eigenschaft DURCHSETZUNGSSTARK oder WAGEMUTIG zugesprochen würde, d.h. Eigenschaften, die weder zur Wortbedeutung von Bulldozer gehören könnten noch ein ontologisch möglicher Bestandteil des Konzepts BULLDOZER seien. Als Merkmale seien DURCHSETZUNGSSTARK und WAGEMUTIG deshalb emergent, weil sie nicht aus den Konzeptmerkmalen selegierbar und auch nicht ohne Weiteres herleitbar oder vorhersagbar seien, sondern „abhängig vom Kontext aktiv konstruiert und geschlussfolgert werden müssen“, Skirl (2009: 10). Die Analyse von Skirl (2009) scheint einleuchtend, aber man kann sich die in diesem Zusammenhang relevante Frage stellen, warum der Hockeyspieler nicht direkt als „durchsetzungsstark“ und/ oder „wagemutig“ bezeichnet wird. Man könnte vermuten, es würde eine „Frage des Stils“ sein, etwa die Selbstdarstellung des Autors. 76 Oder vielleicht findet der Autor beim Schreiben ganz einfach nicht das richtige Wort - vielleicht deshalb, weil er versucht, das Unausdrückbare auszudrücken, d.h. es würde um das „Ausdrucksdefizit der Sprache“ gehen, vgl. oben Abschn. 3. Es geht aber bei Skirl (2009) nicht um „Stil“, „Sinn“, „kommunikative Wirkungen“ usw., sondern um die „Schnittstelle von Semantik und Pragmatik“. Wichtig ist, dass Skirl (2009) in Anlehnung an Bierwisch (1979) zwischen kontextunabhängiger Satzbedeutung (Semantik), kontextabhängiger Äußerungsbedeutung (Semantik-Pragmatik Schnittstelle) und kommunikativem Sinn (Pragmatik) unterscheidet, vgl. besonders Skirl (2009: 103-113), eine Auffassung, die mit der hier vertretenen Bedeutungsauffassung völlig kompatibel ist, vgl. auch Nikula (2009). Skirl (2009: 113) stellt fest: „Die von mir am Beispiel des Metaphernverstehens untersuchten emergenten Bedeutungsmerkmale sind stets Teil der spezifischen Proposition der Äußerungsbedeutung.“ Diese Feststellung macht es Skirl möglich, metaphorische Bedeutungen als paraphra- <?page no="72"?> 3 Das Ästhetische als linguistischer Begriff 72 sierbar zu beschreiben, was eine Voraussetzung dafür ist, die metaphorische Bedeutung von ist ein Bulldozer durch Merkmale wie DURCHSET- ZUNGSSTARK oder WAGEMUTIG zu beschreiben, vgl. weiter zur Paraphrasierbarkeit Skirl (2009: 132-140). Auch wenn es Skirl (2009) gelingt, zentrale Eigenschaften von innovativen Metaphern in einer überzeugenden Weise zu beschreiben, können nicht im Rahmen seines Modells wichtige Aspekte erfasst werden, die die Verwendung metaphorischer Ausdrücke motivieren, d.h. die Tatsache, dass Metaphern allgemein als „bildliche Ausdrücke“ aufgefasst werden. „Bildlichkeit“ wird hier in dem oben Abschn. 3.1-3.2 vorgestellten Sinne verstanden, d.h. als Vorstellungen, die mit unseren verschiedenen Sinneswahrnehmungen verknüpft sind. Eine Textwelt oder ein „Textweltmodell“ als „komplexe Referenzstruktur“, die „die im Text dargestellten Sachverhalte mental repräsentiert“ (Skirl 2009: 145), kann nicht nur aus abstrakten Konzepten oder konzeptuellen Merkmalen und Schemata bestehen, denn dann hätten wir nur eine abstrakte Struktur ohne Substanz, also eine nicht interpretierte Struktur. Ohne Vorstellungen etwa von den potentiellen Referenten der Ausdrücke Hockeyspieler und Bulldozer im Satz Der Hockeyspieler ist ein Bulldozer bilden zu können, ist es nicht möglich, die metaphorische Deutung von ist ein Bulldozer zu konstruieren. Die Merkmale DURCHSETZUNGSSTARK und WAGEMU- TIG sind deshalb emergent, weil sie überhaupt nicht aus dem Kotext oder Kontext in kognitiv (analytisch) erklärbarer Weise inferierbar sind. Die Konzepte müssen „neu“ auf die durch sie evozierten Vorstellungen bezogen werden. Der Rezipient muss sich einen konkreten Bulldozer vorstellen, wie er aussieht, wie er sich bewegt, wie groß und schwer er ist usw. Er muss sich vorstellen, was man den „Hockeyspieler“ im gegebenen Zusammenhang nennen würde, wenn er ein konkreter Mensch, ein konkreter Hockeyspieler wäre, der mit einem „Bulldozer“ gleichgesetzt wird. Dies bedeutet ein Foregrounding des Benennungsprozesses selbst, eine Remotivierung sprachlicher Zeichen. Es werden dabei konzeptuelle Merkmale als Bedeutungsmerkmale aktualisiert, in diesem Zusammenhang DURCHSETZUNGSSTARK und/ oder WAGEMUTIG, die propositional die Äußerungsbedeutung darstellen, und dabei bestimmte Aspekte der Vorstellungen von Bulldozern als auf Menschen übertragbar perspektivieren. Es kann aber auch sein, dass solche Aspekte von Vorstellungen perspektiviert werden sollen, die nicht genau durch DURCHSETZUNGS- STARK und/ oder WAGEMUTIG erfasst werden können, und dass eben deshalb die Strategie der Metaphorisierung verwendet wird. Dabei wären Paraphrasen mit Hilfe von durchsetzungsstark und/ oder wagemutig viel inexakter, als bei Skirl (2009) angenommen wird. Was im sonst überzeu- <?page no="73"?> 3.6 Der literarische Text als Metapher 73 77 Skirl (2009: 139) gibt ein wenig ungenau an: „Paul Celan, Die Gedichte, 237.“ Vgl. aber etwa Celan (1983: II, 152). Zur Sprache Celans, vgl. weiter Petersen (2006: 178-192). genden Beschreibungsmodell von Skirl (2009) v.a. fehlt, ist die durch die Metaphorisierung in den Vordergrund gerückte Bildhaftigkeit, die nicht ausschließlich eine Frage der Pragmatik ist, sondern ein sehr wesentliches Element der Semantik darstellt, wie oben Abschn. 3.1 und 3.2 gezeigt wurde. In diesem Zusammenhang sind die sogenannten „absoluten Metaphern“ interessant, auf die Skirl (2009) nur kurz eingeht, da sie sehr ungewöhnlich seien und nur in besonderen literarischen Textsorten vorkommen würden, etwa in der sogenannten „hermetischen“ Lyrik, vgl. Skirl (2009: 138f.), wie auch Skirl/ Schwarz-Friesel (2007: 94f.). Die absoluten Metaphern mögen selten vorkommen, aber durch sie werden Probleme der Theorie von Skirl (2009) deutlich, die dadurch entstehen, dass er die Bildlichkeit der Metaphern nicht „ernst“ genug zu nehmen scheint. Skirl (2009: 139) führt das folgende Gedicht von Paul Celan an: 77 Die kollidierenden Schläfen, nackt, im Maskenverleih: hinter der Welt wirft die ungebetene Hoffnung die Schlepptrosse aus. An den meerigen Wundrändern landet die atmende Zahl. Skirl (2009: 139) kommentiert das Gedicht folgendermaßen: Tatsächlich hat C ELAN seine absoluten Metaphern, die nur noch innovative Konzeptkombinationen ohne bestimmbaren Aussagegehalt repräsentieren […] als bewusste Dekonstruktion von herkömmlicher, noch mit Aussagegehalt ausgestatteter Metaphorik intendiert. Nach Skirl (2009: 138) würden im Normalfall metaphorisch gebrauchte Ausdrücke „auch einen Beitrag zur Proposition leisten“, dagegen kämen Fälle, in denen metaphorisch gebrauchte Ausdrücke nicht der Information dienen und keinen deskriptiven Aussagegehalt vermitteln, sondern lediglich auf der Ebene des kommunikativen Sinnes einen nicht-deskriptiven Bedeutungsbeitrag leisten, […] in der Alltagskommunikation so gut wie gar nicht vor. <?page no="74"?> 3 Das Ästhetische als linguistischer Begriff 74 78 Zu den „absoluten“ Metaphern schreibt Nieraad (1977: 38): „Es ist zu beobachten, daß zunehmend der Bildspenderbereich sich verselbständigt, die Sphäre des ‚Eigentlichen‘, irgendeiner als Bildempfänger fungierenden Wirklichkeit getilgt (M ALLARMÉ ) bzw. überhaupt nicht mehr erreicht wird (C ELAN ): Das Bild steht nur noch für sich selbst.“ 79 Unter „kreativen“ Metaphern werden in Anlehnung an Skirl (2009) Metaphern verstanden, die zwar nicht lexikalisiert, aber auch nicht „innovativ“ (emergent) sind. Wenn die absoluten Metaphern, wie es mehr oder weniger deutlich der Fall zu sein scheint, keinen Beitrag zur Proposition leisten, sind sie keine Metaphern im Sinne von Skirl (2009). Man könnte sich in der Tat fragen, ob überhaupt Propositionen im obigen Gedicht von Celan ausgedrückt werden. Wenn nicht, dann würde es nicht mehr um Sprache gehen. Ganz unmöglich wäre es wohl nicht, eine Art „Paraphrasen“ vom Gedicht zu formulieren, die Propositionen mit Wahrheitsgehalt in irgendeiner Textwelt ausdrücken, wobei aber diese sehr unsichere „alternative“ Formulierungen darstellen würden. Wenn man aber das Gedicht bzw. die dort vorkommenden metaphorischen Ausdrücke wörtlich liest, werden durch „die noch innovativen Konzeptkombinationen ohne bestimmbaren Aussagegehalt“, vgl. Skirl (2009: 139), Vorstellungen evoziert, die zwar keinen deskriptiven Aussagegehalt, jedoch einen Inhalt vermitteln, einen Inhalt, der deutlich ein Element der Äußerungsbedeutung darstellt. Die Tatsache, dass es ausgehend von den evozierten Vorstellungen sich als sehr schwierig, oder gar unmöglich erweist, explizit neue emergente, kognitiv akzeptable Konzeptkombinationen zu formulieren, bedeutet nicht, dass man das Gedicht nicht „verstehen“ könnte, d.h. dass das Gedicht nicht interpretierbar wäre in dem Sinne, wie der Begriff der Interpretation hier verwendet wird, vgl. oben Abschn. 3.3. Wenn Celans Gedichte in diesem Sinne nicht interpretierbar wären, würde niemand sie lesen, was natürlich nicht der Fall ist. Als „absolute“ Metaphern könnte man solche Metaphern auffassen, die zwar Vorstellungen mit entsprechenden Konzepten evozieren, deren Kompatibilität aber nicht kognitiv festlegbar ist. Die absoluten Metaphern wären somit auch „absolut emergent“. 78 Was die Paraphrasierbarkeit von Metaphern betrifft, kann mit Hinweis auf das oben Gesagte behauptet werden, dass konventionalisierte Metaphern relativ leicht, die kreativen mehr oder weniger gut und die innovativen weniger gut bis überhaupt nicht (etwa die absoluten) paraphrasierbar sind. 79 Ob es nun sinnvoll ist, literarische Texte, d.h. Texte als Mittel literarischer Kommunikation Metaphern zu nennen bzw. von metaphorischer <?page no="75"?> 3.7 Das Ästhetische: Zusammenfassung 75 80 Kress (2010: 71) schreibt: „All signs are metaphors, always newely made, resting on, materializing and displaying the interest of the maker of the sign.“ Im Kontext ist diese Behauptung zwar verständlich, aber ein so weiter Metaphernbegriff ist wenigstens für eine linguistische Analyse unanwendbar. Diese Metapherndefinition wird später ein wenig abgeschwächt und präzisiert, Kress (2010: 156f.): „Analogy ist the foundation of metaphor. Hence, every sign, being formed on the basis of likeness and on the principle of analogy, is (formed as) a metaphor.“ Vgl. auch Kress/ van Leuwen (2006: 6ff.). Verwendung von Texten zu sprechen, ist nicht ganz leicht zu beantworten. Wenn aber davon ausgegangen wird, dass mittels metaphorischer Rede abstraktere oder überhaupt schwieriger erfassbare Erfahrungen und Kenntnisse mit Hilfe von Konkreterem „bildhaft“ erfasst werden, dann ist es möglich, literarische Texte als eine Art von Metaphern aufzufassen. Mit Hilfe von kreativen und innovativen Metaphern wird versucht, sonst sprachlich schwer Ausdrückbares auszudrücken, d.h. „Ausdrucksdefizite“ der Sprache zu bewältigen - und dies ist ja auch der Grund, warum literarische statt nichtliterarische Kommunikation gewählt wird, vgl. die obigen Abschnitte im Kapitel 3. 80 3.7 Das Ästhetische: Zusammenfassung Es wurde die Meinung vertreten, dass sprachliche Kommunikation, wie menschliche Kommunikation überhaupt, immer eine im weiteren Sinne „ästhetische“, d.h. ästhetisch-aisthetische ist. Die besondere Stärke der menschlichen Sprache, Abstraktes auszudrücken und vermitteln zu können, beruht darauf, dass sie im Kern, als System, nichtästhetisch, oder genauer, nichtaisthetisch ist. Damit eine Beziehung zur außersprachlichen Welt etabliert werden kann, muss deshalb die begrifflichen, „digitalen“ Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke aisthetisch durch „analoge“ Vorstellungen interpretiert werden, d.h. in einer Weise, die die Sinnesorgane des Menschen „verstehen“ kann. Ein Begriff, der nicht mit einer Vorstellung verknüpft werden kann, kann nicht verstanden werden. Das sprachliche Zeichen ist in seiner Primärfunktion symbolisch und drückt in dieser Funktion nichts aus, sondern bezieht sich auf etwas, symbolisiert etwas. Es ist grundsätzlich konventionell und folglich arbiträr. Dies bedeutet, dass ein Sprecher beim Sprechen Sinnliches, Emotionen, Gefühle usw. nicht direkt ausdrücken kann. Es gibt in diesem Sinne ein „Ausdrucksdefizit“ der Sprache. Eine Möglichkeit, das Defizit zu überbrücken, scheint die Verwendung literarischer, d.h. ästhetischer Kommunikation zu sein. <?page no="76"?> 1 Vgl. auch das Gedicht „Bericht“ von Johannes Bobrowski unten Abschn. 4.1.1. 2 Vgl. etwa Nikula (1991: 234ff.), Eco (1987: 166ff.), Schmidt, S.J. (1983 u. 1992), Vater (1992: 109ff.) wie auch den Begriff „projected world“ bei Jackendoff (1983: 28-37), usw. 4 Fiktivität, Fiktionalität, Fiktionalisierung und Fingieren Begriffe und Termini wie „fiktiv“, „Fiktivität“, „Fiktion“, „Fiktionalität“, „Fiktionalisierung“ und „Fingieren“ treten äußerst frequent in Arbeiten zum Begriff des literarischen Textes auf, weshalb eine Präzisierung zur Vermeidung von Missverständnissen am Platze ist. Vor allem ist es von grundsätzlicher Bedeutung, dass zwischen den Begriffen „Fiktivität“ und „Fiktionalität“ unterschieden wird. Im Kapitel 5, „Fiktionalisierung als Entkontextualisierung“ wird noch genauer auf die Bedeutung dieser Begriffe bei der Analyse literarischer Kommunikation eingegangen. 4.1 Fiktivität Gemeinsam für die meisten Texte, die als „literarisch“ bezeichnet werden, scheint zu sein, dass sie nicht sehr genau Wahrheitsansprüche erfüllen, wie auch, dass dies normalerweise auch nicht verlangt wird. Die Inhalte sind in kleinerem oder größerem Umfang erfunden, d.h. sie bestehen i.A. wenigstens zum Teil aus fiktiven Gegenständen, Ereignissen, Handlungen usw. Aber auch wenn diese Texte Wahrheitsansprüche nicht in der Weise erfüllen, wie man sie von Tatsachenberichten verlangt, würde man sie deshalb nicht als „unwahr“ bezeichnen. Andererseits würde man nicht unbedingt einen Text, den man für literarisch gehalten hat, für nichtliterarisch erklären, wenn es sich herausstellen würde, dass er inhaltlich in jeder Hinsicht mit der faktischen Wahrheit übereinstimmt, d.h. wahr in der realen Welt ist, etwa wenn eine Erzählung, die man für erfunden gehalten hat, sich als wörtlich wahr erweisen würde. 1 Als fiktiv werden also Gegenstände, Ereignisse, Handlungen usw. betrachtet, denen keine Existenz in der realen Welt zugesprochen wird, weder in der jetzigen, einer früheren oder zukünftigen. Dabei stellt die reale Welt diejenige Welt dar, die für real gehalten wird, und somit ein in gewissem Sinne mit Hilfe unserer Sinneswahrnehmung und Kognition erzeugtes Konstrukt darstellt. 2 <?page no="77"?> 4.1 Fiktivität 77 Das Gesagte deutet an, dass Fiktivität zwar als typisches, aber nicht als notwendiges Merkmal literarischer Texte bzw. literarischer Kommunikation betrachtet werden kann, wie auch, dass literarische Texte inhaltlich mehr oder weniger stark fiktiv sein können, davon abhängig, welche und wie viele fiktive Elemente sie enthalten. Außerdem können natürlich auch nichtliterarische Texte Fiktives enthalten. In der Tat ist die Fiktivität, so wie sie hier vorgestellt worden ist, ein Phänomen, das nicht unmittelbar mit Sprache oder mit Texten verknüpft ist. Träume, Vorstellungen, Phantasien, Erinnerungen, Zukunftspläne usw. haben, oder können einen mehr oder weniger fiktiven Charakter haben. Über diese „Inhalte“ können wir berichten, wobei sie durch Textualisierung als Textinhalte versprachlicht werden. Bei der Textualisierung der Inhalte wird Referenztialisierbarkeit vorausgesetzt, d.h. dass die referenziellen Ausdrücke in irgendeiner Welt außerhalb der Textwelt, in der realen oder einer vorgestellten Welt, potenzielle Referenz besitzen. Lügen könnte man z.B. als inhaltlich mehr oder weniger fiktive Texte betrachten, deren Inhalte als faktische angeboten werden. Lügen sind also Ergebnisse einer bestimmten kommunikativen Strategie mit der Absicht, den Rezipienten bezüglich der Faktizität oder Fiktivität von Texten zu täuschen. Beispiele von nichtliterarischen Texten, die häufig mehr oder weniger stark durch fiktive Elemente geprägt sind, sind z.B. Texte der Werbung, Reportagetexte usw., die stark durch die Funktion des Info- oder Politainments dominiert werden, vgl. Nikula (2004a). Es kann auch notiert werden, dass vor allem geschriebene Texte in der Regel kommunikativ gesehen ein fiktives Moment enthalten, da der Rezipient im Normalfall nicht unmittelbar die Übereinstimmung mit der realen Welt in jeder Hinsicht überprüfen kann, oder es gar für nötig hält, sondern sich auf die Aufrichtigkeit des Textproduzenten verlässt. Ein wichtiger Vorteil der Kommunikation durch Sprache ist ja, dass man sich über Nicht-Präsentes verständigen kann. Referenzialisierbarkeit ist eine Voraussetzung dafür, dass man die Aussagen in einem Text überhaupt als wahr, falsch oder möglicherweise als keinen Wahrheitswert besitzende beurteilen kann und dass illokutionäre Sprechakte überhaupt vollzogen werden können. Wenn jemand darüber erzählt, was er in der Nacht geträumt hat, kann er die Wahrheit erzählen oder lügen, aber in beiden Fällen wird Referenzialisierbarkeit in der in gewissem Sinne „fiktiven Welt“ des Traumes vorausgesetzt, eine Welt, die aber außerhalb der Textwelt liegt. Der Erzähler ist aber in diesem Falle ein Element der realen Welt und der Traum als Element der Erfahrungen des Erzählers stellt damit auch ein faktisches Element dieser Welt dar. Aussagen über den Traum können also einen Wahrheitswert in <?page no="78"?> 4 Fiktivität, Fiktionalität, Fiktionalisierung und Fingieren 78 3 Zum Wirklichkeitsbezug des lyrischen Gedichts vgl. Burdorf (1995: 163ff.), Zipfel (2001: 299ff.). 4 Literarizität wird hier als Oberbegriff für literarische Texte und literarische Kommunikation verwendet. 5 Gabriel (1983) unterscheidet dabei aber nicht, wie hier, zwischen Fiktivität und Fiktionalität. - Es scheint übrigens deutlich zu sein, dass der Begriff der Fiktivität hier der realen Welt haben, auch wenn dieser Wert nicht nachprüfbar ist. Natürlich kann der Erzähler z.B. lügen, dass er überhaupt geträumt hat, aber dann ist die Welt der Referenz auch eindeutig die reale. - Wichtig zu unterstreichen in diesem Zusammenhang ist nicht nur, dass die reale Welt als eine Art Konstrukt angesehen werden muss, sondern auch, dass das, was als fiktiv bzw. real betrachtet wird, zum Teil kulturabhängig, eine Ansichts- oder gar eine Glaubensfrage sein kann, vgl. auch Grünkorn (1994: 15). Ob etwa Gott und die Engel als fiktiv oder nicht angesehen werden, ist v.a. eine Sache des Glaubens und nicht der Kommunikation. Ein lyrisches Gedicht kann ein konkretes Erlebnis des Autors wiedergeben und in dem Sinne nichtfiktiv sein. Wenn das Gedicht nur als „Bericht“ über dieses Erlebnis aufgefasst wird, also als historisches Dokument, ist es für uns auch eben als historisches Dokument interessant; wie interessant es ist, hängt wiederum von Umständen wie die Bedeutung des Autors, seine Repräsentativität usw. ab. Dabei ist die Frage der Fiktivität im Sinne von dem Wahrheitswert des „wörtlich“ Gesagten von zentraler Bedeutung. Struktur und Inhalt des Gedichts können aber darauf hindeuten bzw. es verhindern, dass das Gedicht als wörtlich wahr oder falsch in sinnvoller Weise gedeutet werden kann bzw. wird, auch wenn davon ausgegangen werden kann, dass der Verfasser etwas von ihm tatsächlich Erlebtes so genau wie möglich zu vermitteln versucht hat. Das Erlebte als Erlebtes ist in diesem Falle nicht fiktiv, die Frage der Fiktivität des „vorgestellten“ Inhalts eher irrelevant und die Frage nach dem Wahrheitswert des wörtlich Gesagten sinnlos, und zwar, weil es jetzt um ästhetische Kommunikation geht. 3 Aus dem Gesagten geht deutlich hervor, dass es überhaupt keinen direkten Zusammenhang zwischen Fiktivität und Literarizität 4 gibt; literarische Texte können genau wie nichtliterarische Texte inhaltlich fiktiv oder nicht-fiktiv sein, d.h. inhaltlich mit Ausschnitten einer fiktiven oder der realen Welt übereinstimmen oder nicht übereinstimmen, vgl. etwa Gabriel (1983: 14): „An dieser Stelle möchte ich, obwohl es aus dem bisher Gesagten eigentlich schon einsichtlich ist, daß Fiktion und Literatur zunächst einmal nichts miteinander zu tun haben […].“ 5 <?page no="79"?> 4.1 Fiktivität 79 recht wenig mit dem Begriff des Fiktiven bei Iser zu tun hat, vgl. etwa Iser (1991: 18-23). Es muss noch auf die in diesem Zusammenhang grundlegende Tatsache hingewiesen werden, dass fiktive Welten und fiktive Gegenstände letzten Endes von der realen Welt abhängig sind. Das Fiktive baut sich aus Elementen alten Wissens auf, d.h. aus Elementen des Faktischen. Die Abhängigkeit fiktiver Welten von der realen Welt kommt explizit in literarischen Texten mit deutlich fiktivem Inhalt dadurch zum Ausdruck, dass referenzielle Ausdrücke mit eindeutiger Referenz in der realen Welt verwendet werden, etwa Personen- oder Ortsnamen, Verweise auf geschichtlich bekannte Ereignisse und durch die Verwendung von Ausdrücken wie die Sonne oder der Mond usw. Auch Märchen oder extreme Phantasy-Literatur sind von der realen Welt in derselben Weise abhängig, denn alle Vorstellungen basieren auf Erfahrungen, auf schon Wahrgenommenem. Und - die Bedeutungen der sprachlichen Ausdrücke selbst bauen sich aus Elementen der realen Welt auf. Das Fiktive ist somit eine Konsequenz einer Neustrukturierung von altem Wissen, und zwar mit dem Ergebnis, dass neue Konstellationen, auch solche, die in der realen Welt nicht existieren, entstehen. - Es geht nicht um mögliche Welten im Sinne der „Mögliche-Welten-Logik“, sondern um vorstellbare Welten, unter denen auch Zustände zu finden sein können, die in der realen Welt nicht möglich sind. Fiktives kann sich aber potentiell als wahr in der realen Welt erweisen. Bei literarischer Rezeption wird aber nicht danach gefragt, ob der Text in Bezug auf die reale Welt wahr ist. Die Frage, ob bei literarischer Rezeption der Text in Bezug auf die fiktionale Welt wahr ist, ist in der Tat sinnlos, weil diese Welt als Ergebnis der konstruktiven Interpretation des Textes existiert. Auch einzelne Behauptungen sind in literarischer Interpretation nicht „wahrheitsfunktional“. Sie können dagegen widersprüchlich sein, wenn etwa behauptet wird, dass ein Protagonist in Berlin, einige Seiten später aber in London geboren sei. Solche Widersprüchlichkeiten können negativ auf die Kohärenz einwirken, müssen es aber nicht, wenn sie z.B. vom Autor gemeint waren oder wenn es dem Rezipient gelingt, die „Widersprüchlichkeiten“ in seine Interpretation sinnvoll zu integrieren. Der Begriff der Fiktivität stellt somit eine Relation zur realen Welt dar, der Begriff der Fiktionalität dagegen nicht, wenigstens nicht unmittelbar. Es muss also zwischen diesen beiden Begriffen strikt unterschieden werden, vgl. unten Abschn. 4.2. <?page no="80"?> 4 Fiktivität, Fiktionalität, Fiktionalisierung und Fingieren 80 Diejenige Welt, die wir als die „reale Welt“ auffassen, ist diejenige Welt, die unsere Sinnesorgane direkt oder indirekt in einer durch das Gehirn bearbeiteten Form vermitteln, also ein Konstrukt. Dieses Konstrukt wird in der Form von strukturierten Vorstellungen im mentalen Gedächtnis gespeichert. Wenn wir etwas über diese Welt mitteilen, beziehen wir uns somit nicht unmittelbar auf die reale Welt, sondern auf Vorstellungen, die aus Elementen des „Weltkonstrukts“ bestehen. Wir beziehen uns also auf eine in gewissem Sinne fiktive Welt, die in derselben Weise wie eigentliche fiktive Welten aufgebaut ist. Der Unterschied besteht in der angenommenen Beziehung zur realen Welt. 4.1.1 Reales im Fiktiven Es werden unten einige Beispiele der Funktion des Realen im Fiktiven angeführt. Im Nachwort („Authors Note“) in seinem Roman The Innocent schreibt McEwan (1990: 231): The Berlin Tunnel, or Operation Gold, was a joint CIA-MI6 venture and operated for just under a year until April 1956. William Harvey, the CIA station chief, was in charge. George Blake, who was living at Platanenallee 26 from April 1955, probably betrayed the project as early as 1953 when he was secretary to a planning committee. All other characters in this novel are fictional. Most of the events are too, although I am indebted to David C. Martin’s account of the tunnel in his excellent Wilderness of Mirrors. The site as described in chapter twenty-three was how I found it in May 1989. Man darf annehmen können, dass dieses Nachwort zur „Glaubwürdigkeit“ des im Roman Erzählten beitragen soll, da der Autor dadurch zeigt, dass er etwas darüber weiß, wovon er schreibt. Im Roman Die Schönheit des Schimpansen von Dieter Wellershoff wird geschildert, wie ein Mann dadurch Selbstmord begeht, dass er einen Staubsaugerschlauch über den Vergaser seines Autos schiebt und die Abgase des Motors durch die Hecktür hinein in den Wagen leitet, Wellershoff (1977: 309). Das Wort Vergaser ist natürlich falsch und ist folglich durch Auspuff in einer späteren Auflage ersetzt worden, Wellershoff (1979: 200). Wenn der Leser den Fehler bemerkt, denkt er wahrscheinlich, der Autor muss Auspuff gemeint haben. Das Schlimme dabei ist aber, dass Vergaser dem Kontext nach als Fachterminus verstanden werden soll. Dies wird besonders deutlich durch die im Text unmittelbar darauf folgende Beschreibung, wie ein Mensch durch die Wirkung von Kohlenoxyd stirbt, Wellershoff (1977: 309f. bzw. 1979: 201). Und auch diese Beschreibung verliert in Wellershoff (1977) durch den terminologisch-sachlichen Fehler ihren <?page no="81"?> 4.1 Fiktivität 81 6 Oder war. Heute, wo die allermeisten Autos Einspritzmotoren ohne Vergaser haben, wäre ein solcher Fehler wohl recht unwahrscheinlich. sachlichen, auf Fachwissen bauenden Charakter. In einem Polizeiprotokoll wäre ein Fehler dieser Art gravierend, da der Mann ganz offenbar in dieser Weise nicht hätte Selbstmord begehen können, im Roman irritiert der Fehler nur diejenigen, die wissen, was ein Vergaser in einem Auto ist 6 , genau wie eine historisch gesehen faktisch allzu unwahrscheinliche oder gar offensichtlich fehlerhafte Darstellung in einem historischen Roman einen Historiker stören mag. Wie schon oben im Abschn. 4.1 betont wurde, baut sich Fiktives aus Nichtfiktivem, aus altem Wissen auf, und zwar nicht nur fiktive Welten, sondern fiktive Konzepte überhaupt. Bei literarischer Kommunikation wird zwar nicht vorausgesetzt, dass alle „Fakten“ mit der realen Welt übereinstimmen, aber wie z.B. anhand vom gerade angegebenen Beispiel dargestellt wurde, können trotzdem Abweichungen von dem Faktischen kommunikativ störend sein. Es scheint also der Fall zu sein, dass allzu auffällige Abweichungen von dem Faktischen auch bei literarischer Kommunikation zu vermeiden wäre. Ryan (1980) verwendet den Begriff „the principle of minimal departure“. Es geht dabei nicht nur darum, dass die kleinsten relevanten Bausteine (Handlungen, Ereignisse, Zustände, Gegenstände, Elemente von Gegenständen, Merkmale usw.) des Fiktiven nicht selbst fiktiv sein können, damit eine vielleicht nicht mögliche, aber vorstellbare Welt kreiert werden kann, sondern auch darum, dass die fiktive Welt nicht „unnötig stark“ von der realen abweichen soll. Das „Vergaser-Beispiel“ oben zeigt, dass die erzählte Welt als Kontext auf die Möglichkeiten der Abweichung einwirkt. Hier ging es um einen Kontext des Fachwissens, was bedeutet, dass es möglich sein müsste, das Erzählte problemlos auf einen entsprechenden Kontext der realen Welt beziehen zu können. Wenn aber in einem Märchen oder in einem Werk der Fantasy-Literatur dieselbe Person am Anfang der Darstellung etwa blaue, am Ende aber braune Augen hätte, würde dies nicht notwendigerweise den Rezipienten stören, da hier der Abstand zwischen realer und erzählter Welt sehr groß sein kann. Wenn dagegen z.B. Thomas Mann im Roman Der Zauberberg die Hauptperson Hans Castorp in dieser Weise dargestellt hätte, würde dies sicher den aufmerksamen Leser stören, da die Darstellung Manns erstens bezüglich Einzelheiten äußerst genau ist, und zweitens, dass er in seiner Darstellung des Lebens von Hans Castorp nie von dem faktisch Möglichen abweicht. Man würde aber nicht sagen können, welche Farbe von Castorps Augen die „richtige“ wäre. Anders <?page no="82"?> 4 Fiktivität, Fiktionalität, Fiktionalisierung und Fingieren 82 7 Titel auf Deutsch: „Die Pastoren in Knutby. Ein authentischer Kriminalroman.“ [H.N.] würde es sich natürlich verhalten, wenn im Roman Castorp von Pawe Huelle Hans Castorp eine andere Augenfarbe hätte, als im Zauberberg. Huelles Roman beschreibt ausgehend von einem Hinweis im Zauberberg, vgl. Mann (1975: 40), Hans Castorps vier Semester am Danziger Polytechnikum und hält sich sehr genau an die Thomas Mann’sche Darstellung der Persönlichkeit Hans Castorps, z.B. seine Vorliebe für Zigarren der Marke „Maria Mancini“, für Porter usw. wie auch überhaupt an seine Darstellung des persönlichen Hintergrunds Castorps. Eine Abweichung bezüglich der Augenfarbe wäre hier problematisch, da Huelle vorgibt, denselben Hans Castorp zu schildern wie Thomas Mann, und weil in der Tat Der Zauberberg als eine bereits früher geschriebene Fortsetzung von Huelles Castorp rezipiert werden könnte. Wenn es sich aber plötzlich zeigen würde, dass Thomas Mann der eigentliche Verfasser von Castorp wäre und dass Huelle ein unbekanntes Manuskript zuerst ins Polnische übersetzt und erst danach das ursprüngliche deutsche Manuskript veröffentlicht hätte, könnte man nicht sagen, welche Augenfarbe die „richtige“ wäre. Auch wenn Fiktivität kein definierendes Merkmal literarischer Kommunikation ist, beeinflusst also die Relation zwischen dem Fiktiven und dem Faktischen die Interpretation eines Textes als literarisch oder nicht. Es werden im Folgenden einige weitere Beispiele angeführt. In seinem schwedischsprachigen Roman Pastorerna i Knutby. En autentisk kriminalroman 7 , versucht der Autor Nilsson (2005) einen Mord und einen Mordversuch durch den Leiter und führenden Pastor einer Gemeinde der Pfingstbewegung in dem schwedischen Dorf Knutby in der Nähe von Uppsala im Jahre 2004 literarisch darzustellen. Diese Ereignisse und die damit zusammenhängenden Umstände erweckten ein sehr großes Aufsehen in den schwedischen Medien. Beinahe alle Namen im Roman sind authentisch, nur in ein paar Fällen sind Personennamen durch „A“ bzw. „B“ ersetzt worden. Als Quellen sind authentische Polizeiprotokolle, Interviews, Zeitungsartikel usw. verwendet worden, d.h. der Autor hat versucht, alles so genau mit dem Faktischen übereinstimmend zu beschreiben. Der Grund, warum die Romanform verwendet worden ist, dürfte sein, dass eine Beschreibung ausschließlich dessen, was dem Autor faktisch bekannt sein konnte, in eine Aufzählung von Fakten resultiert hätte, die höchstens von mehr oder weniger gut begründeten Vermutungen zusammengehalten wären, wie auch, dass schon sehr viel Nichtliterarisches über das Thema publiziert worden war. In der Romanform <?page no="83"?> 4.1 Fiktivität 83 8 Auch wenn an sich Reportagetexte durch eine gewisse Freiheit bezüglich der Darstellung charakterisiert sind, vgl. Abschn. 4.1.2 u. 6.2.3.3. 9 Auf Deutsch: „Die Freundin. Bericht aus Rosenbad.“ [H.N.] Rosenbad, Sitz der schwedischen Regierung. kann der Autor die Gedanken, Vermutungen usw. verschiedener Personen aus deren eigenen Perspektiven als eine Art „Fakten“ darstellen, und somit eine kohärente Erzählung mit Anfang und Ende gestalten. Damit die Aktualität des Geschehens so stark wie möglich würde - was natürlich für den Verkaufserfolg wichtig war - hat aber der Autor offenbar unter großem Zeitdruck gearbeitet, wobei das Ergebnis vor allem aufgrund des sehr starken faktischen Wahrheitsbezugs interessant ist. Geht es aber dabei wirklich um einen Roman, um literarische Kommunikation? Es ist kaum möglich, den Text nichtliterarisch, etwa als Reportage, zu lesen, ohne den Autor der Unaufrichtigkeit zu beschuldigen, und zwar u.a. wegen der zahlreichen Perspektivenwechsel, wo die Welt durch die Augen verschiedener Protagonisten gesehen wird. 8 Anderseits ist es wegen des im Buchtitel, im Nachwort und auf dem Umschlag des Buches angegebenen Wirklichkeitsbezugs schwierig, den Text „entkontextualisierend“ als Literatur zu lesen, und zwar vor allem, weil dieser Wirklichkeitsbezug als Bestandteil der erzählten Welt in die Geschichte nicht genügend integriert ist. Der Text wird als Roman angeboten und verkauft, liest sich aber wegen nicht ausreichender Gestaltung schwierig als ein solcher. Es ist interessant, Nilsson (2005) mit dem „Bericht“ von Eva Franchell (2009), Väninnan. Rapport från Rosenbad zu vergleichen. 9 Die Journalistin Franchell beschreibt in diesem „Bericht“ ihr Leben und ihre Erfahrungen zwischen dem 2. Mai 1994, als sie von der schwedischen sozialdemokratischen Partei als Pressesekretärin angestellt wurde und dadurch allmählich ins Zentrum der politischen Macht geriet, und dem 10. September 2003, als sie zusammen mit der schwedischen Außenministerin Anna Lindh ein Stockholmer Kaufhaus besuchte. Bei diesem Besuch wurde die Außenministerin von einem jungen Mann erstochen und starb in Folge der Verletzungen am 11. September 2003. Franchell hatte aus nächster Nähe erlebt, wie ihre Freundin Anna Lindh angegriffen wurde, und sie hatte auch versucht, ihre Freundin handgreiflich zu verteidigen. Der größte Teil des Buches befasst sich jedoch nicht mit diesem Ereignis, sondern beschreibt die Erfahrungen Franchells als Angestellte der schwedischen Regierung. Franchell schreibt im Nachwort (Efterord), S. 346- 347, dass sie alle Fakten so genau wie möglich darzustellen versucht hat, u.a. Franchell (2009: 346): <?page no="84"?> 4 Fiktivität, Fiktionalität, Fiktionalisierung und Fingieren 84 10 „Jag har tagit fram bilder från Göran Perssons besök i USA för att kontrollera färgen på hans och Georg Bushs slipsar. Jag har också fått hjälp av SMHI för att exakt få veta hur mycket snö det låg på Sveavägen den femte december 1995. Jag har försökt gestalta min historia så att den blir så spännande som den faktiskt var. Jag tror sammanhangen, middagarna, flygresorna, och närheten till världens ledare spelar roll även för svenska politiska beslut. Det har inte varit möjligt att återskapa alla citat. De är sannolika, men säkert inte helt exakta. Jag har också tagit mig friheten att lägga till en och annan middag som jag är säker på att man åt.“ [Am 5. Dezember 1995, Regierungsbildung durch den Ministerpräsident Göran Persson; SMHI = „Sveriges meteorologiska och hydrologiska institut“, d.h. der schwedische staatliche Wetterdienst.] Ich habe Bilder vom Besuch Göran Perssons in den USA verwendet, um die Farbe von seiner und von Georg Buschs Krawatten nachzuprüfen. SMHI war mir auch behilflich, wenn es darum ging, die exakte Schneetiefe auf Sveavägen am 5. Dezember festzustellen. Ich habe versucht, meine Geschichte so spannend zu gestalten, wie sie in der Wirklichkeit war. Ich glaube, dass die Zusammenhänge, das Tempo, die Abendessen, die Flugreisen und die Nähe zu den Machthabern der Welt auch für die schwedischen politischen Entscheidungen von Bedeutung sind. Es war nicht möglich, alle Zitate exakt wiederzugeben. Sie sind plausibel, aber ganz sicher nicht exakt. Ich habe mir auch die Freiheit genommen, ein paar Abendessen hinzuzufügen, wenn ich mit Sicherheit annehmen konnte, dass sie stattgefunden haben. [Üb. H.N.] 10 Die Autorin betont also, dass sie versucht hat, alle Fakten so genau wie möglich nachzuprüfen, dass aber Subjektives nicht zu vermeiden war. Das Subjektive kommt auch durch das Engagement der Autorin recht deutlich zum Ausdruck. Wegen dieser deutlichen Subjektivität und Emotivität neben den „harten Fakten“ kann der Text nicht als Bericht (schw. rapport) im eigentlichen Sinne klassifiziert werden, sondern eher als eine Art Reportage, vgl. etwa Lüger (1995). In der Tat liest sich das Buch relativ leicht, auch wenn die meisten dort erscheinenden Politiker und zentralen Ereignisse dem Leser bekannt sind, alternativ als einen Roman in der ersten Person, als Gestaltung von Erlebnissen. Der letzte Satz in Franchells Buch lautet, (2009: 345): „Mitt politiska äventyr ryms numera i ett usb-minne.“ In Deutsch etwa: „Mein politisches Abenteuer findet jetzt in einem USB-Stick Platz.“ Die „Kernbedeutung“ des Wortes minne ist aber ‚Gedächtnis, Erinnerung‘, was darauf hinweist, dass es um eine Art Autobiografie über einen wichtigen Ausschnitt des Lebens der Autorin geht. - In dem Roman The Sorrows of an American von Siri Hustvedt erzählt Inga seinem Bruder, dem Ich-Erzähler Erik, über die Zuverlässigkeit des Gedächtnisses und die kohärenzstiftende Funktion der Sprache Folgendes, Hustvedt (2008: 47): <?page no="85"?> 4.1 Fiktivität 85 11 2003 ist offenbar ein Druckfehler, soll 2004 sein. 12 Mit der Überschrift „,Ich hatte keine Botschaft‘ / SARAH KUTTNER WAR BISHER ALS FERNSEHPLAUDERTASCHE BEKANNT / JETZT HAT SIE EINEN ROMAN GESCHRIEBEN“, und den einleitenden Zeilen: „Mit „Mängelexemplar“ legt die 29- Jährige ein zum Teil sehr witziges Buch über ein ernstes Thema vor: Ihre Romanhel- It’s ironic, though, because in my book I try to talk about the way we organize perceptions into stories with beginnings, middles, and ends, how our memory fragments don’t have any coherence until they’re reimagined in words. Time is a property of language, of syntax, and tense.“ Dieser Roman wird in Ich-Form erzählt, und zwar von einem männlichen Protagonisten, was eine Identifizierung der Autorin mit dem Erzähler verhindert oder wenigstens stark erschwert. Es geht sehr deutlich um einen literarischen Text, d.h. um einen Text, der geschrieben ist, um literarisch rezipiert zu werden, und es ist auch zu vermuten, dass es kaum Rezipienten gibt, die den Text nicht als einen solchen erleben würden. Im Nachwort (Acknowledgments) schreibt die Autorin jedoch (Hustvedt 2008: 306): My greatest debt, however, is to my father, Lloyd Hustvedt, who died on February 2, 2003. 11 Near the end of his life, I asked him, if I could use portions of the memoir he had written for his family and his friends in the novel I was then beginning to write. He gave me his permission. The passages in the book from Lars Davidsen’s memoir are taken directly from my father’s text with only a few editorial and name changes. In this sense, after his death, my father became my collaborator. The story of my great uncle David is also true, and the newspaper article about „Dave the Pencil Man“ is quoted verbatim. Despite these direct borrowings, I have throughout the novel freely mingled imaginary stories with real ones. In ihrem Roman Mängelexemplar erzählt Ex-MTV- und VIVA-Moderatorin Sarah Kuttner in ich-Form von den Erlebnissen einer jungen Frau, die unter Depression und Angstanfällen leidet, Kuttner (2009). Auch wenn der Text explizit als Roman veröffentlicht worden ist, kann die ich-Form und die auch sonst stark subjektiv anmutende Darstellungsweise leicht dazu führen, dass man die Erzählerin mit der Verfasserin identifiziert, und zwar vor allem, wenn man die Biographie der Autorin kennt, vgl. Kuttner (2010). Wichtig ist, welche Kenntnisse und Erfahrungen die Verfasserin von Angst und Depressionen hat, d.h. inwieweit bezüglich solcher Erfahrungen die Textwelt aus Elementen der realen Welt besteht. In einem Interview in der Märkischen Allgemeinen, 10.03.2009, durch Jan Sternberg (Kuttner 2010) sagt Kuttner Folgendes zum Realitätsbezug ihres Romans: 12 <?page no="86"?> 4 Fiktivität, Fiktionalität, Fiktionalisierung und Fingieren 86 din Karo hat Depressionen. Wie es zu dem Buch kam, erzählte Sarah Kuttner Jan Sternberg.“ Das Thema ist aufgekommen, weil mein Umfeld so damit beschäftigt ist. Gar nicht laut, keiner läuft durch die Gegend und sagt, oh ich habe eine Depression. Aber der eine hat Panikanfälle und fällt mitten auf der Straße um, der andere geht zum Therapeuten und nimmt Antidepressiva. Das ist wirklich da und passiert nicht nur verrückten Leuten, ich habe ja ganz normale, lustige Freunde, die in den verschiedensten Berufen arbeiten, nicht nur in den Medien. Karo ist jemand, die sich ganz lange weigert, bis sie sich Hilfe holt, weil eine Depression eigentlich nicht zu ihr passt. Das fand ich interessant. […] Der Verlag meinte: Frau Kuttner, Leute werden Sie fragen, ob das autobiografisch ist. Ich war erstmal sehr erstaunt: Warum sollten sie? Das liegt natürlich daran, dass ich mich gut kenne und ihr alle kennt mich nicht gut, privat, meine ich jetzt. Das ist nicht meine Geschichte und es ist nicht autobiografisch. Aber da ich nun nicht besonders kreativ bin und daher nicht aus der Perspektive eines 50-jährigen Holzfällers schreiben kann, hat Karo auf kleiner Ebene viel mit mir zu tun. Damit meine ich weniger den Charakter als die allgemeinen Ansichten. Was ich witzig finde, wie ich mein Essen mag, wie ich gerne Shoppen gehe, was man vom Leben und von Freunden erwartet, das ist von mir. Das große Ganze dann eben nicht. […] Ich hatte keine Botschaft im Kopf, als ich geschrieben habe, aber wenn ich mich auf eine festlegen muss, dann ist das wohl eine ganz schöne Message. Es ist wichtig, dass man akzeptiert, dass man nicht verrückt ist, wenn man Panikanfälle oder Depressionen bekommt. Dass die Chancen, dass es uns alle irgendwann erwischt, ziemlich hoch sind. Aber es ist schwierig, sich wirklich darauf einzulassen. Es ist schwierig, im Wartezimmer bei einem Psychiater zu sitzen. Ich saß da auch, sowohl als Begleitung von Freunden als auch zur Recherche. Das fühlt sich schon unangenehm an. Ich habe damals sogar vor Schreck jemanden angerufen, nur um laut sagen zu können: Ich sitze jetzt beim Psychiater - zur Recherche! Das ist natürlich scheiße - wem versuche ich da etwas zu beweisen? Die Erzählerperspektive zwingt den Rezipienten nicht davon auszugehen, dass es um einen Tatsachenbericht über die eventuelle Depression der Verfasserin geht, genauso wenig, wie man davon ausgehen würde, dass die Erzählung ein Tagebuch über eine Phase ihres Lebens darstellen würde. Die Form lässt aber vermuten, dass auch bei der Darstellung der Depression eigene Erfahrungen als Material benutzt worden sind, und dass sie nicht nur auf Erfahrungen zweiter Hand und auf „Recherchen“ baut. <?page no="87"?> 4.1 Fiktivität 87 Christa Wolf schreibt auf einer der einleitenden Seitens ihres Romans Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud vor dem Romananfang Folgendes, Wolf, Ch. (2010a: 6): Alle Figuren in diesem Buch, mit Ausnahme der namentlich angeführten historischen Persönlichkeiten, sind Erfindungen der Erzählerin. Keine ist identisch mit einer lebenden oder toten Person. Ebensowenig decken sich beschriebene Episoden mit tatsächlichen Vorgängen. Da es jedoch deutlich ist, dass der Roman stark autobiographisch ist, ist es interessant, Christa Wolfs Kommentar zum Wirklichkeitsbezug ihres Romans in einem Spiegel-Interview zu lesen, Wolf, Ch. (2010b): SPIEGEL: Es leuchtet nicht ein, warum Sie das Buch, das Sie doch sehr nahe an Ihrem authentischen Erleben entlang erzählen, in Teilen auch fiktionalisiert haben. Wollten Sie durch die Fiktionalisierung den eigentlichen Konflikt, den Sie schildern - die Auseinandersetzung mit der eigenen Person und die öffentlichen Reaktionen darauf -, von sich wegrücken? Wolf: Nein, Sie haben ja selbst gesehen, dass ich gerade bei den Teilen, die diese Konflikte schildern, nahe an den tatsächlichen Ereignissen entlang erzähle. Anderes habe ich erfunden, viel mehr, als Sie wohl glauben würden. Das gehört zur Vielschichtigkeit, die ich anstrebe. Ebenso wie es sich natürlich versteht, dass die Ich-Erzählerin nicht identisch mit der Autorin ist. Was passiert aber, wenn es sich erweist, dass ein literarischer Text sich als „wörtlich“ wahr erweist. Betrachten wir das Gedicht „Bericht“, Bobrowski (1962: 96). Bericht Bajla Gelblung, entflohen in Warschau einem Transport aus dem Ghetto, das Mädchen ist gegangen durch Wälder, bewaffnet, die Partisanin wurde ergriffen in Brest-Litowsk trug einen Militärmantel (polnisch), wurde verhört von deutschen Offizieren, es gibt ein Foto, die Offiziere sind junge Leute, tadellos uniformiert, mit tadellosen Gesichtern, ihre Haltung ist einwandfrei. <?page no="88"?> 4 Fiktivität, Fiktionalität, Fiktionalisierung und Fingieren 88 13 Interessant in diesem Zusammenhang sind auch die Analysen von Bobrowskis „Bericht“ durch Lerchner (1978) und Rosengren (1983). Das Gedicht ruft eine Vorstellung von einer tragischen Situation hervor, die verschiedene Leser in verschiedener Weise erleben mögen. Die Zeilen „[…] von deutschen / Offizieren, es gibt / ein Foto, die Offiziere sind junge / Leute […]“ enthält den Ausdruck es gibt ein Foto. Dieser Ausdruck könnte, wenn es um nichtliterarische Kommunikation gehen würde und somit Referenzialisierbarkeit in der realen Welt vorauszusetzen wäre, alternativ als Behauptung, Drohung oder sogar als Appell an das Erinnerungsvermögen der Leser aufgefasst werden, vgl. Kelletat (1988: 630). 13 In der Tat liegt Referenzialisierbarkeit vor, denn es gibt ein Foto mit einer dem Gedicht inhaltlich sehr ähnlichen Bildunterschrift, die Bobrowski auch gekannt hat, vgl. Kelletat (1988: 630f.). Man könnte also das Gedicht als eine Art „Ekphrase“ betrachten. Das Foto mit der Bildunterschrift findet sich in dem Buch Der Gelbe Stern von Gerhard Schoenberner (1960: 98): Dieses Mädchen ist eines der wenigen, deren Bild und Namen die Henker hinterlassen haben. Bajla Gelblung entfloh einem Todestransport aus dem Warschauer Ghetto und ging zu den Partisanen. Als sie in Brest-Litowsk verhaftet wurde, trug sie einen polnischen Militärmantel. Dieses Foto von ihrem Verhör erschien während des Krieges in einer deutschen Illustrierten. Auch wenn Gedicht und Bildunterschrift inhaltlich stark übereinstimmen, wäre das Gedicht aus pragmatischen Gründen keine gute Bildunterschrift, u.a. wegen der wertenden Ausdrücke tadellos und einwandfrei. Die Bildunterschrift selbst ist kein literarischer Text, sie bezieht sich auf die reale Welt und könnte demnach, v.a. zusammen mit dem Bild, eine Bedrohung für die auf dem Bild in Wehrmachtuniformen erscheinenden Personen darstellen, insofern sie noch leben. Auch ohne das Bild und den Bildtext zu kennen, könnte sich jemand von diesen Personen bei der Lektüre des Gedichts als Gedicht bedroht fühlen, indem er das Textangebot rekontextualisiert, „zu sich nimmt“, vgl. Abschn. 5.1.3 und 6.2.5. Wenn er aber davon ausgehen würde, dass der Autor durch die Darstellung eines realen Falls ihm persönlich als Rezipienten drohen möchte, würde er den Text nicht mehr als literarischen Text lesen. Es dürfte aber i.A. schwieriger sein, einen Text in der Form eines Gedichts als einen Prosatext nichtliterarisch zu rezipieren, vgl. weiter die „Minimapaaranalysen“ im Abschn. 6.2.3.1. <?page no="89"?> 4.1 Fiktivität 89 14 Nebenbei kann in diesem Zusammenhang notiert werden, dass Frisch in Montauk die dritte Person für die „Gegenwart“, die erste für Erinnerungen an die Vergangenheit Eugen Ruge wiederum verankert das Erzählte in seinem Roman In Zeiten des abnehmenden Lichts. Roman einer Familie (2011) im Realen explizit dadurch, dass er die Überschriften der Kapitel als Jahreszahlen darstellt, die der Leser mit seinen eventuellen Kenntissen über die „Wende“ in Verbindung setzen kann. Diese Verankerung kann somit die Kohärenzbildung und die Sinnsuche des Rezipienten stützen. 4.1.2 Fiktivität als unterscheidendes Kriterium Auch wenn eigentlich schon recht deutlich aus dem oben Gesagtem hervorgehen dürfte, dass Fiktives kein unterscheidendes Merkmal zwischen literarischer und nichtliterarischer Kommunikation darstellt, wird hier, weil Fiktivität sehr häufig als typisches Merkmal von Literatur betrachtet wird, noch ein wenig tiefer auf diese Problematik eingegangen. Max Frisch schreibt in seinem Roman Mein Name sei Gantenbein (Frisch 1964: 74): „Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält […].“ Diese „Erfindung“ braucht nicht unbedingt als „Lebenslüge“ im negativen Sinne betrachtet zu werden, denn die Kohärenz einer Geschichte, wie überhaupt in Texten jeder Art, kann nur dadurch entstehen, dass Beziehungen zwischen „gegebenen Fakten“ kreativ geschaffen werden, wobei diese Beziehungen häufig einen mehr oder weniger „fiktiven“ Charakter haben können. Es geht dabei um eine notwendige Strategie, Ordnung in der Welt herbeizuführen und also nicht notwendigerweise um Lügen, wie Martin Walser zu meinen scheint, vgl. seine Ausführungen in einem Spiegel-Interview anlässlich der Erscheinung seiner Tagebücher (Walser 2010a) Leben und schreiben. Tagebücher 1974-1978. Walser (2010b: 139): Spiegel: Die autobiografische Erzählung „Montauk“ von Max Frisch bezeichnen Sie als „Ehrlichkeitsattrappe“. Verschweigen Sie in Ihren Tagebüchern bisweilen Ereignisse, die Ihnen zu nahegehen? Walser: Nein. In solchen Fällen schreibe ich ganz von selbst in der dritten Person. Es gibt Genauigkeiten, die in der Ich-Form unglaubwürdig wären. Dafür gibt es ja persönliche Fürwörter! Ich ändere auch die Sätze nicht im Nachhinein. Allenfalls kürze ich sie. Das nenne ich die Unschuld der Hingeschriebenheit. Und ich würde nie eine Autobiografie schreiben. Das zwingt zu einer mir unangenehmen Art von Lüge. Die Lüge im Roman ist wunderbar. Sie ist eine Variation der Wahrheit. Aber die Lüge in den Memoiren, die möchte ich nicht. 14 <?page no="90"?> 4 Fiktivität, Fiktionalität, Fiktionalisierung und Fingieren 90 verwendet, während Christa Wolf in Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud (2010a) die erste Person für die „Gegenwart“ und die zweite für Erinnerungen benutzt, vgl. auch Wolf, Ch. (2010b) und oben 4.1.1. (Die Verhältnisse sind natürlich etwas komplexer, als sie hier pauschal vorgestellt werden konnten.) Auch Günter Grass wechselt in Beim Häuten der Zwiebel (2006) in vergleichbarer Weise zwischen der ersten und der dritten Person, vgl. weiter unten. 15 Es gibt viele Stellen in Montauk, durch die eine solche Annahme begründet weden kann, vgl. etwa S. 137f.: „[...] weiß er, [...], was er gedacht hat: ich möchte dieses Wochenende beschreiben können, ohne etwas zu erfinden, diese dünne Gegenwart [...].“ Oder S. 155: „Er möchte bloß erzählen (nicht ohne Rücksicht auf die Menschen, die er beim Namen nennt): sein Leben.“ 16 Rezipienten, die das Leben von Max Frisch gut kennen oder etwa selbst in Montauk erwähnt werden, können natürlich große Schwierigkeiten haben, den Text rein literarisch zu rezipieren. Interessant in Walsers Antwort sind vor allem die Sätze: „Die Lüge im Roman ist wunderbar. Sie ist eine Variation der Wahrheit.“ Da die „Wahrheit“ eines Romans, eines literarischen Textes, in einer ganz anderen Weise als die Wahrheit eines nichtliterarischen Textes entsteht, d.h. mittels der Strategie der „Fiktionalisierung“ bzw. „Entkontextualisierung, worauf unten v.a. im Kapitel 5 eingegangen wird, kann der Inhalt eines literarischen Textes nie als Lüge betrachtet werden, auch nicht, wenn der Autor etwa das heutige Frankreich als Königreich beschreiben würde. Dagegen können natürlich Lügen in Memoiren vorkommen, wenn z.B. der Verfasser den Leser bewusst bezüglich seiner Verdienste zu täuschen versucht. Wenn Walser die Erzählung Montauk von Frisch als „Ehrlichkeitsatrappe“ bezeichnet hat, vgl. Zitat oben, hat er diese eben als Autobiographie, nicht als literarischen Text rezipiert, was möglich sein mag, auch wenn Frisch den Text explizit als „Erzählung“ veröffentlicht hat (vgl. Frisch 1975). Man muss wohl den Text als eine literarische Darstellung von dem, was Frisch „für sein Leben hält“ und nicht als Erinnerungen oder als Autobiographie in eigentlichem Sinne betrachten. 15 Der Leser einer Autobiographie geht davon aus, dass er nicht belogen wird, d.h. dass die „harten Fakten“ so weit wie möglich mit der Wirklichkeit übereinstimmen, auch wenn er damit einverstanden sein muss, dass es um eine subjektive Interpretation der Zusammenhänge geht und dass somit die Darstellung in diesem Sinne „fiktive“ Elemente enthält. Bei literarischer Rezeption stellt sich dagegen die Frage der Fiktivität nicht. 16 Die Erzählung Montauk könnte man vielleicht als zur literarischen Textsorte oder Gattung „autobiographisches Schreiben“ (oder „Faction“) gehörend klassifizieren, d.h. einer Textsorte, wo es besonders schwierig <?page no="91"?> 4.1 Fiktivität 91 17 Auch Christa Wolfs (2010a) Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud könnte offenbar als ein Fall von „autobiographischem Schreiben“ betrachtet werden, wie auch Franchell (2009) und vielleicht Kuttner (2009), vgl. Abschn. 4.1.1 oben. 18 Zipfel (2009: 311) charakterisiert autobiographisches Schreiben oder „Autofiktion“ folgendermaßen: „Das Charakteristikum der Autofiktion ist die Verbindung von zwei sich eigentlich gegenseitig ausschließenden Praktiken: die referentielle Praxis und die Fiktions-Praxis. Die verschiedenen Formen der mehr oder weniger paradoxen Verknüpfung des referentiellen Paktes mit dem Fiktions-Pakt werfen in unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlicher Intensität Fragen der Grenzen der Literatur auf. Die Grenzen zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen werden in letzter Konsequenz eher verdeutlicht als verwischt.“ 19 Sehr interessant in Zusammenhang mit Gedächtnis, Erinnerungskultur und autobiographischem Schreiben ist Rink (2012). sein kann, zwischen Fiktivem und Nicht-Fiktivem zu unterscheiden. Breuer, U. (2001: 10) schreibt: 17 Während die Autobiographie eine Differenz zwischen Wirklichkeit und Fiktion voraussetzt und nur auf diesem Hintergrund die Identität von Autor, Erzähler und Protagonist konstruieren kann, erscheint im autobiographischen Schreiben Realität und Fiktion als textuelle Effekte, wobei das Verhältnis zwischen Autor, Erzähler und Protagonist verschwimmt. In Termini der Systemtheorie kann man das auch so ausdrücken, daß im autobiographischen Schreiben zwischen Selbst- und Fremdreferenz nicht eindeutig unterschieden werden kann. 18 Die Erzählung Montauk von Max Frisch sollte man also wohl nicht wie Martin Walser als „Ehrlichkeitsatrappe“ bezeichnen; dagegen könnte man vielleicht Frischs Strategie der Darstellung als einen Fall von Hedging, vgl. Abschn. 5.1.1 unten, betrachten und in diesem Sinne Walser recht geben. Ähnliches betrifft Günter Grass’ Buch Beim Häuten der Zwiebel (2006), das auch als ein Fall von autobiographischem Schreiben betrachtet werden könnte. Grass (2006) weist hier immer wieder auf die Unzuverlässlichkeit des Gedächtnisses hin. Ein paar Beispiele: 19 S. 51: Schicht auf Schicht lagert die Zeit. Was sie bedeckt, ist allenfalls durch Ritzen zu erkennen. Und durch solch einen Zeitspalt, der mit Anstrengung zu erweitern ist, sehe ich mich und ihn zugleich. Ich bereits angejahrt, er unverschämt jung; er liest sich Zukunft an, mich holt Vergangenheit ein; meine Kümmernisse sind nicht seine; was ihm nicht schändlich sein will, ihn also nicht als Schande drückt, muss ich, der ihm mehr als verwandt ist, nun abarbeiten. Zwischen beiden liegt Blatt auf Blatt verbrauchte Zeit. S. 228: Erinnerungsschnipsel, mal so, mal so sortiert, fügen sich lückenhaft. Ich zeichne den Schattenriß einer Person, die zufällig überlebte, nein, sehe sein fleckiges, sonst aber unbeschriebenes Blatt, das ich bin, sein könnte oder werden möchte, der ungenaue Entwurf späterer Existenz. <?page no="92"?> 4 Fiktivität, Fiktionalität, Fiktionalisierung und Fingieren 92 20 Das „Geständnis“ Grass´, dass er Soldat bei der Waffen-SS war, mag ein erlebendes Verstehen erschweren, was die mediale Turbulenz nach der Erscheinung des Buches zeigt. Es ist also recht deutlich, dass das Buch nicht als Autobiographie im eigentlichen Sinne zu lesen ist, also als ein Bericht, wo im Prinzip jede Behauptung als wörtlich wahr aufzufassen wäre. Als solches wäre das Erzählte, wenigstens zu einem großen Teil, nur deshalb interessant, weil es um einen bedeutenden Schriftsteller geht. Die Erzählung enthält eine Menge von Einzelbeobachtungen, die in einem Tatsachenbericht eher irrelevant wären, hier aber dazu dienen, die Textwelt des Erzählten aufzubauen. Es geht um eine Strategie der Fiktionaliserung oder Entkontextualisierung, die dazu dient, dem Leser die Möglichkeit zu geben, „erlebend“ zu verstehen, wie der Verfasser selbst sein Leben zu verarbeiten versucht hat. 20 - Volker Hage (2011a: 130) führt das folgende, sehr erhellende Zitat aus Gerhard Roths Roman Das Alphabeth der Zeit (2007) an: „Die Erinnerung schreibt Romane, keine dokumentarischen Wahrheiten.“ Nicht nur Autobiographien können einen stark literarischen Charakter haben, sondern auch z.B. Biographien und historiographische Texte. So schreibt Hayden White in der Zusammenfassung seiner berühmten Arbeit Metahistory (1973: 426): „Following the theory of fictions of Northrop Frye, I have identified four different archetypal plot structures by which historians can figure historical processes in their narratives as stories of a particular kind: Romance, Tragedy, Comedy, and Satire.“ Da die Gedanken Whites einflussreich gewesen sind und in diesem Zusammenhang äußerst interessant sind, folgt hier ein relativ langes Zitat aus Whites Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism, White (1985: 122): Viewed simply as verbal artifacts histories and novels are indistinguishable from one another. We cannot easily distinguish between them on formal grounds unless we approach them with specific preconceptions about the kinds of truths that each is supposed to deal in. But the aim of the writer of a novel must be the same as that of the writer of history. Both wish to provide a verbal image of „reality“. The novelist may present his notion of reality indirectly, that is to say, by figurative techniques, rather than directly, which is to say by registering a series of propositions which are supposed to correspond point by point to some extra-textual domain of occurrence or happening, as the historian claims to do. But the image of reality which the novelist thus constructs is meant to correspond in its general outline to some domain of human experience which is no less „real“ than that referred to by the <?page no="93"?> 4.1 Fiktivität 93 historian. It is not, then, a matter of a conflict between two kinds of truth […], a conflict between the truth of correspondence, on the one side, and the truth of coherence, on the other. Every history must meet standards of coherence no less than those of correspondence if it is to pass as a plausible account of „the way things really were.“ For the empiricist prejudice is attended by a conviction that „reality“ is not only perceivable but also coherent in its structure. A mere list of confirmable singular existential statements does not add up to an account of reality if there is not some coherence, logical or aesthetic, connecting them one to another. So too every fiction must pass a test of correspondence (it must be „adequate“ as an image of something beyond itself) if it is to lay claim to representing an insight into or illumination of the human experience of the world. Whether the events represented in a discourse are construed as atomic parts of a molar whole or as possible occurrences within a perceivable totality, the discourse taken in its totality as an image of some reality bears a relationship of correspondence to that of which it is an image. In these twin senses that all written discourse is cognitive in its aims and mimetic in its means. And this is true even of the most ludic and seemingly expressivist discourse, of poetry no less than of prose, and even of those forms of poetry which seem to illuminate only „writing“ itself. In this respect, history is no less a form of fiction than the novel is a form of historical representation. Wenn man in Biographien oder historischen Texten versucht, etwa die Gedanken oder Motive von Personen darzustellen, damit bestimmte Zusammenhänge erklärt werden können, geht es um (begründete) Hypothesen, d.h. in gewissem Sinne um eine Art „fiktiver“ Inhalte. Der Versuch, „Ordnung zu schaffen“, und zwar in einer faktisch eher ungeordneten Welt, führt zu einer „narrativen“ Darstellungsweise, zu kohärenten Erzählungen mit Anfang, Mitte und Ende. Was in der Darstellung von White fehlt, ist eine deutliche Unterscheidung zwischen dem Fiktiven und dem Fiktionalen. White schreibt zwar, The novelist may present his notion of reality indirectly, vgl. oben, aber er unterscheidet trotzdem nicht zwischen literarischer und nichtliterarischer Kommunikation. Der Bezug eines Textes bei literarischer Kommunikation ist eben in dem Sinne grundsätzlich „indirekt“, dass die Fiktivität inhaltlicher Elemente nicht in Frage gestellt werden kann, während dies bei nichtliterarischer Kommunikation möglich sein muss. Ein historiographischer Text, dessen „Fiktivität“ nicht beurteilt werden kann, ist wenigstens kein wissenschaftlicher Text. Carr (2002: 255) schreibt: „Of course history is a literary genre, and as such it shares many features with fiction, notably the narrative form.“ Carr (2002) polemisiert aber explizit u.a. gegen Whites Gedanken und betrachtet nicht Geschichtsschreibung als mit fiktionalem Erzählen vergleichbar. Indem er Geschichtsschreibung als eine literarische Gat- <?page no="94"?> 4 Fiktivität, Fiktionalität, Fiktionalisierung und Fingieren 94 21 Auch Fulda/ Matuschek (2009) diskutieren in ihrem Beitrag die Relationen zwischen Literatur, Philosophie und Geschichtsschreibung, aber ihr Ausgangspunkt ist auch ein ganz anderer als der hier vertretene. - Rusch (2001) diskutiert die „Wirklichkeit der Geschichte“ aus konstruktivistischer Sicht. 22 Und eigentlich noch stärker an das schon im vorigen Abschnitt angeführte Zitat aus Hustvedt (2008: 47): „It´s ironic, though, because in my book I try to talk about the way we organize perceptions into stories with beginnings, middles, and ends, how our memory fragments don´t have any coherence until they´re reimagined in words. Time is a property of language, of syntax, and tense.“ tung, literary genre betrachtet, versteht er aber nicht dasselbe, was hier unter „literarisch“ oder „literarische Kommunikation“ verstanden wird. Seine Auffassung von Fiktionalität, die nur zum Teil mit der hier vertretenen übereinzustimmen scheint, beschreibt er folgendermaßen, Carr (2002: 251): 21 The criterion for distinguishing fiction from non-fiction is thus not that the former consists largely of statements that are untrue; rather, it is that these statements are intended by the author not to be true, and not to be taken as true, and are in fact not so taken by the audience as well. Völlig kompatibel ist dagegen die folgende Behauptung von Carr (2002: 250): „In a sense, in fiction the question of truth and falsity simply doesn’t arise.“ In seinen zusammenfassenden Bemerkungen zur Relation zwischen Narrativität und Realität äußert sich Carr in einer Weise, die an das oben angeführte Zitat aus Max Frischs Gantenbein stark erinnert, Carr (2002: 253): 22 It can be argued (and I have argued at length elsewhere [Carr 1986, Kap. I- III]) that the human world manifests a concrete version of the narrative form in the very structure of action itself. The means-end structure of action is a prototype of the beginning-middle-end structure of narrative, and it can be said that human beings live their lives by formulating and acting out stories that they implicitly tell both themselves and others. Indeed, in this realm time itself is human, narratively shaped by beings who live their lives, not from moment to moment, but by remembering what was and projecting what will be. Auch können z.B. Reportagetexte zuweilen eine sogar stark literarisierende Art und Weise der Darstellung aufweisen, vgl. auch Nikula (2004a). So fängt eine politische Reportage von Leinemann (1980) in folgender Weise an: Es war einmal ein Christdemokrat. Der lebte hinter den sieben Bergen in Bonn am Rhein und glaubte noch an Märchen. Er stellte sich vor, daß man <?page no="95"?> 4.1 Fiktivität 95 den garstigen bayrischen Frosch Franz Josef Strauß nur an die Wahlkampfwand zu werfen brauche, und bratsch, wie die Brüder Grimm sagen, käme ein schöner Prinz heraus: der Kanzlerkandidat der Union. In diesem Falle geht es um intertextuelle Beziehungen zu allgemein bekannten Stereotypen literarischer Formulierungen. In einem weiteren politischen Reportagetext in Der Spiegel schreibt Leinemann (2002): Immerhin registriert der Polit-Profi fast verwundert, dass ihn Gefühle nicht zu erreichen scheinen - nicht die der anderen und schon gar nicht seine eigenen. Kein Groll, kein Schmerz, keine Trauer. Nur dass am Tag seines Ausscheidens seine Mutter 80 Jahre alt werden wird, erscheint ihm irgendwie unpassend. Das hat sie nicht verdient. Es geht in diesem Falle um einen Artikel über den Rücktritt des deutschen Verteidigungsministers Rudolf Scharping. Hier äußert sich der Autor, als ob er „allwissend“ wäre - ohne dass Rudolf Scharping ihm dies erzählt hat, kann der Autor nicht wissen, wie sich der „Polit-Profi“ fühlt. Einiges hat Scharping wohl doch erzählt, und auch hat der Verfasser Einiges ausgehend vom Benehmen Scharpings schließen können. Die Genauigkeit der Darstellung der Gefühle Scharpings ist aber nicht glaubwürdig und auch die Verwendung des Tempus Präsens gibt der Aussage einen deutlichen Charakter des Fiktiven. In einer Reportage zum Problem des „Dosenpfandes“ in Der Spiegel werden auch Gedanken und Gefühle verschiedener Personen „von Innen“ dargestellt, was höchstens auf begründete Vermutungen bauen kann und somit auch einen deutlich fiktiven Charakter hat, Smoltczyk/ Geyer (2003): Abs. 14: [..] dann laufen sie [Herr Heske, Herr Noll, Herr Sommer, Frau Köppe] auseinander, erleichtert und mit sich selbst im Reinen, […] Abs. 29: […] dann freut eine so klare oder überwiegend klare Definition den MinR Dr. Rummler im Raum 3/ 684 des Bundesumweltministeriums. Abs. 51: Er [Rost] dachte: Der mobile Mensch steckt keine Münzen mehr in Telefonzellen, […]Abs. 88: […] ihr [Merkel] Kopf ist voll mit den Problemen einer CDU-Chefin des Sommers 2003. Roland Koch hat den Machtkampf eröffnet, auch Friedrich Merz macht Ärger. Abs. 100: […] er [Trittin] ist ein Mann, der mit sich zufrieden ist. Abs. 136: Es ist nicht Hass, was - nur wenige Straßen von Doldes Stuttgarter Kanzlei entfernt - Rechtsanwalt Clemens Weidemann empfindet, wenn er auf den Bundesumweltminister angesprochen wird. Auch nicht Verachtung. Abs. 139: Er [Weidemann] hat diesen Schlag noch nicht verdaut. Warum das Ganze? Genau wie bei der Rezeption von Autobiographien oder historiographischen Texten erfordern die gerade erwähnten Spiegel-Texte keine Strate- <?page no="96"?> 4 Fiktivität, Fiktionalität, Fiktionalisierung und Fingieren 96 23 Die Abbildung der Frau dient als Hintergrund und füllt somit beinahe die ganze Seite aus. Die Frau richtet ihren Blick direkt auf den Beobachter/ Leser. gie der Fiktionalisierung (Entkontextualisierung) im eigentlichen Sinne; der Wahrheitsgehalt bestimmter Elemente ist nicht unmittelbar relevant, was der Rezipient verstehen soll, und die eventuelle Fiktivität hat eine nachvollziehbare, etwa gestaltende und/ oder unterhaltende Funktion. Geisler (2001: 1714) schreibt zur Reportage als Textsorte: Rezeptionsästhetisch mag man sich die Reportage als einen impliziten Kontrakt zwischen Autor und Leser vorstellen. Entsprechend dieser Vereinbarung verpflichtet sich der Reporter eben nicht zu objektiver Berichterstattung (dafür ist die Reportage zu subjektiv), wohl aber zu Akkuratesse in der Schilderung der als real annoncierten Fakten […] und zu Repräsentativität in der Wahl des dargestellten Wirklichkeitsausschnittes […] - Leserseitig erfüllt sich dieser Kontrakt durch die Akzeptanz der im Kern der Reportage geschilderten Fakten, trotz der unvermeidlichen Verzerrungen die sich durch jede Selektion eines Wirklichkeitsausschnitts, sowie der Gestaltung und Subjektivation des Materials ergeben. Werbetexte sind auch Beispiele von Texten, die häufig deutlich fiktive Elemente enthalten können, zuweilen sogar solche, die wenig mit den beworbenen Produkten zu tun zu haben scheinen, und auch können Teile der Werbetexte als fiktional, d.h. entkontextualisiert rezipiert werden, während der Text als Gesamtheit natürlich mit einer deutlichen Intention produziert worden ist. Der fiktional zu rezipierende Teil kann dabei als Teiltext in den ganzen Text eingebettet sein. Man könnte in solchen Fällen von einer Art „hybrider“ Kommunikation sprechen. Ein Beispiel von hybrider Kommunikation stellt eine ganzseitige Anzeige der Firma E.ON. in Der Spiegel 49/ 2011, S. 49 (E.ON. 2011a), dar. Da wird man mit einer Abbildung einer jungen Frau konfrontiert, die angeblich die folgende Mitteilung an E.ON. geschickt und die Antwort unten bekommen hat: 23 Von: Anna Kuhn An: E.ON Betreff: Energie der Zukunft Wie geht’s mit der Energie jetzt weiter? Macht mal eine klare Ansage, E.ON. Hallo Frau Kuhn, wir gestalten die Zukunft der Energie. Damit sie sauberer wird und bezahlbar bleibt. Schon heute erzeugen wir allein in Deutschland jährlich rund 8 Milliarden kWh Strom aus Wasser, Wind, Biomasse und Sonne. Das entspricht dem <?page no="97"?> 4.1 Fiktivität 97 24 Beinahe wörtlich dasselbe auch in Meyer (2010: 57f.). Bedarf von über 5 Millionen Menschen. Und wir bauen die Erneuerbaren Energien konsequent weiter aus. eon.de/ energiezukunft e.on Die meisten Leser dieser Anzeige stellen sich kaum die Frage, ob es die „wirkliche“ Frau Kuhn ist, die auf dem Bild gezeigt wird oder ob überhaupt eine derartige Korrespondenz zwischen einer Frau Kuhn und E.ON. stattgefunden hat. Auf eine Frage diesbezüglich würden wahrscheinlich die meisten Rezipienten eher eine negative Antwort geben. Das wesentliche ist aber, das diese Frage für die Rezipienten mehr oder weniger irrelevant sein dürfte, d.h. es geht um eine in diesem Sinne entkontextualisierte und somit um eine Art „literarischer“ Kommunikation, und zwar als Element einer deutlich nichtliterarischen Kommunikation. Die ganze Antwort von E.ON. kann als Antwort an Frau Kuhn gelesen werden, aber der zweite Absatz der Antwort kann gleichzeitig als an den Leser der Anzeige direkt gerichtet gedeutet werden. Dass der Text im zweiten Absatz v.a. an die Rezipienten der Anzeige gerichtet ist, deutet eine Internetanzeige von E.ON. (E.ON. 2011b) an. Hier findet man ein Bild von derselben Frau, ein wenig anders dargestellt, mit demselben Fragetext, aber nur mit dem ersten Absatz der Antwort. Dagegen gibt es hier viel weitere Information, wie auch eine Aufforderung an den Rezipienten, Fragen zu stellen: „Sie fragen, wir antworten.“ - Die Funktion der Entkontextualisierung, die auch das Bild betrifft, ist offenbar, eine persönliche, „erlebte“ Relation zum Anzeigenrezipienten hervorzurufen, was ihn veranlassen sollte, sich positiver zum Angebot von E.ON. zu verhalten. Die Fiktionalisierung durch Entkontextualisierung hat ganz offenbar hier eine persuasive Funktion, die der Stützung der Hauptfunktion (direktiv oder appellativ) des ganzen Textes dient, vgl. Abschn. 6.2.4-6.2.4.2. Meyer (2002: 411) schreibt: 24 Ein folgenreicher Fehlschluss der traditionellen Literaturgeschichte bestand darin, Poesie mit Fiktion gleichzusetzen. Dies führte zum einen zu einer Verengung des literarischen Kanons auf die klassische Gattungstrias von Drama, Epos und Lyrik, zum anderen zum Ausschluss all jener literarischer Gattungen, die diesem idealistischen Bild nicht vollends entsprachen: Essay, Aphorismus, Apophthegma, Reisebericht oder Autobiographie, um nur einige zu nennen. Erst einer empirisch, d.h. textlinguistisch und sozialgeschichtlich fundierten Literatur und Gattungstheorie gelang es, die Unangemessenheit der Gleichsetzung von Poesie und Fiktion zu demonstrieren. <?page no="98"?> 4 Fiktivität, Fiktionalität, Fiktionalisierung und Fingieren 98 25 Interessant in diesem Zusammenhang ist auch Fix (2006b) zum Thema „Grenzgänger zwischen literarischen und nichtliterarischen Texten“. 26 Was Peters (2005) betrifft, geht es offenbar um „hybride Kommunikation“. Der Artikel Smolczyk (2009) wird von der Redaktion in der Tat als Essay bezeichnet, vgl. aber Abschn. 6.2.4.1. Es ist aber schwer zu begründen, warum „Essay, Aphorismus, Apophthegma, Reisebericht oder Autobiographie“, wie Meyer (2010: 157) behauptet, generell als literarische Textsorten betrachtet werden sollten, d.h. als Textsorten, die konventionell als Mittel literarischer Kommunikation verwendet werden. 25 Eine Autobiografie enthält, wie oben gezeigt wurde, zwar zwangsläufig „fiktive“ Elemente, der Text wird aber normalerweise mit Wahrheitsansprüchen verknüpft und wird so gelesen. Dies betrifft offenbar noch deutlicher historiographische Texte. Auch rein sprachlich gesehen brauchen sich diese Texte in keiner Weise von anderen berichtenden Texten durch „poetische Sprachverwendung“ zu unterscheiden, während mit Hinweis auf eine „poetische Sprachverwendung“ die oben angeführten Reportagetexte, wie auch etwa der Reportagetext Peters (2005), Abschn. 6.2.3.3, oder der Kommentartext Smolczyk (2009), Abschn. 6.2.4.1, auch als literarisch bezeichnet werden könnten. 26 Man kann natürlich ausgehend von der Textgestaltung auch Texte, die nicht zu der „klassischen Gattungstrias von Drama, Epos und Lyrik“ (Meyer 2010: 57f.) gezählt werden können, als literarische Textsorten betrachten, wobei aber ein definierendes Merkmal der klassischen Gattungen fehlt, nämlich das der Fiktionalität. Sandberg (2011: 506) schreibt: „Problematisch wird es dort, wo mit der Gleichsetzung von Fiktion und Literatur eine Reihe von literarischen Texten als nicht-literarische Texte eingestuft werden, wenn sie nicht fiktional sind (darunter fallen beispielsweise Texte von W.G. Sebald).“ Problematisch wird es aber erst, wenn Fiktionalität mit Fiktivität gleichgesetzt wird, vgl. weiter unten. Zwar wäre es möglich, literarische Texsorten etwa als solche Textsorten zu definieren, wofür sich die Literaturwissenschaft interessiert, eine Definition, die aber keine Antwort darauf geben kann, warum sich die Literaturwissenschaft gerade für diese Texte interessiert. In ihrem Artikel „Pseudodokumentationen: Zum Verschwimmen der Grenze zwischen Realität und Fiktion in den Medien“ stellt Margrit Schreier (2011: Abschn. 1) fest: „Der historische Roman, Biographie und Autobiographie, die Reiseerzählung lassen sich sämtlich als Mischformen auffassen, die zu je unterschiedlichen Anteilen fiktive und dokumentarische Elemente enthalten.“ Sie spricht weiter von einer Variante „eines Medientrends, der sich in den vergangenen Jahren immer weiter ver- <?page no="99"?> 4.1 Fiktivität 99 27 Wenn Schreier (2011) hier von einem Kontinuum „zwischen literarischer und nonliterarischer Sprache“ spricht, ist dies durchaus mit der in der vorliegenden Arbeit vertretenen Ansicht kompatibel, wobei allerdings darauf hingewiesen muss, dass stärkt hat: des Trends zur Hybridisierung, zur Vermischung von Dokumentarischem und Fiktionalem, zum Überschreiten der Grenze zwischen Realität und Fiktion“ (Schreier 2011: Abschn. 0). Schreier (2011: Abschn. 2.1) stellt fest: Auch erweisen sich Merkmale von Literarizität oder Poetizität, wie sie im Rahmen formaler Ansätze zur Charakterisierung von Fiktionalität herangezogen werden, nicht als eindeutiges Merkmal fiktionaler Texte: Aspekte von Literarizität finden durchaus auch in anderen als fiktionalen Texten Verwendung, und fiktionale Texte insbesondere der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts sind nicht selten der Alltagssprache angenähert. Entsprechend hat sich zunehmend die Auffassung eines Kontinuums zwischen literarischer und non-literarischer Sprache durchgesetzt. In der hier verwendeten Terminologie würde nicht von „Vermischung von Dokumentarischem und Fiktionalem“ die Rede sein, sondern von Vermischung von Dokumentarischem und Fiktivem, d.h. die „Hybridisierung“ im Sinne von Schreier (2011) sollte als Ergebnis einer Vermischung vom Faktischem und Fiktivem betrachtet werden. Hier wird dagegen unter „Hybridisierung“ oder „hybrider Kommunikation“ Fälle der „Vermischung“ von literarischer und nichtliterarischer Kommunikation verstanden. Wenn bei der Rezeption etwa von „Pseudodokumentationen“ (oder Autobiographien, Reiseerzählungen, Reportagen usw.) der Rezipient Schwierigkeiten hat, zwischen Faktischem und Fiktivem zu unterscheiden, hat dies nichts damit zu tun, ob der Text literarisch oder nichtliterarisch rezipiert werden soll, denn wie schon festgestellt wurde, hat Fiktivität grundsätzlich nichts mit Literarizität zu tun. Dagegen kann deutliche Fiktivität als ein Mittel neben anderen dienen, „die der Sprecher dem Adressaten ‚an die Hand‘ gibt, um ihn dazu zu bringen und in die Lage zu versetzen, zu erschließen, in welcher Weise der Sprecher den Adressaten zu beeinflussen beabsichtigt“ (Keller (1995: 106), vgl. Abschn. 3.3), d.h. in diesem Falle nahe legt, dass der Text literarisch interpretiert werden soll. Wenn aber ein Textproduzent seinen Text absichtlich so gestaltet, dass der Rezipient glauben soll, das Fiktive sei faktisch und ihn somit zu einer nichtliterarischen Rezeption verleitet, geht es um Täuschung, um „Lüge“. - Auch kann die „Sprache“, die Formulierung, als Literarizitätssignal dienen, aber sie stellt kein unterscheidendes Kriterium literarischer Kommunikation dar, vgl. Kapitel 6. 27 <?page no="100"?> 4 Fiktivität, Fiktionalität, Fiktionalisierung und Fingieren 100 Schreier vielleicht „Sprache“ in einem etwas weiteren Sinne versteht als hier, vgl. auch Abschn. 1. 28 Vgl. Coleridge (1952[1817]: 147): „In this idea originated the plan of the Lyrical Ballads; in which it was agreed that my endeavours should be directed to persons and characters supernatural, or at least romantic; yet so as to transfer from our inward nature a human interest and a semblance of truth sufficient to procure for these shadows that willing suspension of disbelief for the moment, which constitutes poetic faith.“ 29 Bange (1986: 125ff.) unterscheidet in ähnlicher Weise zwischen „Fiktionalisierung“ als Prozess und „Fiktion“ als Ergebnis dieses Prozesses. 4.2 Fiktionalität und Fiktionalisierung In den vorangehenden Abschnitten wurde Fiktivität als ein ontologischer Begriff dargestellt. Fiktionalisierung wird dagegen hier als eine kommunikative Strategie des Textproduzenten und des Rezipienten betrachtet, die beinhaltet, dass auf bestimmte generelle Bedingungen der Kommunikation verzichtet wird, d.h. auf Bedingungen der raum-zeitlichen Festlegbarkeit bzw. auf die „Referenzialisierbarkeit“ der referenzialisierenden Ausdrücke und die „Erfülltheit der Prädikatoren an Subjektstelle und in quantifizierenden Ausdrücken“, vgl. Gabriel (1975: 14ff.). Referenzialisierende Ausdrücke müssen definitionsgemäß wenigstens eine potentielle Referenz in irgendeiner Welt haben, aber die Fiktionalisierung macht es möglich, davon abzusehen, ob diese Welt die so genannte reale oder eine andere ist. In diesem Sinne geht es also um den Verzicht einer Festlegung einer bestimmten Textwelt. Fiktionalisierung hat dabei grundsätzlich nichts mit Fiktivität zu tun, denn Fiktionalisierung bedeutet eben, dass in der Kommunikation, wenigstens „provisorisch“, davon abgesehen wird, ob die durch den Text vorausgesetzte bzw. erzählte Welt überhaupt mit irgendeiner Welt außerhalb dieser Textwelt übereinstimmt oder ob der Textinhalt mit einem Ausschnitt einer solchen vereinbar ist; es geht somit um eine Art „suspension of disbelief“ 28 . Fiktionalisierung ist eine grundlegende Voraussetzung gelungener literarischer Kommunikation, und wenn dabei die Fiktivität der Inhalte literarischer Texte natürlich sehr üblich ist, stellt sie keine grundlegende Textualitätsbedingung dar; sie kann aber selbst als Mittel zur Signalisierung der Fiktionalisierung dienen. Fiktionalität oder „Fiktion“ kann als das Ergebnis der Fiktionalisierung betrachtet werden, nicht aber die eventuelle Fiktivität. 29 Jacoby (2005: 64) schreibt: Fiktivität und Fiktionalität sind somit nicht von vornherein aneinander gebunden. Einerseits kommen fiktive Entitäten auch in nicht-fiktionalen Zusammenhängen vor, andererseits enthalten fiktionale Texte immer auch <?page no="101"?> 4.2 Fiktionalität und Fiktionalisierung 101 30 Die Abweichungen können nicht beliebig groß sein, vgl. „das Prinzip der minimalen Abweichung“, The Principle of Minimal Departure, Bange/ Hölker (1986: 189ff.). Elemente, die in bezug auf das verbindliche Wirklichkeitsmodell von Produzenten und Rezipienten als real zu gelten haben. In einzelnen Fällen können fiktionale Texte einen höheren Wirklichkeitsgrad haben als nicht-fiktionale Texte. Die Fiktionalität eines Textes wird somit nicht ausschließlich aufgrund des Vorhandenseins fiktiver Elemente bestimmt. Fiktionalität ist ein kommunikationstheoretisches Merkmal, das durch Indizierung bestimmt wird und rezeptionssteuernd wirkt. Fiktionalisierte Texte können also inhaltlich fiktiv oder nichtfiktiv sein. Grundsätzlich ist jeder Text potentiell fiktionalisierbar, d.h. fiktional interpretierbar. Dagegen kann man kaum jeden Text inhaltlich als potentiell fiktiv betrachten, davon unabhängig, ob man auch die reale Welt als ein durch das interpretierende Bewusstsein erzeugtes „Konstrukt“ und in dem Sinne als „fiktiv“ betrachtet. Die reale Welt ist diejenige Welt, die für die real gegebene gehalten wird und somit als Maßstab aller anderen Welten dient. Es muss aber dabei deutlich zwischen Textinhalt und Welt unterschieden werden. Damit ein Inhalt einem Text zugeordnet werden kann, muss irgendeine Welt vorausgesetzt werden. Fiktive Welten stellen dabei mehr oder weniger starke Abweichungen von der realen dar, wobei diese Abweichungen explizit oder implizit durch den Text selbst erzeugt werden. 30 Aber auch die reale Welt kann durch den Text mehr oder weniger explizit „erzeugt“ werden. Wenn z.B. jemand, der überhaupt nichts über Finnland weiß, den Satz Die erste Präsidentin Finnlands hieß Tarja Halonen hört, lernt er nicht nur den Namen der ersten Staatspräsidentin kennen, sondern erfährt auch als „neue Information“ durch den Text eigentlich schon Präsupponiertes, aber zugleich „erzeugtes“ Weltwissen wie etwa, dass es einen Staat wie Finnland gibt und dass dieser Staat eine Republik ist (vgl. auch Parry 1995: 31). Ausgehend von dem oben Gesagten kann zwischen faktischen, fiktiven und fiktionalen Objekten (Gegenständen, Personen, Ereignissen, Handlungen usw.) der Kommunikation unterschieden werden, wobei die fiktionalen solche sind, deren existentieller Status in der Kommunikation offen gehalten wird. <?page no="102"?> 4 Fiktivität, Fiktionalität, Fiktionalisierung und Fingieren 102 31 Vgl. Searle (1981, ix, 114, 134). Searle liefert in dieser Arbeit im Kapitel 3, „The logical status of fictional discourse“, S. 58-75, einen wichtigen Beitrag zur Theorie der Fiktionalität und somit zu einem Teilaspekt literarischer Kommunikation. Vgl. auch Nikula (1984). Zur Kritik an Searls „Als-Ob/ As-If“Theorie, vgl. etwa Reboul (1990). 32 Diese können entweder „authentische“, d.h. Belege, oder konstruierte Beispiele sein, vgl. etwa Hermanns (1988), Nikula (1986 u. 1995a). 4.3 Fingieren: „Als-ob-Kommunikation“ Es ist des Weiteren wichtig, zwischen Fingieren und Fiktionalisierung zu unterscheiden. Es ist bekanntlich relativ üblich, u.a. in Anlehnung an Arbeiten von Searle, die literarische Kommunikation als eine Art Als-ob- Kommunikation zu betrachten. 31 Dies scheint zunächst einleuchtend, da bei literarischer Kommunikation der reale Textproduzent und der reale Rezipient generell nicht mit dem „Erzähler“ und dem „Leser/ Hörer“ des fiktionalisierten Textes unmittelbar gleichgesetzt werden können, sondern Figuren der erzählten und/ oder vorausgesetzten Textwelt darstellen. Die Kommunikation zwischen dem realen Textproduzenten und dem realen Rezipienten ist aber notwendigerweise eine reale. Was die Figuren in der Textwelt betrifft, kann man kaum überhaupt von Kommunikation sprechen, während man dagegen z.B. bei der Aufführung eines Schauspiels vielleicht von einer „Als-ob-Kommunikation“, also von fingierter Kommunikation zwischen den Schauspielern sprechen könnte. Ein Beispiel einer Art „fingierter Kommunikation“ stellt die Inszenierung von Sätzen und Texten dar, die in Beispielfunktion in Wörterbüchern, Lehrbüchern und Grammatiken verwendet werden. 32 Ein Beispiel in einer Grammatik des Deutschen wie etwa den Aufforderungssatz Schließen Sie bitte die Tür! können wir als Element einer Art Als-Ob- Kommunikation deuten, d.h. als ob die Aufforderung an uns gerichtet wäre, aber wir reagieren in der realen Welt, in der wir uns befinden, natürlich nicht entsprechend dieser Aufforderung. Eine natürlichere Alternative wäre, den Satz rein metasprachlich zu deuten. Fingieren bedeutet eben, dass vorausgesetzt wird, dass die Kommunikation selbst eine fiktive ist. Es geht somit um eine Art „Rollenspiel“, um „Inszenierung“, weshalb der Begriff des Fingierens hier nicht mit dem Begriff Fingieren bei Iser (1991) gleichzusetzen ist, vgl. etwa Iser (1991: 18-23), wie auch Jacoby (2005: 59f.). <?page no="103"?> 4.4 Fiktivität: Zusammenfassung 103 4.4 Fiktivität: Zusammenfassung Fiktivität, Fiktionalität, Fiktionalisierung und Fingieren stellen Begriffe dar, die häufig bei Versuchen verwendet werden, den besonderen Charakter literarischer Texte zu erfassen. Dabei werden diese Begriffe nicht immer besonders genau definiert und/ oder sie werden in verschiedenen Arbeiten in wenigstens zum Teil verschiedener Weise verwendet. Die Fiktivität wurde hier als ein ontologischer Begriff betrachtet, während der Begriff der Fiktionalisierung als eine kommunikative Strategie der Kommunikationsteilnehmer definiert wird, auf bestimmte generelle Bedingungen der Kommunikation, wie der raum-zeitlichen Festlegbarkeit, wenigstens vorläufig zu verzichten. Dabei geht es nicht um Fingieren im Sinne von „Als-ob-Kommunikation“, denn die Kommunikation zwischen dem Textproduzenten und Rezipienten ist auch bei literarischer Kommunikation eine reale. Die Fiktionalität (Fiktion) kann als das Ergebnis der Strategie der Fiktionalisierung betrachtet werden, während keine grundsätzliche Beziehung zwischen Fiktivität und Literarizität vorliegt. <?page no="104"?> 1 Entkontextualisierung kommt natürlich auch in anderen Formen der Kunst als der Literatur vor, etwa im Film, Fernsehen, auf der Bühne oder in der bildenden Kunst, wie auch in der Musik, vgl. auch Rühling (1996: 26), wie auch unten Abschn. 6.1. 2 Kablitz (2009: 222) verwendet den Ausdruck Vergleichgültigung: „Was den literarischen Text auszeichnet, ist [...] eine Vergleichgültigung gegenüber seiner Bezeichnungsfunktion.“ Durch den Terminus Vergleichgültigung werden die Zusammenhänge aber allzu negativ ausgedrückt, während Itäläs (2002) positiverer Terminus gestalterische Entwirklichung eher die Produzentenperspektive fokussiert. 5 Fiktionalisierung als Entkontextualisierung Oben im Abschn. 4.2 wurde der Terminus Fiktionalisierung für eine kommunikative Strategie des Textproduzenten und des Rezipienten verwendet, die bei literarischen Texten angewendet wird. Dieser Terminus wurde verwendet, weil er an Termini und Begriffe anknüpft, die häufig bei der Beschreibung von Literatur vorkommen. In dieser Weise wird zwar an zentrale Begriffe früherer Forschung angeknüpft, aber eben deshalb entsteht die Gefahr des Missverstehens, und zwar v.a., weil Fiktionalisierung leicht mit dem Begriff des Fiktiven verknüpft wird. Der Begriff der Fiktionalisierung wird im Folgenden durch den Begriff der Entkontextualisierung erweitert und präzisiert, indem dieser sich nicht nur auf Texte bezieht, sondern auch auf andere Arten von Kunst. 1 Fiktionalität kann als Ergebnis der Verwendung der Strategie der Entkontextualisierung betrachtet werden, die bei literarischer Interpretation von Texten angewendet wird, indem auf Festlegung einer bestimmten Textwelt verzichtet wird. Davon ausgehend, dass „Literatur“ als eine Form von Kunst aufgefasst wird, wurde im Kapitel 3 auf den Begriff des Ästhetischen eingegangen. In diesem Kapitel wird näher die Funktion der Entkontextualisierung und der Zusammenhang zwischen Entkontextualisierung und Ästhetizität analysiert. - Wenn auf Sekundärliteratur Bezug genommen wird, ist es nicht möglich, den Terminus Fiktionalisierung ganz konsequent im hier angegebenen Sinne zu verwenden. 2 <?page no="105"?> 5.1 Entkontextualisierung als allgemeine kommunikative Strategie 105 3 Es gibt ganz offenbar hier eine deutliche Parallelität zwischen dem, was in dieser Arbeit unter den Begriffen „literarische Kommunikation“ bzw. „literarischer Textsorte“ verstanden wird, vgl. Abschn. 6.1. 5.1 Entkontextualisierung als allgemeine kommunikative Strategie Entkontextualisierung als kommunikative Strategie ist nicht nur eine Erscheinung des Kommunikationsbereichs Literatur oder der Kunst überhaupt, sondern stellt auch eine häufig vorkommende Strategie der Alltagskommunikation, auch der mündlichen, dar. Witze und Geschichten werden erzählt, deren Wahrheitswert nicht notwendigerweise in jeder Hinsicht „ernst“ genommen werden muss oder gar soll. Derartige Texte haben natürlich eine kommunikative Funktion, d.h. diese Texte werden nicht ohne Absicht produziert. Gülich (1980) unterscheidet zwischen „funktionalen“ und „nicht-funktionalen Erzählungen“, wobei die letzteren u.a. dadurch gekennzeichnet seien, dass „die Relevanzfestlegung […] nicht von einem übergeordneten Handlungsschema, sondern von der thematischen Geschichte“ erfolgt Gülich (1980: 371). Typisch für sie sei weiter „ein erkennbares Bemühen des Erzählers um die sprachliche Gestaltung“, Gülich (1980: 372), vgl. weiter auch Gülich (2008: 410f.). Gülich (1980: 375) stellt fest: Nun sollen hier keinesfalls so schwierige Fragen wie die der ‚Literarizität‘ oder der Funktionen literarischer Texte in Angriff genommen werden, aber die hier als Beispiel für nicht-funktionale Erzählungen zitierten Texte legen die Vermutung nahe, daß eine strenge Trennung zwischen alltäglichen und literarischen Erzählungen nicht möglich ist. Interessant ist auch der Beitrag Stempel (1980) zur „Alltagsfiktion“, wo gezeigt wird, wie in einer mündlichen Erzählung Fiktives mit Nicht- Fiktivem verschmolzen wird, ohne dass dies als Verstoß gegen Aufrichtigkeitsbedingungen aufgefasst wird. Gumbrecht (1980: 410) möchte unter dem Begriff „Erzählen“ eine „anthropologisch konstante Diskursform“, unter dem Begriff der „Literatur“ dagegen „eine Gruppe von Kommunikationssituationen, deren Vorkommen historisch begrenzt ist“ verstehen. 3 Gumbrecht (1980: 417) meint, die Referenzialisierbarkeit sei in der Alltagsfiktion nicht in derselben Weise „neutralisiert“ wie in der Literatur, u.a. weil referenzhaltige Passagen „Zeichen für die Identität des Sprechers“ seien. Was die Strategie der Entkontextualisierung betrifft geht es unseres Erachtens um dasselbe Phänomen sowohl in der „Alltagsfiktion“ als auch in der „literarischen“ Fiktion. Die von Gumbrecht <?page no="106"?> 5 Fiktionalisierung als Entkontextualisierung 106 4 Das „Spielerische“ kommt auch bei Tieren vor, und somit auch eine Art der „Entkontextualisierung“, vgl. etwa Eibl (2009: 279): „Die Technik des Abkoppelns von Informationen durch Metainformationen ist schon aus dem Tierreich bekannt: Die Spielaufforderung des Hundes oder des Papageis, das Spielgesicht des Schimpansen (eine Frühform des Lächelns) sind bekannte Beispiele dafür. Die Metainformation lautet da allemal: ‚Dies ist Spiel.‘“ (1980) angegebenen Unterschiede beruhen v.a. darauf, dass es um gesprochene Sprache geht, wo Textproduzent und Rezipient sich räumlichzeitlich in derselben Kommunikationssituation befinden, weshalb die Frage der „Autorintention“ viel unmittelbarer aktualisiert werden kann, als im Falle eines geschriebenen Textes. Bange schreibt in seinem Beitrag „Fiktion im Gespräch“ Folgendes, Bange (1986: 117): Die meisten Arbeiten über Fiktion, die sich im Laufe der letzten Jahre angehäuft haben, gehen davon aus, daß Fiktionalität kein spezifischer Zug literarischer Texte ist. […] Die Tatsache, dass ein Begriff wie ‚Fiktionalität‘, der ja in der Literaturtheorie einen zentralen Platz einnimmt, für die Beschreibung von Phänomenen in der Alltagskonversation fruchtbar gemacht werden kann, sehe ich als ein Indiz an, daß Literatur kein prinzipiell andersartiges Kommunikationssystem ist. Die Entkontextualiserung in der Alltagskommunikation beinhaltet häufig ein Element des deutlich „Spielerischen“, was natürlich auch in der Literatur vorkommen kann. 4 Ausgehend von der Spieltheorie Piagets, Bange (1986: 120-125), definiert Bange den Begriff der Fiktionalisierung (Entkontextualiserung) folgendermaßen, Bange (1986: 125f.): Ich bezeichne als Fiktionalisierung den komplexen Vorgang der Generierung 1) eines spielerischen Kontextes für die Kommunikation und 2) eines alternativen Interpretationsrahmens. […] Fiktionalisierung ist die Bezeichnung eines Vorgangs der Suspendierung der Selbstverständlichkeiten des Alltags und der expliziten Einführung eines markierten Kontextes, der sich vom ‚natürlichen‘ Kontext des Alltags abhebt. Der ernste Alltag hat nicht den gleichen Status wie der fiktionale Kontext. Er bleibt unmarkiert, und dies ist sowohl Folge als auch Voraussetzung der für die natürliche Einstellung charakteristischen Suspendierung des Zweifels daran, dass die Welt anders sein könnte. Diese Eigenschaft unterscheidet den natürlichen Alltagskontext vom Spielkontext, in dem die Kontextualisie- <?page no="107"?> 5.1 Entkontextualisierung als allgemeine kommunikative Strategie 107 5 In Zitaten, wo im Original gesperrt wird, wird hier kursiv verwendet. - Der Begriff „Suspendierung“ dürfte wohl durch Coleridges (1952[1817]: 147) bekannten Begriff „that willing suspension of disbelief“ angeregt worden sein. 6 Als Behauptung ohne Wahrheitswert könnte z.B. der folgende Satz betrachtet werden: „Der jetzige König von Frankreich hat keinen Thronerben.“ 7 Vgl. aber Bange (1986: 135): „Um Fiktionalität auf den Plan zu rufen, genügt es, daß ‚Aufrichtigkeit‘ als relevante Bedingung ausscheidet: z.B. in den Situationen, wo nicht rung durch Explizitmachen der Konstruktionsbedingungen wahrgenommen wird. 5 Aus der Tatsache, dass Bange (1986) sich die Fiktionalisierung (Entkontextualisierung) im Alltagsgespräch als eine Art Spiel vorstellt, wie auch, dass er von der Sprechakttheorie ausgeht, folgt in einer recht natürlichen Weise, dass er die Kommunikation in einer Weise darstellt, die eher an „fingierte“ Kommunikation erinnert, so wie sie im Abschn. 4.3 oben dargestellt wurde, vgl. weiter Bange (1986: 126): Die pragmatische Voraussetzung des Kontextwechsels besteht in einer Änderung der Kommunikationsrollen durch eine Dissoziierung von Sprecher (S1) und Sprechhandlungsträger (S2) auf der Produzentenseite und eine entsprechende Dissoziierung auf der Rezipientenseite. […] Der Sprecher handelt nach der irrealen Annahme: wenn ich nicht der wäre, der ich wirklich (sprich: alltagsweltlich) bin, dann … Es findet sozusagen eine ‚Auskupplung‘ vom Alltag statt. Der Sprecher trägt die Verantwortung nur noch für die Textkonstituierungshandlungen […]; er verwandelt sich in einen Texthersteller (einen Erzähler, einen Witzemacher), der auf die Textgestaltung achtgibt, und dies desto mehr, je eigenständiger die betreffende Interaktionsphase wird. Es scheint hier um die übliche Unterscheidung zwischen einem realen Autor und einem fiktiven Erzähler bzw. zwischen einem fiktiven und einem realen Leser zu gehen, wobei der reale Erzähler die Rolle des fiktiven Erzählers und der reale Hörer die Rolle des fiktiven Hörers „spielerisch übernehmen“. Das „Spielerische“ kann als Signal an den Hörer - es geht bei Bange (1986) eben um Gespräche - verstanden werden, sich nicht um die wörtliche Wahrheit des Gesagten allzu sehr zu kümmern. Wenn aber sowohl der reale Sprecher als auch der reale Hörer damit einverstanden sind, dass das Erzählte nicht notwendigerweise als wörtlich wahr aufzufassen ist, kann nicht behauptet werden, dass bei Entkontextualisierung gegen die Bedingung der Aufrichtigkeit verstoßen wird. Eine Äußerung kann wahr, falsch oder gar ohne Wahrheitswert sein; 6 die vierte Möglichkeit ist, dass es um Entkontextualisierung geht, wobei von den drei vorher genannten Möglichkeiten abgesehen wird. 7 <?page no="108"?> 5 Fiktionalisierung als Entkontextualisierung 108 die Wahrheit einer eigenerlebte Geschichte von Belang ist, sondern ihre geschickte Darstellung und/ oder ihre Komik.“ Im Gegensatz zu der offenbar recht engen Definition von Aufrichtigkeit bei Bange (1986) wird hier unter Aufrichtigkeit die Bemühung des Textproduzenten verstanden, den oder die Rezipienten nicht zu täuschen. 8 Brechts Begriff des Verfremdungseffekts (V-Effekt, Entfremdung) in seiner Theorie des epischen Theaters ist nicht mit dem Begriff der Entkontextualisierung gleichzusetzen. Es geht bei Brecht eher um den im gewissen Sinne umgekehrten Prozess der Rekontextualisierung. Die Rekontextualisierung bedeutet also, dass das ästhetisch Erlebte auf die Wirklichkeit, wo sich der Rezipient befindet, bezogen wird, vgl. etwa Brecht (1964: 74-89), wie auch unten Abschn. 5.1.3 u. 6.2.5. Bei literarischer Kommunikation kann die Vorstellung eines fiktiven Erzählers und eines fiktiven Hörers durch den Rezipienten leicht evoziert werden. In diesen Fällen geht es aber nicht um Kommunikation im eigentlichen Sinne, denn Vorstellungen können natürlich nicht kommunizieren. Kommunikation kann nur zwischen einem realen Textproduzenten und einem realen Rezipienten stattfinden. Alles, was sonst „dazwischengeschaltet“ wird, stellt nur Ergebnisse des interpretativen Prozesses selbst dar. Wenn der Textproduzent nicht den oder die intendierten Rezipienten kennt, kann er sich eine Vorstellung von diesem oder diesen machen, aber Kommunikation entsteht erst, wenn ein realer Leser den von einem realen Autor geschriebenen Text rezipiert. In ähnlicher Weise kann sich der Rezipient Vorstellungen über den Textproduzenten machen, aber ein Kommunikationspartner kann diese Vorstellung nicht sein, sondern nur der reale Textproduzent, auch wenn dieser bei der tatsächlichen Rezeption durch einen realen Leser schon lange tot ist. Das hier Gesagte betrifft natürlich nicht nur literarische, sondern auch nichtliterarische Kommunikation. Der wesentlichste Unterschied zwischen dem Begriff der Fiktionalisierung bei Bange (1986) und dem hier verwendeten Begriff der Entkontextualisierung scheint zu sein, dass Banges Begriff der Fiktionalisierung nicht als Mittel der Ästhetisierung (wenigstens nicht explizit) bezeichnet wird, vgl. unten Abschn. 5.2. 8 5.1.1 Entkontextualisierung und Modalität Dietrich (1992: 27) schreibt: „Das Fiktive gerät zuweilen in das Feld des Modalen, weil es auch als Gegensatz zum Faktischen gesehen werden kann.“ Dietrich (1992: 27-29) ist der Meinung, dass die Fiktionalität (das Fiktive, die Fiktion) nicht als Kategorie der Modalität betrachtet werden sollte, aber die Tatsache, dass Stellung genommen werden muss, zeigt, <?page no="109"?> 5.1 Entkontextualisierung als allgemeine kommunikative Strategie 109 9 Schmidt, S. J. (1972: 71) schreibt: „Aus dem Gesagten folgt, daß Fiktionalität keine Kategorie der Texttiefenstruktur ist (wie Possibilität, Probabilität, etc. [...]), sondern eine Kategorie, die Texte in einem Kommunikationssystem situiert und damit die Einstellung der Rezipienten steuert.“ dass wenigstens eine Affinität oder ein unklarer Grenzbereich vorliegen könnte, vgl. weiter auch Nikula (2000b). 9 Eine gewisse Ähnlichkeit scheint in der Tat, wenigstens oberflächlich gesehen, zwischen der Fiktionalität als Ergebnis von Entkontextualisierung und der Modalität der irrealen Konditionalität vorliegen zu können, d.h. in dem Sinne, dass der „fiktionale“ Text hätte wahr sein können, wenn die „fiktive“ Welt mit der realen Welt übereinstimmen würde, vgl. Bange/ Hölker (1986: 185-193), wie auch Bange (1986). Bange/ Hölker (1986: 188) schlagen in der Tat einen den Operatoren der Modallogiken ähnlichen „Fiktionalitätsoperator“ vor: […] ‚in der Fiktion F, p‘, oder ‚FIC (p)‘, wobei ‚FIC‘ den ansonsten impliziten Fiktionalitätsoperator darstellt. Es ist ein solcher Satz, der wahr oder falsch ist. Z.B. ‚Es ist wahr, daß in den Geschichten über Sherlock Holmes, die Conan Doyle geschrieben hat, jener in der Baker Street wohnt‘. Der Ausdruck ‚in den Geschichten über Sherlock Holmes, die Conan Doyle geschrieben hat‘ kann implizit bleiben, spielt aber in allen Fällen die Rolle eines Modaloperators, der die jeweilige Proposition in seinem Skopus einer Wahrheitszuweisung relativ zur realen Welt enthebt. Der Ausdruck „in den Geschichten über Sherlock Holmes, die Conan Doyle geschrieben hat“ - und somit auch der „Fiktionalitätsoperator FIC“ - ist aber eher als ein metasprachlicher oder metatextueller Ausdruck zu betrachten, der in Bezug auf den vorliegenden Text wahr oder falsch sein kann, der aber nichts mit der Interpretation der Geschichten über Sherlock Holmes in der tatsächlichen literarischen Kommunikation zu tun hat. Die Fiktionalität könnte vielleicht als Ergebnis der Anwendung eines „Fiktionalitätstoperators“ betrachtet werden, „der die jeweilige Proposition in seinem Skopus einer Wahrheitszuweisung relativ zur realen Welt enthebt“, aber dann höchstens in dem Sinne, dass die Frage der Wahrheit irrelevant wird, genau wie die Frage bezüglich der Grenze zwischen dem Fiktiven und Nicht-Fiktiven und somit auch zwischen dem Realen und Irrealen. In der Tat ist aber ein Satz wie „Es ist wahr, daß in den Geschichten über Sherlock Holmes, die Conan Doyle geschrieben hat, jener in der Baker Street wohnt“ (vgl. Zitat oben, Bange/ Hölker 1986: 188) eher sinnlos, wenn er nicht metatextuell verstanden wird. Die fiktionalisierte Welt ist so, wie sie dargestellt worden ist, und weil diese Welt <?page no="110"?> 5 Fiktionalisierung als Entkontextualisierung 110 10 Von Doderer (1987: 175). Interessant im Zusammenhang der Fiktionalität ist die Tatsache, dass die Erzählung des Rittmeisters von U. mit den biographischen Angaben im Sammelband (S. 437) über von Doderer selbst übereinstimmt. durch die Entkontextualisierung von der Darstellung abhängig gemacht wird, kann die Darstellung selbst weder falsch noch wahr sein, höchstens inkohärent oder kohärent; nur metasprachliche Aussagen über sie können einen Wahrheitswert besitzen. Wenn die Fiktionalität bei literarischer Kommunikation als eine Modalität betrachtet würde, würde sie sich von anderen Typen der Modalität u.a. dadurch unterscheiden, dass sie ganze Texte betrifft, die in größere Texte eingebettet sein können. Die Fiktionalität wird auch nicht durch ganz bestimmte sprachliche Mittel signalisiert, sondern nur in sehr verschiedener Weise eher angedeutet. Da es zudem vor allem um Strategien der Interpretation geht, ist die Fiktionalität eher als eine pragmatische, als eine ausschließlich semantische Dimension der Sprache zu betrachten, d.h. wenn Modalität als eine semantische Dimension betrachtet wird, kann Fiktionalität als Ergebnis einer kommunikativen Strategie der Entkontextualisierung nicht als Modalität klassifiziert werden. Es ist üblich, zwischen Autor, fiktivem Erzähler, fiktivem Leser und Rezipienten zu unterscheiden. Die Notwendigkeit einer derartigen Unterscheidung wird besonders deutlich bei der Analyse von literarischen Texten in Ich-Form. Wenn der Autor mit dem Ich-Erzähler für identisch gehalten würde, kann das Erzählte nicht entkontextualisiert interpretiert werden. Wenn aber der Autor den Text eines fiktiven, oder eher fiktionalen Erzählers wiedergibt, geht es im Prinzip um ein Zitat. Es geht dabei immer um ein direktes Zitat, und zwar auch, wenn der Autor wie z.B. Heimito von Doderer seine Erzählung „Feldbegräbnis einer Liebe“ in folgender Weise anfängt: Die folgende kleine Begebenheit erzählte mir einmal mein Schwadronschef, und ich darf wohl sagen auch Freund und Kamerad, der Rittmeister Freiherr von U., der sie 1916 in Nordfrankreich erlebt hat. Er war damals - für immer hatte der Reiterkrieg geendet! - Kommandant einer Maschinengewehrkompanie […]. 10 Der Ich-Erzähler der Erzählung zitiert selbst den weiteren Erzähler, d.h. den Freiherrn von U., und zwar indirekt, was auch durch die Textstruktur deutlich zum Ausdruck kommt. Der Text des fiktionalen Ich-Erzählers wird aber durch den Autor direkt angeführt, denn es gibt überhaupt keine andere Möglichkeit, da ein indirektes Zitat einen Text voraussetzen <?page no="111"?> 5.1 Entkontextualisierung als allgemeine kommunikative Strategie 111 würde, der paraphrasiert wird und sich somit von dem durch den Autor erzählten unterscheidet. Durch die Einführung verschiedener Erzählerschichten, wie in diesem Fall, kann aber innerhalb der erzählten Textwelt indirekt zitiert werden. Auch der Begriff der „Evidentialität“ ist in diesem Zusammenhang interessant, d.h. welche Evidenz ein Autor oder Erzähler für das hat, was er behauptet, vgl. etwa Helin (2004), Whitt (2010). Es kann darum gehen, dass jemand jemandem etwas erzählt hat, wie im Doderer-Zitat oben, oder man kann etwas z.B. gehört oder gesehen haben, was durch ein Perzeptionsverb ausgedrückt werden kann. Wie sollen aber eigentlich Fälle beurteilt werden, wo ein literarischer Text in der Ich-Form erzählt wird? Betrachten wir das folgende Beispiel aus dem Roman Daniel Kehlmanns Ich und Kaminski, Kehlmann (2004: 113f.): „Schon gut“, sagte sie und begann ihre Stiefel anzuziehen. Aufmerksam sah ich das Leder über ihre Knie streichen, für einen Augenblick entblößten sich ihre Schlüsselbeine, das rote Haar fiel ihr weich in den Nacken. Da das Erzähler-Ich hier nicht unmittelbar mit dem Verfasser des Textes gleichgesetzt werden kann, kann das Verb sah höchstens in der Kommunikation zwischen einem fiktiven Erzähler und einem fiktiven Leser eine Art evidentieller Funktion erfüllen, nicht aber im Rahmen der Kommunikation zwischen realem Autor und realem Leser. Dies betrifft natürlich auch das Verb erzählte im Doderer-Zitat oben. Bei literarischer Kommunikation kann es wegen der Entkontextualisierung nicht darum gehen, dass der Textproduzent in derselben Weise das Selbsterlebte oder etwa das, was ihm mitgeteilt worden sei, als Evidenz für die „Wahrheit“ des Gesagten präsentiert. Der Rezipient kann nur versuchen, eine „Evidenz“ in der erlebten Welt zu finden, und zwar ausgehend von dem „Angebot“, das ihm der Textproduzent macht, vgl. Abschn. 5.1.3 unten. Eine „Evidentialität“ scheint bei literarischer Kommunikation erst dadurch entstehen zu können, dass der Rezipient den Text etwa als „stimmig“ oder „überzeugend“ erlebt. Wichtig dabei dürfte das im Abschn. 4.1.1 angesprochene „principle of minimal departure“ sein. Oben wurde die Beziehung der Fiktionalität zur Modalität von irrealen Konditionalen angesprochen. Auch die Auffassung von literarischen Texten als „Zitaten“ impliziert eine Modalität, die mit der Modalität sogenannter „Heckenausdrücke“ vergleichbar ist. Ein Textproduzent ist generell nur für die Übereinstimmung eines Zitats mit dem Original, verantwortlich, nicht für den Inhalt dieses Zitats. Ein literarischer Text könnte als ein Zitat eines Textes von einem fiktionalen Erzähler aufgefasst werden, wobei der reale Autor also nur für die richtige „Wieder- <?page no="112"?> 5 Fiktionalisierung als Entkontextualisierung 112 11 Vgl. Markkanen (1989: 143): „ [...] hedging is a strategy used by a speaker/ writer to avoid taking full responsibility of the truth-value of the propositions he/ she is expressing; it is in other words a face-saving strategy. Hedges, then, are the actual verbal or non-verbal realizations of this strategy.“ 12 Zur Theorie des Zitats vgl. Brendel/ Meibauer/ Steinbach (2007). gabe“ des literarischen Textes verantwortlich wäre, nicht aber für dessen Inhalt. Wenn jemand ihn etwa der Verleumdung bezichtigen würde, kann er sich trotzdem nicht dadurch verteidigen, dass es um „Literatur“ geht, denn er wäre jedenfalls dafür verantwortlich, dass er etwas „Unpassendes“ „zitiert“ hat. Der Versuch, sich hinter einem fiktionalen Erzähler zu verstecken, könnte mit der Verwendung von Heckenausdrücken (hedges) wie gewissermaßen, sogenannt, sozusagen und damit verknüpften Strategien der Vorsichtigkeit und Höflichkeit bei nichtliterarischer Kommunikation verglichen werden, d.h. es würde um eine Strategie gehen, die man in der Linguistik Hedging zu nennen pflegt. 11 In z.B. wissenschaftlichen Texten dienen nicht selten Zitate von Autoritäten als „Hekken“, hinter denen der Autor Schutz suchen kann. 12 Die harte Kritik von Georg Diez an Günter Grass’ Israel-kritischem Gedicht „Was gesagt werden muss“ (Grass 2012) zeigt eben, dass die Wahl literarischer Kommunikation in der Tat als eine Strategie der Vorsichtigkeit im genannten Sinne, also als Hedging aufgefasst werden könnte, Diez (2012: 117): Das würde Grass natürlich nie direkt sagen, er hat ja auch mit Bedacht und aus Feigheit die Form des Gedichts gewählt und keinen Essay geschrieben, in dem er argumentieren müsste - so kann er immer sagen, Entschuldigung, aber das hat Verse, die sich zwar nicht reimen, aber doch Kunst sind. 5.1.2 De dicto vs. de re Wenn also die literarische Kommunikation nicht als fingierte Als-ob- Kommunikation beschrieben werden kann, vgl. Absch. 4.3 oben, muss versucht werden, literarische Kommunikation in anderer Weise zu erklären. Skalin (1991) versucht, das Problem durch den Verzicht auf die Annahme einer „fiktiven Welt“ zu lösen. Stattdessen nimmt er an, dass der literarische Text weltunabhängig einen „komplexen Begriff“ darstellt, der nur „von außen“ holistisch betrachtet und interpretiert werden kann, und zwar als Realisierung einer Gattung. Auch wenn der Ansatz von Skalin (1991) interessant ist, scheint sein Begriff des komplexen Begriffs und v.a. sein Verzicht auf den Begriff „Welt“ problematisch zu sein, u.a. deshalb, weil ein Begriff eine Exten- <?page no="113"?> 5.1 Entkontextualisierung als allgemeine kommunikative Strategie 113 sion in irgendeiner Welt haben muss. Die Entkontextualisierung in dem Sinne, wie sie hier verstanden wird, bedeutet aber auch, dass der Inhalt des literarischen Textes in gewissem Sinne als eine geschlossene Welt betrachtet werden kann - „Geschlossenheit“ scheint in der Tat auch der grundlegende Gedanke Skalins zu sein, wenn er das Konzept des komplexen Begriffs einführt. Die Entkontextualisierung bedeutet, dass Textinhalt und Textwelt zunächst nur von der Sprache unmittelbar abhängig sind, d.h. von derjenigen Textstruktur, die diesen Inhalt und diese Welt erzeugt bzw. voraussetzt. Mittelbar sind natürlich Textinhalt und Textwelt immer auch von der realen Welt abhängig. Erstens werden die Bedeutungen der sprachlichen Zeichen durch den Bezug auf die reale Welt aufgebaut, zweitens entsteht die Textwelt nicht von selbst, sondern durch die Interpretation eines Menschen, der in der realen Welt lebt und der bei seiner Interpretation des Textes seine Kenntnisse der realen Welt verwendet, auch wenn er den Textinhalt oder den „komplexen Begriff“ „von außen“ aus einer „externen Perspektive“ betrachtet (vgl. Skalin 1991: 144). Auch der Begriff der „externen Perspektive“ scheint ein wenig problematisch zu sein, da er doch eine eher „metatextuelle“ Verhaltensweise suggeriert, d.h. etwa die Perspektive eines Literatur- oder Sprachwissenschaftlers, nicht aber die eines Rezipienten bei „normaler“ literarischer Kommunikation; es würde also wenigstens kaum um ein erlebendes Verstehen gehen, vgl. Abschn 3.3. Eine Folge der „Geschlossenheit“ ist, dass der Rezipient nicht davon ausgehen kann, dass der literarische Text etwa einen Bericht über etwas in der realen Welt darstellt. Skalin (1991: 76, 85, 143) hebt hervor, dass die Interpretation eines literarischen Texts de dicto, nicht de re geschieht. De dicto bedeutet in diesem Fall nicht, dass die Interpretation metasprachlich ist, sondern dass sie den Inhalt als solchen, die Intension, den „komplexen Begriff“ betrifft, vor allem aber nicht die eventuell denkbare Extension in der realen Welt. Man könnte vielleicht sagen, dass die Entkontextualisierung als Mittel literarischer Interpretation einen referentiell „opaken“ Kontext erzeugt, ungefähr in derselben Weise wie z.B. das Verb wissen. Die Ausdrücke (a) Er weiß, dass Kristina in der ältesten Stadt Finnlands wohnt und (b) Er weiß, dass Kristina in Turku wohnt haben ja nicht dieselben Wahrheitswerte in allen „möglichen Welten“ und sind deshalb auch keine austauschbaren Varianten, auch wenn die älteste Stadt Finnlands und Turku dieselbe Extension in der realen Welt haben und die Nebensätze selbst deshalb in jedem realweltlichen Kontext de re wahr sind. Bei einer Interpretation der Nebensätze de dicto ist also (a) nicht durch (b) ohne weiteres ersetzbar, d.h. man kann natürlich wissen, dass jemand in der ältesten Stadt Finnlands wohnt, ohne zu wissen, dass diese <?page no="114"?> 5 Fiktionalisierung als Entkontextualisierung 114 13 Vgl. auch Nikula (1984: 89f.) sowie die Unterscheidung referential (de re) und attributive (de dicto) in Searle (1981: 137ff.); vgl. weiter etwa Lyons (1981: 226 ff.) und von Stechow (1988). Stadt Turku und nicht etwa Helsinki heißt. 13 Opake Kontexte werden typischerweise durch faktive und nicht-faktive epistemische Verben wie wissen, verstehen, einsehen, glauben, vermuten usw. generiert, d.h. durch Verben, die Relationen zu Wissensbereichen und Wahrheitswerten angeben, aber auch durch andere satzeinbettende Verben. Vor allem die verba dicendi und ähnliche Verben wie etwa sagen, fragen, behaupten, erzählen usw. sind in diesem Zusammenhang besonders interessant sind, da bei diesen „texterzeugenden“ Verben die Lesart de dicto die bevorzugte sein dürfte, vgl. auch von Stechow (1988: 40ff.). Eine Interpretation de dicto hat u.a. zur Folge, dass der Textinhalt als erzählerabhängig vorgestellt wird, wobei die Sprache selbst fokussiert wird. 5.1.3 Der literarische Text als „Angebot“ Texte werden zuweilen als „Angebote“ an Rezipienten betrachtet. So schreibt z.B. Schlieben-Lange (1975: 194): „Jede sprachliche Äußerung enthält implizit ein Interpretationsangebot.“ Der Begriff „Angebot“ scheint dabei ein wenig zu weit gefasst zu werden, denn wenigstens wenn das durch einen nichtliterarischen Text repräsentierte „Angebot“ nicht akzeptiert wird, kann dies leicht mehr oder weniger unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen, bei bestimmten Textsorten kann es um Sanktionen verschiedener Art, sogar um Strafen gehen. Andererseits ist deutlich, dass es auch nichtliterarische Texte gibt, die nicht rezipiert werden müssen bzw. in verschiedener Weise verstanden werden können. Heinemann/ Vieweger (1991: 263) schreiben: Die Ziele der Textproduzenten sind aber keineswegs immer identisch mit denen der Adressaten; daher hängt der kommunikative Prozess entscheidend auch von all dem ab, was der Rezipient an Interessen, Wünschen, Einstellungen in das Kommunikationsereignis einbringt. Diese psychischen Dispositionen und Haltungen aber bestimmen nicht nur sein Reagieren auf das Textangebot des Schreibers und damit das (vorläufige) Ergebnis eines Kommunikationsaktes, sondern sind zugleich determinierende Faktoren für die Aufnahme des Textes durch den Leser, für das Textverständnis selbst. Die meisten geschriebenen Texte brauchen natürlich überhaupt nicht gelesen zu werden, und wenn ein Text nicht gelesen wird, braucht dies <?page no="115"?> 5.1 Entkontextualisierung als allgemeine kommunikative Strategie 115 14 Vgl. auch Poulsen (1980: 60): „In bezug auf sich selbst brachte Lenz dieses Verhältnis auf eine ganz kurze Formel: ‚Was ich schreibe, ist ein subjektives Angebot an subjektive Aufnahmemöglichkeiten.‘“ [Bei einem vom Goetheinstitut veranstalteten Seminar im März 1979]. nicht generell als ein Misslingen der Kommunikationshandlung betrachtet zu werden. Kaum erwartet z.B. ein Verfasser eines Zeitungsartikels, dass sämtliche Leser der Zeitung gerade diesen Artikel lesen werden. Wenn aber ein Zeitungsleser den Artikel in der gegebenen Kommunikationssituation liest und anders versteht als er gemeint war, ist die kommunikative Handlung nicht erfolgreich, und wenn dieser Leser nicht entsprechend den Intentionen des Verfassers reagiert, misslingt die ganze Kommunikationshandlung, vgl. oben Abschn. 3.3. - Wenn sich die kommunikative Situation mit der Zeit verändert, etwa wenn eine Anzeige nach einiger Zeit nicht mehr aktuell ist, geht es kaum mehr um ein „Textangebot“. Wenn der Leser die Anzeige jetzt in der Weise versteht, wie sie in der Ausgangssituation verstanden werden sollte, kann zwar gesagt werden, dass die kommunikative Handlung erfolgreich war, aber die Kommunikationshandlung kann dabei aus natürlichen Gründen nicht erfolgreich sein. Auch wenn ein nichtintendierter Leser die Anzeige als ein interessantes historisches Dokument rezipiert, kann weder von Erfolg noch von Misslingen der Kommunikationshandlung die Rede sein, da die ursprüngliche kommunikative Situation nicht mehr vorliegt. Literarische Texte sind offensichtlich „robuster“, da sie wegen der Entkontextualisierung nicht in derselben Weise situationsgebunden sind. Die Beschreibung von literarischen Texten als Angeboten scheint wegen der Unmöglichkeit der Festlegung der Autorintention, vgl. Abschn. 3.3 oben, etwas natürlicher zu sein als bei der Beschreibung nichtliterarischer Texte. Einige Schriftsteller haben sich zu diesem Thema geäußert. So drückt sich Siegfried Lenz in einem Interview folgendermaßen aus, vgl. Lenz (2003): 14 Das ist mein Standpunkt. Ich habe immer geglaubt, dass Bücher Angebote sind, die wir dem Leser machen. Er muss sich selbst entscheiden, er kann sich das nehmen, was sich auf ihn bezieht - oder auch nicht. Wie er will. Er kann das Buch auch zurückweisen. Florian Illies (2003: 150) sagt in einem Interview: Aber wichtig war, dass meine Beobachtungen nie mehr als ein Angebot waren: Kein Leser wurde gezwungen, sich mit der Privatsicht des Autors Florian Illies zu beschäftigen, die da vor drei Jahren in einem kleinen Berliner Verlag verbreitet wurde. <?page no="116"?> 5 Fiktionalisierung als Entkontextualisierung 116 15 Hervorhebung im Original durch Unterstreichung, hier kursiv. Zur „konnotativen Potenz“, vgl. Viehweger (1977: 100ff.). 16 Fix (1998a: 170) meint, „daß Texte auf dem Papier lediglich Angebote, potentielle Sinngebungen sind, die Texte im Kopf jedoch einen realen Sinn zugesprochen bekommen“. Und H.C. Artmann (1986: 14) schreibt: „Eine eindeutige antwort soll nicht gegeben werden, weil sprache festlegt; jeder leser mag jedoch für sich herausfinden, was diese texte ihm persönlich an möglichkeiten anbieten.“ Auch in der Sprach- und Literaturwissenschaft werden ästhetische oder literarische Texte häufig als Angebote irgendeiner Art bezeichnet. Schmidt, S.J. (1971: 11) drückt sich somit über das Ästhetische in folgender Weise aus: Nach diesen Voraussetzungen steht zu vermuten, daß das Ästhetische, soll es ein überindividueller und dabei intrasubjektiv wahrnehmbarer und dabei wieder zeitüberlegener Faktor eines Wahrnehmungsangebots (und damit ein mögliches Objekt wissenschaftlicher Deskription) sein, ein Signifikat von Struktureigenschaften bestimmter Gegenstände in Kommunikationsprozessen sein muß, deren Wahrnehmung und semantische Interpretation von einer bestimmten Forschungsperspektive beziehungsweise Decodierungsart auf Seiten des Rezipienten abhängt. Lerchner (1983: 271) schreibt zum künstlerischen Text: „Die Mitteilung enthält demnach ein Funktionspotential - ein ‚Interpretationsangebot‘ (S CHLIEBEN -L ANGE 1975. 194) […] Dieses Funktionspotential wird in Anlehnung an VIEHWEGER und Kollektiv (1977) / konnotative Textpotenz/ genannt […]“ 15 Und Fix (2007: 327) schreibt: 16 Dass im literarischen Text ein Meinen in dem Sinne der unfehlbar zu entdekkenden Autorintention und Autorbotschaft nicht zu finden ist, wohl aber ein (vielfältiges) Sinnangebot, welches zu erschließen die Aufgabe sein muss, verweist auf die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen ‚Verstehen‘ und ‚Interpretieren‘. Und in ihrem Beitrag „Aktuelle linguistische Textbegriffe und der literarische Text“ schreibt Fix (2009: 112): Dass im literarischen Text Meinen im Sinne der unfehlbar zu entdeckenden Autorintention und Autorbotschaft nicht zu finden ist, wohl aber ein (vielfältiges) Sinnangebot, welches zu erschließen ein Anreiz für den Rezipienten ist, lässt sich mit dem Textsemantischen Ansatz der Textlinguistik, wie er hier angedeutet wurde, durchaus schon erkennen. <?page no="117"?> 5.1 Entkontextualisierung als allgemeine kommunikative Strategie 117 17 Hermanns (2006: 268) fügt als Fn. 10 hinzu: „Dieser Terminus in Anlehnung an einen wichtigen Begriff von Fix (2003, S. 82): Bedeutungsangebote. Ihn ergänzend könnte man auch von Sinnangeboten sprechen.“ (Vgl. Fix (2003b) im Literaturverzeichnis.) Hermanns (2006: 268) wiederum verwendet den Terminus Erlebnisangebot davon ausgehend, dass der Sinn literarischer Texte darin liege, dass sie Erlebnisse vermitteln oder ermöglichen: „Der Sinn also von nicht-pragmatischen Texten, von literarischen Texten. Solche Texte sind, so meine ich, Erlebnisangebote.“ 17 Wenn man Texte als „Angebote“ betrachtet, ist es wichtig, Aspekte des Anbietens zu unterscheiden: A) ‚das Anbieten als Handlung‘: ‚jemand bietet jemandem etwas an‘ B) ‚das Etwas, was jemand anbietet‘ Unter den obigen Zitaten scheinen Heinemann/ Viehweger (1991) stärker den Aspekt A) zu betonen, während es bei Fix (2003a) vor allem um den Aspekt B) zu gehen scheint. Was die übrigen angeführten Zitate betrifft, scheint wenigstens bei den Schriftstellern der Aspekt B) stärker betont zu sein. Dies kommt in einer interessanten Weise im Zitat aus Lenz (2003) zum Ausdruck, denn er geht von dem Aspekt A) aus, überlässt es aber dann dem Leser, eine Wahl bezüglich der angebotenen Möglichkeiten zu treffen: „Er muss sich selbst entscheiden, er kann sich das nehmen, was sich auf ihn bezieht - oder auch nicht. Wie er will. Er kann das Buch auch zurückweisen“, vgl. oben. „Das Etwas“ als Angebot im literarischen Text würde also aus einer Vielfalt von Möglichkeiten bestehen, vgl. oben Artmann (1986), „was diese texte ihm persönlich an möglichkeiten anbieten“, Lerchner (1983), „ein Funktionspotential - ein ‚Interpretationsangebot? “, Fix (2007), „ein (vielfältiges) Sinnangebot“, Hermanns (2006), „Erlebnisangebote“. Diese „Offenheit“ liegt nicht bei nichtliterarischer Kommunikation vor, da „das angebotene Etwas“ durch die Autorintention festgelegt wird. Was kann es aber bedeuten, dass man als Rezipient bei literarischer Kommunikation das Angebot an Interpretationsmöglichkeiten annimmt? Es könnte z.B. bedeuten, dass jemand Thomas Manns Buddenbrooks als einen spannenden und unterhaltenden Gesellschaftsroman erlebt und genießt. Es kann weiter bedeuten, dass der Leser den Inhalt dieses Romans rekontextualisiert, indem er ihn auf seine eigenen Erfahrungen und/ oder auf die Verhältnisse in der derzeitigen Gesellschaft bezieht und <?page no="118"?> 5 Fiktionalisierung als Entkontextualisierung 118 18 Der Begriff der „Rekontextualisierung wird v.a. im Abschn. 6.2.5 wichtig sein. Für die Beziehung zwischen literarischem Text und Wirklichkeitsmodell vgl. Jacoby (2005: 64), Heinemann/ Viehweger (1991: 153), Nyholm (1988). 19 Und vielleicht auch mit einer Beschreibung nichtliterarischer Kommunikation als durch die Autorintention „festgelegtes Angebot“ oder „Offerte“. so möglicherweise neue Erkenntnisse erzielt, indem sein Wirklichkeitsmodell betroffen wird. 18 Im Abschn. 3.3 wurden in Anlehnung an Breuer, U. (2002a, 2002b u. 2003) nichtliterarische Texte (d.h. Texte in nichtliterarischer Kommunikation) als handlungsbetont charakterisiert, während literarische Texte (d.h. Texte in literarischer Kommunikation) als interpretationsbedürftig und in diesem Sinne als kommunikationsbetont aufgefasst werden. Diese Auffassung ist deutlich mit der Beschreibung literarischer Kommunikation als „offenes Angebot“ vereinbar. 19 Es scheint zunächst nahe zu liegen, „Interpretationsbedürftigkeit“ als definierendes Merkmal literarischer Textsorten zu betrachten. Die Interpretationsbedürftigkeit ist aber ganz deutlich eine Erscheinung der Kommunikation, nicht ein inhärentes Merkmal von Textsorten, da es letzten Endes eine Frage des kommunikativen Kontexts ist, ob ein Textexemplar literarisch oder nichtliterarisch rezipiert wird. Dagegen könnten literarische Textsorten als solche Klassen von Texten betrachtet werden, die typischerweise eine literarische Interpretation (Entkontextualisierung) stark nahe legen oder gar mehr oder weniger stark erzwingen, damit eine sinnvolle Rezeption ermöglicht wird, vgl. auch Abschn. 4.1.1, 4.1.2, 6.2.3.1. 5.1.4 Die Janusartigkeit der Fiktionalisierung durch Entkontextualisierung Was hier oben im Kapitel 5 schon angeführt worden ist, dürfte deutlich gemacht haben, dass die Strategie der Fiktionalisierung durch Entkontextualisierung die Unterscheidung zwischen literarischen und nichtliterarischen Texten eine Frage der Rezeption wird. Ein Text wird entweder literarisch oder nichtliterarisch rezipiert, wobei es auch vorkommen kann, dass derselbe Text alternativ literarisch oder nichtliterarisch, in bestimmten Fällen sogar gleichzeitig literarisch und nichtliterarisch rezipiert werden kann. Man könnte von einer Janusartigkeit oder Vexierbildhaftigkeit des Literarischen sprechen. <?page no="119"?> 5.1 Entkontextualisierung als allgemeine kommunikative Strategie 119 20 Und somit Sprecher der Jury, die den Nobelpreis für Literatur vergibt. 21 Englund (2008), 632 S. - Das schwedische emotionsbezeichnende Wort sorg drückt eigentlich eher Trauer, sogar tiefe Trauer aus, weshalb Kummer in dem Sinne keine ganz gute Übersetzung von sorg zu sein scheint. Leid oder Schmerz wären vielleicht adäquatere Übersetzungen. Das Buch ist 2011 mit dem Titel Schönheit und Schrecken. Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen in deutscher Übersetzung von Wolfgang Butt erschienen, vgl. Englund (2011), wie auch Beyer (2011). Ein Beispiel: Der schwedische Historiker und ab 2009 „Ständige Sekretär“ der Schwedischen Akademie 20 Peter Englund veröffentlichte 2008 ein Buch mit dem Titel Stridens skönhet och sorg. Första världskriget i 212 korta kapitel. („Schönheit und Kummer des Kampfes. Der Erste Weltkrieg in 212 kurzen Kapiteln“ [Titelübers. Steinfeld (2009)]). 21 Steinfeld (2009) schreibt: „Peter Englund verfolgt darin, beginnend am 4. August 1914 und endend am 13. November 1918, die Geschehnisse im Leben von neunzehn mehr oder minder unbedeutenden Menschen in Gestalt von kleinen, gegeneinander geschnittenen Erzählstücken.“ Diese „Erzählstücke“ basieren auf mehr oder weniger stark bearbeiteten Briefen, Tagebüchern und Selbstbiographien von 19 verschiedenen Personen und sind durch Kommentare Englunds ziemlich genau kontextualisiert. Die Darstellung soll es uns ermöglichen, den Verlauf des ersten Weltkrieges von Anfang an bis zum Ende aus der Perspektive dieser 19 Personen zu erleben. Diese Darstellungstechnik bedeutet, dass der Leser das in den Dokumenten Erzählte als erlebte Welt zu sich nehmen kann, und zwar im Bewusstsein, dass die vorgestellte Welt objektiv gesehen mit der Welt der Beteiligten nicht identisch sein kann, aber trotzdem kommunikativ Relevantes darzustellen vermag; d.h. eine Strategie der Fiktionalisierung durch Entkontextualisierung wird ermöglicht. Andererseits erhebt der Verfasser Englund Wahrheitsansprüche mit Hilfe seiner kontextualisierenden Kommentare, d.h. sein Buch soll eine sachlich wahre Beschreibung des ersten Weltkrieges darstellen, und zwar auch, wenn die Inhalte der angeführten Dokumente an sich nicht in jeder Hinsicht zuverlässig sein mögen. Sie sind aber eben „tatsächliche“, wenn auch redigierte Dokumente. - Man kann kaum behaupten, dass es um einen rein literarischen Text geht, wenn literarische Texte als Texte definiert werden, die formuliert worden sind, um literarisch interpretiert zu werden, denn dieser Text kann, und soll wohl auch, gleichzeitig literarisch und nichtliterarisch rezipiert werden, was die Vermittlung sowohl von emotionalen als auch von kognitiven Erkenntnissen ermöglicht. <?page no="120"?> 5 Fiktionalisierung als Entkontextualisierung 120 Vgl. weiter Heinemann/ Viehweger (1991: 263): Ein historischer Roman wiederum wird von einem Historiker mit anderen Augen und damit mit einer anderen Strategie aufgenommen werden als von einem Leser, der nur mal etwas mehr von den historischen Ereignissen einer bestimmten Epoche erfahren möchte oder von einem dritten, der die Besonderheiten der ästhetischen Gestaltung dieses Romans auf sich wirken lassen will. Und Breuer, R. (2002: 402) schreibt: Dass die Kategorien, nach denen Romane definiert werden, sowohl relational als auch pragmatisch sind, erklärt, warum wir fiktionale Texte häufig sowohl als Kunstwerke wie auch zugleich als Sachtexte lesen. Historische Romane sind offensichtliche Beispiele. Vgl. weiter auch die Abschn. 4.1.1 und 4.1.2 oben. 5.2 Ästhetisierung durch Entkontextualisierung Die Strategie der Entkontextualisierung läuft darauf hinaus, dass davon abgesehen wird, ob der Textinhalt fiktiv ist oder nicht. Der Textverfasser erhebt keinen Wahrheitsanspruch des Textes in Bezug auf die außersprachliche Welt und der Rezipient stellt auch keine entsprechenden Ansprüche, d.h. wenn er den Text als literarischen Text rezipiert. Das Ergebnis der Entkontextualisierung besteht also darin, dass die Frage der Fiktivität oder Faktizität zunächst für „irrelevant“ gehalten wird. Auch wenn Weltwissen, und somit außersprachliches Wissen, für Interpretation und Verstehen auch eines literarischen Textes notwendig ist, werden bei der Entkontextualisierung die unmittelbaren Bezüge zur außersprachlichen Welt, wenigstens vorläufig, gekappt, es wird von den Referenzbeziehungen in der außersprachlichen Welt abgesehen und der Text wird sozusagen „in der Schwebe“ gehalten. Die Referenzbeziehungen bleiben in der als Ergebnis der Interpretation des Textes geschaffenen Welt, d.h. in der vorausgesetzten und der erzählten Textwelt. Diese aus Vorstellungen bestehende Welt ist zwangsläufig in einer viel stärkeren Art und Weise von dem Text selbst abhängig als die Textwelt von nichtliterarischen Texten, da nichtliterarische Texte Referenz in der realen Welt voraussetzen. Die unmittelbare Abhängigkeit der Textwelt vom Text selbst bei literarischer Interpretation führt zwangsläufig zu einer größeren Formgebundenheit, als dies i.A. bei nichtliterarischen Texten der Fall ist. Für einen nichtliterarischen Text gibt es somit immer denkbare alternative Formulierungen, für einen literarischen Text dagegen grundsätz- <?page no="121"?> 5.2 Ästhetisierung durch Entkontextualisierung 121 22 In diesem Sinne könnte man vielleicht die folgende Behauptung von Fricke (2000: 104f.) verstehen: „Kunstwerke bestehen nicht einmal aus Zeichen. Dies gilt, entgegen verbreiteter und plausibel erscheinender Annahme sogar für den Bereich der Sprachkunst. Die Worte eines literarischen Textes sind keine Zeichen. Sie sehen nur von weitem so aus.“ 23 Es geht dabei nicht um das „Aisthetische“ als „Reduktion“ im Sinne von Degler (2003), der u.a. die aisthetische Reduktion auf das Olfaktorische in Patrick Süskinds Roman Das Parfum untersucht, sondern um das Aisthetische als Interpretation sprachlicher Strukturen. lich nicht, vgl. Nikula (2005: 241). Für die Übersetzbarkeit literarischer Texte stellt dies ein besonderes Problem dar, vgl. unten Kapitel 7. Die durch literarische Rezeption eines Textes evozierten Vorstellungen sind weder Vorstellungen von der realen noch von einer fiktiven Welt. Sie stellen stattdessen selbst eine aktualisierte Welt dar, die eine erlebte Welt ist. Eine solche Welt könnte man eine fiktionale nennen, da sie ein Ergebnis der Strategie der Fiktionalisierung durch Entkontextualisierung darstellt. Eine fiktionale Welt ist aber, genau wie fiktive Welten, nicht autonom, da ihr Aufbau letzten Endes auf den Kenntnissen der realen Welt basiert. Die Entkontextualisierung bedeutet also, dass der Rezipient vorläufig auf Festlegung der Referenzbeziehungen in irgendeiner Welt außerhalb derjenigen verzichtet, die im Sinne von „Vorstellung“ als Interpretation des Textes entsteht. Eine vorgestellte Welt entsteht immer auch bei der Interpretation von nichtliterarischen Texten, aber im Falle eines nichtliterarischen Textes wird vorausgesetzt, dass die vorgestellte Welt mit einem bestimmten Ausschnitt der realen oder einer fiktiven (z.B. einem Traum) Welt so genau übereinstimmt, dass die Referenzbeziehungen dort festlegbar sind und die Wahrheit somit - wenigstens im Prinzip - nachprüfbar ist. Im Falle der literarischen und somit ästhetischen Kommunikation ist der Text in dem Sinne „autoreflexiv“, dass er zeichenmäßig nicht auf etwas außerhalb der Textwelt hinweist. Der Bezug zur außersprachlichen Wirklichkeit besteht nicht aus angenommenen Referenzbeziehungen, sondern aus „erlebter Wirklichkeit“, d.h. er setzt sich aus den visuellen, auditiven, haptischen, olfaktorischen, gustatorischen und/ oder motorischen Vorstellungen zusammen, die als Interpretation des Textes evoziert werden. 22 Hier verbindet sich also das Ästhetische unmittelbar mit dem „Aisthetischen“. 23 Die Entkontextualisierung stellt in diesem Sinne ein Mittel der Ästhetisierung dar. <?page no="122"?> 5 Fiktionalisierung als Entkontextualisierung 122 24 Diese Fokussierung des Texts selbst könnte die „Interpretationsbedürftigkeit“ erklären, die nach Breuer, U. (2002a: 69f.) für literarische Texte charakteristisch sei. 5.3 Entinstrumentalisierung durch Entkontextualisierung Ausgehend von der Definition sprachlicher Kommunikation in Anlehnung an Keller (1995), vgl. oben Abschn. 3.3, müssten auch literarische Texte instrumental verwendet werden mit dem Ziel, die Rezipienten in einer bestimmten Weise zu beeinflussen. Dass dies der Fall wäre, scheint aber, abgesehen vielleicht von etwa stark politisch engagierten literarischen Texten, schon intuitiv wenig plausibel, aber eine solche Annahme ist vor allem deshalb nicht haltbar, weil die Autorintention bei literarischen Texten selten, wenn überhaupt, eindeutig genug festlegbar ist. Auch die Beeinflussung des Rezipienten ist kaum festlegbar, wenigstens nicht in dem Sinne wie bei nichtliterarischen Texten. Reagiert der Rezipient bei der Lektüre eines literarischen Textes in der gewünschten Weise oder nicht? Und welche war überhaupt die erwünschte Reaktion? Andererseits ist kaum anzunehmen, dass jemand einen Text schreiben würde, ohne überhaupt sonst jemanden in irgendeiner Weise beeinflussen zu wollen, denn dann müsste der Autor davon ausgehen, dass niemand überhaupt den Text lesen würde. Eher könnte angenommen werden, dass der Autor zwar Rezipienten beeinflussen möchte - sonst wären literarische Texte überhaupt nicht kommunikativ -, dass aber diese Beeinflussung erst literarisch möglich wäre. Eben deshalb wären Ziel und Art der Beeinflussung nicht mit nichtliterarischen Mitteln festlegbar, etwa mit den Mitteln der Linguistik oder der Literaturwissenschaft. Literarische Texte wären dabei, wie oben im Abschn. 5.1.3, eher als „Interpretationsangebote“ und nicht als Ausdrücke von Intentionalität aufzufassen, wenigstens nicht in der Weise wie nichtliterarische Texte, eine Auffassung, die nicht selten bezüglich Literatur wie auch anderer Formen von Kunst geäußert wird. Wenn Ziel und Folge der Kommunikation nicht festlegbar ist, geht es im Falle des literarischen Textes nicht so deutlich um Kommunikationshandlungen wie bei den nichtliterarischen Texten, sondern primär um kommunikative Handlungen. In diesem Sinne könnte man nichtliterarische Texte als „handlungsbetont“ und die Kommunikation als „extern dominant“ betrachten, während die literarischen Texte dagegen betont „kommunikativ“ wären, wobei die Kommunikation durch sie als „intern dominant“ anzusehen wäre, vgl. oben Abschn. 3.3. Bei der Interpretation literarischer Texte würde demnach das „Instrument“ selbst, der Text, fokussiert, wobei seine Stellung als Mittel in der Kommunikationshandlung abgeschwächt würde. 24 Ziel der Kommunikationshandlung wäre <?page no="123"?> 5.3 Entinstrumentalisierung durch Entkontextualisierung 123 25 Das schwedischsprachige Original lautet: „Det är en schablon att dikt ska vara begriplig, den schablonen är också irriterande. Det är som att klaga på att drömmen är obegriplig.“ (Bäck 2005) Ähnliche Gedanken werden auch von dem Lyriker und Literaturwissenschaftler Torsten Pettersson angeführt, vgl. Pettersson (2005: 25f.). - Vgl. weiter auch Nikula (2005). 26 Vgl. etwa das bekannte Kooperationsprinzip von Grice (1975). zwar auch jetzt, eine Wirkung beim Rezipienten zu erzielen, wobei aber die Folgen davon abhängig gemacht werden, wie dieser den Inhalt, das „Angebot“ zu sich nimmt. Das primäre Ziel wäre somit das „Verstehen“ als Ergebnis des „analogen“ Prozesses des „Erlebens“ als solcher. Diese Fokussierung des Mittels selbst könnte „Entinstrumentalisierung“ genannt werden. - In einem Interview in der schwedischsprachigen Helsinkier Tageszeitung Hufvudstadsbladet 27.2.2005 sagt der Lyriker Claes Andersson Folgendes, wobei er das Andersartige des ästhetischen „Verstehens“ zum Ausdruck bringt: „Es ist eine Schablone, dass ein Gedicht verständlich sein muss, diese Schablone ist auch irritierend. Es ist, als ob man sich darüber beklagen würde, dass Träume unbegreiflich wären.“ [Übers. H.N.] 25 Es gibt sicherlich jede Menge Gedichte, die schwer verständlich, ja sogar unverständlich zu sein scheinen. Gleichzeitig scheint es unverständlich zu sein, dass nicht jeder Text, und somit auch Gedichte, irgendwie verständlich sein müssten. Einen Text mit dem Ziel zu produzieren, dass er nicht verständlich sein sollte, müsste ein sehr grober Verstoß gegen alle kommunikativen Prinzipien darstellen. 26 Die Eigenschaft, nicht nicht-ästhetisch verstehbar oder nicht verständlich zu sein, scheint auch für andere Formen der Kunst kennzeichnend zu sein. So schreibt z.B. Roger M. Buergel (2005: 61), der künstlerische Leiter der documenta 12 in Kassel 2007: „Wir verstehen es [das Kunstwerk] erst, indem wir es nicht verstehen.“ Die Entinstrumentalisierung ist ein Ergebnis einer Strategie der Entkontextualisierung, die darauf hinausläuft, dass davon abgesehen wird, ob der Textinhalt fiktiv ist oder nicht. Wenn die Referenzbeziehungen zur realen Welt „gekappt“ oder „in der Schwebe gehalten“ werden, vgl. Abschn. 5.2, betrifft dies zwangsläufig auch die Beziehungen zum realen Textproduzenten und zum Rezipienten. Diese können wegen der Entkontextualisierung nicht mit dem durch den Text selbst implizierten Textproduzenten bzw. Rezipienten identifiziert werden, d.h. mit dem impliziten Erzähler bzw. impliziten Leser, die Elemente der durch den Text vorausgesetzten Textwelt darstellen. Der implizite Erzähler und der implizite Leser können auch explizit als Figuren in der erzählten Textwelt erwähnt werden, aber sie können auch dann nicht mit dem realen Textproduzenten bzw. Rezipienten gleichgesetzt werden, und zwar wegen der <?page no="124"?> 5 Fiktionalisierung als Entkontextualisierung 124 Entkontextualisierung. Dies hat zur Folge, dass keine Übereinstimmung zwischen den Interpretationen des realen Textproduzenten und Rezipienten festlegbar ist, und dass der Rezipient somit nie sicher sein kann, dass er genau „verstanden hat, was der Textproduzent meint“. Eine zwangsläufige Konsequenz ist, dass der Textproduzent den literarischen Text nicht instrumentell verwenden kann, um den Rezipienten in einer bestimmten Weise zu beeinflussen, d.h. wenigstens nicht in derselben Weise wie bei nichtliterarischer Kommunikation. Ein Text, dessen Verstehen keine unmittelbare Referenz in der außersprachlichen Welt voraussetzt, kann also nicht als Instrument in der Kommunikationshandlung eingesetzt werden, d.h. wenigstens nicht in der unmittelbaren Weise, wie bei der Interpretation von nichtliterarischen Texten. Er ist also kein Mittel, das von dem Autor eingesetzt wird, um eine bestimmte Wirkung beim Rezipienten mit bestimmten Folgen zu erzielen. Der Text stellt stattdessen eben ein „Angebot“ dar, worüber der Rezipient selbständig verfügt: „Er muss sich selbst entscheiden, er kann sich das nehmen, was sich auf ihn bezieht - oder auch nicht“, vgl. das Lenz-Zitat oben Abschn. 5.1.3. In einem Spiegel-Interview mit dem indischen Autor Kiran Nagarkar erfahren wir Folgendes, Nagarkar (2006: 167): Spiegel: In einer Vorbemerkung nennen Sie Ihren Roman ‚ein Lehrstück ohne Botschaft‘. Was soll das Paradoxon besagen? Nagarkar: Dass ich ein Erzähler bin, auch wenn ich politische Themen behandle. […] Wer ein Erzähler in diesem Sinne ist, muss das behandeln, was seine Leser umtreibt. Er wird sie aber nie in Form einer Botschaft erreichen, sondern allenfalls heimlich wie der Zweifel, der sich unmerklich einschleicht. Werbetexte werden oft als Beispiele von ästhetisierenden Texten angeführt, vgl. etwa Eichholz (1995), Meyer (2010). Da die Werbung häufig weniger durch Argumentation als durch Vermittlung von Gefühlen und Erlebnissen auf die Rezipienten einzuwirken versucht, ist dies nicht überraschend. Werbetexte werden aber nie als Ganzheiten entkontextualisiert und ästhetisch interpretiert; dies kann wenigstens nicht die Absicht des Textproduzenten sein, weshalb die kommunikative Handlung im Rahmen der Kommunikationshandlung eine eindeutig instrumentale Funktion hat, mit dem Zweck die Rezipienten zum Erwerb einer bestimmten Ware zu bewegen. Der Rezipient kann sich aber weigern zu kooperieren, z.B. dadurch, dass er die Anzeige rein ästhetisch interpretiert. Es ist deutlich, dass ästhetisierende Textualisierungsstrategien nicht nur in Werbetexten, sondern in sehr vielen anderen Textsorten zum Ausdruck kommen, und dass solche Strategien bei der Produktion <?page no="125"?> 5.3 Entinstrumentalisierung durch Entkontextualisierung 125 von Texten jeder Textsorte möglich sind. Sehr deutlich ästhetisierend sind Texte mit Infotainment-Charakter, d.h. informierende Texte mit Unterhaltungsfunktion, wobei der Rezipient dem Textproduzenten einen gewissen subjektiven Spielraum bezüglich der Darstellung einräumt, und zwar unter der Voraussetzung, dass die „wesentlichen“ Fakten wirklich „Fakten“ sind, vgl. Nikula (2006b: 203). In solchen Fällen geht es aber ganz offenbar nicht um eine Entkontextualisierung der ganzen Kommunikationssituation. Interessanter in diesem Zusammenhang sind literarische Texte, die eine bestimmte Botschaft, z.B. eine politische, enthalten. Dies scheint im Widerspruch zur Definition von literarischer Kommunikation zu stehen. Das ist auch der Fall, und dies zeigt sich in der Praxis dadurch, dass, je stärker ein politisch engagierter literarischer Text nicht nur mit einer spezifischen politischen Situation verknüpft werden kann, sondern auch von ihr abhängig ist, desto trivialer scheint dieser Text rein literarisch gesehen zu sein, er kann nicht das „Allgemeine im Besonderen“ aufzeigen, was ein wesentliches Ergebnis der Ästhetisierung durch Entkontextualisierung ist, vgl. Nikula (2006a: 290). Das konkrete „Ereignis“, das als „Story“ dargestellt wird, wird als solches allzu wichtig, die Story, und somit auch der Text, wird ein Mittel im politischen Kampf mit einem bestimmten Ziel, wobei der Text nicht genügend entkontextualisiert werden kann, ohne dass seine Textualität darunter leidet. - In dem Sinne gibt es eine Beziehung zwischen politisch „konkret“ engagierter Literatur und Trivialliteratur, dass auch in der Trivialliteratur die Story eine zentrale Stellung hat; je „trivialer“ der Text ist, desto wichtiger wird die spannende oder romantische usw. Story. Die Story hat auch in der Trivialliteratur eine Art instrumenteller Funktion, und zwar mit dem Ziel der Unterhaltung. Diese instrumentelle Funktion hat aber die Story in diesem Falle nur im Rahmen der kommunikativen Handlung, nicht aber unmittelbar als Element der Kommunikationshandlung, denn für die Interpretation trivialer Literatur, die sehr deutlich auf erlebendes Verstehen baut, ist Entkontextualisierung ganz offenbar von zentraler Bedeutung. (Zur Trivialliteratur, vgl. weiter unten Abschn. 6.2.5.) Es muss auch zwischen Instrumentalität und Instrumentalisierung unterschieden werden. Texte in literarischer Kommunikation können zwar nicht in derselben unmittelbaren Weise als Mittel, als Instrumente verwendet werden, wie Texte in nichtliterarischer Kommunikation. Literarische Texte können aber z.B. dadurch instrumentalisiert werden, dass sie als historische Dokumente gelesen werden, sie können politisch missbraucht werden, wie z.B. das Nibelungenlied durch die Nationalsozialisten, sie können im Sprach- und Kulturunterricht als Unterrichts- <?page no="126"?> 5 Fiktionalisierung als Entkontextualisierung 126 27 Es gibt natürlich auch „Designgegenstände“, die keine praktisch-instrumentelle Funktion haben, etwa Vasen, die nicht als Blumenvasen verwendet werden können, oder Teller, die nicht als Teller verwendet werden sollen. Derartige Designgegenstände können als „reine“ Kunstgegenstände aufgefasst werden. 28 Fricke (2000) stellt einen Versuch dar, die in Fricke (1981) vorgestellte Theorie der Literatur auf alle Arten der Kunst zu übertragen. material verwendet werden, sie können in der Werbung „persuasiv“ (vgl. Abschn. 4.1.2 u. 6.2.4.2) eingesetzt werden usw. Es gibt eine deutliche Parallelität zwischen literarischen Texten und ästhetisierenden Texten einerseits und bildender Kunst bzw. Design andererseits. Ästhetische Kommunikation durch Gegenstände der bildenden Kunst setzt, genau wie literarische Kommunikation, Entkontextualisierung voraus. Ein Bild, etwa ein Gemälde oder eine Fotografie, kann eine rein dokumentarisch-instrumentelle Funktion haben, ohne dass irgendeine ästhetische Interpretation nahegelegt wird. Wenn der zu dokumentierende Inhalt nicht mehr aktuell ist, kann aber das Bild wegen seiner Nichtaktualität entkontextualisiert, ästhetisch interpretiert werden. So war die ursprüngliche Hauptfunktion des berühmten Doppelporträts von Jan van Eyck, „Die Heirat des Giovanni Arnolfini“ (1434), die rechtliche Dokumentation der Eheschließung, während das Gemälde heute aus natürlichen Gründen eher „entkontextualisiert“ und somit ästhetisch interpretiert wird, vgl. Schneider (1994: 33ff.), wie auch Nikula (2000a: 277). Die Funktion der Entkontextualisierung kann auch anhand der Ready-Made-Kunst veranschaulicht werden, z.B. anhand des berühmten Flaschentrockners des Künstlers Marcel Duchamp, vgl. etwa Adams (1997), Mink (2000: 52). Der Flaschentrockner wird dadurch entkontextualisiert, dass er als Ausstellungsgegenstand in einem Kunstmuseum präsentiert wird, wobei von seiner ursprünglichen instrumentellen Funktion abgesehen werden kann und seine Gegenständlichkeit neu wahrgenommen, „erlebt“ werden kann. Im Prinzip könnten auch reine Naturgegenstände in dieser Weise entkontextualisiert werden, und zwar in der Absicht, dass jemand sie ästhetisch erlebt. Neben der rein funktionalen Gestaltung von Gebrauchsgegenständen hat Design auch die Funktion, diesen Gegenständen eine ästhetisch attraktive Form zu verleihen, was verkaufsfördernd sein kann, wobei es deutlich um Ästhetisierung mit instrumentaler Funktion geht. 27 Nach Fricke (2000: 41f.) sei die Freiheit von Gesetzen naturbedingten Verhaltens für Kunst ein definierendes Merkmal, und somit auch ein unterscheidendes Merkmal zwischen Kunst und Design. 28 Zum Thema Autodesign schreibt Fricke (2000: 51): <?page no="127"?> 5.3 Entinstrumentalisierung durch Entkontextualisierung 127 29 Es scheint eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den Begriffen der „internen Funktion“ und der „externen Funktion“ Frickes und den Begriffen der „kommunikativen Handlung“ bzw. „Kommunikations-Handlung“ vorzuliegen, vgl. Fricke (1981: 100 u. 2000; 36, 41f.). Vgl. auch Ulrich Breuers Unterscheidung zwischen interner (Literatur) und externer (Gebrauchstexte) Dominanz der Kommunikation, oben Abschn. 3.3. 30 Der Konzernchef von DaimlerChrysler, Dieter Zetsche, sagt in einem Spiegel-Gespräch Folgendes, Zetsche (2007: 121): „Richtig ist: Wir verkaufen auch Gefühle, Träume und Begehrlichkeiten.“ Ein Auto-Designer, der mit dem stilistisch revolutionären Vorschlag anrückte, die Reifen beim nächsten Sportwagen doch einmal elliptisch zu gestalten, wird bei seinen Auftraggebern nicht auf Gegenliebe oder Kunstbegeisterung stoßen (sondern auf innerbetriebliche Sanktionen); über ovale Radkappen wird man in der Direktionsetage möglicherweise nachdenken. Der grundlegende Unterschied zwischen Design und Kunst dürfte aber nicht so sehr in der größeren Freiheit der Kunst bestehen. Diese größere Freiheit ist eher eine Konsequenz dessen, dass das Ästhetische des Kunstgegenstandes - wenigstens vorläufig - im Rahmen der kommunikativen Handlung ihre Funktion erschöpft, die Ästhetisierung durch Design dagegen eine deutlich instrumentelle Funktion im Rahmen der ganzen Kommunikationshandlung hat. 29 Als Beispiel von Ästhetisierung ist das Autodesign in dem Sinne interessant, dass die Ästhetisierung-Aisthetisierung, vgl. oben Abschn. 3.2, beim Autodesign beinahe alle Ebenen der Sinneswahrnehmung umfassen kann, d.h. die visuelle, die auditive, die haptische, die olfaktorische und die motorische, aber (noch? ) nicht die gustatorische Wahrnehmung, eine Tatsache, die z.B. durch die Lektüre beliebiger Autozeitschriften festgestellt werden kann. 30 Auch die Freiheit der Kunst kann keine absolute sein, denn die Freiheit jeder Form von Kunst wird durch die Bedingungen des Mediums und der allgemeinen Voraussetzungen menschlicher Kommunikation beschränkt. Was z.B. die konkrete Poesie betrifft, kann festgestellt werden, dass, je „konkreter“ ein konkretes Gedicht ist, desto weniger ist es Text oder Sprache, vgl. auch Nikula (1998: 204). Und durch reine l’art pour l’art, durch Kunst als Selbstzweck, wenn es so was überhaupt gibt, kann nicht kommuniziert werden, weil Kommunikation immer einen das Medium überschreitenden „Mehrwert“ bedeutet, und das Medium als Medium somit immer irgendeine Funktion hat. Man kann mit Hilfe von Entkontextualisierung jedes beliebige künstliche oder naturgegebene Objekt als „Kunst“ ästhetisch erleben, wobei es aber nur dann um ästhetische Kommunikation gehen kann, wenn es einen <?page no="128"?> 5 Fiktionalisierung als Entkontextualisierung 128 31 Hervorhebung im Original. „Produzenten“ gibt, der dieses Objekt, Bild oder Text usw., produziert bzw. entkontextualisiert hat, und zwar in der Absicht, dass es ästhetisch interpretiert werden soll. Und nur in diesem Sinne kann gesagt werden, ein Text bzw. die kommunikative Handlung im Rahmen der ganzen Kommunikationshandlung (vgl. Abschn. 3.3) habe bei literarischer (ästhetischer) Kommunikation eine instrumentale Funktion - es geht eben eher um eine „Angebotsfunktion“, vgl. Abschn. 5.1.3. Ein Text in literarischer Kommunikation ist kein „Werkzeug“, das verwendet wird, um eine bestimmte Reaktion des Rezipienten hervorzurufen, was auch überhaupt jedes entkontextualisierte Objekt bei ästhetischer Kommunikation betrifft. 5.4 Fiktionalität als notwendiges Merkmal literarischer Kommunikation Unten wird ein längeres Zitat aus Skirl/ Schwarz-Friesel (2007) angeführt, und zwar nicht um gegen die dort angeführten Feststellungen zu polemisieren, sondern weil sie als repräsentativ für sehr viele Auffassungen über literarische Texte und literarische Kommunikation betrachtet werden können. Das Zitat soll deshalb dazu dienen, die in der vorliegenden Arbeit angeführten Ansichten gegenüber anderen abzugrenzen, damit der Unterschied deutlicher zum Ausdruck kommt. Skirl/ Schwarz-Friesel (2007: 86) schreiben: 31 Oft wird als gemeinsames Merkmal literarischer Texte das der Fiktionalität angegeben: Der Inhalt literarischer Texte ist etwas Vorgestelltes, Erdachtes und erhebt deshalb in Bezug auf die Wirklichkeit keinen Wahrheitsanspruch im Sinne einer Tatsachenbehauptung. Das mentale Textweltmodell repräsentiert nicht die reale Welt. Die Eigenschaft der Fiktionalität gilt zwar für viele, aber nicht für alle literarischen Texte, z.B. nicht für Autobiographien, Tagebücher oder Reisebeschreibungen. Fiktionalität ist also kein notwendiges Kriterium. Literarische Texte lassen sich nur über die besonderen Kommunikationsbedingungen erfassen, in denen sie stehen: Allgemein gilt für literarische Texte, dass sie im Gegensatz zu Gebrauchstexten wie Zeitungsartikel, politische Reden usw. nicht in eine konkrete Kommunikationssituation eingebunden sind, durch die ihre Funktion festgelegt ist. Literatur ist, vereinfacht gesagt, stets das, was in einer Gesellschaft dafür gehalten wird. Die Funktion der literarischen Kommunikation in einer Gesellschaft ist dem historischen <?page no="129"?> 5.4 Fiktionalität als notwendiges Merkmalliterarischer Kommunikation 129 32 Vgl. etwa Gansel/ Jürgens (2007: 81): „Textsorten lassen sich von einer Dominante - dem sozialen System/ Kommunikationsbereich - her klassifizieren.“ Vgl. Abschn. 1 oben. Wandel ihrer Produktion, Publikation und Rezeption unterworfen. Das Literarische am literarischen Text lässt sich also nicht ein für allemal festlegen. Zentral ist hier der Begriff der Fiktionalität. Es wird bei Skirl/ Schwarz- Friesel (2007) nicht wie hier strikt zwischen Fiktionalität (als Ergebnis einer Fiktionalisierung bzw. Entkontextualisierung) und Fiktivität unterschieden. Unter Fiktionalität wird offenbar mehr oder weniger deutlich Fiktivität in dem Sinne, wie dieser Begriff hier verstanden wird, wobei Fiktionalität im Sinne von Fiktivität überhaupt kein unterscheidendes Merkmal literarischer Texte darstellen kann, vgl. Abschn. 4.1.1, 4.1.2. Wenn Skirl/ Schwarz-Friesel (2007) oben schreiben, „Literarische Texte lassen sich nur über die besonderen Kommunikationsbedingungen erfassen, in denen sie stehen“, scheinen sie aber zunächst ungefähr das zu meinen, was hier unter dem Begriff der Fiktionalisierung (Entkontextualisierung) erfasst wird. Dem wird aber durch die Feststellung widersprochen, Literatur sei „stets das, was in einer Gesellschaft dafür gehalten wird“. Dies ist eine mögliche Definition von Literatur im Sinne von literarischen Texten oder Textsorten und erinnert an systemtheoretische Ansätze. 32 Da in der vorliegenden Untersuchung zwischen literarischen Texten und literarischer Kommunikation unterschieden wird, können hier in zum Teil vergleichbarer Weise die „literarischen Textsorten“ als „prototypische Mittel literarischer Kommunikation“ definiert werden, die kulturgebundene historische und zum Teil mehr oder weniger deutlich institutionalisierte Erscheinungen darstellen, vgl. weiter Abschn. 2.2 und 6.1. Der hier vertretene Ansatz macht es aber auch möglich, solche Fälle zu berücksichtigen, wo Texte nichtliterarischer Textsorten in literarischer Kommunikation und Texte literarischer Textsorten in nichtliterarischer Kommunikation verwendet werden, wie auch, dass derselbe Text u.U. sowohl literarisch als auch nichtliterarisch rezipiert werden kann, vgl. auch unten Kapitel 6. Außerdem wird es möglich, Fälle von „hybrider Kommunikation“ zu berücksichtigen, d.h. Fälle, wo bei der Rezeption nicht Stellung genommen wird oder werden soll, ob Teile des Textes als fiktiv oder faktisch zu betrachten sind, vgl. Abschn. 4.1.2, 6.2.3. Es kann abschließend festgestellt werden, dass Fiktionalisierung (Entkontextualisierung) ein notwendiges Merkmal literarischer Kommunikation ist, wie auch, dass literarische Kommunika- <?page no="130"?> 5 Fiktionalisierung als Entkontextualisierung 130 tion im Gegensatz zu literarischen Texten keine historische und kulturbedingte Erscheinung ist, sondern eine inhärente Möglichkeit sprachlicher Kommunikation darstellt. 5.5 Entkontextualisierung: Zusammenfassung Der Begriff der Fiktionalisierung wurde oben durch den Begriff der Entkontextualisierung erweitert und präzisiert, indem dieser nicht nur auf Texte bezogen wurde, sondern grundsätzlich auf alle Arten von Kunst. Der Begriff der Fiktionalisierung wurde folglich als eine Strategie der Ästhetisierung durch Entkontextualisierung von Texten definiert. Dabei wurde die daraus resultierende Fiktionalität als ein notwendiges Merkmal literarischer Kommunikation betrachtet, nicht aber notwendigerweise literarischer Texte; diese wurden als prototypische, kulturgebundene historische Mittel literarischer Kommunikation definiert. <?page no="131"?> 1 Vgl. Johansson (2005). Wörtlich in Schwedisch: „Kulturen är konstens största fiende.“ 6 „Formale“ Aspekte des Literarischen Wie schon mehrmals notiert wurde, ist bei literarischer Kommunikation Inhalt und Textwelt in einer deutlich stärkeren Weise von dem Text selbst abhängig als bei nichtliterarischer, nicht-ästhetischer Kommunikation, d.h. literarische Texte sind in diesem Sinne stärker formbetont als andere. Wenn hier von formalen Aspekten die Rede ist, geht es nicht nur um die reine Form im Sinne der Linguistik, also nicht nur um physisch wahrnehmbare Aspekte von Texten. Der Begriff Form wird hier viel weiter gefasst und bedeutet Strukturierung überhaupt, also auch die Strukturierung und Gestaltungsweise von Inhalten. 6.1 Poetische Sprache und Normativität - Abweichungspoetik Durch Entkontextualisierung löst sich der Text von den unmittelbaren Zwängen von Normen und Regeln der Gesellschaft. In einem Interview in der Tageszeitung Hufvudstadsbladet, 29.4.2005, S. 24, meint der finnische Regisseur Dick Idman, die Kultur sei der größte Feind der Kunst 1 . Die Kultur strebe nach Einigkeit und baue auf Tradition und Einstimmigkeit. In der Kultur würden wir uns einen Platz in der Gemeinschaft sichern. Für Idman sei die Rolle der Kunst Fragen zu stellen, nicht Gemeinschaft zu schaffen. Die Kultur würde also die feste Struktur darstellen, gegenüber der sich die Kunst behaupten müsse. Kunst bedeute Kreativität und Freiheit, Kultur wäre somit ihr Gegensatz. - Es scheint recht natürlich zu sein, davon auszugehen, dass Kunst „Freiheit“ bedeutet und dass Literatur somit Abweichung von der Norm bedeuten würde. Was aber „Abweichungspoetiken“ i.A. „falsch“ zu machen scheinen, ist a), dass sie generelle Regeln für die Abweichungen festzustellen versuchen, und somit davon ausgehen, dass die Grenzen der Freiheit irgendwie genau festlegbar wären, und b), dass sie davon ausgehen, dass Kunst in formalen Abweichungen bestimmter Art zu erfassen wäre, statt davon auszugehen, dass die Freiheit u.a. in der Form zum Ausdruck kommen kann, d.h. dass eventuelle „Abweichungen“ kein notwendiges Ergebnis <?page no="132"?> 6 „Formale“ Aspekte des Literarischen 132 2 Deutschsprachige linguistische Arbeiten, die sich damit explizit auseinandersetzen sind z.B. Abraham, W. (1971), Ballweg/ Schramm (1974), Blau (1978), Fix (1998a), Nikula (1998), Oksaar (1969), Oomen (1980), Palm (1983), Sauermann (1985). Interessant sind auch die Gedanken des Dichters Ernst Jandl zur konkreten Poesie, vgl. etwa Jandl (1985: III, 449); zu Jandl, vgl. auch Uhrmacher (2007), wie auch und keine zwingende Konsequenz der Freiheit sind, denn sonst wäre diese Freiheit keine wirkliche. In ihrer deutschen Grammatik für den Universitätsunterricht in Schweden führen Freund/ Sundqvist (1988: 539) das folgende Morgensternzitat an, das sie als einen sehr abweichenden Text, sogar als Nonsenstext bezeichnen, vgl. Morgenstern (1981 [1932]: 12): Es waren einmal acht lustige Könige, die lebten. Sie hießen aber so und so. Wer heißt überhaupt? Man nennt ihn. Eines Tages aber sprachen die lustigen Könige zueinander, wie Könige zueinander sprechen. ‚Die Welt ist ohne Salz; laßt uns nach Salz gehen! ‘ sagte der zweite. ‚Und wenn es Pfeffer wäre‘, meinte der sechste. ‚Wer weiß das Neue? ‘ fragte der fünfte. ‚Ich! ‘ rief der siebente. Literarische Texte scheinen sich also wenigstens dafür zu eignen, bestimmte unübliche Eigenschaften von Textstrukturen zu demonstrieren. In diesem Morgensternzitat könnten somit verschiedene Abweichungen auf der textuellen Ebene demonstriert werden. Andererseits könnte auch demonstriert werden, dass und wie diese Abweichungen „aufgehoben“ werden können - und werden müssen, damit der Text vom Leser als Text akzeptiert wird. Das Naheliegende ist natürlich, den Text literarisch zu rezipieren. Sitta (1980: 212) schreibt: Es ist kein Zufall, wenn sich die suggestivsten Beispiele für den Mitteilungswert von Verstößen gegen die Sprachnorm einerseits in der Poesie, andererseits in der Werbung finden lassen. Für die Poesie ist (freilich in verschiedenen literaturgeschichtlichen Epochen in unterschiedlich hohem Maße) ‚sprachliche Abweichung‘ geradezu konstitutiv, und in der Werbung scheint heute die Poesie ihr letztes Refugium zu erhalten. Es ist also nicht besonders originell, davon auszugehen, dass literarische Texte sich von anderen Texten durch eine größere sprachliche Kreativität unterscheiden, d.h. dass es eine „poetische Freiheit“ gäbe, die eine „Abweichung“ von sprachlichen Normen in einer ganz anderen Weise als im Falle nichtliterarischer Texte erlauben würde. In der Sprachwissenschaft hat man sich schon lange für die eventuellen besonderen Eigenschaften der literarischen Sprache interessiert, und somit auch mehr oder weniger explizit für die „Abweichungsproblematik“. 2 Abweichungen von Nor <?page no="133"?> 6.1 Poetische Sprache und Normativität - Abweichungspoetik 133 Abraham, W. (2004), der auch interessante allgemeine theoretische Aspekte der Abweichungsproblematik diskutiert. 3 Für starke Kritik an Fricke (1981), vgl. Rühling (1996: 43f.). 4 Kursiv im Original. In der entsprechenden „Begriffsexplikation“ von Fricke (1981: 83) fehlt der Ausdruck implizit gültige. men scheinen etwas zu sein, dass sich mit rein linguistischen Mitteln beschreiben ließe. Deshalb wird im Folgenden auf die Frage eingegangen, ob Abweichung von der Norm als konstitutives Merkmal literarischer Texte betrachtet werden kann, und weiter wird untersucht, ob die Begriffe „literarischer Text“ und „literarische Kommunikation“ davon ausgehend erfasst werden könnten. Eine wichtige Anregung für die Analyse stellen die Arbeiten Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur und Gesetz und Freiheit. Eine Philosophie der Kunst des Literaturwissenschaftlers Harald Fricke dar, vgl. Fricke (1981) bzw. Fricke (2000), wie auch Nikula (2005). 3 Da eine „Theorie des Literarischen“, wenn möglich, mit Theorien anderer Formen der Kunst kompatibel sein sollte, ist dabei wichtig, dass Fricke (2000) einen Versuch darstellt, die in Fricke (1981) vorgestellte Theorie der Literatur auf alle Arten der Kunst zu übertragen. Um dies zu ermöglichen werden die sprachbezogenen Begriffe „Norm“ und „Abweichung“ von Fricke (1981) durch die mit ihnen verwandten Begriffe „Gesetz“ bzw. „Freiheit“ ergänzt, Fricke (2000: 39): „Das Modell von Norm und Abweichung müsste also ästhetisch erweitert werden zu einem Modell von Gesetz und Freiheit.“ In diesem Beitrag wird es zwar um Literatur gehen, aber ein Ausgangspunkt ist, dass eine Definition von „Literatur“, wenn möglich, mit der Definition anderer Arten der Kunst vereinbar sein sollte. Fricke (2000: 36) definiert den Begriff der „sprachlichen Norm“ folgendermaßen 4 : Eine implizit gültige SPRACHLICHE N ORM ist eine nachweisbar wiederkehrend befolgte Richtlinie verständigungsrelevanten sprachlichen Verhaltens, deren Verletzung in wiederkehrender Weise von der Sprachgemeinschaft so durch Sanktionen geahndet wird, dass diese Sanktionen von den Betroffenen selbst überwiegend akzeptiert werden. Die Definition Frickes geht davon aus, wie Normen erkannt werden. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass sprachliche Normen als eine besondere Art von sprachlichen Regeln betrachtet werden können, d.h. „regulative“ Regeln im Sinne von etwa Searle (1969: 33), also als Regeln, die die Verwendung anderer sprachlicher Regeln, der „konstitutiven“ Regeln (etwa phonetischer, syntaktischer, semantischer, pragmatischer <?page no="134"?> 6 „Formale“ Aspekte des Literarischen 134 5 Fricke (1981 u. 2000) geht nicht auf diese Frage ein. Man sollte auch ein wenig genauer zwischen Konvention, Norm und Gebrauch unterscheiden, wobei Normen durch „Normautoritäten“ (Ammon 2009: 17) festgelegte oder bestätigte Konventionen darstellen. Normen und Konventionen kommen im Gebrauch zum Ausdruck. 6 Der Begriff der Regel wird hier in einem weiten Sinne verstanden, so dass etwa die „Konstruktionen“ der Konstruktionsgrammatik als eine Art konstitutive Regeln aufgefasst werden könnten, während Beschränkungen, die die Verwendung bestimmter, an sich möglicher Konstruktionen verbieten oder zulassen, als regulative Regeln betrachtet werden könnten. Auf diese komplexen Zusammenhänge kann natürlich nicht weiter eingegangen werden, vgl. aber etwa Goldberg (2006), Fischer/ Stephanowitsch (Hrsg.) (2006 u. 2008). 7 Wenn nicht die dort verwendeten Zeichen als metrische Zeichen für Hebungen und Senkungen gedeutet werden. - Was z.B. die konkrete Poesie betrifft, könnte gesagt werden, dass, je „konkreter“ ein konkretes Gedicht ist, desto weniger ist es Text oder Sprache, vgl. Nikula (1998: 204). Zur Sprache der konkreten Poesie, vgl. auch Haas (1990), Olsson (2005), Petersen (2006). 8 Kursiv im Original. Bei Fricke (1981, 83) fehlt der Ausdruck implizit gültiger. usw. Regeln) steuern. 5 Aus der Tatsache, dass diese Regeln, d.h. die „Regeln der Grammatik“, „konstitutiv“ sind, folgt, dass sprachliches Verhalten immer durch Regeln gesteuert wird, wobei eine sprachliche Abweichung bedeutet, dass eine zwar mögliche, aber der Norm nach nicht erlaubte Regel verwendet worden ist. 6 Wenn aber eine Regel verwendet wird, die nach dem Regelsystem der deutschen Sprache überhaupt nicht möglich ist, geht es nicht mehr um Deutsch; ein trivialer Fall ist, wenn ein neues Fremdwort verwendet wird. Ein solches Fremdwort ist mit Hilfe sprachlicher Regeln der jeweiligen Quellsprache gebildet worden und kann i.A. in der Zielsprache akzeptiert werden, wenn es eine bestimmte Funktion erfüllt. Das neue Fremdwort kann später als Lehnwort ins Lexikon des Deutschen aufgenommen werden, d.h. ins Regelsystem des Deutschen integriert werden. Eine Abweichung kann aber in der Tat so total sein, dass es nicht mehr um Sprache geht - und somit eigentlich auch nicht mehr um eine „sprachliche“ Abweichung. Ein recht extremes Beispiel wäre das Gedicht „Fisches Nachtgesang“ von Christian Morgenstern, vgl. Morgenstern (1981 [1932]: 25), das, abgesehen von der Überschrift, keine sprachlichen Zeichen enthält, vgl. auch unten Abschn. 7.1. 7 Die obige Darstellung des Begriffs der sprachlichen Abweichung dürfte mit dem Begriff der „poetischen Abweichung“ von Fricke (2000: 36) kompatibel sein 8 : Eine POETISCHE A BWEICHUNG ist eine Verletzung implizit gültiger sprachlicher Normen, die eine nachweisbare Funktion erfüllt (und derentwegen somit überwiegend keinerlei Sanktionen akzeptiert werden). <?page no="135"?> 6.1 Poetische Sprache und Normativität - Abweichungspoetik 135 9 Kursiv im Original. Vgl. auch Fricke (1981: 100). Da es hier natürlich nicht um eine Rezension oder Vorstellung der Arbeiten Frickes, sondern dass diese „nur“ als Ausgangspunkt und Anregung dienen, wird hier nicht näher auf die Begriffe der „internen“ und „externen“ Funktion eingegangen werden, vgl. Fricke (1981: 100) u. (2000: 36). Deshalb werden auch die übrigen Gedanken Frickes zum Begriff der „poetischen Abweichung“ nur sehr vereinfachend und pauschal vorgestellt, vgl. weiter Fricke (1981: Kap. 3). Wenn Abweichung von der Norm wie bei Fricke (1981 u. 2000) als zentrales Kriterium literarischer Texte aufgefasst wird, entstehen Probleme grundlegender Art. Alle Textsorten unterscheiden sich natürlich dadurch, dass sie voneinander „abweichen“, und zwar bezüglich bestimmter Textsortenkonventionen und -normen. Nun stellen „Abweichungen“ dieser Art an sich keine Verletzungen von Normen dar. Aber auch die literarischen Textsorten (oder Genres im Sinne von Fricke), sind durch bestimmte Merkmale charakterisiert, die normgesteuert sind. Fricke (1981: 162ff. u. 2000: 37) spricht in diesen Fällen von „Quasinormen“, wobei es aber dem Künstler frei stehe, von diesen Normen „sekundär“ abzuweichen und neue Formen zu entwickeln. Bei Fricke (1981 u. 2000) geht es nicht nur darum, dass literarische Texte von den Normen der Standardsprache abweichen würden; sehr wesentlich ist, dass die Abweichungen eine bestimmte Funktion erfüllen müssen, Fricke (2000: 36) 9 : Eine Verletzung implizit gültiger sprachlicher Normen erfüllt eine F UNKTION genau dann, wenn sie eine Beziehung herstellt, die ohne diese Normabweichung so nicht bestünde. Diese Beziehung muss eine empirisch nachweisbare Disposition zur Erzeugung bestimmter Leserwirkungen besitzen; dies kann eine textinterne und textexterne Beziehung sein. Abweichungen von standardsprachlichen Normen und Konventionen, und zwar mit kommunikativer Funktion, findet man nicht selten auch in nichtliterarischen Textsorten, z.B. in Werbetexten, vgl. etwa Blumenthal (1983), Dittgen (1989), Eichholz (1995), häufig in kommentierenden Reportagetexten in Zeitungen und Zeitschriften, vgl. Nikula (2004a) usw. „Poetische Sprachverwendung im Sinne funktionaler Normabweichung“ (Fricke 1981: 103) kommt also auch in nichtliterarischen Texten vor. Nach Fricke (1981: 103) sei somit „funktionstragende Sprachabweichung“ keine hinreichende und deshalb auch keine definierende Bedingung für „Poesie“ (Literatur), sondern nur eine notwendige. Eine definierende Bedingung sei sie nur für die auch in anderen Textsorten vorkommende „poetische Sprachverwendung“. <?page no="136"?> 6 „Formale“ Aspekte des Literarischen 136 Fricke (1981) spezifiziert weiter verschiedene Typen von Abweichungen und stellt u.a. fest, für lyrische Texte seien primär grammatische, für epische Texte semantische und für dramatische Texte pragmatische Abweichungen charakteristisch, vgl. Fricke (1981: 115). Von zentraler Bedeutung ist, dass Fricke die Vorstellung einer „Grammatik der Poesie“ sehr deutlich ablehnt, vgl. Fricke (1981: 104). Es geht also nicht um eine besondere Sprache der Literatur, sondern um die (notwendige) Freiheit, von den Normen nichtliterarischer Sprache abzuweichen, und zwar in einer funktionstragenden Weise. Abweichungen von sprachlichen Normen sind jedoch, wie festgestellt wurde, in jeder Textsorte möglich und werden i.A. auch akzeptiert, wenn sie in irgendeiner Weise „funktionstragend“ oder „sinnvoll“ sind. Unter dieser Bedingung scheinen also Abweichungen von der Norm in der Tat „normgerecht“ zu sein. Es scheint allerdings wenigstens bezüglich der Erwartungen Unterschiede zwischen literarischen und nichtliterarischen Texten zu geben. Bezüglich nichtliterarischer Texte wird somit i.A. erwartet, dass Abweichungen von der Norm eher nicht vorkommen, wobei Ausnahmen unter bestimmten Bedingungen toleriert werden. Die Erwartbarkeit von Abweichungen kann aber in einigen nichtliterarischen Textsorten relativ stark sein, wie etwa in der Werbung. Wenn davon ausgegangen wird, dass jeder literarische Text notwendigerweise (funktionstragend) von der Norm abweichen muss, was wiederum eine Art Norm (oder „Metanorm“, vgl. Fricke 1981: 106f.) darstellt, müsste auch erwartet werden, dass solche Abweichungen tatsächlich vorkommen. Dabei wären auch Nicht-Abweichungen in gewissem Sinne Abweichungen. Dass aber der „normale“, d.h. nicht literaturwissenschaftlich oder linguistisch ausgebildete Rezipient die Lektüre eines beliebigen literarischen Textes mit solchen Erwartungen anfangen würde, scheint wenig plausibel. Eher wird nicht erwartet, dass Abweichungen von der Norm vorkommen würden (wenn sich der Leser überhaupt darüber Gedanken macht), aber wenn sie vorkommen, gilt dieselbe allgemeine Bedingung wie im Falle nichtliterarischer Texte. Fricke (1981: 101) schreibt: ‚Die Poesie‘ ist eine veränderliche soziale Institution, deren Geltungsbereich für jede Gesellschaft und für jede Zeit von neuem empirisch ermittelt werden muß. Deshalb sei „poetische Sprachverwendung („Abweichung“)“ kein hinreichendes Kriterium für „Poesie“ („Literatur“). Poetische Sprachverwendung sei aber ein notwendiges Kriterium für Poesie (vgl. auch oben), denn (Fricke 1981: 103): <?page no="137"?> 6.1 Poetische Sprache und Normativität - Abweichungspoetik 137 10 Auch in diesem Falle kann man sich fragen, ob der „normale“ Leser das Bedürfnis hat, den Text in diesem Sinne als „Literatur“ zu identifizieren. Dagegen ist es notwendig, dass er versteht, dass es um ästhetische Kommunikation geht. 11 Die Gedanken Frickes erinnern hier an die Systemtheorie, vgl. etwa Gansel/ Jürgens (2007: 81): „Textsorten lassen sich von einer Dominante - dem sozialen System/ Kommunikationsbereich - her klassifizieren.“ Auf Niklas Luhmann wird in der Tat an einigen Stellen in Fricke (1981 u. 2000) hingewiesen. 12 Das Wort schöne in Anführungszeichen, da das Ästhetische nicht notwendigerweise mit dem „Schönen“ verknüpft werden muss. Vgl. auch Fricke (1981: 202 und 2000: 68f.). […] wir hätten als Leser andernfalls keinerlei Anlaß und keinerlei mitteilbares, die Intersubjektivität der sozialen Institution ‚Literatur‘ erst begründendes Kriterium mehr, um die notwendig an das Medium der Sprache gebundene Poesie unter anderen Redeweisen als Poesie zu identifizieren. Wenn „Poesie“ oder „Literatur“ eine soziale Institution ist, „können aber in bestimmten Lesekulturen und Epochen Texte ohne konstante interne Gesamtfunktion als literarisch institutionalisiert sein“ (Fricke 1981: 102). 10 Das oben Gesagte bedeutet in der Tat, dass Texte, die durch keine poetische Sprachverwendung überhaupt charakterisiert sind, als „Literatur“ institutionalisiert werden können. 11 Aber auch Texte, die nicht als Literatur institutionalisiert sind, können als „Literatur“ „erlebt“ werden, und zwar davon unabhängig, ob sie durch poetische Sprachverwendung charakterisiert sind oder nicht. Als Historiker liest man Selbstbiographien, Reiseberichte, Briefe usw. „bedeutender Frauen und Männer“ als geschichtliche Dokumente. Man kann aber auch, wenn die Texte z.B. inhaltlich sehr spannend sind, wenigstens als Laie, von dem dokumentarischen Wert absehen und sie als „reine Literatur“ lesen, wobei man sich nicht so sehr um den Wahrheitswert kümmert, keine Quellenkritik übt, sondern nur den spannenden Inhalt und/ oder von der „schönen“ 12 Ausdrucksweise „genießt“. Umgekehrt können aber auch rein literarische Texte nichtliterarisch, etwa als historische Dokumente, rezipiert werden, vgl. Abschn. 5.1.4 oben. Texte, die weder durch „poetische Sprachverwendung“ irgendeiner Art charakterisiert, noch als „Literatur“ institutionalisiert sind, können sicherlich nicht als literarische Texte im Sinne von Texttypen oder -sorten betrachtet werden. Die Tatsache, dass nichtliterarische Texte literarisch interpretiert („genossen“ oder „erlebt“) werden können, deutet aber darauf hin, dass durch den Begriff der „poetischen Sprachverwendung“ im Sinne von „funktionstragender Abweichung“ und durch den Begriff der „Institutionalisierung“ nicht der Kern des Literarischen oder Poeti- <?page no="138"?> 6 „Formale“ Aspekte des Literarischen 138 schen erfasst wird. Ausgehend von der Textsortendefinition oben, Abschn. 2.2, kann man alle Texte, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Kultur als Literatur klassifiziert werden, als literarische Texte der einen oder der anderen literarischen Textsorte (Gattung) betrachten. Dabei kann angenommen werden, dass „poetische Abweichung“ zwar ein prototypisches, aber kein notwendiges Merkmal literarischer Texte sei. I.A. ist aber dieses prototypische Merkmal so stark institutionalisiert, dass es als notwendiges Merkmal empfunden wird. Dies könnte als eine mögliche sinnvolle „Definition“ des „literarischen Texttyps“ betrachtet werden, die sich hauptsächlich, aber in entscheidender Weise, d.h. bezüglich der Prototypizität des Merkmals der poetischen Abweichung, vom Textsortenbegriff in Fricke (1981) unterscheiden dürfte. Vor allem aber wird hier explizit zwischen literarischen Textsorten (literarischem Texttyp) und literarischer (ästhetischer) Kommunikation unterschieden, wobei die Wahl einer bestimmten literarischen Textsorte durch den Textproduzenten als Hinweis an den Rezipienten aufgefasst wird, den Text „literarisch“ zu rezipieren, vgl. Abschn. 2.2. Wenn auch „poetische Abweichung“ zweifelsohne als wichtiges Merkmal literarischer Texte betrachtet werden kann, und somit solche Abweichungen auch interessante und wichtige Untersuchungsobjekte der Sprachwissenschaft darstellen können, kann man sich also angesichts des oben Angeführten trotzdem fragen, ob mit dem Begriff der poetischen Abweichung überhaupt der Kern des Literarischen (oder Poetischen) getroffen wird. Vielleicht verhält es sich eher so, dass bestimmte „Abweichungen“ eine Konsequenz dessen darstellen, dass Texte produziert werden, um literarisch rezipiert zu werden? Die Abweichungen würden dabei eben als Hinweise für den Rezipienten dienen, den Text literarisch zu rezipieren. Wir bemühen uns, Abweichungen zu akzeptieren, die wir sonst eventuell nicht akzeptieren würden, weil wir aus verschiedenen Gründen - unter anderem wegen der Abweichungen selbst(! ) - verstehen, dass es um einen literarisch zu interpretierenden Text geht, d.h. die Abweichungen stützen die literarische Rezeption, werden aber gleichzeitig durch diese ermöglicht. Interessant ist dabei, dass die moderne Textverarbeitungspsychologie experimentell zu vergleichbaren Ergebnissen gekommen ist, vgl. etwa Holt/ Groeben (2005: 326): Unter literarischem Foregrounding sind also verschiedene stilistische Mittel zu verstehen, die Verstöße gegen unterschiedliche Normen auf verschiedenen Ebenen eines Textes darstellen und potenziell eine Hinwendung der Aufmerksamkeit auf formale Merkmale bewirken. In Analogie zur Figur- Grund-Unterscheidung lässt sich als relevante Dimension hier die Unterscheidung von Sprache/ Form vs. Inhalt rekonstruieren. <?page no="139"?> 6.1 Poetische Sprache und Normativität - Abweichungspoetik 139 Der Ausgangspunkt dieses Abschnitts waren also die Fragen, ob „Abweichung von der Norm“ als „konstitutives“ Merkmal literarischer Texte betrachtet werden kann und weiter, ob „literarische Kommunikation“ davon ausgehend erfasst werden kann. Das Ergebnis ist eindeutig, dass beide Fragen mit einem „Nein“ beantwortet werden müssen. Erstens muss zwischen Literatur als Klasse von Textsorten, als Texttyp, und Literatur als einer besonderen Art zu kommunizieren, d.h. „ästhetischer (literarischer) Kommunikation“, unterschieden werden. Textsorten, und somit natürlich auch Literatur als Texttyp, stellen real existierende und kommunikativ relevante Klassen von Texten dar. Sie sind kulturell und historisch gebundene Erscheinungen. Die literarischen Textsorten sind prototypische Mittel der literarischen Kommunikation, die sprachlich (strukturell, semantisch, pragmatisch usw.) von anderen Textsorten in verschiedener Weise „abweichen“ können und durch diese „Abweichungen“ als literarisch erkannt werden können. Literarizität als Form der Kommunikation wird nicht durch „Abweichungen von Normen“ konstituiert. Mithilfe der literarischen Textsorten wird dem Rezipienten nahegelegt, dass der gerade vorliegende Text literarisch, d.h. ästhetisch zu interpretieren ist. Dies bedeutet zugleich, dass es dem Rezipienten im Prinzip frei steht, den Text nichtliterarisch zu rezipieren. Es bedeutet aber auch, dass ein Autor neue textsortenkonstituierende „Abweichungen“ kreativ verwenden kann, um Literarizität zu signalisieren, wie auch, dass es möglich sein kann, dass Texte, die keine literarischen Textsortenmerkmale tragen, die vielleicht sogar überhaupt nicht formuliert wurden, um literarisch rezipiert zu werden, in bestimmten kommunikativen Kontexten trotzdem literarisch rezipiert werden. Auch wenn als Ergebnis festgestellt werden kann, dass funktionale Normabweichungen keine konstituierenden Merkmale von Literatur im Sinne von literarischer Kommunikation darstellen, sondern nur Textsortenklassen konstituieren können, sind sie linguistisch nicht uninteressant, sondern stellen als sprachliche Mittel der Kommunikation einen wichtigen und herausfordernden Forschungsgegenstand der Linguistik dar. Aus der Perspektive der hier vorgelegten Auffassung bedeutet aber eine Definition des literarischen Textes ausgehend von „Abweichungen von der Norm“, dass man sozusagen „den Wagen vor das Pferd spannt“, denn die Abweichungen werden durch die Ästhetisierung erst ermöglicht und können somit nicht selbst die Ästhetisierung erklären. Die Abweichungen können als Fiktionalisierungssignale dienen, sie werden durch die Fiktionalisierung ermöglicht und sie können Konsequenzen der Fiktionalisierung sein. Sämtliche dieser Aspekte hängen eng miteinander <?page no="140"?> 6 „Formale“ Aspekte des Literarischen 140 13 Hayward (1994) zeigt mit Hilfe von psycholinguistischen Tests, dass Fiktionalität erstaunlich leicht erkannt wird. Das Erkennen von Fiktionalität scheint eine grundlegende Komponente unserer kommunikativen Kompetenz zu sein. - Zum Problem der Erkennbarkeit von Fiktionalität aus einem anderen Blickwinkel, vgl. Petersen (1996). 14 Vgl. auch Grünkorn (1994: 17): „Fiktionalitätsindikatoren sind historisch bedingt, sie können zu einer Zeit auftauchen und wieder verschwinden, indem sie durch andere ersetzt werden.“ Die Gattungen sind natürlich historisch bedingte Erscheinungen, die eben als Fiktionalitätsindikatoren dienen können; wenn ein Text als Kurzgeschichte oder als Gedicht veröffentlicht wird, ist dies ein deutlicher Indikator für Fiktionalität. zusammen und können in der Praxis eher selten voneinander unterschieden werden. Eine Definition von literarischen Texten, ausgehend von dem Begriff der Abweichung, könnte aber als ein Versuch betrachtet werden, den „literarischen Texttyp“ als Klasse von Textsorten zu erfassen. Die literarischen Gattungen stellen eben Textsorten dar, die u.a. dadurch charakterisiert sind, dass sie bestimmte Abweichungen erlauben oder sogar voraussetzen. Es geht dabei normalerweise nicht um Abweichungen von irgendwelchen literarischen Normen, sondern um „Abweichungen“ von Normen, die für nichtliterarische Texte gelten und somit die literarischen Textsorten von nichtliterarischen unterscheiden, wie auch die verschiedenen literarischen Gattungen und Genres gegeneinander abgrenzen. Außerdem können „Abweichungen“ sowohl in literarischen Texten (von der aktuellen literarischen Norm) wie auch in nichtliterarischen Texten (von Normen nichtliterarischer Texte), häufig etwa in der Werbung, vorkommen. Durch die Fiktionalisierung wird der Text als Text fokussiert. Durch den Verzicht auf die Festlegung einer textunabhängigen Textwelt entsteht eine größere Freiheit bei der Textgestaltung. Die Textwelt kann Züge einer fiktiven Welt enthalten, wobei die Fiktivität selbst auch als Signal der Fiktionalisierung dienen kann, z.B. dass Tiere etwa reden und singen können; in diesem Falle werden die Grenzen eher durch die Glaubwürdigkeit als durch die Grammatik gesetzt. 13 Durch die Fiktionalisierung entsteht aber auch die Möglichkeit, gegen rein sprachliche Regeln und Normen zu verstoßen, z.B. gegen Regeln der syntaktischen und semantischen Valenz. Eine totale Freiheit gibt es dabei natürlich nicht. Erstens gibt es immer zeitlich gebundene Normen der verschiedenen Gattungen. 14 Zweitens setzt die Interpretierbarkeit bestimmte Grenzen, wie auch die Bereitschaft der Rezipienten, sich anzustrengen. <?page no="141"?> 6.2 Stil 141 15 Die Gedichte wurden erstmals 1956 bzw. 1959 veröffentlicht. 16 In der Tat kommen sogar Termini wie style und stylistics im Sachregister von Black (2006) überhaupt nicht vor! An sich unterscheidet Black (2006) zwischen literarischer Kommunikation und literarischen Texten in einer Weise, die der hier vorliegenden zum Teil sehr ähnlich ist, auch wenn der Begriff des Ästhetischen nicht, wie Metaphern und ähnliche Fälle des „uneigentlichen Sprechens“ stellen in gewissem Sinne Regelverstöße dar, vgl. auch oben Abschn. 3.6. Die Fiktionalisierung durch Entkontextualisierung bedeutet dabei, dass ein sprachlicher Ausdruck, der in nichtliterarischer Kommunikation eine metaphorische Interpretation verlangen würde, bei literarischer Rezeption vielleicht wörtlich interpretiert werden kann, d.h. dass die Frage der Metaphorisierung in fiktionalisierter Rede vielleicht zunächst nicht aktuell wird, genau wie von der eventuellen Fiktivität der Inhalte fiktionalisierter Texte zunächst abgesehen werden kann. Bei der Lektüre von Kafkas Die Verwandlung braucht zunächst nicht Stellung zur Frage genommen werden, „was es eigentlich bedeutet“, dass Gregor Samsa „[…] eines Morgens […] sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt [findet]“. (Kafka 1962a: 23) Wenn wir im Gedicht Der Augenblick des Fensters von Karl Krolow lesen, „Jemand schüttet Licht / Aus dem Fenster“, oder wenn im Gedicht Erwachen von demselben Autor steht, „Die Minuten, die / Meine Finger umschließen, / Haben kein Gewicht“ (Krolow 1980: 62 bzw. 63), 15 müssen wir nicht unmittelbar davon ausgehen, dass etwa die Regeln der semantischen Valenz von schütten bzw. umschließen verletzt worden wären und die Interpretation mit Hilfe irgendeiner metaphorischen „Umdeutung“ durchführen (auch wenn wir es natürlich tun könnten). Die Fiktionalisierung durch Entkontextualisierung erlaubt uns, diese Textstellen so zu lesen, wie sie sind, oder vielleicht besser, so zu betrachten, wie sie dargestellt worden sind. 6.2 Stil Auch wenn die moderne sprachwissenschaftliche Stilforschung davon ausgeht, dass Stil keine besondere Eigenschaft literarischer Texte ist, wird Stil trotzdem häufig v.a. mit literarischen Texten verknüpft. So trägt z.B. die Arbeit von Black (2006) den Titel Pragmatic Stylistics, was vermuten ließe, dass es um eine Arbeit über pragmatische Stilistik im Sinne von etwa Sandig (1978) oder (2006) gehen würde, aber es geht in der Tat um eine an sich sehr interessante Arbeit zu Eigenschaften literarischer Kommunikation überhaupt. 16 Die Auffassung, dass der Stil eine besondere <?page no="142"?> 6 „Formale“ Aspekte des Literarischen 142 hier, zentral ist, vgl. Black (2006: 15f.): „There is no evidence that literary discourse differs from non-literary texts as texts. Literary discourse uses any devices available in the language. The text is self-contained: the context is created by the discourse. All elements necessary for its interpretation must be built in. It is addressed to an absent audience; the message is conveyed indirectly through the words of characters, which may be transmitted through the voice of a narrator. The result is an embedded discourse, where the meaning of a token can change according to the level it is placed on. [...] Referentially, fictional discourse does not refer to the real world, but to an imaginary construct. While ordinary language may be described as ,doing things with words‘, literary discourse does not usually have, or expect to have, a direct impact upon the world.“ 17 Im Original gesperrt statt kursiv. Vgl. auch Göttert/ Jungen (2004: 13). Relevanz bei literarischer Kommunikation hätte, scheint sehr verbreitet zu sein. Hayne (1927: 456f.) schreibt: „Der Stil ist der Mensch“, läuft ein geflügeltes Wort [---] In seinem reinsten und wahrsten Sinne ist Stil die Treue zur Idee, zur persönlichen Eigenart und die wohlausgeglichene Harmonie zwischen den beiden.“ 17 Der ursprünglich französische Ausdruck le style est l’homme même zeigt, wie zentral und wichtig „Stil“ ist. Der Begriff Stil scheint aber äußerst schwierig bestimmbar zu sein. So schreiben Karl Göttert und Oliver Jungen in ihrer Einführung in die Stilistik Folgendes, Göttert/ Jungen (2004: 13): Das hat Stil! Oder auch: Das hat keinen Stil! - erstaunlicherweise verstehen wir solche Aussagen bestens, ohne sagen zu können, was eigentlich Stil ist. Diese definitorische Verlegenheit stellt kein kleines Manko für eine Stilistik dar. Eine Einführung in die Disziplin der Stilistik hat es etwas einfacher, weil sie das Manko nur zu benennen, nicht zu beheben braucht. Keine der zahlreichen sprachgeschichtlichen Stilistiken, keine der heutigen oder älteren Ratgeber-Stilistiken, nicht einmal die angrenzende Stil-Geschichte, konnte in allgemein gültiger (und das heißt: akzeptierter) Weise klären, was genau wir unter Stil zu verstehen haben. Keine dieser Publikationen konnte demnach den eigenen Gegenstand bestimmen. Das Erkennen von Stil scheint also eine grundlegende, offenbar auch wichtige Fähigkeit der Menschen zu sein, auch wenn diese nicht genau sagen können, worum es geht. Kann man aber etwas überhaupt beschreiben, was man nicht definieren kann? Kann man also den Stil eines Textes beschreiben, auch wenn man nicht genau sagen kann, was unter Stil an sich zu verstehen ist? Das Interessante ist, dass die Existenz des <?page no="143"?> 6.2 Stil 143 18 Winko (2009: 374f.) schreibt bezüglich der Unterschiedung zwischen literarischen und anderen Texten u.a.: „Die theoretisch schwierig oder auch gar nicht zu leistende klare Abgrenzung literarischer Texte von nicht-literarischen stellt im ‚täglichen Umgang‘ mit diesen Texten offenbar kein Problem dar.“ Phänomens Stil kaum in Frage gestellt wird, wie auch, dass man sich i.A. recht sicher darüber zu sein scheint, was Stil ist, dass aber die Versuche, das Phänomen selbst zu definieren, nicht ganz überzeugend gelingen, und dass folglich auch Versuche, den Stil einzelner Texte zu beschreiben, wenigstens im Prinzip zum Scheitern verurteilt sein müssten. Dagegen kann offenbar eine Vorstellung vom Stil des in Frage kommenden Textes durch Beschreibung von Strukturen und durch Verwendung charakterisierender Bezeichnungen wie „trocken“ „lebhaft“, „Papierdeutsch“, „wissenschaftlicher Stil“, „Behördenstil“ usw. hervorgerufen werden. Nach Fix (1990: 7) sei das Phänomen Stil nicht definierbar: Es hat sich im Laufe zahlreicher Versuche, Stil zu definieren, als unmöglich und wohl auch unsinnig erwiesen, eine alle Aspekte erfassende Definition für das Phänomen Stil zu geben, für ein Phänomen, von dem man zwar - auf den ersten Blick - ein gemeinsames, in groben Zügen auch tatsächlich übereinstimmendes, Verständnis hat, an dem - auf den zweiten Blick - aber sehr viele, sehr unterschiedliche und verschieden gewichtete Aspekte auffallen. Ist Stil nur aus dem Grunde so schwer zu erfassen und zu beschreiben, weil es ein so komplexes Phänomen darstellt, oder geht es um etwas, was seinem Wesen nach letzten Endes nicht beschreibbar ist. Den Eindruck, Stil sei nicht beschreibbar, enthält man in der Tat sehr schnell nach der Lektüre verschiedener linguistischer und literaturwissenschaftlicher Arbeiten zum Stil, vgl. auch etwa Anderegg (1977: 14f., 101-103), Heinemann/ Viehweger (1991: 255-258), Sandig (2006: 536). Die Suche nach einer allgemeingültigen Definition für Stil scheint mit der Suche nach der „Weltformel“ für „Literarizität und Poezität“ vergleichbar zu sein, vgl. Winko (2009). 18 6.2.1 Stil und Ästhetik Die Existenz des Lexems Stil mit allen seinen Ableitungen und Zusammensetzungen zeigt, dass es um ein für uns sehr wichtiges Phänomen geht, vgl. Sandig (2006: 7ff.). Stil entsteht als Ergebnis menschlichen Handelns. So kann z.B. vom Stil eines Gartens gesprochen werden, kaum aber vom Stil eines natürlichen Waldes, auch wenn Wälder sich sehr <?page no="144"?> 6 „Formale“ Aspekte des Literarischen 144 19 Ein Vergleich mit dem, was Piecha (2002) zur Unterscheidung zwischen ästhetischen Objekten sagt, die keine Kunstwerke sind, und solchen, die als Kunstwerke betrachtet werden können, ist hier interessant, Piecha (2002: 80): „Ganz allgemein ist die Interpretation durch den Betrachter immer ein Bestandteil ästhetischer Objekte. Während aber für die Betrachtung von Kunstwerken (als Kunstwerke! ) die Interpretation notwendigerweise aus einer Wahrnehmungsweise und einer Auslegung bestehen muß, ist für die nicht-künstlerisch ästhetische Betrachtung eines Gegenstandes eine entsprechend noch zu charakterisierende Wahrnehmungsweise hinreichend [...]. Kunstwerke haben einen Inhalt, sie sind über etwas, beziehen sich auf bestimmte Ansichten und Theorien darüber, was Kunst ist. Eine angemessene Rezeption eines Kunstwerkes muß derartige Bezüge berücksichtigen, das heißt, sie muß eine Auslegung einschließen.“ Sowohl (natürliche) Wälder als auch Gärten können also als ästhetische Objekte wahrgenommen werden, aber nur ein Garten könnte eventuell als Kunstwerk aufgefasst werden, d. h. nur solche ästhetische Objekte, denen „Stil“ zugesprochen werden kann, können potentiell als Kunst betrachtet werden. - Der Begriff der „Auslegung“ bei Piecha (2002) hängt mit dem Thema seiner Arbeit zusammen, d.h. mit der Begründbarkeit ästhetischer Werturteile. Vgl. aber auch die Behauptung von Breuer, U. (2002a: 69f.), literarische Texte seien „interpretationsbedürftig“, wie auch oben Abschn. 3.3. Hier geht es darum, dass der Rezipient versteht, dass es um ästhtetische Kommunikation geht und das „Objekt“ entsprechend rezipiert. 20 In einer Festschrift für Bernd Spillner zum 60. Geburtstag. deutlich durch verschiedene Eigenschaften voneinander unterscheiden können, die im Falle von Gärten als „Stilmerkmale“ betrachtet werden können. 19 Nicht nur Artefakten wie Gärten und Texten, sondern Ergebnissen der verschiedensten Handlungen, ja sogar Handlungen selbst kann Stil zugesprochen werden - jemand kann z.B. durch seinen aggressiven Fahrstil auffallen. Es wird von „kommunikativen“ oder „sozialen“ Stilen, vgl. Harms (2008), Keim/ Schütte (Hrsg.) (2002), von „Argumentationsstilen“, vgl. Bachem (1996), und sogar von „Denkstilen“ gesprochen, vgl. etwa Ylönen (2011), usw. Auch einzelnen Personen kann Stil zugesprochen werden, vgl. Nelde (2001: 9): „Einem Forscher und Lehrer mit Kultur und Stil fällt es offensichtlich leichter, ein guter Wissenschaftler zu sein.“ 20 Verschiedene Automodelle und Autojahrgänge können ausgehend vom Stil unterschieden werden, und zwar ohne dass wir notwendigerweise immer die genauen Gründe dafür angeben können, sie können durch Styling und Tuning einen „Individualstil“ erhalten, usw. und so fort. Wenn irgendeinem Artefakt Stil zugesprochen wird, scheint die Gestaltung, die Art und Weise, d.h. das „Wie“ grundlegend zu sein. Das Wie scheint auch mehr oder weniger exakt und leicht beschreibbar zu sein. So lässt sich z.B. die finnische Jugendarchitektur relativ leicht ausgehend von bestimmten charakteristischen Merkmalen beschreiben, <?page no="145"?> 6.2 Stil 145 21 Sandig (2006) verwendet den Begriff „Bündel kookkurrierender Merkmale“, vgl. besonders Sandig (2006: 54ff.). 22 Vielleicht könnte auch kommunikativen Handlungen von höheren Tieren Stil zugesprochen werden, etwa wenn sie in der Brunftzeit das andere Geschlecht zu beeindrucken versuchen. Vielleicht kann man hier wenigstens den „Ursprung“ des Stils finden! verschiedene Stiltypen von Texten können mit Hilfe von verschiedenen sprachlichen Kriterien erfasst werden usw. Wenn man aber z.B. den deutschen Jugendstil mit etwa dem finnischen, schwedischen, österreichischen oder polnischen usw. zu vergleichen versucht, ist es nicht ganz einfach, eindeutige gemeinsame Merkmale zu finden. Trotzdem empfinden wir sehr leicht und schnell, dass eine deutliche Ähnlichkeit vorliegt, die man vielleicht als eine Art „Familienähnlichkeit“ betrachten könnte. Die beschreibbaren Merkmale und deren Bündelung bzw. Strukturierung scheinen somit eigentlich nicht das zu sein, was wir als „Stil“ empfinden, sondern das, was uns veranlasst, Stil wahrzunehmen. 21 - Die Tatsache, dass nur Ergebnissen menschlichen Handelns oder menschlichen Handlungen Stil zugesprochen werden kann, hängt damit zusammen, dass es bei Stil ganz offenbar immer um Kommunikation geht, intentional oder unintentional. 22 Im Obigen geht es vor allem um (mehr oder weniger stark konventionalisierte) Stile, die sich aufgrund von verschiedenen Eigenschaften mehr oder weniger deutlich voneinander unterscheiden. Es handelt sich dabei streng genommen nicht um das Phänomen „Stil“ selbst, das keinen Plural kennt. Wenn wir der Meinung sind, dass etwas „Stil hat“, „stilvoll ist“, geht es nicht notwendigerweise darum, dass wir ausgehend von eindeutig identifizierbaren unterscheidenden Merkmalen diese Artefakte von anderen vergleichbaren Artefakten unterscheiden würden. Wenn wir die Architektur eines Hauses als schön, hässlich, trivial, provokativ, protzig, düster, nichtssagend, kreativ usw. erleben, ist dies eben ein Erlebnis, das wir nicht exakt beschreiben können, ein Erlebnis, das in der Tat „trivialisiert“ zu werden scheint, wenn wir es zu beschreiben versuchen. Auch können Prädikate wie „schön“, „hässlich“ usw. nicht als unterscheidende Merkmale im strikten Sinne aufgefasst werden, sondern dienen nur dazu, unsere Erlebnisse vom Objekt Ausdruck zu geben. - Vor allem ein Fachmann auf dem Gebiet kann i.A. irgendwie begründen, warum er selbst z.B. der Meinung ist, die Architektur des betreffenden Hauses sei z.B. „hässlich“: es fehlten die richtigen Proportionen, das Material der Fassade sei nicht in Übereinstimmung mit dem Material des Daches usw., was vielleicht einleuchtend klingen mag, aber auch diese <?page no="146"?> 6 „Formale“ Aspekte des Literarischen 146 Merkmale stellen letzten Endes keine „objektive“ Begründung dafür dar, weshalb das Haus als hässlich und nicht als schön betrachtet werden müsste. Dasselbe Haus, das wir eigentlich als hässlich betrachten, würden wir vielleicht aus Gründen der Höflichkeit nur als „stillos“ bezeichnen, d.h. „hässlich“, „schön“, „trivial“, „nichtssagend“, „kreativ“ usw. wären Prädikate mit derselben Funktion wie „stillos“ oder „stilvoll“, d.h. Prädikate, die eine ästhetische Wertung ausdrücken oder ausdrücken können, vgl. weiter auch Piecha (2002: 87ff.). Das oben Gesagte deutet an, dass durch den Begriff „Stil“ ein ästhetisches Phänomen im eigentlichen Sinne erfasst wird. Stil in diesem Sinne wäre also etwas Erlebtes, was man nicht direkt beschreiben kann, es würde also um etwas „Ästhetisches“, oder genauer, um ein ästhetischaisthetisches Phänomen gehen. Aber alles, was „ästhetisch“ erlebt werden kann, wird natürlich nicht durch den Begriff Stil erfasst, da Stil erstens nur Artefakte betrifft, und zweitens kommunikativ bedeutungsvoll ist. Stil wäre somit als ein Aspekt des Ästhetischen zu betrachten, und zwar als ein emergentes Phänomen und somit auch als etwas, was nicht etwa „kompositional“ aus denjenigen Merkmalen abgeleitet werden kann, die zum ästhetischen Erleben beitragen. Gauger (1995: 16) schreibt: „Eine Stiluntersuchung ist absurd, wenn sie sich vom Erleben des Lesers trennt oder sich gar zu diesem Erleben nicht in Beziehung setzen lässt.“ 6.2.2 Stil und Bedeutung Wenn, wie oben im Kapitel 3 argumentiert wird, jedes Verstehen auch eine ästhetisch-aisthetische Dimension hat, betrifft dies sowohl nichtliterarische als auch literarische Texte. Die im Abschn. 5.2 behandelte Ästhetisierung durch Entkontextualisierung bei literarischer Kommunikation führt dabei zu einer Art „Selbstreferenzialität“, nämlich dazu, dass das Wie von dem Was nicht unterscheidbar ist. Es gibt dabei zwangsläufig keine Alternative eines literarischen Textes, d.h. eines Textes in literarischer Interpretation, denn wenn sich das Wie verändert, verändert sich zwangsläufig auch das Was, wenn auch vielleicht nur ein wenig. Wir können nichtliterarisch etwa über denselben Verkehrsunfall in sehr verschiedener Weise berichten, auch „stilmäßig“, und sagen, es gehe um denselben Unfall. Wenn aber über einen Unfall literarisch erzählt wird, geht es nie genau um denselben Unfall, wenn dieser in anderer Weise dargestellt wird, weil in literarischer Kommunikation das Erzählte ein Ergebnis des Erzählens selbst ist. <?page no="147"?> 6.2 Stil 147 23 Zum Begriff „Höflichkeitsstil“, vgl. auch Lüger (2000a). Fix (2006a: 246) schreibt: Neben der ästhetisch fundierten Vorstellung von ‚Stil als Wahl‘ existiert nun aber die Bewusstheit dessen, dass man eine Wahl zwischen Ausdruckmöglichkeiten nicht ohne inhaltliche Folgen treffen kann, dass es, um ein Beispiel zu geben, nicht ohne Bedeutung ist, ob man zu seinem Gesprächspartner sagt: Bitte sei doch einmal so freundlich herzukommen! Oder Kommst Du endlich! Diese Überlegung gilt allerdings nicht künstlerischen Texten, sondern Sachtexten, primär solchen der institutionellen Kommunikation, und Äußerungen der Alltagskommunikation. Ausgehend von dem, was schon hier angeführt worden ist, kann nicht ganz kommentarlos dem zugestimmt werden, was Fix (2006a) hier behauptet. D.h. wenn man daran festhält, dass „Stil“ selbst ein ästhetisches Phänomen ist, und dass es in dieser Hinsicht keinen Unterschied zwischen literarischer und nichtliterarischer Kommunikation gibt. In beiden Fällen beeinflusst die Wahl zwischen verschiedenen Formulierungen - mehr oder weniger deutlich - die Bedeutung. In literarischer Kommunikation braucht der Textproduzent den sozialen Sinn, der sonst durch die Formulierung des Textes vermittelt werden kann, wegen der Entkontextualisierung nicht zu berücksichtigen - und er kann es wegen der Entkontextualisierung auch nicht. Ein sehr grundlegendes Element des „sozialen Sinns“ eines Textes stellt die „Höflichkeit“ dar. Lüger (2000b: 166) schreibt: 23 Betrachtet man ‚Höflichkeit‘ als eine bestimmte, von den Teilnehmern als positiv empfundene Form von Beziehungsarbeit, dann ist sie somit integraler Bestandteil jedweder Kommunikation. Höflichkeit hat keinen Sonderstatus, sie ist gewissermaßen der „Normalfall“, und sie braucht auch nicht erst aufgrund einer Abweichung von der Griceschen Ausdrucksmaxime „Be brief (avoid unnecessary prolixity)“ über konversationelle Implikaturen rekonstruiert zu werden. Dies gilt natürlich gleichermaßen für institutionelle Handlungsbereiche: Prinzipiell kann man jede Äußerung unter dem Gesichtspunkt der Beziehungsarbeit als mehr oder weniger höflich verstehen. Bei literarischer Kommunikation kann aber wegen der Entkontextualisierung keine unmittelbare Beziehung der Höflichkeit zwischen dem realen Autor und dem realen Leser als Bestandteil des sozialen Sinns bestehen. Dagegen können Beziehungen der Höflichkeit innerhalb der evozierten Textwelt ausgedrückt werden, wie Lüger (2002, 2005 u. 2010) selbst ganz schön zeigt. <?page no="148"?> 6 „Formale“ Aspekte des Literarischen 148 24 Notiert werden kann, dass in den letzten Jahren viele Arbeiten zum „sozialen“ bzw. „kommunikativen“ Stil veröffentlicht worden sind, vgl. etwa Harms (2008) (ausgehend von Barbara Sandigs pragmatischem Stilbegriff) und Keim/ Schütte (Hrsg.) (2002). Was z.B. die „Jugendsprache“ betrifft, geht es offenbar nicht so sehr um eine Sprache oder Sprachenvarietät im engeren Sinne (Sprachsystem), sondern v.a. um gruppentypische Sprechstile, wodurch eine Gruppe sich gegenüber anderen zu positionieren versucht, vgl. weiter etwa Neuland (2008: 39f., 71f.), Schlobinski/ Schmid (1996: 2213, 222f.). Keim (2006: 79) schreibt: „Stile werden zum Ausdruck sozialer Zugehörigkeit und zur Abgrenzung gegenüber anderen sozialen Welten bzw. Gruppen eingesetzt.“ 25 Vgl. aber Fix (2001), wie auch Fix (1996), wo Gedanken ausgedrückt werden, die den hier angeführten zum Teil recht ähnlich sind, vgl. Fix (2001: 39, Fn. 9) wobei sie die folgenden Zeilen von Welsch (1993: 9f.) zitiert: „Ich möchte Ästhetik genereller als Aisthetik verstehen: als Thematisierung von Wahrnehmungen aller Art, sinnenhaften ebenso wie geistigen, alltäglichen wie sublimen, lebensweltlichen wie künstlerischen.“ Vgl. auch Sandig (2006), besonders S. 69ff. 26 Sperber/ Wilson (2004: 217f.) äußern sich im Rahmen ihrer Relevanztheorie in ähnlicher Weise: „It is sometimes said that style is the man. We would rather say that style is the relationship. From the style of a communication it is possible to infer such things as what the speaker takes to be the hearer´s cognitive capacities and level of attention, how much help or guidance she is prepared to give him in processing her utterance, the degree of complicity between them, their emotional closeness or distance. In other words, a speaker not only aims to enlarge the mutual cognitive environment she shares with the hearer; she also assumes a certain degree of mutuality, which is indicated, and sometimes communicated, by her style.“ Weiter Sperber/ Wilson (2004: 219): „Style arises, we maintain, in the pursuit of relevance.“ In nichtliterarischer Kommunikation spielt, genau wie Fix (2006a) oben behauptet, der soziale Sinn eine zentrale Rolle. 24 Das Ästhetische wird aber offenbar von Fix (2006a) ein wenig anders verstanden, als es oben im Kapitel 3 beschrieben wurde. 25 Nach Fix (2006a) sei es möglich, zwischen einem „Primärsinn“ und einem „Zweitsinn“ von Texten zu unterscheiden, Fix (2006a: 253): 26 Ganz gleich, ob man es will oder nicht, man vermittelt durch den Stil seiner Äußerungen zusätzlich zum ‚Primärsinn‘, der Sachinformation, einen ‚Zweitsinn‘, d.h. eine über die Form vermittelte Information darüber, wie man sich selbst sieht bzw. wie man von anderen gesehen werden möchte. Hier kann man Fix (2006a) nur zustimmen, wenn es um nichtliterarische Kommunikation geht. Bei literarischer Kommunikation verhält es sich aber anders, und zwar nicht nur deshalb, weil der soziale Sinn, wie auch Fix (2006a: 246) notiert, nicht in derselben Weise in nichtliterarischer Kommunikation relevant ist, sondern v.a., weil die Entkontextualisierung bei literarischer Kommunikation keine Unterscheidung zwischen Primär- und Zweitsinn erlaubt. Vielleicht ist es einfach so, dass nur Texte <?page no="149"?> 6.2 Stil 149 27 Sicherlich deutet die schlechte Formulierung eines nichtliterarischen Textes häufig auf eine nicht besonders hohe inhaltliche Qualität, was aber auch textsortenabhängig ist. Vgl. dazu auch Nöth (2009: 1181). 28 Göttert/ Jungen (2004: 35) sind der Meinung, es gäbe „ein grundlegendes Problem“ der pragmatischen Stilanalyse: „Wenn die pragmatische Funktion eines Stils oder einer Formulierung nachgewiesen werden soll, kann man nicht einfach von der Wirkung dieser Äußerung ausgehen und im Rückblick die Formulierung als die entsprechende Handlungsbestimmung verstehen. Ansonsten [...] erhält man zwar eindeutige Lösungen, aber diese sind eben keine Einsichten, sondern Zirkelschlüsse.“ in nichtliterarischer Kommunikation Stil haben können? Von einem nichtliterarischen Text kann es möglich sein zu sagen, ein Text sei inhaltlich genial, sein Stil aber erbärmlich. 27 Von einem literarischen Text kann man dies grundsätzlich nicht sagen. Bei der Beurteilung eines nichtliterarischen Textes als Text beurteilen wir das Wie, d.h. wie gut die Form den Inhalt zum Ausdruck bringt, bei der Beurteilung eines literarischen Textes als Text können wir nicht das Wie beurteilen ohne gleichzeitig das Was zu beurteilen, vgl. auch Nikula (1984 u. 2008). Dies lässt darauf schließen, dass bei literarischer Kommunikation keine gesonderte Stilebene vorliegt. Man kann sich allerdings fragen, ob alles, was als „Zweitsinn“ betrachtet werden kann, überhaupt mit dem Begriff „Stil“ verknüpft werden sollte. Fix (2006a: 253) definiert Stil aus pragmatisch-stilistischer Sicht folgendermaßen: Zwei Grundgedanken prägen die pragmatische Stilistik. Der erste Gedanke besteht darin, Stil in Anknüpfung an die Sprechakttheorie als intentionale Handlung zu betrachten. Stile werden als die Arten von Formulierungen bestimmt, die Sender Adressaten gegenüber zu bestimmten Zwecken gebrauchen. Nur wenn die Muster stilistischen Handelns allen Beteiligten bekannt sind, kann stilistische Bedeutung vermittelt werden. Vieles, was man in der pragmatischen Stilistik mit dem Begriff Stil zu erfassen versucht, könnte in der Tat eher als Implikaturen im Sinne von Grice (1975) aufgefasst werden. Eine Formulierung wie Bitte sei doch einmal so freundlich herzukommen! würde somit eine andere „Implikatur“ als Kommst Du endlich! hervorrufen. Die Verwendung von verschiedenen Textsortenmustern wäre mit verschiedenen „Implikaturen“ verknüpft, die verschiedene Arten der Rezeption nahe legen. Der Inhalt oder Sinn solcher „Implikaturen“ ist relativ leicht beschreibbar und braucht nicht indirekt auf „Umwege“ evoziert zu werden, d.h. es geht nicht um ästhetische Phänomene und somit nicht um Stil. 28 Es würde also um „Schlüsse <?page no="150"?> 6 „Formale“ Aspekte des Literarischen 150 29 Die verschiedensten Aspekte von Texten können als Stilmittel verwendet werden. So verwendet Wagner, D. (2009) in seinem Roman Vier Äpfel Fußnoten als Stilmittel, vielleicht um den Eindruck der Glaubwürdigkeit zu stärken. Es würde also um einen Ausdruck der Evidentialität gehen, vgl. oben Abschn. 5.1.1. Auf 159 Seiten gibt es in diesem literarischen Text 52 zum Teil relativ lange Fußnoten. 30 Zur Beziehung zwischen Gestaltung, Kohärenz, Gestalt und Formulierung vgl. Abschn. 2.1. 31 Vgl. etwa Hoffmann (2008: 65): „Stil ist ein Zeichen (typischerweise ein Zeichengefüge) in der Kommunikation mit Informationen über die Kommunikation [...].“ Gardt (2009: 1202): „Dabei gilt, dass alles an einem Text potentiell bedeutungstragend ist, seine lexikalischen Elemente, seine grammatischen Formen und alle Gestaltungsmittel, die Elemente und Formen in Beziehung zueinander setzen, einschließlich der Strukturen des Textes als ganzem, d. h. seines Aufbaus, der argumentativen Verknüpfung seiner Segmente usw. In ihrem Ensemble bilden diese Größen den Stil des Textes.“ Vgl. weiter Abraham, U. (2009), Heinemann (2009), Nöth (2009: 1178). ziehen“ gehen, und zwar ausgehend von den ausgedrückten Propositionen in dem gegebenen Kontext, nicht um ein Erschließen durch Erleben, vgl. oben Abschn. 3.3. Dagegen können Formulierungen wie die beiden angeführten, die Verwendung von verschiedenen Textsortenmustern, wie überhaupt Formulierungen jeder Art, zusätzlich zu den „implikatierten“ Bedeutungen stilistische Erlebnisse hervorrufen, die zum Gesamtsinn beitragen. Die Stilmittel können also mit Hilfe anderer üblicher Begriffe erfasst werden, wie etwa Komplexität, Satzlänge, Nominalisierung, Topikalisierung, thematische Progression usw., und deren Verteilung und Bündelung, verschiedene rhetorische Mittel, nicht aber der Stil selbst. 29 Das stilistische Erlebnis des Rezipienten, der „stilistische Sinn“, kann vom Textproduzenten intendiert oder auch nicht intendiert sein, und kann außerdem einen mehr oder weniger „konventionellen“ Charakter besitzen. Der Stil könnte vielleicht als ein Aspekt oder Element des „Zweitsinns“ betrachtet werden. Die Bündelungen formaler Merkmale kann eine Kohäsion der Mittel ergeben, die als Kohärenz und Gestalt gedeutet wird und dadurch als Stil erlebt werden kann. 30 Das Erlebnis von Stil setzt also voraus, dass die Formulierung selbst als sinnvoll erlebt wird, wobei die Gestaltung als Zeichen interpretiert werden kann. 31 Es geht aber nicht etwa um ein symbolisches Zeichen, da die Gestaltung als Zeichen nicht „für etwas steht“, sondern unmittelbar ein Erlebnis evoziert. Man könnte vielleicht den Stil eher als Symptom denn als Symbol betrachten, wobei allerdings beachtet werden muss, dass die Stilmittel sowohl bewusst als auch unbewusst verwendet werden können, vgl. auch Abschn. 3.5 oben. Das evozierte Erlebnis kann wiederum das Verhalten des Rezipienten beein- <?page no="151"?> 6.2 Stil 151 32 Versuche, den Unterschied zwischen Stil und Design zu bestimmen, und zwar auch zwischen Textstil und Textdesign, stellen Antos (2001) und Rothkegel (2001) dar. flussen, d.h. eine Stilwirkung haben. Im Unterschied zu den konventionellen sprachlichen Zeichen ist die Zuordnung zwischen Inhalt und Ausdruck im Falle des Stils nie total konventionalisiert. Wenn die Zuordnung allzu stark konventionalisiert wird, müssen neue Mittel angewendet werden. In diesem Sinne geht es beim Stil um Abweichungen von Erwartungen des Rezipienten. Dies betrifft nicht nur sprachliche Texte, sondern die verschiedensten Ergebnisse menschlichen Handelns, etwa das Autodesign. Einerseits gibt es bestimmte Modeerscheinungen im Autodesign, die es möglich machen, das ungefähre Baujahr festzustellen, wobei die Kontinuität der „Formsprache“ einer Automarke eine wichtige identitätsstiftende Funktion hat. Andererseits muss das Design sich immer wieder verändern, weil es schnell zur Konvention und somit mehr oder weniger stilneutral wird und als Mittel der Selbstdarstellung des Autobesitzers geschwächt werden kann. Da Design Gestaltung beinhaltet, gibt es also einen deutlichen Zusammenhang zwischen Design und Stil, aber es geht nicht um dasselbe. Design kann Erlebnisse von Stil evozieren und kann somit auch bewusst verwendet werden, um Stilerlebnisse zu evozieren. 32 Wenn ein Zeichen als (wenigstens) bilateral aufgefasst wird, d.h. aus Zeichenträger und Zeicheninhalt bestehend, und wenn Stil eine Art Zeichen ist, dann können also Stilmerkmale wie Komplexität, Nominalisierung, Themenentfaltung, Wortwahl usw. nicht den Stil eines Textes darstellen. Wenn etwa vom „trockenen Beamtenstil“ gesprochen wird, wird somit nur versucht, dasselbe Erlebnis zu aktualisieren, das durch bestimmte Stilmittel hervorgerufen werden kann. Der Stil eines Textes als Zeichen besteht aus den Stilmitteln zusammen mit dem Erlebnis, das durch diese Mittel evoziert wird. 6.2.3 Beispielanalysen Oben wurde angedeutet, dass man im Rahmen einer pragmatischen Stilistik sogar behaupten könnte, bei literarischer Kommunikation sei der Begriff Stil nicht relevant. Dies ist nur insofern richtig, dass bei der Interpretation eines Textes in literarischer Kommunikation die Unterscheidung einer besonderen Stilebene weder relevant noch möglich ist. Wenn aber ein literarischer Text z.B. Objekt einer wissenschaftlichen Untersuchung <?page no="152"?> 6 „Formale“ Aspekte des Literarischen 152 33 Es ist interessant, diese Beobachtungen zur Behauptung Coserius (1994: 79-82) in Beziehung zu setzen, der meint, der Leser eines literarischen Textes würde sich primär für das Was, der Leser eines nichtliterarischen Textes dagegen primär für das Wie interessieren. Vgl. dazu Luukkainen (2002: 218f.). Zum Verhältnis zwischen Was und Wie, vgl. weiter auch Gauger (1995: 16-21). ist - und somit nichtliterarisch rezipiert wird -, kann eine Unterscheidung zwischen dem Wie und dem Was durchaus sinnvoll sein. Dabei kann man zu beschreiben versuchen, wie bestimmte Aspekte der Formulierung als solche ein Stilerlebnis hervorrufen und somit zum Gesamterlebnis beitragen, ein „Mehr an Bedeutung“ erzeugen, Wolf (2006: 353). Die Ästhetisierung bei literarischer Kommunikation geschieht durch Entkontextualisierung des Inhalts, indem die Referenzbeziehungen zur außersprachlichen Welt gelöscht werden. In dem Sinne kann behauptet werden, dass bei literarischer Kommunikation primär das Was des Textes fokussiert wird, zugleich aber auch das Wie, weil hier Was und Wie untrennbar sind. Es wird dem Rezipienten ein Inhalt angeboten, zu dem er sich verhalten kann, wie er will, vgl. oben Abschn. 5.1.3. Auch die Ästhetisierung bei nichtliterarischer Kommunikation kann als eine Art „weicher Entkontextualisierung“ betrachtet werden, wobei es aber nicht um totale Entkontextualisierung gehen kann, da die festgelegte instrumentale Funktion der kommunikativen Handlung im Rahmen der Kommunikationshandlung erhalten bleiben muss, denn die Entscheidung soll nicht dem Rezipienten ganz frei als „Angebot“ überlassen werden, vgl. Abschn. 5.3, 6.2.3.3. Da das Wie bei nichtliterarischer Kommunikation als solches, getrennt von dem Was betrachtet und interpretiert werden kann, bedeutet Entkontextualisierung in diesem Falle in der Tat eine stärkere Fokussierung des Wie, der Formulierung. 33 - In den Abschnitten 6.2.3.1-6.2.3.3 unten werden Aspekte der Stils literarischer und nichtliterarischer Texte anhand von einigen Beispieltexten analysiert und miteinander verglichen. 6.2.3.1 Zum Stil des literarischen Textes am Beispiel von Minimalpaaranalysen Als konkretes Beispiel wird hier das Gedicht „Tiermarkt/ Ankauf“ von Erich Fried kurz analysiert. Dieser Text ist recht häufig wegen der Anschaulichkeit in ähnlichen Zusammenhängen analysiert worden, u.a. von Sandig (2006: 319f., 424), Nikula (2008b). Vergleichen wir den Text I) mit dem Text II) unten. <?page no="153"?> 6.2 Stil 153 34 Die ursprüngliche Anzeige hatte Fried unter dem Gedicht abdrucken lassen, und zusätzlich findet man auf dem Umschlag des Buches eine Reproduktion der Anzeige. In einem späteren Band, Fried (1987: 77), findet man lediglich die folgende Angabe unter dem Text: „Diese Anzeige des Polizeipräsidiums erschien im Westberliner ,Tagesspiegel‘ am 28. Februar und 7. März 1970. 28. Februar: Reißkorb; 7. März: Beißkorb - Wortlaut nicht verändert, nur in Verse geteilt.“ Vgl. Nikula (2001: 126f.), wie auch Kelletat (1991: 18, Fn. 5). Durch den Hinweis auf die ursprüngliche Anzeige hat Fried wohl versucht, dieser durch einen „Vorzeige-Effekt“ eine Art Allgemeingültigkeit zu verleihen. I) Tiermarkt / Ankauf Der Polizeipräsident in Berlin sucht: Schäferhundrüden. Alter ein bis vier Jahre, mit und ohne Ahnentafel. Voraussetzungen: Einwandfreies Wesen, rücksichtslose Schärfe, ausgeprägter Verfolgungstrieb, schußgleichgültig und gesund. Überprüfung am ungeschützten Scheintäter, Hund mit Beißkorb. Gezahlt werden bis zu 750,- DM. Angebote an: Der Polizeipräsident in Berlin, W-F 1, 1 Berlin 42, Tempelhofer Damm 1-7, Tel.: 69 10 91, App. 2761/ 64. (Tagesspiegel, 7. März 1970) Situationskontext, Inhalt, Publikationsmedium wie auch struktureller Aufbau gaben den damaligen Rezipienten deutlich zu erkennen, dass es um eine Anzeige ging. Das Ziel der mit der obigen Anzeige vollzogenen kommunikativen Handlung war, dass die Leser der Anzeige verstehen sollten, dass die Berliner Polizei Schäferhundrüden mit bestimmten Eigenschaften kaufen wollte, wobei die Kommunikationshandlung als erfolgreich betrachtet werden konnte, wenn die Leser entsprechend reagierten. Erich Fried hat im Gedichtband Unter Nebenfeinden (1970) die obige Anzeige in der Form unten veröffentlicht. 34 II) Tiermarkt / Ankauf Der Polizeipräsident in Berlin sucht: Schäferhundrüden. Alter ein bis vier Jahre, mit und ohne Ahnentafel. <?page no="154"?> 6 „Formale“ Aspekte des Literarischen 154 Voraussetzungen: Einwandfreies Wesen rücksichtslose Schärfe ausgeprägter Verfolgungstrieb schußgleichgültig und gesund Überprüfung am ungeschützten Scheintäter Hund mit Beißkorb Gezahlt werden bis zu 750,- DM Angebote an: Der Polizeipräsident in Berlin, W-F 1 1 Berlin 42 Tempelhofer Damm 1-7 Tel.: 69 10 91 Apparat 2761 Strich 64 Fried hat dem Text nur die äußere Form eines Gedichts gegeben, sonst nichts geändert. Die Form, d.h. die Textsortenmerkmale, und auch der neue Kontext dienen als Hinweis, den Text jetzt zu entkontextualisieren und literarisch-ästhetisch zu interpretieren. Die Textsortenmerkmale können aber zugleich ein Stilerlebnis evozieren, d.h. als Stilmerkmale dienen. - Ganz unmöglich wäre es aber nicht, auch die abgedruckte ursprüngliche Anzeige als echtes „Ready-Made“ Textkunstwerk zu interpretieren, wenigstens heute, wo eine genügende zeitliche Distanz vorliegt. Eine Distanz hat Fried in der aktuellen Situation mit Hilfe graphischer Mittel zu erreichen versucht, vgl. auch Sandig (2006: 424). Die Entkontextualisierung hat zur Folge, dass bei der Interpretation von der kommunikativen Instrumentalität abgesehen wird, d.h. der Leser betrachtet sich jetzt nicht als Rezipienten einer Aufforderung zum Verkauf von Hunden, genau wie man sich nicht bei der Lektüre von etwa Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ aufgefordert fühlen muss, Stellung zur wörtlichen Wahrhaftigkeit des Erzählten zu nehmen. In der literarischen Kommunikation ist eine kommunikative Handlung erfolgreich, wenn der Rezipient als Ergebnis des „analogen“ Prozes- <?page no="155"?> 6.2 Stil 155 35 Der Ausdruck „autoritativer Behördenstil“ stellt keine Beschreibung von Stil dar - Stil ist eben nicht beschreibbar, nur die Stilmittel - sondern dient nur dazu, eine Vorstellung vom Stil hervorzurufen. - Stil ist ein Ergebnis intentionaler Handlungen, kann aber selbst intendiert oder nichtintendiert sein. ses des „Erlebens“ den Text versteht“, während die Kommunikationshandlung erfolgreich ist, wenn der Rezipient den Text als sinnvolles Angebot an Interpretationsmöglichkeiten akzeptiert. Es ist deutlich, dass Erich Fried nicht nur eine rein ästhetische Wirkung intendiert hat, sondern dass er mit Hilfe des Textes den Rezipienten hat politisch beeinflussen wollen, wobei wiederum die ästhetische Wirkung in gewissem Sinne instrumental verwendet wird. Diese politischen Folgen sind aber nicht in der Kommunikationshandlung selbst enthalten, d.h. die Kommunikationshandlung kann nicht als erfolglos betrachtet werden, wenn der Rezipient nicht politisch Stellung nimmt. Er kann sich zum Text verhalten, wie er will. Er kann z.B. das Erlebte rekontextualisieren, d.h. auf seine eigene Situation beziehen und dadurch eventuell neue Erkenntnisse erhalten, „die Welt neu sehen“. Durch den Text I) in seiner ursprünglichen Funktion werden Vorstellungen evoziert, die als Ersatz für konkrete Wahrnehmungen dienen und somit die Brücke zwischen Text und der aktuellen außersprachlichen Welt, Polizeibehörde und Zeitungsleser einbegriffen, darstellen. Der „Primärsinn“ (vgl. Abschn. 6.2.2), d.h. die Aufforderung zum Verkauf, ist vorgegeben und wenn der Text als Text beurteilt werden soll, kann dies somit nur dem Wie gelten, der Frage also, ob der Text optimal formuliert worden ist. Ist z.B. die Verteilung der Information und/ oder ist die Verwendung von verblosen Satzstrukturen zweckmäßig? So wie Stil hier aufgefasst wird, sind diese Textsortenmerkmale an sich keine Stilmerkmale, die Tatsache aber, dass der Text so gestaltet ist, wie er ist, kann er ein intendiertes oder nichtintendiertes Stilerlebnis beim Rezipienten hervorrufen, etwa ein Erlebnis von einem „autoritativen Behördenstil“. 35 Durch den Text II) können ähnliche Vorstellungen wie durch den Text I) evoziert werden, wobei aber Publikationsmedium und Struktur dem Rezipienten einen Hinweis geben, von möglichen aktuellen Referenzbeziehungen zunächst abzusehen. Dies bedeutet jetzt eine Fokussierung des Was, der Interpretation selbst, d.h. der durch den Text evozierten Vorstellungen, die jetzt als solche, ohne Bezug auf irgendeinen bestimmten Ausschnitt der außersprachlichen Welt erlebt werden. Diesen Inhalt gibt es folglich nicht ohne die sprachliche Gestaltung. Die Ästhetisierung durch Entkontextualisierung bedeutet, dass die durch die Interpretation des Rezipienten geschaffene und erlebte Textwelt den <?page no="156"?> 6 „Formale“ Aspekte des Literarischen 156 36 Interessant in diesem Zusammenhang ist auch Landwehr (2006: 234ff.). Vgl. auch Landwehr (2006: 231ff.). unmittelbaren Kontext darstellt. Dieser Kontext ist also teils von den Kenntnissen, Erfahrungen, der Persönlichkeit usw. des Rezipienten abhängig, teils aber von einem durch ein Wie gestalteten Was. Wenn wir den Text II) zu beschreiben versuchen - und ihn somit nichtliterarisch interpretieren -, können wir feststellen, dass der Text auch in dieser Form immer noch sehr deutlich durch Textsortenmerkmale charakterisiert ist, die für bestimmte Behördentexte typisch sind und die als Stilmerkmale aufgefasst werden können. Auch ist zu vermuten, dass die meisten Rezipienten bei literarischer Interpretation auch den Stil dieses Textes als „autoritativen Behördenstil“ erleben. Diejenigen Merkmale, die ein solches Erlebnis vermitteln können, sind aber nur Merkmale neben anderen, die dazu dienen, die erlebte Welt als Ergebnis der literarischen Interpretation aufzubauen. In der literarischen Interpretation gibt es keine besondere Ebene des Stils neben anderen Ebenen. Das Erlebnis, das man durch das Prädikat „autoritativer Behördenstil“ charakterisieren kann, ist ein integriertes Element der Textwelt als erlebter Welt. Ein aufschlussreiches Beispiel einer Art „Minimalpaaranalyse“ findet sich bei Koppe (1983: 129). Koppe zitiert das Gedicht III) „Septembermorgen“ von Mörike und führt danach eine Reduktion darauf durch, „was sich behauptend sagen ließe“, wobei das Ergebnis IV) ein „Wetterbericht“ ist, vgl. unten. 36 III) Septembermorgen Im Nebel ruhet noch die Welt, noch träumen Wald und Wiesen: Bald siehst Du, wenn der Schleier fällt, den blauen Himmel unverstellt, herbstkräftig die gedämpfte Welt in warmem Golde fließen IV) „Wetterbericht“ Zunächst noch verbreitet Morgennebel, besonders in den Niederungen. Später aufklarend und sonnig bei warmen Herbsttemperaturen. <?page no="157"?> 6.2 Stil 157 Damit die Texte „Septembermorgen“ und „Wetterbericht“ als Minimalpaare analysiert werden können, müssen sie auf dieselbe Modellwelt bezogen werden, und zwar auf die reale Welt, in der Praxis auf denselben möglichen Zustand dieser Welt, denn sonst ließe sich nichts „behauptend sagen“. Wenn unter dieser Voraussetzung der „Wetterbericht“ wirklich eine Zusammenfassung dessen wäre, was im „Septembermorgen“ sozusagen „behauptet“ wird, wären die beiden Texte referenziell mehr oder weniger synonym und könnten dieselben Wahrheitswerte haben. Ein Ausdruck wie der Schleier fällt kann dabei nicht wörtlich interpretiert werden, sondern muss metaphorisch als mit aufklarend referenziell synonym aufgefasst werden. In ähnlicher Weise können andere bildliche Ausdrücke in „Septembermorgen“ auf ihre „Entsprechungen“ im „Wetterbericht“ bezogen werden. Es ist aber sehr deutlich, dass „Septembermorgen“ stark gegen die Textsortenkonventionen von Wetterberichten verstößt und als Wetterbericht stilmäßig abweichend ist. Eine nichtliterarische Interpretation dürfte somit recht schwierig sein. Wenn aber „Septembermorgen“ literarisch interpretiert wird, liegt die Referenz in der durch den Text selbst erzeugten Textwelt, wobei die Bildfhaftigkeit auf diese Welt einwirken und somit auch verschiedene Interpretationen erlauben kann. Man könnte z.B. sogar die gedämpfte Welt/ in warmem Golde fließen wörtlich interpretieren. Dies bedeutet eben, dass eine starke Bildhaftigkeit und somit eine reiche semantische Struktur auch ein „großes Angebot an Interpretationsmöglichkeiten“ darstellt, sogar ein „Überangebot“, vgl. Saße (1978: 119). Den „Wetterbericht“ IV) literarisch zu rezipieren, wenn dieser Text etwa in einem Gedichtband veröffentlicht würde, wäre nicht ganz unmöglich, genau wie im Falle der ursprünglichen Variante I) von „Tiermarkt/ Ankauf“. In nichtliterarischer Interpretation erfüllt er recht gut die Textsortenkonventionen von Wetterberichten und bezüglich des Stils dürfte er als „trocken-neutral“ eingestuft werden können. Bei eventueller literarischer Interpretation vom Text „Wetterbericht“ dürfte es wegen „der Freiheit der Kunst“ schwer zu behaupten sein, er würde gegen Textsortenkonventionen von Gedichten „verstoßen“, vgl. oben Abschn. 6.1. Eine getrennte Charakterisierung des Stils wäre dabei aber nicht möglich. Hans Wellmann führt in seinem Artikel „Literarische Darstellungsarten aus textlinguistischer Sicht“, Wellman (2003), eine Art Minimalpaaranalysen von Darstellungen von Unfällen in Zeitungsberichten, in rein literarischen Texten und in literarisierenden Tagebuchaufzeichnungen durch. Er notiert u.a., Wellmann (2003: 248-250), dass (A) den Nachrichten die für literarische Texte typische Subjektivität und die <?page no="158"?> 6 „Formale“ Aspekte des Literarischen 158 37 Bei Wellmann (2003) die Hervorhebung durch Unterstreichung, nicht durch kursiv. besondere Erzählerperspektive fehlten, wie auch (B) das die „Dominanz des Gedanklichen, des Nachdenkens und des Erdachten“. Als drittes Merkmal (C) „literarischer Darstellungsart“ hebt Wellmann die „Semiotik der zwei Verstehensebenen“ hervor, Wellmann (2003: 349): Auf der ersten Ebene haben wir es mit zwei Arten der Text-Bedeutung zu tun: mit der expliziten Binnen-Bedeutung eines Textes, die z.B. eine gute Inhaltsangabe kontextfrei erfasst, und zweitens mit seiner intendierten Text- Umfeld-Bedeutung, wie sie z.B. durch eine Sprechaktanalyse ermittelt wird. Auf einer zweiten, anderen Ebene ist der „Zweit-Sinn“ zu suchen, den der Leser […] sucht und in dem Text findet, also quasi die „symbolische Transparenz des Textes“. 37 Zu den oben genannten „drei Arten literarischer Gestaltung“, also (A), (B) und (C) kommt nach Wellmann (2003: 350) als vierte (D) eine ästhetische hinzu, „insbesondere eine Stilisierung, die es dem Leser ermöglicht, im Besonderen das Allgemeine zu sehen“. - Es ist deutlich, dass Wellmanns theoretischer Ausgangspunkt ein anderer als der hier vertretene ist; u.a. unterscheidet er nicht zwischen literarischem Text und literarischer Kommunikation als Ergebnis einer Strategie der Entkontextualisierung, wobei auch seine Auffassung vom Ästhetischen, wenigstens zum Teil, zwangsläufig auch eine andere ist. Wenn man aber diese theoretischen Unterschiede berücksichtigt, sind seine Ergebnisse mit den Ergebnissen der obigen hier durchgeführten Analysen vergleichbar. Man könnte sich allerdings fragen, ob nicht auch ganz sachliche Unfallberichte alternativ literarisch rezipiert werden könnten, etwa der folgende von Wellmann (2003: 346) angeführte: V) Bei Ausweichmanöver Fußgänger erfaßt Streitheim (utz). Verletzt wurde ein 58jähriger Fußgänger am Mittwochabend bei einem Unfall auf der Straße zwischen Auerbach und Streitheim (Kreis Augsburg). Nach Angaben der Polizei war ein PKW-Lenker mit seinem Auto einem angetrunkenen Mofafahrer ausgewichen. Dabei geriet das Auto auf die linke Fahrbahnseite und erfaßte den am Rand gehenden Passanten. Der Verletzte wurde ins Klinikum Augsburg gebracht. (Augsburger Zeitung vom 29.11.1991) Den Textsortenkonventionen nach ist der Text V) deutlich als Zeitungsnotiz zu erkennen. Diejenigen Augsburger, die den Text am 29.11.1991 <?page no="159"?> 6.2 Stil 159 38 Dies betrifft auch die von Wellmann (2003: 351ff.) angeführten Unfallsbeschreibungen in Franz Kafkas und Max Frischs Tagebücher, die einen stark literarisierenden Stil aufweisen, d.h. sie sind offenbar eher geschrieben, um literarisch rezipiert zu werden; vielleicht könnte man hier von einer Art „autobiographischem Schreiben“ sprechen, vgl. oben Abschn. 4.1.2. 39 Wellmann (2003) gibt im Literaturverzeichnis an: Musil, Robert 1952ff.: Der Mann ohne Eigenschaften. Berlin. Er gibt aber keine genauen Seitenhinweise. Das Zitat ist bei Wellmann (2003) deutlich länger als hier. lasen, dürften ihn vor allem als Sachtext rezipiert haben. Unmöglich ist es aber wohl nicht, dass wenigstens einige Leser ihn zugleich „literarisch“ rezipiert haben, auch wenn die „Stilisierung“ ihnen nicht geholfen haben mag, „im Besonderen das Allgemeine zu sehen“, denn eine Thematik, wie Unglücksfälle und Katastrophen überhaupt, Mord und Totschlag usw., d.h. Themen, die stark an die Emotionalität appellieren, dürften einen „subjektiven Bezug“ stark fördern. In der nichtliterarischen Interpretation ist der Wahrheitswert in Bezug auf die reale Welt entscheidend, für die literarische Interpretation dient diese „objektive“ Wahrheit nur als Element beim Aufbau der Textwelt, vgl. oben Abschn. 4.1.1. Es wurde hier behauptet, es wäre möglich die in diesem Abschnitt angeführten nichtliterarischen Texte alternativ literarisch zu rezipieren. Man könnte sich auch fragen, ob es möglich wäre, die angeführten literarischen Texte bzw. literarischen Varianten nichtliterarisch zu rezipieren. Wenn es im Falle II), „Tiermarkt/ Ankauf“, um einen anderen Textproduzenten als den Polizeipräsidenten von Berlin gehen würde, könnte die „dichterische“ Form vielleicht sogar als effektives Werbemittel dienen, aber es bestünde die Gefahr, dass der Text nicht ernst genommen würde. In diesem Falle war aber der Ausgangstext in der Tat ein nichtliterarischer Text. Dagegen scheint es sehr schwierig, sich einen Kontext vorzustellen, wo der ursprünglich literarische Text III), „Septembermorgen“, als Sachtext rezipiert werden könnte. Dasselbe betrifft auch die von Wellmann (2003: 347f.) angeführte Beschreibung eines Unfalls in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften 38 . Wellman (2003: 347) führt u.a. folgende Zeilen aus Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil (2004: 10) an: 39 VI) Die beiden hielten plötzlich ihren Schritt an, weil sie vor sich einen Auflauf bemerkten. Schon einen Augenblick vorher war etwas aus der Reihe gesprungen, eine querschlagende Bewegung; etwas hatte sich gedreht, war seitwärts gerutscht, ein schwerer, jäh gebremster Lastwagen war es, wie sich jetzt zeigte, wo er, mit einem Rad auf der Bordschwelle, gestrandet dastand. Wie die Bienen um das Flugloch hatten sich im Nu Menschen um einen kleinen Fleck angesetzt, den sie in ihrer Mitte freiließen. <?page no="160"?> 6 „Formale“ Aspekte des Literarischen 160 Texte, die bewusst „literarisch“ gestaltet sind, würden sich also viel stärker gegen eine nichtliterarische Interpretation sträuben, als nichtliterarisch formulierte Texte gegen eine literarische Rezeption. Dies ist ein nicht unerwartetes Ergebnis, wenn davon ausgegangen wird, dass bei literarischer Kommunikation Form und Inhalt untrennbar sind, wobei es dabei keine besondere Stilebene des Textes gibt, und literarisch zu interpretierende Texte ausgehend von diesen Bedingungen formuliert werden. Nichtliterarische Texte unterliegen keinen solchen Bedingungen, aber wenn sie literarisch rezipiert werden, wird als Ergebnis der Entkontextualisierung der Inhalt von der Form unmittelbar abhängig, d.h. eine Trennung zwische Form und Inhalt ist nicht möglich. Hermanns (2006: 282, Fn. 30) schreibt: „Was die Rezeption betrifft, ist […] anzunehmen, dass auch viele echte Tatsachenberichte und Nachrichten hauptsächlich als literarisch-fiktionale rezipiert, d.h. als solche erlebt werden sollen und auch erlebt werden.“ 6.2.3.2 Zum Stil eines literarischen Textes oder zur Sprache des „Exotischen“ Die dritte Kugel (2007 [1915]) ist der erste Roman von Leo Perutz. Es ist ein historischer Roman über die Niederlage der Azteken gegen den Konquistadoren Hernán Cortés (1485-1547). Gegen Cortés kämpft der „Wild- und Pfalzgraf am Rhein“ Franz Grumbach zusammen mit seinem Knecht Melchior Jäcklein, um den Untergang des Aztekenreichs zu verhindern. Grumbach ist mit einer einzigen Arkebuse bewaffnet, die er dank eines Teufelspakts erworben hat und für die er drei gesegnete Kugeln besitzt. Die dritte Kugel ist für Cortés selbst reserviert, aber wen die Kugel eigentlich tötet, bleibt offen. Ein Grund dafür ist die Struktur des Romans mit einer Rahmenerzählung, „Präludium“ und „Finale“, und einer Binnenerzählung, „Historie vom Grumbach und seinen drei Kugeln“. Es bleibt z.B. unsicher, ob der Erzähler der Binnengeschichte mit dem Grumbach der Rahmengeschichte gleichzusetzen ist. Dies trägt aber deutlich zum Stilerlebnis bei. Das Stilerlebnis wird noch durch die altertümelnde, märchenhafte Sprache beeinflusst. Eine „Stilprobe“ aus Perutz (2007 [1915]): 20f.): Ein eisgrauer Spanier richtet sich auf und schüttelt den Kopf. „Brüder! Stichfest machen und geweihte Kugeln gießen, das ist keine teuflische Kunst, sondern alter Kriegsbrauch von vaters her. Hab’ selber einen gekannt, den Garcia Novarro, der war solch ein frommer Christ, daß wir ihn den Sekretarius des Himmels nannten, und konnte doch Kugeln segnen, als hätt’ er dem Teufel in die Pfanne geguckt.“ <?page no="161"?> 6.2 Stil 161 „Hab’ ihn auch gekannt. Ist ihm übel gediehen! “ ruft einer dazwischen. „Ja! “ sagt der Alte. „Er ist in die ewige Seligkeit durch eine hänfene Schlinge geschlüpft. Weil er an den Knecht des Deutschen seine Arkebuse verspielt hat und sie nicht wiedererlangen konnt’, trotz vielem Supplizieren, darum hat ihn der Cortez in der Luft verarrestieren lassen. Aber bevor sie ihn henkten, hat er dem einäugigen Deutschen seine drei Kugeln vermaledeit und ihnen dermaßen den Kompaß verstellt, daß die erste den heidnischen König auf der Stadtmauer traf und die zweite das unschuldige Mägdlein und die dritte den Deutschen selbst! “ „Nein! “ schreit ein anderer. „Nicht den Deutschen! Der Deutsche lebt! Ist aber verflucht und verdammt, weil er vor Christi Bildnis den Hut nicht ziehen wollt’, und kann nicht sterben, sondern fährt mit seinem Knechte in toller Jagd durch die Wälder, und so ihm des Nachts ein Spanier begegnet oder ein Mönch, diesem dreht er das Antlitz zuhinterst! “ „Ei, so mag mich der Teufel lotweis’ holen, wenn nicht der Deutsche samt seinem stummen Knecht in Veracruz begraben liegt.“ „Possen! Er lebt! Ich weiß es besser! “ Ihr wirres Gezänke verhallt mir in meinem Ohr, ich hör’ nicht mehr, was sie weiter vom Deutschen und seinen drei Kugeln erzählen. Mir ist, als hätt’ ich dereinst dies Märlein gekannt. Dunkel hab’ ichs’ im Kopf, weiß nicht woher, las es vielleicht in einem törichten Buche, im ‚Amadis‘ oder im ‚Ritter Löw‘. Wie ging es nur? Drei Kugeln - einen edlen König traf die erste, ein unschuldig Kind die zweite -, wie ging es weiter? - Wen die dritte? Ei, was schert das mich! Der Kopf ist mir schwer geworden von des Alchimisten Schwefelpful. Um meine Stirne liegt es wie ein eiserner Reif. Bleigewichte hängen an meinen Lidern, und dort steht der Schlaf. Er ist ein gar stolzer spanischer Herr, geht hochfahrend seines Wegs, tut, als kenne er mich nicht. Eine weiße Krause hängt trägt er um den Hals, ein Helmbusch nickt bei jedem Schritt von seinem Haupte, schwarz und weiß - in seinem Küraß spiegelt sich die Welt. Was trägt er in den Händen - ein blankes Schwert - in Flammenschrift steht darauf: Rubet ensis sanguine hostium! Nun steht er vor mir, - kalt rinnt mirs’ durch die Glieder - er wächst empor - riesenhaft, bis an die Sterne ragt sein Leib - die schwarzen Wolken des Himmels ziehn an seiner Stirn vorbei - das Blut träuft wie Regen aus seiner Faust - ein Berg liegt auf meiner Brust - ich will um Hilfe rufen - das ist der Ferdinand Cortez, Gott sei mir gnädig - er spricht zu mir - ein Donnerschlag dröhnt aus seinem Mund: „Gebt die Arkebuse zurück, Wildgraf am Rein! “ Hans Harald Müller charakterisiert in seinem Nachwort, Müller (2007: 321), den Roman folgendermaßen: Den „merkwürdig primitiven und verworrenen Keim“ sah Lernet-Holenia [in einem Brief an Perutz 1932] in dem rauhen Landsknechts-Ton der ‚Dritten Kugel‘, dem vielsträngigen Ineinander von Konquistadoren-, Liebes- und Abenteuerroman. Leo Perutz verknüpfte all diese Elemente und integrierte sie in eine einzige Konzeption, die sich vielleicht am besten als alternativer <?page no="162"?> 6 „Formale“ Aspekte des Literarischen 162 40 Ähnliches wird ja in der Tat in sogenannten Romanführern gemacht, vgl. etwa Gräf (Hrsg.) (1996). historischer Roman charakterisieren läßt. Dieser weicht vom historisch verbürgten Geschehen nur insofern ab, als er frei erfundene Episoden einfügt. Diese ändern die großen Linien des Geschichtsverlaufs nicht, erklären diesen selbst aber in einer anderen, eben alternativen Weise […]. Literarische Kommunikation setzt voraus, dass der Rezipient sich bei der Rezeption des Textes als literarischen Text nicht so sehr darum kümmert, ob der Text tatsächlich wahr ist oder nicht. Wenn wir Perutz’ Roman Die dritte Kugel lesen, verstehen wir natürlich, dass das meiste erfunden ist, ganz sicher die „Story“, dass es aber auch einen geschichtlichen Hintergrund gibt. Aber auch, wenn die Frage des tatsächlichen Wahrheitswertes an sich interessant sein kann und der historische Hintergrund die Interpretation des Rezipienten beeinflussen mag, wird bei literarischer Rezeption, wenigstens vorläufig, davon abgesehen. Dies wird durch „Entkontextualisierung“ ermöglicht, vgl. weiter auch Nikula (2012). Wenn Stil ein ästhetisches, nicht beschreibbares Phänomen ist, wie soll man dann den Stil von etwa Perutz’ Die dritte Kugel, „die Sprache des Exotischen“, beschreiben können? Man kann versuchen, die Stilmerkmale, Stilzüge usw. zu untersuchen, d.h. diejenigen Eigenschaften des Textes, die das Stilerlebnis evozieren. Da bei literarischer Kommunikation nicht zwischen einem Primärsinn („Sachinformation“) und einem („stilistischen“) Sekundärsinn unterschieden werden kann, müsste man dabei den Text in gewissem Sinne interpretieren, als ob es um nichtliterarische Kommunikation gehen würde, also als ob es bei dem Roman Die dritte Kugel um eine „objektive“ Geschichtsdarstellung gehen würde. Man könnte versuchen, die „Story“ der dritten Kugel zusammenzufassen. 40 Was herauskommt, ist eine Erzählung, die teils aus historischen Fakten besteht, über die man besser durch die Lektüre von Geschichtsbüchern informiert werden kann, teils aus unwahren Behauptungen, denn jetzt wird nichtliterarisch rezipiert. Das Problem ist, dass das Wie, die Formulierung des Romans, nicht nur einen Beitrag zum Stilerlebnis leistet, sondern dass die „Sprache des Exotischen“ auch wesentlich zum Aufbau der Textwelt beiträgt. Wenn der Text anders formuliert wird, ist diese Welt auch eine andere. Der exotische Stil ermöglicht dem Rezipienten, eine sowohl zeitlich als auch räumlich exotische Welt zu erleben. Auch Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt (2005) führt den Leser in eine zeitlich und geographisch exotische Welt, und zwar auch mit Hilfe eines etwas „exotischen“ Stils, der sich allerdings von dem <?page no="163"?> 6.2 Stil 163 41 Dieses Zitat aus Kehlmann (2005) erinnert deutlich an den bekannten, schon im Abschn. 6.1 angeführten Text von Morgenstern (1932: 12): „Es waren einmal acht lustige Könige, die lebten. Sie hießen aber so und so. Wer heißt überhaupt? Man nennt ihn. Eines Tages aber sprachen die lustigen Könige zueinander, wie Könige zueinander sprechen. ‚Die Welt ist ohne Salz; laßt uns nach Salz gehen! ‘ sagte der zweite. ‚Und wenn es Pfeffer wäre‘, meinte der sechste. ‚Wer weiß das Neue? ‘ fragte der fünfte. ‚Ich! ‘ rief der siebente. ‚Wie nennst du´s‘? fragte der erste.“ Stil Perutz’ u.a. darin unterscheidet, dass er nicht durch eine altertümelnde Sprache das Erlebnis des Exotischen hervorzurufen versucht, sondern eher durch die absurde Logik der Erzählung, vgl. etwa Kehlmann (2005: 105f.): Humboldt fragte, ob sie den Kanal zwischen Orinoko und Amazonas kennen würden. Natürlich, sagte der mit dem Zylinder. Er habe ihn schon befahren, sagte der mit dem Schmuck. Er auch, sagte der mit dem Zylinder. Aber es gebe ihn nicht. Alles ein Gerücht. Humboldt schwieg verwirrt. Wie auch immer, sagte er dann, er wolle diesen Kanal vermessen, er brauche erfahrene Ruderer. Der mit dem Zylinder fragte, was zu gewinnen sei. Geld und Wissen. Der dritte nahm mit zwei Fingern das Schilfrohr aus dem Mund. Geld, sagte er dann, sei besser als Wissen. Viel besser, sagte der mit dem Zylinder. Übrigens sei das Leben teuflisch kurz, warum es aufs Spiel setzen? Weil es kurz sei, sagte Bonpland. Während Perutz eine grausame Geschichte erzählt, beeindruckt Kehlmann eher durch die stark komische Darstellung. 41 6.2.3.3 Zum Stil des nichtliterarischen Textes am Beispiel eines Reportagetextes Wenn es um Gebrauchstexte geht, scheint es i.A. unproblematisch zu sein, zwischen einem Primärsinn und einem Zweitsinn zu unterscheiden, vgl. oben Abschn. 6.2.2. Ein prototypischer Reportagetext z.B. besteht aus einem Bericht über etwas, was geschehen ist, gibt aber auch durch die Formulierungen zusätzliche Information, etwa soziale „Information darüber, wie man sich selbst sieht bzw. wie man von anderen gesehen werden möchte“, Fix (2006a: 253). Diese Information kann eine erschlossene und/ oder erlebte sein. Eine gewisse „Subjektivität“ scheint ein typisches Merkmal von Reportagetexten darzustellen, vgl. etwa Lüger <?page no="164"?> 6 „Formale“ Aspekte des Literarischen 164 (1995: 113), wie auch Geisler (2001), Hackl-Rößler (2006: 35ff.) und Nikula (2004a: 178; 2006b: 203), wobei die besondere Art und Weise der Formulierungen des gegebenen Textes dazu führen kann, dass der Rezipient die Form des Textes fokussiert und diese interpretiert, was zu einer Ästhetisierung der Form führen kann. Es kann um die Selbstdarstellung des Textproduzenten gehen, um seine Einstellung zum Textthema, um besondere Vertextungsstrategien der Zeitung oder der Zeitschrift („Spiegelsprache“, vgl. etwa Carstensen 1971), um Persuasion und/ oder etwa um eine reine Unterhaltungsfunktion, oder vielleicht um „Infotainment“, d.h. um unterhaltende Information. Diese Subjektivität stellt ein in diesem Zusammenhang interessantes Textsortenmerkmal des Reportagetextes dar, weil sie dem Text einen Charakter geben kann, der an Eigenschaften literarischer Texte erinnert. Sehen wir uns den Text von Peters (2005) an: Sie jauchzt vor Schauer und das will etwas heißen. Die Beifahrerin, vollgasfest aber nur bedingt autoverrückt, wird von ihren Empfindungen übermannt: In einem offenen Ferrari bis Tempo 240 durchbeschleunigt, Gravitationskräfte, Naturgewalten und irres Drehzahl-Krakeelen in Kombination, das alles missdeutet ihre Sensorik als Apokalypse. Und aktiviert den Überlastschutz - Energie entlädt sich in einem Achterbahn-Schrei. Es ist nicht der letzte, den ihr der Ferrari430 Spider entreißt. Glückseligkeit ist allgegenwärtig. Das Bewusstsein, in einem Ferrari zu sitzen, bestimmt das Denken und Handeln. Doch der Ehrfurchts-Feenstaub früher Jahre, die Schwachstellen überzog, ist heute unnötig. Aktuelle Ferraris halten Schlagloch-Härten stand, sind vollgasverträglich, reiben sich nicht einmal im Stau auf. Im Gegenteil: Eine Heimfahrt aus dem Büro gleicht einer Katharsis von der Alltagslast. [S. 71] […] Während der F430 Spider mit Heuschrecken-Blick an der Stadtrand- Ampel lungert, vor Ungeduld Löcher in den Asphalt brennt, so sehr glüht, dass sein Achtzylinder kurz vor der Kernschmelze steht, lenkt man die Energie per Knopf in der Mittelkonsole für eine kurze Rot-Phase um. Ein unscheinbarer Schalter transformiert den F430 vom Stoffdach-Coupé in einen Roadster. 20 Sekunden lang knöpfen sich die Hydraulikmotoren das Verdeck vor, nach weiteren fünf sind die Seitenscheiben heruntergelassen. Jetzt liegt er offen, entblößt, stellt seine Passagiere zur Schau. Wenn der Spider stript, den Stofffetzen lasziv von seinen Rundungen streift, dann ist Showtime. [S. 71f.] […] Grüne Ampel, Gasfußfallbeil, kurz schleift die Kupplung des automatisierten F1-Sechsgang-Getriebes, die Hinterreifen besiegen den Schlupf, 465 Nm zerren, 490 PS schäumen. Die Schaltpaddel am Lenkrad lösen aus, die <?page no="165"?> 6.2 Stil 165 42 Da es um eine Beschreibung geht, ist das durchgehende Tempus das Präsens, vgl. etwa Eroms (2008: 88-93). Hydraulik lädt durch. Zong, zweiter Gang. Ortsschild. Peng, dritter, vierter. Autobahn. Fünfter, sechster, 308 km/ h offen. Dem Nirvana nahe. Und der Skalp in Gefahr. Haarschonender sind 200 km/ h. Die werden mit hochgefahrenen Seitenscheiben zur passablen Reisegeschwindigkeit. In einer Limousine mit geöffnetem Schiebedach wäre längst der Teufel los, im F430 unterhält man sich noch angeregt. Beim Teillast-Speeding. [S. 72] […] Bis 3000/ min. gurgelt der Ansaug-Trakt unheilvoll. Dann ein leichtes Seufzen, kaum Staudruck, kaum Dämpfung, der Dezibel-Vulkan bricht aus. Kehlig, wütend, einschüchternd. Keine Sinfonie, sondern aggressiv übersteuerter Heavy Metal bis 8500/ min. Die HiFi-Anlage sollte diesen Sound verstärken. Musik hören im F430 nur Banausen. [S. 72] […] Nach einer erschöpfenden Runde trägt der Wind mehr als nur sommerliche Kräuterwürze ins Cockpit. Er mischt es mit dem harzigen Aroma von warmgedrifteten Reifen, heißgefahrenem Öl, ausglühenden Karbon- Keramik-Bremsscheiben (13 340 Euro). Und unter den Sieges-Gesang der brodelnden Zylinder-Hitzköpfe mischt sich ein Jauchzen der Beifahrerin. [S. 73] Der Artikel besteht aus einem Textteil, aus farbigen Illustrationen zu diesem Text und aus einem Datenblatt mit Tabellen und Graphiken. Es geht dabei um eine „Rezension“ von einem recht extremen Sportswagen, einem Ferrari F430, vgl. auch Nikula (2006b: 202f.). Der rein sprachliche Text der Reportage besteht aus einer Beschreibung 42 einer Probefahrt, die durch eine stark übertrieben bildhafte Sprache charakterisiert ist. Was hier an „objektiven Fakten“ (Primärsinn) vermittelt wird, ist relativ wenig und wird vor allem viel exakter und ausführlicher durch das beigefügte Datenblatt und durch die Bilder (Fotografien) dargestellt. In der Tat scheint der Zweitsinn in der Beschreibung der Probefahrt wenigstens genauso wichtig wie der Primärsinn zu sein, denn hier soll dem Leser vor allem das Gefühl vermittelt werden, das man als Fahrer eines solchen extremen Sportswagens erleben kann, eines Sportswagens, den sich die meisten nicht leisten können. Die übertriebene Bildsprache wie auch die eigenwillige, anglizierende Verwendung von Bindestrichen in der Wortbildung sollen offenbar dazu dienen, dem Text einen dynamischen Machocharakter zu verleihen. Aus diesem Grunde sind der einleitende Absatz, S. 71, und der abschließende Absatz, S. 73, deutlich sexistisch, wobei der Absatz, S. 71f., und der <?page no="166"?> 6 „Formale“ Aspekte des Literarischen 166 zweite Absatz, S. 72, den sexistischen Ton indirekt wiederaufnehmen, vgl. oben. Es könnte sein, dass der Verfasser mit Hilfe der politischen Inkorrektheit wie auch der übertriebenen Bildsprache einen humoristisch-lockeren Ton anzustreben versucht. Auch kann notiert werden, dass die Sprache stark sensuell ist, d.h. Ausdrücke werden verwendet, die verschiedene Sinneswahrnehmungen ansprechen: die auditiven („Und unter den Sieges-Gesang der brodelnden Zylinder-Hitzköpfe mischt sich ein Jauchzen der Beifahrerin“), haptischen („Stofffetzen lasziv von seinen Rundungen streift“), olfaktorisch-gustatorischen („Nach einer erschöpfenden Runde trägt der Wind mehr als nur sommerliche Kräuterwürze ins Cockpit. Er mischt es mit dem harzigen Aroma von warmgedrifteten Reifen, heißgefahrenem Öl, ausglühenden Karbon- Keramik-Bremsscheiben“), motorischen („Gravitationskräfte“) und natürlich die visuellen. Einen leicht ironischen Ton kann man zwar auch spüren, der offenbar der Selbstdarstellung des Verfassers dient - alles soll nicht so furchtbar ernst genommen werden. Zum Primärsinn des Artikels gehören alle Eigenschaften des Autos, die im Artikel vorgestellt werden, wobei vorausgesetzt wird, dass der Artikel diesbezüglich wahr ist, dass Wahrheitsansprüche also erhoben werden. Der Zweitsinn wird durch die Art und Weise der Formulierung des Textes vermittelt, d.h. Bildsprache, Sexismus usw., aber auch durch den Wirklichkeitsbezug des Textes, denn bezüglich der Darstellung der Probefahrt selbst werden, ausgenommen kleine, häufig parenthetisch eingefügte Bemerkungen bezüglich Drehzahl, PS, Preis usw., kaum ernsthaft Wahrheitsansprüche erhoben. Es kann z.B. notiert werden, dass auf keinem der Bilder im Artikel eine Beifahrerin erscheint. Vielleicht ist sogar die ganze Probefahrt, so wie sie beschrieben wird, mehr oder weniger fiktiv. Durch die Relativierung der Wahrheitsansprüche, d.h. durch „Entkontextualisierung“, wird eine starke Ästhetisierung erreicht, die es ermöglicht, einen Teil des Textes, d.h. den Fahrbericht „literarisch“ zu rezipieren, auch wenn der Text als Ganzheit als informativer Gebrauchstext rezipiert wird bzw. rezipiert werden soll. Man könnte hier von einem Fall „hybrider Kommunikation“ sprechen, vgl. oben Abschn. 4.1.2. Durch die Gestaltung seines Textes versucht der Verfasser diejenigen Stilerlebnisse hervorzurufen, die durch einen Ferrari bei einem Autoliebhaber hervorgerufen werden können. Der primäre Grund, gerade einen Ferrari zu kaufen, dürfte wohl häufig eher eine Frage der Selbstgestaltung, also eine „Stilfrage“ sein und selten eine rational begründbare Notwendigkeit. Es ist deutlich, dass die Zielgruppe des Artikels aus technisch interessierten und sachkundigen „Autoverrückten“ besteht, wobei <?page no="167"?> 6.2 Stil 167 43 Hier wird die gedruckte Version kommentiert. In der Internet-Version ist der Textteil des Artikels mit der gedruckten Version identisch, aber sonst unterscheidet sich der Artikel dem Medium entsprechend von der gedruckten Version. die Ästhetisierung der Formulierung durch verschiedene Stilmittel dazu dient, es ihnen zu ermöglichen, den Inhalt dieses nichtliterarischen Textes auch erlebend zu rezipieren. Das durch den ganzen Artikel evozierte Stilerlebnis entsteht durch das Zusammenspiel zwischen Text, Illustrationen und Datenblatt. Die primäre Funktion des Fahrberichts dürfte recht eindeutig die des Infotainments sein. 43 - Die „Entkontextualisierung“ bedeutet also in diesem Falle, dass der Rezipient dem Textproduzenten einen gewissen subjektiven Spielraum bezüglich der Darstellung einräumt, und zwar unter der Voraussetzung, dass „die im Kern der Reportage geschilderten Fakten“ faktisch wahr sind, vgl. Geisler (2001: 1714). 6.2.4 Stil als persuasives Mittel Brinker (2010: 101) definiert die „Appellfunktion“ von Texten folgendermaßen: „Der Emittent gibt dem Rezipienten zu verstehen, dass er ihn dazu bewegen will, eine bestimmte Einstellung einer Sache gegenüber einzunehmen (Meinungsbeeinflussung) und/ oder eine bestimmte Handlung zu vollziehen (Verhaltensbeeinflussung).“ [Hervorhebungen im Original] Die Appellfunktion bei Brinker (2010) entspricht ungefähr der direktiven Funktion bei Rolf (2002: 432), wo es um „Den Versuch unternehmen, den anderen zur Ausführung einer zukünftigen Handlung zu bewegen“ und zwar mit der „Beabsichtigung eines zukünftigen (Hörer-)Verhaltens“ geht. Es geht also in beiden Fällen darum, dass der Textproduzent den Versuch macht, auf das Verhalten des Rezipienten einzuwirken, d.h. um Persuasion. Die Kommunikationshandlung ist dabei erfolgreich, wenn der Rezipient in entsprechender Weise reagiert, weshalb es offenbar nicht möglich ist, literarische Texte mit Textsorten mit direktiver oder appellativer „Grundfunktion“ wie etwa Werbeanzeigen, Propagandatexte, Gebrauchsanleitungen, Rezepte, Gesetzestexte, Gesuche, Anträge, Bittschriften, Predigten usw. (vgl. Brinker (2010: 102) gleichzusetzen, vgl. oben Abschn. 3.4. Andererseits werden natürlich Rezipienten auch durch die Lektüre literarischer Texte irgendwie beeinflusst, und in vielen Fällen dürfte man von irgendeiner Art von „Persuasion“ sprechen können. Darauf wird in den folgenden Abschnitten eingegangen. <?page no="168"?> 6 „Formale“ Aspekte des Literarischen 168 44 Vgl. Lüger (1995: 126): „Eine wichtige Funktion journalistischer Kommentare besteht [...] darin, eine ‚unabhängige Interpretation, Erklärung und Erläuterung von Tagesereignissen, Zeitströmungen und politischen Entwicklungen‘ zu geben. Die dabei vermittelten Deutungen und Wertungen zielen [...] in der Regel auch darauf ab, beim Adressaten bestimmte Einstellungen zu fördern oder zu verändern.“ Hosman (2008: 1120) beschreibt die Beziehung zwischen Persuasion und Stil in folgender Weise: Generally, persuasion is communication designed to create, reinforce, or change the beliefs, attitudes, values, and/ or behaviors of others. […] An assumption underlying the research on style and persuasion is that stylistic variations have effects on attitude change, such that particular stylistic variations will be more effective than other stylistic variations. Persuasion wird hier als Versuch eines Textproduzenten betrachtet, auf die Ansichten und Auffassungen des Rezipienten einzuwirken, damit er sich in einer vom Produzenten intendierten Weise verhält. Die verschiedenen rhetorischen Mittel, die etwa in politischen Texten, in der Werbung usw. verwendet werden, um die Rezipienten zu beeinflussen, können somit als persuasive Stilmittel betrachtet werden, und solche Texte sind sehr häufig ausgehend von diesem Gesichtspunkt analysiert worden. In diesem Zusammenhang ist es v.a. interessant, literarische Texte mit solchen nichtliterarischen Texten zu vergleichen, die dem Literarischen nahe zu stehen scheinen. Wenn es bei der Persuasion darum geht, Attitüden, Verhalten, Einstellungen, Wertungen und Benehmen beim Rezipienten zu schaffen, zu stärken oder zu verändern, ist die Beeinflussung des emotionalen Kenntnissystems zentral, vgl. das Zitat aus Hosman (2008: 1120) oben, wie auch Abschn. 3.5. Durch Stil kann man offenbar nicht argumentieren, wohl aber emotiv beeinflussen. 6.2.4.1 Stil als persuasives Mittel in nichtliterarischer Kommunikation Der Beispieltext „Wir waren Papst“ unten wurde von Alexander Smolczyk in „Der Spiegel“, Nr. 1 2009, S. 104-105, Sparte „Ausland“ veröffentlicht. Der Text wird von der Zeitschrift selbst als „Essay“ klassifiziert, könnte aber auch als eine Art „Kommentar“ eingestuft werden, vgl. etwa Lüger (1995: 126-136). 44 In diesem Artikel werden Papst Benedikt XVI. und die katholische Kirche kritisiert. Es wird behauptet, man würde sich mit Themen beschäftigen, die keine Relevanz für die Menschen von heute hätten. Als Gegensätze werden der Protestantismus und die moderne Wissenschaft hervorgehoben. Schon die Makrostruktur erhält <?page no="169"?> 6.2 Stil 169 45 Die Bildtexte lauten: „Papst Benedikt XVI. ‚Die Zeit der barocken Spektakel ist vorbei. Es ist Zeit für Nüchternheit.‘“ bzw. „Evangelischer Kirchentag (in Köln, 2007). ‚Das Rigorose des Vatikans hat Charme. Aber sexy ist es nicht.‘“ durch diese Gegensätze eine deutliche rhetorische Struktur, d.h. etwa Irrelevanz vs. Relevanz, altertümlich vs. modern, Katholizismus vs. Protestantismus und Glaube vs. Wissenschaft usw. Dies wird noch durch zwei Illustrationen verdeutlicht, und zwar durch ein Bild vom Papst Benedikt XVI. in vollem Ornat bzw. ein Bild vom evangelischen Kirchentag in Köln 2007 mit jugendlichen Laien, S. 104 bzw. 105 (Druckversion). 45 Der Artikel ist in vier Hauptteile eingeteilt, die durch einen Großbuchstaben am Anfang des ersten Absatzes gekennzeichnet sind. Dabei stehen die zwei ersten Teile für „Irrelevanz“, die zwei weiteren für „Relevanz“. Diese Gegensätze kommen u.a. zum Ausdruck im ersten und im letzten Satz des Artikels, die in dieser Weise als kohärenzschaffende Mittel verwendet werden: „Es ist still geworden um Benedikt XVI.“ (S. 104) bzw. „Fürs Navigieren im Nebel der Gegenwart reicht das innere GPS völlig aus - das gute alte protestantische Gewissen.“ (S. 105) Im ersten Teil des Artikels, vgl. S. 104, wird sehr deutlich mit Ironie gespielt. (Die Nummerierung unten weist auf den Absatz der gedruckten Version hin, wo sich das Textbeispiel befindet, Absätze 1-12 S. 104, die weiteren S. 105): 4) Gegen den Widerstand der allermeisten deutschen Bischöfe hat der Papst im Alleingang, „motu proprio“, die alte Messe nach dem „Missale Romanum“ von 1962 als Sonderform wieder zugelassen. Es darf lateinisch gemessfeiert werden, und auch das Karfreitagsgebet für die „treulosen Juden“ ist wieder möglich. Das Recht, natürlich anders zu sein, haben nur die Regenwälder. Nicht die Homosexuellen. Das erklärte Benedikt XVI. kurz vor Weihnachten, dem Fest der Liebe. […] 7) Da disputieren 30 hochgelehrte Herren in jahrelangen Sitzungen darüber, ob Hilarius von Poitiers (um 315 bis 367 nach Christus) möglicherweise das Problem der Vorhölle nicht voll verstanden haben könnte. Sollen sie. Es ist ihr Job. Es gibt Leute, die sich für die Labiallaute im mingrelischen Sprachgebiet begeistern. Aber muss es uns interessieren? […] 8) Im Vatikan liegt, praktisch fertiggestellt, eine neue Sozialenzyklika, in der es unter anderem um die Globalisierung geht. Hier hätte eine Weltkirche etwas zu sagen. Aber die Veröffentlichung wurde lange zurückgestellt. Und zwar nicht, weil die Vatikanbank als heilige Heuschrecke selbst Hedgefonds oder Liechtenstein-Konten hätte. Sondern weil dem Papst etwas anderes wichtiger war: Zuerst sollte seine Enzyklika zum Glauben kommen. <?page no="170"?> 6 „Formale“ Aspekte des Literarischen 170 9) Nichts gegen die Kirchenväter. Es kann nicht schaden, aus Neugier bei Basilius von Caesarea nachzuschlagen. Aber es wäre überraschend, dort Hinweise zur Rettung der Biodiversität, zu den Grenzen der Finanzmathematik oder zur Petrotyrannei zu finden. In der Mitte des ersten Teils wird auch durch recht burleske Komik auf den Übergang zum zweiten Teil, wo Luther und der Protestantismus eine wichtige Rolle spielen, „kataphorisch“ hingewiesen, S. 104: 4) Benedikt XVI. ist angetreten mit der Aussage, Kirche solle nicht nur als Zwang verstanden werden. Denn „aus einem verzagten Arsch kommt niemals ein fröhlicher Furz“ - wie es ein Professorenkollege aus Wittenberg formuliert hätte. Der Anfang des zweiten Teils markiert sehr deutlich den Bruch mit dem ersten, S. 105: 13) Wir waren Papst. Jetzt sind wir Merkel, Steinbrück, Schmidt - nicht zufällig sind das allesamt Protestanten, knochentrockene Lutherlinge, denen überdies alles Gewabere, alles Ideengetränkte, Tröstliche zuwider ist. Nachdem alle Blasen geplatzt sind, die ideologischen wie die börsennotierten, ist die Zeit der Verantwortungsethiker gekommen. Schluss mit Karneval und Schluss mit lustig. Die Zeit der barocken Spektakel und großen Worte ist vorbei. Es ist Zeit für Nüchternheit. Für Buddenbrooksche Kaufmannsethik. Fürs Handeln ohne vorherige Rückversicherung bei Augustinus. In diesem Teil werden einige Luther-Zitate angeführt, die auf die derzeitige Finanzkrise bezogen werden, vgl. etwa S. 105: 15) Luther also. Der Ossi aus Eisleben, die rote Klostersocke, wetterte seinerzeit nicht nur gegen den Ablass, diese hochspekulativen Papiere fürs Jenseits. Schon 1519 wütete er gegen Kreditderivate, Leerverkäufe und zinstrunkene Investmentfonds: „Wie sollte es dem göttlichen Recht gemäß und mit rechten Dingen zugehen, dass ein Mann in so kurzer Zeit so reich wird, dass er Könige und Kaiser auskaufen kann? Aber weil sie es so weit gebracht haben, dass die ganze Welt in Gefahr und mit Verlust handeln muss, dieses Jahr verdienen, nächstes Jahr verlieren, sie aber immer und immer nur gewinnen und ihre Verluste mit gesteigertem Gewinn ausgleichen können - was Wunder, dass sie bald das Gut der ganzen Welt an sich reißen? “ […] 17) Zum Unheil des „Leveraging“ ist zu lesen: „Solche Betrügereien betreibt und muss betreiben, wer mehr auf Berg kauft, als er bezahlen kann (zum Beispiel wenn einer kaum 200 Gulden besitzt und wickelt Geschäfte ab über 500 oder 600 Gulden). Wenn nun meine Schuldner nicht zahlen, kann ich auch nicht zahlen. Und so frisst das Unheil weiter, ein Verlust kommt zum anderen.“ <?page no="171"?> 6.2 Stil 171 46 Für die Lutherzitate in Smoltczyks Text, vgl. z.B. Luther (o.J.) im Literaturverzeichnis. Smoltczyk kommentiert, S. 105: 19) Klare Worte. Aber hier spricht kein Romantiker der Hauswirtschaft, sondern ein der Welt zugewandter Praktiker. In jeder Talkshow wird derzeit mit Büßer-und-Besserwisserblick, je nachdem, an die „Moral“ appelliert. Der Münchner Erzbischof Reinhard Marx hat ein ganzes Buch darüber geschrieben. Als ob es auf Moral ankäme. Die Banker sollen nur ihren Job richtig machen, nüchtern, hanseatisch pfeffersäckig. Protestantisch. Es geht nicht um abstrakte Sittlichkeit, sondern um die Erfüllung der innerweltlichen Pflicht. Eine Interpretation des Artikels wäre sehr grob dargestellt die folgende: Der Vatikan sei unzeitgemäß und hilflos gegenüber den Problemen der Gegenwart, und es wird entsprechend für Veränderungen argumentiert, d.h. der Vatikan sollte sich in dieser u.a. wirtschaftlich schwierigen Zeit mit für die Menschen relevanten Problemen beschäftigen. Die Lage im Vatikan wird im ersten Teil dargestellt und wird im zweiten Teil mit dem Protestantismus, verkörpert in den Gedanken Martin Luthers, 46 kontrastiert, wie auch mit der Entwicklung der modernen Wissenschaften. Die Argumentation wird, wie schon oben erwähnt, durch verschiedene rhetorische Mittel unterstützt. Diese werden hier nur kurz kommentiert. Es wird z.B., neben Präsentationen von „Fakten“, sehr viel Ironie und Witz verwendet, um den Vatikan als unzeitgemäß darzustellen. Weiter werden Termini und Wörter verwendet, die man eher in der Wirtschaftssparte der Zeitschrift erwarten würde, wie etwa Börsen-Crash, Konsumgutscheine, Vatikanbank, Heuschrecke, Hedgefonds, Liechtenstein-Konten, Finanzmathematik, börsennotiert, Rückversicherung, hochspekulativ, Kreditderivate, Leerverkäufe, Investmentfonds, Leveraging, mündelsicher, Finanzkapitalismus, Konsumismus, wie auch andere Wörter, die im Zusammenhang etwas auffallend klingen mögen, wie etwa Globalisierung, Biodiversität, Petrotyrannei, Stammzellforschung, Gentechnik, GPS. Auch weitere auffallende Wörter und Ausdrücke findet man leicht, u.a. etwa gemessfeiert, sich ein wenig Realpräsenz […] zu pixeln, Lutherling, Ossi aus Eisleben, rote Klostersokke, zinstrunken, Büßer-und-Besserwisserblick, heideggern. Wie z.B. Pielenz (1993) und Pörksen (1998) zeigen, vgl. auch Hosman (2008: 1126) und Liebert (2003), können Metaphern die Wirkung der Persuasion stärken. Dies ist keineswegs erstaunlich, da in den Metaphern vorgeprägte usuelle Denkweisen zum Ausdruck kommen können bzw. fertige kognitive Bausteine verwendet werden, und da zudem die Bild- <?page no="172"?> 6 „Formale“ Aspekte des Literarischen 172 lichkeit unmittelbar auf das emotive System einwirken kann. Effektiv kann dies vor allem werden, wenn Metaphern aus bestimmten Bildspenderbereichen wiederholt verwendet werden. So zeigt z.B. Pörksen (1998) wie u.a. Krankheitsmetaphorik, „Therapie am Volkskörper“, in Flugblättern von Neonazis verwendet worden ist, um Ausländer zu stigmatisieren, vgl. Pörksen (1998: 201): „Wir müssen nur die Krebsmetastasen, die Pestbeulen und die Eiterblasen aus unserem Volkskörper selbst ausbrennen.“ Oben wurde eine Anzahl Termini aus dem finanziellen Bereich angeführt, die alle mehr oder weniger deutlich metaphorisch verwendet werden. Schon am Anfang des Textes, im dritten Absatz, wird der Bildspenderbereich „Finanzwelt“ eingeführt [Hervorhebungen H.N.]: 3) Bei seinen mittwöchlichen Bibelmeditationen spricht er [der Papst] über die „Parusie“, das endgültige Kommen, und meint damit nicht den nächsten Börsen-Crash. Er spricht über „die Ausgießungen des Heiligen Geistes“ und nicht über Konsumgutscheine. Das Benehmen des Papstes wird mit Hilfe eines negativ besetzen Bildspenderbereichs dargestellt; negativ, weil die Terminologie teilweise schon lexikalisch negativ konnotiert ist und weil sie darüber hinaus mit der aktuellen Finanzkrise assoziiert wird. Die Negativität kommt im Absatz 15 durch den folgenden metaphorischen Ausdruck sehr deutlich zum Ausdruck: „[Der] Ablass, diese hochspekulativen Papiere fürs Jenseits.“ Wenn es der Primärsinn dieses Textes ist, auf Schwächen des Vatikans aufmerksam zu machen, könnte die Verwendung rhetorischer Mittel wie Witz, Ironie und „abweichende“ oder unerwartete Wörter und Phrasen, die Metaphorik, der Vergleich mit Luther usw. für die Argumentation sogar störend wirken. Es ist jedenfalls deutlich, dass der Verfasser diese Mittel bewusst einsetzt, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Er möchte sehr deutlich unterhaltend argumentieren, damit der Leser den Text gern liest. Er möchte sich selbst wahrscheinlich als geschickten, kenntnisreichen, intellektuellen und witzigen Schriftsteller darstellen. In der Tat erfüllt er dabei die Erwartungen vieler Spiegelleser, die schon früher Artikel des Romkorrespondenten Alexander Smoltczyk gelesen haben (zur sog. „Spiegel-Sprache“, vgl. etwa Carstensen 1971). Es geht also um den Sekundärsinn („Zweitsinn“) im Sinne von Fix (2006a: 246), vgl. oben Abschnitt 3, d.h. um Information sozialer Art, also um das Selbstbild des Textproduzenten und um die Beziehung, die er zum Rezipienten herstellen will. Und davon ausgehend, dass der Textproduzent die angegebenen sprachlichen Mittel geschickt oder ungeschickt verwendet, schließt der Rezipient, das der Produzent ein guter oder schlechter Stilist, <?page no="173"?> 6.2 Stil 173 47 Vgl. das ganze Zitat am Anfang vom Abschn. 6.2.4. d.h. Verwender sprachlicher Mittel ist, und welche Ziele dieser erreichen möchte; zum Teil dürfte es um ein „Zwischen-den-Zeilen-lesen“ gehen. Es geht dabei zunächst um „Schlüsse ziehen“ und nicht unmittelbar um „erleben“, d.h. nicht um Stil in dem Sinne, wie dieser Begriff hier definiert wurde. Die angesprochenen Merkmale können aber auf den Text selbst und seine Textstruktur aufmerksam machen und somit als Stilmerkmale dienen. Der Rezipient kann dabei die Formulierungen des Texts und somit auch die Persönlichkeit des Textproduzenten als kreativ, lustig, überheblich, (un)sympatisch usw. erleben. Prädikate wie „kreativ“, „lustig“, „überheblich“ und „(un)sympatisch“ sind dabei keine analytischen Merkmale, sondern dienen nur dazu, die Vorstellung eines entsprechenden Erlebnisses zu evozieren, da Stil eben als ästhetisch-aisthetisches Phänomen analytisch nicht beschreibbar ist. Man kann z.B. von einer Person sagen, „sie hat Stil“, „sie ist eine Persönlichkeit“, weil man diese Person so erlebt, und wenn man danach gefragt wird, warum man dies behauptet, kann man verschiedene Gründe oder „Stilmerkmale“ dafür angeben, die aber nie genau das beschreiben können, was man erlebt. Wenn der Rezipient des Texts „Wir waren Papst“ diesen und seinen Verfasser positiv erlebt, ist das geeignet, die Argumentation zu stützen, zum persuasiven Effekt beizutragen, und zwar auch, weil die (in diesem Falle vor allem negative) erlebte Bildlichkeit leichter akzeptiert wird. Der Stil kann somit ein effektives Mittel der Persuasion oder gar Manipulation sein, weil der Rezipient beeinflusst werden kann, ohne dass er sich selbst dessen ganz bewusst ist. Es ist zugleich ein riskantes Mittel, weil die Erlebnisse der Rezipienten individuell und somit nicht leicht kontrollierbar sind. Es ist durchaus möglich, dass es Rezipienten dieses Textes gibt, die den Rezipienten z.B. als überheblich und äußerst unsympatisch erleben. 6.2.4.2 Stil als persuasives „Mittel“ in literarischer Kommunikation Die folgende Behauptung von Hosman (2008: 1120) ist bezüglich literarischer Texte in der Tat ein wenig problematisch, wenn, wie hier angenommen wird, es bei literarischer Kommunikation keine besondere Ebene des Stils gibt: „An assumption underlying the research on style and persuasion is that stylistic variations have effects on attitude change, such that particular stylistic variations will be more effective than other stylistic variations“. 47 Da außerdem die Autorintention bei literarischer Kommunikation analytisch nicht festlegbar ist, und da weiter auch die <?page no="174"?> 6 „Formale“ Aspekte des Literarischen 174 48 Auch andere Texte, die eine literarisierende Sprache (etwa „Infotainment“) verwenden, können in ähnlich „täuschender“ Weise persuasiv wirken, vgl. auch Abschn. 4.1.2. Instrumentalität des literarischen Textes mit der Instrumentalität des nichtliterarischen nicht vergleichbar ist, ist es problematisch, von Persuasion bei literarischer Kommunikation zu sprechen. Der Text ist hier kein „Mittel“ zu einem festlegbaren Zweck. Dies bedeutet allerdings nicht, dass literarische Texte nicht persuasiv wirken können. Eisenhut (2009: 8) schreibt: „Die Naturwissenschaft überzeugt empirisch. Die Philosophie überzeugt logisch. Die Politik überzeugt argumentatorisch.“ Wie Eisenhut (2009: 7f.) notiert, kann auch Literatur persuasiv wirken, auch wenn dies keine bewusste Intention des Autors war. Wie in den beiden vorangehenden Abschnitten notiert wurde, könnte literarische Kommunikation in der Tat ein potentiell viel stärkeres Mittel der Persuasion als die nichtliterarische darstellen. Da literarische Kommunikation sich unmittelbar auf das emotionale System bezieht, kann durch sie gestaltend nachhaltiger und tiefer das Wertesystem des Rezipenten beeinflusst werden, d.h. wenn er das Gestaltete „zu sich nimmt“, vgl. Abschn. 3.5, 5.1.3. Margrit Schreier (2009) führt in ihrem Artikel „Belief Change through Fiction: How Fictional Narratives Affect Real Readers“ einige Arbeiten der empirischen Psychologie an, die zeigen, dass fiktional rezipierte Texte die Ansichten der Leser beeinflussen können. So könne eine wenig glaubwürdige Behauptung in einem literarischen Text wie „Eating chocolate makes you lose weight“ (Schreier 2009: 324) Leser zur Überzeugung verleiten, dass das Essen von Schokolade schlanker machen würde, und zwar auch, wenn sich die Leser dessen bewusst wären, dass es um einen literarischen Text ging, und dass man bei literarischer Kommunikation nicht davon ausgehen kann, dass alles, was „behauptet wird“, als wörtlich wahr aufgefasst werden kann. Ein Grund dafür könne nach Schreier sein, dass alle „Information“ bei der Lektüre nicht so genau, sondern eher oberflächlich prozessiert werde („dual-process theories of persuasion“), ein anderer („transportation imagery model“), dass die fiktionalisierte Welt den Leser so stark engagiere, dass er sie als faktisch erleben würde, und dass dabei der kritische Blick verloren gehen könne, vgl. weiter Schreier (2009: 327-333). Die persuasive Kraft der Ästhetisierung bedeutet, dass literarische Kommunikation auch als Element nichtliterarischer Kommunikation verwendet wird, wobei eine Art „hybrider Kommunikation“ entsteht, vgl. oben Abschn. 4.1.2. In der Werbung ist dies natürlich sehr üblich. 48 <?page no="175"?> 6.2 Stil 175 49 Zur Rekontextualisierung, vgl. Abschn. 4.1.1, 5.1.3, 6.2.3.1. Zu Persuasion und Werbung aus systemtheoretischer Sicht, vgl. Gansel (2011: 94-109). Fix (1998b: 52f.) führt ein interessantes Beispiel der Verwendung literarischer Mittel in der Werbung an. Es geht um „Das Märchen vom häßlichen Diesel“, eine Merzedes-Anzeige, Fix (1998b: 52, hier nur der erste Absatz): Es war einmal ein Motor, der arbeitete härter und länger als alle anderen Motoren. Kein Kilometer war ihm zuviel und keine Kraftstoffmenge zuwenig, denn er war ein Diesel. So lief er jahrein, jahraus - seit eine große Automobilfirma, deren Autos man an einem Stern erkennt, den ersten Diesel-PKW der Welt gebaut hatte. Und nur der Tankwart schüttelte nachdenklich den Kopf, wenn der eifrige Diesel, ohne sich eine Pause oder etwas zu trinken zu gönnen, an seiner Tankstelle vorbeizog. Fix (1998b: 65) stellt fest, dass hier konventionelle formulative Mittel der Textsorten Märchen und Werbetext gemischt werden. Erstens gehe es um die „Alles - Wird - Gut - Botschaft“, „eine gute Vorgabe für Werbetexte“. Zweitens gehe es um den Bezug auf die Märchensorte „Wunschtraummärchen“: Und als drittes sind es die zwei Kommunikationsebenen des Märchens - die Ebene der fiktiven und der realen Welt, der textinternen und der textexternen Wirklichkeit, wie sie für jedes Märchen gelten, die das Muster für Werbung so geeignet machen. Im Rahmen der hier vorgestellten Theorie würde es zwar nicht um zwei Kommunikationsebenen des „Fiktiven“ und des „Realen“ gehen, sondern darum, dass der „Märchentext“ alternativ und/ oder gleichzeitig literarisch und nichtliterarisch rezipiert werden kann. Da es letzten Endes um nichtliterarische Kommunikation gehen soll, ist eine „Rekontextualisierung“ der literarischen Rezeption nicht nur eine Möglichkeit oder ein Angebot, sondern wird vom Textproduzenten vorausgesetzt, da sonst seine ganzen Kommunikationshandlung nicht erfolgreich vollzogen werden kann, auch wenn die kommunikative Handlung gelingen würde, vgl. oben Abschn. 3.3. 49 Bei literarischer Kommunikation stellt aber die Rekontextualisierung ein offenes Angebot dar, weshalb auch nie gesagt werden kann, ob die ganze Kommunikationshandlung erfolgreich war oder nicht. Dies bedeutet nicht, dass der Autor keine persuasiven Intentionen gehabt hätte, etwa politische, und dass er nicht enttäuscht wäre, wenn Leser nicht nach seinen Wünschen reagieren. Literarische Texte können aber nur als <?page no="176"?> 6 „Formale“ Aspekte des Literarischen 176 50 „ [...] dikt med en politisk agenda blir snabbt ointressant, medan en Rilke står sig i århundraden.“ (Interview, Bäck 2005). Claes Andersson hat 23 Gedichtbände und eine Anzahl Romane und autobiographische Arbeiten veröffentlicht, er war Reichstagsabgeordneter 1987-99, 2007-08, finnischer Kultusminister 1995-98, Leiter der Linkspartei 1990-98 und war hauptberuflich als Arzt und Psychiater tätig. Ergebnis dessen, wie die Rezipienten die Gestaltung des Textes erleben, die Leser beeinflussen, d.h. höchstens durch eine „überzeugende“ Gestaltung können Texte in literarischer Kommunikation persuasiv wirken. Es gibt eine große Menge von literarischen Texten, die eine bestimmte „Botschaft“, etwa eine politische, ausdrücken, aber je deutlicher die Botschaft ist, desto trivialer tendiert der Text zu werden, und zwar literarisch gesehen. Der politisch sehr aktive Dichter und Schriftsteller Claes Andersson drückt dies in folgender Weise aus (Übers. H.N.): „[…] ein Gedicht mit einer politischen Agenda wird schnell uninteressant, während ein Rilke sich Jahrhunderte bewähren wird.“ (Hervorhebung im Original). 50 Je deutlicher die Botschaft, desto weniger lässt sich ein Text literarisch rezipieren, vgl. auch unten Abschn. 6.2.5 zur Trivialliteratur. Das oben im Abschn. 6.2.3.1 angeführte Gedicht „Tiermarkt/ Ankauf“ von Erich Fried ist deutlich durch die damaligen politischen Verhältnisse geprägt, was u.a. durch die benutzte „Vorlage“ unterstrichen wird. Es wird aber hier keine Botschaft explizit verkündet, sondern der Text wird durch seine Gestaltung als Angebot an den Leser zur Fiktionalisierung durch Entkontextualisierung präsentiert. Der Rezipient kann somit Erlebtes auf sich selbst beziehen und somit den Text im Rahmen seiner eigenen Situation deuten, d.h. ganz unabhängig von der Situation, wo das Gedicht geschrieben wurde. Das Gedicht könnte somit wenigstens potentiell zum „Klassiker“ werden. Ein wenig problematischer ist z.B. das Gedicht „Bundeslied für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein“ von Georg Herwegh 1863, da es doch deutlich zeitlich lokalisiert ist (Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins) und eine deutliche Aufforderung zum Kampf zu enthalten scheint. Hier werden nur die erste und die letzte von den 12 Strophen angeführt, vgl. Herwegh (1990: 218-219): Bet’ und arbeit’! ruft die Welt, Bete kurz! denn Zeit ist Geld. An die Türe pocht die Not - Bete kurz! denn Zeit ist Brot. […] <?page no="177"?> 6.2 Stil 177 51 Vgl. auch z.B. die Homepage der Georg-Herwegh-Edition (2011). Zum Stil von Herwegh, vgl. Kircher (1996). 52 Zu Schlagertexten, vgl. Rucktäschel (1976), Stoeva-Holm (2005). Brecht das Doppeljoch entzwei! Brecht die Not der Sklaverei! Brecht die Sklaverei der Not! Brot ist Freiheit, Freiheit Brot! Im Zusammenhang mit der Gründungsveranstaltung wurde das Gedicht sehr wahrscheinlich eher nichtliterarisch rezipiert, d.h. als Aufforderungstext, und zwar mit einer wohl recht starken persuasiven Wirkung wegen der stark bildhaften Sprache. Die formale und inhaltliche Gestaltung legte wohl dabei auch eine literarische Rezeption nahe. Ausgehend von dem oben Gesagten müsste das Gedicht heute als recht „trivial“ betrachtet werden. Gegen diese Beurteilung spricht aber die Rezeption von Herwegh heute, u.a. die Tatsache dass das Gedicht in einer Antologie deutscher Lyrik veröffentlicht worden ist. 51 Letzten Endes ist aber die Frage der Trivialität vom Rezipienten, von seiner persönlichen Situation und seinen Erfahrungen abhängig, vgl. unten Abschn. 6.2.5. Bei sprachlicher Kommunikation dienen die durch mit den Bedeutungen der Zeichen verknüpften Vorstellungen als Brücke zwischen Sprache und außersprachlicher Welt, und zwar davon unabhängig, ob die außersprachliche Welt fiktiv oder faktisch ist, da auch das Fiktive letzten Endes vom Faktiven abhängig ist, vgl. Abschn. 4.1. Auch beim Aufbau der entkontextualisierten Welt bei literarischer Kommunikation dienen die Vorstellungen in gleicher Weise, unabhängig vom Fiktivitätsgrad des Inhalts, als „Brückenschlag“. Die Brücke ist aber bei literarischer Kommunikation vorläufig nur für den Aufbau oder die Konstruktion der Textwelt als „Einbahnstraße“ offen, kann aber durch Rekontextualisierung in beide Richtungen freigegeben werden. 6.2.5 Trivialliteratur versus seriöse Literatur Zur Trivial- oder Unterhaltungsliteratur werden i.A. Genres wie Kriminalgeschichten, Abenteuergeschichten, Science Fiction, Phantasy, Western, „Frauen- und Liebesromane“ (Strassner 2007: 547) usw., wie auch etwa Schlagertexte gezählt. 52 Eine derartige Klassifizierung im Rahmen des „Kommunikationsbereichs Literatur“ bildet zwar einen natürlichen Ausgangspunkt der Analyse, aber die Unterscheidung zwi- <?page no="178"?> 6 „Formale“ Aspekte des Literarischen 178 schen Trivialliteratur und seriöser Literatur ist in diesem Zusammenhang nur interessant, insofern die Beschreibung literarischer Kommunikation dadurch zeichentheoretisch vertieft werden kann. Viele literarische Texte werden offenbar mit dem hauptsächlichen oder alleinigen Zweck der Unterhaltung geschrieben, wobei man üblicherweise von Unterhaltungs- oder Trivialliteratur spricht. Ausgehend von der Systemtheorie schreiben Plumpe/ Werber (1993: 33) sogar: „Unsere Behauptung ist: die Funktion der Kunst ist es, zu unterhalten.“ Und weiter, Plumpe/ Werber (1993: 35): Natürlich wird im Hinblick auf die Unterhaltungsfunktion deutlich, daß die Systemtheorie der Kunstkommunikation eine andere soziale Dimension gibt als es konventionell in der verengten Perspektive programmfixierter, etwa philosophisch-ästhetischer, Kunsttheorien meist der Fall ist, die von „Unterhaltung“ nichts wissen wollen, ihrerseits aber keine Funktion von Kunst mehr angeben können oder sich in Spitzfindigkeiten verlieren, die mit der Wirklichkeit kurrenter Kunstkommunikation in der modernen Gesellschaft außer Kontakt geraten. Aber auch nichtliterarische Texte werden mit der Unterhaltung als Haupt- oder Nebenzweck geschrieben („Infotainment“, vgl. oben Abschn. 6.2.3.3). Eine Unterhaltungsfunktion kann somit nicht als unterscheidende Eigenschaft literarischer Texte betrachtet werden. Die Unterhaltungsfunktion kann aber auch nicht ganz einfach als unterscheidendes Kriterium zwischen trivialer und nichttrivialer Literatur verwendet werden, denn natürlich kann auch nichttriviale Literatur unterhaltend sein und sogar mit dem Ziel geschrieben worden sein, wenigstens auch unterhaltend zu sein. Literarische Texte können kaum Klassiker werden, wenn man sie nicht in irgendeinem Sinne „unterhaltend“ finden kann, d.h. wenn ihre Lektüre überhaupt keinen Spaß machen würde, keinen „ästhetischen Genuss“ bieten könnte. Zudem kann nicht ausgeschlossen werden, dass einige Verfasser von „Trivialliteratur“ ihre Texte in der Absicht schreiben, den Lesern ein wenig mehr zu bieten, als reine Unterhaltung, während andererseits Leser von einem Text der Trivialliteratur ein solches „Mehr“ erfahren mögen, ohne dass dies notwendigerweise vom Autor intendiert wäre. Donalies (1995: 317) schreibt: „Die Geschichte der Trivialliteraturforschung ist eng verbunden mit der Abwertung dieser Literatur.“ Die Unterscheidung zwischen trivialer und seriöser Literatur soll aber hier nicht als Unterscheidung zwischen „schlechter“ und „guter“ Literatur verstanden werden. Wenn die Unterscheidung lediglich eine Unterscheidung der Qualität in diesem Sinne wäre, wäre sie für die vorliegende Untersuchung weniger interessant. Da in der Forschungsliteratur immer wieder die Sprache als Unterscheidungskriterium zwischen trivial <?page no="179"?> 6.2 Stil 179 53 Strassner (2007: 541) schreibt zum Stil der Trivialliteratur: „Sprache und Stil sind die Mittel, die verfehlte, aus den Fugen geratene Welt wieder einzufangen, sie zur gefälligen Lektüre auf-, zum distanzlosen Genuss zuzubereiten. Resolut werden Stil und Diktion dem gedachten Leser angepasst, der sich mit ihrer Hilfe und geführt durch sie einer Sache nähert, die ihm selbst fernesteht, die keinerlei Bezug zu seinem Alltag besitzt.“ Vgl. weiter auch Földes (2007). 54 Normen können als durch eine normierende Instanz kodierte Konventionen betrachtet werden. und nichttrivial verwendet wird - und somit auch Aspekte des Stils, vgl. auch Podewski (2007) 53 , hat Donalies (1995) die Gefühlsbeschreibungen in einem Korpus bestehend aus 30 „Trivial- und hochliterarischen Romanen aus der Zeit von 1747 bis 1994“ mit einem Gesamtumfang von 8549 Seiten untersucht. Das Material umfasst 1900 Belegsätze, die durch ausgewählte Wörterbuchbelege und Belege aus Monographien um weitere 300 ergänzt wurden, Donalies (1995: 322f.). Folgende Thesen der Forschungsliteratur wurden auf dem Hintergrund dieses Materials diskutiert, Donalies (1995: 323): I. Trivialromane zeichnen sich durch ganz bestimmte, objektiv (z.B. statistisch) ermittelbare Sprachmuster aus. II. Die Sprache der Trivialromane ist banal. III. Die Sprache der Trivialromane ist preziös. IV. Trivialromanautoren beherrschen die Sprache nicht. V. Durch die Häufung von Adjektiven entsteht Kitsch. VI. Es gibt trivialromantypische, kitschige Wörter. VII. Die Sprache von Trivialromanen ist eine Ansammlung von sprachlichen Klischees. VIII. Trivialromane sind sprachlich epigonal. Donalies (1995) zeigt recht überzeugend, dass man ausgehend von ihrem Material und den oben angegebenen Kriterien nicht objektiv zeigen kann, dass triviale und seriöse Literatur sich durch das Kommunikationsmedium Sprache in entscheidender Weise voneinander unterscheiden würden. Dies ist eigentlich nicht so überraschend, denn die menschliche Sprache ist u.a. ein System von Normen und Konventionen 54 , und zwar auf allen Stufen des Systems. Eine „kreative Abweichung“ vom System setzt dieses System voraus, wobei allzu starke Abweichungen dazu führen könnten, dass man außerhalb des Systems, d.h. außerhalb der Sprache gerät; z.B. die konkrete Poesie bewegt sich häufig am Rande dieses „Abgrunds“, vgl. auch oben Abschn. 6.1. Es geht offenbar nicht darum, ob triviale, kitschige, preziöse, klischeeartige usw. Ausdrücke und Ausdrucksweisen, stereotypische Vertextungsmuster und Arten der Themenentfaltung verwendet werden, sondern eher darum, wie diese Mittel bei <?page no="180"?> 6 „Formale“ Aspekte des Literarischen 180 55 Auch wenn Kriminalromane i.A. als „Trivialliteratur“ klassifiziert werden, schließt dies natürlich nicht aus, dass auch seriöse Kriminalromane und Kriminalgeschichten geschrieben und/ oder als seriös rezipiert werden. der Gestaltung benutzt werden, was aber eher eine Frage der Qualität darstellen dürfte. Es gibt natürlich seriöse Literatur, die in dieser Hinsicht, und folglich auch generell (vgl. Abschn. 6.2.2), nicht besonders gelungen sind, und andererseits Texte der Trivialliteratur, die in dieser Hinsicht sogar als sehr gut bezeichnet werden können. Der Sprachwissenschaftler Erich Strassner (2007) verknüpft Trivialliteratur mit „Trivialsprache“, also mit „schlechter Sprache“, wobei aber hier „Trivialsprache“ nicht als generelles definierendes Merkmal von Trivialliteratur betrachtet wird, auch wenn sie als für das von Strassner analysierte Subgenre „Heftchenliteratur“ typisch sein mag. Auch wenn Donalies (1995) als Linguistin möglicherweise den Begriff Sprache in einem etwas engeren Sinne sieht als ein Literaturwissenschaftler es tun würde, scheinen ihre Ergebnisse plausibel zu sein. Sie sind auch wichtig, weil Sprache das zentrale Medium der literarischen Kommunikation darstellt. Wichtiger in diesem Zusammenhang wäre aber zu untersuchen, ob ein Zusammenhang zwischen der grundlegenden Strategie der Ästhetisierung durch Entkontextualisierung bei literarischer Kommunikation und der Unterscheidung zwischen trivialer und seriöser Literatur vorliegt. Donalies (1995: 322) schreibt: Das Merkmal, das bereits intuitiv sofort den Eindruck von Trivialität vermittelt, ist mithin am ehesten in der literarischen Gestaltung der Stoffe zu sehen, in der Darstellung von Ereignissen und Handlungen, in den Motiven und den Plots: Romane der Hochliteratur charakterisiert, daß sie weniger Schwarz-Weiß-Malerei, keine poetische Gerechtigkeit und kein eigentliches Happy End haben. Zuweilen wird der Unterschied zwischen („trivialen“) Kriminalromanen und seriösen Romanen dadurch charakterisiert, dass ein Krimi ein Rätsel thematisieren würde, während ein seriöser Roman selbst ein Rätsel sei. 55 Typisch für Texte der Trivialliteratur scheint zu sein, dass man in sinnvoller Weise rational gegen ihren Sinn gebenden Inhalt argumentieren kann. Der primäre „Sinn“ einer Kriminalgeschichte scheint somit im Normalfall in der Lösung eines Kriminalfalls zu bestehen, wobei der Leser ausgehend von dem Wissen, das er während der Lektüre allmählich erhält, versuchen kann, den Schuldigen zu entlarven. Wenn dieses Problem nicht rational zufriedenstellend gelöst bzw. verstanden werden kann, geht es um eine nicht zufriedenstellende Kriminalgeschichte, auch <?page no="181"?> 6.2 Stil 181 56 Eisenhut (2009: 97-100) beschreibt im Rahmen seines „Tagtraum-Modells“, wie auch mit Hilfe des Begriffs Willing Suspense of Memory, vgl. auch Eisenhut (2009: 120), wie es möglich sein kann, dass auch reine Spannungsliteratur wiederholt mit Genuss gelesen werden kann. wenn der Text sonst unterhaltend und interessant sein kann. In Liebesgeschichten kann es z.B. um Verwicklungen auf dem Wege zur Heirat gehen. Bei Unterhaltungs- oder Trivialliteratur scheint somit die Story schwerpunktmäßig zentral zu sein. Wenn man diese schon kennt, gibt es, wenigstens im Prinzip, eigentlich keinen Grund den Text zu lesen. Deshalb soll die Story etwa einer Kriminalgeschichte lieber nicht im Voraus für den potentiellen Leser entlarvt werden. In seiner Kritik von Jan Costin Wagners Kriminalroman Das Licht in einem dunklen Haus (Wagner, J. 2011) schreibt Volker Hage (2011b: 121): Wie viel darf ein Kritiker über einen Krimi verraten? Vielleicht lässt es sich so sagen: Bei einem gelungenen literarischen Werk sollte die Handlung nicht alles sein, sie sollte im Gegenteil mehr oder weniger komplett referiert werden können, ohne dass viel verlorengeht. Nicht der Plot steht im Zentrum, entscheidend sind Sprache und Poesie, die Nähe zu den Figuren, die Atmosphäre und die Dringlichkeit der Erzählung. Eine gut erzählte Kriminalgeschichte kann aber offenbar auch mit „Genuss“ sogar mehr als einmal rezipiert werden, was aber nicht der These der prinzipiellen Zentralität der Story oder des Plots in der Trivialliteratur widerspricht, vgl. auch Eisenhut (2009: 97-100) zur „Suspense-Literatur- Forschung“. 56 Bei „seriöser“ Literatur dient die „Story“ primär und schwerpunktmäßig nur als Gerüst des Erzählten und dessen Gestaltung, weshalb Rereading neue, „tiefere“ Erlebnisse und somit neue Einsichten bringen kann. Die Lektüre wird nicht dadurch sabotiert, dass die Story oder andere Elemente im Voraus bekannt gegeben werden, und auch können Informationen über den Verfasser, wie auch wissenschaftliche und kritische Analysen zu einem tieferen Verständnis führen. Trivialliteratur versucht, eine bestimmte Emotion, ein bestimmtes Gefühl „anzusprechen“, eine bestimmte Stimmung hervorzurufen, bei Kriminalgeschichten „Spannung“, in anderen Fällen etwa „Romantik“, d.h. „um der Spannung willen“ bzw. „um der Romantik willen“. Die Emotionalität dient also nicht als Mittel zum Erkenntnisgewinn. Wegen der Zentralität der Story in der Trivialliteratur sind die Kontextbezüge zum Teil anders als in der seriösen Literatur. Im Falle der Trivialliteratur stellt der Bezug zur realen Welt nur ein Mittel beim Aufbau einer glaubwürdigen und kohärenten Textwelt dar. Die Wirkung <?page no="182"?> 6 „Formale“ Aspekte des Literarischen 182 57 Mann (1901: 658), zit. nach Donalies (1995: 316). des Textes auf den Rezipienten hört mit der Lektüre auf; wenn wir wissen, wer der Mörder im Kriminalroman war, ist der Text im Prinzip nicht mehr interessant. Die Trivialliteratur strebt nicht danach, Erkenntnisse zu vermitteln, sondern danach, dem Rezipienten die Möglichkeit zu bieten, Altes in neuen „Kleidern“, in neuen „Verwandlungen“ zu erleben und in dieser Weise „unterhalten“ zu werden. Wie oben u.a. in Anlehnung an das Zitats aus Hage (2011b) deutlich wurde, ist die Grenze zwischen trivialer und nicht-trivialer Literatur durchaus nicht scharf, aber es dürfte deutlich sein, dass die Dominanz der Story als typisches Merkmal solcher Texte betrachtet werden kann, die als „trivial“ rezipiert werden. Der Begriff „trivial“, so wie er hier definiert worden ist, beschränkt sich nicht nur auf reine Unterhaltungsliteratur. Viele literarische Texte werden z.B. mit einer politischen Botschaft geschrieben, und zwar in der Absicht, die Welt zu verändern. Während im Falle des Krimis der Text uninteressant wird oder werden kann, wenn der Kriminalfall gelöst worden ist, läuft ein sehr stark an eine bestimmte politische Situation gebundener Text die Gefahr, spätestens dann uninteressant zu werden, wenn sich die politische Lage verändert hat, vgl. oben Abschn. 6.2.4.2. Die Kommunikation mag zwar in der gegebenen historischen Situation sogar argumentativ erfolgreich sein, aber dann geht es nicht um literarische Kommunikation im eigentlichen Sinne, d.h. der Text wird nicht mit Hilfe der Strategie der Entkontextualisierung rezipiert. Literarisch kann nicht im eigentlichen Sinne argumentiert werden. Es geht eher um eine Rezeption, die etwa der von Reportagetexten ähnlich ist, vgl. oben Abschn. 6.2.3.3. In etwas ähnlicher Weise wie im Falle der Unterhaltungsliteratur wird dabei leicht die „Story“ zentral, wobei aber der Text in einer Weise instrumentalisiert wird, die mit literarischer Kommunikation nicht verträglich ist, vgl. Abschn. 5.3 oben. Es scheint deutlich, dass Unterschiede zwischen Trivialliteratur und seriöser Literatur vorliegen, und dass Leser es für wichtig halten, zwischen trivialer und seröser Literatur unterscheiden zu können, wie auch, dass sie i.A. dies irgendwie tun können, auch wenn keine scharfe Grenze vorliegen kann. Ob ein literarischer Text als trivial oder seriös aufgefasst wird, scheint auch wenigstens zum Teil eine Frage der Rezeption zu sein. Donalies (1995: 316 u. 330) führt das folgende Zitat aus Tomas Manns Buddenbrooks an: „… durchbebt und wie im Rausche emporgehoben von einem Glück, dem keins in der Welt an schmerzlicher Süßigkeit zu vergleichen.“ 57 Nach Donalies (1995: 330) zeige dieses Beispiel, „daß die <?page no="183"?> 6.2 Stil 183 58 Zu Fontane als Unterhaltungsautor, vgl. Demetz (1976). 59 Zu Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt vgl. auch die weiteren Beiträge in Nickel (Hrsg.) (2008). 60 Die Rezeptionsgeschichte dieser Erzählung, wie natürlich auch anderer Werke Kafkas, dürfte dieses wertende Prädikat rechtfertigen können! Hypothese, es gebe eine an der Verwendung bestimmter Wörter erkennbare trivialromantypische Sprache, bei genauerer Betrachtung falsifiziert wird“. Buddenbrooks dürfte in der Tat recht leicht als Unterhaltungsroman und in dem Sinne als Trivialliteratur rezipiert werden können, - die Verkaufserfolge stützen eine derartige Annahme -, wird natürlich aber auch als seriöse Literatur rezipiert (hier könnte der Nobelpreis als Beweis angeführt werden). 58 Ein etwas neueres Beispiel stellt der historische Roman von Daniel Kehlmann (2005) Die Vermessung der Welt dar. In einem Interview mit Sebastian Kleinschmidt sagt Daniel Kehlmann Folgendes, Kleinschmidt (2006: 792): Der historische Roman ist normalerweise ein Genre der Trivialliteratur. Wir kennen das. In jeder Großbuchhandlung gibt es ein Regal mit der Aufschrift ‚Historischer Roman‘, und da stehen Bücher, die so tun, als könnten sie zeigen, wie das Vergangene gewesen ist. Der Reiz dieser Bücher besteht in einer Art fernsehverwandtem Vergnügen, nämlich dabeizusein bei großen Augenblicken und zu empfinden, wie alles wirklich war. „Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt sperrt sich gegen eine solche ‚fernsehverwandte‘ Form der Geschichte“ schreibt Marx (2008: 169), aber er kann trotzdem offenbar als spannender Abenteuer- und Unterhaltungsroman gelesen werden, worauf der Verkaufserfolg hindeutet. Es geht eben u.a. um das Erleben, d.h. „empfinden, wie alles wirklich war“. Es gibt auch sehr viel Humor im Roman, vgl. dazu etwa Catani (2008), Stein (2008). Die Rezeption zeigt aber auch, dass der Roman nicht nur als „triviale“ Unterhaltungsliteratur gelesen werden kann, sondern dass der Leser den Text rekontextualisierend „auf sich beziehen“ kann. 59 Kafkas Die Verwandlung kann gelesen werden als eine merkwürdige und spannende Geschichte von einem Mann, der an einem Morgen aufwacht und findet, dass er in einen ekelhaften Käfer verwandelt worden ist. Wie wird die Familie reagieren, was wird aus dem armen Gregor Samsa werden usw.? Die „Bausteine des Fiktiven“ bestehen ganz deutlich aus Elementen des Faktischen und die „Glaubwürdigkeit“ kann wegen der meisterhaften 60 Erzählweise Kafkas aufrecht erhalten werden, auch <?page no="184"?> 6 „Formale“ Aspekte des Literarischen 184 61 Vgl. die Facebook-Seite https: / / www.facebook.com/ pages/ Nele-Neuhaus-und-ihre- B%C3%BCcher/ 238118552063? ref=ts [30.11.2011], Neuhaus (2011b). 62 Also nicht „Wahrheit“, weil es nicht um die (analytische) Dichotomie wahr/ falsch geht. wenn der „Abstand“ zur realen Welt groß ist. Die Geschichte kann also in „trivialer Weise“ rezipiert werden, aber der Rezipient kann natürlich auch vom Los Samsas tiefer ergriffen werden und diese Ergriffenheit in Beziehung zu seinem eigenen Leben setzen, das Erzählte etwa als eine Gestaltung von Einsamkeit, Verfremdung usw. erleben und somit die Erzählung nichttrivial rezipieren. Er kann also den Text rekontextualisieren, indem er ihn auf sich selbst bezieht, und in dieser Weise „zu sich nimmt“, vgl. Abschn. 5.1.3. Ein junger Leser könnte Kafkas Erzählung In der Strafkolonie bei der ersten Lektüre als eine spannende und grausame Geschichte rezipieren, aber später in etwas reiferem Alter bei wiederholter Lektüre das Erlebte auf seine mit der Zeit erworbenen Erfahrungen und historischen Kenntnisse beziehen, d.h. den Text rekontextualisieren. Bei der Lektüre von Trivialliteratur wird eine derartige Rekontextualisierung nicht vorausgesetzt, kann aber sicherlich in vielen Fällen möglich sein. Die recht erfolgreiche 61 Krimi-Autorin Nele Neuhaus (2011a) schreibt: Nichts macht mir mehr Vergnügen, als verzwickte Geschichten zu erfinden, die den Leser fesseln, unterhalten, mitfiebern und mitleiden lassen. […] Meine Bücher sind keine hohe Literatur. Das sollen sie auch nicht sein, denn sie sollen in erster Linie gute und spannende Unterhaltung bieten. Wenn mir das gelingt, wenn meine Leser mir sagen, dass sie einfach nicht aufhören konnten zu lesen, dann ist das für mich das allergrößte Kompliment. Welch schönere Bestätigung könnte es für eine Schriftstellerin geben? [Hervorhebung im Original] Bei der Trivialliteratur wird die Textwelt in derselben Weise wie im Falle seriöser literarischer Kommunikation aufgebaut. Wenn aber die literarische Kommunikation mehr als nur Unterhaltung bieten soll, d.h. ein Erlebnis, das zugleich neue Erkenntnisse vermitteln kann, wird die Frage der „Wahrhaftigkeit“ zentral. 62 Dadurch, dass der Leser die durch die Lektüre geschaffene erlebte Welt zu seinen in der realen Welt erlebten Erfahrungen in Beziehung setzt, sie also „rekontextualisiert“, d.h. das „Entkontextualisierte neu kontextualisiert“, wird es ihm möglich, die reale Welt neu zu sehen, neu zu perspektivieren und dabei neue Erkenntnisse oder Einsichten zu gewinnen. Es geht aber nicht um unmittelbar kognitiv erfassbares Wissen, sondern um erlebtes, emergentes <?page no="185"?> 6.2 Stil 185 63 Zu Marcel Duchamps vgl. etwa Adams (1997), Mink (2000). Wissen, das nur sekundär kognitiv erfassbar ist. Wenn die literarische Vermittlung von Inhalten mit Metaphorisierung verglichen werden kann, könnte vielleicht trivialliterarische Texte mit konventionellen Metaphern verglichen werden, während Texte seriöser Literatur eher mit innovativen Metaphern zu vergleichen wären, die „emergente“ Information vermitteln, vgl. oben Abschn. 3.6. - Der Prozess der Rekontextualisierung des Entkontextualisierten könnte auch durch Hinweise auf Objekte der ready-made Kunst (Objets trouvées) veranschaulicht werden: Wenn etwa ein triviales Objekt wie das berühmte Pissoirbecken oder der Flaschentrockner von Marcel Duchamp in einem Kunstmuseum als Kunstobjekt präsentiert werden, wird der Museumsbesucher aufgefordert, das Objekt zu entkontextualisieren, d.h. es losgelöst von seiner ursprünglichen Funktion und Verwendung zu betrachten, was ihm aber auch eventuell ermöglichen kann, das „reale“ Ding in der realen Welt einer Rekontextualisierung „mit neuen Augen zu sehen“, vgl. auch Abschn. 5.3. 63 Der hier mehrmals angesprochene Begriff der Rekontextualisierung stellt einen Anlass dar, noch einmal auf den von Breuer, U. (2002a u. b) in Anlehnung an die Systemtheorie angeführte Begriff der Interpretationsbedürftigkeit zurückzukommen, vgl. Abschn. 3.3. Nach Breuer, U. (2002a u. b) seien literarische Texte „interpretationsbedürftig“, nichtliterarische dagegen höchstens „interpretationsfähig“. Die Interpretationsbedürftigkeit, die als Ergebnis der Entkontextualisierung betrachtet werden kann, könnte also als unterscheidendes Merkmal zwischen literarischen und nichtliterarischen Texten angesehen werden. Die Rekontextualisierung bedeutet aber, dass die Interpretation weiter geführt wird als unbedingt notwendig. Bei „natürlicher“ literarischer Kommunikation bedeutet dies, dass der Rezipient mehr oder weniger bewusst das Erlebte auf sich selbst bezieht, auf sein Leben, seine Erfahrungen usw. Die Interpretation kann natürlich noch weiter geführt werden, indem der Rezipient bewusst seine Kenntnisse der Literatur usw. verwendet, um tiefer in den Text einzudringen. Es kann um einen Literaturkritiker, einen Literaturwissenschaftler oder um einen sonst erfahrenen und interessierten Leser gehen. Jeder literarische Text bietet nicht dieselben Möglichkeiten der erweiterten Interpretation und/ oder kann eine solche anregen. Eben solche Texte könnten als „trivial“ definiert werden, wobei also die Möglichkeit einer vertiefenden Interpretation durch Rekontextualisierung als ein zeichentheoretisches Kriterium zur Unterschei- <?page no="186"?> 6 „Formale“ Aspekte des Literarischen 186 64 Eisenhut (2009: 120ff.) unterscheidet in seinem „Drei-Ebenen-Modell narrativer Persuasion“ zwischen einer „semiotischen“, einer „emulativen“ und einer „paradigmatischen“ Funktionsebene, wobei durch die letztgenannte Ebene eine Art „Rekontextualisierung“ erfasst wird, Eisenhut (2009: 122): „Die paradigmatische Funktionsebene bezeichnet die Disposition eines Textes zu analogischen Erkenntnissen bzw. Anwendungen über den Text hinaus auf realweltliche Umstände bzw. hinein in die Lebenswelt des Rezipienten.“ 65 Der theoretische Rahmen von Barsch (1991) kann als systemtheoretisch bezeichnet werden und knüpft vor allem theoretisch an Arbeiten zur „Empirischen Literaturwissenschaft“ von Sigfried J. Schmidt an, vgl. Schmidt (1980 u. 1982). Man kann sich allerdings fragen, ob die absolute Einteilung in textheoretische und systemtheoretische Ansätze von Bartsch (1991) fruchtbar ist. dung zwischen trivialer und nichttrivialer Literatur betrachtet werden könnte. Es versteht sich von selbst, dass es dabei nicht um eine scharfe Dichotomie gehen kann. 64 Auch wenn der theoretische Ausgangspunkt von Barsch (1991) ein anderer als der hier vertretene ist, kann ihm zugestimmt werden, wenn er schreibt, Barsch (1991: 106): 65 Gegen textorientierte Einteilungsversuche spricht schon der einfache Umstand, daß ein und derselbe Text ganz unterschiedlich gelesen werden kann. Ist Ecos „Der Name der Rose“ hohe Literatur, weil er von Kennern der Literatur- und Kirchengeschichte mit ästhetischer Distanz rezipiert werden kann, oder handelt es sich bei dem Bestseller um Unterhaltungsliteratur, weil er wahrscheinlich vom Großteil der Leserschaft wie ein mittelalterlicher Detektivroman gelesen wird? 6.2.6 Stil: Zusammenfassung Wir können notieren, dass den Stil eines Textes charakterisierende Prädikate generell mit einer mehr oder weniger deutlichen Wertung verknüpft werden, vgl. etwa schön, hübsch, hässlich, trivial, provokativ, protzig, düster, nichtssagend, schwerfällig, flüssig, leicht, kreativ, dynamisch, stillos, stilvoll usw. Piecha (2002: 88) schreibt: Es ist dabei zu unterscheiden zwischen beschreibenden (A) und wertenden (B) ästhetischen Urteilen, die sich wiederum jeweils in spontane (1) und reflektierte (2) unterteilen lassen. Allerdings sind diese Differenzierungen mit Vorsicht zu genießen. Insbesondere die erste birgt ein leicht zu übersehendes Problem. Fast jedes scheinbar deskriptive ästhetische Prädikat hat neben seiner beschreibenden Funktion zugleich eine wertende Komponente. Man vergleiche beispielsweise die folgenden Begriffspaare: zierlich/ dürr, farbenfroh/ grell, ausdrucksvoll/ pathetisch und bewegend/ rührselig. Diese Liste ist willkürlich und ließe <?page no="187"?> 6.2 Stil 187 sich beliebig fortsetzen, aber sie verdeutlicht, daß die Unterscheidung von Urteilen im Sinne von (A) und im Sinne von (B) keine Frage des Entweder- Oders ist, sondern nur eine des Mehr-oder-Wenigers sein kann. Die Tatsache, dass den Stil charakterisierende Prädikate nicht rein deskriptiv, sondern mit Wertungen verknüpft sind, ist eine Folge dessen, dass es beim Stil um ein (stark) ästhetisches Phänomen geht. Dies erklärt auch die in diesem Kapitel einleitend angesprochenen Schwierigkeiten, eine Definition des Begriffs „Stil“ zu formulieren. Wertungen sind letzten Endes immer emotiv begründet, vgl. oben Abschn. 3.5, weshalb sie, und somit auch Ästhetisches, kognitiv nicht erschöpfend erfassbar sind. Eine reine Deskription kann nur die Stilmittel betreffen, während das Erleben von Stil nur annähernd mit Hilfe von „ästhetischen Prädikaten“ evoziert werden kann. Die Tatsache aber, dass man z.B. einen Text stilmäßig etwa als „leicht und flüssig“ erlebt, kann kognitiv begründet werden, genau wie Wertungen überhaupt begründet werden, und zwar vor allem dadurch, dass die Wertebasis klar gemacht wird. Piecha (2002: 243ff.) meint ausgehend von einem „semikognitivistischen“ Standpunkt somit, dass ästhetische Urteile „objektivierbar“ gemacht werden, dass sie in „nachvollziehbarer“ Weise formuliert werden können. Bei dem Versuch, den Begriff „Stil“ zu erfassen, wurde hier zunächst die „aisthetische“ Interpretation der Formulierung eines Textes betont. Dies führt aber zu einer etwas allzu engen Definition von Stil, die auch in unnötig starkem Widerspruch zu vielen anderen Stilauffassungen steht. Stil sollte demnach eher als eine Art aus Form (Gestaltung) und Inhalt (Erleben) bestehendes Zeichen verstanden werden, d.h. als ein „genuin“ ästhetisch-aisthetisches Zeichen, vgl. auch oben Abschn. 3.2 und 6.2.2. Literarische Kommunikation beinhaltet Ästhetisierung durch Entkontextualisierung, was zur Folge hat, dass der Text selbst fokussiert wird. Dies bedeutet, dass nicht zwischen einem Was und einem Wie in derselben Weise unterschieden werden kann, wie bei nichtliterarischer Kommunikation. Aus diesem Grunde kann festgestellt werden: Ein literarischer Text ist Stil, hat aber keinen, vgl. Nikula (2008b). <?page no="188"?> 1 Zur Verdeutlichung Boase-Beier (2011: 81): „Literary translation is both the translation of literary texts and the translation of texts in a literary way [...].“ Und weiter, ebd.: „Style is central to all translation. It is important in all types of text, but literary translation is largely the translation of style.“ 7 Zur Übersetzung von literarischen Texten Nach Roman Jakobson sei literarisches Übersetzen unmöglich, Jakobson (1966: 238): „[…] poetry by definition is untranslatable. Only creative transposition is possible […].“ Andererseits ist Jean Boase-Beier der Meinung, dass v.a. literarisches Übersetzen Übersetzen im eigentlichen Sinne darstelle, Boase-Beier (2011: 46): „In general, there is far less of interest to say about non-literary translations with no documentary relation to the source-text, as they are not translations in the strict sense.“ Diese beiden Behauptungen sind - natürlich - nicht widersprüchlich! Zum Unterschied zwischen nichtliterarischem und literarischem Übersetzen schreibt Boase-Beier (2011: 40) 1 : (ia) non-literary translation aims to describe the same situation in targetand source-texts, but formal resemblance between the two is not important; (ib) literary translation aims to tell us what the source text said, including recreating its particular formal features and stylistic effects. Bei nichtliterarischer Übersetzung gehe es also primär um die Vermittlung des Inhalts des Ausgangstextes, während eine „formale Ähnlichkeit“ zwischen Ausgangs- und Zieltext nicht wichtig sei. Die literarische Übersetzung würde dagegen eine Vermittlung von Form und Stil des Ausgangtextes mit einbegreifen. Bei literarischem Übersetzen kann es somit nicht wie beim nichtliterarischen um eine Art „Neuformulierung“ des Inhalts des Ausgangstextes gehen; eben deshalb kann nach Boase-Beier (2011: 46) von einem Übersetzen im „strikten Sinne“ gesprochen werden, vgl. oben. Eine Übersetzung eines nichtliterarischen Textes ist eine Art Paraphrase in einer anderen Sprache als das Original. Dies setzt die Möglichkeit voraus, dass zwischen dem Wie und dem Was eines Textes unterschieden werden kann, was aber bei literarischen Texten grundsätzlich nicht möglich ist, vgl. etwa Abschn. 6.2.3. Das „strikte Übersetzen“ besteht also darin, nicht Paraphrasierbares zu vermitteln. Eine weitere Konsequenz der Entkontextualisierung bei literarischer Kommunikation, <?page no="189"?> 7.1 Zum Problem der Übersetzbarkeit 189 2 Notiert werden kann auch, dass Grass (2006: 436) in seinem Roman Beim Häuten der Zwiebel den Roman Ulysses von James Joyce, erschienen im Rhein-Verlag, Zürich, in der Übersetzung von Georg Goyert, als „Sprachwunder“ bezeichnet. In diesem Falle dürfte man wohl annehmen können, dass die Beurteilung des Erzähler-Ichs mit der von Grass selbst übereinstimmt, vgl. weiter Abschn. 4.1.2. die mit der Frage der Nicht-Paraphrasierbarkeit eng zusammenhängt, ist, dass kein tertium comparationis außerhalb der Textwelt selbst vorliegen kann, eine Tatsache, die auch die Beurteilung der Qualität literarischer Übersetzungen erschwert. Unten wird zuerst im Abschn. 7.1 das Problem der Übersetzbarkeit literarischer Texte überhaupt diskutiert. Danach wird das Problem anhand von zwei konkreten Beispielen im Abschn. 7.2 veranschaulicht, und im Abschn. 7.3 eine Zusammenfassung gegeben. 7.1 Zum Problem der Übersetzbarkeit Marcel Reich-Ranicki schreibt in der FAZ am 6.3.2005, S. 30, unter „Fragen Sie Reich-Ranicki“: „Seine [Knut Hamsun] Sprache ist allen Stimmungen gewachsen und allen sinnlichen Eindrücken.“ Es gibt keinen Grund zu bezweifeln, dass Reich-Ranicki recht hat, aber trotzdem könnte man sich die Frage stellen, ob Reich-Ranicki das Norwegische so gut beherrscht, dass er ein solches Urteil fällen kann. Schon möglich. Oder stammen seine Kenntnisse aus der Sekundärliteratur? Vielleicht hat er Hamsun nur in Übersetzung gelesen? Aber wird dabei nicht eher die Sprache des Übersetzers und nicht die von Hamsun bewertet? Und was versteht eigentlich Reich-Ranicki hier unter Sprache? - Wolfgang Höbel (2011: 144) schreibt in seiner Kritik von Andrej Gelassimows Roman Durst zur Sprache: „Mit großer Präzision stolpert Gelassimows Ich-Erzähler durch die Trümmer eines ungelebten Lebens, die Sprache ist meist schroff, dann wieder voller elegischer Trauer. Gelassimow verschwendet nie eine Wort.“ Vielleicht hat Höbel den Roman im Original gelesen, aber seine Kritik bezieht sich eindeutig auf die deutsche Übersetzung. 2 Ob nun Reich-Ranicki des Norwegischen oder Höbel des Russischen mächtig ist oder nicht, stellt für die vorliegende Untersuchung natürlich keine zentrale Frage dar. Tatsache ist aber, dass der Mensch nur eine begrenzte Zahl von Sprachen beherrschen kann, weshalb der Literaturliebhaber, der Literaturkritiker, der Literaturwissenschaftler usw. sich häufig mit Übersetzungen begnügen muss. <?page no="190"?> 7 Zur Übersetzung von literarischen Texten 190 3 Vgl. weiter auch Boase-Beier (2011: 67-72). Es gibt natürlich hier auch einen ethischen Aspekt. Zu ethischen Aspekten der Skopos-Theorie vgl. Cherstermann (2010: 221f.). 4 Zentral dabei ist natürlich der Zweck der Übersetzung. In einer Rezension von Nikula (1992) kritisiert Vermeer (1994) die dort vertretene Ansicht, dass man, wenn man etwa ein Gedicht von Hölderlin liest, eben Hölderlin lesen möchte und nicht ein Gedicht des Übersetzers. Natürlich weiß jeder, dass eine Übersetzung nicht mit dem Original identisch oder im logischen Sinne äquivalent sein kann, aber wenn man eine Übersetzung eines Gedichts von Hölderlin liest, um eine Ahnung von der Dichtkunst Hölderlins zu bekommen, und dabei nicht die Übersetzung in irgendeiner Weise als ein Gedicht, oder als eine „Widerspiegelung“ eines Gedichts von Hölderlin betrachten darf - warum sollte man als „Auftraggeber des Übersetzers“ die Übersetzung überhaupt lesen? D.h. als Übersetzung rezipieren können, und nicht als ein durch ein Gedicht von Hölderlin angeregtes Original betrachten müssen? 3 Es geht aber hier überhaupt nicht darum, gegen Hans J. Vermeer oder andere Übersetzungstheoretiker und -praktiker zu polemisieren. Das Interessante ist, dass die Notwendigkeit der Berücksichtigung der Struktur und Gestaltung des Ausgangstextes beim Übersetzen variieren kann 4 , wobei Texte wie Gebrauchsanweisungen einerseits und literarische Texte andererseits, v.a. wohl Gedichte, extreme Positionen auf der Skala darstellen dürften, auch wenn man, wie etwa Holz-Mänttäri (1984) der Meinung wäre, es gäbe „keinen grundsätzlichen Unterschied“ zwischen der Übersetzung von literarischen und anderen Texten.“ Holz-Mänttäri (1984: 87) schreibt: „In dieser Definition sei die Dichotomie zwischen translatorischem Handeln im Bereich ‚künstlerischer‘ und ‚alltäglicher‘ Kommunikation ausdrücklich aufgehoben.“ Auf einer recht abstrakten Ebene kann wohl die angegebene „Dichotomie“ als „aufgehoben“ betrachtet werden, vgl. auch Holz-Mänttäri (1984: 87-91, wie auch 55-57, 61-62, 97-98). Problematisch dabei ist aber, und zwar v.a. wenn es um literarische Kommunikation geht, dass Texte in der Theorie von Holz- Mänttäri (1984) als „Träger“ von Information, als „Botschaftsträger“ betrachtet werden, vgl. dazu Nikula (1991). Searles Prinzip der Ausdrückbarkeit, The principle of expressibility, vgl. Searle (1969: 19) wie auch Abschn. 3 oben, müsste natürlich eine Voraussetzung für die Übersetzbarkeit darstellen. Allerdings ist Searle der Meinung, dass u.a. „literary and poetic effects“ eine Ausnahme der Ausdrückbarkeit darstellen könnten, aber er präzisiert nicht, was er unter literarischen und poetischen Wirkungen versteht; man hat eher den <?page no="191"?> 7.1 Zum Problem der Übersetzbarkeit 191 Eindruck, es würde um Begleiteffekte oder um „stilistische Nebenwirkungen“ gehen. Wie aber im Abschn. 6.2 gezeigt wurde, kann der Stil auch bei Fachtexten nicht nur als ein Begleiteffekt betrachtet werden, aber bei literarischen Texten ist er untrennbar mit der Bedeutungsstruktur verknüpft. Deshalb müssten eigentlich literarische Texte (literarische Kommunikation) prinzipiell unübersetzbar sein. In diesem Zusammenhang sind auch Auffassungen im Rahmen der theoretisch-sprachphilosophisch orientierten Linguistik von Interesse. Borst/ Motsch (1986: 169) führen die zwei folgenden Hypothesen bezüglich der Übersetzbarkeit an: • Eine gedankliche Struktur, die in einer natürlichen Sprache ausgedrückt werden kann, kann auch in jeder beliebigen anderen natürlichen Sprache ausgedrückt werden; • Jede Sprache verfügt über spezifische Ausdrucksmöglichkeiten, die nicht übersetzbar sind, sie können höchstens annäherungsweise in anderen Sprachen wiedergegeben werden. Die erste These ergibt sich u.a. aus den grundlegenden Annahmen vieler Semantiktheorien wie die von Searle (1969); Auffassungen, die in der zweiten Hypothese ausgedrückt werden, findet man z.B.in der bekannten Sapir-Whorf-Hypothese. Borst/ Motsch (1986: 185) ziehen den folgenden Schluss: „Beim gegenwärtigen Stand der linguistischen Kenntnisse ist es nach unserer Auffassung angebracht, die Annahme einer universellen Übersetzbarkeit natürlicher Sprachen aufzugeben.“ Und noch, ebd.: „Wenn diese Befunde zutreffen, ist die Hypothese einer universellen Übersetzbarkeit natürlicher Sprachen allenfalls im Hinblick auf die Forderung A 1 sinnvoll.“ Die Forderung A 1 lautet nach Borst/ Motsch (1986: 184) wie folgt: „Die Texte von Quell- und Zielsprache müssen bezüglich des kommunikativen Sinns übereinstimmen.“ Dass die strikteste „Adäquatheitsforderung“, die Forderung „A 6“, die Annahme einer universellen Übersetzbarkeit ausschließt, leuchtet ein: „Sie [die Texte von Quell- und Zielsprache] müssen bezüglich grammatisch determinierter Bedeutung, Äußerungsbedeutung und kommunikativem Sinn übereinstimmen.“ (Borst/ Motsch 1986: 184) Und wenn literarische Texte das sprachlich eigentlich Unausdrückbare ausdrücken, dann müsste es „normalsprachlich“ unmöglich sein, den kommunikativen Sinn literarischer Texte festzulegen. Dies bedeutet auch, dass es bei literarischer Kommunikation keine sprachlich festlegbare Verbindung zwischen Ausgangs- und Zieltext geben kann. Es wird ja eben deshalb literarisch kommuniziert, weil der Sinn, das, was gemeint wird, nicht nicht-literarisch vermittelt werden kann. Die These des Aus- <?page no="192"?> 7 Zur Übersetzung von literarischen Texten 192 5 Stil und Übersetzen sprachwissenschaftlich gesehen, vgl. auch Schwalm (2004). drucksdefizits stellt also die These der Ausdrückbarkeit noch radikaler in Frage als etwa Borst und Motsch es tun. Niklas Luhmann (1995: 140) schreibt über Kommunikation: Communication grasps something out of the actual referential horizon that itself constitutes and leaves other things aside. Communication is the processing of selection. Dies ist natürlich eine Übersetzung aus dem Deutschen (deutsches Original Luhmann 1984), die aber hier angeführt wird, als ob es um das Original gehen würde. Dabei muss davon ausgegangen werden können, dass man dieselbe „Information“ erhält, wie wenn man den Text im Original gelesen hätte. Ob dies der Fall ist, kann z.B. dadurch nachgeprüft werden, dass man mit Kollegen spricht, die denselben Text gelesen haben. Da bei nichtliterarischer Kommunikation der Inhalt vom Ausdruck getrennt behandelt werden kann, kann auch die Art und Weise der Formulierung - der Stil Luhmanns - beachtet werden, eine Voraussetzung dafür, dass die Übersetzung überhaupt als direktes Zitat angeführt werden kann. 5 Beim Übersetzen eines nichtliterarischen Textes kann der Übersetzer sich an der beim Rezipienten intendierten Wirkung orientieren, die bei bestimmten Texten wie etwa Gebrauchsanweisungen, Vorschriften usw. so dominierend sein kann, dass die Frage der rein „formalen Äquivalenz“ als sekundär oder gar irrelevant betrachtet werden kann. Die intendierte Wirkung der mit Hilfe eines nichtliterarischen Textes vollzogenen Kommunikationshandlung soll, wenigstens im Prinzip, immer festlegbar und beschreibbar sein. Beim Übersetzen von literarischen Texten ist der Fall prinzipiell der umgekehrte - die intendierte Wirkung kann nicht als Ausgangspunkt des Übersetzens dienen, weil sie nicht festlegbar ist. Dies bedeutet, dass der Übersetzer sich auf den Erfolg der kommunikativen Handlung (vgl. Abschn. 3.3), dessen Ziel das Verstehen ist, konzentrieren muss, d.h. in der Praxis auf den Text selbst. Wenn man literarische Texte in Übersetzung, etwa Gedichte von Hölderlin, gelesen hat, möchte man auch sagen können, dass man Hölderlin gelesen hat, und nicht etwa den Übersetzer. Dass man dies aber nicht mit genauso gutem Gewissen sagen kann, wie „im Falle Luhmann“ oben, beruht nicht so sehr darauf, dass die rein äußere Form größere Probleme bietet, wenn man ein Gedicht übersetzt, sondern v.a. auf der Formgebundenheit als Konsequenz der Entkontextualisierung. Wenn <?page no="193"?> 7.1 Zum Problem der Übersetzbarkeit 193 6 Küper (1988: 36ff., 108ff.) argumentiert dafür, dass das Metrum keine sprachliche Kategorie ist, vgl. Küper (1988: 36f.): „Nichts hat in der Geschichte der Metrik so fatal gewirkt und den allseits beklagten Wirrwarr ausgelöst wie gerade das Versäumnis, sauber zwischen sprachlichen und metrischen Einheiten zu unterscheiden [...].“ Zum Problem der Übersetzung von metrisch organisierter Verse vgl. Küper (1989) wie auch Nord (1991: 65f.). durch die Entkontextualisierung der Text als Angebot an die Aufnahmemöglichkeiten der Rezipienten betrachtet werden soll, vgl. Abschn. 5.1.3, muss die Übersetzung, um zitierbar zu sein, ein entsprechendes Angebot darstellen, wobei dieses Angebot nur durch den Text selbst beschränkt wird. In dieser Weise wird in literarischer Interpretation das Was zu einem Wie, vgl. Abschn. 6.2.2. Es gibt deshalb keine direkte Vergleichsbasis, kein unmittelbares tertium comparationis außerhalb der Textwelt. Dagegen stellt die reale Welt eine indirekte Vergleichsbasis dar, da diese die Bausteine des Fiktionalen und des Fiktiven darstellt. Bei der „Rekonstruktion“ der fiktionalen Welt im Übersetzungsprozess ist das Prinzip der minimalen Abweichung, „the principle of minimal departure“ von grundlegender Bedeutung, vgl. Abschn. 4.1.1. Die Ästhetisierung durch Entkontextualisierung hat also eine Fokussierung des Textes selbst zur Folge, was zu bedeuten scheint, dass eine im engeren Sinne sprachliche Analyse generell wichtiger ist, als bei der Übersetzung nichtliterarischer Texte. „Kunst“ kann nicht übersetzt werden, höchstens können verschiedene Objekte der Kunst dieselbe ästhetische Wirkung haben und in diesem Sinne könnte gesagt werden, dass beim Übersetzen eines literarischen Textes ein Objekt der Kunst durch ein anderes ersetzt wird, und zwar in der Hoffnung, dass die Wirkung dieselbe sei. Auch wird Sprache nicht übersetzt. Übersetzt können nur Texte werden, wobei die sprachlichen Mittel nur über ihre Funktion in Texten übersetzungsrelevant sind, vgl. Neubert (1995). Sehr übersetzungsrelevant, und zwar v.a. im literarischen Text, auch wenn sie nicht übersetzbar, sondern höchstens ersetzbar sind, können demnach sprachliche Erscheinungen wie etwa Eigennamen, Realienbezeichnungen, Modalpartikeln, Thema-Rhema-Beziehungen, Isotopien usw. sein. Auch im eigentlichen Sinne nicht-sprachliche Erscheinungen wie etwa die graphische Gestaltung (z.B. die Trichterförmigkeit des Gedichts „Die Trichter“ von Morgenstern (1981 [1932]: 30) oder das Metrum 6 können natürlich im literarischen Text stark übersetzungsrelevant sein, auch wenn sie nicht übersetzbar, sondern nur ersetzbar sind. Die Ansicht, dass literarisches Übersetzen, wenn nicht unmöglich, so doch wenigstens viel schwieriger als die Übersetzung anderer Texte sei, <?page no="194"?> 7 Zur Übersetzung von literarischen Texten 194 7 Jakobson (1966: 232/ 238, Anm. 1): „Bertrand Russel, ,Logical positivism‘, Revue Internationale de Philosophie, IV (1950), 18; cf. p. 3.“ 8 Dies besagt in der Tat auch die folgende Behauptung Jakobsons (1966: 232f.: ): „For us, both as linguists and ordinary word-users, the meaning of any linguistic sign is its translation into some further alternative sign, [...].“ ist sehr verbreitet. Es wird hier versucht, die Berechtigung solcher Auffassungen näher zu beleuchten, und zwar ausgehend von den Aspekten der Formgebundenheit und der Konventionalität. Der oben Abschn. 7 angeführte Artikel, in dem Roman Jakobson behauptet, literarisches Übersetzen sei unmöglich, fängt mit den folgenden Zeilen an, Jakobson (1966: 232): According to Betrand Russel, „no one can understand the word ,cheese‘ unless he has a nonlinguistic acquaintance with cheese.“ 7 If, however we follow Russel’s fundamental precept and place our „emphasis upon the linguistic aspects of traditional philosophical problems,“ then we are obliged to state that no one can understand the word „cheese“ unless he has an acquaintance with the meaning assigned to this word in the lexical code of English. Any representative of a cheese-less culinary culture will understand the English word „cheese“ if he is aware of that in this language it means „food made of pressed curds“ and if he has at least a linguistic acquaintance with „curds“. We never consumed ambrosia or nectar and have only a linguistic acquaintance with the words „ambrosia,“ „nectar,“ and „gods“ - the name of their mythical users; nonetheless, we understand these words and know in what contexts each of them may be used. In gewissem Sinne haben beide, sowohl Jakobson als auch Russel, gleichzeitig recht. Man muss natürlich die Stellung des Wortes cheese im Bedeutungssystem kennen, um zu wissen was dieses Wort bedeutet, eine Bedeutung, die man z.B. durch „food made of pressed curds“ beschreiben könnte, wobei man auch die Position von food, make, press und curd im System kennen muss usw. Das Problem dabei ist, dass man innerhalb des Sprachsystems stecken bleibt, wenn man keine außersprachliche „Bekanntschaft“ mit Käse oder mit Lebensmitteln aus geronnener Milch usw. hat. 8 Damit man in einer konkreten Situation den Satz Ich möchte ein Stück Käse versteht, muss man wenigstens wissen, wie etwa ein Käse aussieht, d.h. die abstrakten, „digitalen“ Bedeutungskomponenten (kognitives Kenntnissystem) müssen durch analoge Vorstellungen (emotives Kenntnissystem) von den potentiellen Referenzobjekten interpretiert werden, d.h. durch Vorstellungen, die unsere Sinnesorgane verstehen können, vgl. Kapitel 3. Jedes Verstehen ist in diesem Sinne konkret, was u.a. in der Metaphorik der Sprache sehr deutlich zum Ausdruck kommt. <?page no="195"?> 7.1 Zum Problem der Übersetzbarkeit 195 Jakobson führt im obigen Zitat die Wörter ambrosia, nectar und gods an, deren hier gemeinten Bedeutungen wir offenbar ohne konkrete Bekanntschaft kennen können. Seine Ausführungen müssen aber ein wenig ergänzt werden. Denn ausgehend von (gesprochenen oder geschriebenen) Texten und von unseren Erfahrungen in der außersprachlichen Welt haben wir uns konkrete Vorstellungen von den „Referenzobjekten“ gebildet und zugleich Kenntnisse von den Positionen und Funktionen der Zeichen im Sprachsystem erworben. Die Entstehung der Vorstellungen ist natürlich in diesen Fällen ohne Sprache überhaupt nicht möglich und in diesem Sinne stark sprachabhängig. Ob die Referenzobjekte fiktiv sind oder nicht, ist dagegen eher eine Glaubensfrage. Die Kommunikation über Käse bzw. Ambrosia, Nektar und Götter zeigt Ähnlichkeiten mit dem Unterschied zwischen nichtliterarischer und literarischer Kommunikation. Die „Welt“, die bei der Lektüre literarischer Texte erlebt wird, ist eher eine „Ambrosia-Welt“ als eine „Käse-Welt“, d.h. es geht um eine Welt, die primär durch die sprachliche Kommunikation erzeugt wird und somit von der Sprache in einer ganz anderen Weise abhängig ist als die „Käse-Welt“. Die Sprachabhängigkeit im angegeben Sinne ist auch der Grund für das Fehlen eines festlegbaren tertium comparationis beim literarischen Übersetzen. Diese Sprachabhängigkeit ist aber auch der wirkliche Grund der „Formgebundenheit“ von Texten in literarischer Kommunikation, die literarisches Übersetzen unmöglich zu machen scheint, da jede kleinste Veränderung der Form potentiell eine Bedeutungsveränderung erzeugt. Für die Übersetzbarkeit literarischer Texte stellt dies natürlich ein besonderes Problem dar, da das „Angebot“ des Autors, den Text als literarisch zu lesen, als eine „Instruktion“ verstanden werden könnte, „interpretiere wörtlich“, d.h. betrachte den Text (zunächst) so, wie er ist, als graphisch gestaltete Lesefläche, als „Angebot an Interpretationsmöglichkeiten“, ohne nach seinem Wahrheitswert zu fragen. Die besondere Art der Formgebundenheit des literarischen Textes gibt somit paradoxerweise auch dem Produzenten die „Freiheit der Kunst“ ohne zu täuschen, inhaltlich von dem Faktischen und in Bezug auf die sprachliche Gestaltung von den Konventionen der Sprache in einer Weise abzuweichen, die bei der Produktion von nichtliterarischen Texten nicht möglich ist. Interessant in diesem Zusammenhang ist ein Vergleich mit der Bildkunst. Doherty (2000: 42) schreibt: Was für den Maler die Farbe ist, ist für den Schriftsteller und Dichter die Sprache. Er nutzt die ästhetischen Möglichkeiten, die in der Verbindung von Lautformen und Gedanken bestehen. Aber gerade hierin unterscheiden sich die Sprachen, und eine Rekonstruktion des Originals in einer anderen Spra- <?page no="196"?> 7 Zur Übersetzung von literarischen Texten 196 9 Vgl. etwa Norbert Schneider (1994: 33ff.). che kann auch bei einem kongenialen Übersetzer immer nur ein anderes, bestenfalls ein ähnliches Kunstwerk ergeben.“ Wichtige Aspekte im Zusammenhang mit der Übersetzung literarischer Texte sind nämlich die Frage der Konventionalität und dass es um die Übersetzung von Kunst geht. Kann aber Kunst übersetzt werden, kann z.B. ein Bildkunstwerk wie etwa das schon im Abschn. 5.3 angesprochene Doppelporträt von Jan van Eyck Die Heirat des Giovanni Arnolfini (1434) übersetzt werden? Die ursprüngliche Hauptfunktion des Doppelporträts war die rechtliche Dokumentation der Eheschließung zwischen den abgebildeten Personen, während das Gemälde heute aus natürlichen Gründen eher „entkontextualisiert“ und somit primär ästhetisch interpretiert wird. 9 Als Rechtsdokument, d.h. als „Sachtext“, kann das Bild dadurch „übersetzt“ werden, dass die konventionellen Symbole ausgetauscht und durch andere konventionelle Symbole ersetzt werden, etwa die Abbildung des Hundes als Symbol für Treue, die rechte Hand des Mannes zum Schwur gehoben, der glasklare Spiegel und die durchsichtigen Perlen der Gebetskette, die für die Reinheit der Frau sprechen, die weiße Kopfbedeckung der Frau usw. durch der Zielkultur besser angepasste Abbildungen. (Eine alternative Möglichkeit wäre eine sprachliche Erläuterung.) Wenn aber das Gemälde als Kunstwerk rezipiert werden soll, ist eine derartige „Übersetzung“ viel problematischer, da dabei die angegebenen Symbole nicht unbedingt ausschließlich als konventionelle Symbole der Treue und Reinheit, sondern vor allem ästhetisch rezipiert werden. Der zentrale Punkt in diesem Zusammenhang ist aber, dass Übersetzbarkeit Konventionalität voraussetzt. Ein Bild kann als Bild nicht übersetzt werden, höchstens durch ein anderes Bild ersetzt werden, das z.B. das Abgebildete besser darstellt. Ein Bild, das als Kunst rezipiert wird, kann aber auch dann nicht in dieser relativ einfachen Weise durch ein anderes ersetzt werden, wenn es eindeutig etwas in der „realen“ Welt darzustellen scheint, denn seine künstlerische Funktion erschöpft sich wegen der Entkontextualisierung nicht in der Darstellung eines Ausschnitts jener Welt. Ein alternatives Bildkunstwerk zu produzieren, das dasselbe Interpretationsangebot wie das Original darstellen würde, dürfte eine äußerst problematische, grundsätzlich eine eigentlich unmögliche Aufgabe sein. Damit ein sprachliches Kunstwerk, ein literarischer Text, d.h. ein Text in literarischer Interpretation, übersetzt werden kann, müsste es keine Formgebundenheit im angegebenen Sinne aufweisen, und müsste auch <?page no="197"?> 7.1 Zum Problem der Übersetzbarkeit 197 10 Hier wird Morgenstern (1921) also nichtliterarisch rezipiert, was allerdings nicht ganz unproblematisch ist! Im Literaturverzeichnis der vorliegenden Arbeit wird Morgenstern (1921) als literarischer Text aufgeführt. „konventionell“ sein. Diese beiden Bedingungen scheinen zunächst die Möglichkeit auszuschließen, literarische Texte zu übersetzen. Trotzdem werden literarische Texte natürlich übersetzt oder wenigstens „kreativ transponiert“, vgl. Jakobson (1966: 238), zuweilen sogar mit Erfolg. Die „Unmöglichkeit“, literarische Texte zu übersetzen, beruht u.a. darauf, dass auch der Übersetzer literarischer Texte beim Übersetzen den Inhalt von dem Ausdruck getrennt zu betrachten gezwungen ist und somit den literarischen Text „nichtliterarisch“ zu rezipieren hat. Die Folge ist, dass er Gefahr läuft, sich auf eine bestimmte Deutung oder bestimmte Deutungsalternativen festzulegen, während der literarische Text grundsätzlich ein offenes Angebot an Interpretationsmöglichkeiten darstellt, vgl. Abschn. 5.1.3. Aber auch wenn Dichter gern die Konventionalität der Sprache durchbrechen mögen (denken wir z.B. an die konkrete Poesie), ist das grundlegende Prinzip des sprachlichen Zeichens das der Konventionalität. Damit wir miteinander kommunizieren können, müssen wir uns über bestimmte Spielregeln einig sein. Die grundlegende Voraussetzung für die Kommunikation durch Sprache ist also die der Konventionalität, während die grundlegende Voraussetzung für Kommunikation mit Hilfe von Bildern die der Ikonizität ist (zum Verhältnis zwischen Text und Bild, vgl. Abschn. 2.3 oben). Wenn Konventionalität eine Voraussetzung für Übersetzbarkeit darstellt, müsste dies eine Möglichkeit der Übersetzung auch von literarischen Texten eröffnen, und zwar, weil Konventionalität Arbitrarität voraussetzt. Sowohl in der Alltagskommunikation als auch bei literarischer Kommunikation kann man von der Konventionalität der Sprache kreativ abweichen, wobei es aber eben um Abweichungen von Konventionen geht, d.h. die Konventionen sind „im Hintergrund“ immer da. Und weil die Sprache grundsätzlich konventionell ist, ist sie zwangsläufig auch arbiträr, vgl. Keller (1995: 146-159 u. 171ff.) was die Möglichkeit kreativer Abweichungen eröffnet. Eine Abweichung kann in der Tat so total sein, dass es nicht mehr um Sprache geht - und somit eigentlich auch nicht mehr um eine „sprachliche“ Abweichung. Ein extremes Beispiel bietet das Gedicht Fisches Nachtgesang von Christian Morgenstern (1963: 30 u. 1981: 25), das er selbst als das „tiefste deutsche Gedicht“ charakterisiert, Morgenstern (1921: 3). 10 Es enthält, abgesehen von der Über- <?page no="198"?> 7 Zur Übersetzung von literarischen Texten 198 11 Man könnte vielleicht die dort verwendeten Zeichen als metrische Zeichen für Hebungen und Senkungen deuten, wobei es aber nicht um sprachliche Zeichen etwa des Deutschen geht. Morgenstern schreibt selbst: „Fische sind ‚stumm‘, man kann also auch ihren ‚Gesang‘ nicht anders als durch stumme Zeichen ausdrücken.“ Morgenstern (1921: 14). 12 In Wagenknecht (1987: 95) abgedruckt, vgl. auch z.B. Döhl (2011). 13 Interessant in diesem Zusammenhang sind natürlich auch Döhls eigene Gedanken zu Gedichten dieser Art, vgl. Döhl (1987: 108-138). 14 Sehr schöne Beispiele dieser Art findet man natürlich auch in der Barockdichtung. Alfred Liede (1992: 294) spricht mit Hinweis auf Morgensterns „Die Trichter“ in der Tat von einem „barocken“ Formspiel. schrift, keine konventionellen Zeichen. Es geht um Zeichen der Form - - , die zusammen eine fischförmige Fläche bilden, die man als Wasserfläche deuten könnte. Alternativ könnte man die kleinen Zeichen als Schuppen und das ganze somit als einen Fisch deuten. 11 Übersetzen im eigentlichen Sinne kann man somit nur die Überschrift. Max E. Knight hat das Gedicht ins Englische als Fish’s Night Song ganz einfach dadurch „übersetzt“, dass er die ursprünglichen Zeichen durch Zeichen der folgenden Art ersetzt hat, - - . In der Praxis hat er dabei den nichtsprachlichen Teil „auf den Kopf“ gestellt, d.h. das ursprüngliche Bild einer Wasserfläche oder eines Fisches durch ein neues Bild ersetzt, Morgenstern (1963: 31). Ein relativ extremes Beispiel stellt auch das recht bekannte „Apfel- Gedicht“ von Reinhard Döhl dar. 12 Dieses Figurengedicht scheint so entstanden zu sein, dass Döhl zuerst ein Blatt Papier mit dem Wort Apfel vollgeschrieben und danach mit der Schere eine apfelförmige Figur aus dem Blatt geschnitten hat. Ungefähr in der Mitte des „Apfels“ gibt es einmal das Wort Wurm. Wagenknecht (1987: 94f) schreibt: „[Döhl] zwingt, wie es scheint, dem bedeutungslosen Resultat einer mechanischen Vervielfältigung [des Wortes Apfel] ebenso mechanisch, mit der Schere, die Kontur eines Apfels auf […].“ 13 Die Wörter sind syntaktisch gesehen durch asyndetische Parataxe verknüpft und bilden somit eine Art „Text“, der übersetzt werden kann, wobei das Bild eines Apfels nur leicht verändert wird, d.h. durch ein ähnliches Bild ersetzt wird. Vergleichbare Probleme bietet das Gedicht „Die Trichter“ von Morgenstern (1981: 30), ein graphisch als Trichter gestaltetes Gedicht über zwei Trichter, das in der Tat wenigstens ins Englische übersetzt worden ist, „The Funnels“ (zwei Übersetzungsvarianten), vgl. Morgenstern (1963: 33). 14 Die Trichterförmigkeit wird dabei nicht übersetzt, sondern ersetzt. <?page no="199"?> 7.2 Übersetzung von literarischen Texten: Beispielanalyse von zwei Gedichten 199 15 Vgl. auch Kelletat (2011: 233f.) 16 Als Fn. 1: „Gottfried Benn. Essays. Reden. Vorträge. Gesammelte Werke in vier Bänden, hrsg. von Dieter Wellershoff. Erster Band. Wiesbaden: Limes 1962, S. 510.“ 17 Als Fn. 2: „Im Vorwort der 1978 von Wolfram Wilss zusammengestellten ‚übersetzungswissenschaftlichen Antologie‘ weist der Herausgeber auf die Tatsache hin, ‚daß in der Zeit von 1962 bis 1977 etwa 3000 einschlägige Titel erschienen sind‘. W. W. (Hrsg.): Übersetzungswissenschaft (= Wege der Forschung, Bd. 535). Darmstadt 1981, S. X.“ 18 Als Fn. 3: „Friedmar Apel: Literarische Übersetzung. Stuttgart 1983, S. 1.“ Vgl. weiter auch Østbø (1998). Einen Fall von akustischer Ikonizität, von „Lautmalerei“, finden wir in dem ausschließlich aus Konsonanten bestehenden Gedicht „schtzngrm“ von Ernst Jandl. Durch die in verschiedener Weise variierten Anhäufungen der Konsonanten des Wortes Schützengraben, also eines normalen deutschen Wortes mit semantischem Inhalt, werden die verschiedenen Laute, die man im Kriege in einem Schützengraben hat erleben können, akustisch-ikonisch abgebildet, vgl. Jandl (1985 [19.4.1957]: I, 125): „schtzngrmm / schtzngrmm / t-t-t-t/ t-t-t-t/ grrrmmmmm / t-t-t-t / […].“ Das Wort Schützengraben hat natürlich Entsprechungen in vielen Sprachen, etwa engl. trench, schwed. skyttegrav und finn. juoksuhauta, d.h. das rein Sprachliche kann übersetzt werden, aber es dürfte extrem schwierig sein, einen entsprechenden Ersatz für das aus sprachlichem Material bestehende „Lautbild“ zu finden. 7.2 Übersetzung von literarischen Texten: Beispielanalyse von zwei Gedichten Der norwegische Literaturwissenschaftler Johannes Østbø schreibt, Østbø (1992: 21): 15 Wenn Gottfried Benn in seinem berühmten Vortrag Probleme der Lyrik (1951) zu dem Schluß kommt, daß man das Gedicht als „das Unübersetzbare“ definieren kann 16 , stellt er nicht nur die Frage nach dem Sinn der Übersetzung von Gedichten, sondern konkretisiert auch ein Grundproblem der sich besonders in den letzten Jahrzehnten profilierenden Übersetzungswissenschaft. 17 Diese hat jedoch - wie Friedmar Apel in seiner Monographie Literarische Übersetzung ausführt - „im Verlaufe der Geschichte des Problems immer wieder die analytischen Waffen gestreckt und das Übersetzen für eigentlich unmöglich erklärt“. 18 <?page no="200"?> 7 Zur Übersetzung von literarischen Texten 200 19 In diesem Zusammenhang sind natürlich auch Østbøs eigene Analysen von drei norwegischen Übersetzungen des Gedichts „Hälfte des Lebens“ interessant, vgl. Østbø (1992). Es überrascht nicht, dass er auf ähnliche Schwierigkeiten hinweist, wie die in dem vorliegenden Beitrag und in Nikula (1992). 20 „Wörtliche“ Rückübersetzung von Blomberg [Nikula]: Hälften av livet/ / Mit gelben Birnen hänget/ und voll von wilden Rosen/ das Land in den See/ ihr holden Schwäne/ und trunken von Küssen/ ihr senkt ihr Haupt/ in heiliges nüchternes Wasser./ / Weh mir, wo finde ich,/ wenn es Winter ist, die Blumen,/ wo der Sonne Schein/ und der Erde Schatten? / Die Mauern stehn/ wortlos, kalt, im Winde/ die Wetterfahnen quietschen./ Trotz der „Unmöglichkeit“ werden natürlich Gedichte übersetzt. Als Analysebeispiel dienen hier das bekannte Gedicht „Hälfte des Lebens“ von Friedrich Hölderlin und zwei Übersetzungen ins Schwedische durch Erik Blomberg und Mirjam Tuominen, vgl. auch Nikula (1992). 19 Beide Übersetzer sind selbst Dichter, erfahrene Übersetzer von literarischen Texten und Hölderlin-Kenner, vgl. auch Tuominen (1960). Die Wahl des Gedichts wurde durch eine Diskussion in der schwedischsprachigen finnischen Tageszeitung Hufvudstadsbladet im Herbst 1989 angeregt, wo vor allem die Übersetzung Tuominens kritisiert wurde, vgl. Enehjelm (1989), Korsström (1989), Nyholm (1989a u. b), Pettersson (1989). Hälfte des Lebens Hälften av livet Mit gelben Birnen hänget Und voll mit wilden Rosen Das Land in den See, Ihr holden Schwäne, Und trunken von Küssen Tunkt ihr das Haupt Ins heilignüchterne Wasser. Med gula päron hänger och fullt av vilda rosor landet i sjön, ni ljuva svanar, och druckna av kyssar, ni sänker ert huvud i heligt nyktert vatten. Weh mir, wo nehm’ ich, wenn Es Winter ist, die Blumen, und wo Den Sonnenschein, Und Schatten der Erde? Die Mauern stehn Sprachlos und kalt, im Winde Klirren die Fahnen. Ve mig, var finner jag, då det vinter är, blommorna, var solens sken och jordens skuggor? Murarna stå ordlösa, kalla, i vinden flöjlarna gnissla. (Übers. E. Blomberg) 20 <?page no="201"?> 7.2 Übersetzung von literarischen Texten: Beispielanalyse von zwei Gedichten 201 21 „Wörtliche“ Rückübersetzung von Tuominen [Nikula]: Hälften av livet/ / Mit gelben Birnen/ und wilder Rosen Reichtum/ hänget Land in See,/ und berauscht von Küssen/ seine holden Schwäne/ tauchen das Haupt/ ins heilig nüchterne Wasser./ / Weh mir, wo nehm´ ich, wenn/ der Winter kommt, Blumen, und wo/ der Sonne Schein/ und irdische Schatten? / Die Mauern stehn/ stumm und kalt. Die Fahnen/ peitschen im Winde./ 22 Kenntnisse vom Werk und Leben Hölderlins können dazu beitragen, dass durch den Verfasser deutlich intendierte Interpretationen nicht ausgeschlossen werden. 23 Behre (1990), Kaiser (1988), Kerenyi (1961), Schmidt, J. (1984), Strauß (1976), Zwischen Klassik und Romantik (1976). Ich verweise im Text nur ausnahmsweise explizit auf einzelne dieser Werke. Hälften av livet Med gula päron och vilda rosors rikedom hänger land i sjö, och rusiga av kyssar dess ljuva svanar doppar huvudet i heligt nyktra vattnet. Ve mig, var tar jag, då vintern kommer, blommor, och var solens sken och jordiska skuggor? Murarna står stumma och kalla. Fanorna piskar i vinden. (Übers. M. Tuominen) 21 In dieser kurzen Analyse wird davon ausgegangen, dass der Rezipient das Gedicht in der Übersetzung als ein Gedicht von Hölderlin lesen und verstehen möchte, nicht als ein Gedicht des Übersetzers. Es soll also um eine „Nachdichtung“, nicht um ein neues Gedicht gehen, d.h. die Interpretation der Übersetzung durch einen zweisprachigen Rezipienten sollte so wenig wie möglich von seiner Interpretation des Originals abweichen. Da weiter ein Gedicht in der Interpretation als literarischer Text ein Angebot an verschiedene Interpretationsmöglichkeiten ist, sollte die Übersetzung auch dieselbe Menge von Interpretationen ermöglichen wie das Original, aber nur diese, wobei auch die Interpretation von Hölderlin selbst, die wir nicht genau kennen können, wenigstens im Prinzip nicht ausgeschlossen werden darf. 22 Als Hilfe bei der Analyse der Übersetzungen sind einige Interpretationen deutscher Literaturwissenschaftler verwendet worden, deren Interpretationen auch mit den Übersetzungen vereinbar sein müssten. 23 <?page no="202"?> 7 Zur Übersetzung von literarischen Texten 202 Zunächst kann festgestellt werden, dass das Gedicht nicht nur rein oberflächenstrukturell-quantitativ ein Kurztext ist, sondern auch „qualitativ“, denn es kann vorausgesetzt werden, dass man den Text mehr als einmal liest, und auch kann er als Ganzheit (top-down, von oben nach unten) interpretativ verarbeitet werden, vgl. Nikula (1993). Dies hat natürlich Konsequenzen für die denkbaren Interpretationen. Der konkrete Ausgangspunkt ist der gedruckte Text als optischer Reiz. Ausgehend von seinem sprachlichen und übrigen Wissen leitet der Rezipient/ Übersetzer eine semantische Struktur ab, die bei jedem Sprachteilhaber ähnlich, wenn auch nicht identisch, sein dürfte. Diese Struktur ruft bei ihm das Bild zweier Landschaften hervor, das schon subjektiverer Art sein muss. Auf die semantische Struktur und auf die durch sie hervorgerufenen Vorstellungen sind pragmatische Regeln verschiedener Art anwendbar, damit eine sinnvolle Interpretation abgeleitet werden kann. Geht es z.B. nur darum, dass der Dichter zwei Landschaften hat darstellen wollen? Kann dies der ganze Sinn sein? Warum werden dabei zwei so verschiedene Landschaftsbilder kontrastiert? Sollten die Bilder mit Leben und Tod, mit Jugend und Alter, mit Sinnlichkeit und Sittlichkeit, mit Schöpferkraft und Versagen, mit Frieden und Krieg oder vielleicht mit Hoffnung und Hoffnungslosigkeit verknüpft werden? Der Rezipient setzt dies in Beziehung zu seinem Wissen über die Interpretation von Texten, besonders von Gedichten, und weiter zu seinem Allgemeinwissen, zu seinen privaten Erlebnissen und auch eventuell zu seinem Wissen über den Dichter, damit er eine „gemeinsame Interpretationsinstanz“ („GEI“, vgl. Lang 1977: 66ff.), d.h. einen relevanten Zusammenhang zwischen den Inhalten der beiden Strophen als Voraussetzung einer sinnvollen Interpretation finden kann. Einen wichtigen Hinweis zur Konstituierung einer solchen Interpretationsinstanz bietet natürlich der Titel des Gedichts. Es ist linguistisch gesehen nicht an sich besonders interessant, ob eine Übersetzung an einem bestimmten Punkt „falsch“ ist oder nicht. Interessant ist, in welcher Weise eine bestimmte Entscheidung auf die Interpretationsmöglichkeiten einwirkt. Einen problematischen, in der erwähnten Diskussion in Hufvudstadsbladet ausführlich erörterten Punkt bildet die letzte Zeile der zweiten Strophe, / Klirren die Fahnen/ . Blomberg übersetzt durch / flöjlarna gnissla/ , „die Wetterfahnen quietschen“, Tuominen durch / …Fanorna/ piskar i vinden/ , „die (Tuch)fahnen ,peitschen‘ im Winde“. Die Diskussionsteilnehmer sind sich darüber einig, dass fanorna, das nur ‚Tuchfahnen‘ bedeuten kann, eine falsche Übersetzung ist, da es in diesem Falle um eine Wetterfahne gehen müsse. Merkwürdigerweise wird aber gnissla ‚quietschen‘ bei Blomberg als korrekt <?page no="203"?> 7.2 Übersetzung von literarischen Texten: Beispielanalyse von zwei Gedichten 203 24 Intressant ist, dass Conrady in der Neuausgabe vom großen deutschen Gedichtbuch die folgende Fn. zum Gedicht „Hälfte des Lebens“ für notwendig gefunden hat (Conrady 1991: 215): „Fahnen: Wetterfahnen.“ (Den Hinweis auf Conrady verdanke ich Prof. Dr. Andreas F. Kelletat, Germersheim). akzeptiert. Warum hat dann Hölderlin selbst nicht das Verb quietschen gewählt, wenn er mit Fahnen Wetterfahnen gemeint hat, denn Wetterfahnen können natürlich quietschen, z.B. wenn sie schlecht geölt sind. Ein Grund kann sein, dass das Verb quietschen lexikalisch nicht mit Kälte unmittelbar assoziierbar ist wie das Verb klirren, vgl. etwa „es war (eisig) klirrend kalt“ (DUW); man spricht von „klirrender Kälte“ und „klirrenden Ketten“; Eis, Glas, metallene Gegenstände (und somit metallene Wetterfahnen) können klirren. Die genaueste Entsprechung im Schwedischen wäre klirra. Klirrande kyla ‚klirrende Kälte‘ ist zwar kein üblicher Ausdruck im Schwedischen, aber Informanten nach wenigstens nicht undenkbar, was auch z.B. durch Belege aus Google gestützt wird; es geht um denselben Laut (soweit dies überhaupt beurteilbar ist), und auch können Bezeichnungen für Eis, Glas, Metall usw. als Subjekte zum schwedischen klirra verwendet werden. Eine Übersetzung darf somit nicht, wie die durch Blomberg und Tuominen, die Verknüpfung von „Winter“ und „Kälte“ mit dem Laut „klirren“ ausschließen, wenn sie die hier angegebenen Bedingungen erfüllen soll, denn es ist sehr deutlich, dass klirren wegen seiner Bedeutungsbeziehungen und Position im Gedicht ein wichtiges Wort ist. So schreibt z.B. Strauß (1976: 121): „Der Laut am Ende ist der einzige im ganzen Gedicht, und deshalb wirkt das Grelle und Scharfe an ihm so unheimlich gesteigert: das Klirren der Wetterfahnen […].“ Das Wort Fahnen ist problematisch, weil es im Gedicht wenigstens zweideutig ist, im Schwedischen aber ein in diesem Sinne entsprechendes Wort fehlt, da fanorna ‚die Tuchfahnen‘ eindeutig ist. ‚Wetterfahne‘ ist vielleicht die natürlichste Interpretation von Fahnen, aber ist ‚Tuchfahnen‘ in der Übersetzung von Tuominen wirklich eindeutig falsch? Wenn man deutsche Muttersprachler fragt, was das Wort Fahne isoliert bedeutet, bekommt man die Antwort ‚Tuchfahnen‘, Erst wenn man fragt, ob Fahne auch ‚Wetterfahne‘ bedeuten kann, erhält man die Antwort, dass dies (wohl) auch möglich sei. 24 Die Interpretation ‚Wetterfahne‘ scheint eher eine Kontextbedeutung zu sein, und wenigstens dürfte ‚Wetterfahne‘ keine zentrale lexikalische Bedeutungsvariante von Fahne darstellen. Diese Auffassung wird durch das Studium verschiedener Wörterbücher erhärtet. Strauß (1976: 121) schreibt: „Einige Deuter und Übersetzer des Gedichts fassen das Wort ‚Fahnen‘ im gewöhnlichen Sinne auf, <?page no="204"?> 7 Zur Übersetzung von literarischen Texten 204 25 Für diesen Hinweis bin ich PD Dr. Siegfried Paul Jäkel†, Univ. Turku dankbar. 26 Vgl. Friedrich Hölderlin, Sämtliche Briefe und Werke, Brief Nr. 65, Bd. II, S. 571-572. wobei freilich das Verb ‚klirren‘ recht künstlich wirken und ebenso umständlich wie unüberzeugend als Klirren der durchnäßten und gefrorenen Stoffahnen erklärt werden muß.“ Diese Erklärung haben in der Tat ein paar Informanten ganz spontan gegeben. Es ist aber nicht notwendig anzunehmen, dass ein Rezipient sich auf eine genaue Erklärung der Umstände festlegen muss, wenn er Fahnen „im gewöhnlichen Sinne“ interpretiert. Mit Fahnen in dieser Bedeutung verknüpft man leicht, genau wie mit fanorna, kriegerische Zustände, wobei auch klirren dazu beitragen kann, vgl. etwa DUW: „die Ketten, die Säbel klirren.“ Ähnliches betrifft das schwedische klirra, vgl. Östergren, O. (1981) unter klirr ‚Geklirr, Klirren‘: „K[lirr] av […] sporrar, stigbyglar, värjor, vapen […]“, d.h. ‚Klirren von Sporen, Steigbügeln, Degen, Waffen‘. Wenn man nach literarischen Beispielen sucht, könnte z.B. Rilkes „Cornet“ erwähnt werden, wo klirren und Fahnen, zwar nicht in unmittelbarer Kombination, zur kriegerischen Stimmung deutlich beitragen (vgl. etwa Rilke 1955: 235-248). Auch kann vielleicht darauf hingewiesen werden, dass Franz Werfel, wenn er in einem Aufsatz zur Poetik sagt, dass das „Verbum des Verses im Tun ein Verbum militans, im Leiden ein Verbum martyre“ ist, den Satz Im Winde klirren die Fahnen anführt (allerdings ohne explizit auf Hölderlin hinzuweisen, vgl. Werfel (1975: 216). 25 - In der Tat wird in der Arbeit Zwischen Klassik und Romantik (1977: 60) bei der Interpretation von „Hälfte des Lebens“ darauf hingewiesen, dass Hölderlin, der die französische Revolution begeistert begrüßt hatte, in einem Brief aus dem Jahre 1793 schreibt: „die Tugend wird besser gedeihen in der Freiheit heiligem erwärmendem Lichte als unter der eiskalten Zone des Despotismus [..].“ 26 Als er das Gedicht „Hälfte des Lebens“ schrieb, sah er die Entwicklung pessimistisch. Sommer, Wärme und Licht könnten somit für Frieden und Hoffnung stehen, Winter, Kälte und Dunkelheit für Krieg und Hoffnungslosigkeit. Auch die Wahl des Verbs piska ,peitschen‘ bei Tuominen statt etwa smattra ,flattern, knattern‘ trägt zur kriegerischen Stimmung bei. Eine „kriegerische“ Interpretation scheint also nicht ganz abwegig zu sein, aber wenn sich der Übersetzer auf eine Interpretation wie diese auf Kosten anderer Interpretationen allzu stark festlegt, werden wohl doch nicht die Erwartungen eines Rezipienten erfüllt, der das Gedicht als ein Gedicht von Hölderlin lesen möchte. - <?page no="205"?> 7.2 Übersetzung von literarischen Texten: Beispielanalyse von zwei Gedichten 205 27 Im Original in Versalien. - In Wolf, Ch. (1990: 86, 87, 97, 100, 103), wird klirren / Klirren als spannungserzeugendes Mittel verwendet, vgl. besonders S. 97: „Aber da war sie schon, leise klirrend, sporenklirrend, hätte man denken können.“ Interessanterweise führt Christa Wolf (2010: 93) die aktuelle Hölderlin- Stelle in einer Weise an, die auch doppeldeutig zu sein schein: 27 I M Ü BRIGEN IST DIE Z EIT DER K LAGEN UND A NKLAGEN VORBEI , UND AUCH ÜBER T RAUER UND S ELBSTANKLAGE UND S CHAM MUSS MAN HINAUSKOMMEN , UM NICHT IMMER NUR VON EINEM FALSCHEN B EWUSSTSEIN INS ANDERE ZU FALLEN . „I M WIND KLIRREN DIE F AHNEN “ - WELCHER F ARBE AUCH IMMER . N A UND ? D ANN KLIRREN SIE EBEN , ABER WARUM HABEN WIR ES SO SPÄT GEMERKT . W IR MÜSSEN LEBEN NACH EINEM UNSICHEREN INNEREN K OMPASS UND OHNE PASSENDE M ORAL , NUR DÜRFEN WIR UNS SELBST NICHT BETRÜGEN . I CH SEHE NICHT , WIE DAS AUSGEHEN SOLL , WIR GRABEN IN EINEM DUNKLEN STOLLEN , ABER GRABEN MÜSSEN WIR HALT . Zunächst fasst man vielleicht hier die Fahnen in verschiedenen Farben im Sinne vonTuchfahnen auf, aber der Verweis auf einen „inneren Kompass“ könnte auch so verstanden werden, dass es zugleich um richtungsweisende Wetterfahnen gehen würde. Eine lexikalische Entscheidung, die ausgehend von ihrer eventuellen Einwirkung auf die Interpretation näher analysiert werden könnte, ist bei Tuominen das Wort rusiga, dem eine eindeutige Beziehung zum Trinken fehlt, auch wenn Bedeutungsbeziehungen zu trunken bestehen, vgl. Nyholm (1989a). Blomberg schreibt druckna „trunken“, aber schwedisch kann man weder durch Wasser noch durch Küssen oder etwa vor Glück „drucken“ werden, sondern nur durch Alkohol. „Rusig“ kann man durch Alkohol und vor Glück, und somit ev. auch durch Küssen werden, wobei also rusig bezüglich seiner semantischen Valenz hier relativ gut dem deutschen trunken entspricht, vgl. auch SO. Die Zusammensetzung heilignüchterne bei Hölderlin ist wohl eher kopulativ zu verstehen, d.h. als ‚heilig und nüchtern‘, möglicherweise ist sie zweideutig. Dagegen ist die Verknüpfung Tuominens heligt nyktra eindeutig adverbiell, ‚heilig nüchterne‘, während Blombergs heligt nyktert (relativ) eindeutig kopulativ ist, d.h. ‚heilig und nüchtern‘. Da in den Schriften Hölderlins „heilig“ überhaupt ein wichtiger Begriff ist, sind die Entscheidungen der Übersetzer nicht unwichtig. Lexikalisch gesehen wäre die denkbare, und zwar im angegebenen Sinne zweideutige Zusammensetzung heligtnyktra die genaueste Entsprechung. Weiter finden wir z.B. stumma ‚stumm‘ bei Tuominen für sprachlos. Blomberg schreibt ordlösa ‚wortlos, ohne Worte‘; das der Wortbildungsstruktur nach dem Wort sprachlos gebildete språklös würde eher ‚ohne <?page no="206"?> 7 Zur Übersetzung von literarischen Texten 206 28 In diesem Zusammenhang ist die Möglichkeit nicht berücksichtigt, dass auch metrische Aspekte die Wortwahl der Übersetzungen haben beeinflussen können. Dies wäre einer weiteren Analyse wert. 29 Dies ist natürlich zunächst ein subjektiver Eindruck, den der „kompetente Sprecher des Schwedischen“ erhalten kann. Es geht aber nicht um eine Wertung im Sinne von besser oder schlechter, denn es kann durchaus der Fall sein, dass die Übersetzung Blombergs eben deshalb adäquater ist, weil sie nicht als so „elegant“ empfunden wird. Sprache überhaupt‘ bedeuten, auch ‚ohne Muttersprache‘. Das Wort mållös wäre mit sprachlos in der Bedeutung ‚sehr überrascht u. deshalb keine Worte findend‘ synonym (vgl. DUW), aber diese Interpretation wäre hier kaum adäquat. Vilda rosors rikedom ‚der Reichtum wilder Rosen‘ steht bei Tuominen für voll mit wilden Rosen; die Übersetzung Blombergs fullt av vilda Rosor ist lexikalisch-syntaktisch eine genauere Entsprechung des Originals. 28 Bei der ersten Lektüre der beiden Übersetzungen fällt auf, auch wenn man von der etwas altertümlicheren Sprache der Übersetzung Blombergs absieht (z.B. Pluralformen der finiten Verben), dass die Sprache Tuominens viel „fließender“, sogar „eleganter“ und „schwedischer“ klingt, als die von Blomberg. 29 Dies betrifft vor allem die erste Strophe, wo Tuominen die Wortstellung und somit die syntaktischen Beziehungen ein wenig verändert hat, und wo sie das Pronomen Ihr durch das Possessivpronomen dess und nicht wie Blomberg durch die Anredeform ni übersetzt hat. Vor allem die letztgenannte Entscheidung hat in den Beiträgen in Hufvudstadsbladet eine besondere Aufmerksamkeit erweckt, weil sie möglicherweise auf einem sprachlichen Missverständnis beruhe, also ein wirklicher Übersetzungsfehler wäre. Die Übersetzung der ersten drei Zeilen der ersten Strophe durch Tuominen würde der folgenden deutschen Struktur entsprechen: / Mit gelben Birnen / und wilder Rosen Reichtum/ hänget das Land in den See/ . Die Übersetzung Blombergs hat dagegen die Wortstellung des Originals übernommen, was zwar die erste Lektüre nicht so „fließend“ macht, jedoch eine Art Aufforderung an den Leser darstellt, sich genauer mit dem Text zu befassen, die Form zu fokussieren. Hier könnte man auf die bekannte Grice’sche Kooperationsmaxime (Grice 1975: 44ff.) der Art und Weise hinweisen, und vielleicht auch auf die Maxime der Quantität, da das zweite und syntaktisch-semantisch als „überflüssig“ betrachtet werden könnte. Diese kleinen „Verstöße“ gegen Kooperationsmaximen können als Andeutungen aufgefasst werden, dass der Text literarisch interpretiert werden sollte. Diese Abweichung Tuominens vom Original, <?page no="207"?> 7.2 Übersetzung von literarischen Texten: Beispielanalyse von zwei Gedichten 207 30 Vgl. auch Kerenyi (1961: 307f.), der experimentell eine „normale Wortsetzung“ versucht, indem er die Anredezeile / Ihr holden Schwäne/ als vorletzte Zeile setzt, wobei wir also erhalten: / Und trunken von Küssen / Tunkt ihr das Haupt / Ihr holden Schwäne / Ins heilignüchterne Wasser/ . Er kommentiert das Ergebnis in folgender Weise, S. 308: „Die Schwäne erlangen ihre Konventionalität wieder, das ‚und‘ verbindet nachlässig das Hängen des Landes mit ihren Bewegungen, der Zauber hört nach der dritten Zeile auf, fort ist das Wunder, wofür wir aufgerüttelt wurden.“ 31 Den Hinweis auf und in der Sprache der Bibel verdanke ich Univ. Prof. Dr. Anton Schwob, Universität Graz. - Behre (1990: 23ff.) macht auf die lexikalischen Beziehungen zur christlichen Religion aufmerksam und analysiert auch die Funktion von und, aber ohne hier auf die Beziehung zur Bibel aufmerksam zu machen. die nicht durch andere Mittel kompensiert wird, hat natürlich Folgen für die weitere Interpretation; z.B. kann eine Beziehung der Intertextualität zur Bibel durch die etwas auffallende Verwendung von und im Original (und in der Übersetzung von Blomberg) angedeutet werden, da in gewissem Sinne „überflüssige“ Verknüpfungen durch und ein Kennzeichen der Bibelsprache sind. 30 Diese Interpretation wird gestützt durch heilig in heilignüchtern. 31 Die Ersetzung des Ihr durch das Possessivpronomen dess bei Tuominen, das sich auf land i sjö ‚Land in den See‘, oder möglicherweise sjö ‚See‘, bezieht, vgl. Pettersson (1989), hat aber weitere, schwerwiegende Konsequenzen. Die erste Strophe im Original ist eine Anrede, die zweite ist an niemanden explizit gerichtet, eine Tatsache, der die Interpreten mit Recht eine große Bedeutung beimessen, denn die Interpretation der Beziehung zwischen den beiden Strophen ist davon stark abhängig. Es ist deshalb schwer einzusehen, dass die Ersetzung von ist durch kommer ‚kommt‘ (zweite Strophe zweite Zeile), die eine Verschiebung der Zeitperspektive bewirkt, wirklich den Verzicht auf die Anrede in der ersten Strophe kompensieren kann, wie Pettersson (1989) zu meinen scheint. In der Tat kann die Anrede durch Ihr in der ersten Strophe auch als eine deutliche Anweisung, den Text literarisch zu interpretieren, aufgefasst werden. An sich ist es schon ein wenig merkwürdig, Schwäne anzureden. Aber noch merkwürdiger ist es vielleicht, wenn auch nicht unmöglich, jemandem in dieser Weise zu sagen, was er selbst gerade tut. In diesem Falle könnte man auf die Kooperationsmaxime der Relation (oder Relevanz) hinweisen, die besagt, dass man, damit Kommunikation überhaupt gelingt, davon auszugehen hat, dass der Sprecher im Normalfall etwas Relevantes zu sagen hat, vgl. Grice (1975: 45ff). Also, ganz „grob“ gesagt: Entweder war Hölderlin bei der Niederschrift des Texts schon geistig umnachtet oder wir müssen die Erklärung darin sehen, dass es eben um literarische Kommunikation geht. - In der literarischen <?page no="208"?> 7 Zur Übersetzung von literarischen Texten 208 Interpretation beziehen sich natürlich mir und ich in der zweiten Strophe höchstens indirekt auf Hölderlin selbst. Als Hölderlin das Gedicht schrieb, hat er eine Deutung der „Realität“ in Form von einer Reihe als Buchstaben interpretierbarer Zeichen wiedergegeben. Was er dadurch gestaltend vermitteln wollte, können wir nicht genau wissen, wobei auch die zeitliche Ferne, die hier nicht beachtet werden konnte, weitere Schwierigkeiten bietet. Wir besitzen nur unser sprachliches Wissen, unser Allgemeinwissen und eventuell auch einiges Wissen über Hölderlin. Den einzigen festen Punkt bilden die Interpretationsstrategien, d.h. unser sprachliches Wissen, da diese eine relativ starke Konventionalität aufweisen. Um überhaupt das Gedicht interpretieren und verstehen zu können, müssen wir ihm unsere eigene Deutung davon zuordnen, was wir als Sinn des Gedichts erleben, wobei wir nicht davon ausgehen müssen, dass unsere Interpretation mit der Interpretation Hölderlins übereinstimmt, da Übereinstimmung in diesem Bereich kein notwendiges Kriterium für gelungene literarische Kommunikation ist. Der Übersetzer des Gedichts kann nur von seiner eigenen Interpretation ausgehen, aber er kann nicht, wie der Autor des Originals, von dieser Interpretation ausgehend nach geeigneten sprachlichen Mitteln suchen, um „seine“ Interpretation als Gedicht gestalten zu können, sondern ist gezwungen nach zu Mitteln suchen, die neben seiner eigenen auch die anderen Interpretationen erlauben, die das Original „anbietet“, ein Ziel, das nie vollständig erreichbar ist. Wenn man die beiden Übersetzungen miteinander vergleicht, kann man wohl feststellen, dass die Übersetzung von Blomberg die angegebenen Bedingungen eher erfüllt, als die von Tuominen, da Tuominen sehr stark ihre eigene Interpretation zum Ausdruck kommen lässt, was natürlich einen Einfluss auf die weiteren Interpretationsmöglichkeiten hat. Auf die Frage, welche der beiden Übersetzungen letzten Endes die bessere ist, kann keine generelle und endgültige Antwort gegeben werden, u.a. weil dies auch, wie die Übersetzungstheoretiker lehren, vom Zweck der Übersetzung abhängig ist. Und vielleicht ist die bessere Übersetzung eines Gedichts nicht immer das beste Gedicht, wenigstens nicht, wenn man sagen möchte, „ich habe den Dichter X gelesen“, auch wenn es „nur“ um eine Übersetzung geht. Das Gedicht „Hälfte des Lebens“ und seine beiden Übersetzungen wurden linguistisch hier noch sehr oberflächlich und auch recht unsystematisch analysiert. Man könnte weiter z.B. die Thema-Rhema- Progression, die Illokutionsstruktur, die lexikalischen Beziehungen, die Kohäsionsbeziehungen, die Syntax, den Rhythmus usw. untersuchen. <?page no="209"?> 7.2 Übersetzung von literarischen Texten: Beispielanalyse von zwei Gedichten 209 32 Interessant in diesem Zusammenhang ist auch Petersen (2006: 53-67), der hier Gedichte von Hölderlin unter dem Aspekt „absolute Dichtung“ analysiert. „Aktivierungsketten“ wie [[trunken nüchtern] [Wasser Kälte]] [[Krieg Tod]] könnten untersucht werden. Es könnte auch fruchtbar sein, bestimmte mögliche Interpretationen in einer genaueren Weise als hier voneinander abzugrenzen und zu analysieren, wobei die Interpretationen verschiedener Interpreten wie auch verschiedene vorliegende Übersetzungsvarianten als Quellen dienen könnten. Es ist vielleicht ein wenig überraschend, dass in einer finnischen (schwedischsprachigen) Tageszeichnung so viel Platz für eine Diskussion über Schwierigkeiten bei der Übersetzung eines Gedichts von Hölderlin ins Schwedische geboten wird. Es zeigt aber, dass deutsche Kultur in Finnland (noch) als wichtig und interessant betrachtet wird. Man könnte sich auch fragen, ob ein durchschnittlich gebildeter deutschsprachiger Leser sich bei der rein literarischen Rezeption von Hölderlins „Hälfte des Lebens“ wirklich Gedanken darüber macht oder sich überhaupt darüber Gedanken machen müsste, ob etwa mit Fahne eine Tuchfahne oder eine Wetterfahne gemeint wird. Trotzdem kann nicht behauptet werden, dass die Frage irrelevant wäre, da die reale Welt und die dort vorherrschenden Bedingungen die Basis für den Aufbau der Textwelt bilden. Sehr deutlich kommt dies zum Ausdruck bei der Übersetzung von literarischen Texten. 32 Als weiteres Beispiel soll ein Gedicht des Nobelpreisträgers 2011, Thomas Tranströmer, angeführt werden, wobei zugleich das Problem der Übersetzung von literarischen Texten mit Hilfe eines Computers angesprochen werden soll. - Ein Computer arbeitet rein digital, während das menschliche Verstehen zugleich analog ist, und deshalb kann ein Computer einen Text nicht in derselben Weise wie ein Mensch „verstehen“. Dies beschränkt die Übersetzungsmöglichkeiten durch einen Computer stark, und zwar v.a., wenn es um Texte geht, wo das Ästhetisch-Aisthetische dominierend ist. Koch (1995) hat die Schwierigkeiten des Übersetzens von Gedichten durch einen Computer anhand des Gedichts Svenska hus ensligt belägna von Thomas Tranströmer (1997a [1984]: 31f.) zu zeigen versucht, wobei ihm der letzte Vers der fünften Strophe links unten als Beispiel diente. Rechts unten finden wir eine Übersetzung von Hanns Grössel, Schwedische Häuser, einsam gelegen, die später als Kochs Artikel entstanden ist, Tranströmer (1997b: 33f.). <?page no="210"?> 7 Zur Übersetzung von literarischen Texten 210 33 D.h. es würde um den bekannten Prozess der „Koerzion“ (coercion) gehen, vgl. etwa Pustejovsky (1993), wie auch Abschn. 3.2. Sommar med linhåriga regn Sommer mit flachshaarigem Regen eller ett enda åskmoln oder einer einzelnen Gewitterwolke över en hund som skäller. über einen Hund, der bellt. Fröet sparkar i jorden Das Samenkorn strampelt in der Erde. Der Same strampelt in der Erde ist eine möglichst „wörtliche“ Übersetzung von Fröet sparkar i jorden. Auch treten wäre ein lexikalisches „Äquivalent“ von sparka. Die metaphorische Deutung des Ausdrucks wird dadurch aktualisiert, dass die semantische Valenz des Verbs sparka bzw. strampeln bezüglich des Subjekts im Gedicht verletzt wird. Ein besonderes Übersetzungsproblem entsteht dadurch, dass die semantischen Restriktionen bezüglich der weiteren Umgebung von sparka und strampeln, wie auch von treten, recht verschieden sind, vgl. unten (1), (2), (3), Koch (1995: 236): (1) Barnet sparkar katten. Das Kind tritt die Katze. (2) Barnet sparkar i vaggan. Das Kind strampelt in der Wiege. (3) Barnet sparkar i mammas mage. Das Kind boxt im Mutterleib. Ausgehend von seinen Überlegungen, wie ein Computerprogramm das Problem hätte lösen können, schlägt Koch die Übersetzung Der Same boxt in der Erde als Übersetzung von Fröet sparkar i jorden vor, Koch (1995: 254). Es wird dabei gezeigt, wie sowohl sprachliches als auch außersprachliches Wissen vorausgesetzt wird. Wie eine einfache Recherche im Google zeigt, scheint eine Formulierung wie Das Kind boxt im Mutterleib in der Tat etwas üblicher zu sein als Das Kind strampelt im Mutterleib. Die Übersetzung Der Same boxt in der Erde ist wohl keine schlechte, aber eine problematische, und zwar aus dem Grunde, wie sie zustande gekommen ist. Der Computer arbeitet digital, sein ganzes Wissen ist digital als ein „Entweder - Oder“ gespeichert, etwa als <+/ -Lebewesen> für das Subjekt. Eine Lösung wäre, dass dem Subjekt Same das Merkmal <+Lebewesen> bei der Interpretation „aufgezwungen“ wird. 33 Dies bedeutet, dass eine bestimmte Interpretation der Metapher durch Verwendung sprachlicher und metasprachlicher Ausdrücke festgelegt werden muss, - sonst hat der Computer nichts, womit er arbeiten kann. So funktioniert aber eine Metapher nicht, wenigstens nicht eine lebendige, innovative Metapher. Ein Computer arbeitet „kompositional“, d.h. die aktuelle Bedeutung wird aus der jeweiligen Gestaltung der Satz- und Textstruktur abgeleitet, wobei nie alle Dimensionen der Bedeutung <?page no="211"?> 7.2 Übersetzung von literarischen Texten: Beispielanalyse von zwei Gedichten 211 beachtet werden können. Die Textbedeutung kann u.a. „emergente“ Elemente enthalten, d.h. Elemente, die überhaupt nicht aus denjenigen Merkmalen und Merkmalskonfigurationen abgeleitet werden können, die die Bedeutungsstruktur aufbauen, vgl. Skirl (2009) und Abschn. 3.3 und 3.6 oben. Der menschliche Leser von Sätzen wie Fröet sparkar i jorden, Das Samenkorn strampelt in der Erde oder Der Same boxt in der Erde konstruiert im Gegensatz zum Computer ausgehend von seinen sprachlichen und außersprachlichen Kenntnissen eine konkrete Vorstellung von der durch den Satz abgebildeten Situation. Vorstellungen bauen auf unseren Erfahrungen der „realen“ Welt auf, d.h. von der uns durch unsere Sinneswahrnehmungen „aisthetisch“ als real vermittelte oder konstruierte Welt, sind aber in dem Sinne von dieser Welt unabhängig, dass wir uns auch etwas vorstellen können, was nicht in der realen Welt möglich wäre, etwa lachende Bäume, redende Rosen, wie auch Ambrosia, Nektar, Götter usw. - und wohl auch strampelnde Samen. „Lebewesen“ sind Wesen, die u.a. „strampeln“ und „boxen“ können, aber bezüglich der vorgestellten, durch die Interpretation des menschlichen Lesers geschaffenen Welt, braucht nicht unbedingt dazu Stellung genommen zu werden, ob Samen Lebewesen sind oder nicht. Eine Analyse <+/ -Lebewesen> erübrigt sich somit, weshalb eine Veränderung der strukturellen oder „digitalen“ Bedeutung der Lexeme nicht angenommen zu werden braucht. Der Text kann und soll somit - wegen der Formgebundenheit - „wörtlich“ interpretiert werden. Muss ein Text, der in dieser Weise wörtlich interpretiert werden soll, auch „wörtlich“ übersetzt werden? Wohl doch. Und was würde dabei „wörtlich übersetzen“ bedeuten? Ein Computer kann höchstens ausgehend von seinem digital gespeicherten sprachlichen und außersprachlichen Wissen einen Text produzieren, der dem Ausgangstext strukturell möglichst genau entspricht und in diesem Sinne wörtlich ist. Eine akzeptable Übersetzung muss deshalb immer stark vom Zufall abhängig sein. Auch ein menschlicher Übersetzer muss natürlich die strukturelle, „digitale“ Bedeutung erschließen, aber jetzt zusammen mit den damit evozierten „analogen“ Vorstellungen einer vorausgesetzten und einer erzählten Textwelt, die in Verbindung mit der strukturellen Bedeutung die gesamte aktuelle Bedeutung bilden. Während der Computer in der Sprache stekken bleibt, eröffnet die Textwelt dem Übersetzer die Möglichkeit, den Zusammenhang zwischen Struktur und Bedeutung zu überprüfen, wobei Uminterpretationen etwa der lexikalischen Bedeutung (<+/ -Lebewesen> usw.) nicht unbedingt notwendig sind, d.h. der Ausgangstext kann „wörtlich genommen“ werden. Die Aufgabe des Übersetzers besteht <?page no="212"?> 7 Zur Übersetzung von literarischen Texten 212 darin, dieselbe Beziehung zwischen Text und Textwelt zu schaffen, die in dem Ausgangstext vorliegt, d.h. er muss mit anderen Mitteln dasselbe ästhetisch-aisthetische Erlebnis, dasselbe Angebot an Interpretationsmöglichkeiten zu schaffen versuchen. Da der Übersetzer kein tertium comparationis außerhalb der durch seine Interpretation geschaffene Textwelt hat, führt dies zwangsläufig zu einer starken Orientierung an der Gestaltung des Ausgangstextes, und natürlich auch dazu, dass es für den Leser eines übersetzten literarischen Textes viel wichtiger ist, Informationen über den Übersetzer zu erhalten, als für den Leser eines nichtliterarischen Textes. 7.3 Übersetzung von literarischen Texten: Zusammenfassung Auch wenn zuweilen sogar behauptet wird, literarische Texte seien nicht übersetzbar, werden literarische Texte laufend übersetzt, und häufig sogar relativ problemlos. Trotzdem ist die Frage der Übersetzbarkeit literarischer Texte durchaus keine triviale, sondern trifft den Kern der besonderen Eigenschaften literarischer Kommunikation. Die Ästhetisierung durch Entkontextualisierung bei literarischer Kommunikation führt dazu, dass Inhalt und Ausdruck voneinander untrennbar werden. Inhalt und Ausdruck motivieren einander total, weshalb bei literarischer Kommunikation die Arbitrarität des sprachlichen Zeichens in Frage gestellt bzw. vorläufig aufgehoben wird, und somit auch dessen Konventionalität. Konventionalität wurde aber als eine Voraussetzung für Übersetzbarkeit betrachtet und eine Erklärung dafür gesehen, weshalb z.B. ein Bild nicht als Bild übersetzt, sondern nur ersetzt werden kann. Wenn Inhalt und Ausdruck bei literarischer Rezeption voneinander untrennbar sind, wenn also kein anderer Ausdruck denselben Inhalt vermitteln kann, und wenn die Konventionalität des sprachlichen Zeichens somit nicht vorausgesetzt werden kann, müsste Übersetzung eigentlich unmöglich sein. Die grundliegende Schwierigkeit, literarischer Übersetzung beruht somit nicht etwa auf Kulturunterschieden, auf Unterschieden der Sprachsysteme, auf der gebundenen Form des Ausgangstextes usw., sondern auf der besonderen Art der Formgebundenheit literarischer Texte, d.h. auf der Untrennbarkeit von Ausdruck und Inhalt als Ergebnis der Ästhetisierung durch Entkontextualisierung. Diese Untrennbarkeit bedeutet, dass der literarische Text „wörtlich“ rezipiert wird, und somit auch „wörtlich“ übersetzt werden müsste. Die Aufgabe des Übersetzers besteht darin, dieselbe Beziehung zwischen Text und Textwelt zu schaffen, die in dem Ausgangstext vorliegt, d.h. er muss mit anderen Mitteln <?page no="213"?> 7.3 Übersetung von literarischen Texten: Zusammenfassung 213 dasselbe ästhetisch-aisthetische Erlebnis, dasselbe Angebot an Interpretationsmöglichkeiten zu schaffen versuchen, das durch den literarischen Text zur Verfügung gestellt wird. Da der Übersetzer kein tertium comparationis außerhalb der durch seine Interpretation geschaffene Textwelt hat, führt dies zwangsläufig zu einer starken Orientierung an der Gestaltung des Ausgangstextes, eben zu einer „Wörtlichkeit“. In der Praxis sieht sich der Übersetzer literarischer Texte i.A. wahrscheinlich gezwungen, beim Übersetzen den Inhalt von dem Ausdruck getrennt zu betrachten, d.h. den literarischen Text in gewissem Sinne „nichtliterarisch“ zu rezipieren. Die Folge ist, dass er Gefahr läuft, sich auf eine bestimmte Deutung oder bestimmte Deutungsalternativen festzulegen, während der literarische Text grundsätzlich ein offenes Angebot an Interpretationsmöglichkeiten darstellt. <?page no="214"?> 8 Zusammenfassung Zentral bei der Darstellung von Aspekten literarischer Kommunikation war hier der Begriff des Ästhetischen. Es wurde die Meinung vertreten, dass sprachliche Kommunikation, wie menschliche Kommunikation überhaupt, immer eine im weiteren Sinne „ästhetische“, d.h. ästhetischaisthetische ist. Zwischen dem Ästhetischen und dem Aisthetischen gibt es einen Zusammenhang, der parallel mit dem Zusammenhang zwischen Kognition und Emotion verläuft. Das Ästhetische stellt somit die Strukturierung des aisthetisch Erfahrenen dar, und zwar nicht nur von konkreten Wahrnehmungserlebnissen, sondern auch von Emotionen. Das Ästhetische ist deshalb in diesem Sinne immer auch aisthetisch, das Aisthetische, das durch die Sinneswahrnehmung Erlebte, dagegen ganz offenbar nicht immer im engeren Sinne ästhetisch, d.h. strukturiert, kognitiv greifbar. Aus diesem Grund entsteht ein Ausdrucksdefizit der Sprache. Parallel mit der Beschreibung des Ästhetischen als ästhetisch-aisthetisch läuft auch die Unterscheidung zwischen einer begrifflichen digitalen und einer interpretierenden analogen Bedeutungskomponente und somit einem ästhetischen und einem aisthetischen Aspekt sprachlicher Bedeutung. Die analoge, aus Vorstellungen aller Art bestehende Bedeutungskomponente dient als notwendige Brücke zwischen der digitalen Bedeutungskomponente und unseren Sinneswahrnehmungen. Die besondere Leistungskraft der menschlichen Sprache beruht darauf, dass die Sprache Abstraktion ermöglicht, was aber wiederum zur Folge hat, dass die Sprache als System grundsätzlich nicht-aisthetisch und in dem Sinne auch nichtästhetisch ist. Das sprachliche Zeichen ist in seiner Primärfunktion symbolisch und drückt in dieser Funktion nichts aus, sondern bezieht sich auf etwas, symbolisiert etwas. Die Stärke der Sprache ist somit zugleich ihre Schwäche; Sprache kann als solche nicht Erlebtes vermitteln, d.h. wenigstens nicht unmittelbar. Um jene Schwäche oder jenes „Ausdrucksdefizit“ der Sprache zu überwinden, wird bei literarischer Kommunikation eine Strategie der Ästhetisierung durch Entkontextualisierung, d.h. „Fiktionalisierung“, verwendet, die darauf hinausläuft, dass davon abgesehen wird, ob der Textinhalt fiktiv ist oder nicht. Die durch literarische Rezeption eines Textes evozierten Vorstellungen sind weder Vorstellungen von der realen noch von einer fiktiven Welt; sie stellen stattdessen selbst eine <?page no="215"?> 8 Zusammenfassung 215 aktualisierte Welt dar, die eine erlebte Welt ist. Die Referenzbeziehungen bleiben in der als Ergebnis der Interpretation des Textes geschaffenen Welt, d.h. in der vorausgesetzten und der erzählten Textwelt. Diese aus Vorstellungen bestehende Welt ist zwangsläufig in einer viel stärkeren Art und Weise von dem Text selbst abhängig als die Textwelt von nichtliterarischen Texten, da nichtliterarische Texte Referenz in der realen Welt voraussetzen. Die unmittelbare Abhängigkeit der Textwelt vom Text selbst bei literarischer Interpretation führt auch zu einer größeren Formgebundenheit als dies i.A. bei nichtliterarischen Texten der Fall ist. Für einen nichtliterarischen Text gibt es somit immer denkbare alternative Formulierungen, für einen literarischen Text dagegen grundsätzlich nicht. Dies bereitet zwangsläufig eine Herausforderung für die Übersetzung von literarischen Texten, d.h. von Texten als Mittel literarischer Kommunikation. Das eben Gesagte könnte man in Bezug auf sprachliche Kommunikation so verstehen, dass bei nichtliterarischer Kommunikation der Schwerpunkt im kognitiven Kenntnissystem, bei literarischer Kommunikation dagegen im emotiven Kenntnissystem liegt. Bei nichtliterarischer Kommunikation stellt somit die Emotion, bei literarischer Kommunikation dagegen die Kognition lediglich den notwendigen Hintergrund dar. Durch Anwendung der Strategie der Entkontextualisierung wird aber bei literarischer Kommunikation durch Foregrounding vom Text als Text das Emotive in den Vordergrund der Interpretation gerückt. Bei ästhetischer Kommunikation ist der Text in dem Sinne „autoreflexiv“, dass er zeichenmäßig nicht auf etwas außerhalb der Textwelt hinweist. Der Bezug zur außersprachlichen Wirklichkeit besteht nicht aus angenommenen Referenzbeziehungen, sondern aus „erlebter Wirklichkeit“, d.h. er setzt sich aus den visuellen, auditiven, haptischen, olfaktorischen, gustatorischen und/ oder motorischen Vorstellungen zusammen, die als Interpretation des Textes evoziert werden. Hier verbindet sich also das Ästhetische unmittelbar mit dem Aisthetischen. Die Entkontextualisierung stellt in diesem Sinne ein Mittel der Ästhetisierung dar. Die Strategie der Ästhetisierung durch Entkontextualisierung wird nicht nur bei literarischer Kommunikation angewendet, sondern auch etwa in journalistischen Texten, in der Werbung und anderen appellativen Textsorten, d.h. überhaupt in Fällen, wo versucht wird, die Rezipienten mittels eines erlebenden Verstehens zu beeinflussen. Die Entkontextualisierung bedeutet in diesen Fällen, dass der Rezipient dem Textproduzenten einen gewissen subjektiven Spielraum bezüglich der Darstellung einräumt, und zwar unter der Voraussetzung, dass die für den Rezipienten relevanten Fakten auch faktisch wahr sind. In solchen <?page no="216"?> 8 Zusammenfassung 216 Fällen geht es aber nicht, wie bei literarischer Kommunikation, um eine globale Entkontextualisierung, die die ganze Kommunikationssituation umfasst. Bei literarischer Kommunikation im eigentlichen Sinne können somit die in der entkontextualisierten Textwelt vorausgesetzten Autor und Leser nicht mit dem realen Textproduzenten und Rezipienten gleichgesetzt werden, was eine rein instrumentelle kommunikative Verwendung des Textes ausschließt. Der Begriff Fiktionalisierung wird hier als eine Strategie der Ästhetisierung durch Entkontextualisierung definiert. Der in der Sprach- und Literaturwissenschaft bei der Beschreibung literarischer Kommunikation häufig verwendete Begriff der Fiktionalisierung wird leicht mit dem Begriff des Fiktiven verknüpft. Es wird aber hier die Position vertreten, dass das Fiktive grundsätzlich nichts mit dem Literarischen zu tun hat. Es gibt ja eine äußerst umfangreiche Literatur, die ausgehend von Begriffen wie der Fiktionalität das Literarische zu erfassen versucht, andererseits wird heute nicht selten behauptet, dass dadurch der Begriff des Literarischen allzu eng erfasst wird, da dabei Textsorten wie Essay, Selbstbiographie, Reiseschilderung usw. ausgeschlossen würden. In der vorliegenden Arbeit wird das Problem in der Weise gelöst, dass erstens zwischen Textsorte und Kommunikation unterschieden wird, und dass zweitens angenommen wird, dass bei nichtliterarischer Komunikation eine Art „partieller“ Entkontextualisierung in Form eines Spielraums gewährt werden kann, der die Wahrheitsansprüche bezüglich nicht zentraler Fakten betrifft. Wie groß dieser Spielraum sein kann, ist von der Textsorte und der Kommunikationssituation abhängig. Im weitesten Sinne könnten alle Textsorten, die im Rahmen des „Kommunikationsbereichs“ bzw. des „Systems der Literatur“ als „literarisch“ bezeichnet werden, auch als literarische Textsorten betrachtet werden. Die hier vorgezogene, etwas engere Definition betrachtet solche Klassen von Texten als literarische Textsorten, die prototypisch als Mittel literarischer Kommunikation im hier definierten Sinne verwendet werden. Dies deutet an, dass auch nichtliterarische Textsorten in literarischer Kommunikation verwendet werden können. Deshalb ist es möglich, dass unter Umständen etwa dieselbe Reiseschilderung entweder literarisch oder nichtliterarisch, oder sogar gleichzeitig literarisch und nichtliterarisch, rezipiert wird. Literarische Kommunikation stellt einen Fall ästhetischer Kommunikation dar, wo erstens sprachlich kommuniziert wird, also nicht etwa mit Hilfe von Bildern, und zweitens die ganze Kommunikationssituation entkontextualisiert wird. Es mag also literarische Textsorten im gerade angegebenen Sinne geben. Aber gibt es den literarischen Text oder ist er eine Fiktion? In dem <?page no="217"?> 8 Zusammenfassung 217 Sinne ist der literarische Text eine Fiktion, dass ein Text erst als Ergebnis einer Ästhetisierung durch Entkontextualisierung als literarisch bezeichnet werden kann. <?page no="218"?> Literatur Literarische Texte Blomberg, Erik (Übers.) (1960): Hälften av livet. In: Hölderlin. Lyriskt urval i tolkning av Erik Blomberg. Stockholm: Norstedt. S. 67. Bobrowski, Johannes (1962): Sarmatische Zeit. Schattenland Ströme. (Neuausgabe in einem Band.) Stuttgart : Deutsche Verlags-Anstalt. Celan, Paul (1983): Gesammelte Werke in fünf Bänden. Zweiter Band. Gedichte II. (Hrsg. Allemann, Beda / Reichert, Stefan.) Frankfurt/ M.: Suhrkamp Verlag. Doderer, Heimito von (1987): Feldbegräbnis einer Liebe [1930]. In: Brandstetter, Alois (Hrsg.): Österreichische Erzählungen des 20. Jahrhunderts. München: dtv. S. 175-182. 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